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German Pages 840 [852] Year 1982
Dialektologie
HSK 1.1
Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Herausgegeben von Gerold Ungeheuer und Herbert Ernst Wiegand Band 1.1
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1982
Dialektologie Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung Herausgegeben von Werner Besch · Ulrich Knoop Wolfgang Putschke · Herbert Ernst Wiegand Erster Halbband
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1989
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft / hrsg. von Gerold Ungeheuer u. Herbert Ernst Wiegand. — Berlin; New York: de Gruyter NE: Ungeheuer, Gerold [Hrsg.] Bd. 1. — Dialektologie
Dialektologie: e. Handbuch zur dt. u. allg. Dialektforschung / hrsg. von Werner Besch ... — Berlin; New York: de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; Bd. 1) NE: Besch, Werner [Hrsg.] Halbbd. 1 (1982). ISBN 3—11—005977—0
© Copyright 1982 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttenberg, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30. Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: H. Heenemann GmbH & Co, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
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Geleitwort 1. Mit diesem Band wird eine Handbuchreihe eröffnet, in der als nächste Bände solche zu den Teilgebieten Sp rachgeschichte, linguistische Datenverarbeitung, Sp rachp hilosop hie, Semiotik, Lexikograp hie, Syntax und Soziolinguistik erscheinen werden. Daß für einen bestimmten Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften eine Reihe von Handbüchern herausgegeben wird, bedarf weder einer Erklärung noch einer Rechtfertigung. Doch soll versucht werden, diesem Bereich, der — aufgrund der Bildung Sprach- u n d Kommunikationswissenschaft — auch als einer gedacht werden könnte, der aus zwei säuberlich trennbaren Teilbereichen besteht, zu umgrenzen und als ein in sich zusammenhängendes Gebiet zu charakterisieren. Auch soll die Verfahrensweise erläutert werden, nach der die Reihe organisiert wird, sowie die Prinzip ien, nach denen die Reihe angelegt ist und die Handbücher abgefaßt werden. — Seit langem ist klar geworden, daß die überlieferten Einzelwissenschaften unserer p hilosop hischen Fakultäten in ihrer Selbständigkeit eher nach p ädagogischen Notwendigkeiten und administrativen Regelungen sich aufrecht erhalten als durch Begründungen, die auf Sachen und Methoden bezogen sind. Es sind Fächer, keine einzelwissenschaftlichen Diszip linen. Die in Wissenschaftsideologien, Verwaltungsdenken und in Erlebnisfestigkeit wurzelnden Meinungen von Fachvertretern und Ministerialbürokraten, nach welchen die Klassifikation der wissenschaftlichen Tätigkeit zu — ihrem Wesen nach — unverrückbaren Wissenschaften führt, die als verbindliche Ergebnisdarstellungen solcher Tätigkeit verstanden werden und bequem zu verwalten sind, haben zwar angesichts der langfristigen wissenschaftlichen Entwicklung selbst nur anekdotenhaften Charakter, können jedoch — wenn sie sich mit institutionalisierter Macht p aaren — die wissenschaftliche Tätigkeit erheblich behindern und dazu führen, daß Fächergrenzen als unveränderliche Wesenheiten angenommen werden. Die vielen Versuche, interdiszip linäre Forschung nicht nur dem freien Sp iel der wissenschaftlichen Kräfte zu überlassen, sondern sie zu institutionalisieren, waren und sind Unternehmungen, die aus dieser Sachlage geboren wurden, um sie zu überwinden. Daß viele dieser Versuche gescheitert sind, hat Gründe, die nicht nur in der Gemeinschaft der Wissenschaftler zu suchen sind. Obwohl diese Handbuchreihe gerade nicht im Sinne sog. interdiszip linärer Forschung konzip iert wurde, sondern die Sp rach- und Kommunikationswissenschaft als einen Sachbereich auffaßt, ist sie dennoch einem Grundmodell heutiger wissenschaftlicher Arbeit verp flichtet, nach dem bisher vor allem innerhalb interdiszip linärer Forschung gearbeitet wurde, nämlich dem, daß mehrere Personen unterschiedlicher Ausbildung in Zusammenarbeit Forschung betreiben. Wissenschaftsklassifikationen sind meistens ausgegangen von der Möglichkeit der Gliederbarkeit und von einer konkreten Gliederung der erfahrbaren und wißbaren Welt nach Sachgebieten, deren Grenzen natürlich, d. h. von den Sachen selbst abgenommen sein sollten. Wo dies nicht gelang, hat man auch Grenzen im Hinblick auf die verwendeten Methoden errichtet; nichtsdestoweniger stimmte man meistens in der Vorstellung überein, daß die Verfahren der Forschung von den Sachen, von den Sachgebieten abhängig sind. Jedoch ist mit Sachen und Methoden allein nie Wissenschaft, nie Forschung betrieben worden. In einer solchen Skizze vermißt man das Antriebsmoment, das Forschung allererst erzeugt; es fehlt die kognitive Disp osition, von der wissenschaftliche Arbeit ausgeht und an der sie sich orientiert. Bei einer
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Konzep tion von Wissenschaft, die sich vornehmlich an Sachen und Methoden orientiert, bleibt vergessen, daß seit der Stiftung menschlicher Wissenschaft im vierten vorchristlichen Jahrhundert der abendländischen Geistesgeschichte jede wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Setzen des Problems, mit dem Stellen der Aufgabe beginnt. Wissenschaft ist eben nicht die Beantwortung der schon immer gestellten Wissensfrage, ist nicht nur Problemlösung schlechthin, sondern an erster Stelle Problemsetzung und auch Beurteilung möglicher Problemsetzungen danach, ob sie als sinnvoll oder sinnlos angesehen werden müssen. Wer es nicht von Platon weiß, mag es aus der Jahrhunderte alten Wissenschaftsgeschichte gelernt haben. 2. Es kann selbst in einem Geleitwort nützlich sein, bei dieser Überlegung noch etwas zu verweilen. Nach den Gedanken des Platon und Aristoteles schien in der Tat eine einzige Grundfrage Wissenschaft zu konstituieren: die Frage nach dem Wesen der Dinge und Vorgänge, die Frage nach der tatsächlichen Beschaffenheit von etwas, auch die Frage, wie etwas eigentlich seinem Wesen nach funktioniert. Im tatsächlichen Forschungsp rozeß blieb nur offen, welches Ding, welche Sache oder Bewegung man sich mit dieser Fragestellung vornahm. Die ersten auftauchenden Schwierigkeiten bestanden bei diesem Ausgangsp unkt darin, herauszufinden, ob das betrachtete Etwas überhaupt ein Etwas von der Art eines Seienden sei; denn es war von Anfang an klar, daß die Problemfrage in ihrer Festigkeit verbot, Inhalte der sinnlichen Erfahrung oder bloßer Meinungen als bereits festgestelltes Wissen anzunehmen (von dem alten indogermanischen Mißtrauen der Sinnenwelt gegenüber braucht hier gar nicht gesp rochen zu werden). Erst mit beginnender Neuzeit, ab dem 16. Jahrhundert, fing man an, mit Problemen und ihren Eigenschaften freier und einsichtsvoller umzugehen. Der Fortschritt der modernen Wissenschaft bestand nun in einem nicht geringen Teil darin, daß das alte Wesensp roblem geteilt, die Teilp robleme vereinfacht, einige von ihnen überhaup t beiseite geschafft und liegengelassen und die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen solcher Aktivität als Rechtfertigung eingeführt wurden. Die Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Newton, auch das Unverständnis, das Leibniz der Newtonschen Philosop hia naturalis entgegenbrachte, ist eines der besten Beisp iele für diesen Vorgang. Leibniz haftete der alten Grundfrage an und wollte herausfinden, wie die Welt wirklich ist; daher waren die Kategorien der Newtonschen Dynamik (z. B. die Attraktionskraft) für ihn mittelalterliche Chimären. Newton aber kümmerte sich nicht darum, sein Problem war von vornherein nicht auf Erkenntnis der wahren Natur, sondern auf durchgehende Systematisierung von Beobachtetem mit Hilfe bestimmter mathematischer Verfahren und auf Vorhersagbarkeit abgestellt. Doch ist merkwürdig und bemerkenswert zu sehen, wie beide, als geistige Kinder einer Übergangszeit, wenn auch in verschiedenen Bereichen, über Kenntnisse von Axiomatisierungen und auch über Annahmen, vielleicht auch nur Ahnungen, darüber verfügten, daß Axiome zum Zwecke p roblemlösender Theoriebildung ausgetauscht werden können. Viele mag die Erkenntnis erschrecken, daß die vehemente Fortentwicklung der modernen Wissenschaft nur über einen differenzierten Mechanismus der Problemauswahl und Problemverdrängung möglich war. Man muß jedoch einsehen, daß, entgegen immer noch weitverbreiteter Pop ulärmeinung, keine Wissenschaft heute Ansp ruch auf absolutes Wissen und letzte Wahrheit erheben kann und wohl auch nicht will. Das heftige Auseinanderleben von Wissenschaft und Philosophie ist nur ein Zeichen dieses Tatbestandes. Für rationale wissenschaftliche Betätigung ist es daher aber auch um so notwendiger, daß die fundamentale und konstituierende Funktion der Problemstellung ins Bewußtsein gehoben wird. Denn Wissenschaft ist kein toter Landbesitz einer Idee, die nach Sachen und Methoden bestimmt ist, Wissenschaft ist Tätigkeit von Menschen, die nach einem gesetzten Problem voranschreitend mit Wissen, Phantasie und Erfindung eine Lösung für dieses Problem suchen. Was wir hier überdenken, ist
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nun nichts anderes als „die Vorgängigkeit der Frage für alles sacherschließende Erkennen und Reden“, wie es Gadamer in einer kurzen Analyse der platonischen Dialektik genannt hat (vgl. Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, 345). In der modernen Wissenschaft enthält aber solches p roblemsetzende Fragen zweierlei: eine Bestimmung der Sachverhalte, um die es geht, und eine Beschreibung des Asp ekts, welcher die Forschungsrichtung definiert. Dabei ist sehr wohl zu beachten, daß der in die Problemstellung eingehende Sachverhaltsbereich auch bei emp irischen Wissenschaften nicht unbedingt in einer Menge von Gegebenheiten zu bestehen braucht, die unmittelbar als Objekte der sinnlichen Erfahrung oder individueller Selbstp räsentation vorliegen, dies schon gar nicht, wenn man annimmt, daß jegliche Erfahrung einer kognitiven Vorausbestimmung unterliegt. Vielmehr muß jede Problemtheorie berücksichtigen, daß die Struktur und die Formulierung der gestellten Probleme abhängig sind von vorausgehender Theorie, welche die Prädikate und Abstrahierungsverfahren zur Verfügung stellt, und die auch in ihrem wissenschaftstheoretischen Teil die Gesichtsp unkte angibt, nach welchen die Methoden der Problemlösung herzustellen und anzuwenden sind. Es scheint klar zu sein, daß in sozialwissenschaftlicher Forschung ständig auf einzelne Personen in ihrer Konkretheit, also auf menschliche Individuen Bezug genommen wird. Zu behaup ten, daß uns die jeweils Anderen in allem, was sie sind, wie sie sind und auch, daß sie sind, und nach welcher individuellen Theorie der Welt sie leben, vermittels unserer Alltagserfahrung p hänomenal unmittelbar wißbar seien, wäre doch wohl zu unp räzise und vorurteilsvoll. Wir erfahren zwar ihre Existenz und haben einen gewissen Eindruck sinnlicher Wahrnehmung; darüber hinaus aber ist alles weitere erschlossen, interp retiert und vermutet aufgrund einer Theorie, nach der zu leben wir in der Lage sind. Genau dieselbe Verteilung von Konjektur und Perzep tion wiederholt sich im wissenschaftlichen Bereich. Wie soll man Menschen in der Sp rach- und Kommunikationsforschung begrifflich in Rechnung stellen, damit man auch nur zu hinreichend deutlicher Konstruktion von Problemen kommt? Wie soll man von Seele, Geist und Bewußtsein sprechen? Soll man die Motivationslehre heranziehen oder darf man die handelnden Personen noch mit einem Willen ausstatten? Wie soll das jedem Menschen anhaftende merkwürdige Innen-Außen-Verhältnis, nach Scheler „das p sychische Urp hänomen des Lebens“ (vgl. Die Stellung des Menschen im Kosmos, Ges. Werke Bd. 9, 13), näher bezeichnet werden? Diese bei näherem Zusehen recht umfangreiche Menge an Voraussetzungen, von denen schon die Problemstellungen abhängen, kann nur in Primärtheorien bereitgestellt werden, deren genaues Verhältnis zu den Lösungstheorien der Probleme freilich im Gang der Forschung reflektiert werden muß. 3. Das Sachgebiet der Handbuchreihe scheint mit der Bezeichnung Sprach- und Kommunikationswissenschaft hinreichend gekennzeichnet zu sein, vor allem dann, wenn man die Forschungsaktivitäten der letzten zwei Jahrzehnte an den Randgebieten der Sp rachwissenschaft hinzunimmt, die sich zu den ironisch sogenannten Bindestrich-Linguistiken ausgeweitet haben. In der Tat geben Psycholinguistik, Soziolinguistik, Textlinguistik, Comp uterlinguistik und andere Forschungsfelder mehr ein Beisp iel für die zuvor vertretene Behaup tung, daß für die faktische Forschung die Problemstellungen das Primäre sind und nicht festgeschriebene Fächer, und daß das Interesse an neuen Problemen die etablierten Fächereinteilungen aufzulösen beginnt. Mitnichten bedeutet dies jedoch in irgendeiner Weise eine Wertschmälerung jener etablierten Forschung; wohl aber wird in diesem jüngeren historischen Prozeß das Problemfeld deutlich herausgehoben, an welchem die ältere Forschung gearbeitet hat. Versucht man das so indizierte Sachgebiet der Handbuchreihe zu charakterisieren, dann liegt es nahe, auf die in bestimmter Weise handelnden Menschen selbst zurückzugehen: das sachliche Interesse liegt auf denjenigen Sozialhandlungen menschlicher
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Individuen, die gegenseitiger Mitteilung, die der Verständigung dienen (wobei das Informelle der Beschreibung und die theoretische Vorgep rägtheit hinzunehmen ist). Dies heißt nun einerseits, daß es sich um emp irische Forschung, um emp irische Wissenschaft handelt. Andererseits ist dazu aber auch festzustellen, daß aus Gründen der radikalen Einschränkung der sinnlichen Wahrnehmung eben auf Sinnesqualitäten und dem ständigen Wirken individueller Welttheorien in diesem Bereich, wie in anderen Teilen der Sozialforschung, Problemstellungen und Ergebnisfindungen in hohem Maße gep rägt sind durch vorausgesetzte und voraussetzend begründete theoretische Begrifflichkeit. Aus dieser Kennzeichnung ergibt sich nun nicht, wie manche wohl in schnellem Verständnis glauben könnten, ein Ausschluß der Sp rachwissenschaft in ihren klassischen Ausp rägungen, die sich seit Beginn unseres Jahrhunderts in auseinandersetzungsreicher Anstrengung an die Erforschung der Sp rachsysteme gebunden hat. Eine Integration dieser Problematisierung der sp rachlichen Erscheinungen in das ganze Problemfeld wie auch eine neue Bezugsetzung wird man vielmehr erwarten können. Denn ohne, wie immer auch analysierte Sp rachsysteme wird das tägliche Gewebe sprachlicher Kommunikationsakte nicht verstehbar sein. Man muß sich nur davor hüten, annehmen zu wollen, Sp rache in dieser oder jener Auffassung einer sp rachwissenschaftlichen Theorie oder auch nach den heute von allen anerkannten Eigenschaftsbestimmungen sei unmittelbares Datum unserer Erfahrung. Mit Sicherheit ist sie dies nicht; dem widersp rechen schon die individuellen Konzep tionsfragmente jedes einzelnen Individuums auf diesem Planeten. Aber auch ein sp rachsystemorientierter Schluß der Art eines So-und-nicht-anders wäre aus mehreren Gründen verfehlt. Denn erstens ist das Ergebnis bezüglich des ganzen Phänomens kommunikativer Sozialhandlung aus begrenzter Problemstellung gewonnen, zweitens ist das Existenzp roblem von Sp rachsystemen (oder auch ihr Konstitutionsp roblem) trotz Saussure und Durkheim längst nicht gelöst, drittens ist immer noch zu klären, was genau es heißen soll, daß ein Sp rachsystem zu einem Akt der Mitteilung verwendet wird (oder anders: wie Humboldts Energeia zu exp lizieren ist), viertens sind Psychologisierungsversuche zu entwirren, und schließlich ist nach dieser Anregung einsehbar, daß die begonnene Reihe von Fragen nicht leicht abzuschließen ist. Schlicht und unreflektiert kann gesagt werden, daß Menschen, die miteinander kommunizieren, das Sachgebiet ausmachen, um das es hier geht. Es sind die Problemp ersp ektiven, die nicht nur nebeneinander her, sondern aufeinander bezogen und voneinander abhängig in Konkurrenz der Theorien und Methoden einen zusammenhängenden Forschungsbereich gliedern, der freilich in der p raktischen Institutionalisierung einen sehr uneinheitlichen Eindruck hinterläßt. Dieser Forschungsbereich — hier mit Sprach- und Kommunikationswissenschaft gekennzeichnet — ist es, dem die HSK-Bände dienen sollen. Und es ist klar, daß, dem Forschungsstand der einzelnen Teilgebiete gemäß, der Inhalt der einzelnen Bände ganz unterschiedlich ausfallen wird. 4. Aus der dargelegten Auffassung von wissenschaftlicher Tätigkeit folgt für die Konzep tion der Reihe, daß keine vorgängige, klassifikatorische Systematik für die Sp rach- und Kommunikationswissenschaft unterstellt wird. Die Reihe ist für neue Problemsetzungen offen. Die geschichtliche Entwicklung kann berücksichtigt werden. Die Reihenfolge der Handbuchbände bildet keine Gewichtung der Teilgebiete ab, sondern hat sich durch die Art der Organisation ergeben: die Herausgeber der Reihe bemühen sich, einen Kollegen für die Herausgabe eines Handbuchbandes zu gewinnen. Hat dieser zugesagt, so ist er in der Wahl der Mitherausgeber und bei der Einladung der Autoren vollkommen frei. Die Herausgeber eines Bandes p lanen einen Band inhaltlich unabhängig und werden dabei lediglich an bestimmte Prinzip ien für den Aufbau und die Abfassung gebunden; wenn es freilich um die Grenzen zu anderen
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Bänden geht, sind die Reihenherausgeber inhaltlich beteiligt. Wir glauben, daß wir mit dieser Organisationsform den Haup tzweck dieser Handbuchreihe, nämlich die angemessene Darstellung des derzeitigen Problem- und Wissensstandes in den durch die jeweiligen Handbuchbände abgedeckten Teilgebieten, am besten verwirklichen können. Wir sind auch davon überzeugt, daß alle, die sich bereits beteiligen und auch die, die noch hinzukommen, dazu beitragen werden, daß in dieser Handbuchreihe, was die Vollständigkeit in der Darstellung, die Exp lizitheit in der Begründung, die Verläßlichkeit in der Dokumentation von Daten und Ergebnissen sowie die Aktualität im Methodischen angeht, eine Stufe der Verwirklichung erreicht wird, die einem Vergleich mit den besten Handbuchkonzep tionen und Handbüchern anderer Wissenschaftszweige standhält. Wir danken dem Verlag Walter de Gruyter für sein Vertrauen, das gründliche Vorbereitungen ermöglicht hat, Herrn H. Wenzel als unserem langjährigen Berliner Gesp rächsp artner für Geduld, Skep sis und Gastfreundschaft, sowie allen, mit denen wir über die Reihe und einzelne Bände intensiv diskutieren konnten.
Im Sommer 1982
Gerold Ungeheuer (Bonn) Herbert Ernst Wiegand (Heidelberg)
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Vorwort Das Interesse an den Dialekten und der Dialektologie hat sich im letzten Jahrzehnt wieder verstärkt. Dafür gibt es außerwissenschaftliche und wissenschaftsimmanente Ursachen. Innerhalb der S prachwissenschaft hat man die Ursachen für diese Entwicklung u. a. darin zu sehen, daß die dialektologische Forschung — insbesondere unter dem Einfluß der S oziolinguistik — den S precher nicht mehr ausschließlich als Informant für dialektale Daten, sondern auch als interagierendes Individuum auffaßte; außerdem wurde die Entwicklung durch die allgemeine Hinwendung der S prachwissenschaft zu den heterogenen aber dennoch regelhaften Elementen in S prache und S prechen gefördert, denn dieses Forschungsinteresse, das die empirische Vielfalt wieder verstärkt zur Geltung kommen läßt, kann durch Rückgriff auf die Materialien und Ergebnisse der älteren und jüngeren Dialektologie sowie durch Berücksichtigung und Weiterentwicklung dialektologischer Fragestellungen und Forschungsmethoden stets dann gefördert werden, wenn es sich auf die historischen, sozialen und arealen Differenzierungen einer S prache oder auf den variierenden S prachgebrauch in kommunikativen Handlungssituationen bezieht. Im Hinblick auf diese Entwicklungstendenzen innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion über S prache, S prachen, S prachvarietäten und sprachliche Kommunikation wurden die Zielsetzungen dieses Handbuches abgesteckt: es werden die zentralen dialektologischen Theoriebildungen dargestellt, die aktuellen Problemfelder aufgezeigt, die gängigen Arbeitsverfahren für die Forschungspraxis vermittelt, die wichtigsten Forschungsergebnisse zu den deutschen Dialekten zusammengefaßt sowie neuere Problemsetzungen und Forschungsperspektiven ausführlich berücksichtigt. Damit will das Handbuch die Vorbereitung und Durchführung der Universitätslehre erleichtern, ein ökonomisches und orientiertes Einarbeiten in die Forschung ermöglichen sowie überliefertes und neues Wissen und Problempotential aus der deutschen und allgemeinen Dialektforschung, das bei zukünftigen Forschungsvorhaben eine Rolle spielen kann, in übersichtlicher Form und so bereitstellen, daß es auch Nachschlagebedürfnissen zugänglich ist. Eine in irgendeinem S inne enzyklopädische Magazinierung des dialektologischen Wissens wird — und das sei ausdrücklich betont — in diesem Handbuch nicht angestrebt, wohl aber eine angemessene Vollständigkeit in den zentralen Bereichen der Forschung. Mit dem Untertitel „Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung“ wird der Gegenstandsbereich näher charakterisiert, der in den beiden Halbbänden abgedeckt werden soll. Das Wort „deutsch“ meint eine spezielle, auf eine historische Einzelsprache und die jeweiligen S prechergruppen bezogene Verwirklichung der als allgemein zu betrachtenden Forschungsrichtung Dialektologie. Das Wort „deutsch“ ist damit nicht im staatspolitischen S inne verwendet, sondern auf die sprachlichen Gegebenheiten bezogen, die sich historisch entwickelt haben. Der Ausdruck „deutsche Dialektforschung“ ist daher ein titelgerechtes Kürzel für „Forschung zu den Dialekten im deutschen S prachgebiet und zu den deutschen Dialekten im Ausland“. „Allgemein“ ist der Gegenstandsbereich des Handbuches nicht nur deshalb, weil jede spezielle Bearbeitung eines Problems oder eines Themas implizit ihre allgemeinen Aspekte hat, sondern auch, weil etliche Artikel vornehmlich sprach- und dialekttheoretische, methodische und terminologische Fragen behandeln und somit in dem S inne allgemein sind, als sie auch bei der Erforschung von nichtdeutschen Dia-
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lekten zu berücksichtigen sind, so daß dieses Handbuch auch für andere Dialektologien (wie z. B. die romanische) von grundlegendem Interesse ist. Die Konzeption des Handbuches wurde von den Herausgebern mit Rücksicht auf die rezente Publikationslage im Bereich der zusammenfassenden Übersichtswerke erstellt. Hierbei wurden vor allem die folgenden Werke berücksichtigt: V. M. S chirmunski: Deutsche Mundartkunde. Vergleichende Laut- und Formenlehre der deutschen Mundarten. Berlin 1962. — A. Bach: Deutsche Mundartforschung. Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben. 3. Aufl. Heidelberg 1969. — Germanische Dialektologie. Festschrift für W. Mitzka zum 80. Geburtstag. Hrsg. von L. E. Schmitt. 2 Bde. Wiesbaden 1968. — Lexikon der Germanistischen Linguistik. Hrsg. von H. P. Althaus, H. Henne, H. E. Wiegand. Tübingen 1973; 2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl. 1980. — Neben sachlichen Gesichtspunkten führte insbesondere die partielle Abstimmung mit den genannten Übersichtswerken dazu, daß die Herausgeber den gesamten Gegenstandsbereich anders — nämlich wie weiter unten skizziert — gegliedert haben. Auch erklärt sich aus dieser Berücksichtigung einschlägiger Werke, daß sich in diesem Handbuch zusammenfassende Artikel wie z. B. „Ostmitteldeutsch“, „Alemannische Mundartforschung“ oder „Areallinguistik“ nicht finden. Die Herausgeber haben sich bemüht, die Konzeption für dieses Handbuch mit möglichst vielen Fachkollegen zu diskutieren. Zu diesem Zwecke haben sie unter dem Titel „Konzeption eines Handbuches der Dialektologie“ in dem Periodikum „Germanistische Linguistik“. Hrsg. vom Forschungsinstitut für deutsche S prache. Deutscher S prachatlas, Marburg/Lahn, 1—2/1977, 205—224 und etwa gleichzeitig unter dem Titel des Handbuches in „Deutsche S prache. Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation“. Hrsg. von H. S teger in Zusammenarbeit mit dem Institut für deutsche S prache, Mannheim, 5. 1977, 60—73, das Handbuchkonzept der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt und um Kritik und Anregung gebeten. Diese Initiative hatte Erfolg. Bis etwa Mitte 1981 erreichten die Herausgeber konstruktive Kritik und zahlreiche Anregungen. Ein großer Teil der Vorschläge, die sich auf die Einbeziehung weiterer S achbereiche, auf Änderungen der Artikel- und Kapitelüberschriften sowie auf die Gliederung bezogen, konnte, nach intensiver schriftlicher und mündlicher Diskussion, für die nun vorliegende Fassung des Handbuches berücksichtigt werden. So wurden z. B. die Artikel 8 a „Der ‘Historische S üdwestdeutsche S prachatlas’ als Muster historischer Dialektgeographie“, 26 „Interferenz-Areale Dialekt/S tandardsprache: Projekt eines deutschen Fehleratlasses“, 34 a „Probleme der phonetischen Transkription“, 81 „Typen lexikalischer Entwicklungen. Eine Fallstudie am Beispiel des elsässischen Dialekts“, 83 „Die Rolle des mundartlichen Wortschatzes in den standardsprachlichen Wörterbüchern des 17. bis 20. Jahrhunderts“ und 86 „Tendenzen in der Domänenverteilung zwischen Dialekt und nicht-deutscher S tandardsprache am Beispiel des Elsaß“ neu aufgenommen. Die Herausgeber nehmen hier gerne die Gelegenheit wahr, den bereits anläßlich der Publikation der endgültigen Konzeption (vgl. Germanistische Linguistik 5—6/1979, 117—126) geäußerten Dank zu wiederholen. Er gilt allen, die solche Vorschläge gemacht haben, insbesondere aber folgenden Mitarbeitern an diesem Handbuch: Frédéric Hartweg, Peter Haudum, Georg Heike, Peter Kühn, Heinrich Löffler, Thomas Luckmann, Klaus J. Mattheier, Horst Haider Munske, Baldur Panzer, Ulrich Püschel, Oskar Reichmann, Hannes S cheutz, Rudolf Trüb und Peter Wiesinger. Wie bereits bei der Veröffentlichung der endgültigen Konzeption des Handbuches mitgeteilt wurde, konnte der ursprünglich am S chluß des Handbuches vorgesehene Abdruck der Gesamtbibliographie — vor allen Dingen aus Kostengründen — nicht verwirklicht werden. Die rund 2000 von den Mitarbeitern angegebenen Titel sowie die weit über 10 000 von St. Mayer, H. E. Wiegand und W. Wolski gesammelten und sachlich geordneten Titel hätten einen dritten Band ergeben. Auf eine Publikation konnte
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auch deshalb zunächst verzichtet werden, weil 1981 bekannt wurde, daß eine Bibliographie von P. Wiesinger, E. Raffin und G. Voigt unter dem Titel „Bibliographie zur Grammatik der deutschen Dialekte“ in Vorbereitung war, die inzwischen auch erschienen ist. Die begonnene Bibliographie wird daher zu einem späteren Zeitpunkt separat veröffentlicht. — Die Literatur wird nun fast immer am S chluß jedes Artikels und in wenigen Fällen — wegen größerer Übersichtlichkeit — abschnittsweise dokumentiert. Autoren und Herausgeber haben sich darum bemüht, eine jeweils angemessene Auswahl zu treffen. Für die Gliederung des Gegenstandsbereiches in diesem Handbuch waren einige Leitgedanken ausschlaggebend, die hier dargelegt werden sollen, weil sie eventuell zur erfolgreichen Benutzung der beiden Halbbände beitragen können. Die Herausgeber sind nicht der Meinung, daß es eine für immer und für alle verbindliche Klassifikation eines sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbereiches geben kann, denn stets konkurrieren verschiedene Gliederungsmöglichkeiten miteinander. Das Erstellen einer bestimmten Gliederung bedeutet immer zugleich die Entscheidung für eine Perspektive und bringt damit zwangsläufig eine unterschiedliche Gewichtung von Aspekten des Gegenstandsbereiches mit sich. Mit der vorliegenden Handbuchgliederung verbindet sich jedoch die Hoffnung, daß die nicht explizit als Artikel ausgebrachten Themenbereiche implizit mitbehandelt wurden, so daß derjenige Leser, der etwas vermißt, durch die Lektüre mehrerer Artikel oder Artikelausschnitte eine Antwort erhält und Zusammenhänge erfährt; artikelübergreifende Querverweise und das S achregister am S chluß des zweiten Halbbandes wollen dabei behilflich sein. — An dieser Stelle muß denn auch erwähnt werden, daß die Herausgeber für einige Artikel, die ursprünglich vorgesehen waren, keine Autoren fanden und es sehr bedauern, daß die Kollegen aus der DDR nicht mitarbeiten konnten. Auf dem Hintergrund der allgemeinen Bedingungen und auf der Grundlage der geführten wissenschaftlichen Diskussionen ergab sich für das Handbuch der Aufbau, der nun kurz dargelegt wird. Es ist nützlich, wenn sich Wissenschaftler von Zeit zu Zeit der Geschichte ihres Faches zuwenden, damit die Historizität aller wissenschaftlichen Fragestellungen und die Relativität der Ergebnisse gegenwärtig bleiben. Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte gibt der heutigen Forschung Orientierung, ermöglicht Einordnung und fundiert die Kritik. Hierzu will das I. Kapitel, das den ersten Halbband eröffnet, mit seinen zwölf Artikeln beitragen. Es gibt freilich keinen Gesamtüberblick über die wechselhafte Entwicklung der deutschen Dialektforschung, vielmehr werden ausgewählte Forschungsschwerpunkte dargestellt, die sich z. T. auch zu institutionell getragenen Forschungsrichtungen ausgeprägt haben. Damit liefert dieses Kapitel Bausteine zu einer bisher fehlenden Geschichte der deutschen Dialektologie. Der Leser wird bis an die Gegenwart herangeführt und kann sich auch eingehend über die derzeitige Wissenschaftsorganisation und über die Forschungseinrichtungen der Dialektologie im deutschen Sprachgebiet informieren. Innerhalb der Entwicklung der Dialektologie war die allmähliche Ausarbeitung einer theoretischen Begrifflichkeit auf mehrere Forschungskreise und Institutionen verteilt. Das II. Kapitel beschreibt mit vier Artikeln die theoretischen Grundlagen der Dialektologie in ihren wichtigsten Grundzügen. Dazu werden die der bisherigen Erforschung der deutschen Dialekte zugrundeliegenden und in der Forschungspraxis entstandenen Theoriebildungen und -ansätze zusammenhängend und systematisch dargestellt. Unter Theoriebildungen werden dabei historisch abgeschlossene, theoretische Konzepte verstanden, die sich in der Forschungspraxis bewährt haben. Unter Theorieansätzen werden theoretische Entwürfe verstanden, die gegenwärtig noch in einem Entwicklungsstadium sind.
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Das III. Kapitel ist mit seinen vier Artikeln insofern unmittelbar auf das II. bezogen, als den ‘klassischen’ und strukturellen Theoriebildungen je eine abgeschlossene Fallstudie und den Theorieansätzen zur generativen und kommunikativen Dialektologie je eine Pilotstudie zugeordnet ist. In den beiden Fallstudien wird ein ausgewählter Dialekt so beschrieben, daß die im II. Kapitel erläuterten Prinzipien der Theoriebildung zur Anwendung kommen. In den beiden Pilotstudien werden an Beispielen Beschreibungsmöglichkeiten und -probleme diskutiert. In der deutschen Dialektforschung ist in fast allen Forschungsrichtungen materialintensiv und überwiegend empirisch gearbeitet worden. Das IV. Kapitel will daher der Reflexion auf die Forschungspraxis dadurch dienen, daß in sieben Artikeln ausgewählte methodologische Probleme und wissenschaftssystematische Aspekte behandelt werden. Bei der Unterschiedlichkeit der zu behandelnden Problemstellungen ist klar, daß dieses Kapitel relativ heterogen ist. In den drei folgenden Kapiteln werden alle wichtigen Arbeitsverfahren innerhalb der Dialektologie ausführlich dargestellt. Besonders das V. und VI. Kapitel wollen auch einem forschungspraktischen Zweck dienen, indem sie Anleitungen für empirische S prachaufnahmen bieten. Wer unangemessene Erhebungsinstrumente verwendet und unzweckmäßige Verfahren zur S prachdatenbearbeitung anwendet, wird die S prachwirklichkeit nicht adäquat beschreiben können. Im V. Kapitel werden daher in elf Artikeln die verschiedenen Verfahren zur Datenerhebung und ihr Zusammenhang mit den Forschungszielen sowie die unterschiedlichen Möglichkeiten der Datenbearbeitung ausführlich dargestellt. Zu den dialektologischen Arbeitsverfahren gehören auch die verschiedenen Formen der Datenpräsentation und Ergebnisdarstellung. Als bevorzugte und maßgebliche Präsentationsformen gelten in der Dialektologie die kartographische, die apparative und die statistische Datenpräsentation, die jeweils verschiedene Eigenschaften der S prachdaten abbilden. Diese sowie die verschiedenen Typen der Ergebnisdarstellung werden in den fünf Artikeln des VI. Kapitels behandelt. S eit etwa 1960 werden auch Rechner in der Dialektologie als Dokumentationsmedium und Forschungsinstrument eingesetzt. Daher werden im VII. Kapitel in fünf Artikeln die computativen Arbeitsverfahren beschrieben. Angestrebt ist einerseits ein praxisorientierter Überblick über diejenigen Anwendungsfälle, die bereits in ein effektives Nutzungsstadium gelangt sind; andererseits werden mit der Darbietung von Entwürfen zu dialektalen Informationssystemen zukunftsorientierte Aufgaben formuliert. Im zweiten Halbband werden in fünf Kapiteln die Ergebnisse der Beschreibungen der deutschen Dialekte aufgrund des derzeitigen Forschungsstandes dargestellt. Mehrere Artikel bieten jedoch auch neue Forschungsergebnisse. Im VIII. Kapitel, das den zweiten Halbband eröffnet, werden in drei Artikeln die arealen Bereiche deutscher Dialekte im Überblick dargestellt und eine neue Einteilung der deutschen Dialekte angeboten. Die Rolle der Dialekte bei der Herausbildung überregionaler S prachen wird an ausgewählten Beispielen in den vier Artikeln des IX. Kapitels untersucht. Die vielfältigen konkreten Ausprägungsmöglichkeiten der Entwicklungslinie Dialekt — Verkehrssprache — Kultursprache werden deutlich, und die Problematik der Umgangssprachen erscheint in verändertem Licht. In den nächsten drei Kapiteln, X bis XII, werden die relevanten Eigenschaften der deutschen Dialekte beschrieben. Die Kapitel berücksichtigen jeweils andere Beschreibungsebenen. In den vierzehn Artikeln des X. Kapitels werden die phonetisch-phonologischen Eigenschaften, im XI. Kapitel mit elf Artikeln die morphologischen und syntaktischen und im XII. Kapitel, das fünf Artikel enthält, die lexikalisch-semantischen Eigenschaften beschrieben. Die Eigenschaftsbeschreibung bezieht sich in allen Artikeln auf alle deutschen Dialekte. Dadurch entsteht eine Darstellung der deutschen
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Dialekte, die sich von anderen Übersichtsdarstellungen erheblich unterscheidet und diese ergänzt. Die gewählte Darstellungsweise zeigt nicht nur die Vielfalt der Forschungsmethoden und die Breite und Differenziertheit der Kenntnisse, sondern auch deutlich die weißen Flecken in der Erforschung der Eigenschaften der deutschen Dialekte. Dies soll auch Anregung und gezielten Anstoß für weitere Arbeiten geben. Im XIII. Kapitel werden unter dem Terminus „Kommunikative Dialektologie“ die neueren Forschungsansätze behandelt, die sich mit den Verständigungsproblemen des Dialektsprechers befassen, die sich aus den verschiedenen Ausprägungen der Diglossie-S ituation ergeben. Die zehn Artikel dieses Kapitels liegen daher im Übergangsbereich von Dialektologie und S oziolinguistik und anderen Disziplinen wie Didaktik und Psychologie. Wenn S prache, Dialekt und Dialektgebrauch von einzelnen und von Gruppen eine adäquate Beschreibung und Erklärung erfahren sollen, muß die Dialektologie Kontakte zu anderen Wissenschaftszweigen knüpfen, die wiederum die dialektologischen Ergebnisse in ihre eigenen Forschungsarbeiten einbringen können. Im XIV. Kapitel werden daher in sechs Artikeln ausgewählte interdisziplinäre Aspekte der dialektologischen Forschung behandelt, so daß die verschiedenen Formen des wissenschaftlichen Austausches erkennbar werden. Schließlich wird im letzten XV. Kapitel, das sich in drei Artikeln mit dem Verhältnis von Dialekt und Dichtung befaßt, der engere Bereich der Dialektologie verlassen und ein Ausblick auf eine exponierte S onderform des Dialektgebrauchs gegeben. Die Artikel des Handbuches wurden in Zusammenarbeit mit den Autoren untereinander abgestimmt. Es sei aber ausdrücklich erwähnt, daß eine durchgehende und rigorose terminologische Vereinheitlichung nicht angestrebt wurde. Denn sozialwissenschaftliche Termini benennen nicht nur Gegenstände, die als wissenschaftliche einfach fraglos vorgegeben sind, sondern machen — innerhalb eines terminologischen Netzes — die wissenschaftlichen Gegenstände in ihrer spezifischen Verfaßtheit überhaupt erst zugänglich, so daß mit terminologischen Vereinheitlichungen häufig eine zunächst nicht bemerkte Veränderung der Perspektive verbunden ist. Die Herausgeber haben sich daher bemüht, einen Mittelweg zu finden zwischen einer unnötigen terminologischen Vielfalt, die der Verständigung über wissenschaftliche Gegenstände hinderlich ist, und einer rigorosen terminologischen Vereinheitlichung, die nur durch — nie interessenlose — S prachregelung erreicht werden kann und die betroffenen Gegenstandsbereiche zu Einöden macht. Am Ende einer Arbeit, die rund sechs Jahre gedauert hat und die, weil sie schwierig und interessant war, viel Freude und Erfahrung gebracht hat, steht der Dank an alle, die mitgearbeitet haben. Der Dank gilt zunächst den Autoren der Artikel. Viele von ihnen haben Änderungs- und Ergänzungswünsche — z. T. nach gründlicher Diskussion mit den Herausgebern — akzeptiert. Manche von ihnen sind kurzfristig für andere Autoren eingesprungen, die ausscheiden mußten, und haben ihre Artikel unter Zeitdruck verfaßt. Dies gilt vor allem für die Artikel 24, 28, 34 a, 56, 85 (Teil 2), 95 und 101. Den Autoren dieser Artikel, Klaus Gluth, Marion Lompa, Hans-Henning S molka; Heinz H. Menge, Antonio Almeida, Angelika Braun; Heinrich Lüssy, Iwar Werlen, Bernhard S chnell und Walter Haas sei besonders gedankt. — Alle neugezeichneten Karten und Abbildungen in beiden Halbbänden hat Helmut S cholz, der ehemalige wissenschaftlich-technische Zeichner des Forschungsinstituts für deutsche S prache in Marburg gezeichnet; ohne seine Erfahrung wäre die Herstellung der Karten und Abbildungen noch schwieriger gewesen als sie ohnehin schon war. Ihm sowie dem Fotolaboranten des Marburger Forschungsinstituts, Wilfried Braun, der die notwendigen Verfilmungen vorgenommen hat, danken die Herausgeber und der Verlag. — Dankbar erwähnt sei auch, daß das Forschungsinstitut für deutsche S prache — Deutscher S prachatlas an der Philipps-Universität Marburg, das Institut für geschicht-
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liche Landeskunde der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie das Germanistische S eminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg ihre Einrichtungen zur Verfügung gestellt haben. Die Organisationszentrale für dieses Handbuch war am Lehrstuhl für germanistische Linguistik in Heidelberg; der S ekretärin an diesem Lehrstuhl, Gisela S chmidt, sei für ihre umsichtige und ordnungsstiftende Arbeit sehr herzlich gedankt. Auch die Hilfe von S tefan Mayer und Werner Wolski am S achregister sei dankend erwähnt. Schließlich und nicht zuletzt danken die Herausgeber dem Verlag de Gruyter, der die Verwirklichung dieses Handbuches ermöglichte. Der Verlag und die Herausgeber hoffen, daß dieses Handbuch die dialektologischen Forschungsarbeiten fördert. Im Sommer 1982
W. Besch, U. Knoop, W. Putschke, H. E. Wiegand
XVII
Inhalt Erster Halbband V Geleitwort ............................................................................................................................ XI Vorwort ................................................................................................................................ Verzeichnis der Abkürzungen .............................................................................................. XXIII Verzeichnis der Karten ........................................................................................................ XXVI Verzeichnis der Abbildungen ............................................................................................... XXIX
Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen: Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
I. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 8a. 9. 10. 11.
Ulrich Knoop, Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegung der Dialektologie .................................................................................................... Ingo Reiffenstein, Das phonetische Beschreib ungsprinzip als Ergeb nis junggrammatischer und dialektologischer Forschungsarbeiten............................... Ulrich Knoop/Wolfgang Putschke/Herb ert Ernst Wiegand, Die Marb urger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie.................. Gerda Gro b er-Glück, Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren....................................................................................................................... Matthias Zender, Prinzipien und Praxis dialektaler Lexikographie am Beispiel des Rheinischen Wörterbuchs................................................................... Arno Ruoff, Die Forschungstätigkeit der Württemb ergischen Schule als Beispiel regionaler Dialektologie............................................................................ Peter Wiesinger, Die Reihenschrittheorie: Muster eines dialektologischen Beitrags zur Erklärung des Lautwandels................................................................. Rudolf Trüb , Der Sprachatlas der deutschen Schweiz als Beispiel einer sprachgeographischen Gesamtdarstellung............................................................... Konrad Kunze, Der ‘Historische Südwestdeutsche Sprachatlas’ als Muster historischer Dialektgeographie.................................................................... Claus Jürgen Hutterer, Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologische Arbeitsprinzipien.......................................................................................... Antonius A. Weijnen, Deutsche Dialektologie und europäische Dialektforschung: wechselseitige Wirkungen..................................................................... Ernst Bremer/Walter Hoffmann, Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungen der Dialektologie im deutschen Sprachgebiet......................
1 23 38 92 113 127 144 151
178 190 202
XVIII
Inhalt
II.
Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
12. 13. 14. 15.
Wolfgang Putschke, Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie..................... René Jongen, Theoriebildung der strukturellen Dialektologie................................ Werner Heinrich Veith, Theorieansätze einer generativen Dialektologie............... Hannes Scheutz/Peter Haudum, Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie...........................................................................................................
III.
Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
16.
Gerhard W. Baur, Der Dialekt von Schiltach und Umgeb ung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie.................................................. Hermann Nieb aum, Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie................................................................................ Donald A. Becker, Der Dialekt von Barr (Elsaß). Eine Pilotstudie im Rahmen der generativen Dialektologie................................................................... Andreas Weiss, Sprachge b rauch in Ulrichs b erg/O b erösterreich. Eine Pilotstudie in kommunikativer Dialektologie..........................................................
17. 18. 19.
IV.
Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
20.
Hugo Steger, Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie......................................................................................................................... Klaus Heger, Verhältnis von Theorie und Empirie in der Dialektologie................. Heinrich Löffler, Gegenstandskonstitution in der Dialektologie: Sprache und ihre Differenzierungen...................................................................................... Werner König, Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie...................... Klaus Gluth/Marion Lompa/Hans-Henning Smolka, Verfahren dialektologischer Karteninterpretation und ihre Reichweite............................................. Harald Händler/Herb ert Ernst Wiegand, Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme........................................................... Heinrich Löffler, Interferenz-Areale Dialekt/Standardsprache: Projekt eines deutschen Fehleratlasses.................................................................................
21. 22. 23. 24. 25. 26.
V.
Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebung und Datenbearbeitung
27.
Ruth Wodak, Erheb ung von Sprachdaten in natürlicher und simuliertnatürlicher Sprechsituation......................................................................................
232 248 277 295
316 340 361 375
397 424 441 463 485 501 528
539
Inhalt
28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 34a. 35. 36.
XIX
Heinz H. Menge, Erheb ung von Sprachdaten in ‘künstlicher’ Sprechsituation (Experiment und Test)...................................................................................... Jürgen Eichhoff, Erhebung von Sprachdaten durch schriftliche Befragung............ Konrad Kunze, Erhebung von Sprachdaten aus schriftlichen Quellen.................... Jochen Hufschmidt, Erheb ung von situativen Daten und Daten der nonverbalen Kommunikation........................................................................................ Klaus J. Mattheier, Erheb ung von Regionaldaten (historisch, sozial, kulturell, geographisch)........................................................................................... Valentin Reitmajer, Erhebung von Sozialdaten des Informanten............................ Helmut Richter, Darstellung und Verwendung verschiedener Transkriptionssysteme und -methoden................................................................................... Antonio Almeida/Angelika Braun, Prob leme der phonetischen Transkription .................................................................................................................. Georg Heike, Apparative Transformation phonetischer Signale............................. Klaus J. Mattheier, Datenerhebung und Forschungsziel.........................................
VI.
Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentation und Ergebnisdarstellung
37.
Georg Heike, Apparative Datenauf b ereitung im signalphonetischen Bereich..................................................................................................................... Gabriel Altmann/Carl Ludwig Naumann, Statistische Datendarstellung................ Carl Ludwig Naumann, Kartographische Datendarstellung.................................... Horst Singer, Typen grammatischer Darstellung..................................................... Peter Kühn, Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung.....................................
38. 39. 40. 41.
544 549 554 562 572 580 585 597 615 622
640 654 667 693 702
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie 42. 43. 44. 45. 46.
Günter Fleischmann, Automatische Signalverarbeitung......................................... Ulrich Scheuermann, Automatische Lexikographie................................................ Wolfgang Putschke/Robert Neumann, Automatische Sprachkartographie............. Hans Goebl, Ansätze zu einer computativen Dialektometrie.................................. Harald Händler, Entwürfe zu dialektalen Informationssystemen............................
Zweiter Halbband (Inhaltsübersicht) VIII. Ergebnisse dialektologischer Beschreibungen: areale Bereiche deutscher Dialekte im Überblick 47.
Peter Wiesinger, Die Einteilung der deutschen Dialekte
724 736 749 778 792
XX
48. 49.
Inhalt
Peter Wiesinger, Deutsche Dialektgeb iete außerhalb des deutschen Sprachgebiets: Mittel-, Südost- und Osteuropa (mit einem Anhang von Heinz Kloss) Friedhelm Deb us, Deutsche Dialektgeb iete in älterer Zeit: Prob leme und Ergebnisse ihrer Rekonstruktion
IX.
Ergebnisse dialektologischer Beschreibungen: zur Rolle von Dialekten bei der Herausbildung überregionaler Sprachen
50.
Werner Besch, Dialekt, Schreib dialekt, Schriftsprache, Standardsprache. Exemplarische Skizze ihrer historischen Ausprägungen im Deutschen Willy Sanders, Die Sprache der Hanse Horst Haider Munske, Umgangssprache als Sprachenkontakterscheinung
51. 52. 53.
Dovid Katz, Zur Dialektologie des Jiddischen (autorisierte Üb ersetzung von Manfred Görlach)
X.
Ergebnisse dialektologischer Beschreibungen: phonetischphonologische Eigenschaften deutscher Dialekte
54.
Peter Wiesinger, Phonologische Vokalsysteme deutscher Dialekte. Ein synchronischer und diachronischer Überblick Peter Wiesinger, Diphthongierung und Monophthongierung in den deutschen Dialekten Heinrich Lüssy, Umlautung in den deutschen Dialekten Peter Wiesinger, Dehnung und Kürzung in den deutschen Dialekten Peter Wiesinger, Rundung und Entrundung, Palatalisierung und Entpalatalisierung, Velarisierung und Entvelarisierung in den deutschen Dialekten Peter Wiesinger, Hebung und Senkung in den deutschen Dialekten Walter Haas, Vokalisierung in den deutschen Dialekten Norb ert Richard Wolf, Durchführung und Verb reitung der Zweiten Lautverschiebung in den deutschen Dialekten Franz Simmler, Konsonantenschwächung in den deutschen Dialekten Iwar Werlen, Velarisierung (Gutturalisierung) in den deutschen Dialekten Kurt Rein, Metathese in den deutschen Dialekten Ingrid Guentherodt, Assimilation und Dissimilation in den deutschen Dialekten Kurt Rein, Kontraktion in den deutschen Dialekten
55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67.
Georg Heike, Suprasegmentale blick und Forschungsbericht
dialektspezifische
Eigenschaften.
Üb er-
Inhalt
XXI
XI.
Ergebnisse dialektologischer Beschreibungen: morphologische und syntaktische Eigenschaften deutscher Dialekte
68.
Baldur Panzer, Formenneutralisation in den Flexionssystemen deutscher Dialekte Hans-Georg Maak, Sonderformen in den Pronominalsystemen deutscher Dialekte Günter Lipold, Adjektivische Deklinationssysteme in den deutschen Dialekten Heinrich J. Dingeldein, Spezielle Pluralb ildungen in den deutschen Dialekten Gaston Van der Elst, Ab weichungen b ei der Genuszuordnung in den deutschen Dialekten David Hooge, Verwendungstypen der Tempusformen in den deutschen Dialekten Laurits Saltveit, Anlage der Modussysteme in den deutschen Dialekten Günter Lipold, Möglichkeiten der Komparation in den deutschen Dialekten Gerhard Koß, Realisierung von Kasusrelationen in den deutschen Dialekten Elmar See b old, Diminutivformen in den deutschen Dialekten
69. 70. 71. 72. 73. 74. 75. 76. 77. 78.
Beate Henn, Syntaktische Eigenschaften deutscher Dialekte. Üb erb lick und Forschungsbericht
XII. Ergebnisse dialektologischer Beschreibungen: lexikalischsemantische Eigenschaften deutscher Dialekte 79. 80. 81. 82. 83.
Hans Frieb ertshäuser, Die großlandschaftlichen Wörterb ücher der deutschen Dialekte. Areale und lexikologische Beschreibung Oskar Reichmann, Untersuchungen zur lexikalischen Semantik deutscher Dialekte: Überblick über die theoretischen Grundlagen, über die Sachbereiche und den Stand ihrer arealen Erfassung Frédéric Hartweg, Typen lexikalischer Entwicklungen. Eine Fallstudie am Beispiel des elsässischen Dialekts Reiner Hildeb randt, Typologie der arealen lexikalischen Gliederung deutscher Dialekte aufgrund des Deutschen Wortatlasses Peter Kühn/Ulrich Püschel, Die Rolle des mundartlichen Wortschatzes in den standardsprachlichen Wörterbüchern des 17. bis 20. Jahrhunderts
XIII. Kommunikative Dialektologie: der Dialektsprecher im gesellschaftlichen Spannungsfeld 84.
Werner Besch, Entstehung Diglossie im Deutschen
und
Ausprägung
der b innensprachlichen
XXII
85.
86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93.
Inhalt
Claus Schuppenhauer/Iwar Werlen, Stand und Tendenzen in der Domänenverteilung zwischen Dialekt und deutscher StandardspracheTeil 1: Die nördliche Hälfte des deutschen SprachgebietesTeil 2: Die südliche Hälfte des deutschen Sprachgebietes Frédéric Hartweg, Tendenzen in der Domänenverteilung zwischen Dialekt und nicht-deutscher Standardsprache am Beispiel des Elsaß Kurt Rein, Bestimmende Faktoren für den variierenden Sprachgeb rauch des Dialektsprechers Klaus J. Mattheier, Der Dialektsprecher und sein Sprachgeb rauch: Auswirkungen und Bedeutung für den Sprachwandel Joachim Hasselb erg, Die soziolinguistische Prob lematik der Schichtzuordnung von Dialektsprechern Klaus-Peter Wegera, Prob leme des Dialektsprechers b eim Erwerb der deutschen Standardsprache (Schule, Beruf, Medien) Wolfgang Viereck, Prob leme des Dialektsprechers b eim Fremdsprachenerwerb Ulrich Ammon, Soziale Bewertung des Dialektsprechers: Vor- und Nachteile in Schule, Beruf und Gesellschaft Erich Straßner, Rolle und Ausmaß dialektalen Sprachgeb rauchs in den Massenmedien und in der Werbung
XIV. Interdisziplinäre Aspekte der Dialektologie 94. 95. 96. 97. 98. 99.
Stefan Sonderegger, Leistung und Aufgab e der Dialektologie im Rahmen der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen Bernhard Schnell, Verwendungsmöglichkeiten dialektologischer Ergeb nisse in der Textkritik Thomas Luckmann, Gesellschaft und Sprache; Soziologie und Dialektologie Heinrich L. Cox, Wechselseitige Beziehungen zwischen Dialektologie und thematischer Kartographie in der deutschen Volkskunde Ernst Bremer, Ansätze zur Einb eziehung und Berücksichtigung sprachlicher Differenzierungen in der Raumplanung (unter Mitarbeit von Klaus Ridder) Wolfgang Kleib er, Das Verhältnis von Dialektologie, Namenforschung und Landesgeschichtsschreibung
XV.
Dialekt und Dichtung
100.
Jürgen Hein, Darstellung des Dialektsprechers in der neueren deutschen Dichtung Walter Haas, Dialekt als Sprache literarischer Werke Hans-Rüdiger Fluck, Neuere deutsche Mundartdichtung: Formen, Programme und Perspektiven
101. 102.
XXIII
Verzeichnis der Abkürzungen Dieses Verzeichnis enthält die Abkürzungen beider Halbbände. In diese Zusammenstellung wurden die folgenden Abkürzungen nicht aufgenommen: (1) alle Abkürzungen, die in den Literaturangaben verwendet werden, (2) alle weitgehend standardsprachlich oder allgemein wissenschaftssprachlich bekannten Abkürzungen, wie bzgl., evtl., Anm., Jh., (3) alle Abkürzungen, bei denen lediglich das Suffix -isch weggelassen wurde, z. B. bair., langobard., sauerländ., und (4) alle Abkürzungen, die sich aus einem nichtabgekürzten Kompositumsglied und einer erläuterten oder lediglich um das Suffix -isch verringerten Abkürzung zusammensetzen, wie beispielsweise hochdt., nordthür., gesamtalem.; altsächs., moselfränk., nordböhm . Eine Vereinheitlichung der Abkürzungen wurde von den Herausgebern nicht für notwendig erachtet, da in dem gesamten Handbuch relativ wenige Abkürzungen verwendet wurden und diese zumeist in den Artikeln selbst auch noch erläutert werden.
A. aAdj., adj. ADV Adv., adv. A/D-Wandler AFFR. afrz. Ahd., ahd. AI AIS Akk. aksl. ALA ALE Alem., alem. ALF and., andt. APB API ARD
Art. as. ASV Auslt. BASF brandenb. BRSS
Akkusativ altAdjektiv, adjektivisch Atlas der deutschen Volkskunde Adverb, adverbial Analog-Digital-Wandler Affrikata altfranzösisch Althochdeutsch, althochdeutsch artificial intelligence Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz Akkusativ altkirchenslawisch Atlas linguistique et ethnographique de l’Alsace Atlas Linguarum Europae Alemannisch, alemannisch Atlas linguistique de la France altniederdeutsch Atlas-Punkt-Bewertung The principles of the international phonetic association Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland Artikel altsächsisch Atlas der schweizerischen Volkskunde Auslaut Badische Anilin- und Sodafabrik brandenburgisch Verfahren zur Messung des für das Bildungsverhalten relevanten Status
BSG bU CFDT CIAP D. Dat. DDG
Det. DFG Dim. D. N. A. DRZ DSA dt., dtsch. DV DWA DWB EDV
Beiträge zur schweizerdeutschen Grammatik bairische Umgangssprache Confédération Française Démocratique du Travail Commission Internationale des Arts et Traditions Populaires Dativ, Dialekt Dativ Deutsche Dialektgeographie. Berichte und Studien über G(eorg) Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs Determinante Deutsche Forschungsgemeinschaft Diminutiv Dernières Nouvelles d’Alsace (Tageszeitung) Deutsches Rechenzentrum Deutscher Sprachatlas deutsch Datenverarbeitung Deutscher Wortatlas Deutsches Wörterbuch
els. Ep. Ex.
Elektronische Datenverarbeitung elsässisch Epping; Ostlothringen Examensarbeit
f. F., Fem. frfranz.
feminin Femininum frühfranzösisch
Verzeichnis der Abkürzungen
XXIV
frk. frnhd. Frz., frz.
fränkisch frühneuhochdeutsch Französisch, französisch
G. germ. GESJ. GTG, gTg
Genitiv germanisch Gesamtjiddisch generative Transformationsgrammatik
H. HA
intervok. i-U.
Hochsprache Sprecher des hochalemannischen Dialektraumes Halbvokal Hochdeutsch, hochdeutsch Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas indogermanisch Internationales Dialektinstitut Inlaut INSEE Institut National de la Statistique et des Etudes Economiques intervokalisch i-Umlaut
J., j.
Jiddisch, jiddisch
K. KDSA KJ Kompl. Rel. Kond. Rel. Kons. KONT. K. P. F. Kt., Kte(n).
Karte, Komparativ Kleiner Deutscher Sprachatlas Kolonialjiddisch Komplementärrelation Konditionalrelation Konsonant Kontinuant Kommunistische Partei Frankreichs Karte(n)
laer. lat. LDV LIQ. Lou. LSA LSB luxemb. LV-Isoglosse
laerisch; Osnabrück/Westfalen lateinisch Linguistische Datenverarbeitung Liquid Loutzviller; Ostlothringen Luxemburgischer Sprachatlas least significant bit luxemburgisch Lautverschiebungsisoglosse
M., m. mMa., ma. männl. Mask. MAX/
Maskulinum, maskulin mittelMundart, mundartlich männlich Maskulinum Maximalwert arithmetisches Mittel Mitteldeutsch, mitteldeutsch Mundart(en) mundartlich mecklenburgisch Median Median Mittelwert
HABVOK. Hd., hd., hdt. HSS, HSWS idg. IDI Inlt. I. n. s. e. e.
Md., md., mdt., Mda., Mdaa. mdl. meckl. MED MEDMW
Mhd., mhd. MINMWMAX Mnd.. mnd. Mou. N. n. nNA NAS. nass. Nd., nd., nddt. ndl. ndt. NDR Nds. Wb. Neutr. Nhd., nhd. niederl. nieders. NLJ. N. N. NOJ. Nom. NORAG nordndsächs. NP nsächs. NÜJ. NWJ. oobd. OBSTR. odt. OE OJ. OKKL. OLA ond. onomasiol. ORF österr. P. Part. Part. Prät. PCM-Aufnahme Pers. phonol. Pl. PP Präs., Praes. ProN Ps. PU
Mittelhochdeutsch, mittelhochdeutsch Minimalwert Mittelwert Maximalwert Mittelniederdeutsch, mittelniederdeutsch Mouterhouse; Ostlothringen Nomen, Nominativ, Neutrum neutrum neu-, nord-, nördlich Sprecher des niederalemannischen Dialektraumes Nasal nassauisch Niederdeutsch, niederdeutsch niederländisch niederdeutsch Norddeutscher Rundfunk Niedersächsisches Wörterbuch Neutrum Neuhochdeutsch, neuhochdeutsch niederländisch niedersächsisch Niederländisches Jiddisch Normal Null Nordostjiddisch Nominativ Norddeutsche Rundfunk Aktiengesellschaft nordniedersächsisch Nominalphrase niedersächsisch nördliches Übergangsjiddisch Nordwestjiddisch ost-, östlich oberdeutsch Obstruent oberdeutsch Oberelsaß Ostjiddisch Okklusiv Obščeslavjanskij, lingvističeskij atlas ostniederdeutsch onomasiologisch Österreichischer Rundfunk österreichisch Person, Positiv Partizip Partizip Präteritum pulse code modulation-Aufnahme Person phonologisch Plural Präpositionalphrase Präsens Pronomen Person Primärumlaut
Verzeichnis der Abkürzungen
R. RB refl. RIAS RIW RKM S s. sSA saarl. SchlSA schwdt., schzd. schweiz. SDS SDSA Sg. SGEN-CFDT
Sing. SN-Index SNI SOJ. SON. spspmhd. SRG SSA st. sth. stl. SU SÜJ. SÜRAG
Rang Radio Bremen reflexiv Rundfunk im amerikanischen Sektor von Berlin Relativer Identitätswert Relatives Kohärenzmittel Satz schwach, singular süd-, südlich Sprachatlas saarländisch Schlesischer Sprachatlas schweizerdeutsch schweizerisch Sprachatlas der deutschen Schweiz Siebenbürgisch-deutscher Sprachatlas Singular Syndicat Général de l’Education Nationale — Confédération Française Démocratique du Travail Singular Sprech-Niveau-Index Syndicat National des Instituteurs Südostjiddisch Sonorant spätspätmittelhochdeutsch Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft Südwestdeutscher Sprachatlas stark stimmhaft stimmlos Sekundärumlaut südliches Übergangsjiddisch Süddeutsche Rundfunk Aktiengesellschaft
XXV
sw. SWF SWJ. swzdt.
schwach Südwestfunk Südwestjiddisch schweizerdeutsch
ThDA thür. TOT T-Regeln
Thüringischer Dialektatlas thüringisch Totalkorpus Transformations-Regeln
UDSA UE ÜJ. ugs., ugspr. Urk. US
Ungarndeutscher Sprachatlas Unterelsaß Übergangsjiddisch umgangssprachlich Urkunde Umgangssprache
V V. VALTS
Verb Vers Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluß des Fürstentums Liechtenstein, des Allgäu und Westtirols Volkswörterbuch vorpommerisch Verbalphrase versus
Volkswb. vorpomm. VP vs. wWb., WB. WDG WDR weibl. westf., wf. wgm., wgerm. WJ. wmd.
west-, westlich Wörterbuch Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache Westdeutscher Rundfunk weiblich westfälisch westgermanisch Westjiddisch westmitteldeutsch
ZDF ZJ. ZOJ. ZWJ.
Zweites Deutsches Fernsehen Zentraljiddisch Zentralostjiddisch Zentralwestjiddisch
XXVI
Verzeichnis der Karten Dieses Verzeichnis enthält die Karten des ersten Halbbandes. In der benutzten Numerierung benennt die erste Dezimalziffer den Artikel und die zweite Dezimalziffer bezeichnet die Karte innerhalb dieses Artikels. In eckigen Klammern werden weitere Erläuterungen zu den j eweiligen Karteninhalten gegeben, die in den Kartenunterschriften nicht enthalten sind. Karte 3.1: Joh. Andreas Schmellers Karte der Mundarten Bayerns (aus Schmeller 1821) 44 Karte 3.2: Sprach-Karte der Rheinprovinz nördlich der Mosel (aus Wenker 1877) 48 Karte 3.3: Verschiebung von nhd. -p- zu -f-, -rp zu -rf in der Rheinprovinz nördlich der Mosel] (aus DSA-Archiv) 54 Karte 3.4: Übergang von -nd- zu -ng- und -nn- in binden, finden, hinten und unten [in der Rheinprovinz nördlich der Mosel] (aus DSA-Archiv) 55 Karte 3.5: Karte des Inlauts von Ofen [in der Rheinprovinz nördlich der Mosel] (aus DSAArchiv) 56 Karte 3.6: Beispiel einer Manuskriptkarte (J4 Ofen) für den Sprachatlas der Rheinprovinz nörd- lich der Mosel sowie des Kreises Siegen (aus DSA-Archiv) nach S. 56 Karte 3.7: Kartenbeispiel aus dem Sprachatlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen (in geänderter Farbwiedergabe aus Wenker 1878, Blatt 4) nach S. 56 Karte 3.8: Kartenbeispiel aus dem Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland: Pronomina euch, euer (in reduzierter Farbwiedergabe aus Wenker 1881, Blatt 28) nach S. 60 Karte 3.9: Übersichtskarte zu den 13 Abteilungen des Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland (aus Wenker 1881, Umschlagseite) 61 Karte 3.10: Kartenbeispiel aus dem sogen. Pronomina-Atlas (= Sprachatlas von Nordwestdeutschland): Pronomen du (in reduzierter Farbwiedergabe aus Wenker 1886 a, Blatt 3) nach S. 64 Karte 3.11: Kartenbeispiel (Nordwestblatt) aus dem Sprachatlas des deutschen Reiches: machen, Satz 17 (in reduzierter Farbwiedergabe aus DSAArchiv) nach S. 68 Karte 3.12: Kartenbeispiel aus dem Deutschen Sprachatlas: machen, Satz 17 (aus DSA, Karte nach S. 10) 68 Karte 3.13: Wortkarte ‘hinter’ für die Rheinprovinz nördlich der Mosel (aus DSA-Archiv) 70 Karte 3.14: [Beispiel einer] Kombinationskarte [für das Cronenberger Gebiet] (aus Leihener 73 1908)
Karte 3.15: Wortkarte ‘auf dem Eise gleiten’ [aus dem Wortatlas des Kreises Wetzlar und der umliegenden Gebiete] (aus Wenzel 1930, Karte 9) 75 Karte 3.16: Bedeutungskarte ‘das Viergebein’ [aus dem Wortatlas des Kreises Wetzlar und der umliegenden Gebiete] (aus Wenzel 1930, Karte 94) 76 Karte 3.17: Wortkarte ‘Rechen’ [für das gesamtdeutsche Sprachgebiet] (aus Martin 1924 (1980), Karte 13) 79 Karte 5.1: Arbeitsgebiet des Rheinischen Wörterbuches (aus Rheinisches Wörterbuch Bd. 9, 115 1964—1971, Übersichtskarte) Karte 5.2: Wortkarte ‘heiraten’ [für das Erhebungsgebiet des Rheinischen Wörterbuchs] (aus Rheinisches Wörterbuch Bd. 3, 1935, 122 459—460) Karte 8.1: Kartentechnik des SDS: Oppositionskarte. Morphologische Opposition tragen/getragen (aus SDS III, 1975: Originalkarte 9, verkleinert) nach S. 152 Karte 8.2: Kartentechnik des SDS: Additionskarte. Apokope in Fliege, Sonne, Kerze, Brücke. (aus SDS III, 1975: Ausschnitt aus Karte 184, verkleinert) 157 Karte 8.3 und 8.4: Kartentechnik des SDS: Kartenpaar. Mhd. a in offener Silbe vor s in Wasen/ Nase (aus SDS II, 1965: Karte 11 und 12, verkleinert) 160 Karte 8 a.1: Normalschreibungen für mhd. ou im Südwesten nach Urbaren des 13. bis 15. Jhs. (aus HSS 1979, Karte 75 und Kleiber 1980, Karte 170 9) Karte 8 a.2: Sonderschreibungen für mhd. öu im Südwesten nach Urbaren des 13. bis 15. Jhs. (aus HSS 1979, Karte 81) 172 Karte 8 a.3: Das Genus von pfad im Südwesten nach Urbaren des 13. bis 15. Jhs.: Schreibortloka174 lisation (aus Kunze 1976, Karte 2) Karte 8 a.4: Das Genus von pfad [im Südwesten nach Urbaren des 13. bis 15. Jhs.], Ausschnitt aus Karte 8 a.3, mit Besitzortlokalisation 175 Karte 8 a.5: Opposition und Neutralisation der Normalschreibungstypen für wgerm. gg/kk im
Verzeichnis der Karten
Südwesten nach Urbaren des 13. bis 15. Jhs. (aus HSS 1979, Karte 193) 176 Karte 9.1: Kombination von Ortspunkt- und Flächendarstellung (ohne Interpretation), am Beispiel der deutschsprachigen Dörfer im Donauknie/ Ungarn (nach Hutterer 1963, Abb. 19) 185 Karte 13.1: Die palatalen Kurzvokale im Nordosten der Schweiz (nach Moulton 1960, 263 Karte 1) Karte 13.2: Die nordostschweizerdeutschen Inventare der nicht maximal geschlossenen Kurzvokale (nach Moulton 1960) 264 Karte 13.3: Bezugskarte der nicht-geschlossenen Kürzen im Nordosten der Schweiz (nach Moulton 1960) 269 Karte 13.4: Bedeutungskarte “Opper“ und Wortkarte des OLP [= onomasiologischen lexikalischen Paradigmas] “kleiner/großer Heuhaufen” im Norden von Belgisch-Limburg (nach Goossens 272 1968, Karte 58 und 1969, Karte 28) Karte 14.1: [Beispiel einer Regelkarte:] Satelliten der Antaxe zur Basis B, P, F, PF (Oberflächenstruktur) (aus Veith 1972, Karte 1) 289 Karte 14.2: [Beispiel einer Regelkarte:] Satelliten der Antaxe zur Basis G bzw. K (Oberflächenstruktur) (aus Veith 1972, Karte 3) 290 Karte 14.3: [Beispiel einer Regelkarte:] Satelliten der Abtaxe (Oberflächenstruktur); [B, P, PF, F]B im Wechsel mit [P, P, PF, F]B (aus Veith 1972, Karte 11) 291 Karte 14.4: [Beispiel einer Regelkarte:] Synopse der Gutturalisierungen in der Abtaxe (quantitative Analyse) (aus Veith 1972, Karte 23) 292 Karte 14.5: [Beispiel einer Regelkarte:] Tiefenstruktur in der Intaxe: Mittlere Reihe des Bezugssystems — kompakt, lang (aus Veith 1972, Karte 31) 292 Karte 14.6: [Beispiel einer Regelkarte:] Tiefenstruktur in der Intaxe: Mittlere Reihe des Bezugssystems — akut, rund, lang (aus Veith 1972, Karte 32) 293 Karte 14.7: [Beispiel einer Regelkarte:] Quantitative Analyse der Antaxe: Konkordanzen von Kontrast- und Bezugssystem auf Grund der Ersetzungsregeln (aus Veith 1972, Karte 8) 293 Karte 16.1: [Kartenbeispiel aus dem nördlichen Schwarzwald:] Lautkarte — Mhd. ei1 im Auslaut und vor oralen Konsonanten (aus Baur 1967 b, 324 Karte 69) Karte 16.2: [Kartenbeispiel aus dem nördlichen Schwarzwald:] Lautkarte — Mhd. b (intervokalisch) (aus Baur 1967 b, Karte 86) 325 Karte 16.3: [Kartenbeispiel aus dem nördlichen Schwarzwald:] Formenkarte — Personalendungen 327 der Verben (aus Baur 1967 b, Karte 110)
XXVII
Karte 16.4: [Kartenbeispiel aus dem nördlichen Schwarzwald:] Wortgeographische Karte (aus 329 Baur 1967 b, Karte 121) Karte 16.5: [Kartenbeispiel aus dem nördlichen Schwarzwald:] Kombinationskarte (aus Baur 331 1967 b, Karte 20) Karte 16.6: [Kartenbeispiel aus dem nördlichen Schwarzwald:] Territoriale Gliederung um 1780 334 (aus Baur 1967 b, Karte 17) Karte 16.7: [Kartenbeispiel aus dem nördlichen Schwarzwald:] Dialektgrenzen um Schiltach (aus 337 Baur 1967 b, ohne Kartennummer) Karte 23.1: Beispiel für unterschiedliche Grenzverläufe bei Primär- und Spontanbelegen [im schweizerdeutschen Dialektgebiet] (aus SDS III, 479 1975, Ausschnitt aus Karte 256) Karte 24.1: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Keilförmiger Vorstoß nach Norden 491 (nach Bach 1950, 139) Karte 24.2: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Inseln als Reliktgebiete (nach Bach 493 1950, 149) Karte 24.3: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Synchrone Konfigurationen als Ausbreitungsstadien (aus Hard 1972, Abb. 3) 498 Karte 25.1: Isoglossenkarte. Die lettischen Dialekte der Gegenwart (aus Bielenstein 1982 a, Karte VI) 505 Karte 25.2: Karte der schwäbisch-fränkischen Sprachgrenze in Württemberg — östliche Hälfte: von Backnang bis Dinkelsbühl (Ausschnitt aus Haag 1927 a nach Seite 87) 508 Karte 25.3: Computative Isoglossenkonstruktion mit Hilfe eines Wachstumsverfahrens (KDSA, Morph 23, Wenker-Satz 25) nach S. 512 Karte 26.1: Grundkarte zu einem deutschen Fehleratlas [der Bundesrepublik Deutschland] 531 Karte 26.2: [Beispiel einer Fehlerkarte:] Rundungs- und Entrundungsfehler 531 Karte 26.3: [Beispiel einer Fehlerkarte:] 532 Fehler imi/e-Bereich Karte 26.4: [Beispiel einer Fehlerkarte:] Fehler bei den nhd. Diphthongen 532 Karte 26.5: [Beispiel einer Fehlerkarte:] Fehler durch Auslautverhärtung und -erweichung 532 Karte 26.6: [Beispiel einer Fehlerkarte:] Fehler bei anlautend p-, t-, k532 Karte 26.7: [Beispiel einer Fehlerkarte:] Fehler im Bereich g/ch/j 533 Karte 26.8: [Beispiel einer Fehlerkarte:] Falsche Plurale auf -er und -s 533 Karte 26.9: [Beispiel einer Fehlerkarte:] Falsche Präsensformen 533 Karte 26.10: [Beispiel einer Fehlerkarte:] Falsches 533 Partizip Präsens
XXVIII
Karte 37.1: Geographische Verteilung von Formantmeßwerten des Vokals bzw. Diphthongs in schlesisch hin (aus Heike/Schindler 1970, 653 Karte 6) Karte 39.1: Lastig ‘schwierig’ in einem Teil des Niederländischen (aus Goossens 1965, 669 Karte 11) Karte 39.2: Bezeichnung für mento ‘Kinn’ im Sardischen (aus Saggio di un atlante linguistico delle Sardegna I, 1964, Karte 22) 669 Karte 39.3: Wortkarte ‘Sahne, aus der die Butter hergestellt wird’ für das schlesische Dialektgebiet (aus Schlesischer Sprachatlas Bd. 2, 1965, Karte 670 55) Karte 39.4: Struktur der Phoneme / ē, , ǣ / in der Nordschweiz (aus Moulton 1963, 79) 670 Karte 39.5: Distribution des /∫/ im Limburgischen (aus Goossens 1969, Karte 9) 671 Karte 39.6: Bezeichnungen für Hagebutte im Südostdeutschen (aus Naumann 1975, Karte 5 nach DWA 11, 1961, Karte 2) 671 Karte 39.7: Dialekt- und Verwaltungsgrenzen im Siegerland (aus Kroh 1915, nach Veith 1970, Karte 2) 671 Karte 39.8: Wortgrenzenbündel im Meißnischen 671 (aus Grosse 1955, Kombinationskarte I) Karte 39.9, 1 und 39.9, 2: Punktsymbolreduktion für eine kombinierte Punktsymbol-Flächenkarte (fiktives Beispiel) (aus Naumann 1975, 687 162) Karte 44.1: Beispiel einer Kumulativkartierung mit etwa 97% des Belegmaterials [für das deutsche Sprachgebiet; Belegmaterial Feld] (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38) 758 Karte 44.2: Beispiel einer Sonderbelegkartierung [für das deutsche Sprachgebiet; Belegmaterial 759 Feld] (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38) Karte 44.3: Beispiel einer etymologischen Typenkartierung [für das europäische Sprachgebiet; Belegmaterial ‘Hafer’]: Übersicht (ALE QI, 72: ‘Hafer’ (Arbeitsversion)) nach S. 760 Karte 44.4: Beispiel einer dokumentarischen Kartierung des etymologischen Typs germ. *ẖaƀran[für das europäische Sprachgebiet; Belegmaterial ‘Hafer’] (ALE QI, 72: ‘Hafer’ (Arbeitsversion)) nach S. 760 Karte 44.5: Beispiel einer Kombinationskartierung [für das deutsche Sprachgebiet; Belegmaterial für verschobene/unverschobene Plosiva p, t, k] (KDSA, 23 Morphe) nach S. 764 Karte 44.6: Beispiel einer Flächendarstellung nach dem Maskenverfahren [für das deutsche Sprachgebiet; Belegmaterial braun] (KDSA, Morph 27, Wenker-Satz 39) 765
Verzeichnis der Karten
Karte 44.7: Kartenbeispiel: Japan [Belegmaterial cowlick für Shizukuishi] (aus Ogino/Sibata 1977, 767 65) Karte 44.8: Kartenbeispiel: USA [Belegmaterial furrow und s-words für das südenglische Dialektgebiet] (aus Francis/Svartvik/Rubin 1969, 15 und 24) 768 Karte 44.9: Kartenbeispiel: USA [Belegmaterial daren’t und durstn’t im englischen Dialektgebiet] 769 (aus Francis 1970, 154) Karte 44.10: Kartenbeispiel: USA [Belegmaterial für the round flat pieces that you take out of the stove to put in the wood im US-amerikanischen 770 Sprachgebiet] (aus Cassidy 1977, 115) Karte 44.11: Kartenbeispiel: USA [Belegmaterial für a small stream of water für Missouri und seine 771 Nachbarstaaten] (aus Lance 1977, 295) Karte 44.12: Kartenbeispiel: Bundesrepublik Deutschland [Belegmaterial Abtaxe Zeit- für das deutsche Sprachgebiet] (KDSA, Morph 171, Wenker-Satz 13) nach S. 771 Karte 44.13: Kartenbeispiel: Bundesrepublik Deutschland [Belegmaterial ‘Sperling’ aus dem Sprachatlas des nördlichen Rheinlands und südlichen Niederlands] (aus Westerhoff 1977, 772 221) Karte 44.14: Kartenbeispiel: Bundesrepublik Deutschland/Niederlande [Belegmaterial Sätuch für einen Ausschnitt (Rheinlande/Luxemburg) des Atlas der Deutschen Volkskunde] (aus Cox 1972, 124) 773 Karte 45.1: Identitätsprofil zum Prüfbezugspunkt 172 (Villafalletto, Provinz Cuneo) anhand von 693 Arbeitskarten nach AIS; Rasterkarte und Stabdiagramm 783 Karte 45.2: Relative Identitätswerte (RIW) zum Prüfbezugspunkt 172 (Villafalletto, Provinz Cuneo) anhand von 693 Arbeitskarten nach AIS nach S. 784 Karte 45.3: Digitales Geländemodell einer numerischen Synopse von 251 Schiefewerten (Korpus 784 wie bei Karte 45.1) Karte 45.4: Dendrogramm einer hierarchischagglomerativen Clusteranalyse (71 Atlaspunkte nach ALF) anhand RIW und 1468 Arbeitskarten nach ALF 786 Karte 45.5: Kartographische Darstellung des clusteranalytischen Dendrogramms (vgl. 787 Karte 45.4) Karte 45.6: Kohärenzprofil der Normandie anhand von 1468 Arbeitskarten nach ALF; Rasterkarte und Stabdiagramm 788 Karte 45.7: Relative Kohärenzmittel (RKM) 789 anhand von 1468 Arbeitskarten nach ALF
XXIX
Verzeichnis der Abbildungen Dieses Verzeichnis enthält die Abbildungen des ersten Halbbandes. In der benutzten Numerierung benennt die erste Dezimalziffer den Artikel und die zweite Dezimalziffer bezeichnet die Abbildung innerhalb dieses Artikels. In eckigen Klammern werden weitere Erläuterungen zu den j eweiligen Abbildungsinhalten gegeben, die in den Abbildungsunterschriften nicht enthalten sind. Abb. 3.1: Positionierung der Marburger Schule innerhalb der Dialektgeographie 39 Abb. 3.2: Anweisung zum Ausfüllen des Fragebogens [von G. Wenker für seine rheinische Erhebung 1876] 49 Abb. 3.3: Schema zur wortgeographischen Darstellung bei Leihener (1908) 74 Abb. 3.4: Schematische Darstellung der acht Grundtypen für das Vordringen von Wörtern (aus Wenzel 1930, 107) 75 Abb. 3.5: Ausschnitt aus der ersten Auflage des ersten Fragebogens des Wörterbuchkartells (aus DSA-Archiv) 78 Abb. 5.1: Ausgefüllter Fragebogen zum Rheinischen Wörterbuch (aus Archiv des Rheinischen Wörterbuchs) 116 Textbeispiel 5.2: Artikel staden (aus Rheinisches 123 Wörterbuch Bd. 8, 1958—1964, 491—492) Abb. 7.1: Schematische Darstellung der Entwicklungsmöglichkeiten für final akzentuierte fallende Diphthonge nach der Reihenschrittheorie 147 Abb. 8.1: Kartentechnik des SDS: Oppositionskarte. Singular-Plural-Verhältnis Mann/Männer (aus SDS III, 1975: Legenden-Ausschnitt zu Karte 171, verkleinert) 158 Abb. 8.2: Kartentechnik des SDS: soziologische und stilistische Varianten im Wortschatz, Beispiel ‘Vater’ (aus SDS IV, 1969: Legenden-Ausschnitt aus Karte 118, verkleinert) 158 Abb. 8.3 und 8.4: Kartentechnik des SDS: Kartenpaar. Mhd. â in Schwager und System-Umlaut in Schwägerin (aus SDS I, 1962: Legenden-Ausschnitte aus den Karten 84 und 85, verkleinert) 159 Abb. 8.5 und 8.6: Kartentechnik des SDS: Kartenpaar. Haupt- und nachtonige Formen des Pronomens euch (aus SDS III, 1975: Legenden-Ausschnitte aus den Karten 209 und 210, 161 verkleinert) Abb. 8.7: Kartentechnik des SDS. Ergänzung der Karten durch Paradigmen-Listen. Varianten des
Indikativs Präsens gehen (aus SDS III, 1975: Ausschnitt aus der Paradigmenliste zu den Karten Indikativs Präsens gehen (aus SDS III, 1975: Aus56—58, Seite 62—63)
162
Abb. 12.1: Orientierungsschema für die Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie [Basismodell] 233 Abb. 13.1: Bezugsdiagramm für postvokalische Kontexte (nach Niebaum 1974) 253 Abb. 13.2: Distribution der Laerischen [Westfalen] Kurzvokalphoneme (nach Niebaum 1974) 253 Abb. 13.3: Distribution der Laerischen [Westfalen] Langvokalphoneme (nach Niebaum 1974) 253 Abb. 13.4: Distribution der Neudorfer [Ostvogtland] Langvokale (nach Schädlich 1966) 254 Abb. 13.5: Stemma [des lexikalischen Teilparadigmas Zimmermann — Tischler] 256 Abb. 13.6: Merkmalmatrix [des lexikalischen Teilparadigmas Zimmermann — Tischler] 257 Abb. 13.7: Stemma des SLP [= semasiologischen lexikalischen Paradigmas] leise 258 Abb. 13.8: Merkmalmatrix [des semasiologischen lexikalischen Paradigmas leise] 259 Abb. 13.9: Die nordschweizerischen Inventare der nicht maximal geschlossenen Langvokale; diasystematische Formel (nach Moulton 1963) 262 Abb. 13.10: [Westgermanisches] Bezugssystem [für das in Abb. 13.11 dargestellte Diasystem] 267 Abb. 13.11: Diasystem [der Vokale von Diepenau, Immecke und Stavenhagen (niederdeutsch)] mit Hilfe des Westgermanischen als Bezugsystem (nach Panzer-Thümmel 1971) 266 Abb. 13.12: [Diasystem der] kurzen ungerundeten nicht-geschlossenen Vordervokale der Mundarten von Luzern und Schwanden (nach Goossens 267 1969) Abb. 13.13: Schematische Darstellung der Entwicklungsgeschichte der Systeme [der kurzen ungerundeten nicht-geschlossenen Vordervokale der Mundarten von Luzern und Schwanden] (nach Goossens 1969) 268 Abb. 13.14: [Schematisches Modell für den] Vergleich von lexikalischen Beständen 270
XXX
Abb. 13.15: [Schematische Formulierung] Diatopische Tautonymie 270 Abb. 13.16: [Schematische Formulierung] Diatopische Heteronymie 270 Abb. 13.17: [Schematische Darstellung] diatopisch verschiedener OLPn [= onomasiologischer lexikalischer Paradigmen] zum Designatbereich “Ackergrenze/Grenzstreifen/Pflugwenden” in Belgisch-Limburg (nach Goossens 1969 und 1963)272 Abb. 14.1: Parameter für intersystemare Dialektbeschreibungen 279 Abb. 14.2: Lexikonregel zu „(er) band“280 Abb. 14.3: Modell phonetischer Zeichen und Merkmale zur Wiedergabe von Vokalen (Kernen) 282 Abb. 14.4: Modell phonetischer Zeichen und Merkmale zur Wiedergabe von Sonanten, Konsonanten (Satelliten) 283 Abb. 14.5 a/b: Klassifikatorische Merkmale zu theoretisch möglichen Vokalen (Kernen) in deutschen Dialekten: oral 284 Abb. 14.5 c/d: Klassifikatorische Merkmale zu theoretisch möglichen Vokalen (Kernen) in deutschen Dialekten: nasal 284 Abb. 14.6: Klassifikatorische Merkmale der wichtigsten Satelliten (Sonanten, Konsonanten) deutscher Dialekte 285 Abb. 14.7: Morphosyntaktische Merkmale (nach Bergenholtz/Mugdan 1979) 285 Abb. 14.8: Tiefenstruktureller Graph mit Bündeln syntaktischer Merkmale 286 Abb. 14.9: Präsensendungen in den Dialekten von 10 deutschsprachigen Großstädten dargestellt durch oberflächenstrukturelle Ersetzungsregeln 287 Abb. 14.10: Rekonstruierte, sprachhistorische Abfolge von Veränderungen in 14 Dialektsystemen (Oberflächenstruktur) 292 Abb. 17.1: Laerisches [Westfalen] Kurzvokalsystem (nach Niebaum 1974) 345 Abb. 17.2: Kommutationsproben [zu den] Kurzvokalen [von Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 345 Abb. 17.3: Laerisches [Westfalen] Kurzvokalsystem (nach Niebaum 1974) 346 Abb. 17.4: Laerisches [Westfalen] Langvokalinventar (nach Niebaum 1974) 346 Abb. 17.5: Kommutationsproben [zu den] Langvokalen [von Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 346 Abb. 17.6: Phonematische Wertung der Diphthonge [von Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 347 Abb. 17.7: Laerisches [Westfalen] Diphtonginventar (nach Niebaum 1974) 347 Abb. 17.8: Kommutationsproben [zu den] Diphthongen [von Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 348
Abb. 17.9: Oppositionen Diphthong: Monophthong [in Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 348 Abb. 17.10: Laerisches [Westfalen] Langvokalsystem (nach Niebaum 1974) 349 Abb. 17.11: Laerisches [Westfalen] Diphthongsystem (nach Niebaum 1974) 349 Abb. 17.12: Laerisches [Westfalen] Konsonantensystem (nach Niebaum 1974) 350 Abb. 17.13: Gesamtkontrastierung [des] Konsonantismus [von Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 351 Abb. 17.14: Distributionstabelle/Vokal-Konsonant/ [in Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 355 Abb. 17.15: Distributionstabelle/Konsonant-Konsonant-Vokal/ [in Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 356 Abb. 17.16: Distributionstabelle/Vokal-Konsonant-Konsonant-ǝ/ [in Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 356 Abb. 17.17: Distributionsschemata/Vokal-Konsonant-Konsonant-Konsonant-ǝ/ [in Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 357 Abb. 17.18: Distributionstabelle/Vokal-Konsonant-Konsonant/ [in Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 357 Abb. 17.19: Distributionsschemata/Vokal-Konsonant-Konsonant-Konsonant/ [in Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 358 Abb. 17.20: [Übersicht über die] Aufhebungsstellungen [im phonologischen System von Laer, Westfalen] (nach Niebaum 1974) 359 Abb. 19.1: Standardsprachliche Orientierung des Sprachgebrauchs [in Ulrichsberg, Oberösterreich] 381 Abb. 19.2 a: Diagramm der standardsprachlichen Orientierung [in Ulrichsberg, Oberösterreich] 381 Abb. 19.2 b: Diagramm der standardsprachlichen Orientierung [in Ulrichsberg, Oberösterreich] 382 Abb. 19.3: Anschlußalternativen bei Kausalrelationen [im Sprachgebrauch von Ulrichsberg, Oberösterreich] 386 Abb. 19.4: Verteilung der Wortformen auf Wortklassen; Anteil der verschiedenen Wortklassen an der Gesamtzahl der Wortformen, in Prozentwerten [im Sprachgebrauch von Ulrichsberg, Oberösterreich] 390 Abb. 19.5: Verteilung der Wortformentypen auf die Wortklassen, in Prozentwerten [im Sprachgebrauch von Ulrichsberg, Oberösterreich] 390 Abb. 21.1: Diaphoneme und Subphoneme [im Standarddeutschen, Rheinfränkischen und Alemannischen] 431 Abb. 21.2: Hierarchie von Diasystemen432
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 24.1: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Kreis (nach Weijnen 1977, Karte 3) 489 Abb. 24.2: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Stern (nach Weijnen 1977, Karte 6) 489 Abb. 24.3: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Stufen- oder Staffellandschaft (nach Hard 1972, Abb. 1) 489 Abb. 24.4: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Bewegungsrichtungen bei der Staffellandschaft 490 Abb. 24.5: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Zersplitterter Block (nach Weij nen 1977, Karte 8) 490 Abb. 24.6: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Geradliniger Isoglossenverlauf (nach 490 Goossens 1969, Karte 27) Abb. 24.7: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Bewegungsrichtungen beim Keil 491 Abb. 24.8: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Fächer (nach Frings 1957, Karte 2) 492 Abb. 24.9: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Inseln als Vorposten oder Nachhut 492 Abb. 24.10: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Trichter (aus König 1978, 140) 492 Abb. 24.11: [Beispiel einer sprachgeographischen Arealform:] Schlauch (aus König 1978, 140) 493 Abb. 25.1: Isoglossenverlaufskommentar (nach Bielenstein 1892) 506 Abb. 25.2: Isoglossenkonstruktion (nach Karl Haag 1898) 510 Abb. 25.3: Schematische Isoglossenskizze (nach Porzig 1957) 512 Abb. 34.1: Transkriptionssysteme im Gefüge der Dimensionen von Alphabetizität, Kategorialität und Interpolation 594 Abb. 34 a.1: Vermittlungsstufen in der Tätigkeit der Transkription 598 Abb. 34 a.2: Dreidimensionaler Vokalartikulations- und -beurteilungsraum 600 Abb. 34 a.3: Dreidimensionale Darstellung von drei Klassifikationskriterien für Konsonanten: Plosiv/Frikativ, Gespannt/Ungespannt, Stimmlos/Stimmhaft 601 Abb. 34 a.4: Die Transkriptionsrichtlinien der Zeitschrift Teuthonista (aus Teuthonista 1, 1924/25) 605 Abb. 34 a.5: Das Transkriptionsinventar der API (aus Journal of the International Phonetic Association 8, 1978 (Beilage)) 607 Abb. 35.1: [Tabellarische] Gegenüberstellung von Organen, die an der Sprachproduktion beteiligt
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sind, den interessierenden physiologischen Parametern und den Meßapparaten mit den gemessesind, den interessierenden physiologischen Paranen Parametern 616 Abb. 35.2: Elektroglottogramme (a) normale Stimmbandschwingung (b) Stimmbandpressung (c) weich ausklingender Vokal (d) abrupt unterbrochene Stimmbandschwingung 617 Abb. 35.3: Palatogramme von [1] in alle: (a) dentialveolare Artikulation (b) alveolare Artikulation (c) post-alveolare Artikulation 618 Abb. 35.4: Röntgenfilmaufnahmen (a)—(b) Antizipatorische Vokalartikulation an den Lippen (c)—(f) Zungenprofile beim [l]-Verschluß (nach 619 Delattre 1965) Abb. 35.5: Schematisierter Sagittalschnitt mit sagittaler Abstandsfunktion 619 Abb. 35.6: (a) Oszillogramm einer Periode des aufgrund des Sagittalschnitts von Abb. 35.5 berechneten Signals (etwa Vokal [i]) (b) Berechnetes Spektrum zu dem Oszillogramm von (a) 620 Abb. 35.7: Sonagramm (Spektrogramm), Intensitäts- und Tonhöhenkurve des Satzes /me:r han m:s em h:s/ „Wir haben Mäuse im Haus” (aus Heike 1964) 621 Abb. 35.8: Dreidimensionale Darstellung der spektralen Änderungen des Anfangs von /me:r han m: s .../ 622 Abb. 37.1: Kurven zur Luftstromdynamik im Beispiel die P anne in norddeutscher Aussprache (nach Fischer-Jørgensen 1979). (a) Luftstrom (b) subglottaler Druck (c) intra-oraler Druck (positiv nach unten) (d) Oszillogramm 640 Abb. 37.2: Oszillogramm eines Ausschnittes aus einer Äußerung mit eingezeichneten Segmentationsgrenzen; Ausschnitt aus ... aber das genaue Datum wissen wir noch nicht ... (a) deutlich gesprochener Text (b) Ausschnitt aus einer Spontanaufnahme, relativ schnell gesprochen 642 Abb. 37.3: Sonagramm des Kontrastpaares Röggelchen ‘Roggenbrötchen’/Röckelchen in Stadtkölner Mundart (nach Heike 1964) 643 Abb. 37.4: Dauermessungen von deutschen a-Realisationen (a) Häufigkeitsverteilungen der Dauerrealisationen eines gelesenen Textes von einem Sprecher (b) Häufigkeitsverteilung der Dauerrealisationen von a in isoliert gesprochenen Wörtern (nach Heike 1969 a) 643 Abb. 37.5: Oszillogramme des finalen Vokalteils von Aas und As zur Demonstration von ‘losem’ und ‘festem Anschluß’, bzw. ‘schwach’ und ‘stark geschnittenem Silbenakzent’ (nach Heike 1969 b)644 Abb. 37.6: Registrierung von Intensität und Tonhöhe zur Demonstration von Betonungskontrasten im Deutschen (a) Kontrastpaar ǘbersetzen / übersétzen (b) Kontrastpaar dámit / damít 644 Abb. 37.7: Sonagramm der Sprachbeispiele aus Abbildung 37.2. Textausschnitt aus ... aber das genaue Datum wissen wir nicht ... 645
Verzeichnis der Abbildungen
XXXII
Abb. 37.8: Spektrogramme ausgewählter repräsentativer Vokale der Stadtkölner Mundart (nach Heike 1964) 646—647 Abb. 37.9: Formantkarten der Vokale von drei Sprechern der Stadtkölner Mundart (a) und (b) männliche Sprecher; (c) weiblicher Sprecher (aus Heike 1964) 648 Abb. 37.10: Formantkarte der Streubereiche der Vokale von acht Sprechern der Stadtkölner Mundart (aus Heike 1964) 648 Abb. 37.11: Systematisierte Formantfrequenzen als Referenzwerte für Vokalmessungen (aus Heike 1973) 649 Abb. 37.12: Formantkarte der Vokale nach Abbildung 37.11 649 Abb. 37.13: (a) Sonagramme zur Demonstration von Formantbewegungen in diphthongischen Lautverbindungen. Wortbeispiele mir und nähen in entsprechender Lautung in Stadtkölner Mundart (b) Formantkarte mit eingezeichneten Formantbewegungen der Wortbeispiele aus Abbildung 37.13 (a) (nach Heike 1964) 650 Abb. 37.14: Demonstration des Kontrasts g/j in der Stadtkölner Mundart; Wortbeispiele dügge ‘deuten’, düjǝ ‘stoßen’ (nach Heike 1964) 650 Abb. 37.15: Demonstration der Spektralunterschiede der Frikative/ s, ∫ und x in den Wörtern eff ‘Buchstabe F’, bes ‘bist’, Täsch ‘Tasche’, aach ‘acht’ und der Affrikata ts am Beispiel der Stadtkölner Mundart (aus Heike 1964) 651 Abb. 37.16: Beschreibung akustischer Merkmale der wichtigsten Lautklassen nach Formantstruktur, Intensität, Dauer und Periodizität (nach Heike 1973) 652 Abb. 38.1: [Schematische Darstellung einer] einfachen Zufallsstichprobe der [Belegorte] 655 Abb. 38.2: [Schematische Darstellung einer] systematischen Stichprobe von [Belegorten] 655 Abb. 38.3: [Schematische Darstellung einer] geschichteten (zufälligen) Stichprobe von [Belegorten] 656 Abb. 38.4: [Schematische Darstellung einer] zweistufigen Stichprobe von [Belegorten] 656 Abb. 38.5: [Schematische Darstellung einer] Beleg658 matrix [zur Ähnlichkeitsmessung] Abb. 38.6: [Schematische Darstellung einer] Belegmatrix [zur Variabilitätsmessung] 663 Abb. 38.7: [Schematische Darstellung einer] Belegmatrix [zur Klassifikation von Dialekten] 664 Abb. 38.8: Ähnlichkeitsmatrix (unreduziert) [eines Klassifikationsverfahrens] 664 Abb. 38.9: Ähnlichkeitsmatrix (1. Reduktion) [eines Klassifikationsverfahrens] 664 Abb. 38.10: Ähnlichkeitsmatrix (2. Reduktion) nes Klassifikationsverfahrens] Abb. 38.11: Dendrogramm [zur Klassifikation Dialekten]
[ei665 von 665
Abb. 39.1: Kartierung
Flußdiagramm
zum
Grobablauf
der 674
Abb. 39.2: [Schematische Übersicht über den Zusammenhang von] Erhebungsdaten, Klassifikationen und weiteren Arbeitsschritten 679 Abb. 39.3: [Analyse der] Legende stupfen ‘jemanden leicht anstoßen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen’ [als Klassifikationsbeispiel] (aus SDS IV, 1969, Karte 83) 680 Abb. 39.4: [Schematische Übersicht über die] visuellen Variablen (nach Bertin 1974) 681 Abb. 39.5: [Übersicht über die] Zuordnung der Begrenzungsarten [zu Dateneigenschaften bzw. Klassifikationen] 686 Textbeispiel 41.1: Matthias Lexer, Kärntisches Wörterbuch. Leipzig 1862, 26 706 Textbeispiel 41.2: Johann Carl Dähnert, Platt = Deutsches Woerter=Buch. Stralsund 1781, 42 706 Textbeispiel 41.3: Brandenburg-Berlinisches Wör707 terbuch, Bd. I. Neumünster 1976, 613—614 Textbeispiel 41.4: Matthias Lexer, Kärntisches Wörterbuch. Leipzig 1862, 28 707 Textbeispiel 41.5: Eberhard Tiling, Versuch eines bremisch = niedersaechsischen Woerterbuchs, 707 Bd. I. Bremen 1767, 90 Textbeispiel 41.6: Johann B. Schöpf, Tirolisches 707 Idiotikon. Innsbruck 1866, 42 Textbeispiel 41.7: Vorarlbergisches Wörterbuch, 707 Bd. I. Wien 1960, Sp. 363 Textbeispiel 41.8: Johann Fr. Schütze, Holsteinisches Idiotikon, Bd. I. Hamburg 1800, 106 707 Textbeispiel 41.9: Hermann Frischbier, Preussi708 sches Wörterbuch, Bd. I. Berlin 1882, 84—85 Textbeispiel 41.10: Fragebogen für das HessenNassauische Wörterbuch Nr. 1, Seite 1 und 4 710 Textbeispiel 41.11: Michael Richey, Idioticon 712 Hamburgense. Hamburg 1755, 5—6 Textbeispiel 41.12: Johann S. Dang, Darmstädter 714 Wörterbuch. Darmstadt 1953, 207—208 Textbeispiel 41.13: Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch, Bd. 1. Neumünster 1927, Sp. 441 714 Textbeispiel 41.14: Johann Fr. Schütze, Holsteinisches Idiotikon, Bd. III. Hamburg 1802, 88—90 714 Textbeispiel 41.15: Gustav A. Seiler, Die Baseler Mundart. Basel 1879, 266 715 Textbeispiel 41.16: Westfälisches Wörterbuch, Beiband. Neumünster 1969, 64 716 Textbeispiel 41.17: Otto Buurman, Hochdeutschplattdeutsches Wörterbuch, Bd. I. Neumünster 1962, Sp. 239 716 Textbeispiel 41.18: Albert Weber/Jacques M. Bächtold, Zürichdeutsches Wörterbuch. Zürich 718 1968, 105 und 296 Abb. 42.1: Darstellung des Prinzips der AnalogDigital-Wandlung 725
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 42.2: Vergleich der Anteile des LSB [= least significant bit] bei unterschiedlicher Stellenzahl des Digitalwortes 726 Abb. 42.3: Effekt der ‘Rückfaltung’ bei Nichteinhaltung des Abtasttheorems 730 Abb. 42.4: Spektrogramm des Wortes Leute (sächsicher Dialekt); Oszillogramm, Intensitätsverlauf und spektrale Energieschwerpunkte 728 Abb. 42.5: Spektogramm des Wortes Leute; Oszillogramm, Intensitätsverlauf und gegenüber Abb. 42.4 geänderte Darstellung der spektralen Energieschwerpunkte mit ihrer j eweiligen Bandbreite (Formantbandbreite) 728 Abb. 42.6: Spektrogramm des Wortes Leute (sächsischer Dialekt) (vgl. Abb. 42.4 und 42.5); Oszillogramm, Verlauf der Grundtonhöhe und Formantverläufe nach Kohärenztest 729 Abb. 42.7: Spektrogramm des Wortes Leute (hochdeutsch); Oszillogramm, Verlauf der Grundtonhöhe und Formantverläufe nach Kohärenztest 729 Abb. 42.8: Spektrogramm des Wortes Leute (hochdeutsch); Oszillogramm, Intensitätsverlauf und spektrale Energieverteilung 731 Abb. 42.9: Spektrogramm der Äußerung Ich verstehe Euch nicht, Ihr müßt etwas lauter reden (hochalemannischer Dialekt): Oszillogramm, Grundton- und Intensitätsverlauf und spektrale Energieverteilung (Energieschwerpunkte) 732 Abb. 42.10: Formantkarte zum Text ich ... reden (vgl. Abb. 42.9) 732 Abb. 42.11: Korrelationsdiagramm Grundtonfrequenz/Intensität. Text ich ... reden (vgl. Abb. 42.9) 732 Abb. 42.12: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche des Grundtons; absolute Häufigkeiten und Frequenzbereiche (vgl. Abb. 42.9) 734 Abb. 42.13: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche für den ersten Formanten; absolute Häufigkeiten und Frequenzbereiche (vgl. Abb. 42.9) 734 Abb. 42.14: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche für den zweiten Formanten; absolute Häufigkeiten und Frequenzbereiche (vgl. Abb. 42.9) 734 Abb. 42.15: Spektrogramm der Äußerung ich ... reden (niederalemannischer Dialekt); Oszillogramm, Grundton- und Intensitätsverlauf und spektrale Energieverteilung (Energieschwerpunkte) 733 Abb. 42.16: Formantkarte zum Text ich ... reden 733 (vgl. Abb. 42.15) Abb. 42.17: Korrelationsdiagramm Grundtonfrequenz/Intensität. Text: ich ... reden (vgl. Abb. 733 42.15) Abb. 42.18: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche des Grundtons; absolute Häufigkeiten und Frequenzbereiche (vgl. Abb. 42.15)734
XXXIII
Abb. 42.19: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche für den ersten Formanten; absolute Häufigkeiten und Frequenzbereiche (vgl. 734 Abb. 42.15) Abb. 42.20: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche für den zweiten Formanten; absolute Häufigkeiten und Frequenzbereiche (vgl. 734 Abb. 42.15) Abb. 43.1: Beispiel eines Fragebogens des Nds. Wb. [= Niedersächsischen Wörterbuchs] 738 Abb. 43.2: Beispiel einer Lochkarten-Erfassung zur Frage 06.302 [des Niedersächsischen Wörterbuchs] 741 Abb. 43.3: Ausschnitt aus dem automatisch sortierten Belegmaterial [des Niedersächsischen Wörterbuchs] 742 Abb. 43.4: Ausschnitt aus der automatisch zusammengestellten Stichwortliste [des Niedersächsischen Wörterbuchs] 743 Abb. 43.5: Beispiel eines automatisch erstellten Fragebogens zur gezielten Materialergänzung [des Niedersächsischen Wörterbuchs] 745 Abb. 44.1: Überblick über die einzelnen Arbeitsschritte einer Automatischen Sprachkartographie 750 Abb. 44.2: Beispiel einer Belegliste aus dem Europäischen Sprachatlas (ALE QI, 43: ‘Ast’) 752 Abb. 44.3: Logische Form der Datenmatrix [für die Belegspeicherung in einer Automatischen Sprachkartographie] 753 Abb. 44.4: Beispiel einer Häufigkeitssortierung mit Angabe der Nebenbelege; [Belegmaterial Feld für das deutsche Sprachgebiet] (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38) 754 Abb. 44.5: Beispiel einer Alphabetsortierung; [Belegmaterial Feld für das deutsche Sprachgebiet] (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38) 755 Abb. 44.6: Beispiel einer Seltenheitensortierung; [Belegmaterial Feld für das deutsche Sprachgebiet] (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38) 756 Abb. 44.7: Beispiel einer Sonderbelegsortierung; [Belegmaterial Feld für das deutsche Sprachgebiet] (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38) 757 Abb. 44.8: Übersicht über die Lautdistanzen des Klassifikationsverfahrens (aus Naumann 1977, 201—202) 761 Abb. 44.9: Beispiel einer Wortdistanzberechnung 761 in Matrixform (aus Naumann 1977, 165) Abb. 44.10: Beispiel einer Wortdistanzberechnung in Dendrogrammform (aus Naumann 1977, 166) 762 Abb. 44.11: Beispiel einer computativen Klassifikation mit Hilfe des Reduktionsverfahrens (ALE QI, 32: ‘Kupfer’) 763 Abb. 44.12: Vorschlag einer systematischen Symbolkonstruktion im Rahmen des Europäischen Sprachatlas 763
XXXIV
Abb. 44.13: Beispiel einer systematischen Symbolkonstruktion (ALE QI, 496: ‘Papier’ (Ausschnitt))764 Abb. 44.14: Überblick über die konzeptionelle Weiterentwicklung der Automatischen Sprachkartographie 774 Abb. 45.1: Meßmatrix auf Nominalskalenniveau (erfundener Datensatz) 780 Abb. 45.2: Meßmatrix auf Intervallskalenniveau 781 (abgeleitet aus Abb. 45.1) Abb. 46.1: [Schematische Darstellung des] dialektologischen Datenfluß [im Rahmen von Informationssystemen] 795
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 46.2: [Schematische Darstellung des dialektologischen] Datenfluß bei Computerunterstützung [im Rahmen von Informationssystemen] 796 Abb. 46.3: [Schematische Form der] Datenmatrix [mit Arealität und Thematizität als Ordnungskriterien im Rahmen von Informationssystemen] 799 Abb. 46.4: [Beispiel einer] vernetzten Datenhaltung: Sortierleiste [im Rahmen von Informationssystemen] 800 Abb. 46.5: [Schematische Übersicht über die Komponenten eines] Dialektalen Informationssystems 801
1
I.
Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen: Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
1.
Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegung der Dialektologie
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
1.
Der Dialekt und seine Beobachtung vor dem 18. Jahrhundert Bekämpfung und aufkommende Wertschätzung des Dialekts im 18. Jahrhundert Die zeitgenössischen Gründe für die Befassung mit dem Dialekt (im 18. Jahrhundert) Die Idiotikographie Dialektforschung zur Zeit der Romantik Die Fundierung der Dialektforschung durch J. A. Schmeller Dialektforschung in der Mitte des 19. Jahrhunderts Literatur (in Auswahl)
Der Dialekt und seine Beobachtung vor dem 18. Jahrhundert
Es gibt eine, sicherlich allgemeine Neigung der Menschen, die Unterschiede im Sprechen zu beobachten und sie dann auch als Kennzeichnung von Volksgruppen heranzuziehen. Solche Beobachtungen finden früh ihren Niederschlag in den Literaturen und sind Ausweis für das Motiv, sich mit den Sprachen der Völker, aber auch mit den Unterschieden innerhalb dieser Sprachen zu beschäftigen. Eine solche Beobachtung — mitgeteilt im Alten Testament — liefert mit dem Unterscheidungswort (schibboleth vs. sibboleth; vgl. Richter 12; 6 ) auch den späteren Terminus für die Kennzeichnung von sprachlichen Unterschieden (z. B. 1780: „Jede Provinz wird allemal ihr Schibboleth behalten“; nach Steiger 1919, 31). Allgemeiner, aber von der selben Haltung getragen, sind solche Feststellungen wie: „Auch du bist ein Galiläer: deine Sprache verrät dich“ (Matthäus 26 ; 73), denn auch im 18. Jh. klingt es noch wie ein Verdikt: „Ein Schweizer. Seine Sprache verrät ihn“ (vgl. Henzen 1954, 114). Die Beobachtungen hinsichtlich des unterschiedlichen, dialektalen Sprechens führen — wenn man die spärlichen Quellen und
Äußerungen vor dem 17. bzw. 18. Jh. als Maßstab nehmen darf — nicht zu solch harten Urteilen wie dann im 18. und 19. Jh. Zwar stößt ein niederdeutscher Trinkspruch Otto I. (um 96 0) in der Pfalz zu Regensburg auf Unverständnis — wie Arnold von St. Emmeran berichtet (Tschirch 196 6 , 131) —, doch betrifft dies gerade den großlandschaftlichen Unterschied zwischen Hochund Niederdeutsch, der auch in den ersten Äußerungen über Sprachlandschaften deutlich herausgestellt wird (z. B. Berthold von Regensburg: „Ir wizzet wol, daz die Niederlender und die Oberlender gar unglîch sint an der spraâche ...“; Socin 1888, 111). Den anderen Äußerungen ist eher eine Haltung zu entnehmen, die in der offensichtlich beobachteten Regionalsprachlichkeit kein unüberwindbares Problem sieht; auch drängt man nicht auf Änderung der Verständigungsverhältnisse in Form einer vereinheitlichten Sprache. Gerade Berthold von Regensburg (s. o.), der sich sehr wohl über die Verschiedenheit der Regionalsprachen äussert, klagt nicht über Unverständnis. Und die rätselhaften, kaum aufzulösenden Kennzeichnungen der landschaftlichen Sprechweisen im „Renner“ des Hugo von Trimberg („Swâbe ir wörter spaltent / Die Franken ein teil si valtent ...“ vv. 22204 ff.) scheinen diese Haltung zu bestätigen: man stellt Unterschiedlichkeiten fest und beläßt es dabei. Gibt es Verständnisschwierigkeiten, so versucht man, diese mit Hilfe von Vokabularien aufzuheben (vgl. z. B. die Notiz des Verfassers des Vocabularius optimus, der die österreichischen Ausdrücke ins ‚Schwäbische‘ überträgt, damit keine Irrtümer bei der Durchführung der Regierungsanweisungen entstehen; nach Socin 1888, 129). Als im 16 . Jh. die grammatischen Beschreibungen des Deutschen aufkommen, geht man in durchaus pragmatischer Weise auf die Existenz verschiedener Regionalsprachen ein und rät zur Flexibilität:
2
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
„Eyn schriuer wilcher land art der in dytzscher nacioin geboren is / sal sich zo vur vyß flyssigen / dat he ouch ander diutsch / dan als men in synk land synget / schriuen lesen und vur nemen moeg“ (aus: Formulare v duytsche Rhetorica etc., 1527 ff., abgedr. bei Müller 1882, 383; ähnlich auch Fabian Frangk in seiner Orthographia von 1530).
Grammatische Beschreibung setzt natürlich die genauere Erfassung der Sprache und der Sprech- und Schreibweisen voraus. Und so kommen denn auch Stimmen auf, die eine Zersplitterung der Sprache in Mundarten beklagen, wie sie kaum eine andere Sprache hat über sich ergehen lassen müssen (Laurentius Albertus in seiner Teutsch Grammatik von 1573). Andererseits werden von nun an regionalsprachliche Besonderheiten mitgeteilt: „Ettliche Schlesier brauchen das u frs a / vnd das is fers . Inn den vnd der gleichen worten / Nu rimische minche mygen etc. / für ha Rmische mnche mgen / Vnd / priefe die mintz / für / prfe die mntz. / Item/ iu / frs n / das eau frs au / als giuder briuder fur gutter bruder / treawen beawen / teawben etc. / fr trawen / bawen / tawben“ (aus: Fabian Frangks Orthographia, zit. nach Müller 1882, 106).
Solches Wissen wird freilich auch wieder angewandt, indem man Schriftstücke in die Sprache des Empfängers übersetzt (z. B. Nikolaus von Basel an die Priester vom Grünen Wörd in Straßburg: „Ich hette uch gerne daz alte buechelin gesant; so ist es wol halbes einer sollichen frömbden sprochen, die ir nit gelesen kundent, und ich uebete mich selber darane vier tage und nacht, umbe daz ich ez uch geschribe in uwerre elsasser sproche“ (Zit. nach Socin 1888, 129). Regionale Besonderheiten des Sprechens finden also Beachtung und werden entsprechend erwähnt, doch bleibt es aus mindestens drei Gründen schwierig, ein genaues Bild von der Existenzweise der Dialekte zu erhalten: (1) Die meisten Äußerungen beziehen sich auf Schreibdialekte (vgl. Kaiser 1930, 233 ff.), so daß die genuine Existenzweise der gesprochenen Dialekte kaum erhellt wird. (Ein Gegenbeispiel wäre die Unterscheidung, die Johannes Aventinus (Anfang 16. Jh.) macht: „A Der erste Buchstaben / hat bey den Teutschen ein große gemeinschafft mit dem O / weicht einer dem andern / als in dem wort / Man / Mon / stehet einer für den andern / vnd die Bauren gemeinigklich o wo die Statten a brauchen / Also tage / toge / margen / morgen / Boier / Baier / Es sprechen auch gemeinigklich diesen ersten Buch-
staben die Baiern also auß / daß er mehr dem o gleich ist / denn dem rechten a / so die Schwaben vnd Wahlen reden. Die Bauren auff dem Landt vnd Ulmerischen Schwaben geminigklich sprechen die fünff Rffer gar grob auß / daß auff das o lautet“; zit. nach Müller 1882, 307).
(2) Die Benennungen von Dialektgebieten sind meist nur sehr schwer zu lokalisieren, zumal hier Untersuchungen hinsichtlich der meist aus älteren Volksbezeichnungen (Stammesnamen) abgeleiteten Bezeichnungen (Fränkisch, Alemannisch, Schwäbisch, Bairisch etc.) noch ausstehen (man denke aber an die Versuche von Schmeller, später dann auch von Wrede, von diesen Stammesnamen wegzukommen und neutralere, rein dialektologisch begründete Bezeichnungen zu finden). (3) Es mangelt ferner an einer begrifflichen Eindeutigkeit in der Bezeichnung der Regionalsprachlichkeit, so daß klar wäre, was man z. B. unter den Ausdrücken Dialect, Mundart oder lantsprache zu verstehen hat (vgl. Art. 22). Auch hier müßte eine monographische Aufarbeitung der Bezeichnungen geleistet werden, die die Sache ‚Dialekt‘ vor 1800 bezeichnen können. Trotz des — in Anbetracht der historischen Situation naturgemäßen — Fehlens wissenschaftlicher Analysekriterien, trotz aller Unklarheiten über Dialektabgrenzungen und -bezeichnungen, kann aber zu Beginn der Neuzeit (Renaissance) eine wachsende Abneigung gegen „den“ Dialekt ausgemacht werden. Dies zeigt sich in Italien (vgl. Alinei 1980, 19, der sich auf Vincenzo Borghini bezieht, demnach Dialekte höchstens für die Komödie geeignet sind — ein Argument, das auf die antike Rhetorik zurückgeht), Frankreich (vgl. bei Bichel 1973, 53 die Darstellung der Bemühungen von François de Malherbe um die Reform der französischen Sprache, deren wichtiger Punkt die Meidung von „Dialektismen“ ist, was gleichfalls als ein ‘vitium’ gemäß der antiken Rhetorik gilt) und besonders natürlich im deutschen Sprachraum (Laurentius Alberus, z. B., weist auf die gegenseitige Verachtung der Mundarten hin). Damit gewinnt die Auffassung an Gewicht, die in den folgenden Jahrhunderten die Einschätzung des Dialekts dominieren wird und die den Dialektgebrauch schlechthin verdrängen will. Da der Dialekt hauptsächlich von den Illiteraten gebraucht wird und diese vornehmlich unter den Bauern ausgemacht werden, kommt hier eine Identifikation zustande, die sich schon vor dieser Zeit immer mal wieder andeutete
1. Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegungder Dialektologie
(z. B. im „Helmbrecht“ des Wernher der Gartenaere aus dem 13. Jh.), die dann aber die dialektologischen Beobachtungen (negativ und positiv) bis ins 20. Jh. bestimmen wird. Diese zunächst überwiegend negative Bewertung der Sprechweisen der Bauern — es wird dabei gar nicht geprüft, ob es denn eine typische Sprechweise ist — resultiert vordergründig aus den Ansprüchen der Sprachkunst (Rhetorik) und der Grammatik, hat aber in der ausgeprägten Bauernverachtung, die im 13. Jh. greifbar wird, ein tieferreichendes Fundament. Denn mit der „Konsolidierung der Stände ist zwangsnotwendig ein von oben herkommender Gradualismus“ verbunden, der den „Bauernstand auf die unterste Stufe der gesellschaftlichen Gliederung drückt“ (Ranke 1975, 211). Es entwikkelt sich eine Tendenz, die Sprechweise im größeren Zusammenhang von Kultur, Sitte, Recht und dgl. mehr zu sehen, mithin Kategorien, mit denen man seit dem Altertum — Trümpy (1955, 9) führt als berühmtes Beispiel Caesars Bellum Gallicum an — das Wesen eines Volkes zu erfassen sucht. Die Erforschung der „alten ethnographischen Dreiheit von Sprache-Sitte-Recht“ (Trümpy 1955, 10) ist es denn auch, die zu einer gewissen Aufhebung der sozial bestimmten Vorurteile führt und die sporadisch als Motiv dialektologischer Forschungen erscheint (etwa in der kulturmorphologischen Schule — vgl. Art. 4 —, aber etwa auch im Bereich der „Sozialpsychologie der Dialekte und ihrer Sprecher“; vgl. Ris 1978).
2.
Bekämpfung und aufkommende Wertschätzung des Dialekts im 18. Jahrhundert
Die Heftigkeit der Dialektverachtung und -bekämpfung erreicht dann einen Höhepunkt, wenn im 17. und 18. Jh. eine, auch äußerlich einheitliche Sprech- und Schreibweise geschaffen wird, in der nur eine Form gelten soll. Für dieses Ziel finden sich die Sprachgesellschaften zusammen und bilden eine einflußreiche Institution (vgl. Art. 11) — was sich deutlich in den dort veranlaßten Grammatiken niederschlägt —, doch sind sie weit davon entfernt, sich überall durchsetzen zu können. So reihen sich beispielsweise die Orthographie-Lehren dieser Zeit nicht in die Vereinheitlichungstendenzen ein (vgl. Henzen 1954, 117). Dennoch ist es gerade die Rigorosität der Dialektbekämpfung, die die verstreut anzutreffende Wertschät-
3
zung und Beachtung dialektalen Sprechens dann im 18. Jh. zu einer näheren Befassung mit diesen Dialekten zusammenführt. Weil Vereinheitlichungstendenzen generell wegen ihrer formalen Geschlossenheit zunächst im Vorteil sind und die Wertschätzung des Dialekts sich ja nur auf den eigenen, nicht aber auf die Dialektalität, d. h. die Sprachvariation als solche, erstreckt, ging der Befassung mit den Dialekten eine abklärende Auseinandersetzung voraus. 2.1. Verurteilung der Dialekte Die Ablehnung der Dialekte hat ihren Hintergrund in einer Geistesrichtung, die dem ausgesprochenen „Drang zum Absoluten“ huldigt (Burdach 1925, 19) und deshalb für alles nur e i n Richtmaß gelten lassen will. Man ist der Ansicht, daß gute Gesetze und deren Beherrschung die Dinge zu regeln vermögen und geht so weit, daß man sogar den „Poeten“ durch Unterweisungen zum rechten Dichten bringen zu können glaubt: „Ich getraue mir aber gantz richtig den GegenSatz zu behaupten / daß Poeten nicht gebohren / sondern durch gute Unterweisung gemacht würden“ (Männling 1715, Vorrede; zit. n. Kaiser 1930, 27). Selbstverständlich mündet diese Auffassung in der Ablehnung jeglicher freien Entwicklung („Die selbstgewachsenen Poeten taugen gemeiniglich nichts“, Wahllen 1723, 16 ; zit. n. Kaiser 1930, 27), also auch gewachsener, überkommener Sprachverhältnisse, die natürlich keine klare und eindeutige Regulierung aufweisen: „Die Sprachtendenz steht gegen alles Veraltete, Kleinbürgerlich-Partikularistische, Unzeitgemäße, für Klarheit, Allgemeingültigkeit, Rationalität“ (Henzen 1954, S. 124). Diese Ausrichtung der Sprache geschieht freilich nicht nur um ihrer selbst willen, sondern kann auch als eine der Waffen angesehen werden, mit Hilfe derer sich das nun aufstrebende Bürgertum — in Ermangelung anderer (vgl. Gessinger 1980, 8: „Im Gegensatz zu England und Frankreich konnte es den Angehörigen der bürgerlichen Mittelschichten in Deutschland nicht um die Nobilitierung wirtschaftlich begründeter gesellschaftlicher Macht gehen, denn davon hatten sie nicht allzuviel vorzuweisen“) — durchsetzen will (vgl. Adelung 1785, 100: „Die Hochdeutsche Schriftsprache ist [...] in den oberen Classen der cultiviertesten Provinz entstanden ...“). Damit verbunden ist die Idee des vereinten Nationalstaates —
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
was ja bei der Sprachnormierung auch oft genug betont wird (vgl. Gessinger 1980). Es ist also nicht nur eine praktische Notwendigkeit, die zur Vereinheitlichung der Sprache führt — und auch diese ist, wie noch zu zeigen sein wird, zumindest in ihrer Rigorosität strittig (vgl. Knoop 1980, 43 ff.) —, vielmehr wird recht häufig ein genius saeculi beschworen, der dies erfordere und der auch und gerade die Ausmerzung aller Sonderlichkeiten verlange (vgl. Kaiser 1930, 31). Die Aufklärung bestärkte die Neigung, „das Logik-orientierte Konzept einer geschichtlich nicht mehr veränderbaren Sprache den vorgefundenen Sprachen aufzuprägen, ohne die kommunikative Funktionsund Wirkungsprinzipien wirklich zu kennen“ (Steger 1978, 30). Dieser Allgemeinheitsanspruch schlägt sich in dem Urteil nieder, daß Status und Qualität der Mundart vor allen weiteren Untersuchungen schon festgelegt seien: sie ist „die unedle, nachlässige und unbearbeitete Sprache des gemeinen Volkes“ (Allgemeine deutsche Bibliothek 176 5, zit. nach Steiger 1919, 17). Dieses Urteil läßt sich nicht (mehr) aus einer notwendigen Absetzung von einem nur regional gültigen Sprachgebrauch (dieser Vorwurf ist freilich auch noch im 18. Jh. zu hören: Dialekte sind unvollkommen, weil sie das leichte und allgemeine Verständnis hindern — so Wippel 1746 , zit. nach Socin 1888, 63 3) zugunsten einer allgemeinen Sprache erklären, denn sie besteht zum Zeitpunkt dieser Äußerungen bereits: „Der Kampf um die Alleinherrschaft der nhd. Schriftsprache ist zu Ende“ (Henzen 1954, 124). Sicherlich ist die öfters zu vernehmende Klage über das Fehlen einer durchgängigen Umgangssprache berechtigt, denn die Aussprache der Schriftsprache war beträchtlichen regionalen Schwankungen unterworfen (vgl. die Zitate bei Steiger 1919, 6 9), doch bekümmert dies die Gegner der Mundart im Gefolge Gottscheds nicht (Henzen 1954, 134). Ihre Auffassung verwehrt es ihnen, auf diese lebendige Umgangssprache, die ja immer mit dem Mundartlichen verbunden ist, Bezug zu nehmen (Henzen 1954, 134). Das Ausspracheproblem — als eines unter anderen — wird den o. g. sozialen Bestrebungen entsprechend in einem anderen Zusammenhang gesehen: „Ich will nichts von des groben Pöbels Aussprache sagen, sondern von derjenigen, so die ehrbarsten Leute haben“ (Frisch 1746 ; zit. nach Socin 1888,
36 2). Und diese Betrachtungsweise erstreckt sich nicht nur auf die Aussprache. Vielmehr ist das „Pöbelhafte“ in einer Sprechweise zu finden, die nicht dem sittlichen Empfinden — im weitesten Sinne verstanden — entspricht. Diese Haltung bestimmt selbst Dornblüths Argumentation gegen Gottsched, der eben auch viele Ausdrücke verwirft, weil sie „ein abgeschmacktes LandJargon ... seind“ (1755, zit. nach Jellinek 1913, 26 4). Selbst Idiotismen-Sammler wie Fulda wollen nur Wörter von „ehrbarer Bedeutung“ in ihre Sammlung aufnehmen (vgl. Steiger, 1919, 34). Und er steht damit nicht allein, wie die Äußerungen von C. M. Wieland (vgl. Socin 1888, 425) oder J. C. Lavater zeigen (der nicht zögert, den „Provinzialdialekt als schlechterdings unanständig zu erklären“; zit. nach Trümpy 1955, 363). Vor dem Hintergrund dieses sittlich bestimmten Urteils sind auch die anderen, mehr stilistisch orientierten zu sehen, demnach die Mundart rauh, grob und unelegant ist. So begründet der Schriftsteller J. P. Spichtig die Mundartverwendung in einem Theaterstück mit der ihr anhaftenden Grobheit (vgl. Trümpy 1955, 16 4). Eine solchermaßen charakterisierte Sprache kann auch keine Grammatik haben, welches Urteil schon rhetorische Tradition hat, von Schottel aufgegriffen wird (vgl. Socin 1888, 339) und auch im 18. Jh. vorherrscht (vgl. Socin 1888, 383). Nun liegt es nahe, dieser Sprache „Verderbheit“ vorzuwerfen, die hier so viel wie „Fehlerhaftigkeit“ bedeutet und an der die Abwendung vom Hochdeutsch schuld sein soll (Trümpy, 1955, 98 ff.): Mundart als verdorbenes Hochdeutsch (Baseldeutsch z. B. als „grausame Mishandlung unserer deutschen Sprache“; 176 3 Andreae, zit. nach Trümpy ebda). Bei solcher Kennzeichnung bleibt es nicht aus, daß man den Dialekt lächerlich findet und er Gegenstand des Sprachenspotts ist (vgl. Steiger 1919, 58). Und damit schließt sich der Kreis: hatte die Kennzeichnung des Dialekts als Pöbelsprache eher sittliche Hintergründe, so trifft sich die Verspottung des Dialekts mit der schon bekannten Identifikation von Bauernstand und Dialektsprecher, verkörpert etwa in dem ‚Tölpel‘ der Fastnachts- und anderer Spiele (vgl. Trümpy 1955, 255; vgl. auch z. B. J. G. Altmanns Dialog zwischen „Bernhart“ und „Murtenbald“ 1724, wo der Dialekt als ‚Bauernsprache‘ bloßgestellt werden soll; Trümpy 1955, 218).
1. Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegungder Dialektologie
2.2. Aufkommende Wertschätzung der Dialekte Der Allgemeinheitsanspruch, der das Zeitalter der Aufklärung kennzeichnet (s. o.), zeitigt freilich nicht nur die rigorose Ablehnung aller Besonderheiten, er ist im Gegenteil Prospekt für einen expandierenden Wissensdrang, der zu weitausgreifenden Forschungen führt. Und so wird die Fülle der Besonderheiten, die dem einen nur hinderlich erschien auf dem Wege zur Klarheit, dem anderen geradezu Anreiz, hieran Aufschluß zu erhalten über die Welt: „Paradoxerweise waren es die auf die generalisierende Norm gerichteten Bestrebungen der Aufklärung, welche der individualisierenden Betrachtungsweise zur Freiheit verhalfen“ (Narr/Bausinger 196 4, 238). So sind dem italienischen Historiker Muratori die verschiedenen Regionen Italiens Abbild der Mannigfaltigkeit dieses Landes und der Erforschung wert, ebenso wie dem deutschen Historiker Möser das Osnabrücker Land für eine historische Darstellung („Osnabrückische Geschichte“, 176 8). Insbesondere die Schriften Montesquieus, und hierunter wiederum ‘Esprit des lois’ (1748), zeigen, wie man aus der Fülle der empirischen Wirklichkeit eine Form herausfinden kann (vgl. F. Schalk 1971, 6 26 ). Hegels Urteil über Montesquieu zeigt auch an, worauf dieser seine Aufmerksamkeit richtete und was dann ebenfalls ein zentrales Objekt der Aufklärung wurde: „Montesquieu hat sein unsterbliches Werk auf die Anschauung der Individualität und des Charakters der Völker gegründet ...“ (ed. 1920, 46 0). Die Gedanken Montesquieus werden von Herder aufgenommen und prägen dann — mehr oder minder deutlich — die Sprachauffassung der ‚Gebildeten‘, die in der Sprechweise einen lebendigen Ausdruck des Volkes sehen (vgl. Jendreieck 1975, 74). Herder wirft denn auch Gottsched und den von ihm angeführten Sprachverbesserern vor, daß sie den natürlichen Sprachfluß ihrer eindeutigen Regelung opfern wollten: „In einer sinnlichen Sprache müssen uneigentliche Wörter, Synonymen, Inversionen, Idiotismen sein“ (1965, 34). Der rigorose Angriff auf die Mundarten hatte also durch seine Übertreibungen die Verteidiger dieser auf den Plan gerufen. Herder wies darauf hin, daß es nie eine einzige Sprache geben könne, da alle Umstände des Sprechens Sprache verändern bzw. verhindern, daß es nur eine Sprache gibt: „So we-
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nig als es zwei Menschen ganz von einerlei Gestalt und Gesichtszügen, wo wenig kann es zwei Sprachen, auch nur der Aussprache nach, im Munde zweier Menschen geben, die doch nur eine Sprache wäre“ (Herder 196 5, 75). Damit war das zum Ausdruck gebracht, was damals viele gegen die diktatorischen Anweisungen der Gottschedianer einwandten. Diese hatten zu einem Zeitpunkt, als die Hochsprache schon längst die nötige Einheitlichkeit erlangt hatte, den Kampf gegen die Besonderungen der Sprache weitergeführt, ohne gewahr zu werden, daß sie damit den geschwächten Dialekten zu einer beachtlichen Aufmerksamkeit verhalfen. Systematisch gesehen war diese Bekämpfung — wenn sie auch immer wieder aufgegriffen wurde, bei Wienbarg (1834) z. B. — schon längst verfehlt, denn die Dialekte waren mit der Herausbildung der Hochsprache zum einen in die gar nicht mehr wirksame Randzone der Idiotismen gedrängt, zum anderen aber zum erstenmal als solche herausgestellt. Die so selbstverständlich klingende Bemerkung von v. Raumer (1870, 242) — „Von Volksmundarten kann nur da die Rede sein, wo sich eine Gemeinsprache gebildet hat“ — hat in der nachfolgenden (Ende 19. Jh. und im 20. Jh.) Diskussion über den Begriff „Dialekt“ keine Beachtung gefunden. Wenn man aber die nun beginnende Beachtung und Wertschätzung des Dialekts, die dann schließlich in einer Wissenschaft vom Dialekt münden, mit der erfolgreichen Kodifikation der Schriftsprache in Zusammenhang sieht, so deutet dies für die Begriffsbestimmung des Dialektes an, daß dieser nicht in e i n e r Bedeutung durch die Jahrhunderte aufgespürt werden kann, vielmehr immer im Wechselverhältnis zu anderen sprachlichen Existenzweisen gesehen werden muß. Mit der Kodifikation der Hochsprache war nämlich der Kontrast geschaffen, der zumindest in Umrissen erkennbar machte, was allgemeinsprachlich und was regionalsprachlich ist. Und da viele Gelehrte und Schriftsteller der Zeit an der öffentlichen Verachtung der Dialekte aus den o. g. Gründen („Lebendigkeit der Sprache“) nicht teilnehmen, im Gegenteil diesen Dialekten gute Seiten abgewinnen können (Klopstock, Lessung, Schubart, Wieland u. v. m.; vgl. Henzen 1954, 138 ff.), tragen selbst die Listen der zu vermeidenden Wörter, die von den Sprachpuristen herausgegeben werden, dazu bei, daß man sich dieser Dialekte zunehmend mehr wissenschaftlich annimmt.
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3.
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Die zeitgenössischen Gründe für die Befassung mit dem Dialekt (im 18. Jahrhundert)
Die Bekämpfung der Mundarten hatte in der Mitte des 18. Jh. ohnehin schon leicht anachronistische Züge — was letztlich auch etwas über das Ziel der Sprachpuristen aussagt, die ja viel weniger die überregionale Hochsprache in jeder Hinsicht tauglich machen, als deren „Reinigkeit“, d. h. ihre äußerliche Homogenität erreichen wollten. Hierbei fanden sie die Provinzialismen als störend, obwohl Leibniz schon zu Beginn des 18. Jh. auf die Wichtigkeit der Dialekte aufmerksam gemacht, Programme zu ihrer Berücksichtigung und Urteile über ihren Stellenwert entworfen hatte. Da es ihm um den Sprachgebrauch geht und nicht um die Regelung der Sprache durch Äußerlichkeiten, ist er an der Erfassung der Mannigfaltigkeit der Sprache interessiert. Dies sollen Wörtersammlungen aus allen Gegenden Deutschlands leisten, weshalb er die ihm verbundenen Gelehrten immer wieder auffordert, „peculiares suae regionis voces“ (16 93; zit. nach Schulenburg 1937, 11) aufzuschreiben. Er hat damit vor allem im Niederdeutschen Erfolg, wo der Bremer G. Meier seine Gedanken aufgreift und wiederum anderen vermittelt (vgl. Schulenburg 1937, 11 ff.). Der Hintergrund dafür, daß man sich gerade in diesem Bereich für die Dialekte interessiert, mag zum einen daran liegen, daß das Niederdeutsche immer noch im Zusammenhang mit der einstmals dort vorherrschenden Schriftsprache (Sprache der Hanse; vgl. Art. 51) gesehen wird und von daher seine Befürworter hat (vgl. z. B. die 1704 erschienene Dissertation von Raupach, der gegen die ungerechtfertigte Geringschätzung des ‚Plattdeutschen‘ argumentiert), zum andern aber daran, daß sich das seit dem 16 . Jh. übernommene Hochdeutsch mehr wie eine Fremdsprache zum Niederdeutschen verhielt und so die Kontrastierung deshalb naheliegender war, weil sie auch die gesprochene Sprache betraf, die in den hochdeutschen Regionen stark dialektal gefärbt war und weiterhin auch blieb (vgl. z. B. die Beobachtungen zur Aussprache Schillers bei Stock 1966, 18 ff.). Diese Beschäftigungen mit den mundartlichen Wörtern schlagen sich aber zunächst noch nicht in Wörterbücher nieder, und so bleibt das 16 89 erstellte Glossarium Bavari-
cum des Regensburger Prasch ohne Nachahmer, obwohl Leibniz gerade dieses als Vorbild genannt hatte (vgl. Schulenburg 1937, 11). Neben den allgemeinen Motiven ist Leibniz an den Mundartwörtern vor allem deswegen interessiert, weil sie hinsichtlich der Etymologie von Wortfamilien Aufschluß geben sollen (vgl. Schulenburg 1973, 244), aber auch wegen der möglichen Bereicherung des Wortschatzes (ebda, 247). Handwerker- oder Bauernsprache ist ihm im Gegensatz zu den Sprachkritikern der Zeit Objekt vielfältiger Forschungen: „Itaqve operae pretium foret variarum Germaniae dialectorum vocabula colligi, etiamsi rusticis solis usitata. Qva ratione origines multae alias ignorandae patebunt“ (zit. nach Schulenburg 1937, 8). Dem philologischen Verfahren der Zeit gemäß werden diese Wörter zum größten Teil aus schriftlichen Quellen gezogen — ein Verfahren, das auch für die späteren Idiotika angewandt wird —, doch bemüht sich Leibniz selbst um den rezenten Wortschatz (vgl. Schulenburg 1973, 246 ) und gibt auch seinen gelehrten Freunden entsprechende Ratschläge hinsichtlich der Gewährspersonen (in diesem Falle: Pastoren und Amtsleute; vgl. Schulenburg 1937, 25 f.). Obwohl Leibnizens Gedanken nur handschriftlich kursieren, sind sie in der gelehrten Welt doch so bekannt, daß auch noch vierzig Jahre nach seinem Tod (1716 ) der Verfasser des Hamburger Idiotikons, M. Richey, den Einsatz Leibnizens für die Dialektologie rühmt (1755, X). Ähnlich ergeht es der ersten regionalsprachlichen Wortschatzsammlung, dem Glossarium Bavaricum des Ludwig Prasch. Zwar erfüllt er, was er Mitte der 80er Jahre des 17. Jh. ankündigt: „Dahero nötig zu Verfertigung bemeldter etymologicorum, daß ein jegliches Volck ein glossarium, oder lexicon seiner Wörter herausgebe. Ich meines wenigen Ortes habe das Glossarium Bavaricum übernommen“ (zit. nach Schulenburg 1937, 10). Die gelehrte Welt weiß um dieses Werk (vgl. Eccard 1711, Kap. 31), doch wird es erst ein halbes Jahrhundert später greifbar in der Edition von J. Heumann (1747). Das ist gewiß nicht unbezeichnend für die Einschätzung der Befassung mit den Dialekten, denn es bedurfte doch noch einiger fundamentaler Veränderungen, damit das „Vortreffliche“, das Prasch in seiner wie auch anderen Mundarten entdeckte, auch dargestellt werden konnte (vgl. Dünninger 1954, 189 ff.).
1. Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegungder Dialektologie
Diese Veränderungen werden dadurch in die Wege geleitet, daß die Argumente, die zur Verachtung der Mundarten angeführt werden, natürlich diejenigen zum Widerspruch reizen müssen, die sie als ihre Sprache ansehen. Die Auseinandersetzung wird dabei von der Unklarheit der Begrifflichkeit hinsichtlich „Mundart“ in Gang gehalten. So schreibt der heftigste Gegner, der den Gottschedianern entgegentritt, J. J. Bodmer, durchaus von der éinen Mundart, die es in der Schweiz gebe (vgl. Socin 1888, 385), und ist sogar zu dem Zugeständnis bereit, daß „die (!) Mundart an manchem Ort sehr verderbt ist“ (1740, 8). Doch greift er dann auf einem Gebiete an, das die Sprachreiniger in ihrem Regulierungsdrange gar nicht in Rechnung gestellt hatten: die Mundart, speziell die schweizerische, könne gar nicht verderbt und als Schriftsprache untauglich sein, weil sie, wie die Vergleiche mit der älteren Sprache zeigten, mit dieser in vielem übereinstimme. Ja, Bodmer kann den Spieß sogar umdrehen und feststellen, daß Wortschatz, Metaphern, Vergleiche und Lautstand der Mundart oft altertümlicher sei als in Sachsen, weil sie von „alten Landesarten und Sitten hergenommen sind“ (ebda.; vgl. Trümpy 1955, 91). Das eröffnete immerhin die Möglichkeit, in den Mundarten historisch gewachsene Sprechweisen zu sehen, womit der mundartliche Wortschatz deshalb interessant wurde, weil er altes, in der Schriftsprache verlorenes oder unerklärliches Wortgut enthält (vgl. Trümpy, 1955, 124). Das historische Interesse verbindet sich dann mit dem oft ausgesprochenen Wunsch nach „Natürlichkeit“, der offensichtlich ein Reflex auf die Regulierung darstellt und nun in den Dialekten eine Ungezwungenheit am Werke sieht, die man in der geregelten Hochsprache offensichtlich vermißt. Herder: „Der mittelmäßige Skribent bequemt sich, nach dem ordentlichen Wege, um ins Kabinett seines Fürsten zu gelangen ... Ein kühnes Genie durchstößt das so beschwerliche Zeremoniell, findet und sucht sich Idiotismen, gräbt in die Eingeweide der Sprache, wie in Bergklüfte, um Gold zu finden“ (Ed. 1960, 113).
Hier klingt auch der Widerwille gegen eine „städtische Verfeinerung“ an, der in den Dialekten das Gegenmittel sieht. Um einer allgemeinen Schriftsprache, die durch die „Cultur nach und nach so glatt, so charakter- und so gepräglos“ (Nicolai 1781, 96 ; zit.
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nach Socin 1888, 441) geworden ist, zu neuer Eigenart zu verhelfen, soll auf die Dialekte zurückgegriffen werden. Damit verdeutlicht sich eine Tendenz zur Abkehr von allem Gesellschaftlichem oder Städtischem, die als Gegenbewegung nicht nur der Bauernverachtung ausgemacht werden kann. Viele Schriftsteller rühmen nun das „Echte“, „Ursprüngliche“, „Unverdorbene“ des Landlebens und seiner Bewohner (Hagedorn, Haller, Gessner u. a.; vgl. Franz 1976 , 242 ff.). Zusammen mit dem erkennbaren ökonomischen Interesse an der Landwirtschaft und ihrer Verbesserung (vgl. Lichterberg 1970, S. 16 ff.) kommt hier eine positive Einschätzung des Bauern auf, die durchaus auch Tradition hat (vgl. den „Karsthans“ aus dem 16 . Jh.: „Der Bauer ist hier nicht der Tölpel des Fastnachtsspiels, sondern bei aller Derbheit gescheit und einsichtiger als seine geistlichen Gegenspieler“, so Trümpy 1955, 179). Und da der Dialekt, nun unter positivem Vorzeichen, weiterhin als die Sprache der Bauern angesehen wird (vgl. Steiger 1919, bes. 17 ff.), ist dies natürlich eine wichtige Voraussetzung für das Interesse am Dialekt. Dieses Interesse wird auch durch eine andere Erscheinung des 18. Jh. verstärkt: durch die zunehmende Reiselust („Die Zustände eines Landes, die Sitten eines Volkes, die Besonderheiten einer Landschaft fesseln dabei als ‘Merkwürdigkeiten’ die Aufmerksamkeit der Reisenden ebenso wie die des ‘Publicums’, das sich nicht selten in Lesegesellschaften zusammenfindet“; Narr/Bausinger 196 4, 237) kommt es zu der Wiederaufnahme der Ethnographie und in ihrem Gefolge zu Sprachbeobachtungen, insbesondere der Sprechweise der Landbewohner (Bauern; vgl. Trümpy 1955, 172 ff.). Die Beobachtungen sind größtenteils ungenau und befriedigen mehr die Suche nach ‘Curiositäten’, doch zeigen sie eine Bereitschaft des Publikums zur Beschäftigung mit den Dialekten. Die Aufnahme von mehreren Idiotika in die ‘Reisebeschreibung’ F. Nicolais (1783—96 ) ist ein solches Zeichen. Das Interesse für die Dialekte und die ausdrückliche Bereitschaft sie als Sprachform anzuerkennen, lockert das Verdikt, das die Sprachpuristen über sie verhängt hatten. Die kaum zu beseitigende begriffliche Unschärfe hinsichtlich dessen, was mit Dialekt alles gemeint sein kann, ist wohl auch Grund für ein gewisses Nebeneinander der Urteile, die ja auf verschiedenen Grundlagen beruh-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
ten. Denn immer verbinden sich mit dem ‘Dialekt’ ein oder mehrere andere Begriffe, die ihn dann in ein jeweils verschiedenes Beziehungsgeflecht stellen (Sprachgeschichte; Sprachverbesserung und -„reinigung“; Schichtensprache: Pöbeloder Bauernsprechweise; Sprachpsychologie: „Unverfälschtheit“ u. dgl. m.) und eine Klärung vor diesem meist unausgesprochenen, aber dennoch gemeinten Hintergrund auch heute noch schwer macht. Ebenso schwierig ist es dann, entsprechende Äußerungen aus dem 18. Jh. einzuordnen, obwohl sie immer den Bezugspunkt zu einer speziellen, regional gültigen Sprechweise erkennen lassen. Wenn man aber die Sprache Bodmers, die er in seinem Kampf für die Mundart gebraucht, beispielsweise mit den Sätzen vergleicht, die Reisende aus der Schweiz bzw. Schweizer selbst als Proben der Sprechweise mitteilen (1797: „Ja, uf mi Säl! So sechs wie dier sit, näm i“; zit. nach Trümpy 1955, 175), so ist die Spanne angedeutet, innerhalb derer man von ‘Dialekt’ spricht. Das erklärt dann aber auch, daß trotz der schließlich erfolgreichen Bemühungen um eine eindeutig geregelte Hochsprache weiterhin Dialekte verwendet werden, sogar in Niederdeutschland, das ja einer ziemlich rigorosen Umstellung auf das Hochdeutsche unterzogen wurde (vgl. z. B. das Kanzelverbot für Niederdeutsch im 17. Jh.: „In Nebengottesdiensten, im seelsorgerischen Gespräch und dort, wo es auf das unmittelbare Verstehen ankam, behielt das Niederdeutsche seinen Platz“; Stellmacher 1981, 41). Aber auch in der Schrift wurde Mundart verwandt, und das nicht nur in der Mundartliteratur deutscher Gegenden bzw. der Dialogliteratur der Zeit (die eine z. T. hohe sprachliche Entwicklung aufwies: „Was Bodmer eine Zeitlang künstlich wiederherzustellen suchte, eine alemannische Literatursprache, das existierte in dem entlegenen Bergtal (Entlebuch), ohne daß er es wußte, sozusagen vor seinen Augen ‘naturhaft’“; Trümpy 1955, 289), sondern auch in anderen Bereichen (z. B. Gerichtsprotokollen für die Widergabe der Einvernahme; vgl. die Arbeiten von Brandstetter 1892 u. a.). Das Fortbestehen der Mundarten und das erwachte Erkenntnisinteresse für sie rufen nun im 18. Jh. zu Taten auf, die nicht einmal in erster Linie rein wissenschaftlicher Natur als vielmehr von einigen praktischen Motiven geleitet sind.
Kaum sind die Mundarten als Störer der sich herausbildenden Hochsprache einigermaßen entlastet, finden sich Stimmen, die ihr baldiges Verschwinden befürchten und dies lebhaft bedauern (vgl. Herder 196 0, 177). Es ist dies eine Befürchtung, die schon zu Beginn des 18. Jh. geäußert wird (1720: „... in denen Städten, wo Fürstl. Residentzen, Regierungen, oder verbesserte Schule entweder gewesen sind, oder noch gefunden werden, der grobe Hennebergische Dialectus sich nicht, oder doch nicht vielmehr, hören lasse“; zit. nach Spangenberg 196 3, 57) und in der Folge immer wieder von Dialektologen als Anlaß für ihre Sammeltätigkeit bemüht wird. Den Anfang macht der Hamburger Richey, der im Vorwort zu seinem Hamburger Idiotikon (1755, XLIII) meint, daß die „Mund-Arth“ von Tag zu Tag „in Abnahme“ gerät. Das Interesse für die Mundarten wird aber noch aus einem anderen Grund wachgehalten, den man zunächst nicht vermutet: die Mundartwörter sollen die Hochsprache b e r e i ch e r n, welche wiederum eigentlich mit ersteren gar nichts zu tun haben sollte. Doch hat dieses Vorhaben Tradition, denn es gehört schon zu dem Leibnizschen Programm: „Nun wre zwar freylich hierunter ein großer Unterschied zu machen, mithin was durchgehends in Schriften und Reden wackerer Leute üblich, von den Kunst = und Land = Worten, auch fremden und veralteten, zu unterscheiden. Ander Manchfaltigkeiten des Gebräuchlichen selbst anietzo zu geschweigen, wären derowegen besondere Werke nöthig, nehmlich ein eigen Buch vor durchgehende Worte, ein anders vor Kunst = Worte, und letzlich eines vor alte und Land = Worte, und solche Dinge, so zu Untersuchung des Ursprungs und Grundes dienen, deren erstes man S p r a c h b r a u c h, auf Lateinisch Lexicon; das andere S p r a c h = S c h a t z, oder cornu copiae; das dritte Glossarium, oder S p r a c h q u e l l nennen möchte“ (Leibniz 1838, 461).
Außerdem gibt es Klagen der Schriftsteller darüber, daß die Hochsprache nicht ausreiche, und die deshalb die sprachlichen Möglichkeiten erweitert sehen wollen. J. E. Schlegel (176 6 , 199): „Wenn ich nicht neue Worte finde / ist mein Gefühl doch immer neu. / Nicht ich, die Sprach ist schuld daran, / daß ich nichts sagen kann.“ Ähnlich äußern sich Klopstock, Lessing, Wieland. Und so wird der Bereichungsgedanke zu einem auch später öfters ausgebrachten Topos. Im 18. Jh. ist das offensichtlich so dringlich, daß selbst Gottsched dies
1. Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegungder Dialektologie
billigen kann (1748, 334). Es liegt auf der Hand, daß diese Forderungen, getragen von so weitgehender Zustimmung, auch zur am meisten genannten Begründung der dialektologischen Beschäftigung und dementsprechend zur ausschließlich gewählten Darstellungsart der Ergebnisse führen: dem Wörterbuch (vgl. 4.). Ähnlich wie J. C. Schmid („Die Kenntnis der provinziellen Dialekte verschafft uns einen großen Vorrath von brauchbaren Wörtern, um Begriffe zu bezeichnen, für die wir in der allgemeinen Sprache keine Benennenungen haben“; 1795, 1) begründen dies in ihren Idiotiken Reinwald (1793, VI f.), Popowitsch (1780, 2), Berndt (1787, XXIV f.) und v. m. (vgl. Steiger 1919, 115 ff.). Aber es sind noch andere Gründe, die für die Beschäftigung mit den Dialekten angeführt werden. Verbunden mit der Auflockerung des sprachreinigenden A-Historismus werden die Dialekte zunehmend mehr als Überlieferer alten Wortguts, als Möglichkeiten der sprachgeschichtlichen Erklärung angesehen. Hierin folgen Bodmer wie auch andere wiederum den Vorschlägen von Leibniz (s. o.; vgl. Trümpy 1955, 124 ff.), z. T. aus recht praktischen Gründen. Strodtmann nennt solche in der Einleitung zu seinem Idioticon Osnabrugense (1756, XI): „Ich habe vornämlich mein Augenmerk auf die Obersächsischen Rechtsgelehrten gerichtet, die öfters übel daran sind, wenn ihnen Acten, um Responsa darüber auszufertigen, aus Westphalen zugeschickt werden, weil darinn Wörter vorkommen, die ihnen schlechterdings unbekannt sind. Ja, man weiß Fälle, daß die Urtheile himmelweit von dem Rechtshandel entfernt und bloße Nullitäten gewesen; blos, weil man die hier in foro aufgenommene und im Lande übliche Wörter und Sachen nicht verstanden hat“ (Ähnlich auch Dähnert 1781, 1 ff.).
Damit ist ein Problem angesprochen: das Verstehen. Diesem muß natürlich an den wichtigsten Verbindungsstellen des Zusammentreffens von Hochsprache und Dialekt aufgeholfen werden. So werden Idiotika als Unterstützung für den Pfarrer angesehen, der dann dafür sorgen könne, daß mit seinem Vortrag auch die rechten Ideen verständlich würden (vgl. Niebaum 1979, 178 und Siegert 1978, 126 3, wo über einen Pfarrer berichtet wird, der für sich und seine Nachfolger ein Idiotikon der Ortssprache als Hilfe zu „populären Predigten“ anfertigen will). Eine andere Stelle ist die Schule, für die dann auch die entsprechenden Vorschlä-
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ge gemacht werden: „Zweckmäßig ist es ebenso wenig, wenn man den Niederdeutschen, Oberdeutschen und Hochdeutschen auf einerley Art, und ohne diese besondere Rücksicht auf seinen Dialekt, unterrichtet“ (Allgemeine Literaturzeitung 1791, zit. nach Steiger 1919, 159). Und dann ist natürlich das Wissen von diesem Dialekt eine Voraussetzung: „Ich habe über die Volkssprache Gutes und Böses ohne Partheylichkeit hingeschrieben, in der Absicht jeden Menschenfreund auf das Volk aufmerksam zu machen. Denn es bleibt ewige Wahrheit: kennt der Arzt den Kranken nicht, so kann er ihn nicht heilen“ (v. Köln 1784, zit. nach Niebaum 1979, 178). Aufklärung tat über die Schule hinaus not: so sollten die Landbewohner über das Versicherungssystem, neue landwirtschaftliche Methoden und Verbesserungen im medizinischen Bereich aufgeklärt werden. In der Schweiz hatten sich nach dem französischen Vorbild der Société d’Agriculture (1756 ) sog. Ökonomische Gesellschaften gebildet (z. B. in Bern 1759). In den Schriften wurden mundartliche Fachausdrücke verwandt (vgl. Trümpy 1955, 115 ff.). Die zunehmende Reiselust (s. o.) schließlich brachte eine weitere Aufgabe: Wörterlisten mit Übersetzungen sollten die Konversation mit den Einheimischen erleichtern. So erfuhr die „Sammlung von eigenthümlichen schweitzischen Ausdrücken“ im Reisehandbuch des J. G. Ebel mehrere Auflagen (vgl. Trümpy 1955, 145 f.).
4.
Die Idiotikographie
Die Kennzeichnung eigentümlich trifft am ehesten die Bestimmung, mit der die Dialektforscher ihr Objekt eingrenzen. Fulda (1788, 3 a): „Wir nennen aber idiotisch, was in der Schriftsprache nicht allgemein bekannt ist, und mit einer Erklärung für jedermann belegt werden muß“. ‘Idiotikon’ nennt sich deshalb die Sammlung solcher Wörter und Richey (1755), der das erste, beispielgebende Wörterbuch dieser Art gemacht hat, gilt auch als der Wortschöpfer dieser Bezeichnung (vgl. Trümpy 1955, 124). Obwohl Bodmer in seinem Zorn über die meißnische Sprachvorherrschaft anmerkt — vor allem wegen der These, nur diese Sprache hätte eine Grammatik (s. o.) —, daß man solche Grammatiken in vierzehn Tagen für jede Mundart der Deutschen erstellen könne (vgl. Socin 1888, 383), kommt keine solche zustande. Zwar zeigen sporadische Mitteilun-
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gen, daß man sich auch in dieser Hinsicht Gedanken macht (vgl. z. B. die vergleichende Grammatik von Antesberg 1747; dazu Socin 1888, 431 ff.), doch werden die dialektologischen Beobachtungen fast ausschließlich in sog. Idiotika ausgebracht. Das Beispiel Praschs und die dringliche Anregung Leibnizens (s. o.) führen zu einer Sammeltätigkeit im ganzen 18. Jh., deren Ergebnisse freilich nicht immer als gedrucktes Werk vorgelegt werden. Deshalb ist so manche Arbeit heute nicht mehr vorhanden, wiewohl man von ihrer Existenz weiß (vgl. Trümpy 1955, 112 ff.; Strassner 196 5, 46 3 ff.; Blümcke 19 6 4, 23 ff.; Niebaum 1979, S. 16 5 ff.; Dingeldein 1981, 57 ff.). Wenn diese Idiotika nicht die Fragen beantworten, die heute an ein Dialektwörterbuch gestellt werden, so ist die Beurteilung Socins (1888, 502: „Vor Schmeller war die Beschäftigung mit den Mundarten mehr oder weniger ein Tummelplatz des Dilettantismus“) insofern ungerecht, als Absicht (nämlich n u r den Wortschatz zu sammeln, der für jedermann interessant, aber noch unbekannt ist — s. o.) und Hintergrund (die Dialektalität der Zeit war eben intensiver und der Umgang mit ihr letztlich selbstverständlich) zeitgemäß gewertet werden sollten. Vermutlich ist es aber diese Auffassung, die bislang eine eingehende Würdigung der Idiotikographie und damit der dialektologischen Forschungen und Beobachtungen vor dem 19. Jh. verhindert hat (vgl. allerdings den Versuch von Pop 1950), denn es fehlt eine zusammenfassende Darstellung der durchaus zahlreichen Idiotika dieser Zeit (Scholz 1933 behandelt nur deren vierzehn; vgl. auch Brunner 1971, 32—41 mit einer Besprechung wichtiger Idiotika), wenn diese auch für einzelene Regionen in Ansätzen schon vorgelegt worden ist (vgl. die Übersicht, die Basler 1929/30, 35 ff. für das „Journal von und für Deutschland“ gibt, immerhin 34 Nummern, und Trümpy 1955 für den schweizerdeutschen, Strassner 196 5 für den fränkischen, Niebaum 1979 für den westfälischen, Freudenberg 196 8 für den bairischen, Baur 1976 für den badischen und Dingeldein 1981 für den hessischen Bereich). Für die Idiotikon-Bearbeiter bereitet der Vorwurf, die Mundarten seien Pöbelsprachen, immer noch große Schwierigkeiten: obwohl die Anerkennung der Mundart durch eine ganze literarische Richtung, den ‘Sturm und Drang’ nämlich, vorliegt — Lenz, Wagner und auch Schubert finden in
den Mundarten ihre „Kraftausdrücke“ (vgl. Henzen 1954, 141 ff.) —, setzen viele die Mundart von der ‘Pöbelsprache’ ab und sehen dann im sog. Provinzialismus keinen Vorwurf mehr (z. B. Fulda 1788, 3). Seltener tritt ein Idiotikon dem Problem so unbefangen gegenüber wie das Schützes (1800, XV): „Um also den Geist des Volks, der Nation aus seiner Sprache zu entwickeln, habe ich weder dieser noch jener, der Pöbel- und Nichtpöbelsprache, ihr Recht vergeben ... können ... Dem Reinen ist alles rein!“.
Das mag anzeigen, welche Probleme bei der Corpusauswahl bestanden. Immerhin führte dies dazu, daß in dieser Phase nicht nur der Bauer als maßgeblicher Dialektsprecher genannt, vielmehr auch die Stadtsprache zum Objekt wurde (Richey 1755, L: „Der Pöbel hat gar zu großen Antheil an der Mund-Art, insonderheit in grossen KauffStdten ...“). Andererseits war man sich auch über den Konservativismus in den Randlagen klar: C. U. v. Salis-Marschlins stellt fest, daß Dörfer ab von der Hauptstraße ihre Eigenarten besser bewahrten (so Trümpy 1955, 101). Obwohl die meistgeäußerte Absicht darin besteht, die Idiotismen in die Hochsprache einzubringen, werden in fast allen Idiotika Angaben zur Aussprache gemacht, so daß hier Anzeichen für eine Anerkennung der Eigenständigkeit dieser Sprachformen sichtbar werden (Bremisch-Niedersächsisches Wörterbuch 17 6 7; Dähnert 1787; Schmid 1795; Reinwald 1793 u. a. m.). Richey bringt als ersten Anhang der zweiten Auflage (1755, 377) seines Hamburger Idiotikons eine „Dialectologia Hamburgensis, oder Versuch einer regelförmigen Bemerckung des eigenen, wodurch sich unsere Mund-Art von anderen, insonderheit von der Ober = Sächsischen, unterscheidet“ bei. Der Terminus ‘Dialektologie’ wird hier noch etwas anders verstanden als später, wenn er zur Bezeichnung eines sprachwissenschaftlichen Zweiges geworden ist. Die Eindeutschung des Terminus kann noch weiter zurückverlegt werden als bei Trümpy 1955, 76 — er gibt 1783 an —, nämlich in das Jahr 1746 ; Bödiker bzw. Wippel verwenden diesen Terminus in ihren „Grundsäzen der teutschen Sprache“ auf S. 574. Es ist jedoch immer mißlich, Erstverwendungen von Termini feststellen zu wollen — das gilt auch für Idiotika oder Dialektwörterbücher —, weil das funktionelle Spiel der Begriffe hier angehalten wird und das sachliche Beziehungsgeflecht außer Acht bleibt.
1. Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegungder Dialektologie
Mit „Dialectologia“ meint Richey hauptsächlich die Darstellung der Lautwerte (das 5. und 6 . Kapitel enthält Aussagen zu Synkope/Apokope und zu einigen Hilfsverben). In mehr oder minder großer Ausführlichkeit machen auch die anderen Idiotika dergleichen Angaben, die freilich keine systematische Auswertung zulassen (vgl. aber den Versuch bei Herrmann-Winter 1970). Denn der Zweck der Idiotika ist hauptsächlich die Bereicherung der Hochsprache, weshalb Fulda auch rät, daß man das Dialektwort „gehörig ankleide“, d. h. im Lautstand dem Hochdeutschen annähere (1788, 4 b). Dieser Zweck schränkt natürlich den dialektologischen Aussagewert ein. Andererseits kann man aus den Äußerungen dieser Idiotismensammler ein Wissen um die Probleme dialektologischen Forschens durchaus schon erkennen. Schmid z. B. weiß sehr wohl um die Schwierigkeiten im semantischen und die notwendigen Voraussetzungen im kontrastiven Gebiet: „Nicht genug, daß er die Bedeutung idiotischer Worte und den Sinn idiotischer Verbindungen überhaupt kenne, muß er auch zu unterscheiden wissen, was bildlich, was eigentlich, was vom ganzen Volke, was nur vom Pöbel, was im feineren, was im plumpen Scherze, was in der Kindersprache, was ohne Unterschied gebraucht wird. Er wird nicht wohl zu einer solchen genauen Kenntniß der Muttersprache und des Provincialdialektes gelangen können, woferne es ihm an Vergleichungspunkten fehlt, die er sich erst zu verschaffen im Stande ist, wenn er nicht nur mehrere Provincialdialekte und die älteren Mundarten seiner Muttersprache, sondern auch andere alte und neue Sprachen versteht. Endlich muß er sich in mehreren Gegenden seines Vaterlandes eine nicht unbeträchtliche Zeit aufgehalten und einige Mundarten aus eigenen Beobachtungen kennen gelernt haben“ (1795, 4).
Eigene Beobachtungen stoßen freilich auf Schwierigkeiten. Denn Reinwald (1793, V) berichtet davon, daß es mißlich ist, die Bedeutung zu erfragen: „Der gemeine Mann argwohnt leicht, daß man ihn ncken wolle, wenn man Ausdrücke von ihm wissen will, deren Niedrigkeit er selbst fhlt, und deren er sich beynah schmt. Kann er nicht unsre Neugierde fr verstellt halten, und, sich wegen unsers vermeinten Spottes zu rchen, und Falschheiten aufheften?“. Ähnlich scheint es Schmid ergangen zu sein: „Bisweilen glaubt der Gefragte, man wolle ihn zum Besten haben, und bezahlt uns dafür mit falscher Angabe der Bedeutung“ (1795, 10).
Obwohl Schmid die für diese Zeit wohl
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umfänglichsten Hinweise für die Arbeit des Idiotikographen ausbringt (u. a. eben auch über die Gewährspersonen; 1795, 6 —11), setzt er sich diesen Schwierigkeiten nicht aus und bezieht sein Material von befreundeten oder angeworbenen Gelehrten (vgl. Blümcke 196 4, 28), vor allem aber aus älteren Wörterbüchern, Glossaren und Rechtsquellen. Inwieweit sich der Begriff ‘Idiotikon’ und die damit zusammenhängende Tätigkeit schon verfestigt hatte, geht aus dem Idiotikon hervor, das erklärtermaßen eigentlich keines mehr sein will und mit seinem Programm ein größeres Ziel anstrebt: Schütz möchte in seinem Holsteinischen Idiotikon (1800 bis 1806 ) nicht nur ein Sprach-, sondern auch ein Sittenbuch liefern und viele einheimische Gebräuche erläutern: das Thema der volkskundlich ausgerichteten Dialektologie klingt da durchaus zeitgemäß an (Romantik).
5.
Dialektforschung zur Zeit der Romantik
Schmid freilich bleibt trotz seiner gut durchdachten Hinweise — diese forderten auch eine Mundartgrammatik —, bei der eingebürgerten Idiotikographie. Diese hatte konsequenterweise zu einer „allgemeinen teutschen Idiotikensammlung“ geführt (Fulda 1788; ebenso Popowitsch 1780), da man darauf aus war — den Anregungen Leibnizens folgend —, die „öffentliche Sprache“ zu vervollständigen und zu bereichern (Fulda 1788, 2). Diese dialektologische Zielsetzung traf sich mit allgemeinen — sprachwissenschaftlichen und bevölkerungspolitischen — Vorhaben, die zum Ausklang des 18. Jh. aufkommen: unter dem Aspekt der vergleichenden Sprachforschung (vgl. F. Adelung 1815) sollen große Sprachsammlungen der vorhandenen Idiome angelegt werden. Anregung und Vorbild dazu kommen aus Frankreich. Dort wird zwar nach 1789 noch einmal mit dem ganzen radikalen Impetus die Ausrottung der Dialekte gefordert — am drastischsten in der Rede des Abbé Grégoire vor der Nationalversammlung am 6 . Juni 1794 (vgl. Gazier 1880, 292—296 ), die den Titel hat: „Sur la nécessité et les moyens d’anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française“ —, doch führt dies nach den unter 2. 2. erläuterten Bedingungen schließlich wieder dazu, daß man vor der Ausrottung erst einmal wissen muß, was deren Objekt sein soll. Dies verbindet sich mit
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
der ohnehin latenten aufklärerischen Wißbegier zu weit ausgreifenden Vorhaben, etwas Genaueres über die Sprachen der Völker zu erkunden. Das erste Werk dieser Art dürfte Pallas (1787) sein, der Wörtervergleiche aus annähernd zweihundert europäischen und asiatischen „Sprachen und Mundarten“ aufzeichnete und hiermit auf einem anderen Weg versuchte, die Sprachenvielfalt darzustellen, als die vergleichende Übersetzung biblischer Texte, die schon Tradition hatte und in dem Monumentalwerk Adelungs (1806 —1817; vgl. Studer 1954, 215) mit 506 Versionen einen vorläufigen Abschluß fand. Für die Erforschung der Dialekte war dies allerdings noch nicht erprobt worden, und hier setzte das nachrevolutionäre Frankreich einen Anfang (vgl. Art. 3), nachdem auch hier die Befürchtung geäußert wurde, daß die Dialekte zum Aussterben verurteilt seien (vgl. Studer 1954, 217). Der Leiter der Abteilung Statistik im französischen Innenministerium, C.-E. Coquebert, sandte im Jahre 1806 an die Präfekten der Departements den Text des Gleichnisses vom verlorenen Sohn mit der Maßgabe aus, diesen von geeigneten Personen in die jeweilige Ortsmundart übersetzen zu lassen (vgl. die Materialgewinnung Holthausens für sein ‘Süd-Westfälisches Idiotikon’ durch Zirkulare mit der Übersetzung eines Stückes aus ‘Engel’s dankbarer Sohn’ um 1809; nach Niebaum 1979, S. 178 ff.). Diese Übersetzungen gingen zahlreich der ‘Societé des Antiquaires’ zu, ohne daß diese zu einer endgültigen Auswertung gekommen wäre (Studer 1954, 218 ff.). Das betraf vor allem ein Manuskript, das das umfangreichste, dialektologisch wohl wertvollste der Sammlung war. Es stammte nicht aus Frankreich, sondern aus der Schweiz, die wie andere angrenzende Staaten zur Teilnahme aufgefordert worden war, und trägt den Titel: „Schweizerische Dialektologie in Vergleichung mit andern ältern germanischen Dialekten. Sammt einem Anhang einer Uebersetzung der Parabel vom verlorenen Sohn Lucae XV. 11—32. In allen Schweizerdialekten. von Franz Josef Stalder, Kammerer und Pfarrer zu Escholzmatt im Entlebuch. Im Jahr 1808“ (vgl. Studer 1954, 219). Dieser Verfasser war zu der Zeit (1808) schon mit einer Arbeit hervorgetreten, in der er versucht hatte, das Idiotikon aussagekräftiger zu machen. So gibt er dem „Versuch eines Schweizerischen Idiotikon“ (Bd. 1, 1806 )
eine „Dialektologie“ bei, in der die Lautbeschreibung zwar immer noch unzureichend ist (vgl. Studer 1952, 214), aber doch umfangreicher als i n den vorausgegangenen Idiotika (s. o. 4.) vorgenommen wird. Außerdem bezog Stalder die Möglichkeiten der Worterklärung durch Beispielsätze und Sachbezug ein (volkskundliche Erläuterung), und — wenn auch noch unvollkommen — durch die historische Erhellung (vgl. Studer 1952, 207 ff.; Trümpy 1955, 74 ff.). Daß Stalder hier einen auszubauenden Weg verfolgte, geht aus dem schon genannten Werk hervor, denn dort hatte er, nur zwei Jahre später, die Beobachtungen zur Aussprache wesentlich erweitert und präzisiert (vgl. Studer 1954, 219 ff.). Das freilich konnte die Fachwelt nicht zur Kenntnis nehmen, denn dieses Werk blieb Manuskript. Gleichwohl deuten die Arbeiten Stalders die Tendenz an, der nunmehr die Einschätzung der Dialekte unterliegt. Was unter dem Eindruck der Weimarer Klassik etwas in den Hintergrund getreten war, rückte zu Beginn des 19. Jh. wieder in den Mittelpunkt des Interesses: die kulturelle Tradition des gesamten Volkes. In der nun herrschenden romantischen Theorie wird das Volk „als Organismus begriffen, der sich in einzelne Teile gliedert, von denen ein Teil die Volkspoesie ist“ (Jendreieck 1975, 16 5). J. Grimm erläutert diesen Gedanken 1807 in einer Abhandlung über das Nibelungenlied und führt aus, daß ein Nationalgedicht allzeit aus einer Begebenheit hervorgegangen ist, die das ganze Volk bewegt hat. Ein gemeinsames großes Streben und das ganze reiche Sein desselben wird in diesem Volksepos erfaßt und in einfachen Worten und Tönen ausgesprochen (vgl. hierzu Jendreieck ebda.). Wichtig wird für Schriftsteller und Wissenschaftler nun alles das, was das „ganze Volk bewegt hat“: Volkslieder (Des Knaben Wunderhorn, 1805/8), Volksbücher (Görres 1807), (Volks-)Märchen (Kinderund Hausmärchen 1812/15), Rechtsgeschichte (des Volkes; „Weistümer“) u. v. m. (vgl. Janota 1980, 28 f.). Entscheidend ist, daß sich diesmal die führenden Köpfe der Zeit auch tatsächlich mit den Werken der Volkskultur befassen — anders also als Lessing, Klopstock oder Herder, die die Praxis den Idiotikographen überließen. Weiteres Gewicht erhielt die romantische Bewegung auch noch dadurch, daß ein solch exzellenter poetischer Geist wie Hebel seine Gedichte in der („oberländischen“, Hebel 1801, zit. nach Socin 1888,
1. Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegungder Dialektologie
447) Volkssprache verfaßte und Voss seine Idyllen in der ‘reichen und wohllautenden Sassensprache’ (vgl. Socin 1888, 445; zur Mundartpoesie der Zeit vgl. Trümpy 1955, 265 ff.). Die Lebendigkeit und Vielfalt des ‘Volksgeistes’, den die Romantiker allerorten wirken sehen (vgl. Jendreieck 1975, 152 ff.), ist auch Grundlage ihrer Sprachauffassung: „Für Jacob Grimm heißt das Gesetz des Lebens in der Sprache wie in der Natur unendliche Differenzierung, und die Differenziertheit der Sprache in die Vielzahl einzelner Mundarten galt ihm als Beweis für den Naturcharakter der Sprache; die ‘Abweichungen und Unregelmäßigkeiten’ sind Produkte des in der Sprache wirkenden ‘Naturgesetzes’ und Qualitäten der lebendigen Individualität der Sprache“ (Jendreieck 1975, 262). Von daher gesehen ist es verwunderlich, daß der Wegbereiter der germanistischen Sprachwissenschaft keine einzige Arbeit im dialektologischen Gebiet vorlegte und auch durch Äußerungen die Meinung aufkommen ließ, er sei den Dialekten doch nicht so wohlgesonnen wie er es seiner Sprachauffassung zufolge eigentlich sein sollte: „Trotz aller Förderung, die die Dialektforschung durch das Wirken Jac. Grimms erfahren sollte, ist Grimms eigenes Interesse für die Mda. meist nur mittelbar geblieben“ (Bach 1950, 16). Diesem Eindruck liegt eine Fehlinterpretation der Grimmschen Absichten zugrunde. Zunächst einmal ist bekannt, daß er der Dialektforschung wohlwollend, ja hilfreich entgegenkam, was z. B. daran abgelesen werden kann, daß er sogar dem exzentrischen Außenseiter Radlof die oberhessische Übersetzung für dessen „Sprachen der Germanen in ihren sämmtlichen Mundarten dargestellt und erläutert durch die Gleichnisreden vom Säemanne und dem verlorenen Sohne“ (Frankfurt 1817) — eine Darstellungsart, die ja schon Vorgänger hatte (s. o.) — verschaffte (vgl. Studer 1954, 222 ff.). Als dann der zweite Band des Stalderschen Idiotikons erschienen war (1812), lobt er es als eines der besten (vgl. Wanner 1963, 435).
Das war es in der Tat auch (s. o. und vgl. Studer 1952, 207 ff.; Trümpy 1955, 149 ff. und Wanner 196 3 435 ff.). Ähnlich ist das Urteil zu der zweiten wichtigen Publikation Stalders („Die Landessprachen der Schweiz oder Schweizerische Dialektologie“ 1819), in der versucht wurde, „den Blick gleichzeitig auf sämtliche alemannischen Dialekte der Schweiz zu richten und den Laut- und Formenreichtum in einer Monographie zu verarbeiten. Der Versuch ist seither nicht wieder in diesem Umfang angepackt worden“ (Studer 1954, 224). 42 Übertragungen der „Gleichnisrede von dem verlorenen Sohn in
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allen Schweizermundarten“ ergänzten die Übersicht. Grimm begrüßt dieses Werk lebhaft (vgl. Wanner 196 3, 437 f.), aber er betrachtet dieses und auch andere als Vorarbeiten für seine großen Vorhaben (Deutsche Grammatik und Deutsches Wörterbuch). Denn seine o. g. Sprachauffassung löst ja die Dichotomie Dialekt: Hochsprache — sei sie nun negativ (z. B. Gottsched) oder parallel (Herder, Idiotikographen) verstanden — im gewissen Sinn dahin auf, daß es nur e i n e Sprache gibt, die — vielfältig wie das Leben — nicht nach Regeln, sondern nach ihrem lebendigen Brauch beobachtet werden soll. Folgerichtig ist sein ganzer Sinn historisch, „auf Erforschung des Gegebenen gerichtet. Gleich zu Beginn der Vorrede zur Grammatik von 1819 spricht er sich entschieden gegen die bisherige Auffassung aus, daß die Grammatik eine Sprachlehre sei; sie soll im Gegenteil zu lernen suchen aus der Sprache. Seine ‘Deutsche Grammatik’ ist denn auch weder das eine noch das andere von dem, was ihr Titel besagt, sondern eine germanische Sprachgeschichte“ (Henzen 1954, 156 ; vgl. Jendreieck 1975, 254 f.). Grimm überläßt es deshalb einem von ihm hochgeachteten anderen, nämlich Schmeller, die Dialektologie auf das Niveau zu bringen, das er 1819 mit dem ersten Band der „Deutschen Grammatik“ herausgearbeitet hatte.
6.
Die Fundierung der Dialektforschung durch J. A. Schmeller
Die ‘Deutsche Grammatik’ J. Grimms hatte ihre Wirkung nicht nur im allgemeinen philologischen Bereich, sondern auch in der Dialektologie. Denn die Methode, die Stalder zögernd mit seiner wenige Monate vorher erschienenen „Dialektologie“ hinsichtlich der historischen Erklärung ergriffen hatte, war durch Grimms Werk mit einem Male so einleuchtend aufgewiesen, daß sich auch Schmeller an die Umarbeitung seiner eigentlich schon vollendeten Lautgeschichte der bayrischen Dialekte machte: „Grimms historisch begründete Deutsche Grammatik, die manches meiner Hirngespinste auseinanderbläst — beschäftigt mich sehr“ (Tagebuchnotiz vom 16. 7. 1819; Ruf 1954, 408). J. A. Schmeller hatte sich schon als achtzehnjähriger zu dem Thema geäußert, das ihn dann ein Leben lang beschäftigen sollte. In einer Studie zum Schreibunterricht — die erst 19 6 5 vollständig abgedruckt wurde
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
(Schmeller 1803) — wendet er sich gegen die Verspottung der Mundart: „Gilt aber der verachtende Blick jene (!) Sprachart, die nicht Schriftsprachart ist, an sich, so er ist die lächerlichste unter den Lächerlichkeiten; denn was braucht es, um jede dieser Spracharten auch zur Schriftsprache zu machen mehr, als in ihr zu schreiben ...?“ (ebda. 41). Er hebt alsdann auf die Selbständigkeit der Mundarten ab: „Denn man schrieb so, daß die genannten Spracharten die Gestalt einer verdorbenen Schriftsprachart annahmen, was sie doch im Grunde ganz und gar nicht sind“ (ebda. 42).
Folgerichtig stellt er die Eigenständigkeit nur gesprochener Sprachen heraus, die einer genuinen Darstellung bedürfen. Er entwirft deshalb ein phonetisch anmutendes Transkriptionssystem, das in seiner späteren Vervollkommnung einen Meilenstein in der Dialektologie bedeutet. Im übrigen enthält er sich hier — wie auch später — einer romantischen Überschätzung des Dialekts und sieht durchaus, daß Unbildung („Rohheit“, ebda. 41) mit ihm vereint sein kann. Diesem Zustand will er mit echt aufklärerischem Impetus abhelfen, einer Haltung, die ihm zeitlebens eigen war und vielfach Motiv gerade für seine dialektologischen Arbeiten (vgl. Kunisch 1949; Wiesinger 1979, 586 ff.). Der Sinn des Unternehmens, das er später einmal als sein Hauptwerk bezeichnen wird (Brief v. 24. 7. 1837, abgedr. bei Rokkinger 1886 , 35), sieht er denn auch darin, daß damit angefangen wird, „den gemeinen Mann oder vielmehr den jungen Nachwuchs in den Volksschulen in den Stand zu setzen, daß er über seine eigne Rede nachdenken, in den verschiedensten Sprach = Erscheinungen das Uebereinstimmende, zur Regel werdende auffinden könne ...“ (1816 , 71 f.). Seine Souveränität, die ihm dann die Bewunderung der damaligen und der nachfolgenden sprachwissenschaftlichen Welt („Vor Schmellers Auftreten erschienene Mundartstudien haben etwas hoffnungslos Antiquiertes, auch Stalders Idiotikon“; Studer 1952, 214) eintrug, gründet in der überlegenen Haltung gegenüber den Dialekten. Diese ist frei von allen absichtsvollen oder elektizistischen Stellungnahmen und führt dazu, daß er die Bereiche, die die Dialekte im einzelnen und in ihrem Verhältnis zur „Gesammtsprache“ (1816 , 72: „Es versteht sich, daß bei der Bearbeitung einer Mundart immer der Blick auf die Gesammtsprache gerichtet bleibe, daß die Mundart im Sinn der Gesammt-
sprache, jedoch ohne Gewaltthätigkeit veredelt und dieser immer mehr zugebildet werde“) betreffen und auch heute noch Gegenstand der Forschung sind, zu thematisieren vermag und so ein Panorama dialektologischer Probleme entwirft. Zwar nimmt er die Anregungen der bis dahin betriebenen Dialektologie gerne auf — insbesondere die von Stalder, der ihm schon früh, nämlich 1805 bei seinem Aufenthalt in Spanien, durch den Vorabdruck von Teilen des „Schweizerischen Idiotikons“ (Stalder 1805) bekannt wurde — ändert diese aber durch völlig neue Gesichtspunkte. Zu Beginn des Jahres 1816 legt Schmeller der ‘Königlichen Akademie der Wissenschaften zu München’ unter dem Titel „Sprache der Baiern“ „Gedanken über ein zu bearbeitendes bairisches Idiotikon“ vor, das von dieser befürwortet wird. Zusammen mit einem Aufruf zur Unterstützung durch Beiträge (beide Stücke abgedr. bei Rockinger 1886 , 6 9 ff.) ist dies die wohl erste vollständige Vorbereitung eines dialektologischen Unternehmens, das dann die Beharrlichkeit Schmellers für immerhin 21 Jahre in Anspruch nahm. Schon bald stellte sich heraus, daß die Darstellung des Wortschatzes nicht ohne den Bezugspunkt einer Laut- und Formenlehre möglich war. Eine solche reichte er 1818 der Akademie unter dem Titel „Versuch einer grammatischen Darstellung der bairischen und oberpfälzischen Mundart als Beitrag zur vergleichenden deutschen Sprachkunde“ ein und wollte sie auch publizieren, als der erste Band der Grimmschen Grammatik erschien (s. o.). Auf Grund der darin angesprochenen Anregungen wurde die Grammatik erheblich überarbeitet und erschien 1821. Schon der Titel „Grammatik“, mehr aber noch die systematische Darstellung der Laute (1. Abschnitt: „Aussprache“) und der Formen (2. Abschnitt) zeigte die grundlegende Veränderung gegenüber bis dahin herrschenden Ansichten über den Dialekt. Er selbst kennzeichnet seinen Versuch als eine ‘historisch-geographisch-grammatische Darstellung’ (1821, V) und nennt damit auch die wichtigsten Prinzipien der Grammatik: M u n d a r t i n d e r G e s ch i ch t e — nach dem später formulierten Leitsatz: „Was ist, findet in dem, was war und dieses in jenem seine natürliche Erklärung“ (1827, VII) —, M u n d a r t i m R a u m — die wohl erste Dialektkarte wird dem Werk beigegeben (vgl. Art. 3, Karte 3.1.), eine Einteilung der Dia-
1. Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegungder Dialektologie
lekteigenheiten nach dem geographischen Vorkommen (427 ff.) übersichtlich zusammengestellt — und M u n d a r t i m S yst e m — auf mehr als 400 Seiten werden Laute, Formen und Wortbildung dargestellt, wobei hier die „synchron orientierte Beschreibung der Gesamtheit der gesprochenen Sprache“ (Wiesinger 1979, 597) überwiegt, „denn zu einer geschlossenen Lautgeschichte reichen seine altsprachlichen Kenntnisse 1821 noch nicht aus“ (Studer 1952, 352). Was in der Kennzeichnung nicht erwähnt wird, ist die vierte wichtige Komponente: die s o z i a l e G l i e d e r u n g d e r M u n d a r t. Diese ist in vorsichtiger Paraphrasierung gemeint, wenn er „jene dreifache Sprachschichtung“ der späteren deutschen Dialektologie (Mundart, Umgangssprache, Hochsprache) berücksichtigt (Wiesinger 1979, 595): ‘gemeine ländliche Aussprache’, ‘Aussprache der Bürgerclasse in Märkten und Städten’ und ‘Aussprache der Gebildeten’ passiv nach der Orthographie, doch so, daß die Hauptfarben des Provinzial-Dialektes durchscheinen (Schmeller 1821, 21 f.; vgl. die Würdigung bei Freudenberg 1968, 68 ff.). Damit sind viele bis dahin landläufige Vorurteile über den Dialekt entkräftet: er wird von Schmeller, exemplarisch am Bairischen, als ein eigenständiges Ergebnis sprachgeschichtlicher Entwicklungen herausgestellt (vgl. Wiesinger 1971, 78). Die damalige wissenschaftliche Welt begrüßt dieses Werk mit einhelliger Begeisterung; J. Grimm schreibt an Lachmann: „Ein ausgezeichnetes buch über die bairischen mundarten von Schmeller“ (Brunner 1971, 66). Die lexikographische Darstellung der Mundarten Bayerns wurde nicht so schnell fertig. Erst 1837 konnte er den 3. und 4. Teil des Wörterbuchs dem König Ludwig I., seinem Förderer seit langer Zeit, überreichen. Auch mit diesem Werk setzte er Maßstäbe — so sehr, daß „Schmellers Vorzüge [...] bis heute ein modernes bayerisches Wörterbuch verhindert haben“ (Wiesinger 1971, 78 f.). Die Reverenz an die politische Einheit Bayern ist natürlich dialektologisch nicht stimmig und die sprachhistorisch begründete „etymologisch-alphabetische“ Anordnung der Lemmata (nach „dem Konsonantengerippe der Hauptsilben (sog. Schmellersches System)“; Sonderegger 196 8, 7) dem Benutzer ein Hindernis (vgl. Brunner 1971, 6 7 ff.), was aber durch die Umsicht bei der Sammlung und Darstellung dialektologischer Da-
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ten mehr als ausgeglichen wird. Die Veränderung in der Bezeichnung — nämlich von Idiotikon in Wörterbuch — verleiht nicht nur der Mundartforschung eine neue Würde, sie ist auch durch die Konzeption berechtigt. Dem neuen wissenschaftlichen Prinzip folgend werden die Dialektwörter sprachhistorisch erklärt, darüber hinaus aber auch die dialektalen Fremdwörter von Schmeller kundig gedeutet. Eine neue Dimension erhält die Wörterbucharbeit durch Schmellers reichhaltige Sacherläuterungen, die den ganzen Kosmos der Mundarten dem Leser und Benutzer erhellen: „Schmeller gelingt es, den hinter der äußeren Erscheinungsform verborgenen geistigen Gehalt der Begriffe deutlich zu machen, und so dem Leser einen unmittelbaren Einblick in Sitten und Gebräuche des Volkes, seiner Geschichte, in seine wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu verschaffen. In diesem Sinne kann man vom Bayerischen Wörterbuch als einem echten Realwörterbuch sprechen“ (Brunner 1971, 77 f.).
Die Voraussetzungen für diese Kenntnisse verschafft sich Schmeller in einer für damalige Verhältnisse einmaligen und richtungsweisen Art. Zwar entnimmt er vorhandenen Idiotika und Wörtersammlungen, außerdem auch den Mitteilungen befreundeter Gelehrter viel Material — darin gleicht er seinen Vorgängern (insbesondere Stalder, der vor allem bei seinen Textbeispielen die Mitteilenden nennt, unter denen natürlich sein gelehrter Freund Füglistaller der prominenteste ist; 1819, 259 ff.; vgl. Studer 1952, 207 ff. und 346 ff.) —, in der Hauptsache aber stammen seine Erläuterungen aus zunächst eigener Erfahrung — er wuchs in einem Dorf als Sohn eines Korbflechters auf —‚ und später aus unzähligen Kundfahrten über Land, von denen er in seinen Tagebüchern berichtet (z. T. auch aus Befragungen von nach München eingezogenen Rekruten). Die Nähe zu denen, deren Sprache er aufzeichnet — nämlich die „Sprache des bayrischen Bauers“ (Tagebucheintrag v. 10. 6 . 1837, s. Ruf 1954—56 , Bd. II, 244; vgl. Wiesinger 1979, 586 ) — bewirkt wohl auch, daß er die Artikel häufig mit persönlichen, humorvollen oder freundlich-belehrenden Bemerkungen versieht und so dem Werk Lebendigkeit und besonderen Reiz verleiht, ohne daß dies dessen Wissenschaftlichkeit abträglich ist. Denn diese erhält wiederum hohe Anerkennung, u. a. durch J. Grimm, der es als das beste Wörterbuch ansieht, das „von irgendeinem deutschen Dialekt besteht,
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
ein Meisterwerk, ausgezeichnet durch philologischen Scharfsinn wie durch reiche nach allen Seiten hinströmende Sacherläuterung, ein Muster für alle solche Arbeiten, von dem unwandelbaren Trieb seines emsigen, liebenden Geistes durchdrungen und belebt“ (zit. nach Brunner 1971, 82). Nach dem Erscheinen des Wörterbuchs sammelt Schmeller eifrig weiter, so daß dieses posthum auf Anregung von J. Grimm um die Nachträge bereichert 1872—1877 neu herausgegeben werden konnte (Schmeller 1872—77). Eine andere Arbeit, die in ihren Anfängen schon auf das Jahr 1811 (Schmeller 1811) zurückgeht, wurde ebenfalls posthum (Schmeller 1855) herausgegeben: „Johann Andreas Schmeller’s sogenanntes Cimbrisches Wörterbuch, das ist Deutsches Idiotikon der VII. und XIII. Comuni in den venetianischen Alpen“. Schmeller hatte 1833 auf einer Kundfahrt durch die Hochtäler in den Venetischen Alpen diese Gemeinden besucht und darüber 1834 der Akademie berichtet. 1844 wiederholte er diese Kundfahrt und legte der Akademie seine Ergebnisse — eine Grammatik und ein Wörterbuch — 1851 handschriftlich vor (vgl. die Würdigung bei Brunner 1971, 82 ff.). Dem einhelligen Lob der dialektologischen, eigentlich der gesamten Arbeiten Schmellers seitens der Zeitgenossen, verleiht wiederum J. Grimm in eindringlichen Worten Ausdruck: „Ich bin nicht einer, der das hohe verdienst eines Kreitmaiers oder Westenrieders um Bayern verkleinern oder herabsetzen möchte, nur ich fühle, dasz Schmeller gröszer war als sie und ein noch höheres recht hat auf allgemeine anerkennung. ihm stand ein genius zur seite, der ihm zuraunte und eingab, was er unternehmen sollte und was er ausgeführt hat“ (Grimm 1859, 42).
Dies führt schließlich zu dem in der Geschichtsschreibung der Dialektologie oft gebrauchten Topos, daß Schmeller der Begründer der modernen Dialektforschung sei. Nun ist es außer Zweifel, daß Schmellers Arbeiten zu ihrer Zeit vorbildlich waren — und dies wird auch in der zuletzt erschienenen Monographie (Brunner 1971) deutlich herausgearbeitet —, die genaue Analyse ihrer spezifischen Auswirkungen auf die nachfolgenden dialektologischen Arbeiten ist freilich noch nicht in wünschenswertem Ausmaß geleistet worden (vgl. Wiesinger 1971, 78).
7.
Dialektforschung in der Mitte des 19. Jahrhunderts
Der Ruhm und die Anerkennung Schmellers lassen sich auch mit einer Bewertung der Dialekte verbinden, die ganz unabhängig von der speziellen dialektologischen Forschung, auf Grund sprachtheoretischer Überlegungen zur gleichen Auffassung kommt. W. v. Humboldt, der in seinen Schriften die These von der organischen Lebendigkeit der Sprache herausarbeitet, vermag keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Mundart und Hochsprache zu sehen (1836, 52 ff.). Darin folgen ihm K. F. Becker und K. L. Heyse nach (vgl. Henzen 1954, 157), so daß die Mundartforschung — anders als im 18. Jh. — in diesem Felde keine Gegner mehr hat. Denn auch bei diesen Verfassern von Grammatiken findet sich eine abgeklärte Haltung gegenüber den Mundarten: man strebt ihre Einbindung in die allgemeine sprachliche Entwicklung an und lehnt ihre Unterdrückung oder gar Ausrottung als ein ebenso erfolgloses wie törichtes Unterfangen ab (vgl. Socin 1888, 472 ff.; Löffler 1980, 22). Das vermag nicht zu verhindern, daß an anderer Stelle mit Vehemenz darüber gestritten wird, ob die Dialekte verschwinden, ob sie ausgerottet oder erhalten werden sollen. Hierin tut sich besonders der von der nötigen Aufklärung des Volkes erfüllte Wienbarg hervor, indem er sich für die Ausrottung des Plattdeutschen ausspricht (1834), ohne freilich den Effekt seiner Absichten zu bedenken. Denn wie schon im vorausgegangenen Jahrhundert ruft man damit nur die Verteidiger auf den Plan, die dann besonders in dem Mundartschriftsteller K. Groth einen einflußreichen Verbündeten haben, und schließlich 1875 eine Zeitschrift für die Pflege dieser bedrohten Mundart gründen: das ‘Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung’. Abgesehen von solchen, auch später nicht ausbleibenden Angriffen gegen den Dialekt, gehört seine Erforschung schon zu Beginn des zweiten Drittels des 19. Jh. zum Kanon der deutschen Philologie — wie dies zumindest dem ersten Grundriß dieser noch jungen Wissenschaft zu entnehmen ist (Hoffmann 1836 ). Hoffmann ist auch der erste, der eine Bibliographie zur Mundartforschung erstellt (1836 , 171—206 ). Diese enthält zwar mehr als 6 00 Titel, doch betreffen über die Hälfte solche der Mundartliteratur,
1. Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegungder Dialektologie
die zu dieser Zeit einen großen Aufschwung erfährt. Abgesehen von dem ohnehin immanenten Verhältnis von Mundartforschung und Mundartliteratur ging es zu dieser Zeit um Forschungsmaterial (vgl. die größte Sammlung dieser Art: Firmenich 1843), das man auf diesem Wege günstiger erhielt als durch Kundfahrten — trotz Schmellers beispielgebender Materialerhebung. Grimms Dominanz wirkte auch hier, so daß man sich in der Erforschung der Mundarten einer Buchstaben-Philologie bediente und dem Unterschied zwischen Laut und Schrift nicht die gebührende Achtung schenkte. Zusammen mit einer anderen Entwicklung der Germanistik dieser Zeit — ihre führenden Geister orientierten sich zunehmend mehr an der klassischen Philologie und konzentrierten sich auf die Edition der mittelhochdeutschen Literatur (vgl. Janota 1980, 36 ff.) —, trug dies zu dem Eindruck bei, daß die mundartkundlichen Arbeiten bis zur zweiten Hälfte der siebziger Jahre verhältnismäßig selten seien, daß die Mundartforschung zwischen 1830 und dem großen Jahr 1876 zum Erliegen gekommen sei (vgl. Schirmunski 1962, 61). Dem war freilich nicht so. Denn erstaunlicherweise wird die Dialektologie gerade in dieser Zeit mit den Arbeitsmitteln versehen, die eine Wissenschaft braucht. 1854 erhält die Arbeit Hoffmanns (1836 ) einen Nachfolger. In seinem bibliographischen Versuch „Die Litteratur der Deutschen Mundarten“ kann der Verfasser, P. Trömel, feststellen: „Die Forschung in den deutschen Mundarten hat seit 1836 , wo H. Hoffmann von Fallersleben in seiner ‘Deutschen Philologie im Grundriss’ ihre Literatur zum ersten Male in genügender Weise zusammenstellte, an Umfang und Stoff unverkennbar gewonnen. Man hat die Bedeutung der Mundarten für die Sprachforschung einerseits, und für die Kenntniss des geistigen Lebens des Volkes anderseits, längst erkannt und reiche Quellen fliessen den Studien dieser Richtung in einer weitschichtigen, kaum mehr zu übersehenden Litteratur“ (1854, 1).
Er kann zu dieser Zeit die Hoffmannsche Bibliographie um immerhin mehr als 400 Titel bereichern, so daß eher die Vermutung berechtigt ist, das Urteil über die erliegende Mundartforschung in diesem Zeitraum rühre von der Unkenntnis und mangelnden Aufarbeitung der doch recht zahlreichen mundartkundlichen Untersuchungen her. Das mag sicherlich auch daran liegen, daß der Elan, mit dem dann die dialektgeographische Me-
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thode die Dialekte zu erforschen suchte, den Blick auf die Vorgänger verstellte (vgl. Art. 3), doch ändert dies nichts an der weitblickenden und besonnenen Beurteilung und Darstellung der Mundarten in den Arbeiten von Götzinger (1836 ), Rapp (1841), Davin (186 4) und vieler anderer, die durchaus eine stärkere Beachtung in der Mundartforschung verdienen. Im gleichen Jahr (1854) begründet J. A. Pangkofer die Zeitschrift „Die deutschen Mundarten“, die nach dessen Tod am 15. September von G. K. Fromann fortgeführt wird. Ein Jahr zuvor hatte K. Weinhold (1853) eine, schon 1847 konzipierte Schrift herausgegeben, die unter dem Titel „Ueber deutsche Dialectforschung“ auf alles aufmerksam macht, „worauf es bei mundartlichen Forschungen überhaupt ankommt, wenn sie erfolgsam betrieben werden sollen. Es ist hierbei nichts übersehen, auf Alles hingewiesen, was der Mundarts-Forscher ins Auge zu fassen hat: Richtige verständigte Lautbezeichnung, — Fixirung des dialektischen Sprachsatzes an adoptirten und eingebornen Worten, so wie der eigenthümlichen Terminologieen, der Eigennamen von Personen und Ortschaften, Gebirgen und Flüssen. Eben so kann der grammatische Theil als gemeinpaßliches Schema für alle Detail-Bearbeitung einer Mundart angenommen werden“ — wie es in der Anzeige in der o. g. Zeitschrift (1. 1854, 54) heißt.
Neben Weinhold, der schon — angeregt durch seinen Lehrer Jacobi — in seiner Dissertation von 1846 für das Dialektstudium eingetreten war (Schirmunski 196 2, 6 1) und dies als einen wesentlichen Bereich seiner Forschungen weiterhin betrieb (s. u.), war es dann noch der Nachfolger auf Uhlands Tübinger Lehrstuhl, A. v. Keller, der innerhalb der Universität zur Erforschung der „lebenden Volksdialekte“ aufforderte (in seiner Inauguralrede von 1842; abgedr. bei Janota 1980, 270). Das Gros der Dialektforscher kam freilich aus der Lehrerschaft, die vor allem in den „Programmen“ ihrer Schulen „zum Teil Erstaunliches“ boten (Wiesinger 196 4, 2). Sie waren es, die unterstützt durch interessierte Laien — wie z. B. den Arzt Titus Tobler, der den Appenzellischen Wortschatz aufzeichnete (1837) — die vielen Dialektbeobachtungen der Zeit vornahmen (s. o.). Allerdings hatten sie mit zum Teil gar nicht so recht vermerkten Problemen zu kämpfen. Hinsichtlich der getreuen Aufzeichnung der gesprochenen Sprache hatte Schmeller nur einen ersten Anfang gemacht, der zudem gar nicht weiterverfolgt wurde (vgl. die Mund-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
artdichtung als Materialgrundlage). Das wurde erst in der junggrammatischen Phase befriedigend gelöst (vgl. Wiesinger 196 4, 3 und Art. 2). Des weiteren machte sich bei der vermehrten Beschäftigung mit den einzelnen Dialekten das Fehlen von Einteilungskategorien bemerkbar. Darüber klagten vor allem diejenigen, die die Dialekte in Übersichten darstellen wollten, denn die Einzeluntersuchungen konnte man immer nach dem Muster Landschafts-, Stammes- oder Stadtbezeichnung + -isch auch ohne ein Gesamtsystem lokalisieren. Trömel (1854, 1): „Ist es aber an und für sich schon schwierig, die verschiedenen Mundarten räumlich streng abzugrenzen, so ist es noch viel weniger möglich, die betreffende Litteratur genau zu trennen, namentlich auch, da man zu häufig von eigener Anschauung absehen, und den Angaben Anderer folgen muss. Ich wage daher nicht zu behaupten, dass es mir gelungen sein wird, die Einreihung der Titel immer am richtigen Orte bewirkt zu haben.“
Schon 1834 waren Forderungen nach einer allgemeinen Sprachenkarte von Deutschland erhoben worden, allerdings von Landeshistorikern, denen die Mundart bei ihrer Erforschung der ursprünglichen Stammesverwandtschaft „unstreitig eines der untrüglichsten Kennzeichen“ war — so K. Bernhardi, der dann auch die erste „Sprachkarte von Deutschland“ 1844 (vgl. Art. 3) vorlegte (vgl. Niemeyer 196 2, bes. 59 ff.). Bernhardi sieht sehr deutlich die Unvollkommenheit seines „Versuchs“ und will das „Schriftchen“ nur „als eine Aufforderung zu einer gründlicheren Bearbeitung des Gegenstandes gelten“ lassen (1844, VII). Der Wenkersche Sprachatlas zeigte dann, welchen Aufwand diese „gründlichere Bearbeitung“ erforderte (vgl. Art. 3). Große Probleme wurden in dieser Phase der Dialektologie zwar nicht gelöst, doch muß das Interesse an den Mundarten recht beträchtlich gewesen sein, wenn man zu den o. g. Arbeiten noch die Gründung zweier Wörterbuchunternehmen hinzunimmt, die in diesen Zeitraum fallen: A. v. Keller (s. o.) setzt mit seiner „Anleitung zur Sammlung des schwäbischen Sprachschatzes“ (vgl. Walker 196 4, 91 ff., und Art. 6 ) 1854 den Beginn des Schwäbischen Wörterbuchs und die Antiquarische Gesellschaft zu Zürich tat mit ihrem „Aufruf betreffend Sammlung eines Schweizerdeutschen Wörterbuchs“ 186 2 desgleichen (nachdem der Aufruf von 1845 oh-
ne Echo geblieben war; vgl. Haas 1981). Außerdem zählen die Arbeiten, die Weinhold innerhalb eines größeren Planes vorlegte — er will die Dialekte der deutschen Stämme grammatisch bearbeiten (186 3, VII) —, nämlich die Alemannische (186 3) und die Bairische (186 7) Grammatik, auch heute noch zu den nicht ersetzbaren Nachschlagewerken (vgl. Löffler 1980, 23); ähnliches vermerkt Schirmunski (196 2, 6 2) für andere Arbeiten dieser Zeit. Ganz im Sinne der Grimmschen Auffassung, daß die Dialekte sprachhistorische Verhältnisse widerspiegeln, hatte Weinhold seine dialektologische Arbeit angelegt und die Erforschung der rezenten Mundarten lieber „kundigen eingeborenen“ überlassen wollen: „Ueber die lebendige Mundart werde ich meist nur geben können, was andere mittheilten und leider, wie die Sachen stehen, für manchen Stamm dadurch unzureichend beraten sein. Der Kern meiner Arbeit ligt daher in der Veranschaulichung des geschichtlichen grammatischen Stoffes. Von den ältesten Zeiten an suche ich aus den mir zugänglichen Quellen die Laute, die Wortbildung und die Wortbiegung in jedem Dialekt zu entwikkeln“ (1863, VII).
Vorstellungen darüber, wie die Erforschung der rezenten Mundarten vonstatten gehen müßte, wurden allerdings schon zu Zeiten des Erscheinens von Weinholds Grammatiken vorgetragen: R. v. Raumer nahm wohl als erster den neu gewonnenen Status der Mundarten als vollgültiger Sprache in allen Konsequenzen auf und entwikkelte 1857 die Grundsätze einer Sprachwissenschaft, die das Sprachliche nur noch „in seinen allerindividuellsten Erscheinungen mit möglichster Schärfe und Genauigkeit“ (S. 391) erfassen soll. Er wendet sich deshalb gegen die Materialerhebung aus der Mundartliteratur — weil dort allenfalls das Gemeinsame der landschaftlichen, nicht aber der individuellen Mundart mitgeteilt würde (1857, 392) — und wünscht sich einen Apparat, „der das Gesprochene eben so treu auffasste und auf dem Papier befestigte wie das Daguerrotyp das Gesehene“ (ebda.). Diese Forschungsabsicht entfernt sich natürlich weit von dem, was Weinhold noch anstrebte, der mit seinen Grammatiken und anderen dialektologischen bzw. volkskundlichen Sammlungen (vor allem im schlesischen Raum) das Leben des Volkes durch reiche Belege und Erklärungen veranschaulichen wollte (Vogt 1902, 148 ff.), somit
1. Das Interesse an den Mundarten und die Grundlegungder Dialektologie
Mundart im großen Zusammenhang der Ethnographie sah. Als dann die Vorstellungen v. Raumers i n der junggrammatischen Theorie Gestalt annahmen und diese versuchten, die physiologischen und psychologischen Zusammenhänge sprachlicher Tatsachen schärfer zu bestimmen, stellte dies aber eher einen Um- als einen Aufschwung in der Haltung zum Dialekt dar. Die Zeit vorher war ja — wie gezeigt — durchaus von dialektologischer Forschung erfüllt, und so deutet der Widerwille, den Weinhold als der herausragende Vertreter dieser Forschungen gegen die neue „linguistische“ Richtung hegte (Vogt 1902, 152), eher das Ende der Ära an, die die Mundart nicht isoliert betrachtete, sondern i n die übrigen kulturellen Äußerungen und Tätigkeiten eingebunden sah.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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2. Das phonetische Beschreibungsprinzip als Ergebnisjunggrammatischer und dialektologischer Forschungsarbeiten
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2. 1. 2. 3. 4. 5.
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Ulrich Knoop, Marburg
Das phonetische Beschreibungsprinzip als Ergebnis junggrammatischer und dialektologischer Forschungsarbeiten Das Programm Ph. Wegeners Mundart und Phonetik im Konzept junggrammatischer Sprachwissenschaft J. Wintelers ‘Kerenzer Mundart’ E. Sievers’ ‘Phonetik’ Die Ortsgrammatik
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6. 7. 8. 9. 10.
Schallaufnahmen und Phonogrammarchive Zusammenfassende Methodenkritik Ortsgrammatiken als taugliche Basis für summierende Darstellungen Ortsgrammatik als unentbehrliches Instrument der Grundlagenforschung Literatur (in Auswahl)
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1.
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Das Programm Ph. Wegeners
Im Jahr 1879 legte Ph. Wegener der Germanistenversammlung in Trier ein Programm deutscher Dialektforschung vor, das die systematische Erstellung kleinregionaler Dialektgrammatiken des gesamten deutschen Sprachgebietes zum Ziel hatte. Von den vorliegenden Versuchen einer dialektologischen Dokumentation (Firmenich, Schmeller, Weinhold, Frommann usw.) sollte sich das geplante Unternehmen durch die Anwendung strenger wissenschaftlicher Methoden und durch weitgehende Vergleichbarkeit der Anlage jeder einzelnen Monographie unterscheiden. Eben dies sollte die finanzielle Förderung durch den Reichskanzler ermöglichen, die der Weiterführung von Frommanns Zeitschrift ‘Die deutschen Mundarten’ versagt worden war. Wegeners Vorschläge waren zuvor von einer Kommission aus den Herren Sievers, Braune, Paul und Winteler gebilligt worden. Die Trierer Germanistenversammlung hieß das Programm zwar gut, empfahl aber die vorherige Klärung personeller und verlegerischer Fragen. Zu einem Antrag und jedenfalls zu einer öffentlichen Förderung ist es nicht gekommen. Wegener (1880) stellt klar heraus, daß es die Dialektforschung mit gesprochener Sprache zu tun habe und daß man „den unterschied von lautzeichen und laut nicht scharf genug betonen“ könne (1880, 4). „Natur und charakter der sprachlaute und des physiologischen lebens überhaupt“ (1880, 3) sei Forschungsgegenstand der Lautphysiologie. „Die fortschritte auf dem gebiete dieser modernsten wissenschaft, die erkenntnis der modernen sprachforschung, daß ohne sie eine wissenschaftliche grammatik oder Sprachgeschichte unmöglich sei, lassen die zahlreichen arbeiten über dialecte aus der vorhergehenden Zeit als wenig oder doch nur einseitig brauchbar erscheinen“ (1880, 3). Erste Forderung an den Dialektologen — wie an den Sprachwissenschaftler überhaupt — ist daher die strenge Handhabung des wissenschaftlichen Instrumentariums der Lautphysiologie. Ziel seiner Arbeit habe es zu sein, „einen baustein zur construction der Sprachgeschichte zugehauen und fertig gestellt zu liefern“ (1880, 2 f.). Daher würde eine Dialektbeschreibung wertlos sein, die den modernen Laut nicht in Beziehung zu seiner historischen (altgermanischen) Entsprechung stelle und nicht Auskunft über die erfolgten Veränderungen gebe, deren Resultat die modernen Verhältnisse sind. Eigentlicher Ge-
genstand der Dialektforschung sei die Aufstellung von Lautgesetzen und die Darstellung der ihre Geltung einschränkenden Faktoren der Analogie (1880, 4 ff.). Im weiteren enthält Wegeners Programm klare Anweisungen für den Aufbau einer Dialektgrammatik: sie habe eine lautphysiologische (synchrone) Beschreibung aller in der Mundart vorkommenden Laute und einen diachronen Hauptteil (Lautgesetze, Störungen durch Analogie, Unerklärbares) sowie eine historisch-genetische Flexionslehre zu enthalten. Grundlage der Darstellung soll eine Ortsmundart — „heimatsdialect“ des Verfassers (1880, 24 ff.) — sein, zu der die Mundarten eines kleineren (historisch und kulturhistorisch determinierten) Bezirkes in Relation gestellt und ihre wichtigsten Abweichungen angegeben werden sollen. Die Beschränkungen in grammatischer und regionaler Hinsicht erfolgen aus praktischen Überlegungen. Als wünschenswert werden ausdrücklich genannt: Angaben über die Akzentverhältnisse, zur Syntax, zum Stil. Im Vordergrund steht aber doch, auch aus wissenschaftlichen Bedürfnissen, die Laut- und Flexionslehre.
2.
Mundart und Phonetik im Konzept der junggrammatischen Sprachwissenschaft
Das Programm Ph. Wegeners spiegelt sehr genau die Situation der deutschen Sprachwissenschaft in der Aufbruchstimmung der junggrammatischen Jahrzehnte seit den 70er Jahren des 19. Jhs. wider. In dem berühmten Credo der Junggrammatiker im Vorwort zum 1. Band der ‘Morphologischen Untersuchungen’ von H. Osthoff und K. Brugmann (1878) wird der bisherigen komparatistischen Indogermanistik (z. B. A. Schleicher) vorgeworfen, daß sie keine klare Vorstellung davon habe, „wie überhaupt menschliche sprache lebt und sich weiterbildet, welche faktoren beim sprechen tätig sind und wie diese faktoren die fortbewegung und umbildung des sprachstoffs bewirken. Man erforschte zwar eifrigst die sprachen, aber viel zu wenig den sprechenden menschen“ (1878, III). Der Schritt zu „unverfälschter volksrede, ... der gewöhnlichen verkehrs- und alltagssprache“ (1878, VII) lag nahe, umso mehr, als „in allen lebenden volksmundarten ... die dem dialect eigenen lautgestaltungen jedesmal bei weitem konsequenter durch den ganzen sprachstoff durchgeführt“ (1878, IX)
2. Das phonetische Beschreibungsprinzip als Ergebnisjunggrammatischer und dialektologischer Forschungsarbeiten
erscheinen als in den durch das Medium der Schrift gebrochenen historischen Sprachen. Das Sprechen und die gesprochene Sprache in den Mittelpunkt der Sprachwissenschaft zu stellen, war freilich nicht völlig neu. Auch J. A. Schmeller hatte die Notwendigkeit klar erkannt, Laut und Buchstaben sauber auseinanderzuhalten; trotz der ihm (gerade auch von J. Grimm) gezollten Anerkennung ist dies aber zu seiner Zeit ohne Wirkung geblieben. Erst der beginnende Aufschwung der Phonetik und die Junggrammatiker hatten dieser Forderung zu allgemeiner Anerkennung verholfen. Dennoch steht die erste moderne Mundartmonographie nur in lockerer, nachträglicher Beziehung zur Gruppe der Junggrammatiker. ‘Die Kerenzer Mundart im Kanton Glarus’ des Schweizers J. Winteler (1876 ) ist mindestens im Ansatz unabhängig von der Leipziger Schule; diese Arbeit ist das Ergebnis eigenständiger autodidaktischer Auseinandersetzung mit der älteren Literatur zur Phonetik (Brücke, Lepsius, Merkel) und einer intimen Kenntnis und Beobachtung der eigenen Sprache im Kontext benachbarter schweizerdeutscher Dialekte. Als Winteler nach Jena kam, mochte seine Arbeit im Konzept schon fertig gewesen sein. Vermutlich konnte sein (vier Jahre jüngerer!) Lehrer Sievers in phonetischen Dingen von ihm nicht viel weniger lernen als der Student Winteler von seinem Professor. Die im selben Jahr 1876 erschienenen ‘Grundzüge der Lautphysiologie’ von E. Sievers übernehmen jedenfalls einige wichtige phonetische Interpretationen Wintelers: Lenis-Fortis-Unterscheidung, Vokalsystem, Unterscheidung von schallbildender und schallmodifizierender Artikulation u. a. (vgl. Ganz 1978, 48 ff.). Wintelers ‘Kerenzer Mundart’ erhielt allgemeine Zustimmung, war doch hier die moderne junggrammatische Forderung nach linguistischer Erforschung lebender Sprache am Beispiel der Mundart auf exemplarische Weise erfüllt. Die weit über seine Zeit vorausweisenden Systemansätze (s. u.) blieben hingegen ohne Wirkung, auch auf Sievers’ Konzept der Phonetik. Dessen ‘Grundzüge der Phonetik’ (so der Titel seit der 2. Auflage 1881) erlangten hingegen einen fast uneingeschränkten Einfluß auf die germanistische Sprachwissenschaft und Dialektologie des folgenden Halbjahrhunderts. Mit Sievers’ Phonetik lag für die deutsche Sprachwissenschaft ein Buch vor, das auf hervorragender Beobachtung fußte, das in den wesentlichen Punkten mit den junggrammatischen Vor-
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stellungen vom Wesen der Sprachlaute und ihren Veränderungen übereinstimmte, vorwiegend sprachwissenschaftlich ausgerichtet war (eher im Widerspruch zu dem in den ursprünglichen Titel aufgenommenen Begriff ‘Lautphysiologie’) und überdies ein vorzüglich praktikables Lehrbuch der neuen Disziplin (verstanden als Hilfswissenschaft!) darstellte.
3.
J. Wintelers ‘Kerenzer Mundart’
Wintelers Ziel war die synchrone Beschreibung eines möglichst homogenen, lebenden Sprachkorpus. Daß die eigene Mundart ein dafür geeignetes Objekt sei, lag in jenen Jahren in der Luft. Winteler ging der Homogenität seines Materials zuliebe einen Schritt weiter und engte den Begriff Mundart konsequent auf Idiolekt ein, auf die Sprache des einzelnen Individuums, in seinem Falle auf die eigene Mundart. Die Beschreibung der Mundart diente einerseits der Erprobung und Darlegung eines phonetischen Beschreibungsinstrumentariums, im Zusammenhang der Erforschung des Schweizerdeutschen beanspruchte sie aber auch Eigenwert als Beschreibung. Die Lautphysiologie war für Winteler nicht bloß eine Hilfswissenschaft (wie für Sievers); sie bot vielmehr überhaupt erst die Möglichkeit einer angemessenen Beschreibung lebendiger, d. h. gesprochener Sprache. Die Reduktion auf die Lautlehre, im wesentlichen auch in der Morphologie, wird freilich gar nicht erst diskutiert. In der Anerkennung der Lautebene als einer autonomen sprachlichen Ebene steht Winteler auf dem Boden des junggrammatischen Konzeptes (vgl. Reis 1974, 47 f.). Wintelers Monographie kommt nicht nur forschungsgeschichtlich ein bedeutsamer Platz zu. Sie enthält Ansätze für eine strukturalistische Laut- und Sprachtheorie, die weit ins 20. Jahrhundert vorausweisen. Sie ist de facto eine streng synchrone Beschreibung, ohne daß sich freilich ihr Verfasser der Dichotomie von Synchronie und Diachronie klar bewußt wäre. Auch die beiden Abschnitte, die die „etymologischen Verhältnisse“ des Konsonantismus bzw. des Vokalismus behandeln (1876 , 42—84, 120—128), zielen nicht auf die Sprachgeschichte, sondern stellen die beschriebenen synchronen Systeme in Relation zu den historischen, „um auch von dieser Seite her die thatsächlichen (!) Verhältnisse ... zu beleuchten“ (42). H. Pauls berühmte Zurückweisung der Be-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
hauptung, „daß es auch noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe, als die geschichtliche” (1920, 20), hätte im Grund auch Wintelers Buch den sprachwissenschaftlichen Charakter absprechen müssen. Es fehlt auch nicht an Aussagen, die sich im Sinne der Dichotomie ‘langue — parole’ interpretieren lassen. Die Berücksichtigung von Sandhi-Erscheinungen in der phonetischen Transkription, denen die „Schreibung der Gemeinsprachen“ nicht Rechnung trägt (und sie „thut natürlich wohl daran“), wird damit begründet, „anschaulich zu machen, wie Vieles an Lautqualität und Lautquantität, was wir uns als fest und unwandelbar vorzustellen pflegen, thatsächlich in jedem Augenblicke die verschiedenartigsten Gestalten annimmt, und dass die wirkliche Sprache im Unterschiede zur eingebildeten, aber in Übereinstimmung mit allem Existierenden, eigentlich nie i st, sondern ewig w i r d“ (Winteler 1876 , 131; die Formulierung steht auch dem enérgeia-Konzept von E. Coseriu 1974, 37 ff. nahe). Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf Wintelers Unterscheidung (1876 , 134) zwischen dem, was der Sprecher (phonologisch) „meint“ und dem, was er, zufolge einer Assimilationsregel, tatsächlich artikuliert. Deutlicher sind Wintelers Vorstellungen von strukturierten Lautsystemen und von dem Stellenwert, der dem Einzellaut kraft des Systems zugewiesen wird (vgl. 1876 , 94 die Erörterung von „Unterschieden“ d. h. Oppositionen im Vokalsystem). Wenn Winteler an mehreren Stellen von „dynamischer Geltung“ von Lauten spricht (z. B. 1876 , 28; 92—95; 110; 170), dann ist auch hier offenbar die systematische (phonematische) Ebene angesprochen. Die lautgeschichtlichen Leitbegriffe der Junggrammatiker, Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze und Wirkung der Analogie, spielen für Winteler eine periphere Rolle. Wo er von Analogie spricht, geschieht dies im wesentlichen im vorjunggrammatischen Sinn. Seine Position dürfte der von H. Schuchardt ‘Über die Lautgesetze’ (1885) nahe gewesen sein. Die ziemlich deutlichen strukturlinguistischen Ansätze in Wintelers Buch haben zu seiner Zeit nicht gewirkt; sie sind wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen worden, waren als solche dem Autor vermutlich selbst nicht voll bewußt. Erst aus der Sicht einer formulierten strukturalistischen Theorie ließ sich deutlicher erkennen, was an Ansätzen dazu schon in älterer Forschung vorhanden war (ausdrückliche Berufung auf
Winteler bei Trubetzkoy 196 7, 7; Jakobson/ Fant/Halle 196 5, 6 0; vgl. Reis 1974, 41 f.). Freilich teilt Wintelers ‘Strukturalismus’ mit vergleichbaren, allerdings weniger kohärenten Ansätzen auch sonst in junggrammatischen Arbeiten (z. B. auch in Sievers’ Phonetik) den Mangel, daß er nirgends zu einer Theorie expliziert ist (vgl. Reis 1974, 39—42; Putschke 1969).
4.
E. Sievers’ ‘Phonetik’
Eduard Sievers’ ‘Grundzüge der Lautphysiologie’ (1876 ) entsprachen genau den Erfordernissen der Situation der Siebzigerjahre in der deutschsprachigen Sprachwissenschaft. Geschrieben „zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen“ (dies der Untertitel), als gleichzeitig ein Programm setzender 1. Band einer neuen, von führenden Junggrammatikern herausgegebenen ‘Bibliothek indogermanischer Sprachen’, prägte das Buch, weit über seine ursprüngliche Bestimmung hinaus, die Entwicklung der sprachwissenschaftlichphonetischen Forschung im deutschen Sprachraum maßgeblich. Einfluß und Geltung, die das Buch für Generationen von Philologen erlangt hatte, belegt allein schon die Tatsache, daß es in 25 Jahren fünf Auflagen erlebte (1876 , 1881, 1885, 1893, 1901). Sievers, einer der Eigenwilligsten und Sensibelsten im Kreis der Leipziger Junggrammatiker, war fasziniert vom Suchen nach der je eigentümlichen, unverwechselbaren und ausdrucksvollen Klanggestalt menschlicher Rede, bei aller Vielfalt seiner Forschungsgegenstände von der Textphilologie über die Metrik bis zur genialsubjektiven (und damit unbeweisbaren) Schallanalyse. In diesem Zusammenhang kommt auch der Phonetik, die sicher nicht in der vordersten Linie seiner Interessen stand, ein sinnvoller Platz in seiner Forschung zu. Es ist daher auch nicht zufällig, daß die Abschnitte über den Akzent (Satz-, Wort-, Silbenakzent) „wohl den wichtigsten Beitrag ... zur Entwicklung der Phonetik“ darstellen (Ganz 1978, 49). Hier konnte Sievers’ Überzeugung, „daß eine streng systematisch vorgehende Phonetik bei der Untersuchung des S a t z e s beginnen müßte“ (1901, 8), am besten zum Tragen kommen (1901, 230 ff.). In der Phonetik im engeren Sinn (Lautbildung usw.) war Sievers stark den Anschauungen seines Freundes H. Sweet verpflichtet. Besonders zugute gekommen ist dem Buch die
2. Das phonetische Beschreibungsprinzip als Ergebnisjunggrammatischer und dialektologischer Forschungsarbeiten
ausgezeichnete Beobachtungsfähigkeit seines Verfassers. Das Ziel, „ein für philologische Leser berechnetes Lehrbuch der Phonetik“ zu sein, „ei n e Anleitung zur Beobachtung“ zu geben (1901, 5), wird voll erreicht. Und darin liegt sicher auch der Hauptgrund für seinen Erfolg. Mit Sievers’ ‘Phonetik’ stand dem Sprachwissenschaftler ein Hilfsmittel zur Verfügung, das einerseits (unter bewußtem Ausschluß der sich eben anbahnenden experimentellen Phonetik) erlaubte, brauchbare Beschreibungen von lebenden Sprachen zu erstellen, das aber gleichzeitig streng sprachhistorisch ausgerichtet war und damit in voller Übereinstimmung zur geltenden sprachwissenschaftlichen Grundeinstellung stand. Auch darin stimmte Sievers mit dem Kreis der Leipziger Junggrammatiker, deren Bindung in eine monolithisch geschlossene Schule man im übrigen nicht überbewerten sollte (Jankowsky 1972, 144 ff., 187), überein, daß er dem Studium der Mundarten einen zentralen Platz einräumte, da die Mundarten wichtige Informationen für das Verständnis sprachgeschichtlicher Prozesse liefern können, „zudem ein viel deutlicheres Bild von der Consequenz der Lautgebung und Lautentwicklung zu geben [vermögen] als die Schrift- und Cultursprachen, die [...] viel mehr willkürlichen Beeinflussungen unterliegen, als die nur durch die ... stetigere Tradition des mündlichen Verkehrs fortgepflanzten Idiome des niederen Volkes.“ Die dem Sprachforscher „von Jugend auf geläufige Mundart“ müsse „Ausgangspunkt für alle phonetischen Studien“ sein — nicht zuletzt wegen der hier am leichtesten möglichen Selbstbeobachtung (1901, 6 , ähnlich 113 ff.). So imponierend die Intensität wie die Extensität der wissenschaftlichen Arbeit jener Jahre des junggrammatischen Aufbruchs ist und so wenig die Notwendigkeit verkannt wird, die neue Methodenstrenge auch der Syntaxforschung, der Wortbildung und der Semantik zukommen zu lassen, so wenig ist doch in der faktischen wissenschaftlichen Aktivität die Einseitigkeit und Einengung des Forschungsgegenstandes auf die Lautlehre und allenfalls noch auf die Flexionssysteme zu übersehen. Wo eben noch umfassend vom Leben der Sprache, von den Faktoren des Sprechens die Rede war, wird gleich deutlich, daß der Autor doch nur an die ‘lautgestaltungen’ gedacht hatte (s. o. 2). Und so deutlich einerseits bei Winteler Ansätze zu strukturalistischer Sehweise erkenn-
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bar sind (wenigstens aus der heutigen Position) und so wenig Ansätze dazu auch bei Sievers völlig fehlen, so steht dem andererseits bei Sievers doch die nachdrückliche Leugnung gegenüber, ein allgemeines Lautsystem (ein System aller möglichen/vorkommenden Sprachlaute) aufstellen zu können (1901, 46 ff.) — was leicht als Leugnung des Systemgedankens in der Phonetik überhaupt mißverstanden werden konnte und jedenfalls einer atomistischen Phonetik förderlich sein mochte. Viele der zahlreichen DialektMonographien, die der Sievers’schen Phonetik verpflichtet sind, konnten dieser Gefahr des Atomismus tatsächlich nicht entgehen. Immerhin versucht aber Sievers’ Begriff der Artikulationsbasis (1901, 114) einen lautphysiologischen Schlüssel für die Erklärung bestimmter systematischer Zusammenhänge und Korrelationen zu liefern.
5.
Die Ortsgrammatik
Es ist weder möglich noch nützlich, die lange Reihe der Arbeiten, die durch Winteler, Sievers und wohl auch durch das Programm Wegeners angeregt worden sind, im einzelnen zu besprechen. Die Methode soll an einigen wenigen Beispielen dargelegt werden, was auch durch die methodische Einheitlichkeit, auf weite Strecken hin Monotonie, eines Großteils der hier in Rede stehenden Untersuchungen gerechtfertigt wird. Vorweg ist allerdings auf die bemerkenswerte Arbeit eines großen Einzelgängers hinzuweisen: A. Heusler begann seine wissenschaftliche Laufbahn mit einer Untersuchung des ‘Alemannischen Consonantismus in der Mundart von Baselstadt’ (1888), die auf J. Winteler aufbaute — unter voller Einbeziehung der methodischen Fortschritte, die die Phonetik der Sprachwissenschaft ermöglicht hatte —, aber dennoch deutlich von dem mechanischen Schematismus der Junggrammatiker distanziert ist. Die Arbeit ist, indem sie die synchronen Daten nicht bloß mit einem historischen Bezugssystem in Relation bringt, sondern die konkrete historische Überlieferung mit ihren eigenen Interpretationsproblemen einbezieht, eine sprachgeschichtliche Untersuchung im vollen Sinn. Heuslers Position ist der der wenig jüngeren grundlegenden Arbeiten von R. Brandstetter (1890 ff.) und F. Kauffmann (1890) nahe verwandt, wenngleich bei ihm die lebende Mundart im Vordergrund steht, bei Brandstetter hingegen die historische Überlieferung.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Indem die genannten Arbeiten die junge Dialektforschung in eine echte Sprachgeschichte integrieren, gehen sie nicht nur über die streng synchronisch orientierte Dissertation Wintelers hinaus, sondern sind auch methodisch den meisten nachfolgenden Dialektmonographien der phonetischen Richtung überlegen. Thematisch setzt Heusler mit seiner Dissertation die von Winteler initiierte Diskussion über zentrale Probleme der oberdeutschen Lautstruktur und -geschichte fort, dies besonders im 1. Kapitel über ‘Lenis und Fortis’. Problemen des Vokalismus, und zwar den mundartlichen und historischen Systemen der e-Laute, gilt der Aufsatz ‘Zur Lautform des Alemannischen’ (1889) — Problemen, die W. G. Moulton (196 0) strukturalistisch zu lösen versuchte. 5.1. Das Modell der Ortsgrammatik Die erste bedeutende Monographie im Gefolge Wintelers war die ‘Soester Mundart’ von F. Holthausen (1886 ). Die Mehrzahl der folgenden Untersuchungen behandelt hingegen oberdeutsche Mundarten. Hervorgehoben seien — nicht ohne Willkür — die Arbeiten von J. Schatz über Imst in Tirol (1897), von P. Lessiak über Pernegg in Kärnten (1903), von H. Teuchert über die neumärkischen Mundarten (1907), die einem eigenständigen Konzept verpflichteten Bände der von O. Bremer herausgegebenen ‘Sammlung kurzer Grammatiken deutscher Mundarten’ (beginnend mit der ‘Deutschen Phonetik’ von O. Bremer, 1893!), die von A. Bachmann betreuten ‘Beiträge zur schweizerdeutschen Grammatik’ (1910 ff.) usw. Allen diesen Arbeiten liegt im Prinzip die gleiche Anlage zugrunde: auf eine (meist sehr knappe) geographisch-historische Charakterisierung des Untersuchungsortes (-gebietes) folgt eine phonetische Beschreibung der in der untersuchten Mundart vorkommenden Lautwerte, zumeist mit Angaben zur Distribution (vor allem Vorkommensbeschränkungen), in guten Arbeiten mit Abschnitten über den Akzent und über Probleme der Koartikulation (Assimilation, Dissimilation, Sandhierscheinungen u. ä.). Naturgemäß mußte es in diesem Teil bei Beschreibungen von verwandten Mundarten bald zu Wiederholungen kommen; daher wird in späteren Arbeiten (nicht jedoch in den ‘Beiträgen zur schweizerdeutschen Grammtik’) dieser Teil oft zu einer ‘Phonetischen Einleitung’ oder gar nur zu Vorbemerkungen verkürzt, die die verwendete Laut-
schrift kommentieren. Das impliziert aber auch ein Abrücken von phonetischen Fragestellungen, wie sie für Winteler im Zentrum standen. Das Hauptinteresse verschiebt sich auf den nächsten Teil (freilich auch schon seit Holthausens ‘Soester Mundart’ der Hauptteil): die historische Lautlehre. War Winteler auch in diesen Teilen seiner Arbeit (‘Etymologische Verhältnisse ...’) von der synchronen Ebene ausgegangen und hatte nach den historischen Entsprechungen der mundartlichen Lautsysteme gefragt, so lautete nun die Frage: Welche modernen Lautwerte entsprechen den Werten des mittelhoch- oder mittelniederdeutschen Vokalismus, des althochdeutschen oder westgermanischen Konsonantismus. Dementsprechend erfolgte die Ordnung des Materials nicht mehr (wie bei Winteler) nach den mundartlichen Phonemen, sondern nach denen des gewählten historischen Bezugssystems. Das hat zwar einerseits den Vorteil, daß für dialektvergleichende historische Fragestellungen das Material bequem geordnet zugänglich ist, andererseits aber den Nachteil, daß der Blick auf die phonologischen Systeme der Mundarten zunächst eher verstellt wird. In der ‘Historischen Lautlehre’ bemühen sich die Verfasser, die Entwicklungen von der Stufe des historischen Bezugssystems zur Stufe der heutigen Mundart in ‘Gesetze’, jedenfalls in Regeln zu fassen (Regeln für spontane und lautkombinatorische Entwicklungen) und Ausnahmen (nach Möglichkeit unter Zuhilfenahme von Analogien) zu erklären. Häufig und meistens unreflektiert wird von der Unterstellung ausgegangen, die untersuchte Mundart sei eine homogene sprachliche Varietät. Diese Annahme wurde durch verschiedene Faktoren unterstützt: einmal war der Einfluß der Hochsprache auf die Mundarten im Süden des deutschen Sprachgebietes Ende des 19. Jhs. wahrscheinlich tatsächlich noch relativ gering. Vor allem aber lag der damaligen Mundartforschung ein nirgends explizit formuliertes Vorverständnis von Mundart als einer kontinuierlich und ungebrochen entwickelten Fortsetzung der historischen Sprachstufen zugrunde; was dieser Fiktion einer ‘reinen Mundart’ widersprach, ließ sich zumeist als hoch- oder umgangssprachlicher Einfluß erklären und, da es ja um die Gestalt der ‘ursprünglichen’ Mundart ging, vernachlässigen. Schließlich mochte auch der Faktor der Autosuggestion eine gewisse Rolle spielen, zumal die Autoren häufig ihre eigenen Ge-
2. Das phonetische Beschreibungsprinzip als Ergebnisjunggrammatischer und dialektologischer Forschungsarbeiten
währsleute waren, bzw. sich möglichst auf die ‘ältesten Sprecher’ der jeweiligen Mundart stützten. Das Ergebnis war ein statisches Bild mundartlicher Lautsysteme. Die Vielfalt lebender Sprache oder gar aktuelle Sprachveränderungen in actu ließen sich auf diese Weise natürlich nicht fassen. Die Arbeiten von Winteler oder Heusler sind in dieser Hinsicht moderner als viele der nachfolgenden Ortsgrammatiken. Zwar sind die lebenden Mundarten Untersuchungsgegenstand aller dieser Arbeiten, aber eben vielfach in einem idealisierten Status. Das Forschungsinteresse galt überdies weniger der Mundart um ihrer selbst willen, sondern der ältesten (weil vermeintlich noch unvermischten) Endstufe einer Sprach(= Laut-)-entwicklung von historischen, schriftlich überlieferten Sprachstufen her. Die historische Analyse der mundartlichen Lautverhältnisse sollte gleichzeitig (und vor allem?) Einsichten in die Entwicklungsprozesse vermitteln. Von einer solchen Interpretation der Mundarten erhoffte man sich zu Recht zudem Hilfen für die Interpretation der phonetisch-phonologisch natürlich unzulänglichen historischen Orthographien. Viele Monographien enthalten neben der Lautlehre eine mehr oder weniger ausführliche Darstellung der Morphologie (Flexionslehre). Die z. T. tiefgreifende Umordnung der Flexionssysteme zwingt hier meistens dazu, die Anordnungsprinzipien der lebenden Mundart zu entnehmen und die synchrone Beschreibung mit den historischen Daten zu korrelieren (z. B. P. Lessiak 1903, 16 5: „Eine einteilung nach historischem gesichtspunkt wäre in anbetracht der großen verschiebungen unangebracht“). Den meisten Arbeiten fehlen Angaben über die Materialsammlung (über die Ausnahme der ‘Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik’ s. u.). In den meisten Fällen dürften sich die Autoren auf Selbstbeobachtung der eigenen Sprache bzw. auf die Kenntnis des Sprachgebrauchs ihrer unmittelbaren (z. B. familiären) Sprachgemeinschaft gestützt haben. 5.2. Ausgewählte Pionierleistungen Das skizzierte Bild wäre einseitig und ungerecht, würde man nicht deutlich machen, daß der an sich starre Rahmen der Ortsgrammatik doch hinreichend Spielraum bot für verschiedenartige Schwerpunktsetzungen und, neben den vielen wertvollen Materialsammlungen, für eine Reihe von auch me-
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thodisch interessanten und fördernden wissenschaftlichen Leistungen. An erster Stelle ist hier (nicht nur aus chronologischen Gründen) O. Bremer zu nennen, der sich in den wenigen Bänden seiner ‘Sammlung kurzer Grammatiken deutscher Mundarten’ (nach Bremers ‘Phonetik’, F. Mentz’s ‘Bibliographie’ und Bremers eher peinlicher ‘Kritik an Wenkers Sprachatlas’ ist Band 4: E. Maurmann ‘Mülheim a. d. Ruhr’, 1898, die erste Ortsgrammatik der Reihe) um methodische Strenge und Sauberkeit bemühte und an den meisten Bänden auch selbst aktiv mitgearbeitet hat. Als Beispiel für die von ihrem Herausgeber straff geleitete Reihe wird Bd. 7: A. Gebhardt ‘Grammatik der Nürnberger Mundart’ (1907) herangezogen, ein sehr sicher gearbeitetes und ungemein materialreiches Buch. Auf den phonetischen Teil folgt zunächst eine nach dem historischen Bezugssystem geordnete, prinzipiell rein deskriptive Zusammenstellung der mundartlichen Entsprechungen. Diesen Teil „Geschichte der einzelnen Laute“ zu nennen, ist unbegründet und entspricht auch nicht den Intentionen des Konzeptes. Zutreffender spricht P. v. Polenz, der sich in einigen Punkten O. Bremer anschließt, hier von einer „Laut- und Formenstatistik“, die die „Entsprechungen zwischen den beiden verglichenen Sprachstufen ... nicht als Entwicklungen, sondern als Gleichungen darstellt“ (v. Polenz 1954, 22). Es wäre konsequent gewesen, das Material nach den mundartlichen Lauten darzustellen. Auf diese beiden beschreibenden Abschnitte folgt eine systematische Lautgeschichte, die in allgemeine Regeln zu fassen sucht, was in anderen Arbeiten den einzelnen Laut-Paragraphen zugeordnet und entsprechend verstreut ist (lediglich ein allgemeiner Abschnitt über Vokaldehnung und -kürzung, d. h. über die tiefgreifende Neuordnung der Quantität seit dem Mittelalter, findet sich in fast allen Arbeiten). Hier wird versucht, eine zusammenfassende Darstellung der Lautwandel-Vorgänge zu geben, die von der Basis der mittelalterlichen Sprachstufe zur heutigen Mundart geführt haben. Konsequenterweise schließt sich hieran, abstrahiert aus dem lauthistorischen Teil, eine relative Chronologie der erörterten Lautveränderungen. Um den Zugang von der lebenden Mundart zur Geschichte zu erleichtern, ist eine Übersicht über die historischen Entsprechungen, geordnet nach den Lauten der le-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
benden Mundart beigegeben. Sie erfüllt aber lediglich die Funktion eines Registers und stellt keine Vorwegnahme eines phonologischen Systems dar. Leider hat das Modell der Bremer’schen Ortsgrammatik als Ganzes nicht Schule gemacht. Vielfach übernommen wurde lediglich die Zusammenstellung der historischen Entsprechungen zu den Mundartlauten; sie wurde aber immer nur als technisches Hilfsmittel, als Register verstanden. Öfters, vor allem in den ‘Beiträgen zur Schweizerdeutschen Grammatik’, wurden auch „Allgemeine, mehreren Lauten gemeinsame Erscheinungen“ (Inhaltsverzeichnisse der BSG-Bände) gesondert zusammengestellt, nicht jedoch in der z. B. von Gebhart (1907) geübten konsequenten Weise. Hervorzuheben ist auch die Dissertation von P. Lessiak über die Pernegger Mundart in Mittelkärnten, bei Ossiach (1903). Sie besticht einerseits durch die souveräne, weit über das unmittelbare Untersuchungsgebiet hinausgehende Materialübersicht, die einen ersten Versuch zur Grobgliederung der bayerisch-österreichischen Mundarten und einer Einordnung der kärntnerischen darstellt. Auch die städtische Umgangssprache und ihr Einfluß wird einbezogen. Vor allem aber ist der methodische Fortschritt wichtig, der durch die systematische Einbeziehung und Interpretation der deutschen Lehnwörter in die slowenischen (windischen) Mundarten Kärntens und umgekehrt der slowenischen Entlehnung (insbesondere Ortsnamen) ins Deutsche erzielt wurde. Damit war ein unschätzbarer Quellenbereich für die Lautgeschichte hinzugewonnen. Die Vertrautheit mit den slowenischen Mundarten und ihrer Geschichte einerseits und natürlich die gründliche Kenntnis der deutsch-mundartlichen Verhältnisse andererseits erlaubten es Lessiak, das neue Instrumentarium einer polyglotten Dialektologie mit Meisterschaft zu handhaben (Lessiaks bedeutendster Schüler und Landsmann E. Kranzmayer ist ihm hierin nachgefolgt). Seit rund einem Jahrtausend wurden immer wieder in großer Zahl Entlehnungen aus den deutschen Mundarten in die slowenischen Mundarten vorgenommen. Da diese Interferenzprozesse weit überwiegend auf der Ebene der gesprochenen Sprache abliefen, geben die — beiderseitigen — Zeugen unter Berücksichtigung der jeweiligen Substitutionsbedingungen und der späteren Lautentwicklungen ein Bild von den Lautverhältnissen der Entlehnungszeit, wie es aus
schriftlichen Quellen aus verschiedenen Gründen nie zu gewinnen ist. Übrigens hat Lessiak — so konsequent auch als erster — im gleichen Sinn auch das Zeugnis der mittelalterlichen bairischen Sprachinseln in der Krain (Slowenien) und in Oberitalien herangezogen. Die breite Zusammenschau von Daten zu einer internen Lautgeschichte weist schon in der Erstlingsschrift voraus auf die noch längst nicht ausgeschöpften ‘Beiträge zur Geschichte des deutschen Konsonantismus’ von P. Lessiak (1933). Auch die von A. Bachmann (Zürich) begründete und betreute Reihe der ‘Beiträge zur schweizerdeutschen Grammatik’ (20 Bde., 1910—41) lohnt eine eigene Besprechung (Rezensionen einzelner oder mehrerer Bände verzeichnet bei Sonderegger 196 2, 93 ff.). Bachmann schwebte für den engeren Bereich der deutschen Schweiz wohl etwas ähnliches vor wie Wegener für das gesamte deutsche Sprachgebiet: in Mosaikbauweise ein geschlossenes Flächenbild der Mundartlandschaft zu erlangen. Angesichts des Interesses an der Dialektologie in der Schweiz und der daher relativ großen Anzahl von Monographien auf relativ begrenztem (freilich sehr vielfältigem) Raum mußte dies hier — wenn überhaupt irgendwo — als machbar erscheinen. Dieses Ziel ist jedoch nicht erreicht worden. (Vgl. auch den „Überblick über bisherige monographische Bearbeitungen schweizerdeutscher Mundarten“, SDS 1, Karte 10). Es wird daran deutlich, daß Sprachgeographie nicht durch die Addition von Einzelmonographien erzielt werden kann, sondern nur durch eine systematische geographische Bestandsaufnahme. Der ‘Sprachatlas der deutschen Schweiz’ kann insofern auch als Konsequenz solcher Einsichten verstanden werden. Die in den ‘Beiträgen’ erschienenen Ortsgrammatiken sind streng nach dem oben skizzierten Schema aufgebaut. I n der aktuellen Durchführung und in der konkreten Ausführung des Rahmens zeigt sich dennoch ein erstaunlicher Spielraum. Generell ist hervorzuheben, daß die Monographien dieser Reihe mit einem überraschend dynamischen Mundartbegriff arbeiten, der es erlaubt, neue Erscheinungen, Quereinflüsse, Schwankungen und Altersschichten im Dialekt sorgfältig und unbefangener zu registrieren als viele andere Untersuchungen. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß die Erhebungstechniken und -modalitäten (gezielte Fragen —
2. Das phonetische Beschreibungsprinzip als Ergebnisjunggrammatischer und dialektologischer Forschungsarbeiten
Notation von Daten spontanen Sprechens) und die sprachliche Situation im Untersuchungsgebiet so offen dargelegt werden wie in den meisten dieser Bände. Von hier führt ein direkter Weg zu den genauen Aufnahmeprotokollen des SDS. Bei genauerem Zusehen erwies sich, daß die Sprachverhältnisse gerade auch in einem z. T. stark abgeschlossenen Gebiet wie der deutschen Schweiz gar nicht so uraltertümlich sind, wie es von außen zunächst scheinen mag. Zwei Arbeiten verdeutlichen dies: F. Enderlin (Bd. 5, o. J., ca. 1913) untersuchte die Lautlehre der Mundart von Kesswil am Bodensee (westlich von Konstanz). Sein Ziel ist es, ein genaues und möglichst vollständiges Bild der „Lautverhältnisse einer Dorfgenossenschaft im gegenwärtigen Augenblick“ zu geben, „gleichsam eine Momentphotographie“ (1913, 1). Angeregt ist diese Fragestellung durch eine Untersuchung des Züricher Romanisten L. Gauchat (1905) über das Problem der ‘Sprachbiologie’, ausgehend von der sprachlichen Heterogenität auch innerhalb kleinster Sprachgemeinschaften. Zwar gibt die systematische Lautlehre eine Darstellung des im wesentlichen in sich geschlossenen Lautstandes der älteren Generation. Ein Anhang („Prinzipielles“, 145 ff.) relativiert dieses einheitliche Bild aber stark und stellt generationsbedingte Schwankungen, ‘Höflichkeitsformen’, Einflüsse der Schriftsprache u. ä. heraus. Andererseits ergaben Beobachtungen zur Kindersprache keine Argumente für die Theorie des generationsbedingten Lautwandels. Die wohl beste Arbeit innerhalb dieser ‘Beiträge’, eine modellhafte Ortsgrammatik schlechthin, ist ‘Die Mundart von Mutten’ von R. Hotzenköcherle (Bd. 19, 1934). Was erschöpfende Vollständigkeit anlangt, ist ihr am ehesten noch die Monographie von E. Roedder über Oberschefflenz im badischen Frankenland an die Seite zu stellen (193 6 ). Mutten ist eine kleine WalserSprachinsel südlich von Chur, isoliert in romanischer Umgebung. Was Sprachinseln für den historisch interessierten Dialektologen so interessant macht, nämlich die Bewahrung eines ‘versteinerten’ archaischen Sprachzustandes, liegt hier gerade nicht vor. Die Mundart der wenig mehr als 100 Menschen umfassenden Sprachinsel zeigt alle Formen phonologischer und morphologischer ‘Zerrüttung’, d. h. Schwankungen in der Reproduktion von Sprachformen, die auch Oppositionen verwischen, freie Dop-
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pelformen, die zur partiellen Auflösung des alten Systems, teilweise zu einer Neustrukturierung führen. Hotzenköcherle registriert den vielfach verwirrend uneinheitlichen sprachlichen Befund mit minutiöser Genauigkeit, oft mit Angaben über die Häufigkeit bestimmter Formen, über Unterschiede bei spontanem Sprechen und bei gezieltem Abfragen. Die formale Labilität der Mundart von Mutten findet ihre Entsprechung in einer ungewöhnlich geringen Loyalität der Sprecher ihrer eigenen Sprache gegenüber. Die Ursachen dafür vermutete Hotzenköcherle in der allgemeinen Isolation und insbesondere in einer genealogisch Fami l i e für Familie genau belegten deutsch-romanischen Symbiose. Die von R. Hotzenköcherle, dem Nachfolger A. Bachmanns auf dem Züricher Lehrstuhl, geleitete Reihe der ‘Beiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung’ (1949 ff.) verläßt das streng grammatische Prinzip und gibt vielfältigen neuen Fragestellungen Raum, ohne den in den ‘Beiträgen zur schweizerdeutschen Grammatik’ erreichten hohen Stand zuverlässiger Dokumentation und nüchtern-behutsamer Analyse preiszugeben. Gleiches ist von dem ebenfalls von Hotzenköcherle initiierten und weitgehend von ihm betreuten ‘Sprachatlas der deutschen Schweiz’ (196 2 ff.; vgl. Art. 8) zu sagen. Bei erweiterter Zielsetzung ist er ohne das vorausgehende Halbjahrhundert schweizerdeutscher Mundartforschung, aus dem er organisch herauswächst, nicht denkbar.
6.
Schallaufnahmen und Phonogrammarchive
Die Erfindung des (Walzen-) Phonographen durch Th. Edison (1877), die Entwicklung der Schallplatte und schließlich der elektromagnetischen Schallträger (Tonband) eröffneten der Phonetik, aber darüber hinaus der Sprachwissenschaft als einer Wissenschaft von der gesprochenen Sprache völlig neue Möglichkeiten, die bald genützt wurden. Die Dokumentation stand zunächst im Vordergrund. Die Gründung des Phonogrammarchives der Österreichischen Akademie der Wissenschaften fällt eben noch in das 19. Jh. (1899), 1909 folgte das Phonogrammarchiv der Universität Zürich, zunächst in enger Zusammenarbeit mit Wien, 1920 wurde die Lautabteilung der Preußischen Staatsbiblio-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
thek in Berlin begründet. Den Mundarten als den typischen Erscheinungsformen gesprochener Sprache kam von Anfang an bei der Materialerhebung ein führender Platz zu. Ausgewählte Texte wurden publiziert, z. T. mit den zugehörigen Schallplatten (Hornung 196 1, Dieth 1956 , Brunner 1958, Bach 1950, 31 f.). In den letzten 25 Jahren sind neuerlich einige umfangreiche Erhebungen durchgeführt worden, begünstigt sowohl durch die verbesserten technischen Möglichkeiten wie durch die Dringlichkeit, die im Wandel, vielfach in völliger Auflösung (Mundarten der aus deutschen Sprachinseln in Osteuropa und aus den Ostprovinzen nach 1945 vertriebenen Deutschen) befindlichen Mundarten zu erfassen. Herauszuheben sind vor allem die systematischen Erhebungen des ‘Deutschen Spracharchivs’ von E. Zwirner in Braunschweig — Münster — Köln (gegenwärtig in Mannheim, dem Institut für deutsche Sprache angegliedert), die in der Bundesrepublik Deutschland 1955—1959 durchgeführt wurden (Bethge 1976 ). Einige eher zufällig ausgewählte Aufnahmen (für die ein geeigneter Bearbeiter zur Verfügung stand) wurden publiziert (Lautbibliothek der deutschen Mundarten, 1958— 6 4; Phonai, Deutsche Reihe, 196 9 ff.). In der DDR wurden 196 0— 196 4 vom ‘Institut für deutsche Sprache und Literatur’ der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin Aufnahmen durchgeführt, die weitgehenden Anschluß an das Unternehmen des ‘Deutschen Spracharchivs’ erlauben (Schädlich/Große 196 1). Beide Unternehmungen berücksichtigen mögliche Generationsunterschiede und beziehen bewußt auch die (sonst zugunsten der ‘bodenständigen’ Mundarten meist gemiedene) Umgangssprache mit ein. Die Aufnahmen des Deutschen Spracharchivs sollten auch die Mundart bzw. Umgangssprache der aus den deutschen Ostgebieten Vertriebenen erfassen, u. a. auch mit dem Ziel, Material für das Studium des durch die Umsiedlung und die Integration fremdmundartlicher Sprecher in neuen Gemeinschaften bedingten Sprachwandels bereitstellen zu können. Seit der Mitte der Fünfzigerjahre wurde am ‘Deutschen Sprachatlas’ in Marburg in mehreren, nur teilweise koordinierten Ansätzen ein beachtliches Archiv von Schallaufnahmen deutscher Mundarten aufgebaut, wobei den Mundarten der ehemals deutschen Ostgebiete (mit Einschluß der deut-
schen Sprachinseln in Osteuropa) eine Sonderstellung eingeräumt wurde (Göschel 1977). Auch neuere Sprachatlas-Erhebungen sind häufig von Tonbandaufnahmen begleitete, z. B. die zum SDS (vgl. SDS I, Karte 9) oder zum ALE (Göschel 1977, 24 ff.; 58 f.). Im übrigen versteht es sich von selbst, daß heute fast alle dialektologischen Erhebungen in unterschiedlichem Ausmaß auch Tonbandaufnahmen durchführen. Hier ist jedoch nur von Archiven die Rede. Die Mundartaufnahmen der letzten 80 Jahre haben zu Archivbeständen von insgesamt vielen 1000 Stunden geführt. Damit steht der Sprachwissenschaft ein Forschungsmaterial zur Verfügung, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Die große Gefahr bei der Erstellung solcher Archive besteht freilich darin, daß das Material unzureichend aufgearbeitet wird und damit totes Archivmaterial bleibt. 25 Jahre nach Beginn der letzten Erhebungen ist erst ein Bruchteil der Aufnahmen transkribiert und publiziert, mit der Analyse — außer für gezielte Einzelvorhaben — kaum systematisch begonnen (vgl. die Klagen bei J. Göschel 1977, 6 3 ff.). Eine Ausnahme macht die Tübinger Arbeitsstelle des Deutschen Spracharchivs (H. Bausinger und A. Ruoff; vgl. Art. 6 ), die sich allerdings nicht mit phonetisch-phonologischen Fragestellungen beschäftigt. Dieses Unterbleiben wenigstens einer möglichst unverzüglichen Transkription der Aufnahmen ist umso bedauerlicher, als sich immer wieder herausgestellt hat, daß oft nur diejenigen, die bei einer Aufnahme zugegen waren, imstande sind, eine zutreffende Transkription herzustellen. Naturgemäß gilt dies umso mehr, je spontaner ein aufgenommenes Gespräch war. Gerade solche Aufnahmen sind aber für die Erforschung der gesprochenen Sprache auf allen Ebenen am wertvollsten. Aus phonologischer Sicht (Panzer/Thümmel 1971, 30 ff.) ist gegen die Aufnahmen des Deutschen Spracharchivs eingewendet worden, sie seien für eine phonologische Analyse jeweils viel zu schmal, ausschließlich paroleorientiert (sie erfassen — natürlich! — nur Idiolekte) und untereinander unvergleichbar. Das ist insofern richtig, als es nicht möglich sein wird, auf der Basis von 3 · 15 Minuten spontanem Gespräch von drei Sprechern verschiedener Generationen vollständige phonologische Systeme zu erstellen. Hingegen bieten die Aufnahmen in jedem Fall auch für den Phonologen wertvolles Performanzmaterial für das Vorkom-
2. Das phonetische Beschreibungsprinzip als Ergebnisjunggrammatischer und dialektologischer Forschungsarbeiten
men von Phonemen im Kontext eines natürlichen Sprechtextes. Dem Mangel der Vergleichbarkeit von spontanen Texten versucht man z. T. dadurch zuvorzukommen, daß man standardisierte Texte, Sätze oder Wortlisten in die Ortsmundart übertragen läßt. Der Vorteil der Vergleichbarkeit ist bei dieser Erhebungstechnik freilich teuer erkauft, nämlich um den Preis natürlicher gesprochener Sprache (Ruoff 196 5). Wo so vorgegangen wird, wurden und werden in der deutschen Dialektologie am häufigsten die dem ‘Deutschen Sprachatlas’ zugrunde gelegten ‘Wenker-Sätze’ (vgl. Art. 3) verwendet. Einen Mittelweg hat das Phonogrammarchiv der Universität Zürich mit einer relativ frei zu übertragenden Geschichte — ‘Gespräch am Neujahrstag’ — gewählt (Der sprechende Atlas 1952). Ähnliche Überlegungen hatten schon J. G. Radlof dazu bewogen, sich die Parabeln vom Sämann und vom verlorenen Sohn in die Mundarten übertragen zu lassen (1817; vgl. Art. 1) — damals natürlich noch schriftlich.
7.
Zusammenfassende Methodenkritik
Die phonetisch orientierte Dialektologie hat im Prinzipiellen durch rund 70 Jahre hindurch keine methodische Weiterentwicklung erfahren. Der programmatische Entwurf Ph. Wegeners enthält bereits im Konzept, was gute Arbeiten später ausführen sollten. Dabei ist das Konzept aber in seinem Grundgerüst so klar und so einfach handhabbar, daß auch bloße ‘Handwerker’ brauchbare Ergebnisse liefern konnten. Von Bedeutung für die sprachwissenschaftliche Brauchbarkeit der Datensammlungen war, daß die Phonetik als Hilfswissenschaft der Sprachwissenschaft verwendet wurde. Auch ohne explizite methodische Reflexionen zum Problem der Lautvorstellung und der konkreten (einmaligen) Lautrealisation war das Ziel der historisch-vergleichenden Lautlehre seit Winteler die Erfassung der Invarianten. Dies schloß nicht aus, daß auch individuelle oder sonstige fakultative Varianten oder Schwankungen bei der Realisation von Lautwerten registriert und mitgeteilt wurden. In der Regel bestand aber ein (wenn auch nur intuitives) Bewußtsein des Unterschiedes von Invarianten und Varianten (es tut dabei nichts zur Sache, daß die Wahrnehmung der Invarianten sicher auch durch die auditive Aufnahmetechnik mitbedingt war: auch der
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Explorator ist Mitglied der Kommunikationsgemeinschaft und als solches gewöhnt, hinter den je aktuellen Varianten die Invariante zu rezipieren). Der Strukturalismus ist in die deutsche Dialektologie — wie in die deutschsprachige Sprachwissenschaft überhaupt — spät und zunächst auch vor allem durch nicht-deutsche Forscher (J. Fourquet, W. G. Moulton, J. Goossens) eingebracht worden. Ansätze dazu sind allerdings gerade der Dialektologie auch vorher nicht fremd gewesen. Auf solche Gedankengänge bei Winteler wurde schon hingewiesen (s. o. 3.). Auch bei der Besprechung von Lautveränderungen, die mehreren Lauten eigentümlich sind, wurden zumeist systematische Prozesse erfaßt. Ein wichtiger, außerhalb der österreichischen Forschung zu wenig wahrgenommener Beitrag zu einem systemorientierten Verständnis des Lautwandels innerhalb des Vokalismus, exemplifiziert vor allem an Daten aus den Mundarten und aus lebenden Sprachen (d. h. an phonetisch exakt beschreibbarem Material), stammt von A. Pfalz (1918; vgl. Art. 7). Ausgehend von Beobachtungen N. van Wijks (1903) formulierte Pfalz die Regel, daß Veränderungen von Vorder- und Hinterzungenvokalen gleicher Höhe und Spannung immer in ‘Reihenschritten’ erfolgten, d. h. daß Hebungen, Senkungen, Diphthongierungen, Monophthongierungen von i/e-Werten immer von genau entsprechenden Veränderungen der jeweiligen u/oWerte begleitet seien (d. h. in den Begriffen der Prager Phonologie, daß bestehende Korrelationen zwischen Hinter- und Vorderzungenvokalen auch bei qualitativen Veränderungen erhalten bleiben). Die dieses parallele Verhalten bewirkende Ursache sah Pfalz in lautphysiologischen Gegebenheiten, nämlich in der Artikulationsbasis. Steht Pfalz zwar, was die Erklärung der Reihenschritte betrifft, auch noch auf dem Boden von Sievers’ Phonetik, so verwundert es doch nicht, daß gerade von ihm auch ein erster (verfrühter!) Beitrag einer Rezeption von Trubetzkoys Phonologie für die Lösung eines wichtigen Problems der bairisch-österreichischen Mundarten stammt (Pfalz 1936 ). Das Prinzip der Reihen und Reihenschritte haben E. Kranzmayer (196 5) und P. Wiesinger (1970) für ihre Darstellungen des Vokalismus übernommen. Mit den neuen technischen Möglichkeiten und den Mundartaufnahmen der Phonogrammarchive waren Hoffnungen auf Ergebnisse der Experimentalphonetik für die
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Dialektologie verbunden, vor allem für die Interpretation der suprasegmentalen Ebene (vgl. z. B. Bach 1950, 30 ff.). Sie sind nicht erfüllt worden. Zwar enthalten viele ältere Ortsgrammatiken Angaben über die Akzentverhältnisse; aber sie sind überwiegend auditiv gewonnen worden. Zu einer dialektologischen Auswertung solcher Daten ist es nirgends gekommen. Die Ausnahme bildet das Problem der ‘rheinischen Schärfung’ (Jongen 1972). Die phonometrische Untersuchung deutscher Mundarten ist nicht einmal in E. Zwirners ‘Deutschem Spracharchiv’, dessen Aufnahmekampagne nicht zuletzt diesem Ziel dienen sollte, über bescheidenste Anfänge hinausgelangt (Zwirner 1959).
8.
Ortsgrammatiken als taugliche Basis für summierende Darstellungen
Ein Jahrhundert dialektologischer Forschung, auch mit Einschluß der dialektgeographischen Monographien, hat das Programm Ph. Wegeners, das gesamte Gebiet deutschsprachiger Mundarten systematisch zu erfassen, wenigstens auf der Ebene der ‘Lautlehre’, nicht erfüllen können. Jede Kartierung der vorhandenen Monographien weist weiße Flächen auf, ganz abgesehen von der unterschiedlichen Qualität und Methode vieler Arbeiten, die unmittelbare Anschlüsse oft erschweren oder unmöglich machen (vgl. künftig die annotierte Bibliographie von P. Wiesinger). Den unleugbaren Mängeln zum Trotz hat die monographische Erforschung deutscher Mundarten aber doch ein im großen und ganzen ausreichendes Material für die Kenntnis der Phonologie der deutschen Mundarten bereitgestellt. Zudem ist im allgemeinen die Darstellung des Materials so objektiv, daß es auch neueren methodischen Analysen und Interpretationen zugänglich gemacht werden kann. Den Beweis dafür liefern einige zusammenfassende Darstellungen, die ausdrücklich auf der Summe der Ortsgrammatiken aufbauen. Als Beispiel seien genannt: V. Schirmunski (1955, deutsche Übersetzung 19 6 2), P. Wiesinger (1970) und B. Panzer/W. Thümmel (1971). Die ‘Deutsche Mundartkunde’ V. Schirmunskis bietet den ersten großangelegten Versuch einer vergleichenden Laut- und Formenlehre der deutschen Mundarten; seine Materialgrundlagen sind die Ortsgrammatiken, ergänzt durch Karten und Berichte des DSA. Auch P. Wiesingers Untersuchungen über den Vokalismus der
deutschen Mundarten (1970) stützen sich in erster Linie auf das Material der Einzelgrammatiken, ziehen aber dazu in viel größerem Ausmaß Kartenmaterial heran (DSA, SDS u. a., dazu ungedruckte Karten des DSA und des Bairischen Sprachatlas in Wien), das Schirmunski zum Großteil noch nicht zur Verfügung stand. Im Hinblick auf den eingeschränkten Untersuchungsgegenstand (Vokalismus) und die stark erweiterte Materialbasis war hier eine wesentlich erschöpfendere Darstellung möglich. Ziel der Arbeit von B. Panzer/W. Thümmel (1971) ist die Einteilung der niederdeutschen (mit Einschluß der nicht-friesischen niederländischen) Mundarten auf Grund ihrer phonologischen Strukturen. Sie stützen sich dabei ausschließlich auf Orts- und Gebietsgrammatiken. Die drei Arbeiten sind methodisch unterschiedlich angelegt. Schirmunskis Darstellungskonzept ist im Grunde das der Ortsgrammatik, wobei das Material allerdings weitgehend nach Gruppenentwicklungen und Teilstrukturen geordnet ist (z. B. gemeinsame Behandlung von Langvokalen gleicher Öffnungsstufe, von Senkungen usw.). Wiesingers Untersuchungen stehen im Prinzipiellen auf einer ähnlichen methodischen Basis, sind in der konsequenten Zugrundelegung des von A. Pfalz (1918) entwickelten Prinzips der Reihenschritte jedoch stärker phonologisch ausgerichtet. Im Vordergrund steht allerdings der genetische Aspekt; phonologische Systeme des Vokalismus bestimmter Mundarten werden nicht geboten (allerdings liegt der geplante Bd. 3, der die alten Kurzvokale behandeln soll, noch nicht vor; die Erarbeitung phonologischer Systeme könnte erst auf der Grundlage einer Interpretation des gesamten Materials erfolgen). Panzer/Thümmel gehen hingegen streng phonologisch vor. Untersucht wird, in welcher Weise das zugrunde gelegte westgermanische Vokalsystem in seinen Oppositionen erhalten oder (durch Phonemzusammenfall) verändert wurde. Eine wichtige Rolle spielt also die jeweilige Anzahl der Glieder der behandelten Systeme und welche Oppositionen bei Phonemzusammenfall aufgegeben wurden. Die jeweilige phonische Realisierung der Phoneme spielt hingegen nur eine sekundäre Rolle, nicht zuletzt auch wegen der schwierigen phonetischen Interpretierbarkeit der verschiedenen, in älteren Arbeiten oft sehr mangelhaften Transkriptionen. Panzer/Thümmel betonen am ent-
2. Das phonetische Beschreibungsprinzip als Ergebnisjunggrammatischer und dialektologischer Forschungsarbeiten
schiedensten die ausschließliche Brauchbarkeit der Ortsgrammatiken für Fragestellungen der strukturellen Linguistik, da nur die in ihnen zusammengestellten Daten so weit vollständig sind, daß sie eine phonologische Interpretation erlauben. Weder das Material des DSA noch der kulturmorphologisch ausgerichteten dialektgeographischen Arbeiten noch die Tonbandaufnahmen von spontanen Texten durch das Deutsche Spracharchiv haben sich für ihre Zwecke als brauchbar erwiesen, da die jeweils bereitgestellte Datenbasis für eine phonologische Interpretation zu unsystematisch und zu schmal ist.
9.
Ortsgrammatik als unentbehrliches Instrument der Grundlagenforschung
Die ausgewählten synthetischen Untersuchungen beweisen (und andere Teilzusammenfassungen wie Jutz 1931, Bohnenberger 1953, Kranzmayer 1956 bestätigen dies), daß für linguistisch-dialektologische Forschung auf den Typ der Ortsgrammatik nicht verzichtet werden kann. Nur auf der Basis solcher Grundlagenforschung sind die höheren Stufen wissenschaftlicher Forschung, die Erstellung und Überprüfung von Hypothesen, durchführbar, unabhängig davon, ob der Deskription und der Interpretation das gleiche methodische Konzept zugrunde liegt oder nicht. Der erste, grundlegende Schritt jeder linguistischen Untersuchung ist die Deskription, die Erfassung und Kategorisierung der für die Struktur des zu untersuchenden Sprachkorpus relevanten Daten. In der Dialektologie ist dies der Schritt der Ortsgrammatik. Daß dabei die Lautebene übergewichtig im Vordergrund stand und steht, ist eine nicht zu bestreitende Einseitigkeit; sie wird aber durch die Bedeutung, die der phonologischen Komponente für die Variation zwischen den Mundarten zukommt, gerechtfertigt. Die junge Marburger Schule der Dialektgeographie, die sich — forschungsgeschichtlich bedingt und verständlich — von der junggrammatischen Mundartforschung ungerechtfertigt scharf distanzierte, hat der Ortsgrammatik die räumliche Beschränkung auf einen Punkt zum Vorwurf gemacht. Dieser Vorwurf wäre gerechtfertigt, hätte die Forschung die diatopische Variation als Problem nicht gesehen oder negiert. Das war aber nie der Fall. Er ist allerdings insofern berechtigt, als durch die Addition von punktuellen Monographien kein angemessenes
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Bild einer Dialektlandschaft zu erzielen ist. Die diatopische Problematik setzt für ihre Erfassung und Interpretation eine systematische Flächenstatistik, d. h. den Sprachatlas voraus. Da eine Flächenstatistik aus forschungsökonomischen Gründen nur gezielt und das hießt selektiv erfolgen kann, setzt sie aber an einzelnen Punkten möglichst vollständige Datensammlungen, gewißermaßen Tiefbohrungen, voraus: die Ortsgrammatiken. Es ist zudem kein Zufall, daß neue Analyse-Methoden wie die der taxonomischen Phonologie oder heute der generativen Phonologie zunächst i mmer am Modell der Ortsgrammatik erprobt werden. Eine Sprache bzw. Mundart oder eine Ebene der Sprache wie ihre Phonologie kann als System natürlich nur dann interpretiert werden, wenn al l e (relevanten) Daten dieses Systems erfaßt wurden. Vielen Ortsgrammatiken kann der Vorwurf gemacht werden, das Bild statischer, homogener, in sich geschlossener Mundartverhältnisse innerhalb einer dörflichen Sprachgemeinschaft zu vermitteln. Dieser Vorwurf besteht dann zu Recht, wenn dieses Bild, in romantischer Stilisierung der Mundart, für die sprachliche Realität ausgegeben wurde. Als linguistische Konstruktion ist die ‘idealisierte’ Mundart aber unentbehrlich. Nur im Rückbezug auf dieses Konstrukt sind die dynamischen, inhomogenen realen Sprachverhältnisse angemessen interpretierbar. Wieder ist es kein Zufall, daß phonologische Systembeschreibungen ganz entsprechend verfahren. Die Beschränkung der zugänglichen Daten ist als methodischer Schritt völlig legitim, solange man sich der Beschränkung bewußt bleibt und sie in einem nächsten Arbeitsschritt überwindet. Vor allem in Monographien zu den Mundarten der deutschen Schweiz ist dies durchaus geschehen (s. o. 5.2.). Die junggrammatische Mundartforschung trifft, wie die junggrammatische Sprachwissenschaft insgesamt, der Vorwurf einer atomistischen Sicht sprachlicher Systeme. Er ist im Ganzen berechtigt. Allerdings soll nicht übersehen werden, daß teilsystematische Zusammenhänge, in den Systemen wie in Veränderungsprozessen, durchaus erkannt wurden. Die Dialektgeographie hat i m übrigen den Atomismus eher noch weitergetrieben. Wichtig ist, daß die Ortsgrammatiken ihr Material so objektiv darbieten, daß es ohne erhebliche Schwierigkeiten einer systembezogenen Analyse zugänglich gemacht werden kann.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
10. Literatur (in Auswahl) Der sprechende Atlas 1952 = Der sprechende Atlas: Plattentext in verschiedenen schweizerdeutschen Dialekten. „Gespräch am Neujahrstag“ in 24 Dialekten. Hrsg. vom Phonogrammarchiv der Universität Zürich. Zürich 1952. Bach 1950 = Adolf Bach: Deutsche Mundartforschung. Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben. 2. Aufl. Heidelberg 1950. (Nachdruck 1969). Bethge 1976 = Wolfgang Bethge: Vom Werden und Wirken des Deutschen Spracharchivs. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 43. 1976, 22—53. Bohnenberger 1953 = Karl Bohnenberger: Die alemannische Mundart. Umgrenzung, Innengliederung und Kennzeichnung. Tübingen 1953. Brandstetter 1890 = Renward Brandstetter: Prolegomena zu einer urkundlichen Geschichte der Luzerner Mundart. Einsiedeln 1890. Brandstetter 1892 = Renward Brandstetter: Die Luzerner Kanzleisprache 1250—1 6 00. Ein gedrängter Abriß mit spezieller Hervorhebung des methodologischen Momentes. Einsiedeln 1892. Bremer 1893 = Otto Bremer: Deutsche Phonetik. Leipzig 1893 (Sammlung kurzer Grammatiken deutscher Mundarten, Bd. 1). Brunner 1958 = Rudolf Brunner: Unsere Heimatsprachen auf dem Grammophon. Ein Besuch im Phonogrammarchiv der Universität Zürich. Zürich 1958. BSG 1910 —1941 = Beiträge zur schweizerdeutschen Grammatik. Hrsg. von Albert Bachmann. Bd. 1—20. Frauenfeld 1910—1941. Coseriu 1974 = Eugenio Coseriu: Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprachwandels. Übers. von Helga Sohre. München 1974 (Internationale Bibliothek für allgemeine Linguistik, Bd. 3). Dieth 1956 = Eugen Dieth: Phonogrammarchiv der Universität Zürich (1909). In: Publications de la Commission d’enquête linguistique, 7. Instituts de Phonétique et Archives phonographiques. 1956, 329—346. Enderlin 1913 = Fritz Enderlin: Die Mundart von Kesswil im Oberthurgau. Mit einem Beitrag zur Frage des Sprachlebens. Frauenfeld o. J. (1913?) (Beiträge zur schweizerdeutschen Grammatik, Bd. 5). Ganz 1978 = Peter Ganz: Eduard Sievers. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 100. 1978, 40—85. Gauchat 190 5 = Louis Gauchat: L’unite phonétique dans le patois d’une commune. In: Aus romanischen Sprachen und Literaturen. Festschrift Heinrich Morf. Halle 1905, 175—232. Gebhardt 190 7 = August Gebhardt: Grammatik der Nürnberger Mundart. Unter Mitwirkung von Otto Bremer. Leipzig 1907 (Sammlungen kurzer Grammatiken deutscher Mundarten, Bd. 7).
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2. Das phonetische Beschreibungsprinzip als Ergebnisjunggrammatischer und dialektologischer Forschungsarbeiten
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37
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
träge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 28. 1903, 243—253. Winteler 1876 = Jost Winteler: Die Kerenzer Mundart des Kantons Glarus in ihren Grundzügen dargestellt. Leipzig. Heidelberg 1876.
3. 1. 2. 3.
4. 5.
1.
Zwirner 1959 = Eberhard Zwirner: Phonometrische Isophonen der Quantität der deutschen Mundarten. In: Phonetica, Suppl. ad Bd. 4. 1959, 93—125.
Ingo Reiffenstein, Salzburg
Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie Charakterisierung des Gegenstandsbereiches Dialektgeographische Datenerhebung und -bearbeitung vor Wenker Georg Wenker und die Entstehung der germanistischen Dialektgeographie als Lautund Formengeographie Die Entstehung und frühe Entwicklung der germanistischen Wortgeographie Literatur (in Auswahl)
Charakterisierung des Gegenstandsbereiches
Der Ausdruck Dialektgeographie wird heute in der Fachliteratur unterschiedlich gebraucht. Goossens (1980, 445) weist darauf hin, daß der Terminus Dialektgeographie für eine Teildisziplin der Areallinguistik verwendet wird, den er — im Unterschied zur sub- und intersystemischen — diasystemische Areallinguistik nennt. Andere Autoren wie z. B. Iordan (196 2, 171) verwenden Dialektgeographie, um eine linguistische Methode zu bezeichnen. Im allgemeinen sind zwei Gebrauchsweisen von Dialektgeographie zu unterscheiden: (1) In Äußerungen wie: „Die Dialektgeographie kann einen wesentlichen Beitrag zur Sprachgeschichtsschreibung leisten“ wird im wesentlichen die spezielle wissenschaftliche Disziplin bezeichnet, die einen bestimmten Objekt- und Methodenbereich umfaßt sowie in einer entsprechenden Theorie formulierbar ist. (2) In Buchtiteln wie „Dialektgeographie des Kreises Eschwege“ (Rasch 1912) wird das spezielle wissenschaftliche Ergebnis einer Anwendung dieser Disziplin benannt, das über die geographische Verteilung von dialektalen Erscheinungen beispielsweise im Kreise Eschwege Auskunft gibt. Trotz der verschiedenen Sichtund Sprechweisen ist im allgemeinen wohl Ein-
verständnis darüber zu erzielen, daß die Dialektgeographie ein Teilgebiet der Dialektologie darstellt und auf Grund ihrer strikten Raumorientierung eine sehr deutliche Abgrenzung gegenüber der Sprachwissenschaft/Linguistik erreicht, die bei der Dialektologie insgesamt nicht in dieser Klarheit zu gewinnen ist. Diese Raumbezogenheit impliziert gleichzeitig bestimmte Arbeitsweisen, vor allem im Bereich der dialektgeographischen Datenerhebung (vgl. Art. 29) und Kartenauswertung sowie in der kartographischen Datenverarbeitung, die sich im wesentlichen aus einer Datenbewertung, Datenaufbereitung und Datendarstellung zusammensetzt (vgl. Abb. 3.1.). Eine spezielle Verfahrensvariante wurde von Georg Wenker seit 1876 entwickelt und führte zur Entstehung der germanistischen Dialektgeographie, die von Ferdinand Wrede, Bernhard Martin und Walther Mitzka sowie einem Teil ihrer Schüler fortgesetzt und unter der Bezeichnung “ M a r b u rge r S ch u l e“ bekannt wurde, die hier in diesem engeren Sinne verstanden wird. Die besondere Ausprägung dieser Dialektgeographie besteht in dem überwiegend verwendeten indirekten Erhebungsverfahren mit Hilfe der sog. Wenker-Sätze, in einer Datenbewertung durch quantitativ begründete Korrektur, in einer Lautbzw. Morphsegmentierung der Belegwörter und in einer leitformen-orientierten Flächenkartierung ggf. in Kombinationsform, um zu Aussagen über die Einteilung und Gliederung der deutschen Dialekte zu gelangen. — Eine ungefähre Positionierung der Marburger Schule innerhalb der Dialektgeographie geht aus dem in Abb. 3.1. dargelegten Schema hervor und verdeutlicht ihren Charakter einer speziellen M e t h o d e n ko m b i n a t i o n, wobei die eingerahmten Merkmale ihre grundlegenden Kennzeichen ausmachen.
3. Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie
Abb. 3.1: Positionierung der Marburger Schule innerhalb der Dialektgeographie
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Die Aufgabe dieses Artikels wird vor allem in dem Nachzeichnen des Entstehungsund Entwicklungsprozesses dieser dialektgeographischen Arbeitsweise gesehen, so daß äußere Fakten des geschichtlichen Vorgangs nur insoweit berücksichtigt werden, wie sie für die jeweilige Fragestellung von Bedeutung sind; im Mittelpunkt werden hauptsächlich die verschiedenen Veränderungen in den Zielvorstellungen und den Kartierungsverfahren stehen, da sie als charakteristische Kennwerte für diesen wissenschaftshistorischen Vorgang zu betrachten sind.
2.
Dialektgeographische Datenerhebung und -bearbeitung vor Wenker
Die dialektgeographische Methode des frühen Wenkers entsteht, sowohl hinsichtlich der Datenerhebung als auch der Datenbearbeitung, in Auseinandersetzung mit bestimmten Vorgängern. Diese hat Wenker nie ausdrücklich (mit Namen) genannt. Seine historischen Bezugspunkte können jedoch weitgehend so rekonstruiert werden, daß die Aussagen mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit gelten und man erkennen kann, in welcher methodischen Tradition Wenker steht. 2.1. Sprachdatengewinnung durch Übersetzung zusammenhängender Texte Gemäß der ethnographischen Trias ‘Sprache-Sitte-Recht’ wurden öfters Berichten über fremde Völker auch Sprachproben beigefügt. Damit eine bessere Vergleichbarkeit mit der fremden Sprache gewährleistet ist, bestehen solche Sprachproben meistens aus Übersetzungen eines bekannten Textes. Die Anfänge dieser Praxis finden sich in der europäischen Reiseliteratur. Beispielsweise gab der Reiseschriftsteller Schiltberger bereits 1427 Übersetzungen des Vaterunser aus dem Orient als Sprachproben einem Bericht bei. Urteilt man retrospektiv-extrainteraktionell, ergibt sich: mit solchen Übersetzungen werden zwar Sprachdaten geliefert, aber die Datenerhebung im sprachwissenschaftlichen Sinne war nicht der Hauptzweck solcher Sprachproben. Dies ändert sich jedoch. Das Vaterunser bleibt wegen seines großen Bekanntheitsgrades zunächst der bevorzugte Text und dient als Grundlage der explizit intendierten Kontrastierung von Sprachen und Dialekten. So stehen z. B. der erste Teil des
Mithridates von 1806 (vgl. Adelung 1806 ), der eine „allgemeine Sprachkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe“ ist, und zahlreiche seiner Vorläufer explizit im Zeichen der Sprachdatengewinnung (vgl. auch Markus 1914). Die vier Teile, die von 1806 bis 1817 erschienen, sind die größte Sammlung von Vaterunser-Übersetzungen (über 500; vgl. dazu Studer 1954, 215 f.). — Einen anderen zusammenhängenden Text verwendet der Italiener Leonardo Salvati; 1584 läßt er die Dekameron-Novelle I. 9 in zwölf Dialekte Italiens übersetzen. Giovanni Papantini greift das im 19. Jh. wieder auf und läßt diese Übersetzungen wiederholen (vgl. Pop 1950, 477 ff.), doch wird naturgemäß in anderen Ländern nach anderen Texten gesucht. Als ein geeigneter stellt sich zunächst in Frankreich, dann aber auch anderswo das Gleichnis vom verlorenen Sohn heraus, von dem es in der Begründung der wohl ersten großen Dialekt-Erhebung, der CoquebertEnquête von 1807 (vgl. Art. 1 und Pop 1950, 20 ff.), erläuternd heißt: „Au lieu d’envoyer circulairement pour être traduit dans chaque idiome local quelque morceau arbitrairement (choisi), ou composé exprès, on a préféré de puiser, dit Coquebert de Montbret, dans le livre sacré qui est entre les mains de tous les chrétiens. La Parabole de l’Enfant prodigue est le morceau qui a été choisi à cause de la juste étendue et de la simplicité de la plupart des expressions qu’il renferme. L’Oraison dominicale qui a été prédérée dans beaucoup d’ouvrages sur les langues [...] a paru ne pas réunir au même degré ce genre d’avantage“ (zitiert nach Pop 1954, 20).
Für die germanistische Dialektologie wird dieses Gleichnis deshalb wichtig, weil Stalder, der an dieser Enquête beteiligt ist (vgl. Art. 1), die Übersetzungen dieses Textes in den Anhang seines Werkes „Die Landessprachen der Schweiz [...]“ (1819) aufnimmt und weil der Gleichnistext auch in anderen Publikationen Verwendung findet, z. B. in Radlofs Arbeit „Sprachen der Germanen in ihren sämmtlichen Mundarten dargestellt und erläutert durch die Gleichniß-Reden vom Säemann und dem verlorenen Sohn“ von 1817, zu der auch J. Grimm Unterstützung leistet (vgl. Schoof 196 3/6 4, 98 ff.). In diesen beiden Arbeiten finden sich auch Hinweise zu den Übersetzern, die bei dieser Art der Datengewinnung als die Informanten (Gewährspersonen) gelten müssen. Es sind meistens akademisch gebildete Personen, besonders Geistliche. Stalder gibt sie
3. Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie
mit Namen an und charakterisiert ihre Fähigkeiten so: „Diese Uebersetzungen, verfasst von Männern, die der örtlichen Sprachart wohl kundig sind, geben getreulich den Dialekt jedes Ortes, so fern sich der Ton und Laut desselben in leblosen Schriftzeichen ausdrücken läßt“ (Stalder 1819, 273 f.).
An diesem Zitat ist zweierlei bemerkenswert: (1) Von der Übersetzung einer Gewährsperson wird auf den Dialekt des Ortes zurückgeschlossen. Ein solcher Schluß ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn die Hypothese vom weitgehend homogenen Ortsdialekt zutrifft (was für Ortsdialekte um 1800 wahrscheinlicher ist als heute; zum Problem vgl. Wiegand/Harras 1971, 80 ff.). (2) Stalder ist sich des Problems der Verschriftlichung von Dialekten bewußt: diese schränkt die „Getreulichkeit“ der Übersetzung ein. Wenker war die Gewinnung von Sprachdaten durch solche Übersetzungen bekannt. Für seine laut- und formengeographischen Zwecke wollte er die Erhebung der Dialektdaten jedoch systematisieren. Dies geht aus einer unveröffentlichten Anlage zu dem Gesuch der deutsch-romanischen Sektion der 38. Philologenversammlung in Gießen 1885 an das Reichskanzleramt hervor (vgl. Wenker 1885), das diese — aufgrund eines Vortrages von Wenker über das Sprachatlasunternehmen — einstimmig beschlossen hatte (vgl. Wenker 1886 , 194). In der erwähnten Anlage macht Wenker verschiedene Erklärungsversuche zu seinem Atlasunternehmen; dabei weist er auch auf die wohlüberlegte Auswahl der Wortformen in den WenkerSätzen hin, die nicht um „einer bestimmten Erzählung willen ausgewählt [wurden] — wie bei dem mehrfach zu ähnlichen Zwecken benutzten Vaterunser oder dem Gleichnis vom verlorenen Sohn — sondern es ist jedes einzelne Wort sorgfältig erwogen und nach reiflicher Überlegung verwendet, in der Absicht, jedes Lautgesetz, jede flexivische Eigenthümlichkeit, einer Reihe von Vor- und Nachsilben und eine große Zahl sprachlich wichtiger einzelner Wörter, wie die Pronomina, die Zeitwörter sein, haben, gehn, stehn, thun u. s. f. die Zahlen 5, 9 ... in den mundartlichen Übersetzungen zur Anschauung zu bringen“ (Wenker 1885).
Für laut- und formengeographische Fragestellungen kann der Übergang von einem inhaltlich zusammenhängenden Text zu einer Folge von inhaltlich isolierten Sätzen, in denen alle gewünschten Lautpositionen, -kombinationen und alle Formen auftreten,
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als dem Forschungsziel angemessen und als Fortschritt im Erhebungsverfahren gelten. Wenkers Idee, das damals übliche Übersetzungsverfahren zur Dialektdatengewinnung partiell zu ändern, war bis dato in gleicher oder ähnlicher Form nicht ö f fe n t l i c h geäußert worden. Nachträglich kann jedoch festgestellt werden, daß Schmeller die im Prinzip gleiche Idee ca. 40 Jahre vorher hatte. Im Herbst 1845 hatte der Kronprinz von Bayern Schmeller gebeten, eine kolorierte — heute als verschollen geltende (vgl. Freudenberg 196 5, 179, Anm. 40) — Sprachkarte anzufertigen (vgl. 2.3.). Aus Schmellers Tagebucheintrag vom 1. 1. 1846 geht klar hervor, daß er den Text für die Beschaffung der Dialektdaten selbst entwarf, und zwar so, daß Lauterscheinungen, die die Differenz der Dialekte deutlich machten, berücksichtigt wurden. Es heißt: „[...] ich gieng also daran, ein besonderes fünftes Blatt beizufügen, auf welchem die verschiednen Hauptsprachgruppen durch einen Spruch versinnlicht werden sollten, der einen gewissen Sinn hätte und zugleich möglichst viele Fälle, in welchen jene Verschiedenheiten zu Tage geht, in sich enthielte. Er heißt: Wie gut wie reich ein Herz ie ue ei wie schön wie hoch ein Haus, ô au es zeihen Freud und Leid ie äu ai auch da bald ein bald aus. âu â ei au Doch dieses neue Jahr — eu â geht ja mein Wunsch mir aus — läßt nicht das kleinste Leid ai ai in unser höchstes Haus, Bringt aber Freuden viel il i-l und Segen aller Art leicht gar ein Brüderlein üe lein Sing. dem kleinen Ludwig zart. Ihr lieben Engelein ie lein Plur. Euch werd ich groß nicht sehn Euch enk bis Ihr einst Männer seid ir és tiǝz ist’s lang um mich geschehn“ (Ruf 1954—57, 419 ff.)
2.2. Sprachdatenerhebung mittels Fragebogen Die erste bekanntgewordene Unternehmung, die versucht, von einem Ort aus mittels schriftlicher Befragung in allen Gegenden eines Sprachgebietes etwas über Dialekte zu erfahren, ist die Enquête des Abbé Grégoire von 1790 (vgl. Art. 1). Obwohl er darin auch nach bestimmten Ausdrücken im Dialekt fragte (vgl. den Auszug bei Pop 1950, 6 ff.), wollte er allerdings vor allem wissen, ob überhaupt noch Dialekt gesprochen wird, da dieser für die Ausbreitung des revolutionä-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
ren Gedankens als hinderlich angesehen wurde. Mit anderen Absichten veranstaltete dann ab 1805 die Académie Celtique in Paris eine volkskundlich orientierte FragebogenAktion. Sie verschickte ihre Zirkulare — auch Wenker nennt so seinen ersten Fragebogen (vgl. Martin 1933 a, 4) — an die Departementspräfekten, die dann geeignete Gelehrte mit der Beantwortung beauftragen sollten. Der Rücklauf der Fragebogen war allerdings sehr gering (vgl. Studer 1954, 212 ff.). Mehr Erfolg hatte dann die bereits erwähnte Aktion von Coquebert (vgl. 2.1.), denn er konnte sich — wie später Wenker — auf die Autorität des Innenministeriums stützen. Die Anregungen aus Frankreich griff auch J. Grimm auf, der 1815 von Wien aus ein volkskundlich orientiertes „Circular, die Sammlung der Volkspoesie betreffend“ versandte (abgedr. in Grimm 1884, 593 ff.; vgl. Studer 1954, 221 ff.). Im deutschen Sprachgebiet hat es einen solchen Versuch volkskundlicher Erhebung sogar schon um 1710 gegeben (F. Friese; vgl. Studer 1954, 212), und die erste dialektologische Aktion dürfte wohl die Zirkularversendung von Holthaus sein, der um 1809 eine Übersetzung eines Textes aus „Engel’s dankbarem Sohn“ für die Erstellung eines „Süd-Westfälischen Idiotikon“ erbat (vgl. Niebaum 1979, 172 und 182). Obwohl diese Beispiele zeigen, daß der Gedanke der sog. indirekten Methode, d. h. der Datenerhebung durch die Versendung (und Rücksendung) von Fragebogen (vgl. zur indirekten Methode Art. 29) durchaus geläufig war, dürften die genannten Unternehmungen Wenker kaum bekannt gewesen sein. Anders steht es dagegen mit dem Projekt, das A. v. Keller, erster Gutachter von Wenkers Dissertation (Wenker 1876 ), in den 1850er Jahren begann, und für das er sich 1854 und öfter an die Öffentlichkeit wandte. In einer „Anleitung zur Sammlung des schwäbischen Sprachschatzes“ (v. Keller 1855) hatte er minutiös die Regeln niedergelegt, nach denen die Gewährspersonen ihm über ihren Ortsdialekt Mitteilung machen sollten (vgl. Art. 6 ). 186 1 erneuerte er seine Aktion und verschickte eine „Bitte um Mitwirkung zur Sammlung des schwäbischen Sprachschatzes“ an die Lehrer in allen Schulorten Württembergs (Ruoff 196 4, 175) und erhielt ca. 400 Aufsätze dieser Lehrer. Kellers Ziel war ein anderes als Wenkers: er wollte ein Wörterbuch erstellen; doch zeigt die Auswahl der Lehrer als Informanten und
Kellers Bemerkung über ein zusätzliches Ziel („Eine genaue Sprachkarte ist Ziel dieser Untersuchung“; Keller 1855, 21), daß Wenker, was die Verschickung von Fragebogen an Lehrer betrifft, nicht ohne Vorbilder bzw. Vorgänger zu Werke ging. Dies auch deshalb nicht, weil im Elsaß etwas früher der Pfarrer L. Liebich — nach einigen Vorarbeiten, nämlich einer „Esquisse d’une carte linguistique de l’Alsace“ von 186 1 (vgl. Lienhart 1900 u. Freudenberg 196 5, 180) — 1874 einen sechsseitigen Fragebogen an die Lehrer der elsässischen Volksschulen versandt hatte, „zur Verfertigung einer Elsässer Grammatik nebst Sprachkarte für Elsass und Deutsch-Lothringen“ (Fragebogen, 2) und weil bereits in den 6 0er Jahren der Pfarrer J. G. A. Bielenstein an fast alle Pastoren in ausgewählten Untersuchungsgebieten des lettischen Sprachgebiets Fragebogen verschickt hatte, um die Verbreitung von Merkmalen der lettischen Dialekte festzustellen (vgl. Art. 25). Was die dialektgeographische Datenerhebung betrifft, hatte Wenker mithin in allen wichtigen Punkten Vorläufer, und zwar: — in der Datengewinnung durch die Übersetzung selbstgefertigter hochdeutscher Sprachausschnitte — in der Datengewinnung durch Fragen, die durch schriftliche, hochdeutsche Frageäußerungen ausgedrückt wurden — in der Verschickung von Fragebogen und — in der Wahl der Fragebogenadressaten. 2.3. Die kartographische Darstellung sprachlicher Gegebenheiten Das ethnographische Interesse (vgl. Art. 1) drückte sich auch in manchen Karten der frühen Neuzeit aus. Nicht mehr nur genuin topographische Daten wurden kartiert, sondern auch ethnographische Verbreitungsdaten. Dabei wurde häufig die Sprache zum ausschlaggebenden Kriterium für die Führung derjenigen kartographischen Linien, die die Grenzen zwischen den Gebieten von wenigstens zwei unterschiedlichen ethnischen Gruppen („Völker“, „Stämmen“) abbilden sollten. So bildet die Karte, die man als die erste S p r a ch e n k a r t e kennt, die deutsch-sorbische Sprachgrenze ab; es handelt sich um die Karte „Lusatia superior“, die B. Scultetus 1593 in Holz geschnitten hat (vgl. Reuther 1957, 6 4 ff.; eine Übersicht gibt Arnberger 1966, 94 ff.). Im 18. Jh. erforderte der Ausbau der Verwaltung insbesondere in den Vielvölkerstaa-
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ten (z. B. Rußland, Österreich) eine Übersicht über die im Verwaltungsgebiet vorhandenen Sprachen, so daß vermehrt solche Sprachenkarten erarbeitet werden (z. T. aufgrund von statistischen Erhebungen mit Aussagen über die selbst festzustellende Sprachzugehörigkeit; vgl. Arnberger 19 66 , 96 ff.). Wie stark das Bedürfnis war, sich eine Übersicht über Sprachen anhand der Kartierung ihrer Verbreitungsgebiete zu verschaffen, mag das Vorhaben Goethes illustrieren, nach den Angaben W. v. Humboldts „eine Hemisphären Charte [zu] illuminieren und sie zu dem Atlas des Lesage hinzuzufügen [...] so würde mir Ihre Sprach = charte in gar vielen Fällen zu Auffrischung des Gedächtnisses und zum Leitfaden bey mancher Lectüre dienen“ (Briefkonzept an Wilhelm v. Humboldt v. 31. 8. 1812; abgedr. bei Goethe 1900, 84 ff.).
Wenig später findet sich aber auch der erste (derzeit bekannte) Beleg für den Ausdruck Sprachatlas: J. Grimm bittet einen befreundeten Pfarrer um Übersetzung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, „so wie sie der oberhess. Bauer aussprechen und erzählen würde“ (Brief v. 12. 6 . 1816 , abgedr. bei Stengel 1895, 28) und W. Grimm erläutert, daß diese Übersetzung „zu einem deutschen Sprachatlas bestimmt [war], den Radlof [...] herausgibt und wovon schon Bogen gedruckt sind“ (7. 1. 1817, abgedr. bei Stengel 1895, 29). Die Bedeutung des Wortes Sprachatlas in diesem Zitat ist derzeit nicht vollständig geklärt. Obwohl die Wörterbücher der Zeit unter dem polysemen Lemma ‘Atlas’ die in Frage kommende Bedeutung als Kartenwerk erläutern, muß man wohl Freudenberg zustimmen, wonach es sich bei dieser Unternehmung „keinesfalls [...] um ein Kartenwerk handelt“ (196 5, 172), da sowohl die Kennzeichnung durch W. Grimm — er spricht von „nah aneinander liegenden Stufenreihen“, an denen man „die Eigenthümlichkeiten und Bildungen der Sprache“ (ebda.) verfolgen könne — wie auch das schließlich publizierte Werk (Radlof 1817) nicht auf ein Kartenwerk hindeutet bzw. dieses realisiert. Einen wohlüberlegten Versuch, eine Sprachkarte zu verfertigen, gibt es aber gleichwohl in dieser Zeit. Schmeller ist es wiederum, der seine „Mundarten Bayerns“ von 1821 so anlegt, daß auch der geographische Aspekt des Dialekts berücksichtigt werden soll (im Vorwort nennt er seine Arbeit
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den „Versuch [...] einer historisch-geographisch-grammatischen Darstellung“; 1821, V; vgl. Art. 1 und den Untertitel des Werkes: „[...] nebst einem Kärtchen zur geographischen Uebersicht dieser Dialekte“). Auf der Grundlage seiner Materialsammlung und einer grammatischen Darstellung, die immer auch den geographischen Bezug berücksichtigt, kann Schmeller seine wesentlichsten Ergebnisse in einer Übersichtskarte (vgl. Karte 3.1) dokumentieren. Im Gegensatz zur späteren Dialektgeographie enthält seine Grundkarte nur das Flußnetz, das ihm für die Aufgabe dialektaler Verbreitungen „als der sicherste Leitfaden“ und „das zweckdienlichste Mittel“ (Schmeller 1821, 30) erscheint. In dieser Grundkarte wird die Hauptgliederung des Dialektgebietes durch gepunktete Linien gekennzeichnet, und zu ihrer Benennung werden rein geographische Begriffe wie ostlechische Dialekte, südländische Dialekte Bayerns verwendet; aufgrund der Anlage und Darstellung ist wohl anzunehmen, daß diese Einteilung nicht auf einer Vorannahme beruht, sondern weitgehend aus dem Belegmaterial erarbeitet wurde. In diesem Raster aus Flußnetz und dialektalen Einteilungslinien werden die jeweiligen Verbreitungen der wichtigsten Dialekterscheinungen mit Hilfe von Kleinbuchstaben lokalisiert; ihre Entschlüsselung ist über eine Zusammenstellung (vgl. Schmeller 1821, 427—432) möglich, die als eine ausführliche Legende aufzufassen ist, da sie auf die jeweiligen Paragraphen der Laut- und Formenlehre verweist und die regionale Geltung durch die Angabe von Flußnamen präzisiert. Auf diese Weise gelingt Schmeller eine weitgehend vollständige dialektgeographische Darstellung seiner gesamten Untersuchungsergebnisse. — In diesem Kartierungsverfahren ist einerseits der Anfang einer belegmaterialen Flächendarstellung mit Hilfe von Isolinien und Leitformen sowie andererseits die erste Kombinationskartierung der Dialektgeographie zu sehen (vgl. auch die Würdigung bei Freudenberg 1965, 178 ff.). Mit Schmellers Karte war der Weg von der Sprachenkarte zur Sprachkarte im Sinne einer Einteilungskarte gewiesen. Trotzdem blieben fast alle darauf folgenden Unternehmungen bei dem zuerst genannten Kartentyp. Verschiedene Exemplare dieses Typs wurden als Ergänzung des topographischen Überblicks zunehmend mehr in geographische und historische Atlanten (Andree 1876 ; Spruner/Menke 1880) und Konversationslexika aufgenommen. — Gemäß der ver-
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Karte 3.1: Joh. Andreas Schmellers Karte der Mundarten Bayerns (aus Schmeller 1821) stärkt historisch ausgerichteten Sprachwissenschaft in der Mitte des 19. Jhs. (vgl. Art. 1) wurden die Mundarten als Überlieferer alter Stammesdialekte und Stammesverhältnisse für die Geschichtswissenschaft interessant. Man nahm dabei an, daß die Mundartgebiete eine Rekonstruktion der alten Stammesländer erlauben würde: die Sprache wurde als eine der Quellen angese-
hen, aus denen wir „Erkenntnis über die frühesten Zustände unseres Volkes schöpfen können“ (G. Landau vor der Ulmer Generalversammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine im Jahre 1855; zit. nach Niemeyer 196 2, 57). Das kam mit dem Anliegen überein, das K. Bernhardi (1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, ab 186 7 des Nord-
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deutschen Reichstags und des Preußischen Abgeordnetenhauses) schon seit 1834 verfolgte, nämlich der Erarbeitung einer allgemeinen Sprachkarte von Deutschland, in der alle Dialekte verzeichnet sein sollten (Bernhardi 1849, V; vgl. Niemeyer 196 2, 59). 1844 legte Bernhardi eine solche Karte vor. Abgesehen von Schmeller (1821) und Götzinger (1836 ) sind darin keine weiteren, nennenswerten Arbeiten über die damals rezenten Dialekte berücksichtigt; auch sind die vorhandenen Textsammlungen der verschiedenen Dialekte nicht systematisch ausgewertet. Die 1. Aufl. der Karte (1844) wird vielmehr hauptsächlich aus dem Zusammenhang der spätrömischen Stammesbeschreibungen heraus erstellt. Nur für den Süden wird eine Sprachkarte, nämlich die Schmellers berücksichtigt. Bernhardi bemerkt im Vorwort, „daß er fast ausschließlich den historischen Gesichtspunkt berücksichtigt hat, d. h. die Frage, ob sich aus den gegenwärtigen Sprachverhältnissen der Völker und namentlich aus der Verschiedenheit der Mundarten des deutschen Volkes, soweit dieselben noch heutiges Tages räumlich abgegrenzt bestehen, ein Schluß auf die ursprünglichen Stammverhältnisse ziehen, oder doch mindestens ein Hülfsbeweis für Forschungen über die Urgeschichte Deutschlands gewinnen lasse“ (Bernhardi 1844, o. S.).
Die Besserungen in der 2. Aufl. (1849) hat der Bearbeiter Stricker auf der Basis von Mitteilungen über Dialekte und unter Benutzung einer „Sprachkarte von Kärnthen“ (vgl. Bernhardi 1849, VIII—X) vorgenommen. Das ethnographisch-historische Erkenntnisinteresse zusammen mit einem generalisierenden und hinsichtlich der themabezogenen Liniensignaturen zu großzügigen Kartierungsverfahren führte zu Kartenbildern, in denen u. a. eine einzige klare Linie anhand traditionell präferierter, weniger Merkmale die Grenze zwischen zwei Dialektgebieten und damit zwischen zwei Stammesgebieten anzeigte; d. h.: solche Kartenbilder suggerierten dem Betrachter die Deckungsgleichheit von (altem) Stammsiedlungs- und rezentem Sprachgebiet, besonders dann, wenn Dialekt- und damit häufig zugleich Stammesnamen (in irgendeiner der abgeleiteten Formen) auf die Kartenflächen gedruckt wurden. Für das Verständnis von Wenkers Ansatz ist die Kenntnis dieser K a r t e n vo n D i a l e k t e n wichtig, denn genau gegen solche Karten und ihre ungenaue Dialektabgrenzung wendet sich Wenker, insbesondere in
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der Einleitung zum „Sprachatlas von Nordund Mitteldeutschland [...]“: „Mundartliche Karten gaben durchweg bisher die Umgrenzung und Eintheilung grösserer oder kleinerer Dialectgebiete auf Grund weniger, in allgemeinem Ansehen stehender Unterschiede. Die dabei gemachte Voraussetzung, dass unter den ungemein zahlreichen Unterscheidungspunkten, welche unsere Mundarten in lautlicher und flexivischer Beziehung darbieten, eine Art Rangordnung bestehe, nach der ihr Werth für die Abgrenzung sich regele, ist ja im wesentlichen richtig, und wo es sich weniger um sprachliche als um historische, nach dem Sitz der alten Volksstämme forschende Untersuchungen handelt, war jene Methode für das nächste Bedürfniss wohl ausreichend “ (Wenker 1881, V).
Bernhardis Sprachkarte ist im hiesigen Zusammenhang auch wegen eines Vorschlages von Interesse, den er am Schluß seiner Arbeit macht, nämlich, daß die Geschichtsvereine „die Ausarbeitung eines S p r a ch a t l a s s e s von ganz Deutschland in Gemeinschaft übernehmen“ sollten (Bernhardi 1844, 137. Hervorh. v. den Verf.). Die Bereitwilligkeit, mit der dann später die Preußische Akademie dem Wenkerschen Sprachatlas entgegenkam, erklärte sich sicherlich auch aus dem Rang, den man damals einer solchen Unternehmung zubilligte, hatte doch Bernhardi keinen Geringeren als J. Grimm dazu ausersehen, hier leitend tätig zu werden; (vgl. Bernhardi an J. Grimm am 8. 2. 1835, abgedr. bei Stengel 1895, 389). Das Bernhardi-Zitat erlaubt den Schluß, daß um die Mitte des 19. Jhs. der Ausdruck Sprachatlas für die Bezeichnung von Kartenwerken gebräuchlich war, so daß dann Wenker seine Kartenwerke ohne weitere Erklärung so nennen konnte. Bernhardis Arbeit ist wohl eine von denen, die Wenker (1881, V) — ohne sie expressis verbis zu nennen — meint, wenn er von Voraussetzungen seiner dialektgeographischen Forschungen spricht, denn die Bibliotheksexemplare des „Forschungsinstituts für deutsche Sprache — Deutscher Sprachatlas“, und zwar beide Auflagen der Arbeit Bernhardis von 1844 und 1849, tragen noch die alte Signatur von Wenkers Handbibliothek. Sicher ist, daß Wenker Schmeller (1821) kannte, denn das Bibliotheksexemplar trägt seinen Namenszug, während er Liebichs — nur handschriftlich vorliegende — Sprachkarte (vgl. Freudenberg 196 5, 180 f.) wohl kaum kennen konnte. Damit ist umrissen, daß Wenker sowohl was die Erhebung von Dialektdaten als auch
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was die kartographische Datenbearbeitung angeht, in einer erkennbaren Tradition steht. Damit sind bestimmte Lesearten folgender Textstelle ausgeschlossen, mit der Mitzka 1952 das „Handbuch zum Deutschen Sprachatlas“ eröffnet: „Der deutsche Sprachatlas ist ohne Vorbild entstanden. Bis dahin gab es noch nirgends ein derartiges nationalsprachliches Kartenwerk“ (Mitzka 1952, 7).
3.
Georg Wenker und die Entstehung der germanistischen Dialektgeographie als Laut- und Formengeographie
Im Folgenden wird auf die bei Martin (1933 a) zuverlässig, aber nicht vollständig beschriebenen, äußeren Umstände bei der Entstehung und Erarbeitung des Deutschen Sprachatlasses nur insoweit eingegangen als es für die Darstellung der wissenschaftlichen und inneren wissenschaftshistorischen Fragen notwendig ist. 3.1. Wenkers Weg zur „Sprach-Karte der Rheinprovinz nördlich der Mosel“ von 1877 3.1.1. Zur Entstehung des Interesses an der geographischen Abgrenzung der Dialekte Am 20. Juli 1876 promovierte Wenker in Tübingen bei A. v. Keller mit der von F. Justi angeregten und bereits vorher, im Frühjahr 1876 gedruckten Arbeit: „Über die Verschiebung des Stammsilben-Auslautes im Germanischen [...]“ (Wenker 1876 ). Aus dieser Arbeit geht einwandfrei hervor — was bisher zu wenig berücksichtigt wurde (nur Martin 1933 a, 3 deutet dies an) —, daß Wenker bereits als Student zur Vorbereitung seiner Dissertation dialektale Daten (wahrscheinlich im direkten Verfahren) gesammelt haben muß. Im Texttteil der Dissertation (111—149) nimmt Wenker häufig zur Stützung seiner Argumentation auf den Lautstand, insbesondere auf den Konsonantenstand aber auch die Konsonantenaussprache der rezenten Dialekte Bezug. So heißt es z. B.: „[...] ganz unzweifelhaft ist ein solches Zurückgehen (von χ zu k) eingetreten in Wörtern wie höchstens, nächstens, die in Norddeutschland, z. B. in meiner Vaterstadt Düsseldorf, hȫkstens, nǟkstens lauten“ (Wenker 1876, 121).
Als Wenker schließlich an einer entscheidenden Stelle seiner Darlegung — nämlich
bei der Stützung seines allgemeinen Satzes „über die Entwicklung der inlautenden urspr. Tenues“ (126 ) — erneut Beweise „aus dem phonetischen Stande der Consonantenaussprache in den heutigen Mundarten“ beibringen will, fühlt er sich verpflichtet, über die Herkunft seiner genauen Aussprachekenntnisse wenigstens in einer Anmerkung Rechenschaft zu geben. Diese Anmerkung lautet: „Die im Folgenden sowie vereinzelt auch schon früher sich findenden Angaben über die Aussprache heutiger Mundarten beruhen sämmtlich auf genauen persönlichen Untersuchungen und Beobachtungen, die in einer Reihe von Städten Westdeutschlands (deren nördlichste Osnabrück und Minden, deren südlichste Basel und Zürich) angestellt wurden und demnächst anderweitig verwendet werden sollen. Es ist allerdings sehr misslich, sich auf noch nicht zur Beurtheilung vorliegende Untersuchungen zu berufen; doch findet dies vielleicht darin einigermassen eine Rechtfertigung, dass anfänglich eine Vereinigung des in Rede stehenden Materials mit der vorliegenden Arbeit beabsichtigt war, welche Absicht erst nachträglich in Rücksicht auf den Umfang des Ganzen aufgegeben wurde“ (Wenker 187 6 , 126 f., Anm. 1).
Bereits vor 1876 hat Wenker demnach empirische Untersuchungen der deutschen Mundarten durchgeführt, über deren Umfang, Anlage und Zielsetzung allerdings derzeit nichts Genaues bekannt ist. Spätestens seit Mitte 1875 (wahrscheinlich aber schon früher) hat sich Wenker für die ge o g r a p h i s ch e Ab g r e n z u n g der Dialekte interessiert (vgl. auch Wenker 1881, VI). Dieses Interesse muß bei den Vorarbeiten zu seiner typisch junggrammatischen Dissertation entstanden sein. Es gibt Hinweise für die Vermutung, daß Wenker in seiner Dissertation ursprünglich die Lautstände der deutschen Mundarten s yst e m a t i s c h und nicht sporadisch wie in Wenker (1876 ) als Beweis für seine an Braune (1874) und Paul (1874) anschließende, aber über diese hinausgehende Auffassung von der Lautverschiebung (insbesondere von der Verschiebung der urspr. inlautenden Tenues p, t, k, vgl. Wenker 1876 , 126 f.) heranziehen wollte, daß dies aber aufgegeben werden mußte, weil die damalige Kenntnis der Dialekte dazu nicht ausreichend war. Um einen solchen Plan zu verwirklichen, benötigte man eine genauere Kenntnis der „mundartlichen Geographie Deutschlands“, die Schleicher bereits 186 0 gefordert hatte, und damit eine genauere Kenntnis von Grenzen für dialektale Merkmale und Dialektgrenzen (vgl. Schleicher
3. Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie
186 0, 114). Diese versuchte Wenker sich Ende 1875 aufgrund der vorhandenen dialektologischen Forschungen, d. h. vor allem anhand von gedruckten Dialektproben und bis dato vorhandenen Dialektkarten (vgl. 2.) zu verschaffen (vgl. Wenker 1881, VI; Martin 1933 a, 3). Dieser erste dialektgeographische Versuch Wenkers scheiterte; die Gründe waren (1) eine unzureichende dialektale Datenbasis und (2) unzureichendes Vorgehen bei der Abgrenzung der Dialekte auf den bis dato vorhandenen Karten (vgl. Wiegand/Harras 1971, 14 f.). Aus dieser Kenntnislücke der damaligen Sprachwissenschaft zog Wenker Konsequenzen, die zur Entstehung der germanistischen Dialektgeographie als Lautund Formengeographie führten. Zwar hatte Wenker, was die k l a r e Abgrenzbarkeit der Dialekte im Raum aufgrund weniger Merkmale angeht, bereits 1875 Zweifel (vgl. Wenker 1881, VI), er läßt aber die „klare Dialektgrenze“ als Arbeitshypothese noch gelten (vgl. Wenker 1886 , 189 und dazu Wiegand/ Harras 1971, 15) als er im frühen Frühjahr 1876 die Vorbereitungen trifft für „eine genaue Dialectkarte der nördlichen Hälfte der Rheinprovinz“, die er unter dem Obertitel „Ausführliche Dialectkarte der niederfränkischen sowie der angrenzenden niederdeutschen Mundarten der Rheinprovinz [...]“ herausgeben möchte (vgl. das Anschreiben an die Kreisschulinspektoren des Regierungsbezirks Düsseldorf vom März 1876 , abgedr. bei Martin 1933 a, 3 f.). Daß Wenker ursprünglich an die „klare Dialektgrenze“ glaubte, zeigt entweder, daß er die ältere Literatur nicht genau kannte, oder daß er deren Aussagen nicht traute, denn in zahlreichen Arbeiten vor Wenker wird festgestellt, daß sich die deutschen Mundarten im Raum n i ch t klar abgrenzen lassen. Beispielsweise schreibt Davin (186 4, 300): „Eine b e s t i m m t e Sprachgrenze läßt sich zwischen den Hauptmundarten nicht gut feststellen; denn einesteils sind die Abstufungen und Schattierungen, in welche jeder der Haupt-Dialekte in sich zerfällt, zu manigfaltig und flüßig, anderenteils hat die Sprechweise nicht bloß der verschiedenen Landschaften Deutschlands, sondern fast jeder Stadt und jedes Dorfes ihre besonderen Eigentümlichkeiten. Mitten in niederdeutschen Gegenden findet man oberdeutsche Sprachelemente, und andererseits ist das Niederdeutsche stellenweise weit in das Gebiet des oberdeutschen vorgedrungen“.
Auch bei Götzinger (1836 ) und bei Hoffmann (1834—36 ), die beide bei Bernhardi
(1849, 103), den Wenker kannte, werden, findet sich diese Auffassung.
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erwähnt
3.1.2. Die indirekte Sprachdatenerhebung in der Frühphase: der rheinische Fragebogen Ab 5. April 1876 bis zum Frühjahr 1877 wurde der erste Wenker-Fragebogen — mit 42 Sätzen (abgedr. bei Martin 1933 a, 5 f.) — versandt und eingesammelt. Nebenbei muß darauf hingewiesen werden, daß in der einschlägigen Handbuchliteratur dieser erste rheinische Mundartfragebogen Wenkers öfters mit einem der fünf späteren Wenkerfragebogen verwechselt wird. Ein krasses Beispiel von Fehlinformation findet sich in Agricola (19 6 9, Bd. 1, 349). Hier führt H. Protze aus: „Er [Wenker] [...] beschloß deshalb, einen mundartlichen Fragebogen zusammenzustellen und an die Volksschullehrer des Kreises Düsseldorf zu verschicken. Der Fragebogen enthielt 40 im ganzen deutschen Sprachgebiet abgefragte unterschiedlich lange Sätze [...]. Satz 1 lautet: ‘Im Winter fliegen die trockenen Blätter in der Luft herum’ und der 40. Satz: ‘Ich bin mit den Leuten da hinten über die Wiese ins Korn gefahren’.“ Durch die Verwechslung des ersten Wenkerfragebogens mit dem dritten (abgedr. bei Wenker 1881, VIII f.; Mitzka 1952, 13 f. und bei Stroh 1952, 420 ff. mit phonetischer Umschreibung in der westhessischen Ortsmundart von Naunstadt) werden alle Angaben des Zitats über den Fragebogen falsch, denn der Fragebogen hat 42 Sätze, der erste lautet „Thu Dir einen Tuch um den Kopf binden!“ und der 40.: „Deine Schwester sagte zu ihm, es säßen sechs Täubchen oben auf dem Mäuerchen.“
Die Bearbeitung der mittels des rheinischen Fragebogen erhobenen Dialektdaten führte zunächst zu Wenkers Schrift „Das Rheinische Platt [...]“ (Wenker 1877). Diese enthält die erste publizierte Dialektkarte, in der Daten rezenter deutscher Dialekte, die durch Fragebogen erhoben wurden, kartiert sind (vgl. Karte 3.2.). „Das Rheinische Platt [...]“ stellt damit die erste germanistische Untersuchung dar, die aufgrund der Anwendung der Dialektgeographie in einer bestimmten Ausprägung entstanden ist. Wenker hat eine spezifische Art der Sprachdatenerhebung mit einer spezifischen Art der kartographischen Datenbearbeitung verknüpft. In dem o. g. Anschreiben, in dem Wenker die Kreisschulinspektoren um Mithilfe bei einer Dialektdatenerhebung mittels Fragebogen bittet, charakterisiert er seine Erhebungsmethode wie folgt:
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Karte 3.2: Sprach-Karte der Rheinprovinz nördlich der Mosel (aus Wenker 1877)
3. Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie
„Das Material zu derselben soll in der Weise gesammelt werden, daß ich eine nach längeren Vorarbeiten und Vergleichungen zahlreicher mundartlicher Proben der verschiedensten Orte des erwähnten Gebietes aus geeigneten, zur Feststellung sämmtlicher Laut- sowie der unterscheidenden Flexions-Verhältnisse jener Mundarten und ihrer Untermundarten tauglichen populären Wörtern gebildete Reihe von etwa 40 kleinen hochdeutschen Sätzen autographisch vervielfältigen lasse und dieselbe unter Kreuzband an die Herren Hauptlehrer aller Schulorte des Gebietes verschicke, mit der Bitte, jene Sätze nach einer hinzugefügten kurzen Anweisung auf einem beigegebenen, mit Rückadresse versehenen Formulare in das ortsübliche Platt zu übertragen und an mich zurückzusenden“ (vgl. Martin 1933 a, 4). Die Anweisung zum Übersetzen (vgl. Abb. 3.2.) der 42 Wenkersätze im Anschreiben des rheinischen Fragebogens lauten: „Hinsichtlich der möglichst ungesucht
Schreibweise wollen Sie und ungezwungen verfahren;
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nur bitte ich Sie, in allen betonten Silben (Stammsilben) die Länge oder Kürze des Vokals durch die Zeichen — (für lang) und ᴗ (für kurz) anzugeben, z. B. hochdeutsch gegeben, platt: jejēwen (in Düsseldorf, Crefeld etc.) oder jejěwwen (in Cöln, Bonn etc.). — Sonstige durch die üblichen Schriftzeichen nicht leicht auszudrückende Unterschiede werden theils durch die erwähnten Fragen festgestellt, theils aber finde ich, da ich mit den Haupteigenheiten der hier in Betracht kommenden Mundarten schon vertraut bin, sie selbst heraus. — Sollten Sie nicht aus Ihrem Schulorte gebürtig sein, so würde es im Interesse der Genauigkeit am Gerathensten sein, einen oder einige Ihrer dort aufgewachsenen Schüler als Gewährsmänner zu benutzen.“
Legt man die fünf Fragen zugrunde, die für „sprachtheoretische Überlegungen zur Eruierung der Sprachdaten“ (Wiegand/Harras 1971, 39) relevant sind, ergibt sich folgende Charakteristik von Wenkers Erhebungsmethode:
Abb. 3.2: Anweisung zum Ausfüllen des Fragebogens
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(1) Wo sollen Sprachdaten erfragt werden? Die Wahl des Erhebungsgebietes wurde vor allem determiniert durch Wenkers Dialektkenntnisse: Wenker war Düsseldorfer. Im ausgewählten Erhebungsgebiet erfolgt die Erhebung an allen Schulorten. Dadurch ergibt sich ein relativ dichtes und relativ gleichmäßiges Netz von Erhebungsorten. Eine weiterreichende sprachtheoretische Begründung für diese Wahl der Erhebungsorte versucht Wenker nicht. (2) Wer soll befragt werden? Adressat der Fragebogen sind die Volksschullehrer; ob jeder Volksschullehrer das „ortsübliche Platt“ tatsächlich beherrschte und somit eine geeignete Gewährsperson ist, wurde nicht festgestellt. Allerdings wurde der Geburtsort erfragt. War der Schulort nicht mit dem Geburtsort identisch, sollte der Lehrer einen oder einige der „dort aufgewachsenen Schüler als Gewährsmänner [...] benutzen“, und tritt somit in der Funktion eines Laienexplorators auf. Wie schon bei Stalder (vgl. 2.) wird vorausgesetzt, daß von den Äußerungen e i n e r Gewährsperson auf den Dialekt, und dies heißt genauer: auf die ortsübliche Dialektnorm geschlossen werden kann. (3) Wie sollen Sprachdaten erfragt werden? Die Sprachdaten werden mittels eines einheitlichen Fragebogens erfragt, um die für eine kartographische Darstellung notwendige Vergleichbarkeit zu erreichen. Der erste rheinische Fragebogen besteht aus folgenden Teilen: — 42 Sätzen, die in hochdeutscher Sprache formuliert sind — Fragen nach sprachlichen und anderen Phänomenen — einem Anschreiben an die Lehrer, das u. a. Hinweise zur Übersetzung der Sätze und zur Beantwortung der Fragen enthält. Die späteren fünf Wenkerfragebogen, nämlich in chronologischer Reihenfolge: der westfälische (1877), der erste norddeutsche (1879), der zweite rheinische (1884), der zweite norddeutsche (1887) und der süddeutsche (1887), unterscheiden sich vom ersten rheinischen und untereinander wenigstens stets in einem der drei genannten Teile. Die Hinweise zur Verschriftlichung der Übersetzungen sind sehr lapidar. Erwartet wird eine Verschriftlichung mittels des landläufigen Alphabets, lediglich Stammvokallänge und -kürze soll eigens markiert werden. Der Problematik dieses Verfahrens war
sich Wenker bereits 1875 wohl bewußt (vgl. Wenker 1876, 127 u. 1881, X f.). (4) Welche Sprachdaten sollen erfragt werden? Die Erhebung zielte erstens auf „sämtliche Lautverhältnisse“, d. h. wenigstens auf jeden Laut in jeder Position (An-, In- und Auslaut) soweit dies nach dem System möglich ist und zweitens auf die „unterscheidenden Flexionsverhältnisse“. Vorausgesetzt wird also — wie bei allen Vorgängern Wenkers — daß für die Erstellung einer Dialektkarte mit abgegrenzten Mundarten und Untermundarten lautliche bzw. flexivische Merkmale maßgeblich sind. (5) Wieviel Sprachdaten sollen erfragt werden? Es sollen so viele Daten erhoben werden, daß sichergestellt ist, daß jedes erwünschte Datum an jedem Erhebungsort wenigstens einmal erhoben wird. Wenker formulierte nachträglich den Grundatz: „[...] lieber We n i ge s aus möglichst a l l e n, als Vi e l e s aus einer u n ge n ü ge n d e n Zahl von Ortschaften einzusammeln [...]“ (Wenker 1881, VIII). Gleich in seiner ersten Fragebogenaktion liegt also die indirekte Erhebungsmethode vollständig in jener Version vor, die für die Marburger Dialektgeographie bis hin zum Deutschen Wortatlas (vgl. Wiegand/ Harras 1971) charakteristisch ist. 3.1.3. Die dialektkartographische Datenbearbeitung in der Frühphase: die „Sprachkarte der Rheinprovinz“ Wenkers erste publizierte Sprachkarte (vgl. Karte 3.2.), zu der es handschriftliche Vorformen im Archiv des Forschungsinstituts für deutsche Sprache (= DSA-Archiv) gibt, zeigt, daß er in der Kartierung von seinen Vorgängern, insbesondere von Schmeller, abhängig ist. Es handelt sich um eine Flächenkarte (zu diesem Kartentyp vgl. Art. 39, 3.3.) im Sinne einer Einteilungskarte, denn den themabezogenen Liniensignaturen (d. h. den Grenzlinien für dialektale Merkmale, die Bielenstein dann 1892 Isoglossen nennt; vgl. Art. 25, 2.2.) sind lediglich Linien-Namen zugeordnet, z. B. Grenze von Uerdingen. Wenkers ‘Isoglossen’ grenzen Mundarten voneinander ab; entsprechend sind in die von Linien umgrenzten Kartenflächen auch Großbuchstaben eingetragen, die für (Haupt) — Mundarten, Mischmundarten und Übergangsmundarten stehen, sowie Ziffern, die für Untermundarten stehen; kleine
3. Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie
Buchstaben und zusätzliche Schraffur kennzeichnen Gebiete, die historisch nicht zu den Dialekten der Rheinprovinz nördlich der Mosel gezählt werden (a = „Die Pfalz“ [hochdt. Sprachinsel], h = „französisches Gebiet“). Die verschiedenen Linien sind aber nur anhand einiger Merkmale (meistens lautgesetzlichen Verschiebungen) gezogen, und in der Legende fehlt die Angabe dieser Merkmale bzw. eine Angabe, die — wie bei Schmeller — zur Beschreibung dieser Merkmale im Text eindeutig vermittelt, so daß der Benutzer, der z. B. wissen will, in welchen Merkmalen sich der Dialekt A (= Niederrheinische Mundart) nördlich der Ürdinger Linie von der Mischmundart C unterscheidet, die südlich der Ürdinger Linie, vor allem westlich des Rheins und nördlich der Benrather Linie angesetzt ist, mühselig die gesamte Schrift durchsuchen muß! Auch trägt hier Wenker keine Zeichen, Symbole oder Leitformen für bestimmte Merkmale in die Karte ein und nimmt damit im Grunde noch keine Regionalisierung von Sprachdaten vor (vgl. aber zum allgemeinen Stand seiner Kartierungstechnik 3.3.). Von diesem Kartierungsverfahren weicht Wenker bereits in den beiden handschriftlichen Exemplaren des „Sprach-Atlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen [...]“ (1878) ab (vgl. Karte 3.6.). 3.1.4. Die Forschungsziele Wenkers in der Frühphase Weder eine Äußerung Wenkers in den Archivmaterialien noch irgendeine in seinen Veröffentlichungen erlaubt den Schluß, daß Wenker seine dialektgeographischen Studien begonnen hat, um die sog. Au s n a h m s l o s i g ke i t der Lautgesetze zu beweisen. Diese zuerst von Wrede (vgl. Veith 1970, 393—395, sowie die Zitatenzusammenstellung bei Wiegand/Harras 1971, 123, Anm. 32 u. 33) aufgestellte und dann von zahlreichen Handbuchautoren (Bach 1950, 39; Agricola et al. 196 9 Bd. 1, 349; Bretschneider 1934, 96 ; Henzen 1954, 159; Martin 1959, 87; Mitzka 1943, 9; Schwarz 1950, 43; Stroh 1952, 418) ungeprüft übernommene Behauptung wurde zunächst von Veith (1970, 393—396 ) begründet angezweifelt und dann von Wiegand/Harras (1971, 11 ff.) mit weiteren Argumenten zurückgewiesen. Das Motiv für Wenkers erste sprachgeographische Versuche war n i ch t die Bestätigung der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze.
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Warum sollte denn ausgerechnet ein Sprachwissenschaftler, der bereits 1875 (vgl. 3.1.1.) wußte, daß die geographischen Einzelgrenzen von Wörtern, in denen Laute vorkommen, die unter das gleiche Lautgesetz fallen, häufig nicht zusammenfallen, Studien treiben, die die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze beweisen sollen? Wenkers Forschungsziel in der Frühphase war, „dialektale Grenzverläufe areallinguistisch eindeutig zu fixieren“ (Wiegand/Harras 1971, 13) gemäß seinem in 3.1.1. erläuterten Erkenntnisinteresse. Lang (1982, 194) kommt — ohne Kenntnis der einschlägigen germanistischen Literatur — zu einem ähnlichen Ergebnis: „Hier [= Das rheinische Platt] wird noch einmal ganz deutlich, daß der Deutsche Sprachatlas als Instrument zur präziseren Abgrenzung der Dialekte konzipiert wurde“. Dieses Zitat ist allerdings in einer Hinsicht irreführend, da es suggeriert, als hätte Wenker bereits vor oder bei der Abfassung seiner ersten dialektgeographischen Schrift den Deutschen Sprachatlas konzipiert. Unklar bleibt hier außerdem, was mit „Deutscher Sprachatlas“ gemeint ist. Man weiß lediglich, daß Wenker bereits am 24. Mai 1877 in seinem zweiten Vortrag vor dem niederdeutschen Sprachverein davon sprach, daß er seine Studien fortsetzen wolle. Lübben (1877, 19) berichtet über diesen Vortrag: „Anknüpfend an das gestern Gesagte wies er [Wenker] auf die Bedeutung solcher bisher noch wenig unternommenen, die Mundart durch genaues Verfolgen charakteristischer Eigentümlichkeiten von Ort zu Ort abgrenzenden Arbeiten hin und verband damit den Wunsch, daß der Verein ihn unterstützen möge in seinem Vorhaben, auf gleiche Weise wie die Rheinprovinz nordwärts der Mosel nach und nach alle Gaue Deutschlands einer sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen und nach ihren mundartlichen Grenzverhältnissen zur Anschauung zu bringen mittels genauer, mit wissenschaftlichem Apparat versehener Sprachkarten.“
Lang (1982, 191) stellt weiterhin in einem Abschnitt „Der Streit um die Gliederung des Fränkischen“ folgende These auf: „Damit [mit K. Müllenhoffs Unterteilung des Altfränkischen nach dem Kriterium der Verschiebung der Dentale] hatte die Diskussion um die Untergliederung des Fränkischen, aus der auch der deutsche Sprachatlas erwuchs, erst begonnen“.
Daß der Deutsche Sprachatlas aus der Diskussion um die Untergliederung des Fränkischen erwuchs, ist eine inkorrekte Formulierung, denn der Sachverhalt, um
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
den es hier geht, ist der folgende: Braune veröffentlicht 1874 einen Beitrag „Zur Kenntnis des Fränkischen und zur hochdeutschen Lautverschiebung“. Diesen Beitrag kennt Wenker sehr genau; mehrmals nimmt er darauf bezug (vgl. Wenker 1876 , 119, 126 ff.). Die Darstellung der Lautverschiebung durch Braune (und in Paul 1874) ist für Wenker „die den Thatsachen am besten entsprechende“ (Wenker 187 6 , 119). Wenker kannte also die von Braune vorgeschlagene und auch geographisch beschriebene Untergliederung des Fränkischen, die Braune anhand der Vorgänge der sog. hochdeutschen Lautverschiebung aufgrund von Urkunden aus dem 13. u. 14. Jh. entworfen hatte, d. h. Braunes Beitrag ist einer zur Gliederung des Fränkischen im 13./14. Jh. und Wenkers Beitrag von 1877 einer zur Gliederung um 1876 /77. Daß in zwei Synchronschnitten, die ca. 500 Jahre auseinanderliegen die Untergliederungen verschieden sind, ist zu erwarten, zugleich ein Hinweis auf Lautwandel, aber kein Streitpunkt! Wenkers Schrift von 1877 läßt sich kaum als ein Diskussionsbeitrag in einem sog. Streit um das Fränkische auffassen, sondern sie ist einfach der erste dialektgeographische Beitrag zum sog. Fränkischen auf der Basis von rezenten Dialektdaten. Obwohl es sich um eine popularisierende Schrift handelt, die als Dank an die Volksschullehrer der Rheinlande konzipiert ist, ist Wenkers Vorgehen differenzierter als das Braunes. Dies beurteilt Lang richtig; es heißt: „Wenker huldigt nicht dem Schematismus Braunes [...] Drei lange Reihen bildende Lautgesetze ergeben mit ihren drei Grenzen die erwähnte Übergangslandschaft. Überall bemüht sich Wenker um historische Erklärungen der angetroffenen Zustände: die wichtigste ist im Rhein selbst gegeben, denn am Rhein ist von alters her ein lebhafter Verkehr gewesen, so daß es sehr natürlich ist, wenn heutzutage am Rhein und nahe daran die Dialekte sich etwas vermengt haben (p. 9*). Die Dialektmischung tritt leicht dort auf, wo ähnliche Mundarten aneinandergrenzen (Niederrheinisch/Westfälisch) und/oder in der Ebene, wo die Völker sich leichter mischen, wie z. B. zwischen Benrath und Ürdingen (p. 12*). In den Bergen trennen klarere Grenzen die vom Unterlauf her besiedelten Täler (p. 12*, 16 *). In der Stadt Köln hat sich der Dialekt des umliegenden Landes etwas mit hochdeutschen Eigenthümlichkeiten vermengt, was sich auch in anderen größeren Städten findet (p. 13*).“ (Lang 1982, 195; die kursiven Textstellen sind Zitate aus Wenker 1877). Die zentrale Funktion des Rheins kommt auch im Legendenaufbau der Ma-
nuskriptkarten zum Ausdruck (vgl. 3.3. (1)).
Zu ergänzen wäre, daß in den Bergen die Grenzen nicht nur klarer sind, sondern daß es heißt: „So kommts denn, daß seit so alten Zeiten, denn über 1000 Jahre sind doch seitdem schon vergangen [seit die Völkerstämme die Thäler hinaufzogen], sich die Grenzen der Dialecte und, was ja schließlich auf eins hinausläuft, der Volksstämme so treulich bewahrt haben“ (Wenker 1877, 16*).
Das bedeutet: die Stammeshypothese kann in bestimmten Fällen, z. B. wenn physikalische Barrieren vorliegen, durchaus zutreffen, woraus natürlich nicht zu folgern ist, daß Wenker grundsätzlich ein Vertreter der sog. Stammeshypothese war. Vielmehr zeigt Wenkers erste dialektgeographische Schrift, daß er je nach Raum und je nach der speziellen historischen Situation in diesem Raum offen war für unterschiedliche Erklärungstypen der festgestellten dialektalen Raumstrukturen. 3.2. Die Vorarbeiten zum Sprachatlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen Im Winter 1876 /77 trieb Wenker auf der Basis der Antworten zum ersten rheinischen Fragebogen Studien, die über die Darlegungen in Wenker (1877) hinausgehen und die — im Nachhinein — als Vorarbeiten zum Sprachatlas der Rheinprovinz gewertet werden müssen. Bei diesen Vorarbeiten entstanden auch zahlreiche Karten, die im DSA-Archiv lagern und zu denen auch die Karten 3.3. bis 3.5. gehören. Wenker zeichnete einfach auf überschüssige Exemplare der Sprach-Karte der Rheinprovinz nördlich der Mosel (deren 1. Aufl. im April 1877 fertig war) und Karten dieser Art oder ihre Vorformen (vgl. 3.3. (1)) sind es auch gewesen, die Wenker am 28. Mai 1877 dem Preußischen Kultusminister Falck vorlegte. Karten, wie die vom Typ 3.3. bis 3.5., die bis Mai 1877 gezeichnet waren, zeigten Wenker, daß eine Erweiterung des Untersuchungsgebietes wenigstens auf den westfälischen Grenzbereich nötig sei (vgl. auch Martin 1933 a, 7; Mitzka 1952, 7 f.). In einem Gesuch an den Minister Falck vom 3. Juni 1877 (DSA-Archiv, Nr. A 7) begründet er die Ausdehnung auf Westfalen so: Die Mundart des Siegerlandes sei nur eine Abart des Niederfränkischen, die niederdeutsche Mundart Westfalens sei eng verwandt mit der der Rheinprovinz und älter, so daß sie über die Bildung der letzte-
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ren Aufschluß geben könne. Er arbeitete den ersten rheinischen Fragebogen zum we st f ä l i s ch e n Fragebogen, der u. a. 38 isolierte Sätze enthält, um (abgedruckt bei Martin 1933 a, 7 f.), verschickte von Anfang Juni bis 10. August 1877 diesen Fragebogen an die Lehrer in Westfalen, begann Mitte September — auf der Basis der o. a. kartographischen Vorarbeiten — mit dem Zeichnen des Sprachatlas der Rheinprovinz und hatte diesen am 20. 12. 1878 in zwei Exemplaren fertig. Von der zweiten Datenerhebung, der in Westfalen, sind hauptsächlich die Antworten aus dem Kreis Siegen ausgewertet. Während der Vorarbeiten am Sprachatlas der Rheinprovinz gab Wenker seine ursprüngliche (ohnehin obsolete) Vorstellung von der klaren Dialektgrenze auf (vgl. Wenker 1886 , 189 f. und dazu Wiegand/Harras 1971, 16 f.). Warum diese Änderung des Forschungsziels während der kartographischen Datenbearbeitung notwendig wurde, erkennt man z. B., wenn man die Karten 3.3. und 3.4. miteinander vergleicht. Während in der Karte 3.3. z. B. die Verschiebungslinie für -p- zu -fin Löffel und Affe weit auseinander liegen, stimmen auf der Karte 3.4. die Areale für -nd-, -ng- und -nn- -in den dialektalen Wörtern, die nhd. binden, finden, hinten und unten entsprechen, vollständig überein, und in beiden Karten decken sich die Linien nicht oder nur teilweise z. B. mit der Benrather Linie. „Und je weiter die Arbeit im Rheinlande vorrückte, um so bunter ward die Verwirrung, um so verwickelter zeigte sich der Lauf der Linien in ihrer Gesamtheit [...]“ (Wenker 1886, 190).
3.3. Das Kartierungsverfahren im Sprachatlas der Rheinprovinz Das Kartierungsverfahren im Sprachatlas der Rheinprovinz steht in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozeß, der bis in die ersten sprachkartographischen Ansätze Wenkers zurückreicht und sich im wesentlichen über die folgenden Stufen erstreckt: (1) Die vermutlich e r st e K a r t i e r u n g der rheinischen Erhebung erfolgte auf der Grundkarte, die für die Sprach-Karte der Rheinprovinz nördlich der Mosel (Einteilungskarte) verwendet wurde (vgl. Wenker 1877) und ist wahrscheinlich im Mai 1877 beendet worden (vgl. Karte 3.5.). Die Darstellungsform weist bereits alle typischen Merkmale der Marburger Schule auf: Flächendarstellung mit Umgrenzungslinien ggf.
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auch mit einfacher Strichschraffur, Eintragung der jeweiligen Leitform und Kennzeichnung der abweichenden Belege durch Einzelsymbole, die in dieser Frühphase lediglich aus einer einfachen Schraffur über dem Ortspunkt/Ortsnamen bestanden. Diese Kartierung in Linienform wird ganz offensichtlich durch die angestrebte Zielsetzung bestimmt, die in der Herstellung einer Einteilungskarte für die Dialekte der Rheinprovinz bestand. Aus dem häufigen Verzeichnen der Grenzlinien ist wohl mit hoher Sicherheit anzunehmen, daß es für diese Kartierungen keine Vorformen gegeben hat. Für eine Beurteilung der Marburger Sprachkartographie sind hier die Karteninhalte von höchstem Interesse, da Wenker am Anfang seiner Atlasarbeit fast ausschließlich Einzellaute kartierte, die er in die Kategorien A = konsonantischer Anlaut, I = konsonantischer Inlaut, V = vokalischer Inlaut und E = Endung einteilte. Aus den Archivunterlagen geht hervor, daß er wahrscheinlich nur in Ausnahmefällen das vollständige Belegwort kartierte, wie z. B. bei sagen oder bei so kurzen Wörtern wie oben und auf; lediglich die Artikelformen und vermutlich auch die Pronominal- und Verbformen werden als vollständige Einheiten aufgefaßt, aber für die beiden letzteren Gruppen gibt es keine Belege in diesem überlieferten Kartenmaterial. Diese Segmentierung der Belegwörter und jeweilige Einzelkartierung weicht ganz entschieden von der späteren Morph- bzw. Wortkartierung ab; bei einer konsequenten Beibehaltung dieses Kartierungsverfahrens wären Wenker die spätere Kritik der Akademie an seiner kartographischen Wiedergabe (vgl. 4.3.) und die damit verbundenen Schwierigkeiten sehr wahrscheinlich erspart geblieben. Auf dem augenblicklichen Stand der Wenker-Forschung lassen sich keine Gründe für die Abwendung von diesem Kartierungsprinzip angeben; für eine Beurteilung sind in diesem Zusammenhang etwas mehr als 40 gesamtdeutsche Manuskriptkarten von ausschlaggebender Bedeutung, die Wenker in den Jahren 1888—1891 in diesem Kartierungsverfahren hergestellt hat. — Als Vorbereitung für die eigentlich intendierten Einteilungskarten werden auf dieser Stufe auch eine Reihe von Kombinationskartierungen vorgenommen, die sich vor allem auf den konsonantischen An- und Inlaut konzentrieren. — Die Legende aller dieser Karten ist einfach aber sehr informativ aufgebaut, da sie durch ihre Zweiteilung in links-
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Karte 3.3: Verschiebung von nhd. -p- zu -f-,-rp zu -rf (aus DSA-Archiv)
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Karte 3.4: Übergang von -nd- zu -ng- und -nn- in binden, finden, hinten und unten (aus DSA-Archiv)
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Karte 3.5: Karte des Inlauts von Ofen (aus DSA-Archiv)
Karte 3.7: Kartenbeispiel aus dem Sprachatlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen (in geänderter Farbwiedergabe aus Wenker 1878, Blatt 4)
Karte 3.6: Beispiel einer Manuskriptkarte (J4 Ofen) für den Sprachatlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen (aus DSA-Archiv)
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und rechtsrheinisch sowie durch ihre nordsüd-gestaffelte Eintragung der jeweiligen Lautelemente einen unmittelbaren Einblick in die dialektale Struktur gibt; diese Legendenart läßt sich durchaus als ein zweidimensionales Schema der dialektalen Belegverteilung auffassen. (2) Die z we i t e K a r t i e r u n g der rheinischen Erhebung wurde auf der Einteilungskarte der Rheinprovinz vorgenommen (vgl. Karte 3.3 und 3.4) und läßt sich auf den Zeitraum von Juni bis August 1877 datieren, da noch keine Belege aus der westfälischen Erhebung erscheinen. Das bei der ersten Kartierung angewandte Darstellungsprinzip wird in seinen wesentlichen Zügen beibehalten; zwei Abweichungen sind jedoch für die Entwicklung der Kartierungsverfahren von Bedeutung: (a) Die strikte Materialdokumentation der ersten Kartierung wird offensichtlich zugunsten einer größeren Übersichtlichkeit aufgegeben; diese Tendenz zeigt sich in dem Wegfall jeglicher Einzelsymbole, so daß alle vorhandenen Abweichungen von der Leitform damit verlorengehen (lediglich wenige Randnotizen weisen auf Ausnahmen hin), und in der deutlichen Neigung, die jeweiligen Isolinien den eingezeichneten Dialektgrenzen anzunähern bzw. mit ihnen zu identifizieren. (b) Gegenüber der ersten Kartierung zeigt sich deutlich eine stärkere Aufarbeitung und Durchdringung des Belegmaterials, die einerseits in den häufigeren Kombinationskartierungen zum Ausdruck kommt sowie andererseits in einer expliziten Kartierung bestimmter Lautdistributionen z. B. vom Typ „Uebergang des n nach ô, in ng“ und in einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die sprachhistorische Vorform z. B. vom Typ „Gestaltung des nhd. ei (= ahd. î)“. — Wie bei der ersten Kartierung werden mit Ausnahme der dort genannten Sonderfälle auch hier kaum vollständige Belegwörter kartographisch wiedergegeben, so daß Kartierungen wie z. B. fünf, neun, warten und Schwester zu den Seltenheiten gehören; in diesem Zusammenhang entsteht bei der Kartierung des Belegwortes hinter die wahrscheinlich erste Wortkarte (achter/henger) für ein deutsches Sprachgebiet (vgl. 4.2.). — Im Unterschied zu der ersten Kartierung verwendet Wenker jetzt keine Legende mehr, gibt dafür aber ausführliche Kartentitel an. (3) Die d r i t t e K a r t i e r u n g der rheinischen Erhebung benutzt die neuangefertigte großformatige Grundkarte im Maßstab
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1 : 480 000 (vgl. 3.2.) und wird durch Materialien aus der westfälischen Erhebung ergänzt, indem der Kreis Siegen explizit hinzukommt und offensichtlich auch die an der Rheinprovinz unmittelbar anschließenden Belege für auslaufende Isolinien herangezogen werden, wie z. B. aus der Komplettierung der Gutturalisierungsgrenze bei Winter und Wein zwischen Gummersbach und Freudenberg zu schließen ist. Diese dritte Kartierung ist als Manuskriptversion für den Sprachatlas der Rheinprovinz (vgl. Wenker 1878) anzusehen, wie aus der gesamten Anlage und einigen handschriftlichen Hinweisen zur Farbgebung der Isolinien hervorgeht. Eine genauere Datierung dieser Kartenherstellung läßt sich aus zwei unterschiedlichen Grundkartendrucken erschließen: Ein e r s t e r Druck der Grundkarte erfolgte auf dünnes Papier, das heute stark vergilbt ist, und ist vor allem daran zu erkennen, daß diese Grundkarte kein Signum „G. Wenker aut.“ am linken unteren Kartenrand aufweist. In einem z w e i t e n Druck mit diesem Signum wurden einerseits die eigentlichen Grundkarten für die Reinzeichnung der beiden Sprachatlasexemplare (vgl. (4)) hergestellt, die sich durch ihr wesentlich schwereres Papier unterscheiden, und andererseits wurde mit dieser Lieferung wahrscheinlich auch noch ein Grundkartendruck auf dünneres Papier ausgeliefert, der heute weniger stark vergilbt ist. Außerdem weisen beide Grundkarten unterschiedliche Erhebungsorte auf: im Kreis Siegen fehlen beim ersten Druck beispielsweise die Orte Bü[schergrund] (= 13 n), Neu[nkirchen] (= 14 o) und Bu[rbach] (= 15 o); weitere Stichproben ergaben, daß auch in den anderen Kartenteilen Veränderungen vorgenommen wurden, so fehlen im ersten Druck z. B. Fu[chshoven] (= 18 g), Bli[esheim] (= 14 f) und das Ortssiegel Lie des ersten Drucks wird in Ma[rienheide] (= 10 l) in der zweiten Grundkarte abgeändert. Nur auf diesen zweiten Druck kann sich die Terminangabe „Mitte September 1878“ bei Martin (1933 a, 8) beziehen, so daß der erste Druck wohl während des Rücklaufs der westfälischen Erhebung erfolgte, wie aus den fehlenden Belegorten im Kreis Siegen zu schließen ist; so kann diese erste Grundkarte und ihr Druck vielleicht noch Ende des Jahres 1877 fertiggeworden sein. Die dritte Kartierung konnte demnach in der ersten Hälfte des Jahres 1878 durchgeführt werden.
Diese dritte Kartierung orientierte sich deutlich an der ersten Kartenproduktion, mit der sie sowohl das strikte Dokumentationsprinzip wie auch die Darstellungsform gemeinsam hat (vgl. Karte 3.6 .). In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß nun zur Kennzeichnung von Ausnahmen bereits einfache Strichzeichen verwendet werden,
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wobei deutlich die Tendenz zu erkennen ist, die neuhochdeutschen Lautformen mit einem senkrechten Strich oder einem kleinen Punkt wiederzugeben, während darüber hinaus keine weitere Systematik zu erkennen ist. Damit sind bereits schon Ende 1878 alle sprachkartographischen Darstellungsmittel der Marburger Schule entwickelt und erprobt. Aus der häufigen Belegmarkierung insbesondere im Bereich von Isolinien ist wohl mit großer Wahrscheinlichkeit zu schließen, daß Wenker bei diesen Karten erneut auf das Belegmaterial zurückgegangen ist und nicht einfach die erste Kartierung auf die neue Grundkarte übertragen hat; in diese Richtung weisen auch die vielen handschriftlichen Notizen über Sonderbelege, die teilweise den gesamten Legendenraum und Kartenrand füllen. Die Legende dieser Karten beschränkt sich auf eine Erläuterung der verwendeten Strichzeichen. (4) Die v i e r t e K a r t i e r u n g der rheinischen und eines Teils der westfälischen Erhebung führte zu dem Sprachatlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen (Wenker 1878) und basierte auf den Manuskriptkarten aus der dritten Herstellungsstufe (vgl. Karte 3.7.). Diese Kartierung erfolgte in dem Zeitraum von Mitte September 1878 (= Auslieferung des Druckes der zweiten Grundkarte) bis zum 20. Dezember 1878 (= Einreichung bei der Philosophischen Fakultät der Philipps-Universität, Marburg). Die verwendete Grundkarte zeigt gegenüber den bisherigen Versionen zwei wesentliche Weiterentwicklungen: (a) Die Ortsnamen werden mit Ausnahme der größeren Orte lediglich durch ihre beiden Anfangsbuchstaben wiedergegeben, um „einen klaren Hintergrund zu gewinnen“, wie Wenker (1878) in seiner Vorbemerkung schreibt. (b) Das Gradnetz wurde so eng gewählt, daß kleine Quadranten von 5 × 10 Minuten entstehen, die in den Randleisten senkrecht mit den Zahlen von 1 bis 26 und waagerecht mit den Buchstaben von a bis p bezeichnet werden. Damit wird zum ersten Mal ein Signatursystem für die Erhebungsorte eingeführt, das in dieser Art ebenfalls für die gesamte Marburger Schule bestimmend bleibt; diese Kennzeichnungsweise wird auch von Wenker in Karte 2 für das Ortsverzeichnis verwendet. Das Kartierungsverfahren setzt sich aus den folgenden Schritten zusammen: (a) Die Bildung der Kartenthemen orientiert sich of-
fensichtlich an der historischen Grammatik, obwohl formal überwiegend die dialektale Form zum Ausgangspunkt gewählt wurde (z. B. anlautendes hochdeutsches z- ist mundartlich ... (vgl. Karte 3); selten werden Formulierungen verwendet wie aus altem -pentstandenes hochdeutsches -f- ist mundartlich ... (vgl. Karte 4); so bilden die Konsonanten (= 5 Karten) und Vokale (= 2 Karten) mit ihren jeweiligen Untergruppierungen sowie den Pronominal- und Verbformen (= 5 bzw. 7 Karten) die zentralen Kartenthemen neben je einer Karte zum Diminutivum, zum Artikel und zur Endung. (b) Die Kartierung erfolgt offensichtlich durch Übertragung der Isolinien aus den entsprechenden Manuskriptkarten, wobei im wesentlichen die folgenden Fallunterscheidungen auftreten: (1) ein Belegwort wird als Prototyp für eine lautliche Erscheinung verwendet wie z. B. -g- in Regen (Karte 5), -au- in laufen (Karte 10); in einigen Fällen werden auch zwei Belegwörter getrennt kartiert, z. B. -f in Dorf und -f in auf (Karte 4); (2) eine Gruppe von Belegwörtern wird kartiert, wobei ein Belegwort als Prototyp gewählt wird und mit einer durchgezogenen breiten Isolinie markiert wird, während die abweichenden Verbreitungen der anderen Belegwörter durch schwächere Isolinien (gestrichelt, gepunktet etc.) wiedergegeben werden, z. B. für inlautendes -ch- werden die Belege machen, Koch und gleich (vgl. Karte 5) herangezogen; wenn die Abweichungen gering sind, wird lediglich eine einzige Linie eingetragen, wie aus dem Beispiel für inlautendes -f- in Ofen, Tafel und Hafer auf Karte 4 zu ersehen ist; (3) eine Bezugnahme auf das Belegmaterial fehlt wie beispielsweise bei dem anlautenden g- (vgl. Karte 3). Die Isolinien der jeweiligen „Lautklassen“ und „Formengruppen“ (vgl. Wenker 1878, Vorbemerkung) werden durch eine einzige Farbe dargestellt, ggf. wird Liniencolorit und Schraffur zur Differenzierung verwendet; in der gleichen Farbe wird auch die zugehörige Leitform als Zahl in das Verbreitungsgebiet eingetragen. Diese systematische Farbgebung (lediglich auf Karte 9 wurden zwei getrennte Lautentwicklungen [-ei- in Zeiten und -eu- in Scheuer] aufgrund ihres gleichartigen Verbreitungsgebietes in derselben Farbe dargestellt) ermöglicht eine noch gute Lesbarkeit dieser Kombinationskarten; bei einigen Pronominal- (vgl. z. B. Karte 16 ) und bei fast allen Verbkartierungen ist dagegen die Belastungsgrenze der sprachkartographischen Darstellung weit
3. Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie
überschritten, so daß hier keine Übersichtlichkeit erreicht wird. — Bei dieser kombinierenden Flächenkartierung wird auf die Kennzeichnung abweichender Belegformen verzichtet, obwohl die zugrundeliegenden Manuskriptkarten noch strikt dokumentarisch kartieren; in dieser Hinsicht ergeben sich somit Ähnlichkeiten zur zweiten Kartierung (vgl. (2)); lediglich Mischgebiete werden auf einigen Karten durch Flächenschraffur gekennzeichnet wie z. B. anlautendes jund g- (Karte 3) auslautendes -p und -f (Karte 4). (c) Der Aufbau der Legende ist durch die Klassifizierung mit Hilfe römischer Zahlen von Interesse, weil dadurch sprachhistorische Zusammenhänge gekennzeichnet werden; die nachfolgenden Kartierungen der Marburger Schule verzichten weitgehend auf diese interpretative Möglichkeit und bevorzugen eine strikt deskriptive Darstellung. (d) Die beigefügten Bemerkungen sind im wesentlichen als ein kritischer Kommentar anzusehen, der teilweise jedoch auch auf sprachhistorische Zusammenhänge hinweist. Die beiden handschriftlichen Exemplare des Sprachatlas der Rheinprovinz können wohl zu Recht als der erste Sprachatlas angesehen werden. Für den weiteren Verlauf der Marburger Schule ergeben sich aus der hier erstmals getroffenen Entscheidung für eine farbige Wiedergabe der Isolinien große Schwierigkeiten, die eine Veröffentlichung der fertiggestellten Karten erschwerten und hinsichtlich des Sprachatlas des Deutschen Reiches gänzlich unmöglich machten. Aber auch aus der Abwendung von der Einzelkartierung, wie sie mit unterschiedlicher Strenge in allen vorangegangenen Kartierungen eingehalten wurde, erwachsen nicht unerhebliche Probleme, denn die hier zum ersten Mal durchgeführte Art der Kombinationskartierung tendiert zu einer Minderung der Übersichtlichkeit, sofern die dargestellten Einzelphänomene keine gleiche historische Entwicklung oder zumindestens eine annähernd gleiche areale Verteilung aufweisen; die hieraus resultierenden Schwierigkeiten zeigen sich dann unmittelbar bei den ersten Karten des Sprachatlas von Mittel- und Norddeutschland und werden auch von den Gutachtern und Rezensenten deutlich benannt und kritisiert. In diesem Zusammenhang ist aber auch nicht zu übersehen, daß dieser Schritt Wenkers zu einer systemorientierten Kartierung hätte führen können (vgl. Art. 39.3. u. 5.), denn die ersten kombinierten Lautkarten zeigen durchaus Ansätze in diese Richtung, die aber offensichtlich in ih-
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ren Möglichkeiten und in ihrer Tragweite aus dem damaligen Stand der Sprachwissenschaft und Dialektologie nicht erkannt werden konnten. 3.4. Der Sprach-Atlas von Nord- und Mitteldeutschland 3.4.1. Das veränderte Forschungsziel: ein neuer Begriff von Dialektgrenze Während der Vorarbeiten am Sprachatlas der Rheinprovinz hatte Wenker — angesichts solcher Karten wie z. B. 3.3. und 3.4. — die Suche nach klaren Dialektgrenzen aufgegeben. Rückblickend schreibt er dazu: „Da vollzog sich die erste durchgreifende Umwandlung der alten naiven Vorstellung von Dialektgrenzen. Sie musste aufgegeben werden gegen eine neue, und diese neue musste gesucht werden, nicht auf dem beschränkten Raume einer einzelnen Provinz mit ihren speziellen sprachlichen Verhältnissen, sondern auf einem weiten Gebiete mit mannigfach wechselnden Dialektgestaltungen. Diese methodische Forderung ward der Antrieb zur Ausdehnung meines Unternehmens über ganz Norddeutschland“ (Wenker 1886, 190).
Ende Dezember 1878 schickte Wenker den Sprachatlas der Rheinprovinz als Anlage zu einem Gesuch um finanzielle Unterstützung über die Marburger Philosophische Fakultät an den preußischen Kultusminister. In diesem Gesuch führt er aus, daß er die Datenerhebung auf ganz Preußen nördlich der Mainlinie und östlich der Elbe und Saale ausdehnen will; auch in diesem Plan führt er u. a. sog. methodische Gründe für die Erweiterung der Datenbasis an (vgl. Martin 1933 a, 9). Wie aus dem letzten Zitat hervorgeht, gibt Wenker sein Ziel nicht auf, die Dialekte geographisch gegeneinander abzugrenzen, sondern nur die Vorstellung der klaren Dialektgrenze. Wenker hatte gelernt: D i a l e k t e l i e ge n n i ch t a b ge g r e n z t vo r, s o n d e r n s i e m ü s s e n a b ge g r e n z t we r d e n. Dazu benötigt man allerdings vor allem eine Theorie des Dialekts und damit Kriterien für die Grenzziehung. Wenker jedoch will m e t h o d i s c h vorgehen und d. h. für ihn: er will eine neue Vorstellung von Dialektgrenze durch E r we i t e r u n g d e r d i a l e k t a l e n D a t e n b a s i s und deren kartographischer Bearbeitung gewinnen. Die kartographische Bearbeitung der Dialektdaten hatte zur Falsifizierung einer Hypothese geführt. Die Bearbeitung einer größeren Datenbasis sollte zu einer neuen theoretischen Vorstellung von Dialektbe-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
grenzung führen. Diesen Weg von der Empirie zur Theorie gibt es aber nicht. Weder in den nicht kartierten Daten noch in den kartierten Daten, d. h.: auf den Dialektkarten, findet man theoretische Begriffe (vgl. auch Wiegand/Harras 1971, 16 ff.). 3.4.2. Die Datenerhebung in Nord- und Mitteldeutschland Die Marburger Fakultät leitet Wenkers Gesuch mit dem Atlas im Februar 1879 an den preußischen Kultusminister weiter, dieser bittet die Königliche Akademie der Wissen-
Königreich Preussen* Königreich Sachsen Grossherzogthümer Mecklenb[urg]-Schw[erin] u. Str[elitz] Grossherzogthum Hessen Grossherzogthum Oldenburg Grossherzogthum Sachsen-Weimar Herzogthum Braunschweig Herzogthum Sachsen-Meiningen Herzogthum Sachsen-Coburg Herzogthum Sachsen-Altenburg Herzogthum Anhalt Fürstenthümer Schwarzb[urg]-Rud[olstadt] u. Sond[ershausen] Fürstenthümer Lippe-Detm[old] u. -Schaumb[urg] Fürstenthümer Reuss ält. u. jüng. Linie Fürstenthum Waldeck Freie Städte Hamburg, Lübeck, Bremen Summe (* Die früher schon in den Reg.-Bez. Düsseldorf, Cöln und Aachen eingesammelten Uebersetzungen sind hier nicht mitgerechnet, es sind nahezu 1500.)
Für diese Erhebung wurde der westfälische Fragebogen erneut geändert, und zwar einzelne Sätze (vgl. Martin 1933 a, 14, Anm. 1) und die Anweisungen. Die Sätze wurden auf 40 erweitert (abgedr. bei Wenker 1881, XIII f.), und es wurden einige andere Fragen ergänzt, so daß der e r st e n o r d d e u t s c h e Fragebogen entsteht. 3.4.3. Das Kartierungsverfahren im Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland Auf der Grundlage des Sprachatlas der Rheinprovinz und der westfälischen Erhebung entwirft Wenker den Plan einer gesamtpreußischen Enquête und findet hierfür auch die Zustimmung des Ministeriums, so daß er im November 1879 mit der Versen-
schaften um ein Gutachten, das Müllenhoff und der Geograph und Kartograph Heinrich Kiepert verfassen (abgedr. bei Martin 1933 a, 9—12). Die Gutachter sind mit der Auswahl des Untersuchungsgebietes nicht einverstanden. In einer Eingabe vom 1. Juli 1879 erklärt sich Wenker bereit, das Untersuchungsgebiet über Preußen hinaus auszudehnen, und verschickt ab November 1879 die Fragebogen an die Schulinspektoren, die als Relaisstelle für die Weitersendung an und die Rücksendung durch Lehrer aller Schulorte fungieren, und zwar nach folgender Aufstellung aus Wenker (1881, IX): Schulinspectoren 1 099 27 97 18 79 5 1 2 10 6 40 7 2 4 4 4 1 405
Formulare 30 756 2 208 1 427 928 584 476 430 335 245 191 216 246 170 156 121 186 38 675
dung des norddeutschen Fragebogens beginnen kann (vgl. 3.4.2.). Mit dem erfolgreichen Rücklauf beginnen die Quantitätsprobleme der Marburger Schule: die Größe des Erhebungsgebietes und der Umfang der dialektalen Daten ließ nur eine sukzessive Bearbeitung und Veröffentlichung von Karten zu; aus diesem Grund wurde das Erhebungsgebiet in 13 Teilkarten (= Abteilung 1—13) aufgegliedert (vgl. Karte 3.9.) und eine Publikation in einzelnen Lieferungen vorgesehen (6 Lieferungen von je 6 Karten pro Abteilung und Jahr; vgl. Wenker 1881, Prospectus). Von diesem Plan wurde jedoch lediglich die erste Lieferung von 6 Karten zu Abteilung 1 realisiert (= Wenker 1881). Für diesen Abbruch sind im wesentlichen zwei Gründe verantwortlich: (a) Die praktische Kartierungsarbeit für die erste Lieferung hatte Wenker den erforderlichen Zeitaufwand in drastischer Weise deutlich werden lassen (vgl. hierzu seinen Briefentwurf an Müllenhoff bei Martin 1933 a, 16 —21), so
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Karte 3.9: Übersichtskarte zu den 13 Abteilungen des Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland (aus Wenker 1881, Umschlagseite) daß die geplante Veröffentlichung einer Abteilung pro Jahr nicht einzuhalten war. (b) Zu dieser Einsicht kam die völlig unerwartete Ablehnung der Akademie hinzu, so daß seinem Unternehmen zunächst die finanzielle Basis entzogen wurde oder zumindest recht unsicher erschienen ließ. Die Beschreibung des angewandten Kartierungsverfahrens stößt auf Schwierigkeiten, da nur sehr spärliche Archivunterlagen vorhanden sind; diese Lücke wird jedoch durch Wenkers detaillierte Darlegung des Herstellungsablaufs in dem oben genannten Briefentwurf (vgl. Martin 1933 a, 18) wenigstens teilweise ausgeglichen. Die von Wenker selbst angefertigte Grundkarte lag in drei Formaten vor: (a) als Übersichtskarte (vgl. Karte 3.9.) in einer Größe von 40 × 56 cm (b) als Druckvorlage im Maßstab 1 : 800 000 (vgl. Karte 3.8.) und (c) als Arbeitskarte (vgl. Martin 1933 a, 14— 15). Das im Kartendruck verwendete Siglensystem für die Belegorte entspricht im wesentlichen dem Verfahren des Sprachatlas der Rheinprovinz, jedoch sind hier prinzipiell nur die Anfangsbuchstaben benutzt und nur dann der zweite Buchstabe hinzugenom-
men, wenn in einem Quadranten gleichanlautende Ortsnamen vorkommen. Die Auflösung der Siglen erfolgt in einem Ortsverzeichnis, das durch seine längengradorientierte Gliederung und durch die Abkürzung häufiger Kompositionselemente wie a. für Alt-, m. für Mittel- etc. eine optimale Kürze und Übersichtlichkeit erreicht, so daß die rund 3000 Ortsnamen der Abteilung 1 auf vergleichsweise vier DIN A4-Seiten untergebracht werden konnten. Gegenüber dem Sprachatlas der Rheinprovinz werden hier die Quadranten nicht durch ein Ziffern/ Buchstabensystem, sondern durch die jeweiligen Längen- und Breitenangaben gekennzeichnet. — Die spätere Kritik von Müllenhoff/Kiepert (vom 16 . November 1882; vgl. unten) an der Grundkarte ist völlig unberechtigt, weil es eine kürzere Identifikation überhaupt nicht geben kann; wie aus der Vorbemerkung zum Sprachatlas der Rheinprovinz (Wenker 1878) zu ersehen ist, waren Wenker die Probleme der Grundkarte und insbesondere des Siglen-Systems durchaus bewußt. Wenn die Gutachter das Aufsuchen der Siglen im Ortsverzeichnis als „mühsam“ bezeichnen, dann geben sie damit wohl nur
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zu erkennen, daß sie das am Gradnetz orientierte Ordnungssystem überhaupt nicht verstanden haben. Die Kartierung erfolgte aus dem originalen Belegmaterial und konnte lediglich in dem Gebiet der Rheinprovinz nördlich der Mosel auf die Karten des handschriftlichen Sprachatlas (vgl. 3.3.) zurückgreifen. Das angewandte Verfahren läßt sich nicht genau rekonstruieren, da die entsprechenden Unterlagen offensichtlich verlorengegangen sind; so lassen sich im DSA-Archiv beispielsweise weder Grund- noch Manuskriptkarten „in vierfacher Vergrößerung“ gegenüber dem Publikationsdruck finden (vgl. Martin 1933 a, 15). Es sind lediglich vier Manuskriptkarten zu No. 227, 228 euch vorhanden, die das Belegmaterial in Punkt- und Flächendarstellung auf der gedruckten Grundkarte wiedergeben. Dieses Verfahren entspricht im Prinzip den Manuskriptversionen für den Sprachatlas der Rheinprovinz (vgl. 3.3.), so daß sich aus dieser Übereinstimmung mit einer gewissen Berechtigung die generelle Annahme solcher Arbeitskarten herleiten läßt. Unter dieser Voraussetzung ist die Belegkartierung von Wenker in der folgenden Weise vorgenommen worden: alle Belege eines Quadranten (mit z. T. weit über 20 Ortspunkten) werden durchgesehen, und der häufigste Belegtyp wird durch ein einfaches Strichsymbol wiedergegeben, das an einer ortspunktfreien Stelle im Quadranten eingezeichnet und zusätzlich durch einen Punkt am Strichende markiert wird; alle abweichenden Formen werden durch ein entsprechendes Einzelzeichen kenntlich gemacht, das durch den Ortspunkt geführt wird; die hierfür erforderliche Akribie wird z. B. an der Differenzierung zwischen einem senkrechten Strich über und unter dem Ortspunkt deutlich. Aus den wenigen Kartenbeispielen ist die Frage nach einem vielleicht zugrundeliegenden Symbolsystem nicht sicher genug zu beantworten, jedoch scheint sich eine deutliche Tendenz zur Verwendung einfacher Strichzeichen für Kurzvokale, Kreuze für Umlaute und Strichzeichen aus zwei Elementen für Diphthonge abzuzeichnen; dieses Verfahren steht somit durchaus in Übereinstimmung mit der Zeichenverwendung auf den Manuskriptkarten des Sprachatlas der Rheinprovinz (vgl. 3.3.). Auf der Grundlage dieser Punktdarstellung werden anschließend Flächenkarten in Isolinienform angefertigt, auf denen jedoch die Abweichungen von der Leitform nicht mehr
verzeichnet werden; um bei der Linienführung einen sinnvollen Anschluß an die vorgesehenen Nachbarabteilungen 2 und 4 zu gewährleisten, wurde bei der Punktkartierung die jeweils anschließende Quadrantenzeile ebenfalls durchgesehen und die Ergebnisse am Rand der Grundkarte notiert. Die Herstellung dieser Manuskriptkarten ist nach Rücklauf der Erhebung in Norddeutschland wohl in der zweiten Jahreshälfte 1880 und in den ersten Monaten des Jahres 1881 erfolgt; da Wenker in dieser Phase noch weitgehend segmentorientiert kartiert, wie aus seinem Briefentwurf an Müllenhoff hervorgeht (vgl. Martin 1933 a, 18), sind für jede Abteilung etwa 800 Einzelkarten anzufertigen. Für die erste Lieferung wären somit etwa 120 bis 150 Manuskriptkarten erforderlich gewesen; allerdings zeigt eine Durchsicht der publizierten Karten, daß hierfür tatsächlich nur etwa 6 0 Einzelkartierungen benötigt wurden, die auch bei dem von Wenker genannten durchschnittlichen Aufwand von etwa 10 Arbeitsstunden pro Einzelkarte in diesem Zeitraum ausgeführt werden konnten. Das weitere Kartierungsverfahren bis hin zu den Druckvorlagen wurde im Zeitraum von April bis September 1881 vorgenommen (vgl. Martin 1933 a, 15 und die Datumsangaben auf den sog. Originalblättern, die sich im DSA-Archiv befinden) und ist im wesentlichen mit der Vorgehensweise beim handschriftlichen Sprachatlas der Rheinprovinz identisch (vgl. 3.3. unter Punkt (4)). Lediglich die folgenden Abweichungen sind für den damaligen Stand der Sprachkartographie von Interesse: (a) Die kartenthematische Präsentation zeigt eine noch stärkere deskriptive Ausrichtung, da in der Legende keine expliziten sprachhistorischen Hinweise mehr gegeben werden, wie es im Sprachatlas der Rheinprovinz durchaus noch der Fall war. (b) Die systematische Gestaltung der Isolinien hat hier neben einer unterschiedlichen Farbgebung noch verschiedene schwarze Strichstärken zur Verfügung, die zur Darstellung von Ähnlichkeiten (d-, t- gegenüber dr-, tr- in Karte 1), von abweichenden Verteilungen der gleichen Lauterscheinung in verschiedenen Belegen (-vv- gegenüber -w- in über, aber, oben etc. in Karte 2), von verschiedenen Belegwörtern (bin gegenüber sind in Karte 19, euch gegenüber euer in Karte 28) und von Ausnahmen (-r vor Vokalen in Karte 18, Abfall des r in Karte 27) verwendet werden. (c) Die Isoflächen werden
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innerhalb der Karten nicht durch Leitformen gekennzeichnet, sondern sind nur über die Legende zu entschlüsseln; dies ist zweifellos als ein Rückschritt gegenüber der Kartiertechnik im Sprachatlas der Rheinprovinz anzusehen, und die daraus resultierende Unübersichtlichkeit wird in dem Gutachten der Akademie vom 16 . Nov. 1882 (vgl. unten) auch beanstandet. Bei einer Beurteilung dieser Kritik ist jedoch zu berücksichtigen, daß Wenker in einigen Originalblättern die zugehörigen Leitformen durch Zahlen wie im Sprachatlas der Rheinprovinz dargestellt hat; aus den vier Beispielen des Archivmaterials läßt sich allerdings kein systematisches Numerungssystem erkennen. Das von Wenker am Sprachatlas der Rheinprovinz entwickelte Kartierungsverfahren ermöglichte wohl eine hinreichend angemessene Darstellung einer Dialektlandschaft, die zudem in ihrer Mitte auch noch einen dialektalen Kernraum enthält; die im Oktober 1881 erscheinende erste Lieferung des Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland ließ aber deutlich erkennen, daß die Anwendung der bisherigen sprachkartographischen Technik auf ein größeres und komplexeres Dialektgebiet zu keinen überzeugenden Karten führte, wie auch aus dem Akademiegutachten vom 16 . Nov. 1882 hervorgeht, das „in der Auffindung einer praktisch durchführbaren Form der wissenschaftlichen Darlegung“ eine zentrale Aufgabe sieht, „wobei namentlich in Frage kommt, was der Kartographie überhaupt zugemuthet und ob das gesammelte Material auf diesem Wege dem wissenschaftlichen Publikum zur genügenden Kunde gebracht werden kann“ (Gutachten vom 16 . Nov. 1882; DSA-Archiv Nr. A 26 a). So ist die anschließende Phase bis Februar 1888 und zum Beginn des Sprachatlas des Deutschen Reiches durch das Suchen nach einer Verbesserung dieses Kartierungsverfahrens gekennzeichnet; da offensichtlich der Zusammenhang mit den veränderten Forschungszielen nicht mitreflektiert wurde, konnten dabei auch keine grundlegenden Fortschritte erzielt werden. In den fünf überwiegend positiven Rezensionen von Behaghel (1881), Crecelius (1882), Ellis (1882), Roediger (1882) und Steinmeyer (1882) wurde auf das Kartierungsverfahren selbst nicht eingegangen, wohl aber auf dessen Ergebnis; so schreibt z. B. Roediger (1882, 248) „Woltuend für das Auge ist freilich das Gewimmel der ausge-
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schriebenen oder angedeuteten Ortsnamen nicht, und hier ließe sich wohl ohne Schaden eine Vereinfachung ermöglichen“. Schärfere Kritik findet sich in dem bereits erwähnten, ausführlichen — bei Martin (1933 a) nicht erwähnten — Gutachten der Akademie der Wissenschaften vom 16 . Nov. 1882, das der Minister Goßler erbeten hatte und das von Müllenhoff unter Mitwirkung von Kiepert verfaßt wurde. Nachdem hier zunächst die Absicht Wenkers kritisiert wird, „die Verbreitung aller einzelnen [...] sprachlichen Thatsachen ohne Unterschied und Rücksicht auf ihre größere oder geringere Wichtigkeit und auf die Wichtigkeit der Mundarten durch Karten zu veranschaulichen“, und sodann der Umfang des Atlasses, heißt es: „Dazu kommt, daß die Linien und Farben des Dr. Wenker über den auf jedem Blatte wiederholten Tausenden von Siglen der Ortsnamen deren Erklärung auf einem beigegebenen gedruckten Blatte mühsam zu suchen ist — jede Benutzung zu einer Beschwerde und Qual, und die Ausnutzung in vielen Fällen, ja für manche Augen wohl in den meisten, zu einer Unmöglichkeit machen. Auch technisch ist die Ausführung der vorliegenden Sprachkarten durchaus unbefriedigend und würde eine weitere Anwendung derselben den Gebrauch des auf solche Art graphisch verarbeiteten philologischen Materials so gut wie illusorisch machen. Die offenbar mit Hilfe der Photographie in überreichlichem Maßstabe angewendete Verjüngung würde immerhin noch ein, zwar nicht durchweg klares, aber doch erträgliches Bild ergeben haben, wenn bei Ausführung der zu Grunde gelegten Zeichnung zweckmäßigere Signaturen und Schriftformen gebraucht worden wären, was mittels mechanischer Umzeichnung durch einen geübten Techniker ohne irgend erhebliche Mehrkosten erreicht werden könnte. Ebenso würde sich wahrscheinlich die beabsichtigte Darstellung von Zonen sprachlicher Differenzen durch eine andere Technik — Verbindung von Linien- und Flächencolorit — sicherer und zweckmäßiger haben erreichen lassen“ (DSA-Archiv Nr. A 26 a).
Während die Akademie die Datenerhebung Wenkers stets positiv bewertete, war sie von Beginn ihrer Gutachtertätigkeit an mit der Form der kartographischen Datenbearbeitung Wenkers nicht einverstanden. Sie erkannte auch klar die Gefahr, daß die Karten aus technischen und Kostengründen nicht publiziert werden können. Sie wies frühzeitig und öfters auf diesen schwachen Punkt in den Konzeptionen Wenkers hin. Müllenhoff verhandelte im Auftrag der Akademie mit Wenker (vgl. Mitzka 1952, 9). Wenker berichtet darüber 1886 wie folgt:
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„Es war das Verdienst des damals noch lebenden Professor Müllenhoff, die Art der kartographischen Wiedergabe, die Zerteilung des Gebiets in so viele Sektionen und die dadurch gegebene Zerstückelung der Resultate in zahlreiche Einzelblätter einer scharfen Kritik zu unterziehen und maßgebende Gesichtspunkte zu einer neuen wesentlich verbesserten Methode der Wiedergabe aufzustellen“ (Wenker 1886, 188 f.).
Müllenhoff war es auch, der nicht nur die neue Kartenanlage durchsetzte sondern auch, daß andere Karteninhalte kartiert wurden (vgl. Wenker 1886 , 189 u. Mitzka 1952, 9 sowie unter 3.5.1.). 3.4.4. Erneute Änderung des Forschungsziels: Dialektkarten als Datendokumentation Während der Arbeiten am Sprach-Atlas von Nord- und Mitteldeutschland gewinnt Wenker eine neue Auffassung von den Forschungszielen, die mit seinem Sprachatlas verbunden sind (vgl. Wenker 1886 und Wiegand/Harras 1971, 17 f.). Es geht nicht mehr um die Abgrenzung von Dialekten und nicht mehr um einen Begriff von Dialektgrenze, sondern die Dialektkarten sind eine zweidimensionale Datendokumentation für die Erforschung der Dialekte. Damit ist die Marburger Auffassung gegeben, daß die Karten der Marburger Sprachatlanten keine Forschungsergebnisse sind, sondern nur Fo rs ch u n g s i n s t r u m e n t e. 188 6 waren für Wenker die Karten eine „mikroskopisch genaue“ Grundlage vor allem für eine vergleichende deskriptive Dialektologie und Hilfsmittel zur Erforschung der alten Stammesverhältnisse. 1895 schließlich führt Wenker aus: „Der Atlas aber hat nach seiner ganzen umfassenden Anlage den viel höheren Zweck, unsere mundartliche Forschung emporzuheben über den bisherigen Stand der einfachen Beschreibung und sie fortzuentwickeln zu einer erklärenden DialektWissenschaft“ (Wenker 1895, 43).
Die Erklärungen dialektaler Daten erfolgen überwiegend auf der Basis extralingualer Daten. Damit ist der Weg der germanistischen Dialektologie Marburger Provenienz vorgezeichnet. 3.5. Zum Sprachatlas von Nordwestdeutschland 3.5.1. Planung und Organisation des Sprachatlas von Nordwestdeutschland Die Erfahrungen bei der Ausarbeitung der
ersten Lieferung des Sprachatlas von Nordund Mitteldeutschland sowie das Gutachten der Akademie vom 16 . Nov. 1882 (vgl. 3.4.3.) macht deutlich, daß eine direkte Fortführung der bisherigen Form der kartographischen Datenbearbeitung nicht möglich war. Die Publikation des Sprachatlas von Nordund Mitteldeutschland wurde eingestellt, und Wenker erarbeitet ab 1882 neue Pläne für die Kartierung der Daten und die Publikation eines Sprachatlas. Diese Pläne sind am besten greifbar in den Berichten und Eingaben Wenkers an das Ministerium und die Akademie (vgl. zu dieser Phase Martin 1933 a, 21—27). Sie kristallisieren sich in der handschriftlichen Eingabe Wenkers an die Berliner Akademie vom 16 . Mai 1885 zu dem Plan für einen Sprachatlas von Nordwestdeutschland. Ziel dieser — auf Rat von Scherer gemachten — Eingabe war es, die Übernahme der Kosten für einen auf 300 Karten berechneten Atlas von Nordwestdeutschland zu erreichen, der auf der Basis eines Teils des Datenmaterials zum Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland erarbeitet werden sollte. Zur Begründung für die Untergliederung des Erhebungsgebietes schreibt Wenker: „Nach dem [...] Einteilungsplan ist das ganze eingesammelte Material in eine westliche und eine östliche Hälfte zerlegt worden. Nordostdeutschland erfordert voraussichtlich eine abweichende Behandlung, da es als colonisiertes Land keine so scharf sich abgrenzenden Mundarten besitzt. In Folge dessen handelt es sich zunächst nur darum, die bereits begonnene Herstellung der 300 Blatt Nordwestdeutschland zu Ende zu führen“ (Wenker, Eingabe vom 61 . Mai 1885; DSA-Archiv Nr. A 41).
Voraussetzung für die Herstellung dieser nordwestdeutschen Karten war, daß die Lücken im Datenmaterial geschlossen wurden, denn der erste rheinische Fragebogen war vom ersten norddeutschen verschieden. Deshalb hatte Wenker bereits im Winter 1884 den zweiten norddeutschen Fragebogen in die Rheinprovinz verschickt, um vergleichbare Daten zu erhalten. Ebenfalls im Winter 1884 war bereits eine neue Grundkarte ‘Nordwestdeutschland’ im Maßstab 1: 1 Mio. gedruckt worden, und zwar nach einer von Wenker im Sommer 1884 gezeichneten Vorlage, die er nach „W. Liebenow’s Special-Karte von Mittel-Europa“ selbst hergestellt hatte (vgl. Wenker 1886 a, Einleitung). Im Mai 1885 hat Wenker sechs handgezeichnete Karten dieses neuen Atlas fertig (‘Eis’, ‘Salz’, ‘Luft’, ‘euch’, ‘nichts’, ‘neun’), die er als Anlage 3 der Eingabe vom 16 . Mai
Karte 3.10: Kartewnbeispiel aus dem sogen. Pronomina-Atlas (= Sprachatlas von Nordwestdeutschland); Pronomen du (in reduzierter Farbwiedergabe aus Wenker 1886a, Blatt 3)
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1885 beilegt. Aus dem Text der Eingabe und aus dem der Anlage 4 dazu — überschrieben „Motivierung des jetzigen Planes“ —, geht hervor, daß Müllenhoff dafür verantwortlich ist, daß Wenker von der segmentorientierten Kartierung zur Belegwortkartierung übergegangen ist (vgl. 3.7.). Die Eingabe vom 16 . Mai 1885 wurde im Juli 1885 von der Akademie negativ beschieden, und Wenker mußte den Plan, einen von der Akademie finanzierten Sprachatlas von Nordwestdeutschland zu publizieren, aufgeben. Er arbeitete jedoch an den nordwestdeutschen Karten weiter und im Oktober 1885 hatte er 25 Wörter kartiert (vgl. Mitzka 1952, 10). Nach seinem Vortrag am 1. Okt. 1885 vor der deutsch-romanischen Sektion der 38. Philologenversammlung in Gießen, der das Gesuch an den Reichskanzler zur Folge hatte, begann Wenker mit den Vorarbeiten zu einer laut- und formengeographischen Studie „Pronomina in Nordwestdeutschland“ (vgl. Martin 1933 a, 30). Hierzu kartierte er die dialektalen Übersetzungen zu 16 Pronomina auf 11 Karten, wobei er die Grundkarte des Sprachatlas von Nordwestdeutschland benutzte. Diese Karten sind im Marburger Forschungsinstitut vorhanden und heißen im Fachjargon „Pronomina-Atlas“ (vgl. Karte 3.10.). Daß diese Karten und der dazugehörige Text (vgl. Wenker 1886 a) nicht publiziert wurden, gehört mit zu den Ergebnissen, die in den — im Juni 1886 beginnenden — Verhandlungen um die Verstaatlichung des Sprachatlas erzielt wurden (vgl. Martin 1933 a, 30 f.). 3.5.2. Das Kartierungsverfahren im Sprachatlas von Nordwestdeutschland Der Zeitraum nach dem Erscheinen der ersten Lieferung des Sprachatlas von Nordund Mitteldeutschland (1881) bis zum Beginn des Sprachatlas des Deutschen Reiches (1888) ist durch das Suchen nach einer verbesserten sprachkartographischen Darstellungsform gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang ist auch das Kartierungsverfahren des Sprachatlas von Nordwestdeutschland zu sehen, das jedoch auf Grund der Berichte (Wenker 1886 a, Einleitung; Martin 1933 a) und der Unterlagen im DSAArchiv nicht sicher und vollständig zu rekonstruieren ist. Im Gegensatz zu den bisherigen Kartierungsverfahren, die immer von einer doku-
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mentarischen Fixierung des gesamten Belegmaterials ausgingen, scheint Wenker bei dem Sprachatlas von Nordwestdeutschland zunächst mit vereinfachten Übersichtskarten begonnen zu haben. Hierbei handelt es sich um etwas mehr als 40 Pausblätter, die noch im DSA-Archiv vorhanden sind und nach ihren handschriftlichen Datumsangaben in der Hauptsache im Juli und August 1883 entstanden sind. Die Belege werden in Flächendarstellung mit kolorierten Isolinien und Leitformen wiedergegeben; Abweichungen bzw. Belegspezifikationen in Grenznähe werden durch Zahlen und Einzelsymbole gekennzeichnet, wobei das Nummerungsverfahren hier offensichtlich von Wenker zum erstenmal angewendet wurde. Eine Einordnung dieser Pausblätter in den Kartierungsvorgang kann nicht sicher vorgenommen werden, da grundsätzlich zwei Möglichkeiten bestehen: (1) Die Pausblätter sind auf der Grundlage einer vorausgegangenen vollständigen Belegkartierung als verallgemeinerte Übersichten entstanden; für eine solche Belegkartierung gibt es im DSA-Archiv jedoch keine Unterlagen, denn der Grundkartendruck für ein vergleichbares Verfahren zum Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland (vgl. 3.4.3.) erfolgte offensichtlich erst Anfang 1884 (vgl. Martin 1933 a, 24) und eine Serie von dokumentarischen Manuskriptkarten für südliche Gebiete der ersten Abteilung des Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland kommt wegen ihrer Datierung vom Juli 1884 bis Januar 1887 als Belegkartierung wohl auch nicht in Betracht, sondern ist wahrscheinlich als eine Vorarbeit zum Sprachatlas des Deutschen Reiches (vgl. 3.7.) anzusehen. (2) Die Pausblätter sind als erste Übersichtskarte aus einer Auswahl des Belegmaterials direkt entstanden, so daß keine weiteren Vorformen existieren können; bei Martin (1933 a, 22 u. 24) finden sich Hinweise auf solche „Auszugskarten“. Für diese Annahme spricht einerseits die immer auf einen gesamten Quadranten (Anzahl etwa 1500) bezogene Symbolisierung und andererseits die unvollständige Flächenbildung und die ungenaue Linienführung, wie sie aus einem Vergleich dieser Pausblätter mit fertigen Karten des Sprachatlas von Nordwestdeutschland abzulesen ist. Den Anstoß für eine solche Kartierungstechnik hat möglicherweise Müllenhoff oder Meitzen in einer Besprechung mit Wenker im März 1883 ge-
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geben (vgl. Martin 1933 a, 23), denn die ersten Karten (Salz, Eis, euch) werden noch im April 1883 gezeichnet und können in diesem Zusammenhang als ein praktisches Ausprobieren gelten. Auf der Grundlage dieser Pausblätter erfolgte anschließend eine genaue Belegkartierung, deren einzelne Schritte nicht sicher zu dokumentieren sind. Da die Grundkarte jedoch lediglich den Belegort als einen kleinen Kreis ohne weitere Differenzierungsmöglichkeiten angibt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die dokumentarische Belegkartierung auf einzelnen Arbeitskarten erfolgte, die mit denen des Deutschen Sprachatlas gleich oder vergleichbar sind (vgl. 3.7.) und nicht direkt auf der Grundkarte wie beim Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland (vgl. 3.4.3.). Erst die Ergebnisse dieser Manuskriptkarten (vielleicht schon als Pausblätter) wurden dann in Form von Isolinien mit Bleistift auf die gedruckte Grundkarte übertragen, mit Tusche nachgezeichnet (durchgezogene Linien bei scharfer Tennung und gestrichelte Linien bei unscharfer Abgrenzung; vgl. Wenker 1886 a, 2) und anschließend als Fläche oder Grenze koloriert sowie mit Leitformen versehen. In diesem Kartierungsverfahren wurden die ersten sechs Karten (Eis, Salz, Luft, euch, nichts und neun) des Sprachatlas von Nordwestdeutschland hergestellt und der Eingabe an die Akademie vom 16 . Mai 1885 beigefügt; im DSA-Archiv befindet sich die Karte Eis in ihrer definitiven Form, während alle anderen Karten lediglich in unterschiedlichen Vorformen vorhanden sind. Nach der Ablehnung dieses Projektes im Juli 1885 wurde dieses Verfahren auch zur Herstellung der 16 Karten des sog. Pronomina-Atlas verwendet (vgl. Martin 1933 a, 30 und Karte 3.10.); die Bemerkung von Mitzka (1952, 10) ist offensichtlich auf die Einzelkartierung der Pronomen zu beziehen. Für den Druck wurden einzelne Pronomen auf einer Kombinationskarte zusammengefaßt, wenn „sie in den meisten Punkten dieselbe Entwicklung zeigen“ (Wenker 1886 a, 4); die Publikation dieser elf Karten (zehn PronomenKarten und einer Übersichtskarte) und einer erläuternden Monographie von etwa 150 Seiten wurde Wenker in den Verhandlungen vom Juli 1886 durch das Preußische Kultusministerium auf Anraten von J. Schmidt untersagt (vgl. Martin 1933 a, 30—31); die entsprechenden Kartenmanuskripte sowie die z. T. farbig ausgedruckten Karten und sieben
Bogen des Begleittextes befinden sich im DSA-Archiv. Das von Wenker offensichtlich zum erstenmal angewandte Verfahren einer vorangehenden Übersichtskartierung ist wohl als ein wesentlicher Beitrag zur Überwindung der entstandenen Quantitätsprobleme anzusehen, das jedoch in den nachfolgenden Kartierungsarbeiten nicht mehr benutzt und erst wieder bei der Kartierung des Deutschen Wortatlas eingesetzt wird. Die außerdem hier verwendete Pausblattechnik ist ebenfalls als eine wichtige Neuerung einzustufen, da sie zu einer Kostenersparnis und zu übersichtlicheren Manuskriptkarten für die weiteren Kartierungsschritte führt (vgl. 3.7.). Aus den sechs fertigen Karten des Sprachatlas von Nordwestdeutschland ist deutlich zu erkennen, daß hier bereits die Anfänge für eine direkte Belegwortkartierung liegen, die jedoch erst im Sprachatlas des Deutschen Reiches voll zum Tragen kommt. Im Bereich der Grundkarte wird hier auch zum erstenmal auf eine genaue Signierung der Belegorte verzichtet: „Es geschah dies im Interesse der Uebersichtlichkeit der Karten und konnte ohne Schaden für die Sache geschehen, da die einzelnen Dörfer nicht um ihres Namens willen, wohl aber nach ihrer genauen geographischen Lage für die Bestimmung der Grenzlinien wichtig sind“ (Wenker 1886 a, 1). Das Kartierungsverfahren des Sprachatlas von Nordwestdeutschland ist im wesentlichen als eine Vorform für den Sprachatlas des Deutschen Reiches anzusehen und hat leider nicht zu einem Rückgriff auf die anfängliche Kartierungstechnik oder auch zu einer völligen Neuorientierung an den veränderten Zielvorstellungen (vgl. 3.1.4., 3.4.1. u. 3.4.4.) geführt, sondern wurde in allen wichtigen Punkten durch die weitgehend unsachgemäßen Auffassungen der Akademie bestimmt. 3.6. Die Datenerhebung in Süddeutschland Aufgrund des Gesuches der Gießener Philologenversammlung ebnete Bismarck bei den süddeutschen Regierungen von Baden, Württemberg, Bayern und Elsaß-Lothringen die Wege für die Datenerhebung in Süddeutschland, die 1887 begann. Für diese Erhebung änderte Wenker einige der 40 Sätze der beiden norddeutschen Fragebogen. Die Änderungsangaben finden sich bei Mitzka (1952, 14). Auch die Fragen werden z. T. geändert. Zum ersten Mal wird in einem Wen-
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ker-Fragebogen, und zwar mit der Frage „11. Wie lauten in Ihrem Schulort folgende Wörter?“ nach der dialektalen Übersetzung einzelner Wörter gefragt; es handelt sich um folgende: heiß, nein, blau, grau, hauen, Hand, Hanf, Helm, Flachs, er wächst, Besen, Pflaumen, Brief, Hof, jung, krumm, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, elf, fünfzehn, sechszehn und fünfzig. Man sieht: unter den ‘Wörtern’ ist auch ein Satz. Die genauen Absichten Wenkers, die hinter der Frage Nr. 11 standen, konnten nicht ermittelt werden. Man kann hier nur begründete Vermutungen äußern, so z. B. die, daß nach den Übersetzungen von Pflaumen u. a. gefragt wurde, weil die Heteronymik zu Pferd bereits bei der Bearbeitung der norddeutschen Gebiete aufgefallen war und Wenker sicherstellen wollte, daß man die areale Verbreitung der Verschiebung im anlautenden Labial genau verfolgen konnte.
Auch die Anweisungen zur Schreibweise wurden über die Hinweise zur Bezeichnung von Vokallänge und -kürze hinaus wie folgt ergänzt: „[...] Vokale, die d u r c h d i e chen werden, bitte ich durch ein ̰ zu bezeichnen, das o f fe n e e bitte ich mit è, das geschlossene e mit é wiederzugeben [...]“ [die im Original halbfett].
N a s e gesprodarunter gesetztes (z. B. in s e h r) (z. B. in b e s t e) Sperrungen sind
Diese Ergänzungen zielen offensichtlich auf eine genauere schriftliche Fixierung der Vokalqualitäten. — Auch der s ü d d e u t s c h e F r a ge b o ge n wurde über die Schulinspektoren als Relaisstelle an die Lehrer geschickt. Die Schulinspektoren bekamen ein besonderes Begleitschreiben (abgedr. bei Mitzka 1952, 14—16 ), in dem Wenker ausführt, es sei „wünschenswert, aus größeren Städten mehrere Uebersetzungen (womöglich aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, aus Vorstädten etc.) zu erhalten“. Dies ist der einzige Hinweis, in dem Wenker bei seinen Datenerhebungen die soziale Dimension erwähnt. Die durch Sprachkontakt entstandene unterschiedliche Dialektalität bei Sprechern verschiedener Bevölkerungsschichten der gleichen Region kannte Wenker bereits 1877. Ihr jedoch galt nicht sein Interesse. Es ging Wenker aber bei allen seinen Erhebungen darum, den Dialekt mit dem höchsten Dialektalitätsgrad zu erheben, und dieser wurde von der am wenigsten mobilen Bevölkerung mit geringen regelmäßigen Außenkontakten gesprochen. 1888 hat Wenker die Datenerhebung zum Sprachatlas des Deutschen Reiches abge-
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schlossen. Er hat — einschließlich der verschiedenen Nachbefragungen (zweiter rheinischer, zweiter norddeutscher Fragebogen) ca. 40 000 Antwortbogen gesammelt. 3.7. Die handgezeichneten Karten des Sprachatlas des Deutschen Reiches Im Zeitraum von 1886 —1888 ließen sich die unterschiedlichen Positionen und Interessen der Akademie, des Ministeriums und Wenkers zu einer neuen Projektierung ausgleichen: unter Einbezug der süddeutschen Gebiete erfolgt eine handschriftliche Kartierung des gesamten Belegmaterials und erst nach Abschluß dieser Arbeiten soll eine Kommission über die Karten- und Materialpublikation entscheiden; dieser Kompromiß führte zum Sprachatlas des Deutschen Reiches, dessen erste Gesamtkarte (sechs) bereits am 13. Sept. 1889 fertiggestellt wurde. — Die entscheidendste Veränderung gegenüber den bisherigen Kartierungen ist in der Abkehr von der prinzipiell segmentorientierten Kartenthematik und in der Anwendung einer direkten Belegwortkartierung zu sehen; dieses Verfahren geht auf Müllenhoff zurück und Wenker hat diese Vorschläge im vierten Anhang zu seinem Gesuch vom 16 . Mai 1885 übernommen. Dieser Wechsel des Kartenthemas ist wohl auch im Zusammenhang mit einer strikteren deskriptiven Ausrichtung seiner Arbeiten zu sehen. Demgegenüber werden die technischen Kartierungsmittel weitgehend beibehalten. Die Grundkarte wurde in zwei Versionen erarbeitet: (a) Als Karte für die handschriftliche Reinzeichnung; dazu wurde das Erhebungsgebiet in drei Teilkarten (ein Nordwest-, Nordost- und Südwestblatt) im Maßstab 1 : 1 Mio. aufgegliedert und die Belegorte als kleine Kreise eingezeichnet (die fremdsprachigen Orte wurden durch einen Zusatzstrich markiert). Ein explizites Signaturensystem gibt es nicht, lediglich die Gradeinteilung in Felder zu 5 × 10 Min. ermöglicht eine Quadrantenbenennung; hier ist deutlich die Auswirkung der Akademie-Kritik (vgl. 3.4.3.) zu sehen, die zwar eine wesentliche Vereinfachung der Grundkarte erreicht, aber eine Identifikation der Belegorte auf dieser Ebene nun nicht mehr zuläßt. (b) Als Arbeitskarte für die handschriftliche Manuskriptzeichnung; dazu wurde das Erhebungsgebiet in 31 Einzelkarten im Maßstab 1 : 300 000 aufgeteilt, die im Norden durch die römischen Ziffern von I—VI und anschließend durch die Großbuchstaben von
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
A—Z kenntlich gemacht wurden. Innerhalb dieser Teilkarten werden die Belegorte mit Hilfe einer zweifachen Buchstabenkombination signiert, wobei der erste Buchstabe einen Teil der Quadrantenzeile und der zweite Buchstabe den Ortspunkt selbst bezeichnet; der Nachteil dieses Signaturensystems ist vor allem darin zu sehen, daß kaum unmittelbare Rückschlüssse auf die geographische Lage möglich sind; auch in dieser Hinsicht verfügte Wenker vorher bereits über bessere Konstruktionen (vgl. 3.3. und 3.4.3.). Die Kartierung erfolgte im wesentlichen in zwei Schritten: (a) Die erste Belegkartierung wurde gegenüber den bisherigen Verfahren nicht direkt auf einer gedruckten Grundkarte vorgenommen, sondern auf den sog. Pausblättern, die über die jeweiligen Einzelkarten (vgl. oben) gespannt wurden. Bei der kartographischen Fixierung der Belegwörter wurde das bisher bewährte Verfahren des Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland angewandt (vgl. 3.4.3.); hier ergeben sich einerseits aus dem kleineren Maßstab der Grundkarte deutliche Arbeitsvorteile und andererseits wird durch ein Abheben der Pausblätter von der Grundkarte die Übersicht über die Belegwiedergabe wesentlich erhöht und damit das Einzeichnen farbiger Isolinien sehr erleichtert. (b) Die Ergebnisse der bearbeiteten Pausblätter werden dann auf die gedruckte Grundkarte übertragen, wobei im wesentlichen die Darstellungsmittel des Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland verwendet werden; allerdings werden die dort geäußerten Einwände hier nicht mehr in gleicher Weise wirksam, da lediglich ein einziges Belegwort kartiert wird (vgl. Karte 3.11.). Dieses Kartierungsverfahren führte gegenüber der Kombinationstechnik des Sprachatlas der Rheinprovinz und des Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland sicher zu einer wesentlich größeren Übersichtlichkeit, doch war damit auch gleichzeitig ein erheblicher dialektalerdialektologischer Informationsverlust verbunden, da ein Vergleich zu ähnlichen oder gleichen Lauterscheinungen in anderen Belegwörtern nur sehr umständlich herzustellen ist; hier hätte die thematische Kombinationskartierung eines einzigen dialektalen Phänomens, wie sie bei der zweiten Kartierung des Sprachatlas der Rheinprovinz von Wenker bereits im Jahre 1877 ausprobiert wurde (vgl. 3.3. unter Punkt (2)), einen sinnvollen Ausweg aus den quantitativen Schwierigkeiten geboten, da dieses Verfah-
ren zu kartographisch direkt ablesbaren Ergebnissen führt. Wenker hat bis zu seinem Tode 1911 an den Karten des Sprachatlas des Deutschen Reiches gearbeitet. Unter seinem Nachfolger Wrede wurden die Zeichenarbeiten 1923 abgeschlossen. Die Kartensammlung besteht aus 16 46 Einzelkarten, auf denen insgesamt 339 Wörter eingezeichnet sind (vgl. Mitzka 1952, 12). Eine Publikation dieser Karten erfolgte nicht. Über den kleineren Teil dieser Karten wurde die wissenschaftliche Öffentlichkeit von 1892 bis 1902 durch die Berichte Wredes informiert (Wrede 196 3, 9—228). Erst im Jahre 1926 begann eine auszugsweise Publikation dieser Karten „in vereinfachter Form“ als „Deutscher Sprachatlas“ (DSA; vgl. Karte 3.12.).
4.
Die Entstehung und frühe Entwicklung der germanistischen Wortgeographie
4.1. Wortgeographische Ansätze vor Wenker Das wichtigste Hilfsmittel der dialektgeographischen Methode bei der Datenbearbeitung ist die Dialektkarte. Man kann allerdings die Verteilung von Daten im Raum auch ohne Karten darstellen (vgl. Siegel 196 4, 6 33) indem man sprachlichen Daten geographische Lagewerte — mehr oder weniger genau — in sprachlichen Aussagen zuordnet. Diese Aussagen können sich, müssen sich aber nicht auf eine bestimmte geographische Karte beziehen. So beziehen sich z. B. die Aussagen über die Umgrenzungslinie für das „Pferdegebiet“ bei Herkner (1913, 2) „auf eine Karte des Deutschen Reichs mit möglichst vielen Ortsnamen“ (Herkner 1913, 1). Selbstverständlich finden sich in vielen älteren Dialektbeschreibungen, in Arbeiten zur historischen Wortforschung und in den älteren Wörterbüchern vor Wenker Angaben zur Verbreitung von Lauten, morphologischen Formen und besonders Wörtern (vgl. z. B. Peßler 1933, 28), und es bestand besonders bei den Lexikographen ein Wissen über die areale Heterogenität des Wortschatzes der deutschen Sprache. Spezielle Untersuchungen zu deutschen Dialektwörtern, die deren Verbreitungsareale a u f K a r t e n d a r st e l l e n, gab es vor der ersten handgezeichneten Karte in Marburg im Jahre 1877 jedoch nicht. Die Feststellung: „Bekanntlich gab es schon vor den Forschungen Wenkers regionalwortgeographische Ansätze [...]“ (Wie-
Karte 3.12: Kartenbeispiel aus dem Deutschen Sprachatlas: machen, Satz 17 (aus DSA, Karte 10)
Karte 3.11: Kartenbeispiel (Nordwestblatt) aus dem Sprachatlas des deutschen Reiches: machen, Satz 17 (in reduzierter Farbwiedergabe aus DSA-Archiv)
3. Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie
gand/Harras 1971, 28) trifft daher nur dann zu, wenn man Arbeiten o h n e Wo r t k a r t e n zur Wortgeographie zählt. Kretschmer (196 9, 49) stellt fest: „Was er [Popowitsch] zum ersten Mal bietet, ist die Probe einer mundartlichen Wortgeographie“. Gemeint ist die 1780 in Wien posthum erschienene Arbeit von J. S. V. Popowitsch mit den Titel „Versuch einer Vereinigung der Mundarten von Teutschland als eine Einleitung zu einem vollständigen Teutschen Wörterbuch mit Bestimmungen der Wörter und beträchtlichen Beiträgen zur Naturgeschichte“. Die Feststellung, daß diese Arbeit „mundartliche Wortgeographie“ bietet, kann falsche Vorstellungen wecken. Es handelt sich nämlich um ein Wörterbuch diatopischer Heteronyme (= landschaftlicher Synonyme; zur Terminologie vgl. Wiegand 1970, 344 f.), in dem die Lemmata und ihre Heteronyme in der hochdeutschen Form angegeben werden. Sowohl in dem „Versuch [...]“ als auch in den beiden nicht publizierten Foliobänden „Vocabula Austriaca et Stiriaca“ von Popowitsch erfährt man zwar etwas über die Geographie von Heteronymen, es handelt sich aber um Wörterbücher und nicht um Arbeiten, die vor allem aus wortgeographischem Interesse verfaßt wurden. So gab es vor 1877 zwar zahlreiche Arbeiten, aus denen man etwas zur Geographie von Wörtern der deutschen Dialekte entnehmen konnte, aber keine speziellen wortgeographischen Arbeiten, die Karten zur Darstellung benutzten. 4.2. Wenkers erste regionale Wortkarte von 1877 Die erste Wortkarte innerhalb des deutschen Sprachgebietes entsteht nicht — wie in der Forschung bisher angenommen (vgl. z. B. Siegel 196 4, 6 37; Mitzka 1943, 144) — 1890 bei der handschriftlichen Herstellung der Karten des Sprachatlas des Deutschen Reiches, sondern bereits 1877 bei der zweiten Kartierung der rheinischen Erhebung (vgl. 3.3. (2); vgl. Karte 3.13.). Wenker zeichnet auf die Sprach-Karte der Rheinprovinz nördlich der Mosel die beiden dialektalen Übersetzungstypen achter und henger zum Wort hinter, dem ersten im Satz 26 des ersten rheinischen Fragebogens. Die Wenkersätze waren also keineswegs „aus Wörtern ohne Raumsynonymik zusammengesetzt“, wie Schmitt (196 4, 7) feststellt. Wenker kartiert mithin bereits 1877 diatopische Heteronyme, und d. h.: es handelt sich um eine onomasio-
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logische Bezeichnungskarte. Diese entstand insofern unbeabsichtigt, als es nicht zu den ausdrücklichen Zielen der rheinischen Erhebung gehörte, z. B. die dialektale Bezeichnungsvielfalt zu demjenigen Begriff festzustellen, der mit einem Wort in den Wenkersätzen bezeichnet wurde oder die Verbreitungsareale von Heteronymen zu erforschen. Die rheinische Erhebung hatte noch keine wortgeographischen Ziele. Es wäre daher auch wohl kaum angemessen, die germanistische Wortgeographie im Jahre 1877 mit dem Zeichnen der Karte ‘hinter’ beginnen zu lassen. Auch die Wortgeographie ist als eine spezielle Ausprägung der Dialektgeographie eine Methodenkombination (vgl. 1.), die sich nicht nur im Gegenstand, sondern auch in der Methode der Datenerhebung von der Laut- und Formengeographie unterscheidet bzw. unterscheiden sollte. 4.3. Zur diatopischen Heteronymik im Sprachatlas des Deutschen Reiches Bereits seit 1877 wußte Wenker, daß bestimmte Wortformen in den Wenkersätzen von den Gewährspersonen nicht mehr durch sog. dialektale (oder: diatopische) Varianten innerhalb des gleichen Worttyps übersetzt werden, sondern durch dialektale Varianten eines anderen Worttyps, da andere Wörter in verschiedenen Gebieten in der gleichen Bedeutung verwendet werden können; d. h.: Wenker kannte das Phänomen der diatopischen Heteronymie (Raumsynonymik) und mußte so auch wissen, daß mit der schrittweisen Erweiterung des Erhebungsgebietes die Wahrscheinlichkeit wuchs, daß die Gewährspersonen hochdeutsche Wörter in den Wenkersätzen durch Dialektwörter übersetzen, die nicht mehr zum hochdeutschen Worttyp gehören. Außerdem war dies ohnehin — nach einem Blick in die deutschen Wörterbücher — vorhersehbar. So schreibt z. B. Adelung (1798, III, 725) unter dem Lemma „‘Das Pfêrd’: [...] Anm. 2 [...] Statt des allgemeinen Nahmens Pferd sind in einigen Gegenden auch Mähre, Gaul und Roß üblich, ob sie gleich im Hochdeutschen zuweilen andere Bestimmungen bekommen. [...] und in einigen Niedersächsischen Gegenden, z. B. im Bremischen ist Page die allgemeine Benennung eines Pferdes.”
Entsprechende Angaben findet man in den Wörterbüchern auch für zahlreiche andere Wörter der Wenkersätze. Im Prinzip hätte man das Auftreten von Heteronymen in den Übersetzungen, das die laut- und for-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Karte 3.13: Wortkarte ‘hinter’ für die Rheinprovinz nördlich der Mosel (aus DSA-Archiv)
3. Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie
mengeographischen Absichten durchkreuzte, durch Voruntersuchungen verhindern können. Heute aber weiß man, daß dies zu Sätzen geführt hätte, in denen z. B. zuviel Abstrakta aufgetreten wären, denn es gab damals kaum einen Gegenstand oder Sachverhalt im bäuerlichen Alltag, der in den verschiedenen Dialekten nicht mit einem Wort benannt wurde, das zu einem Worttyp gehörte, der vom hochdeutschen Worttyp verschieden war. Sätze mit den Gewährspersonen nicht geläufigen Wörtern wären aber aus anderen Gründen ungeeignet gewesen für lautgeographische Ziele (vgl. z. B. Leihener 1908, LXV f.). Zu beachten ist aber vor allem der folgende Gesichtspunkt: Bereits z. B. die Änderung des ersten rheinischen Fragebogen führte dazu, daß Wenker später dieses Gebiet noch einmal abfragen mußte, um die Vergleichbarkeit der Daten mit den anderen Gebieten zu gewährleisten. Jede Änderung zur Vermeidung von z. T. prognostizierbarer Heteronymik hätte die Vergleichbarkeit der Daten in relativ schlecht berechenbarer Weise und wenigstens ebenso gefährdet wie die z. T. erwartbaren Heteronyme. Gerade wenn man das Prinzip der Vergleichbarkeit der Daten (vgl. 3.1.2. (3)) für den Laut- und Formenbereich und für das gesamte Erhebungsgebiet gelten lassen wollte, mußte man die Heteronyme in Kauf nehmen, denn sie bedeuteten — verglichen mit einer Änderung der Sätze — die geringere Störung bei der Erreichung der laut- und formengeographischen Ziele. — Weder Wenker noch später Wrede wurden daher durch das Phänomen der Heteronymik überrascht, wie man in der Literatur öfters liest (vgl. z. B. Löffler 1980, 111). Mitzka (1952, 72) stellt fest: „Die allermeisten Sprachatlaskarten bieten Synonymik. Bei der Begründung des Sprachatlas war ihre Erfragung nicht beabsichtigt gewesen. Die lautgeographisch geplanten Karten ergaben aber eine solche.“
Diese Feststellungen treffen genau zu. Obwohl das Phänomen der (Raum-) Synonymik (hier: Heteronymik) bekannt war, war ihre Erfragung nicht beabsichtigt; und in der Tat: ein großer Teil der handgezeichneten Karten des Sprachatlas des Deutschen Reiches sind — da Wenker zur Wortkartierung überging (vgl. 3.7.) — Wortkarten und wurden von Wrede auch als Wortkarten bezeichnet (z. B. „Jahresbericht für 1912“, 1913, DSA-Archiv Nr. A 6 89), denn auf den meisten von ihnen finden sich Heteronyme! Es ist daher (wenigstens für den Außenste-
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henden) irreführend, wenn man — wie Schmitt (196 4, 9 f.) — im Marburger Fachjargon in Opposition zum Deutschen Wortatlas — hinsichtlich des Sprachatlas des Deutschen Reiches und des publizierten Deutschen Sprachatlas vom „Laut- und Formenatlas der deutschen Mundarten“ spricht. Die ersten gesamtdeutschen Wortkarten werden 1890 in Marburg von Wenker und seinen Mitarbeitern als „Zufallsergebnisse“ (Bach 1950, 51) gezeichnet. Wiegand/Harras (1971, 28) schreiben: „[...] die Geburtsstunde der gesamtdeutschen Wortgeographie ist [...] hier anzusetzen!“ Das ist nur dann zutreffend, wenn man unter Wortgeographie bereits das bloße Zeichnen von solchen Wortkarten versteht, die i n der Forschungsplanung nicht beabsichtigt waren. Versteht man unter Wortgeographie jedoch eine Methodenkombination und unter wortgeographischer Arbeit ihre bewußte Anwendung, dann gehört zur Wortgeographie ein spezielles Erhebungsverfahren, das mit der erklärten Absicht angewandt wird, wortgeographische Ergebnisse zu erzielen. 4.4. Die Entstehung der regionalen Wortgeographie bei Fischer Berthold
(1924/25,
223)
führt
aus:
„Und so fügte dann Fischer seinen 188 6 /87 ausgesandten Fragen zum Schwäbischen Wörterbuch, die seiner Geographie der schwäbischen Mundart den Stoff bringen sollten, auch einige wortgeographisch abgezweckte Fragen ein. Ihr Ergebnis sind die Karten 24 und 25 seines Atlas zur Geographie der schwäbischen Mundart (1895), in denen wir die ersten beabsichtigten Wortkarten zu sehen haben [...]“.
Bei den genannten Fragen handelt es sich um die Fragen 174—187 des Fischer’schen Fragebogens (vgl. Fischer 1895, 12 und Art. 6 ). Bei Fischer findet sich zuerst die Kombination eines speziellen wortgeographischen Erhebungsverfahrens mit einer kartographischen Bearbeitung der Erhebungsdaten. Die Erhebung geschieht mit dem ausdrücklichen Zweck, die areale Verbreitung lexikalischer Einheiten zu kartieren. Der Zweck der beiden lexikalischen Karten Fischers ist es, die Thesen Toblers zu prüfen (vgl. Fischer 1895, 11 und Tobler 1887), und Fischer (1895, 15) kommt zu dem Ergebnis, daß der „Wortbestand [...] keine taugliche Grundlage der Dialektgeographie“ ist, was hier bedeutet, daß Wortkarten keine Basis für Einteilungskarten bilden können. Bei Fischer (1895) liegt der Beginn der regionalen
72
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Wortgeographie im deutschen Sprachgebiet, insofern er der erste ist, der die Wortgeographie als Methodenkombination anwendet, der Wörter abfragt, um Wörter für einen bestimmten Zweck zu kartieren. In der Kartierung war Fischer von Wenker abhängig. So ist z. B. seine Grundkarte im wesentlichen so konzipiert wie die zum Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland. Auch andere Kartierungsmittel verweisen auf Wenker. Fischer zeichnete — wohl in erster Linie aus methodischen Gründen und als Vorübung für seinen Atlas Karten nach Wredes Berichten, die ab 1892 im „Anzeiger“ erschienen (Wrede 196 3, 9—228). Diese nicht publizierten Karten sind in der Universitätsbibliothek Tübingen archiviert (vgl. Ruoff 196 4, 183, Anm. 37). 4.5. Zur frühen Entwicklung der regionalen Wortgeographie im Anschluß an den Sprachatlas des Deutschen Reiches 1887 wurde F. Wrede Mitarbeiter Wenkers, und ab 1903 betreute er zahlreiche Dissertationen (vgl. Dützmann 1933, 77—82), von denen ein Teil in der 1908 begonnenen Reihe „Deutsche Dialektgeographie. Berichte und Studien über G. Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs“ (= DDG) erschienen sind. In diesen Arbeiten findet sich — soweit in ihnen ein kleineres Dialektgebiet im Anschluß an den Sprachatlas bearbeitet wurde — eine relativ einheitlich ausgeprägte Forschungsstrategie (dargestellt bei Wiegand/ Harras 1971, 25 ff.); innerhalb dieser Strategie spielte auch die Wortgeographie eine fakultative Rolle, und zwar bei der Erarbeitung des „Dialektgeographischen Überblick[s]“ (vgl. z. B. Leihener 1908, XLI— LXXXII; Hommer 1910, 29—6 3; Wenzel 1911, 45—6 4; Lobbes 1912, 47—80; Bromm 1913, 37—72) oder des „Dialektgeographischen Teil[s]“ (vgl. z. B. Hauenberg 1914, 44—100; Frings 1913, 32—149; Martin 1952, 97—184). In den frühen Arbeiten der DDG diente die Wortgeographie vor allem dazu, die auf der Basis des Lautsystems erarbeitete dialektgeographische Gliederung eines Kleinraumes an Hand geeigneter Wortbeispiele zu überprüfen. Leihener war derjenige, der in den Jahren 1905/ 6 eine spezielle Kombinationskartierung erarbeitete, die sich für kleinräumige Laut-, Formen- und Wortgeographie eignete (vgl. Karte 3.14.). Die von Leihener erfundene kartographische Darstellungsweise wurde von den meisten Arbeiten in der Wrede-
Schule übernommen, findet sich aber dann auch in Dissertationen anderer Universitäten (vgl. z. B. Frisch 1911). Leihener (1908, XLII) schreibt: „Größere Schwierigkeiten bereitete es, meine Resultate kartographisch zur Anschauung zu bringen. Nach mehrfachen, sehr verschiedenartigen Versuchen habe ich mich entschlossen von einer Grundkarte mit aufzulegenden Pausblättern (vgl. Ramisch Bd. I = Ramisch 1908) abzusehen und dafür die beiliegende Karte entworfen [vgl. Karte 3.14.]. Auf ihr sind die in meinen Sammlungen vorkommenden dialektischen Teilstrecken, deutlich durch Absätze von einander geschieden, rot eingetragen und rot numeriert. Die Addition solcher Teilstrecken ermöglicht leicht einzelne Gebiete zu umgrenzen.“
Die Vorarbeiten zur Karte 3.14., soweit sie die Datenverarbeitung betreffen, können sowohl in tabellarischer als auch in Form von Pausblättern erstellt werden. Die endgültige Beschreibung für ein erhobenes Merkmal hat dann z. B. folgende Form: „Westgerm. au (ahd. ou). § 78. Wgm. au [...] (ahd. ou) (z. B. Auge, Glaube, bog, laufen) östlich (1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8) ō, innerhalb (3 + 4 + 5 + 6 + 18 + 16 + 47 + 35 + 29) ü˙e., innerhalb (18 + 7 + 17) ū(:), südlich von (8 + 17 + 16 + 15 + 14] ō, der übrige Nordwesten hat u“ (Leihener 1908, XLV).
Diese Beschreibung bezieht sich über die Ziffern direkt auf die Karte 3.14. In einem zweiten Schritt werden dann die Ergebnisse für die einzelnen erhobenen Merkmale kombiniert, indem gefragt wird, welche Teilstrekken bzw. welche Linien, die das gesamte Untersuchungsgebiet durchziehen, welche erhobenen Merkmale trennen bzw. umgrenzen. Im Ausschnitt hat eine solche Beschreibung dann folgende Form (Leihener 1908, LVII): § 90. Linie A = (1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8) Wenkers Ürdinger Linie oder ik-Linie (vgl. Anz. 18, 307) westlich östlich nhd. ich, mich, eχ, meχ, ek, mek dich, sich deχ, zeχ dek, zek wgm. ō ūe., ū: ō, ōa., ąu wgm. ō in Mutter ūe., u ō o, ūe., ū, o wgm. au (ahd. ou) ō wgm. au (ana. ō) ūe., ū: ōa., ō e īe., ēǝ. wgm. ai (ahd. ei) ē wgm. ē (ahd. ia) īe. ē, ęi (ich) bin zin, bøn zī: sei bøs zī haben (Infinitiv) han hęwǝn
3. Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie
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Karte 3.14: Kombinationskarte (aus Leihener 1908) Dann werden die Tabellen der vorstehenden Art ausgezählt und die Teilstrecken bzw. Linien in eine quantitative Rangordnung gebracht. Nach Leihener (1908, LXIV) trennt z. B. die Linie A 21 erhobene Dialektmerkmale und die Linie T = (14 + 15 + 16 + 18) 25 erhobene Merkmale. Solche Linien oder Teilstrecken, denen eine relativ hohe Ziffer zugeordnet werden kann, werden als dialektgeographische Hauptlinien aufgefaßt; diese spielen dann bei der räumlichen Abgrenzung von (Orts-)Dialekten eine zentrale Rolle. Aus diesem Grunde wird zusätzlich gefragt, ob solche Hauptlinien auch lexikalische Grenzen sind. Im Falle von Leihener konnte diese Frage für die untersuchten Teilstrecken und auf der Basis nur weniger Wörter bejaht werden (vgl. Leihener 1908, LXVI ff.). Die wortgeographische Beschreibung entspricht dann der lautgeographi-
schen und hat ausschnittsweise folgende Form, bezogen auf die Ürdinger Linie von Sonnborn bis Ronsdorf (3 + 4): „Für die Linie 1. = (3 + 4) sind nördlich vorhanden, südlich überhaupt nicht oder durch ein anderes Wort oder Redewendung, welche in Klammern nachgestellt sind, vertreten: „øŋǝrdē:l ‘Hinterflur’, štęntsǝn ‘wegjagen’ (štypǝn), šøtǝlręk ‘Schlüsselbrett’ (šøtǝlbręt), ręŋkǝn ‘Schuhschnallen’, kręï. ‘Krähe’ (krō:), šyfølšētǝn, šøruǝlsêtǝn, šyfǝln ‘Spiel, bei welchem mit Eisenplatten nach einem mit Geld belegten stehenden Holzstückchen geworfen wird’ (pølšǝsplętǝn), amzekǝ ‘Ameise’ (zekrōmǝl), kōpǝn ‘kaufen’ (gęilǝn), knędǝrn ‘schallend singen’, dǭrǝfīstǝr, kleŋkǝfīstǝr ‘Horcher’ (lūrzak), gǝrḗk ‘Gerätschaften’, tydǝrn ‘die Kühe weiter ab anpfählen’ (fȳranpølǝn), šrīrǝn ‘schleichen’, šōtǝlstǝr ‘Wassermolch’ (rot am Unterleib), knǫksǝn ‘mit dem Knöchel stoßen’ (knufǝn, nufǝn), [...]“ (Leihener 1908, LXVI f.).
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
74
Durch diese Beschreibung wird die Karte 3.14. — um es in der Terminologie von Siegel (196 4, 6 32) zu sagen — zur m i t t e l b a r e n Wortkarte; m i t t e l b a r wird diese Kartenart deswegen genannt, weil in solche Karten weder in phonetischer Umschrift Belegwörter noch in normaler Orthographie Leitwörter eingetragen sind. Aus den wortgeographischen Beschreibungen Leiheners und der Karte 3.14. lassen sich jedoch mühelos zahlreiche u n m i t t e l b a r e Wortkarten erarbeiten, d. h. Leiheners Arbeit enthält implizit einen kleinräumigen Wortatlas; immer dann, wenn ein Wort oder eine Redewendung in Klammern nachgestellt wird, kann eine Heteronymenkarte gezeichnet werden (vgl. Abb. 3.3.). Schematisch dargestellt ergäbe sich für wegjagen:
Abb. 3.3: Schema zur wortgeographischen Dar- stellung bei Leihener (1908) Andere Wrede-Schüler kommen in den frühen Arbeiten der DDG hinsichtlich der lexikalischen Grenzen zu anderen Ergebnissen als Leihener (vgl. z. B. Kroh 1915 und Böhmer 1909). Dadurch bleibt die Rolle der dialektalen Lexik bei der Abgrenzung von Ortsdialekten relativ unbestimmt. Die Fragestellungen hinsichtlich der Lexik und die Anwendung und die spezifische Ausprägung der wortgeographischen Methode in den frühen Anschlußarbeiten zum Sprachatlas des Deutschen Reiches waren von der Lautgeographie bestimmt (vgl. dazu Wiegand/Harras 1971, 28 ff.). Erst langsam, und zwar vor allem unter dem Einfluß der Dialektlexikographen wurde die dialektgeographische Methode — auch im Bereich der Datenerhebung — verfeinert und unter Fragestellungen angewandt, die für lexikalische Einheiten spezifisch waren. So schreibt z. B. Lenz bereits 1898 in der Einleitung zu seinem „Vergleichenden Wörterbuch der neuhochdeutschen Sprache und des Handschuhsheimer Dialekts“: „Ein
[...]
Ideal
der
deutschen
Sprachfor-
schung ist es, von jedem einzelnen Wort unserer Sprache die g e n a u e g e o g r a p h i s c h e Ve rbreitung innerhalb des ganzen deutschen Sprachgebiets zu kennen und kartographisch festgelegt zu sehen. Ein solches [...] Werk wäre von unschätzbarem Wert für die Sprachforschung überhaupt und für die Geschichte unserer Muttersprache insbesondere, ferner für die Kenntnis der Verbreitung und Wanderung der Wörter [...], für die Lokalisierung alter Sprachdenkmäler, für die Geschichte der deutschen Stämme und für die Kulturgeschichte. Auf die Entstehung unserer Schriftsprache würde manches neue Licht fallen“ (Lenz 1898, 1).
Hier wird bereits relativ vollständig angegeben, zu welchen Forschungszwecken die Ergebnisse der Wortgeographie dienen können (vgl. dazu auch Peßler 1933, 34 ff.). Die Dialektlexikographen legen seit Fischers Vorrede im Schwäbischen Wörterbuch (vgl. dazu Berthold 1924/25, 223) zunehmend Wert darauf, die Verbreitung der Wörter möglichst genau anzugeben, nachdem Schwartz (1895) in einer Einzelstudie auf die in dieser Hinsicht (Lokalisierung der Belege) mangelhaften Idiotika aufmerksam gemacht (1895, bes. 255 ff.) und den Geltungsbereich einer Wortgruppe auf einer Karte vermerkt hatte. Dazu verschickten sie spezielle wortgeographische Fragebogen (vgl. z. B. den Fragebogen Nr. III des Rheinischen Wörterbuchs von 1908 oder Nr. XV von 1911). Wrede startete als Leiter des Hessen-Nassauischen Wörterbuchs 1913 eine Postkartenumfrage, die noch sehr deutlich zeigt, wie unerfahren man war. Die Postkarte trug den Text: „In der hiesigen Ortsmundart sagt man für Sonnabend ... Nachmittag ... Leichenbegängnis ... Kirmes ... Eidechse ... Sichel ... Spreu ... Jauche ... pflügen ... weinen ... kämmen ... (auf dem Eise) gleiten ...“ Dieser Text zeigt, daß z. B. die Problematik der Echoformen noch nicht bekannt war. Die Initiativen der Dialektlexikographen führten — da die Wörterbuchareale bereits relativ groß waren (vgl. Art. 79) — zu einer Ausprägung der Wortgeographie, in der die Datenerhebung indirekt vorgenommen wurde (vgl. 4.6.). In der Wrede-Schule wurde jedoch auch eine andere Ausprägung der Wortgeographie entwickelt, in der die Datenerhebung direkt vorgenommen wurde. Diese eignete sich — sollte die Belegortdichte nicht sehr gering sein — nur für kleinregionale Unter-
3. Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie
suchungen. Beispiele hierfür sind Wenzel (1930) und Leinweber (1936 ). Bei beiden Arbeiten handelt es sich um kleinräumige Wortatlanten. Die — von Martin betreute — Arbeit von Wenzel, die u. a. in Schwing (1921) und Kober (1921) Vorläufer hat, ist in verschiedener Hinsicht methodisch vorbildlich und kommt zu zahlreichen neuen Ergebnissen zur dialektalen Lexik. Um Echoformen zu verhindern, entwickelt Wenzel verschiedene Fragearten, die alle so angelegt sind, daß das hochdeutsche Wort, das den erfragten Begriff bezeichnet, in der Frageäußerung nicht genannt wird (Wenzel 1930, 3—5). Wenzel erweitert auch die Fragestellungen. Einerseits stellt er Fragen, die sich nur auf die Verhältnisse im Untersuchungsraum beziehen, so z. B., wenn nach den extralingualen Ursachen für lexikalische Grenzen im Untersuchungsraum gefragt wird; andererseits jedoch stellt Wenzel zahlreiche generelle Fragen, deren Beantwortung für die wortgeographische Methode und dialektologische Lexikologie relevant ist.
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Abb. 3.4: Schematische Darstellung der acht Grundtypen für das Vordringen von Wörtern (aus Wenzel 1930, 107) Wenzel entwirft als erster eine Typologie von acht Grundtypen für das Vordringen von Wörtern. Die Grundtypen stellt er wie folgt dar, wobei v = vorrückendes Wort, z = zurückweichendes Wort und m = Mischform bedeutet (vgl. Abb. 3.4.). Alle 104 Wortkarten ordnet er entweder einem der acht Grundtypen zu oder zeigt, auf welchen Karten Mischtypen vorliegen. Die Karte 3.15. gehört z. B. zum vierten
Karte 3.15: Wortkarte ‘auf dem Eise gleiten’ (aus Wenzel 1930, Karte 9)
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Grundtyp; v ist in das Gebiet von z wie im dritten Grundtyp eingedrungen und hat dann das z-Gebiet abgeschnürt, das als Reliktgebiet erhalten ist. Wenzel bleibt nicht bei der Beschreibung von Einzeltatsachen und einer deskriptiven Typologie stehen, sondern er versucht auch entsprechende Erklärungen. Er fragt z. B. nach den optimalen Bedingungen für das Vordringen (§ 149), nach den Gründen für das Veralten von Dialektwörtern (§ 152); nach den Bedingungen dafür, daß veraltende Wörter dennoch weiter verwendet werden (§ 155). Dabei entdeckt er das Phänomen der Bedeutungsdifferenzierung an Wortgrenzen als schematisches Ausgleichsphänomen (vgl. dazu auch Berthold 1938, 101 ff.; hier sind die Karten 14 und 58 aus Wenzel [1930] abgebildet). Außerdem erkennt Wenzel Zusammenhänge zwischen semantischer Differenzierung und Pejorisierung („Bedeutungssenkung“; Wenzel 1930, 127). Unabhängig von Peßler (1924/25 und 1928) und von v. Künßberg,
dem Begründer der historischen Wortgeographie (vgl. von Künßberg 1926 , 29 u. Deckblatt 2 u. Munske 196 8, 357) erkennt Wenzel die Notwendigkeit, zwischen Bezeichnungs- und Bedeutungskarten zu differenzieren (vgl. Wenzel 1930, 313); er zeichnet auch die ersten drei Bedeutungskarten der Marburger Schule (vgl. Karte 3.16 .). — Die Arbeit von Leinweber (1936 ) zeigt dann, daß die Generalisierung, die Wenzel vorgenommen hatte, auch auf Grund der direkten Erhebungen in einem anderen Untersuchungsgebiet bestätigt werden kann. 4.6. Die Entstehung und frühe Entwicklung der gesamtdeutschen Wortgeographie Die Forderung nach einer gesamtdeutschen Wortgeographie wurde vor allem von den Dialektlexikographen gestellt (vgl. das LenzZitat unter 4.5.). Der erste Versuch kam jedoch nicht aus dem Kreis der Wörterbuchmacher, sondern er wurde von dem GötzeSchüler Ricker (1917) vorgelegt. Dieser un-
Karte 3.16: Bedeutungskarte ‘das Viergebein’ (aus Wenzel 1930, Karte 94)
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tersuchte die „landschaftliche Synonymik“ zu Töpfer, Böttcher und Tischler. Die Arbeit weist allerdings methodische Mängel auf. Das Material gewinnt Ricker sowohl aus allgemeinen Wörterbüchern, Glossaren und Dialektwörterbüchern als auch durch eine „Umfrage bei Lehrerseminaren und Präparantenanstalten“ (Ricker 1917, 10). Geht man die Liste der 114 als „Dialektwörterbücher“ qualifizierten Titel durch (Ricker 1917, 13—19), erkennt man, daß sie in einem Zeitraum von ca. 200 Jahren verfaßt sind; dennoch heißt es: „Die Karten beziehen sich nur auf die G e ge n wa r t und auf die M u n d a r t“ (Ricker 1917, 141). Da aber allenfalls ein Dutzend der benutzten Dialekt-Wörterbücher — bei einer weiten Auslegung von Gegenwart — damals rezente Dialektdaten bieten, kann Ricker für die Kartierung fast nur auf die Angaben der wenigen Fragebogen zurückgreifen. Die Kartierung ist relativ ungeschickt. Als Grundkarte wird die Einteilungskarte Behaghels im Maßstab 1 : 6 Mio. verwendet (vgl. Behaghel 1891), allerdings ohne jeden Ortspunkt. Stattdessen werden die Grenzen von 44 politischen Bezirken eingetragen und diese Areale numeriert. In der Legende werden farbigen Symbolen die Heteronymentypen zugeordnet und den Sondermeldungen ihre Abkürzungen. Die Symbole und Abkürzungen werden in die numerierten Areale gesetzt. „Die farbigen Zeichen deuten jeweils auf den Namen hin, der in dem betr. Orte gebraucht wird, an dessen Stelle das Zeichen steht“ (Ricker 1917, 141). Das mag sein; nur sind die Orte meistens nicht identifizierbar. Im Bezirk 17 (Oberhessen) z. B. ist bei Behaghel kein Ortspunkt; bei Ricker auf der Karte „Der Töpfer“ aber sechs Symbole für den Typ Hafner und zwei für Euler. In der zugehörigen Beschreibung findet man aber für den Typ Hafner nur vier dialektale Belege: Eschenrod: hewener, Muschenheim: haewǝnǝr, Butzbach: hewǝrǝr, Friedberg: Häwener (Ricker 1917, 38). Die sechs Kartensymbole können daher den vier Belegen nicht zugeordnet werden. Dies gilt auch für fast alle anderen Bezirke. Trotz der hier genannten Mängel liegt — nach den hier angewandten Kriterien (daß sowohl eine spezifische wortgeographische Datenerhebung als auch eine kartographische Datenverarbeitung zur Wortgeographie gehört) — mit Ricker die erste Arbeit zur gesamtdeutschen Wortgeographie vor (vgl. auch Goossens 1977, 117).
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Wichtiger als dieser erste Versuch für die frühe Entwicklung der germanistischen Wortgeographie wurde die, vom deutschen Wörterbuchkartell, das am 2. Okt. 1913 in Marburg gegründet worden war, gemeinsam durchgeführte Datenerhebung und von Martin vorgenommene Verarbeitung dieser Daten (vgl. Karte 3.17.). Im September 1921 wurde auf der Jenaer Konferenz der Wörterbuchleiter beschlossen, einen Fragebogen für das gesamte deutsche Sprachgebiet zu verwenden. Martin (1924/25, 65) führt aus: „Der Einfachheit halber, um lange Debatten über die Auswahl der Fragebogen zu vermeiden, wurden die beteiligten Wörterbuchunternehmungen gebeten, aus Kretschmers Wortgeographie der hd. Umgangssprache 81—288 die Begriffe auszuwählen, die ihnen für ihr Gebiet aussichtsreich für eine wortgeographische Bearbeitung zu sein schienen. Aus den in Marburg eingelaufenen Vorschlägen wurden dort durch eine Art Abstimmung die 24 Fragen bestimmt, welche in den Fragebogen aufzunehmen waren. Jede der 24 Fragen ist mindestens sechsmal gefordert worden. Selbstverständlich wurde außerdem die Brauchbarkeit der einzelnen Frage für das Gesamtgebiet noch einmal überprüft. Denn die Formulierung der Fragen war durchaus nicht leicht [...]. Galt es doch verständlich zu sein an den Karpaten sowohl wie am Kanal, in Riga wie in der Schweiz. Deshalb wurde auch bei den Fragen 5, 11, 13, 18 und 23 eine einfache Zeichnung zu Hilfe genommen [...]. Weiter wurden, um Mißverständnissen vorzubeugen, die Synonyme Kretschmers aus der Umgangssprache beigefügt. Von Beispielen oder Beispielsätzen wurde, um Beeinflussung zu vermeiden, abgesehen. Ebenso war es untunlich, für die Abfassung der Antwort Vorschriften zu geben (phonetische Umschrift oder irgendwelche Schreibung usw.).“
Der Fragebogen ist bei Martin (1924/25, 6 6 f.) abgedruckt; Abb. 3.5. zeigt einen Ausschnitt aus der ersten handschriftlichen opelographisch vervielfältigten Auflage. Eine vollständige Wiedergabe eines ausgefüllten Fragebogens aus der 2. gedruckten Auflage findet sich bei Wiegand/Harras (1971, 189— 192). Dieser e r st e Fragebogen des Wörterbuchkartells enthält die Fehler der Postkartenumfrage von 1913 nicht mehr (vgl. 4.5.). Nachdem Martin auf der Wörterbuchkonferenz in Münster am 23. Sept. 1923 Zwischenergebnisse in Form von Typenskizzen für die Heteronyme zur Frage 21 (Hefe), 13 (Rechen), 16 (Klempner) und 12 (Jauche) vorgelegt und diskutiert hatte, publizierte er im 1. Jahrgang des Teuthonista die Grundkarte sowie das erste Pausblatt mit der kartogra-
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Abb. 3.5: Ausschnitt aus der ersten Auflage des ersten Fragebogens des Wörterbuchkartells (aus DSAArchiv)
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Karte 3.17: Wortkarte ‘Rechen’ (aus Martin 1924 (1980), Karte 13)
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phischen Verarbeitung der Antworten auf die Frage 21 „Der auftreibende Zusatz zum Kuchenteig (städtisch: Bärme oder Gest oder Hefe oder Rasche oder Trieb oder Gerbe, Germ)“. Insgesamt bearbeitete Martin dreizehn der 24 Fragen (vgl. Martin 1924/25, 1924/25 a, 1924/25 b, 1925/26 , 1925/26 a, 1926 /27, 1926 /27 a, 1927/28, 1928/29, 1929/30, 1931/32, 1933, 1934 sowie den Wiederabdruck in Martin 1980 mit Kartenbeilage) und schuf damit den ersten gesamtdeutschen Wortatlas (vgl. auch die Einschätzung bei Bretschneider 1980, 179). Am 3. Oktober 1925 wurde auf der Erlanger Wörterbuchkonferenz beschlossen, einen z we i t e n wortgeographischen Fragebogen zu erarbeiten; in die Vorbereitungskommission wurden Teuchert, Martin und Wilhelm gewählt. Auf der Göttinger Wörterbuchkonferenz vom 1. 10. 1927 wurde dieser Fragebogen von Martin erläutert und diskutiert. Er wurde zwar anschließend noch verschickt, aber zu einer zentralen Auswertung in Marburg kam es nicht mehr. Dieser Fragebogen ist — besonders in seinem Anweisungsteil — erneut verbessert und berücksichtigt die bereits in Martin (1924/25) gemachten Vorschläge. Ein in Conradswalde, Kreis Königsberg ausgefülltes Exemplar ist abgedruckt bei Wiegand/Harras (1971, 193—196). Hübner (1928, 571 ff.) hat die wortgeographischen Arbeiten Martins einer scharfen Kritik unterzogen. Auch zur Aufnahme von Wortkarten in die erste Lieferung des Hessen-Nassauischen Volkswörterbuches (die auf Bretschneider zurückgeht; vgl. Bretschneider 1978, 75), äußerte er sich sehr kritisch (vgl. Hübner 1928) und fordert nachdrücklich einen gesamtdeutschen Wortatlas. Auf der Wörterbuchkonferenz in Salzburg am 24. Sept. 1929 kommen die scharfen Angriffe Hübners zur Sprache, und aus dem Protokoll dieser Konferenz (vorhanden im DSA-Archiv) läßt sich der wissenschaftspolitische Hintergrund rekonstruieren. Nachdem sich Martin gegen Hübners Angriff u. a. mit der Feststellung verteidigt hat: „Unser Werk soll keinem großen Nationalwerk im Wege sein, sondern eine wertvolle Vorarbeit dazu bilden“, erklärt Wrede u. a.: „Zur Frage Hübner: Da haben sich die hältnisse etwas geändert. Ich muß gestehen, eine Äußerung über unsere Wortgeographie in SA-Rezension nicht hineingehört. [...] Hübner
Verdaß die hat
damals [als er die Rez. schrieb] noch die Absicht gehabt, den Plan von Roethe durchzuführen, nämlich einen für sich bestehenden deutschen Wortatlas als Unternehmen der Preußischen Akademie/Berlin.“
Es war dann Mitzka, der den DWA verwirklichte.
5.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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tion und Terminologienormung — Kritik und Vorschläge. In: Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. Gedenkschrift für Univ.-Prof. Dr. Eugen Wüster. Hrsg. von Helmut Felber. Friedrich Lang. Gernot Wersig. München. New York. London. Paris 1979, 101—148. Wiegand/Harras 1971 = Herbert Ernst Wiegand unter Mitarbeit von Gisela Harras: Zur wissenschaftshistorischen Einordnung und linguistischen Beurteilung des Deutschen Wortatlas. Hildesheim 1971 (Germanistische Linguistik 1—2/71). Wiesinger 1976 = Peter Wiesinger: Die Wiener dialektologische Schule. In: Festgabe für Otto Höfler. Hrsg. v. Helmut Birkhan. Stuttgart 1976 , 661—703. Wix 1921 = H. Wix: Studien zur westfälischen Dialektgeographie im Süden des Teutoburgerwaldes. Mit einer Karte. Marburg 1921 (Deutsche Dialektgeographie IX). Wrede 1892 = Ferdinand Wrede: Fuldisch und Hochfränkisch. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 36. 1892, 135—145. Wrede 1895 = Ferdinand Wrede: Über richtige Interpretation der Sprachatlaskarten. Vortrag gehalten in der germanistischen Section der 43. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Köln am 26 . September 1895. In: Der Sprachatlas des Deutschen Reichs. Dichtung und Wahrheit. Marburg 1895, 31—52. Wrede 19 0 2 = Ferdinand Wrede: Ethnographie und Dialektwissenschaft. In: Historische Zeitschrift 88. NF 52. 1902, 22—43 [Auch in Wrede 1963, 294—308]. Wrede 190 3 = Ferdinand Wrede: Der Sprachatlas des Deutschen Reichs und die elsässische Dialektforschung. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 111. 1903, 29—48 [Auch in: Wrede 1963, 309—324]. Wrede 190 8 = Ferdinand Wrede: An Georg Wenker. In: Deutsche Dialektgeographie I. 1908, VII—XIII. Wrede 190 8 a = Ferdinand Wrede: Die Diminutiva im Deutschen. In: Deutsche Dialektgeographie 1. 1908, 71—144. Wrede 1913 = Ferdinand Wrede: Kurzes Protokoll der Wörterbuch-Conferenz. [Marburg, 2. Oktober 1913], als Manuskript gedruckt. Marburg 1913. Wrede 1914 = Ferdinand Wrede: Das HessenNassauische Wörterbuch. Dank und Bitte an seine Helfer in Nassau. o. O. 1914. Wrede 1919 = Ferdinand Wrede: Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Mundartforschung. In: Zeitschrift für deutsche Mundarten 20. 1919, 3—18 [Auch in: Wrede 1963, 331—344]. Wrede 1919 a = Ferdinand Wrede: [Sammelrez.]: Die mundartliche Wortgeographie. In: Zeitschrift für deutsche Mundarten 20. 1919, 84—88. Wrede 1921 = Ferdinand Wrede: Mundartforschung. In: Velhagen und Klasings Monatshefte
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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4. 1. 2. 3. 4. 5.
1.
1926, 168—170. Wrede 1963 = Ferdinand Wrede: Kleine Schriften. Hrsg. von Luise Berthold. Bernhard Martin. Walther Mitzka. Marburg 196 3 (Deutsche Dialektgeographie 60).
Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke, Marburg;Herbert Ernst Wiegand, Heidelberg
Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren Voraussetzungen Dialektgeographie in der kulturräumlichen Synopse Dialektgeographie als Forschungsinstrument für Kulturwissenschaft Kritische Würdigung der kulturmorphologischen Leistung Literatur (in Auswahl)
Voraussetzungen
Einleitend gilt es, einige Fragen der Abgrenzung und der Definition zu klären. Mit dem Thema ‘Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren’ sollen die Erkenntnisse zur Sprache kommen, bei denen die Dialektgeographie tonangebend in Verbindung zu anderen Kulturwissenschaften trat und Einsichten in kulturräumliche Struktur und Dynamik zutage förderte (vgl. Art. 97). Begriffliche Vorabklärung gebührt an erster Stelle dem Terminus Kulturmorphologie. Es handelt sich hier nicht um einen Begriff Spenglerscher Prägung, bei dem unter Anwendung biologischer Begriffe Kulturstile in Werden, Kulmination und Vergehen beschrieben werden (Spranger 1936 , 2 ff.). Vorbild der Kulturmorphologie im hier verwandten Sinn war vielmehr die Kulturkreislehre, die Lehre von der Verbreitung von Kulturtypen über die Erde, für die Geographen und Völkerkundler wie Ratzel, Bastian, Frobenius, P. Schmidt, Graebner, Kroeber Anregung und Ausformung gaben (Aubin/Frings/Müller 192 6 , VII; Mitzka 1952, 16 5; Schöller 196 0, 6 72 ff.). Kulturmorphologie, seltener auch ‘Kulturbiologie’ genannt (vgl. Aubin 1939, 46 ff.; Martin 1959, 97), bedeutet demnach soviel wie ‘Kulturraumforschung’ (Aubin 1952/196 5, 103).
Zu beachten ist dabei, daß bei Übernahme des Begriffs durch Dialektgeographie und geschichtliche Landeskunde der dynamische Aspekt, das Moment des Wandels im Raum, von Anfang an besondere Beachtung erfuhr (Frings 1928, 105; Aubin 1952/196 5, 103). Wichtig für das richtige Verständnis von Kulturmorphologie im Sinne von Kulturraumforschung ist ferner, daß sich ‘Raum’ nicht auf das Areal als solches, sondern auf die Menschen bezieht, die darin wohnen (Bach 1950 a, § 55). Ebenso meinen die von der wissenschaftlichen Geographie mit Vorbehalt (Hard 196 6 , 13; 6 2) verwandten Begriffe ‘Dialektgeographie’ und ‘Kulturgeographie’ primär nicht Zusammenhang mit Gegebenheiten der natürlichen Landschaft, sondern Verbreitung von durch Menschen getragenen Dialektbzw. Kulturerscheinungen im Raum (vgl. Peßler 1933, 6 ; Weiß 1952, 367). Voraussetzung für die kulturmorphologische Leistung der Dialektgeographie sind die Arbeiten der ‘klassischen Dialektgeographie’ (vgl. Art. 3). Die Synchronie der für den Wenkerschen Sprachatlas erfragten zahlreichen Dialekterscheinungen im Verein mit dem sehr dichten Belegnetz ermöglichte die Findung einer außerordentlichen Fülle von Isoglossen. Die räumlichen Strukturen, die dabei in Bündelungen verschiedener Stärke zum Vorschein kamen, wurden extralinguistisch gedeutet. Unter den zur Erklärung herangezogenen Fakten fehlen zwar solche der natürlichen Gliederung nicht, vorrangig sind aber kulturelle Gegebenheiten im weitesten Sinn: die vereinheitlichende Kraft politischer Verwaltungsbezirke, kirchlich und konfessionell bestimmte Bindungen, der Einfluß von Wirtschaft, Industrie und überlegener, meist städtischer, Zentren, Fakten
4. Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren
der Siedlungsgeschichte und des geschichtlichen Kontaktes verschiedener Ethnien, die Wirkungen des Verkehrs auf großen Straßen und Flüssen. Außersprachliche Erklärungen dieser Art erwiesen sich als überzeugend und kaum widerlegbar. Es war daher nicht erstaunlich, daß in einer kopernikanischen Wendung die Reihenfolge vertauscht wurde: Wenn sprachliche Strukturen durch kulturell e Faktoren erklärt werden konnten, konnten umgekehrt Sprachstrukturen und Sprachströmungen kulturelle Zusammenhänge und Entwicklungen erhellen. Legitimiert wurde diese Umkehrung vor allem durch Erkenntnisse darüber, wie schnell der Dialekt auf alle, auch geringfügige, kulturelle Veränderungen in der Landschaft reagiert. Diese ‘seismographische’ Empfindlichkeit (Möhn 196 3, 342) des Dialekts berechtigte dazu, ihn nun seinerseits als selbständiges Instrument einzusetzen, von dem man sich Aufklärung über kulturelle Vorgänge erhoffte, auf die geschichtlich wenig oder kein Licht fiel, also z. B. auf Fragen der Siedlerherkunft, des Zustandekommens nationaler Sprachgrenzen, der Zusammenhänge germanischer Stämme, aber auch auf Einflußbereiche von Städten und Erkenntnisse über vertikale Schichtungen der jüngeren und jüngsten Zeit. Die Forschungen, die sich aus dieser Funktion der Dialektgeographie ergaben, lassen im wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick zwei Stränge erkennen, die die Gliederung dieser Darstellung bestimmen sollen. Der eine ist dadurch gekennzeichnet, daß Dialektgeographie und andere Kulturwissenschaften, insbesondere Geschichte, Volkskunde und Kunstwissenschaft, in partnerschaftlichem Verhältnis versuchten, Kulturräume herauszuarbeiten. Ziel war eine Synthese, zu der viele Wissenschaftszweige beitragen sollten. Die Dialektgeographie war freilich dabei primus inter pares. Ihre methodischen Erkenntnisse und technischen Verfahrensweisen waren anregendes Vorbild auch dann, wenn sich über die erstrebte Synthese hinaus die anderen Wissenschaften in ihren geographischen Bemühungen verselbständigten. — In einem zweiten Strang der wissenschaftlichen Entwicklung wurden die Ergebnisdarstellungen der Dialektgeographie als Forschungsinstrument eingesetzt, mit dessen Hilfe Erkenntnisse für andere Wissenschaftszweige gewonnen wurden. Sie kamen vor allem der Geschichtswissenschaft zugute.
2.
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Kulturräumliche Synopse unter Führung der Dialektgeographie
2.1. Geschichte der Forschung ‘Markstein’ (Martin 1959, 98) der von der Dialektgeographie ausgehenden kulturmorphologischen Synthesen ist das 1926 erschienene Gemeinschaftswerk der drei in Bonn tätigen Gelehrten H. Aubin, Th. Frings und J. Müller, ‘Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden’. Unter den Wegbereitern dieser wissenschaftsgeschichtlich bahnbrechenden Veröffentlichung ist F. Wrede, G. Wenkers Nachfolger im Sprachatlas, selbst zu nennen, der schon früh, angeregt durch die Kulturkreislehre der Völkerkunde (Bach 196 0, § 50), nicht nur die Wortgeographie, sondern auch die Volkskunde auf die nach dialektgeographischem Vorbild zu leistende Aufgabe der Kulturgeographie nachdrücklich hinwies (Wrede 1902/196 3; 1921/196 3, 351 f.; vgl. auch 1924, 270 ff. u. Art. 3). Im Gefolge Wredes erörterte K. Wagner (1922, 1 ff.) an Beispielen solche Möglichkeiten geographischer Betrachtung volkskundlicher Erscheinungen und forderte (1926 , 293) Einordnung der dialektgeographischen Ergebnisse in kulturelle Bezüge. A. Bach begann, die am Sprachatlas erprobten Methoden auf die Namengeographie zu übertragen (1923; 1924; 1927; 1935; vgl. Aubin 1930/1965, 51 f.). Frühe Forderungen nach synthetischem Vorgehen kamen aus der Heiligenforschung (Trier 1926 ). Als eine Vorstudie zu den ‘Kulturströmungen’ ist die Gemeinschaftspublikation von Th. Frings und E. Tille (1925) zu betrachten; der auf kulturelle Faktoren zurückgeführte Aufriß rheinischer Sprachstruktur und -dynamik wird bestätigt von der Verbreitung rheinischer Gesindetermine. Die Synthese der ‘Kulturströmungen’ von 1926 wird von drei Wissenschaften getragen: von Geschichte (Aubin), Dialektgeographie (Frings) und Volkskunde (Müller). Für den geschichtlichen Beitrag ist kennzeichnend die Vielfalt der Aspekte, die neben Staatsgeschichte und Kirchengeschichte auch Volksgeschichte, dynastische Zusammenhänge, Verkehrsbeziehungen und natürliche Voraussetzungen einbezieht. Aubins durch Karten unterstützte Darlegungen über die kulturelle Bedeutung der Territorien vom 13. bis zum 19. Jh. lieferten Frings die Grundlage für die Erklärung des sprachlichen Geschehens: An ihren Grenzen haben sich überlandschaftlich längs der Rheinstraße verlau-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
fende Sprachbewegungen in Isoglossen gestaut. Die mit zahlreichen Spracherscheinungen belegten Barrieren von Hunsrück, Eifel und Erft beruhen auf den historisch gewachsenen Kulturräumen von Mainz, Trier und Köln (mit Jülich und Berg). Klassisch gewordenes Anschauungsbeispiel ist der ‘Rheinische Fächer’, der anhand von Beispielen der zweiten Lautverschiebung das Zusammengehen von Sprach- und Territorialgrenzen illustriert (Aubin/Frings/Müller 192 6 , 183, Abb. 65). Dem Beitrag J. Müllers liegt ein volkskundlicher Fragebogen von 1922 zugrunde, mit dessen Hilfe durch — erstmalige — Ortfür-Ort-Befragung in einem größeren Gebiet Methode und Ziel des Sprachatlasses verfolgt werden konnten. In vorsichtiger Interpretation von ausgewählten Themen (Gesindetermine, Jahresfeuer, Königswahl auf Dreikönige, Sternsingelied, Lieder an den Marienkäfer) und in Kenntnis unkartierten Materials konnte Müller den horizontalen Verlauf der Sprachgrenzen in vielen Fällen bestätigen, die Wirkung der Rheinstraße nachweisen und Kultureinflüsse von West und Ost aufzeigen. Geplant war noch ein vierter Beitrag durch den Vertreter der Kunstgeschichte, H. Reiners. Er entfiel wegen dessen Weggang aus Bonn. Die Kunstgeschichtler, insbesondere W. Zimmermann, haben aber später mit einschlägigen Arbeiten die Synthese vervollständigt (z. B. Zimmermann 1950/51; 1952; vgl. Hausherr 196 5; Aubin/Frings/Müller 196 6 , 91; Aubin 1952/196 5, 107). Der Beweis war erbracht, daß „die Güter der ober- wie der unterschichtlichen Kultur“ in ihrer räumlichen Verbreitung nach den gleichen Gesetzen gestaltet werden wie die Sprache, die ja nur einen Sonderfall des gemeinschaftsgebundenen kulturellen Lebens einer landschaftlichen Menschengruppe darstellt“ (Bach 1934, 123). Entscheidend für die Herausbildung dieses neuen Verständnisses historischer Landschaften als Kulturlandschaften war die Zusammenarbeit, die „wechselseitige Erhellung“ von Aubin und Frings (1926 , VII) im 1919 gegründeten Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn. Beider Blick war auf die Landschaft gerichtet. Frings hatte, auf Wrede aufbauend und ihn weiterführend, in gestraffter Konzeption ein großes Teilgebiet des deutschen Sprachraums, das Rheinland, erschlossen (Frings 1922), indem er dessen
Sprachbild der Gegenwart als Niederschlag großräumiger Sprach- bzw. Kulturbewegungen begriff und zu einer Kulturbiologie umschuf (Martin 1959, 97 f.). Aubin, durchdrungen von der Bedeutung des Raumgedankens für die Geschichte, war überzeugt von den Erkenntnismöglichkeiten auch für die allgemeine Geschichte, die eine geschichtliche Landeskunde bieten könnte (Aubin 1925/196 5, 18 f.). Vor allem für Fragen von ‘Massenerscheinungen’, die in kleinerem Raum intensiv zu erheben sind, betrachtete er die Landeskunde als kompetent. Da kam ihm die Dialektgeographie in ihrer „unübertrefflichen Anschaulichkeit und Genauigkeit von Ort zu Ort“ sehr zustatten (Aubin 1925/19 6 5, 21; Aubin/Frings/Müller 1926 , VII): „Ich kenne kein besseres Hilfsmittel, um die Bewegungsprinzipien der Massenerscheinungen und ihren Verlauf aufzudecken“ (Aubin 1925/1965, 22). Frings und Aubin trafen sich auch im Bemühen, Kulturräume zu erfassen; Frings, indem er in extralinguistischer Deutung die Wirkung von Territorien auf das Sprachgeschehen nachwies und diese in Übereinstimmung mit Aubin als ‘Kulturprovinzen’ begriff (vgl. auch Frings 1930/1956 II, 22—39), Aubin aus seinem interdisziplinären Verständnis von geschichtlicher Landeskunde, die „in inniger Zusammenarbeit aller geschichtlich gerichteten Fächer“ — er nennt Archäologie, Kunstgeschichte, Sprachwissenschaft, Volkskunde, Kirchengeschichte, Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, historische Soziologie — die das Volksleben bestimmenden Kräfte in den verschiedenen Epochen aufspürt (Aubin 1925/196 5, 17 f., 24) —, eine Auffassung, die z. B. in J. Nießens ‘Geschichtlichem Handatlas der Rheinprovinz’ beispielgebenden Niederschlag fand (1926 , 1950; vgl. Martin 1959, 136 ). Dieser interdisziplinären Ausrichtung von Aubin und Frings entsprach es, die Anwendung der geographischen Methode auch in anderen Kulturwissenschaften zu fördern. Folgenreich war ihre Unterstützung von Plan und Verwirklichung eines Atlas der deutschen Volkskunde, für den der Kulturgeograph W. Peßler schon seit 1907 mit dem Plan einer deutschen Volkstumsgeographie in mehreren Veröffentlichungen eingetreten war. Bereits 1906 hatte er in seiner Arbeit über ‘Das sächsische Bauernhaus in seiner geographischen Verbreitung’ auf die Verwandtschaft der Haustypengrenze mit der niederdeutsch/hochdeutschen Dialektgrenze
4. Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren
hingewiesen. 1924/25 forderte er den Vergleich von Wortkarten und ethnographischen Karten und führte ihn 1925 in ‘Der niedersächsische Kulturkreis’ selbst durch anhand von Karten zu volkskundlichen, wortgeographischen, archäologischen und anthropologischen Erscheinungen. Auch mit seinen Arbeiten über ‘Wörter und Sachen’ stand er der Kulturraumforschung nahe. Durch die beratende Mitwirkung von Aubin, Frings, Müller und Wrede kamen die am Sprachatlas gewonnenen Einsichten und Methoden dem neuen Unternehmen zugute (Hübner 1928; Maurer 1931/196 4, 70 ff.; Bach 196 0, §§ 50 f.; Peßler 1933 a, 2 f.; Mitzka 1950, 134). Aubin und Frings begründeten ihre Unterstützung mit dem zu erwartenden kulturmorphologischen Ertrag (Aubin 1928, 107 ff.; 1930/196 5, 50; Frings 1928, 90 ff.). — Beratung und Unterstützung durch die beiden Gelehrten wurde auch dem Rechtshistoriker E. von Künßberg zuteil, dessen ‘Rechtssprachgeographie’ fast gleichzeitig mit den ‘Kulturströmungen’ erschien (v. Künßberg 1926 /1927, §§ 1 ff.; Frings 1928, 93; Aubin 1930/196 5, 54; 1952/196 5, 107; vgl. auch Frölich 1934; 1937). Unter dem Eindruck der ‘Kulturströmungen’ stand auch die Umgestaltung von R. Holstens ‘Sprachgrenzen im pommerschen Plattdeutsch’, die die erste, ausschließlich auf dialektgeographischem Material beruhende Auflage (1913) um Verbreitungsgrenzen zu Recht, Kirchenbau, Hausbau und anderen Erscheinungen des Volkslebens vermehrte und die Ursachen der Grenzbildungen aus der Geschichte der Ostkolonisation erklärte, mit dem Ziel, für Pommern Ähnliches zu erreichen wie Aubin und Frings für die Rheinlande (Holsten 1928, 9—13). Durch Berufung an ostmitteldeutsche Universitäten, Frings 1927 nach Leipzig, Aubin 1929 nach Breslau, wurde das Gebiet der Neustämme in die kulturräumliche Betrachtung einbezogen. Während Aubins Bemühungen in Breslau um eine neue Synopse letztlich daran scheiterten, daß sich dort für den führenden Part der Dialektgeographie kein Bearbeiter fand, glückte es Frings, Mitarbeiter für ‘Kulturräume und Kulturströmungen im mitteldeutschen Osten’ zu finden, und zwar Kötzschke für Geschichte, Ebert für ‘natürliche Grundlagen’, Streitberg für Volkskunde (Ebert/Frings/Gleißner u. a. 1936 ). Neu war die Bearbeitung der Wortgeographie (Gleißner), die 1926 wenig zum
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Zug gekommen war. Aber wie 1926 entwarf Frings auch hier anhand der Lautgeographie das tragende Bild der kulturellen Struktur und Dynamik, repräsentiert vor allem durch die Siedlungsbahnen von West nach Ost, den Unterschied zwischen Ebene und Gebirge und die Impulse, die von dem Siedlerstrom Erfurt—Breslau nach Norden und Süden ausgingen. Besondere Bedeutung für die sprachlich-kulturelle Ausformung wurde dem Kernland Meißen zugesprochen. Damit war erwiesen, daß sich die ‘kulturbiologische Arbeitsmethode’ auch in Fragen der Ostforschung bewährte (Aubin 1939, 46 ), wenn dieses Werk auch die Wirkung der ‘Kulturströmungen’ von 1926 nicht erreichte. Auf fruchtbaren Boden waren Aubins Anregungen in Westfalen gefallen (vgl. Petri 1970). Hier begann 1931 das ‘Raumwerk Westfalen’ zu erscheinen mit Beiträgen über natürliche und geschichtliche Grundlagen zu Wirtschaft, Verkehr, anthropologischer Gliederung und ganz besonders zur Kultur, vertreten vor allem durch Kunstgeschichte und Volkskunde. Für die Dialektgeographie erarbeitete William Foerste (1958) den ‘Wortgeographischen Aufbau des Westfälischen’ in seinen Nachbarschaftsbeziehungen und im Eigengut; im Gesamtwerk hat der Beitrag eine gleichrangige Stellung und keinen Primat wie Frings Darstellung in den ‘Kulturströmungen’ von 1926. Von besonderer Bedeutung war die von der Dialektgeographie angeführte Sicht des Bonner Instituts für zwei seiner Mitarbeiter, zwei Historiker, die der interdisziplinären Ausrichtung der geschichtlichen Landeskunde zeit ihres Lebens verbunden waren und sind: F. Steinbach und F. Petri. Im Jahre der ‘Kulturströmungen’ erschienen Steinbachs ‘Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte’ (1926 ), in denen in Frontstellung gegen einen starren Stammesbegriff Ergebnisse der Dialektgeographie, der Ortsnamen- und der Hausforschung ins Feld geführt und die deutsch-französische Sprachgrenze als Grenze der vorherrschenden Verkehrsbeziehungen begriffen wurden. F. Petri (1931; 1937) griff das Thema ‘Sprachgrenze’ auf. Wesentliche Argumente lieferte ihm die Interpretation der germanischen Ortsnamen. Über Steinbach hinaus erweiterte er den Kreis der Kulturwissenschaften um Archäologie, Anthropologie, Rechtswissenschaft und Kulturgeschichte. Das Ergebnis, das nachfolgender Kritik (vgl. Schützeichel 196 3 a) im wesentlichen standhielt (Petri
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
1950/51; 1977), war die Erkenntnis, daß die deutsch-französische Sprachgrenze das Resultat kulturellen Ausgleichs ist über den völkischen Grundbestand beiderseits der Grenzen hinweg. Beide Forscher unterstrichen später noch einmal gemeinsam die Existenz eines ‘kerneuropäischen Blocks’ zwischen Rhein und Loire, der sich in Sprache, Recht, Kunst und Literatur abzeichne (Steinbach/Petri 1939) und der seine volksgeschichtliche, nicht nur kulturelle Fundierung durch die Franken bekommen habe. Der von der Dialektgeographie bestimmten Kulturraumforschung stark verpflichtet ist auch Steinbachs Schüler B. Huppertz, der Verbreitungskarten zu Erbrecht, Betriebsgrößen, Zeitpacht, Siedlungs- und Hausformen, Weistümer und Ortsnamen gezielt für seine Darstellung von ‘Räumen und Schichten bäuerlicher Kulturformen’ einsetzte (Huppertz 1939). Voll rezipiert und weitergeführt wurden bald nach Auflösung der Bonner Zusammenarbeit von Aubin und Frings die Anregungen der ‘Kulturströmungen’ von F. Maurer (1930). Die dialektgeographische Arbeit, in der er z. B. mit „Sprachschranken, Sprachräume und Sprachbewegungen in Hessen“ (1929) dieses Land nach Art der rheinischen Dialektgeographie erschloß, war bei ihm verbunden mit starkem Interesse für die Volkskunde, der er besondere Bedeutung im Rahmen der neuen Kulturraumforschung zusprach (1931 a/1964, 67; 1936, 367). In seinen Aufsätzen zur ‘Volkssprache’ (1933) ist er nach seinen eigenen Worten versucht, die 1926 vollzogene Verbindung weiterzutreiben und noch mehr zu verlebendigen, indem er für die Bildung der sprachlichen Räume und die Entstehung von Sprach- und Kulturbewegungen in volkskundlicher Betrachtung die geistigen Hintergründe liefert (1928/196 4, 102; 1936 , 36 7). Den ‘Atlas der deutschen Volkskunde’ hat er nicht nur begrüßt (1931 a/196 4, 6 1 f.), sondern auch Beispiele für Hessen erarbeitet, die als Beiträge zur ‘geographischen Volkskundeforschung’ das dialektgeographische Bild zum kulturräumlichen ausweiteten (1926; 1931/1964, 69 ff.). In direkter Nachfolge der rheinischen Kulturraumforschung konnte Maurer vom neugegründeten Institut für geschichtliche Landeskunde i n Freiburg aus Mitarbeiter für eine südwestdeutsche Entsprechung der ‘Kulturströmungen’ von 1926 gewinnen. Der Plan für „Oberrheiner, Schwaben, Südale-
mannen“ war weitgespannt (Maurer 1942 a, 15). Dem Nachweis „erstmaliger stammesmäßiger Einheit“ nach Rasse und Herkunft durch Prähistoriker, Anthropologen und Archäologen sollte die Geschichte von der Siedlungszeit bis zur Gegenwart folgen, wobei Sprache, Brauchtum, Kunst, soziale Struktur und Verkehr dem historisch-politischen Geschehen gleichgeordnet sein sollten. Für zwei weitere Teile waren Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Gegenwart geplant. Sie sollten nach rassischem Befund, Sprache, Brauchtum (Tracht, Siedlung, Sitte und Brauch, Rechtsbrauch), Lied, Volkserzählung, in der hohen Kunst (Literatur, bildende Kunst, Musik) sowie nach Charakter des Volkschlags im ganzen eruiert werden. Der Ausführung setzte das politische Zeitgeschehen ein Ende. Den Hauptbeitrag lieferte Maurer selbst mit dem Abschnitt ‘Zur Sprachgeschichte des deutschen Südwestens’, in dem er Räume und Bewegungen mit besonderer Akzentuation der zwei Hauptschranken Sundgau-Bodensee und Schwarzwald herausarbeitete. Maurer gab auch die Einführung in: „Ziel und Weg unserer Arbeit“. Die sonstigen Beiträge beschränken sich auf Rassengeschichte (Schaeuble), Frühgeschichte (Kraft) und Geschichte (Klewitz, Bader). Der Unterschied zu den ‘Kulturströmungen’ von 1926 wird in Plan und Ausgeführtem deutlich: die Synthese wird nicht mehr fundiert durch die als ‘Kulturprovinzen’ erkannten mittelalterlichen Territorien. Man geht unter Heranziehung von Archäologie, Frühgeschichte und Rassenkunde auf die Anfänge zurück, und die Synthese, die Maurer auf Grund des vorläufig Erarbeiteten im Kapitel ‘Sprachgeschichte und Volksgeschichte’ vornimmt (322—336 ), beginnt denn auch mit der Zeit der Besiedlung und betont, daß die Sprachschranken zwischen Oberrheinern, Schwaben und Südalemannen auf sehr alten, wenn auch durch spätere historische Grenzen gestützten Grundlagen beruhen. Konsequenter noch als in diesem Buch ist die Wendung zur Vergangenheit vollzogen in dem ebenfalls 1942 erschienenen ‘Nordgermanen und Alemannen’. Wie Maurer (196 5, 1) rückblickend feststellte, haben die Erkenntnisse von dem engen Zusammenhang zwischen Sprache, Kultur, Verkehr, Volkstum und geschichtlichem Schicksal dazu geführt, daß man ein „so fruchtbares Zusammenwirken ... auch für die ältere Zeit in entsprechender Abwandlung gesucht und in
4. Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren
der Zusammenführung der Arbeitsergebnisse von Vorgeschichte und Altertumswissenschaft gefunden hat“. Schon 1938 (289; 294 ff.; 307) hatte Maurer gezeigt, wie dialektgeographische Betrachtungsweise der Gegenwart auf ‘Sprachräume und Sprachbewegungen im deutschen Mittelalter’, also auf Sprachgeschichte übertragen werden kann. Nun wurde interdisziplinär mit Einbeziehung der Archäologie, Frühgeschichte und Volkskunde diese Sicht noch weiter auf die germanische und frühdeutsche Zeit zurückverlegt. In Auseinandersetzung mit B. Schiers in seinen ‘Hauslandschaften’ (1932) vertretener These von einem Zusammenhang zwischen Alpengermanen und Ostgermanen und in Betonung bisher kaum gewürdigter sprachlicher Parallelen zwischen Alemannischem und Nordischem kommt er zu einer interdisziplinär gegründeten Kritik an der bisher geltenden Auffassung von der Gliederung der Germanen in Westgermanen, Nordgermanen und Ostgermanen, ersetzt sie durch Nordgermanen, Nordseegermanen, Weser-Rhein-Germanen und Elbgermanen (neben Oder-WeichselGermanen), die er aus sprachlichen und archäologischen Tatsachen sowie durch Interpretation von Schriftstellerzeugnissen erschließt, und belegt in einem dritten Hauptteil den Zusammenhang von Nord- und Südgermanen mit i n neuem Licht zu sehenden Fakten aus verschiedenen Teilgebieten der Volkskunde. Drei Auflagen innerhalb von 10 Jahren bezeugen die „erstaunlich anregende Kraft“ (Schützeichel 196 1, 8), die von dem Buch ausging und zu Diskussion und Gegenargumenten (Schützeichel 19 6 1, 17; 27; 34; 36 ; 16 1; Bach 196 5, §§ 44; 50) aufforderte. Erhellung der germanischen Vergangenheit verfolgt auch E. Schwarz in seinem Buch ‘Goten, Nordgermanen, Angelsachsen’ (1951). Allerdings ist die kulturmorphologische Synopse nicht so weitgespannt: ausgeschöpft werden neben Lauterscheinungen vor allem Frühgeschichte, Vorgeschichte und Lehnwortgeographie. Hauptziel ist die Feststellung der Urheimat der Goten und der übrigen ostgermanischen Völker, ferner die Ausgliederung der Nordseegermanen und der germanischen Sprachen. Einen kulturräumlichen Unterschied der Gegenwart, zwischen Ostschweiz und Westschweiz, belegte R. Weiß mit zahlreichen Kartenbeispielen aus dem Volksleben und zog für die Erklärung seiner Entstehung ge-
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schichtliche Fakten von der Hallstattzeit bis ins späte Mittelalter heran (1947/19 6 2). R. Hotzenköcherle verwies schon vorher auf die an der gleichen Stelle verlaufenden Dialektgrenzen (1939, 311—319) und bestätigte sie später nachdrücklich (1962, 7). 1952 erschien ei n e kulturmorphologische Studie von A. Bach, die am Bi l d der Nassauischen Sprachlandschaft gewonnene Einsichten über Kulturströmungen belegte und ergänzte mit Verbreitungskarten zu Stadtrecht, Industrie, Heimatzeitungen, Herkunftsnamen und der Herkunft von Studenten der Universität Trier. Von diesem Einzelwerk abgesehen kann man das Gesamtwerk Bachs, des Nachfolgers von Frings am Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde, als einen indirekten Beitrag zur kulturräumlichen Synopse bezeichnen: seine Veröffentlichungen, mögen sie Einzelforschungen (vgl. Bach 19 6 4) oder Handbücher zu Sprachgeschichte (1938; 196 5), Mundartforschung (1950 a, §§ 38—186 ), Namenforschung (vgl. 1952; 1953; 1956 ) oder Volkskunde (196 0, §§ 80 f., 236 —288) betreffen, sind ganz wesentlich vom Raumgedanken bestimmt. Als letzte kulturräumliche Synthese ist die Arbeit K. Löbers über ‘Beharrung und Bewegung im Volksleben des Dillkreises / Hessen’ (196 5) zu nennen, ein „imponierendes Beispiel für eine sehr weitgespannte kulturräumliche Synopsis in einem kleinen Raum“ (Hard 196 6 , 6 4). Die anhand von Laut- und Wortgeographie erstellte Begrenzung und Gliederung des Gebiets wird vertieft durch Fakten der Geologie und Bodenbeschaffenheit, des Klimas, der politischen Geschichte, der wirtschaftlichen und der Verkehrsverhältnisse, des Brauchtums und des Volkscharakters. 2.2. Problematik und Kritik Löbers kleinräumiger kulturräumlicher Synthese ist keine weitere gefolgt. Insgesamt gesehen fanden die ‘Kulturströmungen’ von 1926 nicht so zahlreiche Nachfolger wie erhofft (Aubin/Frings/Müller 196 6 , 92). Der Kulturraum als Forschungsziel verlor viel von seiner Anziehungskraft nicht zuletzt infolge kritischer Reflexion, zu der mehrere Kulturwissenschaften beitrugen. Symptomatisch für diese Entwicklung ist die Stellung, die die Volkskunde dazu einnahm. Die Erwartungen, die Aubin (1952/196 5, 107) in Bezug auf den Atlas der deutschen Volks-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
kunde gehegt hatte, wurden enttäuscht. Wohl waren viele Beispiele für Kongruenzen von volkskundlichen Grenzen mit Dialektgrenzen beigebracht worden: als eigentliche Problematik erwies sich aber, wie Hotzenköcherle (196 2, 7; vgl. auch 196 2 a, 133—149) feststellte, daß eine solche Kongruenz sein kann, aber nicht sein muß: tiefeinschneidende Dialektgrenzen können in der Volkskundelandschaft ohne jede Entsprechung bleiben (Mitzka 1952, 177 f.; 1959, 579; vgl. Hard 1966, 7). Dem erfahrenen Volkskundler war das von Anfang an klar. In den ‘Kulturströmungen’ von 1926 selbst und ausführlicher noch in einem Aufsatz des gleichen Jahres hob J. Müller (1926 , 6 6 —81) die Besonderheiten im Leben volkskundlicher Erscheinungen hervor, die Gesetze des Erhaltens und Absterbens, die eine exakte Grenzfestlegung außerordentlich erschweren. Schon früh betonte auch der spätere Herausgeber der Neuen Folge des Atlas der deutschen Volkskunde, M. Zender (Röhr/Zender 1937, 86 f.), die Eigenständigkeit des Volkskundeatlas, der die Aufgabe habe, Vergleichsmaterial beizubringen und nicht die Ergebnisse der Sprachgeographie zu bestätigen. Diese Meinung wurde von ihm später bekräftigt und weiter begründet, indem er vor allem auf die Komplexität volkskundlicher Erscheinungen hinwies. Die volkskundliche Karte steht im Unterschied zur dialektgeographischen in übernationalen Zusammenhängen, die mehrere Spracheinheiten umfassen: sie vereinigt im Gegenwartsbild viele zeitliche Schichten, die bis auf die Zeit vor unserer Sprachgemeinschaft zurückgehen können; die volkskundliche Karte kann infolge von Wandel und Aussterben Lücken aufweisen, während von der Sprache Lücken in der Regel ersetzt werden; die gleiche volkskundliche Erscheinung kann solch mannigfaltige Gestalt annehmen und von so unterschiedlichem Rang und Gewicht sein, daß sie sich oft erst genauem Hinsehen erschließt und schwer eindeutig einzugrenzen ist (Zender 1959, §§ 29 f.; 1959 a, 14 f.; 196 5, 232; 236 ; 241). Übereinstimmungen zwischen volkskundlichen und dialektgeographischen Karten ergeben sich allenfalls für die Wortgeographie (Zender 1953, 92 ff.). Bei den innerhalb der Dialektgeographie geführten Auseinandersetzungen über das Zustandekommen kulturräumlicher Grenzen, z. B. über den Vorrang von territorialen oder vorterritorialen Grenzen, ist für die kul-
turräumliche Synopse die Debatte über die zur Ausformung der Kulturräume führenden Triebkräfte von besonderem Belang. Sie entzündete sich an der unterschiedlichen Bewertung des Faktors ‘Verkehr’. Der nach Meinung der Kritiker (z. B. Knoch 1939) allzu hohen Einschätzung dieses Faktors durch die Kulturmorphologen der Bonner Schule und ihrer einseitig mechanistisch-quantitativen Betrachtung der kulturraumbildenden Vorgänge gegenüber betonte man die Rolle des Sprachträgers, des Menschen, und die Abhängigkeit des Verkehrs von psychischen Voraussetzungen. Bereits 1928 hob Mitzka in Wendung gegen den Verkehr als alleinigen Grundfaktor des Sprachausgleichs die Bedeutung von Unterlegenheits- oder Überlegenheitsgefühl und das Gemeinschaftsgefühl einer Sprachgenossenschaft hervor (Mitzka 1928/196 8, 292 ff.; vgl. auch 1935/196 8, 385 ff.). Der Begriff ‘Strömung’ muß seiner Meinung nach durch ‘Anschluß’ erläutert werden. Entscheidend, so betonte er gegen Maurer (1933, 82 ff.; 1936 , 36 3 ff.), sind Anschlußwille oder Erhaltungswille der Sprecher (Mitzka 1940/196 8, 382—384), denn der Mensch gebraucht die Sprache, er ändert, gibt auf oder übernimmt (Mitzka 1946 , 76 ). Daher können Grenzsetzungen abhängig sein vom Gefallen, von der Willkür (Mitzka 1952, 172; 1953/1968, 397). H. Moser äußerte sich von seiner Tübinger Antrittsvorlesung an im gleichen Sinne (1952, 140—142) und vertiefte in seinem Aufsatz über die Ursachen von Mundartgrenzen (1954) die soziologisch-psychologische Sehweise: Die Gruppe manifestiert sich objektiv in Sonderart und subjektiv in Sonderbewußtsein, zu dessen Ausformung die Sonderart, z. B. auch die Sprache, mit beiträgt. Zu Grenzbildung führt beides. Allerdings sind die Grenzen der raumpsychologischen Einheiten nicht leicht feststellbar. Dennoch lautet die Forderung: Deutung von Sprachräumen und Sprachgrenzen durch die bekannten Faktoren der Kulturmorphologie muß ergänzt werden durch „innerliche“ Begründung (Moser 1954, 110; 196 1, 42), durch Sicht vom Menschen aus. H. Moser bekräftigte damit für die Dialektgeographie, was R. Weiß zwei Jahre vorher (1952) mit einer Fülle bedenkenswerter Gesichtspunkte für volkskundlich fundierte Kulturgrenzen festgestellt hatte. Weiß problematisiert die Kulturraumgrenze und hinterfragt allzu selbstverständlich gewordene
4. Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren
Begriffe. Kulturraumgrenzen sind nicht allein objektiv bedingt, sondern auch im ‘Eigenartigkeitsbewußtsein’ der Menschen. Die Kehrseite des von außen gesehenen Kulturraumes ist der von innen gesehene Heimatraum, in dem die ‘Dinge’, die objektiv feststellbaren Befunde, zu Emblemen der heimatlichen Eigenart werden, weil sich Vertrautheits- und Geborgenheitserlebnisse seelischer Art mit ihnen verbinden. Eine flächenhafte oder auch lineare Kongruenz gibt es zwischen beiden Räumen nicht, zumindest ist sie noch nicht feststellbar. Zwei weitere Gesichtspunkte ergänzen die qualitative Sicht von Kulturräumen: der Hinweis auf mögliche Dominanten, z. B. bei alpiner Kultur, katholischer Kultur (Weiß 1952, 373), und die Bewertung von Verbreitungsgrenzen im Sinne von Formengrenzen, die, obwohl oft an sich unbedeutende Gegenstände betreffend, symptomatisch einen Ursachenkomplex und seine Abgrenzung erkennen helfen (Weiß 1952, 371; vgl. auch Weiß 1947/1962, 204; 1951). Um qualitative Bewertung von Grenzen geht es auch Günter Wiegelmann (196 5) in seinem Aufsatz über ‘Probleme kulturräumlicher Gliederung im volkskundlichen Bereich’. In Übertragung völkerkundlicher Diskussionsergebnisse auf die Volkskunde betont Wiegelmann die Bewertung der Kulturelemente, deren Verbreitungsgrenzen die Kulturräume bilden, ihr Gewicht im Volksleben. Die Wahl des Festortes (Gasthaus oder Wohnhaus) ist z. B. von einschneidender Bedeutung, Unterschiede in der Wahl der Spielkarte (Weiß 1947/196 2, 218) nicht (Wiegelmann 196 5, 109 f.). An objektiv zu erfassenden Kriterien für das kulturelle Gewicht nennt Wiegelmann (196 5, 111 f.): Einflußfeld oder Dominanz, Häufigkeit und Dauer der Realisierung, Konstanz, Stellung in der Gemeinschaft. Einer Bewertungsskala für s ä m t l i c h e (v. Verf. gesperrt) Aspekte des Volkslebens steht freilich als unüberwindliches Hindernis die Unvergleichbarkeit der Kulturelemente entgegen, während innerhalb eines Sachbereiches Vergleiche möglich sind (1965, 113 f.). Die hier skizzierte Diskussion zur kulturräumlichen Problematik (vgl. auch 4. Arbeitstagung 196 4, 37—53) macht deutlich, daß die Synthese von 1926 nicht in gleicher Art wiederholt werden konnte. Selbst wenn man Wiegelmann (196 5, 101 ff.) zustimmt, daß der „objektive Raum gegenüber dem subjektiven das bessere Forschungsinstru-
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ment zur Gewinnung einer kulturräumlichen Gliederung“ ist: es bleibt die insbesondere durch die Volkskunde zutage gebrachte Erkenntnis der Autonomie in Entwicklung und Verbreitung der verschiedenen Kulturerscheinungen, die einer Kongruenz nicht förderlich ist (4. Arbeitstagung 196 4, Steger, 46 f.; vgl. Schmitt 1957, 273 f.). Trotzdem kann Kulturraumforschung fruchtbar sein. Ein Vergleich H. Schlengers scheint mir die Sachlage treffend zu kennzeichnen: der Kulturraum ist ein Forschungsprinzip wie die ‘Ursprache’; die wirkliche Forschung spielt sich in den Zwischensynthesen ab (4. Arbeitstagung 1964, Schlenger, 45).
3.
Die Dialektgeographie als Forschungsinstrument für Kulturwissenschaften
Wenn wir nun die kulturmorphologische Leistung der Dialektgeographie unabhängig von ihrer Einbindung in kulturräumliche Synthesen betrachten wollen, muß rückschauend auf diesen Abschnitt (s. 2.1.) ihre führende Rolle in der Synopse hervorgehoben werden, die auch von den maßgeblichen Forschern betont wurde (vgl. Aubin/Frings/ Müller 1926 , VIII; Aubin 1925/196 5, 21 f.; 1929, 40; Bach 1934, 12; Petri 1950/51, 39). Die anderen Kulturwissenschaften fungieren oft nur als Zusatz und manchmal nur als Füllsel des von der Dialektgeographie vorgegebenen Gerippes; sie treten nach einem Vergleich von Frings als bestimmte „Fadenfarben“ in das „Webstück“, in dem die Dialektgeographie das Grundmuster bildet (Frings 1956 II, 25 f.). Gründe für diese Vorrangstellung wurden mehrfach genannt (vgl. 2.1). Da die Dialektgeographie aus der Fülle ihrer den ganzen Raum abdeckenden Erscheinungen, in ihrem „engmaschigen Raster“, die „abgeschlossenste Antwort“ (Aubin/Frings/Müller 1926 , VIII) geben konnte und die Mundart „ihrem Wesen nach in landschaftlichen Grenzen befangen und ein einheitlicher Gegenstand“ ist, der „einer systematischen Behandlung“ zugänglich ist (Aubin 1952/196 5, 104), bot sie unter der Voraussetzung der zwischen Dialekt und anderen Kulturerscheinungen bestehenden räumlichen Zusammenhänge mehr als andere Kulturwissenschaften die Gewähr, Aufschluß über Herkunft, Verbreitung und Bewegung anderer Kulturerscheinungen geben zu können. Die Methode der klassischen Dialektgeographie, das Sprachbild der Ge-
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genwart genetisch-dynamisch zu erklären, aus räumlicher Lagerung zeitliche Schichtung zu erschließen und damit durch Rückprojektion von der Gegenwart aus die Vergangenheit zu erhellen (vgl. Bretschneider 1930, 216 ; 221), führte dazu, daß die Hilfe, die anderen Kulturwissenschaften zuteil wurde, vor allem der geschichtlichen Erkenntnis zugute kam. Das betrifft zunächst die Sprachwissenschaft selbst. 3.1. Die Erkenntnis der Dynamik im Leben der Mundarten, charakterisiert durch Strahlung, Umschichtung und Ausgleich innerhalb regionaler Staustufen, mußte ebenso wie die Erkenntnis ihrer Bedingtheit durch außersprachliche kulturelle Faktoren ein neues Licht auf das Werden der deutschen Sprache werfen, wie Frings bereits 1921 betonte (1921, 2 ff.). Wenn sich auch die neue Sicht nicht immer so ausgeprägt äußerte wie bei A. Bach (1939 und 196 5) und Frings (1948), war doch eine Darstellung der deutschen Sprachgeschichte ohne Berücksichtigung der Ergebnisse dialektgeographischer Forschungen nicht mehr denkbar (vgl. Bach 1934, 124 f.; Besch 196 5, 106 ). Von den verschiedenen Epochen und Forschungszweigen haben einige besonders profitiert, so die Eruierung von Sprachzusammenhängen der germanischen Zeit (Brinkmann 1931; Maurer 1942; Schwarz 1951; 1953), mit der Wrede (1924, 270 ff.) den Anfang machte, und die Forschungen zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Wenn hier auch die — namentlich durch Frings vertretene — Zurückführung auf ostmitteldeutsche Mundarten und koloniale Ausgleichssprache (vgl. Martin 1959, 132 f.) revidiert werden mußte, vor allem durch Verlagerung auf die Sprachebene der landschaftlichen Schreibtradition (Besch 196 7; 196 8; vgl. auch 196 5), so bedeutet das keine Abwendung von der sprachgeographischen Methode, sondern deren Anwendung auf eine andere Sprachschicht. Wesentliche Erhellung durch die Dialektgeographie erfuhr die Wortforschung, für die die Arbeiten der ‘Deutschen Wortforschung in europäischen Bezügen’ als Beispiel genannt seien. Aus der Synonymenverbreitung und -geschichte sich ergebende Fragen der Onomasiologie und Semasiologie wie Wortzusammensetzung, Deformation von Worten, Reliktbildung, Sprachökonomie, Motivation von Benennungen, hier insbesondere die Rolle des Affekts, Bedeutungswandel in mannigfachen Aspekten kommen z. B. bei Debus (1958), Höing
(1958), Neubauer (1958), Rössing (1958), Tallen (196 3), Bauer (196 3), Schumacher (19 6 3), Schilling-Thöne (19 6 4), Schrader (196 4) zur Sprache. Klärung, und zwar nicht allein in wortgeographischen Arbeiten der genannten Art, erfuhren auch etymologische Fragestellungen (vgl. Martin 1959, 105; Bach 1950 a § 275). Auf die Deutung von Adoptivformen hatte Wrede bereits 1924 (1924 a) hingewiesen. — Erwähnt werden muß auch die Förderung, die der Fach- und Sondersprachenforschung durch die Wortgeographie zuteil wurde (Möhn 196 3; 196 3/6 4; 196 8; 196 8 a; Martin 1959, 134 f.). Insbesondere der Wortgeographie haben auch Kritik und Herkunftsbestimmung literarischer Texte, und zwar nicht nur der altdeutschen Zeit, weiterführende Erkenntnisse zu verdanken (vgl. Martin 1959, 131 f.; Bach 1950 a, §§ 273 f.; vgl. Art. 95). — Bereicherung und Aufschwung vermittelte die geographische Methode auch der Namenkunde. Hier ging A. Bach nicht nur voran (vgl. 2.1.), sondern blieb auch richtungsweisend (vgl. Bach 1958, 50—74). 3.2. Abgesehen von der Sprachwissenschaft erfuhr die Geschichtsforschung die stärkste Förderung durch die Dialektgeographie, insbesondere die Volksgeschichte (Wagner 1926 , 293 ff.; Martin 1959, 135 f.). Wrede (1929, 236 ) sah in ihr eine „historische Hilfswissenschaft“; Frings gab einer Wiederveröffentlichung seiner einschlägigen Arbeiten bezeichnenderweise den Titel ‘Sprache und Geschichte’ (1956). 3.2.1. Im deutschen Altland konnten mit Hilfe der Dialektgeographie die kulturelle Binde- und Strahlkraft der Großterritorien und Territorialgruppen vom 13. bis 19. Jh. nach Stärke und Reichweite differenziert veranschaulicht und die Wege kultureller Fernstrahlung nachgezeichnet werden in einer Deutlichkeit, die die Geschichtswissenschaft aufgrund ihrer Quellenlage nicht erreichen konnte (Aubin/Frings/Müller 192 6 , VI f.; Bach 1934, 124; Bach 1952/196 4, 220). Wenn man auch darin einig war, daß, insgesamt gesehen, nicht Grenzen, sondern Räume übereinstimmen (Wagner 1927, 57; 1954, 6 46 ; Bach 1950 a, § 55; 1952/196 4, 221; Moser 196 1, 42), konnte die Dialektgeographie in Einzelfällen doch orts- und landesgeschichtliche Grenzzusammenhänge aufklären (Bach 1950 a, § 276; Martin 1959, 93). 3.2.2. Der Zusammenhang von Dialektgeographie und Siedlungsgeschichte war
4. Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren
schon früh ein Forschungsziel. Man untersuchte zunächst innerdeutsche Orte und Kolonien (Böhmer 1909; Ehrhardt 1919; Borchers 1927) und dehnte die Forschung aus auf die Urheimat deutscher Auswanderer in europäischen und außereuropäischen Ländern, darunter die der Siebenbürger Sachsen. Unter den Historikern wies insbesondere H. Aubin wiederholt auf die Bedeutung der Dialektgeographie für diesen Sektor der Forschung hin (1930/196 5, 51; 1939, 45 f.; 1942, 304; 1952/196 5, 111). Von den zahlreichen Arbeiten (vgl. Martin 1959, 94 ff.; 108 ff.; Mitzka 1952, 148 ff.) seien einige wenige hervorgehoben. H. Teucherts Bemühungen galten dem Nachweis niederländischer Siedler i n Norddeutschland (1915; 1942; 1944). Er konnte Urkundenlücken schließen (1942, 304) und Siedlerwege eruieren. — K. Bischoff (1958) vertiefte und erweiterte die Erkenntnisse über die Siedlungsvorgänge in Norddeutschland. — W. Mitzka faßte seine Untersuchungen über Mundarten Ostund Westpreußens zusammen in den ‘Grundzügen nordostdeutscher Sprachgeschichte’ (1937) und machte deutlich, wie Dialektgeographie — auch Wortgeographie (1955/196 8, 333—351) — historische Fakten erhärten, verfeinern und erklären kann. — Th. Frings (1932 a, 1936 ) erarbeitete mit gezielter Vergabe einschlägiger Arbeiten an seine Schüler, die 1932 ff. in den ‘Mitteldeutschen Studien’ erschienen, die Siedlerwege in den deutschen Osten. — Den deutschen Siedlern im südlich anschließenden Sudetenraum galten die zunächst von Prag aus betriebenen langjährigen Untersuchungen von E. Schwarz (1935; 1937; 1939; 1942; 1950; 1955; 196 0). Der von Mitzka an Frings und Schwarz geübten Kritik an der Interpretation des Siedlungsvorganges bei der Ostkolonisation — nicht in wellenartigen Stößen drangen die Siedler vor, sondern von Horsten aus (Mitzka 1937/21959, 8 ff.; 1943/196 8, 127 f.; vgl. Martin 1959, 110 ff.) —, wird man Mitzka die bessere Einsicht für den geschichtlichen Verlauf zusprechen müssen, wenn auch — wie Große und Protze (in: Frings 1956 III, 180) feststellen — Frings’ Darstellung der Bahnen als „Abstraktionen des Sprachhistorikers nach seinen Sprachkarten“ ihre Gültigkeit behält. Zur intensiv betriebenen Erforschung der deutschen Siedler im Ausland (vgl. Mitzka 1952, 153 ff.) trug Schirmunski in einem methodisch richtungsweisenden Aufsatz bei (1930; vgl. Bach 1952/196 4, 221). Er be-
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schrieb darin die Sprachinseln als Sprachlaboratorien und nahm Stellung zu schon vor ihm (Böhmer 1909; Ehrhardt 1919) erkannten kritischen Punkten, die einer Gleichsetzung von Siedlermundart und Heimatmundart entgegenstehen. Seine Ausführungen kamen nicht nur sprachlichen, sondern auch geschichtlichen Erkenntnissen zugute und wurden von der späteren Sprachinselforschung beachtet und bestätigt (z. B. Varga 1937; Hornung 1965; Veith 1968). 3.2.3. Die im Bereich der Neustämme durch die Dialektgeographie vermittelten historischen Erkenntnisse warfen ein neues Licht auf das Altland und führten dazu, auch hier den Anfängen nachzugehen (Bach 1950 a, §§ 82, 134; 1952/196 4, 220 f.; Aubin 1952/196 5, 108; Petri 1950/51, 84). Es wurde die Frage nach den vor den Territorien wirksamen geschichtlichen Kräften gestellt und die Dialektgeographie zur Klärung frühgeschichtlicher Verhältnisse herangezogen. Insbesondere auf die Vorgänge der Stammesbildung und -gliederung fiel dabei ein neues Licht. Hinsichtlich der unterschiedlichen Standpunkte zur Nachwirkung der Stämme (Martin 1959, 102 f.) wird man Mitzka (1951/196 8, 12 f.; 1936 , 2 ff.; 1952, 131 ff.) und Moser (1952, 129 ff.; 1954, 87 ff.; 196 1, 32 ff.) neben anderen darin zustimmen dürfen, daß sich über die Stammesb e r e i ch e hinaus auch resthaft an wenigen Stellen Stammes g r e n z e n erhalten haben und die Dialektgeographie somit dazu beiträgt, historische Grenzverläufe zumindest annähernd zu erschließen. Frings (1948, 25 ff.; 1956 I, 55—103) und Bach (1952/ 196 4, 219 ff.) haben in späteren Werken ihre gegenteilige Meinung in Bezug auf die Wirksamkeit von Stammesgrenzen nur wenig abgeschwächt — lediglich die appel/apfelLinie läßt Frings als fränkisch-alemannische Stammesgrenze gelten —, aber den Niederschlag vorterritorialer geschichtlicher Vorgänge stärker anerkannt (Frings 1948, 6 ff.). Dies war eine Folge der in den fünfziger Jahren sich durchsetzenden, mit Kritik an Frings verbundenen Meinung, daß die rheinische Sprachlandschaft durch wesentlich ältere Vorgänge als die Territorialbildung geprägt sei (vgl. Bruch 1956 , 129 ff.; Kuhn 1951, 53 ff.). F. Steinbach (1952, 332 ff.) nahm schon 1926 geäußerte Vorstellungen wieder auf und deutete Mitteldeutschland als Schwingungsfeld und Keil vom Westen vorgetragener reichsfränkischer Kolonisation und Kulturbewegung. I n den von Süden
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und Norden über das Gebiet hinweggehenden Neuerungen sah er einen Niederschlag der Machtkonzentration im Österreich Ludwigs des Deutschen im 9. Jh. einerseits und im sächsisch-fränkischen Bündnis des 10. Jhs. andrerseits, wobei dann der Süden in der salisch-staufischen Kaiserzeit wieder das Übergewicht erlangte (Steinbach 1952, 339). — R. Bruch knüpfte an Steinbachs vorterritoriale Deutung der Sprachbilder an und sah in dem mitteldeutschen Keil der Dialektkarten längs der Mosel-Lahn-Achse einen Expansionskorridor des Westfränkischen (Bruch 1956 a, 22 ff.; 196 0, 300 ff.). — R. Schützeichel kritisierte diese Hypothese (196 1, 133; 148; 171 ff.) und erklärte, gestützt auf urkundensprachliche Forschungen zur zweiten Lautverschiebung, den Kölner, Trierer und Mainzer Sprachraum für merovingisch-karolingische Raumbildungen (196 1, 312—317; 196 5, 48 ff.). Die Fringssche Erklärung des ‘Rheinischen Fächers’ durch territorial gehemmte Süd-Nordbewegung muß seines Dafürhaltens auf der Grundlage einer Nord-Südbewegung in merovingisch-karolingischer Zeit gesehen werden (Schützeichel 196 1, 317); auf diese Zeit gehen die Grenzzonen von Hunsrück und Erft zurück (196 5, 48 ff.). — Noch weiter zurückliegenden Zusammenhängen gehen die bereits besprochenen Arbeiten von F. Maurer und E. Schwarz nach (vgl. 2.1.). Es ist ihr Verdienst, mit Hilfe der Dialektgeographie Licht in die Gliederung der germanischen Stammesverbände gebracht zu haben. 3.2.4. Eine ganz wesentliche Erhellung brachte die Dialektgeographie für zwischenvölkische Beziehungen. Die Forschungen von F. Steinbach und F. Petri über die Entstehung der deutsch-französischen Sprachgrenze wurden bereits besprochen (vgl. 2.1.). Ein „epochemachendes Werk“ (Bruch 1956 a, 40; kritisch Kuhn 1951, 57 ff.) war die ‘Germania Romana’, in der Th. Frings (1932) aufgrund von spätantikem Worterbe ein großes Teilstück der Berührungszone zwischen Römern und Germanen untersuchte. Das Lehnwortgut in den Mundarten des Rheinlandes führte zur Erschließung der Wege, auf denen römischer Kultureinfluß ins Rheinland gelangte. Trier erscheint als Schnittpunkt der westalpinen Rhone-MoselStraße und der nordalpinen Donau-RheinStraße. Der Wortzug über die Alpen nach Süddeutschland war im Unterschied dazu sehr schwach. Das Lehnwortgut erweist das
Rheinland als Aufnahme- und Umschlagsplatz von zentraler wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung mit weitgespannten Beziehungen bis nach Britannien. Kulturelle Aufschlüsse besonderer Art vermittelte die Untersuchung der Kirchen- und Missionsterminologie in der christlichen Germania Romana. Hier erweisen sich die Kirchenprovinzen Köln, Mainz und Trier als Vermittler des westlichen christlichen Wortschatzes. Über das Rheinland hinaus konnte Frings fränkische, süddeutsche und angelsächsische Missionssphären nach zeitlicher und räumlicher Schichtung in der Germania Christiana eruieren (vgl. auch Frings/Niessen 1927, 276 ff.). — Frings’ Arbeit gab Anstöße für weitere Forschungen bis zur Gegenwart hin (vgl. Jungandreas 1955; 196 2/6 3; Kleiber 1973 und 1974). — Die Substratforschung (Mitzka 1952, 158 f.; Aubin 1952/196 5, 112) erfuhr einen Aufschwung durch Mitzkas Unternehmen des ‘Deutschen Wortatlas’. In den zahlreichen Interpretationen von Wortatlaskarten (Martin 1959, 119 ff.), vor allem in Untersuchungen, die in ‘Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen’ erschienen (z. B. Hildebrandt 196 3; Foltin 196 3; Schneider 196 3; Reitz 196 4), kamen Probleme der Lehnwortgeographie zur Sprache. Besonders intensiviert wurde die Erforschung der Germania Slavica, die früh mit den Arbeiten von Lessiak für Österreich begonnen hatte und in den dreißiger Jahren von E. Schwarz, H. H. Bielefeldt für Mitteldeutschland fortgesetzt wurde (vgl. Martin 1959, 114). K. Bischoff (1958) klärte durch Kriterien der Dialekt- und Namengeographie deutsch-slawische Siedlungsverhältnisse im Übergangsgebiet von Altland zu Neuland an der mittleren Elbe. Beispiel für die Verfeinerung, die das Forschungsinstrument ‘Dialektgeographie’ für die Erkenntnis interethnischer Beziehungen erfuhr, ist die Arbeit von P. v. Polenz (196 3) über den Mundarten zugehörige slawische Lehnwörter im Thüringisch-Obersächsischen. Durch ihre Analyse im Blick auf soziale Gegebenheiten wie Kindersprache, großlandschaftliche Verkehrssprache, Umgangssprache wurden mit Einbeziehung der Siedlungsgeschichte Zeit, Art, Intensität und Wege der deutschslawischen Berührungen erschlossen. Besonders fruchtbar für die Geschichte der deutschslawischen Beziehungen wurden die ‘Deutsch-slawischen Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte’ (1956 ff.); W. Fleischer (1961/1963) sei als Beispiel genannt.
4. Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren
3.3. Zu den vielfältigen Möglichkeiten der Wortgeographie, Leistungen für Kulturwissenschaften zu erbringen (Mitzka 1950/ 1951/196 8, 411 ff.) gehört ihr Dienst an der Kulturgeschichte im engeren Sinn: „Die Wortkarte eröffnet den Weg zum Sprachinhalt“ und damit auch zur „Vielfalt sprachlicher und sachlicher Bezüge” (Schmitt 1958, XII). Vorgänger auf diesem Wege waren die Forschungen zum Verhältnis von ‘Wörter und Sachen’ und der ‘Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz’ (Jaberg/Jud 1928; 1928 a), der Dialekt- mit Sachbefragung verbindet, wie ja auch im ‘Schweizer Sprachatlas’ (Hotzenköcherle 1939) das Wortgut der materiellen Volkskultur eine wichtige Rolle spielt. Unter den zahlreichen Dissertationen und Aufsätzen in verschiedenen Zeitschriften und Reihen sind die Beiträge zur ‘Deutschen Wortforschung in europäischen Bezügen’ repräsentativ, denn die hier von Spezialisten geleistete Interpretation der ausgewählten Karten führt in größere Problemkreise hinein (Schmitt 196 5, 44 f.). Je nach ‘Sache’ steht ein besonderer kulturhistorischer Aspekt im Vordergrund der Betrachtung und Klärung: Verbreitungswege von aus Amerika eingeführten Kulturpflanzen (Martin 196 3), Mahlzeitensitten bei der ‘bestrichenen Brotscheibe’ (Kringe 19 6 4), Zuchtgeschichte bei der Ziege (Rein 1958), Missionsgeschichte bei den Wochentagsnamen ‘Samstag’ und ‘Sonnabend’ (Avedisian 196 3), Bekleidungssitten in Funktion und Geschichte bei Kopfbedeckungen (Foltin 196 3), Formengeschichte von Ton und Topf (Hildebrandt 196 3). Erwähnt sei auch ein Vorläufer, der mit ‘Germanischer Graswirtschaft’ ein Kapitel Landwirtschaftsgeschichte der Frühzeit erschließt (Steinhauser 1952; dazu Zender 1953, 88 ff.). 3.4. Das zunehmende Interesse an soziologischen Aspekten in der Dialektforschung (vgl. Bach 1950 a, §§ 187—225; Moser 1954, 93—97; Schmitt 1957, 26 2; 280; Hildebrandt 1976 , 6 —20), d. h. also an Auswirkungen der sozialen Schichtung nach Beruf, Einkommen, Bildung, Herkunft und ihren schichtspezifischen Ballungen in Städten, Industriezentren und rein ländlichen Gebieten, an Modifizierungen durch Alter, Geschlecht, partnerbedingter Rolle und Gesprächssituation führte dazu, die räumlich-horizontalen Kartenbilder insbesondere der Wortgeographie auf vertikale Schichtung hin zu durch-
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mustern, eine Verfahrensweise, die auch in der Namengeographie (Debus 196 8, 28 ff.) und im volkskundlichen Bereich (GroberGlück 196 1, 89—95; 1974, §§ 8—15) zum Zuge kam. Wenn auch die Wortkarte infolge der indirekten Befragungsmethode des ‘Sprachatlas’ und mangelnder Infraschichtung nur eine Grobstruktur vermitteln kann (Möhn 196 3, 321; Hildebrandt 196 8, 153 f.; 196 7), gelang es doch, in dreidimensionaler Interpretation soziale Schichten nach Art und Umfang zu erschließen, vor allem bäuerlich-mundartliche von bürgerlich-umgangs- bzw. hochsprachlichen abzuheben. Mitzka hatte früh darauf aufmerksam gemacht (Mitzka 1959, 571). Grundsätzlich aufgegriffen wurde das Problem durch P. v. Polenz (196 0) und E. Schrader (196 7; vgl. auch 196 4, 458—46 1). — Hildebrandt faßte 196 8 die neuen Erkenntnisse über die Beziehung zwischen Dialektgeographie und Sprachsoziologie zusammen und vertiefte sie anhand von Beispielen aus dem ‘Deutschen Wortatlas’ durch Erarbeitung eines sprachsoziologischen Relevanzgefälles bis hin zur Forderung einer erweiterten, den sprachsoziologischen Aspekt einbeziehenden Definition des Begriffes ‘Dialekt’ (Hildebrandt 19 6 7; 19 6 8; 197 6 , 11 ff.; Hildebrandt/ Knoop 1976, 3—5). Für unterschiedliche sprachliche Ausstrahlung der Städte (vgl. Martin 1959, 101; Bach 1950 a, § 197; Henzen 1954, 209), die als Index für von ihnen ausgehende Einflüsse insgesamt gewertet werden können, sind von besonderem Belang die Arbeiten von F. Debus (Debus 196 2; 196 3). Für sein Ergebnis, daß die sich aufgrund sprachlichen Mehrwerts durchsetzende Form nicht immer die hochsprachliche ist, dürften bei kulturellen Strahlungen sonstiger Art Parallelen zu finden sein; ebenso für die Erkenntnis, daß die Strahlkraft von Städten trotz annähernd gleicher Größe sehr unterschiedlich groß sein kann. Intensität und Reichweite der Strahlkraft von Industriegebieten genauer als bisher (vgl. Bach 1950 a, § 293; Martin 1959, 101 f.) anhand sprachlicher Kriterien zu analysieren, war das Anliegen von D. Möhn (196 3; 196 3/6 4; 196 8 a) und E. Hofmann (196 3). Für die hier obwaltende Antinomie zwischen Sprachwandel und Sprachtradition könnten aus anderen Kulturbereichen ebenso Parallelen beigebracht werden wie für die Stärke der Strahlkraft des rhein-mainischen Industriegebietes (vgl. Grober-Glück 1974, § 286).
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4.
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Kritische Würdigung der kulturmorphologischen Leistung der Dialektgeographie
Eine kritische Würdigung muß an oben (s. 2.2.) Gesagtes anknüpfen. Die Tatsache, daß kulturräumliche Synthesen nicht so durchgängig zu vollziehen sind, wie ihre Initiatoren sich das vorstellten, sollte einerseits nicht daran hindern, sie weiter im Auge zu behalten, und andererseits dazu führen, autonome räumliche Entwicklung der einzelnen Kulturwissenschaften nicht nur zu registrieren, sondern in ihrer Sonderart zu beschreiben und zu erklären. Im Rückblick erscheinen die Anregungen, die andere Wissenschaftszweige durch die Dialektgeographie erhielten, als mindestens ebenso wichtig wie die Ergebnisse der kulturellen Synopse. „Geographisch-räumliches Denken drang unter Führung der Sprachgeographie in andere Wissenszweige ein“ (Frings 1956 II, 38). Das äußerte sich u. a. in Bereitstellung eines Begriffsapparates, der sowohl Formen der Dynamik wie ihre Ergebnisse und Ursachen betraf und auf kulturelle Vorgänge im Raum ganz allgemein übertragen werden konnte (z. B. Bach 196 0, §§ 236 —288). Bewegungsabläufe und -formen werden z. B. charakterisiert durch Termini wie Strömung, Trichterwirkung (Becker 1942), Stauung an Barrieren bzw. Schranken, Fächer- und Staffelbildung und ebenso wie „Ausgleich, Mischung, Verdrängung, Allgemeinumschichtung, Anschluß“ diskutiert (vgl. insbes. Wagner 1927, 37; 42 ff.; Bach 1950 a, §§ 95—99, 109 ff.; Mitzka 1940/196 8, 382 ff.). Im Blick auf Aktivität und Passivität der bewegenden Kräfte sprach man von Kernlandschaften (vgl. Bach 1950 a, §§ 54 ff.), von Umbildungsund Durchgangslandschaften (z. B. Wagner 1927, 6 7 ff.; Wagner 1954, 6 39 ff.), von Expansions- und Reliktgebieten (z. B. Kloeke 1958). Lehrreich für andere Kulturwissenschaften sind auch die Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Verbreitung. Die Wanderung der Sprache mit den Menschen wirft — im Unterschied zu späteren Rückschlüssen auf die Herkunft (vgl. 3.2.2.) — wenig Probleme auf. Dagegen ist die intensiv geführte Debatte über die Bedeutung des Vehikels ‘Verkehr’ (vgl. 2.2.) trotz Annäherung der Standpunkte (vgl. Bach 1950/196 4, 6 35 ff.; 1952/196 4, 220 f.; Moser 1952, 141; 1954, 87 ff.; 196 1, 43) nicht entschieden, denn es bleibt die Frage offen, ob die psychische Triebkraft ‘Mehrwert’ Ver-
breitung trotz stattfindendem Verkehr unterbinden kann und welcher innersprachliche Faktor den ‘Mehrwert’ bedingt (Wagner 1927, 56). Profitiert haben von diesem geographisch-räumlichen Denken außer der Namenkunde (vgl. 2.1.) vor allem die Volkskunde (vgl. 2.1.) und die Rechtsgeschichte, und zwar nicht nur in der Rechtssprache (vgl. 2.1.), sondern auch in der Verbreitung von Rechtsgütern (Aubin 1930/196 5, 54 f.; Merk 1926 , 8 ff.; Frings 1928, 93; Munske 196 8, 351 ff.; Schmidt-Wiegand 1978, 9—75). Wesentliche Anregungen erhielten ferner die Kirchengeschichte, namentlich die Patrozinienforschung (z. B. Zender 1959 a; vgl. Petri 196 0/1973, 94—98), die Kunstgeschichte (vgl. 2.1.), in der sich räumliches Denken auch ohne kulturräumliche Synopse durchsetzte (Hausherr 196 5), und Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte (z. B. Huppertz 1939). Kritische Einwände gegen die als Forschungsinstrument eingesetzte Dialektgeographie betrafen einmal die von der Dialektgeographie angewandte Methode, das Sprachbild der Gegenwart zur Gewinnung geschichtlicher Erkenntnisse in die Vergangenheit zurückzuprojizieren. Dadurch entstand trotz Erarbeitung von Kriterien der Altersbestimmung (s. o. 3.; Bach 1950 a, § 133) ein allzugroßer Spielraum für Hypothesenbildung, den man durch konsequente Einbeziehung der schriftlichen Tradition abzubauen trachtete. L. E. Schmitt (1957, 26 0 ff.; 196 5, 59; 196 6 , XLVI) griff besonders nachdrücklich frühere (Peßler 1933 a, 21) und spätere Forderungen (Kuhn 1951, 6 2) auf. R. Schützeichel schloß sich dieser Ansicht an und untermauerte sie durch seine Arbeiten zur historischen Sprachgeographie (1956 ; 1956 a; 196 0; 196 1, 187 ff.; 196 3, 5 f.; 196 5, 30 ff.) — F. Maurer entwickelte in Freiburg mit seinen Mitarbeitern (vgl. 3.1.) eine „neue Methode“ (Maurer 196 5 a, 5*) zur Erschließung schriftlicher Tradition. Mit umsichtiger kritischer Abschätzung der Aussagefähigkeit des Materials wurden ortsgebundene Quellen herangezogen, die für Mundart ergiebiger sind als Urkunden und außerdem die Auswahl einer größeren Zahl von Schreiborten ermöglichen. Es erwies sich, daß Rückprojektionen der Dialektgeographie vom gegenwärtigen Stand aus teils bestätigt werden konnten, teils korrigiert werden mußten (Maurer 196 5, 40). — Ein zweiter Einwand betraf die Vernachlässigung innersprachlicher Ursachen von
4. Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren
Mundartgrenzen, die der gebannte Blick auf außersprachliche Faktoren zur Folge hatte. Hier hatte der bei jeder wissenschaftlichen Methode unvermeidliche „blinde Fleck“ frühe Hinweise (Wagner 1927, 54; Maurer 1928/196 4, 112) übersehen lassen. Die strukturelle Sprachgeographie (z. B. Goossens 196 9) holte dieses Versäumnis nach (vgl. auch Gluth 1976, 105—107). Trotz aller Einwände wird man heute, nach selbstverständlicher Ablösung der klassischen Dialektgeographie durch andere Forschungsprobleme, die Anerkennung gerade ihrer kulturmorphologischen Leistung bestätigen müssen, die sich, bezugnehmend auf die ‘Kulturströmungen’ von 1926 , niederschlug in Urteilen wie „klassisches Buch dieser bisher fruchtbarsten Epoche in der Wissenschaftsgeschichte der deutschen Mundartforschung“ (Hard 19 66 , 5) oder „Denkmal der Wissenschaftsgeschichte“ (Petri 196 6 , V; vgl. auch Ennen 1970, 20), zu dem es vielleicht gerade deshalb wurde, weil es kein „durchdachtes System“, sondern ein „Aufriß“ war, der im Gefolge der Dialektgeographie „weiterer Druckplatten“ bedurfte (Aubin/Frings/Müller 192 6 , 17; Aubin 1952/196 5, 103). Die fruchtbarste Periode der kulturmorphologisch arbeitenden Dialektgeographie wie auch ihre Vorbildwirkung auf andere Wissenschaften fällt in die ersten Jahrzehnte nach dem Erscheinen der ‘Kulturströmungen’. Heute ist die ‘klassische Dialektgeographie’ in das Gefüge der Dialektologie als ‘Areallinguistik’ (Hildebrandt 1976 , 12) integriert. Diese Integration ist jedoch auch bei kritischer Betrachtung nicht gleichzusetzen mit Ineffektivität (vgl. z. B. Gluth 1976 , 102—107). Wie die ‘geographische Methode’ in der Dialektologie wirksam blieb, z. B. in der strukturellen Dialektologie (Goossens 196 9), in Forschungen zur ‘inneren Sprachform’ der Mundarten (z. B. Kuen 196 2; Hotzenköcherle 196 2, 20; Goossens 196 9, 70 ff.) und für die sprachräumliche Erfassung sozialer Schichtung (Gluth 197 6 , 107—113), haben auch die Anregungen der kulturmorphologischen Interpretation, d. h. also außersprachliche Erklärung, interdisziplinäre Zusammenarbeit, Rückprojektion des gegenwärtigen Sprachbildes in die Vergangenheit, kulturräumliche Synopse als Forschungsprinzipien Gültigkeit behalten (Hard 196 6 , 12 ff.). Darüber hinaus ergibt sich als zukunftsträchtiger Aspekt eine Erweiterung der Kulturraumforschung durch die Sozialgeographie (Schöller 196 0, 6 83 ff.), die Sprach- und Lebensformen der Gesamtgesellschaft einbezieht (Hard 1966, 61).
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Zu Ergebnissen führte auch die geographisch-soziologische Untersuchung von Fachsprachen (Bach 1950 a, § 229; Wolf 196 8; Möhn 196 8). Im Anschluß an eine Besprechung von Literatur zur Bergarbeitersprache hebt Möhn hervor, daß „durch eine Zusammenarbeit von Dialektgeographie und fachsprachlicher Forschung ... für den übergreifenden Bereich der Kulturgeographie ein außerordentlich wirksames Verfahren zur Verfügung gestellt [sei], das den jeweiligen Integrationsgrad eines Faches feststellen könnte“ (Möhn 1968, 322).
5.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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4. Die Leistungen der kulturmorphologischen Betrachtungsweise im Rahmen dialektgeographischer Interpretationsverfahren
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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grenze. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 15/1 6 . 1950/51. 39—86. Petri 1960 = Franz Petri [Rez.]: Zender, Matthias: Räume und Schichten mittelalterlicher Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung für die Volkskunde. In: Westfälische Forschungen 13. 196 0, 214—217. Zitiert nach: Petri 1973, 94—98. Petri 1966 = Franz Petri: Vorwort zur Neuausgabe. In: Aubin, Hermann/Theodor Frings/Josef Müller: Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Darmstadt 1966, V. Petri 1970 = Franz Petri: Westfalen im Lebenswerk Hermann Aubins. In: Hermann Aubin 1885—1969. Werk und Leben. Bonn 1970, 45—69. Petri 1973 = Franz Petri: Zur Geschichte und Landeskunde der Rheinlande, Westfalens und ihrer westeuropäischen Nachbarländer. Aufsätze und Vorträge aus 4 Jahrzehnten. Bonn 1973. Petri 1977 = Franz Petri: Die fränkische Landnahme und die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze in der interdisziplinären Diskussion. Darmstadt 1977 (Erträge der Forschung. Bd. 70). Polenz 1960 = Peter von Polenz: Mundart, Umgangssprache und Hochsprache am Beispiel der mehrschichtigen Wortkarte „voriges Jahr”. In: Hessische Blätter für Volkskunde 51/52. 19 6 0, 224—234. Polenz 1963 = Peter von Polenz: Slavische Lehnwörter im Thüringisch-Obersächsischen, nach dem Material des Deutschen Wortatlas. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen. Bd. II. 1963, 265—300. Der Raum Westfalen 1931 ff. = Der Raum Westfalen. Hrsg. Hermann Aubin. Ottmar Bühler. Bruno Kuske. Franz Petri. Herbert Schienger. Peter Schöller. Aloys Schulte. von Wallthor. Bd. I: Grundlagen und Zusammenhänge. Münster 1931. Bd. II, 1, 2: Geschichte. Münster 1955. 1934. Bd. III: Wirtschaft, Verkehr, Arbeitsmarkt. Münster 1932. Bd. IV, 1—4: Wesenszüge seiner Kultur. Münster 1958. 196 5. 196 4. 1970. Bd. V, 1: Mensch und Landschaft. Münster 1970. Rein 1958 = Kurt Rein: Die Bedeutung von Tierzucht und Affekt für die Haustierbenennung, untersucht an der deutschen Synonymik für capra domestica. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen. Hrsg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. I. Gießen 1958, 191—295. Reitz 1964 = Brunhilde Reitz: Die Kultur von ‘brassica oleracea’ im Spiegel deutscher Sprache. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen. Hrsg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. IV. 1964, 471—636. Röhr/Zender 1937 = E. Röhr/Matthias Zender: Zum Erscheinen des Atlas der deutschen Volkskunde. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 7. 1937, 73—89. Rössing 1958 = Hans Rössing: Wortzusammensetzung und Wortbedeutung. Untersuchungen im
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Anschluß an die germanischen Bezeichnungen für Skarabäiden. In: Deutsche Wortforschung i n europäischen Bezügen. Hrsg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. I. Gießen 1958, 523—635. Schier 1932 = Bruno Schier: Hauslandschaften und Kulturbewegungen im östlichen Mitteleuropa. Reichenberg 1932. Schilling-Thöne 1964 = Anneliese Schilling-Thöne: Wort- und sachkundliche Untersuchung zur Synonymik des Backtrogs. Ein Beitrag zur Typologie der Gefäßbezeichnungen. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen. Hrsg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. IV. 1964, 1—200. Schirmunski 1930 = Viktor Schirmunski: Sprachgeschichte und Siedlungsmundarten. In: Germanisch-Romanische Monatshefte 18. 1930, 113— 122 und 171—188. Schmidt-Wiegand 1978 = Ruth Schmidt-Wiegand: Studien zur historischen Rechtswortgeographie. Der Strohwisch als Bann- und Verbotszeichen. Bezeichnungen und Funktionen. München 1978 (Münstersche Mittelalter-Schriften Bd. 18). Schmitt 1957 = Ludwig Erich Schmitt: Sprache und Geschichte. In: Hessische Blätter für Landesgeschichte 7. 1957, 259—282. Schmitt 1958 = Ludwig Erich Schmitt: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen. Vorwort. Bd. I. Gießen 1958, X—XII. Schmitt 1965 = Ludwig Erich Schmitt: Das Forschungsinstitut für deutsche Sprache — Deutscher Sprachatlas — an der Universität Marburg. Mit wissenschaftlichem Jahrsbericht 6 19 4. Marburg o. J. (1965). Schmitt 1966 = Ludwig Erich Schmitt: Untersuchungen zu Entstehung und Struktur der „Neuhochdeutschen Schriftsprache”. Köln. Graz 1966 . (Mitteldeutsche Forschungen 36. I.). Schneider 1963 = Elmar Schneider: Romanische Entlehnungen in den Mundarten Tirols. Ein dialektgeographischer Versuch. In: Wortforschung in europäischen Bezügen. Hrsg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. III. Gießen 1963, 443—679. Schöller 1960 = Peter Schöller: Kulturraumforschung und Sozialgeographie. In: Aus Geschichte und Landeskunde. Franz Steinbach zum 6 5. Geburtstag gewidmet von seinen Freunden und Schülern. Bonn 1960, 672—685. Schrader 1964 = Edda Schrader: Die räumlichen und historischen Schichten in der Synonymik für „Mohrrübe”. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen. Hrsg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. IV. 1964, 355—470. Schrader 1967 = Edda Schrader: Sprachsoziologische Aspekte der deutschen Wortgeographie. In: Zeitschrift für Mundartforschung 34. 6 19 7, 124—136. Schumacher 1963 = Theo Schumacher: Sprachliche Deformation und Formation. Zur Wortgeographie der „Ameise”. In: Deutsche Wortfor-
112
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
schung in europäischen Bezügen. Hrsg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. II. Gießen 1963, 301—316. Schützeichel 1956 = Rudolf Schützeichel: Untersuchungen zur mittelrheinischen Urkundensprache des 13.—1 6 . Jahrhunderts. In: Nassauische Annalen 67. 1956. 33—74. Schützeichel 1956 a = Rudolf Schützeichel: Urkundensprache und Mundart am Mittelrhein. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 75. 195 6 , 73—82. Schützeichel 1960 = Rudolf Schützeichel: Mundart, Urkundensprache und Schriftsprache. Studien zur Sprachgeschichte am Mittelrhein. Bonn 1960 (Rheinisches Archiv 54). Schützeichel 1961 = Rudolf Schützeichel: Die Grundlagen des westlichen Mitteldeutschen. Tübingen 1961. Schützeichel 1963 = Rudolf Schützeichel: Köln und das Niederland. Zur sprachgeographischsprachhistorischen Stellung Kölns im Mittelalter. Groningen 1963. Schützeichel 1963 a = Rudolf Schützeichel: Das westfränkische Problem. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen. Hrsg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. II. Gießen 1963, 469—523. Schützeichel 1965 = Rudolf Schützeichel: Die Franken und die sprachlichen Barrieren am Rhein. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 30. 196 5, 30—57. Schwarz 1935 = Ernst Schwarz: SudetendeutscheSprachräume. München. Prag 1935. Schwarz 1937 = Ernst Schwarz: Deutsche Siedlung in den Sudetenländern im Lichte sprachlicher Volksforschung. In: Das Sudetendeutschtum. Sein Wesen und Werden im Wandel der Jahrhunderte. Festschrift zur 75. Jahrfeier des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen. Hrsg.: Gustav Pirchan, Wilhelm Weizsäcker, Henoz Zatschek. Prag/Leipzig/Wien 1937, 85—108. Schwarz 1939 = Ernst Schwarz: Untersuchungen zur deutschen Sprach- und Volkstumsgeschichte Mittelmährens. Brünn/Leipzig 1939 (Arbeiten zur sprachlichen Volksforschung in den Sudetenländern. H. 5). Schwarz 1942 = Ernst Schwarz: Die Mundartforschung in ihrer Bedeutung für die ostdeutsche Stammeskunde. In: Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg. Hrsg. v. Hermann Aubin. Otto Brunner. Wolfgang Kothe. Johannes Papritz. Bd. I. Leipzig 1942, 537—559. Schwarz 1950 = Ernst Schwarz: Die deutschen Mundarten. Göttingen 1950. Schwarz 1951 = Ernst Schwarz: Goten, Nordgermanen, Angelsachsen. Bern/München 1951. Schwarz 1953 = Ernst Schwarz: Germanische Sprachgeschichte und Sprachgeographie. In: Zeitschrift für Mundartforschung 21. 1953, 129—148. Schwarz 1955 = Ernst Schwarz: Mittelalterliche
Ostsiedlung im Lichte deutscher Wortgeographie. In: Ostdeutsche Wissenschaft. Jahrbuch des Ostdeutschen Kulturrates. Bd. II. München 1955, 227—256. Schwarz 1960 = Ernst Schwarz: Sprache und Siedlung in Nordostbayern. Nürnberg 196 0 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft IV). Spranger 1936 = Eduard Spranger: Probleme der Kulturmorphologie. In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philologisch-historische Klasse 1936, 2—39. Steinbach 1926 = Franz Steinbach: Studien zur westdeutschen Stammesund Volksgeschichte. 1926 (Schriften des Instituts für Grenz- und Auslandsdeutschtum an der Universität Marburg. H. 5). Steinbach/Petri 1939 = Franz Steinbach/Franz Petri: Zur Grundlegung der europäischen Einheit durch die Franken. Leipzig 1939 (Deutsche Schriften zur Landes- und Volksforschung. Hrsg. v. Emil Meynen. Bd. I). Steinbach 1952 = Franz Steinbach: Deutsche Sprache und deutsche Geschichte. Bemerkungen zur Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache von Theodor Frings. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 17. 1952, 332—343. Mit einer Karte von Matthias Zender. Steinhauser 1952 = W. Steinhauser: Germanische Graswirtschaft und deutsche Wortgeographie. In: Zeitschrift für Mundartforschung 20. 1952, 65—92. Tallen 1963 = Maria Tallen: Wortgeographie der Jahreszeitennamen in den germanischen Sprachen. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen. Hrsg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. II. Gießen 1963, 159—229. Teuchert 1915 = Hermann Teuchert: Grundsätzliches über die Untersuchung von Siedlungsmundarten. In: Zeitschrift für deutsche Mundarten. 1915, 409—415. Teuchert 1942 = Hermann Teuchert: Niederländische Siedlung in Nord- und Mitteldeutschland während des 12. Jahrhunderts. In: Forschung und Fortschritte XVIII. 1942, 305. Teuchert 1944 = Hermann Teuchert: Die Sprachreste der niederländischen Siedlungen des 12. Jahrhunderts. Neumünster 1944. Trier 1926 = Jost Trier: Patrozinienforschung und Kulturgeographie. In: Historische Zeitschrift 134. München 1926, 319—349. Varga 1937 = Anna Varga: Siedlungsgeschichte in ihrer verschiedenartigen Wirkung auf Lautlehre und Wortschatz eines Hessendorfes in Ungarn (Kistorma’s). In: Zeitschrift für Mundartforschung. 1937, 193—213. Veith 1968 = Werner H. Veith: Pennsylvaniadeutsch. Ein Beitrag zur Entstehung von Siedlungsmundarten. In: Zeitschrift für Mundartforschung 35. 1968, 254—271.
5. Prinzipien und Praxis dialektaler Lexikographie am Beispiel des Rheinischen Wörterbuches
Wagner 1922 = Kurt Wagner: Geographisch-historische Volkskunde. In: Hessische Blätter für Volkskunde 21. 1922, 1—22. Wagner 1926 = Kurt Wagner: Der Sprachatlas und seine Bedeutung für die Heimatforschung. In: Rheinische Heimatblätter 3. 1926, 293—296. Wagner 1927 = Kurt Wagner: Deutsche Sprachlandschaften. Marburg 1927. Wagner 1954 = Kurt Wagner: Die Gliederung der deutschen Mundarten. Begriffe und Grundsätze. Mainz 1954 (Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Mainzer Akademie 12). Weiß 1947 = Richard Weiß- Die Brünig-NapfReuß-Linie als Kulturgrenze zwischen Ost- und Westschweiz auf volkskundlichen Karten. In: Geographica Helvetica 2. 1947, 153—175. Zitiert nach: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 58. 1962, 201—231. Weiß 1951 = Richard Weiß: Sprachgrenzen und Konfessionsgrenzen als Kulturgrenzen. In: Laos Tome 1. Stockholm 1951, 96—110. Weiß 1952 = Richard Weiß: Kulturgrenzen und ihre Bestimmung durch volkskundliche Karten. In: Studium Generale 5. 1952, 363—373. Wiegelmann 1965 = Günter Wiegelmann: Probleme einer kulturräumlichen Gliederung im volkskundlichen Bereich. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 30. 1965, 95—117. Wolf 1968 = Herbert Wolf: Zur Wortgeographie der deutschen Bergmannssprache. In: Wortgeographie und Gesellschaft. Berlin 1968, 418—441. Wortgeographie und Gesellschaft 1968 = Wortgeographie und Gesellschaft. Hrsg. v. Walther Mitzka. Festgabe für Ludwig Erich Schmitt zum 60. Geburtstag am 10. Februar 1968. Berlin 1968. Wrede 19 0 2 = Ferdinand Wrede: Ethnographie und Dialektwissenschaft. In: Historische Zeitschrift 88. 1902, 22—43. Zitiert nach: Wrede 196 3, 294—308.
5. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
113
Wrede 1921 = Ferdinand Wrede: Mundartenforschung und Volkskunde. In: Velhagen und Klasings Monatshefte 35. 1921, 6 43— 6 47. Zitiert nach: Wrede 1963, 345—352. Wrede 1924 = Ferdinand Wrede: Ingwäonisch und Westgermanisch. In: Zeitschrift für Deutsche Mundarten 19. 1924, 270—284. Wrede 1929 = Ferdinand Wrede: Sprachatlas und Geschichtsforschung. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins 77. 1929, 236—240. Wrede 1963 = Ferdinand Wrede: Kleine Schriften. Marburg 19 6 3 (Deutsche Dialektgeographie 60). Zender 1953 = Matthias Zender: Zur Technik und Methode zweier Quellenwerke der Kulturraumforschung. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 18. 1953, 88—101. Zender 1959 = Matthias Zender: Einführung. In: Atlas der deutschen Volkskunde. Neue Folge. Hrsg. von Matthias Zender. Erläuterungsband I. Marburg 1959, §§ 1—44. Zender 1959 a = Matthias Zender: Räume und Schichten mittelalterlicher Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung für die Volkskunde. Düsseldorf 1959. Zender 1965 = Matthias Zender: Die kulturelle Stellung Westfalens nach den Sammlungen des Atlas der deutschen Volkskunde. In: Der Raum Westfalen IV,2. 1965, 1—69. 26 Karten. Zimmermann 195 0 /51 = Walther Zimmermann: Zur Grenze des niederrheinischen zum westfälischen Kunstraums. Mit 11 Karten. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 15/1 6 . Festgabe für Hermann Aubin zum 65. Geburtstag. 1950/51, 465—494. Zimmermann 1952 = Walther Zimmermann: Kunstgeographische Grenzen im Mittelrheingebiet. Mit 10 Karten. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 17, 1952, 89—119.
Gerda Grober-Glück, Bonn
Prinzipien und Praxis dialektaler Lexikographie am Beispiel des Rheinischen Wörterbuches Zur Geschichte des Rheinischen Wörterbuches Probleme der Sammlung des Sprachbestandes Verhältnis des erfaßten zum tatsächlichen Wortschatz Anlage der Veröffentlichung Bedeutung des Wörterbuches für die Forschung Literatur (in Auswahl)
1.
Zur Geschichte des Rheinischen Wörterbuches
Über die Geschichte des Rheinischen Wörterbuches, den Ablauf der Arbeiten, die Bearbeiter und Helfer ist an mehreren Stellen vielfältig berichtet worden (vgl. Müller 1926 , Zender 1976, 142).
114
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Hier genügen wenige Angaben. Das Rheinische Wörterbuch ist im November 1904 in Bonn als Unternehmen der Preußischen Akademie der Wissenschaften begründet worden. Die Leitung übernahm Professor Dr. J. Franck. Wissenschaftliche Mitarbeiter waren von Anfang an Professor Dr. J. Müller, ein Schüler von Franck, Oberlehrer in Trier, ab 1. 4. 1907 in Bonn und der Altphilologe Dr. P. Trense, Oberlehrer in Rheydt, der aber wegen Erkrankung nach wenigen Jahren ausschied. Januar 1914 übernahm J. Müller die Leitung. Die erste Lieferung des Werkes erschien im Jahre 1923. Im Jahre 1930 wurde das Rheinische Wörterbuch als eigene Abteilung dem Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande (Bonn) angegliedert und wird derzeit von Professor Dr. W. Besch geleitet. J. Müller starb im Februar 1945. Danach übernahm Professor Dr. K. Meisen die Leitung. Die Bearbeitung lag jedoch bei andern, vor allem bei Dr. H. Dittmaier, der 1970 verstorben ist. Über das Wörterbuch selbst mag die Titelei der neun Bände unterrichten: Rheinisches Wörterbuch. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde und des Provinzialverbandes der Rheinprovinz auf Grund der von J. Franck begonnenen, von allen Kreisen des Rheinischen Volkes unterstützten Sammlung bearbeitet und herausgegeben von Josef Müller, Klopp Verlag, Bonn 1928, Bd. I (A—D) XIX, 16 06 Sp. mit 1 Karte. Bd. II (E—G) 1530 Sp., 1931. — Bd. III (H—J) 126 4 Sp. mit 30 Wortkarten, 1935. — Bd. IV (K) 1808 Sp. mit 33 Wortkarten, 1938. — Bd. V (L—M) 1505 Sp. mit 27 Wortkarten, 1941. — Bd. VI (N—Q) 136 2 Sp. mit 26 Wortkarten, 1944. — Bd. VII (R—Sch) 2096 Sp. mit 43 Wortkarten, bearbeitet von † Josef Müller unter Mitarbeit von Matthias Zender und Heinrich Dittmaier, hrsg. von Karl Meisen, 1948—58. Bd. VIII (Se—T) 1510 Sp. mit 11 Wortkarten, bearbeitet von † Josef Müller unter Mitarbeit von Heinrich Dittmaier, hrsg. von Karl Meisen, 1958—196 4. — Bd. IX (U—Z), Nachtrag A—Z mit 38 Wortkarten, Grundwörterverzeichnis etc. 1958 Sp. Nach den Vorarbeiten von † Josef Müller bearbeitet von † Heinrich Dittmaier, hrsg. von † Heinrich Dittmaier, Rudolf Schützeichel, Matthias Zender, 1964—1971.
Im Rahmen des Themas stellen sich bei jedem Mundartwörterbuch drei Fragen. Mögen auch die Antworten im einzelnen verschieden ausfallen, grundsätzlich aber gelten diese Ausführungen für alle landschaftlichen Wörterbücher, soweit die Sammelarbeit in der Hauptsache zwischen 1900 und 1945 ge-
leistet wurde (vgl. auch Art. 3, 11 u. 79). Es wird eine Antwort auf folgende Fragen gesucht: (1) Wie weit wird im Rheinischen Wörterbuch und in den zugrunde liegenden Sammlungen ein Spiegelbild der ‘Mundart’, d. h. der von der Schriftsprache verschiedenen Regionalsprache gegeben. Wo liegt die Grenze gegenüber der Hochsprache? Worin sind die Mängel der Sammlung zu sehen? (2) Ist die Veröffentlichung in Anlage, Umfang und Darstellung ausreichend und gerechtfertigt? (3) In welcher Weise ist ein Wörterbuch wie das Rheinische in der Forschung benutzt worden? Wie weit genügt es noch heutiger Sprachwissenschaft?
2.
Probleme der Sammlung des Sprachbestandes
Im Kreise der Deutschen Commission der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin wurde im Jahre 1904 eine systematische Aufnahme der Mundarten des preußischen Staatsgebietes beschlossen als Vorbereitung für einen Thesaurus Linguae Germanicae, für den selbst das Grimmsche Wörterbuch „nur eine dankbar zu benutzende Vorarbeit“ sein werde. Die fränkischen Gebiete, und damit das Rheinland, schienen für einen Beginn besonders geeignet, nicht bloß ihres besonderen Sprachcharakters wegen, sondern auch weil dort J. Franck, ein Gelehrter von übernationalem Ruf, sich zur Annahme der Aufgabe bereiterklärte, ein Mann also, der durch seine Arbeiten zum Altniederländischen und Altfränkischen ausgewiesen war und der sich schon 1894 für die Mundartforschung eingesetzt hatte. Franck, der von Anfang an von seinem Schüler J. Müller unterstützt wurde, plante zunächst ein Wörterbuch des Fränkischen, das auch das Großherzogtum Luxemburg und Teile von Nassau einschließen sollte. Das Bearbeitungsgebiet paßte sich jedoch sehr bald aus rein praktischen Gründen der Rheinprovinz, unter Einschluß des damaligen Fürstentums Birkenfeld und des westfälischen Kreises Siegen, an, also im wesentlichen einem modernen Verwaltungsbezirk ohne Rücksicht auf die Mundart. Damit nahmen die Bearbeiter große Schwierigkeiten in Kauf, denn im Rheinland sind die Mundarten oft auf kleinem Raum sehr unterschiedlich, und das Rheinische Wörterbuch überspannt eine Länge von 300 km (vgl. Karte 5.1.).
5. Prinzipien und Praxis dialektaler Lexikographie am Beispiel des Rheinischen Wörterbuches
115
Karte 5.1: Arbeitsgebiet des Rheinischen Wörterbuches (aus Rheinisches Wörterbuch Bd. 9, 1964—1971, Übersichtskarte)
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Erfahrungen für eine solche Aufgabe fehlten damals fast vollständig. Die bisherigen Aufnahmeverfahren, etwa beim Sprachatlas des Deutschen Reiches, waren um die Jahrhundertwende sehr umstritten (vgl. Art. 3 u. 29). Erst aus heutiger Sicht kann man sich darüber wundern, wie unbeholfen sich damals selbst Mundartkenner und Sprachforscher bei der Aufnahme der Mundarten eines solch großen Gebietes anstellten. Planungen, die dann wieder verworfen werden mußten, und schließlich geglückte Versuche wechselten ab. J. Franck hat dabei von Anfang an die besondere Begabung seines Schülers J. Müller zur Sprachbeobachtung anerkannt. Ein größerer Teil des Materials sollte später durch Exploratoren aufgenommen werden. Dennoch war den Beteiligten klar, daß trotz allen Bedenken Mithilfe von Laien unerläßlich war. Die ersten Schriften zur Werbung „Anfragen und Mitteilungen“ (Heft 1—6 ) sowie drei „Proben zum Rheinischen Wörterbuch“ (Die Arten des Gehens und Laufens usw.) mit breit ausgearbeiteten Artikeln zu einzelnen Stichwörtern führten nur einen kleinen Bestand von sicher sehr guten Mitarbeitern heran. Die schon recht vollständigen Artikel schreckten eher ab, wie auch die ersten Fragebogen mit ihren umfänglichen Beschreibungen von vielen unbekannten Einzelheiten kein Erfolg waren. Erst die Fragebogen mit einer sachlich rasch wechselnden Folge von kurzen, prägnanten Fragen wurden von den Helfern angenommen und regten zur Mitarbeit an. Schließlich konnten bei einzelnen Bogen 2— 3000 Mitarbeiter gewonnen werden. Bis zuletzt aber gab die Leitung des Wörterbuches den freien, in systematischer Erfragung oder in teilnehmender Beobachtung gewonnenen Beiträgen gegenüber den Fragebogen den Vorzug. Erst wenn der Quell der freien Mitarbeit zu versiegen drohte, half man mit Fragebogen nach. So ist deren Bestand mit 51 Nummern nicht allzu groß. (Ein Ausschnitt aus dem Fragebogen Nr. XVI I I ist abgedruckt bei Wiegand/Harras 1971, 199.) Einige Fragebogen waren übrigens schon um 1908 auf die Dialekt- und Wortgeographie ausgerichtet. Als wirksame Hilfe bei der Werbung erwies sich eine „Anleitung zur Sammlung des Stoffes für ein rheinisches Wörterbuch“, deren 2. Aufl. bereits vor dem 1. 4. 1907 erschien, die dritte dann 1917. Vor allem eine
Abb. 5.1: Ausgefüllter Fragebogen zum Rheini- schen Wörterbuch (aus Archiv des Rheinischen Wörterbuchs) in allen Aufl. unveränderte, leider zu grobe sachliche Gliederung des Stoffes sprach an. Wenn auch in diesem Heft eine Definition von Mundart fehlt — sie galt offensichtlich als klarer und fester Begriff —, kann man doch durch den Schleier der Mitarbeiterwerbung und Anleitung hindurch Prinzipien und Vorstellungen der verantwortlichen Leiter für ihre Arbeit eruieren. Da heißt es: der „gesamte Sprachschatz des mundartlichen Verkehrs“ sei zu erfassen. Dabei „handelt es sich auch um alles, was in der Bedeutung und Anwendung oder auch in der Form über die gewöhnlichen mundartlichen Eigentümlichkeiten hinaus vom Schrift- oder Gemeindeutschen abweicht“. In der 2. Aufl. heißt es erweiternd und spezifizierend: „Nicht bloß die volle Mundart, sondern auch die mehr nach dem Hochdeutschen zu abgeschliffene Umgangssprache in Stadt und Land in den verschiedenen Abstufungen bis auf einzelne mundartliche Einschläge in hochdeutscher Rede“ solle erfaßt
5. Prinzipien und Praxis dialektaler Lexikographie am Beispiel des Rheinischen Wörterbuches
werden. „Zur Mundart gehört auch alles, was noch genauer mit der Schriftsprache übereinstimmt, soweit es in den alltäglichen Gebrauch Eingang gefunden hat.“ Damit wendet sich Franck — wie er anderwärts ausdrücklich hervorhebt — gegen die Auffassung des Schweizerdeutschen Wörterbuches, das aus der Literatursprache eingedrungene Wörter und Wendungen ausschloß. Die ausführlichen Anweisungen und vielfachen Bemühungen, vom einfachen Verb oder Grundwort ausgehend, Ableitungen, Weiterbildungen und Zusammensetzungen sowie „auffallende“ grammatische und syntaktische Eigenheiten, „grammatische Gruppen“, einzubeziehen, brachten nur spärliche Ernte. Vor allem aber bemühen sich die Anleitungen um eine möglichst genaue und umfassende Angabe der Bedeutung: „Die Bedeutungen sind weniger durch Umschreibungen als durch Beispiele aus der lebendigen Alltagsrede, womöglich durch gangbare, feste Redensarten zu verdeutlichen.“ Es heißt einmal an anderer Stelle, es sei ein „beträchtlicher Aufwand an Sätzen für die Bedeutung“ notwendig. Vor allem „eine ausführliche, nicht auf reine Idiotismen beschränkte Sammlung von Redensarten“ sei von größtem Wert. Endlich findet sich der Passus, es sei anzugeben, „ob eine Einzelheit nicht allgemein gebräuchlich ist, sondern nur einem bestimmten Stande oder Lebensalter angehört, oder ob sie nur [...] unter besonderen Umständen gebraucht wird“. Die Verfasser der Anleitung haben also die regional und sozial bestimmte, von der Gemeinsprache abweichende, wenn auch schon von ihr beeinflußte Sprechweise als ‘Mundart’ verstanden. Bei der Aufnahme wurde auf eine möglichst zwanglose Einstellung des Sammlers gedrängt. Jede Enge, jede Einschränkung sollte vermieden werden, bei der Beobachtung sollte möglichst alles Gehörte beachtet werden. Zu diesem schon recht rationalen Verständnis von Mundart paßt, daß selbst bei der Werbung dem Studium der Hochsprache aus wissenschaftlicher Verantwortung der erste Rang zuerkannt wird. Das damals gängige und werbewirksame Wort vom „Untergang der Mundart“ klingt eher gezwungen und ist offenbar eine Konzession an die große Zahl von Mundartfreunden, die auf dieses Schlagwort ansprachen. Besser begründet man den Aufruf mit Veränderungen der Sprache.
3.
117
Verhältnis des erfaßten zum tatsächlichen Wortschatz
Ein Wörterbuch ist sicherlich von der Auffassung der Bearbeiter, in diesem Falle der Leitung des Bonner Unternehmens, bestimmt. Bei so vielen Laienhelfern prägen allerdings auch deren Weltbild und ihre Meinung über Sprache und Volksleben eine solche Sammlung. Die Helfer aber waren eindeutig vom Rettungsgedanken beflügelt, sie wollten ausgefallene, alte, für Ort und Landschaft kennzeichnende Wörter und Redewendungen aufschreiben. Begeistert wurde von Helfern der Wunsch angenommen, möglichst Beispielsätze, Redensarten, Vergleiche und Sprichwörter mitzuteilen. Selbst wenn Müller einmal über das geringe Echo geklagt hat, in dieser Hinsicht übertrifft das Rheinische Wörterbuch fast alle ähnlichen Werke. Sogar der mehr am Rande geäußerte Wunsch nach zeitlichen Angaben über Wortund Sprachgebrauch war fruchtbar, wenn auch wie immer genauen Zeitangaben der Laienhelfer nicht zu trauen ist. Aus dem Bereich sozialer Schichtung dagegen wird kaum etwas sichtbar. Nur „Kindersprache“ kommt öfters auf den Zetteln vor. Obwohl Anfragen und Mitteilungen einmal nachdrücklich auf die sogenannten Kleinwörter hinweisen, genügen die Materialien weder für diese Stiefkinder der Sprachforschung, noch für sog. Allgemeinwörter (etwa die Modalverben). Zu Konjugation und Deklination sind allenfalls die ‘auffallenden’ Formen angegeben worden. Niemand wird füglich behaupten, ein Wörterbuch sei ‘vollständig’. Bei Sammlungen, die sich über 35 Jahre erstrecken, die erfüllt waren von spektakulären Ereignissen, von wirtschaftlichem und kulturellem Wandel, vielfachen Veränderungen in der Sprache, ist eine volle Gleichförmigkeit nicht zu erwarten. Im Rheinischen Wörterbuch ist der ältere Sprachstand im wesentlichen, ja überraschend gut erfaßt. Aber das ist die Mundart, wie sie zwischen 1900 und 1930 noch b e k a n n t war. Damit ist das Rheinische Wörterbuch nicht bloß aus heutiger Sicht, sondern schon für die Zeit der Aufnahme retrospektiv. Neu aufkommende Wörter finden sich in ziemlicher Anzahl, doch fehlt die systematische Beachtung. Um das Verhältnis des Wörterbuchmaterials zur Sprachwirklichkeit näher zu bestimmen, seien einige im Rheinischen Wörterbuch entweder überhaupt nicht oder erst im
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Nachtrag berücksichtigte umfangreiche Sammlungen mit dem Text verglichen. In dem Probebogen von 1929 für den Atlas der deutschen Volkskunde konnten z. B. die Beantworter Brotsorten benennen, also Schwarzbrot, Feinbrot, Oberländer usw. Insgesamt kennen wir 70 Bezeichnungen; von ihnen finden sich 24 sowohl im Wörterbuch wie im Fragebogen, 37 nur im Wörterbuch und 7—8 nur im Fragebogen, darunter so späte und fremde Bildungen wie Graham-, Vollkorn-, Teebrot. Es fehlt im Wörterbuch aber erstaunlicherweise die Bezeichnung Rundbrot, die auf dem Hunsrück und an der Mosel oft gebraucht wird, denn runde Brote gab es seit jeher. Sie zu benennen aber war erst geboten, seit die Bäckerei auch Brote anderer Form verkaufte. Das Wort kam also nach 1918 auf, und so erklärt sich das Fehlen des Neulings im Wörterbuch. Unsere allgemeine Feststellung über Vollständigkeit gilt nur sehr eingeschränkt bei Berufs- und Fachsprachen. Doch gibt es da große Unterschiede. Bei dem Wortschatz eines regionalen, aber doch verbreiteten landwirtschaftlichen Nebenbetriebs wie der Branntweinbrennerei ist der gesamte Wortschatz außer einigen Zusammensetzungen und einem abgeleiteten Verb nachzuweisen, wenn auch die Beschreibung zu allgemein ist. Anders ist die Lage bei einem Sondergewerbe wie der Eisenindustrie in Velbert und Remscheid. Der Vergleich ist hier dank einer Spezialarbeit möglich. Die Arbeit von H. Hardenberg (1940) ging auf eine Anregung von J. Müller zurück. Wie sich nach Abschluß zeigte, lag zwar der wesentliche, wenn auch schwer abschätzbare Teil des zugehörigen Sprachgutes bereits beim Wörterbuch vor. Allerdings fehlten dort doch sehr wichtige und in Arbeiterkreisen allgemein gebrauchte Wörter, so etwa Feierabend ‘Arbeits-, Lohneinheit’, dann viele damals neue Wörter wie Arbeitsbrocken, Bude, und vor allem gängige, fast selbstverständliche Zusammensetzungen wie Amboß-schmied oder Balgleder. Auch die intern gebrauchten Wörter hat erst die Arbeit von Hardenberg beigebracht, etwa Ballhammer oder die Bezeichnungen für spezielle Ausformungen der Produkte nach Gebrauch und Bestimmungsort mit meist nur geringer Differenzierung von Material und Aussehen, z. B. Berliner Schloß oder Danziger Schloß. Bei sehr vielen Wörtern aus Fachsprachen ist im Wörterbuch die spezielle Bedeutung der Fachausdrücke un-
ter die vielleicht nur wenig abweichende allgemeine Bedeutung subsumiert. Dabei waren die örtlichen Laienhelfer, nur selten Berufszugehörige, meist schon ungenau, sie konnten nur recht verschwommen Auskunft geben. Der Bearbeiter des Wörterbuches hat bei der Zusammenfassung das vorliegende Material sicherlich nicht verbessert. Zu vergleichen wäre etwa die ungenaue und verdeckte Angabe zu Bärenstall (Rhein. Wb. 1, 458) mit der offenen und direkten bei Hardenberg (1940, 86 ) oder die Formulierungen zu breiten (Rhein. Wb. 1, 96 1; Hardenberg 1940, 91). Über den Einfluß der Berufszugehörigkeit auf die allgemeine Sprechweise liegen nur sporadische Beobachtungen vor. Andere Verhältnisse ergeben sich bei dem emotional bestimmten Sprachbestand, bei Redewendungen und Vergleichen. Hier entsteht und vergeht ständig Sprachgut, die Lebensdauer ist oft kurz, vieles ist individuell geprägt und gebraucht, es bleibt auf Gruppen verschiedenster Art und Größe beschränkt. Nach Sammlungen des Atlas der deutschen Volkskunde (ADV) bietet die Arbeit von G. Grober-Glück (1974) umfangreiches, aufbereitetes Material zu einzelnen Komplexen dieser Art aus Mundart und Umgangssprache. Aus rund 61 00 rheinischen Orten sind im ADV-Fragebogen von 1935 zu Berufsspott, Vergleich, Redensarten, Orakel und geselligen Meinungen lokal und zeitlich festgelegte Angaben eingetragen worden, die im Rheinischen Wörterbuch nicht mehr verwertet wurden und die im Vergleich der beiden Sammlungen Aufschluß über den Grad der Erfassung von besonderem Sprachgut im Wörterbuch geben. Zugleich wird deutlich, wie rasch sich Antworten oft desselben Beantworters ändern, wenn der zeitliche Abstand zwischen beiden Aufnahmen größer ist und vor allem, wenn die Umfragen unterschiedliche Schwerpunkte setzen — hier Mundart, dort das Leben des Volkes — oder wenn die Nachbarfragen z. T. modernere Lebensverhältnisse betreffen. Zunächst wird auf Berufsspott eingegangen, der in älteren Fragebogen des Wörterbuches sowie in der Anleitung bereits angesprochen war und in Fragen des Atlas der deutschen Volkskunde sehr nachdrücklich und ausführlich gefordert wird. Eine Tabelle gibt Auskunft über solche Bezeichnungen bei den Berufen Bäcker, Polizist und Friseur. Verständlicherweise sind nicht alle Bezeichnungen im Wörterbuch aufgespürt, so daß
5. Prinzipien und Praxis dialektaler Lexikographie am Beispiel des Rheinischen Wörterbuches
Bäcker Polizist Friseur
ADVADV + Rh. Wb. Sa. Rh. Wb. 18 9 83 56 31 2 119 86 33 12 131 86
bei der dritten Gruppe (nur im Wörterbuch) eine dunkel gebliebene Zahl zuzuschlagen ist. Als gesicherter Extremfall dazu sei bei Bäckerspott Teig angeführt. Nur ein einziger Spottname Teigaffe findet sich sowohl im Wörterbuch wie im Atlas der deutschen Volkskunde, zwei stehen nur im Wörterbuch, aber 19 Zusammensetzungen mit Teignur in den Fragebogen des Atlas. Obwohl im Falle von Bäckerspott die mundartliche Grundlage viel gefestigter ist als bei den beiden anderen, wird bei den drei Berufen einheitlich rund ein Viertel sowohl im Wörterbuch wie in den Fragen des Atlas genannt. Rund zwei Drittel der Wörter zu Berufsspott aus den Atlasfragebogen fehlen im Wörterbuch. Vereinzelt mögen sich altmundartliche Wörter darunter finden wie Schaber für Friseur. Aber die vielfach möglichen Zusammensetzungen, die sich aus fast unerschöpflichem Fundus von Grund- und Bestimmungswörtern überkreuzen, sind so variabel, daß ein Teil fehlen muß. Vizekoch ‘schlechter Koch’ ist im Wörterbuch erwähnt, Vizebäcker des Fragebogens dagegen nicht. Zum Teil allerdings sind die im Wörterbuch fehlenden Wörter erst nach dem Ersten Weltkrieg entstanden, wie der Grüne für Polizist. Der größte Teil der im Wörterbuch fehlenden Bezeichnungen gehört aber umgangssprachlichen Schichten, auch sozial besonderen Gruppen an, wie Verschönerungsrat, Schaumschläger, Auge des Gesetzes usw. Auch lokale oder persönliche Prägungen fehlen im Wörterbuch, wie Seifneckel, Bartkaspar usw. Zwar erscheint ein Teil der Wörter dieser Sprachschicht im Wörterbuch, aber dann sehr blaß und kurz mit dem Vermerk „nach dem Neuhochdeutschen“, „in Städten“, „neuerdings“ u. ä. Sie werden ohne Interesse aufgezählt. Es gibt wie überall so auch hier natürlich einige Bezeichnungen, die nur im Wörterbuch, nicht im Fragebogen vorkommen, so das dort reich belegte Perükkenmacher, das um 1930 offenbar niemand mehr bekannt war. Eine gewisse Scheu scheint manche vor spontaner Mitteilung von Berufsspott abgehalten zu haben. Bei der großen Masse des
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weiteren Sprachgutes von Vergleichen, Redensarten und Meinungen im Buch G. Grober-Glück (1974) entsteht ein etwas anderes Bild. Soweit es sich da um geformtes Wortund Satzgut handelt, sind fast alle Äußerungen sowohl im Fragebogen wie im Wörterbuch belegt, wenn auch vielleicht in etwas anderer Form oder mit Verschiebung des Vergleichspartners. Vogel in der Luft fehlt im Rheinischen Wörterbuch nicht, aber er gehört zu frisch und flott und nicht zu gesund. Geißenhimmel — im Rheinischen Wörterbuch vielfach belegt — bezieht sich dort nicht auf Gesprächsstille. Wenige zeitgebundene, individuelle Schöpfungen fehlen dort, wie gesund wie ein Russenpferd. Bei Komplexen, die zwar in weitem, inhaltlichem Rahmen bekannt, im Wortlaut aber variabel sind, wäre volle formale Gleichheit zwischen Fragebogen und Wörterbuch eher ein Zufall. Fuchs und Pfannen auf dem Kopf für Rothaarige sind sowohl im Wörterbuch wie in den Fragebogen in gleicher Weise überliefert, aber von den zahllosen individuellen Satzbildungen mit diesen Bildern ist jeweils nur eine Auswahl angegeben und diese daher recht unterschiedlich. Viele Meinungen und Inhalte scheinen in konstanten Formeln überhaupt nicht faßbar, sind nur in Ansätzen oder in variantenreichem Rahmen sprachlich gestaltet und fehlen daher im Wörterbuch. Vor allem die Verbreitung solcher unfesten Äußerungen, dem Flugsand vergleichbar, läßt sich nicht festhalten. Hier scheint sich die Grenze eines Wörterbuches in der Erfassung der Sprache anzudeuten. Bei Desinteresse der Hochsprache, also in der Sprache des dörflichen und landwirtschaftlichen Bereichs, heute in offenbarer Regression, bringt ein Wörterbuch auch bei Redensarten eine reichhaltige Palette, wie ein Vergleich etwa bei Wirbelwind oder Wolkenbank zeigt. Ja das Wörterbuch hat bei diesen Begriffen fast die doppelte Zahl von Bezeichnungen, die der ADV-Fragebogen noch verzeichnet. Sprachliche Neuerungen, die verschiedenen sprachlichen Zwischenschichten, mit raschem Aufkommen und Verlust in Wort und Sache fallen bei der stark retrospektiv bestimmten Sprachbeobachtung eines Wörterbuches zurück und werden nur nebenbei erwähnt oder fehlen bei dem geringen Interesse überhaupt. Die Sammlung für das Rheinische Wörterbuch enthält also einen wissenschaftlich
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ausreichenden Bestand der Mundart des Rheinlandes, soweit diese das traditionelle Leben in Arbeit, Alltag, Fest und Glauben betrifft. Neuerungen älterer Zeit mögen noch ausreichend berücksichtigt sein. In Spezialsprachen bleibt die Sammlung — bis auf besonders gelagerte Ausnahmen — in dem auch Berufsfremden bekannten Wortbestand stecken. Neologismen sowie etwas gehobene, ‘städtische’ Sprachschichtungen sind in ziemlichem Umfang, jedoch oft nur andeutungsweise in wenigen Belegen der einzelnen Sprachform erfaßt.
4.
Anlage der Veröffentlichung
In welcher Weise wird nun diese Sammlung in dem veröffentlichten Wörterbuch dargeboten? Die geringen Erfahrungen mit Wörterbucharbeit, ein gewisser provisorischer und informeller Charakter der Arbeitsstelle, die beschränkten finanziellen Mittel und der rasche Wechsel der Mitarbeiter, die fast alle zudem hauptamtlich oder gleichrangig andere Aufgaben hatten, wirkten sich aus. Als einziges Positivum erwies sich die Tatsache, daß J. Müller von 1904—1945, und dann H. Dittmaier bis zu seinem Tod 1970 dem Wörterbuch verbunden waren. Mancher Anfangsfehler war nicht mehr zu beheben. In den dreißiger Jahren war den Beteiligten klar, daß vor 1914 die notwendige Auswahl aus dem eingesandten Material zu sehr unter dem Signum des Idiotikons, der sprachlichen Besonderheit gestanden hatte (vgl. Art. 1 u. 83). Der Versuch nochmaliger Durchsicht des Urmaterials scheiterte an der Fülle des neu zugehenden Bestandes, der zu verarbeiten war. Auf die historischen Belege verzichtete man, als sich der Bearbeiter der Bestände des Kölner Archivs, A. Wrede, zu einer eigenen Darstellung des Altkölner Sprachschatzes (1927) entschloß und zur Fülle des Archivmaterials die Schwierigkeiten mit Urkundensprachen manifest wurden. Zu sehr bestimmte die damalige Überzeugung, das gegenwärtige Sprachbild gebe auch über vergangene Jahrhunderte Auskunft, die Entscheidung, die heute zu bedauern ist. Das in Bonn übersichtlich aufgestellte Material aus älteren Quellen wird kaum genutzt. Müllers Interesse gehörte der lebenden Volkssprache. Mundart war ihm selbstverständliche Sprache seiner Jugend gewesen. In der von ihm gewiesenen Richtung beim Sammeln klingen schon Vorstellungen an,
die in der Volkssprachenforschung der zwanziger Jahre mit den Arbeiten F. Maurers (1927) und F. Strohs (1930) verbunden waren. Fraglos erhielt die spezielle Ausrichtung der Arbeit beim Rheinischen Wörterbuch von dort wissenschaftliche Bestätigung und weiteren Auftrieb. In ähnlicher Weise förderten die Arbeiten von T. Frings und E. Tille (1923) die Ausrichtung des Wörterbuches in wortgeographischem Sinne. Auf Beginn der Veröffentlichung drängten vor allem die Geldgeber, die Termine, wie die Hundertjahrfeier der preußischen Rheinprovinz (1915), vorschlugen. Versuchsweise waren die Buchstaben A und B ausführlich und viel zu umfangreich ausgearbeitet, es gab sogar einen Probedruck von 1914, der öffentlich diskutiert wurde. Dennoch fehlten einige notwendige Vorarbeiten. So gab es Synonymenlisten nur für die 51 Fragebogen. Ein Stichwortverzeichnis vorab zu erstellen, war nicht möglich. Bei Druckbeginn aber waren doch wichtige arbeitstechnische und wissenschaftliche Gesichtspunkte gewonnen, die später auch bei andern Wörterbüchern zum Teil in abgewandelter Form Bedeutung hatten. Dennoch blieben Fragen und Probleme. Die für das Stichwort gültigen Regeln (schriftsprachliche Form; wenn nicht vorhanden, hochdeutscher Vokalismus, mitteldeutscher Konsonantismus) brachten Schwierigkeiten. Zu sehr hatte dabei noch im Unterbewußtsein die Lautgesetzlichkeit Pate gestanden. Volksetymologische und falsche Angleichung, lautliche Veränderung in Emotion und Scherz, Lautmalerei u. ä. führten zu neuen Ansätzen. Fehler können nicht ausbleiben. lautenhart (Rh. Wb. 5, 238) gehört zu läuten (Rh. Wb. 5, 244), Elf (Empore) zu Laube (Rh. Wb. 2, 109), Zagenich und Zunigen (Rh. Wb. 9, 6 88 u. 9, 874) gehören zusammen. Öhmann (196 5) hat weitere Fehler aufgezeigt. Schon während der Bearbeitung verstummte die Diskussion nicht, wie bei zwei Stichwörtern mit gleicher Bedeutung und verwandter, aber nicht identischer Lautentwicklung zu verfahren sei. Das große Umschlag- oder Trauertuch der Frauen etwa findet sich unter Schnapptuch (Rh. Wb. 7, 1547), Schnaubtuch (7, 156 1), Schnauptuch (7, 156 9), Schnopptuch (7, 16 41), Schnufftuch (7, 16 6 4) und Schnupptuch (7, 16 74). Verweise sind zwar zahlreich, aber leider nicht vollständig. Wahrscheinlich ist das System des bayerisch-österreichischen Wörterbuches mit
5. Prinzipien und Praxis dialektaler Lexikographie am Beispiel des Rheinischen Wörterbuches
Hauptstichwort und Verweis vom Nebenstichwort geeigneter und auch der Sprachsituation gemäßer. Wichtige Hilfe beim Nachsuchen im Rheinischen Wörterbuch bietet vorerst das Grundwortverzeichnis im neunten Band und vielleicht später ein geplantes, sachlich geordnetes Register. Bei der verhältnismäßig einfachen phonetischen Umschrift im Rheinischen Wörterbuch nach Theutonista (1, 1924/25, 5 f.) entgehen zwar manche Besonderheiten (das enge, geschlossene e, ein überbreites a oder ä usw.), aber im allgemeinen sind die Angaben in ihrer etwas groben Qualität gesichert. Unsicherheit bestand manchmal bei Akzentverhältnissen; J. Müller hat mehrfach bedauert, hier dem Drängen von T. Frings nach Darstellung des Akzents nachgegeben zu haben. Verbreitungsangaben sind in den ersten Bänden sehr zusammengefaßt, nehmen aber in den folgenden Bänden an Genauigkeit zu. Seit dem dritten Bande sind Wortkarten beigefügt. Erst in jüngster Zeit erkennt man Ansätze (Reichman 1976 , 77—93) zur Diskussion der sehr schwierigen methodischen und technischen Probleme der Wortkarten, wobei die Diskrepanz zwischen wissenschaftlichen Anforderungen, technischen Möglichkeiten und Anschaulichkeit besonders zu beachten ist (vgl. auch Art. 24 u. 25). Welche Kriterien bei Abgrenzung bestimmter Sprachformen auf den Karten gültig sein sollen, ob nicht bloß die Wörter, sondern auch die Lautformen dieser Wörter bei der Zeichnung berücksichtigt werden, bleibt eine Frage. Im allgemeinen sind auf den Karten des Rheinischen Wörterbuches die im Wörterbuchtext unter einem Lemma vereinigten Lautformen zusammengefaßt. Ob die Wortverbreitung durch Grenzlinien abgetrennt wird oder jeder Beleg ortsgetreu durch jeweils ein Zeichen darzustellen ist, muß entschieden werden. Die Wortkarte ‘heiraten’ (Rh. Wb. 3, 459 f.; vgl. Karte 5.2.) mit dem Artikel bestaden (Rh. Wb. 8, 491 f.; vgl. Textbeispiel 5.2.) kann diese Fragen an einem Beispiel illustrieren. Diese Karte bringt neben der Wortverbreitung gewisse grammatische Eigentümlichkeiten (Passiv: er wird geheiratet oder ein Reflexivum: sich trauen) wie auch die lautlich abweichende Form heiern (Rh. Wb. 3, 425) und das sekundäre Hochzeit machen. Das Rheinische Wörterbuch legte von Anfang an Wert auf ausführliche Beschreibungen der Wortbedeutung, auf erläuternde
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Beispielsätze, zugehörige Redewendungen, Sprichwörter und Vergleiche, und damit auf Texte, die den Sprachgebrauch veranschaulichen. Gerade diese Sonderheit, die J. Müller zu verdanken ist, wurde immer lobend hervorgehoben. Aber da diese Texte vor allem im emotionalen Bereich angesetzt sind, erhalten bestimmte Gruppen gegenüber den wort- und sachgeschichtlich wichtigen Bezeichnungen ein ungebührliches Übergewicht. Zum Stichwort ‘Teufel’ gehören 25, zu ‘Esel’ 14, zu ‘mähen’ und ‘dreschen’ aber nur je vier bis fünf Spalten; Ausdrücke für ‘betrunken’, ‘faul’, ‘schmutzig’ usw. begegnen auf fast jeder Seite. Mehrfach sind individuell oder zufällig gebildete Redewendungen aufgenommen und damit sanktioniert. Zum Teil bietet die im Rheinischen Wörterbuch allerdings mit einiger Zurückhaltung ausgewertete Mundartdichtung solche bewußt geschaffenen, vielfach mundartfremden Bilder, Vergleiche und Redensarten. Dagegen bleiben Neologismen und Ausdrücke aus der Umgangssprache farblos, sie sind selten durch weitere Redewendungen erläutert, selten in der Verbreitung und schon gar nicht im ersten Aufkommen fixiert. Der schon früh geäußerte Wunsch, auf die Gruppenzugehörigkeit von Sprachgut zu achten, fand bei den Helfern kein Echo und somit auch keinen Niederschlag im Wörterbuch. Selbst bei einem Bearbeiter, der nie einer Lehrmeinung verhaftet war, dessen einziges Ziel war, ein wirlichkeitsgetreues Bild der Mundarten des Rheinlandes zu geben, werden dennoch Einflüsse der jeweiligen Forschungsrichtungen wirksam. Von der Gegenwart aus gesehen, verdienen die Bearbeiter Dank, daß sie den wechselnden Auffassungen nicht stärker verfielen.
5.
Bedeutung des Wörterbuches für die Forschung
Wie weit entspricht das Wörterbuch den Erwartungen, was bedeutet es für die Wissenschaft? Ein Wörterbuch wie das Rheinische, von vielen, vor allem einzelnen Geldgebern als Volksbuch verstanden (das Hessen-Nassauische 1927 ff. nannte sich sogar ausdrücklich Volkswörterbuch), enttäuschte Heimatfreunde und Regionalforscher ausnahmslos. Die vielen Abkürzungen, die phonetischen Zeichen, vor allem aber das fremdartige Stichwort schreckten ab und versiegelten das Buch für Laien. Die Besonderheiten von Ortsmundarten waren nicht deutlich genug.
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Karte 5.2: Wortkarte ‘heiraten’ (aus Rheinisches Wörterbuch Bd. 3, 1935, 459—460)
5. Prinzipien und Praxis dialektaler Lexikographie am Beispiel des Rheinischen Wörterbuches
Daß im Wörterbuch auf Etymologien verzichtet wurde, war — so scheint es — dem Laien schmerzlicher als dem Sprachwissenschaftler, dem der Ansatz des Stichwortes meist weiterhilft. Der Thesaurus linguae Germanicae ist heute vergessen, eine etwaige Vorarbeit dazu führt also ins Leere. Natürlich behalten die Mundartwortbücher trotzdem ihren wissenschaftlichen Wert für etymologische und sprachgeschichtliche Fragen. Meist allerdings wird in einschlägigen Darstellungen
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die wissenschaftliche Bedeutung dieser Wörterbücher merkwürdig flach, verlegen und mehrfach mit allgemeinen, fast trivialen Redewendungen angedeutet. Es bleibt zu bedauern, daß das Rheinische Wörterbuch wie auch andere Mundartwörterbücher der zwanziger Jahre zwar in Zeitungen und Heimatschriften mit Lobeshymnen überschüttet wurden, daß sogar die wenigen Rezensionen in wissenschaftlichen Zeitschriften mit ihren fast immer anerkennenden Sätzen eigentlich die Rettung des
Textbeispiel 5.2: Artikel staden (aus Rheinisches Wörterbuch, Bd. 8, 1958—1964, 491—492)
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
mundartlichen Sprachgutes als größtes Verdienst priesen. Schließlich hat Müller selbst sein Wörterbuch vorgestellt (Müller 1925). Man sollte klar sagen, was Mundartwörterbücher zu geben vermögen. Zunächst erfassen sie ein Stück vorhandener Sprachwirklichkeit und bewahren eine eigenständige Sprachform (Friebertshäuser 1976 , 8; vgl. auch Art. 41). In dieser Hinsicht sind die Wörterbücher unabhängig von zeitgebundenen Forschungsrichtungen. Sie bleiben für alle etymologischen und sprachgeschichtlichen Arbeiten ein Teil der Grundlage, wichtig aber auch für Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, bei der Geschichte von Arbeit und Gerät, dem Alltagsleben überhaupt. Das Verhältnis von Wort und Sache gibt Aufschlüsse. Das Wort ist konservativer als die Sache. Noch heute heißt ein komplizierter Maschinenteil des Mähdreschers Wann, ursprünglich ein flacher, nach vorne geöffneter Korb, der hier wie dort zum Fruchtreinigen dient. Von dieser Reinigung her heißt das schlechte Korn das Vorderste. Die sprachliche Bewältigung von Neuerungen vermittelt heute wie früher in ihrer zeitlichen und regionalen Verschiedenheit allgemeine Aufschlüsse über die sprachliche Erfassung der Umwelt (vgl. Art. 80). Es sollte dabei möglich sein, nicht bloß einzelne Synonyma in ihrem Verhältnis zueinander in Verbreitung und Entwicklung zu sehen, sondern die Unterschiede in der sprachlichen Gestaltung bestimmter Komplexe und die im sozialen und kulturellen Bereich gegründete Einstellung herauszuarbeiten, um so „zum Vergleich weiträumiger, semasiologischer und onomasiologischer Feldstrukturen“ zu kommen (Friebertshäuser 1976, 9). Wörterbücher werden gerne und oft zu Einzelheiten konsultiert, aber nur sehr selten wurde ein Wörterbuch oder sein Material einzige Grundlage einer größeren wissenschaftlichen Arbeit. Die Sammlung war dafür nicht gezielt genug und zu wenig auf bestimmte Fragestellung ausgerichtet. Wenigstens in einigen Arbeiten ist der Beitrag des Rheinischen Wörterbuches sichtbar geworden. Ein so wichtiges Werk wie die Germania Romana von T. Frings (1932) wäre ohne das Material des Rheinischen Wörterbuches nicht möglich gewesen. Insbesondere T. Frings hat sich von der Wörterbucharbeit im allgemeinen einen Aufschwung deutscher Wortforschung erhofft. Auch die Arbeiten von E. Öhmann (19 6 5) über deutsch-französische Wortzusammenhänge
stützen sich weitgehend auf das Rheinische Wörterbuch. Erwähnt sei noch die Arbeit von A. L. Brockmans über die Haustiernamen des Rheinlandes (1939). Müller hat mit vielen mehr volkstümlichen Beiträgen aus den Sammlungen um neue Mitarbeiter geworben, aber, bedrängt vom Gedanken an den noch fernen Abschluß des Werkes, hat er nur selten eigene Forschung aus dem Bestand des Wörterbuches vorgetragen. Wir können auf seinen Vortrag auf dem Trierer Philologentag über Restwörter (1937) oder seinen Beitrag „Rede des Volkes“ (1926 ) hinweisen, die damals weithin ein Echo fanden. Rheinische und niederländische Mundarten sind vielfach ineinander verwoben, und das Rheinische Wörterbuch gehört zu den ständig benutzten Quellen des niederländischen Philologen. So waren denn auch die persönlichen Beziehungen in den vergangenen Jahrzehnten seit den Tagen von J. Franck sehr eng. Die Hilfe der Mundartwörterbücher bei der regionalen und zeitlichen Einordnung von literarischen Zeugnissen und Handschriften ist sogar beim Rheinischen Wörterbuch anerkannt, obwohl dieses keine historischen Formen bringt. Zwar sind die ersten Zusammenstellungen von Sprachgut nach dem Rheinischen Wörterbuch, wie die Arbeit über das Sagwort (W. Hofmann 1959) und die aller Ausdrücke und Redensarten über die ‘Frau’ (G. Petersen-Bachmann 196 8), nur wenig über die Aufbereitung des Materials hinausgekommen. Aber die am ADV über Redensarten und Sprachgut entstandene Arbeit von G. Grober-Glück scheint mir einen Weg zu weisen, der, wenn auch im einzelnen noch zu diskutieren, weiterführt. Warum in der einen Landschaft Sekundärbezeichnungen und Scherzworte, wie bei ‘Sarg’ im Niederdeutschen, häufig sind (H. L. Cox 196 7), oder warum die Arbeiter nur des Kölner Raumes und an der Ruhr solche Übernamen spöttischen und feindseligen Charakters für den Henkeltopf (Kartoffeletui, Schlammkessel) haben, die an der Saar fehlen, muß sich erklären lassen. Ob sich darin ein Gefühl der Deklassierung derer ausspricht, die auf solche Weise ihr Mittagessen verzehren? Weitere Aufgaben werden gerade mit Hilfe der in den Mundartwörterbüchern bereitgestellten Materialien zu lösen sein. Bei einem Vergleich auf breiter Grundlage werden in bautümlicher Betrachtung Anstöße, Veränderungen und Vermischung bei Redensar-
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ten sichtbar, und damit kann ein wesentlicher Teil unserer Sprache in Ursprung und Ausbildung aufgedeckt werden. Daß jemand Geld erhält, dessen Nase juckt, zeigt keinerlei Bezugspunkt und scheint absurd. Wenn aber in der Masse zugehöriger Meinungen gesagt wird, der, dessen Handballen juckt, erhält Geld, so ist eine rein mechanische Verschiebung in den neuen Zusammenhang wahrscheinlich. Bei einer ernsten und umfassenden Bearbeitung der vielen tausend Redensarten und verwandten Sprachgutes aus den Mundartwörterbüchern könnte man möglicherweise die ganze Misere in der Redensartenforschung, die uns aus den großen Sammlungen entgegenschlägt, beseitigen. Im Zeichen der modernen Linguistik und Soziolinguistik scheinen die Mundartwörterbücher nur wenig herzugeben, und sie verweigern in der Tat auf viele Fragen eine Antwort. Wir beobachten, daß nach einer Veröffentlichung das Vertrauen in diese nicht zu erschüttern ist und die meisten Benutzer sich mit deren Konsultation begnügen, obwohl sehr oft das Wörterbuch nur Wegweiser zu den eigentlichen Quellen sein kann. In vielen Fällen nämlich geben die WörterbuchArchive eher Auskunft als die Publikation. In der unterschiedlichen Bewertung der Angaben von Fragebogen und der Niederschriften aus frei gesammelten Beiträgen, im zeitlichen Unterschied von Teilen der Materialsammlung, in der Zuweisung zu stadtnaher Umwelt oder verkehrsfernen Orten, zu Gewerbeorten oder Bauerndörfern, und in der regionalen Häufung von bestimmten Wortbildungsarten usw. lassen sich Einblikke gewinnen, die über die veröffentlichten Wörterbücher hinausgehen (vgl. Zender 1978). Erhält man damit nur einen weiten Raster, so sind es immerhin Ansätze für einen Vergleich mit neueren soziolinguistischen Studien; sie berichtigen oder ergänzen aufgrund der historischen Dimension manche vielleicht vordergründige Aussage. Die gesamten Urmaterialien zum Rheinischen Wörterbuch, sowohl die Einsendungen von Laien, als auch Fragebogen und Zettelarchiv sind im Institut für geschichtliche Landeskunde, Bonn, (Abt. für Sprachforschung) erhalten und stehen dort zur Benutzung bereit. Ob neuere Versuche, auch in landschaftlichen Mundartwörterbüchern etwa der Sprechsituation, dem sozialen Stand des Sprechers etc. Rechnung zu tragen, über erste Hinweise hinauskommen können, kann nur zurückhaltend beurteilt werden. Wahr-
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scheinlich werden punktweise angesetzte Beobachtungen in einem bestimmten Ort oder bei einigen Personengruppen zu einem Erfolg führen und die Mundartwörterbücher ergänzen können. In diesem Zusammenhang ist zu bedauern, daß die vielen in den letzten Jahrzehnten bearbeiteten Ortswörterbücher ohne Ausnahme vom Rettungsgedanken und der Absicht der Mundartpflege geprägt sind und im Rheinland alle im Schema des Rheinischen Wörterbuches bleiben. Nur zwei ungedruckte lokale Wörterbücher (Mönchengladbach und Eitorf) haben erste Versuche zur Sprengung des Schemas gemacht und etwa den Wandel der Sprache in ihren Gesichtskreis einbezogen. Noch glauben viele, daß die Wörterbücher die Sprachwirklichkeit voll erfaßt haben, aber erst die Ergänzung durch mundartliche Texte, durch Tonaufnahmen und die verschiedenen technischen Möglichkeiten, Grammatiken und sprachsoziologische Darstellungen führen zu einem vollständigen Bild. Manche kritische Bemerkung über die Wörterbücher trifft sicher zu, aber man muß sich heute mit dem Vorhandenen begnügen. Es gibt keine Möglichkeit mehr, die Sammlungen aus der ersten Hälfte dieses Jhs. zu ergänzen oder umzubauen, will man nicht noch diese Arbeitshilfe und Quelle verfälschen und unbrauchbar machen. Es gilt nach Möglichkeiten zu suchen, diese Wörterbücher auch für Probleme neuerer Sprachwissenschaft nutzbar zu machen.
6.
Literatur (in Auswahl)
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be für Luise Berthold zum 85. Geburtstag am 27. 1. 1976 . Wiesbaden 1976 (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beihefte NF 17). Frings 1932 = Theodor Frings/Gertrud Müller: Germania Romana. 2 Bde, 2. Aufl. Halle 196 6 , 1968 (Mitteldeutsche Studien 19). Frings/Tille 1923 = Theodor Frings/Edda Tille: Aus der Werkstatt des Rheinischen Wörterbuches. In: Zeitschrift für deutsche Mundarten 18. 1923, 205—216. Grober-Glück 1974 = Gerda Grober-Glück: Motive und Motivationen in Redensarten und Meinungen. Aberglaube, Volkscharakterologie, Umgangsformen, Berufsspott in Verbreitung und Lebensformen. Marburg 1974 (Atlas der deutschen Volkskunde, Beiheft 3). Grober-Glück 1975 = Gerda Grober-Glück: Berlin als Innovationszentrum von metaphorischen Wendungen der Umgangssprache. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 94. 1975, 321—367. Hardenberg 1940 = Hans Hardenberg: Die Fachsprache der bergischen Eisen- und Stahlwarenindustrie. Bonn 1940 (Deutsches Volkstum am Rhein 4). Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch = HessenNassauisches Volkswörterbuch. Hrsg. von Ferdinand Wrede und Luise Berthold. 1. Lieferung, Marburg 1927. Hofmann 1959 = Winfried Hofmann: Das Rheinische Sagwort. Ein Beitrag zur Sprichwörterkunde. Siegburg 1959 (Quellen und Studien zur Volkskunde 2). Kleiber 1974 = Wolfgang Kleiber: Die romanische Sprachinsel an der Mosel im Spiegel der Reliktwörter. In: Kurtrierisches Jahrbuch 14. 1974, 16—32. Kleiber 1975 = Wolfgang Kleiber: Zur arealen Gliederung der rheinischen Winzerterminologie. In: Festschrift f. Karl Bischoff zum 70. Geburtstag. Köln 1975, 130—156. Löffler 1974 = Heinrich Löffler: Probleme der Dialektologie. Eine Einführung. Darmstadt 1974. Maurer 1928 = Friedrich Maurer: Volkssprache. In: Hessische Blätter für Volkskunde 26 . 1928, 157—180. Maurer 1934 = Friedrich Maurer: Volkssprache. Erlangen 1934. Müller 1925 = Josef Müller: Das Rheinische Wörterbuch, seine Geschichte und seine Aufgabe. In: Zeitschrift f. Deutschkunde 39. 1925, 470—484. Müller 1926 = Josef Müller: Rede des Volkes. In: John Meier, Deutsche Volkskunde. Berlin. 1926 ,
169. Müller 1937 = Josef Müller: Lautung von Restwörtern als Grundlage für die Erkenntnis älterer Sprachentwicklung. In: Zeitschrift f. Mundartforschung 13. 1937, 150. Öhmann 1965 = Emil Öhmann: Zur Kenntnis der französischen Bestandteile in den Rheinischen Mundarten. Helsinki 19 6 5 (Annales Academiae Scientiarum Fennicae B 141, 1). Petersen-Bachmann 1968 = Gislinde PetersenBachmann: Motivierte Bezeichnungen für Frauen in rheinischen Mundarten. Phil. Diss. Tübingen 1968. Reichmann 1966 = Oskar Reichmann: Der Wortschatz der Siegerländer Landwirtschaft und Haubergswirtschaft. Marburg 6 19 6 (Deutsche Dialektgeographie 48). Reichmann 1969 = Oskar Reichmann: Deutsche Wortforschung. Stuttgart 19 6 9 (Sammlung Metzler 82). Reichmann 1976 = Oskar Reichmann: Germanistische Lexikologie 2. Aufl. Stuttgart 1976 (Sammlung Metzler 82). Rheinisches Wörterbuch 1928 = Rheinisches Wörterbuch von Josef Müller / Heinrich Dittmaier u. a. 9 Bde. Berlin 1928—1973. Stroh 1930 = Fritz Stroh: Stil der Volkssprache. In: Hessische Blätter für Volkskunde. 29. 1930, 119—139. Wahrig 1968 = Gerhard Wahrig: Neue Wege in der Wörterbucharbeit. 2. Aufl. Hamburg 196 8 (Berichte des Instituts für Buchmarktforschung, Sondernummer). Wiegand 1981 = Herbert Ernst Wiegand: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie I. Hrsg. von Herbert Ernst Wiegand. Hildesheim. New York 1981 (Germanistische Linguistik 3—4/79). Wiegand/Harras 1971 = Herbert Ernst Wiegand unter Mitarbeit von Gisela Harras: Zur wissenschaftshistorischen Einordnung und linguistischen Beurteilung des Deutschen Wortatlas. Hildesheim 1971 (Germanistische Linguistik 1—2/1971). Wrede 1927 = Adam Wrede: Altkölner Sprachschatz. Lief. 1—3. Köln 1927. Zender 1976 = Matthias Zender: Das Rheinische Wörterbuch. In: Hans Friebertshäuser, Dialektlexikographie, 1976, 133—142. Zender 1978 = Matthias Zender: Besonderheiten des Berufsspottes im Umkreis von Köln. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 24. 1978, 315—328.
Matthias Zender, Bonn
6. Die Forschungstätigkeit der Württembergischen Schule als Beispielregionaler Dialektologie
6. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
1.
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Die Forschungstätigkeit der Württembergischen Schule als Beispiel regionaler Dialektologie Geschichte und Probleme der württembergischen Dialektologie Wörterbücher und Wortforschung Orts- und Gebietsgrammatiken Sprachgeographie Sprachkontakte Mundart und Hochsprache Syntaxforschung Namenforschung Literatur (in Auswahl)
Geschichte und Probleme der württembergischen Dialektologie
Für einen Überblick über die Geschichte der württembergischen Dialektologie ist Württemberg nicht weniger ein Problem als Dialekt. Nicht nur, daß die Landesgeschichte von der seit alters unreflektiert tradierten ‘Stammes’-Einteilung bis zum Flekkenteppich der noch zu Beginn des 19. Jh. gültigen Landkarte der mittelalterlichen Territorien im deutschen Südwesten (s. Hölzle 1938) der Dialektologie besondere Probleme stellt; nicht weniger sind die Lebensläufe, die spezifischen Forschungsinteressen und Arbeitsweisen der württembergischen Dialektologen von der regionalen Geistesgeschichte mitgeprägt. Das Tübinger ‘Stift’ und das 1817 nach Tübingen verlegte ‘Convict’ z. B. waren nicht nur theologische Seminare, sondern weit darüber hinaus Ausbildungsstätten württembergischer Geisteswissenschaftler, und indirekt wirkten diese Brutstätten schwäbischen Geistes auch auf die württembergische Dialektologie: Keller, Fischer, Bohnenberger waren ‘Stiftler’, Birlinger entstammte (und entlief) dem Konvikt. — ‘Dialekt’ steht in Württemberg landläufig für Alltagssprache („im Dialekt schwätzen“) gegenüber Hochsprache („nach der Schrift sprechen“), auch in den Anfängen der Dialektologie steht dieser Begriff weithin überhaupt für ‘gesprochene Sprache’. Man war gewohnt, die in Württemberg lebenden Menschen Schwaben zu nennen, ihre Sprache schwäbisch. Das war ursprünglich der Stammesname, später aber auch in vielfältiger Weise politischer Begriff (Herzogtum Schwaben, Schwäbischer Bund, Schwäbischer Kreis) mit jeweils unterschiedlichem geographischem Bezug. Tatsächlich wird im Hauptteil des Landes
alemannisch gesprochen, im größten Stück davon dessen schwäbische Variante, im Norden aber die fränkische ‘Stammes’-Mundart; das Land hat keine einheitliche Sprache, und keine seiner Mundarten wird nur hierzulande gesprochen. Die Mundartforschung war aber bis in die Neuzeit hinein an Landesgrenzen orientiert; so läßt sich wenigstens für den vorliegenden Überblick ‘württembergische’ Dialektologie ziemlich leicht definieren als diejenige Dialektologie, die im Gebiet des alten Königreichs Württemberg über württembergische Mundarten (und fast ausschließlich von Württembergern) betrieben wurde. Der vorliegende Abriß der Geschichte und der Probleme der württembergischen Dialektologie wurde dadurch erleichtert und wird dadurch entlastet, daß in der von Bausinger (19 6 4) herausgegebenen Festschrift für Helmut Dölker ‘Zur Geschichte von Volkskunde und Mundartforschung in Württemberg’ (durch Blümcke, Engel, Mehne, Müller, Roller, Ruoff, Schenda, Schwedt, Walker) sehr eingehend die Lebensläufe württembergischer Dialektologen dargestellt sind und vor allem dadurch, daß Baur 1978 eine umfassende Bibliographie zur Mundartforschung in Baden-Württemberg, Vorarlberg und Liechtenstein zusammengestellt hat. Die erste wissenschaftliche Beschäftigung mit württembergischen Mundarten stellt Fuldas ‘Grundriß zu einem Württembergischen Idioticon’ dar (Fulda 1774); von Fulda angeregt veröffentlicht Schmid 1795 seinen ‘Versuch eines schwäbischen Idiotikon ...’, das alle Anforderungen enthält, die an ein großlandschaftliches Mundartwörterbuch zu stellen sind. Dementsprechend verfährt er in seinem „Schwäbischen Wörterbuch“ (1831). Die Errichtung eines Lehrstuhls für neuere Philologie 1830 zu Tübingen bedeutete noch nicht gleich den Beginn intensiver dialektologischer Forschungen. Der erste Ordinarius, Ludwig Uhland, legte aber den Grund für die in Tübingen übliche enge Verschwisterung von Germanistik und Volkskunde und er gab seinen Namen für das Tübinger Institut, das bis vor wenigen Jahren noch den Untertitel ‘für Volkskunde und Mundartenforschung’ führte. Gleichzeitig mit Uhland lehrte in Tübingen Rapp ausländische Sprache und Literatur. Sein ‘Versuch
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einer Physiologie der Sprache’ (Rapp 1836 — 1841) geht auf die Arbeiten Rasks (bei dem er in Kopenhagen studiert hatte), Grimms und Schmellers zurück und ist — nicht nur im Titel — der besessenen Vernaturwissenschaftlichung der Sprachforschung hingegeben. Das geht über die „Naturgesetze der Lautbildung“ hinaus bis zur Wortbildung, worin er Derivation („chemische Bindung“) und Komposition („mechanische Bindung“) prinzipiell voneinander scheidet, „so nah sie sich zu stehen scheinen. Nach dieser Ansicht wäre die Composition wesentlich ein Teil des Syntax“ (Rapp 1841, IV, 153), womit er heutigen Auffassungen sehr nahe steht. Als erster beschreibt Rapp (1841, IV, 89—144) die oberdeutschen Dialekte, darin (IV, 118—125) den schwäbischen anhand von empirischen Belegen mit Angaben der geographischen Herkunft. Rapp, gelegentlich etwas exaltiert in seinen Schriften, äußerst zurückgezogen lebend, stets von Krankheit schwer belastet, hat zu seiner Zeit nur geringe Wirkung gehabt. Uhlands Stelle übernimmt 1833 Rapps enger Freund und Schüler Keller. Von ihm gehen die ersten Impulse großräumiger Erhebung von Mundartbelegen aus. Er wendet sich 1854 mit einer ‘Bitte um Mitwirkung zur Sammlung des schwäbischen Sprachschatzes’ an die Öffentlichkeit, der ein Jahr später eine ausführliche, sehr geschickte ‘Anleitung zur Sammlung ...’ (Keller 1855) folgt. Mit großer pädagogischer Umsicht leitet er weitere Sammlungen, mit Kritik sortiert er das Gesammelte. 186 0 konnte er als ein Thema für die obligaten Jahresarbeiten der Volksschullehrer die Darstellung der jeweiligen örtlichen Mundarten als Aufgabe stellen. Die Idee dazu stammte von Schmid, der schon 1827 dreißig Aufsätze aus dem Konferenzbezirk Schorndorf erhalten hatte (Blümcke 196 4, 28). Aus 320 Orten Württembergs erhielt Keller über 400 Konferenzaufsätze (ihre geographische Verteilung zeigt Karte 5 bei Baur 1978), denen die Geltungsbereiche phonetischer, lexikalischer und morphologischer Formen zu entnehmen waren. Keller — wie Rapp je und je von schwacher Gesundheit — lebte vor allem der Sammlung und Ordnung des überaus reichen Materials, das er seinem Schüler Fischer zur Ausarbeitung eines schwäbischen Wörterbuchs übergab. Mit seinem Beitrag über ‘Die Mundarten’ (Keller 1884) in der Beschreibung des ‘Königreichs Württemberg’ steht er am Beginn der Tradition der
württembergischen Dialektologie, in amtliche Grundlagenwerke jeweils geographisch entsprechende Mundartbeschreibungen einzubringen, so ab 1876 zunächst in die württembergischen Oberamtsbeschreibungen, später in die Baden-Württembergischen Kreisbeschreibungen. „Eine ‘schule’ hat er nie gezogen, hat auch keine ziehen wo ll e n“, schreibt Fischer in seinem Nekrolog auf Keller (Fischer 1884, 7), doch darf man in Kellers durchdachten, alle Bereiche des Forschungsgegenstands einbeziehenden Plänen wie in seinen umfassenden Sammlungen den Anfang einer ‘württembergischen Schule’ der Dialektologie sehen. Birlinger, 1834 unweit Tübingens im ehemals vorderösterreichischen Wurmlingen geboren, wirkte nach dem Studium der Theologie und der Germanistik im Tübinger Wilhelmstift, nach theologischer Staatsprüfung und Priesterseminar in Rottenburg nur sehr kurze Zeit als Vikar. Über dem in Tübingen immer wieder einmal aktuellen Thema der päpstlichen Unfehlbarkeit überwarf er sich vollends mit seiner Kirche. Mit Uhlands Unterstützung hatte er sich um ein Staatsstipendium beworben, das es ihm erlaubte, sich in München 186 1—6 8 ganz seinen germanistischen Studien hinzugeben. Aus diesen Jahren stammen zahlreiche Arbeiten über Mundart und Volkskunde Schwabens. 186 1/6 2 gibt er sein berühmtestes Werk ‘Volksthümliches aus Schwaben’ heraus, den ersten Band zusammen mit Buck. Zahlreiche Aufsätze enthalten sprachliche und volkskundliche Sammlungen oder behandeln einschlägige Probleme, seine dialektologischen Arbeiten sind aber meistens ungenau und unzuverlässig. Die Zeitschrift Alemannia, deren 1. Band er 1873 herausgab, machte ihn berühmt und hielt seinen Namen im Gedächtnis; die Wirkung seiner dialektologischen Arbeiten hat ihn kaum überlebt. Als Kellers Nachfolger wirkte Sievers von 1883 bis 1888 in Tübingen. Sein erster Eindruck von Tübingen war ungünstig, er fand die Stadt scheußlich, den „Boden für Deutsch ... noch ganz unbeackert“ und meint Braune gegenüber: „Es muß eine heillose Wirtschaft unter Keller gewesen sein“ (Baur 1978, 36 3). Es hat ihm in Tübingen nie gefallen, er fühlte sich von aller Welt abgeschnitten — und er hat über seinem Elend versäumt, die erste im deutschen Sprachgebiet vorliegende Sammlung von Darstellungen einzelner Mundarten, die eine Land-
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schaft engmaschig mit reichem Belegmaterial abdeckt, nämlich Kellers ‘Konferenzaufsätze’, einzusehen. Die Wirksamkeit der Lautgesetze hätte sich daran schon viel besser als an den ab 1876 erhobenen WenkerFormularen nachprüfen lassen, deren Bedeutung in Tübingen immer wieder einmal relativiert worden ist (s. Bohnenberger 1902; Ruoff 196 5). Immerhin scheint Bohnenberger von Sievers’ phonetischen und grammatischen Vorlesungen entscheidende Impulse empfangen zu haben, er wird später zum Statthalter der junggrammatischen Schule in Tübingen. Als Nachfolger für Sievers wurde 1888 Fischer berufen. In seiner Antrittsvorlesung ‘Über Wege und Ziele der Dialektforschung’ distanziert er sich von den zu seiner Zeit geltenden, nicht empirisch untermauerten sprachgeschichtlichen Theorien und fordert mehrfach, die Erforschung der deutschen Mundarten sei „rein und ohne Nebengedanken auf die Erforschung des Thatsächlichen“ zu richten (Fischer 1888 a, 1). Fischer schreibt selbst eine ‘Geschichte des Mittelhochdeutschen’, mehrere Aufsätze zu dialektologischen Fragen, mehrere regionale Monographien in den Oberamtsbeschreibungen. Sein Lebenswerk und seine Lebenslast ist aber das Schwäbische Wörterbuch, das er als Erbe Kellers 1882 übernommen hatte. Außer den vierhundert Konferenzaufsätzen lagen Fischer 400 000 geordnete Zettel vor; 1886 /87 verschickte er an 3000 Pfarrämter Württembergs und angrenzender Gebiete Fragebogen mit 200 den Lautstand betreffenden Fragen, wovon etwa die Hälfte brauchbare Antworten brachte. Schon 1895 legt Fischer seine ‘Geographie der schwäbischen Mundart’ vor. Er wollte nach dem Vorbild Schmellers seinem Wörterbuch eine geographisch-grammatische Arbeit vorausschicken. Sein Atlas ist dann freilich ein Standardwerk der Dialektologie geworden. 1901 erscheint die 1. Lieferung des Schwäbischen Wörterbuchs. Es weicht in seiner Anlage von seinen Vorläufern ab und wurde zum Vorbild für die späteren landschaftlichen Wörterbücher. In rascher Folge erschienen die Lieferungen, obwohl Fischer nur wenige Helfer hatte. Mann, Kapff und Pfleiderer arbeiteten selbständig Artikel aus, die aber alle noch durch Fischers Hand gingen. Bei Fischers Tod lag der 5. Band des Wörterbuchs vor, Pfleiderer schließlich führte den letzten Band und die Nachträge zu Ende.
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Im Jahr 1890 veröffentlicht Kauffmann seine ‘Geschichte der schwäbischen Mundart’, „Eduard Sievers in Freundschaft und Dankbarkeit gewidmet“, in welcher er — drei Jahre nach seiner recht schwachen Habilitationsschrift über den ‘Vokalismus des Schwäbischen’ — reiches historisches und aktuelles Quellenmaterial bearbeitet. Er stellt fest, was die sprachhistorischen Untersuchungen der Schule Maurers neuerlich bestätigten, daß die schwäbische Mundart sich seit dem 14. Jh. nicht wesentlich verändert habe. Er ist überzeugt, den Beweis für die Richtigkeit der Lautgesetze an lebender Mundart erbracht zu haben. Erst auf der festen Burg seiner ‘Geographie der schwäbischen Mundart’ bezieht Fischer eindeutige Position. Darin schmettert er Birlingers Stammeshypothese ebenso ab wie die ‘Lautgesetze’ der Junggrammatiker: „Wenn man die Grenzlinien meiner ersten 25 Karten auf eine einzige Karte zusammenträgt, so zeigt sich ein Bild äußerster Regellosigkeit.“ (Fischer 1895, 80.) Er hat sich diese Karte tatsächlich gezeichnet, dabei aber das Bild in seiner Frontstellung gegen die von ihm je und je kritisierten präsumtiven Urteile der Theoretiker überzeichnet. Bohnenberger und vollends Haag rücken es wieder zurecht, und Fischer stimmt ihnen später zu. Zu Fischers Zeit und in der folgenden Generation verbreitert und verästelt sich der Stamm der württembergischen Dialektologie. Haag und Bohnenberger kommt das Verdienst zu, auf Fischers Arbeiten aufbauend, durch intensive theoretische und empirische Neuansätze die württembergische Mundartforschung vertieft zu haben. Sie verwirklichen das junggrammatische Prinzip der Direktaufnahme von Sprachdaten im Gelände, das auch von Fischer lebhaft bejaht wurde, in vielen tausend Stunden; beide erfahren dabei Erscheinungen, die sich jeder mittelbaren Erhebung entziehen, wie z. B. die unterschiedlichen Arten von Lautwandel, die allmählichen phonetischen Übergänge von einer Lautform zur anderen, den Prozeß des Lautwandels in der Geographie, die Erscheinung der Bündelung von Linien. Haag hat den Gedanken radikalisiert, den Linien unterschiedliches Gewicht beigemessen und nun zwar auch nicht die schwäbische/alemannische/fränkische Sprachgrenzlinie darstellen, aber doch immerhin zeigen können, daß es Kerngebiete mit starken Ähnlichkeiten in den Sprachformen gibt, um die herum sich
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Grenz- und Übergangszonen legen. Die wesentlichen Grenzen führte er auf diejenigen der mittelalterlichen Territorien zurück, Stammesgrenzen ließ er nicht für Sprachgrenzen gelten. Bohnenberger war darin anderer Ansicht, und tatsächlich hat die Auseinandersetzung um dieses Problem bis hin zu Moser (1951/52; 196 1) ihm soweit recht gegeben, als Stammesgrenzen in einigen Fällen allein für sprachliche Unterschiede verantwortlich zu machen sind, während sie in vielen anderen vermittelt durch sekundäre politische Grenzen wirken, und während schließlich ein großer Teil der sprachlichen Abgrenzungen erst mit den politischen Absonderungen der mittelalterlichen Territorien zusammenhängt. Ob solche oder geographische Hindernisse eine Grenze konstituieren: der übergeordnete Gesichtspunkt, den schon Delbrück (1880, 120) als Ergebnis der indogermanistischen Bemühungen feststellte, wurde von Bohnenberger für die Dialektologie bestätigt: Es ist der Verkehr, der für die Möglichkeit der Ausbreitung von Sprachformen sorgt; wo er an irgendeiner Grenze stockt, stockt der sprachliche Ausgleich (Bohnenberger 1897). Die psychologischen Gründe für die Ausbreitung von Sprachformen sehen Haag wie Bohnenberger im höheren Prestige derer, die sie gebrauchen, in dem, was Mitzka später die ‘Mehrwertgeltung’ genannt hat (Mitzka 1928, 6 4 f.), und es gibt keine Sprachveränderung, die sich nicht durch diese beiden Prinzipien erklären ließe. Die Reichweite der Veränderung richtet sich dabei nach dem Schmidtschen Wellenprinzip (Schmidt 1873), wie es schon von Fischer postuliert worden war. Haags Forschungen haben die württembergische Dialektologie ganz wesentlich gefördert und darüber hinaus stark auf die deutsche Mundartforschung eingewirkt. Bohnenbergers Hauptverdienste liegen in der unermeßlichen Fülle des von ihm im Gelände gesammelten Materials, das er in sehr vielen Aufsätzen verwertet hat; in der von der Mundartforschung im wesentlichen übernommenen Außen- und Innen-Gliederung der ‘Mundarten Württembergs’ wie der gesamten ‘Alemannischen Mundart’ (Bohnenberger 1928; 1953), mit welchem Werk er die umfassendste Gesamtdarstellung des Alemannischen mit der Diskussion der Begründung und Chronologie der einzelnen Lauterscheinungen gibt; schließlich in der Wirkung auf seine Schüler, die weite Teile
des Landes durch Direkterhebungen erkundeten; wegweisend wurde er für die Ortsund Flurnamenforschung (s. 8.). Auch als Volkskundler war er tätig: Eine 1899 von ihm veranlaßte ‘Sammlung volkstümlicher Überlieferungen’ erbrachte aus 550 Orten reiches Material; zwischen 1904 und 1916 wurden einige bearbeitete Sachgebiete in den Württembergischen Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde veröffentlicht, das Kapitel ‘Mundart’ ist allerdings bis heute noch nicht ausgewertet. Als dritter Feldforscher, der nicht nur seine Heimatgemeinde Ostdorf, sondern die ganze Südwestecke des Landes erkundet und in den Heften seiner ‘Ostdorfer Studien’ anhand von Einzeldiskussionen dargestellt, zugleich reiches Material für Fischers Schwäbisches Wörterbuch geliefert hat, war Veit, von dem Fischer (1915, 16 9) urteilt, die deutsche Mundartforschung habe kaum eine Arbeit aufzuweisen, „die mit einer so vollständigen Ausrüstung an atomistischer Kenntnis lebender Mundarten eine so energische sprachgeschichtliche Tendenz verbunden hätte.“ Allerdings war Veit auch derjenige, der gerade in sprachgeschichtlichen Fragen die schärfste Polemik (vor allem gegen Haag) in die Debatte gebracht hat. — Haag und Bohnenberger waren rastlose Arbeiter, beide Junggesellen (wie übrigens auch Rapp, Veit und — von Amts wegen — Birlinger), beide nimmermüde Wanderer an allen Sprachgrenzen der Alemannia — Bohnenberger bis ins Wallis und in die Außenorte der Walliser südlich des Monta Rosa, deren Sprache er eine ausführliche Monographie widmet (Bohnenberger 1913). 1921 wurde für Bohnenberger ein zweites germanistisches Ordinariat in Tübingen geschaffen; jetzt enstehen durch zwei Jahrzehnte hindurch Jahr für Jahr neben Bohnenbergers eigenen Aufsätzen und Beiträgen in Oberamtsbeschreibungen zahlreiche Orts- oder Gebietsmonographien durch seine Schüler, und in rascher Folge die ‘Württembergischen Sprachkarten’ in den Statistischen Jahrbüchern. Moser und Dölker waren Bohnenbergers Schüler, sie wurden später als Direktoren des Ludwig-Uhland-Instituts seine Nachfolger. Mosers Dissertation wandelt zudem in Fischerschen Spuren mit der Untersuchung der schwäbischen Mundart von Sathmar in Ungarn (Moser 1937), der Fischer schon eine anregende Untersuchung hatte zuteil werden lassen (Fischer 1911). 1953 erhob
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Moser in Fragebogen 100 Wortbelege aller württembergischen Stadtsprachen, die von Ruoff interpretiert und vereinheitlicht wurden. Moser hat je 1 Paradigma für 7—8 Lauterscheinungen im ‘Württembergischen Städtebuch’ (196 2) beim jeweiligen OrtsArtikel publiziert, das übrige Material ist noch unausgewertet. (Die Belegorte verzeichnet Karte 4 bei Baur 1978.) — Dölker liefert mehrere Mundartmonographien, seine Dissertation (Dölker 1933) gilt aber einem anderen Interessengebiet Bohnenbergers: der Flurnamenforschung, für die Dölker ein Standardwerk geschaffen hat. Engel, der als Student dem greisen Bohnenberger geholfen hatte, sein Haupt- und Lebenswerk, die ‘Alemannische Mundart’ zu vollenden, hat später ein grundlegendes Werk für die neue Epoche der Mundartforschung geschrieben (Engel 1954). Mit Mosers Arbeiten und denen seiner Schüler wird die Bohnenberger-Tradition ohne Bruch fortgesetzt, aber doch mit deutlichen Aspekterweiterungen: ‘Noch einmal: Stamm und Mundart’ (Moser 196 1), noch einmal: ‘Die schwäbisch-niederalemannische Sprachgrenze’ (aber jetzt mit dem Untertitel: ‘Wandlung und Beharrung’!; Moser 1954/55), ebenso die Titel ‘Vollschwäbisch, Stadtschwäbisch und Niederalemannisch’ (Moser 1954) bis hin zu ‘Umgangssprache’ (Moser 196 0), in denen die schon zu Beginn der württembergischen Dialektologie genannten Probleme zum Gegenstand der Untersuchung gemacht sind: Sprachwandel, sprachliche Schichtung, die Zwischenstufen zwischen Grundmundart und Hochsprache, die Umgangssprache, von der schon Fischer gesagt hatte: „Es gibt für die Prinzipienlehre der Sprachgeschichte nichts lehrreicheres, als das Studium der Halbmundart und ihrer Nüancierungen.“ (Fischer 1908, 90). Moser (196 0) und Engel (196 2) bemühten sich um terminologische Klärung im schillernden Bereich der ‘Halbmundart’ durch ihre Kategorisierungen (Mosers ‘Schichten’, Engels ‘Kreise’). Den Bereich der Syntax legte Moser seinen Schülern ans Herz und in der Untersuchung außerdeutscher schwäbischer Mundarten fand er Nachfolger. Dölker richtete die Interessen seiner Schüler auf noch unerforschte Bereiche der mundartlichen Stilistik und besonders auf die Namenforschung. Mit Bausinger und Ruoff, der Generation von Bohnenbergers Schülersschülern, hat sich das Spektrum der Forschungen noch
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mehr verbreitert. Bausingers Arbeiten gelten in großer Weite dem Feld der Volkskunde, der empirischen Kultur-, Sozialund Sprachwissenschaft. Gerade auch die Dialektologie verdankt ihm viele neue Überlegungen über die ‘Formen gesprochener Sprache’ (Bausinger 196 7), über die auch sprachliche ‘Beharrung und Einfügung’ der Flüchtlinge (Bausinger 1956 ), über ‘Dialekt als Sprachbarriere’ (Bausinger 1973) u. a. m. Eine wesentliche Erweiterung ihrer methodischen Möglichkeiten eröffnete der Dialektologie die Erfindung des Tonbandgeräts. Seit 1954 liegen Tonbandaufnahmen württembergischer Mundarten vor, die vom Ludwig-Uhland-Institut, von Engel für sein Spracharchiv des Kreises Böblingen (Engel 196 5) und von den Exploratoren des ‘Südwestdeutschen Sprachatlas’ (s. König 1975, 183 f.) hergestellt wurden. Der weitaus überwiegende Teil der Tonbandaufnahmen stammt aus den Aktionen des Deutschen Spracharchivs (s. Zwirner 1956 ; 196 2) bzw. der ‘Tübinger Arbeitsstelle’ (s. Ruoff 1973, 275—385). Karte 3 bei Baur (1978) belegt alle Aufnahmeorte. 1955 nahmen Bausinger und Ruoff in Württemberg auf, später auch in einem wesentlich weiteren Umkreis. In der Folge der Aufnahmereisen wurden in Tübingen Tonbandaufnahmen transkribiert, und aus dieser Zusammenarbeit zwischen dem Ludwig-Uhland-Institut und Zwirners Deutschem Spracharchiv entwickelte sich die 1959 installierte ‘Tübinger Außenstelle des Deutschen Spracharchivs’, die nachmalige ‘Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Südwestdeutschland’, in der Ruoff dem Zwirnerschen Forschungsplan (s. Zwirner 1959; 196 2; Zwirner/Zwirner 1982) einen eigenen zur Seite stellen konnte, um das reiche Tonbandkorpus auch für spezifisch dialektologische Ziele auszunützen, die sich ohne Tonbandaufnahmen nicht erreichen lassen (s. Ruoff 1973). In Zwirners ‘Lautbibliothek’ erschienen zwei württembergische Beiträge (Bausinger/Ruoff 1959 und Oechsner 196 1), vor allem aber begann Ruoff erstmals mit der systematischen Untersuchung der Syntax gesprochener Sprache und aller geographischen, sozialen, situativen Faktoren, die sie beeinflussen. Die Vorarbeiten zur Verwirklichung dieser Ziele — Erweiterung des Aufnahmegebiets und Verdichtung des Aufnahmenetzes; Transkription aller Aufnahmen; Exzerptarbeiten über den ganzen Bereich von Syntax und Stilistik — wurden von Ruoff und seinen Helfern im Laufe von
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15 Jahren bewältigt; durch die 1973 begonnenen Publikationen der Reihe ‘Idiomatica’ ist der erste Schritt auf weitere Stufen der Dialektologie gesetzt. Das Bild der württembergischen Mundartforschung wäre verzeichnet, würde nicht nachdrücklich derjenigen Forscher gedacht, die außerhalb der Universität, oft außerhalb des Fachs stehend, wesentliche Beiträge zur Dialektologie und vor allem zur Namenforschung geleistet haben. Der Erwähnung wert sind schon die Tausende von Mittelsleuten, Lehrer und Pfarrer zuvörderst, die durch die ‘Konferenzaufsätze’, durch Beiträge zu Wörterbuch und Geographie, zu Mosers Stadtmundart-Erhebungen und etlichen anderen Fragen, vor allem auch durch reiche Flurnamen-Sammlungen für das Württembergische Flurnamenarchiv ihren Anteil zur Forschung beisteuerten. Vor allem aber wurde die Namenforschung gefördert durch den Ertinger Arzt Buck, dessen ‘Oberdeutsches Flurnamenbuch’ heute noch Grundlage namenkundlicher Arbeit ist, und den Saulgauer Pädagogen Brechenmacher, der nie studiert hat, aber die wichtigsten, heute noch gültigen Arbeiten zum Problem ‘Schule und Mundart’ (Brechenmacher 1925; 1927; 1934) geschrieben hat und durch zahlreiche Publikationen zum bedeutendsten Familiennamenforscher des Landes geworden ist. Kapff, einst Fischers Helfer, schrieb als Professor am Uracher Seminar noch Dutzende von namenkundlichen Aufsätzen und die umfassende Arbeit über ‘Schwäbische Geschlechtsnamen’ (Kapff 1927), der Cannstatter Oberstudiendirektor Keinath bringt die Fülle der im Lande häufigsten Flurnamen in sehr verständlicher und lesenswerter Form der breiten Öffentlichkeit nahe (Keinath 1951). Auch heute sind fachfremde, aber oft höchst fachfördernde Autodidakten noch nicht ausgestorben: der Kirchheimer Dipl.-Ing. Schweitzer (1979) macht Anstalten, die inzwischen stagnierende württembergische Flurnamenforschung mit sehr rezenten Impulsen zu versehen. Die Gewichte in den Forschungsintentionen der württembergischen Dialektologie haben sich mehrfach verlagert: aus dem volksgeschichtlichen wurde ein sprachhistorisches Interesse, aus dem regionalen ein nationales, aus dem geographischen ein soziales. Solche Veränderungen des Blickwinkels auf das Objekt haben dessen Erkenntnis sehr gefördert. Ein Charakteristi-
kum der württembergischen Dialektologie ist dabei, daß das Interesse am Gegenstand stets größer war als das an der Theorie des jeweiligen Blickwinkels: Theorien wurden eher nur als notwendige Grundlage empirischer Arbeit entwickelt und/oder ihrerseits auf der Grundlage empirischen Materials weiterverfolgt. Dem entspricht es auch, daß epochale Theoriebildungen oft erst nach einer gewissen Brechung, leicht abgeebbt, die württembergische Dialektologie erreichten, für die so gut wie für ihren Gegenstand das Bild der Schmidtschen Wellentheorie in Anspruch genommen werden kann. Den leidenschaftlich verfochtenen Präsumtionen von Lautgesetz und Stammesmundart hatte Fischer seine empirischen Untersuchungen entgegengestellt, da „durch Vorausnahme von Sätzen, die im besten Fall Endergebnisse sein können, viel gesündigt worden ist“, während „nur von einer rein empirischen Untersuchung noch ein brauchbares Ergebnis zu erwarten steht.“ (Fischer 1895, 1.) Seine „nihilistische Leugnung der Dialekte“, sein „extremer Agnostizismus und Skeptizismus“ hat ihm Schirmunskis Schelte als „Stammvater der positivistischen Sprachgeographie“ eingebracht (Schirmunski 196 2, 146 und 145), was aus dem Munde eines Vertreters ideologischer Sprachwissenschaft wohl das höchste Lob ist, das einem vorurteilslosen Analytiker des Tatsächlichen zuteil werden kann. I n seinem Nekrolog für Keller schreibt Fischer (1884, 7), Kellers der Betrachtung und Wertung des Gegenständlichen zugewandter Geist sei sehr weit von parteiischer Neigung für bestimmte Richtungen in seiner Wissenschaft entfernt gewesen: „So kommt es, daß in dem wilden und gar nicht immer humanen Kampfe, der zwischen den Germanisten seit Jahrzehnten losgelassen ist, Keller einer der wenigen war, die sich weder selbst einmengten, noch von irgend einer Seite in den Hader hereingezogen wurden; und es kann einen dankbaren Schüler der Tübinger Hochschule nur freuen, daß auch Kellers Nachfolger zu diesen wenigen zählt.“ Möglicherweise steckt in solchen Worten nicht nur eine gewisse Selbstgerechtigkeit, sondern auch Selbstgefälligkeit des sich zwar nicht in der „Betrachtung des Gegenständlichen“ erschöpfenden, aber damit beginnenden Forschers. Diese Haltung ist in der württembergischen Dialektologie bis heute noch nicht ganz ausgerottet.
6. Die Forschungstätigkeit der Württembergischen Schule als Beispielregionaler Dialektologie
2.
Wörterbücher und Wortforschung
Wie in den meisten deutschen Landschaften stand vor dem Beginn der wissenschaftlichen Dialektologie auch in Württemberg eine größere Zahl mehr oder weniger laienhafter Sammlungen von eigentümlichen Wörtern, kuriosen Wendungen und ergötzlichen Sprüchen aus des Volkes Mund. Beinahe gleichzeitig mit ihnen tauchen brauchbare örtliche Wörterbücher auf, später spezielle lexikalische Beiträge in Fachorganen (s. Baur 1978, 100—104). Den weitaus größten Teil lexikologischer Titel in Baurs Bibliographie nehmen Einzelwortuntersuchungen oder die Wortschatz-Sammlungen von Fachsprachen ein (Baur 1974, 120—145). Mehr als die Hälfte der 350 Titel dürfte auf Württemberg entfallen. Sehr häufig ist die Darstellung verbunden mit der Beschreibung der zugehörigen Ergologie; stärker als in allen anderen Bereichen der Mundartforschung ist hier der Zusammenhang mit der Volkskunde. Über Fulda (1788) und Schmid (1795) weit hinaus geht Fischer mit seinem Schwäbischen Wörterbuch und der vorausgeschickten ‘Geographie der schwäbischen Mundart’. Er leistet einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung des Wortschatzes der deutschen Mundarten und zur Begründung der württembergischen Sprachgeographie. Sein Wörterbuch wurde von Pfleiderer zu Ende geführt, Keinath und Dölker übernahmen die Bearbeitung weiterer Nachträge. Mehrere spätere deutsche Mundart-Wörterbücher (ausdrücklich z. B. das Rheinische und das Siebenbürgisch-Sächsische) folgen in der Anlage dem Fischerschen, keines aber erreicht die unüberbietbare Prägnanz Fischerscher Formulierungen.
3.
Orts- und Gebietsgrammatiken
Als Antwort auf Kellers Aufruf zur Sammlung des schwäbischen Sprachschatzes schreibt Lauchert 1855 eine ‘Lautlehre der Mundart von Rottweil und Umgebung’; als Muster für die ‘Konferenzaufsätze’ von 186 0 stellt J. Haug „auf höheren Wunsch ... die schwäbischen Laute und Biegungsformen nach dem Dialekt von Wurmlingen bei Rottenburg a. N.“ dar. Die ihm folgenden 400 ‘Konferenzaufsätze’ belegen den größten Teil Württembergs ziemlich engmaschig (s. Baur 1978, Karte 5) und sind als Dokumente des Sprachzustands aus der Mitte des 19. Jh. von beträchtlichem Wert, aber bis auf den
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Aufsatz von Knauss (186 3) liegen sie nur handschriftlich vor. Wagners Beschreibung der Mundart von Reutlingen (1889/1891) stellt die erste wissenschaftliche Ortsgrammatik dar. Mit den Beiträgen über die regionale Mundart in den Oberamtsbeschreibungen wird eine zweite zeitliche Schicht von Mundartbeschreibungen über das Land gelegt; mit den Arbeiten der BohnenbergerSchüler und der Moser-Schule folgen zwei weitere. Die Oberamtsbeschreibungen wurden von den heutigen Kreisbeschreibungen abgelöst, die auch hinsichtlich der Mundartbeschreibung die Tradition fortsetzen. Natürlich sind nur in wenigen Gebieten alle vier Generationen von Mundartbeschreibungen zugleich vorhanden, öfters aber doch wenigstens deren drei, welche sehr präzise die Mundartentwicklung der letzten 120 Jahre verfolgen lassen. Die Karten 1 und 2 in Baurs Bibliographie (Baur 1978) zeigen, wie dicht das ganze Land Württemberg mit Orts- und Gebietsmonographien belegt ist. Die seit Beginn der württembergischen Dialektologie oft angesprochenen sprachsoziologischen Probleme der sprachlichen ‘Schichtung’ behandelt erstmals umfassend Engel (1954) anhand einiger Stadtsprachen; bei Mehne (1955) ist der syntaktischen Beschreibung besonders viel Raum gegeben; Baur (196 6 ) zeigt in der Darstellung des Mundartgebiets zu beiden Seiten der Landesund Sprachgrenze (Württemberg/ Baden; Schwäbisch/Niederalemannisch) an reichen Beispielen (besonders eindrücklich Bd. 2, Karte 1—20) den Zusammenhang von Sprach- und Kulturraum, der sich wohl allenthalben am besten an überschaubaren Regionen mittlerer Größe untersuchen läßt. Eine Gesamtdarstellung der ‘Mundarten Württembergs’ gibt Bohnenberger erstmals 1928, 1953 erscheint seine ‘Alemannische Mundart’, gleich den Nachbarwerken Maurers (1942) und Jutzens (1931) von überregionaler und genereller Bedeutung. Genaue Beschreibungen größerer Teil(zumeist Sprachgrenz-) Gebiete haben Bohnenberger und Haag geliefert. In diesen Arbeiten werden auf der Grundlage reichen empirischen Materials alle anstehenden Probleme der Dialektologie diskutiert. — Darstellung der historischen Mundarten geben Weinhold (186 3), Kauffmann (1890) und Bohnenberger (1892). Die Problematik der schriftlichen Quellen zur Rekonstruktion gesprochener Sprache wird auch außerhalb dieser Arbeiten vielfach behandelt, sie stellt sich ja in ganz ähnlicher Weise wie bei historischen
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Quellen auch bei indirekten Erhebungen lebender Mundarten. Erst Maurer (19 6 5) und seinen Schülern ist es (auch für Orte in Württemberg) gelungen, Urbare als Quellen exakt zu fassen und ihren Reichtum auszuschöpfen. Besch (196 1; 196 1a; 196 5) kommt dabei das Verdienst zu, Entscheidendes zur Bestimmung der Lautwerte der mittelalterlichen Grapheme geleistet zu haben. Was schon Kauffmann (1890, V) feststellt, „daß seit 5 Jhh. der schwäbische Lautstand sich überhaupt nicht mehr verändert hat“, wird durch die Freiburger Arbeiten bestätigt; wie gering die Veränderungen der letzten 120 Jahre in hiesiger Mundart sind, zeigen Vergleiche früherer Sprachzustände mit heutigen in neueren Mundartbeschreibungen (s. 4.). Das seit dem Beginn der Beschäftigung mit Mundarten vorausgesetzte baldige Absterben der deutschen Dialekte fand jedenfalls bis heute nicht statt: eine Einsicht, die freilich noch nicht Allgemeingut geworden ist.
4.
Sprachgeographie
Dialektgeographie setzt die Erkenntnis voraus, daß Laut- und Wortformen nicht geographisch willkürlich verteilt sind, sondern bestimmte umgrenzbare Geltungsbereiche haben. 1882 hat Fischer die wichtigsten geographischen Unterschiede innerhalb des schwäbischen Sprachgebiets dargestellt, 13 Jahre später hat er seine ‘Geographie der schwäbischen Mundart’ veröffentlicht, eine bahnbrechende Leistung für die württembergische und für die deutsche Dialektologie, die erst durch Hotzenköcherles ‘Sprachatlas der deutschen Schweiz’ übertroffen wurde. Fischers äußerst komprimierte aber trotzdem sehr übersichtliche 28 Karten gelten vor allem Laut- aber auch Wortgrenzen; die beinahe hundert Textseiten halten den Kartenblättern in der Bedeutung die Waage. Darin kommentiert Fischer ausführlich jedes Kartenblatt und erörtert seine Bedeutung im Zusammenhang der dialektologischen Diskussion. Auch die Feldforscher Bohnenberger und Haag konnten dem Fischerschen Atlas keine wesentlichen Fehler anlasten. Sie konnten nur, und taten dies mit großem Erfolg, differenziertere Ergebnisse in phonetisch präziserer Form erheben und darstellen. Haag geht dabei methodisch über die Atlasdarstellung hinaus durch seine Gewichtung der einzelnen Sprachgrenzen und deren Bündelung. Er beschäftigt sich auch mit dem
theoretischen Problem ihrer jeweiligen Bedeutung, eine Frage, die erst Ruoff (1980) wieder aufnimmt. Den Beschreibungen der regionalen Mundarten in den Oberamtsund Kreisbeschreibungen sind jeweils auch Karten über die wichtigsten im betreffenden Gebiet verlaufenden Sprachgrenzen beigegeben. Ebenso den meisten als Dissertationen entstandenen Gebietsmonographien. In einigen Fällen hat Bohnenberger die betreffende Karte seiner Schüler in den Württembergischen Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde als Württembergische Sprachkarte (erschienen 1 bis 10) herausgebracht (Nr. 1 N. F. durch Moser), die zwischen 20 und 200 Spracherscheinungen verkarten und alle zusammen weite Teile des Landes abdecken. Ihrer beträchtlichen Unsystematik und oft sehr schwierigen Benutzbarkeit wegen (s. Ruoff 1973, 29) ergeben sie aber noch keinen neueren württembergischen Sprachatlas. Baur (1966 ) hat seiner Gebietsuntersuchung einen Band mit 140 ebenso lesbaren wie lesenswerten Karten beigegeben und damit das Optimum regionaler Dialektkartographie erreicht. Von der durch die Tradition württembergischer Dialektologie gebotenen Möglichkeit, durch den Vergleich früherer Mundartbeschreibungen mit neuem Sprachzustand Sprachentwicklung untersuchen und kartographisch darstellen zu können, wurde gelegentlich Gebrauch gemacht, so z. B. von Haag (1929/30), Moser (1954/55), Ruoff (1967). Bohnenbergers letztes umfassendes Werk, seine ‘Alemannische Mundart’, ist durchaus auch sprachgeographisch gedacht und angelegt. Es war Bohnenberger aber nicht mehr möglich, seine Belege zu kartographieren. Sein Helfer Engel hat wenigstens den ungefähren Verlauf der von Bohnenberger schon numerierten Grenzlinien skizziert. Blümcke hat 196 3 für die Tübinger Arbeitsstelle diese und die anderen zeichenbaren Linien ortsgenau kartographiert, eine Leistung, die nur derjenige, der Stil und Anordnung von Bohnenbergers Alterswerk kennt, recht zu würdigen versteht. Um Gebietsgliederung und -benennung haben sich Haag (1946 ), Maurer (1942), Bohnenberger (1953), Boesch (1974) und andere bemüht. Die diffuse Gliederung des südwestdeutschen Sprachraums und die Beliebigkeit der Benennung seiner Teile ist durch diese Arbeiten endgültig beseitigt; die in der deutschen Dialektologie übliche Einteilung und die inzwischen erreichte relative
6. Die Forschungstätigkeit der Württembergischen Schule als Beispielregionaler Dialektologie
Einheitlichkeit in der Bezeichnung der Mundarträume geht auf Maurers und besonders Bohnenbergers Arbeit zurück. Zwei bedeutende Werke südwestdeutscher Sprachgeographie, die Württemberg wenigstens teilweise belegen, stammen aus Freiburg: Auf Grund der sachlich wie methodisch überaus wichtigen Arbeiten Maurers und seiner Schüler ‘Zur Vertiefung der südwestdeutschen Sprachgeschichte’ (Maurer 196 5) und der aus Urbaren ermittelten historischen Ortsgrammatiken (s. 3.) entstand der ‘Historische Südwestdeutsche Sprachatlas’ (Kleiber/Kunze/Löffler 1979; vgl. Art. 8 a). — Unter Leitung von Gabriel werden durch mehrere Freiburger Exploratoren in Anlehnung an Methode und Fragebuch des ‘Sprachatlas der deutschen Schweiz’ seit 1970 Erhebungen für einen ‘Südwestdeutschen Sprachatlas’ durchgeführt, der Südbaden und Südwürttemberg umfassen soll (s. Gabriel 1972; König 1975). Die geographische Verteilung der bis Ende 1977 erhobenen Ortsmundarten gibt Karte 4 bei Baur (1978).
5.
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Mundart von Lichtental, Fiess (1975) untersucht diejenige von Sarata, in der sich drei württembergische Mundarten treffen, jede nach Personenzahl der Aussiedler genau belegt. Fiess ermittelt die sozialen und psychologischen Gründe und Hintergründe dafür, daß in der Sarater Ausgleichssprache die kleinste Aussiedlergruppe dominiert. Nicht nur die Sprache der Aussiedler, sondern — in geringerem Maß — auch diejenige der ‘Einsiedler’ wurde untersucht, so besonders diejenige der württembergischen Waldenser in den Arbeiten von Boger/Vogt (1930) und Hirsch (196 2). Über die Sprachentwicklung bei Heimatvertriebenen nach 1945 handelt Engel (1956 ), die Typik ihres (auch sprachlichen) Einlebens stellt Bausinger (1956 ) dar. Wechselseitige Sprachbeziehungen untersucht Kirchmeier (1973 a) dadurch, daß sie aus Tonbandaufnahmen und Befragungen der Tübinger Arbeitsstelle alle französischen Lehnwörter behandelt und mit ähnlichen Verfahren die alemannischen Lehnwörter im Pays de Montbéliard erforscht, das als Grafschaft Mömpelgard 400 Jahre lang württembergisch war.
Sprachkontakte
Die Sprache württembergischer Aussiedler früherer Jhh. ist Gegenstand zahlreicher Einzeluntersuchungen und Gesamtdarstellungen, die nur zu einem Teil in Württemberg selbst entstanden sind. Immerhin hat doch auch das Stammland den Kolonistensprachen i n allen Phasen der württembergischen Mundartforschung rege Aufmerksamkeit geschenkt. Der Sprachausgleich zwischen Siedlern unterschiedlicher Herkunftslandschaften war ebenso wie die Wirkung des sprachl ichen Kontakts mit nichtdeutschen Sprachen Gegenstand der Untersuchungen. Nicht zuletzt reizte immer wieder der Vergleich von Siedlermundart und Heimatmundart zu detektivischen Streifzügen durch die heimatliche, oft historische Dialektgeographie, da sich Siedlermundarten in der Regel ja beharrsamer zeigten als binnenländische. So verhört schon Fischer (1911) über Mittelsleute in Tübingen Sathmarer Schwaben und ortet ihre Herkunft, Moser (1937) untersucht deren Sprache vor Ort. Einige von Mosers Schülern behandeln einzelne schwäbische Siedlungsmundarten, Schick (1955) gibt eine umfassende Arbeit über ‘Die schwäbischen Mundarten in deutschen Dörfern Südosteuropas’. Hahn (1929) beschreibt die bessarabische
6.
Mundart und Hochsprache
Die ‘Schichten’ der gesprochenen Sprache von der Grundmundart zur Hochsprache, der schillernde Zwischenbereich ‘Umgangssprache’, die Abhängigkeit der Sprachschicht von der Sozialschicht der Sprechenden oder von situativen Faktoren hat die württembergische Dialektologie seit Anbeginn beschäftigt; schon in der ersten Betrachtung der württembergischen Dialekte hält Rapp (1841, IV, 119) die sozial bedingten Unterschiede in den württembergischen Mundarten für größer als die geographischen. Die Auswirkungen dieser Gegebenheiten waren in mehrerlei Weise Gegenstand von Erörterungen: Zum einen erhoffte man von den Mundarten eine stete Auffrischung der Hoch- und Schriftsprache, außerdem vom Teilhaber an einer Mundart eine differenziertere Handhabung der Gemeinsprache; zum anderen befürchtete man, der Dialekt könne als ‘Sprachbarriere’ wirken, dergestalt, daß der größere Abstand der Sprache der sozialen Unterschicht zur Hochsprache schlechtere soziale Chancen bedeute und womöglich darüberhinaus als ‘restringierter Code’ die Erkenntnisfähigkeit des Betroffenen herabsetze. Der Gedanke der Befruchtung der
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Schriftsprache durch die Mundarten stammt von Leibniz (1717), ist aber erst in der Romantik zur vollen Entfaltung gekommen (Radlof 1811). Später tritt an die Stelle des auch heute noch einleuchtenden Gedankens eine gewisse Skepsis, da für die Wirksamkeit der Dialekte auf die Gemeinsprache ihr höheres Prestige vorauszusetzen wäre. Häufiger sind Einwände gegen gekünstelte Mundart, gegen die Mundarttümelei derer, die sie nicht können. Keller (1855, 12) warnt schon vor den Quellen, „welche vorsätzlich [...] in schwäbischem Dialekte abgefaßt sind“; für Fischer ist die sentimentalische Mundart eine Greuel: „Zeugnis für die völlige Kritiklosigkeit in Kenntnis und Behandlung der Mundart ist die bei uns neuerdings wieder furchtbar ins Kraut geschossene Dialektdichterei.“ Deren falsche Formen beleidigten die Mundart ebenso wie die Schriftsprache (Fischer 1908, 9), was eine offenbar zeitlose Kritik ist, denn bis heute gilt als beinahe ausnahmslose Regel der württembergischen Dialektdichterei, daß nur derjenige in Mundart dichtet, der sie nicht spricht. Die Gliederung der gesprochenen Sprache in Mundart, Halbmundart, Umgangssprache, Hochsprache ist alt und hat sich trotz der Schwäche mangelhafter Definitionen ganz eingebürgert. Moser (1959, 231) beschreibt drei Sprachschichten als zugleich sozial, räumlich und stilistisch determinierte Stufen. Bausinger (196 7, 311) klärt Mosers Schema durch sein eigenes, in welchem nicht Sprachformen postuliert werden, sondern der „Komplex von Determinanten charakterisiert [wird], die zwar nicht kausal voneinander abhängig sind, sich aber gegenseitig bedingen.“ Sie ergeben das „Vor-Feld sprachlicher Äußerungen“, in welchem auf allen Ebenen räumliche, soziale, psychologische, funktionale und intentionale Bedingungen miteinander korrelieren. Ruoff (1973, 193—196 ) hat für die Arbeiten der Tübinger Arbeitsstelle die Sprachschicht der Gewährsleute nach dem geographischen Geltungsbereich der Lautformen definiert, um sie so als eindeutige Variable den Textteilen der Tonbandaufnahmen zuordnen und in die statistische Bearbeitung syntaktischer Erscheinungen mit einbeziehen zu können; Ammon (1973, 6 1—158) hat daran seine ‘dialektale Stufenleiter’ entwickelt und die hohe Korrelation von phonetischer, morphologischer und lexikalischer Ebene sowie dieser drei mit der Sozialschicht des Sprechenden (1963, 202—204) gezeigt. Mundart und Schule ist ein Problemkreis,
der die Dialektologie auch von ihren ersten Tagen an beschäftigt hat. Zur selben Zeit, da Hürbin (186 6 /6 7), Werder (1878) und Winteler (1878) in der Schweiz erste ausführliche Darlegungen dazu verfassen, zeigen sich in Württemberg nur schüchterne Ansätze. Erst in den grundlegenden Arbeiten von Brechenmacher (1925; 1927; 1934) kommen alle Gesichtspunkte des Problems zur Sprache, indem er das Verständnis für Mundart und Schriftsprache durch gegenseitige Erhellung fördert, jeder dieser Sprachformen ihr Recht zuweist und rät, wie die dialektbedingten Fehler der Schüler zu vermeiden und milder zu beurteilen seien. Denselben Motiven entspringen eine Generation später die Arbeiten Häfners (1948; 1949; 1950; 1951), der auch durch Aufklärung zur Toleranz verhelfen will. Hinüber in die Sprachbarrieren-Diskussion führt Bausinger (1972) das Thema mit der Überlegung, wieweit es zulässig sei, Sprachbarrieren unmittelbar an der Sozialschicht festzumachen, und wieweit der „Dialekt als Sprachbarriere“ fungiere. So lautet auch sein Aufsatz im gleichnamigen von ihm herausgegebenen Sammelband (Bausinger 1973), der die Beiträge der Tübinger Tagung zur alemannischen Dialektforschung des Jahres 1972 enthält. In diesem Band beschreiben Besch/Löffler (1973, 89—110) ihren Plan, wie durch ‘Sprachhefte: Hochsprache/Mundart—kontrastiv’ die schon von Rahn (196 2) verschwommen anvisierten Ziele erreicht werden könnten: Hochsprache zu erlernen, die Bedingtheit der Sprachverwendung durch Situation, Rolle, Sozialisation usw. zu erkennen, jedes der beiden Teilsysteme der Sprache in seiner Funktion gelten zu lassen und eine „gewollte Diglossie“ zu erreichen. Im ersten der Sprachhefte setzen sie ihre verdienstvollen Bemühungen in wohldurchdachte Pragmatik um (Löffler/ Besch 1977). Im schwäbischen Sprachraum hat Ammon (seit 1972) in zahlreichen Arbeiten Ursache und Befunde von Schulschwierigkeiten der Dialektsprecher behandelt (z. B. Ammon 1972; 1973). Nach Beschs Muster verfassen Ammon/Loewer (1977) das Heft „Schwäbisch“, das eine praktikable Darstellung der wichtigsten vorkommenden lautlichen, morphologischen, syntaktischen Schwierigkeiten enthält.
7.
Syntaxforschung
Systematische Untersuchungen der Syntax gesprochener Sprache mit der Analyse der
6. Die Forschungstätigkeit der Württembergischen Schule als Beispielregionaler Dialektologie
geographischen, sozialen, situativen Bedingtheit ihrer einzelnen Erscheinungen und dem statistischen Nachweis des jeweiligen Gewichts dieser redebestimmenden Faktoren wurden erstmals unter Ruoffs Leitung anhand von Tonbandaufnahmen im Rahmen der ‘Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Südwestdeutschland’ unternommen. Das Arbeitsgebiet der Tübinger Arbeitsstelle geht über die Grenzen Württembergs hinaus und umfaßt auch Baden, BayrischSchwaben, Vorarlberg und Liechtenstein. Erst auf diese Weise allerdings ist es möglich, spezifisch ‘Schwäbisches’ oder ‘Württembergisches’ aus dem Vergleich mit den Befunden aus den umgebenden Landschaften zu erkennen. Die Tübinger Arbeitsstelle verfügt derzeit über 1 500 Tonbandaufnahmen von Alteingesessenen und Neubürgern aus mehr als 350 Orten des Untersuchungsgebiets mit durchschnittlich etwa 15 Minuten Dauer, außerdem über Ergebnisse zahlreicher zusätzlicher Erhebungen bei etwa 1 000 Gewährsleuten. Alle Aufnahmen von Einheimischen sind transkribiert; 1 000 Texte und Tonbandaufnahmen bilden die Grundlage der ‘Auswertungs-Arbeiten’, durch die jeweils alle im Korpus vorkommenden Belege einzelner Spracherscheinungen im Kontext exzerpiert und sprachwissenschaftlich kategorisiert werden. Häufigkeitsuntersuchungen und damit die Analyse des jeweiligen Einflusses außersprachlicher Variablen werden dadurch ermöglicht, daß alle Texte in sogenannte ‘Wortblöcke’ zu je 200 aufeinanderfolgenden, von der Gewährsperson gesprochenen Wörtern eingeteilt sind, denen die Merkmalsgruppen verschiedener Kategorien von ‘Rededeterminanten’ zugeordnet sind, nämlich in erster Linie Sprachlandschaft, Geschlecht, Lebensalter, Berufsgruppe (als leichtest faßbarer Indikator für Sozialschicht), Gesprächsart und Gesprächsinhalt. Ruoff (1973) legt ausführlich alle einzelnen Arbeitsgänge dar. Die erste nach den beschriebenen Verfahren in der Reihe ‘Idiomatica’ publizierte Arbeit von Eisenmann (1973) gilt der Untersuchung der Satzkonjunktionen, Obenland (196 6 ) handelt über die Präposition mit, Walzer (1972) über Verbpräfixe; Graf, der 1973 die Arbeiten der Tübinger Arbeitsstelle denen der modernen Linguistik konfrontiert hatte, widmet (1977) dem Konjunktiv eine Monographie, Gersbach (1982) dem Präteritum; Meister (196 5)
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beschäftigt sich mit Sprachwandelproblemen; Kirchmeier (1973 a) untersucht Entlehnungsvorgänge und Lehnwortgebrauch, Stadelmann (1975; 1978) die Verwendung von verstärkten Orts- und Richtungsangaben. Auf dem Material der Arbeitsstelle beruhen zahlreiche weitere Arbeiten, z. B. Alix (1972), Ammon (1972; 1973) und Aufsätze zu syntaktischen und stilistischen Fragen. — Ein Projekt der Tübinger Arbeitsstelle gilt der Frage nach ‘Sprachnorm und Varianz’ von Ortsprachen, wofür vier Exploratoren während einer mehrwöchigen Kundfahrt in drei nahe beieinander gelegenen Weilern des nördlichen Schwarzwalds alle Einwohner (möglichst in mehreren unterschiedlichen Redesituationen) auf Tonband aufnahmen und mit allen zuhandenen dialektologischen und volkskundlichen, sprach- und sozialwissenschaftlichen Methoden der Feldforschung befragten und beobachteten (s. Kirchmeier 1973). Auf Grund der Auswertungs-Arbeiten zu den einzelnen Wortarten entstand in der Tübinger Arbeitsstelle ein Häufigkeitswörterbuch (Ruoff 1981), in welchem ein Teilkorpus von 500 000 Wörtern in Wortarten gesondert, nach Häufigkeit (Angabe absolut und in Prozent), alphabetisch und rückläufig-alphabetisch aufgelistet ist. Bei der EDVSpeicherung der Belege waren die jeweiligen Gesprächsmerkmale mit eingegeben worden, so daß prinzipiell jedes Stichwort oder jede beliebige Gruppe von solchen auf die außersprachlichen Bedingungen ihres Vorkommens hin untersucht werden können. Das Häufigkeitswörterbuch bildet außerdem die Grundlage für ein weiteres Projekt der Arbeitsstelle, das die Darstellung der Wortbildung in gesprochener Sprache (unter Berücksichtigung der Häufigkeiten von Belegen/Lemmata/Bildungsmustern) zum Ziel hat. Dem Gedanken, daß nur-sprachgeographische Untersuchungen die Wirklichkeit syntaktischer Erscheinungen ebenso wenig erfassen wie nur-sprachsoziologische, daß vielmehr fast alle Redeakte durch ein „Geflecht von Determinanten“ (Ruoff 1973, 247) bestimmt und erst durch deren Berücksichtigung und die Darstellung der möglicherweise dahinterstehenden historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen genügend analysiert sind, tragen erstmals in der Syntaxforschung die Arbeiten der Tübinger Arbeitsstelle Rechnung.
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8.
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Namenforschung
Für jeden Bereich der Namenforschung gibt es in Württemberg sowohl eine umfangreiche Sammlung als auch ein Nachschlagewerk. Brechenmacher (o. J.) und Kapff (1927) haben die in Württemberg heimischen Familiennamen dargestellt und gedeutet, Buck (1931) war mit seinem ‘Oberdeutschen Flurnamenbuch’ der Initiator wissenschaftlicher Flurnamenforschung, Springer (1930) behandelt die Flußnamen des Landes, Bohnenberger (1927) die Herkunft der häufigsten Ortsnamen-Typen, Moser (1950) gibt eine Sammlung von Ortsnecknamen heraus, Keinath (1951) ein Nachschlagebuch über Orts- und Flurnamen. Fischer teilt im Schwäbischen Wörterbuch bei jedem Stichwort ggf. damit zusammenhängende Namen mit. Zwei umfangreiche Sammlungen württembergischer Flurnamen liegen in der Württembergischen Landesstelle für Volkskunde in Stuttgart: Alle 90 000 Einzelbelege aus den württembergischen Flurkarten 1:2 500 hat Bazing nach 1880 handschriftlich verkartet und z. T. mit Deutungen und Vermerken (u. a. auch Mitteilungen von Buck) versehen. Auf Anregung von Bohnenberger (1898) wurde durch Lämmle das ‘Württembergische Flurnamenarchiv’ ins Leben gerufen, das Dölker weitergeführt hat und zu welchem 400 Mittelsleute beigetragen haben. Diese sammelten die Flurnamen jeweils einer Gemarkung und trugen in Listen alle wichtigen zugehörigen Angaben ein: Aussprache, historische Formen, Lage und Gestalt der Flur, Art der Bewirtschaftung usw. Alle Daten wurden verkartet und in eine alphabetische Gesamtkartei von 40 000 Belegen sortiert. Für einzelne Gemarkungen liegen wissenschaftliche Flurnamen-Monographien vor, die sich an Dölkers vorbildlicher Arbeit über die Stuttgarter Flurnamen orientieren (Dölker 1933). Besonders Dölkers Schüler liefern derartige Untersuchungen, so z. B. Rumpp (196 1) diejenige über die Tübinger Flurnamen. Jänichen wirkte in Tübingen als Beiträger zur Neubearbeitung von Förstemanns Namensbuch, von ihm — ebenso wie von Müller u. a. — stammen auch wesentliche Einzeluntersuchungen zu speziellen Namensproblemen oder zur Erhellung siedlungsgeschichtlicher Fragen durch Örtlichkeitsnamen. In diese Richtung geht jüngst auch die Arbeit von Schweitzer (1979), der
nach der (Wieder-)Entdeckung des römischen Limitationsnetzes in Württemberg zahlreiche damit offenkundig zusammenhängende Namen erstmalig deuten oder bisherige Deutungen falsifizieren kann. Sein Nachweis der Siedlungskontinuität, seine Entdeckung der ‘Tiefenstruktur’ des Gitterwerks von Örtlichkeitsnamen römischen Ursprungs wird weit über Württemberg hinaus wirkende Anstöße für die wechselseitige Erhellung von Siedlungsgeschichte und Namenforschung geben. Seit Bohnenberger finden sich in Fachzeitschriften, aber sehr oft auch in populärer Literatur wissenschaftliche Aufsätze über Orts- und Flurnamen, zahllose davon in den ‘Blättern des Schwäbischen Albvereins’. Das beruhte darauf und das bewirkte weiterhin, daß ein besonders weit gestreutes Interesse an namenkundlichen Fragen im Land bestand. So hat die Orts- und Flurnamenforschung seit Bohnenberger auch einen deutlich pragmatischen Charakter: Als das erste Blatt der neuen Serie von Meßtisch-Blättern 1 : 25 000 des Landesvermessungsamts erschienen war, unterzieht Bohnenberger die Einträge der Flurnamen ausführlicher Kritik. Im gleichen Aufsatz in den Albvereinsblättern (Bohnenberger 1898) begründet er die Notwendigkeit einer Sammel- und Auskunftsstelle für Flurnamen, und das Landesvermessungsamt nimmt seine Kritik auf und übergibt ihm das Amt des ‘Sachverständigen für die Schreibung der Flurnamen in amtlichen Karten’, das er jahrzehntelang mit Geduld und Akribie versah. Um falschen Karteneinträgen möglichst schon zuvorzukommen, gibt Bohnenberger für den internen Amtsgebrauch eine ‘Schreibanweisung für Flurnamen’ heraus, die unter Dölkers Verantwortung durch Ruoff neu bearbeitet als ‘Flurnamenbuch’ (1958) des Landesvermessungsamts publiziert wurde. Dölker übernahm Bohnenbergers Sachverständigen-Amt, ihm oblag später vor allem die Entscheidung über Weiterführung oder Neuaufnahme von Flurnamen im Zuge der Flurbereinigung des nicht nur sprachlich sondern auch agronomisch kleinparzellierten Landes; nach der Gemeindereform wirkte er als Berater für die in großer Zahl notwendig gewordenen Neuschöpfungen von Ortsnamen. Im Bereich der Namenforschung zeigt sich besonders deutlich die in der württembergischen Dialektologie allenthalben zu beobachtende enge Verflechtung von Dialektologie mit Volks- und Landes-
6. Die Forschungstätigkeit der Württembergischen Schule als Beispielregionaler Dialektologie
kunde und sprachwissenschaftlicher Pragmatik. Eine ‘württembergische Schule’ der Dialektologie hat es im strengen Sinne nicht gegeben, aber doch eine Tradition der Haltungen und Einstellungen württembergischer Dialektologen, eine Tradition in der Art der Beziehung der Forscher zum Forschungsgegenstand und seinen Trägern, eine Tradition der Vielfalt der Blickwinkel auf das jeweilige Objekt, eine Tradition auch der geschichtlichen Landschaft und der von ihr ausgehenden Bedingungen. Einer gewissen Reserve gegenüber Theoriebildungen um ihrer selbst willen korrespondiert ein nachdrücklicher Zug zur Empirie und ihrer Vervollkommnung. — Wie die Revolution von 1848 im Lande eher still vor sich ging, weil der württembergische König nicht arg absolutistisch war — und der württembergische Demokrat nicht arg radikal —, so brandeten die Wogen von Sturm und Drang der Junggrammatiker hier auch erst in gebrochenen Wellen, die weniger überschwemmten als erfrischten. Mit allen folgenden Strömungen der Dialektologie verhielt es sich ähnlich. Derartige Übereinstimmungen — nimmt man alles zusammen — geben dann doch das Recht, von einer ‘württembergischen Schule’ der Dialektologie zu sprechen.
9.
Literatur (in Auswahl)
Alix 1972 = Christian Alix: Description du Système Phonologique d’ un Parler Villageois (Wurmlingen/Krs. Tübingen). Tübingen 1972. Ammon 1972 = Ulrich Ammon: Dialekt, soziale Ungleichheit und Schule. Weinheim 1972 (Pragmalinguistik 2). Ammon 1973 = Ulrich Ammon: Dialekt und Einheitssprache in ihrer sozialen Verflechtung. Eine empirische Untersuchung zu einem vernachlässigten Aspekt von Sprache und sozialer Ungleichheit. Weinheim 1973 (Pragmalinguistik 3). Ammon /Loewer 1977 = Ulrich Ammon / Uwe Loewer: Schwäbisch. Düsseldorf 1977 (Dialekt/ Hochsprache — kontrastiv. Sprachhefte für den Deutschunterricht 4). Baur 1967 = Gerhard W. Baur: Die Mundarten im nördlichen Schwarzwald. 1. Textband. 2. Kartenband. Marburg 196 7 (Deutsche Dialektgeographie 55). Baur 1978 = Gerhard W. Baur: Bibliographie zur Mundartforschung in Baden-Württemberg, Vorarlberg und Liechtenstein. Mit 9 Karten. Tübingen 1978 (Idiomatica 7). Baur 1978 a = Gerhard W. Baur (Hrsg.): Aus der Frühzeit der „Beiträge“. Briefe der Herausgeber 1870—1885. In: Beiträge zur Geschichte der deut-
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schen Sprache und Literatur 100 (1978), 337—368. Bausinger 1956 = Hermann Bausinger: Beharrung und Einfügung. Zur Typik des Einlebens der Flüchtlinge. In: Jahrbuch für Volkskunde der Heimatvertriebenen 2 (1956), 9—16. Bausinger 1967 = Hermann Bausinger: Bemerkungen zu den Formen gesprochener Sprache. In: Satz und Wort im heutigen Deutsch. Düsseldorf 1967 (Sprache der Gegenwart 1), 292—312. Bausinger 1972 = Hermann Bausinger: Dialekte, Sprachbarrieren, Sondersprachen. 2. Band zur Fernsehserie Deutsch für Deutsche. Frankfurt/ Main 1972 (Fischer Taschenbuch 6145). Bausinger 1973 = Hermann Bausinger: Dialekt als Sprachbarriere? In: Dialekt als Sprachbarriere? Tübingen 1973 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 33), 9—27. Bausinger/Ruoff 1959 = Hermann Bausinger/ Arno Ruoff: Beuren, Kreis Wangen im Allgäu. Göttingen 1959 (Lautbibliothek der deutschen Mundarten 12/13). Besch 1961 = Werner Besch: Schriftzeichen und Laut. Möglichkeiten der Lautwertbestimmung an deutschen Handschriften des späten Mittelalters. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 80 (196 1), 287—302. Besch 1961 a = Werner Besch: Studien zur Lautgeographie und Lautgeschichte im obersten Nekkar- und Donaugebiet. Freiburg i. Br. 196 1 (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 10). Besch 1965 = Werner Besch: Zur Erschließung früheren Sprachstandes aus schriftlichen Quellen. In: Friedrich Maurer (Hrsg.), Vorarbeiten und Studien zur Vertiefung der südwestdeutschen Sprachgeschichte. Stuttgart 1965, 104—130. Besch/Löffler 1973 = Werner Besch/Heinrich Löffler: Sprachhefte: Hochsprache/Mundart — kontrastiv. A. Ein Bericht über Vorarbeiten und Zielsetzungen. B. Kontrastive Grammatik Mundart — Hochsprache. Ein Werkstattbericht. I n: Dialekt als Sprachbarriere? Tübingen 1973 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 33), 89—110. Birlinger 1861/1862 = Anton Birlinger: Volksthümliches aus Schwaben. Bd. 1: Sagen, Märchen, Volksaberglauben. Gesammelt und hrsg. v. A. B. und M. R. Buck. Freiburg i. Br. 186 1. Bd. 2: Sitten und Gebräuche. Gesammelt und hrsg. v. A. B. ebenda. 1862 (Nachdruck Hildesheim 1974). Blümcke 1963 = Martin Blümcke: Übersichtskarte von Karl Bohnenberger, Die alemannische Mundart. (Handschrift). Tübingen 1963. Blümcke 1964 = Martin Blümcke: Johann Christoph von Schmid. 175 6 —1827. In: Zur Geschichte von Volkskunde und Mundartforschung in Württemberg. Tübingen 196 4 (Volksleben 5), 11—33.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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6. Die Forschungstätigkeit der Württembergischen Schule als Beispielregionaler Dialektologie
Fischer 1911 = Hermann Fischer: Die Schwaben in der ungarischen Grafschaft Szatmár. In: Württembergisches Jahrbuch für Statistik und Landeskunde 1911, 32—48. Fischer 1915 = Hermann Fischer: Friedrich Veit. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 40. 1915, 169 f. Flurnamenbuch 1958 = Flurnamenbuch. Flurnamenschreibung in amtlichen Karten. Hrsg. v. Landesvermessungsamt Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit der Württembergischen Landesstelle für Volkskunde. Stuttgart 1958. Fulda 1774 = Friedrich Carl Fulda: Grundriß zu einem Württembergischen Idioticon. In: Gelehrte Ergötzlichkeiten und Nachrichten II. 1774, 195—202. Fulda 1788 = Friedrich Carl Fulda: Versuch einer Allgemeinen deutschen Idiotikensammlung, Sammlern und Liebhabern zur Ersparung vergeblicher Mühe bey bereits schon aufgefundenen Wörtern, und zu leichterer eigener Fortsetzung gegeben. Berlin. Stettin 1788. Gabriel 1972 = Eugen Gabriel/Werner König/ Albert Viktor Schelb: Südwestdeutscher Sprachatlas. Begründung, theoretische Grundlegung, Durchführung. [Masch. Ms.] Freiburg i. Br. 1972. Gersbach 1982 = Bernhard Gersbach: Die Vergangenheitstempora in oberdeutscher gesprochener Sprache. Formen, Vorkommen und Funktionen. Untersucht an Tonbandaufnahmen aus Baden-Württemberg, Bayrisch-Schwaben und Vorarlberg. Tübingen 1982 (Idiomatica 9). Graf 1973 = Rainer Graf: Die idiomatischen Untersuchungen der Tübinger Arbeitsstelle „Sprache in Südwestdeutschland“. In: Dialekt als Sprachbarriere? Tübingen 1973 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 33), 163—193. Graf 1977 = Rainer Graf: Der Konjunktiv in gesprochener Sprache. Form, Vorkommen und Funktion untersucht an Tonbandaufnahmen aus Baden-Württemberg, Bayrisch-Schwaben, Vorarlberg und Liechtenstein. Tübingen 1977 (Idiomatica 5). Haag 1929/30 = Karl Haag: Sprachwandel im Lichte der Mundartgrenzen. Mit 2 Karten: Grenzlandschaften des Schwäbischen gegen Fränkisch und Alemannisch. In: Teuthonista 6 . 1929/30, 1— 35. Haag 1946 = Karl Haag: Die Grenzen des Schwäbischen in Württemberg. Stuttgart 194 6 (Schwäbische Volkskunde N. F. 8). Häfner 1948 = Karl Häfner: Die Sprachkunde in der Volksschule. 2 Bde. Stuttgart 1948. Häfner 1949 = Karl Häfner: Mundart und Schule. In: Die Schulwarte 2. 1949, 94—105; 614—627. Häfner 1950 = Karl Häfner: Bildender Sprachunterricht. Lehre und Beispiele. Stuttgart 1950.
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142
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Kirchmeier 1973 a = Monika Kirchmeier: Entlehnung und Lehnwortgebrauch. Untersucht am französischen Einfluß auf die württembergischen Mundarten und am württembergischen Einfluß auf die Sprache im Pays der Montbéliard. Tübingen 1973 (Idiomatica 3). Kleiber 1965 = Wolfgang Kleiber: Urbare als sprachgeschichtliche Quelle. Möglichkeiten und Methoden der Auswertung. In: Friedrich Maurer (Hrsg.), Vorarbeiten und Studien zur Vertiefung der südwestdeutschen Sprachgeschichte. Stuttgart 1965, 151—243. Kleiber/Kunze/Löffler 1979 = Wolfgang Kleiber/Konrad Kunze/Heinrich Löffler: Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas. Aufgrund von Urbaren des 13. bis 15. Jahrhunderts. 2 Bd. Bern. München 1979 (Bibliotheca Germanica 22). Knauss 1863 = Ludwig Theodor Knauss: Versuch einer schwäbischen Grammatik für Schulen. Reutlingen 1863. König 1975 = Werner König: Der Südwestdeutsche Sprachatlas. In: Montfort 27. 1975, 170—193. Lauchert 1855 = Friedrich Lauchert: Lautlehre der Mundart von Rottweil und Umgegend. Rottweil 1855. Leibniz 1717 = Gottfried Wilhelm Leibniz: Unvorgreiffliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache. Hannover 1717. Löffler/Besch 1977 = Heinrich Löffler/Werner Besch: Alemannisch. Düsseldorf 1977. (Dialekt/ Hochsprache — kontrastiv. Sprachhefte für den Deutschunterricht 3). Mann 1928 = Eugen Mann: Dr. Hermann v. Fischer. In: Württembergischer Nekrolog für die Jahre 1920 und 1921. Stuttgart 1928, 117—132. Maurer 1942 = Friedrich Maurer: Zur Sprachgeschichte des deutschen Südwestens. In: Oberrheiner, Schwaben, Südalemannen. Hrsg. v. Friedrich Maurer. Straßburg 1942 (Arbeiten vom Oberrhein 2), 167—336. Maurer 1965 = Friedrich Maurer (Hrsg.): Vorarbeiten und Studien zur Vertiefung der Sprachgeschichte. Stuttgart 19 6 5 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, B 33). Maurer 1976 = Friedrich Maurer: Zur Entstehung des Historischen Südwestdeutschen Sprachatlasses. In: Alemannica, Festschrift für Bruno Boesch zum 6 5. Geburtstag. Bühl. Baden 1976 , 2—9. Mehne 1955 = Rolf Mehne: Die Mundart von Schwenningen a. N. Flexion, Wortbildung, Syntax, Schichtung. Diss. [masch.] Tübingen 1955. Mehne 1964 = Rolf Mehne: Karl Haag. 186 0—1946 . In: Zur Geschichte von Volkskunde und Mundartforschung in Württemberg. Tübingen 1964 (Volksleben 5), 193—209. Meister 1965 = Walter Meister: Die Mundart in Veränderung und Beharrung, dargestellt an drei
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6. Die Forschungstätigkeit der Württembergischen Schule als Beispielregionaler Dialektologie
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Stettin 1795. Beilage VIII, 113—254. Schmid 1831 = Johann Christoph von Schmid: Schwäbisches Wörterbuch. Mit etymologischen und historischen Anmerkungen. Stuttgart 1831. Schmidt 1872 = Johannes Schmidt: Die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen. Weimar 1872. Schwäbisches Wörterbuch 190 4—1936 = Schwäbisches Wörterbuch. Auf Grund der von Adelbert von Keller begonnenen Sammlungen und mit Unterstützung des württembergischen Staates bearbeitet von Hermann Fischer. [Ab Bd. 6 ] Weitergeführt von Wilhelm Pfleiderer. 6 Bände und 1 Nachtrag. Tübingen 1904—1936. Schwedt 1964 = Herbert Schwedt: Rudolf Kapff. 1876 —1954. In: Zur Geschichte von Volkskunde und Mundartforschung in Württemberg. Tübingen 1964 (Volksleben 5), 243—255. Schweitzer 1979 = Eugen Schweitzer: Römische Limitationsspuren in Südwestdeutschland. [masch. Ms.] Kirchheim u. T. 1979. Sievers 1876 = Eduard Sievers: Grundzüge der Lautphysiologie zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Leipzig 1876 (Bibliothek indogermanischer Grammatiken 1). Springer 1930 = Otto Springer: Die Flußnamen Württembergs und Badens. Stuttgart 1930. Stadelmann 1975 = Manfred Stadelmann: Ortsund Richtungsadverbien in Vorarlberg und Liechtenstein. In: Montfort 27. 1975, 258—329. Stadelmann 1978 = Manfred Stadelmann: Ortsund Richtungsadverbien bei Siedlungsbezeichnungen. Verbreitung und Funktion in oberdeutschen Mundarten. Untersucht an Tonbandaufnahmen und Erhebungen der Tübinger Arbeitsstelle. Tübingen 1978 (Idiomatica 6). Veit 190 1/0 2 = Friedrich Veit: Ostdorfer Studien. 1—3. Tübingen 1. 2. 1901; 3.1902. Veit 1915 = Friedrich Veit: Die althochdeutschen a- und e-Laute in der Mundart von Ostdorf. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 40. 1915, 169—215. Wagner 1889/1891 = Philipp Wagner: Der gegenwärtige Lautbestand des Schwäbischen in der Mundart von Reutlingen. 1. Teil. Reutlingen 1889. 2. Teil. Reutlingen 1891. Mit 10 Tafeln. Walker 1964 = Martin Walker: Adelbert von Keller. 1812—1885. In: Zur Geschichte von Volkskunde und Mundartforschung in Württemberg. Tübingen 1964 (Volksleben 5), 80—95. Walzer 1971 = Claudia Walzer: Verbalpräfixe in gesprochener Sprache. Verwendung und Funktion untersucht an Tonbandaufnahmen aus BadenWürttemberg, Bayrisch-Schwaben und Vorarlberg. Staatsarbeit [masch.]. Heidelberg 1971. Weinhold 1863 = Karl Weinhold: Alemannische Grammatik. Berlin 186 3. (Grammatik der deutschen Mundarten. 1. Teil: Das alemannische Gebiet).
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Werder 1878 = Jul. Werder: Vom Unterricht in der Mutter-Sprache mit besonderer Rücksicht auf die Mittelstufe. Basel 1878. Winteler 1876 = Jost Winteler: Die Kerenzer Mundart des Kantons Glarus in ihren Grundzügen dargestellt. Leipzig. Heidelberg 1876. Winteler 1878 = Jost Winteler: Über die Begründung des deutschen Sprachunterrichts auf die Mundart des Schülers. Ein Wort an die bernische Lehrerschaft anläßlich der Revision des Lehrplans für die bernischen Mittelschulen. Bern 1878. Württembergisches Städtebuch 1962 = Württembergisches Städtebuch. Hrsg. v. Erich Keyser. Stuttgart 1962. Zwirner 1956 = Eberhard Zwirner: Lautdenkmal
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Arno Ruoff, Tübingen
Die Reihenschrittheorie: Muster eines dialektologischen Beitrags zur Erklärung des Lautwandels Forschungsgeschichte Gekoppelte und gestörte Vokalreihen Reihenschritte als gekoppelte Weiterentwicklungen gekoppelter Vokalreihen Die Reihenschrittheorie in der Lautgeschichte Literatur (in Auswahl)
Forschungsgeschichte
Im Rahmen der Entwicklung der physiologischen und akustischen Phonetik wurden schon sehr früh die Bildungskorrespondenzen zwischen palatalen und velaren Hochzungenvokalen vom Typus I — Ü — U und Mittelzungenvokalen vom Typus E — Ö — O erkannt. Bereits Ch. Hellwag (1781) erarbeitete die den phonetischen Gegebenheiten entsprechende bildliche Anordnung der Vokaltypen in Form des Vokaldreiecks mit dem Tiefzungenvokal A an der Spitze, die dann im 19. Jh. vor allem durch die Phonetiker M. Bell (1849) und E. Brücke (1849 und 1856 ) ausgebaut und verfeinert wurde. Obwohl die kritische Sprachwissenschaft schon um 1820 begann, orientierten sich die ersten Sprachhistoriker wie J. Grimm (1822) noch nicht an der Phonetik, sondern auf Grund der schriftlichen Überlieferung am Schriftbild („Lehre von den Buchstaben“) und an der willkürlichen alphabetischen Vokalabfolge. Die Phonetik fand erst durch die Junggrammatiker Eingang in die Sprachwissenschaft, seit E. Sievers (1876 ) mit seinen
„Grundzügen der Lautphysiologie“ die theoretischen Voraussetzungen schuf und J. Winteler (1876 ) mit der synchronischen Lautbeschreibung der „Kerenzer Mundart des Kantons Glarus“ die praktische Anwendung vollzog. Trotz Wintelers Beobachtungen einer Systematik von synchronischen Bildungs- und entsprechenden diachronischen Entwicklungskorrespondenzen im dialektalen Vokalismus und trotz der Formulierung von sprachhistorisch beobachteten Lautgesetzen, deren Ausnahmslosigkeit 1876 von A. Leskien postuliert wurde, gelangte man im allgemeinen nicht zur Erkenntnis von lautlichen Systemstrukturen, woran auch weitere derartige Beobachtungen (z. B. Waniek 1880, Nagl 1886 ) nichts änderten. Vielmehr herrschte auf Grund der Durchkreuzung älterer und jüngerer Anschauungen die Vorstellung eines synchronischen sprachlichen Atomismus und eines diachronischen Mechanismus, wonach die synchronischen lautlichen Einzelphänomene diachronisch zwar durch ausnahmslos wirkende Lautgesetze zustande kommen, aber die häufigen ‘spontanen’ Lautveränderungen „lediglich der freien Willkür der Sprechenden ihren Eintritt verdanken, ohne an irgend eine andere Bedingung geknüpft zu sein“ (Sievers 1876 , 125). Diese Zwiespältigkeit führte um 1900 in der deutschen Dialektologie zu unterschiedlichen Beurteilungen der lautlichen Phänomene und ihrer historischen Entwicklungen. Als Vertreter extrem gegensätzlicher Standpunkte traten sich seit etwa 1910 die
7. Die Reihenschrittheorie: Muster eines dialektologischen Beitrags zurErklärung des Lautwandels
Marburger und die Wiener dialektologische Schule gegenüber. Die Marburger Schule (vgl. Kratz 1970 und Art. 3) vertiefte auf Grund der Sprachgeographie die atomistische Sprachauffassung sowie die Ansichten von der Willkürlichkeit lautlicher Veränderungen. Anhand der seit 1890 ausgezeichneten Karten von G. Wenkers „Deutschem Sprachatlas“ glaubte man nämlich, wegen räumlicher Divergenzen im Lautstand gleichartiger Wörter sprachliche Ordnungsprinzipien aufgeben zu müssen. So verwarf F. Wrede den mechanistisch verstandenen Begriff des Lautgesetzes und setzte an seine Stelle die sozial und historisch definierte Sprachgemeinschaft, deren Sprachwille wortweise Lautveränderungen erzeuge und in ihrem Verkehrsraum als einem historisch-geographischen Phänomen durchsetze. Die historische Lautgeographie Marburger Prägung versuchte daher bis um 196 0 Lautveränderungen unter Ausschaltung der Phonetik sowohl als freies Spiel der schöpferischen Sprachlaune als auch als Ausgleichsergebnisse der sprachlichen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppen im Raum zu verstehen, wobei die räumliche Verbreitung einer lautlichen Erscheinung vor allem mit Hilfe der spätmittelalterlichen Territorialund Verkehrsgeschichte erklärt wurde (vgl. Wrede 1919). Die Wiener Schule (vgl. Wiesinger 1976 ) hielt dagegen von Anfang an an der Phonetik und am Begriff des Lautgesetzes fest. Sie versuchte daher in der dialektalen Lautentwicklung die atomistische Sprachauffassung durch den Nachweis der Wirksamkeit von ordnenden, innersprachlich-genetischen Kräften zu überwinden und stellte damit die ‘spontane’ Lautgesetzlichkeit unter Ausschaltung der bisherigen Annahme von Bedingungslosigkeit und Willkür auf eine phonetische Basis. So entwickelte A. Pfalz (1918) für vokalische Lautentwicklungen die Theorie der „Reihenschritte“, wobei er diesbezügliche Beobachtungen von N. van Wijk (1903) und wohl auch Anregungen von J. W. Nagl (1886 , 10 ff.; vgl. Wiesinger 1978, 36 1 ff.) aufgriff. Obwohl schon Pfalz (1925) Abweichungen von der regelmäßigen Lautgesetzlichkeit auf den Einfluß höherer Sprachschichten zurückführte, unterschied erst E. Kranzmayer (1956 , 8 ff.) bei Lautveränderungen deutlich zwischen genetischem, innersprachlich-bedingtem, kontinuierlichem Lautwandel und soziologischem, außersprachlich-bedingtem, diskonti-
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nuierlichem Lautersatz. Kranzmayer war es auch, der unbemerkt schon (1925) und allgemein registriert (1956 ) die Reihenschrittheorie der synchronischen Vokalbeschreibung als Ordnungsprinzip zugrundelegte und mit ihrer Hilfe die diachronische Vokalentwicklung des Bairischen erklärte. Obwohl die Reihenschrittheorie eine starke Affinität zu der von N. Trubetzkoy ebenfalls in Wien um 1930 entwickelten Phonologie aufweist und Pfalz (1936 ) als erster deutscher Dialektologe die Phonologie aufgriff, stellte Pfalz keine Verbindung her und kam Kranzmayer (1953) über Ansätze nicht hinaus. Auch O. Höfler (1956 , 1 ff.) beschäftigte sich im Rahmen seiner Entfaltungstheorie mit den Reihenschritten, die er wegen ihrer gleichzeitig mehrere Vokale betreffenden Wirksamkeit unter dem Begriff der „gekoppelten Lautgesetze“ faßte. Der Versuch Höflers (196 7), die Reihenschrittheorie vom Vokalismus auf den Konsonantismus, vor allem aber auf die Entwicklungen der Zweiten Lautverschiebung auszudehnen, erhielt keine Zustimmung. Eine systematische Darlegung der Reihenschrittheorie, ihrer Voraussetzungen, Auswirkungen und Ausnahmen sowie eine Verbindung ihrer phonetischen Grundlagen mit der taxonomischen Phonologie versuchte anhand der Entwicklung der hochdeutschen Langvokale und Diphthonge P. Wiesinger (1970). Wie die Reihenschrittheorie zur Erklärung des diachronischen vokalischen Systemwandels angewandt werden kann, zeigte Wiesinger am Hochpreußischen (1971), am Nordripuarisch-Bergischen (1975) und am Hessischen (1980) und behandelte (1977) die allgemeine Problematik der diachronischen Systemrekonstruktion. Im Anschluß an Kranzmayer (1956 ) wurde die Reihenschrittheorie vor allem als Ordnungsprinzip in einer Reihe von Wiener und Erlanger Dialektmonographien (z. B. Seidelmann 1957 und Steger 196 8) und in Hotzenköcherles „Sprachatlas der deutschen Schweiz“ I (196 2) angewandt. Auch von Wiesinger (1970) ging eine entsprechende Wirkung aus (z. B. Hecker 1972, Glattauer 1978, Haas 1978).
2.
Gekoppelte und gestörte Vokalreihen
Auf Grund der natürlichen phonetischen Gegebenheiten lassen sich die jeweils in ihrer Bildungsweise korrespondierenden palatal ungerundeten, palatal gerundeten und ve-
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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lar gerundeten Vokale gleicher Höhe und Spannung zu einer gekoppelten Vokalreihe zusammenfassen, wobei unter ‘Höhe’ die Erhebung des Zungenkörpers gegen den Gaumen und unter ‘Spannung’ die Intensität der artikulierenden Mundmuskulatur zu verstehen ist. Eine gekoppelte Vokalreihe umfaßt daher maximal drei und minimal zwei Glieder, wobei jedoch nur das gerundete palatale Glied fakultativ ist. Gelegentlich kann synchronisch als temporärer Zustand auch eine bloß aus einem palatal gerundeten und einem velar gerundeten Glied bestehende, defekte Reihe vorkommen, die jedoch im Laufe der Weiterentwicklung entweder aufgesogen oder zu einer kompletten Reihe mit einem neuen palatal ungerundeten Glied vervollständigt wird. Unter diesen Voraussetzungen beschränken sich die gekoppelten Vokalreihen auf die Hoch- und Mittelzungenvokale jeden Öffnungsgrades und jeder Quantität als Monophthonge sowie in paralleler, miteinander korrespondierender Kombination als steigende Diphthonge und als initial oder final akzentuierte fallende Diphthonge. Es ergeben sich daher insgesamt sechs Grundtypen gekoppelter Reihen mit zwei Typen von kurzen oder langen Monophthongreihen, einer steigenden Diphthongreihe, zwei Typen von initial akzentuierten fallenden Diphthongreihen und einer final akzentuierten fallenden Diphthongreihe. Bei den fallenden Diphthongen spielt es keine Rolle, daß die zweite Konstituente bei Akzentlosigkeit in den indifferenten zentralen Vokalbereich zu [ǝ] oder [ɐ] mit Eoder A-artigem Klang abgleitet. Es handelt sich also um folgende Reihentypen: I E IE EA
— Ü — Ö — ÜE — ÖA
— U — OEI — UEIÉ — OA
— —
ÖÜ Ü
— —
OU UÓ
Als Varianten von steigenden und fallenden Diphthongen können gelegentlich auftretende Triphthonge gelten, z. B. [iɐ — üɐ — uɐ]. Die gekoppelten Vokalreihen betreffen wegen ihrer phonetischen Bedingtheit nur einen Teil des Vokalinventars und seiner Kombinationsmöglichkeiten zu Diphthongen. Vor allem ist der in jeder Sprache vorkommende Tiefzungenvokal A, gleichgültig, ob es sich um ein neutrales [a], helles palatales [ạ] oder dunkles velares [ą] handelt, nicht an ihnen beteiligt. Wegen des Unterschieds
in Höhe und Spannung gibt es daher phonetisch weder eine Reihe E — A [, ä — a] noch eine Reihe A — O [a — å, ]; vom Vokaldreieck ausgehend, besteht hier jeweils eine Lücke auf der velaren bzw. palatalen Seite. Auch gelegentliches Auftreten von [ạ — ] kann nicht als gekoppelte Vokalreihe gewertet werden, sondern differenziert sich vom temporären Zustand nicht in paralleler gekoppelter, sondern in verschiedener Richtung entweder zu E — A oder zu A — O. Auch den so häufigen steigenden Diphthongen AI — AÜ — AU fehlt wegen der ihnen gemeinsamen A-Konstituente die für eine gekoppelte Diphthongreihe erforderliche parallele Bildungskorrespondenz. Ebenso ergibt sich aus der Definition, daß die häufigen steigenden Diphthonge UI, OI und der seltene steigende Diphthong EU sowie die gelegentlichen ebenen und fallenden Diphthonge IU, IO, EO bzw. IÚ, IÓ, EÓ, OÁ nicht Glieder gekoppelter Diphthongreihen sein können. Ferner können die in einzelnen Dialekten neben oder anstelle rein palataler und velarer Vokale vorkommenden zentralisierten Vokale wegen fehlender Bildungskorrespondenz nicht Glieder einer gekoppelten Vokalreihe sein. Sie werden in velopalatale und palatovelare Vokale eingeteilt und leiten sich diachron betrachtet zunächst aus palatalen bzw. velaren Vokalen ab. Als Typen lassen sich schwach und stark velopalatales Y, Ÿ und , sowie schwach und stark palatovelares U, Ü und , Ɔ unterscheiden, wozu noch seltenes, zum A-Bereich gehörendes zentralisiertes α hinzutritt. An Diphthongen, die nach der Qualität ihrer ersten Konstituente beurteilt werden, gibt es die velopalatalen steigenden Diphthonge Y, Ÿ und die palatovelaren U, Ü, Y, Y, U, αU, αÜ, αY, die velopalatalen ebenen Diphthonge YU, und die palatovelaren ÜY, UY sowie die fallenden palatovelaren Diphthonge U, Ü, , und den seltenen velopalatalen Diphthong α (vgl. Art. 58). Obwohl dem Tiefzungenvokal A und den zentralisierten Vokalen sowie ihren Kombinationen zu Diphthongen phonetisch die Voraussetzungen für die Bildung gekoppelter Reihen fehlen, verfügt ein Teil von ihnen noch über soviel phonetische Ähnlichkeit mit den reihenbildungsfähigen palatalen und velaren Monophthongen und Diphthongen, daß sie innerhalb eines Vokalsystems den Platz eines Reihengliedes einnehmen können. Bei einer solchen Reihe handelt es sich
7. Die Reihenschrittheorie: Muster eines dialektologischen Beitrags zurErklärung des Lautwandels
phonetisch um eine gestörte Vokalreihe. Eine solche ist die steigende Diphthongreihe AI — AÜ — AU, bei der im Falle durchgehender Dreigliedrigkeit des Systems statt AÜ auch die Diphthonge OI, ÖÜ oder ÖU stehen können. Da die Zentralisierung bei Zweigliedrigkeit vielfach nur das velare zweite Glied erfaßt, kommt es zu den durch Palatovelarität einfach gestörten Monophthongreihen I — U,Ü und E — , , wobei Längen häufiger begegnen als Kürzen, sowie zu den steigenden Diphthongreihen EI — U, Ü und AI — αU, αÜ und zu den fallenden Diphthongreihen IE — U, Ü und EA — , . Nur selten begegnet der umgekehrte Fall einer durch Velopalatalität des ersten Gliedes einfach gestörten, meist kurzen Monophthongreihen Y — U und — O. Die Möglichkeit einer sowohl durch Velopalatalität des ersten Gliedes als auch durch Palatovelarität des zweiten Gliedes doppelt gestörten Reihe findet sich häufiger nur bei der steigenden Diphthongreihe Y — U bzw. Ÿ — Ü, Y und höchst selten vor allem bei den kurzen Monophthongreihen Y — U und — . Alle weiteren Typen velopalataler und palatovelarer Diphthonge können mangels phonetischer Ähnlichkeit auch keine gestörten Reihen mehr bilden. Dreigliedrige gestörte Reihen, z. B. I — Ü — U im niederalemannischen Baselbiet, sind nur gelegentliche Übergangserscheinungen im Grenzraum; sie kommen dort durch die Wiederaufnahme gerundeter Umlaute zustande. Die gekoppelte Vokalreihe ist nicht nur ein phonetisches, sondern auch ein phonologisches Phänomen. Während sich aus ihrer Zwei- oder Dreigliedrigkeit die horizontale Struktur des Vokalsystems ergibt, bestimmt die Anzahl der Vokalreihen die vertikale Struktur. Phonologische Gründe sind es daher, die im Falle fehlender vollkommen pa-
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ralleler phonetischer Bildungskorrespondenzen den synchronischen Ansatz von gestörten Reihen rechtfertigen. Da in einem Vokalsystem auch bestimmte Monophthonge und Diphthonge außerhalb eines horizontalen Reihenzusammenhangs auftreten können, ist es gerechtfertigt, diese in bezug auf diesen als isoliert zu betrachten, obwohl sie wie jedes Glied eines Systems natürlich über eine bestimmte Verankerung verfügen.
3.
Reihenschritte als gekoppelte Weiterentwicklungen gekoppelter Vokalreihen
Bei Einwirkung der gleichen Kräfte auf eine gekoppelte Vokalreihe vollzieht diese eine gekoppelte, parallele Weiterentwicklung zu einer neuen gekoppelten Vokalreihe als Reihenschritt, so daß Ausgangs- und Endstufe in einem direkten Bezugsverhältnis stehen. Dieser genetische, sich über Zwischenstufen vollziehende kontinuierliche Lautwandel bewegt sich daher nur im Spielraum der obgenannten sechs Grundtypen als Hebung oder Senkung von Monophthongen und fallenden Diphthongen, als steigende oder fallende Diphthongierung von Monophthongen sowie als Monophthongierung steigender oder fallender Diphthonge, wobei Hebungen und Senkungen auch innerhalb eines Typus bleiben können (z. B. [e — ö — o]⇄[ — —]). Nur Diphthongierungen sind quantitätsabhängig, indem sie absolute Länge voraussetzen; da im System die Quantitäten nur relativ bestimmt sind, können gelegentlich auch „Kürzen“ lang sein und diphthongiert werden (z. B. im Bairischen). Die final akzentuierten fallenden Diphthonge entstehen entweder durch Akzentuierung aus initial akzentuierten Diphthongen oder durch Diphthongierung aus Mittelzungenvokalen. Schematisch lassen sich diese Entwicklungsmöglichkeiten folgermaßen darstellen:
Abb. 7.1: Schematische Darstellung der Entwicklungsmög- lichkeiten für final akzentuierte fallende Diphthonge nach der Reihenschrittheorie Die gestörte Reihe AI — AÜ — AU kann nur insofern mit den Reihenschritten in Verbindung gebracht werden, als sie aus EI —
ÖÜ — OU durch Senkung der ersten Konstituenten zu A entsteht, wobei sich ÖÜ
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
allerdings oftmals entzieht, und umgekehrt die Assimilierung des A an die zweiten Konstituenten allerdings nur AI — AU zu EI — OU hebt. Ihre spezifischen Weiterentwicklungen mit der Hebung von AI zu OI und dessen akzentbedingter Umwandlung in fallendes OA, der Dehnungsmonophthongierung beider Glieder zu Ā über die Zwischenstufe ĀI — Ā und der Assimilationsdehnungsmonophthongierung zu Ē — Ā über die gleiche Zwischenstufe haben mit Reihenschritten nichts zu tun. Gelegentlich können auch die durch Palatovelarität gestörten zweigliedrigen Reihen Weiterentwicklungen als Reihenschritte vollziehen (z. B. Monophthongierung von EI — Ü zu Ē — in Teilen des Oberrheinischen). Im allgemeinen tendieren die zentralisierten Vokale jedoch zu spezifischen Entwicklungen, wie Übergang vom palatovelaren in den velopalatalen Zustand, Entvelarisierung und Entpalatalisierung, sowie palatovelare Monophthonge zur Palatovelardiphthongierung (vgl. Art. 55). In jedem Fall wird dadurch die gestörte Reihe aufgelöst. Während das sich abspaltende palatovelare Glied in die Isolierung gerät, geht das verbleibende palatale Glied vielfach mit einem velaren Glied anderer Provenienz eine neue Reihenbindung ein. Reihenschritte vollziehen sich im allgemeinen nur in den Normalpositionen, d. h. vor Plosiven und Frikativen. Sie treten ferner auch im Hiatus und Auslaut ein, doch ermöglichen diese durch Konsonanz ungedeckten Positionen oftmals andere Entwicklungen als die gedeckten (vgl. mhd. î — — û, und Art. 55). Spezifische Artikulationen von Plosiven und Frikativen können jedoch gelegentlich den Reihenschritt verhindern und andersartige kombinatorische Entwicklungen auslösen. Letzteres ist besonders häufig in den spezifischen Positionen vor den verschiedenartig gebildeten Liquiden l und r und bei nasalierten Vokalen vor erhaltenen oder geschwundenen Nasalen der Fall (vgl. Art. 55, Art. 59), doch sind hier auch mit den Normalentwicklungen übereinstimmende oder spezifische Reihenschritte möglich (z. B. mhd. ê — — ô → [a — a] vor Plosiven, Frikativen, l und r im Schwäbischen, jedoch mnd. ê2 — 2 — ô2 → [ē — ȫ — ō] vor Plosiven, Frikativen und l, aber → [ī — ǖ — ū] vor r im Mecklenburgischen). Einzelne Ausnahmen treten in Wörtern aus anderen Sprachschichten auf, z. B. vielfach in den von der Standardsprache abhängigen Kir-
chenwörtern wie Geist, heilig, Fleisch, Brot und in Rechtswörtern wie Eid, Meineid. Da Reihenschritte gekoppelte Lautgesetze sind, wirken sie sich nicht nur sprachhistorisch, sondern auch sprachgeographisch aus, indem die zu einer gekoppelten Vokalreihe gehörenden Beispiele aller Glieder im Raum stets die gleiche Verbreitung aufweisen. Ein solches Raumbild braucht jedoch nicht ausschließliches Ergebnis von Lautwandel zu sein, sondern kann auch durch reihenhaften Lautersatz auf Grund von Ausbreitung zustande kommen. In einem solchen Fall bewahren jedoch verkehrsferne Wörter oftmals den ursprünglichen Lautstand, z. B. im Ostthüringischen bei [a — αų] für mhd. î — — û noch [ī] in [šlīsǝ] ‘Federn schleißen’ und [glīsǝ] ‘gleißen’, und es entstehen durch falsche Trennung zusammengefallener Vokalreihen hyperkorrekte Bildungen. Grenzabweichungen in Einzelwörtern resultieren auch aus Kontakten zwischen unterschiedlichen benachbarten Dialekten und aus dem Einfluß anders strukturierter, höherer Sprachschichten. Da die einzelnen Vokalreihen unterschiedliche Verbreitungen aufweisen und sich zu unterschiedlichen Vokalsystemen kombinieren, ergeben sich im Raum klare strukturgeographische Grenzen.
4.
Die Reihenschrittheorie in der Lautgeschichte
Die Reihenschritte verkörpern ein Grundprinzip des vokalischen Lautwandels und können daher in der diachronischen Sprachwissenschaft im Sinne einer ‘historischen Phonetik’ (oder ‘Paläophonetik’) zur Erklärung vokalischer Systemveränderungen herangezogen werden. Ohne sie als solche zu bezeichnen, erklärte damit bereits K. Luick (1914) unter dem Namen ‘Verdrängungsgesetze’ die vokalischen Verschiebungsakte in der Entwicklung des Englischen und machte sie A. Martinet (1955) als ‘Schub’ und ‘Sog’ zu einem methodischen Grundprinzip der diachronischen Phonologie, das dann W. Moulton (196 0 und 196 1) in Verbindung mit der Strukturgeographie zur Erklärung alemannischer Vokalentwicklungen anwandte. Nach Wiesinger (196 8 und 1977) darf jedoch bei der diachronischen Rekonstruktion der dialektalen Systementwicklungen nicht mechanistisch verfahren werden, sondern müssen eine Reihe von Kriterien zur Gewinnung größtmöglicher Wahrscheinlichkeit der präsumptiven Zwischenstufen
7. Die Reihenschrittheorie: Muster eines dialektologischen Beitrags zurErklärung des Lautwandels
herangezogen werden. Die Rekonstruktion setzt die Kontrastierung der synchronischen Vokalsysteme mit einem historischen Protosystem voraus, als welche für das Deutsche die in bezug auf zeitliche und räumliche Gültigkeit relativen Vokalsysteme des Mittelhochdeutschen bzw. Mittelniederdeutschen und weiter zurück des Althochdeutschen bzw. Altniederdeutschen angesetzt werden können. Da sich Lautveränderungen als Lautwandel oder Lautersatz vollziehen, ist es nicht möglich, die Rekonstruktion punktuell, sondern nur areal unter Berücksichtigung des Aufbaues einer Sprachlandschaft sowie mit Hilfe von Reliktlautungen, hyperkorrekten Bildungen und eventuellen schriftlichen Belegen vorzunehmen. Vielfach zeigen die diachronischen Lautveränderungen eine synchronise Arealprojektion, so daß sich die zeitliche Abfolge mit Hilfe der räumlichen Verbreitung zumindest teilweise belegen läßt, indem im allgemeinen die konservativen, älteren Zustände in den Randgebieten und die moderneren, jüngeren in den Kerngebieten gelten. Es ist ferner darauf zu achten, daß die genetische Abfolge der Entwicklungen eingehalten wird, die in den Regeln der Lautgenese (oder Phonogenetik) gefaßt werden kann. Obwohl solche lautgenetischen Regeln für das Deutsche erst systematisch erarbeitet werden müssen, bietet Wiesinger (196 8, 46 4 ff.) bereits solche für Ī und Ē. Systembezogen spielen bei der Lautentwicklung die Reihenschritte zwar eine wesentliche Rolle, doch gibt es auch noch ebenso regelhafte Einzelentwicklungsmöglichkeiten, die sich in bezug auf die Reihenschritte allerdings als Störung dieser äußern. Nur teilweise handelt es sich um direkte Weiterentwicklungen ersten Grades; vielmehr gilt auf Grund der lautgesetzlichen Regeln bei Weiterentwicklungen höheren Grades zwischen Ausgangs- und heutiger Endstufe meistens nur mehr ein indirektes Bezugsverhältnis, so daß zu dessen Erreichung zwei, drei oder mehr Entwicklungsschritte (Reihenschritte) erforderlich waren. Obwohl sich alle Lautentwicklungen systemgebunden vollziehen, ist eine Teleologie und Vorhersagbarkeit des Lautwandels, wie sie teilweise die Phonologie erstrebt hat, nicht möglich, da sich jeder Laut zwar im begrenzten Rahmen seiner feststellbaren lautgenetischen Regeln entwickelt, aber auf Grund der nicht vorhersagbaren unterschiedlichen Wirkungsfaktoren dabei jeweils verschiedene Wege offen stehen. Mit einem einmal eingeschlagenen Weg ist jedoch die Bahn festgelegt, sollte sie
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nicht durch diskontinuierlichen Lautersatz durchbrochen werden. Im Rahmen der Weiterentwicklungen ist die Sprache bestrebt, zur Wahrung der bedeutungsdifferenzierenden distinktiven Funktion die ererbten Phonemreihen nach Möglichkeit durch Reihenausweichung weiterhin voneinander zu trennen. Da aber die phonologische Distinktivität Grenzen hat und es daher in den monophthongischen und diphthongischen Teilsystemen nur eine begrenzte Zahl an Reihen geben kann, kommt es bei phonetischer Ähnlichkeit und geringer Distinktivität zum Reihenzusammenfall. Ohne daß es von der Systemstruktur her erforderlich wäre, ist dieser besonders häufig in verkehrsoffenen Sprachlandschaften und in den durch Sprachausgleich entstandenen Siedeldialekten zu beobachten. Das durchwaltende Reihenprinzip führt auch immer wieder zur Reihenaufsaugung von unvollständigen Reihen (z. B. ÖÜ — OU) und von isolierten, reihenbindungsfähigen Einzelphonemen (z. B. E, O) in vorhandene ähnliche vollständige Reihen oder zur Bildung neuer vollständiger Reihen aus reihenbildungsfähigen Einzelgliedern verschiedener Provenienz. So kommt es mehrfach durch Hebung von mhd. â mit isoliertem mhd. und Dehnung- zu einer neuen zweigliedrigen Reihe [ — ], die im Falle bewahrter Umlautrundung durch Bildung eines Analogieumlautes [] die dort erforderliche Dreigliedrigkeit erreicht. Auch solche neugebildeten Reihen vollziehen Reihenschritte (z. B. [ — ] aus mhd. und â über [i — u] zu [a — a] im Schwäbischen der Baar). Wahrung der Distinktivität kann jedoch gelegentlich Reihenaufsaugung von reihenbildungsfähigen Einzelphonemen verhindern und durch „phonologische Zwischenstellung“ einen andersartigen horizontalen Bezug im System bewirken (vgl. Wiesinger 1966).
5.
Literatur (in Auswahl)
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150
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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1.
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Peter Wiesinger, Wien
Der Sprachatlas der deutschen Schweiz als Beispiel einer sprachgeographischen Gesamtdarstellung Das Ziel Die Planung und der Platz in der Forschungsgeschichte Die Datenerhebung (Materialsammlung) Die Datenpublikation Die Datendarbietung im Kartenwerk Ergebnisse Wirkung und heutige Stellung des SDS in der Forschung Literatur (in Auswahl)
Das Ziel
Der ‘Sprachatlas der deutschen Schweiz’ (SDS), 1935 von den beiden Schweizer Dialektologen H. Baumgartner (1889—1944) und R. Hotzenköcherle (1903—1976 ) begründet, seit 1944 von P. Zinsli mitgetragen, ist der bedeutendste deutsche Regionalatlas. Das Werk will auf Grund einer speziellen Datenerhebung alle wesentlichen räumli-
chen Unterschiede innerhalb der noch allgemein gesprochenen Dialekte der deutschsprachigen Schweiz und der teilweise absterbenden Dialekte der angrenzenden Walserkolonien Piemonts auf Karten abbilden und, als zweites Grundlagenwerk der schweizerischen Dialektologie, das ‘Schweizerische Idiotikon/Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache’ (SId.), das seit 1881 erscheint, ergänzen. Ziel ist also eine sprachgeographische Gesamtdarstellung — wie schon, mit viel dünnerem Material, in H. Fischers Schwäbischem Atlas (Fischer 1895); ein Vorläufer für die Schweiz, noch ohne Karten, war F. J. Stalders ‘Dialektologie’ (Stalder 1819).
2.
Die Planung und der Platz in der Forschungsgeschichte
Das schweizerdeutsche Wörterbuch hätte von Anfang an durch eine Grammatik er-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
gänzt werden sollen. Die zwar zahlreichen Monographien zur Laut- und Formenlehre lokaler oder kleinlandschaftlicher Dialekte (vgl. Sonderegger 19 6 2), besonders die 20 Bände der ‘Beiträge zur schweizerdeutschen Grammatik’ (BSG), 1910—1941 von A. Bachmann herausgegeben, führten noch zu keinem wirklichen Überblick (vgl. SDS I, 10), und der wortgeographische Ertrag des Idiotikons trat aus den vielen Artikeln nicht vor Augen. Anderseits hatten Großraum-Atlanten, wie der deutsche Laut- und Formenatlas (DSA), der französische Sprachatlas (ALF), besonders aber der umfassende ‘Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz’ (AIS), welche alle drei auch schweizerisches Gebiet erfaßten, den hohen Aussagewert der Sprachgeographie deutlich gemacht und die methodischen Möglichkeiten der Sprachkartographie aufgezeigt. Da sollte nun ein Atlas für die deutsche Schweiz den gewünschten sprachgeographischen Überblick bringen, in einem Zuge über Lautung, Formen (Grammatik), Wortund Sachkunde. Für ein solches Kartenwerk, einen spezifischen Kleinraum-Atlas, legten Baumgartner und Hotzenköcherle 1935—39 Aufnahmemethode, Ortsnetz, Fragebuch und Transkriptionssystem fest, in persönlichem Kontakt mit den Leitern des AIS, K. Jaberg (Bern) und J. Jud (Zürich), in kollegialer Absprache mit den Planern eines Atlasses der schweizerischen Volkskunde (ASV), P. Geiger (Basel) und R. Weiß (Zürich), sowie in Fühlungnahme mit den Marburger Initianten gesamtdeutscher Wortgeographie, B. Martin und W. Mitzka. Publiziert wird der SDS seit 196 2, zu gleicher Zeit wie der ‘Deutsche Wortatlas’ (DWA) und deutsche wie französische Regionalatlanten (vgl. den Überblick bei Moulton 1972). Angesichts der bevorstehenden Feldaufnahmen für den SDS verzichtete W. Mitzka 1938 darauf, seinen Fragebogen für den DWA auch in die Schweiz zu schicken; für die DWA-Bände stellte später R. Trüb die schweizerdeutschen Synonyma (nach SDS-Material und Schweizerischem Idiotikon) in der Regel in Listen zusammen.
3.
Die Datenerhebung (Materialsammlung)
Alle methodischen Fragen des SDS hat Hotzenköcherle im Einführungsband erörtert (Hotzenköcherle 196 2, auch 196 2 a), so daß hier nur das Wichtigste angeführt werden soll.
3.1. Die Methode: direkte Aufnahmen Der verhältnismäßig kleine Raum des Untersuchungsgebiets erlaubte die sogenannte direkte Materialsammlung: Aufnahmen im mündlichen Gespräch an Ort und Stelle durch ausgebildete Exploratoren mit einem umfangreichen Frageprogramm. 3.2. Das Ortsnetz Die topographische Kleinräumigkeit und die großen Unterschiede zwischen Flach- und Bergland (270 bis über 1900 m ü. M.), die föderalistische politische Struktur, die kulturelle Feingliederung und die konfessionellen Verschiedenheiten erheischten ein möglichst dichtes Netz der Aufnahmeorte, doch schien im Durchschnitt ein Drittel aller Gemeinden zu genügen, schwankend zwischen 25% im nichtalpinen Gebiet und 6 6 % in sprachlich differenzierteren alpinen Landschaften, die Orte möglichst regelmäßig verteilt, Städte wie Dörfer berücksichtigt, auch alle Kantonshauptorte, eine Aufnahme durchschnittlich auf 7000 Einwohner. Vorgesehen waren rund 500 Orte. 3.3. Das Fragebuch Ein für Feldaufnahmen taugliches Fragebuch, von Baumgartner und Hotzenköcherle auf Grund ihrer eigenen Mundart und direkter Aufnahmen im Gelände sowie durch Auswertung der reichlichen dialektologischen Literatur zusammengestellt, hatte zum Ziel, die dialektgeographischen Merkmale und Unterschiede möglichst in ihrer Gesamtheit zu erfassen, und zwar alle wesentlichen Laut- und Flexionsverhältnisse sowie die ergiebigsten Wortbildungs- und Satzbauprobleme, alle mit zahlreichen Stichwörtern, sodann eine große Anzahl wortgeographischer Fragen, hauptsächlich in onomasiologischer, in kleinem Maß (als Vorkommens- und Bedeutungsfragen) in semasiologischer Sicht, wo immer möglich — im Sinn der ‘Wörterund-Sachen-Forschung’ — verbunden mit genauer und umfassender Fixierung der entsprechenden ‘Sache’ (Geräte, Fahrzeuge, Gebäude bzw. Arbeitsvorgänge und Arbeitstechniken in Haushalt und Landwirtschaft). Das Fragebuch greift also (wie bei den französischen Regionalatlanten) weit in jene Bereiche aus, die anderswo von der Volkskunde bearbeitet werden, dort allerdings eher von der Sache, vom Brauch her. Aus fragetechnischen und allgemein semantischen Gründen ist der Wortschatz im Be-
8. Der Sprachatlas der deutschen Schweizals Beispiel einer sprachgeographischen Gesamtdarstellung
reich der Abstrakta und des Affekts fast ganz weggelassen; andererseits ist, wo möglich, die Terminologie des Weinbaus, der Alpwirtschaft und der Fischerei berücksichtigt. Im allgemeinen zielen die Fragen stark auf das terminologisch interessante Detail (z. B. neben wortgeographisch einheitlichem ‘Kuh’ auf die unterschiedlichen Bezeichnungen für die Altersstufen des Rindviehs). Die mehr als 2500 Fragen sind, wie im AIS — gleichgültig, ob Laut-, Form- oder Wortfrage, Paradigma (eines Verbs), Inventarfrage (z. B. nach den Bezeichnungen der Räume im Haus) oder Satzfrage — nach Sachgruppen zusammengestellt; dies läßt das Abfragen zu einem geführten Gespräch zwischen Explorator und Gewährsperson werden, gibt aber auch die Möglichkeit, Wortfelder abzuklären und die entsprechenden Termini scharf zu fassen. Das im Einführungsband abgedruckte Fragebuch bietet (in hochdeutscher Form) die Frageziele; die Exploratoren fragten in schweizerdeutscher Mundart, in ihrem persönlichen Dialekt, teilweise in leichter Anpassung an den Dialekt der jeweiligen Informanten, und ermöglichten auf solche Weise ein ganz natürliches, vom Fragebuch leicht gesteuertes Gespräch; einzig in den mehrsprachigen Südwalserorten, wo auch der Dialekt des Explorators nicht verstanden wurde, mußte teils auf französisch, teils auf italienisch gefragt werden. Soweit möglich, besonders bei Wortfragen, wurde von der Sache aus gefragt, und nur in kleinem Umfang (besonders für Partikeln und Syntagmen) sah das Fragebuch Übersetzung kurzer Sätze aus der Schriftsprache vor. Die Formulierung der Fragen war bei allen Exploratoren einheitlich, aber nicht starr, d. h. im Notfall anpassungsfähig. 3.4. Das Transkriptionssystem Die Vielfalt der schweizerdeutschen Laute und das Ziel, auch Übergangslandschaften zu erfassen, erforderten ein feines Transkriptionssystem, das zudem bei den monatelangen Aufnahmeperioden für die Exploratoren flüssig schreibbar, für die späteren Materialbearbeiter und die Atlasleser leicht lesbar sein sollte. Das in der Germanistik wie in der Romanistik viel verwendete System Boehmer/Ascoli, für die schweizerischen Zwecke noch verfeinert (z. B. ẹ e ę œ, je kurz, halblang oder lang, die Qualitätswerte durch Einklammerung noch verfeinerbar), erlaubte den Exploratoren, wirklich akustisch-impressionistisch, d. h. phonetisch zu notieren,
153
wogegen das API-System zu phonologischer Notierung verleitet hätte. Mehrmals mußten für neu auftauchende unbekannte Laute neue Zeichen gefunden werden (z. B. für bilabiale und präpalatale Konsonanten oder für Zentralvokale). Sachangaben notierten die Exploratoren in Kurzschrift (Stenographie Stolze-Schrey). 3.5. Die Gewährsleute (Informanten) Als Gewährsleute suchten sich die Exploratoren an jedem Ort die besten und sichersten Mundartsprecher, womöglich die Vertreter der ältesten Sprachschicht, meist im Alter von 50—70 Jahren. Da die Gewährsleute angewiesen wurden, in möglichst ‘bodenständiger’ Mundart zu antworten oder sich auf ältere Formen oder Wörter zu besinnen, geben die aufgenommenen Daten oft einen altertümlicheren Stand des Dialekts wieder als die am Ort gesprochene Durchschnittsmundart. An einem Ort wurden, um die Aufnahme in gedrängter Zeit durchzubringen, 2—3 oder auch mehr Personen abwechselnd befragt, in Sitzungen zu 2—4 Stunden. Die umfangreichen landwirtschaftlichen Kapitel wurden bei Bauern besprochen, Fragen über Frauenarbeiten und meist auch die allgemeinen und grammatischen Fragen bei (oft etwas jüngeren) Frauen, der fachsprachliche Wortschatz nötigenfalls zusätzlich bei Kleinbauern, Weinbauern, Sennen, auch etwa Wagnern, schließlich das Fischereikapitel am Ort oder an einem Nachbarort bei ansässigen Berufsfischern. In 25 städtischen Siedlungen (Groß- und Kleinstädten) wurden die landwirtschaftlichen Kapitel weggelassen; dafür wurde das reduzierte Programm mehrfach gefragt, jeweils bei Vertretern verschiedener sozialer Schichten (Soziolekt). Über jede Gewährsperson erstellten die Exploratoren ein genaues Personalblatt mit Charakterisierung (s. Einführungsband B). 3.6. Die Exploratoren Die Ideallösung eines einzigen Explorators ließ sich vom Arbeitsaufwand her nicht durchführen, doch mußten im ganzen nicht mehr als drei Hauptexploratoren eingesetzt werden: K. Lobeck, Schüler J. Juds, und die beiden Hotzenköcherle-Schüler R. Trüb und R. Schläpfer, alle drei von eigenen Feldaufnahmen her mit sprachlichen Problemen vertraut, im Transkribieren geübt, auch sachkundlich bewandert, zudem anpassungsfähig und ausdauernd.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
3.7. Die Aufnahmen Für das Aufsuchen der Gewährsleute, die eigentliche Aufnahme (meist in der Stube der Gewährsleute, meist mit einer Person, gelegentlich unter Mithilfe von Familienangehörigen), für Kontrollfragen, Besichtigen, Zeichnen und Fotografieren von Gebäulichkeiten und Geräten benötigten die Exploratoren bei 8—10stündigem Arbeitstag pro Ort 4—6 Tage; die Aufnahmen fanden vorzugsweise im Winterhalbjahr (Oktober—April) statt, im alpinen Gebiet angepaßt an die örtlichen Arbeits-, Schnee- und Lawinenverhältnisse. 1940 begann K. Lobeck die Aufnahmearbeit im mittelländisch-voralpinen Gebiet (total 26 3 Aufnahmen), 1946 setzte sie R. Trüb im alpinen Gebiet (ohne Wallis) fort (150 Aufnahmen), später R. Schläpfer im Jura und in den verbleibenden Kantonen Luzern, Freiburg und im Hauptgebiet des Wallis (135 Aufnahmen), während R. Hotzenköcherle die Aufnahmen in den Walsergebieten Piemonts (zusammen mit dem Schweizer Romanisten F. Gysling) und des Tessins sowie in 10 anschließenden Orten des Wallis durchführte (vgl. SDS I, 8). Gemeinsame Aufnahmen der Exploratoren mit den Leitern und untereinander sowie regelmäßige Kontrollbesuche der Leiter bewirkten eine hohe Ausgeglichenheit der Transkription und des Aufnahmematerials. Nach beinahe zwanzigjähriger Arbeit lag 1958 das gewünschte Material vor, bestehend aus Normalaufnahmen an 573 Orten und ergänzenden Teilaufnahmen an weiteren 48 Orten, alles bereits vom Leiter kontrolliert und geordnet. Es befindet sich heute im Arbeitsbüro in Zürich, eine Kopie davon in der Universität Bern. Der Einführungsband B verzeichnet die genauen Daten der Aufnahmen und die Verteilung der Fragekapitel auf die verschiedenen Gewährsleute. Man kann dort feststellen, wo wer wann wem was geantwortet hat. 3.8. Das Material (Korpus): Sprach-, Bild-, Tonmaterial Die systematischen Aufnahmen der Exploratoren erbrachten Sprach- und Bildmaterial. In Zusammenarbeit mit dem Phonogrammarchiv der Universität Zürich machten anschließend dessen technischer Leiter R. Brunner mit den Exploratoren R. Schläpfer und R. Trüb an 45 ausgewählten Orten noch Aufnahmen der Dialekte auf Tonband,
in der Regel mit den Atlasgewährsleuten als Sprechern. Das SDS-Material ist also dreifacher Art: schriftlich, bildlich und tonlich. 3.8.1. Das sprachliche Material Typisch für den SDS ist die Mehrschichtigkeit der sprachlichen Daten (vgl. Rhiner 1958, 25 ff.). Die unmittelbaren Antworten der Gewährsleute auf die Exploratorenfragen bilden das sogenannte Primärmaterial: phonetisch transkribiert, grammatisch gesichert, allenfalls noch genauer definiert (bei Geräten in bezug auf Material, Form, Funktion). Es wird ergänzt durch reichliches Sekundärmaterial: von den Gewährsleuten selber korrigierte oder erweiterte Antworten (ältere, gelegentlich auch jüngere Formen oder Wörter) oder vom Explorator durch Suggerieren herausgeholte halbvergessene oder in der Ortsmundart erst auftauchende Formen oder Wörter, allenfalls auch Antworten einer zweiten Gewährsperson bei Unsicherheit der ersten. Auf direkte Fragen von den Gewährsleuten als ‘nicht einheimisch’ oder ‘ungebräuchlich’ bewertete Formen oder Wörter liefern die sogenannten Gegenbelege; sie bestätigen die notierten Antworten gleichsam von der negativen Seite her. Das Hauptmaterial wird sodann relativiert oder bestätigt durch das sogenannte Spontanmaterial: vom Explorator notierte Belege zu Fragebuchproblemen, die im Aufnahmegespräch spontan, unabhängig von der Fragesituation, fielen, bei gesprächigen Gewährsleuten ziemlich umfangreich. Ergänzt wird dieses eigentliche Material durch Hinweise der Gewährsleute auf ihnen bekannte sprachgeographische Unterschiede in der betreffenden Gegend sowie durch Bemerkungen der Exploratoren über Merkmale der Ortsmundart, über Transkriptionsschwierigkeiten, Unterschiede zwischen den Gewährsleuten (Idiolekte) u. ä. Insgesamt umfaßt das erfragte Antwortmaterial an die 3 Millionen phonetisch transkribierte Sprachformen, das Spontan- und Ergänzungsmaterial mehr als eine halbe Million Belege. 3.8.2. Das Bildmaterial Das sprachliche Material wird im Bereich der ‘Sachen’ (Realien) durch Bildmaterial veranschaulicht: Skizzen (besonders von Gebäudegrundrissen mit eingetragener Einzelterminologie) und Fotos typischer Gebäulichkeiten sowie ortstypischer Geräte, deren Bezeichnung und Funktion schriftlich festgehalten ist. Dadurch ist (im Sinn von ‘Wörter
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und Sachen’) in jedem Fall die Beziehung zwischen der Bezeichnung und dem Bezeichneten klargestellt, z. B. bei Melkgefäßen, wo traditionelle Sachtypen aus Holz durch jüngere Typen aus anderem Material oder in anderer Form abgelöst werden, wobei der Terminus bleibt oder entsprechend ersetzt wird. Dadurch wird der spätere Kartenbearbeiter instand gesetzt, Wortgeographie mit Sachgeographie zu verbinden und Scheinsynonymik zu vermeiden. Insgesamt sind mehr als 10.000 Abbildungen archiviert: eine bereits unersetzliche Dokumentation der bäuerlichen Sachwelt vor dem Überhandnehmen einheitlicher, maschinell erzeugter Gefäße und Geräte. 3.8.3. Das Tonmaterial: Die SDS-Phonogramme Die Tonaufnahmen erbrachten aus 45 Orten (s. die Karte SDS I, 9) weitere, vom Sprecher vorbereitete Fassungen des ‘Gesprächs am Neujahrstag’, eines Vergleichstextes, der schon für 24 Dialekte als ‘Sprechender Atlas’ vorlag (Der sprechende Atlas 1952) und es erlaubt, gewisse sprachliche Daten durch alle Aufnahmen miteinander zu vergleichen; dazu kamen ein vom Sprecher gewählter, oft schriftlich vorbereiteter Erzähltext orts- oder volkskundlichen, biographischen oder literarischen Inhalts und schließlich eine anhand von Stichwörtern oder frei gesprochene Beschreibung eines Arbeitsvorgangs oder Sachkomplexes des SDS-Fragebuchs (z. B. Heuernte; Mahlzeiten und Speisen). Diese Tonaufnahmen stehen seit 1976 in Form von 61 Langspielplatten und vier Textheften (Umschrift und Texterläuterungen), als ‘SDS-Phonogramme’ zusammengestellt und bearbeitet von R. Brunner und R. Hotzenköcherle, bereit zur Überprüfung der transkribierten Daten und zu sprachgeographischen Vergleichen, aber auch zur Auswertung in anderer Richtung: Intonation, Satzbildung, Erzählstil usw. 3.8.4. Dokumentationswert der Materialien Der reiche Ertrag der Sammelarbeit belegt für die Mitte des 20. Jhs. eine ungebrochene Vitalität der Dialekte der deutschen Schweiz und eine über Erwarten große sprachgeographische Vielfalt. Der traditionelle bäuerliche Wortschatz, der durch die landwirtschaftliche Fachsprache (der Schulen und Fachpresse), durch die Umstellung von Hand- auf Maschinenarbeit und durch die Vereinheitlichung der Arbeitsmethoden und Gerätschaf-
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ten radikal verändert wird (vgl. Schmid 196 9), konnte an den meisten Orten noch in Schrift und Bild erfaßt werden. Aus heutiger Sicht hat daher das 1940—1958 eingesammelte Sprach- und Bildmaterial beträchtlichen Dokumentationswert. 3.9. Die Finanzierung der Arbeit Die Finanzierung der Sammelarbeit (Saläre und Spesen der Exploratoren, Materialkosten, Entschädigung der Gewährsleute) erfolgte in typisch schweizerischer Art: durch Beiträge der Kantone, verschiedener Stiftungen, Betriebe und Vereine. Seit der Gründung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (1952) hat dieser in zunehmendem Maß die Kosten für die Ausarbeitung der Kartenbände sowie Beiträge an die Druckkosten übernommen.
4.
Die Datenpublikation
4.1. Publikationsgrundsätze Es bestand ursprünglich die Absicht, die sprachlichen Daten auf Karten nach der Art des AIS und der französischen Regionalatlanten zu veröffentlichen: die transkribierten Formen unverändert neben die Ortspunkte eingetragen, die Karten in der Reihenfolge des Fragebuchs (vgl. Jaberg/Jud 1928; Baumer 1976 ). Die große Zahl von Belegorten hätte nun aber beim SDS zu einem völlig unhandlichen Karten- und Buchformat geführt. Die Bearbeiter des ersten Bandes, R. Hotzenköcherle und R. Trüb, entschlossen sich daher, nicht ohne Bedenken, zur interpretierenden, aber auch arbeitsaufwendigeren Technik der Zeichenkarte, und zwar in Punktmanier: Typisierung der sprachlichen Daten und Umsetzung in figürliche Zeichen, die, punktgetreu auf die Karte gesetzt, unmittelbar ein Kartenbild ergeben. Man hoffte, auf diese Weise auch einen breiteren Leserkreis (Lehrer usw.) anzusprechen als mit einer rein phonetischen Wiedergabe. Immerhin sollte neben den Karten noch reichlich Material in Originalform geboten werden. Die ersten Typisierungsversuche mit Wortproblemen führten sodann zum Entschluß, wie bei andern deutschen Dialektatlanten den Wortbänden (gleichsam als Grundlage) Lautund Formenbände voranzustellen, d. h. den Bearbeitern wie den Kartenbenützern zuerst eine grammatische Übersicht zu geben, wie sie übrigens (vgl. 2.1.) anfänglich
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beabsichtigt war. Mit diesen grundlegenden Entschlüssen waren (etwa 196 0) Kartentechnik und Publikationsweg entschieden. 4.2. Publikationsfolge 196 2—1975 sind neben dem Einführungsband (Hotzenköcherle 196 2), dessen Teil A die Methode dieses Kleinraumatlasses darlegt und dessen Teil B die Arbeitshilfen für den Kartenbenützer bietet, zwei Bände ‘Lautgeographie’, ein Band ‘Formengeographie’ und ein erster Band ‘Wortgeographie’ publiziert worden, insgesamt 820 Karten und Textseiten. Ende 1981 steht der zweite Wortschatzband (mit 220 Seiten) unmittelbar vor dem Druck, und es liegen Kartenentwürfe zu weiteren Bänden vor. Das Material ist noch nicht ausgeschöpft. Abgeschlossen wurde 1976 die Publikation der SDS-Phonogramme (vgl. 3.8.3.). 4.3. Inhalt der bisherigen Bände Die beiden Lautbände geben, nach Einleitungskarten zum Gesamtwerk, auf 156 Karten die Vokalqualitäten bei Kurzvokalen, Langvokalen und Diphthongen, jeweils von den mittel- oder althochdeutschen Ansätzen aus und unter verschiedenen phonologischen Bedingungen (z. B. vor und hinter Nasal), auf 93 Karten die Vokalquantitäten (Dehnungen und Kürzungen) und auf rund 100 Karten die wichtigsten Probleme des Konsonantismus (zum Teil in Verbindung mit vokalischen Veränderungen). Die Karten, zum Teil durch Textseiten ergänzt, folgen sich thematisch; sie geben aber keine vollständige Lautlehre des Schweizerdeutschen, nur das, was geographisch ergiebig ist. Dasselbe gilt vom Band III, dem umfang- und problemreichsten, in seiner Art bis anhin einmalig: Auf über 250 Seiten (Karten, Tabellen, Textseiten) sind Formbildung und Flexion von Verb, Artikel, Substantiv, Pronomen, Zahlwort und Adjektiv dargestellt, ergänzt durch einige Karten über Syntaktisches (besonders Wortstellung). Der vierte Band eröffnet mit dem Thema ‘Der Mensch’ (entsprechend ALA I) die Wortgeographie: Karten zu Bezeichnungen von Körperteilen, körperlichen und seelischen Äußerungen, dazu die Verwandtschaftsbezeichnungen und unter dem Titel ‘Kleinwörter’, als eine Art Anhang zu den Lautbänden, Formen einer Reihe von Adjektiven, Adverbien und Konjunktionen, hauptsächlich in ihren satzphonetischen Varianten. Der fünfte Band führt die Wortgeographie mit den Kapiteln ‘Menschliche Gemeinschaft’, ‘Klei-
dung’ und ‘Nahrung’ fort. 4.4. Herausgeber und Bearbeiter Die Bände I—IV sind — unter dem Patronat der Schweizerischen geisteswissenschaftlichen Gesellschaft — von R. Hotzenköcherle (vgl. das Lebensbild bei Sonderegger 1977) herausgegeben worden; für die weiteren Bände sind R. Schläpfer und R. Trüb verantwortlich, wie bisher unter Mitwirkung von P. Zinsli. Als Bearbeiter von Karten und Texten zeichnen R. Hotzenköcherle, R. Trüb, D. Handschuh (ab Band II), R. Schläpfer (ab Band IV), sodann für Kartengruppen in Band III J. Bleiker, R. Meyer und A. Suter, in Band IV und V St. Sonderegger, in Band VI W. Haas. Der Grafiker E. Zimmerli (St. Gallen) hat bis 1981 die Karten gezeichnet und alle Texte geschrieben: eine einzigartige Leistung!
5.
Die Datendarbietung im Kartenwerk
5.1. Die Kartentechnik Charakteristisch für den SDS ist eine variationsreiche und möglichst bildhafte Technik in der Darstellung der sprachlichen Daten. 5.1.1. Die Grundkarte Die gleichbleibende Grundkarte (SDS I, 6 ; vgl. Karte 8.1.) enthält, um das Sprach-Bild möglichst klar hervorzuheben, in schwach graublauer Farbe nur das wichtigste Gewässernetz, die Staats- und Kantonsgrenzen sowie die Ortszahlen, während Relief, Verkehrsverbindungen, Ortsbezeichnungen nur auf den Einleitungskarten (I 1—5) enthalten sind. Die Aufnahmeorte sind nach Kantonseinheiten gegliedert und auf der Karte in jedem Kanton durchnumeriert (bei großen Kantonen mit Hilfsstreifen); zitiert werden die Orte mit Kantonssiglen und Zahlen, z. B. ZH37: Kanton Zürich, Ort 37. 5.1.2. Grafische Mittel Für die sprachlichen Daten gelten folgende Kartenprinzipien: (1) punktgetreue Darstellung, (2) starke Differenzierung der Zeichen zur Ausnützung der differenzierten Transkription, (3) Bildwirkung der Karten unter Ausgewogenheit der grafischen Mittel. Die vielfältigen Transkriptionsvarianten werden in Hinsicht auf möglichst klare areale Oppositionen zusammengezogen, zu Phonemen, Morphemen bzw. Worttypen typisiert und in
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Zeichen (Symbole) umgesetzt. Als Zeichenelemente werden je nach der Komplexheit des Materials verwendet: Strich, Rahmenoder Vollzeichen, Figurenvarianten, kleine Beizeichen, verschiedenartige Schraffuren, punktierte, gestrichelte oder durchgezogene Umgrenzungslinien, verschiedene Farben. Auf diese Weise können auf ein und derselben Karte mehrere Zeichenebenen gelegt werden (extrem: III, 58). Gern wird in den Bänden I—III senkrechter Strich für geschlossene Vokale bzw. Fortes, anderseits waagrechter Strich für offene Vokale bzw. Lenes verwendet, Schraffur für Entrundung, rote Farbe für Umlaut (vgl. Karte 8.1.; Abb. 8.1.; 8.4.). In den Wortschatzbänden ist zur Zeichenumschrift eine einfachere Schrift verwendet, die sogenannte Dieth-Schrift (Dieth 1938). Soweit immer möglich ist dem Leser eine Durchsicht von den Zeichen auf die Originalnotierungen geboten. 5.1.3. Kartentypen Die häufigste Karte ist die Elementarkarte. Sie stellt ein einzelnes Laut-, Formen- oder
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Wortproblem auf Grund einer einzigen Belegstelle dar, gelegentlich aus mehreren Belegstellen kombiniert (z. B. II, 27 ‘Besen’), hie und da, problemdeutlicher, auf Teilkarten, z. B. I 114/115: mhd. ei in der Nordostschweiz. Für kritische Orte (Orte, wo sich verschiedene Werte durch Alter, Häufigkeit oder Stil scheiden, wo Angaben verschiedener Gewährsleute voneinander abweichen, wo das Sekundär- oder Spontanmaterial mit dem Primärmaterial nicht übereinstimmt) ist das Originalmaterial möglichst vollständig in der Kartenlegende zusammengestellt. Angeschlossen sind einschlägige Gegenbelege, Hinweise der Gewährsleute und Bemerkungen der Exploratoren. Eine Variante der Elementarkarte ist die statistische Karte: Bei sehr großen Belegzahlen stellt sie außer der arealen Übersicht noch für jeden Ort das zahlenmäßige Verhältnis verschiedener Formen dar (wenigstens im groben), z. B. auf Karte I, 11 die Qualität von mhd. a, auf Karten III, 131 ff. Formen des Artikels, wo in den Legenden gebietsweise noch genaue Statistiken beigefügt sind.
Karte 8.2: Kartentechnik des SDS: Additionskarte. Apokope in Fliege, Sonne , Kerze , Brücke. Leeres Viertel: Endung, gefülltes Viertel: Endung geschwunden (aus SDS III, 1975: Ausschnitt aus Karte 184, verkleinert)
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Abb. 8.1: Kartentechnik des SDS: Oppositions- karte. Singular-Plural-Verhältnis Mann/Männer (aus SDS III, 1975: Legenden-Ausschnitt zu Karte 171, verkleinert) Auf der Additionskarte vereinigt ein Gesamtzeichen die Elemente mehrerer Stichwörter eines Problems, z. B. auf Karte III, 184 Apokope bei ‘Fliege/Sonne/Kerze/ Brücke’: Karte 8.2 s. S. 157. Die (seltenere) Oppositionskarte stellt ein lautliches oder morphologisches Gegensatzpaar dar, z. B. II, 50 die Quantität von mhd. a in ‘Gras/grasen’, III, 1 das Verhältnis Infinitiv/Gerundium, III, 9 ‘tragen/getragen’ (vgl. Karte 8.1.), III, 171 ‘Mann/Männer’ (vgl. Abb. 8.1.), III, 250 ‘lang’ als Adjektiv und Adverb. Schließlich sind auf Strukturkarten morphematische Teilstrukturen in Zeichen gefaßt, z. B. III, 58 der Plural ‘gehen’ (mit 40 Zeichenvarianten), ähnlich auf den Wortkarten ‘Vater’ und ‘Mutter’ (IV, 118, 122) Bezeichnungen der Normalsprache (zum
Abb. 8.2: Kartentechnik des SDS: soziologische und stilistische Varianten im Wortschatz, Beispiel ‘Vater’ (aus SDS IV, 1969: Legenden-Ausschnitt aus Karte 118, verkleinert) Teil mit soziologischer Schichtung) solchen der Kindersprache: Abb. 8.2.
neben
5.2. Die thematische Komposition Typisch für den SDS, ermöglicht durch das reiche Material, ist die Durchkomposition ganzer Problemgruppen. Besonders in den Bänden I—III machen gegensätzliche Kartenpaare mit gleichen Zeichen ein Problem sofort sichtbar, z. B. I, 41/2 unterschiedliches Verhalten von mhd. o in ‘Gotte (Patin)/hobeln’, II, 11/2 von mhd. a vor s in ‘Wasen/Nase’ (vgl. Karten 8.3. und 8.4.), II, 16 4/5 anlautendes mhd. d / mhd. t (Opposition oder Zusammenfall), I, 84/5 mhd. â in ‘Schwager’ mit entsprechendem Umlaut in ‘Schwägerin’ (vgl. Abb. 8.3. und 8.4.), III, 209/210 ‘euch’ haupt- und nachtonig (vgl. Abb. 8.5. und 8.6 .), IV, 151/2 betontes ‘auch’ im Satzaus-
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Abb. 8.3 und 8.4 Kartentechnik des SDS: Karten- paar. Mhd. âin Schwager und System-Umlaut inSchwägerin Zeichensystem eng an Transkription angelehnt (aus SDS I, 196 2: Legenden-Ausschnitt aus den Karten 84 und 85, verkleinert)
laut/Satzinlaut, IV 83/4 ‘jemanden (mit dem Finger) stupfen / (mit der Hand, Faust) wegstoßen’. Oft ist ein Problem durch mehrere Vergleichswörter als Kartengruppe oder, mit weitern Texten, als Themengruppe dargestellt, wodurch der Leser zu struktureller Betrachtung angeregt wird, z. B. II, 97—108 Vertretung von germ. nk, III, 149/158 Diminutivbildung, IV, 97—112 das Wortfeld ‘weinen’ in onomasiologischer und ergänzender semasiologischer Sicht, in Band I etwa die Gruppen mhd. î,û,iu/mhd. î,û,iu in Hiatusstellung/mhd. ei,ou,öu. Kleinere oder größere Ausschnitte mit Originalformen führen von der etwas abstrakten Zeichenwelt immer wieder in die sprachliche Wirklichkeit zurück und erlauben auch Synthesen, wo die Karten analysieren müssen, z. B. zu den Formen des Verbs ‘gehen’ neben den Karten Infinitiv, 1. Singular, 2.—3. Singular, Plural Präsens die Textseite III, 6 2/3 mit einer Auswahl von 150 Paradigmen (vgl. Abb. 8. 7.). 5.3. Einleitungen, Register, Bibliographie, Hinweise Bei allen Bänden führen ausführliche Einleitungen in grundsätzliche Fragen der Kartenproblematik und -technik; Wortregister er-
schließen die Bände (in Band III gegen 2000 Stichformen); grammatische Register ab Band III bieten Zusätzliches zu den früheren Bänden und verweisen auf Grundsätzliches; bibliographische Hinweise zeigen Aufsätze oder Monographien an, die auf SDS-Material aufbauen (vgl. 6 .2.); am Kartenrand stehen Hinweise auf Anschluß-Kartenwerke.
6.
Ergebnisse
6.1. Der SDS als Grundlagenwerk Der ‘Sprachatlas der deutschen Schweiz’ ist ein Grundlagenwerk. Er bietet geordnete Materialien, stellt Probleme vor Augen und deutet durch die Art der Zeichen, die Abstimmung der Karten, die thematische Komposition Beziehungen an. Nur selten gibt er selber eine Deutung (in einer Kartenlegende oder z. B. auf Karte I, 28 durch die Zeichen selbst), er verzichtet im allgemeinen auf einen Kommentar (vgl. 5.1.); er bietet keine fertigen Ergebnisse, ist jedoch ein anregendes dialektologisches Bilderbuch, ein Stimulus der Forschung. 6.2. Publikationen aus Material oder Karten Schon aus den Feldaufnahmen heraus haben die Exploratoren R. Trüb und R. Schläpfer
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Karten 8.3 und 8.4: Kartentechnik des SDS: Kartenpaar. Mhd. a in offener Silbe vor s in Wasen/Nase (aus SDS II, 1965: Karte 11 und 12, verkleinert)
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Abb. 8.5 und 8.6: Kartentechnik des SDS: Kartenpaar. Haupt- und nachtonige Formen des Pronomens euch (vgl. DSA 21) (aus SDS III, 1975: Legenden-Ausschnitte aus den Karten 209 und 210, verkleinert)
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Abb. 8.7: Kartentechnik des SDS: Ergänzung der Karten durch Paradigmen-Listen. Varianten des Indi- kativs Präsens gehen (aus SDS III, 1975: Ausschnitt aus der Paradigmen-Liste zu den Karten 56—58, Seite 62—63) Sprachlandschaften der deutschen Schweiz beschrieben (Trüb 1951, Schläpfer 1955). Aus Originalmaterial hat P. Zinsli die Sprachgeographie des Kantons Bern dargestellt (Zinsli 1957), der amerikanische Linguist W. G. Moulton eine Reihe stark beachteter lautstrukturell-geographischer Aufsätze erarbeitet (Moulton 19 6 0 ff.), neuestens I. Werlen aus SDS-Material ‘Lautstrukturen des Dialekts von Brig (Wallis)’ struktural und generativ beschrieben (Werlen 1977). Bei der Ausarbeitung der Karten haben R. Hotzenköcherle und R. Trüb in verschiedenen Aufsätzen lautliche, morphologische oder lexikalische Probleme behandelt, meist unter grundsätzlichen Aspekten (Hotzenköcherle 1956 , 196 0, 196 3, 196 5, 1971, 1971 a; Trüb 196 3, 196 8), sodann J. Bleiker, R. Meyer und A. Suter zu den von ihnen gestalteten Kartengruppen des Formenbandes eine Art Kommentarband verfaßt (Bleiker 6 19 9; Meyer 196 7; Suter 1979). Auch die meisten andern Bände der ‘Beiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung’ (BSM) stehen stofflich oder thematisch in Zusammenhang mit dem SDS, insbesondere O. Rhiners ‘Wortgeographie des Flachkuchens’ (Rhiner 1958) und K. Meyers Band ‘Die Adjektivableitung im Schweizerdeutschen’ (Meyer 196 0) mit mehreren Suffixkarten, als Ergänzung zu SDS III. Material oder Karten wur-
den sodann in vier umfassenden Habilitationsschriften ausgewertet: von E. Gabriel (Freiburg i. Br.) für die Untersuchung der oberdeutschen Vokalquantitäten (Gabriel 196 9), von P. Wiesinger (damals Marburg) für die phonetisch-phonologische Darstellung der Langvokale und Diphthonge in den hochdeutschen Dialekten (Wiesinger 1970), von W. Haas (Freiburg i. Ü.) für die Fragestellung von Geographie und Wandel schweizerdeutscher Vokalsysteme (Haas 1978) und von P. Glatthard (Bern) für die Monographie über den Dialekt des Haslitals im Kanton Bern (Glatthard 1981). Nicht mehr ganz abschließen konnte R. Hotzenköcherle eine Darstellung der Sprachlandschaften der deutschen Schweiz (vgl. noch 3.8.3.). Lautgeographische und soziolinguistische Probleme bei Liquiden behandeln W. Haas (Haas 1973) und I. Werlen (Werlen 1980). 6.3. Sprachgeographische Gesamtschau Schon 196 1, vor dem Erscheinen des ersten Kartenbandes, versuchte R. Hotzenköcherle auf Grund von SDS-Vorarbeiten eine Gesamtschau (‘Zur Raumstruktur des Schweizerdeutschen’) und hob dabei folgende Grundzüge hervor: Höchstalemannische Reliktstaffelung, Gotthard-Landschaft, West/ Ost-Gegensatz (dazu Weiß 1947, 196 3), ober-
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rheinische Einbrüche in den Aare-LimmatRaum, romanische Wort- und Formelemente (Hotzenköcherle 19 6 1). Hierzu wie für Klein- und Kleinst-Räume geben die seitherigen Bände reiches Anschauungsmaterial; zu ergänzen wären vor allem die walserdeutschen Zusammenhänge, auf welche P. Zinsli in ‘Walser Volkstum’ hinweist (Zinsli 196 8/76 ); selten zeigt sich die Sonderstellung von Städten (z. B. auf Karten II, 151; III, 236 ), welche schon H. Baumgartner beispielhaft für das Bernbiet gezeigt hatte (Baumgartner 1940). Eine knappe Gesamtübersicht erschien sodann 196 6 im ‘Atlas der Schweiz’ (Tafeln 27, 27 a). Die räumliche Gliederung der schweizerdeutschen Dialekte (Topik) ist weit stärker als die schichtmäßige (Stratik). 6.4. Dynamische und diachronische Kartensicht: Beiträge zur Geschichte des Deutschen Der SDS bietet reiches Anschauungsmaterial für den Sprachwandel. Die punktgetreue Darstellung auch der Grenzgebiete und die zusätzlich feinen Angaben über grenzkritische Orte erlauben direkte Einblicke in die Verhältnisse im Übergang, in den gegenwärtigen Sprachwandel auf der Ebene der Dialekte. Einzelne Karten sind sogar auf die Darstellung der Dynamik angelegt, z. B. auf Karte I, 59 das Vordringen der Lautung Schlüssel ins Schlussel-Gebiet, auf Karten IV, 1—2 der Rückzug des Worttyps Haupt (Kopf). Bei der Altertümlichkeit der Schweizer Dialekte (vgl. Sonderegger 196 4, 14) treten auf manchen Karten alt- oder mittelhochdeutsche Verhältnisse direkt vor unsern Blick oder sind in Textform dargelegt, z. B. auf Karte III, 1 die Klassendifferenzierung beim Infinitiv, auf III, 14 das Funktionieren des Rückumlauts, auf III, 228 Verbreitung des Pronomens sum, auf III, 236 Dreiformigkeit des Zahlworts ‘zwei’, auf III, 256 die Flexion des prädikativen Adjektivs; Tabelle III, 36 gibt an Material aus dem Wallis sozusagen die Entwicklung des Verbalplurals vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen. Solche Karten oder Tabellen verlocken zu diachronischer Sicht, im Extremfall mit der Spannweite eines Jahrtausends, in manchen Fällen (von den Graubündner Kolonialmundarten her) mit zeitlicher Fixierung ins 13. Jh. Auch über die (regelmäßigen) Verweisungen auf das ‘Schweizerdeutsche Wörterbuch’ (SId.) ist in manchen Fällen ein
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Vergleich mit einem älteren Zustand der Mundart möglich, allenfalls bis etwa ins 16. Jh. zurück. 6.5. Einblick in grundsätzliche Probleme der Dialektologie Wer Material oder Karten des SDS auswertet oder sich nur schon an den ausführlichen grammatischen Registern orientiert, wird rasch in grundsätzliche Probleme der Dialektologie, ja der Linguistik geführt, z. B. im Lautlichen zu verschiedenartigen Vokalstrukturen, satzphonetischen Varianten, im Morphologischen in die Spannung zwischen Lautgesetz und Analogie, zu Paradigmaspaltung und Systemvereinfachung, im Wortschatz zur Gliederung von Wortfeldern, Rolle von Lehnwörtern usw. Hier wären noch Theorien zu erproben.
7.
Wirkung und heutige Stellung des SDS in der Forschung
7.1. Der SDS und die andern deutschen Regionalatlanten Die Methode des SDS ist schon früh zu benachbarten Unternehmen ausgestrahlt. Der elsäßische Dialektatlas (ALA), geleitet von E. Beyer, ist in enger Fühlungnahme mit dem SDS entstanden, der erste Kartenband (‘L’homme — Der Mensch’) allerdings nach der Art der Regionalatlanten Frankreichs publiziert worden (vgl. Kratz 196 9, 6 3 ff.) wie auch der lothringische Atlas (ALLG). Die Aufnahmen für einen Atlas Vorarlbergs und Liechtensteins, erweitert für das Allgäu und Westtirol, sind von E. Gabriel und W. König mit dem nur leicht veränderten Fragebuch und Transkriptionssystem des SDS durchgeführt worden, und die Publikation der Materialien dieses VALTS aus 192 Orten ist nach Schweizer Art geplant (vgl. Gabriel 1975). Auch die Aufnahmen für den Sprachatlas Südwestdeutschlands (SSA), dem erstmals ein historischer Atlas (HSS), zunächst ein Lautatlas, vorangeht (vgl. Art. 8 a), laufen nach derselben Methode, allerdings mit einem kleinern, jedoch verbesserten, phonologisch systematischeren Fragebuch; für eine möglichst vielseitige Auswertung wird das gesammelte Material (Dezember 1981: aus 544 von 570 Orten) zuerst in einen Datenspeicher gegeben (vgl. König 1975; Kelle 1977). Das Schweizer Fragebuch wurde auch für den Luxemburger Sprachatlas verwen-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
det, und von der Kartentechnik des SDS gingen Anregungen zum schlesischen Wortatlas (s. u.) und zu Eichhoffs ‘Wortatlas der deutschen Umgangssprachen’ (WDU); Schüler Hotzenköcherles schließlich schufen Atlanten englischer, nordischer und irischer Dialekte (Sonderegger 1977, 142). Hingegen ohne Zusammenhang mit dem SDS, aber im gleichen Zeitraum sind, in Verbindung mit dem ‘Deutschen Sprachatlas’ in Marburg, vier größere deutsche Regionalatlanten herausgekommen: die zwei Bände des siebenbürgisch-deutschen von K. Rein (SDSA), der luxemburgische von R. Bruch (LSA), die drei Bände des tirolischen von E. Kühebacher (TSA) und die zwei Bände des schlesischen von G. Bellmann (SchSA). Sie sind unter schwierigem Verhältnissen entstanden und basieren auf kleinerem, z. T. indirektem, weniger einheitlichem Material; in der Darstellung schließen sie sich eher an den DSA (vgl. Mitzka 1950) und den DWA an. Einen Sonderfall bildet der ‘Linguistic Atlas of Texas German’ von G. G. Gilbert (1972). Nur Teilaspekte geben E. Kranzmayers ‘Historische Lautgeographie des gesamtbairischen Dialektraumes’ (Kranzmayer 1956 ), H. Huckes ‘Thüringischer Dialektatlas’ (ThDA, 196 1 ff.), W. Peßlers einzigartige Wortgeographie des norddeutschen Bauernhauses (Peßler 1928) sowie der ‘Sudetendeutsche Wortatlas’ von E. Schwarz (SDWA) und der ‘Atlas der sudetendeutschen Umgangssprache’ (ASDU) von F. J. Beranek (nur Band I, 1970). Deutsche Grenzdialekte erfaßt der ‘Taalatlas van Oost-Nederland’ von K. Heeroma (Heeroma 1957 ff.). G. Bellmann hat mit Aufnahmen für einen weitern Laut- und Formenatlas, den ‘Mittelrheinischen Sprachatlas’ begonnen, und W. Kleiber will mit einem gesamtdeutschen Atlas der Winzerterminologie den Typus eines überregionalen Fachsprachenatlasses schaffen (vgl. Kleiber 1980). 7.2. Der SDS innerhalb der Schweizer Dialektologie und Kulturraumforschung Der SDS, schon mit vier Bänden der inhaltsreichste deutsche Regionalatlas, und das (auch historische) Schweizerdeutsche Wörterbuch (SId.; vgl. Wanner 1976 /78) mit bisher 13 (von 15—16 geplanten) Bänden das umfangreichste Regionalwörterbuch des Deutschen, machen zusammen mit mehr als 2000 Einzelarbeiten (vgl. Sonderegger 196 2; Boesch 1975; Trüb 1978; dazu SId. Jahresbe-
richte) die deutschsprachige Schweiz zur wohl besterschlossenen Sprachlandschaft des Deutschen. Und zu einer umfassenden Kulturraumforschung, wie sie in den Rheinlanden beispielhaft begonnen wurde (vgl. Art. 4) und heute für Österreich im ‘Österreichischen Volkskundeatlas’ (ÖVA) mit zahlreichen Karten zur Sprach-, Sach- und Brauchgeographie fortgesetzt wird, bilden für die viersprachige Schweiz — neben den großen Wörterbüchern für jedes Sprachgebiet (SId., GPSR, VSI, DRG) — der SDS (mit mehr als 1000 Karten und Textseiten), die großräumigen DSA, WDU, AIS und ALF in ihren Gebietsanteilen, sodann der mit 239 Karten fast vollständig publizierte ‘Atlas der schweizerischen Volkskunde’ (ASV), der ‘Historische Atlas der Schweiz’ (1951/8) und der 1978 in erster Fassung abgeschlossene ‘Atlas der Schweiz’ (mit über 100 Tafeln) ein wohl weltweit einzigartiges kartographisches Instrumentarium.
8.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
ThDA = Thüringischer Dialektatlas, begründet und bearb. v. Hermann Hucke auf Grund des von Thüringer Dialektologen unter Mitwirkung der Lehrerschaft gesammelten Sprachguts. 1. Lieferung (Karten 1—20 und Textteil) Berlin 196 1 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache Bd. 17 [1, 2]. Laute, Formen, Wörter). 2. Lieferung Berlin 1965. Trüb 1951 = Rudolf Trüb: Die Sprachlandschaft Walensee-Seeztal. Ein Beitrag zur Sprach- und Kulturgeographie der Ostschweiz. Frauenfeld 1951 (Beiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung, Bd. III). Trüb 1963 = Rudolf Trüb: Ein Lautwandel der Gegenwart. Die Entwicklung von ā, ǟ usw. zu ei in Wörtern wie Seil, Fleisch in der Nordostschweiz. In: Sprachleben der Schweiz. Sprachwissenschaft, Namenforschung, Volkskunde. (Festschrift für Rudolf Hotzenköcherle.) Hrsg. von Paul Zinsli u. a. Bern 1963, 87—100. Trüb 1966 = Rudolf Trüb, unter Mitarbeit von Rudolf Hotzenköcherle: Mundarten der deutschen Schweiz. In: Atlas der Schweiz, Sprachen I. Wabern—Bern 1966, Tafeln 27 und 27 a. Trüb 1968 = Rudolf Trüb: Raum, Gruppe, Situation als wortbestimmende Kräfte in der deutschen Schweiz, am Beispiel der Bezeichnungen für ‘Vater’. In: Verhandlungen des Zweiten Internationalen Dialektologenkongresses, Bd. II. Wiesbaden 196 8 (Zeitschrift für Mundartforschung, Beih. NF. 4), 827—837. Trüb 1978 = Rudolf Trüb: Dialektologie der deutschen Schweiz. Eine Übersicht über den Stand der Forschung. In: Michigan Germanic Studies IV. 1978, 17—29. TSA = Tirolischer Sprachatlas. Hrsg. v. Karl Kurt Klein und Ludwig Erich Schmitt. Unter Berücksichtigung der Vorarbeiten Bruno Schweizers bearb. v. Egon Kühebacher. 1. Bd.: Vokalismus. Marburg/Innsbruck 19 6 5. 2. Bd.: Konsonantismus. Vokalquantität. Formenlehre. Marburg/ Innsbruck 196 9. 3. Bd.: Wortatlas. Marburg/Innsbruck 1971. (Deutscher Sprachatlas. Regionale Sprachatlanten. Hrsg. vom Forschungsinstitut für deutsche Sprache ‘Deutscher Sprachatlas’. Nr. 3). VSI = Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana. Direzione: Silvio Sganzini, Federico Spiess. Lugano 1952 ff. (bis 1981 29 fasc., A—B).
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Rudolf Trüb, Zürich
8a. Der ‘Historische Südwestdeutsche Sprachatlas’ als Musterhistorischer Dialektgeographie
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8a. Der ‘Historische Südwestdeutsche Sprachatlas’ als Muster historischer Dialektgeographie 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Entstehung Quellenbasis Darstellungsprinzipien Ausweitungs- und Auswertungsperspektiven Literatur (in Auswahl)
Entstehung
Ziel der Forschung, wie sie Friedrich Maurer in der Germanistischen Abteilung des Instituts für Geschichtliche Landeskunde der Universität Freiburg/Br. initiierte, das er 1940 mit dem Historiker Hans Walter Klewitz gründete, war die Erhellung der südwestdeutschen Sprachgeschichte; dabei sollten die aus der Analyse rezenter Dialektverhältnisse und ihrer Bezugsetzung zu außersprachlichen historischen Entwicklungen erschlossenen Grundzüge der alemannischen Sprachgeschichte (Maurer 1942) durch die Analyse historischer Sprachaufzeichnungen kontrolliert und ergänzt werden. Ergiebiger als die zunächst versuchte Auswertung ortsgebundener Originalurkunden war der Weg, ältere Sprachlagerungen und -bewegungen durch die an verschiedenen Orten angesetzte Untersuchung von Flurnamen und deren weit zurückreichender Aufzeichnungen zu erfassen. Dabei erwiesen sich die Urbare (Beraine, Lagerbücher), d. h. „Schriftdokumente grundherrschaftlicher Güteradministration, welche liegende Güter (und andere Einnahmequellen) samt Inhabern und den von diesen zu erbringenden Leistungen und Verpflichtungen aufzeichnen“ (Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas [= HSS] I, 9), als für die historische Dialektologie generell so geeigneter Quellentyp, daß ihre systematische Auswertung die künftigen Arbeiten bestimmte (Kleiber 196 5). Zunächst wurde der Schreibbefund einzelner Urbare aus 20 Orten, nach Schreiberhänden getrennt, für den graphematisch-phonologischen Bereich monographisch in Form von Grammatiken erhoben und interpretiert. Die Zusammenfassung dieser ‘Ortsgrammatiken’ in einer ‘Gesamtgrammatik’ führte sodann von der punktuellen zur flächigen Darstellung und damit zur systematischen Sondierung (schreib-)sprachgeographisch relevanter Lagerungen. Um diese exakter abzugrenzen, wurden Urbare aus weiteren Orten ermittelt und auf die aussondierten Probleme hin ge-
zielt durchgesehen, wodurch sich das Ortsnetz auf das Sechsfache verdichten ließ. Die damit anfallenden Materialmengen führten schließlich dazu, für eine rationelle und übersichtliche Darstellung den Plan einer Grammatik aufzugeben und die Ergebnisse auf graphische Symbole reduziert zu kartieren. — So entwickelte sich aus der historisch-dialektologischen, im Interesse der ‘Landeskunde’ regional eingeschränkt operierenden Fragestellung, aus der Ermittlung eines optimalen Quellentyps und aus verschiedenen Ansätzen zu seiner Auswertung in grammatikalischer Darbietungsform die erste Darstellung des sprachgeographischen Aufbaus eines spätmittelalterlichen Areals in Atlasform. Erfaßt wird das Gebiet zwischen Vogesen und Lech, Hochrhein/Allgäu und Main und die Zeitspanne von 1280 (erstes Auftreten deutschsprachiger Urbare) bis 1430 (u. a., weil jüngere Urbare nicht mehr zur Verdichtung des Ortsnetzes beitragen).
2.
Quellenbasis
Die unter inhaltlichem, formalem, funktionalem, situativem und soziologischem Aspekt homogene Quellenbasis des HSS bilden 351 Urbare aus 114 Schreiborten, welche ausschließlich in Fotokopien der Originale benutzt wurden. 2.1 Nähe zur dialektalen Grundschicht Die Eignung dieses Quellentyps für die Erfassung der dialektalen Grundschicht im Spätmittelalter ergibt sich aus seiner Funktion, Genese und Beschaffenheit. (1) Durch den Zweck, Liegenschaften zu identifizieren, sind die Urbare sachlich und sprachlich von vornherein streng ortsbezogen und von Bemühungen um regionale oder gar überregionale Verständigung weitgehend unberührt. Die mündlich-schriftliche Interaktion der Urbarpartner (Hintersassen/Schreiber/ Grundherr) erfolgt in einem engen Umkreis, dessen Reichweite sich durch die Anlage von Besitzkarten der jeweiligen Grundherrschaften abstecken läßt. (2) Auch aufgrund des Herstellungsprozesses der Urbare und des sozialen Status der daran Beteiligten läßt sich größtmögliche Nähe zu den ländlichen Ortsdialekten erwarten. In der Regel wurden
170
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
die Aufzeichnungen nach Weisungen aus dem Munde ortsansässiger Bauern vorgenommen. Es gibt Hinweise dafür, daß man die ältesten Einwohner als Informanten bevorzugte, weil deren Erinnerung am weitesten zurückzureichen versprach. Was sodann die Schreiber betrifft, ist anzunehmen und in Einzelfällen auch nachgewiesen, daß jedenfalls die Aufnahme vor Ort von Personen geringerer Position aus der näheren Umgebung aufgezeichnet wurde, die in anspruchsvolleren Schreiblagen kaum versiert waren. (Wenn Konzepte und Reinschriften angelegt wurden und erhalten sind, kann ein Vergleich in schreibsoziologischer Hinsicht aufschlußreich sein, vgl. Kleiber 196 5, 196 f.). (3) Das erfaßte Sprachmaterial besteht zu einem großen Teil aus Namen, bei deren Aufzeichnung die Anlehnung an vorhandene Schreibtraditionen im Sinne der Reproduktion eines gelernten Wortbildes weitgehend unmöglich war, so daß in diesem Materialausschnitt ein besonders hoher Anteil phonetisch bemühter Verschriftlichungsversuche zu erwarten ist. Doch notieren die Urbare nicht grundschichtliches Sprachgut. Der
nur bäuerlich Rahmen, in
dem die Aufnahme geschieht, ist der einer grundherrschaftlichen Verwaltungssprache, zu deren Verwendung in Wörter(n) und Sentenzen die Renovatoren später nach einem Zeugnis von 1570 sogar ausdrücklich angehalten wurden. In älteren Urbaren sind diese Partien bezeichnenderweise oft noch lateinisch, in anderen Fällen in verschiedenen Übergangsstufen zum Deutschen begriffen.
2.2 Eignung zur Erstellung von Karten Die aufgrund der genannten Punkte zu erwartende Tauglichkeit solcher Schriftstücke für die historische Dialektgeographie findet ihre empirische Bestätigung in den HSSKarten; wenn man diese anhand derselben Paradigmata mit Karten vergleicht, welche sich mit Hilfe anderer Texttypen erstellen lassen (vgl. Art. 30), weisen die Urbarkarten stets die feinste und eindeutigste areale Kammerung auf (Kunze 1975). Bei einer solchen Gegenüberstellung treten auch die Vorteile dieses Quellentyps speziell für die Erstellung von Karten in Hinblick auf eine historischdialektologische Auswertung deutlich hervor, insbesondere: (1) Die Quellen sind in der Regel auf das Jahr genau datiert, oft auch die Ein- und Nachträge einzelner Hän-
Karte 8 a.1: Normalschreibungen für mhd. ou im Südwesten nach Urbaren des 13. bis 15. Jhs. (aus HSS 1979, Karte 75 und Kleiber 1980, Karte 9)
8a. Der ‘Historische Südwestdeutsche Sprachatlas’ als Musterhistorischer Dialektgeographie
de, oder sind mit Hilfe der in ihnen genannten Personen usw. datierbar. (2) Sie lassen sich nicht nur hinsichtlich ihres Schreibortes meist problemlos lokalisieren, sondern auch hinsichtlich der Orte und Räume, auf die sich ihr Inhalt bezieht (s. u. 4.3). (3) Da nicht nur größere geistliche und weltliche Grundherrschaften, sondern auch Pfarreien, Spitäler usw. Urbare anlegten, sind diese in der untersuchten Zeitspanne reich und in relativ gleichmäßiger räumlicher Streuung vertreten, wodurch die Erstellung eines engmaschigen Ortsnetzes ermöglicht wird (im HSS durchschnittlich 1 Ortspunkt pro 500 km2). (4) Der Umfang der Quellen kann zwar vom kurzen Rodel bis zum 1000-seitigen Folianten schwanken, im Durchschnitt ist aber eine genügend große Materialmenge vorhanden, um jedenfalls im graphematisch-phonologischen Bereich eine die einschlägigen Probleme umfassende und quantitativ ausreichend abgesicherte Datenerhebung zu gewährleisten. (5) Ein aus sachlichen Gründen in allen Quellen begegnender gleicher lexikalischer Grundbestand erhöht ihre Vergleichbarkeit in diatopischer und diachronischer Sicht (vgl. u. 3).
3.
Darstellungsprinzipien
3.1 Kartographische Dokumentation Ortsnetzdichte und komplexe Materiallage bedingten eine abbreviierte Darstellung der Daten in Form von Symbolen (während etwa für einen mittelenglischen Sprachatlas nach den Entwürfen bei Samuels [196 3] an direkte Belegpräsentation gedacht ist). Im Sinne einer zusammenfassenden Erst-Information gibt ein Symbol jeweils den Befund wieder, der aus der Summe aller pro Ort ausgewerteten Schreiberhände ermittelt wurde. Die erzielten Ergebnisse bestätigen im ganzen die bei einem solchen Verfahren implizierte Voraussetzung, daß der Schreibusus der Urbare primär von lokalen Faktoren bestimmt ist (s. jedoch 3.2). — Die 237 Karten stellen größtenteils graphische Repräsentationen einzelner ‘mittelhochdeutscher’ (Vokalismus) bzw. ‘(west)germanischer’ (Konsonantismus) Bezugslaute dar. Je nachdem innerhalb des Untersuchungsgebietes Schreibraumbildungen zu beobachten waren und je nach Beleglage sind die Karten teils auf einzelne Wörter bezogen (Appellativa: 〈mb〉 : 〈mm〉 in krumb-, zimber, K. 138; Anthroponyme:〈a〉:〈o〉 :〈au〉 und 〈l〉 :〈ø〉 in Albrecht,
171
K. 1, 107; Toponyme: Graphe für üe in brüel, K. 197), teils auf bestimmte Positionen (〈z〉:〈tz〉 für germ. -t(-) nach l, n, r, K. 152), teils auf die gesamte Belegmenge für einen Bezugslaut (〈ei〉:〈ai〉 für mhd.ei, K. 62). In historischen Quellen sind die Sprachdaten für die einzelnen Probleme quantitativ von vornherein sehr unterschiedlich vorgegeben. Ihre Exzerpierung mußte zudem bei manuellem Verfahren angesichts so großer Materialmengen rationellerweise für jedes Problem unterschiedlich intensiv vorgenommen werden, so daß die statistische Präsentation der Daten nicht auf allen Karten in ein- und derselben Weise erfolgen konnte. Im HSS wurden neun statistische Grundtypen realisiert, teils rein, teils in Kombination, deren Skala von der unstatistischen Angabe „x kommt vor“ bis zur absoluten oder relativ-prozentualen Frequenzangabe reicht (s. o. K. 8 a.1). — Von grundlegender Wichtigkeit erwies sich das (in ähnlicher Weise auch andernorts praktizierte) Verfahren einer Trennung der Belege in „Normalschreibung“ (= numerisch überwiegende Schreibung pro Ort und Bezugslaut) und „Sonderschreibung(en)“ (= numerisch nicht überwiegend). HSS K. 80 z. B. verzeichnet die Normalschreibungen für mhd.öu und ihre gegenseitige Relation; es ergibt sich eine klare Opposition von nördlich 〈eu〉 : südlich 〈〉, ein Bild, das ziemlich genau der Verteilung von 〈au〉:〈〉 auf der hier gegebenen K. 8 a.1 (bis zur Iller) entspricht. Die nächste Karte (HSS K. 81, hier K. 8 a.2) notiert die wichtigsten Sonderschreibungstypen für denselben Bezugslaut mhd.öu. Hier tritt eine markante West-Ost-Verteilung von 〈i, oi ..〉 und 〈u . .〉 (und der Ausfall 〈o〉-haltiger Graphien im nördlichen Kartendrittel) vor Augen. — Insgesamt erwecken die so gewonnenen Karten den Eindruck, „daß selbst die abwegigsten Graphien im Sonderschreibungsbereich fast immer areale Regelmäßigkeit aufweisen, und daß bei den Hauptschreibungen [= Normalschreibungen, K. K.] sich verblüffende regionale Festigkeit und Regelmäßigkeit abzeichnet. Die Vorstellung eines heillosen Durcheinanders der Schreibungen im späteren Mittelhochdeutschen muß angesichts dieser festen klein- und großregionalen Schreibsysteme gründlich revidiert werden“ (Löffler 1979, 500). Nicht nur die numerisch überwiegende Schreib-„Norm“ (sie deckt sich oft mit den aus anderen Quellentypen erhobenen Befunden, vgl. etwa o. K. 8 a.1 mit Besch 196 7, K. 3), sondern auch die Typen ihrer Durchbrechung wer-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Karte 8 a.2: Sonderschreibungen für mhd. öu im Südwesten nach Urbaren des 13. bis 15. Jhs. (aus HSS 1979, Karte 81) den in ihrer jeweiligen arealen Reichweite übersichtlich faßbar. Gerade aber die räumliche Abgrenzung von „Verschreib“-Systemen bildet eine wichtige Voraussetzung für die Rekonstruktion historisch-dialektaler Lautwerte. — Die Karten erfassen eine Spanne von immerhin 150 Jahren quasi als synchronen Schnitt. Da jedoch nicht selten pro Ort mehrere Quellen und pro Quelle mehrere Hände über diese Zeitspanne hinweg verteilt sind, war es möglich, eventuelle Verschiebungen des Schreibusus innerhalb
dieser Spanne zu beobachten und in zwei, bisweilen drei zeitlich enger gefaßten Schnitten kartographisch zu dokumentieren (z. B. HSS K. 144/145: 〈-f〉 (statt 〈-ff〉) ist in hof 1290—1350 noch an 91%, 1400—1430 nur noch an 2% aller Orte alleinige Schreibung). 3.2 Textliche Dokumentation Die Dokumentationen im Textband ermöglichen es, zum einen die Kartensymbole anhand ausgewählter Quellenbelege und ge-
8a. Der ‘Historische Südwestdeutsche Sprachatlas’ als Musterhistorischer Dialektgeographie
gebenenfalls ergänzender statistischer Angaben zu kontrollieren und konkreten Einblick in die Materialbasis zu gewinnen; zum andern, die in den Karten gegebene Erst-Information an einzelnen Ortspunkten zu differenzieren. Angaben letzterer Art betreffen vor allem: (1) Sonderverhalten einzelner Schreiber-Hände innerhalb eines Ortes/einer Quelle/einer Textpartie. Sie dienen (a) zur Anzeige diachroner Entwicklungen an einzelnen Orten (sofern diese nicht in ganzen Gebieten registrierbar und daher schon auf den Karten dargestellt sind). Dies ist besonders an den Orten möglich, wo sich Konstanz und Varianz gleicher Textpartien über Vorlagen, Abschriften, Renovationen usw. die ganze untersuchte Zeitspanne hindurch überprüfen lassen; (b) zur Anzeige ‘mikrotopisch’ bedingter Varianz (s. u. 4.3); (c) zur Anzeige von quelleninterner diastratischer Varianz, etwa durch Hinweise auf besondere Überlieferungsformen und Materialschichten: Konzept/Reinschrift, lateinischer Kontext, kalligraphische Partien, eingestreute Texte anderer Art (Prologe, Weistümer, Öffnungen, Urkunden-Kopien u. a.), Appellativa/Namen usw. (2) Sonderverhalten einzelner Ortspunkte. Je dichter das Ortsnetz, desto schärfer heben sich punktuelle Abweichungen von ihrer Umgebung ab („Fallschirmbelege“: Baldinger 1979, 148) und bedürfen spezieller Dokumentation. So wird beispielsweise o. K. 8 a.1 im Urbar der Deutschordens-Kommende Mainau/Bodensee unter Einfluß von Schreibgewohnheiten dieses Ordens die regionale Norm etwas durchbrochen, ebenso in Quellen aus der Umgebung der vorderösterreichischen Zentrale Ensisheim, evtl. durch Einstrahlung habsburgischen Kanzleigebrauchs; in Ravensburg treten die Ausnahmen nur in Personennamen auf usw.
4.
Ausweitungs- und Auswertungsperspektiven
4.1 Die Karten des HSS betreffen den graphematisch-phonologischen Bereich. Für die Morphologie ist die Auswertbarkeit der Urbare (etwa schon durch die partielle Latinität vieler Quellen) beschränkt, doch sind Ausgriffe über die im Anhang des HSS gegebenen acht Karten zur Nominal- und Verbalflexion hinaus möglich (Kunze 1976 ). — Weit ergiebiger erweist sich der Quellentyp für den lexikalischen Bereich. Dies ist bezüglich der Toponymie, aber auch bezüglich der in areallinguistischer Hinsicht noch wenig erschlossenen Anthroponymie von vornher-
173
ein anzunehmen und konnte verschiedentlich auch schon mit Beispielen demonstriert werden (vgl. HSS I, 28 f.). I m Bereich appellativischer Lexik sind vor allem Aufschlüsse zum Wortschatz des Agrar- und des Rechtswesens zu erwarten, und zwar nicht nur unter diatopischem Aspekt, sondern auch unter dem diastratischen Aspekt einer Zuweisung zur bäuerlichen Fach- bzw. herrschaftlichen Verwaltungssprache. Kleiber (1979) erörtert methodologische Vorüberlegungen zu einem historischen südwestdeutschen Wo r tatlas; die Kartenbeispiele dafür sind aus dem Bereich der Maßbezeichnungen gewählt (vgl. Kleiber 1980, K. 18, 19). Allgemeinsprachliches ist bisher erst mehr zufällig erfaßt in Karten zu Berufsbezeichnungen, Präpositionen/Adverbien und Konjunktionen (Löffler 1970, Kunze 1980; vgl. auch u. K. 8 a.3, wo durch die Zone ohne Belege ein Heteronym für pfad postuliert wird). 4.2 Der Südwesten erwies sich für die Erstellung eines historischen Sprachatlasses auf der Grundlage von Urbaren als besonders geeignet, weil dieser Quellentyp hier mit am reichsten verbreitet ist und relativ früh und durchgreifend vom Latein zur Volkssprache überwechselte. Die gewonnenen Erfahrungen berechtigen dazu, auch auf andere Räume auszugreifen, zumal das nichtlatinisierte Material auch lateinischer Urbare nicht zu unterschätzende Auswertungsmöglichkeiten enthält. In Mainz und Bonn werden Quellensammlungen angelegt, welche außer dem HSS-Gebiet noch die Schweiz, Altbayern, das Mittelrhein- und Maingebiet bzw. das nördliche Mittelrhein- und das Niederrheingebiet umfassen (Karte: Kleiber 1977). Das Areal des HSS reicht zwar im Norden weit ins (heutige) Fränkische hinein, um die gesamte Zone alemannisch-fränkischer Interferenz mit abzudecken; im Osten konnte der Anschluß zum Bairischen hin lediglich durch Berücksichtigung zweier Ortspunkte am Lech angedeutet werden. Hier setzen erste Erhebungen aus dem erweiterten Quellenkorpus an (Kleiber 1980). Sie lassen, wie aus dem hier als K. 8 a.1 gegebenen Beispiel ersichtlich (gestrichelte Linie = Ostgrenze des HSS), schreibsprachliche Oppositionen des 14./15. Jhs. in der alemannisch-bairischen Übergangszone mit bisher nicht gekannter Präzision sichtbar werden. 4.3 Um die Vergleichbarkeit der Karten zu gewährleisten, sind die Belege im HSS stets am Schreibort der Quellen lokalisiert. Es las-
174
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Karte 8 a.3: Das Genus von pfad im Südwesten nach Urbaren des 13. bis 15. Jhs.: Schreibortlokalisation (aus Kunze 1976, Karte 2)
sen sich jedoch die Flur-, Orts- und Personennamen samt appellativischem Kontext auch an den von den jeweiligen Einträgen betroffenen Besitz orten lokalisieren, wo sie ja in der Regel nach mündlichen Weisungen erstmals notiert worden sind. Das Ortsnetz gewinnt dadurch eine Dichte, welche der rezenter Kleinraumatlanten kaum nachsteht. Auf diese Weise läßt sich z. B. die hier auf K. 8 a.3 signalisierte Übergangszone von der/das pfad in einer ‘vergrößernden’ Detailaufnahme schärfer fassen (s. K. 8 a.4).
Der uneinheitliche Schreibgebrauch einzelner Schreiborte (Ten[enbach], Ad[elhausen] usw.) löst sich fast restlos in eine räumliche Opposition der betreffenden Belege auf, die sich mit einer nur wenig Kilometer breiten Übergangszone an der alten Gau- und späteren Bistumsgrenze an der Bleich gegenüberstehen. Das Verfahren ‘mikrotopischer Lokalisierung’ erbringt auch im phonologischen und im lexikalischen Bereich exakt abgegrenzte Isographen von hoher Belegfrequenz (HSS K. E13—E19), so daß kaum ein
8a. Der ‘Historische Südwestdeutsche Sprachatlas’ als Musterhistorischer Dialektgeographie
175
steme auf der Basis eines Quellenkorpus des 16 . Jhs., das dem des HSS weitgehend vergleichbar ist.
Karte 8 a.4: Das Genus von pfad, Ausschnitt aus K. 8 a.3, mit Besitzortlokalisation, Zweifel bestehen kann, daß sich hier Isoglossen der dialektalen Grundschicht in ihrem historischen Verlauf direkt abzeichnen. 4.4 Im Sinne eines Atlas stellen die HSSKarten in der Regel Einzelprobleme isolierend dar, schon um Vergleiche mit andernorts publizierten Schreib- und Sprachkarten zu ermöglichen. Gelegentlich wurden solche Einzelkarten allerdings nochmals in Richtung auf die Erfassung sprachlicher Teilsysteme hin kombiniert. So notieren beispielsweise zwei Karten des HSS (190 f.) die Normalschreibungstypen 〈ck, k, kk, gg, gk . .〉 für wgerm. kk (Acker u. a.), eine weitere Karte (192) die Normalschreibungstypen 〈gg, gk, k, ck . .〉 für wgerm. gg (Brücke, Roggen u. a.). K. 193 (s. hier K. 8 a.5) kombiniert nun die auf den vorherigen Karten isoliert präsentierten Befunde in Hinblick auf deren Opposition bzw. Neutralisation. Solche Ansätze strukturell-diatopischer Darstellung werden im Zusammenhang mit einer phonematischen Auswertung des HSS systematisch zu verfolgen sein (s. u. 4.5). — Möglichkeiten struktureller historischer Wo r tgeographie demonstriert Kleiber (1978; 1979) am Beispiel altwürttembergischer Getreidemaß-Sy-
4.5 Der HSS bringt neue Möglichkeiten in die Forschung ein, von der graphematischen auf die phonematische Ebene zu schließen. Die in den Karten erfaßte Arealstruktur historischer Schreibbefunde läßt sich für die entsprechenden Bezugsgrößen mit der Arealstruktur der rezenten Lautbefunde vergleichen; dabei ergeben sich Indizien zur Rekonstruktion einzelner historischer Laute, ohne daß man gezwungen ist (etwa wie bei örtlich statt regional ansetzenden Arbeiten), von der Erstellung ganzer Graphem- bzw. Phonemsysteme auszugehen, was vor allem bei den Zufälligkeiten historischer Überlieferungen erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann (Löffler 1979). In diesem Sinne ist es besonders förderlich, daß ein großer Teil des HSS-Areals durch Regionalatlanten der rezenten Dialekte abgedeckt wird (‘Sprachatlas der Deutschen Schweiz’; ‘Atlas Linguistique et Ethnographique de l’Alsace’; ein ‘Vorarlberger’ und ein ‘Südwestdeutscher’ Sprachatlas sind im Entstehen). — Aber nicht nur der phonetische Wert, sondern auch der räumliche Geltungsbereich historischer Lautungen wird genauer rekonstruierbar. So ergibt eine Interpretation von K. 8a.5 (s. o. 4.4), daß die Affrikatenverschiebung von germ.k im Spätmittelalter wesentlich weiter nach Norden gereicht haben muß als heute; auch die Affrikata aus germ.p muß in allen Positionen im 14. Jh. noch bis auf die Höhe von Worms—Lorsch gesprochen worden sein (Kleiber 196 5, 207—224, bzw. 196 8). Die für die Binnengliederung des heutigen Alemannischen charakteristische Dreiräumigkeit läßt sich für das Spätmittelalter zwar schon deutlich nachweisen (z. B. HSS K. 38—42: ‘oberrheinisch’ 〈o〉, ‘südalemannisch’ 〈a〉, ‘schwäbisch’ 〈au, ǎ〉 für mhd. â), aber teilweise in anderen Grenzen und längst nicht so ausgeprägt wie in neuerer Zeit; im HSS dominiert vielmehr die Konstellation, daß das ‘Schwäbische’ noch in weiten Teilen mit dem ‘Südalemannischen’ gegen das (fränkischen Einflüssen offene) ‘Oberrheinische’ zusammengeht (vgl. hier K. 8 a.3, 8 a.5). Mit einem Instrument wie dem HSS werden Sprachraumbildungen, Sprachbewegungen usw. auf dialektaler Ebene seit dem Mittelalter genauer als bisher zu beschreiben und schließlich im gesamthistorischen Zusammenhang auch außersprachlich zu begründen sein.
176
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Karte 8 a.5: Opposition und Neutralisation der Normalschreibungstypen für wgerm. gg/kk im Südwesten nach Urbaren des 13. bis 15. Jhs. (aus HSS 1979, Karte 193) 4.6 Indem der HSS, hinsichtlich der flächigen Verteilung und der Menge des Materials gut abgesichert, wohl die unterst-erreichbare Schreib- bzw. Sprachschicht erfaßt, ist auch eine neue Ausgangsbasis für historisch-diastratische Untersuchungen gewonnen. Neben die punktuelle Aufdeckung von ‘Schreibschichtenprofilen’, wie sie für einzelne Orte schon versucht worden ist, können zur Kontrolle und Ergänzung flächige Erhebungen treten (s. 30., 2.2). Über das aus Ur-
baren erstellte Ortsnetz des HSS werden weitere Ortsnetze gelegt, wie sie sich aus anderen, jeweils homogenen Quellengruppen gewinnen lassen, etwa aus Vokabularien, aus geistlichem Gebrauchsschrifttum, aus ‘literarischen’ Texten. Erste Proben, welche auf dieser Basis den Sprachgebrauch diverser Quellenschichten anhand lexikalischer Paradigmata vergleichen, liegen vor (Kunze 1980, 1—7, 22—24). Sie versprechen bei systematischer Fortführung dieses Ansatzes detaillierte Einsichten zur Abgrenzung und zur Interferenz sprachlicher Schichten im
8a. Der ‘Historische Südwestdeutsche Sprachatlas’ als Musterhistorischer Dialektgeographie
Spätmittelalter, zu ihrer gegenseitigen Beeinflussung und zu sprachgeschichtlichen Entwicklungen, die sich aus dieser ergeben.
5.
Literatur (in Auswahl)
Baldinger 1979 = Kurt Baldinger: Der freie Bauer im Alt- und Mittelfranzösischen. In: Frühmittelalterliche Studien 13. 1979, 125—149. Besch 1965 a = Werner Besch: Zur Erschließung früheren Sprachstandes aus schriftlichen Quellen. In: Vorarbeiten und Studien zur Vertiefung der südwestdeutschen Sprachgeschichte. Hrsg. von Friedrich Maurer. Stuttgart 196 5 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B. Forschungen 33) 104—130. Besch 1965 b = Werner Besch: Das Villinger Spitalurbar von 1379 f. als sprachliches Zeugnis. In: ebd., 260—288. Besch 1967 = Werner Besch: Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jh. Studien zur Erforschung der spätmittelhochdeutschen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. München 19 6 7 (Bibliotheca Germanica 11). HSS s. u. Kleiber/Kunze/Löffler 1979 Kleiber 1965 = Wolfgang Kleiber: Urbare als sprachgeschichtliche Quelle. Möglichkeiten und Methoden der Auswertung. In: Vorarbeiten ... (s. Besch 1965 a), 151—243. Kleiber 1968 = Wolfgang Kleiber: Die Grenze der alemannischen Mundart am nördlichen Oberrhein in sprachhistorischer Sicht. In: Festgabe für Friedrich Maurer zum 70. Geburtstag. Düsseldorf 196 8, 11—34. Kleiber 1977 = Wolfgang Kleiber: Die Mainzer Sammlung spätmittelalterlicher ländlicher Rechtsquellen (Urbare). Ein Überblick. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 25. 1977, 237—243. Kleiber 1978 = Wolfgang Kleiber: Zur Methodologie struktureller, historischer Wortgeographie (am Beispiel altwürttembergischer Maßsysteme von 1557). In: Deutsche Sprache. Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Friedrich Maurer zum 80. Geburtstag. Bern. München 1978, 99—110. Kleiber 1979 = Wolfgang Kleiber: Historische Wortgeographie im Alemannischen unter besonderer Berücksichtigung der Maßbezeichnungen (mit 21 Karten). In: Frühmittelalterliche Studien 13. 1979, 150—183. Kleiber 1980 = Wolfgang Kleiber: Der alemannisch-bairische (und der alemannisch-fränkische)
177
Sprachgegensatz im Spiegel spätmittelalterlicher Rechtsquellen (mit 19 Karten). In: Werner König, Hugo Stopp (Hgg.): Historische, geographische und soziale Übergänge im alemannischen Sprachraum. München 1980, 31—66. Kleiber/Kunze/Löffler 1979 (= HSS) = Wolfgang Kleiber/Konrad Kunze/Heinrich Löffler: Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas. Aufgrund von Urbaren des 13. bis 15. Jahrhunderts. Band I: Text. Einleitung, Kommentare und Dokumentationen. Band II: Karten. Einführung, Haupttonvokalismus, Nebentonvokalismus, Konsonantismus. Bern. München 1979 (Bibliotheca Germanica 22A, 22B). Kunze 1975 = Konrad Kunze: Textsorte und historische Wortgeographie. Am Beispiel Pfarrer/ Leutpriester. Mit 6 Karten. In: Würzburger Prosastudien II. Kurt Ruh zum 6 0. Geburtstag. Hrsg. von Peter Kesting. München 1975, 35—76. Kunze 1976 = Konrad Kunze: Geographie des Genus in Flurnamen. 13 Karten zur historischen Binnengliederung des Alemannischen. In: Alemannica. Landeskundliche Beiträge. Festschrift für Bruno Boesch zum 6 5. Geburtstag. Bühl 1976 , 157—185. Kunze 1980 = Konrad Kunze: Der Historische Südwestdeutsche Sprachatlas. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 47. 1980, 1—24. Löffler 1970 = Heinrich Löffler: Die Ablösung von ‘nieder’ durch ‘unter’ in Ortsnamen am Oberrhein. In: Beiträge zur Namenforschung 5. 1970, 23—35. Löffler 1972 = Heinrich Löffler: Neue Möglichkeiten historischer Dialektgeographie durch sprachliche Auswertung von Güter- und Zinsverzeichnissen. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 36 . 1972, 281—291. Löffler 1979 = Heinrich Löffler: Historische Schreibgeographie und Lautrekonstruktion. In: Proceedings of the Twelfth International Congress of Linguists, Vienna 1977. Hrsg. von Wolfgang U. Dressler/Wolfgang Meid. Innsbruck 1979, 499—501. Maurer 1942 = Friedrich Maurer: Oberrheiner, Schwaben, Südalemannen. Straßburg 1942. Maurer 1972 = Friedrich Maurer: Neue Forschungen zur südwestdeutschen Sprachgeschichte. In: Friedrich Maurer: Sprachgeographie. Gesammelte Abhandlungen. Düsseldorf 1972 (Beihefte zur Zeitschrift „Wirkendes Wort” 21) 119—163. Samuels 1963 = Michael Louis Samuels: Some Applications of Middle English Dialectology. In: English Studies 44. 1963, 81—94.
Konrad Kunze, Freiburg
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
178
9. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologische Arbeitsprinzipien Definition Zielsetzungen Ansiedlung, Mischung, Ausgleich Methodik Das Dilemma der Interpretation: Dialektologie und Dialektgeographie Literatur (in Auswahl)
Definition
Sprachinseln sind räumlich abgrenzbare und intern strukturierte Siedlungsräume einer sprachlichen Minderheit inmitten einer anderssprachigen Mehrheit. Im Normalfall liegen Sprachinseln im Hoheitsgebiet der anderssprachigen Mehrheit, z. B. deutsche Sprachinseln in Ungarn bzw. ungarische Sprachinseln in Österreich. Seltener kommt es vor, daß infolge der Diskrepanz zwischen ethnischer und politischer Grenzziehung u. ä. innerhalb des eigenen Hoheitsgebietes eigensprachige Sprachinseln entstehen im sonst geschlossenen fremdsprachigen Raum wie etwa im deutsch-polnischen Kontaktgebiet im früheren Deutschen Reich oder ungarische S p r a ch- (keine Dialekt-)inseln im geschlossenen rumänischen Staatsgebiet, aber im ungarischen Staatsgebiet vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Sprachinsel ist gleichzeitig E n k l ave (in Bezug auf den Staat bzw. die Nationalsprache[n] des Staates, dem sie räumlich-politisch angehört) und E x k l ave (in Bezug auf den Staat bzw. die Staaten und dessen/deren Nationalsprache, dem bzw. denen sie ethnisch, sprachlich und — mindestens zum Teil — auch kulturell in genetischer Hinsicht zuzuordnen ist). Einen Sonderfall bilden die Sprachinseln jener Gruppen, die nur Enklaven sind, da ein politisch etabliertes Hinterland ihnen abgeht, z. B. die kurdischen Sprachinseln in der Sowjetunion oder räumlich abgrenzbare Zigeunergruppen in vielen Staaten der Erde. Die Definition darf also den Begriff ‘Sprachinsel’ nicht auf die Bedingung der Entstehung durch geschlossene Kolonisation beschränken wie bei W. Kuhn (1934, 13), um so weniger, als Sprachinseln auch als Ergebnis einer Absplitterung bzw. durch Verdrängung oder Rückzug vom eigenen geschlossenen Sprachraum entstehen können, wie etwa die ehemaligen slowenischen Gruppen westlich und östlich von Graz im Spätmittelalter
oder die Reste der Nordostpreußen in der UdSSR bzw. die Deutschen um Waldenburg/Walbrzych in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. In linguistischer Hinsicht — und auch sonst — scheint es angebracht, zwischen sog. Au ß e n- und B i n n e ninseln etwas konkreter zu unterscheiden als dies üblich ist (vgl. Wiesinger 1973, 36 8). Sprachinsel begreift die (in dialektaler Hinsicht gleichgültige) Vertretung eines linguistischen Gesamtsystems, etwa des deutschen in nichtdeutscher Umwelt, ein und kann nur den Begriff ‘Außeninsel’ decken. Bei ‘Binneninsel’ handelt es sich nur um inselartig gelagerte Dialekte als Subsysteme in einer nur dialektal andersartigen Umgebung des eigenen sprachlichen Gesamtsystems. In diesem Fall ist es präziser, nicht von Sprach-, sondern von Dialektinseln (Mundartinseln) zu sprechen, vor allem, weil damit auch die Binneninseln innerhalb größerer Außeninseln erfaßt werden, z. B. die donaubairischen Dialektinseln in ihrer rheinfränkischen Umgebung im Gesamt der sog. Schwäbischen Türkei als deutscher Sprachinsel um Fünfkirchen/Pécs in Südungarn (vgl. Hutterer 1975 a, 25), genauso wie z. B. die pfälzische Gruppe am Niederrhein (vgl. Böhmer 1909; Veith 196 9; Wiesinger 1973, 371) oder die Walsersiedlungen in Liechtenstein bzw. Vorarlberg (Hornung/Roitinger 1950, 120 ff.), wie auch die Erzgebirgler im Oberharz (Borchers 1927) im geschlossenen deutschen Sprachraum. Diese Unterscheidung erweist sich in sprachsoziologischer und -psychologischer Hinsicht, bes. bei der Klärung von Fragen der Interferenz bzw. Interethnik, als relevant. ‘Sprachinsel’ wird generell nicht nur linguistisch verstanden, sondern als Sammelbegriff sämtlicher Lebensäußerungen der in einer Sprachinsel zusammengefaßten Gemeinschaft. Der früher vorgeschlagene Ersatz des Terminus durch ‘Volksinsel’ ist nicht nur aus den bei W. Kuhn (1934, 26 ) angeführten Gründen abzulehnen, sondern auch deshalb, weil sich beides nicht deckt: es gibt Völker, die trotz ihrer ethnisch-kulturellen Einheit mehrsprachig sind. Andererseits wird unter Sprachinselforschung bzw. -kunde nicht nur die linguistische Ermittlung oder Beschreibung verstanden.
9. Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologischeArbeitsprinzipien
Laut der Zusammenfassung bei W. Kuhn (1934, 13) hat die deutsche Sprachinselforschung als Disziplin die gesamtheitliche Erforschung und Darstellung der deutschen Sprachinseln als geschlossener, wohlabgegrenzter Lebenseinheiten zum Gegenstand. Die linguistische Erforschung der deutschen Sprachinseln bildet zugleich einen Teil der deutschen Dialektologie und — bes. dank den Kontaktforschungen — der allgemeinen Sprachwissenschaft. Die Bezeichnung (wie auch der Begriff) ‘Sprachinsel’ gehört heute fest zu der Terminologie der Linguistik in der ganzen Welt, und die in der (deutschen) Volkskunde gelegentlich vertretene Meinung, sie sei politisch diskreditiert (vgl. Weber-Kellermann 1959, 19 ff. und 1978, 125 ff.), kann linguistischerseits nicht akzeptiert werden. In einer Zeit stärkster pseudowissenschaftlicher Bestrebungen zum politischen Mißbrauch der deutschen Sprachinseln hat W. Kuhn (1934, 14) mit besonderem Nachdruck festgestellt: „Sprachinsel ist ein betont u n p o l i t i s c h e r Ausdruck“.
2.
Zielsetzungen
Die Zielsetzungen der linguistischen Sprachinselforschung waren ursprünglich rein diatopisch und diachron bestimmt, teils im Zusammenhang mit dem Objektbereich, teils jedoch infolge der starken Bindung an die jeweilige Methodologie und Methodik der binnendeutschen Dialektologie. Für beide Teile stand seit dem Zeitalter des Humanismus ein rein historisches Interesse im Mittelpunkt: die Bestimmung der ‘Urheimat’ der Kolonisten im geschlossenen deutschen Raum. Bei Anwendung „statistischer“ und „phonetischer“ (recte: junggrammatischer) Methoden (vgl. Wrede 1919, 3 ff.) schien es auch möglich, die Erforschung der Geschichte der Siedlungen durch die Untersuchung ihrer Dialekte zu ersetzen und damit die These von einer gradlinigen Herleitung der deutschen Mundarten der Gegenwart von den alten Stammesdialekten zu bestätigen. Auch nachdem die deutsche Dialektologie um die Jahrhundertwende in ihre dritte, sprachgeographische, Phase getreten war, blieb die Bestimmung der ‘Urheimat’ im Vordergrund der Sprachinselforschung, allerdings wurde die Methodik verfeinert, indem der Forscher nunmehr bestrebt war, die Laut- und Worterscheinungen seiner Sprachinsel, gewöhnlich eines einzigen Ortes, aus den Blättern des DSA (und später des DWA
179
oder auch einiger Regionalatlanten) herauszufinden. Das Resultat dieser Vergleichungen war zu einer genaueren ‘Heimatbestimmung’ kaum, in den meisten Fällen gar nicht geeignet, weil die Siedler selbst kleinerer Sprachinseln aus verschiedenen Landschaften gekommen waren, hauptsächlich aber deshalb, weil die Sprachentwicklung in den Sprachinseln ihre eigenen Wege genommen hatte. Der Vergleich verschiedener Sprachinselmundarten mit binnendeutschen Dialekten, die ihnen am nächsten standen, stellte unter Beweis, daß die entscheidenden Triebkräfte in der Ausgestaltung neuer Sprachinselmundarten in der ‘Divergenz’ und der ‘Konvergenz’ (in der Terminologie der historischen Linguistik: ‘Differenzierung’ und ‘Integration’ bzw. ‘Spaltung’ und ‘Ausgleich’) zu finden sind. ‘Divergenz’ und ‘Konvergenz’ werden hier — wie schon bei G. von der Gabelentz und H. Schuchardt — nicht in Anlehnung an die Biologie (wie bei Ethnologen), sondern an die Mathematik gebraucht. Allerdings strebt eine konvergente Reihe von Spracherscheinungen bei verschiedener Umordnung der Glieder gegen verschiedene Grenzwerte zu; somit ist die sprachliche Konvergenz bedingt. In der Sprachentwicklung müssen beide Prozesse, um das System — und dadurch die Kommunikationsmöglichkeit — nicht zu gefährden, gleichzeitig als Umkehroperationen auftreten: vorhandene Integrale werden differenziert, um zu anderen Integralen integriert zu werden. Die Sprachinseldialektologie hat sich in erster Linie auf die Teilprozesse Mischung und Ausgleich, etwas seltener auch auf die Überdachung konzentriert. Die zuerst bei den Siebenbürger Sachsen und den Rußlanddeutschen in Angriff genommene Untersuchung der Sprachraumbildung in ihren Sprachinseln hat Nahziele bzw. Aufgaben gesetzt, die es ermöglichen, Arbeitsprinzipien des Binnenlandes an jenen der deutschen Sprachinselforschung theoretisch-prinzipiell wie praktisch-methodisch zu prüfen.
3.
Ansiedlung, Mischung, Ausgleich
Die Anwendung der sprachgeographischen Methoden Marburger Provenienz auf deutsche Sprachinseln hat gleich am Anfang nahegelegt, daß die Tatsache der Ansiedlung als eine conditio sine qua non nur die allgemeine Basis für die Entstehung einer Sprach-
180
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
insel(mundart) bereitstellt, indem sie jene Subsysteme miteinander diatopisch und diastratisch in Verbindung setzt, aus denen sich ein neues einheitliches Subsystem aufbaut. Die Mundart der Pfälzer Binneninsel bei Kleve ließ sich viel weiter südlich in der bayerischen Pfalz ‘beheimaten’ als die urkundlich gesicherte ‘Urheimat’ (Böhmer 1909); die Mundart der Außeninsel Werbaß/Vrbas in der Batschka stand dagegen der Nordwestpfalz am nächsten, während die Kolonisten laut Urkunden aus weit südlicher liegenden Teilen der Pfalz stammten (H. Schmidt 1911, 97 ff.). Böhmer (1909, 89) hat den großen erkenntnistheoretischen Wert von Mischung und Ausgleich als „schließlich in allen Gegenden und zu allen Zeiten wirksames sprachhistorisches und sprachgenetisches Prinzip“ erkannt und damit die Rückkoppelung an die Humboldtsche Sprachbetrachtung vollzogen (vgl. Gabelentz 1891, 281). Teuchert (1915, 411) konnte bereits auf die Sprachinselmundarten als auf den „geeignetsten Gegenstand“ verweisen, an dem sich die sprachhistorische Auffassung der Herausgeber des DSA von der Entstehung der deutschen Mundarten darstellen ließ: „Hier ist nämlich kein Zweifel an eine Mischung verschiedener Mundartenformen erlaubt“. Besonders befruchtend wurde dieses Prinzip in der sprachhistorischen Erschließung der ostelbischen Gebiete (vgl. Teuchert 1915, 411 und Mitzka 1952, 149). Schirmunski (1930, 113) bezeichnete die Sprachinseln in prinzipieller und methodischer Hinsicht als „ein sprachwissenschaftliches Laboratorium von hervorragender Bedeutung, in dem wir an der Hand geschichtlicher Zeugnisse in einer kurzen Zeitspanne von 100—150 Jahren Entwicklungen verfolgen können, die sich im Mutterlande in mehreren Jahrhunderten abgespielt haben müssen“. Die Zuordnung einer Sprachinselmundart erfolgt im Wege der Vergleichung der Sprachmerkmale mit den entsprechenden Formen aus dem DSA bzw. DWA: da aber viele Siedlungen in den Sprachinseln erst nachträglich, von bereits bestehenden Inseln aus angelegt werden, müssen solche Tochtersiedlungen (Tochterkolonien) zuerst auf ihre Muttersiedlungen (Mutterkolonien) in der Sprachinsel zurückbezogen werden. Dieses von Dinges (1924/25, 299 ff.) erarbeitete Prinzip (bei H. Schmidt 1934, 6 6 primäre und sekundäre Siedlung genannt) bestätigt für das Altland die Annahme von Siedlungs-
horsten als Ausgangspunkten für die weitere Besiedlung der sie umgebenden Landschaften. Weitere Forschungen haben gezeigt, daß die Verhältnisse manchmal viel komplizierter sind: von Tochtersiedlungen aus können weitere Siedlungen angelegt werden, aber auch eine Muttersiedlung („Stammsiedlung“ bei Kuhn 1934, 334 ff.) kann durch Zuzug vom Mutterland oder von ihr fremden Tochtersiedlungen her unterwandert werden. Diese Umstände erzwingen die Untersuchung der Sprachinseln als eigenständige Sprachräume, um die inneren Sprachbewegungen horizontal wie vertikal zu ermitteln (vgl. Hutterer 196 3 a, 177 ff.). Anstatt der ‘Urheimat’ kann man nunmehr von den ‘Ursprungslandschaften’ der Siedler sprechen (vgl. Weber-Kellermann 1959, 41; bei Teuchert 1915, 411: „Ursprungsgegenden“). Erst das ermöglicht uns außerdem, die Arbeitsprinzipien der Dialektologie zur Gänze zu prüfen. Die Mischung strebt der Wiedergewinnung der Einheitlichkeit im Sprachsystem der Sprachträgergemeinschaft zu, und nach dem jeweils erreichten Stand der Entmischung bzw. Ausgleichs unterscheidet man seit Kuhn (1934, 252 ff.) den Ausgleich erster Stufe (Einheitssystem der Ortsmundart) und den Ausgleich zweiter Stufe (Einheitssystem in einem Sprachinselraum). Die Überdachung mehrerer Sprachinseln durch eine höhere Einheitsform im größeren politischen — aber auch sprachlich außerdeutschen Rahmen — ist relativ selten: je nach den konkreten historischen Umständen werden solche Formen von binnendeutschen (bzw. österreichischen) Mustern oder durch die Überdachungsform(en) einer Fremdsprache verdrängt (vgl. Weinelt 1938; Hanika 1952, 127 ff.; K. K. Klein 1956 , 193 ff.; Hutterer 196 1, 33 ff.; Hutterer 196 7, 399 ff.; Weintritt 196 6 , 309 ff.; Hutterer 1970, 7 ff.). Schwob (1971, 44) schlägt hierfür den Ausdruck „Ausgleich dritter Stufe“ vor. Dieser ‘Ausgleich’ kann im Fall einer freien Entwicklung zu einer deutschen Tochtersprache bzw. Nahsprache führen (Pennsylfaanisch, Jiddisch; vgl. Art. 53; vgl. auch das Verhältnis Niederländisch:Afrikaans). Die durch eine Mischung entstandene neue Mischmundart kann mitunter eine Form annehmen, die sich im binnendeutschen Raum genau in einer Landschaft beheimaten läßt, obwohl es dabei um ganz verschiedene Komponenten geht. Es handelt sich um eine „dialektgeographische Illusion“ (Schirmunski 1930, 178; Ström/Schirmunski
9. Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologischeArbeitsprinzipien
1926 /27, 153 ff.): so haben etwa fränkische Mundarten die Ausbreitung von Merkmalen unterstützt, die auch im Bairischen nicht unbekannt sind (z. B. /a:/ für altes /ai/). Dadurch wurde der ostdonaubairische Charakter des Sprachraums im Ungarischen Mittelgebirge gesichert. Es sind das also unechte Mischmundarten gegenüber den ihren Mischcharakter klar aufzeigenden echten Mischmundarten (Hutterer 196 3, 10 f.). Eine analoge Entwicklung scheint zur Ausformung des Grazer Stadtdialektes geführt zu haben (vgl. Hutterer 1978, 323 ff.). Auf allen Stufen des Ausgleichs erweist sich die von Schirmunski (1930, 118 ff.) eingeführte Trennung von primären und sekundären Sprachmerkmalen: danach werden bei der Mischung bzw. weiteren Entwicklung zuerst die primären, weil auffallendsten, Merkmale aufgegeben, während die sekundären, weniger auffallenden, Merkmale erhalten bleiben. Schirmunski hat diese Unterscheidung als quantitativ bezeichnet. Auf das Verhältnis ‘Schriftsprache: Dialekte im Binnenraum’ angewandt hat sich sein Prinzip bewährt. In solchen Sprachinselmundarten jedoch, deren Mehrwertsideal nicht die deutsche Schrift-/Hochsprache war oder ist, entstehen latente Normen, die den hochsprachlich orientierten Prognosen zuwiderlaufen und eindeutig auf den sozialen Mehrwert ihrer Träger bezogen sind (Hutterer 196 3 a, 186 ff.; K. K. Klein 1956 , 193 ff.; Hutterer 1970, 7 ff.). Somit ist dieser Unterschied der Merkmale doch qualitativ im kommunikativen Wert einzelner Merkmale, und zwar im Sinne der Intersubjektivität einer konkreten Gemeinschaft in einer konkreten Sprachsituation. Das erklärt zudem sowohl die allgemeine Regel (bestimmend ist eine Form, die von der Mehrheit getragen wird) als auch die (nur scheinbaren) Ausnahmen (Sieg einer von einer relativen oder absoluten Minderheit mit sozialem Mehrwert vertretenen Form). So ist es verständlich, daß die Auseinandersetzung in der ehemaligen deutschen Sprachinsel in Bessarabien zwischen Niederdeutsch und Oberdeutsch nicht zu einem Ausgleich mitteldeutscher Prägung führte, wie dies nach dem Modell des Binnenraumes zu erwarten gewesen wäre, sondern zu einer ‘neuschwäbischen Verkehrsmundart’ (vgl. Eckert 1941), aber umgekehrt auch, daß in der Slawgoroder Sprachinsel in Sibirien die niederdeutschen Siedlungen, anstatt einen Ausgleich mit ihrer hochdeutschen Umgebung einzugehen, die schon für ihre Mut-
181
tersiedlungen in der Südukraine internen Normbestrebungen entfalteten (Quiring 1928; Jedig 196 6 ; Moelleken 1972). Eingehend über die Probleme des Sprachausgleichs s. Schwob (1971); zur latenten Norm: Hutterer (1970, 11 ff.; 1973, 50 f.). Die Sprachinseln bestätigen jedenfalls die binnendeutsche Theorie vom ‘sprachlichen Mehrwert’ (‘Prestigeform’); die Fragestellung nach der ‘latenten Norm’ kann vielleicht das Problem klären helfen, wieso und warum in weiten Gebieten des deutschen Sprachraumes, trotz der bewußten Ausrichtung der Sprachträger nach der hochsprachlichen Norm, ein spontaner Anschluß an regionale Umgangssprachen zu beobachten ist.
4.
Methodik
4.1. Material Die in der diatopischen Auffassung des Dialekts begründete Suche nach Dialektgrenzen bedingt eine vorherige Filterung des aufzusammelnden Materials, um die räumliche Kontrastierung zu sichern. Trotz gelegentlicher theoretischer Bejahung (Schwartz 1923) hat dieses Prinzip in der Praxis der Sprachinselforschung nur die nach vollzogenem Ausgleich verbliebenen Relikte zu Tage gefördert. Da die Sprachinseldialektologie vom Systemcharakter der Mundarten ausgehen muß, ist es besser, vom alltäglichen Sprachschatz auszugehen, d. h. all das zu ermitteln, „was Sprache, Brauchtum und Lebensweise des Volkes entscheidend bestimmen kann“ (Hutterer 196 3, 42 ff.). Damit nimmt die deutsche Sprachinselforschung eher den Standpunkt der romanischen und der slawischen Sprachgeographie ein (vgl. Dauzat 1922, 7; Jaberg/Jud 1928, 176 f.; Avanesov 1947; aber auch die Ungarn: Bárczi 1944, 189; Deme 1975, 72 f.). Jedenfalls kann eine Systemuntersuchung nicht mit der Karteninterpretation identifiziert werden (vgl. Goossens 1977, 6 3), sondern es müssen die diatopischen bzw. diastratischen Subsysteme in der Landschaft, „Dorf für Dorf“ (Kuhn 1934, 150 f., 257) erschlossen werden, um die Verläßlichkeit der Karteninterpretation zu sichern. 4.2. Parameterkonstanz in der Sammelarbeit Unerläßliche Forderung ist die Konstanz pragmatischer Parameter in der Sammelarbeit, die sowohl im DSA als auch im DWA
182
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
infolge der Technik der Fernerkundung nur sehr bescheiden zur Geltung kommt. Zu einseitigen, in Sprachinseln manchmal zu ganz falschen Ergebnissen führt auch die historisch motivierte Einschränkung der Informanten auf die älteste Generation (vgl. Kranzmayer 1956 , IV): mit dieser Methode hätte Ström in den 20er Jahren in der Jamburger Sprachinsel bei Leningrad eine oberhessische Mundart aufgezeichnet, während die Einheitsmundart der Sprachinsel bereits die ostpfälzische war (vgl. Ström/Schirmunski 1926 /27; Schirmunski 1930, 177 f.). Die Sprachinselforschung kann nur ‘mehrschichtige Karten’ empfehlen, die imstande sind, die Variabilität, vorgegeben durch die räumliche, soziale und psychologische Modalität der Sprache, auch in der synchronen Ausdrucksbreite bzw. Bezeichnungsschichtung diachron abzubilden. Die von Besch (1972, 295) genannten Faktoren, die die „entscheidenden Existenzbedingungen für Kleinraumsprachen“ zur Strecke bringen, nämlich die räumliche Mobilität, die differenzierte Wirtschaftsstruktur und die zeitlich raschen Veränderungsschübe, haben in der Entstehung alter wie junger Sprachinseln stets eine entscheidende Rolle gespielt; mutatis mutandis läßt sich auch die Entstehung der ‘ostmitteldeutschen Kolonialsprache’ ohne diese Faktoren nicht gut denken (vgl. R. Große 196 1, 24 ff.; 29 ff.). Die Sprachinseldialekte zeigen, daß sprachliche Systeme wie Subsysteme keine geschlossenen, sondern offene Systeme sind: alles, was noch im Toleranzbereich der Systemträger als Gemeinschaft möglich ist, gehört zu ihrem System (vgl. Gabelentz 1891, 56 ff. und 1901, 54 ff.; Hockett 1959, 321 ff.; Hutterer 196 3 b, 146 ff.; 196 5, 9 ff.; 196 8, 282 ff.). Der Dialekt als ‘reine Bauernsprache’ ist (und war schon immer) nur ein wissenschaftlich fundiertes (und berechtigtes) Bezugssystem, eine Abstraktion, auf die man als Invariante die vorhandenen Variablen beziehen und diese in ihren synchronen, modalitätsbedingten Gebrauchsregeln sowie in ihrem zeitlichen Ablauf beschreiben und interpretieren kann. Ein Ausgleichssystem ist nicht das Produkt abstrakter, rein linguistischer Teilsysteme, sondern das Ergebnis gleichzeitig vor sich gehender horizontaler und vertikaler Sprachbewegungen. In der Munkatscher Sprachinsel (Mukačevo, Karpatenukraine) wurden 1730 neben
50 Bauernfamilien 43 Handwerkerfamilien angesiedelt, während für die Batschka für die theresianische Periode neben 50% Bauern 33% Handwerker nachgewiesen wurden (s. Schwob 1971, 17): man kann nicht umhin, schon für die Ansiedlungszeit nicht nur die Konfrontation verschiedener Bauernmundarten, sondern auch die verschiedener mitgebrachter Verkehrssprachen vorauszusetzen (vgl. Hutterer 196 3, 14 f.). Mit einem Wort: Die Konstanz des Materials muß der Stratifikation entsprechend eingehalten werden. Zu den Koine-Bestrebungen in Sprachinseln vgl. Schirmunski (1930), Weinelt (1938), Hanika (1952), Schwarz (1935; 196 2), K. K. Klein (1959, 27 ff.), Weifert (196 0, 118 f., 128), F. Krauß (1957, XVIII ff.), Grubačič (196 7, 295 ff.), J. Wolf (1975, 79 ff, 88 ff., 16 0 ff.), Manherz (1977, 122 ff.), Hutterer (1967, 399 ff.).
4.3. Forschungspunkte Aus den in 3. und in 4.1., 4.2. genannten Gründen kann die Sprachinselforschung die Auswahl der Forschungspunkte nach dem Prinzip der ‘gleichen Entfernung’ oder der ‘Siedlungsdichte bzw. -größe’ ebensowenig akzeptieren wie die Praxis der auf einen Informanten eingeschränkten Parameterkonstanz je Forschungspunkt. Potentiell sind alle Orte der Sprachinsel auch Forschungspunkte, eine Einschränkung ist erst dann möglich, wenn sich eine Mundart innerhalb einer Gruppe als für die ganze Gruppe maßgebend herausstellt, d. h. auf Grund voraufgehender Systemerhebungen (vgl. Hutterer 196 3, 47); Beispiele für falsche Ergebnisse dank der Anwendung der Auswahlmethode s. bei Hutterer (196 3, 46 9 ff.; 485 ff.; 492) und Hutterer (1963 a, 182). Das Einmannsystem bei der Befragung hat in der Sprachinselforschung noch weniger Erfolg als im Binnenland (Beispiele s. Hutterer 196 3, 434; 448 f.). Als bewährtes Minimum kann die Praxis des Deutschen Spracharchivs gelten: sechs Personen aus drei Altersschichten pro Ort. Dadurch kann auch der Geschlechtsunterschied als Parameter konstant gehalten werden. Besteht jedoch ein Forschungspunkt aus mehreren Gemeinschaften (nach Konfessionen, Berufsgruppen bzw. -schichten u. dgl.), so ist die Zahl der Informanten mit jener der Gemeinschaften zu multiplizieren (vgl. dazu Hutterer 196 3, 14 ff.; 54 ff.; ferner auch Herzog 1965, 11 ff.).
9. Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologischeArbeitsprinzipien
4.4. Methoden der Stoffsammlung Die Methoden der Stoffsammlung sind auch in der Sprachinselforschung Beobachtung, direkte Aufnahmen (mit oder ohne Fragebuch) und indirekte Aufnahmen (mit Fragebuch). Infolge der im Idealfall absoluten Dichte der Forschungspunkte kommt in der Sprachinsel dem durch Beobachtung zu erhebenden Spontanmaterial ein größeres Gewicht zu, als dies bei Großatlanten möglich ist. Eigentlich grammatische Fragen lassen sich nur auf diese Weise verläßlich ermitteln. Eine Verbindung der Direktaufnahmen ergibt sich einerseits aus Textaufnahmen, die nur thematisch gebunden, in der Gestaltung aber dem Informanten überlassen sind, und andererseits daraus, daß man bei der Abfragung eines Fragenkatalogs sachlich gebündelte Fragen stellen kann, so z. B. nicht nach einzelnen Baumarten fragt, sondern um die Mitteilung bittet, was für Bäume in der Gegend bekannt sind (vgl. Hutterer 196 3, 58 ff.). Da der Explorator, im Unterschied zu der Lage im Binnenland, so gut wie immer aktiver Mundartsprecher ist, hat auch die Introspektion eine größere Bedeutung. Damit vergrößert sich aber auch die Gefahr des ‘Hineinhörens’ und des ‘Rückwandererproblems’ (Kranzmayer 1956 , 3). Daher sind Kartierung und Auswertung beliebiger Art ohne Kontrollaufnahmen als unzulässig zu bezeichnen (vgl. Hutterer 196 3, 6 2), und zwar bei allen drei Methoden: dem einschlägigen Mangel der deutschen (und vieler anderer) Großatlanten können Regional- bzw. Ortsdarstellungen wie die DDG u. ä. m. nur im bescheidenen Maße abhelfen. Die Ergänzung der herkömmlichen Methoden durch Tonbandaufnahmen, wie sie in der deutschen Dialektologie durch das Deutsche Spracharchiv sichergestellt wurde, erwies sich auch in der Sprachinselforschung als unentbehrlich, bes. bei Textaufnahmen, die auch eine glaubhafte Untersuchung der ‘konstitutiven Merkmale’ ermöglichen (vgl. Geršič 1974; Droescher 1974; Grubačič 1970 und 1971; Paul 1970 und den Bericht Hutterer/Mollay 19 6 5, 131). Aufnahmen von Wenkersätzen können natürlich bestenfalls einen pädagogisch-exemplarischen Wert haben. Nur im Falle der (kontrollierbaren) Introspektion und bei überdurchschnittlich intelligenten Informanten empfiehlt es sich, gelistete Fragen ohne längeren Kontext aufs Tonband aufzunehmen. Jedenfalls kann die parallele Aufzeich-
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nung von Wörtern im Kontext u n d in der Isolation wichtige Tatsachen aufdecken. In Dt. Pilsen/Nagybörzsöny (Ungarn), wo ein bairisch-ostmitteldeutscher Mischdialekt (mit bairischem Übergewicht) gesprochen wird, konnte nur auf diese Weise festgestellt werden, daß im Dialekt, ähnlich wie im Englischen, zwischen starkem und schwachem ‘Akzent’ unterschieden wird: die in isolierten Formen herrschenden Triphthonge werden in fließender Rede, falls keine Emphase vorgegeben ist, zu Diphthongen, die Diphthonge zu Monophthongen abgeschwächt, demzufolge der Vokalismus einmal als bairisch, das andere Mal als mitteldeutsch erscheint (z. B. [muɔt] ≠ [motǝ] ‘Mutter’, [bεʊḅ] ≠ [bεḅ] ‘Weib’; vgl. auch Hutterer 196 3, 470). Dt. Pilsen gehört historisch zum sog. Hauland in der Mittelslowakei: die bei Hanika (1952) durcheinandergeratenen Schreibungen (vgl. dort 6 6 , 6 8 f., 70, 72 ff., 77, 81 ff.) werden sich wohl auch nur unter diesem Aspekt sinnvoll interpretieren lassen. Die Methode der Beobachtung eignet sich zwar am besten zur Systemforschung, d. h. als Forschungsmittel der Dialektologie, doch ist sie zu zeitintensiv, um damit allein dem diatopischen Aspekt — d. h. methodisch: der Dialektgeographie — Genüge leisten zu können. Als grundlegendes Verfahren räumlich erweiterter Forschungen hat sich das (aktive) Direktverfahren — mündliche Erhebungen mit Fragebogen — bewährt. Als Grundlage hat man anfangs, schon der Vergleichbarkeit des Materials zuliebe, die Wenkersätze im Direktverfahren ermittelt, hinzu kam später die Frageliste des DWA. Nach wie vor mußten die Sprachinselforscher diese Listen ergänzen, um der Dichotomie zwischen dem für Großatlanten bestimmten Forschungsmaterial und ihrer regional profilierten Zielsetzung beizukommen: Schirmunski (1930, 116 ) hat die Wenkersätze mit einer Liste von 200 Wörtern ergänzt, H. Schmidt (1924) hat zu den Sätzen fünf weitere hinzugefügt (vgl. Schilling 1942), Hutterer (196 3, 38 ff.) sah sich gezwungen, für Mittelungarn und später für die Arbeiten am UDSA ein ganz neues Fragebuch zusammenzustellen, das jedoch das Wortmaterial des DSA und des DWA mitenthält, um die Vergleichbarkeit mit den binnendeutschen Unternehmungen zu wahren (vgl. Hutterer/Mollay 196 5, 130 f.). Bes. in Misch- bzw. Grenzzonen erweist es sich als ratsam, je nach den lokalen Bedingungen gemäß den konkreten Erscheinungstypen wäh-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
rend der Geländearbeit auch Zusatzmaterial zu sammeln. Die indirekte Erhebung mittels Fragebogen, eine Notlösung der Großatlanten, hat sich in der Sprachinselforschung nicht bewährt, nicht einmal in größeren zusammenhängenden Sprachinseln (vgl. H. Schmidt 1933, 179 ff. und Hutterer 196 3 a, 182). Vor allem zu Zwecken der Lautgeographie ist diese Methode der Fernerkundung unbrauchbar. Mit befriedigendem Resultat war dieses Verfahren in der ungarndeutschen Forschung nur bei der Ermittlung sachkundlich scharf abgegrenzter lexikologischer Gruppen für ein zu schaffendes Wörterbuch anzuwenden, bei Themen etwa wie ‘Haus und Hof’, ‘Trachten’, ‘Weinbau’ u. dgl. (Hutterer/Mollay 1965, 131). In mehrsprachigen Gebieten läßt sich die situationsbedingte Beeinflussung der Informanten durch mundartfremde Elemente bzw. Faktoren auf ein Minimum herabsetzen, wenn man die Fragen in der Fremdsprache stellt (vgl. Hutterer 196 3, 59; Herzog 196 5, 12; Schilling 1942). In den Randgebieten des geschlossenen deutschen Raumes wurde von dieser Möglichkeit seitens der deutschen Dialektologie (etwa im Elsaß) weniger Gebrauch gemacht als seitens der slawischen (etwa Niederdeutsch bei den Kaschuben für den Polnischen SA oder Deutsch bei den Slowenen in Kärnten). In den deutschen Sprachinseln ist diese Tugend eine Not, wenn die Informanten die deutsche Hochsprache gar nicht beherrschen (Schilling 1942). 4.5. Kartierungsmethoden Von den beiden grundlegenden Methoden der Kartierung im Gelände gewonnener Daten muß die Sprachinselforschung schon aus den bereits genannten materialbedingten Gründen dem Punktverfahren den Vorzug geben. Während der Vorbereitung des SDSA zur Drucklegung um 196 0 „zeigte sich, daß ... der siebenbürgische Sprachraum — mindestens im Bereich des Wortschatzes — der herkömmlichen Darstellung nach der Leitform-Leitlinien-Methode trotzt. Deshalb wurde wie kurz zuvor beim Schlesischen Wortatlas zur Darstellung durch Einzelzeichen übergegangen“ (Schmitt/Klein 19 6 5, 132 f.). Die solcher Umstellung zugrunde liegende Einsicht, es gehe nicht an, die Marburger Methodenlehre auf die Sprachinseln in der Entsprechung 1 : 1 anzuwenden, war
den (meisten?) Siebenbürgern schon 1905 klar (vgl. Klein 196 2, 6 3 ff.). Nicht zuletzt infolge objektiv gegebener Ähnlichkeiten mancher Probleme sind von der Sprachinselforschung her die Kartierungsprinzipien des SDS (Hotzenköcherle 196 5, 111 ff.) und der bewußt daran orientierten Unternehmungen im Elsaß (Beyer 196 5, 115 ff.) bzw. in Vorarlberg und Liechtenstein (Gabriel 196 5, 115) zu bejahen. Das Flächenverfahren mit ‘Linien’ kann das Punktverfahren ergänzen, indem es die Ermittlung der Sprachdynamik vorbereitet. In relativ kleinen Gebieten, wie es nun mal auch größere Sprachinseln sind, ist diese Kombination auch bei absoluter Dichte des Belegortnetzes möglich, ohne einer Interpretation vorzugreifen, d. h. noch im Rahmen der rein dialektgeographischen Deskription. Karte 9.1. zeigt eine solche Situation an Hand der deutschen Siedlungen im Donauknie nördlich von Budapest (vgl. dazu Hutterer 196 3, 470). Die sprachgeographische Interpretation, daß B. [= Bogdan/Dunabogdány] trotz seiner Lage am Rechtsufer zu der Gruppe S. [= Sebegin/Zebegény], G. (= Großmarosch/Nagymaros], K. [= Kleinmarosch/Kismaros] am Linksufer der Donau gehört und vom Süden und Südwesten her zunehmend unterwandert wird, geht e r st aus der allseitigen Untersuchung und Vergleichung hervor: die Karte an sich würde auch die Annahme der entgegengesetzten Stoßrichtung zulassen (Unterwanderung vom Norden/Nordwesten her). Dies ist tatsächlich der Fall gewesen bei P. ([= Plintenburg/Visegrád], was aber aus der Karte allein ebenfalls nicht ersichtlich ist: die deskriptive Darstellung läßt die entgegengesetzte Möglichkeit auch offen. Zu diesem Komplex gehört auch die Forderung, Hilfskarten aus den Bereichen verwandter Disziplinen schon auf dieser Etappe aufzubereiten, um später die Interpretation der eigenen Sprachkarten mit der Diatopik sonstiger, die Sprache als Kommunikationsmittel mitbestimmender Phänomene zu konfrontieren. Diese Forderung bestätigt das Grundprinzip der kulturmorphologischen Richtung (vgl. Art. 4), geht aber darüber gleichzeitig auch hinaus. Die Hilfskarten sind nicht danach auszuwählen, w i e man die eigenen Karten deuten m ö ch t e: bei der nötigen Unbefangenheit fällt der Befund nicht selten negativ aus, etwa beim Versuch, Orographie mit Sprachdynamik in eine engere Beziehung zu setzen (vgl. Wagner 1927,
9. Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologischeArbeitsprinzipien
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Karte 9.1: Kombination von Ortspunkt- und Flächenverfahren (ohne Interpretation), am Beispiel der deutschsprachigen Dörfer im Donauknie/Ungarn (nach Hutterer 1963, Abb. 19) 44 ff.; Moser 1954, 88). Um so wichtiger ist die Konfrontation mit den ‘kartierenden’ Sozial- und Geisteswissenschaften (s. Mitzka 1952, 134 ff.; 30 ff.). Die Erfahrungen in den Sprachinseln sprechen für das Anlegen von ‘Sprach- und Kulturatlanten’: zu derselben Einsicht sind die Vertreter der jiddischen Dialektologie als Schwesterdisziplin gekommen (Weinreich 196 0, 1 ff. und 196 2, 6 ff.). Weiteres über die Problematik der kartographischen Darstellung s. Hutterer (19 6 3, 64 ff.).
5.
Das Dilemma der Interpretation: Dialektologie und Dialektgeographie
Die Tatsache, daß am Dialekt die räumliche Modalität der Sprache am stärksten ausgeprägt erscheint, hat die Forschung schon öfters zur Verabsolutierung des diatopischen Aspektes verleitet. Die logische Konsequenz ist die Suche nach den Grenzen: die Methode, die dieser Annahme entspricht, nämlich die Dialektgeographie, hat nur Grenzen von Einzelerscheinungen erbracht. Man kann zwar mit dieser Methode Lautwandel (bzw.
Formenwandel) und Wortverdrängung auseinanderhalten, aber eine sinnvolle Erklärung schien erst nach Hinzunahme sozialer Momente möglich zu sein. Das ganze Arsenal der dabei erarbeiteten Begriffe und Formen (‘Arealformen’), wie sie in den klassischen Zusammenfassungen dargeboten wurden (Mitzka 1952; Bach 1950; Martin 1939; Schwarz 1949 u. a. m.), ließen sich in den Sprachinseln auch belegen: sie erwiesen sich als Resultate siedlungs- und verkehrsbedingter Entwicklungen (Hutterer 196 1, 319 ff., bes. 349). Die betonte Einbeziehung nicht nur sprachlicher, sondern vor allem sozialer und sonstiger Faktoren in die Karteninterpretation wurde dann in verschiedenen Schulen der modernen Linguistik zwar sehr verschieden beurteilt, in den meisten Fällen jedoch als Verletzung der Stringenz empfunden. Dazu kann unser ‘sprachwissenschaftliches Laboratorium’ Einiges hinzufügen. Wie schon in 2. angedeutet, gibt der nur diatopische Aspekt für die Entstehung der Sprachinselmundarten kein brauchbares Argument ab: die Entwicklung in Siebenbürgen (Klein 1946 —1952, 84 ff. bzw. 196 3, 90 ff.) oder in alten Sprachinseln im Vorfeld
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
des Bairisch-Österreichischen (Hutterer 196 7, 399 ff.) läßt sich auf diese Weise ebensowenig verstehen wie die Entstehung sog. junger Sprachinseln (vgl. Schwob 1971). Die Orientierung der Träger verschiedener Mundarten richtet sich nicht einfach auf die ‘Nachbarn’, weil sie Nachbarn sind, sondern sie folgt einer latenten Normauffassung, die nur vertikal voll erklärbar ist. Das Vertikale etabliert sich aber auch im Binnenland ‘diatopisch’: die alten Sorbengebiete im Ostmitteldeutschen haben sich bei ihrem Sprachwechsel nicht ihren deutschen Nachbarmundarten, sondern einer höheren ‘Norm’ angeschlossen, und dies in einer Zeit, als es eine ‘Hochsprache’ im heutigen Sinne gar nicht gegeben hat (vgl. Protze 1957; Große 196 1, 25 f.; Bellmann 1959, § 38 ff.; Hutterer 1978, 351). Klein (1956 , 193 ff.) versuchte, dafür eine sprachpsychologische Begründung an einer langen Reihe von Sprachinseldialekten zu finden (die jeweiligen sozialen Hintergründe s. bei Hutterer 1970, 7 ff.). Das bedeutet zunächst, daß D i alekte zugleich S o z i olekte sind (s. die Darstellungen bei Hutterer 196 3 b, 159 und 196 5, 43 ff.; Dahlstedt 1970). Die Hochsprache, gleich welche, als areal indifferent oder immun zu postulieren ist ein Trugschluß: die Areale sind größer als die von regionalen Umgangssprachen und von ‘Dialekten’ (im Sinne von ‘alten Bauernsprachen’), aber das Prinzip bleibt sich gleich. Sogar das als ‘Nur-Hochsprache’ künstlich geschaffene Esperanto zeigt bereits eindeutig ‘diatopische’ Züge. Eine nur diatopische Forschung müßte jene Bauernsprachinseln, deren Dialekt die deutsche Hochsprache ist oder war, ausklammern, was wiederum zu falschen Kartenbildern und -auslegungen führen müßte. Die Methode, die die Städte einer falsch verstandenen ‘Diachronie’ zuliebe kartographisch nicht erfaßt (Kranzmayer 1959, 5 f.), entspricht der von Goossens (1977, 21) gebotenen Definition von ‘Dialekt’ vollauf, kann jedoch weder die Synchronie noch die Diachronie des Forschungsgegenstandes interpretieren, ja nicht einmal beschreiben. Die derzeit meist praktizierte Abgrenzung der Forschungsbereiche zwischen Dialektologie und Soziolinguistik im deutschen Raum kann von der Wirklichkeit der deutschen Sprachinseln nicht bestätigt werden. Das ist nicht so zu verstehen, daß in der Sprachinseldialektologie Dialekt und Sprache und folglich Dialektologie und Linguistik Synonyme sind. Diese Gleichung geht nur im
Grenzfall auf, wo in der Gattung ‘Sprache’ eine einzige Art ‘Dialekt’ enthalten ist. Der Dialekt ist in unserer Sicht ein areal u n d sozial abgrenzbares Phänomen, das in beiden Hinsichten strukturiert ist, aber dank seinem einheitlichen System über die Kriterien der kommunikativen Kohärenz verfügt. Soziale Veränderungsschübe (Besch 1972) verändern auch das areale Bild, was man in den Sprachinseln noch prägnanter feststellen kann als im Altland, da sie zum Sprachwechsel führen können (vgl. Hutterer 196 1, bes. 64 ff.). Aber auch rein areale Veränderungen führen soziale Veränderungen in der Sprache herbei, etwa Verbäuerlichung einer sozial höher stehenden Ausgleichsform wie vielfach in den Sprachinseln der Slowakei (vgl. Hutterer 196 7, 402 ff.) oder eine auch sprachlich relevante Anpassung an ein neues Areal wie diese in der Entstehung einer ‘Fischersprache’ mit ungarischem semantischlexikalischem Hintergrund im Rahmen der deutschen Mundart von Erwin/Örvényes am Plattensee sichtbar wurde. Beide Aspekte setzen sich gegenseitig voraus und treten in der ‘sozio-dialektalen Dimension’ der Sprache auf (Dahlstedt 1970, 12; Moulton 196 8, 46 0 f.): das Projekt Erp (Besch/Mattheier 1973) beweist, daß ihre einheitliche Untersuchung nicht nur eine theoretisch-prinzipielle Forderung ist, sondern sich auch in der binnendeutschen Praxis sehr gut bewährt, d. h. im Rahmen e i n e s L-Komplexes. Die Defizittheorie scheint sich im Deutschen nicht sonderlich bewährt zu haben: die Erforschung der Sprachinseln bestätigt sie auch nicht, sie muß also abgelehnt werden. ‘Sprachbarrieren’ etwa sind auch in mehrsprachigen Gebieten sekundär, und ihr Abbau setzt als Vorbedingung den Abbau der Sozialbarrieren voraus. Sozialer Aufstieg in Sprachinseln mit fremder Hochsprache führt im Normalfall nicht zur Diglossie sondern zum Doppelsystem ‘deutscher Dialekt u n d fremde Hochsprache’ bei dem Individuum wie in seiner Gemeinschaft, während der Abbau von ‘Sprachbarrieren’ an sich noch keinen sozialen Aufstieg bedeutet, wie dies z. B. an der Assimilation der meisten Zigeunergruppen in vielen Ländern nachgewiesen werden konnte. Wo die Mehrsprachigkeit eine ganze Gemeinschaft erfaßt, sind die verschiedenen Sprachsysteme ineinander verschachtelt und ihre Verquickung kann nicht als ‘Code-Switching’ erklärt werden. Dasselbe gilt von den Verquickungsfor-
9. Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologischeArbeitsprinzipien
men verschiedener Statusschichten im Falle der Diglossie, was in Grenz- bzw. Mischzonen in den Subsystemen zweier oder auch mehrerer Sprachen parallel vergleichbare Resultanten hervorbringt, z. B. identische oder analoge Lauterscheinungen (etwa in der Diphthongierung bei Ungarn und Deutschen im Burgenland, vgl. Imre 1971, 11; ähnlich in der Schwäbischen Türkei in Südungarn, vgl. Rónai 196 7, 715). Jiddisch ist das klassische Beispiel der multilingualen Dialektologie (vgl. Weinreich 1953; Hutterer 1975, 347 ff.). Dasselbe konnte Haugen (196 7, 332 ff., bes. 341) im Norwegischen nachweisen. Als allgemeine Erfahrung der Sprachinseldialektologie können folgende Konfrontationsmöglichkeiten zu binnendeutschen Arbeitsprinzipien (im weiteren Sinne) hervorgehoben werden: Die Trennung von Dialektologie und Sprachsoziologie bzw. Soziolinguistik kann nicht bestätigt werden. Daraus folgt, daß (a) die Dialektgeographie nur als eine der wichtigsten Methoden der Dialektologie bezeichnet werden kann; (b) die Polarisierungen ‘entweder/oder’ in Fragen der externen und internen Forschung nicht zweckentsprechend sind. Denn die Systembeschreibung ist nur sprachintern und synchron, die sinnvolle Erklärung der Genese des Systems erscheint jedoch erst mit der Aufdeckung der Diachronie der sowohl durch interne als auch externe Faktoren motivierten Regelmechanismen möglich; (c) die (nicht zuletzt selbstverschuldete) Einschränkung der Methodik auf die erreichbaren ältesten Formen der Ortsmundarten (Haugen 19 6 7, 332: the ‘one-foot-in-thegrave’ school) ebenso inkonsistent ist wie die einseitige Jagd nach Isoglossen, die nur eine areal-lineare Abgrenzung ermöglichen, ohne zur Bestimmung des Stellenwerts der kontrastierten Subsysteme in deren Gesamtsystem Entscheidendes beizutragen.
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9. Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologischeArbeitsprinzipien
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Claus Jürgen Hutterer, Graz
190
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
10. Deutsche Dialektologie und europäische Dialektforschung: wechselseitige Wirkungen 1.
2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
1.
Beziehungen zwischen deutscher und europäischer Dialektologie im größeren Zusammenhang Topolinguistik Sprachgeographie Lehnwörter und Grenzgebiete Interlinguale Dialektforschung Soziolinguistische und sprachsoziologische Aspekte Besondere Kontaktmöglichkeiten Abwägung Literatur (in Auswahl)
Beziehungen zwischen deutscher und europäischer Dialektologie im größeren Zusammenhang
Die Beziehungen zwischen der deutschen und der europäischen Dialektologie sind nur eine Einzelerscheinung der generellen Verhältnisse, die die deutsche Sprachwissenschaft mit der aus andern Ländern ohnehin verbinden: zahlreiche europäische Dialektologen sind allgemein-sprachwissenschaftlich in Deutschland geschult worden. Viereck (196 8, 551) weist z. B. darauf hin, daß die meisten englischen Dialektmonographien vom Ausland angeregt worden sind und er nennt als Promotoren A. Brandl (Berlin) und W. Horn, der zuerst in Gießen und später in Berlin dozierte. Der englische Dialektologe J. Wright ist in Deutschland durch die junggrammatische Schule gegangen; er hat bei Osthoff in Heidelberg promoviert (Viereck 1968, 549). Die Ideen Weisgerbers über den Einfluß der Muttersprache auf das Denken, und indirekt also die von W. von Humboldt, haben in der niederländischen Dialektologie Anerkennung gefunden (vgl. Weijnen 1939, 8 ff.). Die Wortfeldtheorie, die in den Niederlanden schon früh bei den Dialektologen aus der Schule van Ginnekens eingeführt wurde (vgl. van Ginneken 1954, III ff. und van den Hombergh-Bot 1954), ist, wie Hildebrandt (1973, 35) bemerkt, vor allem in Deutschland und zwar speziell von Trier entwickelt worden. Umgekehrt haben sich deutsche Dialektologen natürlich auch oft von ausländischen Nicht-Dialektologen beeinflussen lassen. Wiegand/Harras (1971) weisen im Zusammenhang mit dem DWA darauf hin, daß ih-
re Signemtheorie auf der Grundlage von de Saussure und Hjelmslev entwickelt worden ist. Sowohl Trubetzkoys Phonologie als auch (aber in geringem Maße, vgl. Veith 1975, 75) Chomskys transformationell-generative Grammatik, sowie verschiedene Studien von amerikanischen und englischen Soziolinguisten (Bernstein mit seiner Sprachbarrierentheorie und seinen Bemerkungen über ‘restricted code’, Fishman mit seinem ‘compound’ und ‘coordinate’ Bilingualismus, Ferguson mit seinen Ideen über Diglossie (wobei der eine Kode dem andern übergeordnet ist), haben, der eine früh, der andere später, die Aufmerksamkeit der deutschen Dialektologen auf sich gezogen. Was die Soziodialektologie betrifft, sei auf Kufner, Hartig und Kurz, Oevermann, Ammon, Steger, Besch verwiesen (vgl. hierzu Ammon 1972). Während im allgemeinen auffällt, daß die deutsche Dialektologie erst sehr spät die Prinzipien und Methoden der Phonologie übernommen hat (Hartig/Keseling 196 8, 156 weisen darauf hin, daß dies für das Niederdeutsche erst 196 0 mit Foerste anfängt), bildet die bairische hierzu eine Ausnahme, da Pfalz schon 1936 die Phonologie seines heimatlichen Dialektgebietes beschrieb (193 6 , 9—19). Pfalz hat davon profitiert, daß er in Wien mit Trubetzkoy (als Kollegen) persönlichen Umgang hatte. Umgekehrt hat auch Trubetzkoy die Daten von Pfalz verwendet (vgl. Trubetzkoy 1931, 101; 102 und Trubetzkoy 1939, 112). Ein anderer Ausländer, bei dem Pfalz in die Lehre gegangen ist, war der Niederländer van Wijk, einer der ersten, die die Phonologie in die niederländische Sprachwissenschaft eingeführt haben. Auf dessen Anregung entwickelte Pfalz seine Lehre von den ‘Reihenschritten’ als dem gleichsinnigen Wandel von Lauten mit gemeinsamen Merkmalen (vgl. Freudenberg 1968, 58—59 und Art. 7). Ein andersartiges, aber dennoch in diesem Zusammenhang zu erwähnendes Verhältnis finden wir bei nicht-deutschen Etymologen, die sich der deutschen Dialektwörterbücher bedienen. So verweist Torp in seinem Neunorwegischen Etymologischen Wörterbuch, das übrigens auch den ganzen von Aasen und Ross gesammelten norwegischen mundartlichen Wortschatz in seine
10. Deutsche Dialektologie und europäische Dialektforschung:wechselseitige Wirkungen
Etymologie einbezieht, sehr häufig auf schweizerdeutsche und andere süddeutsche Parallelen. Ohne Zweifel hat er das Schweizerdeutsche Idiotikon gründlich geprüft und als Anregung genommen (vgl. Bandle 196 2, 306—307). Nur entfernt mit all diesem vergleichbar ist der Einfluß, den der Niederländer Wassenbergh für sein Idiotikon Frisicum von Zaupsers ‘Versuch eines baierischen und oberpfälzischen Idiotikons’ aus dem Jahre 1789 erfahren hat. Dieser Einfluß steht außer Zweifel. Aber während Zaupser die Aussprache des einfachen Mannes aufzeichnete und nicht die verfeinerte der Einwohner der Hauptstädte, sagt Wassenbergh ausdrücklich, daß er nur die Sprache derjenigen heranziehen wolle, die nicht dem Bauernstande angehören und sich nicht der alten friesischen Landessprache bedienen (vgl. Kloeke 1920, 80—92).
2.
Topolinguistik
Schon in der vor-geolinguistischen Periode haben deutsche Dialektologen die ausländischen beeinflußt. Das Werk J. A. Schmellers über die bayerischen Dialekte aus den Jahren 1821 und 1827 bis 1837 ist in den Niederlanden genauso wie das von Bopp, Grimm und Pott schon von Behrns für dessen Studie über die twentischen Vokale aus dem Jahre 1840 studiert worden (vgl. Goossens 196 8, 182). Kurz darauf, 1850, nannte de Jager Schmellers Werk ein Vorbild für jeden Dialektforscher (Kloeke 1920, 85). Weiters hat die deutsche Sprachforschung eine wichtige Rolle gespielt bei der Anlage und Sammlung von Dialekttexten. Der Drang, Dialekttexte zu veröffentlichen, ist nach Goossens (196 8, 180—181) als solcher im Anfang zum guten Teil von Deutschland aus angeregt. Winkler (1874) erwähnt wie die Lektüre von Stalders Buch aus dem Jahre 1819 über die schweizerische Dialektologie mit seinen Übersetzungen der Parabel des verlorenen Sohnes bei ihm das Verlangen geweckt hat, etwas Derartiges für die niederländischen, niederdeutschen und friesischen Dialekte zusammenzustellen. Solche Sammlungen verbanden übrigens in mehr als einer Richtung: So hat der Niederländer Halbertsma in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an Firmenichs ‘Germaniens Völkerstimmen’ mitgearbeitet, einer Sammlung vornehmlich deutscher Dialekttexte. In den 1854 erschienenen dritten Teil wurde auch
191
eine große Anzahl niederländische Texte aufgenommen. In zwei Briefen hat Halbertsma übrigens Firmenich ausführliche Auskünfte gegeben (Kloeke 1920, 84). Auch die nordniederländischen Dialektmonographien aus den Jahren um 1900, die das Germanische als Ausgangspunkt nahmen, sind, wie Goossens (196 8, 185 und 1977a, 288) bemerkt, nach deutschem Modell entstanden. Sie kommen aus der Schule te Winkels, der mit der deutschen Germanistik gut vertraut war. Die Idee einer mentalité primitive, herausgearbeitet von dem Franzosen LévyBruhl, von Naumann (1925) i n die deutsche Mundartforschung eingeführt, von Bach (1934) übernommen und von Löffler (1974) aufs neue erwähnt, ist über die Arbeiten Naumanns, Strohs und Bachs auch bei den niederländischen Dialektologen, vor allem durch van Ginneken (1943) und Weijnen (1941) bekannt gemacht worden. Einen besonderen Platz in der internationalen Bekanntheit nimmt Engels Werk ‘Der Fränkische Dialekt’ (1881—1882) ein. Das Werk ist zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt worden, aber es hat in der marxistischen Sprachwissenschaft die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Im Jahre 1935 ist es zum erstenmal mit einer russischen Übersetzung in der UdSSR veröffentlicht worden. Dadurch ist es in der slawischen Dialektologie bekannt geworden. Es wird zitiert bei Avanesov (1949) in dessen Skizze einer russischen Dialektologie und als einziges Werk eines deutschen Dialektologen in der bulgarischen Dialektologie bei Stojkov (1962, 27 und 38). Einen Übergang zur sprachgeographischen Methode unternimmt der Niederdeutsche Jellinghaus, der als erster eine Karte der niederländischen Dialekte veröffentlichte (1892). Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß das Schweizerische Idiotikon auch Gilliéron angeregt hat. In seiner Besprechung der ersten Lieferung schreibt Gilliéron (1881, 154): „Quand la France, un peu plus soucieuse de son riche patrimoine linguistique, exécutera-t-elle une oeuvre analogue? On tarde bien à l’entreprendre; tarder plus encore, ce serait la rendre impossible“.
3.
Sprachgeographie
Groß ist vor allem der Einfluß der deutschen Dialektologie in der Sprachgeographie gewesen. Dies trifft besonders auf Wenker zu,
192
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
dessen Art und Weise, in der die 40 Sätze, die er von deutschen Schullehrern übersetzen ließ, um so das Material für seinen Deutschen Sprachatlas zu erwerben, in andern Ländern weitergewirkt haben. Als Frings und Vandenheuvel während des Ersten Weltkrieges bei flämischen Kriegsgefangenen ihre Dialektumfrage durchführten, fungierten diese Sätze als Basis des Fragebogens. Auch bildeten sie in niederländischer Übersetzung 1934 den dritten Fragebogen, der vom Dialektausschuß der Königlichen Niederländischen Akademie der Wissenschaften in Amsterdam (vgl. Vragenlijsten 196 0, 3—5) ausgeschickt wurde. Die Verwendung dieser Sätze wurde begründet mit der Tatsache, daß die Karten des Deutschen Sprachatlasses, vor allem hinsichtlich des an die Niederlande grenzenden Gebietes Deutschlands eine Anzahl Erscheinungen aufweisen, die auch unter den niederländischen Dialekten angetroffen werden. Ein anderes Land, das diese Sätze übernommen hat, ist Dänemark. Schon im letzten Viertel des 19. Jh. wurden Wenkers Sätze von den Lehrern in Viöl im dänischen Dialekt wiedergegeben (vgl. Andersen 196 8, 320). Auch K. Bock hat für seine Studie über das Niederdeutsche auf dänischem Substrat im Jahre 1933 von diesen 40 Sätzen Gebrauch gemacht (vgl. Andersen 196 8, 338). Ausdrücklich stellt Bandle (196 2, 296 ) weiter Wenkers Einfluß fest in Norwegen, wo J. Storm, der als Professor in Oslo von 1873 bis 1912 die Dialektforschung organisierte, im Jahre 1882 zwei Wörterverzeichnisse aufstellte, zunächst ein kürzeres von 300 Wörtern und später ein längeres von 4000, wonach er später wieder, 1886 , noch eines von 2000 zusammenstellte, das als das beste dann auch das Instrument geworden ist, das fast die ganze norwegische Dialektforschung verwendet hat und das auch gegenwärtig noch benutzt wird. Hoff (196 8, 422) sagt ausdrücklich, daß diese ‘Kortere Ordliste’ auch für den Norwegischen Dialektatlas verwendet wird. Auch in Schottland hat es zunächst danach ausgesehen, daß es in diese Richtung gehen würde, aber seine Dialektologie war damals offenbar an solchen Arbeiten noch nicht interessiert. Ellis hat nämlich in den achtziger Jahren dort auf Wenker aufmerksam gemacht. Er war sehr beeindruckt von Wenkers Idee, die Ergebnisse der Dialektforschung kartographisch anzubieten, wobei das Material aus 40 Sätzen, aufgetrennt in
274 ‘linguistic facts’, untersucht für Zehntausende von Orten, effektiv dargeboten werden sollte. Aber unmittelbare Folgen hat das für Schottland nicht gehabt, denn als man 193 6 den Gedanken eines Schottischen Sprachatlasses aufs neue aufnahm, wählte Orr den ‘Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz’ zum Vorbild (vgl. Mather/ Speitel/Leslie 1975, 6 ). Die jüngste Generation aber ist dennoch unter den Einfluß der Marburger Schule gekommen. Mather/Speitel (1975) und Speitel/Mather (196 8) beziehen sich auf den DSA und den DWA, weiters auch auf die württembergischen Dialektologen Fischer und Haag. Zum Einfluß der deutschen auf die ungarische Sprachgeographie haben wahrscheinlich folgenden Umstände beigetragen: „In Ungarn [...], an der Universität Debrecen, bestand [...] unter der Leitung des Professors Richard Huss ein Sprachatlas-Institut, das zum Studium und Kartographieren der siebenbürgisch-deutschen Mdaa. entstanden ist und auch die Herstellung eines luxemburgischen Sprachatlasses sich zum Ziele gesteckt hat. Da in diesem Institute die nötigen Hilfsmittel schon zur Verfügung standen, ist nichts natürlicher, als daß die planmäßige Forschungsarbeit auch in bezug auf die ungarischen Mdaa. von hier ausgehen mußte“ (Papp 1929, 312). Papp hat den Ungarischen Sprachatlas denn auch auf Anregung von Huss entworfen; er hat selber erklärt, daß die ungarischen Sprachatlassätze nach dem Muster der Wenkerschen Sätze zusammengestellt worden waren (Pop 1950, 1036). Die Generalisierung bei Bach (1934, 15) der Wenkers Karten epochemachend nennt, nicht nur für die Erforschung der deutschen Mundarten, sondern auch für die Beschäftigung mit den Mundarten aller Länder, mag übertrieben sein, dennoch ist ihr Einfluß groß gewesen. Dies gilt übrigens nicht nur für den DSA selbst, sondern auch für alles, das damit zusammenhing. Das Vorbild der ersten Teile der Reihe ‘Deutsche Dialektgeographie’, den lokalen Monographien einen kleinen sprachgeographischen Anhang beizufügen, hat z. B. in Norwegen, in der Forscherin Hoff (vgl. Hoff 1946 und Bandle 196 2, 303—304) und in belgischen Doktorund Lizentiatsabhandlungen Nachfolge gefunden. Namentlich in Belgien ist fast das ganze Sprachgebiet mit dieser Art von Studien erfaßt worden (vgl. Goossens 1977a, 298 und 196 8, 186 ). Eine davon ist von Pauwels (1958) zu einer beeindruckenden Mono-
10. Deutsche Dialektologie und europäische Dialektforschung:wechselseitige Wirkungen
graphie über den Dialekt von Aarschot ausgearbeitet worden. Sehr stark ist der Einfluß namentlich auf die Sprachgeographie der Niederlande und Flanderns gewesen. Grootaers, Professor in Löwen, hat sich seit der Zeit, als er sich in dieser Stadt niederließ (Goossens 196 8, 193), intensiv mit der deutschen Dialektologie beschäftigt; Goossens (1977 a, 294) verweist dazu auf eine Liste von ihm rezensierter Bücher bei Grootaers (1950, 22—30). Im besonderen ist seine Betrachtung über die Dialektgeographie in deutschem und niederländischem Sprachgebiet (siehe Grootaers 1921, 193) zu nennen. Kloeke, später Professor in Leiden, studierte in Hamburg und promovierte in Leipzig über den Dialekt von Finkenwerder. Seine Habilitationsschrift ‘De Hollandsche Expansie’ verteidigte er bei Borchling (Goossens 1977 a, 294). Für Schrijnen braucht nur sein 1920 erschienenes Werk ‘De Isoglossen van Ramisch in Nederland’ erwähnt zu werden. Dieser Niederländer hatte übrigens schon in früheren Arbeiten mehrere in Deutschland bekannte Isoglossen, wie die Uerdinger-Linie und die Benrather-Linie in den Niederlanden und Belgien weitergezogen. Man findet die betreffenden Arbeiten verzeichnet bei Goossens (1977 a, 129—130; s. auch Goossens 1968, 189). Auch van Ginneken, der das Handbuch von Bach so hoch schätzte, daß er von ihm sagte, er hätte es gerne selber verfaßt, soll hier erwähnt werden. Weiter nenne ich hier noch Heeroma, Schüler von Kloeke, der auch in Marburg studiert hat und sich deshalb als ein Schüler Mitzkas verstand, und der daneben als Professor für Niedersächsische Sprach- und Literaturwissenschaft in Groningen eine Vereinbarung über den Austausch von Forschungsassistenten mit Wesche in Göttingen getroffen hatte. Auch der Flame Goossens, studierte und habilitierte in Marburg; er veröffentlichte sogar ein Buch über deutsche Dialektkunde (Goossens 1977). Eine enge Verbindung zur deutschen Dialektforschung findet man weiter in den Arbeiten der niederländischen Dialektologen Roukens und Weijnen. In Schweden widmete Rooth schon früh (1931) der deutschen Dialektologie eine Betrachtung. Umgekehrt haben die niederländischen und belgischen Dialektologen die deutsche Dialektologie nicht sonderlich beeinflußt. Die Sprachbarriere darf dazu beigetragen haben, aber es gibt Ausnahmen. Von Schrij-
193
nen wurden einige onomasiologische Artikel bei Pessler (1929, 75) zitiert. Van Ginneken lieferte Material für einen Artikel, den Frings unter dem Namen beider publizierte. Weiter ist zu erwähnen, daß Heeroma in seinem Sprachatlas von Nordostniederland auch immer wieder einen großen angrenzenden niederdeutschen Teil auf den Karten verzeichnet. Natürlich machen die deutschen Gelehrten, die sich mit den Hollandismen im Osten Deutschlands beschäftigen, wie Teuchert und Kieser, von niederländischen Dialektstudien intensiven Gebrauch. Auch merkt Sonderegger (196 2, 11) an, daß er für die Einteilung seiner Bibliographie bei Meertens und Wander wertvolle Anregungen gefunden habe. Als Kloeke (1920, 88) schrieb, daß die niederländischen Werke, die er in seiner Bibliographie verzeichnet, dem deutschen Forscher methodisch wenig Neues bringen, galt das zwar für seine Zeit, aber bestimmt nicht für später. Denn mittlerweile hat ja der flämische Dialektologe Goossens eine kurze Deutsche Dialektologie (1977) vorgelegt. Nicht nur die Art und Weise der Beschreibung, sondern auch die metalinguistische Erklärungsmethode, setzte sich in anderen Ländern durch. Es wäre bestimmt übertrieben, die ganze metalinguistische Erklärung und namentlich den ganzen Expansionsgedanken als von deutscher Herkunft zu erklären — für die französischen Dialekte hatte man ja auch schon von alters her auf den Einfluß von Paris hingewiesen — aber das steht nicht im Gegensatz dazu, daß die flämischen und niederländischen Expansiologen Grootaers (man denke an seine Studie über die Bezeichnung der Kartoffel), Kloeke und Heeroma (letztere haben — wie schon bemerkt — auch in Deutschland studiert) und wahrscheinlich auch te Winkel, ihre expansiologischen Methoden in Deutschland (oder an deutschen Vorbildern) entwickelt haben (Goossens 1977 a, 294; Goossens 1968, 203; 205). Namentlich hat die große Bedeutung, die Frings mit der ganzen rheinländischen Schule den feudalen Grenzen beimaß, auch die niederländischen Dialektologen veranlaßt, für den Verlauf der Isoglossen andere Ursachen als die der alten Stammesunterschiede zu suchen. Der Begriff Trichterwirkung ist vermutlich zuerst von Becker in der deutschen Dialektologie entwickelt worden. Weiter hat Foerste als erster mit ‘schlauchartigen Gebieten’ und ‘unruhigen Linien’ gearbeitet.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Goossens hat die Idee der Trichter weiter ausgearbeitet und Weijnen hat die beiden Auffassungen von Foerste weiter verbreitet (vgl. Weijnen 1977, 15—17 und 28). Mehr materiell betrachtet hat der bekannte Artikel von Wrede (1924), in dem er das ganze Westgermanische für ursprünglich Ingwäonisch erklärte, und das Hochdeutsche als ein gotisiertes Ingwäonisch betrachtete, den Antrieb zu einer großen Anzahl höchst interessanter Studien gegeben, in denen vor allem von niederländischer Seite Heeroma und von dänischer Seite Jörgensen aktiv mitgewirkt haben. Nicht weniger gilt das für die ‘Schärfung’. Seitdem die rheinländische Schule das Studium dieses Phänomens eröffnete, ist die Literaturliste auf etwa hundert Titel (Löffler 1974, 97) angewachsen, in der selbstverständlich auch das niederländische Sprachgebiet mit den Arbeiten von Schrijnen, Dols, Grootaers, Leenen, Goossens, Jongen, aber auch in entferntem Zusammenhang das Dänische durch Andersen einbezogen ist. Es hat also auch deutlich eine Wirkung in umgekehrter Richtung gegeben. Der von Weijnen vorgeschlagene Ausdruck ‘Heteronyme’ für die auf onomasiologischen Karten auftretenden Korrespondenzen in den verschiedenen Punkten des Netzes setzte sich z. B. bei Löffler (1974, 113 ff.) und Wiegand/Harras (1971, 72) durch. Weijnens Pfeilchenmethode (vgl. Weijnen 1946 ) ist von Hard (196 6 , 42) indirekt den deutschen Dialektologen vorgestellt worden. Es sieht jetzt danach aus, daß Goossens mit seiner ‘Strukturellen Sprachgeographie’, aber vor allem mit seiner ‘Deutschen Dialektologie’ großen Einfluß auf die deutsche Forschung nimmt. Seinen Begriff ‘Problemgebiete’ d. h. Verbreitungsgebiete bestimmter linguistischer Phänomene, die je nach Fragestellung und Untersuchungsziel verschieden sein können, findet sich bei Löffler (1974, 145) wieder. Außerdem wurden seine an niederländischen Dialekten entwickelten Auffassungen über die Definition von Dialekt auch von der deutschen Dialektologie übernommen. Andere von ihm entwickelte Begriffe wie ‘Relikttrichter’, ‘Krone’ und ‘Reliktkrone’, aber auch methodische Verfeinerungen, z. B. eine deutlichere Form von Bezugskarten, sind von ihm in der deutschen Forschung verbreitet worden (vgl. Goossens 1969). Neben der niederländischen weist die deutsche Sprachgeographie auch französi-
sche und andere romanische Einflüsse auf. An erster Stelle sind da Gilliéron und seine Schule zu nennen. Nicht nur ist der Atlas Linguistique de la France (ALF) jedem deutschen Dialektologen ein Begriff, auch die Hauptthemen Gilliérons sind allgemein bekannt und von den deutschen Dialektologen mit Gewinn übernommen worden. Das Prinzip der Vermeidung von Homonymie (Homonymenflucht), von Gilliéron am gallus/ cattus-Beispiel entwickelt, ist von der deutschen Dialektologie auf das Verhältnis Fliege: Flöhe angewandt worden. Aufgrund von Gilliérons Betrachtungen über ‘Pathologie et thérapeutique verbales’, die besagen, daß geringer Wortumfang zum Untergang führt, hat Will die rheinhessische Verstärkung von heint, aus ahd. hî-nacht, zu heint nacht erklärt. Man beachte weiter die Hinweise auf den ALF, auf Gilliéron, auf Gamillscheg/Spitzer, auf das Werk über die Namen des Löwenzahns bei Bach (1934, 21 f.; 105—110), Schirmunski (196 2, 89 f.), bei Wiegand/Harras (1971 passim), Pessler (1929, 72—74), bei Kratz (1970, 2; 11 f.). Auch die Artikel von Meyer, Paris und Gauchat über das Vorhandensein oder nicht Bestehen von Dialekten und Dialektgrenzen sind Bach bekannt. Man kann nicht anders sagen, als daß sich die deutsche Dialektologie ausführlich an der französischen orientiert hat. Bestimmt ist ein Teil der Expansionsterminologie ohne die deutsche Forschung entwickelt worden. Unmittelbar zitiert findet man Bartolis Werk über die ‘norme areali’ selten. Aber um den Einfluß einer Großstadt anzugeben, nimmt Bach (1934, 6 5) Dauzats Karte der französischen Bezeichnungen für ‘Stute’ auf. Weitreichend ist auch der Einfluß der deutschschreibenden, romanistischen Dialektologen gewesen, die oft die Romania als Ganzes in ihre Betrachtungen einbezogen. Pessler sowohl als Bach zitieren Werke von Jaberg, Jud, von Wartburg und Scheuermeier (vgl. Pessler 1929, 24; 72; 74; 75 und Bach 1934, 21). Sonderegger (196 8, 21) nennt den Sprachatlas der deutschen Schweiz übrigens nicht unbeeinflußt von der älteren schweizerischen Romanistik, was laut Anmerkung auf den AIS bezogen ist. Schwer wiegt die Rückwirkung, die Frings und die Reihe ‘Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen’ erhalten haben. Hinsichtlich der zahlreichen neuen geplanten, abgeschlossenen oder in Arbeit be-
10. Deutsche Dialektologie und europäische Dialektforschung:wechselseitige Wirkungen
findlichen regionalen deutschen Sprachatlanten, von Siebenbürgen, Luxemburg, Tirol, Thüringen, Schlesien, dem Westjiddischen usw. bemerkt Schmitt (196 4, 13), daß das Marburger Institut damit auf Anfänge Wenkers und anderer Forscher zurückgreift, sich aber auch den Arbeiten der modernen Romanistik (man denke an die Reihe Atlas linguistiques de la France par régions in Frankreich und die regionalen Atlanten in Spanien und Rumänien) anschließt. Dieser romanistische Einfluß scheint hier wichtig zu sein.
4.
Lehnwörter und Grenzgebiete
Selbstverständlich hat das Studium der Lehnwörter und das Studium der wechselseitigen Beziehungen in den Grenzgebieten auch eine Beeinflussung zur Folge gehabt. Das gilt für Frings in seiner Germania Romana, aber, wie Sonderegger bemerkt, auch im besondern für die alemannische Mundartforschung. Zahlreich sind die schweizerischen Studien, die die Entlehnung aus dem Romanischen in das Deutsche und umgekehrt behandeln. Bei Sonderegger (196 2) findet man in diesem Zusammenhang z. B. Schmid, Blocher, Gauchat, Winteler, Gossen, Moulton, Kessler, Szadrowsky, Thöny und Kreis: „Die Lehnbeziehungen mit dem Romanischen betreffen in verschiedener landschaftlicher Staffelung besonders die Alpenmundarten, wobei auch die romanische Forschung — vorbildhaft Jakob Jud — die alemannische Mundartforschung bereichert hat“ (Sonderegger 1968 S. 27). In Dänemark arbeitete andererseits Brøndum-Nielsen (1927; bes. 75 u. 83) wiederholt bei seiner Behandlung der dänischen Dialekte mit Hinweisen auf Ergebnisse der deutschen, insbesondere der niederdeutschen Dialektologie, so z. B. nach Grimme und Reis im Zusammenhang mit dem e/ǝAbfall oder im Zusammenhang mit den Qualitäten des r. In den Niederlanden beschäftigten sich mit solchen Randproblemen vor allem Roukens und Heeroma. An der Grenze zu den slawischen Dialekten konnte Bellmann 1971 sein Material aus slawistischen Dialektstudien holen.
5.
Interlinguale Dialektforschung
Von romanistischer Seite sind schon sehr früh interlinguale Karten gezeichnet worden.
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So veröffentlichte von Wartburg eine Karte über die Bezeichnungen für ‘Schaf’ in den romanischen Sprachen und Jaberg eine Karte ‘Beinbekleidung’ in der Zentralromania, aber die Idee eines Atlasses der Wortgeographie von Europa stammt von dem Deutschen Pessler (s. Pessler 1929, 6 9 f.). Er gab in diesem Aufsatz deutliche Richtlinien: „Eine Wortgeographie Europas können wir nur fordern, wenn wir einigermaßen die verschiedenartigen Ursachen der Wortverbreitung überblicken und uns daraus eine ungefähre Vorstellung davon machen können, was für wortgeographische Bilder uns Europa bieten kann. Eine Wortgeographie von Europa können wir nur fordern, wenn wir imstande sind, aus der unübersehbaren Fülle der Wörter diejenigen von vornherein auszuwählen, deren geographische Erforschung die damit verbundene große Mühewaltung wirklich lohnt“ (Pessler 1929, 73). Als Begriffe, die bestimmt abgefragt werden müssen, nennt er: ‘Frosch’, ‘Regenwurm’, ‘Schachtelhalm’, ‘Maulwurf’, ‘Tannenzapfen’, ‘Schaf’, ‘Pflug’, ‘Egge’, ‘Doppeljoch’, ‘Deichsel’ (Pessler 1929, 74). Er illustriert dabei sein Plädoyer mit von Wartburgs Karte ‘Schaf’. Für die praktische Ausarbeitung der interlingualen Idee hat aber Frings eine größere Bedeutung gehabt als Pessler, schon allein dadurch, daß er interlinguale Karten zeichnete und sich dabei nicht auf die Lexikologie beschränkte. Er hat z. B. eine Karte von „g” in den germanischen Sprachlandschaften gezeichnet, eine Karte die namentlich im Ausland von Werner (196 8, 506 ) genannt wird, des weiteren Lautparallelen zwischen Deutsch und Französisch studiert, aber vor allem hat er in seiner ‘Germania Romana’ die Grundlage für eine auf dialektologischer Basis stehende Behandlung der romanischen Lehnwörter im ganzen Westgermanischen geschaffen. Er ist damit zum Vorbild für Weijnens Behandlung solcher Lehnwörter im niederländischen Sprachgebiet geworden (Weijnen 1975, 189—299). In seiner Einleitung zu der von ihm gegründeten Reihe ‘Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen’ skizziert Schmitt noch weitere Möglichkeiten: „lateinische Lehnwörter übergreifen Romania und Germania bis in die Slavinia hinein“. Diese Reihe verfeinert und vervollständigt denn auch das von Frings gezeichnete Bild. Frings Schüler Lerchner hat im beschränkteren Bereich, nämlich nur dem der Germanistik, sehr ausgedehnte interlinguale
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Wortforschungen betrieben. Er folgt gleichartigen Gedankengängen (das Arbeiten mit Räumen) wie Frings in seiner ‘Germania Romana’ und gibt auch für die Ingwäonismen eine richtige interlinguale Erklärung. Weitere interlinguale Forschung findet man bei Bellman (Deutsch und Slawisch) und Foerste (Niederdeutsch und Niederländisch). Außerhalb der eigentlichen Sprachgeographie sammelte Baader, ein Deutscher, der in den Niederlanden einige Zeit Professor war, Material für ein OstniederländischWestfälisches Wörterbuch. Von niederländischer Seite haben van Ginneken und Weijnen interlinguale Karten und Studien erarbeitet. Für die slawischsprachigen Länder wurde mit einem allgemeinslawischen Atlas, dem Obščeslavjanskij Lingvističeskij Atlas (O. L. A.) angefangen. Besonders das deutsche Sprachgebiet wurde im Ausland bei interlingualen Studien mit berücksichtigt, von Heeroma, u. a. mit einem ‘Taalatlas van Oost-Nederland en aangrenzende gebieden’ und von Roukens (1937). Wie sich die Idee eines europäischen Sprachatlasses entwickelte ist ausführlich skizziert in Weijnen (1975, 3—6 ). Nach dem Deutschen Pessler haben die Prager Phonologen, aber auch mehrere nicht-deutsche Dialektologen, die Idee gehegt. Von deutscher Seite hat Bach (1934, 152—153) schon früh die europäische Idee übernommen. Er verwendet Ausdrücke wie ‘Menschheit i n Europa’ und bespricht den Anfang ihrer Entwicklung. Bei der komparativ breit aufgefaßten Studie „erkennen wir ... alteuropäische Gemeinsamkeiten ... also europäische Sonderart“. Später schrieb Schmitt (196 4, 17): „Während die Regionalatlanten sich mehr einer mikroskopischen Sprachforschung nähern, erweist sich immer dringlicher das Hinausgehen über die europäischen Nationalsprachen im makroskopischen Unternehmen eines Europäischen Sprachatlasses, der bereits vorhandene oder in Arbeit befindliche National- und einzelsprachige Sprachatlanten ergänzen und zusammenfassen muß“. Da sich nun die Verwirklichung eines europäischen Dialektatlasses in vollen Gange befindet (Weijnen 1975 ist davon ein deutlicher Beweis), arbeiten daran auch deutsche Dialektologen an wichtigen Stellen mit. Namentlich die automatische Datenverarbeitung ist den Dialektologen der Bundesrepublik Deutschland anvertraut worden.
6.
Soziolinguistische und sprachsoziologische Aspekte
Von alters her hat man sich in Deutschland stark für die Rolle der Mundart in der Schule interessiert. Weijnen (1939, bes. 6 1—6 2) hat hierzu eine umfassende Übersicht der deutschen Literatur dem niederländischen Publikum bekannt gemacht. I m Laufe der siebziger Jahre hat dieses Problem die Niederländer sehr eingehend beschäftigt (vgl. Hagen/Vallen/Stijnen 1975, 1—24). Es sind auch deutsche Dialektologen und andere Linguisten gewesen, die in den fünfziger und sechziger Jahren das Problem der Zwischenform zwischen Mundart und H ochsprache, also das von Regionalsprache, Halbmundart usw. angeschnitten haben: Moser (196 1), Debus (196 2), Henzen (1954), von Polenz (196 0; siehe auch Grosse 1972). Auch ihre Arbeiten haben außerhalb des deutschen Sprachgebietes Anklang gefunden. Ejskjær (196 4, 18—27) beruft sich auf diese Studien ebenso wie auf französische und schwedische, wo sie auch in Dänemark eine ‘regionalsprog’ und ‘lokalt vestjysk regionaldansk’ feststellt. In den letzten Jahren zeigt die deutsche Dialektologie ein tiefgehendes Interesse für das schichtenspezifische Verhältnis zwischen den erwähnten Polen Dialekt und Hochsprache, die Frage nach den spezifischen Techniken für die Erforschung der Stadtdialekte, die Überzeugung, daß viele Konflikte mit der Sprachnorm auf dialektale Beeinflussung zurückgehen. Dabei werden auch ausländische Dialektologen wie die Französisch schreibenden Moscovici, Humbert und Reichstein, aber vor allem Englisch schreibende und besonders amerikanische Dialektologen wie Kurath, Labov, R. I. McDavid, J. F. Wright, Shuy usw. herangezogen. Zu Unrecht bleiben aber die italienischen Dialektologen unberücksichtigt (vgl. Ammon 1972, Wiegand/Harras 1971, Löffler 1974).
7.
Kontaktpunkte
Eine besondere Erwähnung verdient das Marburger Forschungsinstitut für deutsche Sprache. Als Arbeitsstätte für den Sprachatlas ist es allgemein bekannt geworden. Nachdem seit den ersten Aktivitäten Wenkers der Einfluß lange Zeit fast nur in der Fachliteratur spürbar wurde, haben seit den zwanziger Jahren vor allem unter Leitung von Mitzka,
10. Deutsche Dialektologie und europäische Dialektforschung:wechselseitige Wirkungen
der 1933 die Leitung nach Wrede übernahm, zahlreiche ausländische, besonders junge Dialektologen, oft und lange an diesem Institut gearbeitet, um sich mit den dort entwickelten und angewandten Methoden besser vertraut zu machen und von den Mitteln zu profitieren, die das Institut bietet. Unter ihnen befinden sich J. Bělič (Tschechoslowakei), B. Cazacu (Rumänien), J. Goossens (Belgien), C. Grassi (Italien), K. Heeroma (Niederlande), H. Holiolčev (Bulgarien), R. Jongen (Belgien), A. Key (Niederlande), E. Kühebacher (Italien), K. Manherz (Ungarn), D. G. Negulescu (Rumänien), J. P. Ponten (Niederlande), R. Ris (Schweiz), A. Šojat (Jugoslawien), T. Teaha (Rumänien), A. Thudt (Rumänien), P. Wiesinger (Österreich). Allein im Jahre 196 4 studierten nach Schmitt (196 4), 40 ausländische Dialektologen am Institut: Belgier, Brasilianer, Finnen, Franzosen, Großbritannier, Israelis, Italiener, Japaner, Jugoslawen, Kanadier, Luxemburger, Niederländer, Österreicher, Polen, Schweden, Schweizer, Tschechoslowaken, Ungaren und Gelehrte aus den USA. Natürlich traten dabei Wechselwirkungen auf. Methodische und technische Weiterentwicklungen aus dem Ausland wurden in die Institutsarbeit eingebracht. (Es sei auch vermerkt, daß L. E. Schmitt in Groningen tätig gewesen war). Aber das trug noch mehr dazu bei, das Institut zu einem Vorbild gleichartiger wissenschaftlicher Einstellungen in der ganzen Welt zu machen. Weiter organisierte das Marburger Institut unter Leitung von L. E. Schmitt Symposien, Dialektologentagungen und Kongresse mit vielen ausländischen Dialektologen. Der zweite (und immer noch letzte) Dialektologenkongreß vom 5.—10. September 196 5 stellte einen vorläufigen Höhepunkt dar. Neben Marburg gibt es auch andere Institute mit internationalen Beziehungen zu verzeichnen: Göttingen, das vor allem mit dem Niedersächsischen Institut in Groningen Beziehungen unterhielt; Münster, das derartige Beziehungen hatte und wo seit langem Niederländisch gelehrt wird; Wien, wo zum erstenmal i n den deutschen Ländern die Phonologie betrieben wurde, ein Zweig, der dort immer noch blüht; Leipzig, wo Frings lehrte und wohin mehrere niederländische und belgische Dialektologen eingeladen wurden, und schließlich die Schweiz. Hier liegt nicht nur der Ausgangspunkt für die Dialektforschung der angelsächsischen Länder. Der
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englische Sprachatlas von H. Orton ging aus der Zusammenarbeit mit dem Anglisten und Erforscher der schweizerischen Dialekte (vgl. Viereck 196 8, 554) E. Dieth hervor. Kolb, der einen Atlas für das nördliche Englische zusammenstellte, nennt sich einen Schüler Hotzenköcherles (196 6 , 3), und auch Moulton suchte für seine allgemeinsprachwissenschaftlichen strukturellen Betrachtungen Material bei den schweizerdeutschen Dialektologen. Einen anderen Aspekt der deutschen Bereitschaft, fremde Einflüsse aufzunehmen, zeigen die vielen Übersichten ausländischer Dialektforschung, die, meistens in deutscher Sprache, auf deutsche Anregung hin verfaßt und in Deutschland erschienen sind. Ein länger zurückliegendes Beispiel liefert Kloeke (1920, 80—92), der übrigens auch in Hamburg tätig gewesen war, mit einer Übersicht der niederländischen Dialektstudien. Schulte Kemminghausen (1942) machte während des Zweiten Weltkrieges eine Liste von niederländischen Dialektkarten. Am Anfang der sechziger Jahre gab Bandle (196 2, 289 f.) eine Übersicht über Stand und Geschichte der norwegischen Dialektforschung heraus. Kurz zuvor hatte Andersson (196 0) schon eine Übersicht der norwegischen Dialektwörterbücher in der gerade gegründeten Zeitschrift ‘Niederdeutsches Wort’ gegeben. Bei seinem achtzigsten Geburtstag im Jahre 196 8 wurde W. Mitzka mit einer zweibändigen Festschrift geehrt, in der u. a. die niederländische Dialektologie von Goossens (196 8, 108—208), die friesische von Århammar (196 8, 26 4—317), die dänische von Andersen (196 8, 319—347), die schwedische von Benson (196 8, 348—36 8) und Naert (196 8, 36 9—397), die norwegische von Hoff (19 6 8, 398—458) und Werner (19 6 8, 459—519), die schottische von Speitel und Mather (196 8, 520—541), die englische von Viereck (196 8, 542—56 4) und sogar die südafrikanische von Louw (196 8, 209—223) behandelt wurden. Eine gleichartige Funktion soll die geplante Beiheftreihe „Sprachatlanten“ der Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik erhalten, von der bis jetzt (196 9) nur der erste und einzige Teil erschienen ist. Eine besondere Erwähnung verdient Roedder (1926 , 281 ff.), der schon früh die deutsche Dialektologie in der angelsächsischen Welt bekannt machte. Darüberhinaus hat die ursprünglich russisch verfaßte Arbeit von Schirmunski (196 2) die deutsche Dialek-
I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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tologie in die slawische Sprachwissenschaft eingeführt. Auch haben einige Handbücher von Nicht-Deutschen über nicht-deutsche Dialekte stark dazu beigetragen, die Gedanken der deutschen Dialektologen zu verbreiten (Brøndum-Nielsen 1927, Weijnen 1958 und Goossens 1977). Es sei noch auf zeitgenössische italienische und spanische Dialektologen verwiesen: Cortelazzo kennt nicht nur die älteren atomistischen dialektgeographischen Werke von Wenker und Frings, sondern auch die phonologischen von Moulton und er interessiert sich ebenso für die deutsche soziolinguistische Literatur. Im Zusammenhang mit dem alten Problem der Regionalsprachen hat er Moser (1959) und Martin (1954, 6 —9) rezipiert. Hinsichtlich der Unterschiede zwischen protestantischen und katholischen Dialekte bezieht er sich neben Moser (1959) auf Weidlein (1953, 43—49) und Hard (196 6 ), welch letzteren er freilich auch kritisiert: Hard (196 6 , 6 —7) spreche sich über den Zusammenhang zwischen ethnographischen und Dialektgrenzen zu negativ aus. Alvar verweist im Zusammenhang mit dem Studium der ‘merged systems’ auf Pfalz (1925, 4) und Philipp (196 5; vgl. Alvar 1969, 26, 52). Umgekehrt wird die ausländische Dialektliteratur und namentlich die französische, die romanistische, die niederländische (in geringerem Maße die italienische, davon eigentlich fast nur der AIS) in den deutschen Handbüchern stark beachtet. Man sehe dazu z. B. Bach (1934) und, wenigstens für den niederländischen Einfluß, Löffler (1974). Goossens (1977 a) behandelt die deutschen Dialekte nach dem von ihm entwickelten Modell für die niederländischen Dialekte (Goossens 1977).
8.
Abwägung
Die Bedeutung der deutschen Dialektologie in Europa ist nicht zu allen Zeiten gleich gewesen. Wenn wir mit dem Werk Wenkers anfangen, werden wir sofort mit der Meinung von Kratz (1970, 1 ff.) konfrontiert, daß der Einfluß Wenkers und des Deutschen Sprachatlasses doch von dem Gilliérons und des ‘Atlas Linguistique de la France’ übertroffen werde. Das gilt für die Niederlande und die skandinavischen Länder nicht in gleichem Maße. In den Niederlanden überwiegt der deutsche Einfluß, und was z. B. Dänemark betrifft, überrascht uns
Brøndum-Nielsen (1927) mit dem hohen Niveau seiner Rezeption ausländischer Dialektforschung. Einerseits ist er vollständig mit den bekannten Arbeiten französischer Dialektologen vertraut: Rousselot, Gauchat, Tappolet, Tourtoulon, Brengier, Gilliéron, Millardet, Terracher, Dauzat, aber auch mit Ascoli, Wiegand, Jaberg und Jud. Er kennt auch die Diskussion über das Bestehen von Mundartgrenzen und die von Gilliéron und seiner Schule aufgespürten intern-linguistischen Ursachen. Andererseits weist er wiederholt auf die deutschen Dialektologen hin: Wenker, Wrede, Kauffmann, Fischer, Winteler, Tobler, Pessler, Bohnenberger, Haag und Teuchert. Er referiert dabei ausführlich über Fragen wie: sind die Lautgesetze ausnahmslos, sind die Dialekte auch mittels Wortgrenzen zu definieren, führen ihre Unterschiede auf alte Stammesunterschiede zurück — mit andern Worten: wie alt sind die Dialekte? — und integriert ihre Betrachtungen über Expansion und über den Einfluß natürlicher und u. a. kultureller, politischer, kirchlicher und konfessioneller Grenzen in die Behandlung der dänischen Dialekte. Ein anderes Land, in dem ein bestimmtes Gleichgewicht in der Bekanntheit mit der französischen und deutschen Dialektologie vorgefunden wird, ist die Sowjetunion (siehe z. B. Avanesov 1949, 291 ff., der in dem Kapitel über Sprachgeographie S. 291 ff. sowohl Wenker und Wrede [und Engels] als auch Gilliéron und Edmont nennt). Aber Tatsache ist auf jeden Fall, daß nicht die indirekte Methode Wenkers, sondern die direkte Methode des ALF in den weitaus meisten Ländern Nachfolge gefunden hat, z. B. für alle romanische und slawische (und keltische) Dialekte. Sogar der ‘Atlas linguistique et ethnographique de l’Alsace’ von E. Beyer und R. Matzen, dessen erster Teil 196 9 erschien, folgt in Methode und Aufbau dem französischen Typ (Löffler 1974, 32). Und war man in Schottland anfangs auch von Wenkers Methode angetan, so wurden und werden schließlich die Sprachatlanten der britischen Inseln nach der direkten Methode erstellt. Auch der ALE bevorzugt die direkte Methode (vgl. Weijnen 1975, 33). Natürlich hat auch die Tatsache, daß die Veröffentlichung des DSA so mühsam und spät zustande kam und schließlich wieder eingestellt wurde, während Gilliérons Atlas, besser geplant, schon 1910 fertig war, den letzten Endes größeren Einfluß des ALF zur Folge gehabt.
10. Deutsche Dialektologie und europäische Dialektforschung:wechselseitige Wirkungen
Im allgemeinen ist von direktem Einfluß der deutschen Dialektologie auf die romanische nicht viel zu verspüren. Wohl ist Gilliéron von dem Schweizerischen Idiotikon beeindruckt gewesen, aber wenn Bach (1934, 21) in Bezug auf Gilliéron und Edmont sagt: „Ihnen kamen die Erfahrungen des deutschen Unternehmens [gemeint ist der Deutsche Sprachatlas] bereits zugute“, hätte diese Behauptung doch wohl der Erläuterung bedurft. Schon im Anfang lagen die Prinzipien von Wenker, der seine Aktivitäten von der junggrammatischen Schule aus startete, und die Gilliérons, der vollauf Neolinguist war, sehr weit auseinander. Die großen Unterschiede in Methode (direkt — indirekt), Problemstellung (interne Faktoren — externe Faktoren; Verbindung mit der historischen Verkehrsgeographie) und studierter Sprachebene (Wortschatz — Laut- und Formenlehre) bewirkten, daß es zwischen Frankreich und Deutschland kaum zu einem Gedankenaustausch kam. Unbekanntheit des je anderen Werkes kann nicht als Erklärung angesehen werden, denn Kratz (1970, 12—13) weist darauf hin, daß der DSA schon 1883 von Kauffmann der Romanistik in Frankreich vorgeführt wurde und daß schon vor der Enquetierung für den ALF in Frankreich zwei indirekte Enqueten unternommen wurden, eine in Lothringen, von der Académie Stanislas in Nancy 1874 organisiert, und eine in zehn Departementen (4414 Gemeinden) der Gascogne, von E. Bourciez veranstaltet (vgl. Pop 1950, XXXVII und 302—303). Wie stark man sich aber in der deutschen Dialektologie auch etwas später noch des eigenen Wertes bewußt war, zeigt sich in einem Zitat von Bach (1934, 19): „Seit dem zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts hat dann Theodor Frings, der in Wrede seinen Meister verehrt, an rheinischen Verhältnissen arbeitend, die Interpretation der Atlaskarten zu einem glänzenden Höhepunkt geführt und die deutsche sprachgeographische Betrachtung würdig der bis dahin führenden französischen an die Seite gestellt“. Die Parteien hatten natürlich in gewissem Sinne alles voneinander zu lernen, aber sie sind durch ihr verschiedenes Interesse aneinander vorbeigelaufen. Erst später, als sich Frankreich wieder mehr von den Interessen Gilliérons (auch von seiner absoluten Verneinung des Bestehens von Dialekten und Dialektgrenzen) löste, gab es wenigstens die Möglichkeit für deutsche Beeinflussung.
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Übrigens wird in einem so aktuellen Buch wie das von Tuaillon (1976 ) nirgendwo von deutscher Forschung gehandelt. Umgekehrt waren aber schon zu Bachs Lebzeiten Gilliérons Methoden in Deutschland bekannt geworden. Es ist für die Konkurrenzmöglichkeiten der deutschen Dialektologie nicht nur unglücklich gewesen, daß sich zugleich mit der Schule von Wenker eine völlig anders geartete in Frankreich entwickelte, es ist auch nicht vorteilhaft gewesen, daß die deutsche Dialektologie sich, z. B. im Gegensatz zur niederländischen, so lange der Phonologie enthalten hat und sich im allgemeinen vom saussurianischen Strukturalismus fern hielt. So hatte sie auch der slawischen Forschung nicht viel zu bieten. Mit Recht bemerkt Goossens (1977, 140), daß die deutsche Dialektologie gerade dadurch, daß sie sich vom Strukturalismus fern hielt, in zunehmendem Maße isoliert wurde. Das wurde noch gravierender, als in der schweizerischen Romanistik u. a. Jaberg und Jud, aus der Schule Gilliérons, anfingen, die Sprachforschung mit Sache und Kultur zu verbinden und großräumig zu interpretieren. Erst als dies in Marburg Anklang findet und man dort zugleich den Schwerpunkt von der Lautgeographie auf die Wortgeographie verlegt (Mitzkas DWA) und Studien begonnen werden wie diejenigen, die die Reihe ‚Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen’ konstituierten, erlebt auch die deutsche Dialektologie eine neue Glanzperiode (Kratz 1970, 14). In dem Atlas Linguarum Europae spielt Marburg gerade dadurch, daß dort die automatische Verarbeitung des Materials stattfindet, wieder eine wichtige Rolle. Vor etwa zwanzig Jahren kam die europäische Sprachwissenschaft in den Einflußbereich der transformationell-generativen Methode, wobei das Interesse für die Dialektologie in den Hintergrund geriet, und als sich später die Soziolinguistik entfaltet, liegt in Deutschland der Akzent stark auf der Defizittheorie und der Forderung nach gesellschaftlicher Relevanz, was die monotopische Linguistik einseitig macht und die Sprachgeographie kaum berührt.
9.
Literatur (in Auswahl)
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10. Deutsche Dialektologie und europäische Dialektforschung:wechselseitige Wirkungen
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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Antonius A. Weijnen, Nijmegen
Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungen der Dialektologie im deutschen Sprachgebiet Zur Geschichte der dialektologischen Institutionen (von Ernst Bremer) Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsorganisation Von den ersten Mundartsammlungen zum Beinn der wissenschaftlichen Dialektologie Die Etablierung der deutschen Philologie an den Universitäten
1.4. 1.5. 2. 2.1. 2.2.
Die Gründung des Deutschen Sprachatlasses und der Wörterbuchkanzleien Schwerpunkte der organisatorischen Entwicklung zwischen den Weltkriegen Gegenwärtige Forschungseinrichtungen (von Walter Hoffmann) Einleitung, Abgrenzungen, Aufbau Überregionale Institute
11. Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungender Dialektologie im deutschen Sprachgebiet 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 3. 4.
1.
Regionale Institute Wörterbuchkanzleien Projekte und ähnliche Organisationsformen Übergreifende Einrichtungen Bibliographische Hinweise zu Tonbandaufnahmen deutscher Dialekte Literatur (in Auswahl)
Zur Geschichte der Wissenschaftsorganisation der Dialektologie
1.1. Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsorganisation Ausgehend von den Anregungen und Forderungen, die Schottelius und Leibniz vortrugen, werden allgemein die Anfänge der Beschäftigung mit den Mundarten am Ende des 17. Jh. gesehen (vgl. Raumer 1870, 234; Socin 1888, 328; Schirmunski 196 2, 57; Niebaum 1979, 345 f.). Vernachlässigt wird die vorausgehende ein- und zweisprachige Lexikographie mit mundartlichem Wortgut, obwohl diese durchaus im Rahmen der Beschäftigung des gebildeten Bürgertums mit den Mundarten zu sehen ist (vgl. Scholz 1933; Grubmüller 196 7; Drosdowski 196 8). Vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des 17. Jh. ist die deutsche Sprache in ihren mundartlichen Existenzformen gelegentlich bereits Gegenstand des schulischen Unterrichts, wird dann (Negativ-)Objekt der Diskussionen der Sprachgesellschaften und erst im 19. Jh. Aufgabe universitärer Forschung und Lehre, und spiegelt somit den Werdegang der ‘Germanistik’ wider. Über eine Institutionalisierung der Dialektologie in ihrer Frühzeit ist wenig zu erfahren, doch sollte die Existenz von Mäzenen oder Auftraggebern vor den ersten nachweislich öffentlich geförderten Mundartwörterbüchern nicht voreilig ausgeschlossen werden. Es muß schon hier unterschieden werden zwischen Arbeiten, die auf Eigeninitiative und nebenberuflich von einer Vielzahl von z. T. nicht einmal auf dem Stand der Sprachwissenschaft ihrer Zeit arbeitenden Mundartforschern entstehen, und jenen, die auf der Grundlage eines Arbeitsauftrages gelegentlich finanzielle Unterstützung finden. Vollständigkeit des Überblicks könnte nur erreicht werden, wenn der Wissenschaftsbetrieb vom ausgehenden Mittelalter bis zur Etablierung der Germanistik zu Beginn des 19. Jh. umfassend untersucht wäre; hier kann vorerst auf einige jüngere Ansätze zurückgegriffen werden, die oft nur den ersten
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Schritt — die bibliographische Aufbereitung in räumlicher Eingrenzung — präsentieren (vgl. z. B. Burkhardt 1976 ; Baur 1978); eine die gesamte Entwicklung der Germanistik erfassende kritische Wissenschaftsgeschichte liegt nicht vor (vgl. Müller 1974, 1 ff.). In angemessener dokumentarischer Weise den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Dialektologie und ihrer kulturpolitischen Institutionalisierung aufzudecken, eine Sozialgeschichte der Dialektologie unter Zurückstellung der traditionellen Betrachtung einzelner Dialektologen und ihrer Schulen zu verfassen und in spezifischer Weise die Zusammenhänge zwischen Dialektologie und Geschichte sichtbar zu machen, ist noch nicht möglich, da die wichtigsten Zeugnisse nicht aufbereitet, viele allerdings durch zwei Weltkriege verschollen oder schwer zugänglich geworden sind (vgl. Art. 1). Die Geschichte der Wissenschaftsorganisation der Dialektologie läßt sich in fünf Phasen gliedern: 1. Die am Ende des 17. Jh. beginnende und sich im 18. Jh. in beträchtlichem Ausmaße fortsetzende Beschäftigung des gebildeten Bürgertums mit der Mundart, die sich in der Anlage von Glossarien und Idiotika erschöpft. 2. Die mit der Zurückdrängung der Landesuniversitäten bzw. der Entstehung moderner Universitäten einhergehende Entwicklung der wissenschaftlichen Mundartforschung (Verknüpfung der Forschungs- und Lehrinhalte in der deutschen Philologie mit der etymologischen Betrachtungsweise der Mundarten; erste staatliche Förderung der Mundartforschung). 3. Die Phase der überregionalen Förderung durch Staat und Akademien (flächendeckende Institutionalisierung der Mundartforschung — insbesondere durch Gründung des Deutschen Sprachatlasses und der Wörterbuchkanzleien). 4. Dominanz des preußischen Instituts Deutscher Sprachatlas (Wörterbuchkartell); breite Förderung durch Akademien, die aber in diesem Aufgabenbereich vermehrt durch Länder und Provinzialverwaltungen unterstüzt werden. Versuche der Integration der Mundartforschung in die Kulturpolitik des Dritten Reiches. 5. Wiederbeginn der Mundartforschung nach dem 2. Weltkrieg unter völlig veränderten organisatorischen Möglichkeiten: die unterschiedliche Bereitschaft der einzelnen Länder der Bundesrepublik Deutschland, die Förderung der Akademien und Provinzialverbände fortzusetzen; wachsende Förderung durch die neugegründete Deutsche Forschungsgemein-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
schaft; Fortsetzung der Förderung durch die Akademien in der DDR; Kontinuität in der Schweiz; Wiederaufnahme der Akademieförderung (unter Hinzutreten eines Nationalfonds) in Österreich; Übernahme der Projekte im Elsaß und in Lothringen durch die französische Zentralregierung. 1.2. Von den ersten Mundartsammlungen zum Beginn der wissenschaftlichen Dialektologie Die Beweggründe, die das Sammeln des Materials der Volksmundarten einleiten, können vorerst nur vermutet werden: Sicherlich wird sowohl bürgerliches Interesse als auch fürstlicher Repräsentationsdrang das Entstehen kleinstaatlicher Idiotika unterstützt haben; nachweisen läßt sich eine öffentliche Förderung im Sinne eines Auftrages und seiner Finanzierung erstmals beim Schmellerschen Bayerischen Wörterbuch. Wie hier der Repräsentationsanspruch des bayerischen Königtums (vertreten durch den Kronprinzen) mitverantwortlich zeichnet, so werden später preußische Reichsideologie und Reichsanspruch bei der Entstehung des Wenkerschen Sprachatlasses des deutschen Reiches zu berücksichtigen sein. Sich überhaupt mit der deutschen Sprache als Objekt zu beschäftigen, ist im 17. Jh. nicht Aufgabe der zahlreichen Landesuniversitäten, an denen nicht einmal in deutscher Sprache gelehrt wird, sondern der Sprachgesellschaften, jener akademieähnlichen Vereinigungen des gebildeten Bürgertums, deren Interesse kaum auf die „sozial deklassierten Mundarten“ (Henne 1975, 11 f.), vielmehr auf Normierung der deutschen Literatur- und Wissenschaftssprache gerichtet war. Es ist daher kein Zufall, daß die Bemühungen um die Mundarten von einzelnen Schulmännern und nur in wenigen Fällen von den Nachfolgeorganisationen der großen Sprachgesellschaften ausgehen. Eine kleine Sammlung bairischen mundartlichen Wortschatzes, die 16 89 der Regensburger Ludwig Prasch herausgibt, steht bereits in der Tradition spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Sachund Universalglossare, deren Ziel durchaus schon die Vermittlung mundartlichen Wortgutes ist und die in der Umgebung städtischer Schulen entstehen. Eine breitere Tätigkeit entfaltete sich in der 1. Hälfte des 18. Jh. im niederdeutschen Raum. Adelung nennt 1782 bereits rückblikkend die Idiotika von Richey, Strodtmann,
Bock und das Bremisch-Niedersächsische Wörterbuch (Adelung 1782, 89); das Fehlen oberdeutscher Idiotika wird wenig früher von anderer Seite beklagt (Allgemeine deutsche Bibliothek 1770, 390). Die deutsche Sprache hatte als Unterrichtsobjekt in den städtischen Schulen an Bedeutung gewonnen: Alle Autoren der niederdeutschen Idiotika sind Schulmänner; Richey, Gymnasialprofessor in Hamburg, gibt 1743 das Idioticon Hamburgense heraus; ihm folgen 1756 der Osnabrücker Rektor Strodtmann (Idioticon Osnabrugense) und 1788 der Gymnasiallehrer Weddigen (Westfälisches Idioticon; Niebaum 1979 a, 16 8 ff. weist nach, daß die westfälische Mundartlexikographie bis zur Mitte des 19. Jh. von der Initiative der Schulmänner bestimmt wird). Diese Anfänge des Studiums der deutschen Mundarten stehen im Interesse und in der öffentlichen Förderung anderen Projekten nach, — wie z. B. dem Vorhaben eines Deutschen Wörterbuches nach französischem Vorbild, das von der neu gegründeten Historisch-Philologischen Klasse der Berliner Societät (1711) auf Wunsch des Königs geplant wird (Harnack 1900, 144); es verwundert nicht, daß vor diesem Hintergrund Frisch sein Glossarium Marchium nicht hat erscheinen lassen (Powitz 1959, 53). Neben diesen Bemühungen einzelner Schulmänner stehen jene Idiotika, die auf Betreiben und unter Mitarbeit ihrer Mitglieder von den Nachfolgern der Sprachgesellschaften, den Deutschen Gesellschaften, herausgegeben werden: Das Idioticon Prussicum von Bock (1759; 1743 Beginn der Materialsammlungen durch die Königlich-deutsche Gesellschaft in Königsberg) und der 176 7—1771 in 5 Bänden erscheinende ‘Versuch eines bremisch-niedersächsischen Wörterbuches’ der bremischdeutschen Gesellschaft; zu diesen Initiativen gehört auch der Wunsch der Berner und Basler Deutschen Gesellschaften nach einem helvetischen Idiotikon (Socin 1888, 439 f.). Zusammenfassend wird man zwar vorerst Raumer bestätigen müssen, daß im 18. Jh. „die Beschäftigung mit den Volksmundarten eine förmliche Liebhaberei der Gebildeten“ (Raumer 1870, 246 ; vgl. Socin 1888, 441) wird, — allerdings nur jener, die sich nicht einem „deutschsprachigen Humanismus“ (Henne 1975, 12) verschreiben. Die Absicht, eine überregionale Betrachtung der Mundarten zu fördern, bleibt der Versuch zweier unabhängiger Gelehrter: F. K. Fulda (1773 und 1788) und V. Popowitsch (1780).
11. Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungender Dialektologie im deutschen Sprachgebiet
1.3. Die Etablierung der Deutschen Philologie an den Universitäten Die Wissenschaftsgeschichte der Dialektologie neigt dazu, die „wirklich wissenschaftliche” (Schirmunski 196 2, 59) Erforschung der deutschen Mundarten mit der Etablierung der Germanistik an den deutschen Universitäten beginnen zu lassen; so ist es nicht verwunderlich, daß als Begründer dieser wissenschaftlichen Dialektologie immer wieder J. A. Schmeller genannt wird, dessen erstes Werk (Schmeller 1821) 11 Jahre nach Einrichtung der ersten Hochschullehrerstelle für deutsche Sprache und Literatur (1810 Berlin) und 7 Jahre, bevor er selbst an der Münchener Universität ein Extraordinariat erhält, erscheint. Mitte des 18. Jh. mehren sich die Stimmen, die der deutschen Philologie einen Platz an den Universitäten eingeräumt sehen wollen (vgl. Müller 1974, 17 ff.); 1801 fordert ein Anonymus „die Errichtung einer Professur für die Teutsche Sprache“, die „auch die Kultur der alten Teutschen Sprachdialekte“ (Müller 1974, 21) berücksichtigen sollte. Die Anonymität dieser Forderung läßt ihre kulturpolitische Brisanz erkennen; erst die durch die Gründung der Universität Berlin — als Ergebnis einer Emanzipationsbewegung des Bildungsbürgertums — eingeleitete Bildungsreform ermöglichte auch eine staatlich sanktionierte wissenschaftliche Beschäftigung mit den Mundarten, die sich zunächst auf die historisch-etymologische Klärung erstreckt. Mit Schmellers Werk beginnt jene Förderung der Dialektologie, die als akademischstaatlich zu bezeichnen ist, da hier zum ersten Mal eine Institution auftritt, die zwischen Mundartforscher und Geldgeber gutachtend vermittelt: die Bayerische Akademie der Wissenschaften. Sie erreicht Schmellers Beurlaubung vom Militärdienst, eine zweijährige Bezuschussung seiner Arbeiten mit 500 Gulden jährlich durch den Kronprinzen (Raumer 1870, 16 0; Ruf 1954, 44* f.); eine akademische Kommission, die man als die erste Wörterbuchkommission bezeichnen darf, erhält halbjährliche Berichte. Diese nachweisbare staatliche Finanzierung eines dialektologischen Unternehmens gestaltet nicht nur die äußeren Forschungsbedingungen des Mundartforschers günstiger, sondern zwingt ihn — dem staatlichen Anspruch folgend —, sämtliche Mundarten des bayerischen Königreiches in seinen politi-
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schen Grenzen zu erfassen — ein Vorgang, der sich auf ähnlichem Hintergrund bei der Institutionalisierung des Deutschen Sprachatlasses in der 2. Hälfte des Jh. wiederholt. Schmellers Unternehmen macht in organisatorischer Hinsicht zunächst keine Schule. Bis in die 80er Jahre des Jh. läßt sich vielmehr ein Desinteresse an größeren dialektologischen Projekten bei Gesellschaften, Akademien und staatlichen Institutionen konstatieren. Denn keiner der ersten Fachvertreter auf den neu eingerichteten Lehrstühlen der Germanistik hat sich vorrangig mit der Erforschung der Mundarten beschäftigt. In Tübingen z. B. beginnt der 3. Lehrstuhlinhaber A. Keller (nach Michaelis und Uhland) 1854 mit der Sammlung des schwäbischen Wortschatzes (Burkhardt 1976 , 137 f.), auf dessen Grundlage H. Fischer (ab 1904) das schwäbische Wörterbuch herausgibt. Eine Ausnahme bildet in dieser Phase die Schweiz; nach dem ‘Versuch eines Schweizerischen Idiotikons’ durch F. J. Stalder (1806 ) beginnt F. Staub 186 2 auf Anregung und mit Unterstützung der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich mit den Vorarbeiten zu einem Schweizerdeutschen Wörterbuch (1. Lieferung 1881). 1.4. Die Gründung des Deutschen Sprachatlasses und der Wörterbuchkanzleien Ein entscheidendes Datum wird in mehrfacher Hinsicht das Jahr 1876 , da in diesem mit der Arbeit J. Wintelers über die Kerenzer Mundart eine Reihe von Monographien über Orts- und Regionalmundarten einsetzt (vgl. Art. 2), die keinen Zusammenhang mit Wissenschaftsorganisation oder Wissenschaftspolitik erkennen lassen: Sie dokumentieren, daß es der junggrammatischen Schule nicht gelingt, sich institutionell so zu repräsentieren wie es dem als Gegenpol zu diesen Arbeiten begonnenen ‘Deutschen Sprachatlas’ gelingt. Die Geschichte des Deutschen Sprachatlasses, dessen Begründer Wenker ebenfalls 1876 mit der Versendung seiner zunächst 42 Sätze in den Rheinlanden begann, ist in ihrem Institutionalisierungsprozess noch nicht hinreichend beschrieben worden (vgl. Art. 3). Feststellen läßt sich: Wenker erkennt, daß ein einzelner in einem dialektgeographischen Projekt die Fülle des Materials in angemessener Zeit nicht bewältigen kann. Dies führt dann zu dem Dilemma, nur durch Ausdehnung des Untersuchungsraumes auch finanzielle und personelle Unterstützung zu gewinnen, andererseits aber vor immer wachsenden Materia-
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
lien zu stehen. Die Preußische Akademie der Wissenschaften, an die er sich zur Beurteilung und Finanzierung wendet, fordert ihn 1879 auf, seine Untersuchung auf das gesamte Preußen und einige angrenzende kleinere Staaten auszudehnen und bietet ihm eine Teilbeurlaubung von seinem Marburger Bibliotheksdienst und geringe finanzielle Unterstützung für Hilfskräfte an (vgl. Martin 1934, 9 ff.). Die Akademie weist 1885 eine weitere Förderung als für sie zu hohe Verpflichtung ab, obwohl Wenker wissenschaftliche Unterstützung von Akademiemitgliedern (Müllenhoff, Scherer), politische vom Marburger Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (Ennecerus) erhält. So bleibt ihm der Weg zum Reichskanzleramt, den ihm die in Gießen tagende Philologenversammlung empfiehlt. Dieser führt 1887 zur Verstaatlichung und nochmaligen Ausdehnung des Unternehmens (Süddeutschland wird einbezogen); das Projekt wird dem preußischen Kultusministerium unterstellt (zeitweise dotiert aus dem kaiserlichen Dispositionsfond), das Material wird Eigentum des Staates. Dieser Vorgang ist bisher nicht hinreichend gewürdigt worden; für das Unternehmen ist er folgenreich, da die Veröffentlichung der Karten von staatlicher Seite bis zu dem auf 20 Jahre berechneten Abschluß aller Arbeiten zurückgestellt wird; es liegt die Vermutung nahe, daß den Trägern des Werkes die frühzeitige Veröffentlichung eines gesamtdeutschen Sprachatlasses nicht opportun erschien (Martin 1934, 35 läßt die Beweggründe im Dunkeln; Schirmunski 196 2, 74 neigt dazu, die Akademie allein verantwortlich zu machen). Ob Wenkers Werk unter den Bedingungen eines „junkerlich-bourgoisen Staates“ (Schirmunski 196 2, 76 ) zu leiden hatte, mag vorerst dahingestellt bleiben; er selbst gab schon 1885 der Hoffnung Ausdruck, daß der Sprachatlas „anregen wird zu fruchtbaren systematischen Lokalforschungen“ (Verhandlungen der Philologenversammlung 1886, 192). Die universitäre Mundartforschung, wie sie vor allem im südwestdeutschen Sprachraum im letzten Viertel des Jh. in Tübingen (K. Bohnenberger, H. Fischer), in Straßburg (E. Martin), in Freiburg (M. Lexer) existiert, zeigt nur selten inhaltliche und keine organisatorische Verknüpfung mit dem Deutschen Sprachatlas. Die frühen Bemühungen, den Deutschen Sprachatlas zur Zentralstelle der deutschen Mundartforschung zu machen,
sind sicherlich wegen konträrer Positionen junggrammatisch beeinflußter Forscher, aber auch wegen der Zurückhaltung vieler nicht-preußischer Wissenschaftler gegenüber einer sich straff organisierenden preußischen Kulturpolitik nicht erfolgreich. So treten z. B. 1893 die Wiener, Münchener, Leipziger und Göttinger Akademien zu einem Kartell zusammen, dem sich die Berliner Akademie nicht anschließt (Meister 1947, 127 f.). Entscheidend gewirkt hat jedoch, daß nunmehr von staatlicher Seite in größerem Umfang Mundartforschung gefördert wird; seit der Jahrhundertwende sprießen die Gründungen weiterer Unternehmen — insbesondere von Wörterbuchkanzleien — geradezu aus dem Boden. Sie seien hier nur stichwortartig aufgelistet. Vorreiter sind die Grenzgebiete des deutschen Sprachraumes: 1890 Wörterbuch der elsässischen Mundarten (sechsjährige staatliche Finanzierung); 1896 staatliche Kommission für das Wörterbuch der Luxemburger Mundarten; 1898 eine ebensolche für das Wörterbuch der deutsch-lothringischen Mundarten. Ab 1900 ist eine rege Aktivität der großen Akademien zu beobachten: 1900 Gründung des Phonogrammarchivs durch die Wiener Akademie, des ersten von der Akademie selbst gegründeten und getragenen Instituts (Meister 1947, 285 ff.; 337); 1911 Einsetzung einer Kommission der Wiener Akademie zur Herausgabe eines Österreichisch-Bayerischen Wörterbuchs (seit 1931 ‘Kommission zur Schaffung des Österreichisch-Bayerischen Wörterbuches und zur Erforschung unserer Mundarten’), Subvention des Unternehmens mit jährlich 5000 Kronen (Wörterbuchkanzlei); 1911 Errichtung einer Kanzlei an der Münchener Akademie zur Erarbeitung eines gesamtbayerischen Wörterbuchs; das Akademienkartell ermöglicht eine gleichartige Durchführung der Arbeiten in Wien und München (Meister 1947, 141 f). Ähnliche Aktivitäten entfaltet die Berliner Akademie seit der Jahrhundertwende: 1903 Gründung der Deutschen Kommission an der Preußischen Akademie: Die Erarbeitung von Mundartwörterbüchern wird programmatisch aufgenommen; 1904 Beginn mit einem Wörterbuch des Mittelfränkischen (Rheinisches Wörterbuch, J. Franck); 1911 Gründung der Wörterbuchkanzleien für das Preußische, das Brandenburg-Berlinische und das Hessen-Nassauische Wörterbuch. Neben diesen Akademieprojekten beginnt, gefördert von der Gesellschaft für schleswig-
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holsteinische Geschichte, 1903 das Schleswig-Holsteinische Wörterbuch mit seiner Sammeltätigkeit; 1907 entsteht an der Universität Jena ein Institut für Mundartforschung mit dem Ziel eines thüringischen Wörterbuchs; im gleichen Jahr beginnt A. Götze auf der Grundlage der Vorarbeiten F. Kluges und W. H. Meyers mit einer systematischen Sammeltätigkeit für ein Badisches Wörterbuch, das allerdings erst 1919/20 ministeriell unterstützt wird; die Städte Frankfurt und Hamburg schließlich gründen 1914 bzw. 1917 ihre Wörterbuchkommissionen. 1.5. Schwerpunkte der organisatorischen Entwicklung zwischen den Weltkriegen Ein erheblicher Teil der genannten Arbeiten wird während des Weltkrieges unterbrochen; ihre Weiterführung kann aber generell bereits für das Jahr 1919 — wenn auch mit begrenzten Mitteln — angesetzt werden. Der Deutsche Sprachatlas erhält jetzt seine schon vor dem Weltkrieg angestrebte dominierende Bedeutung: 1921 wird dies mit der Erweiterung des Namens in ‘Zentralstelle für den Sprachatlas des Deutschen Reiches und Mundartforschung’ dokumentiert (Finanzierung durch das Reichsinnenministerium); ebenfalls 1921 wird auf Initiative dieser Zentralstelle das Wörterbuchkartell ins Leben gerufen, dessen Vorstufe in einer ersten Zusammenkunft der Wörterbuchleiter im Jahre 1913 zu sehen ist und dessen Verwaltungssitz Marburg wird (Akten 1913—34); wesentliche Aufgaben sehen die Mitglieder (1925: 19, 1934: 40 Wörterbuchkanzleien) in der Abgrenzung der Wörterbuchbezirke (die politischen Grenzen werden akzeptiert), im Austausch der Fragebogen, in der Vereinheitlichung von Arbeitsgrundlagen (z. B. Kartenmaßstäbe) und in der Erstellung einer möglichst vollständigen Bibliographie zur Mundartforschung. Es gelingt den seit 1921 in zweijährigem Abstand in Verbindung mit der Versammlung der deutschen Philologen und Schulmänner tagenden Wörterbuchkonferenzen, die Provinzialverwaltungen für ihre Unternehmen zu interessieren und von diesen finanzielle Zuwendungen zu erhalten. 1925—27 erfolgen unter Mitwirkung des Kartells weitere Wörterbuchgründungen: Das Pommersche durch die Berliner Akademie, das Südhessische durch die Historische Kommission für Hessen, das Mecklenburgische durch Landesregierung und Landesuniversitätsgesellschaft; die Münchener Akade-
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mie drängt 1925 auf die Wiederaufnahme der Arbeiten am Wörterbuch der Pfalz; das Sächsische Wörterbuch beginnt ein Jahr später mit seiner Sammeltätigkeit. 1927/28 kommt es zur Gründung des Wörterbucharchivs für Westfalen bzw. des Westfälischen Wörterbuchs durch die Volkskundliche Kommission im Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volkskunde. Eine besondere Bedeutung erlangt während dieses Zeitraumes die Förderung der regionalen Dialektforschung: Wie das Beispiel eines preußischen Landes- bzw. Provinzialinstitutes, des heutigen Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn zeigt, bleibt es den regionalen Instituten diesen Typs vorbehalten, die Verbindung dialektologischer Arbeiten mit der Volks- und Namenkunde herzustellen; an diesem Institut wird 1920 eine Abteilung für Mundartforschung und Volkskunde installiert (finanziert durch das Land Preußen und die Provinzialverwaltung der Rheinprovinz); angegliedert wird ihm das bereits 1904 gegründete Rheinische Wörterbuch, 1930 wird das Rheinische Flurnamenarchiv aufgenommen. Die Entwicklung nach 1933 zeitigt eine noch weitergehende Zentralisierung der Mundartforschung in der ‘Reichsgemeinschaft der deutschen Volksforschung — Abteilung Volkssprache’, da fast sämtliche nicht fest etatisierten Aufwendungen für die Dialektologie von dieser Institution gesteuert bzw. vergeben werden; Bestandteil der Abt. Volkssprache ist das Wörterbuchkartell, eine Förderung ist in der Regel von der Zustimmung des Kartellvorsitzenden (ab 1934 W. Mitzka) abhängig. Die Machtstellung des Deutschen Sprachatlasses und des von ihm nun vollends vereinnahmten Wörterbuchkartells demonstriert eindrücklich die von Mitzka 1934 angekündigte Bereisung der Wörterbuchkanzleien (Akten 1913—34). Es liegt in der Konsequenz dieser Entwicklung des Wörterbuchkartells, das ohnehin sich durch den Marburger Einfluß wortgeographischen Fragestellungen unterworfen hatte, daß das überregionale wortgeographische Unternehmen des Deutschen Wortatlasses 1939 in Marburg begonnen wird (Wiegand/Harras 1971). Unabhängig von dieser Zentralisierung der Dialektologie im Deutschen Reich beginnt 1935 der Sprachatlas der deutschen Schweiz — finanziert durch den schweizerischen Nationalfond — mit seiner Aufnahmetätigkeit.
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Es bleibt zu klären, inwieweit die Schulenbildung in der Dialektologie Einfluß auf die organisatorische Beschaffenheit dieses Wissenschaftszweiges gehabt hat; die sich inhaltlich gegenüberstehende Marburger und Wiener Schule etablieren sich wissenschaftsorganisatorisch am erfolgreichsten, und ähnliches läßt sich auch von den sich ihnen ganz oder teilweise anschließenden (Leipzig bzw. Zürich) konstatieren, während die eher vermittelnde und sich volkskundlichen Fragestellungen am frühesten öffnende Schwäbische Schule geringe organisatorische Ausweitung zeigt. Feststellen läßt sich aber auch, daß die großen dialektologischen Schulen sich nur in relativ wenigen Fällen in ihren Organisationsformen dem universitären Bereich angeschlossen haben, obwohl es oftmals eine Personalunion zwischen der Leitung eines dialektologischen Instituts und einem Lehrstuhl (für deutsche Sprache bzw. deutsche Philologie) gab und gibt. Dies hat rückblickend nicht nur inhaltliche Gründe gehabt, auch staatlich-kulturpolitische Interessen haben dafür gesorgt, daß dieser Wissenschaftszweig aus den ‘Gelehrtenrepubliken’ ferngehalten wurden; dies scheinen die wissenschaftlichen Initiatoren dialektologischer Forschungsprojekte nicht immer rechtzeitig erkannt zu haben, so daß sie — ohne Rückhalt der Universitäten — dem Eingreifen ihrer Mäzene und Förderer oft hilflos ausgesetzt waren.
2.
Gegenwärtige Forschungseinrichtungen
2.1. Einleitung, Abgrenzungen, Aufbau Der Beginn der Institutionengeschichte der deutschen Dialektologie kann in der Gründung des Sprachatlas 1876 gesehen werden. Bis auf diese Zentralstelle des Marburger Sprachatlas und das Deutsche Spracharchiv ist die Dialektologie im deutschsprachigen Raum regional organisiert. So war noch vor der Gründung des Sprachatlas 186 2 in Zürich die Kanzlei des Schweizerischen Idiotikon durch Friedrich Staub eingerichtet worden. Regionale Wörterbuch- und dialektgeographische Atlasarbeit sind dann Schwerpunkte der dialektologischen Forschung geblieben. Unter dem Aspekt der Kulturmorphologie wurde 1921 das Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande in Bonn gegründet. Alle diese Forschungsrichtungen — Dia-
lektgeographie, historische Dialektologie, Dialekt-Lexikographie — sind heute institutionell als Universitätsinstitute bzw. als deren Abteilung oder innerhalb von Akademien oder regionalen Verwaltungskörperschaften organisiert. Die moderne Ausrichtung der Dialektologie auf soziolinguistische und sprachpragmatische Fragestellungen schlägt sich bisher fast nur in Form von zeitlich befristeten Projektforschungen nieder, die zumeist den vorhandenen dialektologischen Institutionen oder den germanistischen Universitätsinstituten angeschlossen sind. Neben diesen Organisationsformen gibt es auch einige bedeutendere Vereine, die sich meist auf großregionaler Basis in Publikationen und Tagungen mit Dialektologie befassen (vgl. 2.6.). In den Geschichts- und Heimatvereinen schließlich sind öfters Abteilungen vorhanden, die Mundartpflege, Namen- und Volkskunde betreiben bzw. fördern. Für diesen Bereich ist auf die Zeitschriften dieser Vereine zu verweisen, die im übergreifenden Organ ‘Blätter für deutsche Landesgeschichte’ periodisch referiert werden. International ist die Organisation der Dialektologie nur bis zum II. Internationalen Dialektologenkongress Marburg 196 5 gediehen, ein dritter ist nicht in Vorbereitung. Auf nationaler wie internationaler Ebene spielt sich die wissenschaftliche Kommunikation der deutschen Dialektologie eher auf interindividueller Basis, z. T. im Rahmen linguistischer Verbände und Kongresse ab. Spezielle Dialektologenkongresse fanden mehrfach in Marburg statt (196 4, 1977, vgl. dazu Kehr 196 4, van Hoof/ Ganser 1978, Kehr 1978), ohne daß eine Institutionalisierung auf überregionaler oder gar internationaler Basis überhaupt intendiert zu sein scheint. Hinzu kommt Forschungstätigkeit im Rahmen anderer Institutionen, v. a. germanistischer Seminare. Zu diesen nicht unbedeutenden Aktivitäten vgl. 2.5.7. ff. Der bedeutende Anteil von allein oder in ‘Nebentätigkeit’ arbeitenden Forschern wie auch der nicht zu unterschätzende von ‘Laienforschern’ wird hier nicht erfaßt. Nachfolgend werden sämtliche etatisierten bzw. organisatorisch abgrenzbaren dialektologischen Institutionen vorgestellt. Die Einzelvorstellung der Institutionen erfolgt alphabetisch nach ihren Standorten innerhalb der eben genannten Organisationstypen (überregionale Institute, regionale Institute, Wörterbuchkanzleien, Projekte und ähnli-
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ches, übergreifende Einrichtungen, besonders Vereine). Ein 1977 ausgesandter Fragebogen bildet dafür die Grundlage. Seitdem eingetretene Veränderungen wurden soweit wie möglich berücksichtigt, so daß der Berichtsstand mit Ende 1979 angesetzt werden darf (Korrekturen und Ergänzungen an die Adresse der Autoren sind erwünscht.). Neben diesem teilweise ergänzten FragebogenMaterial wurde auf sekundäre Quellen, vor allem Berichte in dialektologischen Publikationen, zurückgegriffen. Die Institutionen der DDR können nicht behandelt werden, da keine Antworten eingegangen sind (vgl. ersatzweise Berichte 196 5 sowie Friebertshäuser 1976 , 1976 a, und Niebaum 1979 für einige Dialektwörterbuchstellen in der DDR). Nicht erfaßt sind weiterhin dialektologische ‘Abteilungen’ an volkskundlichen Forschungsstellen. Ausgeschlossen ist ebenfalls die namenkundliche Forschung, sofern sie nicht in dialektologische Einrichtungen integriert ist. Die Einzelvorstellung hat dann folgenden Aufbau: (1) Name (Abkürzung), Adresse, Leiter (2) Wichtige Daten zur Geschichte der Institution (3) Binnenstruktur (Träger, Personal- und Sachausstattung, Bestände, Publikationsorgane) (4) Zielsetzungen und Arbeitsgebiete (Themen, Organisationsformen, Methoden, Stand der Arbeiten, Publikationen) (5) Ggf. Hinweise auf Forschungen in Randgebieten, sonst: Literatur (statt (6)) (6) Literatur über die Institution. Zum Abschluß des Gesamtartikels werden unter Punkt (4) zur Ergänzung der Dokumentation und als Suchhilfe für Betroffene (bibliographische) Hinweise auf Standorte und (möglichst) Art von auf Tonträgern gespeichertem dialektologischen Datenmaterial gegeben. Dies geschieht in derselben Reihenfolge wie die Einzelvorstellung der Institutionen möglichst durch Angabe von Katalogen resp. Literatur zu diesem Material. Sonst werden die Angaben auf der Grundlage der Fragebögen oder anderer Unterlagen gemacht, die im Bedarfsfall durch direkte Anfrage bei den Institutionen selbst (Adresse in jedem Einzelartikel unter Punkt (1)) erweitert werden können. Benutzbarkeit des Datenmaterials kann im Normalfall vorausgesetzt werden.
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2.2. Überregionale Institute 2.2.1. Mannheim, Deutsches Spracharchiv (DSAv) (1) Deutsches Spracharchiv im Institut für deutsche Sprache, Friedrich-Karl-Str. 12, 6800 Mannheim. Leiterin: Dr. E d e l t r a u t K n e t s ch ke. (2) Das DSAv wurde 1932 von Eberhard Zwirner in Berlin am Institut für Hirnforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegründet. Bis 1970 war er Leiter des DSAv, 1971 Klaus Kohler, 1972—1976 Gerold Ungeheuer. 1971 wurde das DSAv dem Institut für deutsche Sprache inkorporiert. (3) Träger des DSAv ist das Institut für deutsche Sprache, das durch das Bundesministerium für Forschung und Technologie, das Land Baden-Württemberg und die DFG finanziert wird. Wiss. Mitarbeiterin ist Margret Sperlbaum. Hinzu kommt ein Toningenieur. Das DSAv besitzt ein Tonstudio mit entsprechenden Geräten. Ein Tonbandarchiv von 86 47 Aufnahmen (19 cm/sec in Vollspur) und die dazugehörigen Protokollbögen mit Sozialdaten der Informanten, sowie ca. 6 000 Vertextungen von ca. 4000 dieser Aufnahmen mit verschiedenen Transkriptionen — alles kann in Kopie bestellt werden — bilden den zentralen Bestand des DSAv. (4) Die Zielsetzungen des DSAv bestehen in der phonometrischen Grundlegung der Lautgeographie der deutschen Sprache sowie in der Dokumentation aller Regiolekte und Varietäten der gesprochenen deutschen Sprache samt deren linguistischer Auswertung. Im Rahmen dieser Aufgaben sind die Isophonenberechnung der Quantität und die Vertextung von ca. 2500 umgangssprachlichen Tonbandaufnahmen abgeschlossen. Derzeit wird an der Vertextung der verbleibenden Tonbandaufnahmen, an einer Katalogisierung der vertexteten Aufnahmen und an einem Gesamtkatalog des Archivs, an linguistischen Auswertungen sowie an Untersuchungen zur Orthoepie der deutschen Hochsprache gearbeitet. Die Vertextungen werden in der Reihe ‘PHONAI. Lautbibliothek der europäischen Sprachen und Mundarten. Deutsche Reihe’ publiziert, Untersuchungen in den ‘Beiheften’ zu dieser Reihe. Die Zeitschrift ‘Phonetica’ wird vom DSAv mitherausgegeben. Geplant sind im Bereich Dialektologie ein repräsentatives Korpus von Beobachtungsaufnahmen aus dem Gesamt-
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bestand für komparative, kontrastive und dokumentarische Zwecke. (5) Literatur: Zwirner 19 6 2; Zwirner 1965; Knetschke/Sperlbaum 1979. 2.2.2. Marburg, Deutscher Sprachatlas (DSA) (1) Forschungsinstitut für deutsche Sprache ‘Deutscher Sprachatlas’ (DSA). Wissenschaftliche Betriebseinheit im Fachbereich 8 der Philipps-Universität Marburg, Kaffweg 3 und Krummbogen 28 A, 3550 Marburg 1. Leitung: Direktorium; geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Wo l f ga n g P u t s ch ke (seit 1980). (2) Mit G. Wenker, der 1878 Mitarbeiter der Marburger Universitätsbibliothek wurde, kam das erste dialektologische Atlasunternehmen des deutschsprachigen Gebietes nach Marburg. 1878/79 Ausdehnung des Projektes auf Nord- und Mitteldeutschland mit zunächst geringer finanzieller Unterstützung der Preußischen Akademie der Wissenschaften; 1887 Erweiterung in einen Sprachatlas des Deutschen Reiches, Institutionalisierung unter dem Namen ‘Zentralstelle für den Sprachatlas des deutschen Reiches’ und gleichzeitige Verstaatlichung (preußisches Kulturministerium). Nachfolger Wenkers wurde 1911 F. Wrede, unter dessen Leitung 1927 die Publikation des ‘Sprachatlas des deutschen Reiches’ unter dem Titel ‘Deutscher Sprachatlas’ begann. Das Institut war seit 1921 auch Sitz des Wörterbuchkartells; Finanzierung zwischen den beiden Weltkriegen durch das Reichsinnenministerium. Mit W. Mitzka wurde 1933 die bis 1971 bestehende Personalunion von Lehrstuhlinhaber und Institutsdirektor geschaffen, seit 1934 Kurzname ‘Deutscher Sprachatlas’. 1956 übernahm L. E. Schmitt mit der Leitung des dann beträchtlich ausgeweiteten Instituts auch den von Mitzka begründeten Deutschen Wortatlas; gleichzeitig erhielt das Institut den heutigen Namen. Neben die Finanzierung durch das Land Hessen seit Kriegsende trat von 1958—1976 eine projektbezogene durch das Bundesforschungsministerium. Durch die hessische Hochschulgesetzgebung bewirkte Veränderungen führten zur Gründung einer wissenschaftlichen Betriebseinheit im Fachbereich 8 und damit zur völligen Integration in die Universität. Das 1911 von der Preußischen Akademie ins Leben gerufene Hessen-Naussauische Wörterbuch leitete zunächst Wrede in Personalunion, ab 1934 L. Berthold. Neben der preu-
ßischen Akademie beteiligten sich bis 1945 die Bezirksverbände Hessen und Nassau an der Finanzierung des Wörterbuches, dann übernahm das Land Hessen die Trägerschaft des Universitätsinstitutes, das 1973 dem Forschungsinstitut eingegliedert wurde. (3) Das Institut, dem ein wissenschaftlicher Beirat zur Seite steht (Vorsitzender seit 1981: Prof. Dr. H. Steger, Freiburg), gliedert sich derzeit in fünf Abteilungen: a) Allgemeine und empirische Dialektologie (R. Hildebrandt), b) Sprachgeschichte (N. N.), c) Linguistische Informatik (W. Putschke), d) Phonetik (J. Göschel), e) Hessen-Nassauisches Wörterbuch (H. Friebertshäuser). Das Institut verfügt über acht Stellen für wiss. Mitarbeiter: K. Gluth (a), U. Knoop (a), W. Näser (a), N. N. (b), H. Händler (c), K. Kehr (d), H. Dingeldein (e), G. Voigt (Bibliothek); zwei wiss. Mitarbeiter auf DFGStellen; acht wiss. Hilfskräfte; vier Sekretärinnen; eine Bibliothekarin; einen wiss.technischen Zeichner; einen Toningenieur; einen Fotografen; zwei Datentypistinnen. Die technische Ausstattung umfaßt ein Tonstudio, Arbeits- und Meßräume, Abhörplätze, eine Datenstation, drei Lochstreifenschreiber, Benutzungsmöglichkeit eines automatischen Zeichengerätes, ein Fotolabor, ein Lichtsetzgerät und übliche Kleingeräte. Die Materialsammlungen bestehen aus ca. 48 500 Fragebögen ‘Deutscher Sprachatlas’, ca. 50 000 Fragebögen ‘Deutscher Wortatlas’, ca. 5 000 Fragebögen ‘HessenNassauisches Volkswörterbuch’, 16 31 Manuskriptkarten ‘Deutscher Sprachatlas’, ca. 3 500 Dialektaufnahmen auf Tonband, Kassette und Schallplatte. Die Bibliothek umfaßt ca. 23 000 Bde mit dem Schwerpunkt Sprachwissenschaft, insbesondere Dialektologie; hinzu kommen ca. 1 500 Bde der Bibliothek des Hessen-Nassauischen Wörterbuches mit dem Schwerpunkt in der historisch-landeskundlichen Literatur Hessens. Publikationsorgane sind die Reihen ‘Deutsche Dialektgeographie’ und ‘Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen’ sowie die Zeitschriften ‘Germanistische Linguistik’ und ‘Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik’ (in Zusammenarbeit mit dem Institut). (4) Der Forschungsschwerpunkt liegt nach wie vor in der deutschen Sprachgeographie, wenn auch 1973 ein erweiterter Aufgabenbereich festgelegt wurde: Erforschung der gesprochenen deutschen Sprache in ihren regionalen sowie ihren schichten- und
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fachspezifischen Differenzierungen. Auf der Grundlage des DSA-Materials wird ein Kleiner DSA bearbeitet, der das Phoneminventar und die Phonemdistribution in 6 000 ausgewählten Orten auf automatisch erstellten Typen- und Kombinationskarten präsentieren wird. Der Deutsche Wortatlas wird mit Bd. 22 abgeschlossen. Ein Kleiner DWA soll durch Kombinationskarten und Kommentare die Ergebnisse des DWA einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Die Beteiligung am Europäischen Sprachatlas umfaßt die Erhebung der 1. Enquete in der Bundesrepublik Deutschland, Koordination und Aufbereitung des Materials im deutschsprachigen Raum, redaktionelle Bearbeitung der Karten der Germania, zentrale automatische Kartierung des Gesamtwerkes; die Arbeiten der Linguistischen Informatik umfassen außerdem Programme zur quantitativen Textverarbeitung und zur automatischen Referentenfindung; die phonetische Abteilung bearbeitet das Schallarchiv der deutschen Mundarten und sonstiger Sprachvarianten. Das Hessen-Nassauische Volkswörterbuch liegt bisher in 36 Lieferungen vor; die Bearbeitung trägt vor allem wortgeographischen Fragestellungen Rechnung. Die kartographische Bearbeitung des Luxemburgischen und des Siebenbürgischen Wortatlasses erfolgte in Marburg; noch nicht abgeschlossen ist der Nordostdeutsche Wortatlas (A. Schönfeld, Kiel). (5) Arbeiten zur Sach- und Volkskunde werden gefördert. (6 ) Literatur: Friebertshäuser 1976 b; Göschel 1977; Martin 1934; Wiegand/Harras 1971. 2.3. Regionale Institute 2.3.1. Bern, Abteilung für Dialektologie (Abt. Dial.) (1) Universität Bern. Deutsches Seminar. Abteilung für Dialektologie und Volkskunde der deutschen Schweiz, Schützenmattstr. 14, CH-3012 Bern. Leiter: Prof. Dr. Pe t e r G l a t t h a r d. (2) Die Abt. Dialektologie wurde 1916 von Otto von Greyerz (1916 —1933) als ‘Abteilung für Sprache und Literatur der deutschen Schweiz’ innerhalb des Deutschen Seminars gegründet. Leiter waren dann Heinrich Baumgartner (1933—1944), Walter Henzen (1945—194 6 ), Paul Zinsli (194 6 —1971), nach Interimslösungen seit 1978 mit dem neuen Titel der Abt.: Peter
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Glatthard. (3) Die Abt. Dialektologie hat einen wiss. Assistenten. Publikationen erscheinen u. a. in der Sonderreihe ‘Berner Arbeiten zur Dialektologie und Volkskunde’ innerhalb von ‘Sprache und Dichtung. Forschungen zur deutschen Sprache, Literatur und Volkskunde’. (4) Arbeitsgebiete der Abt. sind historische Dialektologie und Dialektgeographie besonders der Westschweiz. (5) In Personalunion verbunden mit dem Lehrstuhl der Abt. Dialektologie ist die ‘Forschungsstelle für Namenkunde der westlichen deutschen Schweiz’ (Falkenplatz 16 , Bern). Es sind zwei Oberassistenen, ein Assistent und zwei Sekretärinnen beschäftigt. Aufgabe der Forschungsstelle ist die Herausgabe des Ortsnamenbuches des Kantons Bern, bisher erschienen ist Bd 1, 1 (A—F) 1976. 2.3.2. Bonn, Institut für geschichtliche Landeskunde (IGL) (1) Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn, Abteilung für Sprachforschung, Am Hofgarten 22, 5300 Bonn. Leiter: Prof. Dr. We r n e r B e s ch (Abteilungsdirektor). (2) Bei der Gründung des Instituts 1920 wurde eine Abteilung für Mundartenforschung und Volkskunde unter Leitung von Theodor Frings (1920—1927) eingerichtet. Unter Adolf Bach (1927—1942) bildete 1930—1942 das ‘Rheinische Flurnamenarchiv’ eine eigene Unterabteilung. Hinzu kam 1930—196 9 die vorher nur räumlich dem Institut angeschlossene Arbeitsstelle ‘Rheinisches Wörterbuch’ unter Josef Müller (1914—1945), zuvor (1904—1930) organisatorisch eine Einrichtung der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Nachfolger Bachs waren Karl Meisen (1945—196 0), Matthias Zender (196 0—196 4) und Rudolf Schützeichel (196 4—196 8), unter dem die Abteilung in ‘Abteilung Rheinische Sprachgeschichte’ umbenannt wurde. Das Wörterbuch in neun Bänden, zuletzt von Heinrich Dittmaier bearbeitet, wurde 1971 vollendet. (3) Träger des Universitäts-Instituts ist das Land Nordrhein-Westfalen, jährliche Zuschüsse gibt der Landschaftsverband Rheinland. An der Abteilung sind zwei wiss. Angestellte (J. Macha und W. Hoffmann) beschäftigt. Die umfangreiche Bibliothek des Instituts ist auf den Raum der ehemaligen Rheinprovinz ausgerichtet. Der Bestand der
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Abteilung für Sprachforschung umfaßt die Bereiche Dialektologie, Sprachgeschichte und Namenkunde. Neben den eigenen Sammlungen (Material des Rheinischen Wörterbuchs und des Rheinischen Flurnamenarchivs) sind sämtliche Materialien der Dialekt-Atlanten (DSA, DWA, ALE) und des DSAv, die die ehemalige Rheinprovinz betreffen, im Institut als Kopien benutzbar. Publikationsorgane des Instituts insgesamt sind das ‘Rheinische Archiv’ und die ‘Rheinischen Vierteljahrsblätter’. (4) Die Forschungsschwerpunkte der Abteilung liegen in der Dialektologie und der Sprachgeschichte der Rheinlande, vornehmlich unter den Aspekten von Sprachwandel und Sprachvariation. Ausgangspunkt in der Dialektologie sind Ortsspracheanalysen. Das sog. Erp-Projekt (Erhebungsphase 1972 bis 1976 ) befaßte sich mit ‘Sprachvariation und Sprachwandel in gesprochener Sprache’ in Erp, Gemeinde Erfstadt (vgl. Besch/Mattheier 1977). Eine zweibändige Publikation über Theorie und Methode sowie mit ersten Auswertungen wird 1981/82 erscheinen. Eine neue Erhebung in Kelzenberg bei Neuß (ab 1976 ) wird 1981 mit Bericht abgeschlossen. Sie soll exemplarische Funktion für weitere Ortsspracheerhebungen haben, in denen der Funktionswandel der gesprochenen Sprache im Rheinland nach arealen, sozialen und situativen Aspekten erfaßt werden kann. In der Sprachgeschichte soll der Wechsel vom regionalen Schreibdialekt zur neuhochdeutschen Schriftsprache in Spätmittelalter und früher Neuzeit für den ripuarischen Raum genauer untersucht werden. Dazu werden möglichst ortsgebundene, mundartnahe Quellen gesammelt (Urbare, Rechnungsbücher, Weistümer). Die lexikographische Tradition der Abteilung — 1971 erschien die letzte Lieferung des Rheinischen Wörterbuchs — soll durch ein Historisches Rheinisches Wörterbuch fortgesetzt werden. (5) In der Namenforschung werden derzeit im Zusammenhang mit den Ortsspracheanalysen punktuelle Flurnamenerhebungen durchgeführt. (6 ) Literatur: Ennen 1970; Zender 196 4; Zender 1976. 2.3.3. Erlangen, Lehrstuhl für Germanische u. Deutsche Sprachwissenschaft u. Mundartkunde (1) Lehrstuhl für Germanische und Deutsche Sprachwissenschaft und Mundartkunde,
Institut für Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Bismarckstraße 1, 8520 Erlangen. Lehrstuhlinhaber: Prof. Dr. H o r st H. M u n s ke. (2) Der Lehrstuhl wurde 1954 ad personam für Ernst Schwarz eingerichtet (1954—196 3). Sein Nachfolger war Emil Ploss (196 6 —1972). Horst H. Munske ist seit 1975 im Amt. (3) Träger des Instituts ist der Freistaat Bayern. Zum Lehrstuhl gehören drei wiss. Mitarbeiter (Helmut Weinacht, Gaston van der Elst, Gerhard Koller). Ein Tonbandarchiv ostfränkischer Dialekte und Umgangssprache sowie eine Sammlung von Dialektliteratur befinden sich im Aufbau. (4) Am Lehrstuhl werden kontinuierlich Untersuchungen zu ostfränkischen Dialekten, zur Umgangssprache, zu Namen und zu ostfränkischen Texten des 15. und 16 . Jh. angestellt. Horst H. Munske plant eine Studie zur regionalen Umgangssprache in Franken. (5) Literatur: Bibliographie periodisch im ‘Jahrbuch für fränkische Landesforschung’. 2.3.4. Freiburg, Institut für geschichtliche Landeskunde (1) Institut für geschichtliche Landeskunde. Germanistische Abteilung, Belfortstr. 14, 7800 Freiburg. Leiter: Prof. Dr. Vo l ke r S ch u p p, Prof. Dr. E u ge n G a b r i e l, Prof. Dr. H u g o St ege r, (Sprecher im Projekt ‘Südwestdeutscher Sprachatlas’ [SSA]), Prof. Dr. Friedrich Maurer (emeritiert seit 196 6 , Forschungsleiter im Projekt ‘Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas’ [HSS]). (2) 1939 wurde das Institut von Friedrich Maurer (Germ. Abt.) und Hans Walter Klewitz (Hist. Abt.) gegründet. Maurer blieb Leiter der Germ. Abt. bis 1966. (3) Das Institut wird vom Land BadenWürttemberg getragen, zusätzliche Mittel für die beiden Projekte gibt die DFG. An der Abteilung bzw. im Projekt SSA arbeiten fünf wiss. Mitarbeiter (Erika Hoyler, Eberhard Platzek, Erich Seidelmann, Renate Weißgärber, Bernhard Kelle). Die Sammlungen der Germ. Abt. enthalten Mundartaufnahmen aus jeder 3. Gemeinde in den ehemaligen Regierungsbezirken Südbadens und Südwürttembergs für den SSA, weitere Tonbandaufnahmen aus ausgewählten Gemeinden; Mikrofilm-Rückvergrößerungen sämtlicher spätmittelalterlicher Urbare aus Baden-Württemberg und dem Elsaß, teilweise
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aus Vorarlberg und der Schweiz für den HSS. Hinzu kommt das Material des Vorarlberger Sprachatlas. Die Publikationen aus der Germ. Abt. erscheinen in den Reihen ‘Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg’ und in den ‘Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte’. Zum SSA wird eine Reihe mit begleitenden Studien vorbereitet. Etwa alle zwei Jahre veranstaltet die Abt. die ‘Arbeitstagung alemannischer Dialektologen’. Seit 196 3 haben sechs Tagungen an verschiedenen Orten stattgefunden. (4) Die Germ. Abt. betreibt die Erforschung der Sprachgeschichte und der gegenwärtigen Dialekte bzw. der Umgangssprache in Baden-Württemberg in zwei größeren Projekten, dem SSA und dem HSS. Für das abgeschlossene Projekt des HSS (Publikation 1979 in zwei Bden) wurden sämtliche spätmittelalterlichen Urbare des deutschen Südwestens nach graphemisch-phonologischen, nach morphologischen Phänomenen und nach dem Namenbestand verzettelt, kartographiert und interpretiert. Im SSAProjekt wird nach dem Muster des Sprachatlas der deutschen Schweiz (vgl. 2.3. 17.) ein Atlas der Mundarten bzw. der gesprochenen Sprache Baden-Württembergs erstellt. Das Material wird direkt mit Hilfe eines Fragebuches erhoben, Tonbandaufnahmen kommen hinzu. Die Auswertung erfolgt mit Hilfe der Elektronischen Datenverarbeitung. Der Abschluß in Form eines mehrbändigen Kartenwerkes ist für ca. 1985 geplant. (5) Namenkunde wird vor allem auf dem Gebiet der Flurnamenforschung betrieben, hinzu kommt die Beratung der Freiburger Arbeitsstelle ‘Altdeutsches Namenbuch’. 6( ) Literatur: Kleiber 196 5; Gabriel/König/Schelb 1972; König 1975; Boesch 1975; Maurer 1976; Baur 1978. 2.3.5. Göttingen, Niederdeutsche Abteilung (Nd. Abt.) (1) Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur am Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen, Nikolausberger Weg 15, 3400 Göttingen. Leiter: Prof. Dr. D i e t e r St e l l m a c h e r. (2) Die ‘Abteilung für niedersächsische Mundartenforschung’ wurde 1935 eingerichtet. Leiter war Friedrich Neumann (1935—1954), sein Nachfolger Heinrich Wesche (1954—1973). Nach dessen Emeritierung wurde die Wörterbuchkanzlei abge-
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trennt (vgl. 2.3.6 .). Seit 1976 ist Dieter Stellmacher Leiter der Nd. Abt. (3) Die Nd. Abt. wird wie das Seminar finanziell vom Land Niedersachsen getragen. Sie hat keinen wiss. Mitarbeiter, sondern nur Hilfskräfte. Die Bibliothek enthält vor allem niederdeutsche Literatur. Ein Tonbandarchiv umfaßt 250 Aufnahmen von Erzählungen in Mundart, die ursprünglich für das Niedersächsische Wörterbuch bestimmt waren, sowie 118 Kopien von Aufnahmen des DSA in Marburg. Publikationsorgan ist die Reihe ‘Göttinger Niederdeutsche Studien’, herausgegeben von Dieter Stellmacher. (4) In der Nd. Abt. sind 1977 zwei Forschungsvorhaben begonnen worden. Im Vorhaben ‘Phonologie der niedersächsischen Mundarten’ soll die dialektale Binnengliederung Niedersachsens beschrieben und eine Strukturkarte erarbeitet werden. Das Datenmaterial wird per Fragebogen in fünfzig Gemeinden erhoben. Der Abschluß ist für 1980 vorgesehen. In der Namenkunde wird eine Flurnamensammlung der Börde Lamstedt (Land Hadeln) erarbeitet. (5) s. o. (4) (6) Literatur: Wesche 1955/56. 2.3.6. Gundelsheim, Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde (AKSL) (1) Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde e. V. Heidelberg, Sektion Germanistik, Schloß Horneck, 6953 Gundelsheim. Leiter der Sektion Germanistik: Dr. A nt o n S ch wo b (Innsbruck). (2) Der AKSL wurde 196 2 gegründet. Er geht auf den 1842 in Siebenbürgen gegründeten Verein für Siebenbürgische Landeskunde zurück. Erster Vorsitzender des Vereins ist Dr. Ernst Wagner. (3) Der AKSL ist ein eingetragener Verein. Die ständige Sektion Germanistik hat nur ehrenamtliche Mitarbeiter: Kurt Rein, Anton Schwob, Evemarie Sill. Vom AKSL werden die Reihen ‘Siebenbürgisches Archiv’, ‘Studia Transylvanica’ und ein ‘Korrespondenzblatt’ herausgegeben. Zu den Beständen des AKSL gehören die Nachlässe von Karl Kurt Klein und Fritz Holzträger. (4) Der AKSL betreibt und fördert die wissenschaftliche Landeskunde Siebenbürgens. In der Sektion Germanistik wurde seit 1977 ein Wortatlas des Siebenbürgisch-Sächsischen unter der Leitung von Kurt Rein erarbeitet. Dieses Projekt wird vom Bundesminister des Innern und dem Land NordrheinWestfalen gefördert. Geplant sind die Her-
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ausgabe des Nachlasses von Fritz Holzträger, ein Orts- und ein Familiennamenbuch für Siebenbürgen. Seit 1980 wird auf der Grundlage des Nordsiebenbürgischen Wörterbuch-Archivs von Friedrich Krauß († 1978) ein Nordsiebenbürgisches Wörterbuch ausgearbeitet, das bis ca. 1987 in vier Bänden vorliegen soll. Bearbeiterin ist Gisela Richter, die Finanzierung erfolgt weitgehend durch die DFG sowie den AKSL. 2.3.7. Hamburg, Niederdeutsche Abteilung (Nd. Abt.)/Hamburgisches Wörterbuch (Hbg. Wb.)/Mittelniederdeutsches Wörterbuch-Archiv (Mnd. WA) (1) Germanisches Seminar der Universität Hamburg, Niederdeutsche Abteilung, vonMelle-Park 6, 20 0 0 Hamburg 12; drei Abteilungen: a) Leiter der Nd. Abt.: Prof. Dr. D i e t e r M ö h n (Lehrstuhl für deutsche Philologie mit besonderer Berücksichtigung des Niederdeutschen) b) Leiter des Hbg. Wb.: Prof. Dr. J ü rge n Meier c) Leiter des Mnd. WA: Dr. A n n e m a r i e H ü b n e r (zusammen mit dem Herausgeber Prof. Dr. G e r h a r d C o r d e s, Kiel) (2) a) Die Nd. Abt. wurde 1919 bei Gründung der Universität Hamburg eingerichtet, erster Leiter war Conrad Borchling (1919—1946). b) Das Hbg. Wb. wurde 1917 von Conrad Borchling und Agathe Lasch (1917—1934) gegründet. Nachfolger waren Hans Teske (1935—1939) und Walter Niekerken (1945— 1952). Von Ulrich Pretzel und Hans Kuhn (seit 1952) sind die ersten 7 Lieferungen herausgegeben worden. Seit 1977 ist Jürgen Meier Bearbeiter und Leiter des Wörterbucharchivs, vorher war Käthe Scheel Bearbeiterin. c) Das Mnd. WA wurde 1927 von Agathe Lasch (1927—1934) und Conrad Borchling (1927—1946 ) gegründet. Seit 1951 existieren zwei Arbeitsstellen: Kiel (Herausgeber und Bearbeiter Gerhard Cordes) und Hamburg (Bearbeiterin Annemarie Hübner). Das Archiv des Wörterbuchs befindet sich in Hamburg. (3) a) Die Nd. Abt. hat keinen fest angestellten wiss. Mitarbeiter, dialektologische Forschungen können nur im Rahmen der ‘normalen’ Forschungstätigkeit des Lehrstuhls durchgeführt werden. An Materialien
sind ein Tonbandarchiv zur Sprache der ostfriesischen Windmüller und Windmühlenbauer sowie eine Flurnamensammlung des Kreises Harburg zu nennen. b) Neben dem Leiter/Bearbeiter sind am Hbg. Wb. eine stud. Hilfskraft und ein nichtwiss. Mitarbeiter beschäftigt. Das Archiv des Wörterbuches umfaßt ca. 800 000 Belegzettel; historisches Material seit ca. 16 00 ist darin stark vertreten. c) Am Mnd. WA ist Annemarie Hübner, in Kiel Gerhard Cordes Bearbeiter des Wörterbuchs. Das Material umfaßt eine repräsentative Sammlung des mittelniederdeutschen Wortschatzes von ca. 1225—16 00, z. T. bis 16 50 in Form einer Zettelkartei, die zugänglich ist. Bisher sind Bd I (A—F/V) 1956 , von Bd II die Lieferungen 6 , 7, 13, 15, 17, 29, von Bd III die Lieferungen 12, 14, 16 , 18, 19 erschienen. (4) a) An der Nd. Abt. werden derzeit Forschungen durchgeführt zu den Themen Plattdeutsch und Presse, Plattdeutsch und Schule, plattdeutscher Wortschatz der ostfriesischen Windmüller und Windmühlenbauer, Geschichte der niederdeutschen Sprache. b) Die 8. Lieferung des Hbg. Wb. befindet sich im Druck (Lieferung 7 (1968) bis Dutt). c) Weitere Lieferungen des Mnd. Handwb. sind in Arbeit. Statt vorgesehener 3 Bände wird das Wb. bis ca. 1982/83 wohl 4 Bände umfassen. (5) Lit.: Scheel 196 5 (Hbg. Wb.), Cordes 1967 (Mnd. Handwb.). 2.3.8. Luxemburg, Institut Grand-Ducal (Section) (1) Institut Grand-Ducal, Section de Linguistique, de Folklore et de Toponymie, 5, rue Large, Luxembourg. Präsident: Prof. C o r n e l M e d e r. Präsident der Wörterbuchkommssion: Henri Rinnen. (2) Die Section wurde 1935 gegründet. Sie ging aus der 1924 gegründeten ‘Luxemburgischen Sprachgesellschaft’ hervor. Erster Präsident der Section war Joseph Tockert (1935—1950), Nachfolger waren Isidor Comes (1935—1950), Joseph Hess (196 0 bis 19 6 9), Hélene Palgen (19 6 9—197 6 ) und Marcel Werdel (1976 /77). Präsidenten der Wörterbuchkommission waren Josef Tockert (193 6 —1940/1948—1950), Hélene Palgen (1950—1959), Joseph Meyers (1959—196 4) und Ernest Ludovicy (1964—1975).
11. Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungender Dialektologie im deutschen Sprachgebiet
(3) Die Section stellt einen Verein mit persönlichen Mitgliedern dar, der außer aus den Beiträgen dieser Mitglieder durch einen staatlichen Zuschuß finanziert wird. Die Sektion mit den drei Unterabteilungen Sprachwissenschaft, Volkskunde und (Orts)Namenkunde hat keine hauptamtlichen Mitarbeiter. Nur für die von 1948—1977 arbeitende Wörterbuchkommission gab es ab 196 5 einen hauptamtlichen Sekretär. Zu den Beständen der Section gehören die Materialien des Luxemburgischen Wörterbuchs (Fragebögen, Tonbandaufnahmen, Zettelsammlungen), toponymische Sammlungen und Dialektschriften. Die Section publiziert das periodisch erscheinende ‘Bulletin linguistique et ethnologique’, die monographischen ‘Beiträge zur Sprach- und Volkskunde’ und ein Informationsblatt. (4) Das Luxemburger Wörterbuch, das mit dem 5. Band, Nachträge und Ergänzungen, 1977, abgeschlossen vorliegt, bildet den Arbeitsschwerpunkt der Section mit der dafür eigens eingerichteten Wörterbuchkommission. Es beruht wesentlich auf den Sammlungen der Sections-Mitglieder, die als Gewährspersonen für die Regionen und Orte Luxemburgs fungierten. Daneben wurden und werden jetzt verstärkt Arbeiten in den anderen Bereichen der Section gefördert, eine Bibliographie zur Luxemburger Volkskunde und ein Volkskundeatlas befinden sich in Vorbereitung. (5) Literatur: Hess 1965; Rinnen 1976. 2.3.9. Mainz, Institut für geschichtliche Landeskunde (1) Institut für geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V., Abteilung für Sprach- und Volksforschung, Saarstr. 21, 6500 Mainz. Leiter der Abt.: Prof. Dr. Wo l f ga n g K l e i b e r, Prof. Dr. G ü n t e r B e l l m a n n, Prof. Dr. H e l m u t S c h we d t (Volkskunde). (2) Die Abteilung wurde 1973 gegründet, das Institut selbst 1952 durch Ludwig Petry. 1. Vorsitzender des Vereins ist Aloys Gerlich. (3) Das Institut ist als Verein organisiert und erhält Mittel vom Land RheinlandPfalz. Mitarbeiter ist Kurt Elsenbast. Die Sammlungen der Abteilung bestehen aus Tonbandaufnahmen für einen rheinhessischen Sprachatlas, einer Sammlung von spätmittelalterlichen Urbaren in Mikrofilm und Rückvergrößerung, Sammlungen zur
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rheinisch-moselländischen Winzerterminologie und einem Flurnamenarchiv. Publikationsorgane sind die Zeitschrift ‘Geschichtliche Landeskunde’ und die Reihe ‘Mainzer Studien zur Sprach- und Volksforschung’. (4) Günter Bellmann bearbeitet einen rheinhessisch-mittelrheinischen Sprachatlas. Nach der Festlegung des Aufnahmegebietes wurden Informanten ausgewählt und mit ersten Tonbandaufnahmen begonnen. Die Fertigstellung ist für die 80er Jahre geplant. Wolfgang Kleiber erarbeitet einen Wortatlas der deutschen Winzerterminologie unter besonderer Berücksichtigung der Rhein- und Mosellande. Das Material liefern ein Fragebogen und direkte Exploration aus ca. 150 Orten. Die Verzettelung des Materials ist im Gange. 1981 soll der Winzerterminologie-Atlas vorliegen. Geplant ist drittens ein Historischer Wortatlas auf der Grundlage des Materials des Historischen Südwestdeutschen Sprachatlas (vgl. 2.3.4.) und der Mainzer Urbar-Sammlung. (5) Im Bereich Mikrotoponymie bearbeitet Wolfgang Kleiber romanisch-germanische Interferenzen im Moselfränkischen. Ein Rheinland-Pfälzisches Flurnamenbuch wird vorbereitet. (6) Literatur: Kleiber 1977. 2.3.10. Münster, Kommission (1) Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens, Magdalenenstr. 5, 4400 Münster. Leiter: Prof. Dr. J a n G o o s s e n s. (2) Die Kommission wurde 1972 als Teil des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volksforschung gegründet. Vorgänger war die Abteilung für Mundart- und Namenforschung der seit 1928 bestehenden Volkskundlichen Kommission, die 1929 dem Provinzialinstitut eingegliedert wurde. Leiter dieser Abteilung vor Jan Goossens waren William Foerste (1929—196 7) und Dietrich Hofmann (1967—1969). (3) Träger der Kommission ist der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Abteilung Kulturpflege. Die Kommission, ein Gremium von derzeit neunzehn Wissenschaftlern, unterhält seit 1972 eine Arbeitsstelle, für deren Forschungsarbeit sie satzungsgemäß zuständig ist. Die Arbeitsstelle verfügt derzeit über vier wiss. Referenten (Gunter Müller, geschäftsführend, Hermann Niebaum, Hans Taubken, Paul Teepe) und einen wiss. Mitarbeiter (Reinhard Pilkmann),
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
eine Sekretärin und einige Hilfskräfte. Von der Kommission wird die Reihe ‘Niederdeutsche Studien’ und die Zeitschrift ‘Niederdeutsches Wort’ publiziert, Herausgeber ist Jan Goossens. (4) Die Kommission resp. Arbeitsstelle verfolgt zwei Ziele: die Vollendung des Westfälischen Wörterbuchs und die Schaffung eines Westfälischen toponymischen Archivs (ursprünglich nur Flurnamenarchiv). Vorbereitet wird zudem eine kommentierte Karte/Kartenfolge zur Gliederung des westfälischen Mundartraumes. Mit den Sammlungen zum Wörterbuch war 1927 begonnen worden. Bearbeiter war bis zur dritten Lieferung Felix Wortmann, seitdem ist Hermann Niebaum verantwortlich. Erschienen sind bisher der über Material, Anlage, Geschichte informierende Beiband (196 9) sowie vier Lieferungen von Bd. I (a — Bārd, 1973—1980). Besondere Wortstudien erscheinen fortlaufend im ‘Niederdeutschen Wort’. Unter Leitung von Gunter Müller wird ein westfälisches toponymisches Archiv aufgebaut, sowohl der derzeitigen Mikrotoponymie als auch der mittelalterlichen Makrotoponymie. Die Flurnamen, bisher aus einem Drittel der westfälischen Gemeinden gesammelt (Quellen: Preußischer Urkataster, Mundartaufzeichnungen, veröffentlichte Sammlungen), sollen in einem Westfälischen Flurnamenatlas veröffentlicht werden. An Siedlungsnamen sind für das 8.—15. Jh. bisher ca. 80 000 Belege überwiegend aus gedruckten Quellen gesammelt worden. Sie sollen in einem Westfälischen Siedlungsnamenlexikon veröffentlicht werden. (5) Literatur: Wortmann 196 9; Taubken 1976. 2.3.11. Strasbourg, Institut de Dialectologie (I. D.) (1) Institut de Dialectologie allemande et alsacienne, Université des Sciences Humaines de Strasbourg, 22, rue Descartes, 670 84 Strasbourg CEDEX. Geschäftsführender Leiter: R ay m o n d M a t z e n, maître-assistant d’allemand. (2) Das I. D. wurde 196 4 durch Ernest Beyer († 1970) gegründet. Wiss. Mitarbeiter des I. D. ist Mme Lang. (3) R. Matzen bearbeitet mit Mme Lang ein ‘Dictionnaire des parlers alsaciens’, außerdem hat er einen Lehrauftrag für Mundartforschung.
2.3.12. Strasbourg, Centre de recherche ‘Atlas Linguistiques’ (1) Centre de recherche ‘Atlas Linguistiques’, Université des Sciences Humaines, 22, rue Descartes, 67084 Strasbourg CEDEX. Leiterin: M a r t h e P h i l i p p, professeur titulaire de linguistique allemande. Wiss. Mitarbeiterin ist Mme Bothorel. (2) Im Rahmen des von Gaston Tuaillon geleiteten Unternehmens ‘Atlas Linguistique de France (CNRS. GRECO N° 9)’ bearbeitet das Centre die Dialektatlanten des Elsaß und Lothringens. Beide Atlas-Unternehmen werden vom Centre National de la Recherche Scientifique gefördert, das auch als Herausgeber fungiert. Im I. D. und im Centre de recherche ‘Atlas Linguistiques’ befinden sich die Fragebogen beider Atlanten, weiterhin ca. 200 Tonbänder von Spontangesprächen aus dem Elsaß und Lothringen. Die Erhebungen sind abgeschlossen. (3) Das Material beider Atlanten wurde direkt mit einem Fragebuch erhoben; außerdem wurden sämtliche Enqueten für den lothringischen Sprachatlas auf Tonband aufgenommen; diese Aufnahmen befinden sich auch im Centre. (4) Von beiden onomasiologisch angelegten Atlanten ist jeweils der 1. Band erschienen (196 9/1977) mit den Themen ‘L’homme’ (Alsace) bzw. ‘Corps humain, maladies, animaux domestiques’ (Lorraine). Der 1. Band des ‘Atlas Linguistique et Ethnographique de l’Alsace’ wurde von E. Beyer und R. Matzen bearbeitet, der 1. Band des ‘Atlas Linguistique et Ethnographique de la Lorraine Germanophone’ von M. Philipp, A. Bothorel und G. Levieuge (Nancy). 1980/81 sollen die Folgebände erscheinen, die von 1978 an gleichzeitig für Lothringen (M. Philipp, A. Bothorel, G. Levieuge) und für das Elsaß (M. Philipp, A. Bothorel, R. Matzen) bearbeitet werden, und zwar mit den Themen ‘Animaux, nature, jardin’. (5) Literatur: Beyer 1965. 2.3.13. Tübinger Arbeitsstelle (TA) (1) Tübinger Arbeitsstelle ‘Sprache in Südwestdeutschland’, Römerstr. 27, 740 1 Wolfenhausen. Leiter: Dr. A r n o Ru o f f . (2) Die TA ist aus der 1955 begonnenen Zusammenarbeit des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen und des Deutschen Spracharchivs (vgl. 2.2.1.) hervorgegangen. 1959—196 9 bestand dann die Tü-
11. Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungender Dialektologie im deutschen Sprachgebiet
binger Außenstelle des Deutschen Spracharchivs, 196 9—1973 wurde die DFG Träger der TA, seit 1973 ist sie dem Ludwig-Uhland-Institut angeschlossen. (3) Träger des Instituts ist das Land Baden-Württemberg. Besondere Projekte der TA (‘Ortssprache’ und ‘Häufigkeitswörterbuch’) werden von der DFG finanziert; von ihr werden zwei wiss. Mitarbeiter bezahlt. Die Sammlungen der TA bestehen aus ca. 1 500 Tonbandaufnahmen, von denen 1 200 transkribiert sind, einschließlich Protokollen und Wortlisten, sowie Exzerpten zu ca. 6 0 Themen aus 900 dieser Aufnahmen. Die TA publiziert ihre Forschungsergebnisse in der Reihe ‘Idiomatica’, Bd 1, 1973 ff. (4) Zielsetzung der TA ist die Dokumentation und Untersuchung der gesprochenen Sprache in Baden-Württemberg. Dazu gehören Aufnahme, Transkription und Auswertung von Tonbandaufnahmen, mit denen 1955 begonnen wurde, zur Untersuchung von Syntax und Stil sowie zur Analyse des Einflusses redebestimmender außersprachlicher Faktoren. Spezialuntersuchungen kommen hinzu. Die Aufnahmetätigkeit ist vorerst abgeschlossen, die Transkription bei 1200 Aufnahmen angelangt, und ca. 6 0 sprachwissenschaftliche und dialektologische Fragestellungen sind von 900 dieser Transkriptionen exzerpiert worden. Zur Zeit steht die Veröffentlichungstätigkeit im Vordergrund, die von der DFG finanziert wird. Dem Projekt ‘Ortssprache’ liegen die Tonbandaufnahmen aller Einwohner dreier Schwarzwaldweiler in verschiedenen Sprechsituationen mit umfangreichen sprach- und sozialwissenschaftlichen Zusatzerhebungen seit 196 4 zugrunde. An der wissenschaftlichen Bearbeitung sind neben Arno Ruoff und Rainer Graf mehrere Freiburger Germanisten beteiligt. Die Herstellung eines ‘Häufigkeitswörterbuchs’ gesprochener Sprache anhand eines Korpus von 500 000 Wörtern aus den Exzerptionen der TA erfolgt mit Hilfe der EDV. (5) Literatur: Ruoff 196 5; Ruoff 1973; Baur 1978. 2.3.14. Wien, Kommission (1) Kommission für Mundartkunde und Namenforschung (der Österreichischen Akademie der Wissenschaften), A-10 10 Wien, Postgasse 3. Leitung: Prof. Dr. I n g o Re i f fe n st e i n, Prof. Dr. Pe t e r W i e s i n ge r, Doz. Dr. M ar i a H o r n u n g.
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(2) Das Institut wurde 1911 als ‘Kommission zur Schaffung des Österreichisch-Bayrischen Wörterbuchs und zur Erforschung unserer Mundarten’ gegründet. Erster Obmann war Joseph Seemüller (1911—1920). Ihm folgten Paul Kretschmer (1920—1956 ), Dietrich Kralik (1956 —1959), Richard Meister (1959—19 6 5), Otto Höfler (19 6 5—19 6 7), Eberhard Kranzmayer (19 6 7—1975). 19 6 9 erhielt das Institut seinen heutigen Namen. (3) Die Kommission ist eine Einrichtung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; zusätzliche personelle Finanzierung leistet der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Mitarbeiter in den beiden Abteilungen für Mundartkunde und für Namenforschung sind Maria Hornung (bair. Dialektologie mit Sprachinsel- und deutsch-romanischer Interferenzforschung, Mundartdichtung, Namenforschung), Werner Bauer (bair. Dialektologie, Feldforschung, deutsch-slawische Interferenzen), Erika Kühn (bair. Dialektologie, Pflanzennamen), Elisabeth Groschopf (bair. Dialektologie), Ingeborg Geyer (bair. Dialektologie, besonders südbair. Sprachinseln), Isolde Hausner und Elisabeth Schuster (Namenforschung). Neben einer dialektologischen Bibliothek gehören zum Bestand der ‘Hauptkatalog’ des Wörterbuchs mit 5 Millionen Belegen, das Tonbandarchiv österreichischer Mundarten (vgl. 2.3.15.), ca. 1200 Kartenskizzen für einen ehemals geplanten österreichisch-bayrischen Dialektatlas von Kranzmayer und eine namenkundliche Kartei von ca. 20 000 Siedlungs- und Landschaftsnamen bis 1200. Von der Kommission wird die Reihe ‘Studien zur bairisch-österreichischen Dialektkunde’ publiziert. (4) Die Kommission verfolgt zunächst die Herausgabe des ‘Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich’, das ursprünglich mit je einer Kanzlei in Wien und in München als gesamtbairisches geplant war. 196 1 mußte die Zusammenarbeit eingestellt werden (vgl. 2.4.11.). Das Wiener Wörterbuch erfaßt die Bundesländer Österreichs außer dem alemannischen Vorarlberg, sowie die im Süden, Norden und Osten anschließenden deutschsprachigen Gebiete und einige Sprachinseln. Das Material wurde zunächst in zwei Fragebogenaktionen, ab 1952 von Kranzmayer auch durch Tonbandaufnahmen erhoben; historische Quellen werden ebenfalls berücksichtigt. Die 1. Lieferung des Wörterbuchs erschien 196 3. Bisher liegen zwei Bände (A, 1971; B-Bezirk, 1977) und
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
das Beiheft Nr. 1 (1971), Erläuterungen zum Wörterbuch, vor, hrsg. v. Eberhard Kranzmayer und redigiert von Maria Hornung. Seit der 1. Lieferung von Bd. 3 (1977) zeichnet die Kommission als Herausgeber. Weiterhin wird die Neubearbeitung des österreichischen Anteils am ‘Altdeutschen Namenbuch’ (Ortsnamen) vorbereitet. Hinzu kommen eine Reihe von Einzelarbeiten zur bairischen Dialektologie und zur Namenkunde. (5) Literatur: Kranzmayer 196 5; Hornung 1976. 2.3.15. Wien, Phonogrammarchiv (1) Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Liebiggasse 5, A-1010 Wien. (2) Das Wiener Archiv wurde 1899/1900 durch Sigmund Exner gegründet, der Obmann bis 1925 blieb. Nachfolger im Amt des Obmanns waren Karl Luick (1925—1935), Arnold Durig (1936 —1941), Friedrich Wild (1941—1966), seitdem Wilhelm Kühnelt. (3) Träger des Archivs ist die Akademie. Nach dem Katalog von 1974 sind drei wiss. Mitarbeiter neben dem Leiter des Archivs beschäftigt. Unter den bis 1974 katalogisierten Tonbandaufnahmen des Archivs, die je ca. 20 Min. Laufzeit haben und in Vollspur mit 9,5 oder 19 cm/sec aufgenommen sind, befinden sich über 2000 Sprachaufnahmen aus Österreich, weitgehend Dialektaufnahmen freier Rede. (4) Die Dokumentation österreichischer Dialekte und Umgangssprache ist eine von mehreren Aufgaben des Archivs, die seit 1903 in Zusammenarbeit mit den germanistisch-dialektologischen Institutionen in Wien (vgl. 2.3.14. und 2.5.8.) durchgeführt wird. (5) Literatur: Graf 1964. 2.3.16. Zürich, Phonogrammarchiv (1) Phonogrammarchiv der Universität Zürich, Freiestr. 36, CH-8032 Zürich Präsident der Leitenden Kommission: Prof. Dr. Ko n r a d H u b e r (Romanist). (2) Das Archiv wurde 1909 von dem Germanisten Albert Bachmann und dem Romanisten Louis Gauchat gegründet. Präsidenten der Leitenden Kommission waren Bachmann (1909—1934), Eugen Dieth (1934 bis 195 6 ), Rudolf Hotzenköcherle (195 6 bis 1964), seitdem Konrad Huber. (3) Träger ist der Kanton Zürich, projektgebundene Mittel kommen aus Stiftungen u. ä. Die Kommission besteht aus dem Präsi-
denten und acht weiteren Mitgliedern (Sprachwissenschaftler). Wiss. Mitarbeiter ist Clau Solér. Das Archiv veröffentlicht die Reihe ‘Schweizer Mundarten in Text und Ton’, Sprechplatten und Tonbänder schweizerischer Dialekte und Begleithefte zu den Aufnahmen, unter anderem die SDS-Phonogramme mit bisher 16 Platten und Begleitheften, die auch Transkriptionen enthalten. Die Originale der Aufnahmen sind im Archiv zugänglich, katalogisiert wurden sie bisher nicht. (4) Ziel des Archivs ist die phonographische Dokumentation der schweizerischen Dialekte. Als Projekt wird seit 1978 die rätoromanisch-deutsche Zweisprachigkeit im Gebiet von Surselva (Hinterrhein) nach Form, Ursache und Richtung untersucht. Das Projekt unter Leitung von Prof. Th. Ebneter (Sprachlabor Zürich) soll 1986 abgeschlossen sein. 2.3.17. Zürich, Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) (1) Sprachatlas der deutschen Schweiz, Seilergraben 1, CH-8001 Zürich Leiter: Prof. Dr. Pa u l Z i n s l i (Bern), Dr. Ro b e r t S ch l ä p fe r (Itingen), Dr. Rud o l f Tr ü b (Zollikon). (2) Der SDS wurde auf Initiative von Rudolf Hotzenköcherle und Heinrich Baumgartner 1935 begonnen und an der Universität Zürich bearbeitet. Leiter waren Hotzenköcherle (1935—†1976 , bis 1944 mit Baumgartner, seitdem mit Paul Zinsli), seit 1976 gibt es drei gleichberechtigte Leiter. Hotzenköcherle war zugleich Leiter, Explorator, Herausgeber und Bearbeiter. (3) Der SDS ist ein eigenständiges Unternehmen mit Arbeitsräumen in der Universität. Der Schweizerische Nationalfonds trägt die Material- und Lohnkosten für die wiss. Mitarbeiter Robert Schläpfer (½ Stelle), Rudolf Trüb (⅓ Stelle) und Doris Handschuh (½ Stelle). Bisher wurden vier Atlasbände und zwei Einführungsbände publiziert. Die Sammlungen des SDS, 1939—1958 durchgeführt, umfassen zumeist vollständige Fragebuchaufnahmen aus über 6 00 Orten mit ca. 3 Mio. transkribierten Belegen, ca. 500 000 Spontanbelege und ca. 10 000 sachkundliche Skizzen und Photos. Die ergänzenden Tonbandaufnahmen befinden sich im Phonogrammarchiv (s. 2.3.16.). (4) Derzeit wird Bd. V bearbeitet (Wortgeographie II: Menschliche Gemeinschaft, Kleidung, Nahrung), mit Bd. VI (Wortgeo-
11. Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungender Dialektologie im deutschen Sprachgebiet
graphie III: Zeit, Raum, Natur) wird begonnen. (5) Literatur: Hotzenköcherle 1965. 2.4. Wörterbuchkanzleien Zur inhaltlichen Charakterisierung der nachfolgend behandelten Wörterbücher vgl. die Art. 41 und 79; zum Areal der Wörterbücher vgl. Karte 79.3. 2.4.1. Erlangen, Ostfränkisches Wörterbuch (Ofr. Wb.) (1) Ostfränkisches Wörterbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Henkestr. 8, 8520 Erlangen. Leiter (ehrenamtlich): Prof. Dr. S i e gf r i e d B eys ch l a g. (2) Nach ersten Sammlungen seit 1911 durch August Gebhard (1911—1915) und zentralen Fragebogenaktionen der Wörterbuchkommission der Bayerischen Akademie in München wurde 1933 unter Leitung von Friedrich Maurer (1933—1938) die Kanzlei in Erlangen eingerichtet. Nachfolger wurden Fritz Stroh (1938—1957) und Siegfried Beyschlag (seit 1957). (3) Träger des Wb. ist die Kommission für Mundartforschung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Redaktor ist Eberhard Wagner. (4) Die Herausgabe des Wb. stellt die einzige Aufgabe der Kanzlei dar. Bisher wurde noch keine Lieferung veröffentlicht. Das geplante Wb. erfaßt den Raum des bayrischen Franken. Die Zettelkartei von mehr als 1 Mio. Wortbelegen wurde überwiegend aus Fragebogen gewonnen (seit 196 0 wurden 57 Fragebogen verschickt), freie Einsendungen, Tonbandmaterial und Exzerption historischer Quellen kommen hinzu. (5) Literatur: Wagner 1976. 2.4.2. Frankfurt, Wörterbuch (Fr. Wb.) (1) Frankfurter Wörterbuch, Arbeitsstelle Beethovenstr. 59, 6000 Frankfurt 1; Leiter: Prof. Dr. Wo l f ga n g B r ü ck n e r (Würzburg). (2) Nach der Gründung einer städtischen Mundart-Kommission 1914 durch Friedrich Panzer konnte die Arbeit erst 1932 durch Julius Schwietering (1932—1939) und nach dem Kriege durch ihn am ‘Institut für deutsche Volkskunde’ (1945—1953) fortgesetzt werden. Nachfolger war Mathilde Hain (1953—1968), seitdem Wolfgang Brückner. (3) Träger des Wb. ist die ‘Frankfurter
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Historische Kommission’ seit 196 8. Mitarbeiterin ist Rosemarie Schanze. Das Wörterbucharchiv enthält ca. 130 000 Belege. (4) Das Fr. Wb. soll in drei Bänden zu je 4 Lieferungen à 200 Seiten bis 1982 erscheinen. Von 1971—1979 wurden neun Lieferungen (A—Los) vorgelegt. Ein 4. Band soll Einführung, Quellen und Registerteil enthalten. Das Material des Wb. ist historischer Art. Es beruht zur Hälfte auf der Exzerption der Frankfurter Mundartliteratur zwischen 1820 und 1920; hinzu kommt die Wortschatzsammlung des Gymnasialprofessors Johann Josef Oppel, die dieser 1839 bis 1894 erhoben hat, sowie frühere Mundartliteratur und sporadisches Fragebogenmaterial aus dem 20. Jh. (5) Literatur: Brückner 1976. 2.4.3. Freiburg, Badisches Wörterbuch (Bad. Wb.) (1) Badisches Wörterbuch. Deutsches Seminar der Universität, Werthmannplatz, 7800 Freiburg i. Br. Leiter: Dr. G e r h a r d W. B a u r. (2) Mit Materialsammlungen war 1895 von Friedrich Kluge, ab 1907 zusammen mit Alfred Götze begonnen worden. 1914 wurde Ernst Ochs Leiter des Wb. (bis 196 1). Sein Nachfolger wurde Karl Friedrich Müller (196 1—196 7), der erstmals eine für den Leiter des Wb. eingerichtete Stelle am Deutschen Seminar der Universität innehatte. Seit 196 8 ist Gerhard W. Baur Leiter des Wb. Ein die Arbeit unterstützender Ausschuß für das Wb. wurde 1920 gegründet, er wird seit 196 7 von Bruno Boesch geleitet. Die Publikation des Wb. wurde 1925 begonnen. (3) Das Bad. Wb. ist als Abteilung im Deutschen Seminar der Universität verankert, das auch den überwiegenden Teil der Sachmittel gibt. Der Leiter ist zugleich Bearbeiter des Wb. Die Sammlungen des Wb. umfassen das auf Anfrage benutzbare, alphabetisierte Zettelmaterial des Archivs, Fragebögen zur Laut-, Formen- und Wortgeographie aus derzeit 157 badischen Orten, Fragebögen zur Weinbauterminologie und ein Tonbandarchiv mit ca. 50 Aufnahmen freier Gespräche. Hinzu kommen Tonbandkopien der badischen Aufnahmen des Deutschen Spracharchivs und Fragebogenkopien einer Erhebung von Ernest Beyer 1956 in 86 Orten. (4) Die Bearbeitung und Herausgabe des Wortschatzes der Mundarten im Gebiet des früheren Landes Baden ist die zentrale Aufgabe der Wörterbuchstelle. Bisher liegen
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zwei Bände (A, B/P, D/T, E, 1940; F/V, G, H, 1974) und fünf Lieferungen des 3. Bandes vor. Jährlich sollen 1—2 Lieferungen erscheinen. Das Wortschatz-Material wurde überwiegend indirekt per Fragebogen erhoben, hinzu kommen direkte Erhebungen, teilweise mit Tonbandaufzeichnungen, sowie ausgewählte historische Belege. Der Fachwortschatz wird ebenfalls aufgenommen. Neben der Wörterbucharbeit erstellte Baur eine Bibliographie zur Mundartforschung in Baden-Württemberg (1978) und befaßt sich mit den Mundarten badischer Aussiedler in Südosteuropa und Übersee, sowie mit Lehrerbefragungen zur Dialektverwendung. (5) Forschungen zur Vornamengebung und zu Rodungsnamen im Schwarzwald werden weitergeführt. (6) Literatur: Baur 1976. 2.4.4. Gießen, Südhessisches Wörterbuch (Südh. Wb.) (1) Südhessisches Wörterbuch, Justus Liebig-Universität Gießen, Ludwigstr. 21, 6300 Gießen. Leiter: Dr. Ro l a n d M u l c h. (2) 1925 wurde von der Historischen Kommission für Hessen das Südh. Wb. mit Friedrich Maurer (1925—1931) als Leiter der Kanzlei gegründet. Seine Nachfolger waren Friedrich Stroh (1931—1937), Alfred Götze (1937—1945) und Rudolf Mulch (1948 bis 1973). (3) Träger des Wb. ist die Hessische Historische Kommission Darmstadt, die Finanzierung erfolgt durch das Hessische Kultusministerium. Die Kanzlei bildet eine selbständige Einheit im Fachbereich Germanistik der Universität Gießen. Leiter und zugleich Bearbeiter des Wb. ist Roland Mulch; Rudolf Mulch ist ehrenamtlich als Bearbeiter tätig. (4) Das Material für das Südh. Wb. wurde ab 1925 mit Wortschatzsammlungen freier Mitarbeiter erhoben. Dann wurden bis 1934 ca. 100 Fragebogen, teils wortgeographische, teils onomasiologische, ausgeschickt und 1956 —196 4 ergänzt. Der Bestand umfaßt ca. 1,5 Mio. Belege. Das Arbeitsgebiet wurde von Beginn an mit dem des Pfälz. Wb. (vgl. 2.4.8.) abgestimmt. Es umfaßt den rheinhessischen Teil von Rheinland-Pfalz etwa zwischen Bingen, Alzey und Worms, sowie Hessen südlich des Mains bis zum Odenwald. Seit 196 5 erscheint eine Lieferung jährlich, bis 1980 sind drei Bände erschienen (Bd. 3,
1973—1977, H—Kr), sowie die 2. Lieferung von Bd. 4 (1980). (5) Nebenamtlich wird die hessische Flurnamensammelstelle Gießen betreut. (6) Literatur: Mulch 1976. 2.4.5. Gießen, Sudetendeutsches Wörterbuch (Sud. Wb.) (1) Sudentendeutsches Wörterbuch, Roonstr. 31/II, 6300 Gießen. Leiter: Dr. H o r st Kü h n e l. (2) 1930 wurde von Ernst Schwarz und Erich Gierach das ‘Sudetendeutsche Mundartwörterbuch’ an der Deutschen Universität Prag gegründet. Seit 1945 sind die umfangreichen Sammlungen nicht mehr zugänglich. Auf Anregung der ‘Historischen Kommission der Sudentenländer’ nahm 1957 unter Leitung von Franz J. Beranek († 196 7) das Sud. Wb. seine Arbeit an der Universität Gießen auf. Vorsitzender der Wörterbuchkommission wurde Ernst Schwarz. 19 6 7—†1977 leitete Hertha Wolf-Beranek das Institut, seit 1974 zusammen mit Horst Kühnel. (3) Das Sud. Wb. ist eine Arbeitsstelle des Collegium Carolinum e. V., Forschungsstelle für die böhmischen Länder (München). Finanziert wird es im wesentlichen von der DFG. Außer dem Leiter sind zwölf Hilfskräfte und eine Sekretärin (halbtags) beschäftigt. Das Material besteht aus 120 Fragelisten, die von jeweils ca. 6 50 Gewährsleuten ausgefüllt wurden, sowie aus zahlreichen sonstigen Wortsammlungen. Hinzu kommt der Nachlaß von Franz J. Beranek (Sud. Umgangssprache, Namensammlung). Dem Sud. Wb. angeschlossen ist das ‘Sudetendeutsche volkskundliche Archiv’. Bisher wurden 22 Jahresberichte (bis 1978) publiziert, hrsg. vom Collegium Carolinum. (4) Die Fragelistenaktion wurde 196 8 abgeschlossen. Zur Zeit wird das Material (Fragelisten, dialektales und dialektologisches Schrifttum) ausgewertet. 1981 soll mit der Veröffentlichung des Wb. begonnen werden (Hrsg.: Collegium Carolinum). Das Sud. Wb. verfolgt in erster Linie dokumentarische Ziele. Berücksichtigt werden neben den ober- und mitteldeutschen Dialekten der Sudentenländer auch Umgangssprache und diverse Soziolekte mit Stichjahr 1938/45. Aus den Materialien des Sud. Wb. und des Volkskundearchivs sind bisher rund 6 0 Publikationen erschienen. (5) Literatur: Wolf-Beranek 1976.
11. Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungender Dialektologie im deutschen Sprachgebiet
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2.4.6. Göttingen, Niedersächsisches Wörterbuch (Nds. Wb.)
2.4.7. Groningen (NL), Helgoländer Wörterbuch (Helg. Wb.)
(1) Institut für Historische Landesforschung der Georg-August-Universität Göttingen, Arbeitsstelle Niedersächsisches Wörterbuch, Nikolausberger Weg 11 a, 340 0 Göttingen. Leiter: Prof. Dr. H a n s Pa t z e. (2) Die Geschäftsstelle des Nds. Wb. befand sich seit ihrer Gründung 1935 am Seminar für deutsche Philologie der Universität Göttingen. Zu ihrer organisatorischen Absicherung wurde sie noch 1935 in die neue ‘Abteilung für niedersächsische Mundartforschung’ integriert. Leiter des Wb. waren Hans Janßen (1935—1945), Wolfgang Jungandreas (1945—1953), Hans Neumann (1953/54) und Heinrich Wesche (1954—1973), der zugleich den Lehrstuhl für niederdeutsche Sprache und Literatur bekleidete. Nach der Emeritierung Wesches 1973 wurde das Nds. Wb. dem ‘Institut für Historische Landesforschung’ unter Leitung von Hans Patze eingegliedert. (3) Träger des Nds. Wb. ist das Land Niedersachsen. Bearbeiter des Wb. sind Ulrich Scheuermann und Wolfgang Kramer. Das Archiv des Wb. enthält ca. 1,2 Mio. Belege und ca. 280 Wortkartenskizzen von Hans Janßen, dazu ein Zettelarchiv mit weiteren 1,3 Mio. Belegen aus Sekundärsammlungen (private Wortschatzund SprichwörterSammlungen, Dialektwörterbücher bis zum 18. Jh., und Material von zwei Wortschatzerhebungen beim Westfälischen Wb.). (4) Aufgabe der Arbeitsstelle ist allein die Herausgabe des Nds. Wb. Das Nds. Wb. erfaßt im wesentlichen den Raum der heutigen Bundesländer Niedersachsen und Bremen. Sämtliches Material des Wb. wurde auf indirektem Wege erhoben: durch zehn eigene Fragebogen (1936 —1947) und durch Exzerption des Zettelarchivs mit historischen Belegen bis zum 18. Jh.; Dialektliteratur wird nur noch bis zum Abschluß des Buchstaben B (= Bd. 2) in das Wb. aufgenommen. Von 1951 bis 1979 sind Bd. 1 und vier Lieferungen von Bd. 2 (-lōt2) erschienen. Von der maschinellen alphabetischen Sortierung, abgeschlossen 1979, wird eine Beschleunigung der weiteren Herausgabe des Wb. erwartet. Vom Buchstaben C an sollen bisher fehlende Prinzipien der Lemmatisierung festgelegt und in einem Beiband unter anderem grammatische Informationen mitgeteilt werden. (5) Literatur: Wesche 1954; Scheuermann 1976.
Da dieses Wb. ein Unternehmen der Mainzer Akademie ist und bis 1976 in Marburg bearbeitet wurde, wird es hier behandelt. (1) Frysk Ynstitut fan de Ryksuniversität to Grins, NL-9718 CM Grins/Groningen, Westersingel 28—30. Leiter: Prof. Dr. N i l s Å r h a m m a r. (2) Das Helg. Wb. wurde 1950 von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur begründet und Willy Krogmann (Hamburg 1950—†196 7) mit der Ausarbeitung beauftragt. Seit 196 7 bearbeitet Århammar (Marburg, seit 1977 von Groningen aus) das Wb. (3) Träger des Wb. ist die Mainzer Akademie. Außer dem Bearbeiter gibt es keinen hauptamtlichen Mitarbeiter. Krogmann hatte das Material aus älteren gedruckten Wortsammlungen, Texten und eigenen Aufzeichnungen gewonnen. 1957—19 6 8 erschienen dann fünf Lieferungen des Wb. (A—L). Seit 196 8 hat Århammar mit neuen direkten und indirekten Erhebungen begonnen. Bis 1978 waren ca. 80 Notizhefte und 175 Stunden Bandmaterial sowie Briefe und andere Texte gesammelt worden. Im Jahrbuch der Akademie erscheint jährlich ein Bericht über die Arbeiten am Wb. (4) Das Helg. Wb. soll auf der neuen Materialgrundlage fortgeführt werden, wohl mit anderer Anlage und anderem Aufbau als die Teile von Krogmann (vgl. Århammar 1977). Bisher wurden die Wörter mit M—P im Anlaut exzerpiert. (5) Literatur: Krogmann 196 5; Århammar 1977. Hamburg, Hamburgisches Wörterbuch (vgl. 2.3.7.). Hamburg, Mittelniederdeutsches Handwörterbuch (vgl. 2.3.7.). 2.4.8. Kaiserslautern, Pfälzisches Wörterbuch (Pfälz. Wb.) (1) Pfälzisches Wörterbuch, Benzinoring 6, 6750 Kaiserslautern. Leiter: Dr. J u l i u s K r ä m e r. (2) 1912 wurde die Kanzlei von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gegründet, 1914 der erste Fragebogen von Georg Heyer und Theodor Zink ausgesandt. Leiter war Ernst Christmann von 1925—1953 mit Unterbrechungen, seit 1954 Julius Krämer.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
(3) Träger des Pfälz. Wb. ist die Mainzer Akademie, die Etatmittel stammen vom Land Rheinland-Pfalz und dem Bezirksverband der Pfalz. Wiss. Mitarbeiter ist Wilhelm Metzler. Die Kanzlei verfügt über 1 Mio. Wortzettel aus ca. 100 Fragebögen, ca. 1000 Karten und 200 Tonbandaufnahmen aus 48 Orten der Pfalz und aus 26 Wohnorten von Auslandspfälzern. (4) Aufgabe der Kanzlei ist allein die Erarbeitung des Pfälz. Wb. Die 1914 begonnenen Sammlungen wurden bis 196 1 fortgesetzt, seit 1954 im wesentlichen durch Fragebogenerhebungen bei Auslandspfälzern. Das Tonbandmaterial stammt weitgehend aus der für das spätere Deutsche Spracharchiv 1956 /58 durchgeführten Aufnahmeaktion in der Pfalz. Vom Wb. sind bisher drei Bände (A, B/P, (c), 196 5—196 8); (D/T, E, F/V, 196 9—1975); (G, H, I, J, 1976 —1980) erschienen. Pro Jahr sollen zwei Lieferungen erscheinen. Mit dem Abschluß wird in 13 Jahren gerechnet. (5) Literatur: Krämer 1976. 2.4.9. Kiel, Nordfriesisches Wörterbuch (Nordfr. Wb.) (1) Nordfriesische Wörterbuchstelle, Neue Universität, Olshausenstr. 40—60, 2300 Kiel. Leiter: Prof. Dr. B o S j ö l i n. (2) Die Nordfr. Wörterbuchstelle wurde 1950 eingerichtet und dem Nordischen Institut unterstellt. Leiter wurde damit Hans Kuhn (1950—1974), sein Nachfolger Dietrich Hofmann (bis 1978). Mit Sammlungen war schon 1906 begonnen worden. (3) Träger der Nordfr. Wörterbuchstelle ist das Land Schleswig-Holstein. Alastair Walker und Ommo Wilts sind die beiden hauptamtlichen Bearbeiter. Die Sammlungen umfassen ca. 6 00 000 Belege aus den zehn Dialektgebieten des Nordfr. sowie ein Tonbandarchiv und eine große Zahl nordfr. Texte. (4) Ziel der Arbeit ist die Erstellung eines gesamtnordfr. Wb. und die Tonbandarchivierung der Dialekte. Daneben wird ein Handwörterbuch des Mooringer Dialektes mit ca. 20 000 Wörtern vorbereitet. Wegen der großen Unterschiede zwischen den Einzeldialekten besteht die wichtigste Arbeit für das Wb. in der Lemmatisierung nach dem Stichwort des Föhrer Dialekts, die bis zum Buchstaben K gediehen ist. (5) Literatur: Walker/Wilts 1976.
2.4.10. Kiel, Preußisches Wörterbuch (Pr. Wb.) (1) Preußisches Wörterbuch, Neue Universität, Olshausenstr. 40—60, 2300 Kiel. Leiter: Prof. Dr. E r h a r d R i e m a n n. (2) Walter Ziesemer hatte seit 1911 Material für ein Pr. Wb. gesammelt und einen ersten Bd. (A-Fingernagel) veröffentlicht. Nach der Zerstörung dieses Materials im Jahre 1945 erhielt Riemann 1952 von der Mainzer Akademie den Auftrag für das neue Pr. Wb. Seit 1955 wird es in Kiel am Germanistischen Seminar bearbeitet. (3) Träger des Pr.Wb. ist die Mainzer Akademie, Sachmittel gibt die DFG. Wiss. Mitarbeiter ist Ulrich Tolksdorf. Zum Archiv des Pr.Wb. gehören die Fragebogensammlung (21 6 77 Fragebogen), das Zettelarchiv (2 Mio. lemmatisierte Wortzettel), das Tonbandarchiv (150 Aufnahmen) und die Kartensammlung (ca. 500 Karten). (4) Die Herausgabe des Wb. ist die alleinige Aufgabe der Kanzlei. Es erscheint seit 1974 als ‘Preußisches Wörterbuch. Deutsche Mundarten Ost- und Westpreußens’; bisher sind neun Lieferungen von Bd. 2 (fihundsch) und die Einführung (Bd. 1, Lieferung 1) erschienen. Das Pr.Wb. basiert auf 1952—196 0 überwiegend indirekt per Fragebogen erhobenem Mundartmaterial von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ost- und Westpreußen. Historisches Material wie bei Ziesemer fehlt. Das Pr.Wb. soll in vier Textbänden zu zehn Lieferungen und einem Registerband erscheinen. (5) Literatur: Riemann 1976. Marburg, Baltendeutsches Wörterbuch (vgl. 2.2.2.; derzeit nicht in Bearbeitung, vgl. Schönfeldt 1965). Marburg, Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch (vgl. 2.2.2.). 2.4.11. München, Bayerisches Wörterbuch (Bayer. Wb.) (1) Kommission für Mundartforschung — Bayerisches Wörterbuch — bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Marstallplatz 8, 8000 München 22. Leiter des Wb.: Dr. G e r t r u d Ro n d e. Vorsitzender der Kommission: Prof. Dr. Karl Hoffmann. (2) Die Kommission wurde 1911 gegründet. Leiter waren Ernst Kühn (1912—1921), Carl von Kraus (1921—1937), Erich Gierach (1937—1944), Gerhard Rohlfs (1947—1955), Hugo Kuhn (1955—1975). Leiter des Wb. in
11. Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungender Dialektologie im deutschen Sprachgebiet
München (vgl. 2.3.14.) waren Carl von Kraus (1912—1930), Eberhard Kranzmayer (1939—1947), Otto Basler (1947—1957), Ingo Reiffenstein (1958—196 8), seitdem Gertrud Ronde. (3) Träger des Wb. wie der gesamten Akademie ist der Freistaat Bayern. Neben der Leiterin arbeiten drei wiss. Mitarbeiter, Hand-Dieter Denk, Bernd Insam, Otto Weber und ein Registrator, zudem zehn freie wiss. Mitarbeiter auf Honorarbasis oder ehrenamtlich. Das Material des Wb. von 2 Mio. Belegen wurde größtenteils in drei Fragebogenaktionen indirekt erhoben, in geringem Maße auch durch direkte Aufnahmen. Die letzte Aktion seit Ende der 50er Jahre dient der Lemmatisierung und Schließung von Lücken. Historische Quellen aus dem bayerischen Raum seit Beginn schriftlicher Überlieferung wurden ebenfalls berücksichtigt. (4) Lieferung 1 von Bd. 1 befindet sich im Druck, ein Quellenheft soll folgen. Geplant sind 6 —8 Bände mit je 10 Lieferungen à 128 Spalten. Das Bayer. Wb. erfaßt den Raum des Freistaates Bayern sowie einige angrenzende schwäbische und fränkische Landkreise. (5) Literatur: Reiffenstein 196 5; Ronde 1976. Wien, Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (vgl. 2.3.14.). 2.4.12. Zürich, Schweizerdeutsches Wörterbuch (Id.) (1) Schweizerdeutsches Wörterbuch (Schweizerisches Idiotikon), Seilergraben 1, 8001 Zürich. Chefredaktor: Prof. Dr. Pe t e r D a lch e r. (2) 18 6 2 wurde von Friedrich Staub (Chefredaktor bis 1896 ) auf Veranlassung der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich mit den Sammlungen begonnen, 1881 erschien die 1. Lieferung. Nachfolger waren Albert Bachmann (1896 —1934), Otto Gröger (1934—1951), Hans Wanner (1951—1974), seitdem Peter Dalcher. (3) Träger des Id. ist der ‘Verein zur Herausgabe des Schweizerdeutschen Wb.’. Mitglieder sind die Eidgenossenschaft, die deutschsprachigen Kantone, die Stadt Zürich, andere Vereine und Einzelpersonen. Den Vorsitz hat der Erziehungsdirektor (Kultusminister) des Kantons Zürich. Die Finanzierung erfolgt durch die Mitglieder. Neben Dalcher sind Redaktoren Rudolf Trüb, Peter Ott, Th. A. Hammer, Ruth Jörg.
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Die Sammlungen des Id. bestehen aus zahlreichen Wortschatzsammlungen, Manuskripten von Grammatiken und Wörterbüchern, sämtlich exzerpiert, aus allen Regionen der deutschen Schweiz. Jährlich publiziert das Id. einen Bericht. (4) Im Id. wird der Wortschatz aller Dialekte der deutschen Schweiz und der Walsermundarten Oberitaliens erfaßt. Hinzu kommt die schriftliche Überlieferung seit dem 12. Jh., mit besonderer Dichte im 15. und 16 . Jh. In jeden Artikel gehen auch sachkundliche und etymologische Erörterungen ein. Namenwortschatz und Mundartliteratur sind ebenfalls aufgenommen. Die Anordnung der Artikel folgt dem Schmellerschen System. Bisher sind 13 Bände und sieben Lieferungen des 14. erschienen. (5) Literatur: Wanner 19 6 5; Wanner 1976. 2.5. Projekte und ähnliche Organisationsformen 2.5.1. Duisburg, Gesamthochschule (1) Gesamthochschule Duisburg, Fachbereich 3: Sprach- und Literaturwissenschaften, Lotharstr. 65, 4100 Duisburg 1. Leiter Projekt A: Prof. Dr. U l r i ch A mm o n. Leiter Projekt B: Prof. Dr. A r e n d M i h m. (2) Projekt A wurde 1972 begonnen. (3) Projekt A wurde von der DFG, Projekt B wird vom Wissenschaftministerium Nordrhein-Westfalen finanziert (Personalmittel für studentische Hilfskräfte und Sachmittel). (4) Projekt A beschäftigte sich mit ‘Dialekt als Sprachbarriere’; Publikation der Ergebnisse bei Ulrich Ammon, Schulschwierigkeiten von Dialektsprechern, Weinheim 1978. Im Projekt B wird eine InterferenzAnalyse des Ruhrdeutschen am Beispiel der gesprochenen Sprache in Duisburg erarbeitet. Erhebung und Auswertung der nach Altersklassen aufgegliederten Sprachaufnahmen (ca. 300 Tonbänder) sind beendet, eine Monographie soll folgen. (5) Literatur: Ammon 1978; Mihm 1979. 2.5.2. Kiel, Niederdeutsche Abteilung (Nd. Abt.) (1) Klaus-Groth-Forschungsstelle an der Niederdeutschen Abteilung des Germanistischen Seminars, Olshausenstr. N 05 c, 2300 Kiel.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
Leiter: Prof. Dr. U l f B i ch e l, Dr. J o ach i m H a r t i g. (2) Die Forschungsstelle wurde 1973 eingerichtet. Die Nd.Abt. wurde 1948 gegründet von Gerhard Cordes (Leiter bis 1976 ), Herausgeber und Bearbeiter des Mnd. Handwb. (vgl. 2.3.7.). (3) Träger der Forschungsstelle ist die Nd.Abt. Mittel geben die Schleswig-Holsteinische Universitätsgesellschaft und das Land. Wiss. Mitarbeiter ist Roman Schwarzwald. (4) Im Rahmen des Gesamtziels, einer Erstellung von Arbeitsgrundlagen für die Frühgeschichte der neu-niederdeutschen Sprache und Literatur, sind zwei bibliographische Arbeiten begonnen worden: Gesamtverzeichnis des Schriftwechsels von Klaus Groth (1819—1899) und Schriftenverzeichnis zu Werk und Person des Dichters. Daneben werden laufend Staatsarbeiten vergeben zur Lage des Plattdeutschen in einzelnen Orten Schleswig-Holsteins. 2.5.3. Münster, Fränkischer Sprachatlas (Fr.SA) (1) Niederländisches Seminar der Universität Münster, Projekt ‘Fränkischer Sprachatlas’, Magdalenenstr. 5, 4400 Münster. Leiter: Prof. Dr. J a n G o o s s e n s. (2) Das Projekt Fr.SA wurde 1973 begonnen. (3) Der Fr.SA ist ein von der DFG finanziertes Projekt. Wiss. Mitarbeiter ist Heinz Eickmanns. (4) Das Ziel des Projektes ist die Veröffentlichung eines Atlas von ca. 6 0 mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung hergestellten wort-, bedeutungs- und formengeographischen Karten mit Kommentar. Der Atlas erfaßt die Räume der moselfränkischen, ripuarischen und niederfränkischen sowie der südöstlichen niederländischen Dialekte. Er wird auf der Grundlage abgeschlossener Spracherhebungen in diesem Raum bearbeitet (DSA, DWA, Rhein.Wb. etc.). Die Auswertung dieses Materials wird 1980 abgeschlossen, die Publikation erfolgt im Lauf der 80er Jahre. (5) Literatur: Eickmanns 1979. 2.5.4. München, Bayerischer Dialektzensus (1) Institut für Deutsche Philologie der Universität München, Projekt ‘Bayerischer Dialektzensus’, Schellingstr. 7/I, 80 0 0 München 40. Leiter: Prof. Dr. Ku r t Re i n.
(2) Das Projekt wurde 1975 begonnen. (3) Das Projekt wird mit zwei wiss. Mitarbeitern von der DFG finanziert. (4) Das Münchener Projekt verfolgt drei Ziele: eine repräsentative Bestandsaufnahme zur Verbreitung von Dialekt und Hochsprache und der Einstellung zum Dialekt, eine Untersuchung der Wirkungen des Dialektgebrauchs in der schulischen Sozialisation, sowie eine daraus gewonnene Fehleranalyse mit dem Ziel einer konstrastiven Grammatik bayerische Dialekte-Hochsprache in Form eines Lehrerhandbuchs. Die indirekte Auftragsbefragung mit 70 Fragen ist bei 1113 Sprechern 1975 durchgeführt worden, weiter sind Sprachaufnahmen und Aufsätze von 14 vierten Klassen bayerischer Schulen eingegangen. Mit der Fehleranalyse ist begonnen worden. (5) Literatur: Rein/Scheffelmann-Mayer 1975. 2.5.5. Salzburg, Projekt ‘Ulrichsberg’ (1) Universität Salzburg, Institut für Germanistik, Akademiestraße 20 , A-50 20 Salzburg. Leiter: Univ. Ass. Dr. A n d r e a s We i s s. (2) Das Projekt wurde 1977 begonnen und wird voraussichtlich 1982 abgeschlossen. (3) Das Projekt mit zwei wiss. Mitarbeitern und drei Hilfskräften wird vom Fonds zur Förderung der wiss. Forschung in Österreich finanziert. Die Datensammlung mit etwa 130 Tonbandaufnahmen — Interviews und Gespräche — aus der Gemeinde Ulrichsberg (OÖ.) und anderen Orten der Umgebung ist vorerst abgeschlossen; die meisten Aufnahmen sind phonologisch transkribiert. (4) Bei dem Salzburger Projekt geht es um die empirisch-statistische Untersuchung des Sprachverhaltens in der Gemeinde Ulrichsberg im Mühlkreis, Oberösterreich. Für die Ortssprache-Analyse sollen verschiedene soziale Gruppen, verschiedene Situationen und verschiedene Sprachebenen berücksichtigt werden. Untersuchungen zur Spracheinschätzung sind bereits abgeschlossen worden. (5) Literatur: Weiss 1978. 2.5.6. Zürich, Projekt ‘Zürichdeutsch’ (1) Sprachlabor der Universität Rämistr. 74, CH-8001 Zürich. Leiter: Prof. Dr. T h e o d o r E b n e t e r.
Zürich,
11. Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungender Dialektologie im deutschen Sprachgebiet
(2) Das Projekt ‘Zürichdeutsch im Sprachlabor’ wurde 1971 begonnen. (3) Träger des Projektes ist der ‘Bund Schwyzertütsch’ (s. 2.6 .3.). Die Mittel stammen von staatlichen und privaten Beiträgern. Die wiss. Mitarbeiter Theodor Ebneter, Rudolf Trüb, Jörg Bleiker, Irène Kummer und Heidi Uster sind nebenamtlich tätig. Die Bänder werden im Tonstudio des Sprachlabors aufgenommen. (4) Das erste Ziel des Projekts, die Erstellung von zehn Lektionen zu syntaktischen Phänomenen eines ‘Lehrgangs für Zürichdeutsch’, ist mit den Bändern und zwei maschinenschriftlichen Begleitkursen 1978 abgeschlossen worden. Fernziel ist die Erstellung eines umfassenderen Lehrwerkes für das Zürichdeutsche mit integriertem Sprachlaborteil. Im folgenden Abschnitt ist über dialektologische Forschungen zu berichten, die innerhalb von nicht speziell dialektologisch ausgerichteten Institutionen als fortlaufende Arbeiten neben anderen Aufgaben durchgeführt werden. Die Angaben zu diesem Typ der Forschung (Schema: Adresse, Leiter, Beschreibung des Forschungsthemas) sind notwendig unvollständig. Man kann sicher eine ganze Reihe weiterer Institutionen zu den unten verzeichneten hinzunehmen, besonders germanistische und linguistische Institute der Universitäten und entsprechende der Pädagogischen Hochschulen, aber der Organisationstyp ‘Einzelforschung’ kann hier nicht eigens erfaßt werden. Hier werden nur wenige, eher dem ‘Projekt’-Typ (außer in der zeitlichen Begrenzung) zuzuordnende Institutionen aufgeführt.
2.5.7. Frankfurt, Sprechwiss. Arbeitsbereich Institut für deutsche Sprache und Literatur II. Sprechwissenschaftlicher Arbeitsbereich. Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Senckenberganlage 27, 60 0 0 Frankfurt 1. Prof. Dr. H o r st D i e t e r S ch l o s s e r. Themen: Sozialprestige des Dialektgebrauchs (Seminarund Examensarbeiten); sozial- und verhaltenspsychologische Aspekte des Dialektgebrauchs (kommentierte Bibliographie in Vorbereitung); Untersuchungen zu regionalpolitischen Faktoren des Dialektgebrauchs (Literaturbericht in Vorbereitung). 2.5.8. Wien, Germanistisches Institut Germanistisches Institut der Universität Wien, Liebiggasse 5, A-10 10 Wien. Prof. Dr. Pe t e r
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W i e s i n ge r. Am Germ. Inst. bilden Dialektologie und Namenkunde in Forschung und Lehre einen besonderen Schwerpunkt. Im Druck ist eine von P. Wiesinger und E. Raffin erarbeitete ‘Bibliographie zur Grammatik der deutschen Dialekte: Laut-, Formen-, Wortbildungs- und Satzlehre, seit 1800’ mit Kurzkommentaren. Seit 1978 gibt P. Wiesinger zusammen mit C. J. Hutterer, J. Erben und I. Reiffenstein die Reihe ‘Schriften zur deutschen Sprache in Österreich’ heraus mit Schwerpunkt Dialektologie. Tonbandmaterial zu österreichischen Dialekten und eine umfangreiche dialektologische Bibliothek gehören zum Bestand des Germ. Inst. 2.5.9. Würzburg, Institut für deutsche Philologie Institut für deutsche Philologie. Lehrstuhl für deutsche Sprachwissenschaft, Am Hubland, 870 0 Würzburg. Leiter: Prof. Dr. No r b e r t R i ch a r d Wo l f. Wiss. Mitarbeiter: Werner Wegstein. Untersuchung des Würzburger Stadtdialekts nach soziolinguistischen (begonnen) und diachronischen Aspekten (geplant). Tonband- und Fragebogenarchiv im Aufbau. 2.5.10. Zürich, Deutsches Seminar Deutsches Seminar der Universität Zürich. Linguistische Abteilung. Rämistr. 74, CH80 0 1 Zürich. Leiter Prof. Dr. St e fa n S o nd e r e g ge r, Prof. Dr. H a r a l d B u rge r, Prof. Dr. H o r st S i t t a. In der Ling.Abt. wird die schweizerdeutsche Dialektologie und Namenkunde besonders berücksichtigt. Neben Einzelforschungen wird vor allem eine kommentierende Bibliographie zur schweizerdeutschen Dialektologie ständig weitergeführt (vgl. Sonderegger 1962). 2.5.11. Zürich, Phonetisches Laboratorium Phonetisches Laboratorium der Universität Zürich, Freiestr. 36, CH-80 32 Zürich. Leiter: Prof. Dr. E r n st L e i s i und Prof. Dr. St e f a n S o n d e r e g ge r (interimistisch). Wiss. Assistentin: S. Spörri-Bütler. Neben der Ausbildung in allgemeiner und einzelsprachlicher Phonetik werden phonetische Untersuchungen des Schweizerdeutschen (Verschlußlaute, Lall-Laute) bzw. einzelner schweizerdeutscher Dialekte (Zürichdeutsch, Oberengadinisch) auf der Grundlage von teilweise transkribierten Textcorpora durchgeführt.
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
2.6. Übergreifende Einrichtungen 2.6.2. Bremen, Institut für niederdeutsche Sprache (Nd.Inst.) (1) Institut für niederdeutsche Sprache e. V., Schnoor 41, 280 0 Bremen. Geschäftsführer: Dr. C l a u s S ch u p p e n h a u e r, Dr. Wo l f ga n g L i n d ow. (2) Das Nd.Inst. wurde 1973 auf Vereinsbasis gegründet und hat 1974 seine Arbeit aufgenommen. (3) Das Nd.Inst. arbeitet als Geschäftsstelle des Vereins. Neben dem Verein haben die norddeutschen Länder die Finanzierung übernommen. (4) Laut Satzung hat das Nd.Inst. folgende Ziele: „a) Sammlung, Ordnung und wissenschaftliche Analyse von niederdeutschen Sprachzeugnissen mit besonderer Berücksichtigung der Gegenwart, b) Aufbereitung der Arbeitsergebnisse für die Öffentlichkeit, c) Kontaktpflege mit ähnlichen Institutionen, auch außerhalb der Staatsgrenzen“ (Speckmann 1977, S. 24). Zur Verwirklichung dieser Aufgaben veranstaltet das Nd.Inst. Tagungen und publiziert als ‘Schriften des Instituts für niederdeutsche Sprache’ vier Reihen: Reihe Dokumentation, Reihe Schulpraxis, Reihe Kirche, Reihe Vorträge. (5) Literatur: Speckmann 1977. 2.6.3. Bund Schwyzertütsch (1) Bund Schwyzertütsch, Wirbelweg 8, CH-870 2 Zollikon. Obmann: Dr. Ru d o l f Tr ü b. (2) Der Bund wurde 1938 als Vereinigung zur Pflege der schweizerdeutschen Dialekte gegründet. Adolf Guggenbühl und Eugen Dieth waren die Initiatoren. (3) Der Bund ist als Verein organisiert. (4) Der Bund hat sich unter den Zielsetzungen ‘Mehr Schweizerdeutsch’ und ‘Besseres Schweizerdeutsch’ vor allem die Herausgabe und Betreuung der Reihe ‘Grammatiken und Wörterbücher des Schweizerdeutschen’ zur Aufgabe gestellt. Es handelt sich dabei um wissenschaftlich erarbeitete, aber an ein breites Publikum gerichtete Bände. Der Bund unterhält weiter eine Auskunftstelle für Mundartfragen, jetzt geleitet von Alfred Egli (Küsnacht). Die Förderung der Mundartliteratur sowie von Lehrmitteln und Dialektkursen (vgl. 2.5.6 .) betreibt der Bund ebenfalls. 2.6.4. Münster, Verein für niederdeutsche Sprachforschung
(1) Verein für niederdeutsche Sprachforschung, Magdalenenstr. 5, 4400 Münster (Germanistisches Institut der Universität, Niederdeutsche Abteilung). 1. Vorsitzender: Prof. Dr. J a n G o o s s e n s. (2) Der Verein wurde 1874 gegründet, Vorstand und Vorsitzende wechselten häufig. (3) Der Verein zählt über 500 persönliche und korporative Mitglieder. Jährlich wird in der Pfingstwoche zusammen mit dem Hansischen Geschichtsverein eine dreitägige Jahresversammlung veranstaltet (1979 die 92.). Der Verein publiziert regelmäßig ein ‘Korrespondenzblatt’ und ein ‘Jahrbuch’ (Band 100 erschien Ende 1978), daneben Monographien in den Reihen ‘Denkmäler’, ‘Drucke’, ‘Forschungen’ und ‘Wörterbücher’. (4) Die Zielsetzung des Vereins besteht in der Erforschung der niederdeutschen Sprache und ihres Schrifttums in älterer und neuer Zeit, die Mundartpflege ist ausgeklammert. 2.6.5. Wien, Internationales Dialekt Institut (IDI) (1) Internationales Dialekt Institut, Maynollogasse 3/13, 1180 Wien. Leiter: Dr. H a n s H a i d. (2) Das IDI wurde 1976 bei der zweiten Internationalen Arbeitstagung für Mundartliteratur gegründet. (3) Das IDI wird als Verein hauptsächlich durch Mitgliedsbeiträge finanziert. Es publiziert ein Informationsblatt ‘IDI-Information’ und die Zeitschrift ‘Dialect’. Das IDI hat kein festes Personal. (4) Das IDI beschäftigt sich mit moderner Mundart-Literatur — alle zwei Jahre findet eine Tagung statt —, mit den Bereichen ‘Dialekt in der Bildung’ und ‘Dialekt als Therapie’.
3.
Bibliographische Hinweise zu Tonbandaufnahmen deutscher Dialekte
Eine weltweite Übersicht über phonetische Institute mit dem Stand von etwa 1955 bietet Pop (1956 ), geordnet nach Staaten. Genauere Angaben zu Tonbandarchiven deutscher Dialekte finden sich darin aber nur für das Institut de phonétique in Straßburg (Borza, 16 4—217) und das Phonogrammarchiv in Zürich (Dieth, 329—346 ). Auch aus der Be-
11. Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungender Dialektologie im deutschen Sprachgebiet
richtesammlung Regionale Dialektologie (196 5) lassen sich einige solcher Tonbandarchive deutscher Dialekte auffinden. Die nachfolgenden Hinweise müssen wohl als in besonderem Maße ergänzungsbedürftig gelten. Die vorgestellten Ziffern in Klammer verweisen auf die Angaben zu den genannten Institutionen in Abschn. 2. (2.2.1.) Mannheim, DSAv: 68 47 Tonbandaufnahmen, überwiegend deutsche Mundarten und Umgangssprache; zur Gliederung s. Knetschke/Sperlbaum (1979, 18— 21); Kataloge: Monumenta Germaniae Acustica, Katalog 196 5 (196 5), Katalog 196 7 (196 9), Katalog 1970 (1972), Katalog 1978 (i. Vorb.). (2.2.2.) Marburg, DSA: ca. 3500 Dialektaufnahmen auf Tonband, Kassette oder Schallplatte, zur Gliederung s. Göschel (1977, 52—6 2, Karten und Verzeichnisse der Aufnahmeorte ebenda, Karte 1—5). (2.3.2.) Bonn, IGL: 72 Tonbänder des Erp-Projektes, 13 ALE-Aufnahmen, 34 Tonbänder der Erhebung in Kelzenberg, Kopien der DSAv-Aufnahmen im Rheinland, diverse andere Tonbänder; Kartei im Institut. (2.3.3.) Erlangen, Lehrstuhl: Tonbandarchiv ostfränkischer Dialekte und Umgangssprache im Aufbau. (2.3.4.) Freiburg, Germ. Abt.: Tonbandaufnahmen aus jeder 3. Gemeinde in Südbaden und Südwürttemberg (SSA) sowie aus weiteren ausgewählten Gemeinden, Kartierung und Verzeichnis der Aufnahmeorte bei Baur (1978, Karten 3 und 8). (2.3.5.) Göttingen, Nd. Abt.: 250 Tonbänder mit Erzählungen in Mundart, 118 Kopien von Aufnahmen des DSA Marburg. (2.3.7.) Hamburg, Nd.Abt.: Tonbandarchiv zur Fachsprache der Windmüller und Windmühlenbauer in Ostfriesland. (2.3.8.) Luxemburg, Section: einige Tonbandaufnahmen mit Gesprächen über Brauchtum. (2.3.9.) Mainz, Inst. für geschichtl. Landeskunde: Tonbandaufnahmen für einen rheinhessisch-mittelrheinischen Sprachatlas. (2.3.12.) Strasbourg, Centre: ca. 200 Tonbänder von Dialektaufnahmen aus dem Elsaß und Lothringen. (2.3.13.) Tübingen, Arbeitsstelle: ca. 1500 Tonbandaufnahmen aus Baden-Württemberg, Katalog: Ruoff (1973, 275—389; nur Auswertungskorpus), Kartierung und Ortsverzeichnis bei Baur (1978, Karten 3 und 8). (2.3.14./15.) Wien, Kommission /Phonogrammarchiv: Tonbandarchiv österreichi-
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scher Mundarten mit ca. 3000 Aufnahmen, gemeinsam erstellt: Kataloge der Aufnahmen B 1—13000 des Phonogrammarchivs in Katalog (196 0), (196 6 ), (1970), (1974); die Dialektaufnahmen sind über das Register der Sprache aufzufinden. (2.3.1 6 .) Zürich, Phonogrammarchiv: Tonbänder und Schallplatten schweizerischer Dialekte, unter anderem die des SDS (s. 2.3.17.), Verzeichnis der Aufnahmen bis 1955 bei Dieth 1956 ; die ausführliche Katalogisierung sämtlicher Aufnahmen steht noch aus. (2.4.1.) Erlangen, Ofr.Wb.: einige Tonbandaufzeichnungen für das Wb. (2.4.3.) Freiburg, Bad.Wb.: ca. 50 Tonbandaufnahmen von freien Gesprächen sowie Kopien der DSAv-Aufnahmen in Baden; Kartierung und Verzeichnis der Aufnahmeorte bei Baur (1978, Karte 3). (2.4.7.) Groningen, Helg. Wb.: ca. 180 Stunden Tonbandaufnahmen für das Wb. (2.4.8.) Kaiserslautern, Pfälz.Wb.: 200 Tonbandaufnahmen aus 48 pfälzischen Orten und für 26 Wohnorte von Auslandspfälzern, zumeist Kopien der DSAv-Aufnahmen aus der Pfalz. (2.4.9.) Kiel, Nordfr.Wb.: Tonbandarchiv für alle nordfr. Dialekte von ca. 16 0 Stunden Dauer mit Fragelisten oder freien Gesprächen. (2.4.10.) Kiel, Preuß.Wb.: 150 Tonbandaufnahmen, überwiegend aus der DSA- und DSAv-Aktion ‘Tonbandaufnahme ostdeutscher Mundarten 196 2—196 5’; Katalogisierung dieser Aufnahmen bei Bellmann/Göschel (1970). (2.5.1.) Duisburg, Gesamthochschule, Projekt B: ca. 300 Tonbänder mit Sprachaufnahmen von Duisburger Grundschülern, Jugendlichen und Erwachsenen. (2.5.4.) München, Bayerischer Dialektzensus: Sprachaufnahmen von 14 vierten Klassen bayerischer Schulen, jeweils in Mundart und Hochsprache. (2.5. 6 .) Zürich, Sprachlabor: Tonbänder mit Begleitheften für zehn syntaktische Lektionen eines ‘Lehrgangs für Zürichdeutsch’. (2.5.8.) Wien, Germ.Sem.: diverses Tonbandmaterial zu österreichischen Dialekten.
4.
Literatur (in Auswahl)
Adelung 1782 = Johann Christoph Adelung: Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache zur Erläuterung der deutschen Sprachlehre für
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I. Zur Geschichte der Dialektologie des Deutschen:Forschungsrichtungen und Forschungsschwerpunkte
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11. Wissenschaftsorganisation und Forschungseinrichtungender Dialektologie im deutschen Sprachgebiet
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Ernst Bremer, PaderbornWalter Hoffmann, Bonn
232
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
12. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie 1. 2. 3. 4. 5.
Übersicht über die Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie Zielsetzungen der ‘klassischen’ Dialektologie Objektbereich der ‘klassischen’ Dialektologie Methoden der ‘klassischen’ Dialektologie Literatur (in Auswahl)
Die generellen Linien der Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie werden durch ihren engen Zusammenhang mit der historischen Linguistik und einer daraus resultierenden Eigenentwicklung bestimmt. Ein Nachzeichnen dieser Theoriebildung stößt auf Schwierigkeiten, da mit der vergleichendgrammatischen Arbeit von Schmeller (1821) nicht nur die wissenschaftliche Dialektologie konstituiert wird, sondern auch zugleich in einer unerwartet ausgearbeiteten und vervollständigten Form erscheint, die alle wesentlichen Komponenten der praktizierten ‘klassischen’ Dialektologie enthält und darü ber hinaus noch Aspekte aufweist, die erst wesentlich später erneut in das dialektologische Blickfeld treten, wie z. B. der soziolinguistische Ansatz. Neben diesem wissenschaftsgeschichtlichen Problem ergeben sich üf r eine Theoriebeschreibung der ‘klassischen’ Dialektologie auch noch Darstellungsschwierigkeiten, da die hierfü r notwendige formalisierte Form bisher noch nicht ausgearbeitet wurde, so daß in diesem Artikel zunächst nur ein Überblick ü ber die Theorie im Sinne ihrer verschiedenen Formulierungsmöglichkeiten gegeben werden kann (vgl. Abschnitt 1.), um dann anschließend die ‘klassische’ Dialektologie in ihren wesentlichsten Theorieaspekten darzulegen (vgl. Abschnitt 2.—4.).
1.
Übersicht über die Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie
Der Begriff ‘klassische’ Dialektologie bezeichnet in ähnlicher Weise wie die Zusammensetzung mit ‘traditionell’ einen Zeitabschnitt in der dialektologischen Entwick-
lungsgeschichte, der hauptsächlich die wissenschaftliche Konstitutionsphase umfaßt und gegenü ber der strukturellen und generativen Dialektologie durch eine eigenständige Theoriebildung gekennzeichnet ist. Im Vergleich zu den ‘modernen’ Theorien zeigt sich jedoch, daß die ‘klassische’ Dialektologie ü ber keinen unmittelbaren Zentralbegriff wie beispielsweise ‘Struktur’ verfü gt, sondern sich vielmehr aus einer Reihe elementarer dialektologischer Tätigkeiten zusammensetzt, die in ihrer methodischen Ausrichtung unmittelbar an den fachspezifischen Bedingungen und Zielsetzungen orientiert sind. Dieses Konglomerat theoretisch-methodischer Aspekte formuliert damit die tragenden Grundlagen der dialektologischen Forschungsarbeit, auf die auch die ‘modernen’ Weiterentwicklungen zum ü berwiegenden Teil nicht verzichten, wie z. B. das diatopische Merkmal des Objektbereichs und die kartographische Ergebnisdarstellung; diese Eigenschaften lassen die ‘klassische’ Dialektologie auch heute noch als Grundlage fü r eine Vielzahl dialektologischer Untersuchungen geeignet erscheinen. 1.1. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie im Einflußbereich der historischen Sprachwissenschaft Die Konstituierung der Dialektologie ist ganz entscheidend von der funktionalen Wertung der Mundarten abhängig (vgl. Art. 1) und wird in ihrer Ausprägung ü berwiegend von der Entwicklung der Sprachwissenschaft bestimmt. Aus diesen Bedingungen ergibt sich, daß der wissenschaftliche Aufbau der Dialektologie erst im Laufe des 19. Jhs. beginnen konnte und ihre Theoriebildung weitgehend von der damaligen linguistischen Interessenlage beeinflußt wurde; diese Abhängigkeit wird vor allem durch die folgenden Zusammenhänge deutlich: (1) Das zunehmende Interesse der damaligen Linguistik an dem Sprachlaut, das in der Kritik Raumers an der Grammatik
12. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie
Grimms sichtbar wird (vgl. Socin 1888, 480) und in der ‘Lautphysiologie’ von Sievers (1876) sein damaliges Standardwerk fand, bedingte eine Hinwendung zu der gesprochenen Sprache und ließ die Dialekte als einen lohnenswerten Forschungsgegenstand erscheinen. Gleichzeitig war damit aber auch die dominante lautliche Ausrichtung der Dialektologie verbunden. (2) Das grundlegende Interesse der damaligen Linguistik an der Sprachgeschichte lenkte die Dialektologie in eine ü berwiegend historische Betrachtungsweise, die vor allem darin sichtbar wird, daß sie ihr Material unter Bezugnahme auf historische Sprachstufen ordnet und ihre Auswertung an sprachgeschichtlichen Fragestellungen orientiert: „So muss der dialectforscher den grossen zweck verfolgen, zu seinem teile einen baustein zur construction der sprachgeschichte zugehauen und fertig gestelt zu liefern. Seine methode muss also dieselbe sein wie die der historischen sprachforschung ü berhaupt“ (Wegener 1879, 452). (3) Dieses Interesse bestimmte darü ber hinaus aber auch gleichzeitig den Gegenstandsbereich der ‘klassischen’ Dialektologie, der vorwiegend in der Sprache der bäuerlichen Grundschicht zu sehen ist, denn sie konnte als eine neue Quellenart in Ergänzung zu den ü berlieferten Texten verwendet werden; die Berechtigung hierfü r ergab sich wohl vor allem aus den tradierten und weit zur ü ckreichenden bäuerlichen Arbeitstechniken und Geräten: „Mir stehen die Mundarten neben der Schriftsprache dar, wie eine reiche Erzgrube neben einem Vorrathe schon gewonnenen und gereinigten Metalles, [...]. Als ich [...] wieder zurü ckkehrte [...] konnte ich mein freudiges Erstaunen nicht verbergen, in den Hü tten der Heimat so viele Klänge und Ausdrü cke zu vernehmen, die mich lebhaft an die Sprache der deutschen Vorzeit erinnerten [...]“ (Schmeller 1821, VIII und X). 1.2. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie in ihren wesentlichsten Konstitutionselementen Auf der Grundlage dieser Einflü sse vollzieht sich die Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie, die in der praktischen Anwendung bei Schmeller (1821 und 1827) schon eine beträchtliche Geschlossenheit und Vollständigkeit zeigt (diatopischer, diachronischer und historisch-comparativer
233
Aspekt sowie diastratische Differenzierung), aber dennoch erst in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihre abschließende Ausformung erhält; ihre wesentlichsten Konstitutionselem ente lassen sich beispielsweise in dem folgenden Orientierungsschema (vgl. Abb. 12.1) visuell verdeutlichen.
Abb. 12.1: Orientierungsschema für die Theorie- bildung der ‘klassischen’ Dialektologie In Abgrenzung zur damaligen Sprachwissenschaft, die sich ü berwiegend mit der weitgehend normierten Schriftsprache und ihren ü berlieferten Vorformen befaßte, besteht der Objektbereich der ‘klassischen’ Dialektologie fast ausschließlich aus dialektalen Subsystemen, die jedoch nicht in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand genommen werden, sondern lediglich in der Verkü rzung auf den Laut-, Formen- und Wortbestand gesehen werden. Diese Inventare werden zumeist durch direkte Exploration festgestellt und i n Hinsicht auf ihre jeweils zugehörigen historischen Sprachstufen (Protosystem) geordnet, indem jedes dialektale Element mit seiner rekonstruierten Vorform in Beziehung gesetzt wird (zu dieser Problematik vgl. Art. 54, 2.). Die Untersuchung dieser Verbindungsmöglichkeiten (diachroner Aspekt) ist ein Hauptanliegen der dialektologischen Forschungstätigkeit und versteht ihre Ergebnisse als Beitrag zu einer Geschichte der deutschen Sprache. — Trotz dieser starken Abhängigkeit von der herrschenden Sprachwissenschaft entwickelt die ‘klassische’ Dialektologie schon in ihrer Konstitutionsphase eine eigenständige Theoriekomponente, die aus der räumlichen Gebundenheit der dialektalen Sprachformen abgeleitet wird (vgl. Schmeller 1821). Dieser diatopische Aspekt findet seinen Niederschlag in zwei Neuerungen:
234
Ein erster Reflex des Raumprinzips ist in der Begrenzung des Untersuchungsgebietes auf einen Ortspunkt zu sehen; der so definierte Dialekt wird als ein zumeist homogenes Subsystem des Neuhochdeutschen aufgefaßt und sein Laut- und Formenbestand in dem Typ der Ortsgram m atik beschrieben (vgl. Wegener 1879, 475—480). In dieser Punktuierung und mit der damit verbundenen Vollständigkeit und Genauigkeit stellt dieses dialektologische Beschreibungsverfahren einen entscheidenden Neuansatz gegen ü ber der bisherigen Grammatikform dar. Eine zweite Auswirkung des Raumprinzips zeigt sich in der Entwicklung der Dialektkarte, die zwar auf ethnologisch orientierte Sprachenkarten zurü ckgefü hrt werden kann, doch in der ‘klassischen’ Dialektologie eine völlig andersartige Funktion ü bernimmt, da sie hier als ein zentrales Dokumentations- und Forschungsinstrument eingesetzt wird. Diese kartographische Darstellung des dialektalen Laut- und Formeninventars, das im weiteren Verlauf um die Wortgeographie ergänzt wurde, ermöglicht einen subsystemaren Vergleich auf dem Weg ü ber das sprachhistorische Bezugselement und gibt einen synoptischen Überblick, der Ansätze zu neuartigen Interpretationsverfahren auf der Grundlage räumlicher Verteilungsbilder eröffnet (vgl. Tappolet 1905). Mit dieser Entwicklung hat die ‘klassische’ Dialektologie ein weitgehend innovatives Arbeitsmittel geschaffen und eine völlig neue Dimension der Sprachuntersuchung entdeckt, die ihre Theoriebildung in ganz entscheidender Weise mitbestimmt. 1.3. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie in einer formalen Darstellung am Beispiel „Lautlehre„ Die hier lediglich informell umrissene Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie genü gt eigentlich nicht der Aufgabenstellung dieses Artikels, die eine explizite Form ulierung im Sinne einer formalen Darstellung fordert; dieser Anspruch kann jedoch hier nicht eingelöst werden, da diese Theorie bisher noch nicht in einer solchen Form ausgearbeitet wurde. In diesem Zusammenhang kann hierfü r nur ein erster Ansatz an dem kleinen Ausschnitt der „Lautlehre“ unternommen werden, um damit einen Eindruck von der eigentlich angestrebten Darstellungsform zu geben; zu einem Vergleich mit der praktischen Anwendung sind im Artikel 16 die Abschnitte 2. und 3. heranzuziehen.
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
In einem ersten For m alisierungsschritt sind die empirischen Tatsachen zu benennen, die sich aus der dialektologischen Beobachtung herleiten lassen. Im Erkenntnisrahmen der ‘klassischen’ Dialektologie handelt es sich hierbei um die Anzahl i der an einem Ortspunkt j (j = Ortsindex) explorierten Laute lij, sowie die Anzahl p der zu einer rekonstruierten Sprachstufe q (q = Zeitindex) gehörenden Laute l’pq (vgl. Art. 16, 2.1.1.); da beide Inventare jeweils nur eine bestimmte Anzahl von Lauten umfassen, existieren fü r die Zählindices i und p obere Grenzen, die durch die nicht-negativen Zahlen nj und nq angegeben werden, so daß 0 ≤ i ≤ nj und 0 ≤ p ≤ nq ist. Eine Unterteilung der Laute in bestimmte Klassen wie Vokal, Konsonant, Plosiv, Nasal etc. wird hier aus Grü nden der Einfachheit ü bergangen. Zu den elementaren Sachverhalten gehört noch die Kategorie der Positionsangaben PAt, die in der ‘klassischen’ Dialektologie in absoluter Weise (Anlaut, Auslaut etc.) oder im relativen Bezug (vor l’pq, nach l’pq) erfolgt; zu diesen Positionsmarkierungen gehören auch die Akzentkennzeichnungen in der Form von Haupt- und Nebenton (vgl. Art. 16, 2.1.1.), da sie mit den Mitteln der „Lautlehre“ nicht bestimmt werden können, sondern nur aus prosodischen Analysen zu übernehmen sind. In einem zweiten Form alisierungsschritt werden diese empirischen Tatsachen mit Hilfe theoretischer Begriffe in Beziehung gesetzt; die Theorie der ‘klassischen’ Dialektologie kennt fü r den Bereich der „Lautlehre„ nur die Derivationsrelation C: A → B (A wird zu B), die in den beiden Ausprägungen Lautgesetz LG und Analogie AN auftritt, wobei Positionsangaben PAt als einschränkende Bedingungen auftreten können: l’pq PAt (l’pqin den Positionen PAt). Auf dieser Grundlage können die sprachgeschichtlichen Zusammenhänge mit Hilfe von drei Korrespondenzregeln formuliert werden (vgl. Art. 16, 3.1.1.): (C1) KON: l’pq → lij oder l’pq PAt → lij, wobei von j (= Lage des Ortspunktes) ausgehend ein zugehöriges q (= historische Sprachstufe) gewählt werden muß und p = i ist; dieser Zusammenhang beschreibt das kontinuierliche Fortbestehen KON eines Lautes in einer allgemeinen Gü ltigkeit oder in Einschränkung auf bestimmte Bedingungen. (C2) LGk: (l’pq PAt) → lij mit p i
12. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie
Wenn t > 1 ist, dann sind fü r i die folgenden Fallunterscheidungen möglich: (1) i nimmt nur einen einzigen Wert an, d. h. ein Laut der historischen Vorstufe fü hrt trotz verschiedener Bedingungen zu dem gleichen dialektalen Laut; (2) i weist mehrere Werte i1, i2, ... auf, d. h. ein Laut der historischen Vorstufe entwickelt sich unter einer jeweils anderen Bedingung zu verschiedenen dialektalen Lauten. Mit dieser Korrespondenzregel wird der lautgesetzliche Zusammenhang formuliert, der zumeist nach seinen jeweiligen qualitativen Wirkungen benannt wird, z. B. Monophthongierung, Konsonantenschwächung etc. (C3) AN: l’p1q→ lij, wenn LGk: (l’p2q PAt) → lij Hierbei sind systematisch zwei Fälle zu unterscheiden: (1) p1 = p2, d. h. der gleiche Laut der historischen Vorstufe wird außerhalb der sonst geltenden Bedingungen durch den dialektalen Laut der regulären Entwicklung ersetzt; (2) p1= p2, d. h. ein Laut der historischen Vorstufe wird in Anlehnung an di e lautgesetzliche Entwicklung eines anderen Lautes der historischen Vorstufe durch den gleichen dialektalen Laut ersetzt. Mit diesen Beziehungen werden die wesentlichen Aspekte der Analogiebildung beschrieben, wobei allerdings ein Vorkommen von lij im gleichen Formenparadigma als eine zumeist notwendige Bedingung hinzukommt, die jedoch auf der Grundlage der „Lautlehre„ nicht formuliert werden kann, so daß die Zugehörigkeit der Analogie zur „Lautlehre„ durchaus kritisch zu diskutieren wäre. In einem dritten Form alisierungsschritt wird der zugrundeliegende Objektbereich in seiner Gesamtheit begrifflich repräsentiert; die Theorie der ‘klassischen’ Dialektologie hat in dem gewählten Ausschnitt somit die „lautgesetzliche“ Korrespondenz DERIVAT der sprachhistorischen Laute {l’pq} in die dialektalen Laute {lij} als Abbildung darzulegen: Wenn j = 1, dann heißt dieser Repräsentationsraum Lautlehre L des Dialekts im Ortspunkt j (vgl. Art. 16, 3.1.1.): (T1) Lj = DERIVAT (l’pq) wobei DERIVAT die Korrespondenzregeln C1—C3 umfaßt; die Ordnung in der Darstellung von L kann nach den einzelnen l’p oder nach den wirksamen LGk erfolgen. Wenn j = 1,2,3, ... m, dann heißt dieser Repräsentationsraum Lautkarte P des
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sprachhistorischen Lautes l’p über die Ortspunkte j (vgl. Art. 16, 2.2.1. und 3.2.1.): (T2) Pp = {li mit li = DERIVAT (l’p)}j wobei fü r DERIVAT zumeist unterschiedliche Korrespondenzregeln aus C1—C3 zugelassen sind; im Sinne einer strikteren Vergleichbarkeit könnte jedoch üf r DERIVAT auch nur eine einzige Korrespondenzregel gefordert werden, wie z. B. LGk = Diphthongierung. Über die kartographische Repräsentanz werden in diesem Ausschnitt keine Festlegungen getroffen; diese wären erst aus dem entsprechenden Theorieteil zu erwarten und im Rahmen einer formalen Gesamttheorie der ‘klassischen’ Dialektologie zusammenzuführen. Aus dieser formalen Darstellung ist das komplementäre Verhältnis von Ortsgrammatik und Dialektgeographie (= Lautlehre bzw. Lautkarte im gewählten Theorieausschnitt) unmittelbar abzulesen: während die Ortsgrammatik die sprachhistorische Abfolge in einem Punkt oder Gebiet beschreibt, zeigt die Dialektgeographie die räumliche Nachbarschaft unterschiedlicher sprachhistorischer Entwicklungsergebnisse auf. Da es auf der Grundlage des bisherigen Forschungsstandes und in der erforderlichen Vollständigkeit gegenwärtig noch nicht möglich ist, die Theorie der ‘klassischen’ Dialektologie in einer kompletten formalen Darstellung zu erfassen, muß sich die nachfolgende Beschreibung auf eine nichtformale Kennzeichnung der wesentlichsten Ausprägungsmerkmale der ‘klassischen’ Dialektologie beschränken, die in ihren Zielsetzungen, in ihrer Festlegung des Objektbereichs sowie in ihrer Entwicklung und Anwendung von Methoden zum Ausdruck kommt; zur praktischen Anwendung und beispielhaften Erläuterung wird generell auf die Fallstudie in Artikel 16 verwiesen. Der Status der hier zu verwendenden Beschreibungsmerkmale ist in Hinsicht auf die eigentlich intendierte formale Theoriedarstellung im Bereich der wissenschaftstheoretischen Repräsentationsverfahren (bezogen auf den obigen Theorieausschnitt bedeutet dies eine Einordnung in den zweiten und dritten Formalisierungsschritt) zu lokalisieren und bleibt im wesentlichen auf der Stufe isolierter Hypothesenhierarchien stehen, die lediglich Teile der invarianten Struktur der ‘klassischen’ Dialektologie darlegen können.
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
236
2.
Zielsetzungen der ‘klassischen’ Dialektologie
Die Zielsetzungen der ‘klassischen’ Dialektologie orientieren sich zunächst an den historischen Interessen der damaligen Sprachwissenschaft und erf ü llen hilfsdisziplinäre Aufgaben im Sinne einer speziellen Quellengattung, so daß vor allem die dokumentarische Beschreibung von dialektalen Subsystem en und Ansätze zu ihrem Vergleich im Vordergrund stehen. Erst im Zusammenhang mit der theoretischen Eigenentwicklung der klassischen Dialektologie, die von der Entdeckung des strikten Raumprinzips ausgeht (vgl. 1.2.), ergeben sich die Beschreibung und Erklärung dialektaler Raum gliederungen als neue Zielbereiche, die jedoch in die Aufgabenstellungen der zeitgenössischen Sprachwissenschaft ohne Schwierigkeiten einzuordnen waren, da sie zumeist aufschlußreiche und bedeutende Beiträge zur Rekonstruktion des sprachgeschichtlichen Ablaufs liefern konnten (vgl. Art. 16, 4.1.). 2.1. Beschreibung der dialektalen Subsysteme Fü r die Beschreibung der dialektalen Subsysteme stand zunächst die Erfassung des Wortschatzes im Mittelpunkt, um auf diesem Wege sprachhistorisch interessantes Belegmaterial zu erreichen, das zur Stü tzung bekannter Entwicklungsverläufe oder zur Entdeckung neuer Zusammenhänge verwendet werden konnte; in diesen Zusammenhang gehört die „Idiotikographie“ (vgl. Art. 1,5.) und in dieser Zielorientierung sind auch die Arbeiten von Schmeller zu sehen, denn sein grammatischer Darstellungsversuch ist ursprü nglich nicht als eine selbständige Untersuchung zu werten, sondern ergab sich als eine notwendige Voraussetzung und Vorarbeit fü r das eigentlich intendierte Idiotikon (vgl. Art. 1, 7.). Erst die Abwendung von dem normativen Grammatikprinzip eröffnete neue Deskriptionsmöglichkeiten, die im Rahmen der damaligen linguistischen Ausrichtung von der Fragestellung nach der Entstehung und Entwicklung der Sprache geleitet wurden und zu dem Typus der historischen Grammatik fü hrten. Diese Neuorientierung wird von der dialektalen Ortsgramm atik ganz entschieden mitgetragen und gefördert; da es sich bei der Beschreibung der Dialekte jedoch immer um gesprochene Sprache im Gegensatz zu der textualen Überlieferung der historischen Sprachwis-
senschaft handelt, konnte dieser Grammatiktyp erst durch die Übernahme und Anwendung der sich allmählich entwickelnden lautphysiologischen Deskriptionsmittel seine endgü ltige Ausformung erhalten und nimmt genau in dieser Spezifik auch eine Sonderstellung im Rahmen der sonst ü blichen sprachwissenschaftlichen Darstellungstechniken ein. Diese subsystemare Beschreibung weist zumeist eine dreifache Restriktion auf, indem der areale Untersuchungsbereich auf einen einzigen Ort oder ein relativ kleines Gebiet begrenzt, der objektsprachliche Untersuchungsumfang auf die Autophonie des Dialektologen eingeengt und der dialektale Untersuchungsgegenstand auf die phonetische und morphologische Ebene beschränkt wird; ihre Darstellung erfolgt ausschließlich unter Bezugnahme auf die vorangegangene Sprachstufe, deren Bestand als Ordnungskriterium benutzt wird (vgl. 1.3.). Ein Einbezug anderer Behandlungsaspekte ist nur sporadisch anzutreffen und entspricht nicht den allgemein intendierten Zielsetzungen. — Die Bedeutung dieses Beschreibungstyps wird auch gegenwärtig noch als eine fundamentale Grundlage der Dialektologie angesehen: „Die Einzelorts- oder Gebietsgrammatik ist nach wie vor die solideste Basis und der Ausgangspunkt, von dem aus alle weiteren Fragestellungen geographischer, historischer und soziologischer Art am sinnvollsten angegangen werden können.“ (Löffler 1980, 26). 2.2. Vergleich der dialektalen Subsysteme Solange die ‘klassische’ Dialektologie in ihrer Theoriebildung unter dem dominanten Einfluß der historischen Sprachwissenschaft stand, konnte der Vergleich dialektaler Subsysteme lediglich in ersten Ansätzen durchgefü hrt werden, so daß diese Zielvorstellung erst um 1875 mit Hilfe eines grundlegend erweiterten Methodeninstrumentariums eingelöst werden konnte (vgl. 2.3.). Die anfänglichen Schwierigkeiten ergaben sich einerseits aus den noch fehlenden bzw. wenig ausgereiften Explorationsverfahren (vgl. 4.1.) und andererseits aus der nur rudimentär entwikkelten geographischen Darstellungstechnik (vgl. 4.3.), die zwar bei Schmeller (1821) bereits durchaus angemessen gehandhabt und auch erfolgreich im Sinne einer Einteilungskarte eingesetzt wird, aber im weiteren Verlauf zunächst nicht die erforderliche Beachtung erfährt. Die Aufgabe der angestrebten Vergleichsuntersuchungen ist vor allem in einer Klassifikation der dialektalen Subsyste-
12. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie
me zu sehen, um eine erste Übersicht und eine begrü ndete Ordnung in dem dialektalen Objektbereich zu erreichen. Die erarbeiteten Ergebnisse wurden jedoch dadurch beeinträchtigt, daß ein bereinigter und normalisierter mhd. Lautbestand als historische Vergleichsbasis verwendet wurde, so daß bei der Rekonstruktion sprachhistorischer Entwicklungsverläufe offensichtlich Ungenauigkeiten oder gar Fehler entstanden, die insbesondere im arealen Überblick deutlich sichtbar wurden. Hier fü hrte erst ein Zurü ckgehen auf die regionale sprachhistorische Überlieferung und eine möglichst genaue Erschließung ihrer einzelnen Lautwerte zu einer angemesseneren Vergleichsgrundlage, mit deren Hilfe dann auch wesentlich bessere Vorstellungen ü ber den sprachlichen Entwicklungsablauf zu erzielen waren. Mit dieser Präzisierung sind in der Regel aber auch gleichzeitig Verbesserungen in der dialektologischen Explorationspraxis verbunden, indem zumeist direkte Ortsbegehungen und Informantenbefragungen durchgef ü hrt wurden, so daß differenziertere und gesichertere dialektale Bezugsdaten zur Verf ü gung standen. — Trotz der offensichtlichen theoretischen und methodischen Mängel bei der Realisierung des ortspunkt ü bergreifenden Vergleichsverfahrens sind die Ergebnisse ü berraschend gut ausgefallen, wie beispielsweise aus der noch heute gängigen Verwendung der Grammatiken von Weinhold (1853, 1863, 1867) u. a. zu ersehen ist, so daß auch diese Zielsetzung der ‘klassischen’ Dialektologie zumindest in ihrem damals möglichen Umfang und mit zufriedenstellenden Resultaten verfolgt wurde. 2.3. Beschreibung der dialektalen Raumgliederung Mit der Entwicklung der Dialektkartographie (vgl. 4.3.) eröffnete sich der ‘klassischen’ Dialektologie die bis dahin weitgehend vernachlässigte Raumdimension von Sprache; diese areale Orientierung begrü ndete ihre Eigenständigkeit und bestimmte grundlegend die weiteren Forschungsinteressen, so daß zeitweise eine Gleichsetzung von Dialektologie mit Dialektgeographie erfolgte. — Die Zielsetzung der raumbezogenen Beschreibung setzt sich aus zwei Aspekten zusammen: (1) Die erste Aufgabe besteht in einer möglichst genauen und geographischen Fixierung der erhobenen Daten in Dialektkarten (vgl. Art. 16, 2.2.1.), um auf der Grundla-
237
ge dieser Dokumentationsform zu exakten Aussagen ü ber areale Verteilungen und zur Feststellung bestimmter Verbreitungsmuster wie Fächer, Staffel, Trichter, Horst, Barriere etc. zu gelangen (vgl. Art. 16, 3.2.). Innerhalb der ‘klassischen’ Dialektologie beschränkten sich die Kartierungsinhalte grundsätzlich auf phonetische, morphologische und lexikalische Einzelerscheinungen (Lautkarte (vgl. Karte 16.1 und 16.2), Formenkarte (vgl. Karte 16.3), Wortkarte (vgl. Karte 16.4)) und lassen damit deutlich den Einfluß der historischen Sprachwissenschaft und die Abhängigkeit von den anderen Zielvorstellungen erkennen. (2) Die zweite Aufgabe zielt auf eine Zusammenfassung der einzelnen Dialektkarten eines Erhebungsgebietes in einer Kombinationskarte, um somit einen kumulativen Überblick ü ber die dialektale Raumgliederung zu erhalten; innerhalb der ‘klassischen’ Dialektologie wird hierzu die sogen. Wabenkarte entwickelt (vgl. Karte 16.5), die ein unmittelbares Ablesen der jeweiligen Gliederungsverhältnisse ermöglicht. Zu dem Typ der Kombinationskarte ist auch die additive Kartierung ausgewählter Einzelkarten zu zählen, die jedoch nicht unmittelbar eine Gesamtdarstellung der Raumgliederung anstrebt, sondern wohl eher als eine publikationsmäßige Einsparung zu verstehen ist. Dennoch sind einige Kombinationskarten aus dem „Sprachatlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen“ (vgl. Karte 3.7) und des „Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland“ (vgl. Karte 3.8) von Georg Wenker (1878, 1881) sowie aus der „Geographie der schwäbischen Mundart“ von Hermann Fischer (1895) von wissenschaftlichem Interesse, da sie auf Grund ihrer speziellen Themenauswahl durchaus im Sinne einer ansatzweisen Systemdarstellung zu lesen sind; obwohl solche Absichten jedoch nicht explizit formuliert wurden, lassen sie doch erste und noch vage Zielorientierungen sichtbar werden, die deutlich ü ber den damaligen Forschungsstand hinaus reichen (vgl. hierzu auch die strukturalistischen Ansätze bei Winteler (1876); vgl. Art. 2, 3.). Dieses dokumentarisch-kartographische Anliegen der ‘klassischen’ Dialektologie fand in einer Reihe von Sprachatlanten seinen sichtbarsten Ausdruck, die in ihrem Inhalt von den grundlegenden Forschungsgegenständen (Lautatlas, Formenatlas und Wortatlas) bestimmt wurden und deren
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Reichweite eine einzelne Landschaft (Regionalatlas) wie auch den gesamten Sprachraum (z. B. Deutscher Sprachatlas) umfassen konnte. Ihre praktische Durchfü hrung stieß zunächst jedoch auf einige Schwierigkeiten, die sich einerseits aus den Explorationsverfahren ergaben, die sich noch in der Erprobungsphase befanden und eine Entscheidung zwischen direkten und indirekten Informantenbefragungen nicht zuließ, und die andererseits in den kartographischen Darstellungstechniken begrü ndet lagen; in diesem Zusammenhang spielt vor allem das Isoglossenproblem (vgl. Art. 25) eine beherrschende Rolle, da von der jeweiligen Linienziehung die ü berwiegend kartenbildorientierten Interpretationsmöglichkeiten ganz entscheidend beeinflußt werden. — Mit der Sprachkarte entwickelte die ‘klassische’ Dialektologie neben der Ortsgrammatik ihr bedeutsamstes Dokumentationsinstrument, so daß ihr Zielbereich nunmehr von der exakten punktuellen Erfassung auf eine ü bergreifende areale Beschreibung dialektaler Erscheinungen erweitert wurde. 2.4. Erklärung der dialektalen Raumgliederung Die unterschiedlichen arealen Verteilungen, die in den Dialektkarten sichtbar wurden, stimmten z. T. mit grundlegenden Auffassungen der historischen Sprachwissenschaft nicht ü berein (vgl. z. B. das junggrammatische Postulat einer ausnahmslosen Durchfü hrung der Lautgesetze; vgl. Art. 2 und 3), so daß eine Deutung der kartographischen Befunde dringend erforderlich war. Die Erklärungsintentionen erstreckten sich dabei hauptsächlich auf die folgenden Aspekte: (1) Zur Orientierung war eine umfassende Einteilung und Gliederung der Dialekte unbedingt erforderlich; hierzu bildete die Kombinationskartierung (vgl. 2.3.) eine tragende Ausgangsbasis, so daß durch Auszählen oder Gewichten der Isolinien eine Raumstruktur sichtbar wurde, die zumeist durch kulturhistorische Vergleichskarten (vgl. Art. 16, 2.2.2.) ergänzt und gestü tzt wurde. Auf diesem Wege konnten graduell-differenzierte Raumgebilde bestimmt werden, die sich als Kernlandschaft, Saumlandschaft, Stufenlandschaft, Übergangsgebiete etc. klassifizieren ließen und die nach altgermanischen Stämmen wie Fränkisch, Schwäbisch etc., nach mittelalterlichen Territorien, neuzeitlichen Verwaltungseinheiten etc. bezeichnet wurden (vgl. Art. 16, 4.). Diese Er-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
gebnisse fü hrten zu Einteilungskarten (vgl. z. B. Art. 47) und hierarchischen Gliederungsschemen, die die jeweilige Ordnung der Dialekte in einer unterschiedlich feinen Rasterung darlegen. (2) Eine weitere Aufgabe wurde in der Rekonstruktion historischer Verbreitungsgebiete gesehen und hat ihre theoretische Begrü ndung in der Annahme, daß aus einer synchronen Raumgliederung durchaus Rü ckschlü sse auf eine diachrone Abfolge möglich sind. Die jeweilige Argumentation orientierte sich an dem Zusammenfall von dialektalen und extralingualen Linienverläufen sowie an der Art der Grenzverläufe, Gebietsgröße und Gebietsform und an der relativen Lage der Gebiete innerhalb des gesamten Sprachraums, um aus diesem Faktorenbü ndel zu Aussagen ü ber sprachhistorische Verbreitungen zu gelangen, wobei vor allem dialektale Sonderformen (Rest- und Mischformen sowie Adoptivbildungen) eine bedeutende Rolle spielten, da sie durch mögliche Arrondierungen wichtige Hinweise auf den historischen Gebietsumfang geben können. Die Akzeptanz solcher Ergebnisse wird in der Regel durch punktuelle sprachhistorische Belege oder durch kulturmorphologische Übereinstimmungen (vgl. Art. 4) gestü tzt, so daß die rekonstruierten dialektalen Verbreitungsgebiete möglichst weitgehend gesichert waren. (3) In diesem Zusammenhang ergab sich die Frage nach den wirkenden Gestaltungskräften als ein notwendiges Forschungsziel. Die Kartenanalysen zeigten, daß ein Typ von Raumverteilungen mit extralingualen Linienverläufen zusammenfiel (Koinzidenz), so daß diese Faktoren dann fü r die dialektale Grenzbildung verantwortlich gemacht werden konnten (vgl. Karte 49.2), während ein anderer Raumtyp durch einfache geometrische Muster wie Trichter, Band, Fächer, Horst etc. auffiel (vgl. Art. 24) und im wesentlichen als laufender Umverteilungsprozeß erkannt wurde; durch die Altersbestimmung der beteiligten Dialektalformen ließen sich auf diesem Wege dann Hypothesen ü ber den Entstehungsvorgang formulieren, wobei hauptsächlich Rest- und Mischformen sowie Adoptivbildungen eine entscheidende Hilfe boten, so daß durch solche Analysen vor allem Verkehrsbeziehungen und sozialpsychologische Faktoren als Gestaltungskräfte aufgedeckt werden konnten. Mit diesen raumbezogenen Erklärungsansätzen konnte die ‘klassische’ Dialektolo-
12. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie
gie einen wesentlichen Beitrag zur Eigenständigkeit ihres Fachgebietes und zur Rekonstruktion der Sprachgeschichte leisten, wobei die Sprachkarte jeweils eine ganz entscheidende Funktion als Beweismittel ü bernimmt und damit die Sprachgeographie zu einem der wichtigsten dialektologischen Teilbereich wird.
3.
Objektbereich der ‘klassischen’ Dialektologie
Die historische Sprachwissenschaft bestimmte den Objektbereich der ‘klassischen’ Dialektologie in seinen wesentlichsten Merkmalen, wie bereits aus der Theoriebildung und den Zielsetzungen zu ersehen war. Der Objektbereich setzt sich demnach in folgender Weise zusammen: (1) Aus allen lingualen Daten, die dialektale Daten heißen, wenn sie in Äußerungen von Sprechern vorkommen, die den diastratischen Bedingungen (bäuerliche Grundschicht) und den diatopischen Anforderungen (Ortsfestigkeit) weitgehend genü gen (vgl. Abb. 12.1) sowie der gleichen Sprache (Neuhochdeutsch) angehören; auf Grund der dialektologischen Interessen und der entsprechenden Explorationsverfahren werden jedoch nur phonetische, morphologische und lexikalische Teilbereiche aus diesen Daten ausgewählt; die theoretischen Forderungen sind zwar wesentlich weitreichender (vgl. Wegener 1879, der den Einbezug der Syntax, suprasegmentaler Erscheinungen und stilistischer Phänomene zumindest üf r „w ü nschenswert“ erachtet), doch werden sie in den praktischen Arbeiten der ‘klassischen’ Dialektologie fast ü berhaupt nicht berü cksichtigt. Als weitere Restriktionen kommt die Beschränkung auf einen oder wenige Informanten (vgl. Art. 16, 1.2.) und die Begrenzung auf einen oder eine kleinere Anzahl von Ortspunkten hinzu, so daß die Repräsentativitätsfrage häufig nicht unproblematisch ist (vgl. Art. 23); fü r den Umfang der Materialbasis gilt im allgemeinen die Regel, daß das Produkt aus Anzahl der Ortspunkte und Anzahl der lingualen Daten konstant ist. — Dieser Datentypus kann durch eine zumeist kleinere Menge ü berlieferter Belege (z. B. aus Urkunden, Urbaren etc.), ergänzt werden, üf r deren Sprecher/Schreiber jedoch die oben genannten Kennzeichen plausibel zu machen sind. (2) Aus allen sprachhistorischen Abläufen der in (1) definierten dialektalen Daten, die
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auf Grund der damals geltenden Postulate als regelgeleitete Entwicklungen gesehen und deren Eigenart ausschließlich durch Wirkungen der Lautgesetze und des Analogieprinzips beschrieben werden. Die angewandten Rekonstruktionsverfahren sind in ihrer methodischen Stringenz teilweise nicht unproblematisch, da die Kenntnis ü ber die zum Vergleich heranzuziehende historische Sprachstufe nur aus der textualen Überlieferung erschlossen werden kann; wenn hierbei zu weitgehende Normierungen stattfinden oder bei Überlieferungslü cken Interpolationen vorgenommen werden m ü ssen, dann sind Ungenauigkeiten und Fehlinterpretationen eine fast notwendige Folge. (3) Aus allen dialektologischen Klassifikationen der in (1) definierten dialektalen Daten, die zur Abgrenzung dialektaler Subsysteme fü hren; da die dialektalen Isolinien in der Regel nicht zusammenfallen, ergeben sich hierbei Konglomerate gradueller Konstitutionsgebiete in einer unterschiedlich feinen Rasterung, die sich in abgestufter Weise aus einem Konsistenzraum (Kernlandschaft), einem Interferenzraum (Saumlandschaft) und einem Influenzraum (Stufenlandschaft) zusammensetzen (vgl. Karte 61.5). Die zumeist angewandten Klassifikationsverfahren sind nicht unproblematisch, da sie keinen umfassenden Ähnlichkeitsbegriff verwenden (vgl. Art. 45), sondern quantitative Auszählungen von Isolinien oder ihre qualitative Wertung zugrundelegen, die jedoch nicht frei von Willkü r und Subjektivität ist und sich methodisch allenfalls durch die jeweils intime Dialektkenntnis begrü nden läßt. (4) Aus allen extralingualen Daten, die Koinzidenzen mit dialektalen Isolinien bilden; hierbei ist in der Regel ein längerer gemeinsamer Verlauf gefordert, der zu einer Erklärung der dialektalen Grenzbildung geeignet ist. Im allgemeinen werden zwei Datenkategorien herangezogen: einerseits die Kommunikationsräume limitierenden Erscheinungen, wie beispielsweise Natur- und Territorialgrenzen und andererseits sachkulturelle Objektivationen wie Haus- und Siedlungsformen, die im Sinne des Kulturraumes die dialektalen Ausbreitungen parallelisieren (vgl. Art. 16, 2.2.2.). Der so in seinen wesentlichsten Grundzü gen definierte Objektbereich bildet die operationale Ausgangsbasis fü r die dialektologischen Tätigkeiten im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie.
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
240
4.
Methoden der ‘klassischen’ Dialektologie
Die Spezifik der Methoden, wie sie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie entwikkelt und verwendet werden, ergibt sich im wesentlichen aus den angestrebten Zielen sowie der Ortsgrammatik und der Dialektkarte als den beiden grundlegenden Dokumentationsinstrumenten und den davon ausgehenden Forschungsarbeiten. Da innerhalb dieser Theorienbildung lediglich die wichtigsten Verfahren in ihren Grundzü gen darzulegen sind, beschränkt sich der folgende Aufriß auf die Erfassungsmethoden, Verarbeitungsmethoden, Darstellungsmethoden und Interpretationsmethoden. 4.1. Erfassungsmethoden In der Entwicklung und Anwendung spezieller Erfassungsmethoden (Feldforschung, Exploration, Enquête) unterscheidet sich die ‘klassische’ Dialektologie grundlegend von ihrer zeitgleichen Sprachwissenschaft, denn der dialektale Objektbereich liegt in einer fast ausschließlich nichtkodierten gesprochenen Form vor, so daß eine empirische Datenerfassung und Datensammlung eine zwingende Voraussetzung fü r alle weiteren dialektologischen Arbeiten darstellt. So hat die ‘klassische’ Dialektologie auch gerade in diesem Bereich ein breites Spektrum an verfahrenstechnischen Möglichkeiten entfaltet und erprobt (vgl. Art. 27—34 a und die Durchfü hrungsbeschreibung in Art. 16, 1.). Die theoretische Konzeption und die praktische Auswahl der Erfassungsmethoden wird in ihren wesentlichen Grundzü gen von der dialektologischen Fragestellung beeinflußt, so daß vorgeordnete Entscheidungen ü ber den Materialumfang, die Erhebungsinhalte und die Aufnahmeverfahen zu treffen sind: wenn die Zielsetzung in der Ausarbeitung einer Ortsgram m atik besteht, dann ist eine möglichst vollständige Materialerhebung in den Ebenen der ‘klassischen’ Dialektologie (vgl. 2.1.) an einem einzigen Ortspunkt durchzufü hren und sind möglichst „natü rliche“ Sprechäußerungen in einer direkten Aufnahmetechnik zu erfassen und ü ber mehrere Sprecher zu vergleichen bzw. zu kontrollieren; wenn die Zielsetzung dagegen in der Herstellung eines Sprachatlas besteht, dann ist fü r ein ausreichend dichtes Ortspunktnetz nur das voraussichtlich arealdifferenzierte Belegmaterial in den Ebenen der ‘klassischen’ Dialektologie einzuholen
und auf seine weitgehende Vergleichbarkeit zu achten, wobei ein indirektes Erhebungsverfahren in der Regel bei wortgeographischen Fragestellungen angemessen ist, während vor allem bei lautgeographischen Vorhaben eine direkte Aufnahmeart wü nschenswert erscheint. Der Materialum fang stellt bei der empirischen Ausrichtung der ‘klassischen’ Dialektologie fast immer ein grundlegendes Problem dar und ist auf das engste mit der Repräsentativitätsfrage (vgl. Art. 23) und den jeweils zur Verfü gung stehenden Arbeitskapazitäten verbunden, so daß hier im allgemeinen nur Kompromisse zwischen der Ideal- und der Realvorstellung möglich sind. Die sich daraus ergebenden Auswirkungen betreffen in der Regel nur Einschränkungen in der Vollständigkeit des möglichen dialektalen Belegmaterials, die den methodischen Bereich zumeist nicht berü hren; so läßt sich beispielsweise auch das grundlegende Corpus-Problem heute lediglich in Ausnahmefällen exakt mit statistischen Berechnungsverfahren lösen; vergleichbare Schwierigkeiten stellen sich auch bei der Festlegung eines Ortspunktnetzes ein. Die theoretischen Defizite bei der genaueren Bestimmung des jeweils erforderlichen Materialumfangs werden jedoch durch die vorhandenen Erfahrungswerte und vor allem durch die Vertrautheit des Dialektologen mit seinem speziellen Untersuchungsgebiet weitgehend ausgeglichen. Die Erhebungsinhalte werden in ihrer allgemeinen Orientierung durch den eingeschränkten Objektbereich der ‘klassischen’ Dialektologie festgelegt; Ausnahmen hiervon sind relativ selten, wie beispielsweise an dem Umfang der Syntax-Arbeiten zu sehen ist (vgl. Art. 78). Eine weitgehende Festlegung der Erhebungsinhalte ist bei dialektgeographischen Vorhaben unbedingt erforderlich, da sonst die notwendige Vergleichbarkeit des erhobenen Dialektmaterials nicht zu gewährleisten ist. Als Notationsform hat sich das Fragebuch (Fragebogen) bewährt, das in der Regel Einzelfragen enthält, deren Eindeutigkeit durch Abbildungen oder Beschreibungen zu sichern versucht wird; hier hat sich im Laufe der dialektologischen Forschung ein relativ fester Fragenkanon herausgebildet, der insbesondere in den großen Atlasunternehmen entwickelt und erprobt wurde; eine andere Variante stellen Übertragungssätze (vgl. z. B. die sogen. Wenker-Sätze) oder Übertragungswörter dar, die jedoch
12. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie
nur fü r die Erfragung lautlicher Dialektalerscheinungen einzusetzen sind und zudem nicht frei von methodischen Einwänden sind (vgl. z. B. Ruoff 1965). Wenn eine Vergleichbarkeit nicht angestrebt wird, können die Erhebungsinhalte flexibel gehalten werden, da vorweggenommene Festschreibungen sich hierbei zumeist nur nachteilig auswirken können; fü r dieses Verfahren wird im allgemeinen lediglich eine Them enliste fü r freie Gespräche aufgestellt, wobei die CorpusProblematik jedoch in ihrer vollen Breite zu berücksichtigen ist. Die Aufnah m everfahren differenzieren sich grundsätzlich in direkte und indirekte Informantenbefragungen. Bei der direkten Aufnahm eart werden ein oder mehrere Informanten durch den Dialektologen nach Maßgabe der intendierten Erhebungsinhalte (Fragebuch, Interview, freies Gespräch) unmittelbar befragt und die Antworten zumeist mit Hilfe einer phonetischen Transkriptionsschrift (vgl. z. B. Teuthonista, API; vgl. dazu Art. 34 a und die Abb. 34a.4 und 34a.5 sowie Art. 16, 1.2.2.) notiert; erst bei neueren Aufnahmen unter den theoretischen Zielorientierungen der ‘klassischen’ Dialektologie wird auch das Tonband zur Aufzeichnung der Antworten eingesetzt (vgl. Art. 16, 1.2.2.1.). Dieses direkte Aufnahmeverfahren bedingt einen relativ hohen Zeitaufwand, so daß in der Regel nur ein oder eine kleine Anzahl von Erhebungsorten erfaßt werden kann. Bei der indirekten Aufnahm eart werden in der Regel lediglich Fragebogen bzw. Übertragungssätze benutzt, die ü ber einen örtlichen Laienexplorator (z. B. Lehrer, Pfarrer) unmittelbar oder mit Hilfe eines Informanten schriftlich beantwortet werden. Die Nachteile dieses Verfahrens sind vor allem in der alphabetschriftlichen Notationsform zu sehen, die fü r die Erfassung gesprochener Sprache und insbesondere üf r phonetische Untersuchungen nicht die erforderliche Präzision erreicht; diesem Mangel steht jedoch der Vorteil eines minimalen Zeitaufwandes gegenü ber, so daß auf diese Weise eine große Anzahl von Informanten und Erhebungsorte einbezogen werden kann. — Eine Beurteilung dieser beiden Aufnahmearten kann nicht generell erfolgen, sondern immer nur in Hinsicht auf ihre zielorientierte Angemessenheit. Bei beiden Aufnahmearten stellt sich das Repräsentativitätsproblem in Form der Informantenauswahl; durch die in der ‘klassischen’ Dialektologie vorgenommene Objektbegrenzung auf die Sprache der bäuerli-
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chen Grundschicht entschärfen sich diese methodischen Schwierigkeiten, da einerseits mit dieser diastratischen Eindimensionalität relativ einfache und klar definierbare Auswahlkriterien wie Alter, Ortsfestigkeit, Beherrschungsgrad des Dialekts etc. aufgestellt werden können und andererseits die größere Homogenität des Ortsdialekts eine Beschränkung auf einen oder wenige Informanten durchaus akzeptabel erscheinen läßt. Um eine ausreichende Repräsentativität sicherzustellen, wird die Vertrautheit des Dialektologen als w ü nschenswertes Korrektiv gefordert (vgl. Wegener 1879, 477), so daß auch die Autophonie eine nicht unerhebliche Rolle spielt (vgl. Winteler 1876). Die ‘klassische’ Dialektologie hat sich mit Hilfe dieser Erfassungsmethoden umfangreiche Datensam m lungen geschaffen wie den Deutschen Sprachatlas und Wortatlas (Marburg), das Deutsche Spracharchiv (Mannheim) und den Sprachatlas der deutschen Schweiz (Zü rich) sowie regionale Atlanten und Wörterbücher (vgl. Art. 11). 4.2. Verarbeitungsmethoden Die Verarbeitungsmethoden der ‘klassischen’ Dialektologie sind weitgehend mit denen der historischen Sprachwissenschaft identisch und werden lediglich um die Verfahren erweitert, die fü r die Behandlung der räumlichen Dimension erforderlich sind; ihr Grundprinzip ist durch eine ü berwiegend atomistische und historisch-vergleichende Arbeitsweise gekennzeichnet. In Übereinstimmung mit den objektbereichlichen Festlegungen beziehen sich die Verarbeitungsmethoden auf die phonetische/morphologische, die wortsemantische und lexikalische Seite der Dialekte und streben die in den Zielsetzungen formulierten Ergebnisse an (vgl. Art. 16, 2.). Die phonetischen/ m orphologischen Verarbeitungsm ethoden bilden die erhobenen dialektalen Einheiten unter Zuhilfenahme ihrer bedeutungsmäßigen Gleichheit oder weitgehenden Ähnlichkeit auf ihre Entsprechungen in der zugehörigen historischen Sprachstufe ab. Diese Vorgehensweise setzt ein richtiges Protosystem voraus, dessen Rekonstruktion jedoch zumeist nicht ohne Schwierigkeiten möglich ist, da beispielsweise schon die lautliche Wiederherstellung mit größeren Unsicherheitsfaktoren verbunden ist und oftmals auch unzureichende landschaftliche Überlieferungen zu Interpolationen zwin-
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gen, die ein nicht unerhebliches Risiko ausmachen. Fü r das weitere Verfahren ist die Vollständigkeit und Fehlerfreiheit dieses Systems aber von ausschlaggebender Bedeutung, da es die fundamentale Bezugs- und Ordnungsinstanz darstellt und hier jede Ungenauigkeit sofort weitreichende Auswirkungen haben kann. Auf diesen phonetischen/ morphologischen Gleichsetzungen basieren die weiteren Analysen, die den sprachhistorischen Entwicklungsweg des Protosystems zu dem jeweiligen dialektalen Subsystem als Einwirkungsfolge lautlicher Gesetzmäßigkeiten in einem distributionell weit differenzierten Rahmen nachzuzeichnen versuchen; auf dieser Grundlage entsteht eine sehr detaillierte Beschreibung des dialektalen Bestandes im phonetischen/morphologischen Teilbereich, wobei die Anordnung entsprechend dem atomistischen Grundprinzip nach den sprachhistorischen Einzelelementen erfolgt und nicht nach den wirkenden Gesetzmäßigkeiten, obwohl dazu lediglich eine andere Sortierung des Analysematerials erforderlich gewesen wäre. An diesem Punkt wird deutlich, daß die Phonetik und Morphologie der ‘klassischen’ Dialektologie einer strukturellen Systemaufbereitung eigentlich schon sehr nahe stand. Die wortse m antischen Verarbeitungs m ethoden sind im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie nur sehr rudimentär entwikkelt worden und beschränken sich weitgehend auf die Behandlung wortgeographischer Phänomene, so daß vor allem die Analyse lexikalischer Kompositionsvorgänge wie Kontaminationen und Adoptivbildungen und die Untersuchung lexikalischer Grundrelationen wie Synonymie, Polysemie und Homonymie unter dem Gesichtspunkt der Benennungsmotivik im Vordergrund stand. Die angewandten Verfahren gehen in der Regel von der arealen Verteilung des dialektalen Belegmaterials aus und versuchen, den Befund als Ergebnis eines sprachhistorischen Veränderungsprozesses herauszuarbeiten; zur Stü tzung solcher Hypothesen ist hier zumeist der Rü ckgriff auf ü berliefertes Wortgut aus lokalisierten und datierten Urkunden erforderlich, um mit Hilfe dieser Belege den Entwicklungsweg zu sichern oder sprachhistorische Verbreitungsannahmen zu belegen. Die lexikalischen Verarbeitungs m ethoden sind notwendigerweise mit einer entsprechenden Sachforschung verbunden und stehen am Beginn der wissenschaftlichen Kon-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
stituierung der ‘klassischen’ Dialektologie. Die Analyse des erhobenen Wortmaterials bezieht sich in erster Linie auf eine etymologische Rü ckfü hrung und Einordnung und zeigt auch in diesem Bereich deutlich die Bindung an sprachhistorische Zielvorstellungen. Die Anwendung dieser Verfahren erfolgt einerseits in der Wortgeographie, um zu der notwendigen Durchsichtigkeit des dialektalen Wortmaterials und damit zu einer angemessenen Darstellung zu gelangen, und andererseits in der Lexikographie, die solche Untersuchungen zum Teil sehr extensiv betrieben hat, so daß auf diesem Wege häufig komplette Wortgeschichten entstanden sind. Auch in diesem Bereich sind die lexikographischen Arbeiten Schmellers (1827—1837) richtungsweisend gewesen, da er im Unterschied zu den Idiotika die dialektale Lexik in einer genauen phonetischen und grammatischen Beschreibung erfaßt und durch sprachhistorische Belege ergänzt hat. Im Rahmen dieser Arbeitsverfahren ergeben sich Schwierigkeiten bei der Lemmabildung (vgl. Art. 16, 2.1.2.), die aus der nichtkodifizierten Form der gesprochenen Dialekte resultieren und durch eine Verhochdeutschung oder eine normierte Verschriftlichung des dialektalen Wortmaterials zu lösen sind; im Zusammenhang mit diesen Problemen ist auch die lexikographische Anordnung zu sehen, die ü berwiegend die Alphabetik und nur ausnahmsweise eine begriffliche Gliederung verwendet. Die Ansätze zu weiteren Analysemethoden, wie z. B. zu statistischen und soziologischen Verfahren, fanden in der ‘klassischen’ Dialektologie wenig Beachtung und wurden deshalb i n diesem Überblick nicht berü cksichtigt. Aus der Zusammenstellung der Verarbeitungsmethoden wurden auch die sprachkartographischen Herstellungsverfahren ausgeklammert, da sie mit ihrer primär dokumentarischen Zielsetzung wohl angemessener bei den Darstellungsmethoden untergebracht sind; außerdem kann dadurch auch ihre zentrale Funktion innerhalb der Arbeitsmethoden der ‘klassischen’ Dialektologie deutlicher zum Ausdruck gebracht werden. 4.3. Darstellungsmethoden Innerhalb der ‘klassischen’ Dialektologie ergibt sich die Eigenständigkeit ihrer Darstellungsmethoden ausschließlich aus der raumbezogenen Orientierung, denn in allen anderen darstellenden Mitteln folgt sie der histo-
12. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie
rischen Sprachwissenschaft; dieser Zusammenhang ist am Beispiel der Ortsgrammatik deutlich zu belegen. Aus der anfänglichen Funktion als Einteilungskarte entwickelte sich die Dialektkarte zu einem grundlegenden Dokumentationsmittel, so daß die Dialektkartographie als die zentrale Darstellungsmethode der ‘klassischen’ Dialektologie anzusehen ist, die auch alle anderen dialektologischen Arbeiten weitgehend durchdringt. Die kartographische Darstellungs m ethode (vgl. Art. 39 und 44) geht von einer geographischen Karte des Untersuchungsgebietes (Grundkarte, Situation) aus, die alle wesentlichen Informationen wie Erhebungsorte mit ihren Signaturen, Orientierungsorte, Flußund Gebirgsverläufe, Grenzlinien etc. enthält; bei größeren Explorationsgebieten ist auf eine ausreichende Flächentreue zu achten, damit sich keine räumlichen Verzerrungen ergeben. Die Ergebnisse der phonetischen/morphologischen und lexikalischen Verarbeitungsmethoden werden nach ihrem sprachhistorischen bzw. sachlich-begrifflichen Bezugspunkt geordnet und je getrennt (Kartendaten) in diese Grundkarte an der Position ihres jeweiligen Belegortes eingezeichnet (vgl. Karte 16.1—16.4), so daß ihrem Inhalt entsprechend Laut-, Formen- und Wortkarten entstehen; zu diesen Kartentypen kommt noch die Kombinationskarte (Wabenkarte, vgl. Karte 16.5) hinzu, die einige oder alle Isolinien eines Erhebungsgebietes zusammenfassend darstellt. Die Eintragung der dialektalen Daten kann in verschiedenen Kodierungsarten erfolgen, die jeweils zu andersartigen kartographischen Visualisierungen üf hren und unterschiedliche Anforderungen an die darstellungsmäßige Aufbereitung stellen: (1) Die Originalform ist die einfachste Darstellungsart, da die Kartendaten in zumeist phonetischer Transkription direkt am Belegort eingeschrieben werden. Der Vorteil dieser Darstellung ist in der geringen Vorbereitungsarbeit und in ihrer strikten Dokumentationstreue zu sehen, während sich ihre visuelle Unü bersichtlichkeit nachteilig auswirkt. (2) Die Punktdarstellung ist die komplizierteste Kartierungsart, da sie einen Kompromiß zwischen einer ausreichenden Genauigkeit und einer erwü nschten Übersicht anstrebt. Dazu ist eine Verkü rzung der Kartendaten in Symbolzeichen erforderlich, bei der jedoch darauf zu achten ist, daß einer-
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seits eine weitgehende Rekonstruktion des ursprü nglichen Belegs noch möglich ist und andererseits eine angemessene Analogisierung der dialektalen Zusammenhänge im Symbolsystem erfolgt; die Forderung nach einer adäquaten Sym bolrepräsentanz ist fü r diese Darstellungsart von zentraler Bedeutung, da das Kartenbild anderenfalls ungenaue oder sogar falsche Strukturen suggeriert, die zu Fehlinterpretationen üf hren können. — Die Nachteile dieser Darstellungsweise resultieren vor allem aus der relativ aufwendigen Vorbereitung und insbesondere aus dem Symbolisierungsproblem; dem steht jedoch die Materialtreue und angemessene Übersichtlichkeit als entscheidender Vorteil gegenüber. (3) Die Flächendarstellung ist die häufigste Kartierungsart der ‘klassischen’ Dialektologie, obwohl sie prinzipiell den gleichen Aufwand wie die Punktdarstellung verlangt und außerdem in ihrer Aussagekraft durchaus nicht unproblematisch ist. Die Herstellung von Flächenkarten setzt prinzipiell eine der beiden anderen Kartierungsarten als Vorform voraus, da eine ortspunktuelle Eintragung fü r die Bildung weitgehend homogener Belegflächen erforderlich ist; der häufigste Beleg oder ein leicht abstrahierter Typ wird als Leitform in das zugehörige Gebiet eingeschrieben, und davon abweichende Belege werden in der Regel durch Einzelsymbole markiert. Die praktische Handhabung dieser Kartierungsart stößt bei der erforderlichen Grenzbildung auf methodische Probleme, da hier kaum objektive Verfahren entwickelt wurden; eine Ausnahme bildet beispielsweise die von Haag (1898) vorgeschlagene und praktizierte Choroplethenbildung (vgl. Art. 25, 2.3.2.), während die Festlegung der jeweiligen Linienverläufe sonst zumeist durch intuitive Entscheidungen erfolgt. Aus diesem Verfahren ergeben sich vor allem in den dialektalen Übergangsgebieten nicht unerhebliche Schwierigkeiten, da hier besonders große Variationsmöglichkeiten bestehen, wie z. B. die Teilkartenfolge von 25.3 unmittelbar erkennen läßt. Diese Unsicherheiten bei der Grenzlinienbildung wirken sich vor allem bei der dialektologischen Interpretation aus, die sich dann zumeist nur auf die faktisch gezogenen Isolinien stü tzt. — Diesem erheblichen Nachteil steht jedoch eine optimale Übersichtlichkeit und Materialtreue gegenü ber, während der erforderliche Arbeitsaufwand im allgemeinen doch sehr hoch anzusehen ist, da erhebliche Auf-
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wendungen fü r die kartographischen Vorformen notwendig sind. Die Wahl der kartographischen Darstellungsart ist im wesentlichen von der Größe des Erhebungsgebietes, der Dichte des Belegnetzes, der Art des Aufnahmeverfahrens und der dialektologischen Zielsetzung abhängig. Diese Darstellungsmethoden üf hren insgesamt zu einem synoptischen Überblick ü ber die räumliche Verteilung und Lagerung der dialektalen Belege und erreichen dadurch eine maximale Problemoffenheit und eine angemessene Aufbereitung fü r die Behandlung von raumbezogenen Problemstellungen, so daß auf der Grundlage dieser Dokumentation eine Auswertung im Sinne der dialektologischen Interpretationen erfolgen kann. Die raumbezogene Betrachtungsweise der ‘klassischen’ Dialektologie beeinflußt darü ber hinaus aber auch die Darstellungsform der Ortsgrammatik und des Wörterbuchs. Als eine Auswirkung dieser Art sind die geographischen und geschichtlichen Exkurse vieler Ortsgram m atiken anzusehen, die der Typus der historischen Grammatik nicht kennt und die eine Einbettung in das außersprachliche Bedingungsgef ü ge bezwecken; in die gleiche Richtung weisen auch die häufig beigefü gten Dialekt- oder Kombinationskarten (vgl. z. B. Karte 16.7), die zumeist Ausschnitte aus dem Deutschen Sprachatlas wiedergeben und eine dialektlandschaftliche Einordnung des Ortspunktes anstreben. Die Auswirkungen der dialektkartographischen Darstellungsmethoden beschränken sich im Wörterbuch zumeist auf die genauere Lokalisierung des Belegmaterials und auf die Hineinnahme von Wortkarten. 4.4. Interpretationsmethoden Die Interpretationsmethoden der ‘klassischen’ Dialektologie stehen im engsten Zusammenhang mit den sprachkartographichen Darstellungsformen und ü bernehmen ihre Auswertung, so daß die Sprachkarte nicht auf dem Status eines Dokumentationsmittels stehen bleibt, sondern zu einem hervorragenden dialektologischen Forschungsinstrument weiterentwickelt wird. Auf der Grundlage dieser Leistung kann sich die ‘klassische’ Dialektologie deutlich von der historischen Sprachwissenschaft abheben und sich aus der ursprü nglichen hilfsdisziplinären Funktion befreien (vgl. Art. 24). Das theoretische Prinzip dieser Interpretations-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
methoden basiert auf der Annahme, daß aus dem räumlichen Nebeneinander von Dialektalerscheinungen auf ihr historisches Nacheinander geschlossen werden kann. Die interpretativen Verfahren gehen grundsätzlich von dem einzelnen vorbefindlichen Kartenbild aus und versuchen, die einzelnen dialektalen Isolinien als Grenzen historischer Kom m unikationsräum e zu deuten; zur Sicherung des jeweiligen Interpretationsansatzes werden prinzipiell zwei argumentative Kategorien eingesetzt: (1) Aus dem Zusammenfall dialektaler Isolinien mit extralingualen Grenzverläufen (z. B. ethnischer, politischer, territorialer, kirchlicher, wirtschaftlicher, geographischer Art) wird geschlossen, daß das außersprachliche Faktum die entscheidende Ursache fü r die dialektale Ausbreitungshemmung darstellt (vgl. Art. 16, 4.2.) und dieser Prozeß im wesentlichen als beendet anzusehen ist; damit ist in der Regel auch eine genaue oder zumindest ungefähre Datierung verbunden. Der Akzeptanzgrad dieser Hypothesen steigt mit der Anzahl der dialektalen Isolinien und der Länge der Koinzidenzstrecke (vgl. z. B. Karte 49.2) sowie mit der Menge der sprachhistorischen Belege. (2) Aus der Größe, Form und Grenzart sowie aus der relativen Lage einer dialektalen Gebietsbildung lassen sich geometrische Raum m uster (z. B. Staffel, Fächer, Trichter, Horst) erkennen (vgl. z. B. Weijnen 1977), die hauptsächlich Rü ckschlü sse auf einen noch laufenden Veränderungsprozeß bzw. auf einen historisch steckengebliebenen Vorgang ermöglichen. Bei konkreten Interpretationen wird im allgemeinen zunächst von dem folgenden Zusammenhang ausgegangen: Bei einer flächenförmigen Expansion der konkurrierenden Neuerung entsteht in der Regel ein Trichter (Keil, Vorbruch), der bei einer weiträumigen Ausdehnung zu einem Band (Bahn, Schlauch) und bei wiederholten und gleichgerichteten Ausbreitungsvorgängen mit unterschiedlichen Neuerungen zur Bildung einer Staffel (Stufen) oder eines Fächers fü hrt. Bei einer punktförmigen Expansion der konkurrierenden Neuerung bildet sich zumeist ein Horst (Kern, Insel), der bei einer weitergreifenden Ausbreitung zu unterschiedlichen Flächenformen gelangt (vgl. Art. 24). Die prinzipielle Berechtigung fü r ein solches Vorgehen wird aus der sogen. Wellentheorie abgeleitet, und zur konkreten Begrü ndung werden vor allem Verkehrswe-
12. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie
ge, Anschlußwille und sozialer Mehrwert herangezogen, die als entscheidende Faktoren zur Bildung neuer Kommunikationsräume gelten können. Die Interpretation einer Dialektkarte ist im Prinzip dann abgeschlossen, wenn alle dialektalen Isolinien durch extralinguale Grenzen oder durch geometrische Raummuster erklärt sind, so daß sich das synchrone Kartenbild in eine Abfolge historischer Raumschnitte zerlegen läßt, die die jeweils geltenden Kommunikationsräume wiedergeben. Die Auswirkungen dieser Interpretationsmethoden reichen wie die Darstellungsmethoden bis in die Ortsgrammatik und zeigen sich dort bei der genaueren Positionierung in der horizontalen Ebene der Sprachlandschaft und in dem vertikalen Schnitt der Sprachgeschichte. Die Leistung dieser Interpretationsmethoden ist im wesentlichen in der Entdeckung der kommunikativen Reichweite als grundlegende Gestaltungskraft üf r die dialektalen Raumbildungen zu sehen; auf dieser Grundlage konnte die sogen. Stammeshypothese und auch das junggrammatische Axiom von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze widerlegt werden; gleichzeitig boten die Ergebnisse auch Ansätze zu neuartigen Hypothesen, wie sie beispielsweise in der Horst- und Bahnentheorie formuliert wurden. Allerdings sind auch die Grenzen dieser Interpretationsmethoden deutlich zu markieren, denn ihre Erklärungsmächtigkeit endet zumindest dort, wo dialektinterne Veränderungsprozesse beginnen. Unter dem Blickwinkel von Zielsetzung, Objektbereich und Methode wurde versucht, die Theorie der ‘klassischen’ Dialektologie in ihren wesentlichsten Grundzü gen darzulegen und ihren Bildungsprozeß durch Einbezug wissenschaftsgeschichtlicher Aspekte in seinen wichtigsten Stufen nachzuzeichnen. Bei einer solchen Darstellung ließen sich Redundanzen nicht immer vermeiden, da der Weg von der Zielsetzung bis zum Ergebnis als ein Kontinuum und ein konsistenter Tätigkeitsablauf zu sehen ist. Erst von einer formalen Theoriebeschreibung, die vielleicht durch neuere Forschungsarbeiten ermöglicht wird, kann eine grundlegende Verbesserung in der Darstellung und in der Durchdringung sowie in dem Erkenntnisstand erreicht werden.
245
5.
Literatur (in Auswahl)
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II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
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12. Theoriebildung der ‘klassischen’ Dialektologie
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Wolfgang Putschke, Marburg
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
248
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Begriffsbestimmung — Strukturalismus — Untersuchungsstufen Die strukturelle Methode im Bereich der Einzelmundartbeschreibung Die diatopisch-vergleichende Analyse Die dialektgeographische Interpretation Literatur (in Auswahl)
Begriffsbestimmung — Strukturalismus — Untersuchungsstufen
1.1. Begriffsbestimmung Im Terminus „strukturelle Dialektologie” bezeichnet das Derivatem „Dialektologie” den Gegenstand (Dialekt(e), Mundart(en)) sprachwissenschaftlicher Tätigkeit (Dialektforschung), das Adjektiv „strukturell”, das in dem gegebenen Zusammenhang mit „klassisch”/„traditionell” bzw. „generativ” opponiert, bezieht sich generell auf den Aspekt der sprachwissenschaftlichen Theoriebildung, die die spezifischen Deskriptionsmittel bereitstellt, aufgrund deren die Beschreibung und die Deutung des an dem (dialektalen) Gegenstand anvisierten Objekts erfolgt. Entsprechend der doppelten Konstitutionsmöglichkeit ihres Objektes kann unter Dialektologie zweierlei verstanden werden, je nachdem, ob die einzelne Mundart als synchronisch in sich geschlossenes Kommunikationssystem oder aber ob mehrere ursprungsverwandte (Gruppen von) Mundarten als simultan teils identische teils unterschiedliche Systeme innerhalb eines Diasystems den Objektbereich der Analyse bilden. Die nach den Grundsätzen der strukturellen Sprachwissenschaft aufgestellte Ortsgrammatik hat im idealen Fall als Voraussetzung fü r die strukturell ausgerichtete dialektgeographische Untersuchung zu gelten. Die vergleichende Untersuchung von genetisch verwandten Mundarten kann als eine von ihrem spezifischen Objektbereich her näher zu bestimmende Form der Sprachgeographie oder Areallinguistik verstanden werden (Dialektgeographie, diasystemische Areallinguistik). Diese ist ihrerseits ein Teilgebiet der komparativen Linguistik (Goossens 1973; Veith 1971). Die strukturelle Dialektgeographie stellt sich zur Aufgabe, Strukturü bereinstimmungen und -unterschiede zwischen verschiede-
nen ursprungsverwandten und im Raum aneinander grenzenden Mundartsystemen aufzudecken, darzustellen und zu deuten. 1.2. Der strukturelle Ansatz Die Methoden der strukturalistischen Linguistik haben erst verhältnismäßig spät Eingang in die Mundartforschung gefunden (etwa mit der Arbeit von Weinreich (1954), vgl. jedoch etwa Goossens 1969, 24 oder Wiesinger 1950, Bd. 1, 5 f). Diese neue, strukturell ausgerichtete Dialektgeographie unterscheidet sich von der frü heren, traditionellen Dialektologie in der Wesensbeschaffenheit ihres Objektes: wurde die dialektgeographische Fragestellung vorhin weitgehend als eine Funktion von außersprachlichen raumbildenden Kräften, von Geschichte, Kultur und Wirtschaft gesehen, so fü hrte der strukturalistische Impuls zu einer stärkeren Betonung des rein sprachlichen Aspektes. Bei der Vielzahl der in nicht unwesentlichen Punkten voneinander abweichenden sprachwissenschaftlichen „Strukturalismen”, und angesichts des Tatbestands, daß die strukturelle Dialektgeographie vorwiegend auf den Grundannahmen des Strukturalismus europäischer Prägung fundiert, soll im folgenden eine Darstellung der den zuletzt genannten Schulen gemeinsamen Zielsetzungen, Grundprinzipien und Methoden vorgenommen werden. Dabei mü ssen wir uns auf die Erörterung der wichtigsten Grundzü ge beschränken. Die von de Saussure angebahnte und unter dem Leitbegriff des Strukturalismus weitergefü hrte Erarbeitung einer modernen Linguistik als wissenschaftlicher Disziplin mit autonomem Untersuchungsobjekt ist auf dem Hintergrund der Entfaltung des Funktionalismus in der modernen Wissenschaft zu verstehen. Dieser ist durch die Entwicklung einer der frü heren aristotelischen Substanzenontologie entgegengesetzten Funktionenontologie geprägt. In dieser neuen Sicht erscheint die Welt nicht mehr als stabiles Gebilde von selbständigen Elementen, sondern als variables Strukturgefü ge, in dem die einzelnen Elemente nach ihrem Relations- und Funktionszusammenhang erkannt und definiert werden. Die Relationalität wird somit zum obersten Ordnungsprinzip, die Kategorien der Funktion, des Systems und der Struktur zu den Grundkategorien der Realitätserfassung. In der strukturellen Sprachbe-
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
trachtung wird die Sprache als ein die sprachliche Kommunikation in einer definierten Sprachgruppe garantierendes Zeichensystem aufgefaßt und auf diese Funktion hin untersucht. Grundlegend ist die Auffassung von Sprache als einem System, in dem alle Elemente aufeinander bezogen sind und demnach grundsätzlich durch ihren funktional begrü ndeten Stellenwert im Relationsgefü ge, in dem sie eingebettet sind, konstituiert sind. Das System einer Sprache besteht ferner aus mehreren Teilsystemen (einem phonologischen Teilsystem, einem morphologischen, einem syntaktischen, einem semantischen), innerhalb deren wiederum weitere Teilsysteme oder Subsysteme zu unterscheiden sind (etwa die phonologischen Teilsysteme der Vokale vs. der Konsonanten; die Subklassen der grammatischen vs. der lexikalischen Plereme, und innerhalb jeder dieser Subklassen weitere (eventuell nur operationell konstituierbare) paradigmatische Subsysteme (vgl. 2.2.1.)). Das System bzw. Teilsystem ist somit der Bezugsrahmen, in dem die Einzelelemente funktional miteinander verbunden sind. Die (spezifische) einzelsprachliche Struktur ist das Gesamt der Relationen der Elemente innerhalb des Systems. Sprachliche Erscheinungen werden demnach nicht isoliert behandelt, als Einzelelementen kommt ihnen keine selbständige Existenz zu; diese gewinnen sie erst durch ihre funktionale, systembezogene Verknü pfung mit den anderen Elementen des jeweiligen Relationsgeflechts. 1.3. Die drei Untersuchungsstufen der Dialektgeographie Das Zentralanliegen der Dialektgeographie ist die historisch-diachronische Erklärung von Diasystemen von genetisch verwandten und räumlich aneinander grenzenden Mundarten. Daraus geht hervor, daß innerhalb des dialektgeographischen Gesamtverfahrens drei sukzessive Untersuchungsschritte zu unterscheiden sind. Auf einer ersten Stufe erfolgt die Deskription von einzelnen mundartlichen Basissprachen. Es handelt sich im Grunde um punktuelle synoptische Untersuchungen, in denen jeweils nur ein Sprachsystem mit einem Ortspunkt (eventuell mit einem mehrere Orte umfassenden Gebiet) kombiniert wird (vgl. Löffler 1974, 63 f). Aufgrund einer metasprachlichen Theorie, welche die nötigen Deskriptionsmittel bereitstellt — im Falle der strukturellen Dialektologie aufgrund der strukturellen
249
Sprachtheorie —, werden die jeweiligen einzelsprachspezifischen Mundartsysteme und -strukturen ermittelt. Auf dieser Basis wird dann ein neuer Objektbereich konstituiert, der keine Basissprache mehr ist, sondern lediglich eine Gesamtheit von ursprungsverwandten Mundartsystemen. Das somit konstituierte Diasystem wird in einem zweiten Schritt zum Objekt einer komparativen Analyse, die mit dem Ziel erfolgt, Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Systemen zu erforschen. Auf dieser Diasystemebene werden demnach nur noch rein architektonische Merkmale ermittelt (vgl. Coseriu 1964, 140). Anderseits fundiert dieser komparativ-diatopische Arbeitsgang auf allgemein-theoretischen Voraussetzungen bezü glich der Vergleichbarkeit von Systemen und von ursprungsverwandten Systemen. Damit ist die Frage nach der Konstituierung eines tertium comparationis gestellt. Die im zweiten Arbeitsgang festgestellten Unterschiede und Übereinstimmungen, sowie deren räumliche Verteilung, bilden den Objektbereich der dritten Untersuchungsphase. Diese ist rein erklärender Natur. Sie fundiert auf dem Postulat, daß die diasystemisch-architektonischen Gegebenheiten eine entwicklungsbezogene Erklärung haben. Anders ausgedrü ckt: daß die festgestellten diasystematischen Beziehungen und die im Kartenbild repräsentierte geographische Verbreitung dieser Beziehungen in diachronisch-entwicklungsbezogene Prozesse uminterpretiert werden können. Die Dialektgeographie ist demnach letzten Endes eine Sonderform der diachronen Linguistik. Kennzeichnend ist, daß die durch die strukturelle Sprachwissenschaft bereitgestellten Methoden auf jeder einzelnen dieser Untersuchungsstufen anzuwenden sind. Der neuen Problemstellung mußte nicht nur eine neue, durch strukturelle Erhebungs- und Beschreibungsprozeduren gesammelte Materialbasis verschaffen werden, es mußten ferner auch neue Einsichten in die strukturelle Vergleichbarkeit von unterschiedlichen (jedoch ursprungsverwandten) Sprachsystemen erarbeitet werden, es mußten schließlich neue Darstellungstechniken sowie neue Erklärungsmöglichkeiten des dialektgeographischen Materials entwickelt werden. Die strukturalistischen Methoden haben also nicht nur auf der einzelsprachlichen Beschreibungsstufe neue Perspektiven eröffnet, sondern ferner auch in den beiden Kernbereichen des sprachgeographischen Ver-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
250
gleichs und der historisch-diachronischen Deutung. Im folgenden sollen die methodischen Erfordernisse und die wichtigsten Erkenntnisse des strukturellen Ansatzes auf jeder einzelnen der verschiedenen Untersuchungsstufen der dialektgeographischen Gesamtmethode erörtert werden.
2.
Die strukturelle Methode im Bereich der einzelsystem-bezogenen Mundartbeschreibung
Aus dem Grundprinzip, daß die strukturelle Dialektgeographie auf System- und Strukturvergleichen basiert, läßt sich die Anforderung ableiten, daß nur systembezogene Sprachelemente in die komparative Untersuchung eingehen können. Die strukturelle Deskription einer Sprache erfolgt durch die Eruierung und die Konstitutionsbeschreibung der das Funktionieren sprachlicher Kommunikation garantierenden Einheiten. Zentral stehen die signifikativen Elemente, bilaterale Sprachzeichen mit Ausdrucks- und Inhaltsseite. Im Sinne de Saussures sind die beiden Zentralobjekte — das phonologische Objekt und das inhaltsbezogene, semantischlexikalische Objekt — mit der Ausdrucksbzw. Inhaltsform gleichzusetzen. Hjelmslev erweiterte die Saussuresche Konzeption, indem er auf beiden Ebenen zwischen Form und Substanz unterschied. De Saussures These „Sprache ist Form, nicht Substanz” wurde dabei unverändert beibehalten: Ausdrucks- und Inhaltssubstanz — der phonetisch-materielle Aspekt der Sprache sowie der Erfahrungsbereich der außersprachlichen Realität, das Designierte — wurden nicht mehr zum Objektbereich linguistischer Deskription gerechnet. Wie noch zu zeigen sein wird, hat die dialektgeographische Fragestellung zur Überwindung dieser nicht unproblematischen Dichotomie Form und Substanz beigetragen. Im folgenden wird jedoch an eine Sprachsystemauffassung angeknü pft, nach der aus Form und Substanz bestehende Zeichen und deren interne Strukturierung die wesentlichen konstitutiven Sprachelemente bilden. Nach dieser Auffassung ist das sprachliche Zeichensystem ein Rangstufensystem. Von einer sprachlichen Deskriptionsmethode wird daher verlangt, daß sie die nötigen Mittel bereitstelle, um die sprachspezifischen Zeichen, deren spezifische Konstitutionsstrukturen und Bildungsregeln zu ermitteln.
Die Entscheidung, auch die Substanz mit in das Zeichen einzubeziehen, ermöglicht eine angemessenere, dem Grundprinzip der quantitativen Konsubstantialitätsrelation zwischen Zeicheninhalt und Zeichenausdruck nicht widersprechende Abbildung der zeicheninternen bzw. -externen Relationen der Polysemie, Homonymie und Synonymie (im inhaltlichen Bereich), der phonologischen Varianz, Alternanz und Suppletion (im Bereich des Ausdrucks). Die Definition dieser semantischen Relationen — und analog auch die der (sub)phonologischen Beziehungen — kann nun auf die jeweilige Substanz bezogen werden. Diese umfaßt somit die (quantitativ konsubstantielle) Gesamtheit der zeicheninternen quantitativen Divergenzen, sowohl die jeweilige Ineinanderschichtung der Inhalts- und Ausdruckskonstituenten, von der Gesamtbedeutung bzw. dem Gesamtausdruck (beide als Substanzsumme) bis hinab zu den minimalen distinktiven semantischen bzw. phonologischen Merkmalen, wie auch die verschiedenen zeicheninternen Variationserscheinungen der Polysemie und der Phonologie. Letztere — sowohl inhalts- wie ausdrucksinterne Variationen — lassen sich als kontextdisjunktive und relational durch Regeln erklärbare („beregelbare”) Substanzvarianten auffassen. Die substanzkonstitutiven Minimaleinheiten — die semantischen Merkmale oder Seme, und die phonologischen Merkmale als Phonemkonstituenten —, sowie deren konstitutiven Kombinationen zu den hierarchisch höheren Inhalts- bzw. Ausdruckseinheiten (Inhaltslesarten, Inhalten; Phonemen, Phonemkombinationen, Ausdrü cken) sind als systemimmanente, nach rein oppositiv-negativem Verfahren zu eruierende Strukturelemente aufzufassen. Jede Sprache ist demnach durch eine dreifache Gliederung gekennzeichnet: (1) eine Ausdrucksstrukturierung in distinktive Elemente (Phoneme) sowie in Regeln ihrer Kombination zu systemgerechten, zeichenausdrucksfähigen Ketten; (2) eine Inhaltsstrukturierung in semantisch distinktive Einheiten; und (3) eine Komponente, in der die Zeichen als bilaterale Inhalt/ Ausdruckseinheiten, jedoch zugleich — bei motivierten Zeichen — als anhand von syntaktischen und subsyntaktischen Katenationsregeln gebildete komplexe Einheiten beschrieben werden. Die Analyse jeder der beiden Teilstrukturen erfolgt jeweils unabhängig von der anderen, obwohl die auf der Assoziation von beiden beruhende Zeichen-
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
einheit jeweils methodologisch vorauszusetzen ist (Vgl. hierzu etwa Wiegand 1970; Harras 1972; Henne 1972; Heger 1976). Der Hjelmslevsche Substanzbegriff ist somit jedoch in wesentlichen Aspekten umgedeutet worden. Es scheint uns daher angebracht, zwischen einer inhalts- und ausdrucksinternen Substanz einerseits, und anderseits einer sprachexternen Substanz zu unterscheiden. Um in der monographischen Sprachbeschreibung zur Erfassung der systembezogenen Elemente und ihrer Beziehung zueinander zu gelangen muß von der sprachexternen Substanz abstrahiert werden, obwohl dies im Grunde nur bedingt möglich ist, da die jeweiligen distinktiven Merkmale aus zeichenfunktionalen Gr ü nden entsprechenden außersprachlichen Korrelaten zuordenbar sein mü ssen. Die Vergleichbarkeit von Sprachen dagegen impliziert die ausdrü ckliche Berü cksichtigung beider Substanzen. Die sinnvolle Vergleichbarkeit von ursprungsverwandten Mundarten schließlich erfordert, daß zusätzlich auch die zeichenkonstitutive Relation zwischen Inhalt und Ausdruck — bisweilen ebenfalls als Substanz bezeichnet (vgl. 3.3.1.) — mit in Betracht gezogen wird. 2.1. Die Ausdrucksstrukturierung Als funktionelle und strukturelle Phonetik setzt die Phonologie sich zur Aufgabe, die sprachspezifisch interne Strukturierung der im Sprachsystem aufgespeicherten Zeichenausdrü cke zu erfassen. Ziel der phonologischen Deskription ist die Ermittlung der sprachspezifischen Fähigkeit zur ausdrucksbezogenen Distinktivität, d. h. zur Ausdruckskonstituierung (und folglich zur Ausdrucksdifferenzierung). In der taxonomischen Phonologie werden im wesentlichen die folgenden Untersuchungsgänge unterschieden. 2.1.1. Erstellung des maximalen Phoneminventars (der nicht kontextgebundenen segmentalen Distinktoren). Die Erstellung der Phoneme impliziert einen doppelten Arbeitsgang: (1) Untersuchung der im Diskurs kontextgebunden realisierten Laute auf ihren Distinktivitätswert hin, d. h. Aufstellung von kontext- bzw. positionsgebundenen Distinktoren (der Kommutationstest ist dabei das wichtigste operationale Verfahren: Austausch von Lauten und Beobachtung der daraus resultierenden Veränderungen auf der Inhaltsebene) und (2) Ermittlung der eigentlichen Phoneme durch
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funktionell schiedener bündel.
begr ü ndete Identifizierung verkontextgebundener Merkmals-
2.1.2. Beschreibung der inneren Struktur der somit aufgestellten Teilinventare: Phoneme sind keine Letztgrößen, sondern stellen Bü ndelungen von distinktiven Merkmalen dar, aufgrund deren sie klassifiziert und in nunmehr intern strukturierte Systeme eingeordnet werden können (Einteilung der Phoneme nach den Gegensätzen, an denen sie beteiligt sind, sowie nach den sie definierenden Oppositionsarten: Einordnung in Reihen und Stufen, Feststellung von bilateralen bzw. multilateralen, von proportionalen bzw. isolierten Oppositionen usw.). Mit der Beschreibung des phonematischen Systemaufbaus wird die Merkmalausnutzung auf Phonemebene festgestellt. Die durch diese beiden Untersuchungsschritte erarbeiteten Daten lassen sich leicht in graphischen Konstrukten (Systemen) repräsentieren. Das Kurzvokalsystem der Stadtkölner Mundart etwa hat die folgende Form: i e ε
y ø œ a
u o ɔ
(Heike 1972, 45). Das System ist nach drei Parametern aufgebaut: einer Sonoritätsdimension (geschlossen/offen) und zwei Tonalitätsdimensionen (vorn/hinten, rund/nichtrund). Die verschiedenen Vokalphoneme sind nach gemeinsamen distinktiven Merkmalen angeordnet (z. B. /i/, /e/ und /ε/ sind distinktiv palatal nicht-rund; /i/, /y/ und /u/ sind distinktiv maximal geschlossen usw.). Es handelt sich somit um ein vierstufiges (vier Öffnungsgrade) Zehnvokalsystem (welches sich etwa durch die Angabe der Phonemzahl pro Öffnungsgrad als ein 3 + 3 + 3 + 1-System charakterisieren läßt), in dem verschiedene Merkmalsneutralisierungen vorliegen (nicht optimale Ausnutzung der distinktiven Merkmale): Aufhebung der Opposition rund/nicht-rund in den Bereichen der velaren Vokale und des maximal offenen Vokals; Irrelevanz der Artikulationsstelle im maximal offenen Vokal ... 2.1.3 Die den Phonemen entsprechenden Lauttypen werden im ersten Untersuchungsschritt festgestellt. Da Phoneme rein abstrakte, durch den alleinigen Phonemgehalt definierte Entitäten darstellen — was impliziert, daß die zu ihrer Bezeichnung verwendeten
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
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Symbole beliebig sind —, kann zur graphischen Darstellung der generell ü blichen (auch der kombinatorischen) Varianten und der Variationsbreite der Phoneme die Konvention eingefü hrt werden, daß die verwendeten Symbole phonetischen Wert haben (und daß der jeweilige Phonemgehalt durch den entsprechenden Stellenwert im System bezeichnet wird). Diese Konvention wird ü brigens in der phonologischen Praxis meistens stillschweigend benutzt. Die etwa von Heike verwendeten Symbole sind offensichtlich als phonetische Symbole zu verstehen (vgl. etwa die Darstellung des Plausener dreistufigen Vierecksystems: IU εɔ aα (Heike 1972, 51)). Niebaum (1974, 104) kann sogar in dieser Weise komplementär verteilte Kurz/Langund Diphthong/Lang-Allophone repräsentieren (Subsystem der Kurzvokal- und Langvokalsysteme des Laerischen, z. B. /[ε ~ ε:]/). Mit Rü cksicht auf den Tatbestand, daß die jeweiligen einzelsprachlichen Systeme bzw. Teilsysteme synchron-typologisch in diasystematische Vergleichsformeln aufgenommen bzw. auf sprachgeographische Karten gebracht werden sollen, gilt als Grundregel, daß die diagrammatische Repräsentierung der einzelmundartlich ermittelten Strukturen möglichst viele Daten in möglichst gedrängter und ü bersichtlicher Gestalt darbringen soll. Diese Forderung wird etwa durch die Einfü hrung der oben besprochenen Konvention (die Symbole haben phonetischen Wert) erfü llt, sowie durch die weitere Konvention, daß die Reihen und Spalten der Diagramme die lautlichen Dimensionen abbilden, so daß der phonematische Gehalt der den repräsentierten Lauten entsprechenden Phoneme durch deren Stellenwert innerhalb dieser Dimension definiert wird. Auch die phonematische Variationsbreite und die Variationsbedingungen können durch die Einfü hrung zusätzlicher Symbole abgebildet werden, z. B. Gleichsetzungssymbol (=) zur Abbildung der freien Variation; Tilde (~) zur Abbildung der kombinatorischen Varianten; /x-x zur Angabe des das Auftreten der kombinatorischen Variante bedingenden Kontextfaktors („/” = in der folgenden Umgebung; „-” steht fü r die kombinatorische Variante). Die Laerische teils frei variable, teils kontextgebundene Realisation des Phonems /s/ (Niebaum 1974, 87) läßt sich
folgendermaßen darstellen: /[s = s+ = ʃ/-K ~ s = z/Son.- ~ s]/. Phonemrealisationen, die sich durch das Einzelphonem transzendierende Regeln beschreiben lassen, werden am zweckmäßigsten durch ein entsprechendes einheitliches Symbol repräsentiert. So liegt die Laerische komplementäre Verteilung in Kurz/LangAllophone vor folgendem /r/ oder /ǝ/ nicht nur bei /ε/, sondern auch bei den sonstigen Kurzvokalphonemen mittleren Öffnungsgrades vor. Dieser Sachverhalt kann vereinfacht durch die Anwendung eines besonderen einheitlichen Symbols repräsentiert werden, etwa: /ε(:)/, /oe(:)/ und /ɔ(:)/ (und der zusätzlichen Spezifizierung, daß „(:) = homorganes Langallophon vor folgendem /r/ oder /ǝ/”). 2.1.4. Durch die Distributionsanalyse werden die Phonemkombinationsmöglichkeiten und -beschränkungen ermittelt (Gesetzmässigkeiten der syntagmatisch-linearen Anordnung der Phoneme; Ermittlung der Stellungen im Zeichenausdruck, in denen die verschiedenen Phoneme auftreten können; Ermittlung von Oppositions- bzw. Korrelationsneutralisierungen). Durch die Distributionsanalyse wird eine Fü lle von Daten — eigentlich ist jedes Einzelphonem nach allen seinen Vorkommensmöglichkeiten zu kennzeichnen — ermittelt, die sich nicht auf die begrenzten Ausmaße einer einheitlich-ü bersichtlichen Repräsentation zurü ckfü hren lassen. Ideal sogar sollten bei der Analyse der Phonemkombinationsmöglichkeiten verschiedene zusätzliche Faktoren mit berü cksichtigt werden (etwa der morphematische Aufbau des Zeichenausdrucks, der Häufigkeitscharakter der belegten Kombinationen, eine Unterscheidung zwischen systembedingten bzw. nur zufälligen Verteilungslü kken, der tiefere phonologische Status von systembedingten Lü cken (Vorhandensein einer allgemeinen Neutralisierungsregel)). Bedenkt man, daß bereits Phoneminventarvergleiche erst ü ber Teilinventarvergleiche zu bewältigen sind, so gilt a fortiori fü r die komparative Untersuchung von Phonemdistributionen, daß diasystemisch vergleichend zunächst nur mit Teilaspekten der distributionalen Verhältnisse gearbeitet werden kann. Ob sich mit solchen Vergleichen sinnvolle und aufschlußreiche Einsichten in die linguistische, insbesondere sprachgeographische Problematik erzielen lassen, soll einstweilen unentschieden bleiben (siehe jedoch
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
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Abb. 13.1: Bezugsdiagramm für postvokalische Kontexte: (〈〉 bedeutet „im Auslaut”; 〈K 〉 = „vor Auslautkons.”; 〈K-〉 = „vor Inlautkons.”) (nach Niebaum 1974). etwa Goossens, 1966, 211). Unverkennbar ist allerdings, daß dem Dialektgeographen ein möglichst reichhaltiges Material zur Verfü gung gestellt werden soll. Es stellt sich somit die Frage nach den Darstellungsverfahren der einzelsystemgebundenen Distributionsverhältnisse. Das einzelsprachliche Vorhandensein von Oppositionsaufhebungen, die sich als allgemeine, das Einzelphonem transzendierende Merkmalsneutralisierungen beregeln lassen (z. B. die Auslautverhärtungsregel der stimmhaften Obstruenten) können jeweils anhand von spezifischen Symbolen bezeichnet werden (z. B. K = Auslautverhärtung; v : = im absoluten Auslaut sind nur Langvokale belegt; KN = regressive intersegmentale Assimilationsregel, durch die ein Nasalkonsonant im Hinblick auf die Artikulationsstelle an den voraufgehenden Obstruenten angeglichen wird). Die sonstigen, spezifischeren Phonemverbindungen sind anhand von Tabellen und Schemen zu bewältigen. Jedoch sollten auch bereits hier, und zwar mit Rü cksicht auf den folgenden sprachgeographisch-vergleichenden Untersuchungsschritt, einheitliche Darstellungskonventionen verabredet werden, deren Beachtung eine größere Übersichtlichkeit und Brauchbarkeit des Materials gewährleisten dü rfte. So kann man zur Repräsentierung der eingliedrigen Kontextbelege eines Einzelphonems (bzw. einer einzigen natü rlichen Phonemklasse) zunächst ein als Bezugsgröße zu deutendes theoretisches Kombinationsdiagramm entwerfen. ü F r postvokalische Stellungen ließe sich etwa folgendes Bezugsdiagramm aufstellen (vgl. Abb. 13.1). Die darauf zu beziehenden Kombinationsdiagramme der Laerischen Kurz- bzw.
Langvokalphoneme (nach Niebaum
sehen wie (1974)
folgt aus aufgestellt):
Abb. 13.2: Distribution der Laer. Kurzvokalpho- neme (nach Niebaum 1974).
Abb. 13.3: Distribution der Laer. Langvokalpho- neme (nach Niebaum 1974). (Stellungsbeschränkungen bei einzelnen Phonemen können in die entsprechenden Fächer eingezeichnet werden; schraffierte Fächer geben Distributionslücken an; leere Fächer deuten an, daß der entsprechende Laut weder als Phonem vorkommt noch als in der betreffenden Stellung mögliche Variante eines Phonems; in []-Klammern stehen Laute, die in der betreffenden Umgebung zwar vorkommen, jedoch nur als kombinatorische
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Varianten (z. B. [gŋ] = /γŋ/). Ferner ist darauf hinzuweisen, daß der erste Konsonant in den phonematischen Kombinationen/Kons. + homorganer Dauerlaut/ (etwa /dn/, /bm/, /γl/, [gŋ]) als inlautend gedeutet wird (als Aussprachevarianten sind jeweils möglich: [bm], [bǝn] und [bǝn], denen — auch nach Niebaum — die Phonemkombinationen /bm/ und /bǝn/ entsprechen, z. B. neben /hεbm/ (118) auch automatisch /hεben/ (47), „haben”)). Das entsprechende Kombinationsdiagramm fü r die Langvokale der Ostvogtländischen Mundart von Neudorf wü rde etwa folgende Gestalt haben (Schädlich, 1966; vgl. Abb. 13.4). Es ist darauf hinzuweisen, daß mit der Aufstellung von solchen Diagrammen noch nichts ü ber die diasystemische Identifizierbarkeit und Vergleichbarkeit von aus verschiedenen Systemen stammenden Elementen ausgesagt ist. Es sollte lediglich gezeigt werden, daß monographische Beschreibun-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
gen, die nachträglich in diasystematisch-vergleichende Untersuchungen integriert werden sollen, sich nach bestimmten Prinzipien zu richten haben, die deren Verwertbarkeit gewährleisten (etwa Vollständigkeit des Materials, Übersichtlichkeit von dessen Darstellungskonstrukten, Einheitlichkeit der Darstellungskriterien). 2.2. Inhaltsstrukturierung und Beschreibung von Relationen, die eine Bezugnahme auf die zeichenkonstitutive Inhalt/Ausdrucks-Beziehung implizieren. Parallel zur Erforschung der Ausdrucksstrukturen, hat die strukturelle Semantik die Aufdeckung und Beschreibung der einzelsprachspezifischen Inhaltsstrukturen zum Gegenstand. Dabei sind zum Teil die Methoden der Ausdrucksanalyse analog auf die Inhaltsanalyse anwendbar. Grundsätzlich sind somit auch die Inhaltsstrukturen autonom, unabhängig von den ihnen zugeordneten
Abb. 13.4: Distribution der Neudorfer Langvokale (Aus der von Schädlich gebotenen Beschreibung lassen sich über bestimmte Kombinationsmöglichkeiten keine eindeutigen Angaben entnehmen. Einerseits wird bei der Beschreibung der Vokalphonemverteilung (131—137) nicht zwischen Inund Auslautposition des folgenden Konsonanten unterschieden (dieser Mangel läßt sich jedoch größtenteils durch eine Durchsicht der an sonstiger Stelle zur Bestimmung der Oppositionen gebrachten zahlreichen Minimalpaarbeispiele beheben). Anderseits vermißt der Leser Angaben über die Häufigkeit und den Normalitätscharakter von bestimmten Kombinationsbelegen: die Kombinationen Langvokal + Affrikate werden als belegt aufgefü hrt (/ds/ und /dʃ/ nach verschiedenen Langvokalen, /bf/ allerdings nur nach /ā/), es lassen sich aber fast keine entsprechenden Beispiele finden. Es ist demnach anzunehmen, daß diese Verbindungen eher außergewöhnliche Kombinationen darstellen. Ferner haben wir /w/ als
bilabialen Sonoranten gedeutet (im Gegensatz zu Schädlich, fü r den sich /w/ minimal von /f/ durch die Beteiligung der Stimme unterscheidet (88 und 188)). Anderseits wird auch hier der Konsonant vor silbischem Nasal oder [] als inlautend aufgefaßt, (z. B. /dāfn/ „taufen”, /hōgŋ/ „Haken” (vgl. 92—93). Langvokal vor /ŋ/ — aus der Synkope eines intervok. Velarobstruenten, nach vorheriger assimilatorischer Übertragung von dessen Velarität auf den folgenden Nasal entstanden — dü rfte nur im Auslaut möglich sein (z. B. /sīŋ/ „siegen”, /sōŋ/ „sagen”, /flīx, Pl. flīŋ/ „fliegen”; zu fragen wäre jedoch, wie etwa „regnen” lautet (/rēŋǝ/, vgl. /siŋǝ/ „singen“ oder /rēŋ/ ?)). Fü r den sth/stl-Gegensatz des Bezugsdiagramms ist die Opposition zwischen Fortis und Lenis substituiert. Das Bezugsdiagramm ist um die Dimension der Affrikaten erweitert. Maximal offen ist /ā/; offen sind /ā/, /ǟ/ und //).
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
Ausdrucksaspekten (Signifikanten) zu erforschen. Aus der Voraussetzung jedoch, daß zwischen Ausdrucks- und Inhaltsebene des bilateralen Sprachzeichens eine Solidaritätsund quantitative Konsubstantialitätsrelation existiert, ergibt sich nicht nur, daß Zeicheninhalte an deren Ausdrucksaspekte gebunden und lediglich ü ber letztere zu eruieren sind, sondern zusätzlich, daß die systemimmanenten bzw. systemtranszendenten semantischen Grundrelationen — Synonymie, Polysemie oder Homonymie, Heteronymie und Tautonymie — lediglich in Termen einer Inhalt/Ausdrucksbeziehung zu erfassen sind. Anderseits ist zu beachten, daß der Wortschatz einer Sprache — abgesehen von der Subklasse der nach Henne benannten grammemischen Signeme — ein offenes System bildet (die lexikalischen Signeme), das sich demnach nur insofern analysieren und strukturieren läßt, als operationell geschlossene paradigmatische Teilsysteme konstituiert werden (vgl. Henne 1972, 21 f). Im folgenden soll lediglich gezeigt werden, wie sich einzelsprachspezifische semantische Zusammenhänge und Beziehungen nach strukturellem Verfahren ermitteln lassen und in monographische Materialsammlungen aufgenommen werden können. Dabei wird grundsätzlich zwischen rein inhaltsbezogenen Strukturen und solchen, die eine ausdrü ckliche Bezugnahme auf die Inhalt/Ausdrucksrelation implizieren, unterschieden. Anderseits ist ständig zu berü cksichtigen, daß die beiden nachträglichen Schritte im dialektgeographischen Gesamtprozeß (der vergleichende und der erklärende) auf der monographischen Beschreibungsphase aufbauen. Daraus ergibt sich die weitere Forderung, daß das einzelsprachlich ermittelte Basismaterial den Kriterien der Übersichtlichkeit und der dialektgeographischen Verwertbarkeit entsprechen soll. 2.2.1. Objekt der strukturellen Semantik sind die signifikativen Einheiten der unteren Ränge (Minimalzeichen; Signeme des nächsthöheren Ranges R 1 + n). Die strukturelle Lexikologie befaßt sich mit den „lexikalischen Signemen” (LS) (Lexemen, sowie den lexikalischen Synsignemen (LSy), d. h. Derivatemen und Kompositemen). Das Basisverfahren der strukturellen Semantik ist die Erstellung und die Untersuchung von operationell begr ü ndbaren lexikalischen Teilsystemen. Die dabei verwendeten Analyseoperationen beruhen auf den beiden kom-
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plementären Verfahren der Onomasiologie und der Semasiologie. Die semantische Analyse erfolgt durch eine quantitative Differenzierung innerhalb der Zeicheninhaltssubstanzsumme (SUS), die als eine disjunktive Kombination von Substanzkollektionen (SUKn) zu beschreiben ist. Letztere werden wiederum durch eine konjunktive Kombination von semantischen Merkmalen konstituiert (vgl. etwa Henne 1972, 23). Die Erfassung von einzelsprachspezifischen Inhaltsstrukturen setzt die Aufstellung eines onomasiologischen lexikalischen Paradigmas (OLP) (Wortfeld, lexikalisches Feld, paradigmatische Teilstruktur, Bezeichnungsfeld) voraus, innerhalb dessen sich anhand von komplementär semasiologischen Analyseverfahren die einzelnen minimaldistinktiven Seme eruieren lassen (siehe hierzu Henne 1972, 28 f und 1973, 140 f; Harras 1972). Ausgangspunkt fü r die Erstellung eines OLP ist ein intensional definiertes, außereinzelsprachliches begriffliches Designatäquivalent (zur näheren Ausgliederung des Designatbereiches, sowie üf r Beispiele, siehe Henne 1972 und 1973, Harras 1972). Ausgehend von einer somit definierten Begriffsgröße kann nun die Klasse der LS erstellt werden, in deren Signifikat die einzelsprachliche Entsprechung zu dem betreffenden Begriff enthalten ist. In Anlehnung an Henne (1972, 129; 1973, 140) und Wiegand (1970, 293) wird dieses inhaltliche Korrelat zum Ausgangsbegriff, hier Noem genannt. Das somit konstituierte OLP besteht aus einer Klasse von Signemen (genauer: aus einer Klasse von an unterschiedliche Signifikanten gebundenen SUKn), deren Inhalt zugleich eine gemeinsame Basis von Identischem (das Noem) und einen Zusatz von unterschiedlichen, opponierenden semantischen Merkmalen aufweist. Identifiziert sind somit alle Signeme eines Sprachsystems, deren SUKn das dem Ausgangsbegriff entsprechende konstante Noem enthalten. Sie bilden ein geschlossenes System von semantisch vergleichbaren Signemen („eine Familie sinnverwandter Wörter”), in dem eine Bedeutungsähnlichkeit als Synonymie bzw. partielle Synonymie abgebildet wird. Dieses System bildet nun seinerseits die Ausgangsgröße einer weiteren komplementär semasiologischen Analyse, durch die die semantische Inhaltsstruktur des Paradigmas ermittelt wird. Anhand von geeigneten Ermittlungsverfahren werden die die paradigmainternen Noem-Sem-Kollektionen [vgl. S. 28, Z. 21] (NSKn) unterscheidenden mini-
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mal distinktiven Merkmale (Seme) eruiert. Diese erweisen sich demnach als wortfeldspezifische, minimaldistinktive Korrelate zu Begriffsmerkmalen. Dabei ist auf den virtuellen Stufen der Sprachkompetenz bzw. des Sprachsystems zwischen darstellungsfunktionalen (Notemen) und symptom- bzw. signalfunktionalen Merkmalen (Konnotemen oder Stilemen) zu unterscheiden. Die Distinktivitätsleistung von letzteren erfolgt auf diaphasischer Ebene, d. h. im diachronischen, diatopischen, diastratischen oder diasituativen Bereich („diaphasisch” als Oberbegriff, nach Henne 1972, 124; „diasituativ” nach Goossens 1977, 9 („diaphasisch” dort im Sinne von diachronisch)). Somit können die paradigmainternen semantischen Beziehungen (1) der Synonymie (darstellungsfunktional identische SUKn mit jedoch divergierenden Konnotemen, z. B. deutsch Lift und Fahrstuhl; im Rahmen eines gesamtdeutschen Diasystems: diatopisch begrü ndete Synonyme wie Tischler/Schreiner, fegen/ kehren, Pferd/Gaul/Roß (vgl. Protze 1969, 363 f)), sowie (2) der partiellen Synonymie (SUKn mit identischen Noemen jedoch differierenden weiteren Semen) angegeben werden. Je nach den relationierten Termen lassen sich im letzteren Falle verschiedene spezifische Strukturen unterscheiden: die Relation der Unterordnung oder Hyponymie, die zur Hyponymie konverse Relation der Überordnung oder Supernymie, sowie die symmetrische Relation der Gleichordnung im Hinblick auf ein ü bergeordnetes Element oder Relation der Kohyponymie (vgl. Henne 1972, 165—167; Henne 1973, 141; Wiegand 1973, 40 f). 2.2.2. Die somit innerhalb eines OLP eruierten semantischen Strukturangaben lassen sich in der Form einer Matrix oder eines Strukturgraphen oder Stemmas repräsentieren. Beide Darstellungsmethoden sind einander grundsätzlich äquivalent, da in beiden sowohl die hierarchische Struktur der Merkmale (SUKn mit hierarchisch höheren Merkmalen werden vor SUKn auf niederen Positionen spezifiziert) wie eventuelle Bezeichnungslü cken (Spezifizierungs- bzw. Generalisierungslü cken (vgl. Wiegand 1973, 62 f); durch Offenbleiben des entsprechenden Teilstrangs im Stemma, durch Ausbleiben in der Matrix einer SUK, die mit einer sonst belegten SUK in minimal-distinktiver Opposition stehen wü rde) einwandfrei repräsentiert werden können. Die Graphendarstellung hat jedoch den Vorteil der größeren Übersichtlichkeit, wenn ein komplexeres
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
OLP untersucht werden soll. Obwohl die semantischen Merkmale anhand von paradigma-internen Signemen eruiert werden, kann ihnen anderseits aufgrund des Intentionalitätscharakters sprachlicher Zeichen eine Verweisfunktion auf Außersprachliches zugeschrieben werden: Seme sind somit einzelsprachlich gebundene Entsprechungen zu den differentiae specificae eines genus proximum bzw. zu sonstigen begrifflichen Merkmalen, d. h. Seme sind versprachlichte enzyklopädische Merkmale. Hieraus ergibt sich, daß ferner auch mit einem als Bezugsgröße zu deutenden außer(einzel)sprachlichen Begriffssystem gearbeitet werden kann, in dem eine maximale Aufgliederung des untersuchten Designatbereichs repräsentiert wird und auf das die jeweiligen einzelsprachlichen Bezeichnungen bezogen werden. Letzteres Verfahren muß in der nachträglichen geographisch-vergleichenden Untersuchungsphase sowieso angewandt werden. Beispiel: Unter der Voraussetzung, daß folgendes lexikalisches Teilparadigma durch eine onomasiologische Operation gewonnen wurde: Zim m erm ann — Tischler — Schreiner — Kunsttischler, können geeignete komplementär semasiologische Analyseoperationen zusätzlich zum Noem [Mensch, der beruflich Holz bearbeitet] fü r die verschiedenen paradigmainternen monosemierten SUKn mehrere Noteme bzw. Konnoteme eruieren, die folgendermaßen repräsentiert werden können:
Abb. 13.5: Stemma 2.3. Die Inhalt/Ausdrucksrelation (I/A-Relation) Geht man von dem Kriterium der zeicheninternen I/A-Relation aus, so ergeben sich
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
Abb. 13.6: Merkmalmatrix (0 deutet an, daß das entsprechende darstellungsfunktionale Merkmal erst für eine hierarchisch tiefer stehende SUK relevant wird oder daß die diaphasische Opposition an der betreffenden Stelle neutralisiert ist. Tischler ist einerseits diatopisch unmarkiert und opponiert anderseits zugleich mit Schreiner)
weitere semantische Fragestellungen, die ebenfalls in der Dialektgeographie Anwendung finden können: (1) Der Motiviertheitscharakter der Sprachzeichen; (2) Die Inhaltsstruktur des einzelnen Signems (Polysemie); (3) Der lexikalische Bestand der Phoneme. 2.3.1. Intern motiviert sind die LSy (Kompositeme oder Derivateme); das Synsignifikat solcher Zeichen ist in der Regel, jedoch bei gleichzeitiger Unter- und Übersummativität, aus den Teilsignifikaten ableitbar. Vom Standpunkt ihrer Entstehungsmodalität aus gesehen, sind Synsigneme als deduktiv nach sprachsysteminternen Regeln gebildete Wortschöpfungen zu deuten, in deren Signifikanten ein zwar auf subsyntaktische Katenationsregeln reduzierter, jedoch noch zeichenhafter Ausdruck eines zugrundeliegenden, auf das zu bezeichnende Designat bezogenen Benennungsmotivs, eingetragen wird. Die Zusammenbildung „Büchsenöffner” etwa ist das Produkt einer Zeichenbildungsregel, in der einerseits die die intendierte Referentenklasse kennzeichnende Prädikation „X ist ein Artefakt, das zum Bü chsenöffnen dienen soll” als grundlegendes Benennungsmotiv selektiert wurde, in der anderseits dieses Benennungsmotiv nach den sprachlich verfü gbaren Wortbildungsmustern der Derivation
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und Komposition auf die konstitutiven Ausmaße eines nunmehr zu reinen Designationszwecken fähigen Sprachzeichens reduziert (bzw. erhoben) wurde. (Vgl. Jongen 1978). Fü r die vergleichende Sprachwissenschaft ergibt sich aus diesem Sachverhalt die Frage nach dem Motiviertheitscharakter der verglichenen Lexika. Diese Frage kann zunächst in einem rein statistisch-typologischen Sinne verstanden werden: „sind bestimmte Mundarten im Vergleich zu anderen mehr grammatikalisch und gehören andere mehr zum lexikologischen Typ?” (Goossens 1969, 77). Sie kann von zwei Seiten her beantwortet werden: entweder von den Ausdrucksseiten der auf onomasiologisch angelegten Wort(verbreitungs)karten bzw. in diasystematisch-konfrontierten onomasiologischen Paradigmen verzeichneten Signeme her, oder unmittelbar von der Inhalts- bzw. außersprachlichen Designatseite her. Im ersteren Falle wird fü r jedes einzelne Sprachsystem die Summe der belegten Synsigneme in Vergleich zu den unmotivierten Zeichen gezogen (vgl. Goossens 1969, 77). Im zweiten Falle wird, ausgehend von einem Begriffsmerkmal bzw. einem mutmaßlichen Inhaltsmerkmal (etwa „weiblich” oder „sozial fundierte Verwandtschaft”), nach der Häufigkeit von dessen ausdrü cklicher, synpleremischer Repräsentierung auf der Ausdrucksebene gefragt (etwa Stute, Kuh vs. Füchsin, Hündin ... oder Hirschkuh, Froschweibchen; Schwager vs. Schwägerin vs. Schwiegervater, -sohn ...). Aus der Konstatierung, daß ein bestimmtes Merkmal mit unterschiedlichen Ausdrucksmitteln besetzt ist, lassen sich Schlü sse auf die unterschiedliche Relevanz dieses Merkmals fü r die jeweilige Sprachgemeinschaft ziehen. Vor allem auch die in engeren geschlossenen Paradigmen stehenden Flexions- und Derivationsgrammeme lassen sich sinnvoll auf ihre I/A-Analogie untersuchen. Die Flexions- und (obwohl in geringerem Maße) die Derivationsmorphologie beruhen naturgemäß auf dem Prinzip der Diagrammatikalität. Jedoch ist auch hier nicht selten Inkongruenz in der Form einer „unberegelbaren” bzw. nur mittels eines besonderen diakritischen Merkmals „beregelbaren” Polymorphie zu beobachten (z. B. Flexionsgrammem Plural Tage vs. Staaten vs. Wälder ...). Somit lassen sich verschiedene Mundarten kontrastiv nach unterschiedlichen Kongruenzbeziehungen zwischen Inhalt und Ausdruck kennzeichnen, d. h. nach
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dem Ausmaß, in dem Vereinfachungs- und Vereinheitlichungstendenzen bzw. analogische Ausgleichungen wirksam gewesen sind (etwa eindeutige vs. polymorphe Ausdrucksbesetzung eines einheitlichen Flexions- oder Derivationsinhaltes). Zweitens können verschiedene einzelsprachliche Lexika — vorzugsweise: einander entsprechende lexikalische Teilsysteme — diasystemisch auf Unterschiede in den ihnen zugrundeliegenden Benennungsmotiven untersucht werden. Entweder beschränkt man sich dabei auf die alleinigen synchronisch motivierten Zeichen oder es werden die heute entmotivierten Zeichen mit einbezogen und auf das ursprü ngliche Benennungsmotiv hin untersucht. Lehn- und Fremdwörter sind dabei als Sondergruppe einzustufen. Bei dem entmotivierten Zeichen ergibt sich die weitere Schwierigkeit, daß meistens nicht entschieden werden kann, ob das Zeichen in der betreffenden Gemeinschaft als Neubildung oder als Lehnü bersetzung entstanden ist, bzw. ob es als motiviertes Zeichen oder als bereits entmotiviertes Zeichen aus einer nahverwandten Mundart übernommen ist. 2.3.2. Die Erscheinung der Polysemie läßt sich nicht eindeutig in die oben vorgenommene Unterscheidung zwischen Inhaltsstrukturierung und Bezogenheit auf die I/A-Relation einstufen. Mit der Motiviertheitsfrage hat die Polysemie gemein, daß auch sie genetisch das Produkt einer Zeichenbildungsregel darstellt. Semantische Regeln wie die Metapher, die Metonymie oder die Substitution (Jongen 1978, 64) spielen bei der polysemischen Bedeutungsanreicherung eine wesentliche Rolle. Polysemie in vivo hat demnach grundsätzlich mit der Erscheinung zu tun, daß ein bestimmtes Signem zu weiteren, nicht im Lexikon aufgespeicherten Referenz-
Abb. 13.7: Stemma des SLP leise
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
verweisungen benutzt werden kann. Lexikalisierte Polysemie dagegen ist als ein Sonderfall der zeichenhaften A/I-Beziehung zu beschreiben, der dadurch ausgezeichnet ist, daß einer Einheit auf der Ausdrucksebene eine Mehrheit auf der Inhaltsebene entspricht. Letztere wird durch die Erstellung von operationell begrü ndbaren autonom semasiologischen lexikalischen Paradigmen (SLP) erfaßt. Der Ausgangspunkt ist dabei ein Signifikant und man untersucht die diesem Signifikanten zugeordnete Inhaltsstruktur. Anhand von geeigneten Ermittlungsverfahren (vgl. Henne 1972, 132, 138—139 und 1973, 141) läßt sich zunächst feststellen, ob innerhalb des Inhalts eine (bei Monosemie) oder mehrere (bei Polysemie) SUKn anzusetzen sind. Im letzteren Falle besteht der Inhalt aus einer disjunktiven Kombination von SUKn. Zur weiteren Beschreibung der semantischen Struktur eines solchen Paradigmas sowie zur Ermittlung der semantischen Beziehungen, in denen die paradigmainternen SUKn zueinander stehen, mü ssen die semantischen Merkmale eruiert werden. Ergibt sich dabei, daß die verschiedenen SUKn kein gemeinsames Notem aufweisen, so ist Homonymie anzunehmen (z. B. Bank 1 und Bank 2); stehen die SUKn dagegen in der Relation der Überschneidung (z. B. Auge 1 ⋂ Auge 2 = ein gemeinsames Notem = Semasem), so liegt die semantische Beziehung der Polysemie im engeren Sinne vor (bei Harras 1972: „Allosemie”). Polysemie ist demnach die Erscheinung, daß einem Ausdruck eine disjunktive Kombination von semantisch verwandten SUKn (oder Lesarten) entspricht, ein an einen Signifikanten gebundenes Inhaltsparadigma, dessen Struktur zugleich identische (= das Semasem = Se) und oppositive Merkmale (Seme = s) beinhaltet. Auch SLPn lassen sich ähnlich den OLPn in der Form von Matrizen oder Strukturgraphen darstellen (wobei ebenfalls die
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
Abb. 13.8: Merkmalmatrix (Die Inhaltsparaphrasierungen der verschiedenen SesKn lauten (in Klammern stehen jeweils zur Illustration Beispiele von möglichen Kollokationen): Leise 1: nicht laut, schwach tönend (Wind, Ton); Leise 2;leicht, nicht heftig (Wendung); Leise 3: schwach, gering, nicht grell (in Bezug auf Farben, Licht) (Farben; „den Weg ..., der durch Nebel leise schimmernd bricht”); Leise 4: wenig spürbar (in Bezug auf den Geruch, auf den Duft) (Himbeerduft); Leise 5: leicht, nicht tief (in Bezug auf Gefühle) (Wut); Leise 6: kaum merklich (in Bezug auf Konturen) („sich leise abzeichnende Hüften”).
hierarchische Merkmalsstruktur sowie eventuelle Bedeutungsl ü cken repräsentiert werden können). Beispiel: vgl. Abb. 13.7 und 13.8. Allerdings ergeben sich mehrere Schwierigkeiten, die zu der Annahme von komplexeren Inhaltsstrukturen veranlassen. So ist beispielsweise damit zu rechnen, daß die SUKn in nur indirekter semantischer Verbindung miteinander stehen (vgl. das von Larochette (1967) erörterte hybride Beispiel franz. chou, dessen drei SUKn „légume”, „gâteau” und „personne aim ée” ü ber zwei verschiedene Semaseme verbunden sind: (1) „rotondité”, das SUK 1 und SUK 2 gemeinsam ist, und (2) „douceur”, das SUK 2 und SUK 3 gemeinsam ist (vgl. auch Heger 1969, 77)). Am gleichen Beispiel wird anderseits ersichtlich, daß die im Semasem anzusiedelnde polyseme Verwandtschaftsrelation auch auf rein enzyklopädischen Merkmalen begr ü ndet sein kann („rotondité”, „douceur”), was nicht ohne Folgen fü r eine vereinheitlichende Inhaltsanalyse bleiben dü rfte. Auch die bisweilen zwischen Polysemie vs. Pauschalanwendbarkeit durchgef ü hrte Unterscheidung (etwa Goossens 1969, 79 f, 105) scheint auf einem zu ungenauen Krite-
259
rium zu fundieren. Auf Pauschalanwendbarkeit (im Gegensatz zu Polysemie) wird anscheinend nur dann geschlossen, wenn sich die (als kontext- bzw. situationsgebundene Aktualisierungen einer einheitlichen SUK zu deutenden) Referenzunterschiede als Artdifferenzierungen einer einheitlichen Gattung erweisen (z. B. essen, jedoch werden Kartoffeln mit einer Gabel gegessen, Suppe mit einem Löffel; das deutsche Wort Uhr bezeichnet einen begrifflichen Bereich, der sich zwar in verschiedene Teilbereiche aufgliedern läßt, von denen einige in anderen Sprachen anhand von Minimalzeichen bezeichnet werden (englisch watch/clock; franz. montre/horloge), im Deutschen jedoch nicht bzw. erst auf der nächsthöheren Rangstufe R 1 + n (Wanduhr, Arm banduhr, Taschenuhr ...). Mit anderen Worten: Pauschalanwendbarkeit setzt onomasiologische Kohärenz voraus. Fehlt diese, so werden mehrere polyseme SUKn postuliert (z. B. Wurzel 1 = „der untere mit der Unterlage verhaftete Teil einer Pflanze” vs. Wurzel 2 = „Ursprungsstelle von bestimmten menschlichen Körperteilen” vs. Wurzel 3 = „Ursache, Ursprung, Quelle” (vgl. Hundsnurscher 1971, 57 f). Die Schwierigkeit ist jedoch, daß sich vermutlich alle polysemen Zeichen auf eine Inhaltsstruktur zurü ckfü hren lassen, in der die verschiedenen SUKn unterschiedlichen extensionalen Teilbereichen einer gemeinsamen Gattung zugeordnet werden können. Dies wü rde eigentlich bedeuten, daß das Semasem schließlich doch die Funktion eines Noems erfü llen wü rde. Wurzel bedeutet etwa „Ansatzstelle”, mit unterschiedlichen Aktualisierungen je nachdem, ob von einer Pflanze, einem Zahn oder einem Abstraktum die Rede ist ...). Durch die Einfü hrung einer Unterscheidung zwischen „Grundbedeutung” (d. h. dominanter oder HauptSUK) und abgeleiteter SUK lassen sich solch extreme Standpunkte vermeiden: Wurzel 1 und leise 1 sind die HauptSUKn; die sonstigen Lesarten implizieren folglich einen onomasiologischen Wechsel. In Mundarten, in denen etwa sprachlich nicht zwischen „bras (Arm)”/„manche (Ärmel)” oder „talon 1”/„talon 2” differenziert wird (Harras 1972, 222), sollte demnach nur dann von Pauschalanwendbarkeit die Rede sein, wenn die beiden unterschiedlichen Designatbereiche „menschlicher Körper” und „menschliche Kleidung” zu einem einzigen onomasiologischen Bereich neutralisiert sind (d. h. wenn nicht zwischen einer HauptSUK und
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
260
einer (metaphorisch) abgeleiteten terschieden werden kann).
3.
SUK
un-
Die diatopisch-vergleichende Analyse
Die Vergleichbarkeit von Sprachsystemen beruht grundsätzlich auf dem Tatbestand, daß sich vom Standpunkt der semiotischen Funktionalität von Sprache aus eine doppelte, die Einzelsystembezogenheit transzendierende Zuordnungsrelation als sprachliche Universaleigenschaft aufstellen und begrü nden läßt. Gemeint sind einerseits die Zuordnungsrelation zwischen Sprachzeichen und außersprachlicher Realität, und andererseits die zeichenkonstitutive I/A-Relation. Die Forderung, daß Sprachzeichen nur insofern funktionieren können, als sie einerseits fähig sind, intentional stellvertretend auf außersprachliche Größen zu deuten (Begriffe, Designate, Denotate), und andererseits sinnlich manifest gemacht werden können, berechtigt zur Annahme, daß verschiedene, jeweils sprachspezifische Inhalts- bzw. Ausdrucksstrukturierungen in sinnvoller Weise ü ber das tertium comparationis einer gemeinsamen außereinzelsprachlich begrifflichen bzw. lautlichen Substanz verglichen werden können. Somit sind die Voraussetzungen fü r eine rein typologisch-intersystemische Komparastik geschaffen. Diese stellt sich zur Aufgabe, zwei oder mehrere Sprachsysteme auf ihr jeweiliges Verhältnis zu der gemeinsamen außersprachlichen Bezugsgröße hin zu untersuchen, mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf die sprachspezifische Ausnutzung zu phonologischen und semantischen Zwecken festzustellen und zu beschreiben. Bei dialingual-intersystemischem Vergleich ist demnach lediglich eine von der sprachexternen Substanz her begrü ndete Fragestellung denkbar und sinnvoll. Die Berü cksichtigung der I/A-Relation ist nur hinsichtlich der Frage nach deren Entsprechungsmodalität (Motiviertheit) sinnvoll (siehe 2.3.1.). Bei areallinguistischdiatopischen (oder diasystemischen) Vergleichen reicht diese Arbeitsweise jedoch nicht aus, denn sie geht an der hier zentral stehenden Fragestellung vorbei. Die Aufgabe der Dialektgeographie besteht in dem Vergleich von ursprungsverwandten Mundartsystemen, die zusätzlich im Normalfall von räumlich aneinander grenzenden Sprachgemeinschaften getragen werden. Ziel der vergleichenden Untersuchung ist die Erforschung
der historischen Dimension: erstrebt wird eine entwicklungsbezogene Erklärung der synchronischen Übereinstimmungen und Unterschiede. Rein systembezogene Erscheinungen lassen sich erst unter der Bedingung sinnvoll erklären, daß die beiden Teilbereiche des Inhaltes und des Ausdrucks in ihrer gegenseitigen Beziehung betrachtet werden können. Die dialektgeographischen Fragestellungen implizieren somit eine Bezugnahme auf das durch die gegenseitige und kosolidäre A/I-Relation konstituierte Gesamtzeichen. Sie fundieren auf dem Postulat der genetischen Zeichenidentität. Der diachronische Vergleich und der diatopisch-diasystemische Vergleich sind somit untrennbar ineinander verflochten. Das hängt selbstverständlich mit den spezifischen Analyse- und Deutungsmöglichkeiten der dialektgeographischen Methode zusammen: sie liefert das sprachliche Material und erarbeitet die Interpretationsmethoden, die eine auf die Ermittlung von extern- und intern-linguistischen Faktoren ausgerichtete Erklärung der Diachronie eines genetisch einheitlichen Sprachgebietes ermöglicht. Sie fundiert auf der Annahme, daß die heutige dialektgeographische Verschiedenheit eine Abbildung im geographischen Raum der verschiedenen im zeitlichen Abstand zwischen Ursprungsidentität und heutiger Diversität erfolgten sprachlichen Innovierungen darstellt. Im folgenden soll gezeigt werden, wie in der strukturellen Vergleichsphase verfahren wird und nach welchen Darstellungsmethoden das somit erstellte Vergleichsmaterial repräsentiert werden kann. Dabei wird grundsätzlich zwischen den beiden Vergleichsebenen der systemimmanenten (I- oder A-) Strukturierung einerseits und der zeichenkonstitutiven I/A-Beziehung anderseits unterschieden. 3.1. Der Vergleich von Inhaltsstrukturen Verglichen werden verschiedene sprachspezifische Gliederungen in semantische Inhaltselemente, d. h. OLPn oder SLPn. Dabei können grundsätzlich die folgenden Unterschiede festgestellt werden: 3.1.1. Der diasystemische Vergleich von ausgehend von identischen Begriffsgrößen erstellten OLPn kann zeigen, daß die zu verwortende begriffliche Realität in verschiedenen Mundarten unterschiedlich strukturiert
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
wird. Es liegen also nicht identische Beziehungen zwischen den Inhalten der einzelsprachlich ermittelten paradigmainternen Signeme vor. In der einen Mundart etwa werden sprachlich-inhaltliche Begriffsdifferenzierungen konstatiert, fü r die es in der anderen nur eine lexikalische Entsprechung gibt (Oppositionsaufhebung, z. B. in einigen lothringischen Mundarten wird zwischen „Augendrü senschleim” („chassie”) und „Nasenschleim” („m orve”) unterschieden, z. B. /Rutz/ vs. /Schnuttel/, in anderen jedoch nicht, z. B. /Rotz/ oder /Rutz/ wird „pauschal” bzw. polysem angewandt, vgl. Harras 1972, 103 f und 180 f). Auch etwa die von Goossens (1969, 80 f) erörterten Beispiele sekundär entstandener Teil- und Pauschalanwendbarkeit gehören hierzu (z. B. niederdeutsch Bo(a)rk(e) bzw. mittel- und oberdeutsch Rinde „Rinde eines Baumes” vs. in Gegenden zwischen beiden Gebieten: (1) Bo(a)rk(e): „Rinde des Laubbaumes” vs. (2) Rinde: „Rinde des Nadelbaumes”). Ferner können sich umgekehrt aus dem diatopischen Vergleich einer größeren Anzahl von OLPn Unterschiede im Hinblick auf die Häufigkeit von echt synonymen (d. h. rein diaphasisch differenzierten) Signemen ergeben. So weisen Mundarten in sprachlichen (auch kultursprachlichen) Grenzgebieten häufig eine Überfü lle an echten Synonymen auf, z. B. in der sü dniederfränkischen Mundart von Moresnet (vgl. Jongen 1972; der nachgestellte Einzelpunkt bezeichnet den Trägheitsakzent, der Doppelpunkt die Schärfung) etwa: ʃwâ:m („Schwadem”) = rô.k „Rauch”; â.tǝ(r) (achter) = he:ŋǝ(r) „hinten, hinter”; kâ:m ǝr (kamer) = tse:mer „Zimmer”; hu:k (hoek) = ε.k „Ecke”; nê:t ho:vǝ (niet hoeven) = nê:t brû.ke „nicht brauchen” usw. 3.1.2. Auch SLPn lassen sich diasystemisch im Hinblick auf ihre Inhaltsstrukturen vergleichen. Die Vergleichsgröße ist hier eine referenzidentische SUK (vorzugsweise etwa eine referenzidentische HauptSUK). Gefragt wird nach den Unterschieden im Aufbau des Gesamtinhalts der entsprechenden Signeme. Werden mehrere noemidentische (d. h. zu einem gleichen OLP gehörige) SUKn in dieser Weise diatopisch konfrontiert, so lassen sich komparative Aussagen ü ber die in Polysemen betätigten Benennungsmotive erstellen (z. B. Körperteilbezeichnungen designieren häufig auch Teile von Kleidungsst ü cken, z. B. lothring. orm beinhaltet die beiden SesKn „bras = Arm” und „manche = Ärmel”, Lothr. fersch sowohl „Ferse” als
261
„(Schuh)absatz”, vgl. Harras 1972, 225 f). 3.1.3. Selbstverständlich lassen sich auch diasystemisch Inventarunterschiede von morphologischen Inhalten (Kategorien) ermitteln. Ein einfaches Beispiel ist der Gegensatz zwischen einerseits Einheitskasus beim Personalpronomen 1. P. Sg. im Niederdeutschen vs. anderseits eine Kasusopposition Dativ/ Akkusativ (vgl. Goossens 1977, 26 f). 3.1.4. Bezü glich der Darstellungsmethoden von rein inhaltlichen diatopischen Unterschieden kann auf 3.3.2. verwiesen werden. 3.2. Der Vergleich von Ausdrucksstrukturen Verglichen werden die den Ausdrucksaufbau konstituierenden Elemente (Phoneme bzw. distinktive Merkmale), sowie deren Kombinations- und phonetische Realisationsregeln. 3.2.1. Inventarisierung von Phonemsystemen 3.2.1.1. Aus der Konfrontation von verschiedenen mundartlichen Phoneminventaren bzw. Teilinventaren lassen sich Unterschiede im Hinblick auf die jeweilige phonologische Merkmalsausnutzung feststellen. Voraussetzung fü r einen Vergleich von Phoneminventaren ist selbstverständlich, daß man fü r jeden Ort des Untersuchungsgebietes ü ber eine vollständige phonologische Beschreibung verfü gt (bzw. ü ber eine nach traditionellem Verfahren aufgestellte Ortsgrammatik, aus deren Material sich das jeweilige phonologische System erschließen läßt). Leider sind vielfach keine bzw. nur einige Monographien vorhanden. Man ist dann gezwungen zu versuchen, die phonematischen (Teil)Inventare ü ber den Umweg von in Lautatlassen ausgewertetem Material zu konstruieren. In dieser Weise ist etwa Moulton zur Ermittlung der distinktiven Öffnungsgrade der Kurzvokalsysteme im Nordosten der Schweiz verfahren: einerseits wurden zehn Ortsgrammatiken untersucht, anderseits wurden mehrere Wortreihen aus dem Sprachatlas der deutschen Schweiz gewählt, und zwar nach dem Kriterium, daß jedes der Phoneme des mhd. Protosystems, von denen angenommen werden kann, daß deren mundartliche Entsprechungen ausreichende Angaben ü ber die phonologische Aufgliederung der Dimension der Vokalöffnung erlauben, durch mehrere Wörter vertreten ist (etwa fü r die ungerundete Vorderreihe: jeweils mehrere Wörter mit (1) mhd. e, (2) mhd. ë, (3) mhd. ä, (4) mhd. i, (5) mhd. î vor Fortis Verschlußlaut und (6) i in einem lautmalen-
262
den Wort, Moulton 1960, 157 und 168). Jedoch muß man im Auge behalten, daß dieses Verfahren eine Notlösung bleibt. Ein Phoneminventar ist das synchrone Produkt von Umstrukturierungen (Kollisionen, Aufspaltungen, Umphonologisierungen, Ausgleichungen), die gegebenenfalls auf komplexen historischen Entsprechungen zu den Protophonemen aufbauen. Die Garantie, daß alle Entsprechungen von allen Phonemen des Protosystems ber ü cksichtigt worden sind, könnte schließlich nur jener Lautatlas bringen, der alle mundartlichen Wörter enthalten wü rde. Ferner darf nicht ü bersehen werden, daß sich der mundartliche Wortschatz nicht restlos auf bereits im Protosystem vorhandene Signeme reduzieren läßt: Entlehnungen (auch aus der Hochsprache), signemische Neuschöpfungen, insbesondere lautmalende Wörter, können mit sich bringen, daß ein Phoneminventar nicht genau den Ergebnissen der sprachinternen Innovierungen entspricht (zu dieser Frage der Brauchbarkeit von Lautatlassen zur Erstellung von Phoneminventaren siehe u. a. Goossens 1969, 30 und 33 f; Moulton 1960; PanzerThümmel 1971, 20 f; Veith 1970, 400 f).
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
Aus praktischen Grü nden kann in beiden Fällen lediglich mit Teilsystemen gearbeitet werden. Die diasystemische Formel leistet genau, was das einfache Nebeneinander von (Teil)Systemen im Sinne von 2.1.1. leistet (es können demnach auch gleichzeitig subphonemisch-phonetische bzw. diaphonetische Daten (siehe hierzu Cochrane 1959) mit aufgenommen werden). Als Beispiel können die von Moulton (1963) fü r die Teilstrukturen der nicht maximal geschl. Längen der Nordschweiz ermittelten Vergleichsdaten dienen: Ermittelte Systeme: (1) dreieckig-dreistufig:
(2) viereckig-zweistufig:
(3) viereckig-dreistufig:
ü glich der Darstellungsmethoden 3.2.1.2. Bez von phonemischen Systemvergleichsdaten ist zwischen der diasystemischen Formel und den Kartierungsmethoden zu unterscheiden. (// fehlt an vielen Orten (I), an einigen Orten auch // und //(II). Wenn // fehlt, ist ein velares Allophon von /ā/ zu erwarten, vgl. Moulton (1962))
Abb. 13.9: Die nordschweizer. Inventare der nicht maximal geschlossenen Langvokale (diasystemat. For- mel) (nach Moulton 1963) (Die Zahlen stehen für die Mundarten, die die entsprechende Struktur aufweisen)
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
Es muß ausdrü cklich betont werden, daß die somit aufgestellten Korrespondenzen ausschließlich auf dem doppelten Kriterium der phonematischen Systemstellung und der lautlichen Substanzgebundenheit basieren (vgl. Cochrane 1959). Die lexikalischen Besetzungen bleiben vorläufig völlig unberü cksichtigt (vgl. 3.3.1.). Phonematische Teilinventare können auch auf Karten gebracht werden, was den großen Vorteil bietet, daß das Verhältnis von lokaler und sprachlicher Verteilung somit direkt visualisiert wird. Zugleich ist eine bessere Grundlage fü r die extra- und internlinguistisch orientierten Erklärungszwecke geschaffen. Inventarkarten sind Punkt- (bei dü nnem Belegnetz) oder Flächensymbolkarten (vgl. Goossens 1977, 72 f), auf denen die Systemdaten anhand von komplexen, die jeweiligen einzelmundartlichen (Teil)Strukturen teilweise diagrammatisch abbildenden Symbolen verzeichnet werden. Karte 1 in Moulton (1960) (auch in Goossens 1969, Karte 3) ist eine nach dem unter 3.2.1.1. erörterten Verfahren aufgestellte Punktinventarkarte der nordostschweizerdeutschen Teilstruktur der zwischen /i/ und /a/ befindli-
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chen ungerundeten palatalen Kurzvokale. Sie ist jedoch zugleich eine Entwicklungskarte und enthält ferner allophonische Daten: die Symbole — senkrecht, schräg und waagerecht verlaufende Striche — repräsentieren nicht nur die Anzahl der distinktiven Öffnungsgrade, sondern zugleich deren „reguläre” allophonische Vertretung. Unsere Karte 13.1 ist eine Kombination von Moultons Karte 1 und 3. (Auf letzterer verzeichnet Moulton die Reflexe von Vetter und hert: im Westen hat hert den gleichen Vokal wie Vetter, was vermuten läßt, daß [ε] hier die reguläre allophonische Realisierung des Phonems /E/ ist; im Osten und im Norden hat hert ebenfalls die (geschlossene) Vokalqualität von Vetter, bis auf wenige Ausnahmen (= [ε]); im Zentrum wird ü berraschenderweise [hεrt] verzeichnet, was zu der Annahme veranlaßt, daß [ε] hier eine kombinatorische Variante des Phonems /E/ (= [e]) vor /r/ darstellt. Die Kreise auf unserer Karte 1 deuten die [hεrt]-Entsprechungen im Osten, Norden und Zentrum an.)
Anhand von Moultons Karte 1 (= unsere Karte 13.1. ohne die Kreise) wird somit ein doppelter Kontrast erkennbar gemacht: (1)
Karte 13.1: Die palatalen Kurzvokale im Nordosten der Schweiz (nach Moulton 1960, Karte 1)
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die geographische Verteilung von unterschiedlichen phonematischen Teilinventaren (diaphonemische Oppositionen): (a) im Osten drei Öffnungsgrade vs. (b) ü berall sonst zwei Öffnungsgrade (streng genommen hat demnach nur der den Osten absondernde Teil der von Moulton verzeichneten Isoglosse phonematische Relevanz); (2) die geographische Verteilung von unterschiedlichen allophonischen Realisierungen (diaphonetische Oppositionen): a) im Osten: e ≠ ε ≠ æ (Symbol ) b) im Norden: e ≠ ε (Symbol ) c) im Westen: ε ≠ æ (Symbol ) d) im Zentrum: e ≠ æ (Symbol ) Daß auch der Norden vom Zentrum durch eine phonologische Isoglosse getrennt wird (ein Dreiecksystem im Norden, ein Vierecksystem im Zentrum und im Westen), kann nicht aufgrund der alleinigen Realisierungen des offenen Phonems (/ε/ bzw. /æ/) entschieden werden. Man muß dazu ü ber zusätzliche Daten verfü gen (Anwesenheit eines /a/-Phonems ü berall; einer o ≠ ɔ-Opposi-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
tion im Norden, nicht im Zentrum und Westen). Die Kombination von Moultons Karte 1 und 3 (= unsere Karte 13.1.) bildet einen weiteren strukturellen Gegensatz ab: im Zentrum liegt beim /E/-Phonem komplementäre Verteilung vor (/ε /-r ~ e/), im Westen dagegen nicht (/ε/). Zeichnen sich größere Gebiete mit identischer (Teil)Struktur ab (so daß man sich mit einer Flächenkarte begnü gen kann: Moultons Karte 1 etwa kann ohne weiteres in eine Flächenkarte umgestaltet werden), wird ein verhältnismäßig kleiner Raum untersucht oder ist das Belegnetz verhältnismäßig breitmaschig, so kann mit (Teil)Phonemdiagrammen in Kleinformat gearbeitet werden. Beispiele: Goossens (1969), Karte 2, auf der die typologischen Gegensätze im sü dniederl. Raum im Hinblick auf die phonologische Ausnutzung der drei potentiellen vokalischen Dimensionen der Rundung, rheinischen Akzentuierung und Quantität repräsentiert werden; Veith (1970), Karten 5—7, jedoch werden hier eigentlich keine Phoneme repräsentiert, son-
Karte 13.2: Die nordostschweizerdeutschen Inventare der nicht maximal geschlossenen Kurzvokale (nach Moulton 1960)
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
dern durch T-regeln generierte Lautentsprechungen zum hochdeutschen Bezugssystem. Moultons Karte 4 (Moulton 1960, 166), auf der, zusätzlich zu den nicht geschl. ungerundeten kurzen Vordervokalen, auch die entsprechenden runden Vordervokale sowie die hinteren Vokale abgebildet sind, wü rde folgendermaßen aussehen (unter Vernachlässigung von einigen Einzelheiten): vgl. Karte 13.2. 3.2.2. Allophonische Unterschiede Auch subphonemische Daten (Allophone, kombinatorische Varianten) können dialektgeographisch verglichen und diasystemisch bzw. kartographisch repräsentiert werden. Unter 2.1.1. und 3.1.1. wurde bereits gezeigt, wie das geschehen kann, ohne die Übersichtlichkeit und Lesbarkeit der Darstellungen zu gefährden. Daß die Berü cksichtigung von subphonemischen Vergleichsdaten sinnvoll ist, geht etwa daraus hervor, daß man sich zur Erklärung von Strukturunterschieden häufig auch auf zusätzliche phonetische Daten berufen muß. 3.2.3. Inventarisierung von Phonemdistributionen Eine diasystemische Untersuchung von Phonemdistributionen impliziert zunächst die Erarbeitung eines Kriteriums, nach dem die zu untersuchenden, unterschiedlichen Einzelsystemen angehörenden Phoneme als identifizierbare und demnach vergleichbare Größen aufgefaßt werden können. Auch hier liefert der externe Substanzbezug das entscheidende Kriterium: können identifiziert und nach ihrer distributionalen Besetzung untersucht werden jene Phoneme (aus unterschiedlichen Einzelsystemen), durch deren Gehalt identische Lautdimensionen artikuliert werden (entweder Einzelphoneme, etwa der maximal offene Kurzvokal /a/, oder naüt rliche Phonemklassen, etwa sämtliche Kurzvokale, die Reihe der kurzen ungerundeten Vordervokale usw.). Streng genommen mü ßte man demnach in Fällen, wo eine bestimmte Dimension unterschiedlich artikuliert wird (etwa hier ein einziges /a/, dort eine Opposition /a/ vs. /α/; oder hier eine Opposition zwischen Kurz- und Langvokalen, dort nicht), sämtliche Phonemeinheiten in die Untersuchung einbeziehen. Zwar kann man sich zusätzlich auf ein zweites, diachronisches Kriterium berufen (vgl. Goossens 1966 und 1969, 42 f) und von den fraglichen
265
Phonemen jene ausschalten, die völlig andere Vorstufen aufweisen als die eindeutig identifizierten Phoneme der geographischen Umgebung. Jedoch darf die Distributionskarte nicht mit der Abstammungskarte („Karten mit der geographischen Verteilung der Vorstufen eines Phonems”, Goossens 1969, 35) verwechselt werden. Liegen keine oder zu wenige monographischen Distributionsanalysen vor, so kann man versuchen, die notwendigen Daten fü r die Anfertigung von Distributionskarten in Abstammungskarten (bzw. in historisch orientierten Monographien) zu finden. Jedoch ist auch dies nur eine Notlösung, denn häufig haben sich die ü fr heren Umgebungsfaktoren kontextsensitiver Lautwandelerscheinungen als solche nicht erhalten können. Bei der Kartierung von Distributionsunterschieden wird im wesentlichen wie bei der Inventarisierung von Systemunterschieden verfahren. Goossens (1966, Karte 1) z. B. verwendet Kombinationsdiagramme in Kleinformat (Distribution der geschärften langen /ā:/ in Belgisch-Limburg). Denkbar sind jedoch auch Distributionskarten, die die geographische Verteilung von im voraus spezifizierten phonotaktischen Einzelerscheinungen bieten (z. B. in welchen Mundarten sind die Auslautsequenzen (Kǝn/, /Kǝ/ und /Kn/ (mit/ohne regressive Assimilation) belegt?; wo ist Langvokal vor Obstruentenverbindung möglich (eventuell unter Berü cksichtigung von weiteren Unterscheidungen wie: häufig/selten/ausnahmsweise; nur in Flektemen / auch in Lexemen)?). Ein Beispiel ist die ebenfalls von Goossens (1966, 218, Karte 2) gezeichnete Karte der Distribution des Phonems /ʃ/ im Limburgischen. Kennzeichnend ist fü r diesen Fall, daß aus der Diachronie eine begrenzte Anzahl von unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten abgeleitet werden konnten (was wohl mit dem Umstand zusammenhängt, daß /ʃ/ in allen seinen Positionen neu entstanden ist). 3.3. Der Vergleich von auf beide Zeichenaspekte bezogenen Strukturen ü F r dialektgeographische Fragestellungen erweisen sich die unter 3.1. und 3.2. erörterten Kontrastmöglichkeiten als nur bedingt brauchbar. Reine System ü bereinstimmungen oder -unterschiede können anscheinend nicht ohne weiteres als entscheidender Maßstab fü r die Einschätzung dialektgeographischer Verwandtschaftsnähe verwertet wer-
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den. Nicht nur kann etwa phonologische Identität bei völlig fehlender Ursprungsverwandtschaft bzw. bei nur geringer dialektgeographischer Verwandtschaft vorliegen. Auch können umgekehrt phonologische Unterschiede engste Verwandtschaft verdecken („identische” Wortschatzdifferenzierungen werden etwa durch unterschiedliche phonematische Mittel ausgetragen). Der dialektgeographischen Analyse mü ssen somit, ihren spezifischen Deskriptionsund Explikationsanspr ü chen gemäß, Kontrastdaten bereitgestellt werden, die es erlauben, eine Beziehung zwischen den folgenden Fakten herzustellen: (1) Ursprungsverwandtschaft (bzw. -Identität) der verglichenen Mundarten; (2) die historische Dimension, in der das entwicklungsbedingende Auftreten von unterschiedlichen, zu Divergenzen und Konvergenzen üf hrenden Innovierungen angesiedelt werden kann; (3) dialektgeographische Diskontinuität bei gleichzeitiger Kontinuität. Die Untersuchung eines Mundartgebietes gilt als abgeschlossen, wenn der Abstand zwischen den verschiedenen geographisch bedingten Unterschieden einerseits (3) und deren genetischer Identität (1) anderseits als eine historisch geordnete Menge von plausiblen, d. h. natü rlichen und motivierten Innovierungen (2) erklärt ist. Die Dialektgeographie kommt also nicht ohne die Einbeziehung der diachronen Dimension aus. Dies hat aber bereits auf der Stufe der synchronischen Systemkontrastierung schwerwiegende Folgen. Erstens muß hier nun auch zusätzlich der engeren zeichenkonstitutiven I/ARelation Rechnung getragen werden. Zwei-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
tens muß in concreto mit dem Begriff einer auf genetische Identität reduzierbaren Verschiedenheit operiert werden. Fragestellungen wie die Eruierung von Bedeutungsunterschieden bei intersystemisch „identischem” Ausdruck (Tautonymie), von Ausdrucksunterschieden bei „identischem” Inhalt (Heteronymie) oder von Unterschieden in den phonologisch fundierten Wortschatzausdifferenzierungen (lexikalische Besetzungen der Phoneme) sind nur unter der Voraussetzung denkbar, daß jeweils eine plausible Begrü ndung fü r eine genetische Identitätsauffassung vorliegt. 3.3.1. Der lexikalische Bestand Die strukturelle Lautgeographie hat von Anfang an die Notwendigkeit eingesehen, „neben den Systemunterschieden ... auch die Substanzunterschiede (zu) ber ü cksichtigen” (Goossens 1969, 27). „Substanz” soll in diesem Zusammenhang das „konkrete” Sprachmaterial” bezeichnen, das „von der Verwandtschaft der untersuchten Dialekte, von ihrer Identität im Ursprung bestimmt wird”, also die zeichenkonstitutive I/A-Zuordnung. Mit Recht ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß das gegenseitige Verhältnis der lexikalischen Besetzungen der einzelnen Phoneme verschiedener Mundartsysteme mit oder ohne Zuhilfenahme eines als gemeinsames Protosystem (etwa das Mhd., das Ahd., das Wgm.) postulierten Bezugssystems (BS) diasystematisch repräsentiert werden kann (etwa Goossens 1969, 19 f; Löffler 1974, 89; Moulton 1967, 578). Im zweiten Falle werden die lexikalischen Bestände unmittelbar aufeinander bezogen, im ersten Falle mittel-
Abb. 13.11: Diasystem (mit Hilfe des Wgm. als BS) (aufgestellt nach Panzer-Thü mmel 1971; es wird jedoch nur ein Teil der genannten Vokale berü cksichtigt, da die Autoren jeweils nur die „regelmäßige, normale Vertretung” des wgm. Ausgangsphonems aufgenommen haben, z. B. von dem wgm. Kurzvokalen nur die (gedehnten) Entsprechungen in offener Silbe (49); I befindet sich im ü S dwestfäl., durch Distinktivitätserhaltung aller
wgm. Ausgangsvokale gekennzeichnet (kein Vokalzusammenfall); D im üs dlichen Teil des Nordnddt., mit mehreren Kollisionen u. a. wgm. a = â = o; St im Mecklenburg., das folgende Kollisionen aufweist: a = o = u = â; e = i; ê = ai; W im nördlichen Nordndsächs. (Holsteinischen), mit den folgenden Kollisionen: a = o = u = â, o = au, e = i und ê = ai; vgl. 109, 115, 125, 128)).
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bar ü ber das BS. Hier folgt das entsprechende Diasystem eines Teils der Langvokale und Diphthonge in den Mundarten von Diepenau (D), Immecke (I), Stavenhagen (St) und Westerhever (W):
Abb. 13.10: Bezugssystem Ein solches Diasystem zeigt also, welches das Verhältnis (eines Teils) der Phoneminventare in den untersuchten Mundarten ist. Dabei wird angegeben, welche Klassen von genetisch verwandten Signemen (z. B. nur die Entsprechungen zu wgm. /e/ oder zusätzlich auch jene zu wgm. /i/?) jedes einzelne Phonem diakritisch kennzeichnet; zusätzlich können aus dem Diasystem die wichtigsten Daten ü ber die heutigen (Teil)Inventare und die Realisierungen der Phoneme abgelesen werden (vgl. 2.1.1. und 2.1.2.). Bei der diasystemischen Formulierung ohne Zuhilfenahme eines BS fehlt jeder Bezug auf die durch die Zahlen gekennzeichneten wgm. Distinktoren. Goossens (1969, 20 f und 1977, 14) weist darauf hin, daß das BS, auf dessen Hintergrund die Bestands ü bereinstimmungen und -unterschiede repräsentiert werden, nichts als eine bloße Bezugsgröße ist. Diese Einschränkung ist als Hinweis darauf zu verstehen, daß die im Diasystem repräsentierten Beziehungen zwischen dem gewählten BS und den jeweiligen Mundarten nicht auch unbedingt die tatsächlichen Veränderungsprozesse abzubilden brauchen. Die Feststellung eines diasystematischen Zusammenfalls bleibt ebenso interpretationsbed ü rftig wie die Feststellung einer ein-eindeutigen Entsprechung oder einer Aufspaltung. Im ersten Fall — Goossens veranschaulicht ihn anhand der Schwandener (Kanton Glarus, Schweiz) Einzelphonementsprechung /ε/ zu mhd. /e/ ≠ /ë/, von der sich annehmbar
machen läßt, daß sie eine direkte Fortsetzung der vormhd. noch ungespaltenen Vorstufe /e/ ist (siehe Abb. 13.13) — kann theoretisch ebenso gut phonologische Kollision von zwei vorhin unterschiedenen Phonemen angenommen werden (Mhd. /e/ ≠ /ë/ → S /ε/, siehe Abb. 13.13, α; oder wgm. /u/ ≠ / o/ → W /ǭ/) wie die schlichte Fortsetzung eines vormhd. bzw. vorwgm. nie gespaltenen /e/ bzw. /u/ (siehe Abb. 13.13, β). Der zweite Fall repräsentiert umgekehrt entweder die ein-eindeutige Fortsetzung eines urspr ü nglich einheitlichen Phonems (etwa vormhd. /e/ im Verhältnis zu S /ε/ in der Darstellung Abb. 13.13, β; oder wgm. î im Verhältnis zu D, I, W, St /ī/) oder die Aufhebung (durch Kollision) einer Opposition, die inzwischen durch Phonologisierung von aus diesem urspr ü nglich einheitlichen Phonem entstandenen kombinatorischen Varianten erzeugt worden war (etwa Aufspaltung durch Umlautsfaktor von vormhd. /e/, Phonologisierung der Varianten zur Opposition /e/ ≠ /ë/ und schließlich Kollision dieser Phoneme). Die diasystematische Aufspaltung schließlich läßt sich theoretisch sowohl als tatsächliche Aufspaltung eines frü heren einheitlichen Phonems deuten (etwa wgm. /ai/ → D. /ei/ ≠ /ē/, oder vormhd. /e/ → L /ε/ ≠ /ä/, siehe Abb. 13.13, γ), wie als Fortsetzung einer noch frü heren Opposition (δ) (wenn das einheitliche Ausgangsphonem des BS das Produkt einer frü heren Kollision ist und wenn, aufgrund der lexikalischen Besetzungen, wahrscheinlich gemacht werden kann, daß das betreffende Mundartsystem diese Entwicklungsstufe nie als Vorstufe gehabt hat). Das BS kann also Überdifferenzierungen (z. B. wgm. i1 + e2 = W //1,2; mhd. e2 + ë3 = S /ε/2,3) und Unterdifferenzierungen (z. B. wgm. ai7 = D /ei/7a und /ē/7b; vormhd. e2 = L /ε/2a und /ä/2b) enthalten. Beide sind im Hinblick auf die Rekonstruierbarkeit der tatsächlichen diachronischen Entwicklung mehrdeutig. Diese Mehr-
Abb. 13.12: Die kurzen ungerundeten nicht-geschlossenen Vordervokale der Mdaa von Luzern und Schwanden (dargestellt mit Hilfe des mhd. BS (e2, ë3, ä4, a5), eines vormhd. BS (e2, ä3, a4) bzw. des wgm. BS (e2, a3) (nach Goossens 1969, 20 f)).
268
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
Abb. 13.13: Schematische Darstellung der Entwicklungsgeschichte der Systeme (vormhd., mhd., L, S) (nach Goossens 1969) (Die gestrichelten Linien bezeichnen die beiden Entwicklungen zu S. /ε/; PU = Primärumlaut; SU = Sekundärumlaut; i-U = i-Umlaut; ⇒ Phonologisierung von kombinat. Varianten; → allophonische Phonemaufspaltung; = Phonemkollision. Die Möglichkeit δ (siehe Text) ist nicht repräsentiert: sie wü rde vorliegen, wenn etwa annehmbar gemacht werden könnte, daß L /ε/ die Fortsetzung von wgm. /e/ ist, und L /ä/ die Fortsetzung der ursprü nglichen Primär- und Sekundärumlautsvarianten von wgm. /a/).
deutigkeit kann jedoch leicht durch die Beachtung folgender Konventionen bzw. Bedingungen behoben werden: (1) das BS ist eine frü here, höchstens jedoch die jeweils späteste, allen verglichenen Mundarten gemeinsame Vorstufe und (2) die die Phoneme des BS kennzeichnenden Zahlen werden anhand von Buchstaben weiter unterdifferenziert (zur Bezeichnung von erst später eingetretenen Aufspaltungen), so daß die verschiedenen diachronischen Prozesse eindeutig repräsentiert werden können: Phonemspaltung (Entsprechung /1/ ≈ /1 a/ ≠ /1 b/); direkte Phonementsprechung (/1/ ≈/1/); indirekte Phonementsprechung, d. h. ü ber Spaltung und nachträgliche Kollision (/1/ ≈ /1 a + 1 b/); subphonematische Aufspaltung (Entstehen von kombinat. Varianten) (/1/ ≈ /[1 a ~ 1 b]/); Phonemkollision (/1/ ≠ /2/ ≈ /1 + 2/). Bedingung 1 hat zur Folge, daß alle Überdifferenzierungen tatsächliche Phonemkollisionen repräsentieren. Durch Bedingung 2 wird dafü r gesorgt, daß die Fortsetzung eines einheitlichen Phonems eindeutig von der Entwicklung „Aufspaltung mit nachträglicher Kollision” unterschieden werden kann. Demnach sollte, wenn nachgewiesen werden kann, daß die Schwandener Mundart die mhd. Vorstufe gekannt hat, L.2 wie folgt mo-
difiziert werden:
Wie man sieht, läßt sich eine solche Eindeutigkeit erst auf Kosten einer größeren Komplexität, folglich einer geringeren Übersichtlichkeit der Formel erreichen. Es stellt sich somit die Frage, ob Eindeutigkeit im Diasystem erstrebt werden soll. Bedenkt man, daß die Dialektgeographie letzten Endes auf die historische Erklärung der diatopischen Unterschiede und Übereinstimmungen abzielt, so ist man geneigt, die Frage bejahend zu beantworten. Jedoch ist damit zu rechnen, daß mit Hilfe der dritten Untersuchungsphase (Deutung der kartierten Vergleichsdaten) Zusammenhänge aufgedeckt werden, die eine Modifizierung von bestimmten auf der hiesigen Stufe postulierten Rekonstruktionen erfordern. Bezugskarten zeigen die geographische Verteilung von unterschiedlichen lexikalischen Besetzungen. Sie leisten das gleiche wie Abstammungskarten, nur wird auf Bezugskarten stets mit Phonemen bzw. phonematischen (Teil)Inventaren operiert (vorzugsweise mit virtuell historisch intern zusammenhängenden Inventarteilen). Sie bilden die unentbehrliche Grundlage fü r die extraund internlinguistische Interpretationsphase. Auch Bezugskarten sind entweder Punktsymbolkarten oder Flächen(symbol)karten (bzw. Isoglossenkarten). Punktsymbolkarten (Beispiel: Moulton 1963, 79 Karte 4; auch Goossens 1969, Karte 5) werden — wegen der verwirrenden Vielfalt an Symbolen — leicht un ü bersichtlich (vgl. Goossens 1969, 39). Deswegen empfiehlt es
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
sich, womöglich mit Flächenkarten zu arbeiten. So hat Goossens (1969, 41 und Karte 6) Moultons Karte in eine Flächensymbolkarte umgestaltet: die Gebiete mit gleicher lexikalischer Besetzung werden anhand von Isoglossen abgegrenzt; in jedes dieser Areale wird nur einmal ein entsprechendes Symbol eingetragen; dieses Symbol kann nunmehr zu einem leichter durchschaubaren Diagramm erweitert werden, in dem die heutige Phonemstruktur sowie deren Entstehungsgeschichte aus dem BS abgebildet werden (vgl. auch Moultons Karte 1, (1967)). Aufgrund der in Moulton (1960) und (1967) gebotenen Daten kann etwa die folgende Bezugskarte der nordschweizerdeutschen nicht-geschl. Kurzvokale gezeichnet werden: vgl. Karte 13.3 (vgl. auch Karte 13.1). 3.3.2. Systemtranszendente Synonymie (Heteronymie) und systemtranszendente Polysemie (Tautonymie) 3.3.2.1. Durch
den
diatopischen
Vergleich
269
von inhaltlichen Teilstrukturen werden Unterschiede im inneren Aufbau von begrifflich vergleichbaren Wortfeldern bzw. Polysemen festgestellt (siehe 3.1.). Aufgrund der Kosolidaritätsrelation zwischen Inhalt und Ausdruck lassen sich rein inhaltsbezogene Divergenzen und Konvergenzen am leichtesten ü ber die entsprechenden Ausdrü cke repräsentieren. Es können somit — vor allem wenn der Übersichtlichkeit halber auf die Merkmalsangaben verzichtet wird (vgl. Abb. 13.5 und Abb. 13.7) — die gleichen Darstellungsmethoden benutzt werden wie fü r den Vergleich von Phonemsystemen: die diasystematische Formel und das mit Abbildcharakter versehene Diagramm (das sich auch auf Karten eintragen läßt). Beispiel: durch den Vergleich der dem Designatbereich der weiblichen Oberbekleidung („jupe, robe, corsage, manteau”) entsprechenden OLPn und durch weitere semasiologische Analyse der somit eruierten Zeichen konstatiert Harras (1972) einerseits eine Neutralisation der Opposition „jupe/robe” (Pauschalanwendbarkeit) z. B. in Ep. (= Rock) (208)
Karte 13.3: Bezugskarte der nicht-geschlossenen Kürzen im Nordosten der Schweiz (nach Moulton 1960) ( = Kollision; → = kombinat. Variation; ---> = Aufspaltung; die Zahlen verweisen auf das mhd. BS (vgl. etwa L; 1 steht für mhd. /i/; die Großbuchstaben verweisen auf spätere Erörterungen).
270
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
und anderseits Pauschalanwendbarkeit von einigen der ermittelten Zeichen im Hinblick auf männliche Kleidungsstü cke (z. B. Ep. Plus = (1) „corsage” und (2) „blouse de paysan” (208) oder Mou Klēd = (1) „robe” und (2) „complet” (211)). Diasystematische Formulierung: 1) Lou, Ep, Mou (onomasiol.)
Abb. 13.14: Vergleich von lexikalischen Beständen (vgl. 3.3.1.)
2) Lou, Ep, Mou (semasiol.)
Diagrammatische Darstellung: 1) Abb. 13.15: Diatopische Tautonymie (bei Goossens (1969): „Heterosemie”)
2)
Abb. 13.16: Diatopische Heteronymie
3.3.2.2. Eine befriedigende Erklärung der dialektgeographischen Verwandtschaftsbeziehungen ist aber nur insofern möglich, als zusätzlich auch dem durch Inhalt und Ausdruck konstituierten Gesamtzeichen Rechnung getragen wird. Die sich somit fü r einen diasystemischen Vergleich ergebenden Fragestellungen lassen sich folgendermaßen schematisieren:
Bei der Untersuchung von lexikalischen Bestandsunterschieden wird das jeweilige einzelmundartliche zeichendiakritische Distinktivitätsvermögen der heutigen Phoneme (13.14 α) in Bezug auf deren Entsprechungen in genetisch identischen Signemen (13.14 γ) erforscht. Dabei wird von eventuell diachronisch zu erklärenden Inhaltsunterschieden (13.14 δ) abgesehen. Die ermittelten kontrastiven Vergleichsdaten mü ssen in ihrem Zustandekommen und in ihrer räumlichen Verbreitung erklärt werden (13.14 β). Parallel lassen sich nun ferner diasystemische Unterschiede im Inhaltsvermögen (13.15 α) von genetisch identischen Signemen (13.15 γ) erforschen. Das tertium comparationis ist diesmal die abstrakte Größe eines genetisch identischen Gesamtausdrucks (13.15 γ) (etwa
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
germ. *korna-, wobei von den entsprechenden heutigen mundartspezifischen phonemisch-phonetischen Unterschieden (13.15 δ) abstrahiert wird). In Anlehnung an Wiegand (1970, 322 f) und Henne (1972, 170 f) — beide berü cksichtigen jedoch nur die semantische Relation, die zwischen Signemen verschiedener Sprachsysteme vorliegt, deren Signifikanten phone m isch identisch sind (z. B. Paβ in der Hochsprache und Paβ in der Jägerfachsprache sind tautonym) — kann zur Bezeichnung der Erscheinung, daß genetisch identische Signeme diatopische Inhaltsunterschiede aufweisen, der Terminus „diatopische Tautonymie” verwendet werden: den heutigen Entsprechungen zu germ. *korna- wird in einem schwäbischen Bereich die SUK „Dinkel” zugeordnet, im ober- und mitteldeutschen Raum meist die SUK „Roggen”, nördlich von Oldenburg die SUK „Gerste”, im sonstigen Niederdeutschen sowie in einer Pufferzone zwischen dem Dinkel- und Roggengebiet die SUK „Getreide” (Goossens 1969, 99, 101 f, Karte 27). Da zwischen den in dieser Wiese diasystemisch ermittelten SUKn verschiedene semantische Relationen existieren können, ließe sich eine Typologie aufstellen, in der zwischen Identität, partieller Identität und völliger Diversität (letzteres im Falle von aus genetischer Identität entstandener systemtranszendenter Homonymie) unterschieden w ü rde. Diese Typologie wäre dadurch noch weiter zu differenzieren, daß im Falle von partieller Identität verschiedene Arten von Verwandtschaftsrelationen zwischen den ermittelten SUKn existieren können. Von Bedeutung fü r die dialektgeographische Interpretation ist vor allem die Entscheidung, ob onomasiologische Kohärenz vorliegt (die SUKn „Dinkel”, „Roggen”, „Gerste”, „Getreide” gehören dem gleichen OLP an) und, wenn ja, in welcher Relation (Unterordnung/Überordnung oder Gleichordnung) sie zueinander stehen. Es zeigt sich demnach, daß die beiden Verfahren der Tautonymie und der Heteronymie sowie deren Arbeitsinstrumente (die Bedeutungs- bzw. die Wortkarte) einander ergänzen. Ferner ist zu betonen, daß auch die Konstatierung, daß der untersuchte Ausdruck in einem Gebiet fehlt, fü r die dialektgeographische Deutung von Belang sein kann. Dazu werden aber wieder zusätzliche, onomasiologisch ermittelte Daten benötigt. Dies läßt sich am deutlichsten an Beispielen demonstrieren, wo das Fehlen eines Ausdrucks in einem Grenzgebiet zwischen diato-
271
pisch tautonymen Bereichen der Polysemiefurcht zugeschrieben werden kann. So zeigt die Bedeutungskarte „Opper” im nördlichen Bereich der belgischen Provinz Limburg einen Streifen Niemandsland (Karte 13.4, C) zwischen zwei tautonymen Gebieten, einem westlichen (SUK: „großer Heuhaufen”, A) und einem östlichen (SUK: „kleiner Heuhaufen”, B) (Goossens 1960, 120 f und Karte 28). Zu fragen bleibt jedoch, ob heteronyme Bezeichnungen vorliegen oder ob zu dem Fehlen des tautonymen Zeichens nicht zugleich auch ein Fehlen der in den benachbarten Gebieten bezeichneten SUKn (und Gegenstände) festzustellen ist (in sü dlicheren Gegenden der Provinz etwa, wo sehr wenig Heuland vorkommt, liegt bisweilen Neutralisation der Opposition zwischen „großer/ kleiner Heuhaufen” vor). Die Beantwortung dieser Frage impliziert die Anfertigung von entsprechenden Wortkarten. In üg nstigen Fällen — d. h. wenn weder die Wortkarten noch die Bedeutungskarten eine zu verwirrende Vielfalt an unterschiedlichen Belegen bieten — kann der Übersichtlichkeit halber versucht werden, die durch beide Verfahren ermittelten Daten durch Verwendung von Kleindiagrammen (zur Repräsentierung der OLPn) und von Schraffur oder Farben (zur Abgrenzung von Gebieten mit fehlendem Tautonym) kombiniert auf einer Karte darzustellen. Beispiel: vgl. Karte 13.4 auf S. 272. Diatopische Heteronymie (bei Harras 1972: „diatopische Varianten”) liegt vor, wenn in verschiedenen Mundarten konkurrierende Bezeichnungen fü r gleiche Begriffe vorkommen (vgl. Goossens 1969, 86 und 99; Wiegand 1970, 344 f; Henne 1972, 168 f). Ausgehend von einem Begriff (Designat, Abb. 13.16, ε), wird nach dessen einzelmundartlichen Entsprechungen (vgl. Abb. 13.16, α) gefragt. Heteronym sind jene lexikalischen Signeme aus verschiedenen Mundarten, in deren Inhalt die gleiche NSK (Abb. 13.16, δ) identifiziert ist. Meistens wird auf Wortkarten von einem Begriff mit dermaßen großem Inhalt ausgegangen, daß entweder nur eine einzige NSK abgefragt wird (z. B. die Karten 11, 12, 13, 14, 18 und 25 in Goossens 1969; Philipp 1969, Karten 10 und 12) oder nur jeweils zwei minimal distinktive NSKn (d. h. NS1K und NS2K, z. B. (1) „Schwengel bei Ackerbaugeräten” vs. (2) „Schwengel bei Wagen”, Goossens 1969, Karte 19; so auch die Karten 20, 21, 22, 23; Philipp 1969, Karten 13 und 14; auch unsere Karte 13.4.). Die dialektgeographische Deu-
272
Karte 13.4: Bedeutungskarte „Opper” und Wort- karte des OLP „kleiner/großer Heuhaufen” im Norden von Belgisch-Limburg (nach Goossens 1968 Karte 58 und 1969 Karte 28) tung einer Heteronymenkarte ist aber häufig nur unter der Voraussetzung möglich, daß man zugleich auch die Signifikanten und die geographische Verteilung der Heteronyme jener NSKn kennt, die zum gleichen OLP oder Teilparadigma gehören. Dabei ergeben sich meist dermaßen verwickelte geographische Unterschiede — die Isoglossen der den verschiedenen NSKn entsprechenden Heteronyme koinzidieren vielfach nicht, es können Oppositionsneutralisationen vorliegen —, daß man sich mit der Abfertigung von gesonderten Ein-, höchstens Zweiwortkarten zufriedengeben muß (die man dann nebeneinanderlegen kann). In dieser Weise ist etwa Goossens (1969, 72 f und 1963) zur Deutung der Heteronyme zu dem Begriffsfeld
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
„Ackergrenze/Grenzstreifen/Pflugwende” in Belgisch-Limburg verfahren. Im folgenden soll zur Veranschaulichung dieser Interpretationsmethode ein Teil des von Goossens gebotenen Materials und dessen historische Interpretation erörtert werden. Aus den Karten 11 bis 17 (die beiden letzten sind Bedeutungskarten) sowie aus deren Besprechung (72—75) läßt sich die folgende Heteronymenverteilung aufstellen: Rain: ursprü nglich zur Bezeichnung eines (unbebauten) Streifens Grund, an der Längenseite des Ackers, mit Grenzfunktion. Dieser Streifen wurde jedoch durch tiefere Furchen des Pfluges ersetzt (Intensivierung des Ackerbaus). In den fruchtbarsten Gebieten der Provinz erfährt das Zeichen eine der Sachentwicklung entsprechende Inhaltsumstrukturierung (Rain bezeichnet hier heute die Grenzfurche: 1 und 2). In anderen Gebieten jedoch (4 und 5) fü hrt das Verschwinden von ungepflü gten Grenzstreifen zu einer rein semantischen Merkmalsvereinfachung des Sprachzeichens: das Wort bezeichnet hier den unbebauten Streifen in der Nähe eines Ackers ü berhaupt. In diesen Gebieten — sowie in jenen, wo Rain noch seine alte Bedeutung beibehalten hat (3) — mußte demnach zur Bezeichnung der Grenzfurche nach anderen Signemen gegriffen werden (Entlehnungen, Zeichenbildungen durch Polysemie, Derivation oder Komposition, etwa Gescheid (5), Lim ite (4) bzw. Scheid(s)furche, Scheiling u. a. (3)). In einem kleineren Gebiet (1) innerhalb des Bereiches mit Rain = „Grenzfurche” hat sich zur Bezeichnung des
Abb. 13.17: diatopisch verschiedene OLPn zum Designatbereich „Ackergrenze/Grenzstreifen/Pflugwende” in Belgisch-Limburg (Heteronymie und Tautonymie) (nach Goossens 1969 und 1963) (in stark vereinfachter Form: isoliert vorkommende Heteronyme sind nicht aufgenommen; es wird nur ein Teil der sich auf den Karten abzeichnenden Areale berü cksichtigt (durch Zahlen angedeutet); die SUK „Ackerbeet” sowie der größere Teil der Bezeichnungen der SUK „Pflugwende” bleiben unberü cksichtigt; die Zahlen deuten verschiedene Areale an; F: Gebiet mit fruchtbarem Bo-
den; U: Gebiet mit unfruchtbarem Boden; Ø: das entsprechende Zeichen (und der entsprechende Gegenstand) fehlt; 〈...〉: es kommen (noch weitere) Heteronyme vor; 〈kursiv〉: ursprü ngliche Bedeutung des Tautonyms; 〈→〉: deduktiv entstandene, heute diatopisch-tautonyme Bedeutungsderivation (Inhaltsadäquation in Bezug auf Sachwandel, Merkmalsvereinfachungen).
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
unbebauten Grenzstreifens das Signem Fürteil durchgesetzt (ursprü nglich „Vorderteil”: „Streifen Grund, unbebaut, am Haupt des Ackers, wo das Gespann gewendet wird”). In einem weiteren Gebietchen innerhalb von 3 bezeichnet es sogar den unbebauten Grenzstreifen. In anderen Gegenden (etwa teilweise in 2 und 4, auch in 3) bezeichnet Fürteil noch immer die Pflugwende (obwohl auch diese heute meistens bearbeitet wird). An diesem Beispiel wird ü berdies deutlich, daß die dialektgeographische Interpretation — und zwar unter Berü cksichtigung von sowohl sprachlichen wie außersprachlichen Daten — u. a. auch zeigen soll, nach welchen semantischen Innovationen die heteronymen Signeme entweder neu entstanden (Abb. 13.16, η) oder aus älteren Signemen inhaltlich deriviert sind (Abb. 13.16, γ).
4.
Die dialektgeographische Interpretation
4.1. Die Dialektgeographie stellt sich nicht mit der Darstellung der dialektgeographischen Fakten zufrieden, sie bezweckt ferner eine historische Deutung der auf komparative Weise gewonnenen Fakten (vorwiegend als Ausdeutung von Kartenbildern). Das Grundpostulat dabei ist, daß die diasystemisch-architektonischen Befunde eine entwicklungsbezogene Erklärung haben. Es stehen ihr dabei zwei verschiedene, jedoch einander ergänzende Beweismethoden zur Verfü gung: (1) die extralinguistische Beweismethode, durch die nachgewiesen werden soll, daß ein kausaler Zusammenhang zwischen außersprachlichen Faktoren und (der Verbreitung von) Spracherscheinungen besteht, und (2) die intern-linguistische Beweismethode, die die Annahme von inneren, rein strukturellen Kausalitätsbeziehungen zwischen Sprachfakten untereinander zu begrü nden sucht. Erstere fundiert auf der Feststellung von Koinzidenzen zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Grenzlinien (Annahme von Abhängigkeitsverhältnissen zwischen natü rlicher bzw. politisch-kulturell bedingter Verkehrsgrenze und Sprachgrenze, Annahme eines engen Zusammenhangs zwischen Sach- und Kulturgeographie einerseits und Wort- und Bedeutungsgeographie anderseits). Diese Methode gibt zwar Erklärungen üf r die räumliche Verbreitung von Spracherscheinungen, sie ist jedoch nicht imstande, auch die systembezogene Moti-
273
viertheit der Innovationen zu beleuchten, die dem Entstehen dieser Erscheinungen (und deren Übernahme in benachbarte Sprachgemeinschaften) zugrundeliegen. Es gehört zu den Verdiensten der strukturellen Dialektgeographie, daß sie in entscheidender Weise zur Ausfü llung dieser Lü cke beigetragen hat. Durch die Anwendung von intern-linguistischen Deutungsmethoden versucht sie die kontrastiven Sprachbefunde als Produkte von innerstrukturell bedingten Innovationen zu verstehen. Grundlegend ist dabei die inzwischen in der diachronischen Linguistik (u. a. Jakobson, 1931; Martinet 1955; Ullmann 1957; Fourquet 1958) entwickelte Ansicht, daß Sprachveränderungen durch (positiv bzw. negativ) teleologische Prinzipien bedingt sein können, die darü ber wachen, daß Sprachsysteme optimal funktionieren. Es handelt sich also um Prinzipien, die von der Grundannahme abzuleiten sind, daß Sprachsysteme praktikable Mittel zur zeichenhaften Bewältigung der Außenwelt und zur zwischenmenschlichen Kommunikation sind. Sie betreffen im wesentlichen die Modalitäten, nach denen Sprache gekannt ist, gelernt und gebraucht wird. Es lassen sich somit mehrere Grundtendenzen aufstellen, von denen angenommen wird, daß sie sprachliche Veränderungen veranlassen, befördern oder verhindern können. Beispiele sind: das Prinzip der Diagrammatikalität zwischen Zeicheninhalt und Zeichenausdruck (sowie zwischen Designat und Signem), nach dem eine identische bzw. unterschiedliche Repräsentierung von identischen bzw. unterschiedlichen Inhalten erstrebt wird; das Prinzip eines funktionsgerechten Aufbaus der Systeme (maximale Ausnutzung der Distinktivitäten, maximale phonetische Differenzierung der Phoneme, Symmetrie und Systemzwang usw.); das Prinzip der Koartikulation (das u. a. phonem-interne kontextsensitive Variationserscheinungen veranlassen kann); das Prinzip der Markiertheit, nach dem binär opponierende Werte als nicht äquivalent aufgefaßt werden (woraus sich etwa Implikationen bezü glich des Systemaufbaus ableiten lassen) usw. Zu betonen ist ferner, daß diese Grundtendenzen, trotz ihrer grundlegenden funktionalen Konvergenz, punktuell einander entgegenwirken können, so daß aus der deduktiven Wirkung der einen Innovierungsprodukte entstehen können, die im Hinblick auf eine andere eine Defektivität aufweisen. So sind der i-Umlaut oder die Vokaldehnung
274
in offener Silbe ursprü nglich koartikulatorisch motivierte phonologische Regeln, die innerhalb der Phonemeinheit kombinatorische Varianten erzeugen; die ebenfalls funktional motivierten Erscheinungen der Abschwächung und des Schwundes von Nebensilbenvokalen (vom 9. Jh. bis in frnhd. Zeit) einerseits, der Geminatenvereinfachung anderseits fü hren zunächst zur Phonologisierung dieser Varianten. Die ursprü nglichen Allophone sind somit nicht nur zu Phonemen umgedeutet (aus den Umlautsvarianten etwa entsteht die markierte Reihe der gerundeten Vordervokalphoneme), jedoch zusätzlich auch zu Alternanten (in jenen Fällen, wo Flexeme bzw. Derivateme die ursprü nglichen Kontextbedingungen erf ü llten, nicht aber die entsprechenden Simplizia, z. B. mhd. gast, Pl. geste; spätmhd. tac, Pl. tāge oder sal, sāles vs. vol, volles, was zeigt, daß die Dehnungsregel nicht mehr nach den urspr ü nglichen Kontextbedingungen motiviert werden kann). Die Existenz solcher Alternanzen bedeutet einen weder funktional noch deduktiv zu verantwortenden Verstoß gegen die Diagrammatikalität (es liegt eine Beziehung semantische Identität/ausdruckhafte Diversität vor). Die weiteren Entwicklungen zeigen, wie nachträglich hierauf reagiert worden ist (etwa allmähliche Ausrottung der Regel durch paradigmatische Vereinfachung, z. B. Nhd. Saal, Saales oder Tāg, Tāge; Beibehalten der Regel bei gleichzeitiger Umdeutung der Umgebungsbedingung: der Umlaut wird zu einer morphologischen Begleiterscheinung (etwa Pluralbildung der Substantive) oder gar zum morphologischen Flektionsmittel (Konjunktivbildung der starken Verben) umfunktionalisiert. Angesichts des hypothetischen Charakters solcher Thesen, kommt der strukturellen Dialektgeographie die Aufgabe zu, sie an der dialektgeographischen Realität zu erproben. Die Beweisfü hrung fundiert auf der Feststellung von Koinzidenzen zwischen mehreren sprachlichen Grenzlinien. Fallen die Isoglossen zweier sprachlicher Erscheinungen zusammen, so kann ein kausaler Zusammenhang zwischen beiden vermutet werden. Die Feststellung eines vollkommenen bzw. ausgeprägten Zusammenfalls von Isoglossen berechtigt zu der Annahme, daß sich im betreffenden Gebiet eine durch internen Druck ausgelöste Innovation vollzogen hat. 4.2.1. Im folgenden soll diese Arbeitsweise an einigen klassischen Beispielen veranschaulicht werden.
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
Moulton (1961) versucht zu zeigen, daß die schweizer. kurz- und langvokalischen Phonembestände als Produkte von Umwandlungen asymmetrischer Systeme durch internen strukturellen Druck gedeutet werden können. Wir beschränken uns hier auf die — auf unserer Karte 13.3. verzeichneten — kurzvokalischen Bestände in den nordöstl. Teilen der Schweiz (in allen Mundarten kommt jedoch die zusätzliche Stufe der maximal geschl. Vokale /i/, /y/ und /u/ hinzu). Auszugehen ist von der Feststellung einer doppelten Asymmetrie in der mhd. Vokalstruktur: (1) Kurzvokale: vierstufige Vorderreihe (i/e/ë/ä) vs. nur dreistufige Hinterreihe (u/o/a), und (2) Gesamtsystem: vierstufiges Kurzvokalsystem vs. dreistufiges Langvokalsystem (î/ê/ und û/ô/â). Zur Behebung dieser Asymmetrie wurden im Nordosten der Schweiz verschiedene Lösungen gefunden: (1) Reduzierung der vier Stufen der vorderen Kurzvokale auf drei (durch Zusammenfall von mhd. ë und ä, siehe Karte 13.3.: A), oder von mhd. ë und e (Lösung B, auf Karte 13.3. nicht verzeichnet). Erzeugt wird ein symmetrisches dreistufiges Vierecksystem; (2) die ostschweizer. Vokalspaltung: diese schafft einen neuen Hintervokal, wodurch das mhd. leere Fach in der Hinterreihe gefü llt wurde (Lösung C und D, Karte 13.3.). Erzeugt wird ein symmetrisches vierstufiges Vier- bzw. Dreiecksystem. Moultons These lautet, daß die Vokalspaltung „durch den Sog des leeren Faches hervorgerufen wurde”. Die Beweisfü hrung stü tzt sich auf den Tatbestand, daß sich die Areale C und D einerseits (Ausnutzung von vier Öffnungsgraden) und Vokalspaltung anderseits nahezu vollkommen decken: keine Vokalspaltung außerhalb von C—D, keine vierstufigen Vorderreihen außerhalb des Spaltungsgebietes (auf die weiteren Zusammenhänge mit den Langvokalsystemen wird hier nicht eingegangen). Goossens (1969, 66) weist mit Recht darauf hin, daß zwar somit der Beweis eines inneren Zusammenhangs zwischen Vokalspaltung und Systemaufbau erbracht ist, daß jedoch nicht entschieden werden kann, ob die Innovation der (Übernahme der) Vokalspaltung durch die Asymmetrie im System (innerhalb von C—D) ausgelöst worden ist oder ob die Symmetrie im System (außerhalb von C—D) sich der (Übernahme der) Vokalspaltung widersetzt hat. Bewiesen werden kann somit eigentlich nur, daß Lautwandel durch innere Kausalität verhindert werden können.
13. Theoriebildung der strukturellen Dialektologie
4.2.2. Daß die Tendenz zur Diagrammatikalität in der Sprachentwicklung wirksam sein kann, ließe sich kartographisch an Beispielen belegen, in denen eine Koinzidenz von zwei Arten von Isoglossen nachgewiesen werden könnte: einerseits einer Phonemzusammenfallsisoglosse (Gebiet A weist /a/ = /b/-Kollision auf, etwa mhd. = vs. im Gebiet B sind beide Laute nicht zusammengefallen: mhd. = ≠ ) und anderseits einer Heteronymenisoglosse, durch die ein in B auftretender Ausdruck (etwa oberdeutsch währen), der das eine der beiden Phoneme aufweist (mhd. ë) und dort in minimaler Opposition zu einem Signifikanten mit dem anderen Phonem steht (wehren, mhd. ė), räumlich von einem Heteronym im Gebiet A getrennt wird (mitteldeutsch dauern neben wehren = „verteidigen”). Obwohl annehmbar gemacht werden kann, daß bestimmte Signeme aus Homonymiefurcht beseitigt werden und durch andere, gegebenenfalls bereits vorhin im Zeicheninventar vorhandene, ersetzt werden können, konnten bisher keine wirklich ü berzeugenden dialektgeographischen Beispiele vorgebracht werden (fü r vermutliche Beispiele, siehe Goossens 1969, 110 f). Mit der Erscheinung der Polysemiefurcht und der Synonymiefurcht ist es besser bestellt. Die Beweiskraft der dialektgeographischen Argumentation liegt hier hauptsächlich darin, daß auf einer Tautonymen- bzw. Heteronymenkarte eine dreiteilige Strukturierung konstatiert wird: es werden in Kontaktzonen zwischen zwei Tautonymen (etwa Korn „Dinkel”/Korn „Roggen”, vgl. 3.3.2.2.; oder Opper „kleiner Heuhaufen”/Opper „großer Heuhaufen”, vgl. 3.3.2.3.) bzw. zwischen zwei Heteronymen (etwa westlich Ndl. noemen/östlich-sü dlich Dtsch. nennen; oder „Rinde eines Baumes” nddt. bo(a)rk(e)/mittel- und oberdt. Rinde, vgl. 3.1.1.) sprachliche Daten festgestellt, die entweder als eine durch die dialektgeographische Kontaktsituation ausgelöste „Defektivität” im System zu deuten sind (Polysemie bzw. Synonymie, etwa Mor. /nø:mǝ/ = /nε:nǝ/ (vgl. 3.1.1.)) oder als das Ergebnis einer durch Diagrammatikalität gegen diese Defektivität
275
ausgelöste Reaktionserscheinung: Polysemie kann zu Pauschalanwendbarkeit (Korn = „Getreide”) oder zum Entstehen von Ersatzbezeichnungen („kl. Heuhaufen” = Hückelchen) fü hren; Synonymie zu Teilanwendbarkeit der Signeme (Bedeutungsdifferenzierung) (Boarke = „Rinde des Laubbaumes” und Rinde = „Rinde des Nadelbaumes”), zu Neubildungen (es entsteht also ein drittes Heteronym) oder zu Kontaminationen (die störende Synonymie wird durch die Bildung eines Ausdrucks beseitigt, in dem (un)motivierte Bestandteile der Signifikanten von beiden Heteronymen vorkommen, z. B. Brutz = „Kerngehäuse des Apfels”, entstanden aus (1) Bitz und (2) Grutz (in der Eifel und an der Mosel)) (Goossens 1969, 79 f und 93 f). Zwar hat die Dialektgeographie somit bewiesen, daß störende Homonymie, Polysemie und Synonymie vermieden bzw. beseitigt werden, ungeklärt bleibt jedoch die Frage, unter welchen Bedingungen sie anfangen, hinderlich zu sein. Diagrammatikalität hat mit der Verweisfunktion der Sprachzeichen zu tun. Homonymie und Polysemie gefährden deren Eindeutigkeit nur in Extremfällen. Polysemie etwa gehört zum Wesen der Sprache, sie wird erst dann hinderlich, wenn die durch die SUKn bezeichneten Referenten identischen Designatbereichen angehören (sprachliche Folge: die Polysemie ist häufig nicht mehr kontextuell disambiguierbar).
5.
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II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
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14. Theorieansätze einer generativen Dialektologie
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14. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
1.
277
phonologische Untersuchungen zur wicklung in den deutschen Dialekten. Berlin 1970
Vokalent2 Bände.
René Jongen, Bruxelles und Louvain-la-Neuve
Theorieansätze einer generativen Dialektologie Die Aufgaben Das Modell der erweiterten Standardtheorie Allgemeines zu den Methoden der generativen Dialektologie Der Modellschwerpunkt der phonetischen Merkmale Der Modellschwerpunkt der syntaktischen Merkmale Einige Ansätze generativer Beschreibung von Dialekten Die Regelkarte als Darstellungsmittel Literatur (in Auswahl)
Die Aufgaben
Der Objektbereich der generativen Dialektologie (gD) sind die areal differenten, schriftfernen Varietäten D1—n (Dialekte) der Sprachen L1—n. Die Abgrenzung einer Varietät Dx gegenü ber anderen Varietäten einer Sprache Lx erfolgt zur Hauptsache durch den Vergleich (1) der systemaren Beschaffenheit (Systematizität), (2) der topographischen Verbreitung (Arealität), (3) der zeitlichen Wandlung und Einordnung (Historizität), (4) der sozialen Zugehörigkeit der Sprecher (Sozialität), (5) der konkreten Verwendung konkurrierender Varietäten im kommunikativen Zusammenhang (Pragmatizität). Traditionellerweise lag und liegt das Hauptaugenmerk der Dialektologie auf der Systematizität, Arealität und Historizität, während die Gesichtspunkte der Sozialität und der Pragmatizität erst in jü ngerer Vergangenheit in den Blickpunkt des Forschungsinteresses traten. Dies entspricht der sprachwissenschaftlichen Forschung allgemein und der generativen Transformationsgrammatik (gTG) speziell, welche vorrangig die Lx des kompetenten Sprechers beschreiben und dessen Performanz dahinter zurü ck-
treten lassen wollte. Die ursprü ngliche Konzeption der gTG war mono- oder infrasystemar, d. h. es sollte die (Standard-)Sprache Lx eines kompetenten Sprechers beschrieben werden. Analog waren die ersten Gehversuche einer gD Beschreibungen einzelner Dialektsysteme, indem man einfach Lx durch Dx ersetzte und linguistische Verfahren, die in einer Standardsprache wie dem Englischen erprobt worden waren, auf ein Dialektsystem anwandte. Damit war mehr oder weniger unbeabsichtigt eine Grundbedingung erfü llt worden, nämlich die des Vergleichs. Anders als bei der Beschreibung des Englischen in der Erprobungsphase der gTG wurde der Dialekt Dx nicht dargestellt, indem man metasprachlich im Dialekt Dx selbst formulierte, sondern indem man dem außenstehenden Leser durch die Verwendung einer dem Leser vertrauten Schriftsprache und durch den Vergleich zu einem mit Dx verwandten und dem Leser ebenfalls vertrauten Standardsystem (ggf. auch Protosystem) Dx selbst beschrieb. Es ging nun sowohl um die experimentierende Verwendung der Methoden als auch um das Resultat der Sprachbeschreibung. Das entscheidende Problem, mit dem die gD auch jetzt, nachdem schon eine Reihe von Forschungen auf diesem Gebiet vorliegen, noch zu kämpfen hat, ist die Bewältigung der Vielzahl von Systemen in Beschreibung, synoptischer Darstellung und Erklärung. Geht man davon aus, daß Wenker und Wrede zwischen 1877 und 1933 Wenkersatzü bertragungen aus etwa 50 000 Orten sammelten (vgl. Mitzka 1952) und daß damit fast jede deutschsprachige Siedlung Zentraleuropas erfaßt war, so wird deutlich, welche Leistung eine gD letzten Endes zu erbringen hätte: Sie mü ßte in der Lage sein, bis zu 50 000 Dialektsysteme mindestens unter den beiden Gesichtspunkten (1) der Systematizität und (2) der Arealität vergleichend zu be-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
278
schreiben, von den Weiterungen unter den Aspekten (3) der Historizität, (4) der Sozialität und (5) der Pragmatizität ganz zu schweigen. Dabei heißt „vergleichend„: beschrieben und dargestellt im Hinblick auf ein Bezugssystem, das beispielsweise ein Standardoder ein Protosystem oder auch das System einer sonstigen Varietät sein kann (zum Problem der Varietätengrammatik vgl. Klein 1974). Somit ist die eventuell aus der gTG ableitbare einseitige Perspektive ausgeschlossen, die Aufgabe einer gD bestü nde in der Erzeugung grammatisch richtiger Dialektsätze. Vielmehr soll derjenige, an den sich die jeweilige Dialektbeschreibung richtet, aus der Kenntnis des Bezugssystems heraus instand gesetzt werden, die den jeweiligen Dialekt bildende Sprachvarietät zu erkennen. Generativ in diesem Sinne ist dann das reproduzierende und vorwiegend rezipierende Nachvollziehen der nichtkodifizierten dialektalen Sprachnormen mit linguistischen Mitteln. Damit ist das Aufgabengebiet einer gD abgesteckt.
2.
Das Modell der erweiterten Standardtheorie
Die Gemeinsamkeit zwischen der traditionellen und der strukturalen Dialektologie einerseits (vgl. Goossens 1969) und der gD andererseits besteht in der zu bewältigenden Vielfalt der Dialektsysteme. Das Gemeinsame zwischen der gD und gTG liegt bei den Methoden zur Beschreibung einzelner Sprachsysteme. Bei aller ernstzunehmenden Kritik und bei allen Weiterungen, die z. B. von der Satz- zur Textanalyse gefü hrt haben, ist Chomskys Sprachbeschreibungsmodell der Standard- bzw. erweiterten Standardtheorie (s. Chomsky 1971, 1972 a) zwar das am stärksten angefochtene, aber auch in sich geschlossenste, was Grund genug ist, von diesem mono- bzw. infrasystemaren Modell auszugehen und es zu einem den Bedü rfnissen einer gD Rechnung tragenden intersystemaren Modell auszubauen. Ein weiterer Grund, von diesem Modell auszugehen, ist seine ü berwiegend ausdrucksseitige Orientierung, was gerade bei der Beschreibung dialektaler Varietäten von Nutzen ist, da Dialekte sich, wie unsere bisherige Kenntnis zeigt, vorwiegend ausdrucksseitig unterscheiden und da auch die Festlegung der Dialektgrenzen im Deutschen nur in Hinblick auf die Ausdrucksseite erfolgt ist.
Chomskys erweiterte Standardtheorie (zur Standardtheorie s. Chomsky 1965/1969, zur erweiterten Standardtheorie s. Chomsky 1970, 1971, 1972 a, 1972 b) läßt sich — stark vereinfacht — so charakterisieren: (1) Vererbte universelle Fähigkeiten, mit endlichen Mitteln eine „unendliche“ Anzahl von Sätzen zu bilden und umgekehrt auch zu verstehen, werden im Laufe der Linguogenese des Sprechers in bezug auf ein bestimmtes Sprachsystem spezifiziert. (2) Die „Basis“ einer Grammatik bilden Phrasenstrukturregeln und ein Lexikon mit „Formativen“, welche in etwa mit den Monemen Martinets vergleichbar sind (vgl. Martinet 1973, François 1978), so daß sich das Lexikon aus lexikalischen und grammatischen Formativen (z. B. fü r Person, Numerus, Kasus) zusammensetzt. Die lexikalischen Formative sind mit Kategorienmerkmalen (z. B. N, V, Adj) und mit lautlichen, syntaktischen und semantischen Subkategorisierungen versehen bzw. werden aus eingegebenen Matrices kopiert. Diese Informationen gehören zu den Voraussetzungen fü r die Erzeugung grammatisch richtiger Sätze, d. h. fü r syntaktische Strukturate, deren phonetische und semantische Repräsentation normgerecht und somit ge n e r a t i v ist. (3) Die syntaktische Tiefenstruktur ist der Ort, wo aus den abstrakten, präterminalen Ketten durch Einsetzen der lexikalischen Formative terminale Ketten erzeugt werden. Dabei soll durch Selektionsbeschränkungen verhindert werden, daß nicht miteinander vereinbare Formative verbunden werden und Sätze entstehen, die a) nicht grammatisch und b) nicht akzeptabel sind (Unsinnssätze). In der syntaktischen Tiefenstruktur werden die funktionalen Relationen — wie „Subjekt von“, „Objekt von“ — bestimmt, deren Existenz in dieser Form hauptsächlich von den generativen Semantikern bezweifelt wird (vgl. Abraham/Binnick 1972, Seuren 1973). (4) Die Tiefenstruktur determiniert die semantische Interpretation des Satzes; aus den Einzelbedeutungen der Formative wird mit Hilfe semantischer Projektionsregeln die Satzbedeutung abgeleitet. Zusammen mit Informationen, die noch nicht der Tiefenstruktur zu entnehmen sind, sondern der semantischen Komponente erst später aus der Oberflächenstruktur zufließen (z. B. bei Operatoren), wird dann die semantische Repräsentation des Satzes bestimmt.
14. Theorieansätze einer generativen Dialektologie
(5) Die syntaktische Tiefenstruktur gilt als Eingabegröße fü r alle syntaktischen Operationen, welche die terminalen Ketten der Tiefenstruktur in konkrete Sätze der Oberflächenstruktur ü berfü hren, d. h. aus abstrakten Strukturaten sprech- und schreibbare, hör- und lesbare Sätze machen mit deklinierten Substantiven und Adjektiven, konjugierten Verben und weiteren Charakteristika grammatisch richtiger Sätze. Zur Erzeugung der Oberflächenstruktur wird eine terminale Kette z. B. durch die Anwendung mehrerer aufeinander folgender Transformationen in die gewü nschte Satzstruktur gebracht. Vorher eingesetzte grammatische Formative werden dann ferner durch andere ersetzt, die z. B. Numerus, Genus und Kasus, Modus, Tempus und Person je nach grammatischer Kategorie endg ü ltig festlegen. Schließlich operieren auf der Oberflächenstruktur noch (morpho)phonologische Regeln, die z. B. bei grammatisch bedeutsamen Lautvarianten, wie Ablaut und Umlaut, oder auch bei rein stellungsbedingten Varianten, wie z. B. bei dem Umlaut vor Diminutivsuffix oder bei der Auslautverhärtung, erforderlich sind, um die endg ü ltige phonetische Repräsentation zu gewährleisten. Wie schon angedeutet, ist Chomskys Modell vor allem aus dem Kreis der generativen Semantiker nicht von Kritik verschont geblieben. Bestritten wird u. a., daß nur die Syntax generativ sei. Man geht vielmehr von universalen semantischen Gegebenheiten aus, die mit den Mitteln der natü rlichen Logik beschrieben werden und den Ansatzpunkt der Satzerzeugung bilden. Die weitere Kritik läßt sich mit Abraham (1972, S. X) wie folgt zusammenfassen: „Einmal werden die Projektionsregeln der semantischen Komponente des Standardmodells völlig ü berflü ssig; als einziger Regeltyp mit semantisch-syntaktischer Funktion verbleibt nur die Transformation. Zweitens erzeugen die Formationsregeln der Basiskomponente direkt semantische Repräsentationen, die sowohl syntaktisch wie vor allem auch semantisch-logische Informationen vermitteln. Und zum letzten beschränkt sich die lexikalische Einsetzung nicht mehr auf eine einzige Ebene in der Ableitung; dies bedeutet auch, daß es prälexikalische Transformationen geben muß.“ Diese Kritik muß bei der Konzeption einer gD ber ü cksichtigt werden, auch wenn ein mehr ausdrucks- als inhaltsseitig orientiertes Modell bevorzugt wird.
279
3.
Allgemeines zu den Methoden der generativen Dialektologie
Bei dem Ausbau dieses infrasystemaren Modells zu einem intersystemaren besteht die Möglichkeit, entweder von einem virtuellen System auszugehen, das alle realen Ableitungsmöglichkeiten zuläßt, oder von einem realen Bezugssystem, mit dem die realen Dialektsysteme verglichen werden. Dient das virtuelle System als Bezugssystem, so kommt es einem fiktiven Diasystem (zur Arbeit mit Diasystemen s. Weinreich 1954) gleich, das in allen Stadien des Satzerzeugungsprozesses die Voraussetzungen fü r die Ableitung konkreter dialektaler Realisierungen bietet. Es mü ßte bis ins kleinste Detail, bis zum speziellsten Lexikoneintrag, auf sämtliche Anforderungen der Beschreibung und Darstellung hin vorprogrammiert sein. Ein solches Supersystem wü rde die feststehende, relative Autonomie von Dialektsystemen im kommunikativen Prozeß unberü cksichtigt lassen und somit eine große Diskrepanz zwischen Objekt- und Metabereich aufwerfen. Außerdem wäre ein solches Unterfangen von der technischen Bewerkstelligung her utopisch. Folglich ergibt sich als Modellbild fü r das intersystemare gD-Modell kein Rechteck oder Trapez, sondern ein Dreieck fü r die Darstellung des Verhältnisses zwischen dem Beschreibungsapparat, einem realen Bezugssystem und den realen Dialektsystemen (Abb. 14.1.).
Abb. 14.1: Parameter für intersystemare Dialektbeschreibungen Der Beschreibungsapparat enthält alle notwendigen Voraussetzungen zur Beschreibung beliebig vieler Dialektsysteme. Die wichtigsten der auf Chomskys Modell (1969, 155 ff., dann modifiziert) bezogenen i n f r a systemaren methodischen Hilfsmittel sind:
280
(1) die kategoriale Komponente (1.1) die Hauptkategorien, z. B. S, NP, VP, PP (1.2) die lexikalischen Kategorien, z. B. V, N, ProN, Adj u. a. (1.3) die Verzweigungsregeln, z. B. S → NPVP, NP → DetxN (2) die Lexikonkomponente (2.1) die distinktiven Merkmale zum ‘Buchstabieren’ eines Formativs, z. B. [vokalisch, kompakt, rund] (2.2) die inhärenten und spezifischen syntaktischen Merkmale der lexikalischen und grammatischen Formative, z. B. Genus, Flexionsklasse, Numerus, Tempus (2.3) die Lexikonregeln zur Einsetzung der Formative, konkret z. B. (modif. n. Bergenholtz/Mugdan 1979, 109) als Stemma dargestellt (V = Verb, Vs = Verbstamm):
Abb. 14.2: Lexikonregel zu „(er) band„ Die Form der Lexikonregel in diesem Beispiel ist neu gegenü ber Chomsky. Die Kursive von bind- soll andeuten, daß das Formativ als durch phonetische Merkmale repräsentiert gedacht ist. (2.4) die Liste der so gekennzeichneten Formative selbst (3) die postbasalen Regeln (3.1) die Transformationsregeln, z. B. fü r die Adjunktion, Insertion, Permutation (3.2) die infrasystemaren Ersetzungsregeln (re-write rules, re-adjustment rules) zur Herstellung der endgü ltigen phonetischen Repräsentation, wobei sich die Frage stellt, wie wichtig dieser Regeltyp noch ist, nachdem die syntaktisch relevanten Bereiche der Morphophonologie in die Basis einbezogen werden. Hinzukommen als wichtigstes Hilfsmittel zur i n t e rsystemaren Beschreibung (4) die intersystemaren Ersetzungsregeln (auch Transund Umkodierungsregeln), welche die systemspezifischen Daten aus
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
dem Bezugssystem ableiten. Wichtig ist zu betonen, daß die intersystemaren Ersetzungsregeln sich auf jeden Teilbereich des Prozesses beziehen können, d. h. sie können z. B. alle Elemente und alle Teilstrukturen des Bezugssystems durch andere ersetzen. Sie operieren also nicht nur auf der Oberfläche, sondern gleichermaßen in der Basis und im Transformationsteil. In der Praxis ihrer Verwendung zeigt sich der Vorteil eines Bezugssystems: Nicht jedes Element und nicht jede Teilstruktur brauchen von Dialekt zu Dialekt ersetzt zu werden, sondern nur, was von dem Bezugssystem abweicht. Beispielsweise benötigte man fü r die rund 50 000 deutschen Dialekte von vor 1933 keine 50 000 verschiedene Lexika, sondern nur ein Lexikon (das des Bezugssystems) mit Spezifikationen, die etwa so aussehen könnten: # töpfer #B → # häfner #D33333—46999. Diese Regel bedeutet, daß das Lexem # töpfer # des Bezugssystems in den Dialekten D33333 bis D46999 (bei fortlaufender Numerierung) durch das Lexem # häfner # ersetzt wird. Jedoch sollten die Regeln auch umkehrbar (reversibel, invers) sein, d. h. die obige Regel könnte dann auch so lauten: # häfner #D33333—46999 → # töpfer #B oder so: # töpfer #B ↔ # häfner #D33333—46999. Das Problem der Regelumkehr ist noch nicht ausdiskutiert, da generell bei kontextsensitiven Regeln auch die Umgebungen verändert werden mü ssen und damit eine Reihe von Fragen aufgeworfen wird, die der Lösung bedürfen (vgl. dazu allgemein Pause 1971). Dies Verfahren ist im Prinzip nichts anderes, als in Regeln zu fassen, was in der Dialektkartographie und auch in den Mundartwörterbü chern mit anderen Mitteln stets angestrebt worden ist (vgl. Goossens 1977). Der Einfachheit halber werden fü r die intersystemaren Ersetzungsregeln im Rahmen des Möglichen dieselben Symbole und Kü rzel gewählt wie üf r die infrasystemaren. Da auch die intersystemaren Ersetzungsregeln kontextfrei oder kontextabhängig (kontextsensitiv) sein können, wird auch die Konvention, Umgebungs-(Kookkurrenz-)Bedingungen auszudrü cken, weitgehend ü bernommen. Doch können die Umgebungsangaben nicht nur rechts, sondern auch links des Pfeils stehen, da bei inversen Regeln ausgedrü ckt werden muß, daß die Umgebungen
14. Theorieansätze einer generativen Dialektologie
281
von Bezugssystem und Kontrastsystemen differieren. Als Beispiel fü r eine einfache Ersetzungsregel auf Merkmalbasis gelte die folgende, durch die ausgedrü ckt werden soll, daß die Reihe der geschlossenen Kurzvokale
in den Dialekten D8 bis D18 (bei fortlaufender Numerierung) gesenkt wird und als mittlere Reihe offener Kurzvokale erscheint, wenn die betroffenen drei Vokale im Bezugssystem B vor Nasal plus Konsonant auftreten:
Noch einige vention:
steht und diese „den einzigen ‘kreativen’ Teil der Grammatik bildet“ (Chomsky 1969, 173), kann fü r den Dialektologen nicht so sehr die Endphase des Satzerzeugungsprozesses von Interesse sein, wo eine semantische Interpretation — vermittelt durch die syntaktische Komponente — auf eine phonetische Repräsentation bezogen wird. Vielmehr liegt der Schwerpunkt bereits in der Eingangsphase, genauer gesagt: in der Lexikonkomponente und in dem Vergleich der Lexikonkomponenten aller beteiligten Systeme. Daher sollen exemplarisch die distinktiven bzw. klassifikatorischen phonetischen und die syntaktischen Merkmale behandelt werden. Die Kenntnis von den Grenzen der menschlichen Artikulationsmöglichkeiten gestatteten Jakobson und anderen (Jakobson/Fant/Halle 1947/1969, Jakobson/Halle 1960, Chomsky/Halle 1968 — s. a. Harms 1968) die Aufstellung des limitierten Inventars phonetisch-distinktiver Merkmale üf r die Sprachen der Welt. Wenn deren Lautinventarien begrenzt sind (vgl. Hockett 1955, 86 ff.) und eine begrenzte Anzahl distinktiver Merkmale — die ursprü ngliche Zahl 12 hat sich allerdings inzwischen mehr als verdoppelt — zur Beschreibung der Sprachen der Welt ausreicht, so ist anzunehmen, das das gleiche auch fü r die Dialekte gilt, selbst wenn im Falle der Deutschen Dialekte eine Größenordnung von rund 50 000 Systemen erreicht wird. Werden also derartige distinktive Merkmale — in welch abgewandelter Form auch immer — analog zu Chomskys infrasystemarem Ansatz in ein intersystemares Modell der gD einbezogen, so ist der Anspruch gerechtfertigt, daß dieses Modell tragfähig genug sein wird, die phonetischphonologischen Gegebenheiten ausreichend zu beschreiben. Die lautliche Subkategorisierung der Formative wird gelöst durch deren Abbildung auf einer Matrix phonetisch-distinktiver Merkmale. Diese Matrix und eventuelle phonetische Subkategorisierungsregeln gehören zur
Beispiele
zur
Notierungskon-
Indizierung: B steht für Bezugssystem, D für Kontrastsystem, hier: Dialektsystem geschweifte Klammer {}: Zusammenfassung eines Ausdrucks eckige für phonetische, gegebenenKlammer []: falls syntaktische Merkmale „in der Umgebung (von)„ / heißt: „in der Umgebung vor V“, /_V heißt: kurz: „vor V„ /V_ heißt: „nach V„ /V_W heißt: „zwischen V und W„ Nebeneinanderstellung (z. B. [+ nas] [+ kns]) heißt: X „plus“ Y Übereinanderstellung
Die Regel:
heißt also: „Das Lexem # saterdag # der Dialekte D320—380 wird im Bezugssystem B entweder durch das Lexem # samstag # oder durch das Lexem # sonnabend # ersetzt. Weitere Abkü rzungen und Symbole bei Harms (1968) und Veith (1972).
4.
Der Modellschwerpunkt der phonetischen Merkmale
Die deutschen Dialekte unterscheiden sich vorwiegend lautlich, morphologisch und lexikologisch. Taxonomisch-strukturalistisch gesprochen, könnte man sagen, daß die Unterschiede proportional zur Höhe der Beschreibungsebene abnehmen (zum taxonomischen Modell der Beschreibungsebenen vgl. Harris 1954 und Hockett 1955, 1961). Da in der gTG die Syntax im Mittelpunkt
282
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
Abb. 14.3: Modell phonetischer Zeichen und Merkmale zur Wiedergabe von Vokalen (Kernen) Basis bzw. Tiefenstruktur und sind somit prätransformationell. Posttransformationell sind die im Bereich der Oberflächenstruktur operierenden (morpho)phonologischen Regeln, die bereits in den Anfängen des Strukturalismus inhaltlich vorgeprägt waren (vgl. Trubetzkoy 1929, 1939/1977). Diese Regeln rekurrieren ebenfalls auf die in der Basis eingegebene Matrix. In einem modifizierten intersystemaren Modell der gD mü ssen alle Laute, die a) bedeutungsunterscheidend und b) zwar nicht bedeutungsunterscheidend, aber in ihrer phonetischen Realisation fü r die beschriebenen Dialekte charakteristisch sind (Varianten), aufgefü hrt werden. Dies wü rde theoretisch auch Suprasegmentalien einschließen und sich nicht, wie ü blicherweise gehandhabt, auf Segmentalien beschränken dü rfen (vgl. in diesem Sinne auch Harms 1968); allein — fü r die deutschen Dialekte ist dies mangels entsprechender Grundlagenstudien zur Zeit nur sporadisch realisierbar. Die beiden Teilmodelle von Abb. 14.3. und 14.4. enthalten folglich nur segmentalphonetische Zeichen fü r Kerne (Vokale) und Satelliten (Sonanten, Konsonanten). Mit dieser Einschränkung sind sie zunächst umfangreich genug, um allen in den deutschen Dialekten eventuell vorkommenden Lauten Rechnung zu tragen. Im Bedarfsfalle können sie aber auch noch ausgebaut werden. Die Zeichen folgen den ‘Principles of the International Phonetic Alphabet’ (IPA). Die Merkmalfindung geht z. T. aus den Skizzen hervor. Die Merkmale stü tzen sich sowohl auf Gesichtspunkte der akustischen Phonetik im Sinne von Jakobson u. a. (z. B. [kompakt]) als auch
auf die der artikulatorischen Phonetik (z. B. [rund, nasal, offen]), so daß ähnlich wie in Chomsky/Halle (1968) und bei Wurzel (1970) verfahren wird. Die Merkmale [nasal] und [gespannt], die in Abb. 14.5. und c/d die Anzahl der Kerne im Vergleich zu Abb. 14.5. a theoretisch vervierfachen, erscheinen aus Platzmangel nur in verkü rzter Realisierung. Die Abb. 14.6. enthält kein Merkmal zur Kennzeichnung der Länge von Satelliten; diese wird durch Verdopplung des Zeichens ausgedr ü ckt. Diphthonge und Affrikaten sind in ihre Einzelelemente aufgelöst worden. Bei dem Vergleich der Matrices von Abb. 14.5. a/b, c/d und 6. wird auffallen, daß die Merkmale [kns, vok, nas, kom, akt, int, zen, gsp] fü r Kerne und Satelliten gleichermaßen gelten und nur einige weitere Merkmale jeweils gruppenspezifisch hinzutreten. Die Redundanzen wurden bewußt beibehalten, so daß die Matrices klassifikatorischer Natur sind, d. h. weit mehr Informationen enthalten, als zur eindeutigen Unterscheidung der Laute nötig wären. Zur eindeutigen Differenzierung der 35 Satelliten und der vier mal 23 (= 92) Kerne — also zusammen 127 Laute — genü gten rein rechnerisch 7 Merkmalpaare. In der Praxis reichen diese aber nicht aus, da den Besonderheiten der Sprache Rechnung getragen werden muß und die Sprachbeschreibung natü rlich sein soll, d. h. mit so wenigen Diskrepanzen zwischen Sprache und Sprachbeschreibung wie möglich. Die nunmehr erforderlich gewordenen 13 Merkmalpaare wü rden — wiederum rein rechnerisch nach dem diadischen Logarithmus — ausreichen, um 8 192 Laute eindeutig von-
14. Theorieansätze einer generativen Dialektologie
283
Abb. 14.4: Modell phonetischer Zeichen und Merkmale zur Wiedergabe von Sonanten, Konsonanten (Satelliten) einander zu unterscheiden, also 8 065 Laute mehr als hier vorgegeben. Dies ü beraus große Redundanzvolumen zeigt, daß das Modell nicht nur bei Bedarf ausbaufähig, sondern auch so schon außerordentlich tragfähig ist. Es scheint geeignet zu sein, alle Dialekte des Deutschen in ihren relevanten Lauten zu erfassen und zu beschreiben.
5.
Der Modellschwerpunkt der syntaktischen Merkmale
Ein zweiter Schwerpunkt der Lexikonkomponente sind die syntaktischen Merkmale. Die niederdeutschen Dialekte und das Alemannische kennen fü r die 1., 2. und 3. Pers. Plural den Einheitsplural im Präsens Indikativ Aktiv des Verbs. Im Alemannischen lautet er in den westlichen Dialekten -a, -e, sonst -at, -et; im Westniederdeutschen lautet er -et, -t, im Mecklenburgisch-Vorpommerschen und im Brandenburgischen -en, -n und im restlichen Ostniederdeutschen -e bzw. im sü dlichen Ostpommerschen -a. Diese Angaben beziehen sich auf die Erhebungen von Wenker und Wrede vor 1933. Man sieht daran, daß die syntaktisch-semantische Subkategorisierung — in diesem Fall als Person, Numerus und Tempus — von Wichtigkeit ist und daß deren sprachliche Manifestation in den angesprochenen Systemen zur Dialektgrenzbildung fü hren, wobei freilich zu be-
achten ist, daß die jeweiligen Formen des Einheitsplurals lautliche Oberflächenrepräsentationen zu tiefenstrukturellen syntaktischen Merkmalbündeln darstellen. Bergenholtz/Mugdan (1979, 106—115) sehen drei Möglichkeiten, die Morphologie in einer generativen Grammatik zu behandeln: (1) als „Item and Arrangement“, (2) als „Item and Process“, (3) als „Word and Paradigm“. Das erste Modell ist die „bausteinartige Aneinanderreihung“; es wird als zu statisch verworfen. Das zweite wäre im Sinne des in Abschnitt 3. unter Abb. 14.2. angefü hrten Stemmas zu verstehen, also als „Veränderung von Basisformen“, und hat den Vorteil des Prozeßcharakters, aber den Nachteil, daß die Gleichzeitigkeit von Merkmalen nicht genü gend dargestellt werden kann. So ist in bezug auf das obige Stemma nicht einzusehen, warum die Reihenfolge der Dependenz nicht umgekehrt werden oder ganz entfallen soll, also Pers. 3. Sg.
oder
Sg. oder 3. Pers.
[?].
Daher wird die dritte Möglichkeit, nämlich die einer eingegebenen Matrix, ähnlich wie bereits bei Chomsky (1969, 215), bevorzugt. „Unter den dargestellten morphologischen
284
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
14. Theorieansätze einer generativen Dialektologie
285
Abb. 14.6:Klassifikatorische Merkmale der wichtigsten Satelliten (Sonanten, Konsonanten) deutscher Dialekte
Modellen, die noch in verschiedener Weise variierbar und kombinierbar sind, ist das WP-Modell zweifellos das vielseitigste“ (Bergenholtz/Mugdan 1979, 115). WP — Word and Paradigm — bedeutet, daß die zu einem Wort gehörenden Formen ein Paradigma bilden und in einer tabellarischen Übersicht aufgelistet werden könnten. Dies w ü rde ziemlich umfangreiche Listen ergeben. Fü r bind- wären es allein im verbalen Bereich 41 einzelne Paradigmen mit bind- als Grundform (ganz im Sinne des taxonomischen Strukturalismus ü brigens). Die Ableitung der gesamten Wortfamilie aus bind- wü rde die Anzahl der Paradigmen ins Unermeßliche steigern. Außerdem wäre eine solche Lösung wortspezifisch und nicht allgemein. Daher werden statt der Tabellen Matrices gebildet mit generellen syntaktischen Merkmalen, z. B. (Bergenholtz/Mugdan 1979, 111): [1 Tempus] [2 Tempus] [3 Tempus] [— Perfekt] Präsens Präteritum Futur [+ Perfekt] Perfekt Plusquamp. Futur II Abb. 14.7:Morphosyntaktische Merkmale (n. Bergenholtz/Mugdan 1979) In das stark umrandete Feld könnten die systemspezifischen grammatischen Formative eingesetzt werden. Die beiden Merkmale sind allerdings in diesem Beispiel nicht einheitlich definiert: [Perfekt] ist binär und [Tempus] ternär. Wenn Verf. recht sieht, kann man im Deutschen (Standardsprache und Dialekte) mit 9 syntaktischen Merkmalgruppen auskommen. Sie beziehen sich auf alle relevanten Wortarten als Kategorien des Lexikonteils, nämlich (in alphabetischer Reihenfolge) auf Adjektive, Adverbien, Artikel, Nomina, Präpositionen, Pronomina, Verben (einschließlich Hilfsverben). Sie geben an (alphabetisch): [Flexionsklasse] [Infinitiv] [Numerus]
[Genus] [Grad] [Kasus] [Modus] [Person] [Tempus].
Einige dieser Merkmale gelten — ähnlich wie im phonetischen Bereich — fü r mehrere Wortarten, z. B. [Flexionsklasse], [Genus], welches das Genus verbi einschließt, [Grad] — auf die Steigerung von Adjektiven und Adverbien bezogen — usw. Die genaue Spezifikation der Merkmale, etwa durch +
286
(plus) oder — (minus) oder Ziffern, ist festzulegen. Dabei sollte man berü cksichtigen, daß zu den zwei Numeri Singular und Plural in einigen Dialekten noch der Dual hinzutritt, also [3 Numerus]; auch in anderen Fällen empfehlen sich Ziffern, die sich z. B. in der Dependenzgrammatik schon eingeb ü rgert haben, so [1 Kasus] = Nominativ, [2 Kasus] = Akkusativ, [3 Kasus] = Dativ, [4 Kasus] = Genitiv; ferner [1 Infinitiv] = reiner Infinitiv, [2 Infinitiv] = Partizip Präsens, [3 Infinitiv] = Partizip Perfekt. Während die syntaktischen Merkmale wie die phonetischen in der ersten Spalte der Matrix untereinander aufgef ü hrt werden, steht das Definiendum in der Kopfleiste (auch hier ähnlich wie bei den phonetischen Merkmalen). Somit könnten dort neben dem Nullsuffix die folgenden 12 Suffixformen eingetragen werden, die — inhaltlich variierend und mit unterschiedlichen Funktionen — den Ansprü chen fü r die Beschreibung der deutschen Standardsprache gerecht werden und an entsprechender Stelle und unter den anzugebenden Bedingungen eingesetzt werden mü ssen: (0) Null-Suffix, (1) d, (2) e, (3) em , (4) en, (5) er, (6) es, (7) est, (8) et, (9) n, (10) s, (11) st, (12) t. Diese Zahl ließe sich verringern, wenn man stellungsbedingte Varianten zusammenbringen wü rde, z. B. -et nach Dental; -n nach Liquid, sonst -en u. dgl. Der Einbau der syntaktischen Merkmalbü ndel in eine gTG wäre wie in Abb. 14.8. denkbar. Der durch den dort dargestellten Graphen repräsentierte Satz heißt: „Studenten lesen Bücher„. Die Merkmalbü ndel beziehen sich auf die jeweilige Kategorie (N, V). [2 Numerus] ist Plural, [3 Person] ist die dritte Person, [1 Kasus] ist Nominativ, [2 Kasus] ist Akkusativ, [1 Modus] ist Indikativ, [1 Tempus] ist Präsens, [1 Flexionsklasse] ist stark, [1 b Flexionsklasse] ist stark mit Umlaut (im Gegensatz etwa zu [1 a Flexionsklasse], z. B. Kind, Kinder), [2 Flexionsklasse] ist schwach. Bezogen auf eine Matrix, lassen sich die Merkmalb ü ndel mit Oberflächensuffixen identifizieren, also mit -en, -en, -er (“ gilt fü r den Umlaut). Andere Merkmalkombinationen wü rden zu anderen Oberflächensuffixen führen. In der intersystemaren gD können die Varietäten entsprechend dargestellt werden, indem entweder Merkmale oder Oberflächensuffixe zum Inhalt intersystemarer Er-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
setzungsregeln gemacht werden. Ein Beispiel
Abb. 14.8: Tiefenstruktureller Graph mit Bündeln syntaktischer Merkmale fü r die Merkmalregel wäre der Ersatz des hochsprachlichen Partizips gedacht durch gedenkt in rheinfränkischen Dialekten:
Durch diese Regel bleibt das Merkmal [3 Infinitiv] (= Partizip Perfekt) unberü hrt; lediglich die im Bezugssystem vorhandene „Unregelmäßigkeit“, die sich als [2 b Flexionsklasse] äußert, wird innerhalb der schwachen Flexion aufgehoben. In einem Beispiel üf r oberflächenstrukturelle Ersetzungsregeln sollen die Präsensendungen des Bezugssystems (deutsche Hochsprache) in den Systemen von 10 deutschsprachigen Großstädten dargestellt werden (s. Abb. 14.9.). Die Großstädte sind: D1 = Hamburg, D2 = Berlin, D3 = Leipzig, D4 = Köln, D5 = Frankfurt/M, D6 = Stuttgart, D7 = Zü rich, D8 = Nü rnberg, D9 = Mü nchen, D10 = Wien (vgl. dazu Veith 1977). Die Präsensendungen des Bezugssystems sind: 1. Sg. e, 2. Sg. st, 3. Sg. t, 1. Pl. en, 2. Pl. t, 3. Pl. en. In Abb. 14.9. ist die Numerusangabe wie folgt zu lesen: [1 Numerus] heißt Singular, [2 Numerus] heißt Plural. Die in den geschweiften Klammern ü bereinander stehenden Suffixe sind alternativ in der praktischen Verwendung. ist Null, Ausfall. Entsprechend wäre der erwähnte Einheitsplural bei einer großräumigen und gegebenenfalls kartographischen Wiedergabe nur
14. Theorieansätze einer generativen Dialektologie
287
Abb. 14.9: Die Präsensendungen in den Dialekten von 10 deutschsprachigen Großstädten dargestellt durch oberflächenstrukturelle Ersetzungsregeln oberflächenstrukturell zu fassen, da nicht die Spezifikationen des syntaktischen Merkmals der 1., 2. und 3. Person im Plural zusammengefallen sind, sondern nur die formalen Realisierungen. Das Fortbestehen der unterschiedlichen Pronomina der 1., 2. und 3. Person Plural bestätigt, daß die Tiefenstruktur in diesem Falle unberü hrt bleibt, wenngleich in anderem Zusammenhang auch ein Zusammenfall von Pronomina zu verzeichnen ist, z. B. bei Dativ und Akkusativ des Personalpronomens (mir, mich).
6.
Einige Ansätze zur generativen Beschreibung von Dialekten
Abgesehen davon, daß generative Dialektbeschreibungen noch sehr selten sind, kann nicht erwartet werden, daß die vorhandenen den hier diskutierten Beschreibungsverfahren folgen, zumal einige Aspekte davon erst hier weiterentwickelt worden sind. Als Beispiel eines infrasystemaren Ansatzes sei die Dissertation von Kelz (1969/1971) zum Pennsylvaniadeutschen genannt, die insgesamt neun generative Regeln enthält. Diese Regeln repräsentieren nicht das Pennsylvaniadeutsch schlechthin, weil man wegen der inneren Differenzierung des Pennsylvaniadeutschen von diversen Varietäten ausgehen mü ßte. Daher — und auch aus anderen Grü nden — kann eine tiefergehende Erörterung dieser Arbeit entfallen. Obwohl vergleichend, ist die erste ausüf hrliche und zugleich generative Darstellung althochdeutscher Dialekte aus der Feder von Voyles (1976) in sich mono- bzw. infrasystemar. Es werden unverbunden vier ahd. Dialekte gegenü bergestellt, wie sie sich in der Phonologie von Isidor, Benediktiner-
regel, Tatian und Otfrid spiegeln. Das Vorgehen von Voyles ist damit dem Verfahren i n den meisten kontrastiven Grammatiken vergleichbar, nämlich die unterschiedlichen Systeme desintegriert zu behandeln (zu einer kontrastiven generativen Grammatik vgl. Krzeszowski 1979). Während Voyles’ Darstellung synchron ist, da sie sich nur auf einen — freilich weit zur ü ckliegenden — Zeitabschnitt bezieht, versucht die umfassende Arbeit von King (1971), die historisch-dialektologische Perspektive und die gTG zu vereinbaren. Sie ist damit zwangsläufig intersystemar. King unterscheidet vier Typen des Sprachwandels im Zusammenhang mit der Entstehung und Veränderung von Dialekten: a) Wandel durch Regelhinzufügung, b) Wandel durch Regelverlust, c) Wandel durch Regelumordnung, d) Wandel durch Simplifizierung. Ein Beispiel fü r die „Hinzufü gung“ ist der Umlaut in den Systemen bestimmter germanischer Dialekte mit der generalisierten Form:
Diese Regel lautet: Ein Vokal wird palatalisiert, wenn er vor einem Konsonanten steht, dem ein hoher Vordervokal (z. B. i, ) oder ein entsprechender Halbvokal (im Sinne Kings) folgt (vgl. King 1971, 49). Kings Beispiele fü r b) Regelverlust und c) Regelumordnung sind anfechtbar und sollen hier nicht referiert werden. Aber die Simplifizierung d) ist fü r den Dialektologen insofern interessant, als sie sich an dem formalen, so-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
288
genannten Charakteristikzähler orientiert,
z.
B.
zum
Altenglischen:
Bei der ersten Regel werden alle Geräuschlaute vor der Wortgrenze stim m los (= 3 Charakteristika), bei der zweiten Regel sind es von den Geräuschlauten nur die Frikativa (= 4 Charakteristika). Somit ist die erste Regel simpler oder auch genereller (King 1971,
72). In diesem Zusammenhang erscheint auf den ersten Blick die Gegenü berstellung von drei deutschen Dialekten durch Becker (1967) bestechend, die King referiert hat (King 1971, 73; Becker 1967, 59):
Wie der Charakteristikzähler — von 5 nach 3 abfallend — zu belegen scheint, ist die sprachhistorische Simplifizierung bzw. Generalisierung seinerzeit von Norden nach ü S den vorangeschritten. Diese Vermutung ist aber nicht ohne weiteres akzeptabel, da sie aus dem Altenglischen abgeleitet worden ist und sich Erkenntnisse, die aus dem Altenglischen gewonnen wurden, nicht unbesehen auf deutsche Dialektbeschreibungen ü bertragen lassen. Im Altenglischen — man vergleiche die obigen Regeln zum Verlust der Stimmhaftigkeit vor Wortgrenze — mag die spezielle Regel mit den 4 Charakteristika sprachhistorisch durch die generelle mit den 3 Charakteristika ersetzt worden sein — und Vergleichbares gibt es auch in der deutschen Sprachgeschichte. Daraus aber, gestü tzt auf Kiparsky (1968), den Schluß zu ziehen, daß die Entwicklung immer so habe verlaufen mü ssen und daß folglich auch die deutschen Dialekte diese einseitige Entwicklung der tendenziellen Reduzierung von Regelcharakteristika widerspiegele, ist nicht zu rechtfertigen. Das Bestechende an Kings Ansatz ist, daß er den Sprachwandel durch innere Kausalität zu erklären versucht, wobei nicht mehr von der ‘case-vide’-Hypothese des taxonomischen Strukturalismus ausgegangen wird, sondern von Regeln. Jedoch ist zu fragen, ob Simplizität und Generalität des Regelgebrauchs gleichgesetzt werden können. Vielleicht erklärt diese Gleichsetzung die spekulative Hypothese Kings zur Verbreitung der 2. Lautverschiebung, nämlich „die Hochdeutsche Konsonantenverschiebung
scheint im Grenzgebiet zwischen Niederund Hochdeutsch begonnen (grob im Gebiet des Rheindeltas) und sich sü dlich mit wachsender Allgemeinheit ausgebreitet zu haben„ (King 1971, 118). Zwar haben Untersuchungen von Bruch (1955) und Schü tzeichel (2. Aufl. 1976) einen — wenngleich bescheidenen — Anteil des Luxemburgisch-Westmitteldeutschen an der 2. Lautverschiebung wahrscheinlich gemacht, aber die Vermutung, ihre Wiege stehe im Rheindelta, ist schlichtweg falsch. Entgegen der Hypothese Kings wissen wir auch, daß beispielsweise die nhd. Diphthongierung im Niederfränkischen und Ripuarischen sowie im Hochalemannischen eine spezielle Gü ltigkeit hat, da sie dort nur im Hiatus (und Wortauslaut) aufgetreten ist, während vor Konsonanten der Monophthong erhalten blieb: /ει/, /ɔυ/ im Hiatus gegenü ber /i:/, /u:/ vor Konsonanten. Etwas genereller ist die Regel im Moselfränkischen und östlichen Niederalemannischen, da dort in allen Umgebungen /ει/, /ɔυ/ gilt. Am generellsten ist die Regel in vielen mittel- und oberdeutschen Dialekten, da die Diphthongierung dort die Endstufe /ae/, /ao/ erreicht hat. Der Kingschen Hypothese zufolge hätte sich die Diphthongierung von Nord- und Sü dwesten her in zwei Stoßrichtungen ausbreiten mü ssen. Aus lateinischen und altdeutschen Texten des Mittelalters sowie aus Ortsnamen geht aber eindeutig hervor, daß die Diphthongierung im 12. Jahrhundert vom Sü dbairischen ausgegangen ist und sich im Laufe der Jahrhunderte bis nach Altpreußen verbreitet hat. Die Ausbreitungs-
14. Theorieansätze einer generativen Dialektologie
289
richtung ist also der Hypothese gegenü ber genau entgegengesetzt, und die Hypothese ist — zumindest in dieser radikalen Form, die auch andere Möglichkeiten ausschließt — nicht haltbar. Im ü brigen sei nachdrü cklich auf die umfangreiche Pilotstudie von Becker in Artikel 18 verwiesen, wo weitere generativ-dialektologische Untersuchungen — etwa di e von Newton 1972 — erörtert werden.
7.
Die Regelkarte als Darstellungsmittel
Das wichtigste Darstellungsmittel in der Dialektologie ist die Dialektkarte. In der gD ergibt sich auf Grund der intersystemaren Ersetzungsregeln ein neuer Kartentyp: die Regelkarte. Sie sei an vier Beispielen zur oberflächenstrukturellen, an zwei Beispielen zur merkmalsbezogenen Ersetzung im lautlichen Bereich und an einer synoptischen Karte erläutert. Die Karten entstammen der Arbeit von Veith 1972. Der Erläuterung bedü rfen einige Termini, die in diesem Artikel ansonsten nicht weiter berü cksichtigt worden sind. Antaxe, Abtaxe und Intaxe sind die Anlaut-, Auslaut und Inlautverkettung. Tagmiten sind die kleinsten syntagmatischen Verkettungsprodukte des heuristischen Prozesses; sie können im Darstellungsprozeß zu Tagm en zusammengefaßt werden. Besteht ein Tagma aus mehr als einem Element, so ist es im konsonantischen und sonantischen Bereich als Satellitentagm a dem Cluster vergleichbar; Kerntagm en beziehen sich auf Vokale. Basis bezieht sich nicht auf die Basis des gD-Modells, sondern heißt „Ausgangsbasis“, „Anfangselement“. Die Majoritätsregeln geben an, was normalerweise, d. h. am häufigsten, vorkommt; Minoritätsregeln bezeichnen die weniger häufigen Fälle. Kontrastsysteme sind hier Dialektsysteme; die Bezeichnung Kontrastsystem ist allgemeiner und könnte sich ebenso gut auf sozial bedingte oder zeitlich verschiedene Varietäten beziehen. Der Terminus Tiefenstruktur wird auf den Karten sehr weit gefaßt und begreift die Spezifikation der Formative durch distinktive Merkmale in der Basis des Modells mit ein. Karte 14.1 bezieht sich auf die anlautende Verkettung von b, p, f, pf mit Null, l und r in Paradigmen wie Bach, Blätter, braun, Puder, plagen, Preis, finden, fleißig, frei, Pfund, Pflaster, Pfriem. Wie aus der Legende zu entnehmen ist, stimmen die Satelliten-
Karte 14.1: Satelliten der Antaxe zur Basis B, P, F, PF (Oberflächenstruktur) (aus Veith 1972, Kar- te 1) tagmen des Bezugssystems (= deutsche Hochsprache) mit den Entsprechungen der Kontrastsysteme nicht ü berein. In K7 fällt p vor f aus und wird sonst zu b; in K1—6 und K8—14 wird pf zu p; p wird in K1, 7, 9, 11—14 vor den Sonanten l und r zu b. Der Zusammenhang zwischen K1 und vor allem K14 liegt darin begrü ndet, daß das Kontrastsystem K1 die mitteldeutsche Sprachinsel am Niederrhein repräsentiert, welche im 18. Jahrhundert von Siedlern aus den Kreisen Kreuznach, Simmern/Hunsrü ck, Alzey u. a. geschaffen wurde. Man könnte die Regeln auf Karte 1 auch so vereinfachen:
Die Reihenfolge dieser Regeln ist obligatorisch, da die Regel (R 3) die Ergebnisse von (R 2) einbezieht. Statt des fehlenden Indexes zum Element links vom Pfeil in (R 3) könnte dort auch stehen: B, K1—14. Eine möglicherweise erwü nschte Merkmalspezifikation der Regeln (R 1) bis (R 3) könnte auch auf einer Teilmatrix beruhen (das Vorhandensein von [+ kns] vorausgesetzt):
290
Es ließe sich also eine Regelkarte auf Merkmalbasis machen mit den Merkmalen [gespannt] und [abrupt] als Darstellungsgegenstand. Die Dreiteilung von Karte 1 spiegelt folgende Dialektgebiete wider: ganz ausgefü llte Kreise fü r das Niederdeutsche und Ripuarische, nicht ausgefü llte Kreise fü r das Rheinfränkische und der Kreis mit Innenschraffur fü r ein zwar noch auf westdeutschem Boden liegendes, dem Wesen nach aber thüringisches Dialektsystem. Karte 14.2 zeigt die landschaftliche Verteilung von g bzw. k — und zwar einzeln oder verkettet (als Satellitentagma). Im thü ringischen System K7 ist k in allen Anlaut(Antaxen-)positionen lenisiert, in K9, 11 in allen Positionen außer vor Vokal, und in den ü brigen Systemen entspricht k dem der Hochsprache. In den vier linksrheinischen Orten nördlich der Mosel ist g durchwegs j, in den drei niederdeutschen Orten mit dem Dreieckssymbol ist hochsprachlich g als fortisierte Spirans realisiert. Vielleicht wird spätestens bei dieser zweiten Karte aufgefallen sein, daß diese Regelkarten p a r a d i g m au n a b h ä n g i g sind und daß sie sich nicht nur durch die synoptische Zusammenfassung vieler Daten, sondern auch durch das Fehlen eines Paradigmas von den ü blichen Sprachkarten unterscheiden. Karte 2 sollte nicht die Frage beantworten, wie die Paradigmen ganz, gleich, groß, Kind, Knie, klein und Kranz in den 14 Systemen heißen, sondern was hochsprachlichen [g, gl, gr, k, kn, kl, kr] in den Dialekten entspricht.
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
Karte 14.2: Satelliten der Antaxe zur Basis G bzw. K (Oberflächenstruktur) (aus Veith 1972, Karte 3)
14. Theorieansätze einer generativen Dialektologie
291
dort bereits vollzogen war, m. a. W.: Die Auslautverhärtung bewegte sich in dem durch die Karte begrenzten Dialektausschnitt von ü S dosten nach Nordwesten, während gegenläufig dazu die Spirantisierung des [b] von Nordwesten nach Sü dosten das ü Th ringisch-Rheinfränkische erfaßte (die Sprachinsel K1 widerspricht dieser Annahme nicht, denn sie ist ja erst in jü ngster Vergangenheit entstanden). Bemerkenswert ist auch, daß nur das alte [b] spirantisiert wurde, nicht aber das lenisierte, unverschobene [p], was den Schluß auf eine zeitliche Koppelung von Spirantisierung und Lenisierung zuläßt. In Merkmalregeln ausgedrü ckt, sind folgende Vorgänge zu verzeichnen:
Karte 14.3: Satelliten der Abtaxe (Oberflächenstruktur); [B, P, PF, F]B im Wechsel mit [P, P, PF, F]B (aus Veith 1972, Karte 11) Karte 14.3 bezieht sich auf die Auslautverhärtung; U1 ist die Umgebung, welche keine Verhärtung gestattet, U2 ist diejenige, die sie zuläßt. In Merkmalen ausgedrü ckt, ist die Verhärtung der Übergang von [—gsp] zu [+ gsp], wie die Matrix zeigt: Dies betrifft das Bezugssystem und die Kontrastsysteme gleichermaßen. Lediglich die thü ringisch-rheinfränkischen Orte K7, 11, 13, 1 zeigen eine Fortisierung, die nicht recht passen will: ein (verhärtetes) [p] zu einer Spirans [v]. Da hier zwei Merkmale auf einmal verändert werden, was synchron unmotiviert ist, kann die Erklärung nur in einem zeitlichen Nacheinander liegen, nämlich darin, daß die Spirantisierung des [b] in Form von
die th ü ringisch-rheinfränkischen Orte erst erfaßte, als die Auslautverhärtung in Form von
Diese Merkmalregeln lassen sich oberflächenstrukturell durch Abb. 14.10. ausdrü kken. Bei gleichem Ausgangsstadium der Systeme K1, 7—14, die — im Gegensatz zu den niederdeutschen Orten K2—6 — von der 2. Lautverschiebung erfaßt worden waren, entwickelten sich K8—10, 12, 14 — den niederdeutschen Orten folgend — anders als die thü ringischrheinfränkischen. Die der Abb. 14.10. vorausgegangene Analyse mittels distinktiver Merkmale ist nicht nur kü rzer und rationeller als die Aufstellung in Abb. 14.10., sondern sie ist auch eine wichtige Erklärungshilfe, so daß auch auf eine entsprechende kontrastive Darstellung in Form von Ersetzungsregeln auf Merkmalbasis nicht verzichtet werden kann. Karte 14.4 bezieht sich ebenfalls auf die Abtaxe und zeigt die Gutturalisierung i n Form einer Zusammenfassung der Regeln. Auch hier handelt es sich also um eine Regelkarte, nur daß im Vordergrund der auf einen Belegort entfallenden Regeln deren Anzahl steht. Zur Erläuterung muß gesagt werden, daß Regel 1 im Vergleich zu Regel 2 die
292
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
umfassendere ist, m. a. W. Regel 2 ist die in bezug auf die Auslautgutturalisierung eingeschränkte Regel 1, so daß dort, wo Regel 1 gilt, auch die durch Regel 2 in der nichtverhärteten Auslautposition angegebene Gutturalisierung gilt; insofern gilt diese auch fü r die Belegorte K8, 10 und K5. Ferner muß berü cksichtigt werden, daß die in den Regeln 4 und 5 genannten Diphthonge des Bezugssystems sämtlich auf mhd. î, û, iu zurü ckgefü hrt werden mü ssen, während in der Umgebung der aus mhd. ei, ou, öu abzuleitenden nhd. Diphthonge keine Gutturalisierung eingetreten ist. Hier zeigt sich eine Schwäche des rein synchronen Verfahrens, da in der deutschen Hochsprache beide mhd. Reihen kontextfrei zusammengefallen und synchron nicht mehr unterscheidbar sind. Der Ausweg ist eine Markierung im Lexikon und die Arbeit mit Majoritätsregeln fü r Lexeme aus mhd. î, û, iu und Minoritätsregeln fü r die anderen. Die maximale Gutturalisierung liegt im Raum Köln (K8); mit zunehmender Entfernung wird sie schwächer, und im Moselfränkischen ist sie in einigen Gebieten nur noch auf Fälle wie hinten und unten beAbb. 14.10: Die rekonstruierte, sprachhistorische Abfolge von Veränderungen in 14 Dialektsyste- men (Oberflächenstruktur)
Karte 14.5: Tiefenstruktur in der Intaxe: Mittlere Reihe des Bezugssystems — kompakt, lang (aus Veith 1972, Karte 31) Karte 14.4: Synopse der Gutturalisierungen in der Abtaxe (quantitative Analyse) (aus Veith 1972, Karte 23)
14. Theorieansätze einer generativen Dialektologie
schränkt, während in K6, 7 noch eine Form der Gutturalisierung mehr erhalten geblieben ist, nämlich bei -nd- in Paradigmen wie Hunde, Kinder — also in Positionen, die nicht auslautverhärtend sind. Die erkennbare Trichterbildung ist u. a. von Th. Frings und K. Wagner mit der Ostwanderung rheinischer Siedler bei der hoch- bis spätmittelalterlichen Ostkolonisation in Verbindung gebracht worden. Auf den Karten 14.5 und 14.6, den beiden Merkmalkarten, schließlich soll die mittlere Reihe der langen Vokale [e:, ø: , o:] dargestellt werden. Auf Karte 5 ist zu erkennen, daß sechs Dialektsysteme (K1—3, 7—9) in bezug auf den Öffnungsgrad und die Quantität mit dem Bezugssystem ü bereinstimmen. Eine weitgehende Konkordanz liegt vor in K12—14, wo nur [ø:] z. B. in böse zu [i:] bzw. [y:] gehoben worden ist; ferner in K10, wo Kü rzung vorliegt. In K11 haben wir eine vollständige Hebung — [e:, ø:, o:] in beten, böse, rot werden also zu [i:, i:, u:] (vgl. Karte 6). In K4—6 liegt eine Diphthongierung vor. Aus
Karte 14.6: Tiefenstruktur in der Intaxe: Mittlere Reihe des Bezugssystems — akut, rund, lang (aus Veith 1972, Karte 32)
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dem Vergleich der Karten 5 und 6 läßt sich das Verhältnis von [akt] und [rnd] ableiten: K4 hat iä, üä, au; K5iä, üä, uä; K6iä, üä, uo. Auf Karte 6 stimmen mit dem Bezugssystem ü berein K2, 3, 8, 9, 12 und mit Entrundung auch K1, 7, 11, 13, 14. Im System von K10 ist die mittlere Reihe der Langvokale gekürzt. Diese Merkmalkarten sind zugegebenermaßen datenmäßig strapaziert, wenn nicht gar ü berlastet. Was hauptsächlich gezeigt werden sollte, ist die Synopse mehrerer Merkmalkombinationen, obwohl bereits mit einem einzigen Merkmal eine Fü lle von Daten, regional variierend, verkartet werden kann. Läßt man beispielsweise auf Karte 6 die Länge und den Diphthongcharakter unbeachtet, so fällt auf, daß in allen Belegorten außer den sü döstlichen (K7, 11, 13, 14 — wozu auch K1 gerechnet werden muß) der mittlere Vokal gerundet bleibt, während sonst Entrundung eingetreten ist und insofern auch eine ganz andere regionale Gliederung zustande kommt. Karte 14.7 soll als Synopse aller Ersetzungsregeln fü r die A n l a u tverkettung (Antaxe) gelten und ist somit eine quantitative Regelkarte. Eine Identität zwischen dem Bezugssystem der deutschen Hochsprache und irgendeinem der 14 Kontrastsysteme besteht nicht. Dem Bezugssystem am ähnlichsten sind die Kontrastsysteme K13, 14 und K1; die
Karte 14.7: Quantitative Analyse der Antaxe: Konkordanzen von Kontrast- und Bezugssystem auf Grund der Ersetzungsregeln (aus Veith 1972, Karte 8)
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
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zweitgrößten Konkordanzen weisen die ripuarischen und die niederdeutschen Systeme K3—5, 8, 10 auf; die größten Diskordanzen belegen die im Kartenausschnitt mittleren Orte des moselfränkischen-nordhessisch-waldekkisch-thü ringischen Raumes mit den Belegen K6, 7, 9, 11—12. Dabei ist zu berü cksichtigen, daß diese Karte nur die Ersetzungsregeln der Antaxe zusammenfaßt. Diese geringe Auswahl von Dialektkarten, die zudem ein recht dü nnes Belegnetz aufweisen und schon deswegen nur exemplarisch gewertet werden dü rfen, sollte dokumentieren, daß die neuen Beschreibungsmethoden der generativen Dialektologie (gD) auch neue Formen des wichtigsten Darstellungsmittels der Dialektologie zur Folge haben, nämlich Sprachkarten als Regelkarten.
8.
Literatur in Auswahl
Abraham 1972 = Werner Abraham: Einleitung. In: Werner Abraham/Robert I. Binnick (Hrsg.): Generative Semantik. Frankfurt/M. 1972 (= Linguistische Forschungen Bd. 11), VII—XVIII. Abraham /Binnick 1972 = Werner Abraham/Robert I. Binnick (Hrsg.): Generative Semantik. Frankfurt/M. 1972 (= Linguistische Forschungen Bd. 11). Becker 1967 = Donald A. Becker: Generative phonology and dialect study: An investigation of three modern German dialects. Diss. Austin, University of Texas, 1967 (Microfilm). Bergenholtz/Mugdan 1979 = Henning Bergenholtz/Joachim Mugdan: Einfü hrung in die Morphologie. Stuttgart (u. a.) 1979 (= Urban TB 296). Bruch 1955 = Robert Bruch: Die Lautverschiebung bei den Westfranken. In: ZMF 23. 1955, 129—147. Chom sky 1965/1969 = Noam Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge 1965. Deutsch: Aspekte der Syntaxtheorie. Frankfurt 1969 (mehrere Nachdrucke). Chom sky 1970 = Noam Chomsky: Remarks on Nominalization. In: Roderick A. Jacobs/Peter S. Rosenbaum (Hrsg.): Readings in English Transformational Grammar. Waltham, Mass. (u. a.) 1970, 184—221. Chom sky 1971 = Noam Chomsky: Deep Structure, Surface Structure, and Semantic Interpretation. In: Danny D. Steinberg/Leon A. Jakobovits (Hrsg.): Semantics: An Interdisciplinary Reader in Philosophy, Linguistics and Psychology. Cambridge 1971, 183—216. Chom sky 1972 a = Noam Chomsky: Some Empirical Issues in the Theory of Transformational Grammar. In: Peter S. Peters (Hrsg.): Goals of Linguistic Theory. Englewood Cliffs, N. J. 1972, 63—130.
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15. Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie
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295
Veith 1970 = Werner H. Veith: Universalität und Sprachimmanenz bei binären und ternären Merkmalmodellen. In: ZDL 37. 1970, 280—304. Veith 1972 = Werner H. Veith: Intersystemare Phonologie. Berlin u. New York 1972. Veith 1977 = Werner H. Veith: Zur Variation der deutschen Verbflexion. In: Muttersprache 87. 1977, 149—158. Voyles 1976 = Joseph B. Voyles: The Phonology of Old High German. Wiesbaden 1976 (= ZDL Beihefte N. F. 18). Weinreich 1954 = Uriel Weinreich: Is a structural dialectology possible? In: Word 10. 1954, 388—400. Welte 1974 = Werner Welte: Moderne Linguistik: Terminologie, Bibliographie. Ein Handbuch und Nachschlagewerk auf der Basis der generativtransformationellen Sprachtheorie. 2 Bde. M ü nchen 1974. Wurzel 1970 = Wolfgang Ullrich Wurzel: Studien zur deutschen Lautstruktur. Berlin 1970 (= studia grammatica VIII).
Werner Heinrich Veith, Mainz
15. Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Vorbemerkung Gegenstandsbereich Forschungsgebiete und Theorieansätze einer kommunikativen Linguistik Kommunikative Ansätze innerhalb der deutschen Dialektologie Forschungsdesiderata einer kommunikativen Dialektologie Literatur (in Auswahl)
Vorbemerkung
Die ‘pragmatische Wende’ der Linguistik beeinflußt in zunehmendem Ausmaß auch Forschungsfragen und -ziele der Dialektologie; gleichwohl sind wir — von ersten Theorieansätzen abgesehen — von einer ‘kommunikativen’ Dialektologie noch einigermaßen weit entfernt. Diese Forschungslage sowie die allgemeine Disparatheit dieses Gebietes läßt es geraten erscheinen, nach einer vorläufigen Bestimmung des Gegenstandsbereiches (1) zunächst generelle Voraussetzungen, Möglichkeiten und Forschungsrichtungen kommunikationsorientierter linguistischer Positionen ü berhaupt zu erörtern (2). Diese Darstellung fungiert in der weiteren Folge als
theoretischer Hintergrund und Bezugsrahmen nicht nur fü r die Standortbestimmung bereits existierender kommunikationsorientierter dialektologischer Arbeiten (3), sondern ebenso fü r die Entwicklung potentieller Aufgabengebiete einer kommunikationsorientierten Dialektologie (4).
2.
Gegenstandsbereich
2.1 Seit der Etablierung der neueren Sprachwissenschaft ist das vorherrschende Forschungsparadigma der Linguistik auf die systematische Beschreibung der Sprache als autonomer Gegenstand gerichtet. Dies bedeutet eine Verdinglichung, eine statische Sicht, die jede Änderung innerhalb des i n sich geschlossenen Systems dysfunktional erscheinen läßt, und, damit untrennbar verbunden, die Annahme einer absoluten Homogenität dieses Systems innerhalb einer — ebenfalls als homogen angesehenen — Sprachgemeinschaft. Gegen diese Konzeption sind insbesondere im letzten Jahrzehnt aus der Sicht kommunikationsorientierter Ansätze zunehmend kritische Einwände erhoben worden, wobei
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
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vor allem folgende Fragenkomplexe im Mittelpunkt stehen: — Eine natü rliche Sprache stellt keinesfalls ein homogenes System dar, sondern ist vielmehr gekennzeichnet durch eine umfassende Variabilität (vgl. auch Art. 87). Neben vernachlässigbaren idiosynkratischen Abweichungen existiert eine geregelte Form der sprachlichen Variation in Abhängigkeit von makro-sozialen, situativen, geographischen und historischen Parametern. Diese Variablität ist nur dann zu erfassen, wenn außersprachliche Faktoren systematisch in die sprachwissenschaftliche Untersuchung einbezogen werden. — Die Sprecher einer Sprache sind nicht als homogene Sprachgemeinschaft zu denken, sondern stellen eine heterogene Menge von Individuen dar, deren Verhaltensweisen, Deutungsschemata, Wertsysteme, kognitive Strukturen etc. aus komplexen Prozessen sozialer Normierung und Differenzierung resultieren. Die Sprache spiegelt als integraler Bestandteil der menschlichen Lebensform in vermittelter Weise diese Lebensform wider; sie fungiert damit als Symbol, das es ermöglicht, Sprecher auf ihre soziale Biographie und regionale Identität hin einzuschätzen. — Sprache kommt primär nicht in isolierten Wörtern und Sätzen, sondern in kommunikativ funktionierenden Äußerungen vor; sie wird dazu gebraucht, um in verbalen Interaktionen bestimmte Intentionen zu realisieren. Kommunikative Äußerungen sind, indem sie soziale Situationen konstituieren und modifizieren, sozial relevante Handlungen; Sprachtheorie ist somit Teil einer umfassenderen Handlungstheorie, die die allgemeinen Bedingungen und Regeln menschlichen Handelns zum Inhalt hat. 2.2 Der traditionelle Gegenstandsbereich der Dialektologie umfaßt die Beschreibung und den Vergleich einzelner diatopischer Subsysteme, wobei phonetisch-phonologische und lexematische Untersuchungen im Mittelpunkt stehen. Durch eine kommunikationsorientierte Analyse ergeben sich somit Konsequenzen in zweierlei Hinsicht: — eine Ausweitung bisheriger Fragestellungen durch die Einbeziehung neuer Beschreibungsebenen, z. B. der Erforschung diatopisch-differenzierter Sprechakte, Sprechmuster u. dgl. (vgl. 5.2); — eine Uminterpretation des Gegenstandsbereiches: Ziel ist nicht mehr aus-
schließlich die möglichst vollständige Beschreibung bzw. der Vergleich diatopischer Subsysteme, sondern die Analyse der kommunikativen Funktion(en) von Dialekten innerhalb bestimmter Sprechergemeinschaften (vgl. 5.3), wobei als ‘Kontrastsystem’ eine funktional unterschiedliche Varietät fungiert. Eine scharfe Trennlinie zwischen regionalen und sozialen Ursachen differierender Varietäten erscheint dabei kaum schlü ssig und sinnvoll bestimmbar.
3.
Forschungsgebiete und Theorieansätze kommunikativer Linguistik
Die Überwindung der Reduktionen der autonomen Linguistik kann als gemeinsamer Nenner der hier als kommunikationsorientiert verstandenen Ansätze angesehen werden. Im ü brigen handelt es sich um ein äußerst heterogenes Forschungsgebiet, das im folgenden aus jeweils unterschiedlicher Perspektive strukturiert und systematisiert werden soll. 3.1 Sprachverwendungstheorie vs. Sprachhandlungstheorie Eine Divergenz einzelner Positionen ergibt sich durch das unterschiedliche Ausmaß der Revision von Axiomen der strukturellen Linguistik. Die Skala der Berü cksichtigung kommunikationsorientierter Aspekte reicht dabei von der einfachen Erweiterung der generativen Grammatik um Anwendungskomponenten ü ber verschiedene Stufen einer zunehmend ‘integrativen’ Sicht von Sprache und Sozialstruktur bis hin zur Konzeption einer Sprachhandlungstheorie, die den kommunikativ-funktionalen Einsatz der Sprache als integralen Bestandteil kommunikativer Alltagsinteraktion zum Ausgangspunkt der Analyse macht. Im ersten Fall handelt es sich um Ansätze, die zumeist unter dem Begriff ‘Sprachverwendungstheorie’ subsumiert werden. Sie fü gen zu den formalen Regeln einer Sprache noch ein weiteres Regelsystem hinzu, das den je situationsadäquaten Einsatz sprachlicher Mittel beschreiben soll. Es handelt sich hier also im wesentlichen um eine ‘additive’ Einf ü hrung kommunikationsorientierter Komponenten. Dieses Vorgehen ist charakteristisch fü r alle im weiteren Sinne ‘korrelativen’ Ansätze (vgl. 3.3.1.1): Sprache und Sozialstruktur werden als zwei voneinander
15. Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie
prinzipiell unabhängige Entitäten angesehen; obwohl offensichtlich gewisse Wechselbeziehungen bestehen, ändert dies nichts an der Annahme eines autonomen Charakters der Sprache. Von grundsätzlich anderen Prämissen geht demgegenü ber eine konsequent durchgefü hrte Sprachhandlungstheorie aus: Dabei wird Kommunikation als Handlungsform begriffen, die sich zwar von anderen Interaktionsformen durch die Verwendung semiotischer Systeme unterscheidet, aber nicht ausschließlich auf sprachliche Phänomene reduziert werden kann. Eine vollständige Analyse der kommunikativen Funktion von Äußerungen setzt somit eine Reihe von Theorien voraus; neben einer Theorie der sprachlichen Kompetenz sind dies vor allem psychologische Theorien ü ber die Verarbeitung und Planung der Umwelt und eine Theorie der Interaktion. Dieses Forschungsziel einer integrativen Analyse wurde bereits von verschiedenen Seiten in Angriff genommen, wobei fü r unseren Zusammenhang vor allem die Ansätze der Sprechakttheorie und der Konversationsanalyse sowie der Ethnographie des Sprechens/der Kommunikation zu verfolgen sind (vgl. 3.3.1.2 und 3.3.2). 3.2 Grundlagentheoretische Standorte: Objektivistische vs. interpretative Positionen Kommunikationsorientierte Theorieansätze sind des weiteren danach voneinander abzugrenzen, von welchem grundlagentheoretischen Standort aus sie den sozialen Prozeß der kommunikativen Interaktion betrachten. Als ‘objektivistisch’ können Positionen bezeichnet werden, die Interaktionsprozesse ‘von außen’ betrachten: Situationsdefinitionen werden nicht an die individuellen Interpretationsleistungen der Interaktionsteilnehmer gebunden, sondern an äußeren Situationsfaktoren festgemacht. Grundlegend ist dabei die These, daß soziales Handeln determiniert ist durch die von einem Handelnden erworbenen Dispositionen und von den (durch Sanktionen abgest ü tzten) Erwartungen, die an ihn herangetragen werden. Dispositionen und Erwartungen sind an soziale Positionen geknü pft und erscheinen deshalb in Form bestimmter Sozialdaten operationalisierbar (vgl. Art. 33). Unterstellt wird zudem ein fü r alle Gesellschaftsmitglieder verbindliches System von sozialen Normen, das sowohl dem Forscher als kompetentem Mitglied die Erstellung eines relevanten Katego-
297
rienrasters vorab ermöglicht, als auch die wechselseitigen Entsprechungen der jeweiligen Situationsdefinitionen der Interaktanten absichert. Die Auffassung, daß die Teilnehmer an Kommunikationssituationen Inhaber bestimmter sozialer Positionen seien, die ihr jeweiliges Verhalten determinierten, kennzeichnet auch die meisten soziolinguistischen Arbeiten: Aufgrund bestimmter Sozialdaten (Beruf, Ausbildung, Einkommen, Konsumgewohnheiten) wird ein Sprecher sozial ‘festgelegt’ und seine soziale Position mit seinen Sprachverwendungsweisen (phonologische, lexikalische, syntaktische Merkmale) verglichen. Durch die damit zumeist verbundene quantifizierende Betrachtung erscheinen Interdependenzen zwischen sozialer Position und Sprache als statistisch signifikante Auftretensunterschiede bestimmter sprachlicher Variablen. Probleme ergeben sich vor allem in der Frage der Adäquatheit der verwendeten Kategorien. Besonders deutlich wird dies z. B. im Konzept der ‘Redekonstellationen’ (vgl. Steger 1973, Steger u. a. 1974), das als Versuchsanordnung in den meisten bisherigen kommunikationsorientierten dialektologischen Arbeiten Anwendung gefunden hat (vgl. 4.2.1.2). Darin wird eine vom Beobachter herangetragene ‘objektive’ Situationsdefinition als Kommunikationsrahmen vorausgesetzt, von dem die linguistische Analyse auszugehen hat. Durch die fehlende Bezugnahme auf inhaltlich bestimmte sprachliche Handlungen ist es nahezu unmöglich, Redekonstellationen voneinander abzugrenzen, deren Ähnlichkeiten sich bloß auf Äußerlichkeiten beschränken (z. B. ‘Verhör’ und ‘Interview’; vgl. Hennig/Huth 1975). Problematisch ist auch die statische Sicht kommunikativer Prozesse, die die Tatsache unterschlägt, daß es innerhalb des gleichen Kommunikationsrahmens infolge differierender Interaktionsziele, Handlungsmuster und -strategien zu ständigen wechselseitigen Redefinitionen der Kommunikationssituation kommt, die fü r die sprachliche Bewältigung der Situation ausschlaggebend sind. Von einem anderen Ansatzpunkt gehen demgegen ü ber ‘interpretative’ Positionen aus, wie sie z. B. in interaktionistischen (soziolinguistischen) Arbeiten und der Konversationsanalyse vorliegen. Diesen Ansätzen gemeinsam ist eine Sicht des Interaktionsprozesses ‘von innen’, aus der Perspektive der Interagierenden — nur so könne der
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Sinn des sozialen Handelns erforscht werden, nur so ließen sich adäquate Beschreibungskategorien ü berhaupt erst finden. Kommunikationssituationen werden nicht nur deshalb als ‘sozial’ aufgefaßt, weil die Teilnehmer sozial determinierte Personen sind, sondern „weil die Teilnehmer in ihnen mittels Interaktionsprozeduren und Deutungsschemata ihre je besondere soziale Situation realisieren, gegebenenfalls auch ihre sozialen Beziehungen erst ausarbeiten„ (Wunderlich 1976, 17 f.). Wesentlich fü r die Analyse des sozialen Handelns sind nicht allein die objektiv feststellbaren äußeren Faktoren, sondern vielmehr, daß (und wie) der Handelnde selbst bestimmte Elemente der Situation als relevant auswählt und interpretiert. Aus der Erkenntnis, daß sich die Komplexität sozialer Handlungen auch durch feinste Meßmethoden nicht in den Griff bekommen läßt, resultiert die weitgehende Ablehnung quantifizierender Vorgangsweisen und die Hinwendung zur differenzierten ‘qualitativen’ Deskription von Interaktionsprozessen. Die Gefahr interpretativer Ansätze liegt wohl weniger in der oftmals von objektivistischer Seite aus monierten ‘Subjektivität’, der ‘Unü berprü fbarkeit’ von ad hoc erstellten Kategorien, sondern eher darin, daß die Analyse einer reinen Kasuistik verhaftet bleibt und durch ihre radikale Betonung der Kontextsensitivität keine Systematisierung und Generalisierung ihrer Ergebnisse zu leisten vermag. 3.3 Soziolinguistische vs. pragmalinguistische Forschungsfragen Die gebräuchlichste Differenzierung kommunikationsorientierter Ansätze ist die nach inhaltlichen Schwerpunkten bzw. nach dem spezifischen Erkenntnisinteresse, das der Transzendierung ‘systemlinguistischer’ Ansätze zugrundeliegt. Dabei läßt sich die Vielzahl möglicher Positionen grob in soziolinguistische und pragmatische Fragestellungen gliedern, wenngleich die Grenzen keinesfalls scharf gezogen werden können: Beide Richtungen sind in sich äußerst heterogen, ü berschneiden sich zudem teilweise in ihren Forschungszielen und mü ßten letztlich in einer Sprachhandlungstheorie konvergieren. 3.3.1 Erkenntnisleitendes Interesse jeder soziolinguistischen Arbeit ist die Aufdeckung des Zusammenhanges von Sozial- und Sprachstruktur. Ausgehend von der Annahme, daß sich gesellschaftliche Differenzie-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
rung in der Sprache niederschlägt, werden sozialschichtspezifische bzw. gruppenspezifische Sprechweisen in verschiedenen sozialen Situationen untersucht. 3.3.1.1 Korrelative Ansätze 3.3.1.1.1 Theorie schichtspezifischer Kodes Die Kode-Theorie des englischen Soziologen Bernstein untersucht den Einfluß von sozialer Schichtzugehörigkeit auf Kognition und psychische Instanzen der sprachlichen Kodierung. Bernstein stellt Unterschicht und Mittelschicht einander gegen ü ber, verneint die Existenz einer fü r beide Schichten gemeinsamen Kultur und postuliert differente, schichtspezifische Systeme von Sozialbeziehungen, die fü r schichtspezifische Sprechkodes (elaborated vs. restricted code) verantwortlich sind. Dabei wird nicht von der Annahme differenter eigenständiger Kommunikationssysteme/Sprachvarietäten ausgegangen, sondern eine fü r alle Gesellschaftsmitglieder prinzipiell gleiche Sprache im Sinne einer autonomen ‘langue’ unterstellt, die jedoch schichtspezifisch in unterschiedlichem Ausmaß zur Verfü gung steht. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint das Sprachverhalten (und — aufgrund der sprachdeterministischen Position Bernsteins — auch die kognitive Leistungsfähigkeit) der Unterschicht als ‘restringiert’, als ‘defizitär’ (‘Defizithypothese’) (vgl. auch Art. 89). Trotz vielfacher theoretischer und methodischer Unzulänglichkeiten (insbesondere auch in linguistischer Hinsicht) wurde der hier angesprochene Zusammenhang von Sprechweise, kognitivem Potential und sozialer Privilegierung/Depravierung zum Gegenstand einer breiten und heftigen Diskussion innerhalb der sich damit etablierenden deutschen Soziolinguistik und auch partiell innerhalb der (sozial engagierten) Dialektologie (vgl. 3.2). 3.3.1.1.2 Variationistische Ansätze Diese Richtung nimmt in der bisherigen Entwicklung der Soziolinguistik einen zentralen Stellenwert ein; besonders wichtig geworden sind die Arbeiten von Labov (1963, 1968). Labovs Position ist geprägt von der Annahme einer systematischen Heterogenität der Sprache. Diese Systematik der sprachlichen Variation wird dann erkennbar, wenn nicht das Sprachverhalten eines einzelnen
15. Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie
Sprechers, sondern das einer ganzen sozialen Gruppe untersucht wird: Was im individuellen Bereich als unstrukturierter, zufälliger Wechsel zwischen verschiedenen Sprachformen interpretiert werden muß, erweist sich bei der Betrachtung sozialer Gruppen als systemhaft und geordnet. Die Korrelation sprachlicher und außersprachlicher Faktoren liefert sowohl in makrosoziologischer (schichtspezifische Sprechweisen) als auch in mikrosoziologischer Dimension (situationsspezifische Sprechweisen) signifikante Ergebnisse: Ein Wechsel der situativen Bedingungen zieht eine Änderung des Sprachverhaltens nach sich; so bewirkt z. B. die zunehmende Formalität der Sprechsituation bzw. der zunehmende Grad sprachlicher Aufmerksamkeit und Bewußtheit eine zunehmende Unterdrü ckung sozial negativ bewerteter Sprachmerkmale im Sinne einer Annäherung an eine Standard- bzw. Prestigenorm. Im Hinblick auf die theoretische Bewertung und Beschreibung sprachlicher Variabilität sind innerhalb der variationistischen Ansätze zwei unterschiedliche Positionen auszumachen, die durch die Annahme quantitativ feststellbarer variabler Regeln auf der einen Seite (Labov, Fasold, Sankoff) und der Annahme diskreter Ebenen, implikatorisch geordneter Variablen-Skalen im Sinne von Codes, Registern und Stilen auf der anderen Seite (DeCamp, Bickerton, Bailey) charakterisiert sind. Während die Vertreter des ‘quantitativen Paradigmas’ von kontinuierlicher Skalierung der Häufigkeitsausprägungen einzelner variabler sprachlicher Regeln in Abhängigkeit von sprachlicher Umgebung und sozialen Bedingungen ausgehen, ist im zweiten Fall lediglich von Interesse, ob bestimmte Regeln vorkommen oder nicht; es wird versucht, mit Hilfe von Implikationsskalen sprachliche (Stil-)Ebenen zu eruieren (vgl. 4.3 und 5.1.2). Durch die intensive Erforschung des sprachlichen Interaktionsverhaltens ethnischer und sozialer Gruppen in differierenden Situationen (im Unterschied zu Bernsteins Datenerhebung in ‘Laborsituation’) gelangt Labov zu einer anderen Einschätzung der Sprache sozialer Unterschichten als beispielsweise Bernstein: Es handle sich dabei um kein ‘defizitäres’, sondern lediglich um ein von der Standardnorm differentes System, das eigenen Regeln folge und in den jeweiligen Kommunikationssystemen der Gruppe funktional dieselben Leistungen erbringe wie die Standardnorm in anderen so-
299
zialen Gruppen (‘Differenzhypothese’). 3.3.1.1.3 Forschungen zu Bilingualismus und Diglossie Im Mittelpunkt dieser Ansätze steht die Frage nach der spezifischen sozialen Funktion unterschiedlicher Sprachvarietäten innerhalb einer bestimmten Region. Die strenge Fassung des Diglossiebegriffes, wie sie von Ferguson (1959) in der Weiterf ü hrung Weinreich’scher Überlegungen (Weinreich 1953) vorgenommen wurde (vgl. auch Art. 52 u. 87), geht dabei von jenen Fällen aus, wo einer (von der sozialen Bewertung her gesehen) ‘low variety’, die den Bereich mü ndlicher Kommunikation in familiär-freundschaftlichen Interaktionsbeziehungen abdeckt, eine ‘high variety‘ gegenü bersteht, die in ‘höheren’ sozialen Bereichen sowie in schriftlicher Kommunikation Verwendung findet (z. B. im politisch-administrativen, schulischen, religiösen und literarischen Institutionen). Fishman (1972) verbindet diesen Ansatz der Diglossie mit der Untersuchung von Bi(und Multi-)lingualismus. Fü r eine systematische Analyse schlägt er ein stufenweises Fortschreiten von makrosoziologischen Fragestellungen (Auftreten und Funktion von Bilingualismus in Sprachgemeinschaften und Lebensbereichen/‘language domains’) zu Untersuchungen im mikrosoziologischen Bereich vor. Je enger dieser soziologische Bezugsrahmen wird, desto stärker wird die Verknü pfung mit interaktionistischen Ansätzen; dies betrifft vor allem die Untersuchung der Sprachverwendung in konkreten Interaktionsnetzen und Interaktionstypen (vgl. 3.3.1.2 und 5.3.1). 3.3.1.2 Interaktionistische Soziolinguistik: Die Ethnographie der Kommunikation Im Gegensatz zur korrelativen Soziolinguistik geht diese Richtung davon aus, daß Sprache und Gesellschaft nicht als zwei von einander unabhängige Größen angesehen werden können, die jeweils verschiedene Arten von Realität konstituieren, sondern daß sprachliche und soziale Informationen untrennbar innerhalb eines kommunikativen Systems miteinander verbunden sind. Sprachliche wie soziale Symbole sind dabei jedoch keine invarianten Qualitäten: Soziale Funktionen des Sprechens, die Angemessenheit von Varietäten fü r bestimmte Anlässe,
300
die Soziosemantik einzelner Varianten, auch die spezifische Form und Bedeutung sozialer Kategorien wie Status und Rolle „werden erst in aktuellen, sich dynamisch entwickelnden Interaktionssituationen ausgehandelt, interpretiert und (re-)konstruiert“ (Alltagswissen 1973, 398). Aus diesen Prämissen ergibt sich zwingend, daß auch jegliche Beschreibung kommunikativer Strukturen vom Zentralbegriff der Interaktion auszugehen hat. Vor diesem theoretischen Hintergrund hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine kommunikationsorientierte Forschungsrichtung etabliert, die konsequent die soziale Interaktion in den Mittelpunkt stellt: die ‘Ethnographie der Kommunikation’ (bzw. — auf den explizit sprachlichen Teil von Äußerungen beschränkt — die ‘Ethnographie des Sprechens’; vgl. Hymes 1964). Erkenntnisleitendes Forschungsinteresse ist die Suche nach Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten fü r die Tatsache, daß die empirisch beobachtbaren sprachlichen Varietäten und Varianten innerhalb einer Sprachgemeinschaft von einem Regelsystem des Sprachgebrauchs gesteuert werden, das spezifische Kenntnis- und Wissenssysteme der Sprachteilnehmer reflektiert: „Communication is not governed by fixed social rules; it is a two-step process in which the speaker first takes in stimuli from the outside environment, evaluating and selecting from among them in the light of his own cultural background, personal history, and what he knows about his interlocutors. They then decide on the norms that apply to the situation on hand. These norms determine the speakers selection from among the communicative options available for encoding his intent.” (Gumperz 1972, 15)
Um dieses vielschichtige Beziehungsgefü ge in den Griff zu bekommen, schlagen Gumperz und Hymes eine umfassende ethnologische Beschreibung kommunikativer Interaktionen vor, die neben der explizit sprachlichen Dimension auch Basisregeln der Interaktion, Regeln der Gesprächsfü hrung, Aufbau von Handlungsmustern etc. (vgl. 3.2.3), paralinguistische und extraverbale (kommunikativ relevante) Verhaltensformen untersucht. Einen zentralen Platz nimmt darin der Begriff der ‘speech community’ ein, der nicht mit dem der ‘Sprachgemeinschaft’ (z. B. im Sinne Chomskys) gleichgesetzt werden kann: Der Geltungsbereich der angesprochenen Regeln des Sprachgebrauches
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
umfaßt nicht — wie etwa der phonologischer oder syntaktischer Regeln — ‘jeden’ Sprecher einer Sprache, sondern bleibt beschränkt auf soziale (ethnische, lokale, religiöse, etc.) Gruppen, die durch ein engeres Kommunikations- und Interaktionsnetz, als es in der Gesamtgesellschaft möglich ist, ausgezeichnet sind. Von da aus ergibt sich erst die Möglichkeit des Vorhandenseins eines gemeinsamen Wert- und Wissensystems, das die Interaktions- und Interpretationsregeln, die situations- und personenspezifische Auswahl von Varianten und ihre soziale Bedeutung bestimmt. Die wichtigste Untersuchungseinheit ist das ‘Sprechmuster’ (speech event). Darunter sind spezifische Kommunikationsanlässe und -aktivitäten zu verstehen, die als Einheit erkennbar und in verschiedenen situativen Umgebungen realisierbar sind; diese Einheiten sind zumeist gekennzeichnet durch bestimmte sprachliche Ablaufmuster und damit korrespondierende außersprachliche Verhaltensweisen, oftmals auch durch quasiritualisierte Anfangs- und Schlußsequenzen. 3.3.2 In primär pragmalinguistisch orientierten Ansätzen stehen die Strukturen und Regeln (Verwendungsbedingungen) einzelner Sprechakte bzw. die strukturellen Muster komplexerer Sprachhandungen im Vordergrund, die Frage nach der sozialen Symbolfunktion der Sprache im Sinne gruppenspezifischer Sprechweisen tritt zurück. 3.3.2.1 Untersuchungen zur gesprochenen Sprache in Deutschland Es handelt sich dabei um keine genuin pragmatische Richtung, sondern um eine Forschungstradition, deren Zielsetzung vorwiegend auf die Untersuchung syntaktischer Phänomene nat ü rlicher, ‘spontan’ gesprochener Sprache gerichtet ist (vom Standpunkt der Dialektologie aus besonders interessant z. B. Baumgärtner 1959, Zimmermann 1965). In den fast ausschließlich kontrastiv angelegten Studien wurde gesprochene Sprache entweder als von der geschriebenen Sprache abweichendes System mit eigenen syntaktischen Gesetzmäßigkeiten oder als ‘defizitäres’ System aufgefaßt (Leska 1965). Mit der Rezeption sprechakttheoretischer und konversationsanalytischer Forschungen verschiebt sich das Interesse zunehmend auf die kommunikative Funktion des Sprechens, auf die Erforschung von Dialogen und Dialogstrukturen (Berens et al. 1976).
15. Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie
3.3.2.2 Sprechakttheorie Die in der Tradition der Ordinary Language Philosophy entstandene Sprechakttheorie geht von einem funktionalen Bedeutungsbegriff aus, der den Verwendungsaspekt der Sprache in den Mittelpunkt stellt. Damit wird explizit der Handlungscharakter des Sprechens thematisiert. Dieser fü r die sprachtheoretische Diskussion entscheidend wichtig gewordene Ansatz weist allerdings — bedingt durch seine spezifisch sprachphilosophische ‘universelle’ Fragestellung — Beschränkungen auf, die seine Verwendung in empirischen linguistischen Untersuchungen als inadäquat erscheinen lassen. Besonders problematisch erscheint die Beschränkung auf einzelne idealisierte Sprechakte, die aus einer monologisch-sprecherbezogenen Pespektive analysiert werden: Die kommunikative Funktion einer Äußerung ist nicht allein aus illokutionären Indikatoren (performative Verben, Satztyp, Partikel, Intonation, etc.) abzulesen, sondern kann letzten Endes nur aus ihrer Einbettung in einen weiteren Handlungskontext bestimmt werden. Damit rü cken fü r die Weiterentwicklung der Sprechakttheorie vor allem zwei Aspekte in den Vordergrund: (a) die Funktion von Sprechakten innerhalb von Interaktionsabläufen und, damit verbunden, die Frage bestimmter Abfolge- bzw. Sequenzierungsbedingungen von Sprechakten (vgl. 5.2.3); (b) die Rolle gemeinsamer Wissens- und Kenntnissysteme und wechselseitiger Unterstellungen (Konversationspostulate, ‘Basisregeln’ der Kommunikation) der Interaktionspartner üf r die Interpretation kommunikativer Äußerungen (vgl. 5.3.2).
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die soziale Ordnung des Alltagslebens von ihren Mitgliedern ständig neu geschaffen und abgesichert wird, daß alle Alltagshandlungen gewissen Regeln folgen, die insgesamt fü r die Konstruktion und Aufrechterhaltung der menschlichen Identität und der jeweils spezifischen Realität (spezifischer Interpretationsschemata der Realität) ausschlaggebend sind. Umgekehrt reflektieren diese Regeln — im Bereich der Konversation z. B. die ‘conversational structure’ — wiederum gesellschaftliches Wissen der Sprecher; gerade diese Interdependenzen zwischen der Struktur der Kommunikation und dem Alltagswissen der Sprecher gilt es aufzudecken. Je nach Forschungsschwerpunkt orientiert sich die Analyse dabei an verschiedenen Ebenen der kommunikativen Interaktion (vgl. Kallmeyer/Sch ü tze 1976): Mit den Aspekten der Gesprächsorganisation (formale Strukturen des Kommunikationsablaufes, Routineaktivitäten der Interaktionspartner) ist vor allem die ‘empiristisch-formale Konversationsanalyse’ befaßt (bes. Sacks, Schegloff, Jefferson; vgl. 4.2.3). Die Ethnographie der Kommuniktion (Gumperz; vgl. 2.3.1 und 4.3.2) untersucht insbesondere die Abwicklung größerer Handlungszusammenhänge und -muster sowie die Mechanismen der Bedeutungsproduktions- und Interpretationsprozesse; diese Prozesse stellen den hauptsächlichen Forschungsgegenstand der ‘kognitiven Soziologie’ (Cicourel) dar.
4.
Kommunikative Ansätze innerhalb der deutschen Dialektologie
3.3.2.3 Konversationsanalyse
4.1 Traditionslinien: Soziallinguistische Betrachtungsweisen der traditionellen Dialektologie
Unter dem Begriff ‘Konversationsanalyse’ (Gesprächsanalyse, Diskursanalyse) können einzelne Ansätze subsumiert werden, die — im Gegensatz zur Sprechakttheorie im Sinne Searles — von Gesprächen, von umfassenderen Interaktionsabläufen ausgehen, deren Konstitution ebenfalls Regularitäten aufweist, die nicht als bloße Addition isolierter Sprechakte begriffen werden können. Zentrale These dieser aus verschiedenen Strömungen der interpretativen Soziologie (symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie, Ethnotheorie, Ethnographie des Sprechens/der Kommunikation) hervorgegangenen Richtung ist die Annahme, daß
Wenngleich die Wissenschaftsgeschichte der Dialektologie Koinzidenzen mit dem Entwicklungsgang der allgemeinen Sprachwissenschaft aufweist, so geriet hier doch die soziale Dimension der Sprache niemals in dem Ausmaß aus dem Blickfeld, wie dies fü r die Linguistik kennzeichnend ist. Ein wesentlicher Grund dafü r liegt sicherlich in dem Umstand, daß die Dialektologie zwangsläufig mit der Tatsache räumlicher, historischer und sozialer Sprachvarianten befaßt ist; Erklärungsversuche fü r diese in der Sprachwirklichkeit auffindbare Heterogenität rekurrierten durchaus auf ‘gesellschaftliche’ Bedingungen — allerdings waren solche Be-
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zugnahmen zumeist ad hoc und ohne größere sprachtheoretische Ambitionen. 4.1.1 Der Zusammenhang von sozialer Schichtung und sprachlicher Heterogenität wurde bereits von einzelnen Junggrammatikern erkannt und betont; so z. B. differenziert Wegener (1880) zwischen verschiedenen Sprachschichten (Dialekt — Umgangssprache — Hochsprache) und ordnet diese entsprechenden Bildungsschichten (Ungebildete — Halbgebildete — Gebildete) zu; diese Schichtung sei nicht nur in einem größeren regionalen Kreis, sondern auch innerhalb eines Ortes feststellbar (Wegener 1907, 1471; vgl. Art. 20). Diaphasische Differenzierungen (generationsspezifische Sprechweisen), der Einfluß von Stadtsprachen auf pendelnde Arbeiter, Einwirkungen des Fremdenverkehrs auf die Mundart, etc. wurden ebenfalls als relevante Fragestellungen und Problembereiche erkannt (vgl. dazu ‘Totalmonographien’ einzelner Orte, z. B. Stroh 1928). 4.1.2 Die Interdependenz von Gesellschaft, Kultur und Sprache wurde erstmals in der ‘kulturmorphologischen Schule’ der Dialektologie (vgl. Art. 4) systematisch untersucht. Zentral ist die These, „daß Sprachgrenzen Kulturgrenzen, Sprachräume Kulturräume sind“ (Frings 1957, 14); daraus resultiert die verstärkte (oftmals interdisziplinäre) Untersuchung der Interdependenz sprachlicher Prozesse mit politisch-kulturgeschichtlichen und wirtschaftlichen Vorgängen. Das klassisch gewordene Werk dieser Schule, die „Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte. Sprache. Volkskunde“ (1926), resultiert aus einer Gemeinschaftsarbeit des Germanisten Frings mit dem Historiker Aubin und dem Volkskundler Mü ller. Darin konnte ein enger Zusammenhang der Grenzen von sprachlichen und volkskundlichen Phänomenen (z. B. Bräuche, Gesindetermine, etc.) sowie deren Bedingtheit durch spätmittelalterliche Territorien nachgewiesen werden (vgl. insbes. Bach 1950). 4.1.3 Das Problem der sprachlichen Variation zwischen den Polen Mundart und Hochsprache (meist unter dem unscharfen Begriff ‘Umgangssprache’ subsumiert; vgl. Bichel 1973; vgl. Art. 52) und ihrer Korrelation mit sozialen Faktoren wurde von der Dialektologie erst relativ spät systematisch untersucht. Häufig geschah dies im Rahmen der Stadtsprachenforschung (eigentlich:
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
‘Stadt-Umland-Forschung’), wobei hier jedoch meist diese Spannung zwischen Dialekt und Hochsprache weniger auf unterschiedliche soziale Gruppen, als vielmehr auf den Gegensatz Stadt — Land zurü ckgefü hrt wurde. Von Ausnahmen abgesehen (z. B. Kranzmayer 1952/53, Kufner 1961), galt das Interesse hauptsächlich der Ausstrahlung stadtsprachlicher Formen auf die umliegenden ländlichen Gemeinden. Diesem Ansatz liegt die bekannte Auffassung von der Stadt als Zentrum umgangssprachlicher bzw. hochsprachenaher Sprechweise und als Hort sprachlicher Neuerungen zugrunde (vgl. Wrede 1963, 11 u. Henzen 1954, 209). So geht z. B. Debus (1962, 1963 und noch 1978) anhand der Karten des DSA der Frage der Ausstrahlung und Verbreitung einzelner Formen nach; mit Fragen der sprachlichen Kommunikation am Arbeitsplatz befaßt sich Möhn (1963). Stärker von Methoden der empirischen Sozialforschung beeinflußt ist die Arbeit E. Hofmanns (1963), die das Ausmaß der Übernahme stadtsprachlicher Lautformen durch pendelnde mundartsprechende Arbeiter untersuchte. Dies ist ein Problembereich, dem auch in laufenden Forschungsprojekten (z. B. Erp; vgl. 4.2.1.2) nachgegangen wird. 4.2 Korrelative Ansätze: Zur schichtspezifischen Verteilung von Dialekt und Einheitssprache 4.2.1 Forschungsfragen und Forschungsziele Die unsystematischen und weitgehend prätheoretischen Beobachtungen von Zusammenhängen zwischen sozialer Position und Dialektgebrauch innerhalb der traditionellen Dialektologie wurden durch die Erkenntnisse der neu entstandenen Soziolinguistik auf eine neue theoretische Basis gestellt (vgl. auch Art. 20). Dabei war zunächst das Interesse auf eine Adaption Bernsteinscher Theoreme gerichtet, Ziel war der Nachweis einer schichtspezifischen Verteilung von Dialekt und Einheitssprache und — im Zusammenhang damit — eine Klärung der Frage, ob der Dialekt als Sprachbarriere im Sinne eines restringierten Codes zu werten sei (vgl. z. B. Dialekt als Sprachbarriere? 1973; vgl. auch Art. 90 u. 92). 4.2.1.1 Die erste wichtige Arbeit zu diesem Gegenstandsbereich ist die Dissertation von Ammon (1972, 1973). Er geht von einer
15. Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie
strikten Korrelation zwischen sozioökonomischer Schicht und Sprachkompetenz aus, wobei lediglich sozioökonomisch höheren Schichten einheitssprachliche (z. T. zusätzlich auch dialektale) Kompetenz zugeschrieben wird. Die Unterschicht dagegen erscheint an den Dialekt gebunden, ihre Fähigkeit zu einheitssprachlicher Kommunikation lediglich auf die rezeptive, passive Komponente beschränkt. Begr ü ndet wird diese Verteilung, die Ammon als historisch gewachsen und erklärbar ansieht, durch die unterschiedlichen kommunikativen Reichweiten von Dialekt und Einheitssprache, die den kommunikativen Erfordernissen der Sprachbenü tzer jeweils in spezifischer Weise entsprächen: Während die sozioökonomisch höheren Schichten — bedingt durch ihre vorwiegend verbal ausgerichteten, nicht-manuellen Tätigkeiten und ihre größere regionale Mobilität — ü berregionale Kommunikationserfordernisse mit Hilfe der Einheitssprache zu bewältigen haben, sei fü r die — durch manuelle Tätigkeit und geringe regionale wie soziale Mobilität gekennzeichnete — Unterschicht der nur kleinräumig verwendbare Dialekt als Kommunikationsmittel ausreichend. Diese Hypothesen werden durch eine empirisch-statistische Überpr ü fung im schwäbischen und fränkischen Dialektgebiet bestätigt. Neben Mängeln der Datengrundlage und des linguistischen Beschreibungskonzeptes (vgl. 3.2.2), die die Aussagekraft seiner Ergebnisse relativieren, erscheint in Ammons Arbeit vor allem die faktische Gleichsetzung von Dialekt und restringiertem Code und die daraus abgeleitete Forderung nach Eliminierung des Dialekts (vgl. v. a. Ammon 1979) besonders problematisch (vgl. auch Art. 87). 4.2.1.2 Im Anschluß an die Diskussion der schichtspezifischen Gebundenheit von Dialekt und Einheitssprache entstand eine Reihe von Untersuchungen und Forschungsprojekten, die neben makrosoziologischen Kategorien wie berufliche Tätigkeit, Ausbildung, Alter auch die Abhängigkeit des Dialektgebrauches von situativen Faktoren wie Öffentlichkeitsgrad (Formalität) der Situation, Gesprächspartner, Thema, etc. thematisieren. 4.2.1.2.1 Fü r die DDR untersuchen Schönfeld/Weise (1974) am Beispiel eines Dorfes in der Altmark die sozialstrukturellen Bedingungen fü r die Verwendung der sprachlichen ‘Existenzformen’ (Sprachvarietäten im Sinne
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von Mundart, Umgangssprache, Hochsprache) in der m ü ndlichen Kommunikation. Die unter ausschließlicher Heranziehung subjektiver Sprachdaten (Befragung ü ber individuelles Sprachverhalten mittels Fragebogenmethode) gewonnenen Ergebnisse veranlassen die Autoren zu der Prognose, „daß die Mundart im Untersuchungsort und in der Ostaltmark in wenigen Jahrzehnten verschwindet, da sie den Kommunikationserfordernissen nicht mehr genü gt“ (Schönfeld/ Weise 1974, 283). 4.2.1.2.2 In ihren Ausgangsfragestellungen und Untersuchungsanordnungen recht ähnlich ist eine Anzahl sozialdialektologischer Projekte; so z. B. ‘Sprachsoziologische Projektgruppe Erp’ (1975, Besch/Hufschmidt/ Kall-Holland u. a. 1981, Hufschmidt/Klein/ Mattheier u. a. 1982), Weiss/Haudum (1976) und Stellmacher (1977). Allen Projekten ist gemeinsam, daß sie situative Sprachvariation verschiedener sozialer Gruppen vor allem anhand objektiver Sprachdaten untersuchen. Besonderes Augenmerk liegt dabei — auf Zusammenhängen zwischen Beruf bzw. Arbeitsbedingungen, Ausbildung, Alter und Sprachgebrauch, — auf Zusammenhängen zwischen bestimmten Situationsfaktoren (Redekonstellationsfaktoren im Sinne Stegers) — hauptsächlich Formalitätsgrad und Themenspezifik — und Sprechniveaus, — auf Erscheinungsformen und Bedingungen sprachlichen Wandels (Dialektabbauerscheinungen). Die Ergebnisse, soweit sie bisher vorliegen (vgl. Stellmacher 1977, z. T. auch Mattheier 1975), bestätigen fü r den norddeutschen Raum zum Großteil eine schichtspezifische Zuordnung von Dialekt und Einheitssprache und eine klare, schichtunabhängige Tendenz zu mehr dialektalen Formen in Situationen mit geringerem Formalitätsgrad. 4.2.1.2.3 In dem von K. Rein initiierten Projekt „Bayerischer Dialektzensus” (vgl. Rein/ Scheffelmann-Mayer 1975, Rein 1975) sollen in einer großangelegten regionalen Querschnittuntersuchung die Thesen ü berpr ü ft werden, daß — im Gegensatz zu den oben genannten Ergebnissen aus anderen Dialektgebieten — in Bayern der Dialekt keineswegs auf die Unterschicht beschränkt bleibe, Mundartgebrauch und -sprecher höhere Akzeptabilität besäßen als in anderen deutschen Regionen und insgesamt der Dialekt im mü ndlichen Gebrauch der Hochsprache
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in Funktion und Leistung gleichwertig sei (vgl. Art. 87). 4.2.2 Beschreibungskonzepte Von zentraler Bedeutung fü r die Überprü fung der Hypothesen in allen genannten sozialdialektologischen Arbeiten ist die Bestimmung des dialektalen ‘Sprechniveaus’ einzelner Äußerungen. Abgesehen von jenen Arbeiten, die sich auf subjektive Sprachdaten stü tzen und als Kriterium zur Einordnung eines Sprechers dessen Selbsteinschätzung als Mundart-, Umgangs- oder Hochsprachesprecher (Schönfeld/Weise, z. T. auch Rein) verwenden, werden in allen genannten Untersuchungen quantifizierende Verfahren zur Bestimmung von ‘Dialektniveaus’ verwendet. Erstmals findet sich ein solches Verfahren bei Ammon (1972): An ausgewählten sprachlichen Einheiten (Phonemen, Morphemen, Lexemen), die verschiedene Realisierungsmöglichkeiten zwischen Dialekt und Einheitsprache aufweisen, werden (zumeist) vier Dialektstufen bestimmt, die durch ihre räumliche Verbreitung definiert sind: Während die ‘dialektnächste’ Variante 1 im Extremfall nur in dem untersuchten Ort vorkommt, besitzt Variante 2 ein mindestens doppelt so großes Verbreitungsgebiet, die einheitssprachliche Variante erhält den Zahlenwert 4. Aus den Äußerungen der Probanden werden nun alle Vorkommnisse von Elementen des festgelegten ‘Variablensatzes’ ausgefiltert und auf ihre dialektale Stufe hin untersucht — das Sprechniveau eines Probanden ergibt sich als arithmetischer Mittelwert seiner einzelnen Realisierungen (vgl. auch Art. 87). Diese Festlegung erweist sich aus linguistischer Perspektive als unbefriedigend: Abgesehen davon, daß nicht ganz einsichtig ist, wie mit Hilfe von Dialektkarten die räumliche Verbreitung ‘umgangssprachlicher’ Formen gefunden werden kann (dies umso mehr, als es sich um eine Bezugnahme auf die rezeptive Kompetenz handeln muß, da sonst Ammons Grundthese der eingeschränkten kommunikativen Reichweite regionaler Sprachformen hinfällig wü rde), erscheint ein arithmetischer Mittelwert von geringer Aussagekraft: So kann z. B. ein Dialektniveau von 2,47 aus Schwankungen zwischen Niveau 1 und 4 oder nur aus solchen zwischen 2 und 3 entstanden sein. Weiters erweist sich die ausschließliche Überprü fung von isolierten sprachlichen Einheiten als
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
problematisch, solange nicht der systematische Zusammenhang von Varietäten und der fü r sie jeweils spezifischen linguistischen Regelsysteme geklärt ist; es bleibt auch die Frage ausgeklammert, ob dialektale Merkmale ‘hierarchisiert’ sind, ob also — etwa im Sinne einer Implikationsskala — der Abbau dialektaler Merkmale Regularitäten aufweist. Auf prinzipiell ähnliche Weise wird auch in den Projekten Erp, Stellmacher, Weiss/ Haudum das Dialektniveau von Äußerungen ermittelt; die Streubreite von Realisierungsmöglichkeiten einzelner Variablen zwischen den Endpunkten Einheitssprache — Grundmundart ist dabei natü rlich je nach Dialektgebiet und spezifischem Lexem unterschiedlich groß, dies bedingt wiederum unterschiedliche Arten der jeweils verwendeten rechnerischen Ermittlungsmethode — grundsätzlich mü ssen jedoch auch hier von linguistischer Sicht aus dieselben Einwände wie gegen Ammon geltend gemacht werden. Eine rein quantitative Methode, deren Reduktionen bereits sehr weitreichend sind, hat Gfirtner (1972) üf r den ‘Bairischen Dialektzensus’ (Rein/Scheffelmann-Mayer 1975) entwickelt (zur genaueren Darstellung vgl. auch Art. 90). Aus der Feststellung heraus, daß zumindest der bairische Dialekt Endsilbenreduktionen aufweist, zieht Gfirtner den Schluß, daß der Quotient aus hochsprachlicher Silbenanzahl und tatsächlicher Silbenrealisierung das jeweilige Dialektniveau eines Sprechers festlegen könne. Es erscheint allerdings sehr fraglich, ob mit dieser Methode einigermaßen valide Aussagen ü ber Dialekt und Dialektgebrauch erzielbar sind. Als besonders schwerwiegend erweist sich die von Gfirtner undiskutiert vorgenommene Gleichsetzung von ‘Schreibsilbe’ und ‘Sprechsilbe’: Eine Äußerung wie [i: foa mid rad] ich fahre m it dem Rad wü rde nach Gfirtner lediglich vier Silben aufweisen, die hochsprachliche Form dagegen sechs Silben, woraus sich ein Silbenreduktionsindex (und zugleich Dialektniveau) von 4/6 = 0,66 (= starker Dialekt) ergibt. Bei Berü cksichtigung phonologisch adäquat begr ü ndeter Silbendefinitionen weist jedoch auch diese dialektale Form sechs Silben auf, da sowohl das [n] in [midn] als auch das [1] in [rad] als silbisch zu werten sind. Weiters ist es unzulässig, ‘Schreibsilbe’ mit ‘hochsprachlicher Realisation’ gleichzusetzen: Im Hinblick auf Verschleifungen und Silbenreduktionen üd rften sich einheitssprachenähere
15. Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie
und dialektnahe Äußerungen kaum gravierend unterscheiden; die von Gfirtner postulierten Unterschiede ergeben sich lediglich bei Kontrastierung von Schreibsilben und ü m ndlichen dialektalen Äußerungen. Als letzter Einwand soll noch auf eine ganze Reihe von Lexemen verwiesen werden, die von vorneherein im Dialekt mehr Silben aufweisen als in der Hochsprache: [mili] ‘Milch’, [hemad] ‘Hemd’, etc. 4.3 Variationistische Dialektologie: Soziophonologische Stile Mit unterschiedlichen, hierarchisch — im Sinne implikatorischer Skalen (vgl. 3.3.1.1.) — geordneten Sprechstilen zwischen Dialekt und Hochsprache beschäftigen sich Untersuchungen zur Wiener Umgangssprache von Dressler/Leodolter u. a. (Dressler/Leodolter/Chromec 1976, Wodak-Leodolter/ Dressler 1978). Dressler geht davon aus, daß es sowohl im sprachlichen als auch im nichtsprachlichen Handeln und Verhalten unterschiedliche Grade der ‘Natü rlichkeit’ gibt, die mit der ‘Natü rlichkeit’ der jeweiligen Situation korrelieren. Je ungezwungener, informeller, familiärer eine Situation definiert wird, desto nat ü rlicher und ungezwungener sind nicht nur Mimik, Gestik und Körperhaltung der Interaktionspartner, sondern auch z. B. die zur Anwendung gelangenden phonologischen Regeln. Eine weitere Grundannahme Dresslers liegt in der Feststellung, daß sprachliche Variation und damit verbundene soziale Konnotationen kein quantitatives, sondern ein qualitatives Phänomen seien: Die soziale Einschätzung eines Sprechers erfolge zumeist so schnell, daß noch gar keine repräsentativen Probabilitäten aus dem Gehörten gewonnen sein könnten. Auf Grund dessen wird das Vorhandensein diskreter phonologisch bestimmter Stilebenen postuliert, die sozialpsychologische Korrelate auf der Ebene kommunikativer Interaktionen besitzen. Die Verknü pfung dieser beiden Grundannahmen in den Arbeiten Dresslers bedeutet eine neue Fundierung und zugleich eine wesentliche Verschärfung implikationstheoretischer Postulate: Nicht nur ließe sich die sprachliche Variation diskreten Ebenen zuordnen, die implikatorisch geordnet seien (‘Stile’), sondern die Implikationsrichtung habe zudem eine universale Gü ltigkeit, nämlich das Auftreten natü rlichster phonologi-
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scher Regeln in natü rlichsten Situationen und eine zunehmende Beschränkung dieser Regeln in zunehmend formeller werdenden Situationen. Unter diesen Voraussetzungen werden ‘Idealstile’ fü r das Wienerische erstellt, wobei die Skala von Stil 1 (Wörter in Isolation, unnatü rlich langsam und ü berdeutlich, hyperkorrekt ausgesprochen, Dominanz von Verdeutlichungsprozessen) ü ber einen „familiären, flü ssigen Gebrauchsstil, noch nicht ganz dialektal“ (= Stil 8) bis zu Stil 10 (extrem nachlässig, schnellstes Tempo, Dominanz von Entdeutlichungsprozessen, Informationsfunktion nur nebensächlich) reicht (Dressler/Leodolter/Chromec 1976, 74). Mit Hilfe dieses Instrumentariums werden nun ebenfalls Hypothesen zum Zusammenhang zwischen Sprach- und Sozialstruktur ü berprü ft, wobei die Validität und Aussagekraft der Ergebnisse in besonderer Weise von der Bestimmung der einzelnen Stile abhängt; gerade darin aber liegen die Schwächen dieses Ansatzes: (i) Davon abgesehen, daß nicht ganz klar wird, nach welchen Kriterien Dressler die Stile tatsächlich festlegt — deduktiv, auf Grund ‘universell’ angenommener Nat ü rlichkeitskriterien, oder induktiv, anhand vorgefundener Realisierungsformen —, scheinen in jedem Fall Willkü rlichkeiten kaum ausschließbar: Der Theorieabhängigkeit der Bestimmung von Natü rlichkeit einerseits steht die empirisch anzutreffende kontinuierliche Variation zwischen einheitssprachenäheren und dialektnäheren Varianten andererseits gegenü ber; die von Dressler zur Stilbestimmung herangezogenen „Kookkurrenzen von Regeln“ gelten zumeist lediglich fü r kü rzeste Textabschnitte, wie z. B. i n Satzteilen, Verbkomplementen, z. T. auch nur innerhalb einzelner Wörter. (ii) Als fragwü rdig erweist sich auch eine weitere Prämisse Dresslers, sprachlichen Regeln unabhängig von gruppenspezifischen Bewertungsunterschieden eine ‘absolute’ soziale Wertigkeit zuzuschreiben: Die Tatsache, daß z. B. nicht jeder Wiener imstande sein dü rfte, den formellsten Stil 1 zu realisieren, läßt sich auch innerhalb dieses Modells durch seine fehlende Vertrautheit mit so ‘unnatü rlichen’ sozialen Situationen begrü nden. Wie erklärt sich aber dann das Phänomen, daß andererseits nicht wenige Wiener außerstande sein dü rften, die Merkmale des informellen Stiles 10 zu produzieren: Heißt das nun, daß sozial höherstehende Wiener Krei-
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
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se niemals in ‘natü rlicher’ Art und Weise kommunizieren/interagieren? 4.4 Pragmatische Ansätze Als ein Versuch, die oftmals bemängelte ‘pragmatische Lü cke’ in der Dialektologie zu schließen, versteht sich die Arbeit Vahles (1978), die zudem eine Verbindung soziolinguistischer und semantisch-pragmatischer Fragestellungen leisten soll. Primäres Untersuchungsziel ist fü r Vahle die Entwicklung einer semantisch-pragmatischen Analysemethode. Zu diesem Zwek versucht er, drei heterogene Konzeptionen zu verknü pfen: (a) Ansätze der russischen Tätigkeitstheorie (Wygotski, Leont’ev); (b) Ansätze der Sprechakttheorie (Searle); (c) die semiotische Pragmatik (Morris). Als Datengrundlage dienen die durch ein Interview gewonnenen Äußerungen von vier Sprechern unterschiedlicher sozialer Schicht; erhoben wird neben der Beschreibung eines Arbeitstages vor allem auch das Kommunikationsverhalten in verschiedenen fiktiven Situationen. Die Untersuchung des sprachlichen Materials erfolgt in einer Reihe von hintereinandergeschalteten Analysephasen, deren theoretische Fundierung durch die genannten Ansätze geleistet wird. So bemerkenswert Vahles Versuch einer kommunikationsorientierten Analyse zweifellos ist, so unbefriedigend bleiben doch insgesamt die Ergebnisse, die den großen Aufwand an theoretischen Konstruktionen und damit korrelierenden Analysedurchgängen kaum zu rechtfertigen vermögen. Dafü r scheinen uns mehrere Grü nde ausschlaggebend zu sein: i) Die einbezogenen Ansätze bleiben weitestgehend unverbunden; ihre additive Aneinanderreihung in verschiedenen Analyseschritten wird von Vahle nicht kritisch auf ihre Effizienz befragt, die Konsequenzen fü r die Analyse bleiben deshalb auch vorwiegend quantitativer Natur. ii) Die verwendeten Ansätze sind ü berwiegend durch eine fehlende oder geringe Leistungsfähigkeit üf r empirische Analysen gekennzeichnet; es gelingt Vahle nicht, durch eine entsprechende Weiterentwicklung diesen prinzipiellen Mangel zu beheben. So wird nicht deutlich, welcher Erkenntniszuwachs sich ergibt, wenn aufgrund der Tätigkeitstheorie erkannt wird, daß die Informanten in der fiktiven Kommunikationssituation als Träger von sozialen Rollen wie „Autobesitzer“ und „Besitzer bzw. Be-
wohner von Grundstü cken (sic!) in einer Landgemeinde“ (Vahle 1978, 164) handeln (Analysephase I: Bestimmung der makropragmatischen Dimension), oder daß die praktischen Handlungen der Gesprächspartner in der „Aktionalsituation“ des Interviews durch „Hantieren mit den Antwortkärtchen; gegebenenfalls trinken“ (201) gekennzeichnet sind (Analysephase II: Funktional-inhaltliche Dimension des gesamten Kommunikationsereignisses). Besonders unbefriedigend erscheinen die Analysen mit Hilfe der Sprechaktanalyse (Analysephase III: Bestimmung der mikropragmatischen Dimension). Durch die fehlende Rezeption neuerer pragmatischer Forschungsergebnisse im Rahmen der Konversationsanalyse wie auch durch die vollständige Ausklammerung von so zentralen Themen der pragmatischen Diskussion wie die Behandlung indirekter Sprechakte (die gerade auch fü r diesen Zusammenhang besondere Relevanz besitzen), fällt Vahle in seiner an Searle (1969) ausgerichteten Analyse einzelner isolierter Sprechakte — ohne deren Einbettung in größere interaktionale Zusammenhänge zu ber ü cksichtigen — hinter den aktuellen Stand pragmatischer Forschung zurü ck. Zudem untersucht Vahle auch nicht differierende Sprechaktbedingungen und -realisierungen, sondern beschränkt sich lediglich auf Paraphrasen von Proposition, Illokution und Perlokution (!), deren Erkenntniswert eher gering einzuschätzen ist. (iii) Der letzte wichtige Einwand richtet sich gegen den zentralen Teil von Vahles Datenerhebungskonzept. Gerade üf r pragmatisch ausgerichtete Analysen mü ßte die Erhebung in natü rlichen Situationen stattfinden (vgl. Art. 27); fiktive Kommunikationssituationen („Was wü rden Sie sagen, wenn ...“) scheinen kaum als Datengrundlage fü r Aussagen ü ber tatsächliches Kommunikationsverhalten geeignet.
5.
Forschungsdesiderata einer kommunikativen Dialektologie
5.1 Möglichkeiten der Beschreibung formaler Sprachvariation 5.1.1 Die Diskussion von Beschreibungskonzepten kommunikationsorientierter dialektologischer Untersuchungen (vgl. 4.2.2) hat linguistische Schwächen dieser Arbeiten deutlich werden lassen. Es erhebt sich daher die Frage nach angemesseneren Beschreibungs-
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möglichkeiten sprachlicher Variation (vgl. dazu auch Scheutz 1980). Die folgenden Hinweise dazu beschränken sich ausschließlich auf Modelle, wie sie innerhalb der Variationslinguistik entwickelt worden sind — andere Lösungsversuche dieses Problems (vgl. z. B. Kanngießer 1972, Lieb 1970, Bierwisch 1976, Wildgen 1977) werden aufgrund ihres fehlenden oder fü r unsere Zwecke nur sehr eingeschränkt brauchbaren Empiriebezuges hier ausgeklammert. 5.1.2 Das Konzept der Implikationalskalen wurde bereits in 4.3 ausfü hrlicher an Hand der Arbeiten Dresslers dargestellt. Sei n e Vorrangstellung gegenü ber quantitativen variationistischen Arbeiten wird hauptsächlich damit begrü ndet, daß es in der Lage sei, Sprachvariation nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären. Dieser Anspruch erwies sich jedoch als problematisch: Die theoretischen Prämissen, die eine solche Erklärung ü berhaupt erst ermöglichen, scheinen zu einem großen Teil nur ungenü gend abgesichert; zahlreiche A-priori-Festlegungen zur Bestimmung phonologischer Natü rlichkeit, zu Erscheinungsformen und sozialer Bewertung von verschiedenen Sprechstilen schaffen die Gefahr zirkulärer Bestimmungen und theoriebegr ü ndeter Datenidealisierungen. 5.1.3 Innerhalb des quantitativen Paradigmas der Variationslinguistik hat W. Klein ein Verfahren zur Beschreibung von Sprachvariation entwickelt, das in seinem Forschungsprojekt „Zur Sprache ausländischer Arbeiter in der BRD“ Anwendung gefunden hat. Den Ansatz Labovs weiterfü hrend, gelangt er zur Konzeption einer ‘Varietätengrammatik’, die fü r jede formale Beschreibungsebene herangezogen werden kann. Klein schlägt vor, den Kompetenzbegriff als zentralen Punkt jeglicher linguistischer Forschung fallenzulassen und stärkeres Gewicht auf Korpusanalysen zu legen: „Die zentrale Aufgabe der Sprachwissenschaft ist die Beschreibung der Sprache als eines Systems von Varietäten; Varietäten sind Regelhaftigkeiten im sprachlichen Verhalten unter bestimmten Umständen.“ (Klein 1974, 35 f.) Diese Varietäten werden zunächst mit Hilfe außersprachlicher Kriterien festgelegt; dabei ergeben sich je nach spezifischer Forschungsfrage unterschiedlich dimensionierte ‘Varietätenräume’ durch die Wahl unterschiedlicher bzw. unterschiedlich vieler va-
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rietätendefinierender Bezugsgrößen (in soziolinguistischen Untersuchungen z. B. zumeist Sozialschicht und Situationstyp). Nach der Festlegung des Varietätenraumes und einzelner Varietäten besteht der nächste Schritt in der Ausarbeitung einer Bezugsgrammatik, die alle Regeln umfaßt, die in den einzelnen Varietäten vorkommen können. Danach geht es darum, aufgrund der empirischen Analyse diese Bezugsgrammatik so zu beschränken, daß sie jeweils eine bestimmte Varietät beschreibt. Dies geschieht mit Hilfe einer probabilistischen Bewertung der Regeln, denen Werte zwischen 0 (= wird nicht angewandt, kommt in dieser Varietät nicht vor) und 1 (= wird kategorisch angewandt) zugeordnet werden. Wir erhalten somit fü r die einzelnen Varietäten eine Reihe ‘probabilistischer Grammatiken’, die sich jeweils lediglich in der probabilistischen Bewertung der Regeln unterscheiden. Dieses Modell ist damit in der Lage, systematische sprachliche Zusammenhänge zu berü cksichtigen, ohne auf eine direkte Bezugnahme zur Empirie mittels Häufigkeits- und Wahrscheinlichkeitsfeststellungen zu verzichten. Abgesehen vom heuristischen Wert, nicht a priori eine bestimmte Anzahl diskreter Stile voraussetzen und definieren zu mü ssen, scheint dieses Vorgehen auch theoretisch plausibel ableitbar: Im ü berwiegenden Teil des deutschen Sprachgebietes existiert zwischen Grundmundart und Hochsprache ein breites, kontinuierlich verlaufendes Spektrum von Sprechweisen, das weniger durch strikte Kookkurrenzen sprachlicher Regeln charakterisiert ist als vielmehr durch ein flexibles Nebeneinander ‘variabler Regeln’. Genauso wie die sprachliche Umgebung fü r die Anwendung einzelner sprachlicher Regeln unterschiedlich gü nstig sein kann, weisen auch die sozialen Faktoren des Situationskontextes unterschiedlich gü nstige Bedingungen fü r die Anwendung soziosemantisch konnotierter sprachlicher Regeln auf. Jene Fälle, in denen eine Regel kategorisch gefordert oder blockiert wird, stellen nur die Endpunkte üg nstiger/ung ü nstiger Bedingungen fü r die betreffende Regelanwendung dar; gerade in der Aufdeckung und Erhellung dieser Zusammenhänge liegt aber der Wert und die Effizienz frequentieller Analysen. Damit soll keineswegs der ‘qualitative’ Aspekt der Sprachvariation geleugnet werden — wir sehen es jedoch als besonderen Vorteil der hier vorgeschlagenen quantitativen Methode an, daß es dabei möglich sein
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II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
mü ßte, beide Aspekte in die Untersuchung einzubeziehen: Auch hier könnte versucht werden, a posteriori ‘Stile’ zu eruieren oder z. B. Fragen der Natü rlichkeit in der linguistischen Interpretation von Varietäten zu berü cksichtigen. Dazu kommt, daß in der Diskussion, ob Variation kontinuierlich oder diskret verlaufe, ein sehr wichtiger Aspekt bisher kaum berü cksichtigt wurde: die Unterscheidung von Produktionsseite (auffindbare Daten) und Rezeptionsseite (Sprachbewußtsein). Obwohl die meisten Ergebnisse empirischer Untersuchungen auf kontinuierliche Übergänge hinweisen, ist damit nicht gesagt, daß diese Variation nicht invariante Bewußtseinskorrelate aufweisen könnte, die den Rezeptionsvorgang und damit die soziale Einschätzung des Sprechers bestimmen.
Gliederungssignale, Sprecherhinweise zur Steuerung des Rezeptionsvorganges (‘Hörersteuerung’, vgl. Rehbein 1979), Feed-backSignale durch den Hörer (‘Sprechersteuerung’) etc. begriffen werden mü ssen. Interessant wäre hier nicht nur der Nachweis regionalspezifischer Lexeme (vgl. z. B. SchliebenLange 1979, die die bairischen Partikeln eh, halt, fẽi untersucht), sondern vor allem auch dialektale Verwendungsweisen von Partikeln, die in der Hochsprache differierende Funktionen aufweisen. Besonders wichtig scheint auch die Untersuchung suprasegmentaler Phänomene, deren Relevanz üf r pragmatische Fragestellungen — abgesehen von ihrer Wichtigkeit bei der Beschreibung syntaktischer Funktionen und Muster — insgesamt kaum zu überschätzen sein dürfte.
5.2 Pragmatische Analysen
5.2.2 Die Thematisierung des sprachlichen Handlungsaspektes fü hrt weiters zur Frage nach dialektspezifischen Sprechakten bzw. Sprechaktsequenzen (vgl. 3.3.2.2). Beispiele dafü r liegen etwa in verschiedenen Ausformungen von ‘adjacency pairs’ (eine Sequenz zweier aufeinander bezogener Sprechakte) vor; Schlieben-Lange/Weydt (1978, 261 ff.) nennen etwa unterschiedliche Antworten auf Dankesbezeigungen, Reaktionen auf Fragen und auch regional differenzierte Begr ü ßungsformeln. Neben solchen relativ leicht erkennbaren Unterschieden erscheinen aber auch eine Reihe differierender Sprechaktbedingungen und -realisierungen, die weniger offensichtlich sind. Obwohl dabei die Unterschiede so weitreichend sein können, daß in einzelnen Fällen sogar die Zuordnung zu größeren Sprechaktklassen (vgl. Searle 1973) Schwierigkeiten bereitet, liegen die Hauptprobleme sicherlich in den feineren Differenzierungen innerhalb eines ü bergreifenden Sprechakttyps. So z. B. kann bei den ‘Direktiven’ oftmals nur bei genauer Kenntnis gruppenspezifischer Konventionen mit Sicherheit entschieden werden, ob eine Bitte, eine Aufforderung oder ein Befehl vorliegt; dasselbe gilt auch üf r differierende Realisierungen von Formen der Zurechtweisung. Gerade in diesem Zusammenhang wären auch Strategien und Ausmaß indirekten Sprechens, seiner Voraussetzungen und Funktionen, einer genaueren Überprüfung zu unterziehen. Forschungsfragen dieser Art sind bisher lediglich von Gumperz (vor allem in Hinblick auf ethnische Gruppen) ausfü hrlicher untersucht worden, der dafü r auch ein Elizitierungsverfahren entwickelt hat, das gut ge-
Weitestgehend unberü cksichtigt blieben bisher innerhalb der Dialektologie pragmatische Analyseansätze. Die Skala potentieller Forschungsfragen reicht dabei von adäquateren Beschreibungsmöglichkeiten bereits bekannter sprachlicher Phänomene ü ber die Untersuchung dialektspezifischer Sprechakte/Sprechakttypen bis zur Einbeziehung konversationsanalytischer Fragestellungen im Sinne der Analyse von Handlungsmustern, Argumentationsstrategien, etc. 5.2.1 Die Möglichkeit einer adäquateren Beschreibung und kommunikativ-funktionellen Interpretation eröffnet sich z. B. fü r syntaktische Muster, die auch als typisch fü r ‘gesprochene Sprache’ (vgl. 3.3.2.1) angesehen werden, so z. B. alle Formen der ‘Herausstellung’ (vgl. Altmann 1981): Topikalisierung, Links-/Rechtsversetzung, Freies Thema, Ausklammerung, Extraposition, etc.; dies gilt auch fü r die lange Zeit als ‘defekt’ eingestuften Äußerungsformen wie Ellipsen, Korrekturen, Neuansätze u. dgl. (vgl. Betten 1976). Ein weiteres Forschungsgebiet bildet die Einbeziehung bisher kaum berü cksichtigter bzw. als irrelevant angesehener sprachlicher Mittel. Hier sind u. a. verschiedene Kategorien von Partikeln zu nennen, die aus pragmatischer Sicht nicht länger als ‘Fü llsel’ gelten können, sondern in ihren Funktionen als illokutionäre Indikatoren, Ausdrucksweisen der Sprechereinstellung (= emotive Bewertung des im propositionalen Gehalt ausgedrü ckten Inhaltes; Appell an gemeinsam geteiltes Hintergrundwissen, etc.), textuelle
15. Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie
eignet zu sein scheint, gruppenspezifische pragmalinguistische Unterschiede zu erfassen (vgl. Gumperz 1978 b). Weitere Untersuchungsmöglichkeiten 5.2.3 ergeben sich im Hinblick auf bestimmte Aspekte der Gesprächsorganisation. Damit sind die in Gesprächen zu leistenden Organisationsaufgaben (Kooperationssicherung, Verständnissicherung, Konstitution des Gesprächsablaufes; vgl. Kallmeyer/Sch ü tze 1976) angesprochen, die durch jeweils spezifische Organisationsformen bewältigt werden. In der formal-empiristischen Konversationsanalyse Sacks’scher Prägung (vgl. 3.3.2.3) sind dabei bisher vor allem der Beginn und die Beendigung von Gesprächen, die Verteilung der Redebeiträge (‘turns’) und die Einf ü hrung/der Abschluß von Gesprächsthemata untersucht worden. Bei der Analyse von Regeln, die die Verteilung der Redebeiträge betreffen (‘turn-taking-system’), sind zwei Komponenten zu berü cksichtigen: der Aufbau von Redebeiträgen und die Techniken der Vergabe bzw. der Beanspruchung des Rederechts. Redebeiträge, die aus Sequenzen von sehr unterschiedlicher Länge bestehen können, weisen im Idealfall einen dreiteiligen Aufbau auf, wobei eine Eröffnungsphase, mit der an vorher Gesagtes angeknü pft wird, und eine Schlußphase, die fü r den folgenden Sprecher Anknü pfungsmöglichkeiten schafft, den eigentlichen Beitragskern umschließen. Einen besonderen Stellenwert gewinnt damit die Analyse von Eröffnungs- und Schlußsignalen, die vor allem durch bestimmte Partikeln, formelhafte Wendungen, Intonationsmuster, etc. realisiert werden. Diese Signale fungieren in der Kommunikation zudem als wichtiges Mittel der Vergabe bzw. der Beanspruchung des Rederechts. Fü r alle diese Organisationsaufgaben stehen verschiedene Techniken zur Verfü gung, deren Zusammenhang mit außersprachlichen (sozialen, regionalen) Variabilitätsparametern noch zu untersuchen bleibt; dies gilt auch fü r weitere strukturelle Eigenschaften natü rlicher Gespräche, so z. B. fü r die Struktur des Inkraftsetzens des turn-taking-systems im Zuge der Gesprächseröffnung bzw. der Bedingungen ihres Abschlusses bei der Beendigung der Interaktion, weiters üf r Techniken der Themeneinf ü hrung, der Durchsetzung eines bestimmten Themas, des Themenwechsels, üf r die verschiedenen Möglichkeiten der Herstellung und Sicherung inhaltlich-thematischer Kohärenz (‘to-
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pical coherence’), fü r die Formen und Funktionen von Entgegnungen und Rü ckfragen (‘side sequences’; vgl. Jefferson 1972), etc. Daneben kommen hier auch Forschungsgebiete in Betracht, die stärker auf inhaltliche Aspekte ausgerichtet sind, wie etwa die Untersuchung von ‘Modalitäten’ der Themenbehandlung oder z. B. des Einsatzes von Stereotypien auf verschiedenen Ebenen der Argumentation (als ‘warrants’ oder ‘backings’; vgl. Quasthoff 1978). Gerade dieser letzte Punkt findet sich in sehr vielen Bestimmungen als charakteristisches Merkmal des Dialekts (vgl. z. B. Ammon 1972, 125), ohne jemals hinreichend untersucht worden zu sein. 5.3 Untersuchung der kommunikativen Funktion von Sprachvarietäten Von zentraler Relevanz fü r eine kommunikationsorientierte Dialektologie ist die Untersuchung der kommunikativen Funktion des Einsatzes verschiedener Sprachvarietäten. 5.3.1 Ansätze dazu zeigen sich in der traditionellen Diglossie- und Bilingualismusforschung (vgl. 3.3.1). In Deutschland liegen zu diesem Problembereich, obwohl er in verschiedenen Projekten thematisiert wird (vgl. 4.2.1.2), bisher erst wenige Ergebnisse vor; die Untersuchungen Reins (1978), der fü r Bayern eine Diglossiesituation postuliert, sind als erster Schritt sicherlich wertvoll, mü ssen aber schon aufgrund der verwendeten Datenerhebungsmethode (vorwiegend subjektive, mittels Fragebogen erhobene Angaben zur Sprachverwendung in verschiedenen Situationen; z. B.: Wie sprechen Sie beim Arzt? beim Chef? etc.) als nur bedingt aussagekräftig angesehen werden. Es scheint uns jedoch so zu sein, daß eine Diglossie im engeren Sinne, also eine strenge funktionale Trennung zwischen Dialekt (Lvariety) und Einheitssprache (H-variety) in den weitaus größten Teilen des deutschen Sprachraumes nicht vorhanden ist (vgl. dagegen Kufner 1961, Rein 1978). Nur wenige (z. T. quasiritualisierte) Situationen schreiben hier den ausschließlichen Gebrauch entweder des Dialekts oder der Hochsprache zwingend vor. In der ü berwiegenden Zahl von Interaktionen zeigen sich fließende Übergänge von einer Sprachvarietät zur anderen; die Wahl einer bestimmten Varietät wird vor allem durch situative Faktoren wie Gesprächspartner, Thema, Kommunikationsziel/-intentionen gesteuert. (Diesem Zu-
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stand entspricht am ehesten der Fishmansche Typus des ‘Bilingualismus ohne Diglossie’; vgl. Fishmann 1972, Reiffenstein 1968, 1978). Damit erscheint es vordringlich, den Zusammenhang von Sprache und sozialer Identität, Spracheinstellungen (‘language attitudes’) und Bedingungen fü r die Entwicklung dieser Einstellungen, Untersuchungen ü ber Hetero- und Autostereotype, etc. in zunehmendem Maße zu berü cksichtigen; dies macht natü rlich auch die Verwendung spezifischer Erhebungsmethoden notwendig (vgl. z. B. Holmes 1976). 5.3.2 Mit diesem letztgenannten Desiderat, der differenzierten Untersuchung des Verweischarakters ‘konnotierter Varianten’ auf einen je lokalspezifischen soziokulturellen Hintergrund und damit ihres Beitrages zum Bedeutungsgehalt von Äußerungen, ist ein Forschungsgebiet angesprochen, fü r das insbesondere die Arbeiten des Anthropologen und Soziolinguisten Gumperz richtungsweisend geworden sind. 5.3.2.1 Sein hauptsächliches Forschungsinteresse gilt der Bedeutung des Gebrauchs einer bestimmten Sprachvarietät bzw. des Wechsels zwischen verschiedenen Varietäten in bilingualen Gemeinschaften. Ganz allgemein gilt, daß die soziale Bedeutung verschiedener Varietäten von ihrer je spezifischen soziokulturellen Einbettung bestimmt ist; sie stehen fü r bestimmte kulturelle Identitäten und darin implizierte soziale Wertvorstellungen. Der relevante Kontrast besteht zumeist darin, daß eine Varietät die Werte einer kleineren (lokalen, ethnischen) Gruppe repräsentiert, wogegen die andere Varietät in größere Zusammenhänge eingebettet erscheint. Diese unterschiedlichen Varietäten erfü llen somit die Funktion von Identifikationssymbolen (‘we-codes’ vs. ‘they-codes’). Entscheidend üf r den Gebrauch dieser Varietäten ist die soziokulturelle Identität der Sprecher, die weniger von der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder zu einer bestimmten sozialen Schicht abhängt als vielmehr vom Interaktionsgeflecht (networks of relationship), in dem sich ein Sprecher befindet; dieses wiederum „is a function of actual communicative experience and also varies with education, occupation, generational cohort, political values and individual aspiration for mobility„ (Gumperz 1976, 13).
II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
Exemplifiziert und bestätigt werden diese Grundannahmen durch eine Reihe von Untersuchungen; besonders bekannt geworden ist eine Studie ü ber die Verwendung von Dialekt und Standardsprache in einer norwegischen Gemeinde (Blom/Gumperz 1972). Blom/Gumperz differenzieren zwischen zwei Arten der Sprachvariation: dem ‘situational switching’, das von bestimmten Situationsfaktoren abhängig ist (in informellen Situationen, bei Identifikation mit der Ortsgesellschaft wird durchgängig Dialekt gesprochen; in formellen, offiziellen Situationen, mit Fremden oder bei Distanzierung von der Ortsgesellschaft Standardsprache), und dem ‘metaphorical switching’, das innerhalb einer sonst gleichbleibenden Situation auftritt und der Äußerung eine spezifische soziale Bedeutung verleiht. So wird beispielsweise in eine formelle Situation (z. B. auf dem Gemeindeamt), in der die Standardsprache Verwendung findet, durch den teilweisen Einsatz dialektaler Formen etwas von den sozialen Verwendungsbedingungen des Dialekts hineingebracht und ‘Vertraulichkeit’ signalisiert. Die differierende soziale Bedeutung der beiden Sprachvarietäten wird auch bei der Analyse des Sprachverhaltens in informellen Gesprächsrunden deutlich: Bei Sprechern, die sich ausschließlich im geschlossenen kommunikativen Netzwerk der Ortsgesellschaft bewegen, die sich mit der lokalen Kultur und ihren Wertsystemen identifizieren, tritt kein ‘metaphorical switching’ ein — die Kookkurrenzregel von Dialekt und informeller Situation wird strikt beachtet. Bei Sprechern, deren kommunikative Beziehungen nicht auf die Ortsgesellschaft beschränkt sind und die sich auch teilweise am Wertsystem ü berregionaler Bezugsgruppen orientieren, findet sich häufiger metaphorischer Wechsel oder auch — abhängig von bestimmten Themenbereichen — eine durchgehende Verwendung des Standards. Bemerkenswert daran ist auch, daß dies jedoch unbewußt und unabhängig von ihrer (positiven) Einstellung zum Dialekt geschieht. Eine dritte Gruppe von Sprechern schließlich, die sich von der lokalen Kultur eher distanziert, gebraucht durchgehend die Standardsprache. 5.3.2.2 Der Begriff des ‘metaphorical switching’ und seiner kommunikativen Funktion wird in den jü ngsten Arbeiten Gumperz’ zu einem bestimmenden Thema. Er beschäftigt sich dabei vor allem mit code-switchings, die
15. Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie
oft auch innerhalb eines einzigen Redebeitrags, ja sogar innerhalb von einzelnen Sätzen auftreten können, ohne daß strukturelle Änderungen der Konversation (z. B. Themenwechsel) erkennbar sind. Diese switchings werden in variationistischen Untersuchungen entweder als ‘Stilmischung’ angesehen (Dressler) oder als ‘non-rule governed variation’, als Idiosynkrasie interpretiert, die erst in der statistischen Abstraktion und Korrelation mit makrosoziologischen Kategorien Regelhaftigkeit erkennen lasse (Labov). Gumperz weist an zahlreichen Beispielen die kommunikative Funktion von switchings nach; sie können z. B. zur emotiven Bewertung oder zur Erweiterung bereits eingefü hrter Informationen dienen. Damit gewinnt die Untersuchung dieser scheinbar ungeordneten Variation ene neue Dimension: Sie wird nicht mehr als Ausdruck sprachlicher Unsicherheit oder auch als ‘Übergangsphänomen’ bei der Erlernung einer Zweitsprache angesehen, sondern als Träger relevanter Information fü r die wechselseitige Interpretation kommunikativer Handlungen begriffen. Die besondere Bedeutung dieser codeswitchings sieht Gumperz in ihrer Funktion als Kontextualisierungshinweis: Sie sprechen (a) ein gemeinsames soziales Wissen der Interaktionspartner an und (b) signalisieren so, wie die Äußerungen mit Hilfe dieses gemeinsamen sozialen Wissens zu interpretieren sind. Ein instruktives Beispiel fü r die Wichtigkeit dieser Kontextualisierungshinweise findet sich in der Analyse einer mißglü ckten Wahlrede eines US-Negerfü hrers (Gumperz 1978 a). Der Redner war zum Scheitern verurteilt, da die ü berwiegend weiße Zuhörerschaft aufgrund ihrer andersgearteten internalisierten Wissenssysteme die konversationelle Bedeutung der code-switchings nicht adäquat entschlü sseln konnte. Daraus ergaben sich eine Reihe von Mißverständnissen, die schließlich darin gipfelten, daß eine Äußerung fälschlicherweise als Morddrohung gegen den Präsidenten aufgefaßt wurde. Im Nichtverstehen von Kontextualisierungshinweisen sieht Gumperz einen analogen Fall zur Fehlinterpretation einzelner illokutionärer Akte und Strategien indirekten Sprechens. Beides resultiert aus differierenden sozialen Wert- und Wissenssystemen der Interaktionspartner, die auf unterschiedliche Kommunikationserfahrungen in spezifischen Sprechgemeinschaften zur ü ckzuf ü h-
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ren sind. Erst dieses soziale Wissen (das sich der Forscher z. B. mit Hilfe intensiver teilnehmender Beobachtung aneignen kann) ermöglicht die Unterscheidung bedeutungstragender von bedeutungslosen switchings und, damit verbunden, das Verständnis sprachlicher (auch außersprachlicher) Kontextualisierungshinweise, von denen aus sich erst die Bedeutung einer Äußerung letztlich ergibt. Diese Erkenntnis besitzt eminente sprachtheoretische Relevanz: Sie weist zum einen auf die Wichtigkeit gruppen- und netzwerkspezifischen sozialen Wissens fü r den Bedeutungsproduktionsund Interpretationsprozeß hin und erschließt zudem eine neue Dimension der ‘Indirektheit’ sprachlicher Äußerungen (vgl. die sprechakttheoretische Analyse indirekten Sprechens; v. a. Grice 1968, 1975; Searle 1973): Die fü r das adäquate Verständnis von Äußerungen wesentlichen Kontextualisierungshinweise werden nicht explizit verbalisiert, sondern sind aus den verwendeten Sprachvarietäten, aus Sprachrhythmus, Intonation, etc. zu erschließen. Mit diesen Hinweisen sind Fragen angesprochen, denen sich in Zukunft nicht nur die Dialektologie in verstärktem Ausmaß zuwenden sollte: Erst ein Erkenntnisinteresse, das darauf gerichtet ist, differierende Varietäten auf ihre kommunikativen Funktionen im Interaktionsprozeß zu untersuchen und deren Relevanz fü r die Bedeutung von Äußerungen herauszuarbeiten, vermag dem Anspruch einer ‘kommunikationsorientierten’ Analyse vollinhaltlich gerecht zu werden.
6.
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II. Theoriebildungen und Theorieansätze der Dialektologie
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15. Theorieansätze einer kommunikativen Dialektologie
Weinreich 1953 = Uriel Weinreich: Sprachen in Kontakt. Ergebnisse und Probleme der Zweisprachigkeitsforschung. Übers. v. Jörg Kohlhase. ü M nchen 1976. (Originalausgabe: New York 1953). Weinreich/Labov/Herzog 1968 = Uriel Weinreich/William Labov/Martin Herzog: Empirical foundations for a theory of language change. In: Directions for Historical Linguistics. Hrsg. v. W. P. Lehmann. Y. Malkiel. Austin. London 1968, 95—195. Weiss/Haudu m 1976 = Andreas Weiss/Peter Haudum: Sprachliche Variation im Zusammenhang mit kontextuellsituativen und sozialstrukturellen Bedingungen. Vor ü berlegungen zu empirisch-statistischen Untersuchungen in einer ländlichen Marktgemeinde Oberösterreichs. In: Festschrift fü r Adalbert Schmidt zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Gerlinde Weiss. Gerd-Dieter Stein. Stuttgart 1976 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 4), 537—557. Wildgen 1977 a = Wolfgang Wildgen: Differentielle Linguistik. Entwurf eines Modells zur Beschreibung und Messung semantischer und prag-
315
matischer Variation. Tü bingen 1977 (Linguistische Arbeiten 42). Wildgen 1977 b = Wolfgang Wildgen: Kommunikativer Stil und Sozialisation. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. T ü bingen 1977 (Linguistische Arbeiten 43). Wodak-Leodolter/Dressler 1978 = Ruth WodakLeodolter/Wolfgang Dressler: Phonological variation in colloquial Viennese. In: Michigan Germanic Studies 4. 1978. H. 1, 30—66. Wrede 1963 = Ferdinand Wrede: Kleine Schriften. Hrsg. v. Luise Berthold. Bernhard Martin. Walther Mitzka. Marburg 1963 (Deutsche Dialektgeographie 60). Wunderlich 1976 = Dieter Wunderlich: Studien zur Sprechakttheorie. Frankfurt a. M. 1976 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 172). Zim m erm ann 1965 = Heinz Zimmermann: Zu einer Typologie des spontanen Gesprächs. Syntaktische Studien zur baseldeutschen Umgangssprache. Bern 1965 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 30).
Hannes Scheutz,Peter Haudum, Salzburg
316
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Datenerhebung Verarbeitung des Materials Darstellung der Daten Auswertung der Ergebnisse Literatur (in Auswahl)
Datenerhebung
1.1. Questionär 1.1.1. Fragebogen für die Aufnahmeaktion 1960/61 Nach Sichtung der vorhandenen dialektologischen Literatur für die weitere Umgebung des Untersuchungsgebiets enthielt die erste Fassung des Questionärs eine in drei Abteilungen alphabetisch geordnete Liste von 352 Einzelwörtern und die 40 Wenker-Sätze (Mitzka 1952, 13 f.). Den Hauptanteil der Einzelwörter lieferten zwei von Hermann Fischer (1908, 84—98; 1911, 32—48) für die Erforschung vornehmlich schwäbischer Mundarten entworfene Fragebogen; dazu stellte ich 48 der 200 Wortfragen des Deutschen Wortatlas (Mitzka 1939, 105—111) sowie eine Reihe von Wörtern, die auf Grund der Nachbararbeiten (Haag 1898, Hofmann 1926 , Kilian 1935, Oechsner 1951, Schlager 1931, Schneider 1934) lautlich, flexivisch oder wortgeographisch relevante Ergebnisse erbringen mußten. Die Wörter sind, was das Lautliche betrifft, insgesamt so ausgesucht, daß alle Laute in allen vorkommenden Lautkombinationen in mindestens einem, möglichst aber mehreren Beispielen vertreten sind. 1.1.2. Erweiterter Fragebogen Nach der ersten Enquête wurden 196 1/6 2 ca. 275 Wörter hinzugenommen, die hauptsächlich weiteres Material für die Formenlehre erbringen sollten. Auch sie waren alphabetisch geordnet. Zusammen mit den
ersten Fragelisten enthielten die nunmehr 8 hektographierten Bogen 6 27 Wörter, wozu noch 36 0 Wörter aus den Wenker-Sätzen zu rechnen sind. Die alphabetische Anordnung der Fragelisten hatte hauptsächlich arbeitsökonomische Gründe. Andere denkbare Anordnungen wären gewesen: (a) eine Gliederung nach Sachbereichen (wie beim Fragebuch zur Ortsgrammatik, vgl. 1.1.3.), welche für die Gewährsleute sicher am einleuchtendsten sprachinhaltliche Zusammenhänge und Frageinteressen hätte einsichtig machen können; (b) eine Gliederung nach den mhd. bzw. ahd. Bezugslauten, wobei allerdings die nur auf Flexion und Wortbildung sowie auf wortgeographische Unterschiede abzielenden Beispielwörter anders anzuordnen gewesen wären. (c) Eine weitere Möglichkeit hätte darin bestehen können, die Wörter (nach dem Beispiel der Wenker-Sätze) zu Sätzen zu verarbeiten und diese „übersetzen“ zu lassen. 1.1.3. Das Questionär für die Ortsgrammatik von Schiltach Ortsgrammatiken der ‘klassischen’ Dialektologie basieren meist auf einem Korpus, das der Bearbeiter als ‘native speaker’ entweder durch Selbstbefragung oder durch teilnehmende Beobachtung von Miteinwohnern seines Heimatorts oder durch eine Mischung beider Methoden gewonnen hatte. Ist eine solche Art der Materialsammlung nicht möglich, bedarf es bei direkter Befragung eines möglichst umfangreichen und feindifferenzierten Fragebuchs. Wie schon 196 2 bei der Materialsammlung für die vergleichende Ortsgrammatik von Huzenbach, Oberiflingen und Schenkenzell (dem Nachbarort von Schiltach) (Baur 196 7 a, 53—113) wurde 1978 (zum Problem einer zweiten und viel späteren Befragungsaktion vgl. 1.2.1.1.) das Fragebuch des Schweizerdeutschen Sprachatlas (Hotzenköcherle 19 6 2 b, 1—78) zugrundegelegt, diesmal in der durch Wer-
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
ner König bearbeiteten Fassung für den Südwestdeutschen Sprachatlas (Fragebuch 1974). Es ist in Sachbereiche gegliedert und enthält auf V + 26 8 Seiten ca. 1950 Fragen, welche ungefähr 2225 verschiedene Wortformen ergeben (König 1975, 181). Dabei wechseln Wort- mit Satzfragen in einem (geschätzten) Verhältnis von 20 : 1 ab. Nicht einbezogen wurde der Sonderteil des Fragebuchs zu Weinbau und Fischerei. 1.2. Die Exploration 1.2.1. Vorbereitung 1.2.1.1. Das Untersuchungsgebiet sollte das 196 0 dialektgeographisch noch unerforschte Gebiet des damaligen Kreises Freudenstadt umfassen. Weil sich aber nach der Voruntersuchung mit Hilfe der handschriftlichen Karten des Sprachatlas des Deutschen Reiches in Marburg gezeigt hatte, daß wichtige Sprach-Grenzlinienbündel auf oder außerhalb der Kreisgrenze verlaufen, wurden auch Orte einbezogen, die in voraufgegangenen Mundart-Untersuchungen (Haag 1898, Hofmann 1926 , Kilian 1935, Oechsner 1951, Schlager 1931, Schneider 1934) bereits mitbehandelt waren. — Im Normalfall einer kombinierten Orts- und Gebietsmonographie ging der Bearbeiter (wie z. B. Haag 1898) von einer umfangreichen Ortsgrammatik aus, um dann anschließend die Dialektgrenzen des ausgewählten Gebiets, meist Laut- und einige Formengrenzen, zu erheben und darzustellen. Es wäre mir in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich gewesen, das Material für eine derartige Arbeit zu sammeln. So wählte ich als Kompromiß das Verfahren, mich im dialektgeographischen Bereich auf mein Material von 196 0—6 2 zu stützen und jetzt lediglich für die Ortsgrammatik neu und auch an einem anderen Ort abzufragen. Für die früher württembergische, seit 1810 badische Kleinstadt Schiltach als Aufnahmeort sprach besonders seine schon von Bohnenberger (1915, 205—208) hervorgehobene interessante sprachliche Sonderstellung: älteres Schwäbisch in Nachbarschaft mit und zunehmend im Übergang zu niederalemannischem Oberrheinisch sowie neuerdings Landmundart im Übergang zur Stadtmundart. Dazu kam die Möglichkeit, für das Badische Wörterbuch Material aus einem noch ungenügend vertretenen Ort zu gewi n n en und dies als Kontaktaufnah m e m it zwei Kollegen vom Südwestdeutschen Sprachatlas zu tun. Die Entscheidung
317
für diesen Aufnahmeort brachte es allerdings auch mit sich, daß Schiltach eine für Arbeiten dieser Art nicht typische Randlage aufweist, die nur insofern nicht so stark ins Gewicht fällt, als das ältere Schwäbisch von Schiltach viele Züge mit dem westschwäbischen Teil des Untersuchungsgebiets teilt und im dialektgeographischen Teil der Fallstudie, z. T. mit Material aus südlich anschließenden Arbeiten, die Einbettung auch in die weitere Umgebung erfolgt. 1.2.1.2. Die Auswahl der Gewährsleute Nach der Entscheidung für das direkte Aufnahmeverfahren galt es, für jeden der zu untersuchenden Orte eine geeignete Gewährsperson zu finden. Als geeignet galten mir — um der Vergleichbarkeit der Ergebnisse willen — Angehörige der ältesten Generation aus der sozialen Grundschicht, die im Ort geboren und aufgewachsen sein und möglichst wenig außerhalb gewohnt oder gearbeitet haben sollten. Auch ihre Eltern sollten möglichst aus dem Ort stammen. Geistige Beweglichkeit, Sicherheit im Gebrauch der Mundart und Vertrautheit mit der Fachsprache der Landwirtschaft waren weitere gewünschte Eigenschaften, die ich bei der ersten Aufnahmeaktion 196 0/6 1 den Personen nannte, welche ich als Vermittler in den einzelnen Orten aufsuchte: meistens Bürgermeister oder Ratschreiber, einige Male Pfarrer, wenige Male Lehrer. 1978 bat ich das Bürgermeisteramt der Stadt Schiltach schriftlich um die Vermittlung von zwei Gewährsleuten mit den o. a. Voraussetzungen, die sich für eine ca. 5 Tage dauernde Abfrageaktion von Mundartforschern der Universität Freiburg zur Verfügung stellen würden. 1.2.2. Aufnahmeaktion, Aufnahmemethode 1.2.2.1. Enquêten 1960/61/62 Das Material, auf dem die dialektgeographische Gliederung des Untersuchungsgebiets beruht, wurde — durch die Erweiterung des Questionärs bedingt — in zwei Aufnahmeaktionen in den Herbst- und Wintermonaten der Jahre 196 0—196 2 erhoben. An jedem der 118 Belegorte wurde eine Person in ihrer Wohnung befragt, bei der ersten Aktion ca. 1½—2, bei der zweiten 1—1½ Stunden lang. Anwesende Angehörige, besonders aus der mittleren und jüngsten Generation, waren nur manchmal lästig; oft lieferten sie Hinweise auf sich vollziehenden oder vollzogenen Sprachwandel. — Oberstes Prinzip bei
318
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
der Aufnahme war, den bei der ältesten Generation am Ort tatsächlich üblichen Sprachgebrauch lautlich möglichst genau festzuhalten und Echoformen oder suggerierte Antworten tunlichst auszuschließen. Das gesuchte Wort sollte womöglich nicht direkt genannt, sondern von der Gewährsperson erraten und benannt werden. Entweder wurde durch Hinzeigen auf die gesuchte Sache (z. B. Fenster, Farben), durch Gesten oder mit umschreibenden Fragen gefragt (z. B. „zum Essen braucht man Messer und — ?“, „das Tier, das bellt, heißt — ?“). Bei den Wenker-Sätzen war das Vorsprechen unvermeidlich; es geschah zudem auf Hochdeutsch, während die Verkehrssprache mit den Gewährsleuten sonst meine (eine westschwäbische) Mundart oder, mit den badischen Gewährspersonen, Umgangssprache war. Allerdings verhinderte es die im Hinblick auf die spätere Auswertung vorgenommene alphabetische Anordnung der Fragelisten oft, daß sich eine natürliche Gesprächshaltung herstellte. Ein ungezwungeneres und mundartsicheres Antworten war leichter zu erreichen, wenn die Informanten in eine Quizsituation gebracht wurden, in der immer wieder der Spaß am „richtigen“ Erraten der offenen Fragen bestimmend werden konnte. Außerdem versuchte ich, den Gewährsleuten, die zu ihrer „wüschten“ Mundart oft ein wenig selbstbewußtes Verhältnis hatten, ein Gefühl von der Gewichtigkeit ihrer Sprache und dieser Aufnahmeaktion zu vermitteln, indem ich sie zu Anfang und während der Befragung darauf hinwies, daß hier altes Sprachgut erhoben und bewahrt werde, das Jüngere oft nicht mehr kennten und benutzten. Förderlich war es auch, daß ich ihnen Fotokopien der beantworteten Originalfragebogen zum Deutschen Sprachatlas von 1887 aus ihrem Ort vorzeigen konnte. — Die Antworten notierte ich sofort in der Lautschrift des Teuthonista (1. 1925, 5); gelegentliche Wiederholungsfragen dienten der Vergewisserung. Spontanmaterial, das nebenbei anfiel, wurde gesondert festgehalten. — Die Wenker-Sätze wurden jeweils am Schluß der Befragung mit einem Grundig-Tonbandgerät mit einer Geschwindigkeit von 9,5 cm/ sec aufgenommen. Sie wurden erst später transkribiert. 1.2.2.2. Die Aufnahme von 1978 Als Gewährsleute für Schiltach waren mir Frau A. E., geb. 1910, Hausfrau, und Herr W. W., geb. 1909, städt. Angestellter i. R.
genannt worden. Frau E. ist eine absolut sichere Mundartsprecherin, während Herr W. fallweise Umgangssprache gebrauchte, weshalb manchmal Rückfragen bei ihm und, falls diese keine endgültige Klarheit brachten, Kontrollfragen bei Frau E. nötig waren. Die Aufnahme wurde in den Wohnungen der beiden Gewährsleute in der Zeit vom 13.—16 . 2. 1978 vorgenommen. Außer mir waren als weitere Exploratoren noch Eugen Gabriel, der Leiter der Aufnahmearbeiten für den Südwestdeutschen Sprachatlas (SSA) und die Exploratorin des SSA Renate Schrambke tätig. Von Montagnachmittag bis Donnerstagmittag waren wir jeweils 3—4 Stunden abwechselnd bei einem der beiden Gewährsleute, so daß auf jede Gewährsperson drei Halbtage entfielen. Die normalerweise nach zwei Stunden Aufnahmearbeit eintretende Ermüdung bei Gewährsleuten und Exploratoren stellte sich wohl deshalb nicht ein, weil wir uns im Fragen abwechseln konnten und außerdem ungewöhnlich wache und interessierte Gewährsleute vor uns hatten. Eine derartige Gemeinschafts-Aufnahme ist nicht der Regelfall und kann sich bei unterschiedlichem Fragestil der Exploratoren sogar störend bemerkbar machen. Dies war hier jedoch nicht der Fall. Auch wenn sich die Mundarten der Exploratoren unterschieden (Niederalemannisch aus Dornbirn und Bühl/Ortenau und Schwäbisch aus dem benachbarten Freudenstadt), so war doch die Tatsache, daß alle Mundart sprachen und für die Gewährsleute verständlich waren, das Ausschlaggebende. Im Fragestil bestanden keine wesentlichen Unterschiede. Jede Antwort wurde von jedem Explorator sofort in Lautschrift (Teuthonista bzw., bei Gabriel und Schrambke, die modifizierte Teuthonista des SSA) in die entsprechenden Spalten der Fragebücher eingetragen. Die jeweiligen Notierungen erwiesen sich bei späterem Vergleich als sehr homogen. Durch den Aufbau des Questionärs nach Sachgruppen war hier öfters eine Art gelenkter Erzählung möglich, bei der die Gewährsperson, nur sachte geführt und fast wie von selbst, das ganze Umfeld z. B. von Arbeitsvorgängen oder Sachbereichen abgeht und wiedergibt. Das theoretisch mögliche Erklären an der Sache, z. B. die Beschreibung eines Stalls, Leiterwagens, ließ sich in Schiltach schon deswegen nicht durchführen, weil es dort fast keine Landwirtschaft mehr gibt und die Gewährsleute diese nur noch aus der Erinnerung kannten.
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
2.
Verarbeitung des Materials
2.1. Materialverarbeitung für eine Untersuchung des Ortsdialekts von Schiltach 2.1.1. Arbeiten für die Ortsgrammatik Zunächst wurde jeder Beleg aus dem Fragebuch auf einen besonderen Zettel übertragen, wobei die spätere Verwendung als Material für das Badische Wörterbuch mitbestimmend war. Der Beleg wurde auf mehrere Zettel geschrieben, falls er zur Exemplifizierung mehrerer, lautlicher oder flexivischer, Erscheinungen dienen sollte. Als Ordnungs- und Bezugssystem im lautlichen Teil diente für den Vokalismus das Mittelhochdeutsche, für den Konsonantismus das Voralthochdeutsche. Es waren also alle Belege zu etymologisieren, d. h. nach den Regeln der historischen Grammatik auf ihre mhd. oder ahd. Vorformen zurückzuführen und dann so zu ordnen, daß z. B. alle Wörter, welche in ihrer mhd. Bezugsform kurzes a enthalten, zueinandergestellt wurden, wobei wegen der unterschiedlichen Betonung nach Haupt- und Nebensilbenvokalismus unterschieden werden mußte. 2.1.2. Materialverarbeitung für eine Wortsammlung Es wäre denkbar, aus dem gesammelten Material eine lokale Wortsammlung zu erstellen, die den Wortschatz — wie in der Vergangenheit meist üblich — nach dem ABC ordnet oder ihn nach Sachbereichen gliedert. — Bei der alphabetischen Gliederung könnte man auf zweierlei Weise verfahren: (1) wie die großen Mundartwörterbücher und einige wenige wissenschaftliche Wortschatzsammlungen (z. B. Roedder 1936 , 321—586 ), in denen das Mundartwort zum Einsortieren in die hochsprachliche Form gebracht wird, sei sie tatsächlich vorhanden wie bei dswǝlǝ > Zwiebel, arfl > Armvoll oder nach „lautgesetzlichen“ Regeln konstruiert wie fǝrdlofǝ > ver-ent-laufen; (2) konsequent nach der Aussprache (z. B. Meisinger 1906 ), wobei dann Oa „Ei“ vor Oachhärnle „Eichhörnchen“, ob und Obacht eingereiht würde. Bei beiden Gliederungsarten ließen sich Beispielsätze (auch Redensarten, Sprichwörter, Rätsel, Kinderverse) anfügen, die entweder im Verlauf der Aufnahme als Spontanbelege notiert werden konnten oder gezielt hätten erfragt werden können. Allerdings ist die Materialbasis für
319
eine Darstellung „des“ Dialektwortschatzes eines Ortes dann zu schmal, wenn ihr lediglich das mit einem Sprachatlas-Fragebuch erhobene Material zugrundeliegt. Ausreichende oder gute Wortsammlungen setzen jahre-, oft jahrzehntelange Sammelarbeit interviewender und beobachtender Art voraus. 2.2. Das Material für den dialektgeographischen Teil 2.2.1. Das linguistische Material Zunächst wurde für jedes Belegwort eine sog. Originalkarte angelegt, in die der Beleg in phonetischer Schreibung, ganz oder verkürzt, am Ortspunkt eingetragen wurde. Danach wurden diese Karten nach den in 2.1. für das Lautliche angegebenen Reihungsprinzipien geordnet. Für sich gestellt wurden morphologische (mit Material zu Flexion und Wortbildung) und wortgeographische Karten. In einem zweiten Arbeitsgang stellte ich für jede Sprachform, soweit sie geographische Unterschiede zeigte, eine Flächenkarte her, in der die jeweils geltenden Sprachformen durch (Grenz-) Linien voneinander geschieden und die Leitform mit den nur unwesentlich von ihr abweichenden Varianten in das jeweilige Areal eingetragen wurde. Einzel n e abweichende Formen innerhalb eines geschlossenen Areals wurden mit einem Symbolzeichen auf dem jeweiligen Ortspunkt herausgehoben. In einem dritten Schritt wurden für den Kartenband (Baur 196 7 b) aus solchen Karten kombinierte Flächenkarten mit Punktsymbolen hergestellt, welche entweder verwandte Spracherscheinungen kartierten (also z. B. Schnee, weh, Reh, See zu mhd. ê, mhd. hs in [...], vgl. Karten 16 .1 und 16 .2 in 3.2.) oder einigermaßen übereinstimmende Grenzverläufe aufwiesen (so vor allem die wortgeographischen Karten, vgl. Karte 61 .4. in 3.2.3.). 2.2.2. Das extralinguistische Material Nachdem die grundlegenden Arbeiten zur Sprach- = Kulturraumgeographie (Aubin/ Frings/Müller 1926 , Maurer 1942) den Zusammenhang zwischen sprachlichen und anderen raumbildenden Faktoren herausgestellt hatten, sollten den Sprachkarten des Untersuchungsgebiets möglichst viele geographisch-historisch-volkskundliche Karten korreliert werden können. Eine Reihe der Karten 1—19 bei Baur 196 7 b konnte geographischen oder historischen Spezialunter-
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
320
suchungen entnommen und umgezeichnet werden, andere mußten neu, nach amtlichem statistischem Material oder auf Grund eigener Erhebungen entworfen werden. Dem beschreibenden Einführungsteil der geographisch-historischen Übersicht über das Untersuchungsgebiet (Baur 196 7 a, 24—52) konnten so im Kartenband folgende Hilfskarten zum dialektgeographischen Vergleich beigegeben werden: (1) Geologie, (2) Bodenarten, (3) Waldverbreitung, (4) Siedlungsformen, (5) Erbsitten, 6( ) Hausformen, (7) Trachten, (8) Siedlungsgröße und heutige politische Gliederung, (9 a) Bevölkerungsdichte 1939, (9 b) Bevölkerungsdichte 1956 , (10 a) Verkehr, (10 b) Straßenverkehrsmengen 196 0, (11) Fremdenverkehr, (12) Gemeindetypen, (13) Industriekreise, Pendelverkehr, (14) Märkte, (15) Besiedlung, 6 (1 ) Politische Verhältnisse um 1450, (17) Territoriale Gliederung um 1780, (18) Kirchliche Verhältnisse um 1275, (19) Kirchliche Verhältnisse um 1900.
3.
Darstellung der Daten
3.1. Ortsgrammatik von Schiltach 3.1.1. Lautlehre 3.1.1.1. Gliederung der Lautlehre (1) Vokalismus; (i) Allgemeines; (a) Qualitative Veränderungen; (α) Entrundung; (β) Diphthongierung altlanger Vokale; (γ) Einwirkung der Nasale; (b) Quantitative Veränderungen; (α) Dehnung oder Diphthongierung altkurzer Vokale; (β) Kürzung altlanger Vokale und Diphthonge; (γ) Monophthongierung alter Diphthonge; (ii) Die Vokale der Starktonsilben; (a) Kurze Vokale; (α) Mhd. a; (β) Primärumlaut von ahd. a; (γ) Sekundärumlaut von ahd. a; (δ) Mhd. (germ.) ë; (ε) Mhd. i; (ζ) Mhd. o; (η) Mhd. ö; (ϑ) Mhd. u; (ι) Mhd. ü (Umlaut von ahd. u); (b) Lange Vokale; (α) Mhd. â; (β) Mhd. æ; (γ) Mhd. ê; (δ) Mhd. î; (ε) Mhd. ô; (ζ) Mhd. œ; (η) Mhd. û; (ϑ) Mhd. iu (Umlaut von ahd. û); (c) Diphthonge; (α) Mhd. ei 1 (ahd. ei); (β) Mhd. ei 2 (aus ahd.-egi-, -agi-); (γ) Mhd. iu (ahd. iu < germ. eu); (δ) Mhd. ou; (ε) Mhd. öu; (ζ) Mhd. ie; (η) Mhd. uo; (ϑ) Mhd. üe; (iii) Die Vokale der Nebensilben; (a) Vortonvokale; (b) Nachtonvokale; (2) Konsonantismus; (i) Allgemeines; (ii) Die einzelnen Konsonanten; (a) Halbvokale; (b) Liquide; (c) Nasale; (d) Labiale; (e) Dentale; (f) Palatale und Velare.
3.1.1.2. Beispiel aus dem Vokalismus: Mhd. a 3.1.1.2.1. Vor oralen Konsonanten erscheint mhd. a (1) ungedehnt als a (a) vor mhd. t in offener und geschlossener Silbe, z. B. in blad Blatt, fadǝR Vater, gadǝR Gatter, glad glatt, gRadǝ Kratten, ‘Armkorb fürs Kirschenpflücken’, Rad Ratte, sadl Sattel, šadǝ Schatten, wadǝ waten; (b) vor mhd. Doppelkonsonanz und Affrikata, z. B. af Affe, gafǝ gaffen, Rafl Raffel, šafǝ schaffen, ‘Teig kneten’, basǝ passen, ‘warten’, ufbasǝ aufpassen, fas Faß, bRǝfas (Mist-)Brühfaß, i las ich lasse, nas naß, wasǝR Wasser, wasǝRgeld Wassergelte, daš Tasche, flaš (Glas-)Flasche, aber bedflęš Bett- und miliχflęš Milchflasche (aus Metall), ęšǝ Asche, węšǝ waschen, bax Bach, baxǝ backen, aldbaxǝ altbacken, baxōfǝ Backofen, baxmūǝld Backmulde, baxǝd Bakkete, ‘auf einmal gebackene Brotmenge’, dax Dach, -firšd -first, -khîǝnǝR -kiener = -Rinǝ -rinne (letzteres die heute gebräuchliche form), -lad -latte, -dRauf -traufe, khaxǝl Kachel, laxǝ lachen, maxǝ machen, šdaxl Stachel, šwax schwach, bRǝ- (f.), wasǝRšabf Brüh-, Wasserschapf(e), ‘Schöpfgefäß’, Pl. šabfǝ, šdabfl Staffel, dabfǝR tapfer, dsabfǝ Zapfen, badsǝ Batzen, bRadslǝ pratzeln, prasseln, khads Katze, khadsǝRoli Katzenrolle, ‘Kater’, gRads (f.) Kratze; gnabǝ knappen, ‘mühsam gehen’, gRab Rabe, gRablǝ krab(b)eln, khab Kappe, šabl Schappel, ‘Brautkrone’, šnabǝ schnappen, dabǝ tappen, agšd Axt, bagǝ m. Backe(n), dagl Dackel, gagl Gackel, ‘Kropf’, gagǝRǝ gackern, hagǝ hacken, sag Sack, waglǝ wackeln, šdagsǝ stacksen, ‘stottern’, bal Ball, balǝ (früher fǝubalǝ ) ‘Ball spielen’, dalǝ Dalle, fal Falle, gRalǝ Krallen, ‘Perlen am Rosenkranz’, dRšnal Türschnalle, š dal Stall, faRǝšdal Farrenstall, daRi Darre, khaRǝ Karren, šubSchub-, gRāskhaRǝ Graskarren, šaRǝ scharren, gaRǝ ‘knarren (Tür)’, gnaRǝ knarren (z. B. Schuhe); (c) vor Konsonantengruppen außer hs, ht, r + dentalem Geräuschlaut (rs, rt, rz) sowie teilweise rm, rn, z. B. in halb, halbmǝil Halbmeil (Ortsname), khalb Kalb, khalwǝ kalbe(r)n, khalwįn Kalbin, salbǝ salben, halfdǝR Halfter, bald, wald Wald, ald alt, khald kalt, maldǝR Malter (ein altes Hohlmaß), šaldǝ schalten, ‘schieben’, šaldkhaRǝ Schaltkarren, šbaldǝ spalten, hals Hals, falš falsch, salds Salz, šmalds Schmalz, balg Balg, falgǝ ‘von Unkraut reinigen’, galgǝwęle Galgenwäldchen (Flurname), balgǝ Balken, khalįχ Kalk, almǝd Allmend, halm Halm, faRb Farbe, gaRb gaRwǝ Gerbe(n), naRb Narbe, gRāsnaRb Grasnarbe, laRfǝ
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
Larven, ‘Masken’, šaRf scharf, baRg Barg, ‘kastriertes männl. Schwein’, gaRn Garn, maRg Mark, šdaRg stark, baRlǝ bar(r)len, ‘spielen b. jungen Katzen’, waRm warm, gRafd Kraft, safd Saft, khabsl Kapsel, hašbl Haspel, Rašbl Raspel, fašdǝ fasten, khašdǝ Kasten, lašd Last, našd Ast, badšǝ patschen, dadšǝ tatschen, ‘stark regnen’, lįŋgsdàdšǝR Linkstatscher, -händer, jagd Jagd, magd Magd. — (2) Mhd. a erscheint gedehnt als ā (a) in altoffener Silbe, z. B. in ābǝR aber, gāwl Gabel, hae-, lād-, mišdgāwǝl Heu-, Lade-, Mistgabel, gāwlǝR Gabler (der das Heu mit der Gabel auf den Wagen lädt), gRāwǝ graben, Graben, gRāwǝnagšd Grab(en)axt (der Straßenarbeiter), hāwǝR Haber, khāwįs Kabis, ‘Weißkraut’, šāwǝR (Teig-)Schaber, šāwǝdį Schabete, Zusammengeschabtes vom Teig, šnāwl Schnabel, bādǝ baden, fādǝ Faden, lādǝ laden, lādǝR Lader (der auf dem Heuwagen stehend lädt), lādgāwlǝ Pl. Ladegabeln, šādǝ schaden, wādǝ f. Wade; hāfǝ Hafen, ‘Topf’, dāfl Tafel, hāgǝšwnds Hagenschwanz, ‘Schwanz des Bullen’, jāgǝ jagen, māgǝ Magen, nāgǝ nagen, nāgl Nagel, sāgǝ sagen, gšlāgǝ geschlagen Part. Prät., dRāgǝ tragen, šRāgǝ Schragen, wāgǝ Wagen, hāsǝ Hasen Pl., wāsǝ Wasen, ‘Grasnarbe’, bāsǝ Basen Pl., mālǝ mahlen, wālǝ walen, ‘sich wälzen’, dsālǝ zahlen, fāRǝ fahren, šbāRǝ sparen; (b) in alteinsilbigen Wörtern (einfache Verschlußlenis, einfacher Reibelaut oder Sonor, wobei Wörter mit mhd. Wechsel zwischen inlautender Verschlußlenis und auslautender Verschlußfortis mundartlich von einer Form mit auslautender Lenis ausgehen, die aus dem Inlaut übernommen ist): gRāb Grab, šdāb Stab, bād Bad, Rād Rad, hāg Hag, gāRdǝ-, ladǝ-, drǭdhāg Garten-, Latten-, Drahthag, šlā schlagen, i šlā ich schlage, šlāg Schlag, i sāg s ich sage es, dāg Tag, dāglēnǝR Taglöhner, dRāgsag Tragsack, ‘Gebärmutter der Kuh’, glās Glas, gRās Gras, gRāsdūǝχ Grastuch, khāl kahl, šāl Schale, ‘Tasse’, šmāl schmal, dāl Tal, bāR bar, gāR gar, šāR Schar, ‘Streichbrett am Pflug’; (c) vor hs bei Ausfall des h, vor ht teils mit, teils ohne Ausfall des Gutturals in: † āsl Achsel, † flās Flachs, wāsǝ wachsen, gwāsǝ gewachsen Part. Prät., se wāsǝd 3. Sg. Pl., āxd acht, gib āxd gib Acht!, āxdsē achtzehn, āxdsg achtzig, nāxd Nacht, nāxdęsǝ Nachtessen, nāxdrgl Nachtriegel (zum Verschließen der Tür). — Die Dehnung vor ht unterbleibt in halbmundartlichen Wörtern, z. B. in Macht, pachten, Schacht, Schachtel; ebenso werden
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Wörter mit Dehnung vor hs teilweise — besonders bei Jüngeren — ersetzt durch umgangssprachliche Formen wie ags Achse, agsl Achsel, flags Flachs, wags Wachs. — (d) Dehnung des mhd. a erfolgt weiterhin vor mhd. r + dentalem Verschlußlaut, Reibelaut und Nasal bei Reduzierung des r in mā R dǝR Marder, mā R dǝRšlos Marderschloß, bā R d Bart, gā R dǝ Garten, mā R de Martin (Vorn.), šwā R d Schwarte, ‘letztes Brett eines zersägten Baumstamms’, wā R dǝ warten, hā R ds Harz, šwā R ds schwarz, wā R ds Warze, ā R š Arsch, šnā R χlǝ schnarchen, ā R m arm, dā R m Darm, wā R m warm, bā R nǝ barnen, ‘Garben in der Scheuer bzw. Heu aufschichten’, (jedoch aRfl Armvoll und gaRn Garn). (e) Progressive Nasalierung des gedehnten a findet sich in i m ich mag, ns Nase sowie, bei nur einer Gewährsperson, in nxd. 3.1.1.2.2. Vor Nasalen erscheint mhd. a (1) ungedehnt als ã (leicht zentralisierter Nasallaut) oder (a) vor mhd. Doppelnasal einschließlich dem Gutturalnasal ng in khmǝ Kamm (des Hahns), Rmlǝ rammeln, Rmlįg rammlig, šRmǝ m. Schramme, dnǝ dannen, ‘dort drüben’, hnǝ hannen, ‘hier herüben’, bfn Pfanne, gšbnǝ Part. Prät. von spannen, dnǝdsabfǝ Tannenzapfen, wnǝ Wanne, ŋšd Angst, ŋǝRšǝ Angersen, ‘Weißrüben’, dŋl Dangel, ‘Schärfe der Sense’, dŋlgšįR, -maš, -šdog Dangelgeschirr, -maschine, -stock (zum Dengeln der Sense), fnǝ, gfŋǝ (ge)fangen, fãŋįs Fange(n)s(-spiel), hãŋǝ hangen, bRōdhŋ f. Brothange, lŋ lang, lŋǝ langen, ‘holen’; (mhd. Kürze ist auch erhalten in Wörtern, in denen im Mhd. inlautendes mm mit auslautendem m(p) wechselt, z. B. in lm Lamm, šwm Schwamm, šdm Stamm); (b) vor mhd. -mer, -mel in hmǝR Hammer, khmǝR Kammer, hml Hammel, smlǝ sammeln; (c) vor Nasalverbindungen, besonders Nasal + Verschlußlaut oder Affrikata, falls der Nasal sich erhalten hat, z. B. in: mbl Ampel, šlmbǝR Schlamper, lmb Lampe, dmbf Dampf, hãmbf Hanf und hãmbfl Handvoll (mit Assimilation wie bei sẽmbf Senf), smšdįχ Samstag, ndǝRš anders, bnd Band, hnd Hand, hndkhaRǝ Handkarren, šbRidskhnd Spritz(= Gieß-)kanne, lndǝ Lande = Gabeldeichsel, snd Sand, šnd Schande, i šdnd ich stehe, šdndǝ Stande, wnd Wand, gnds ganz, šūǝlRndsǝ Schulranzen, šwnds Schwanz, šwndsǝ schwanzen, ‘fortgehen’, ŋgǝbudǝR Ankenbutter, gšdŋg Gestank, mŋgl Mangold,
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
gRŋgǝd Krankheit. (2) Mhd. a vor Nasalen erscheint gedehnt als (leicht zentralisierter Nasallaut) (a) vor einfachem Nasal (α) inlautend bei Erhaltung des Nasals, z. B. in Rmǝ Rahmen (aber nãmǝ Name), nǝ Ahne, ‘Großmutter’, bnǝ bahnen, fnǝ Fahne, hnǝ (Wasser-) Hahn(en), Rnǝ Rahnen, ‘rote Rüben’, dsnǝ zahnen; (β) auslautend, mit Auflösung des n , z. B. in: lm lahm, Rm Rahm, dsm zahm, an, b Bahn, kh kann, khš kannst, m Mann, ds Zahn, dslug Zahnlücke. (b) Mhd. a vor Nasal + Reibelaut ist diphthongiert zu ãũ in den Wörtern gãũs Gans, gãũsm Gansmann, früher ‘Gänserich’, heute ‘dummer, täppischer Mensch’. 3.1.1.3. Beispiel aus dem Konsonantismus: Vorahd. n (1) Vorahd. n ist als stimmlose Lenis erhalten (a) im Anlaut, z. B. in nēχdǝlǝ nächtelen, ‘dämmern’, nǭdl Nadel, nūdl Nudel, šnabǝ schnappen, šnųbǝ Schnupfen, gnǝχd Knecht, gneχle (Fuß-)Knöchel; (b) im Inlaut, z. B. in bįndǝ binden, bųndǝ Part. Prät., hãnd Hand, hųnd Hund, bnǝ bahnen, bȭnǝ Bohne(n), šȭnǝ schonen; (c) vor folgendem vokalischem Anlaut in Flexions- und Ableitungssilben, z. B. bnǝR Beine Pl., nǝR einer, šdnǝR Steine Pl., šnǝR schöner. — (2) Vorahd. n ist aufgelöst bzw. geschwunden (a) in betonter Silbe (α) im Inlaut vor Reibelaut, z. B. in gãũs Gans, gãũsm Gansmann, ‘Gänserich’, † gaĩs (heute gens ) Gänse, gãũshǝud Gänsehaut, † baẽsl (heute bnsl ) Pinsel, ãẽs uns, ãẽsǝR unser, wãẽslǝ winseln, dsãẽs Zins, dsãẽšdiχ Dienstag, fãĩšdǝR finster, fĩšdǝR Fenster, daõ R šdįχ Donnerstag, daõRǝ donnern, faẽf fünf; (β) im alten vollen Auslaut auf n und nn mit Dehnung und (früher durchgehend) Nasalierung vorausgehender Kurzvokale, z. B. in ds Zähne, ds zehn, k Kinn, š schön, š schon, faũ von, bRũ braun, gũ gehen, lũ lassen, laẽdūǝχ Leintuch, wãĩ Wein, (i) baĩ (ich) bin, bų Bein, Ru Rain, šdũ Stein; (b) in unbetonter Silbe (α) im Inlaut bei mehrsilbigen Wörtern vor Dentalen, z. B. in fŋįs šblǝ Fange(n)s spielen, bǝ χįs holds büchenes Holz, bRǭdiskhaxl Brat(ens)kachel, ‘viereckige Bratkasserole’, sē ǝ gį S(eg)ense, ǭwǝd Abend, almǝd Allmend, dųdsǝd Dutzend, dusǝd tausend, si wisǝds sie wissen es, dǝnwǝd daneben; (β) im Auslaut, z. B. in gRǝsǝ ‘Kirschen’, ōfǝ Ofen, ofǝ offen, dsemǝ zusammen, holǝ holen, nǝgnǝiwǝ hinknien, nχdǝ neben nēχdǝ nächten,
‘gestern abend’, hįndį Hündin, bǝiǝRe Bäuerin, nǫxbǝRį Nachbarin, bųǝχ (vgl. [2bα]) buchen, ‘aus Buchenholz’, † hildsį hülzern, ǝRdį irden, dogįle Dockele, ‘Tannenzapfen’, mdle Mädchen. — (c) Vorahd. n ist durch Assimilation zu m geworden vor Labialen in hãmbf Hanf (bei Jüngeren umgangssprachliches hãnf ), sẽmbf Senf, unter Einfluß des vorausgehenden Nasals in mēsmǝR Mesner, vor Dental in hãmbfl Handvoll, hmbēR Himbeere. — (d) n ist eingeführt worden in šnndsǝ ‘schneuzen’ sowie — zur Vermeidung des Hiatus im Satz — vor vokalischem Anlaut, z. B. in gūǝdǝnǭwǝd guten Abend, dǫ haũn da habe ich, daneben deRd hani dǝnǝd dort habe ich gedient, des kn šo das kann ich schon, faũnǝm von ihm, faũnǝRǝ von ihr. Durch falsche Worttrennung ist n in den Anlaut von folgenden Wörtern getreten: našd Ast, Pl. nęšd, ǝusnašdǝ ausasten. — (e) Geminata nn erscheint vereinfacht als n, z. B. in dãnǝ Tannen, bfanǝ Pfannen. — (f) Der Gutturalnasal ng erscheint als einfache Lenis ŋ, z. B. in fŋǝR Finger, sŋǝ singen, dsãŋ Zange, dsųŋ Zunge. — (g) Mhd. n vor k (nk, nc) ist ebenfalls zum velaren Nasal ŋ geworden, so in baŋg Bank, daŋgǝ danken, deŋgǝ denken, dReŋgǝ tränken, dRŋgǝ trinken, dRųŋgǝ getrunken, šųŋgǝ Schinken, dųŋgǝ tunken, wŋgǝ winken. — (h) Die Lautgruppe gn ist — vermutlich durch progressiv-regressive Assimilation und anschließende Vereinfachung — zu ŋ geworden in wãŋǝR Wagner, s khųnd ds Ręŋǝd es kommt zum regnen (aber 1961 Reŋǝ regnen!). 3.1.2. Formenlehre 3.1.2.1. Gliederung (1) Deklination; (a) Allgemeines; (b) Das Substantiv; (α) Genusunterschiede; (β) Maskulina; (γ) Feminina; (δ) Neutra; (c) Das Adjektiv; (d) Das Zahlwort; (e) Das Pronomen; (α) Das Personalpronomen; (β) Das Possessivpronomen; (γ) Das Demonstrativpronomen; (δ) Das Fragepronomen; (ε) Die Indefinita. (2) Konjugation; (a) Allgemeines; (b) Die starken Verben; (α) Vokalwechsel; (β) Die einzelnen Klassen; (γ) Die schwachen Verben; (δ) Die Präteritopräsentia; (ε) Sonstige unregelmäßige Verben. 3.1.2.2. Beispiel aus der Formenlehre: Das Adjektiv (1) Starke Flexion. Die starke (pronominale) Form des Adjektivs steht bei fehlendem Arti-
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
kel und nach Possessivpronomen. Im Nom. und Akk. Sg. Mask. hat ein Ausgleich in der Art stattgefunden, daß dort auch im Nom. die Akk.-endung - ǝ erscheint. Dieser sog. badische (nach Haag 1946 , 98) oder rheinische Akkusativ (vgl. Bohnenberger 1919, 191, Bohnenberger 1928, 41, Haag 1898, 87) scheint von Hoch- und Umgangssprache her wieder rückgängig gemacht zu werden, wie sich an beiden Gewährsleuten zeigt, die neben mehrfach gebrauchten - ǝ -Formen auch -ǝR hören lassen: ǝn šēnǝR dāg ein schöner Tag, ǝn hōǝR khiRχdûǝRm ein hoher Kirchturm, ǝn aldǝR m bzw. huǝd ein alter Mann bzw. Hut. Sg. Nom. Dat. Akk. Pl. Nom. Dat. Akk.
Mask. âldǝ aldǝ aldǝ
Paradigma ald ‘alt’ Fem. Neutr. ald ald(s) āldǝ aldǝ ald ald(s)
ald ald ald
ald ald ald
ald ald ald
Im Nom. und Akk. Sg. Neutr. kommen flektierte und unflektierte Formen vor: ǝ glai mdli, ǝ gsunds khnd. (2) Schwache Flexion. Die schwache (substantivische) Form steht nach dem bestimmten Artikel und nach Demonstrativpronomen. Sg. Nom. Dat. Akk. Pl. Nom. Dat. Akk.
Mask. ald aldǝ ald
Paradigma ald ‘alt’ Fern. Neutr. ald ald aldǝ aldǝ ald ald
ald ald ald
ald ald ald
ald ald ald
(3) Unflektiert ist stets das prädikativ gebrauchte Adjektiv, außerdem (s. 3.1.2.2. [1]) ein Teil der Formen im Nom. Akk. Sg. Neutr. des starken Adjektivs mit Vokal + n am Wortausgang, weil der Nasal nicht durch die Flexionsendung gedeckt ist, daher šē wędǝR schönes Wetter, ǝ glae khnd ein kleines Kind, jedoch ǝ gsųnds khnd ein gesundes Kind. — (4) Steigerung. Komparativ und Superlativ unterscheiden sich nicht wesentlich vom hochsprachlichen Gebrauch; Deklinationsendungen sind -(ǝ)R und -št. Einige Adjektive zeigen — abweichend vom hochsprachlichen Gebrauch — Umlaut, z. B. bRēfǝR zu brav, fǝilǝR zu faul, gledǝR zu glatt, šmēlǝR zu schmal, wēlǝR zu wohl, bRǝdǝR zu bRǭad breit, hǝsǝR zu hǭǝs heiß.
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3.2. Zur Dialektgeographie des Untersuchungsgebiets 3.2.1. Beispiele aus der Lautlehre 3.2.1.1. Mhd. ei 1 (s. Karte 16.1.) Die Grenzen der Entsprechungen stellen wichtige Mundartscheiden dar, die vor allem im Württembergischen das Schwäbische mit ǫa, ǫǝ bzw. — vor Nasalen — õ vom Vorfränkischen mit āe bzw. ẽ trennen und beide gegen das Niederalemannische mit seinen verschiedenen Ausprägungen (ai, ęi, āi) abgrenzen. — (1) Im Auslaut und vor oralen Konsonanten zeigt das Niederalemannische ai, in Zwieselberg und (badischem) Kniebis daneben teilweise auch ae, im Nordwesten das bis ins Elsässische reichende ęi, in Herrenwies das vom Südrheinfränkischen beeinflußte āi neben āe, welch letzteres im südlich und östlich anschließenden Vorfränkisch gilt und seine Fortsetzung nach Nordosten in das Gebiet östlich der Enz hat. Die (west-)schwäbische verdumpfte Entsprechung geht von Osten nach Westen und von der alten zu der jüngeren Generation hin fortschreitend von ǫa in ǫǝ über. Wie schon bei der Entsprechung von mhd. ë (vgl. Baur 196 7, 116 f. und Karten 29—33) haben auch hier wieder einige Orte die erste Komponente des Diphthongs zu ọ verengt. — Sonderbehandlung haben — meist unter Einfluß des Schriftdeutschen — einige Wörter im Schwäbischen erfahren, die anstelle von ǫǝ ae zeigen, so z. B. Kaiser, heilig, zweit, Kreis, Fleisch. Ein Vergleich der Angaben von 1887 für den Deutschen Sprachatlas (vgl. Baur 196 7 b, Karte 6 8) zeigt das Zurückweichen der Mundartform flǫǝš vor der durch das Schriftdeutsche gestützten Lautform flaeš (vgl. Oechsner 1951, 49). — (2) Im Hiatus (vgl. Baur 196 7 b, Karte 6 8: Eier) zeigt auch der schwäbische Osten des Untersuchungsgebiets ae. Nach dem Sprachatlas des deutschen Reichs (s. Maurer 1942, Karte 41) und Fischer (1895, Karte 15) schließt hieran nach Osten ein Gebiet mit ǫe, ǫi an; die ǫajǝr- Formen in Dettlingen, Diessen und Bittelbronn sind als Kontaminationsformen zwischen ǫe, ǫi und ae zu betrachten. — (3) Vor Nasalen (vgl. Baur 196 7 b, Karte 70) ist das Bild etwas verändert: Im Nordosten, Osten und Südosten herrscht õ , im Vorfränkischen ẽ . Dazwischen gilt in einigen Orten des Murgtals ẽ . Ob diese Lautung, die heute im größten Teil des (West-)Schwäbischen von der Umgangssprache her die Mundartform verdrängt, von der Umgangssprache oder vom
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
Karte 16.1: Lautkarte — Mhd. ei 1 im Auslaut und vor oralen Konsonanten (aus Baur 1967 b, Karte 69)
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
Karte 16.2: Lautkarte — Mhd. b (intervokalisch) (aus Baur 1967 b, Karte 86)
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
nördlich anschließenden Fränkisch beeinflußt ist oder ob sie als bodenständige Kontaminationsform zwischen ẽ und õ anzusehen ist, läßt sich schwer entscheiden. Das im Nordwesten gültige ęi hat seinen Geltungsbereich in der Stellung vor Nasalen etwas nach Süden ausgedehnt. Im Renchtal und obersten Wolftal ist Verdumpfung zu ǫi eingetreten. Während ãĩ in Wolfach und — von dort ausstrahlend — ai in Oberwolfach, Halbmeil und Langenbach wohl erst durch hochbzw. umgangssprachlichen Einfluß das ursprünglich bis Haslach i. K. gültige ǫi (vgl. Kilian 1935, 26 ) verdrängt haben, scheint ãĩ im Voralemannischen noch älteren Stand wiederzugeben. Als Kompromißform ist auch ǭẽ in (badisch) Kniebis und Zwieselberg zu betrachten. Im Norden zeigt das Nebeneinander verschiedener un- und verdumpfter Formen, daß hier vorfränkische Einflüsse vom Norden und Süden wirksam werden, die z. B. im Fall von Hundsbach die alte Zugehörigkeit zum niederalemannischen Westen (Seebach, Ottenhöfen) erschüttern. 3.2.1.2. Mhd. b (s. Karte 16.2.) Zwischen Vokalen und nach Liquiden hat ein großer Teil des Untersuchungsgebiets b zu w erweicht. Diese vom Fränkischen her vorgetragene Auflösung ist von Nordwesten, Norden und Nordosten her in das Untersuchungsgebiet eingedrungen und hier an der von Südwesten nach Nordosten ziehenden Sprachgrenzen-Barriere am Ostrand des Untersuchungsgebiets zum Halten gekommen (vgl. Bohnenberger 1953, 104, Anm. 1, Ochs 1922, 147—156 ). Der zerfaserte Grenzverlauf zeigt allerdings, daß die Grenze noch in Bewegung ist (vgl. dazu Schneider 1934, 321 f.). Außerdem sind die Übergänge von der b- zur w -Aussprache im Grenzraum so unmerklich, daß man die Dörfer innerhalb dieser Vibrationszone keiner der beiden Aussprachen eindeutig zuordnen kann. Etwas rätselhaft erscheint das b -Gebiet um die oberste Murg. Ausgleich der jüngsten Zeit zugunsten der b -Form, den die jüngere Generation heute — unterstützt von der Hochsprache — allenthalben zeigt, ist kaum anzunehmen. Eher ist folgendes denkbar: während in den badischen Orten die w -Aussprache von Westen her in die Täler eindrang und von der Kinzig aus auch an die württembergischen Dörfer um Alpirsbach und Loßburg weitergegeben wurde, muß
dem Nordosten des Untersuchungsgebiets die w -Aussprache vom Nagold-Enzgebiet aus zugekommen sein, einem Raum also, der auch sonst starken sprachlichen Einfluß auf das Murgtal und die östlich davon gelegene Hochfläche ausgeübt hat (vgl. Bohnenberger 1953, 209). Wegen der Unwegsamkeit des Murgtals zwischen Forbach und Schönmünzach sowie wegen der späten Besiedlung und Erschließung dieses Gebiets kommt das Murgtal als Verbreitungsweg weniger in Frage. Da der Lautwandel nach Ochs (1922, 153 f.) ziemlich spät anzusetzen ist und im Nordosten wohl auch langsamer als im Westen und Nordwesten vorgedrungen ist, da außerdem auch einige der obersten Talorte der Wolf und Rench nach den Formularen des DSA von 1887 noch kein -waufweisen (vgl. Baur 196 7 a, 240 f.), darf man annehmen, daß die Bewegung hier erst in jüngster Zeit an- und zum Halten gekommen ist. Die Tatsache, daß das oberste Murgtal sich in den letzten Jahrzehnten stärker nach Freudenstadt hin (und damit sprachlich an dessen Umgangssprache, die -b- zeigt) orientiert hat, mag das Beharren bei der b -Aussprache verstärkt haben. 3.2.2. Beispiel aus der Formenlehre: Verbalflexion — Personalendungen (s. Karte 16.3.) Der Sprachatlas des deutschen Reichs zeigt in der bei Maurer (1942, Karte 6 8) abgebildeten Ausschnittkarte noch eine scharfe Scheidung zwischen östlichem, schwäbischem -scht und westlichem, oberrheinischem -sch. Heute kommen im Voralemannischen, im Vorfränkischen und einigen schwäbischen Orten im Nordosten -šd und -š nebeneinander vor; letzteres überwiegt bereits. Das Schwanken zwischen -š und -šd und der Abfall des t, den auch Engel (1954, 300) für die ganzen fränkischen Gebiete Württembergs konstatiert, ist im Untersuchungsgebiet wieder auf den Einfluß des Fränkischen zurückzuführen. — Einheitsplural zeigt das ganze Untersuchungsgebiet, das Schwäbische auf -ǝd, -ǝṭ, das Alemannische auf - ǝ . Auffallend ist das Verhalten von Besenfeld und Urnagold im Norden, die Einheitsplural auf -ǝn haben. In einigen voralemannischen Orten und im Nordwesten finden sich Pluralformen mit -ǝt und - ǝ nebeneinander, jedoch überwiegen die letzteren (vgl. Maurer 1942, 223, Karte 36 , Schirmunski 1962, 521 ff.).
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
Karte 16.3: Formenkarte — Personalendungen der Verben (aus Baur 1967 b, Karte 110)
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
3.2.3. Beispiele aus der Wortgeographie (s. Karte 16.4.; vgl. Baur 1967 a, 143—155, 1967 b, Karten 120—140) Karte 16 .4. zeigt eine Reihe von Gegenformen, die sich meist an der schwäbischniederalemannischen Grenze gegeneinander abgesetzt haben. Einige dieser Gegensätze sind schon sehr alt, z. B. Wiese/Matte und Ahne/Großvater (vgl. die bei Baur 196 7 a, 144 genannte Literatur). Es sind fast durchweg großräumige Gegensätze, die jeweils schwäbisches, meist altwürttembergisches von niederalemannischem, mittelbadischem Gebiet trennen. Nur im Gegensatz Blechner/ Flaschner hat die schwäbische Form im oberen Wolftal an Einfluß gewonnen. Die Zugehörigkeit des Voralemannischen zum WieseGebiet dürfte jedoch alt sein. Zwieselberg und Herrenwies zeigen schwäbischen Einfluß. — Auf Karte 122 (Baur 196 7 b) geht das Voralemannische mit dem Schwäbischen; wieder setzen sich westliche gegen östliche Formen ab. Das Wagner -Gebiet ist geteilt in ein nordöstliches mit Umlaut, (wgnǝr) und eines mit wãŋǝr, das sich, südlich und südwestlich des ersteren gelegen, in einem Streifen vom Schwarzwald über die Schwäb. Alb bis in das Ries hinzieht. Krummholz (vgl. Schwäbisches WB. 4, 792), das heute von Wagner überlagert wird, hatte früher wahrscheinlich weitere Verbreitung. Der Gegensatz Veigele (Schwäbisches WB. 2, 1016 f.)/ Vei(e)li (Badisches WB. 2, 34 f.) ist mehr lautlicher Art: g-lose niederalemannische Formen gegen solche mit g im Schwäbischen; im Nordwesten gilt feilōd. — Karte 123 (Baur 196 7 b) zeigt das Wolftal mit dem Schwäbischen und Voralemannischen gehend; die Gegenformen haben sich hier auf der alten Diözesan- (und Gau-)grenze Straßburg/Konstanz abgesetzt, deren Wirkung durch die hier lagernden territorialen Scheiden (vgl. Karte 16 .6 .: Territoriale Gliederung um 1780) verstärkt worden ist. — Die Gegenformen auf Karte 124 (Baur 196 7 b) sind verschieden alt, und außerdem ist die Lagerung des Grenzlinienbündels in seiner Nordwest-Südost-Erstreckung offensichtlich auf verschiedene Ursachen zurückzuführen: Im einen Fall handelt es sich wohl um Vorstöße von Südwesten, im andern um solche von Nordosten her. Vergleichen lassen sich am besten die Grenzverläufe von Kirsche < mittellat. cerasus /Kriese < mittellat. ceresia (vgl. Schwäbisches WB. 4, 415 f.) und Dienstag/Zi(n)stag (vgl. Badisches WB. 1, 478 f.,
Schwäbisches WB. 2, 219 f., 6 , 1230 f.); allerdings zeigt der Grenzverlauf von Dienstag (z. B. in Buhlbach, Kniebis, Neuneck), daß die nordöstliche Form die südwestlichen dsi(n)šdig, dsãẽšdiχ, dsãẽšdeχ zurückgedrängt hat. Verschiebungen haben auch bei den Synonymen von Hahn stattgefunden. Hier sind anscheinend südwestliches gulǝr bzw. gūlǝr (vgl. Schwäbisches WB. 3, 912 f., Badisches WB. 2, 499) und nordöstliches gogǝlǝr (vgl. Schwäbisches WB. 3, 729 ff.) in das Gebiet von hnǝr (vgl. Schwäbisches WB. 3, 1142) eingedrungen und haben dessen Verbreitungsbereich — wie Doppelformen und Belege im Schwäbischen WB. zeigen — eingeengt. Historische Studien könnten evtl. zeigen, ob hnǝr nicht überhaupt eine Reliktform ist, die von Norden, Nordosten und Osten her von jüngerem gog(ǝ)lǝr zurückgedrängt worden ist; das Kartenbild legt eine solche Annahme nahe. Reliktform dürfte auch das nur noch auf kleinem Gebiet geltende Brachquatte (vgl. Schwäbisches WB. 1, 1334) im Engerling- Gebiet sein. — Die Karten 128 und 129 (Baur 196 7 b) wollen zusammen betrachtet werden. Bettseicher ist im schwäbischen Hauptteil des Untersuchungsgebiets (außer dem Südosten) das Synonym für ‘Anemone nemorosa’, im Niederalemannischen dagegen (neben Bettschisser ) für ‘Löwenzahn’, in welcher Bedeutung es auch noch in Baar und Hegau bezeugt ist (Badisches WB. 1, 175, Schwäbisches WB. 1, 975). Die Synonyme Gackelesstrauß, -stock, -bosch für ‘Löwenzahn’ gehen möglicherweise auf die dem Eidotter ähnliche Farbe ( Gackele = kleines Ei) zurück (vgl. Schwäbisches WB. 3, 10). Der Südosten bietet Milchstrauß, -stock (nach der Flüssigkeit der Stengel), was sich nach dem Schwäbischen WB. (4, 16 73) noch bis in die Gegend von Sulz a. N.— Balingen fortsetzen und auch um Urach gelten soll. Für ‘Anemone’, das allgemein sehr synonymenreich ist, heißt es im Südwesten Geißblume (vgl. Badisches WB. 2, 341, Schwäbisches WB. 3, 23 6 ), im Renchtal und nördlich davon Buschwindrösl(e)i(n) ; im Nordwesten zeigt ein kleines Gebiet Märzenblume. Auffallend ist wieder der Kleinraum, den das Wolftal zusammen mit Griesbach, Peterstal und dem Voralemannischen in Kaltbrunn, Wittichen, Schenkenzell und Heubach bildet. — Karte 130 (Baur 196 7 b) zeigt eine Dreigliederung der Art, daß einem schwäbischen Synonym jeweils ein nordwestliches, fränkisch geprägtes und ein südwestliches, alemannisch
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
Karte 16.4: Wortgeographische Karte (aus Baur 1967 b, Karte 121)
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
bestimmtes Gebiet gegenüberstehen. So in Plumpmilch/Stoßmilch/Plotzmilch ‘Buttermilch’, wobei das schwäbische PlotzmilchGebiet mit den bei Maurer (1942, 26 6 ff.) besprochenen gleichnamigen elsässischen Restgebieten früher möglicherweise eine größere Fläche gebildet haben könnte, die dann durch nordsüdlich vordringendes Plumpmilch auseinandergerissen worden wäre, ferner in Döte/Pfetter(ich)/Götti, Dote/Göttel/ Gotte, (Tannen-)Mockel/Tannenzapfen/ Wald-, Tannenbusele. Schriftsprachlichen Einfluß zeigt — wie öfters — Herrenwies. Beachtlich ist auch die Zugehörigkeit von Reinerzau, Ehlenbogen, Alpirsbach zum Stoßmilch- Gebiet, die, nach der diphthongierten Lautform zu schließen, alt sein muß.
4.
Auswertung der Ergebnisse: Die dialektgeographische Gliederung des Untersuchungsgebiets
4.1. Allgemeiner Überblick Nach der ausschnitthaften Betrachtung von Einzelerscheinungen in 3.2., die trotz geographischer Ausblicke doch vorwiegend unter grammatischen Aspekten erfolgt ist, soll nun der Versuch einer sprachgeographischen Gliederung des Raums unternommen werden. Hierfür werden die aufgefundenen Sprachgrenzen zusammengesehen und in Beziehung zueinander und zu anderen kulturgeographischen Abgrenzungen (s. 2.2.2. und Baur 196 7 b, Karten 1—19) gebracht. Ergebnis und gleichzeitig Ausgangspunkt für die folgenden Untersuchungen ist Karte 61 .5.: Kombinationskarte (vgl. zu ihrer Anlage Baur 196 7 a, 13 f.), welche die Linienbündel und die durch sie begrenzten kleineren und größeren Sprachräume heraushebt. — Eine schwere, auf dem Schwarzwaldkamm verlaufende Mundartschranke, die sogenannte Schwarzwaldschranke, trennt östliches Schwäbisch von westlichem Niederalemannisch bzw. (nach der Terminologie von Maurer 1942) Oberrheinisch. Noch mehr als das Schwäbische im weiteren Sinn ist das Niederalemannische durch Linienbündel in Kleinräume unterteilt. Im Südwesten tritt als solcher zunächst das Wolftal zusammen mit den ihm östlich benachbarten Weilern Langenbach, Halbmeil, St. Roman, Heubach sowie (teilweise) (badisch) Kniebis hervor. Nach Nordwesten daran anschließend bilden die Orte des hinteren Renchtals zusammen mit Maisach und Lierbach eine sprachliche Einheit, die sich in einer Reihe
von Mundartzügen sowohl gegen das vordere Renchtal (vgl. Kilian 1935, 6 1 ff.), als auch gegen das Wolftal im Süden und das Achertal im Norden abhebt. Die Orte im Nordwesten gehören insgesamt einem Übergangsgebiet an, das vor allem durch verschieden weit vorgetragene fränkische Neuerungen eine Art sprachlicher Stufenlandschaft bildet. — Auch auf der Ostseite der Schwarzwaldschranke schließen zunächst zwei ausgesprochene Übergangslandschaften an, nämlich im Gebiet des oberen Murgtals eine „vorfränkische“ Mundart und im Süden die äußersten, nördlichen Ausläufer des „Voralemannischen“ (beide Sprachlandschaften so benannt von Bohnenberger 1926 , 3) in Schenkenzell, Wittichen und Kaltbrunn. — Das Hauptgebiet im Osten gehört dem Schwäbischen im weiteren Sinn, genauer dem Westschwäbischen (vgl. Bohnenberger 1926 , 103) an. Die Lagerung der östlichen, nordöstlichen und südöstlichen Außengrenzen, noch mehr aber der Vergleich mit den hier anschließenden Sprachkarten (vgl. die Karten bei Bohnenberger 1917/18, Haag 1898, Haag 1946 , Hofmann 1926 , Oechsner 1951, Schneider 1934) zeigt, daß auch der dem Schwäbischen angehörende Bereich des Untersuchungsgebiets als Übergangslandschaft zwischen dem zentralschwäbischen Kerngebiet und dem Niederalemannischen anzusehen ist. 4.2. Schranken und Grenzen 4.2.1. Die Schwarzwaldschranke Die Schwarzwaldschranke ist zum erstenmal von F. Maurer (1942, 209 ff.) herausgestellt und in ihren Hauptzügen beschrieben worden. Sie weist gerade im Bereich des Untersuchungsgebiets, besonders in dessen mittlerem Teil um den Kniebis, eine so starke Konzentration von Dialektgrenzen auf wie sonst nirgends in ihrem ganzen Verlauf, fächert sich aber am nördlichen und südlichen Rand des Untersuchungsgebiets wieder auf. Maurer hat ihr einige Sprachgrenzen zugeordnet, die man sicher bei großräumiger Betrachtung mitberücksichtigen muß, auch wenn sie erst in einiger Entfernung vom Hauptstrang verlaufen (wie z. B. die b/wGrenze, die ǫǝ/ai, āe- und die ęǝ/ -Grenze); die Kleingliederung des Raums muß manche dieser Mundartzüge jedoch in andere Zusammenhänge rücken. Zunächst seien einfach die Gegenformen aufgeführt, die einander an der Schwarzwaldschranke gegenüberstehen:
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
Karte 16.5: Kombinationskarte (aus Baur 1967 b, Karte 20)
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Mhd. (bzw. nhd.) î, û, iu ê, ô, œ -âw (blau) ei 1 ei 2 ou ie, uo, üe a + Nasal e + Nasal i, u, ü + Nas. ie, uo, üe + Nasal ei + Nasal în, ûn ûm ên, œ ôn bin, hin unnur schon Auflösung von Nasal vor Reibel. spüren, viel du legen Nest Brett voll nicht, alle elf, Stück Hühner etwas etewër -ig, -tag -lein Verbendung 2. Sg. gehen stehen lassen getan haben gehabt gewesen
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
westlichöstlichniederalem., schwäbisch, z. T. voralem. vorfränkisch, z. T. voralem. ǝi, ǝu, ǝi , ū, , ǭ, āe, āo, āe; ē, ō, ē -au, -ęu, -ou -ǭ (-b, -w) āe, ǫǝ, ǫa ai, ęi ai, ęi, ei āe, ae au, ęu, ou, u āo, ao ę, ę, ę ǝ, ūǝ, ǝ ǫ ã ę ẽ ų, ẽ, õ, ẽ ę, ę, ę ẽ, e, oi, ǫi, ęĩ, ai, ãĩ ẽ, ẽ, õ ãẽ, ãĩ, ãõ, ãũ , ū ūm, um õm , ãẽ , , i , ãõ bãẽ, bãĩ, hãẽ, -ĩ bn, bi, h ãõ-, ãũnūr nãõ, nãũ, nu, n šų, šo, šǫ sãõ, sãũ uns, unsǝr ãẽs, ãĩs, ãõs, -ǝr winšǝ , finf wãẽšǝ, fãẽf, -ãĩšbirǝ, fl šbǝirǝ , fǝl dū dǝu lēgǝ laegǝ, lāǝgǝ nešd nęšd bręṭ briṭ fol fōl niṭ, ali neṭ, ęle ǫlf, šduḳ elf, šdik hęnǝ, hẽnǝ hr, hẽr ebs, ebis ębes ebǝr ębǝr -i, -i, -di, -di -iχ, -eχ, -diχ, -deχ -li -le -š -šd, -šḍ, -šṭ
Mhd. (bzw. nhd.)
Grasschwade Baumgipfel Klempner Wiese Großvater Großmutter, kneifen schüren aufstoßen Korb(1henkl.) Wagenmacher Veilchen, Anemone Löwenzahn
Kartoffel Keller
westlichöstlichniederalem., schwäbisch, z. T. voralem. vorfränkisch, z. T. voralem. SchwiegerSöhn(er)in tochter Puppe Docke ausringen auswinden Schore Mahd Dolder Gipfel Blechner Flaschner Matte Wiese Großvater Ahne Großmutter, Ahne Großli pfetzen klemmen feuern schüren raibsen koppen, koseln Korb Kratten Krummholz
Wanger, Wägner Veieli, Veilod Veigele Buschwindrös- Bettseicher lein, Geißblume Bettseicher, GackelesBettscheißer strauß, -bosch, -stock, Milchstrauß, -stock Betzeitläuten (Ave-) Marienläuten Erdapfel, -nuß Grundbirne Keller Ker
Eine Reihe von weiteren Sprachgrenzen läuft nur streckenweise auf der Schwarzwaldschranke und entfernt sich dann wieder von ihr, z. T. ebenfalls gebündelt. — Von den hier in Frage kommenden Grenzen sollen nur noch diejenigen angeführt werden, die am Kniebis nach Südwesten abschwenken und das Renchtal mit dem Nordwesten vom Wolftal trennen und dieses dem Osten zuweisen. Dabei zeigen sich teilweise alte Zusammenhänge zwischen dem Wolftal und dem schwäbischen Osten bzw. Südosten.
gō, gū, gī, šd- gãõ, šdãõ, -ũ
Mhd. bzw. nhd.
Renchtal + Nordwesten
lǫsǝ, lū lãõ, lãũ dō, dū, dūǝ, dãõ dũ hãõ, hãũ hō, hǭ, h kheḍ khǭ, kh gsãẽ, gsãĩ gs Johannisbeere Träuble
Mann Magd (Markt-)Kram Regen bohren,
mǫn māg, mǭg grǭm
Wolftal + Osten oder Südosten m, m magd grȪm, grȪmǝds
raiǝ, rŋǝ -ō-, -o-
rgǝ, rǝgǝ, -ǝ-ǫ-, -ǭǝ-, -ǭa-,
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
Mhd. bzw. nhd. Wort, Horn, vor, Tor Gans Gänse Zins finster geben heuen knien grün Seife schleifen Handschuh -ung -lich Pulswärmer Brennessel Kleider Korb (2henkl.) Zugholz Pate Biene Hummel
Renchtal + Nordwesten
Wolftal + Osten oder Südosten -ǫ-
gus, gãõs, gōs, gās gis, gãĩ(n)s, gęns gēs dsns dss, dsãẽs fnšdǝr fšdǝr, fãẽšdǝr g ge, gǫi, g, g haiǝ, hęiǝ, heiwǝ, hebǝ, hęunǝ -wgnouǝ, gnöuwǝ, gnwǝ, -b-, gnounǝ -ǝiw-, gnǝibǝ, gneiwǝ gr grįę, gr, gr saif, sęif saibfǝ, -āe-, -ǫašlaifǝ, -ęišlaibfǝ, -āe-, -ǫahndši(g) hndšǝ, hẽndšeχ, -ēd-uŋ -ŋ, -ẽŋ -li, -li liχ, -leχ St(a)ucherli Stößer, Stößlein, Schlupfer Zeng(n)essel Brennessel Kleider Häs Zeine Schiede gǫns
Sillwaage
Waag-, Ziehscheit Pfetter(ich) Götti, Döte Immenvogel Immenbienlein, Bienlein Mooshummel, Bies-, Bushum-brummler mel, Hummel
Zusammengenommen bilden auch diese Grenzlinien eine Schranke, die Harmersbachschranke. Sie setzt sich, wie aus Kilians (1935) Übersichtskarte deutlich wird, außerhalb des Untersuchungsgebiets noch weiter nach Südwesten hin fort und wird bei der Betrachtung der Kleinräume noch einmal behandelt werden. — Zur Ausbildung der Schwarzwaldschranke hat eine ganze Reihe von Gründen zusammengewirkt. Da ist zuerst die natürliche Lage. Sie ist durch Klima, ungünstige Böden, dichten Waldbewuchs und Unwegsamkeit der Anlaß dafür gewesen, daß die Besiedlung erst spät und allmählich aus den bereits besiedelten Landstrichen um Neckar und Rhein gegen die
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Schwarzwaldhöhen vorgetragen worden ist (vgl. Baur 196 7 b, Karten 1—3, 9 und besonders 15). So wirkte der Schwarzwald schon früh als Barriere, die getrennte Entwicklungen in Ost und West begünstigt hat (vgl. Maurer 1942, 212 f., 325 f.). Durch die von der Landschaft her gegebene Behinderung eines Ost-Westverkehrs haben sich auch die politischen Grenzen an den Schwarzwaldkämmen gegeneinander abgesetzt und verfestigt, und allen Versuchen, sie von einer Seite her zu übersteigen und die betr. Machtsphäre auf die andere Schwarzwaldseite hin auszudehnen, ist auf die Dauer kein Erfolg beschieden gewesen. Das gilt für das Bemühen der Zähringer (vgl. Baur 196 7 a, 44 f.) ebenso wie für die Anstrengungen des Hauses Wirtenberg, sich zu Anfang des 17. Jahrhunderts die bischöflich-straßburgische Herrschaft Oberkirch einzuverleiben. Auch die 200jährige Zugehörigkeit der Herrschaft Altensteig zur Markgrafschaft Baden (1398—16 03) blieb nur Episode und hat im Sprachlichen schon deshalb keine Folgen gehabt, weil die (sprachlich sowieso nicht sehr einheitlichen) badischen Stammlande im Westen und das kleine östliche Außengebiet immer durch fremdes Territorium getrennt waren. — Zu den politischen kommen die kirchlichen Grenzen. Sie waren schon früh durch die Lage der Diözesangrenze Konstanz—Straßburg gegeben (Baur 196 7 b, Karte 18), die ebenfalls auf dem Schwarzwald-Hauptkamm verlief, vom Kniebis aber nach Südwesten abbog und zwischen Harmersbach- und Wolftal weiterzog. Mit der Reformation in Wirtenberg gewann die ehemalige Bistumsgrenze erhöhte Bedeutung als Konfessionsgrenze, und nun verfestigte sich auch die östliche Außengrenze des fürstenbergischen Gebiets (s. Karte 61 6. .: Territoriale Gliederung um 1780), die voralemannisch-schwäbische Grenze, die nun nicht mehr nur Territorien (Fürstenberg/Wirtenberg), sondern auch Konfessionen trennte. Diese Grenzen lebten auch nach der politischen und kirchlichen Neuordnung der Jahre 1806 —28 weiter, jetzt in der badisch-württembergischen Grenze (vgl. Baur 196 7 b, Karte 8) und in den kirchlichen Grenzen zwischen der Erzdiözese Freiburg einerseits und der katholischen Diözese Rottenburg bzw. der evangelischen Landeskirche in Württemberg andererseits (vgl. Baur 196 7 b, Karte 19). — Dieses Zusammenwirken von natürlichen, politischen und kirchlich-konfessionellen
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
Karte 16.6: Territoriale Gliederung um 1780 (aus Baur 1967 b, Karte 17)
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
Gegensätzen hat das Gegeneinander derart zahlreicher und z. T. stark ins Gewicht fallender Sprachunterschiede ermöglicht. Dabei möchte ich vor allem dem konfessionellen Gegensatz sehr starke Wirkung zuschreiben, denn er hat die Heiratsverbindungen in bestimmte Richtungen gelenkt bzw. andere ausgeschlossen und hat dadurch die zwischen den verschiedenen Territorien sowieso bestehenden Abschließungstendenzen noch verfestigt. Sprachlicher Austausch und Ausgleich von Ost nach West und umgekehrt war also von dieser Seite aus weitgehend unterbunden (vgl. auch Maurer 1942, 327). So haben sich die meisten sprachlichen Eigenheiten oder Neuerungen des Schwäbischen an der Schwarzwaldschranke gestaut, falls sie nicht schon vorher, in einiger Entfernung von ihr, zum Halten gekommen waren. Ebenso sind viele westliche, oberrheinische oder fränkische Neuerungen, die von Westen her gegen die Höhen vorgetragen wurden, an ihr aufgehalten worden. — Daß die Schranke im Südteil des Untersuchungsgebiets, zwischen Harmersbach-, Wolf- und Kinzigtal, in drei Stränge aufgespalten ist, hat verschiedene Gründe. Einmal wirkt hier wohl noch die alte Zusammengehörigkeit des südlichen Teils des Untersuchungsgebiets (Wolf-, Kinzigtal und Höhenorte östlich der Kinzig) in der Bertholdsbaar bzw. den Grafschaften Sulz und Rottweil sowie im Dekanat Rottweil der Diözese Konstanz nach: auf der gemeinsamen Grenze zwischen diesen östlichen, politischen und kirchlichen Räumen gegen die westliche Grafschaft Ortenau bzw. das Bistum Straßburg lagert die Harmersbachschranke. Die zweite Teilschranke, die niederalemannisch-voralemannische Grenze zwischen Halbmeil, Heubach, St. Roman, Schapach auf der einen und Schenkenzell, Wittichen, Kaltbrunn auf der anderen Seite dürfte auf den bis um 1500 bestehenden Zusammenhang zwischen den geroldseckischen Herrschaften Loßburg und Schenkenzell untereinander sowie zu Kloster Alpirsbach zurückgehen. Da die Wirtenberger schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts die Schirmvogtei über das Kloster Alpirsbach besaßen, konnten sich bis Anfang des 16 . Jahrhunderts von Osten her wohl noch schwäbische Sprachneuerungen, vor allem die Diphthongierung der alten Hochzungenlängen î, û, iu, vorschieben und festsetzen, bis dann 1498 der Kauf der Herrschaft Schenkenzell durch Graf Wolfgang von Fürstenberg und etwas später die Reformation
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in Wirtenberg die Orientierung der katholisch gebliebenen voralemannischen Orte nach Westen brachte. Später angekommene Neuerungen (wie Diphthongierung von î, û, iu vor r und h ) wurden nun vom Voralemannischen abgewehrt; es entstand die schwäbisch-voralemannische Grenze. Auch von der verkehrsgeographischen Lage her wird die Zuwendung der voralemannischen Orte zum Westen hin (Wolfach) verständlich. Zwischen Schenkenzell und RötenbachAlpirsbach bestand nämlich wegen der Unpassierbarkeit der Talenge kaum direkte Verbindung; der Fernverkehr durch das Kinzigtal von West nach Ost und Nordost nahm von Schiltach aus den Weg über die Höhen. Nachdem durch die Änderung der Besitzverhältnisse die wohl über Reinerzau und Schömberg laufende Verbindung zwischen den vormals geroldseckischen Herrschaften Loßburg und Schenkenzell unterbrochen und immer mehr abgeriegelt wurde, lagen die voralemannischen Orte vollkommen abseits des Verkehrs. 4.2.2. Die Grenzbündel im Osten und Südosten Im Osten und im Südosten des Untersuchungsgebiets lagert eine Anzahl von Grenzlinien, die weitgehende Übereinstimmung sowohl im Sprachlichen als auch in den Ursachen für ihre Häufung zeigen. Diese (bei Baur 196 7 a, 16 3 ff. beschriebenen) Grenzlinienbündel trennen altwürttembergisch-evangelische von neuwürttembergischbzw. hohenzollerisch-katholischen Orten, die vor 1806 ritterschaftlich, reichsstädtisch (Rottweil) oder vorderösterreichisch waren (s. Karte 16 .6 .: Territoriale Gliederung um 1780). Vor allem die konfessionelle Verschiedenheit hat hier die Ausbildung der Riegel begünstigt; einschneidende natürliche Grenzen sind nicht vorhanden. Viele der östlichen und südöstlichen Formen sind die nordwestlichsten oder westlichsten Ausläufer von Erscheinungen, die entweder im Südwesten des Schwäbischen, öfters nur in dessen katholischen Landschaften, oder im Zentralschwäbischen beheimatet sind und hier, am Ostrand des Untersuchungsgebiets, ihre Begrenzung finden. Oft sind die westlichen Gegenformen (auch des württembergischen Gebiets!) fränkische oder oberrheinische Neuerungen, die von Nordosten, Nordwesten oder Westen her eingedrungen sind (vgl. Baur 1967 a, 186 ff.).
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
4.2.3. Die Linien im Nordosten Im Nordosten verbinden sich ebenfalls eine Reihe von Sprachgrenzen zu einem Riegel, der am dichtesten vor den Orten des „Hinteren Walds“ lagert und die Orte Fünfbronn, Hochdorf, Grömbach einerseits von Besenfeld, Urnagold, Göttelfingen, Schernbach, Kälberbronn, Edelweiler trennt. Mit dem Nordosten gehen häufig Bösingen und Gompelscheuer. Parallel zu diesem von Nordwesten nach Südosten ziehenden Riegel laufen stufenförmig bis zum oberen Murgtal weitere Grenzlinien, die eine Reihe von Orten auf der Hochfläche östlich des oberen Murgtals, in einigen Fällen auch Murgtalorte, mit dem ferneren Nordosten gehen lassen. Eine Reihe dieser (bei Baur 196 7 a, 16 6 f. beschriebenen) Grenzen ist offensichtlich jüngeren Datums und z. T. noch in Bewegung. Bei ihnen handelt es sich entweder um Vorbrüche aus dem Nordosten nach Südwest (wie z. B. im Fall von nd > n) oder um Rückzugslinien von Erscheinungen, die gegen Ende des letzten Jahrhunderts nachweislich noch weiter ins Zentrum des Untersuchungsgebiets hereingereicht haben, heute aber — meist durch das Zusammenwirken von Schriftsprache und Umgangssprache, z. T. auch durch den Einfluß benachbarter, hochsprachnäherer Mundarten — vom Zentrum aus nach Nordosten zurückgedrängt worden sind. Das wird besonders deutlich bei vielen diphthongierten Formen von mhd. ê, ô, œ (vgl. Baur 196 7 a, 200 f., 196 7 b Karten 47, 48, 54, 6 8). Bei der Entstehung des Riegels vor dem „Hinteren Wald“ spielen politische und kirchliche Grenzen eine Rolle, die vor allem Fünfbronn und Gompelscheuer schon früh nach Osten und Nordosten hin orientiert haben (Zugehörigkeit zum altwürttembergischen Amt Neuenbürg sowie zum Altensteiger Kirchspiel). Bei Hochdorf könnte die Verbindung zum Herrenberger Stift, das sich lange Zeit mit Kloster Reichenbach in die Ortsherrschaft teilte, Einfluß gehabt haben. Grömbach und das rentkammerliche Bösingen waren schon durch die politische Zugehörigkeit zum Amt Altensteig, aber auch durch wirtschaftliche und verkehrsmäßige Bindungen auf den Nordosten verwiesen (vgl. Baur 1967 b, Karten 13, 14, 17). 4.2.4. Linien des Nordens Ein großer Teil der Linien, die den Norden (Erbersbronn, Kirschbaumwasen, dazu öf-
ters Schönmünzach, selten Gompelscheuer) vom übrigen Untersuchungsgebiet abtrennen, gehört zur Schwarzwaldschranke, trennt also schwäbische von niederalemannischen Sprachzügen. Daneben macht sich von Norden her, vor allem in Kirschbaumwasen, fränkischer Einfluß bemerkbar, und zugleich strahlt von Süden her das Schwäbische nach hier und nach Erbersbronn aus; Erbersbronn zeigt besonders in Intonation und Vokalfärbung deutlich schwäbische Anklänge. Beide Orte gebrauchen außerdem häufig schriftsprachliche Formen. Ursachen für diese vielfältigen Überlagerungen sind die politische und kirchliche Zugehörigkeit zum früher niederalemannischen, heute stark fränkisch beeinflußten Forbach, die Grenzlage zwischen Schwäbisch-Vorfränkisch und Niederalemannisch, die späte Anlage der Orte und die unterschiedliche Herkunft ihrer Ansiedler, Heiratsverbindungen nach Norden und, seit jüngster Zeit, auch nach Süden, ins Schwäbische, dort auch die Nachbarschaft eines Ortes (Schönmünzach) mit starker Fluktuation der Bevölkerung (Glashütte!) und daher schon früh entwickelter Halbmundart, schließlich die geographische Situation: nach längerer Zeit der Abgeschiedenheit ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein immer stärker werdender Durchgangsverkehr durch das Murgtal (s. Baur 196 7 a, 29), von da an auch stärkerer Binnenverkehr und in jüngster Zeit noch Fremdenverkehr. So bestanden hier also geradezu ideale Bedingungen für mannigfache sprachliche Mischungen und für sprachlichen Ausgleich. 4.3. Sonderstellung einzelner Ortschaften und kleinerer Gemeindeverbände — Beispiel: Schiltach und Umgebung Die sprachliche Sonderstellung von Schiltach, Vorder- und Hinterlehengericht ist von Bohnenberger (1915) aufgezeigt und als ein Paradebeispiel dafür dargestellt worden, wie bei der Ausbildung dieser Mundart historische Gründe gegenüber natürlichen Verhältnissen den Ausschlag gegeben haben. Die drei Orte zeigten 1915 und zeigen beim größten Teil der älteren Generation auch heute noch eine im wesentlichen schwäbische Mundart, sind aber auf drei Seiten von niederbzw. voralemannischen Mundarten umgeben. Flußaufwärts, in Schenkenzell sowie in Kaltbrunn und Wittichen spricht man voralemannisch, flußabwärts, in Halbmeil und in den Höfen und Weilern der anderen Flußseite, nach Norden hin, grenzt
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
das Niederalemannische an, ebenso im Osten (Kirnbach) und Süden (Lauterbach und Schramberg). Zwar gehören Schiltach und Lehengericht seit 1810 zu Baden; für das Werden ihrer Mundart sind aber die Jahrhunderte (seit 1391) entscheidend gewesen, in denen diese Orte die südwestlichsten Ausläufer des wirtenbergischen Territoriums gewesen waren. Neben den politischen trat der konfessionelle Gegensatz: seit 1534 stehen evangelische (württembergische) gegen katholische (fürstenbergische und ritterschaftliche) Orte. Jede Konfession hatte ihre eigenen Schulen. Alle diese Voraussetzungen haben bewirkt, daß sich die drei Orte nicht in den Verband der benachbarten Kinzigtalorte einfügten, sondern sich, was Verkehr, Wirtschaftsbeziehungen, Heiratsverbindungen und Sprache anlangte, nach Nordosten (Rötenberg, Dornhan) und Norden (Rötenbach, Alpirsbach) hin orientierten. — Seit Bohnenbergers Aufnahmen haben sich nun aber einige Veränderungen ergeben, aus denen deutlich wird, daß sich die 150 Jahre währende Zugehörigkeit zu Baden auch im
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Sprachlichen auszuwirken beginnt. Neben wortgeographischen Verschiebungen haben Angleichungen lautlicher Art entweder an das Niederalemannische oder, öfters, an das Voralemannische stattgefunden; in letzterem Fall handelt es sich oft um Kompromißformen zwischen schwäbischer und niederalemannischer Lautform. So ist öfters die schwäbische Senkung von i, u vor Nasalen aufgehoben (z. B. in khųnd, rųmǝ, dųmǝ, fǝrsųmd, ųnǝ /schwäbisch - õ -, wolftalisch -ū- ; gsãĩ, mãĩ, wãĩ, brũ /schwäbisch -ãẽ, niederalemannisch -, -ū ), die schwäbische Endung auf -e ist durch die alemannische auf -į ersetzt (z. B. šēnį, alį, sǝsį, kheldį ) oder schwäbisches e, o (verschiedener Herkunft) ist gegen alemannisches i und u vertauscht (z. B. nįd, šnaį, waį, šdaųsmilχ, graųs, raud usw.). In einer Reihe von Fällen ist die Lautung der voralemannischen angeglichen, so z. B. in den diphthongierten Vertretungen für mhd. -ân, -in, -un, -uon ( gũ, šdũ, haũ, aĩs, aĩsǝr und, noch 1971, dãũ, das 1978 durch dũ ersetzt ist). Vorderlehengericht zeigt weitere Beispiele für Ausgleich zugunsten des Nie-
Karte 16.7: Dialektgrenzen um Schiltach (aus Baur 1967 b, ohne Kartennummer)
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
deralemannischen, z. B. Öffnung von e vor Nasalen (hęm, węn, bręnd), die Diminutivendung (Pl.) -li neben altem -le, ebis statt schwäbischem ębis, šbrǝi, gfrǭrǝ sowie, zusammen mit Hinterlehengericht und Schiltach hōlǝ, elf, flχdǝ, nešd, belṭ, lērǝr, sēl, hirš. Die Veränderungen haben die Laute jedoch nicht in der ganzen Reihe erfaßt, sondern sind von Wort zu Wort verschieden. Es handelt sich also nicht um aktuellen Lautwandel, sondern um Wortverdrängung (vgl. Baur 196 7 a, 212 sowie Haag 1898, 88 ff., 104 ff.), die allerdings in der mittleren und jüngeren Generation so stark ist, daß vor allem Schiltach 196 1 schon eher alemannische als schwäbische Züge zeigte. Die jüngere Generation spricht und kennt oftmals auch nicht die Reliktformen, die Schiltachs älteste Generation noch bewahrt hat und deren Häufung hier eine Folge der mundartlichen Randlage ist, so besonders die Diphthongierungen in maũ, fãõ ‘von’, gãũs, gãũsm ‘Gänserich’, laũ ‘Lohn’, laĩ ‘Löhne’. — Auf der anderen Seite gibt es auch alte Übereinstimmungen zwischen den drei Orten und dem alemannischen Westen, so z. B. die Erhaltung alter Länge in r ‘rauh’, sūr ‘sauer’, alter Kürze in šelǝ ‘schälen’, (fǝr)dselǝ ‘(er)zählen’, hiṭ ‘heute’ und möglicherweise auch einige ältere wortgeographische Zusammenhänge (z. B. Schore gegenüber schwäbischem Mahd, Dolder/ Gipfel, ausringen/auswinden, Schwiegertochter/Söhn(er)in, hannen und dannen/hierzu und dortzu ). Neu eingeführt sein dürfte henǝ gegenüber schwäbischem hẽr ‘Hennen’, pfetzen/ schwäb. klemmen und feuern/schüren in Vorderlehengericht, Korb/Kratten (so auch in Schiltach) in Vorder- und Hinterlehengericht. Auch in der Endung -tag scheint mir -dg neu von Westen her eingeführt, da die sonst im Untersuchungsgebiet gleichlaufende Endung -ig hier nach westschwäbischfränkischer Art -iχ lautet und die Endungen der Wochentage (als häufig gebrauchter Verkehrswörter) öfters als Ganzes aus der maßgeblichen Mundart importiert werden (vgl. Baur 196 7 a, 138), so z. B. męndig usw. — Zur Sonderstellung einiger weiterer Orte vgl. Baur 1967 a, 182 ff. 4.4. Versuch einer Zusammenfassung Für die Ausbildung der Mundarträume und die Lagerung der Schranken und Grenzbündel sind in erster Linie politische Grenzen verantwortlich zu machen. Unter ihnen haben die Territorialgrenzen des 14.—18.
Jahrhunderts, unter diesen die Außengrenzen des wirtenbergischen Territoriums am einschneidensten gewirkt, die letzteren deshalb, weil mit ihnen meist konfessioneller Gegensatz gegen westliche und südöstliche Territorien (bzw. Kleingebiete oder ritterschaftliche Orte) verbunden war und weil das Herzogtum Wirtenberg in politischer und sprachlicher Hinsicht schon früh eine große Kraft zur Vereinheitlichung bewies. Ältere, vorterritoriale Grenzen scheinen gelegentlich durch, vor allem wenn jüngere politische, kirchliche oder wichtige verkehrsgeographische Grenzen auf ihnen lagern, so z. B. für einige Mundart-Unterschiede die Grenze zwischen dem Nagoldgau und der Grafschaft Sulz, die etwa der Grenze zwischen den Dekanaten Horb und Rottweil entspricht (vgl. Baur 196 7 b, Karte 19). Kirchliche (nicht konfessionelle!) Grenzen fallen für sich allein wenig ins Gewicht, können aber im Zusammenwirken mit politischen deren Gewicht verstärken. Natürliche Grenzen haben die Gestaltung der sprachlichen Unterschiede nur dort entscheidend und i n größerem Ausmaß beeinflußt, wo sich politische oder kirchliche Grenzen an sie angelehnt haben. Neben den oben genannten Ursachen haben — besonders seit dem 19. Jahrhundert — auch Wirtschaftsund Verkehrsbeziehungen Einfluß auf die Gestaltung und Umgestaltung der Mundarten gehabt. Das zeigt sich besonders gut am sprachlichen Verhalten von Orten in der Nähe von Städten. — Über den Umfang und die Entstehung der sprachlichen Kleinräume ist bereits zusammenfassend in 4.1. und ausführlicher bei Baur 196 7 a (170—180) das Nötige gesagt worden. Hier ist nur noch auf Übereinstimmungen zwischen Mundart und anderen Äußerungen der Volkskultur zu verweisen. So decken sich die Räume der sprachlichen Reliktgebiete im Südwesten und Westen des Untersuchungsgebiets, das Wolftal mit dem nieder- und voralemannischen Kinzigtal sowie das hintere Renchtal genau mit den entsprechenden Trachtengebieten (vgl. Baur 1976 b, Karte 7), und auch die Westgrenze der katholischen Orte im Osten und Süden (Winzeln) wird in den Grenzen der Horber Gäutracht bzw. der Schramberger Tracht deutlich. Zwischen Schapbacher, Gutacher und Schramberger Tracht konnte sich die Tracht des evangelischen Lehengerichts noch halten. Sachvolkskunde und Mundartforschung zeigen also übereinstimmend die im Historischen
16. Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie
begründete Insellage der evangelisch-altwürttembergischen, seit 1810 badischen Orte Lehengericht und Schiltach gegenüber ihren katholischen, z. T. fürstenbergisch-badischen, z. T. ritterschaftlich-neuwürttembergischen Nachbarorten. — Übereinstimmungen mit mundartlichen Gliederungen zeigen sich auch bei den Hausformen: Im Nordwesten und Norden wird „fränkischer“ oder, unverfänglicher, nördlicher Einfluß deutlich; Westen und Südwesten zeigen sich zusammengehörig (vgl. Baur 196 7 b, Karte 6 ). Die voralemannischen und schwäbischen Orte des Kinziggebiets haben Elemente des Südwestens und des Ostens gemischt. Die Orte an der oberen Murg werden diesen Haustyp wohl vom Süden übernommen haben. Das württembergische Gebiet im Osten steht für sich.
5.
Literatur (in Auswahl)
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
340
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17. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
1.
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Gerhard W. Baur, Freiburg i. Br.
Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie Einleitung Datenerhebung Bearbeitung und Auswertung Darstellung der Phonemsysteme Distribution der Phoneme Archiphonemisierungen Literatur (in Auswahl)
Einleitung
1.1. Ortscharakterisierung Der hier vorgelegten Studie liegt die Mundart von Laer (Landkreis Osnabrück) zugrunde, genauer die Mundart des „Kernortes„ Laer. Dieser hatte am 30. 6 . 196 9 2053 Einwohner und eine Fläche von 56 9 ha. Nach dem Zusammenschluß mit einigen Bauerschaften am 1. 1. 1970 und nach der Gebietsreform des 1. 7. 1972, bei der Laer, Remsede und die Samtgemeinde Glandorf zusammengelegt wurden, hat die heutige politische Einheit Laer (seit 1975 Bad Laer) nunmehr (1. Juli 1977) 10 900 Einwohner und eine Fläche von 107 Quadratkilometern. Es sei nochmals betont, daß sich im folgenden sämtliche Aussagen nur auf den Kernort beziehen. — Laer liegt etwa 27 km südlich von Osnabrück am Südwestabhang des Blomberges, eines Ausläufers des Teutoburger Waldes. Der Anlaß für die Gründung des Ortes, der bereits in der frühen Bronzezeit besiedelt gewesen zu sein scheint, dürfte neben einer günstigen Straßenlage vor allem in den natürlichen Solequellen zu sehen sein. Der Kurbetrieb, der heute für den Kernort bestimmend ist, lief in größerem Maße aber erst nach dem 2. Weltkrieg an. Neben der
„weißen Industrie“ weist Laer jedoch auch eine Anzahl gewerblicher Unternehmen, z. T. mit überregionaler Bedeutung, auf; 196 9 bestanden zudem noch 57 landwirtschaftliche Betriebe auf 321 ha. 1.2. Dialektgeographische Einordnung Die Mundart von Laer gehört zum ostwestfälischen Dialektgebiet, dessen Ausgliederung aus dem Niederdeutschen, spezieller Westniederdeutschen, im allgemeinen und dem Westfälischen im besonderen im folgenden kurz skizziert sei. Die Kriterien für diese knappe dialektgeographische Übersicht sind vornehmlich dem lautlichen Bereich entnommen; dabei ließ die Forschungslage eine Beschränkung auf Dialektscheiden, die auf strukturellen Systemunterschieden beruhen, nicht zu. — Das Westnd. besteht aus zwei Mundartgruppen, dem Niederfränkischen und dem Niedersächsischen. Gegenüber dem übrigen Nsächs., dem Ostfälischen und Nordnsächs., hebt sich das Westf. mit der Bewahrung der ursprünglich allen nd. Mundarten eigenen zwei langen ā-Laute strukturell deutlich ab, indem es ein altes langes velares ([ǭ]), das später auch diphthongiert werden konnte (z. B. laerisch /sxaup/ ‘Schaf’), von einem tonlangen palatalen ā ([ā]) unterscheidet (etwa in /mākǝn/ ‘machen’), während in den nichtwestf. nsächs. Dialekten diese beiden Laute in zusammengefallen sind. Ebenfalls auf das Westf. beschränkt ist die Erhaltung der vermutlich früher im gesamten nd. Sprachgebiet gültig gewesenen Kürzendiphthonge (Wortmann 1970, 327 ff.) aus den altsächsischen Kurzvokalen in offener Silbe bzw. vor losem
17. Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie
Anschluß (sog. Westfälische Brechung), z. B. in /viǝtn/ ‘wissen’, /füǝgl/ ‘Vögel’, /kuǝkŋ/ ‘kochen’ etc. — Anhand der strukturellen Unterschiede bei der Entwicklung der alten ê- und ô -Laute läßt sich das Westf. seinerseits in vier Gebiete untergliedern, die sich aus dem jeweils unterschiedlichen Ausgleich des Übergewichts von spätaltsächsisch vier ê- Lauten ( ê 1 < westgerm. umgelautetem â; ê 2 < germ. ai, im Ostwestf. wie im außerwestf. Nd. in ê 2a und ê 2b gespalten; ê 3 < umgelautetem germ. ai; ê 4 < germ. ê 2 und germ. eo ) gegenüber den ihnen auf der velaren Seite entsprechenden zwei ô- Lauten ( ô 1 < germ. ô; ô 2 < germ. au ) ergaben: das Ostwestfälische, das Münsterländische, das Südwestfälische und das Westmünsterländische. Im Laerer Dialekt fallen wie im übrigen Ostwestf. ê 1 und ê 2a in /ai/ zusammen, dem ô 2 (> /au/) entspricht, während ê 2b , ê 3 , ê 4 (> /ei/) mit ô 1 (> /ou/) korrespondieren (Beispiele: /kaizǝ/ ‘Käse’, /klait/ ‘Kleid’ — /baum/ ‘Baum’; /stein/ ‘Stein’, /klein/ ‘klein’, /deipǝ/ ‘tief’ — /fout/ ‘Fuß’). — Innerhalb des Ostwestf. ist die Mundart von Laer zum osnabrückischen Dialektgebiet zu rechnen, dessen Besonderheiten vor allem durch die folgenden beiden Kriterien bestimmt werden: (1) die Diphthongierung des altlangen â (das im gesamten übrigen Westf. monophthongisch blieb) zu au; (2) die Erhaltung der alten Monophthonge vor /r/, /ǝ/ (bzw. ausgefallenem ursprünglichen - d -) anstelle von Diphthongen in allen übrigen Positionen. 1.3. Darstellungsgegenstand Im Rahmen eines Handbuchs kann die Beschreibung eines Dialekts nur exemplarisch angelegt sein. Sie kann weder materialmäßig Vollständigkeit anstreben noch danach trachten, sämtliche sprachlichen Teilsysteme in die Darstellung einzubeziehen. Für die vorliegende Studie war daher der Gegenstand der Darstellung einzugrenzen. Da die morphologischen, lexikalischen und syntaktischen Systeme zumeist überörtliche Gültigkeit besitzen und es demnach sinnvoller erscheint, sie im größeren (regionalen) Zusammenhang herauszuarbeiten, mag es vertretbar sein, sich hier auf die Darstellung des kleinräumigsten Systems, das der Phoneme, zu beschränken. Aus Raumgründen kann aber auch dann eine genaue Analyse explizit nur an einigen wenigen Beispielen vorgeführt werden. Dabei werden vor allem solche ausgewählt, die geeignet sind, die Anwen-
341
dungsmöglichkeit der phonologischen Theorie innerhalb des Strukturalismus zu illustrieren.
2.
Datenerhebung
Die Methodik der Erhebung gesprochener Sprache ist bereits verschiedentlich in der Forschung behandelt worden. In diesem Zusammenhang müssen einige Andeutungen genügen; Näheres vgl. man vor allem bei Zwirner 196 4, Ruoff 1973, Rhode/Roßdeutscher 1973, Löffler 1980 [1974], 45 ff., Goossens 1977 a. (Von einigem Interesse dürften hier auch die Verfahrens- und Erfahrungsberichte über Tonbandaufnahmeaktionen sein, vgl. etwa Bellmann 196 4, Hornung 196 1, Möhn 196 2, Riemann 196 4, Wesche 196 3, Schädlich/Große 1961). 2.1. Freie Rede Da man befürchtet, daß ei n e künstliche Interview-Situation sich nachteilig auf die Zuverlässigkeit des Materials auswirkt, wird im allgemeinen die Beobachtung freier Rede (Monolog, Gespräch) für die beste Methode zur Sammlung von Sprachmaterial gehalten. Vergleiche zu den Fragen der Datenerhebung auch die Artikel 27—33. Dabei empfiehlt sich die Verwendung eines Tonbandgerätes, da auf diese Weise dann die Transkription nicht mehr direkt bei der Erhebung erfolgen muß; sie kann in einem zweiten Arbeitsgang, bei dem durch die Möglichkeit beliebiger Wiederholung größere Zuverlässigkeit unter phonetischem Aspekt gewährleistet ist, erfolgen. Ausgesprochene Mikrophonbefangenheit besteht erfahrungsgemäß nur kurze Zeit; die anfänglichen Hemmungen dürften zudem eher der ungewohnten Situation und dem fremden Explorator zuzuschreiben sein. Ruoff (1973, 84 ff.), der den Fragen der Materialbeschaffung große Aufmerksamkeit geschenkt hat, ist zuzustimmen, wenn er vorschlägt, solche Aufnahmen in der Wohnung des Gewährsmannes durchzuführen, da dort der Charakter der Materialerhebung am wenigsten „offiziös“ sein dürfte; hierfür sollten evtl. auftretende Nachteile, wie Nebengeräusche, unvermutetes Eintreten anderer Hausbewohner etc., in Kauf genommen werden. Solche Störgeräusche werden nur selten die Aufnahme so stark beeinträchtigen, daß eine dialektologische Auswertung unmöglich wird. Bei einer Tonbandaufnahme sollte man sich nach Möglichkeit jeweils nur mit einem Sprecher be-
342
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
gnügen, weil hierdurch die Gefahr der gegenseitigen Befangenheit unter den Mundartsprechern ausgeschaltet wird. Darüber hinaus trägt ein solches Vorgehen zu einer erhöhten Konzentration der Unterhaltung bei. Als Themen für ein Gespräch bieten sich Gegenstände aus dem unmittelbaren Erfahrungsbereich des Gewährsmannes an, so etwa der Beruf, bäuerlicher Jahreslauf, dörfliches Brauchtum, alte Geräte und Arbeitstechniken usw. — Wichtig ist die Herstellung einer optimalen Aufnahmesituation, zu der der Explorator ein gut Teil beitragen kann, vor allem, was die psychische Verfassung des Gewährsmannes angeht. Der Sprecher muß das Gefühl haben, daß sein Gespräch den Aufnehmenden interessiert; er darf sich nicht nur als „linguistisches Melkvieh“, das möglichst schnell ausgemolken werden soll (Ruoff 1973, 108), vorkommen. Den Anknüpfungspunkt für die vorliegende Studie bildete eine — soweit sich das nachträglich beurteilen läßt — den eben diskutierten Gesichtspunkten weitgehend Rechnung tragende Tonbandaufnahme des Deutschen Spracharchivs (Archiv-Nr. I/2922), die am 1. Juni 1957 unter der Leitung von Th. Baader in Laer aufgezeichnet wurde. (Der Text der Aufnahme ist auch im Druck zugänglich: Niebaum 1974, 155 ff.) Das in dieser knapp zehnminütigen Aufnahme ermittelte Material reichte natürlich bei weitem nicht für eine phonetisch-phonologische Analyse aus. Es bestand daher die Notwendigkeit, zusätzlich eigene Aufnahmen zu machen. Diese wurden am 9. 12. 196 9 durchgeführt; dabei stand derselbe Gewährsmann zur Verfügung, der schon bei der Aktion des Deutschen Spracharchivs mitgewirkt hatte. Man sollte in diesem Zusammenhang die methodische Forderung nach der Einheitlichkeit des Sprachmaterials — hier hinsichtlich des Zeitfaktors — nicht zu eng interpretieren. „Synchron“ sollte vielmehr im Verhältnis zur Geschwindigkeit von Sprachwandlungen gesehen werden (vgl. auch König 1975, 348); insofern dürften dann auch Befragungen, die einige Jahre auseinanderliegen, als synchron bezeichnet werden. 2.2. Textlisten Neben der weiteren Aufzeichnung von freier Rede wurde bei dieser zweiten Aufnahme eine Wortliste von ca. 1500 Wörtern abgefragt, die aufgrund dialektologischer Vorüberlegungen (auch im Anschluß an die erste Auf-
nahme) unter phonetisch-phonematischen Gesichtspunkten (d. h. im Hinblick auf die Ermittlung und Distribution der Phoneme) zusammengestellt worden war. Das Abfragen einer solchen Wörterliste ließ sich nicht umgehen, da das sich aufgrund freier Rede ergebende Material mehr oder weniger zufällig ist und für eine umfassende Phonemanalyse nicht ausreicht. Beim Abfragen einer Wörterliste ist man selbstverständlich ziemlich weit von einer natürlichen Gesprächssituation entfernt. Andererseits stünde die Erhebung einer für die Phonemanalyse ausreichenden Menge von freier Rede vom Sach- und Zeitaufwand her in keinem Verhältnis zum (hinsichtlich der Analyse wirklichkeitsnahen Sprachverhaltens methodisch lupenreinen) Ergebnis. Gerade in jüngster Zeit wird die Frage nach der angemessenen Methode der Spracherhebung für Phonemanalysen — auch über den ökonomischen Aspekt hinaus — mit der Forderung nach dem Abfragen von Wortlisten beantwortet. Nach Goossens (1977 a, 70, Anm. 2) ist Wortlisten schon deshalb der Vorzug zu geben, „weil der spezifische Vokalismus der Wörter häufig im Nebenton des Satzzusammenhangs verloren geht“. Ähnlich äußern sich auch Panzer/Thümmel (1971, 35 f.): „Die inzwischen entwickelte Phonologie hat begreifen gelernt, daß i n Pausa oft die Invariante, also gerade der Phonemcharakter eines Lautes, am deutlichsten erkennbar wird, weil alle sekundären, Variationen hervorrufenden Faktoren weitgehend ausgeschaltet sind.“
Im allgemeinen ist bei der Erhebung von Sprachmaterial mit Hilfe von Wörterlisten nicht zu umgehen, daß der Explorator das betreffende Wort bzw., wenn es nicht isoliert, sondern im Zusammenhang einer Äußerung erfragt wird, den betreffenden Satz (hochsprachlich) vorspricht. Die korrektere Methode, auf die Nennung des fraglichen Wortes, auch in seiner hochsprachlichen Gestalt, zur Vermeidung eventueller Echoformen zu verzichten (entweder auf onomasiologischem Wege, d. h. durch Abbildungen, oder durch hochsprachliche Lückentexte, die der Gewährsmann mit einem Mundartwort zu schließen hat), führt nicht immer zum Ziel. Der Explorator sollte aber nach jedem Wort nur einmal fragen, und auch dabei seine Erwartungen nicht zu deutlich formulieren, da sonst mit Gefälligkeitsformen seitens des Gewährsmannes zu rechnen ist. Ein solches Vorgehen erfordert natürlich eine ausreichende Menge an Ausweichwörtern, die
17. Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie
den in Frage stehenden phonematischen Aspekt i l lustrieren können. Dabei sollte aber auf jeden Fall davon abgesehen werden, die Paradigmata derselben Lauterscheinung nacheinander abzufragen, da sonst unkorrekte Antworten infolge von Analogiebildungen nicht auszuschließen sind. — Es dürfte aber wohl deutlich sein, daß auch ein umfängliches Wortlisten-Korpus noch nicht sämtliche denkbaren Kombinationen — vor allem hinsichtlich der Distribution — erfaßt; es ist daher n i cht i m m er mit S i cherheit zu entscheiden, ob das Nichtauftreten bestimmter Phonemverbindungen systembedingt oder materialbedingt ist. 2.3. Anforderungen an den Gewährsmann Nach herkömmlicher Art werden für Erhebungen der örtlichen „Grundmundart“ die ältesten Bewohner herangezogen, und aus dieser Gruppe am liebsten solche, die nie über längere Zeit ihren Heimatort verlassen haben, die im Ort selbst ihren Ehepartner fanden, deren Familien nach Möglichkeit bereits seit Generationen dort ansässig waren. Auf diese Weise hofft man, eine kaum durch äußere Einflüsse verfälschte ortsspezifische Sprache zu erheben. Einmal ganz abgesehen von der Frage, ob diese Sprachform als repräsentativ für den Ort angesehen werden kann (hierzu vgl. 2.4.), ergeben sich bei sehr alten Sprechern auch andere Schwierigkeiten, die mit der häufig schon etwas labilen geistigen und physischen Konstitution solcher Gewährsleute zusammenhängen. „Was
nicht
schon
durch
artikulatorische
De-
fekte verfälscht wird [man denke etwa an ein fehlendes oder schlecht sitzendes Gebiß, Anm. d. Verf.], fällt oft dem schlechten Gedächtnis oder der beschränkten Konzentrationsfähigkeit zum Opfer“ (Löffler 1980, 47).
Sprecher mittleren und jüngeren Alters machen, wie Löffler 1980 weiter feststellt, ein evtl. Manko hi n s i chtlich i h rer durchgehenden Ortsansässigkeit zumeist durch Auffassungsgabe und Gedächtnis sowie sprachl i che Fertigkeiten wett. Vor allem bei der Befragung mit Wortlisten muß der Gewährsmann eine hohe geistige und körperliche Leistung vollbringen; diese Methode ist erfolgreich nur bei intelligenten Gewährsleuten anzuwenden. Bei einem solchen Sprecher dürfte dann auch das dauernde H i nüberwechsel n i n die Hochsprache bei den Fragen keine übermäßige Fehlerquel l e darstellen.
343
2.4. Zum Problem der Repräsentativität Es erhebt sich die Frage, ob es gerechtfertigt ist, die phonologische Analyse einer Ortsmundart aufgrund von Aufnahmen eines einzigen Sprechers durchzuführen. Levine/ Arndt (196 6 , 36 ) vertreten unter dem Aspekt, daß jeder Sprecher aktiv an seiner Sprachgemeinschaft teilnimmt, die Auffassung, daß die Unterschiede zwischen verschiedenen Sprechern derselben Mundart als „mindere Sonderfälle derselben Grundstruktur gelten können“; jeder einzelne Sprecher „teilt sich seinen Mitsprechern mit, versteht sie und wird von ihnen verstanden. Seine Sprachgewohnheiten müssen notwendigerweise jenes Abstraktum, die Gemeinschaftssprache, genügend reflektieren und ,darstellen‘, so daß die Beschreibung seines sprachlichen Benehmens ein gültiges und wesentlich wissenschaftliches Unternehmen ist.“
Die Gültigkeit dieser Aussage sollte man etwas einschränken. In dieser generellen Form dürfte sie kaum mehr für die modernen Großstadtmundarten mit ihrer stärkeren Veränderungsfreudigkeit aufgrund der komplizierten Sozialgefüge (hierzu vgl. z. B. Seidelmann 1971) zutreffen; für die kleinräumigen Ortsmundarten, wie etwa auch die von Laer, wird man ihr aber — zumindest hinsichtlich des invarianten Phonemsystems — zustimmen können. Für andere Aspekte der Sprache wären aber auf jeden Fall umfänglichere Erhebungen notwendig, die dann — j e nach dem Forschungsziel — auch die Sozial-, Alters-, Berufsstruktur sowie die geschlechtsspezifische Verteilung des Ortes angemessen berücksichtigen müßten. Eine statistische Untergrenze für eine repräsentative Auswahl an Sprechern ist bisher noch nicht befriedigend operationalisiert worden. Andererseits dürfte die sprachliche Gesamtaufnahme eines Ortes zwar technisch durchführbar sein, angesichts der zu erwartenden Materialfülle aber kaum aufbereitet und ausgewertet werden können.
3.
Bearbeitung und Auswertung
3.1. Umsetzung in Lautschrift Das vom Gewährsmann direkt oder mit H i lfe des Tonbandes erhobene Sprachmaterial ist dann hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes (hier: das phonematische System des Dialekts von Laer) auszuwerten. Dem muß die (möglichst lautgetreue) Aufzeichnung der Texte vorangehen. Das Ziel ist dabei nicht die Ersetzung des Tonbandes durch
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
die Schrift; vielmehr soll die „gesprochene Sprache anhand ihrer visuellen Darstellung in einem Grad gedanklich nachvollziehbar“ gemacht werden, der sprachwissenschaftliche Analysen erst ermöglicht (Rhode/Roßdeutscher 1973, 30). Diese Verschriftung geschieht entweder mit den Methoden der akustischen oder der artikulatorischen Phonetik. Für den Sprachwissenschaftler hat vor allem die Artikulationsphonetik Methoden bereitgestellt, die es ihm ohne großen apparativen Aufwand erlauben, seine Gehörseindrücke von einer sprachlichen Äußerung darzustellen. Dies geschieht dadurch, daß die Rede, also das Schallkontinuum, gehörsmäßig in sich wiederholende identische Abschnitte (die Laute) isoliert wird, deren Hervorbringung durch die einzelnen Sprechorgane gedanklich nachvollziehbar ist und daraufhin diagnostisch beschrieben werden kann (Levine/Arndt 196 9, 21). Die jeweiligen Diagnosen lassen sich dann gleichsam kurzschriftlich durch (phonetische) Schriftzeichen ausdrücken. — In der deutschen Dialektologie werden vor allem zwei phonetische Alphabete verwendet: das Internationale Phonetische Alphabet (IPA, vgl. Richter 1973) bzw. das der Zeitschrift Teuthonista (vgl. Teuchert 1925). Ersteres benutzt für jede Artikulation ein eigenes Zeichen, während bei letzterer bestimmte Grundzeichen durch eine Reihe von Diakritika modifiziert werden. Die Teuthonista-Lautschrift hat bei der Transkription gewisse Vorteile (vgl. Ruoff 1973, 127), die eng mit dem Verfahren des phonetischen Umschreibens zusammenhängen: man braucht beim ersten, erfahrungsgemäß jeweils zwei bis drei Wörter umfassenden, Hören zunächst nur einen ungefähren Lautwert zu notieren, der bei weiteren Durchgängen (jetzt Wort für Wort) durch diakritische Zeichen präzisiert werden kann (die Lautschrift des IPA würde bereits eher die Wahl eines bestimmten Grundzeichens erfordern, was für die weitere Wertung präjudizierend sein könnte); bei freier Rede wird der Text danach in einem Durchgang noch einmal überprüft, bevor schließlich die Pausen eingetragen werden. — Falls der Bearbeiter die abzuhörende Mundart selber spricht oder aber nähere Kenntnis über sie besitzt, besteht die Gefahr von Transkriptionsfehlern, indem die wirkliche oder vorgestellte Ortsnorm Einfluß auf die Verschriftung der tatsächlichen sprachlichen Realisierung nimmt. Aber auch bei fremden Mundarten transkribiert man unvermeidlich vor
dem eigenen „phonischen Hintergrund“ (Goossens 1977 a, 6 9), was zu Fehleinschätzungen führen kann. Da die phonologische Analyse ein exakt aufbereitetes Sprachmaterial voraussetzt, kommt einer sorgfältigen Transkription große Bedeutung zu. 3.2. Ermittlung der Phonemsysteme Die Phonemanalyse versucht, die Vielfalt an Lauten, die innerhalb einer Sprache oder eines Dialekts tatsächlich realisiert werden (und die in dem phonetischen Text ihren Niederschlag finden), durch Segmentierung und Klassifizierung auf den notwendigen Bestand der Laute zu reduzieren, die sprachfunktional relevant sind. Diese Differenzierung schlägt sich auch terminologisch nieder, indem man das Phon als tatsächliche Realisierung eines Lautes vom Phonem als der Klasse aller Laute, die bedeutungsdifferenzierend sind, unterscheidet. Sollen nun die Lauterscheinungen einer bestimmten Sprache nach ihrer distinktiven Funktion dargestellt werden, so bietet sich hierfür die Methode der Kontrastierung bzw. der Kommutation an. Dabei werden Lautketten einander gegenübergestellt, die sich nur in einem möglichst kleinen Segment voneinander unterscheiden; solche Ketten nennt man auch Minimalpaare. Bei den Kommutationstests stellt sich heraus, daß das Phonem noch keine strukturelle Letztgröße, sondern noch in sich selbst strukturiert ist: durch die distinktiven Merkmale. Damit ist der Terminus Phonem wie folgt zu präzisieren: als die Gesamtheit der in einer gegebenen Sprache zur Bedeutungsdifferenzierung genutzten distinktiven Merkmale einer Lauteinheit (vgl. Martinet 1956, 40). Im folgenden soll das Verfahren der Phonemermittlung mit Hilfe von Kommutationstests am Beispiel des laerischen Phonems /i/ vorgeführt werden; im weiteren muß auf eine explizite Darstellung aus Raumgründen verzichtet werden. Zuvor sei darauf hingewiesen, daß es für ausreichend gehalten wird, die Oppositionen von im System benachbarten Phonemen vorzuführen; wenn alle jeweils benachbarten Phoneme miteinander distinktiv opponieren, ist hierin implizit auch die Distinktivität von im System weiter voneinander entfernten Phonemen enthalten. Das Phonem /i/ läßt sich aufgrund folgender Oppositionen beschreiben: (a) /i/ vs. /ü/ (vorne-ungerundet vs. vorne-gerundet)
17. Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie
/lix/ ‘(er) liegt’ — /lüx/ ‘(er) lügt’ /sxit/ ‘(er) scheißt’ — /sxüt/ ‘(er) schießt’ /bikŋ/ ‘hacken’ — /bükŋ/ ‘bücken’ (b) /i/ vs. /ę/ (geschlossen vs. halboffen) /dixtǝ/ ‘Nähe’ — /dęxtǝ/ ‘Docht’ /slixt/ ‘schlicht’ — /slęxt/ ‘schlecht’ /stil/ ‘still’ — /stęl/ ‘Stiel’ (c) /i/ vs. // (kurz vs. lang) /is/ ‘ist’ — /s/ ‘Eis’ /vit/ ‘weiß’ — /vt/ ‘weit’ /dik/ ‘dick’ — /dk/ ‘Teich’ Die Analyse ergab die distinktiven Merkmale, die das Phonem /i/ als einen kurzen (/i/ vs. //), palatalen ungerundeten (/i/ vs. /ü/) Vokal von minimalem Öffnungsgrad (/i/ vs. /ę/) definieren.
4.
Darstellung der Phonemsysteme
4.1. Vokalismus Anhand der Kommutationstests ergeben sich im Bereich des Vokalismus folgende relevante Dimensionen: Mundöffnungsgrad, Lippenstellung, Artikulationsstelle, Quantität; da die Diphthonge monophonematisch gewertet werden (vgl. 4.1.3.), tritt noch eine weitere Dimension, die der Einheitlichkeit, hinzu. 4.1.1. Kurzvokale Das System der laerischen Kurzvokale hat folgende Elemente: /i/ /ę/
/ü/ /u/ // /ǫ/ /a/ Abb. 17.1: Laerisches Kurzvokalsystem Dabei ist /i/ ein kurzer (/i/ vs. //), vorderer ungerundeter (/i/ vs. /ü/) Vokal von minimalem Öffnungsgrad (/i/ vs. /ę/); /ü/ ist ein kurzer (/ü/ vs. /ǖ/), vorderer (/ü/ vs. /u/), gerundeter (/ü/ vs. /i/) Vokal von minimalem Öffnungsgrad (/ü/ vs. //); /u/ ist ein kurzer (/u/ vs. /ū/), hinterer gerundeter (/u/ vs. /ü/) Vokal von minimalem Öffnungsgrad (/u/ vs. /ǫ/); /ę/ ist ein vorderer ungerundeter (/ę/ vs. //), halboffener (/ę/ vs. /i/, /a/) Vokal; // ist ein vorderer (// vs. /ǫ/), gerundeter (// vs. /ę/, halboffener (// vs. /ü/, /a/) Vokal;
345
/ǫ/ ist ein hinterer gerundeter (/ǫ/ vs. //), halboffener (/ǫ/ vs. /u/, /a/) Vokal; /a/ ist ein kurzer (/a/ vs. /ā/) Vokal von minimalem Öffnungsgrad. Diese Definitionen können, von der Quantitätsdimension noch abgesehen, aus den folgenden Kommutationsproben abgeleitet werden:
Abb. 17.2: Kommutationsproben Kurzvokale Es folgen die hochsprachlichen chungen in gleicher Anordnung: (er) scheißt schlicht schlecht (er) sagt (er) sagt sanft
(er) schießt Pantoffel Tölpel (er) sucht (er) sucht sanft
Entspre-
Schutt unser Ochse gesucht gesucht sanft
Der Quantitätsgegensatz läßt sich im Laerer Dialekt anhand folgender Kommutationsproben belegen: /vit/ ‘weiß’ — /vt/ ‘weit’ /trüʒǝ/ ‘zurück’ — /drǖʒǝ/ ‘trocken’ /buk/ ‘Bock’ — /būk/ ‘Bauch’ /manǝ/ ‘Mann (Dat.)’ — /mānǝ/ ‘Mähne’ C: Oppsitionen Kürze: Länge Bezüglich der Quantitätsoppositionen sind im folgenden allerdings einige Anmerkungen zu machen. In der geschlossenen Reihe /i ü u/ ist jeweils der Quantitätsgegensatz im Wortauslaut und vor /r/ zugunsten der entsprechenden Langvokale aufgehoben. Dasselbe gilt auch für die Stellung von /i/ und /u/ vor (ehemaligem) nd, z. B. in /bnǝn/ ‘binden’, /fūnǝn/ ‘gefunden’. — Bei /ę ǫ/ ist im Laerischen das Merkmal der Kürze nicht distinktiv; Kurzvokal und Langvokal sind komplementär verteilt. Dabei erscheinen die Längen [ ǭ] nur vor /r/ ([br] ‘Eber’, [hrn] ‘Horn’, [ǭr] ‘Ohr’) und vor /ǝ/ bzw. dem Silbenträger ([dēǝn] ‘(sie) täten’, [brȫǝ] ‘Brote’, [brōǝn] ‘Braten«). Vor diesem Hintergrund wäre das laerische Kurzvokalsystem wie folgt zu präzisieren:
346
/i/ /[ę ]
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
/ü/ /[ ]/ /a/
/u/ /[ǫ ǭ]/
Abb. 17.3: Laerisches Kurzvokalsystem (vgl. Abb. 17.1) 4.1.2. Langvokale Bei den Langvokalen gibt es nur vier Phoneme, die sämtlich unbeschränkt distributiert sind, nämlich //, /ǖ/, /ū/, /ā/. Daneben bestehen noch die langen halboffenen Allophone [ ǭ], die mit den entsprechenden Kürzen komplementär verteilt sind (vgl. 4.1.1.). Ähnlich erscheint auch eine halbgeschlossene Reihe [ē ȫ ō] nur vor /r/ und /ǝ/, während in allen anderen Positionen die entsprechenden Diphthonge [ei], [öi], [ou] auftreten. Die Einordnung dieser Phoneme /[ei ē]/ etc. in ein vokalisches Subsystem ist nicht unproblematisch (vgl. 4.1.4.). Es scheint sinnvoll zu sein, im folgenden auch die genannten Allophone in die Kommutationstests einzubeziehen; hierdurch wird die globale Opposition offen vs. geschlossen durch weitere Gegensätze (vor /r/, /ǝ/) zumindest phonetisch näher bestimmt. Hinsichtlich der Langvokale zeigt der Dialekt von Laer also folgendes Bild: // /ǖ/ /ū/ [ē] [ȫ][ō] [] [][ǭ] /ā/ Abb. 17.4: Laerisches Langvokalinventar Näher zu definieren sind hier nur die Längen mit Phonemstatus (zu den allophonischen Längen vgl. 4.1.4. bzw. 4.1.1.): // ist ein langer (// vs. /i/), ungerundeter vorderer (// vs. /ǖ/) Vokal von minimalem Öffnungsgrad (// vs. [ē], /ā/); /ǖ/ ist ein langer (/ǖ/ vs. /ü/), vorderer (/ǖ/ vs. /ū/), gerundeter (/ǖ/ vs. (/) Vokal von minimalem Öffnungsgrad (/ǖ/ vs. [ȫ], /ā/); /ū/ ist ein langer (/ū/ vs. /u/), hinterer gerundeter (/ū/ vs. /ǖ/) Vokal von minimalem Öffnungsgrad (/ū/ vs. [ō], /ā/); /ā/ ist ein langer (/ā/ vs. /a/) Vokal von maximalem Öffnungsgrad (/ā/ vs. [], [], [ǭ], //, /ǖ/, /ū/). Diese Definitionen ergeben sich, vom Quantitätsgegensatz abgesehen (hierzu 4.1.1.), aus den folgenden Kommutationsproben:
Abb. 17.5: Kommutationsproben Langvokale Es folgen die hochsprachlichen chungen in gleicher Anordnung: (ich) feiere (ich) feiere vier Bier Eber Eber Paar meine Mähne
Feuer Feuer Fuder Fuder für, vor für, vor Vater heulen holen
Entspre-
Furche Furche Futter Futter Ohr Ohr Vater brauchen Stangen
4.1.3. Diphthonge 4.1.3.1. Zur phonematischen Wertung der laerischen Diphthonge Es ist hier nicht der Ort, die verschiedenen theoretischen Ansätze hinsichtlich der Beantwortung der Frage, ob die Diphthonge als selbständige Phoneme /ai/, /au/ etc. zu werten sind oder aber als Phonemkombinationen von zwei ohnehin schon im Inventar vorhandenen einfachen Phonemen (etwa /a + i/, /a + u/ etc.), zu diskutieren. Hierzu ist auf die entsprechende Forschungsliteratur zu verweisen; vgl. etwa im Überblick Werner 1972, 32—35 und Niebaum 1974, 51—56 . In der vorliegenden Studie werden hinsichtlich dieses Problems im wesentlichen die Auffassungen Martinets mit der Ergänzung durch Hintze vertreten (Martinet 196 8 [zuerst 1939]; Hintze 1950): Danach ist eine Lautverbindung AB als ein Phonem zu werten, wenn die Bestandteile A oder B nicht kommutiert werden können. Wenn die Vertauschprobe die betr. Lautverbindung in einer Stellung als einphonemig bestimmt, ist diese Wertung auf alle Stellungen auszudehnen. Eine an sich zerlegbare Lautverbindung ist aber monophonematisch, wenn sie als Korrelationspartner eines Einzelphonems
17. Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie
angesehen werden kann. — Für die Wertung der Diphthonge der Mundart von Laer sind allein die beiden ersten Bedingungen relevant. Bei Anwendung dieser Regeln ergibt sich hinsichtlich der einzelnen Diphthonge: (a) [ai], [ǫü], [au] In diesen Lautfolgen sind jeweils beide Komponenten vor Konsonant kommutierbar: 1. Glied [laiʒǝn] ‘bösen’ [l iʒǝn] ‘liegen’ [rǫükǝn] ‘räuchern’ [r ükǝn] ‘Rücken’ [plauʒǝn] ‘plagen’ [pl uʒǝn] ‘Nagel’
2. Glied [kaim] ‘(er) kam’ [ka m] ‘Kamm’ [dǫüp] ‘(er) tauft’ [dǫ p] ‘Fingernagel’ [sxaup] ‘Schaf’ [sxa p] ‘Schrank’
Abb. 17.6: Phonematische Wertung der Diphthonge Nach diesen Vertauschproben könnte man für die drei Diphthonge biphonematische Wertung annehmen. Eine Betrachtung dieser Lautverbindungen im Auslaut (z. B. [rai] ‘Reh’, [hǫü] ‘Heu’, [tau] ‘zu’) ergibt jedoch die absolute Unvertauschbarkeit des jeweiligen ersten Bestandteils, während der jeweilige zweite nicht gegen ∅ vertauschbar ist, was mit der Tatsache zusammenhängt, daß die Mundart von Laer im Auslaut keine betonten Kurzvokale kennt, der Quantitätsgegensatz in dieser Position zugunsten der Länge aufgehoben ist. (b) [ei], [öi], [ou] Bei diesen Lautfolgen sind die ersten Glieder vor Konsonant vertauschbar: [seipǝn] ‘Seife’; [bouk] ‘Buch’ [söipǝn] ‘tränken’;[b uk] ‘Bock’ Die jeweiligen zweiten Glieder lassen sich weder mit einem Vokal noch einem Konsonanten austauschen; gegenüber ∅ ist allerdings Vertauschung möglich. Aber auch diese Vertauschung ist nicht distinktiv, weil sich hierdurch der Sinn des betr. Wortes nicht ändert; es wurde bereits darauf hingewiesen (vgl. 4.1.2.), daß [ei], [öi] und [ou] komplementäre Varianten der Phoneme /[ei ē]/, /[öi ȫ]/ und /[ou ō]/ sind. (c) [iǝ], [üǝ], [uǝ] Die ersten Glieder dieser Lautfolgen sind absolut unvertauschbar, da ihr zweiter Bestandteil als selbständiges Phonem nur unter dem Nebenton auftreten kann. Somit ist für diese Diphthonge monophonematische Wertung anzunehmen.
347
4.1.3.2. Das laerische Diphthongsystem Die laerischen Diphthonge lassen sich in „öffnende“ und „schließende“ einteilen, je nachdem, ob sich die Artikulation von einer bestimmten Vokalstellung zu einem offeneren Laut hin bewegt (so bei /iǝ/, /üǝ/, /uǝ/) oder ob die Bewegung in der Richtung zu einem geschlosseneren als dem Ausgangspunkt verläuft (so bei /ai/, /ǫü/, /au/, [ei], [öi], [ou]). Die öffnenden Diphthonge werden nach ihrem Ausgangspunkt, die schließenden nach i h rem Zielpunkt lokalisiert; dies ergibt sich aus dem Verhalten der komplementär ditribuierten Varianten eines den Diphthongen folgenden dorsalen Reibelauts /[χ x]/ (vgl. 4.2.2.2.), der nach velaren Vokalen als [x] (z. B. [dǫxtǝr] ‘Tochter’, [tuxt] ‘Zucht’, [dax] ‘Tag’), sonst dagegen als [χ] realisiert wird (vgl. [biχtǝn] ‘beichten’, [lüχtǝ] ‘Lampe’, [dręχtiχ] ‘tragend’]. Den Diphthongen /iǝ/ und /üǝ/ folgt nun dieses palatale Allophon (z. B. [driǝχ] ‘(er) trug’, [müǝχt] ‘(ihr) mögt’), dem /uǝ/ dagegen die velare Variante [x] (etwa [vuǝx] ‘(er) wog’). Daraus wird deutlich, daß bei den bisher genannten Diphthongen für die Wahl der Reibelautvariante jeweils die erste Komponente entscheidend ist. Im Gegensatz hierzu geschieht bei den schließenden Diphthongen die Verteilung von [x] und [x] entsprechend dem Vokalcharakter des Zielpunktes: Auf /ai/, /ǫü/, [ei] und [öi] folgt [χ] (z. B. [straiχǝn] ‘streicheln’, [sǫüχ] ‘säuge (Imp.)’, [fleiχ] ‘fliege (Imp.)’, [flöiχ] ‘(er) flog’, dagegen ergibt sich nach /au/ und [ou] ein [x] (etwa [baux] ‘(er) bog’, [xǝnoux] ‘genug’). — Aus diesem Befund läßt sich ablesen, daß bei /iǝ/, /üǝ/, /uǝ/ jeweils der erste Diphthongbestandteil, bei /ai/, /ǫü/, /au/, [ei], [öi] und [ou] dagegen der zweite als charakteristisch für die Einordnung nach der Artikulationsstelle anzusehen sind. Damit ergibt sich für das laerische Diphthonginventar folgende Anordnung: /iǝ/ [ei] /ai/
/üǝ/ [öi] /ǫü/
/uǝ/ [ou] /au/
Abb. 17.7: Laerisches Diphthonginventar Bei den folgenden Definitionen wird die mittlere Reihe noch ausgespart (hierzu vgl. 4.1.4.): /iǝ/ ist ein vorderer ungerundeter (/iǝ/ vs. /üǝ/), geschlossener (/iǝ/ vs. [ei], /ai/) Diphthong (/iǝ/ vs. //, /i/);
348
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
/üǝ/ ist ein vorderer (/üǝ/ vs. /uǝ/), gerundeter (/üǝ/ vs. /iǝ/), geschlossener (/üǝ/ vs. [öi], /ǫü/) Diphthong (/üǝ/ vs. /ǖ/, /ü/); /uǝ/ ist ein hinterer gerundeter (/uǝ/ vs. /üǝ/), geschlossener (/uǝ/ vs. [ou], /au/), Diphthong (/uǝ/ vs. /ū/, /u/); /ai/ ist ein vorderer ungerundeter (/ai/ vs. /ǫü/), offener (/ai/ vs. [ei], /iǝ/) Diphthong (/ai/ vs. /ā/, /a/); /ǫü/ ist ein vorderer (/ǫü/ vs. /au/) gerundeter (/ǫü/ vs. /ai/), offener (/ǫü/ vs. [öi], /üǝ/) Diphthong (/ǫü/ vs. [ǫ]); /au/ ist ein hinterer gerundeter (/au/ vs. /ǫü/), offener (/au/ vs. [ou], /uǝ/) Diphthong (/au/ vs. /ā/, /a/). Diese Definitionen lassen sich, von der Dimension der Einheitlichkeit einstweilen abgesehen, aus den folggenden Kommutationsproben ableiten:
Abb. 17.8: Kommutationsproben Diphthonge Es folgen die hochsprachlichen chungen in gleicher Anordnung: Kegel wissen Weizen geschehen (er) rief Seil reichen
Entspre-
entsprechenden (hd.) Langvokalen gleichzusetzen sind. Diese laerischen Diphthonge sind also häufig phonetisch [i · ǝ], [ü · ǝ], [u · ǝ], [e · i], [ö · i], [o · u] zu schreiben; da die Halblänge aber phonematisch nicht distinktiv ist, vielmehr frei variiert, wird bei phonematischer Notation der die Halblänge bezeichnende Punkt fortgelassen. — Die öffnenden Diphthonge werden aber auch qualitativ unterschiedlich realisiert. Als [i · ǝ], [ü · ǝ], [u · ǝ] begegnen sie vor /p, t, k, x, f, s/; vor /r/ erscheinen diese Varianten ebenfalls, dabei geht aber die Artikulation des Vibranten in den meisten Fällen in der des zweiten Diphthongbestandteils auf: /r/ wird dann nur noch fakultativ realisiert (dies wird im folgenden durch () angedeutet). Vor /v, b, d, ʒ, z, m, n, ŋ/ werden /iǝ/, /üǝ/, /uǝ/ als [i · ę], [ü · ], [u · ǫ] realisiert, schließlich als [i · a], [ü · a], [u · a] vor /l/. Im Auslaut sind /iǝ/, /üǝ/, /uǝ/ nicht belegt. Fakultativ können diese Diphthonge vor den stimmhaften Reibelauten /v/, /ʒ/, /z/ die monophthongischen Varianten [], [ǖ], [ū] haben; das bedeutet also, daß in diesen Umgebungen die Oppositionen /iǝ/ vs. //, /üǝ/ vs. /ǖ/, /uǝ/ vs. /ū/ aufgehoben sind; Beispiele: es stehen nebeneinander: [i · ęz] ‘Esel’ und [z], [fü · ʒǝl] ‘Vögel’ und [fǖʒǝl], [fu · ǫʒǝl] ‘Vogel’ und [fūʒǝl]. Nachzutragen bleiben die Oppositionen der einzelnen Diphthonge mit den ihnen entsprechenden Monophthongen; dabei ist daran zu erinnern, daß im Dialekt von Laer in den halbgeschlossenen und halboffenen Reihen Langvokale nur vor /r/ und /ǝ/ belegt sind /vgl. 4.1.2.). Beispiele:
Kügel(chen)Kugel Höfe kochen Hufe Kuchen schön schon suchen zu räuchern Tau räuchern rauchen
Zur phonetischen Realisierung der Diphthonge sind einige Bemerkungen erforderlich. Die Komponenten der Diphthonge /ai/, /ǫü/ und /au/ scheinen bezüglich der Lautdauer in der Regel einander gleichwertig zu sein, während bei /iǝ/, /üǝ/, /uǝ/ (aber auch bei [ei], [öi], [ou]) der erste Bestandteil offensichtlich zumeist halblang ist, wohingegen die zweiten Komponenten kurz sind. Möglicherweise hängt dies mit dem geschlossenen Charakter dieser ersten Segmente zusammen, die im Grunde qualitativ den
Abb. 17.9: Oppositionen Diphthong: Monophthong
17. Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie
Es folgen die hochsprachlichen chungen in derselben Anordnung: weiten (Akk.) Küken brauchen
wissen
Küche Söhne gebro- Sohne chen (Dat.) Eiche fühlen Huf (ich) trabe (ich) trieb Pfähle Hecke hohen Not (Akk.)
Entspre-
weißen (Akk.) Sünde Sonne Ecke Fohlen Hof (ich) darf Hügel (Dat.) naß
4.1.4. Die Phoneme /[ei ē]/, /[öi ȫ]/, /[ou ō]/
/ǖ/ /[öi ȫ]/ /ā/
/ū/ /[ou ō]/
Abb. 17.10: Laerisches Langvokalsystem (vgl. Abb. 17.4) /iǝ/ /ai/
/üǝ/ /ǫü/
Die Oppositionen der Phoneme /ē/, /ȫ/, /ō/ bzw. die ihrer Allophone zu den ihnen jeweils benachbarten Phonemen sind bereits vorgeführt worden (4.1.2. und 4.1.3.); hier brauchen jetzt nur noch die Definitionen angeschlossen zu werden. Danach ist /[ei ē]/ als vorderer ungerundeter (/[ei ē]/ vs. /[öi ȫ]/), halbgeschlossener ([ē] vs. //, /ā/, []) Langvokal ([ei] vs. [ę]) zu definieren; /[öi ȫ]/ ist ein vorderer (/[öi ȫ] vs. /[ou ō]/, gerundeter (/[öi ȫ] vs. /[ei ē]/), halbgeschlossener (/[öi ȫ]/ vs. /ǖ/, /ā/, []) Langvokal ([öi] vs. []); /[ou ō]/ ist ein hinterer gerundeter (/[ou ō]/ vs. /[öi ȫ]/), halbgeschlossener ([ō] vs. /ū/, /ā/, [ǭ]) Langvokal ([ou] vs. [ǫ]). 4.1.5. Vokale der Nebensilben
Sowohl bei den Langvokalen (4.1.2.) wie auch bei den Diphthongen (4.1.3.) stellte sich die Frage, welchem vokalischen Subsystem, dem der Diphthonge oder dem der Längen, die „gemischten“ Phoneme /[ei ē]/, /[öi ȫ]/ und /[ou ō]/ zuzuweisen seien. Dabei deutete sich auch bereits eine Lösung dieses Problems an: beim Austauschtest der zweiten Komponenten der diphthongischen Allophone gegenüber ∅ (vgl. 4.1.3.1.(b)). Die Tatsache nämlich, daß zur Identifizierung der betreffenden Paradigmata das jeweilige zweite Diphthongelement nicht relevant ist, legt es nahe, diese Phoneme den Langvokalen zuzuordnen, innerhalb deren System sie dann die halbgeschlossene Reihe bilden. (Zu dieser Auffassung paßt übrigens auch die diachronische Entwicklung, vgl. Niebaum 1974, 379 ff.). Als Phonemzeichen können daher im weiteren /ē/, /ȫ/, /ō/ verwendet werden; lediglich in Zusammenhängen, in denen phonetische Deutlichkeit erwünscht ist, wird die Differenzierung in monophthongische und diphthongische Allophone beibehalten. Damit ergeben sich nun die folgenden laerischen Langvokal- und Diphthongsysteme: // /[ei ē]/
349
/uǝ/ /au/
Abb. 17.11: Laerisches Diphthongsystem (vgl. Abb. 17.7)
Im laerischen Dialekt begegnen i n unbetonter Stellung lediglich [į] und [ǝ] sowie, auf die Position vor /(r)/ beschränkt, [ɐ]. Während man [i], das nur in Suffixen, etwa -ig ([hānįχ]‘Honig’), -lik (z. B. [jȫ(r)lįk] ‘jährlich’) oder -ink (so in [lüǝnįŋk] ‘Sperling’) erscheint, durchaus als unbetonte Variante des Phonems /i/ betrachten kann, scheint bei [ǝ] doch einiges für einen selbständigen phonemischen Charakter zu sprechen. Einmal besteht eine distinktive Opposition /ǝ/ vs. ∅, die die Bedeutung von Wörtern differenziert: /ǫsǝ/ ‘Ochse’ — /ǫs/ ‘als’ /męsǝ/ ‘Messe’ — /męs/ ‘Mist’ /ǫlǝ/ ‘all(e)’ — /ǫl/ ‘schon’ Des weiteren ist /ǝ/ der einzige nichtlange Vokal, der gegenüber den betonten Kurzvokalen frei im Auslaut vorkommen kann. Schließlich erscheint /ǝ/ als selbständiger Silbenträger. Diese Kriterien sprechen für die Phonemhaftigkeit des /ǝ/, auch wenn ihm wegen seiner Beschränkung auf die Position unter dem Nebenton eine gewisse Sonderstellung eingeräumt werden muß. — Zur näheren Diskussion des Phonemstatus des Murmelvokals, die hier unterbleiben muß, vgl. Niebaum 1974, 43—47; besondere Bedeutung haben dort die Argumente Moultons (1962 a und 1962 b). Das Phonem /ǝ/ hat unterschiedliche phonetische Realisationen. Neben Qualitätsnuancen (vor /r/ bzw. /(r)/ begegnet [ɐ], sonst [ǝ]) sind auch unterschiedliche Intensitäten feststellbar. So kann /ǝ/ vor Konsonant bis zum völligen Schwund reduziert werden; -en z. B. kann als [ǝn, ǝ n, ] realisiert werden. Ein solches [] werten wir phonologisch als /ǝn/, ähnlich auch [ɐ] als /ǝ(r)/ (zu
350
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
diesem Problemkreis Näheres bei 1967, 132 und Morciniec 1968, 83 ff.).
Adamus
4.2. Konsonantismus Bei den Konsonanten zeigen die Kommutationstests drei relevante Dimensionen: Arti-
kulationsart (Verschlußlaut, Reibelaut, Nasal, Liquid, Hauchlaut), Artikulationsstel l e (labial, medial, dorsal), Stimmbänderhaltung (stimmhaft, stimmlos). Danach ergibt sich für den Dialekt von Laer folgendes Konsonantensystem:
Abb. 17.12: Laerisches Konsonantensystem Dabei ist /b/ ein stimmhafter (/b/ vs. /p/), labialer (/b/ vs. /d/), nichtnasaler (/b/ vs. /m/) Verschlußlaut (/b/ vs. /v/); /d/ ein stimmhafter (/d/ vs. /t/), medialer (/d/ vs. /b/, /ʒ/), nichtnasaler (/d/ vs. /n/) Verschlußlaut (/d/ vs. /z/); /p/ ein stimmloser (/p/ vs. /b/), labialer (/p/ vs. /t/), nichtnasaler (/p/ vs. /m/) Verschlußlaut (/p/ vs. /f/); /t/ ein stimmloser (/t/ vs. /d/), medialer (/t/ vs. /p/, /k/), nichtnasaler (/t/ vs. /n/) Verschlußlaut (/t/ vs. /s/); /k/ ein dorsaler (/k/ vs. /t/), nichtnasaler (/k/ vs. /ŋ/) Verschlußlaut (/k/ vs. /x/, [ʒ]); /[w v]/ ein stimmhafter (/v/ vs. /f/), labialer (/v/ vs. /z/) Reibelaut (/v/ vs. /b/); /z/ ein stimmhafter (/z/ vs. /s/), medialer (/z/ vs. /v/, /ʒ/) Reibelaut (/z/ vs. /d/); /[ʒ g]/ ein stimmhafter (/ʒ/ vs. /x/), dorsaler (/ʒ/ vs. /z/) Reibelaut ([ʒ] vs. /k/); /f/ ein stimmloser (/f/ vs. /v/), labialer (/f/ vs. /s/) Reibelaut (/f/ vs. /p/); /s/ ein stimmloser (/s/ vs. /z/), medialer (/s/ vs. /f/, /x/) Reibelaut (/s/ vs. /t/); /[χ x]/ ein stimmloser (/x/ vs. /ʒ/), dorsaler (/x/ vs. /s/) Reibelaut (/x/ vs. /k/); /j/ ein stimmhafter (/j/ vs. /x/), dorsaler (/j/ vs. /s/ Reibelaut (/j/ vs. /k/); /m/ ein labialer (/m/ vs. /n/, /ŋ/) Nasal (/m/ vs. /b/, /p/);
/n/ ein medialer (/n/ vs. /m/, /ŋ/) Nasal (/n/ vs. /d/, /t/); /ŋ/ ein dorsaler (/ŋ/ vs. /m/, /n/) Nasal (/ŋ/ vs. /k/); /r/ ein nichtlateraler (/r/ vs. /l/) Liquid (/r/ vs. /h/); /l/ ein lateraler (/l/ vs. /r/) Liquid; /h/ kann mit Trubetzkoy (196 7, 133 f.) als „unbestimmter Konsonant“ bezeichnet werden. Diese Definitionen lassen sich aus den entsprechenden Kommutationsproben ableiten. Im folgenden wird anhand des laerischen Konsonantismus hierfür, nicht zuletzt auch unter methodischem Aspekt, eine andere, in phonologischen Beschreibungen hier und da verwendete Darstellungsform vorgeführt, die es erlaubt, die phonologischen Oppositionen und die ihnen zugehörigen Minimalpaare auf einen Blick zu erkennen. Dabei wird jedes Konsonantenphonem mit jedem kontrastiert — ein Verfahren, das viel Redundanz in sich birgt, da es im Grunde ausreicht, die Oppositionen von im System benachbarten Phonemen zu explizieren. — Zu der Gesamtkontrastierung des laerischen Konsonantismus sind einige Bemerkungen zu machen. Die Nebensilben sind in ihren Vollformen angeführt; die zugegebenermaßen häufigeren assimilierten Formen (hierzu vgl. 4.2.2.1.) hätten die Suche nach Minimalpaarkontrasten in einigen Fällen über Ge-
k
t k nat knǝ nap pnǝ dak t dat
b
b bnǝ pnǝ bt tt bēn kēn
[ʒ g] [w v]z j ŋ d f s χ x] h m n r l lǫt dnǝ kʒǝ vat rōzǝ jak fat snǝ kxǝ hōt mnǝ kinǝ klüŋǝlrat pnǝ kpǝ pat rōpǝ pak pat pnǝ kpǝ pōt pnǝ kipǝ klüpǝlpat pǫt hǖdǝ kręʒǝnvt vzǝ juŋǝ fiǝʒǝnhūs dax hālǝn laim hōn faŋ ręʒǝn lęʒǝn dat tālǝn lait hōt fat tęʒǝn tęʒǝn hǖtǝ krętǝn tt vtǝ tuŋǝ tiǝʒǝnhūt dax hęnǝ kuǝmǝndn lęŋtǝ rump laim dk lęʒǝt vt vzǝ jȫln blif rs dak kęnǝ kuǝkǝn dk lęktǝ kump kaim kk lękǝt vk vkǝ kȫln blik rk dōk lāʒǝrn viǝkǝvāzǝn jak fūr st x hln mnǝ nükǝ riŋǝn ruk liʒǝn bōk lābǝrn biǝkǝvābǝn bak būr bt b bln bnǝ bükǝ ribǝn buk biʒǝn trüʒǝ vk vzǝ jak fiŋǝr sik x hōt max niʒǝn haŋǝn rk liʒǝn d drüdǝ dk vdǝ dak diŋǝr dik diʒǝn hadǝn dk diʒǝn d dōt dax laivǝ iǝzǝl laufǝ vuǝsǝnkxǝ flȫmǝn mnǝ dręŋǝ frǝn haulǝ [ʒ g] laiʒǝ iǝʒǝl lauʒǝ vuǝʒǝnkʒǝ flȫʒǝn mʒǝ dręʒǝ fʒǝn hauʒǝ knūzǝnjāʒǝn fat st xt haʒǝnmęʒǝn fnǝ kriŋlnręʒǝn liʒǝn [w v]knūvǝnvāʒǝnvat vt v vāʒǝnvęʒǝn fvǝ krivlnvęʒǝn viʒǝn knūfn ǖsǝ jūxǝn bǫümǝ fnǝ mǖrǝ lǝn z knūznmǖzǝ sūzǝn bǫüzǝ fzǝ mǖzǝ zǝn fak sau xau hāʒǝnmāʒǝn nāʒǝn rǫk lipǝn j jak jau jau jāʒǝn jāʒǝn jāʒǝn jǫk jipǝn ǫs xōt hōt mōr nat draŋ rat lak f ǫf fōt fōt fōr fat draf fat fak xat hait mʒǝn nat föŋǝ ręʒǝn ldǝn s sat sait sęʒǝn sat fösǝ sęʒǝn sdǝn hōt m dan laŋǝn ruǝtn fŋǝn [χ x] xōt x dax laxǝn xuǝtn xŋǝn mūs nāʒǝn rōt lēt h hūs hāʒǝn hōt hēt nęʒǝn sliŋ ręʒǝn lākǝn m męʒǝnslim męʒǝnmākǝn tuŋǝ ręʒǝn liʒǝn n tunǝ nęʒǝn niʒǝn fal ŋ faŋ lęʒǝn r ręʒǝn
Abb. 17.13: Gesamtkontrastierung Konsonantismus
p
p
17. Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie 351
352
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
bühr erschwert. Die Lautfolge -er, phonetisch meist als [ɐ] realisiert, ist demgemäß ebenfalls als [ǝr] ausgeschrieben worden, wenngleich der Liquid oft nur fakultativ realisiert wird (vgl. 4.1.5.). Gelegentlich ist es nicht gelungen, „echte“ Minimalpaare zu finden. Des weiteren ist festzuhalten, daß sich eine Reihe von Kontrasten aus distributionellen Gründen (vgl. hierzu 5.) ausschließt; diese Fälle wurden in den Tabellen durch ein Diagonalkreuz kenntlich gemacht. Es folgen die hochsprachlichen Entsprechungen in alphabetischer Anordnung: /bak/ ‘Rücken’, /bēn/ ‘Bein’, /b/ ‘bei’, /biǝkǝ/ ‘Bach’, /biʒǝn/ ‘Schärfhaue’, /bln/ ‘Beile (Dat.)’, /bnǝ/ ‘(ich) binde’, /bt/ ‘(er) beißt’, /blif/ ‘(er) bleibt’, /blik/ ‘Blech’, /bōk/ ‘Buch’, /bǫümǝ/ ‘Bäume’, /bǫüzǝ/ ‘böse’, /buk/ ‘Bock’, /bükǝ/ ‘(ich) bücke’, /būr/ ‘Bauer’; /dak/ ‘Dach’, /dan/ ‘dann’, /dat/ ‘das, daß’, /dax/ ‘Tag’, /d/ ‘dir, dich’, /diʒǝn/ ‘gedeihen’, /dk/ ‘Teich’, /dik/ ‘dick’, /din(ǝ)/ ‘dein(e), /diŋǝr/ ‘Dinge’, /dōk/ ‘Tuch’, /dōt/ ‘tut’, /draf/ ‘(ich) darf’, /draŋ/ ‘Drang’, /dręʒǝ/ ‘(ich) drehe’, /dręŋǝ/ ‘(ich) dränge’, /drüdǝ/ ‘dritte’; /fak/ ‘Fach’, /fal/ ‘Fall’, /faŋ/ ‘fang!’, /fat/ ‘Faß’, /fiǝʒǝn/ ‘fegen’, /fnǝ/ ‘fein’, /fiŋǝr/ ‘Finger’, /fvǝ/ ‘fünf’, /fzǝ/ ‘fies’, /flȫmǝn/ ‘trüb machen’, /flȫʒǝn/ ‘(sie) flogen’, /fȫʒǝn/ ‘fügen’, /fŋǝ(n)/ ‘finge(n)’, /fōr/ ‘Futter’, /fȫrǝn/ ‘führen’, /fsǝ/ ‘Füchse’, /fōt/ ‘Fuß’, /fūr/ ‘Furche’; /hadǝn/ ‘(sie) hatten’, /hāʒǝn/ ‘Hecke’, /hait/ ‘(er) hieß’, /hālǝn/ ‘holen’, /haŋǝn/ ‘hängen’, /haulǝ/ ‘(ich) halte’, /hauʒǝ/ ‘hoch’, /hęnǝ/ ‘Henne’, /hēt/ ‘heiß’, /hln/ ‘Hilde, Heuboden’, /hōn/ ‘Huhn’, /hōt/ ‘Hut’, /hǖdǝ/ ‘heute’, /hūs/ ‘Haus’, /hūt/ ‘Haut’, /hǖtǝ/ ‘Häute’; /iǝzǝl/ ‘Esel’, /iǝʒǝl/ ‘Igel’, /lǝn/ ‘eilen’, /zǝn/ ‘Eisen’; /jāʒǝn/ ‘jagen’, /jak/ ‘Jacke’, /jau/ ‘ja’, /jipǝn/ ‘piepen’, /jǫk/ ‘Joch’, /jȫln/ ‘schreien’, /juŋǝ/ ‘Junge’, /jūxǝn/ ‘jauchzen’; /kaim/ ‘(er) kam’, /kēn/ ‘kein’, /kęnǝ/ ‘(ich) kenne’, /kk/ ‘guck!’, /knǝ/ ‘keine’, /kinǝ/ ‘Kinn (Dat.)’, /kipǝ/ ‘Kippe’, /klüŋǝl/ ‘Klüngel’, /klüpǝl/ ‘Knüppel’, /knūfǝn/ ‘kneten’, /knūvǝn/ ‘essen’, /knūzǝn/ ‘knausern’, /kʒǝ/ ‘Kühe’, /kȫln/ ‘kühlen’, /kpǝ/ ‘Köpfe’, /kxǝ/ ‘(ich) keuche’, /kręʒǝn/ ‘Krähen’, /krętǝn/ ‘kümmern’, /kriŋǝln/ ‘kringeln’, /krivǝln/ ‘kribbeln’, /kuǝkǝn/ ‘kochen’, /kuǝmǝn/ ‘kommen’, /kump/ ‘Schüssel’; /lābǝrn/ ‘Blabla reden’, /lāʒǝrn/ ‘lagern’, /laiʒǝ/ ‘schlimm’, /laim/ ‘Lehm’, /lait/ ‘(er) ließ’, /laivǝ/ ‘liebe’, /lak/ ‘Lack’, /lākǝn/ ‘Laken’, /laŋǝn/ ‘langen’, /laufǝ/ ‘Laub (Dat.)’, /lauʒǝ/ ‘Lauge’, /laxǝn/ ‘lachen’, /lęʒǝn/ ‘legen’, /lęʒǝt/ ‘(er) legt’, /lękǝt/ ‘(er) leckt’, /lęktǝ/ ‘(er) leckte’, /lęŋtǝ/ ‘Länge’, /lēt/ ‘Lied’, /ldǝn/ ‘leiden’, /liʒǝn/ ‘liegen’, /lipǝn/ ‘Lippen’, /lǫt/ ‘laß!’; /māʒǝn/ ‘Magen’, /mākǝn/ ‘machen’, /max/
‘(ich) mag’, /męʒǝn/ ‘mähen’, /m/ ‘mir, mich’, /mʒǝ/ ‘(ich) uriniere’, /mnǝ/ ‘meine’, /mōr/ ‘Mutter’, /mǖrǝ/ ‘Mauer’, /mūs/ ‘Maus’, /mǖzǝ/ ‘Mäuse’; /nap/ ‘Napf’, /nat/ ‘naß’, /nęʒǝn/ ‘nähen’, /niʒǝn/ ‘neuen’, /nükǝ/ ‘Laune’; /ǫf/ ‘ob’, /ǫs/ ‘als’; /pak/ ‘faß!’, /pat/ ‘Pfad’, /pnǝ/ ‘Pein’, /pǫt/ ‘Topf’, /pōt/ ‘Pfote’; /rat/ ‘Rad’, /ręʒǝn/ ‘rein’, /ribǝn/ ‘Rippe’ /rk/ ‘reich’, /riŋǝn/ ‘ringen’, /rs/ ‘Reis’, /rǫk/ ‘Rock’, /rōpǝ/ ‘(ich) rufe’, /rōt ‘Ruß‘, /rōzǝ/ ‘Rose’, /ruǝtǝn/ ‘verrottet’, /ruk/ ‘Ruck’, /rump/ ‘Rumpf’; /sait/ ‘(er) säße’, /sat/ ‘(er) saß’, /sau/ ‘so’, /sęʒǝn/ ‘sagen’, /sdǝn/ ‘Seiten’, /sik/ ‘sich’, /snǝ/ ‘seine’, /st/ ‘seit’, /slim/ ‘schlimm’, /sliŋ/ ‘(ich) schlinge’, /sūzǝn/ ‘sausen’; /tālǝn/ ‘zahlen’, /tęʒǝn/ ‘zehn’, /tiǝʒǝn/ ‘gegen’, /tt/ ‘Zeit’, /trüʒǝ/ ‘zurück’, /tuŋǝ/ ‘Zunge’, /tunǝ/ ‘Tonne’; /ǖsǝ/ ‘Kröte’; /vābǝn/ ‘Waben’, /vāʒǝn/ ‘Wagen’, /vat/ ‘was’, /vāzǝn/ ‘Wasen’, /vęʒǝn/ ‘wehen’, /v/ ‘wir’, /vdǝ/ ‘Weide’, /viǝkǝ/ ‘Woche’, /viʒǝn/ ‘weihen’, /vk(ǝ)/ ‘weich(e)’, /vt(ǝ)/ ‘weit(e)’, /vzǝ/ ‘Weise’, /vuǝʒǝn/ ‘(sie) wogen’, /vuǝsǝn/ ‘(sie) wuchsen’; /xat/ ‘Loch’, /xau/ ‘schnell’, /x/ ‘ihr’, /xöŋǝn/ ‘(sie) gingen’, /xōt/ ‘gut’, /xuǝtǝn/ ‘gegossen’. 4.2.2. Bemerkungen 4.2.2.1. zu den Verschlußlauten Bei den Verschlußlauten zeigt sich die (bei allen Lauten feststellbare) Dreiteilung der Artikulation besonders deutlich. „Den Anglitt bildet die I m p l o s i o n , d. h. der Verschluß des Mundraumes, der Haltephase entspricht die Ve r s c h l u ß h a l t u n g , während der die Luft in den Mund strömt, so daß hinter dem Verschluß ein Überdruck entsteht, den Abglitt bildet die E x p l o s i o n , d. h. die plötzliche Lösung des Verschlusses und das mit einem knallartigen Geräusch verbundene Ausströmen der Luft“ (Schubiger 1970, 75).
Bezüglich des Abglitts ergibt sich in zahlreichen Mundarten, auch in der von Laer, bei der Verbindung eines Verschlußlautes mit dem homorganen „Dauerlaut“ (Nasal oder Lateral) eine Besonderheit; in diesem Falle nämlich verlagert sich die Stelle der Explosion. Die Zunge bleibt während der Artikulation des Dauerlauts in Verschlußlautstellung, und die Explosion erfolgt dann nicht an den Lippen, Alveolen oder am Gaumen, sondern am Eingang der Nasenhöhle (nasale Explosion) bzw. am Zungenrand (laterale Explosion). Näheres hierzu bei Niebaum 1974, 74 ff. Diese „homorganen Berührungen“ ergeben sich vor allem durch
17. Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie
den häufigen Fortfall des [ǝ] in den unbetonten Endsilben -en, -el. Das auf diese Weise entstehende -n assimiliert sich an den vorhergehenden Verschlußlaut. Nach bilabialem Verschlußlaut wird es zum bilabialen Nasal [m], nach dentalem bleibt es dental ([n]), nach gutturalem wandelt es sich zu [ŋ]; Beispiele aus Laer: [hęb.] ‘haben’, [vi-ǝt.] ‘wissen’, [lęk.] ‘lecken’, [sab.n] ‘reden’, [ki · ǝt.] ‘Kessel’, [dęk.] ‘Deckel’. Als diakritisches Zeichen zur Notierung der nasalen bzw. lateralen Verschlußlösung wird ein Punkt hinter das Verschlußlautzeichen gesetzt. Die Opposition stimmhaft vs. stimmlos besteht bei den laerischen Verschlußlauten nur an- und inlautend; im Auslaut begegnen ausschließlich die stimmlosen Phoneme (vgl. auch 5.2.3.). — /p t k/ sind im Anlaut vor Vokalen immer aspiriert; dasselbe gilt für /p/ vor /l/ sowie /r/ plus Vokal, für /t/ vor /r/ sowie /v/ plus Vokal und für /k/ vor /l/, /r/, /n/ sowie /v/ plus Vokal. Im Auslaut stehen Aspiration und Nichtaspiration in freier Variation. Beispiele: [phlüg.] ‘pflücken’, [thrüʒǝ] ‘zurück’, [khu · ǫmǝn] ‘kommen’. 4.2.2.2. zu den Reibelauten Auch bei den Reibelauten gilt die Opposition stimmhaft vs. stimmlos lediglich anund inlautend; im Auslaut ist sie zugunsten der stimmlosen Laute aufgehoben, vgl. auch 5.2.3. — Das Phonem /v/ wird wortan- und -inlautend meist als [v] realisiert, jedoch besteht nach /d/, /t/, /k/ und /s/ eine bilabiale Variante [w], z. B. in [dwas] ‘quer’, [kwaut] ‘böse’ etc. — Die beiden dentalen Reibelaute /s/ und /z/ opponieren nur in intervokalischer Stellung, und die Opposition ist auch hier funktionell nur schwach belastet; ansonsten begegnet der stimmlose Spirant. /s/ wird phonetisch variabel realisiert. Zumeist lautet es [s], im Anlaut vor Konsonanz hat es aber wohl auch leichte [š]Färbung. — Der stimmlose dorsale Reibelaut hat in der Laerer Mundart zwei komplementär distribuierte Allophone, ein velares [x] nach oder anlautend vor velaren Vokalen (Beispiel: [saxtǝ] ‘sanft’, [xout] ‘gut’) und ein palatales [x] in allen übrigen Stellungen (etwa [düχtiχ] ‘tüchtig’). Im Laerischen ergibt sich hinsichtlich /[χ x]/ kein Wertungsproblem wie etwa für die Hochsprache; vgl. hierzu 4.3.1. Ein Gegensatz zwischen diesem Phonem und seiner stimmhaften Entsprechung [ʒ] besteht nur in intervokalischer Po-
353
sition, auf die letzterer Laut beschränkt ist, und auch hier ist die funktionelle Belastung gering. /ʒ/ besitzt ein Verschlußlautallophon [g], das vor /ŋ/ erscheint, wobei nasale Verschlußlösung erfolgt (Beispiel: [lig.ŋ] ‘liegen’). — /j/, das nur im Anlaut begegnet, wird vor dem Hintergrund der Gliederung der Laute in zwei sich gegenseitig ausschließende Mengen (silbentragende Vokale und marginale Konsonanten) als selbständiges Phonem betrachtet und nicht etwa als Allophon von /i/; zur Wertungsproblematik vgl. Werner 1972, 47 und Niebaum 1974, 89 ff. 4.2.2.3. zu den Nasalen Auch der velare Nasal /ŋ/ ist bezüglich seiner phonematischen Wertung in der Forschung (vgl. die Diskussion bei Niebaum 1974, 94 ff.) umstritten. Vom Standpunkt einer distinktiven Phonologie läßt sich aber die Annahme eines dritten, velaren Nasals begründen. /ŋ/ ist auf die Stellung nach Kurzvokal beschränkt. Die drei nasalen Konsonanten kommen recht häufig silbisch vor. Solche silbischen Nasale [], [], [] ergeben sich vornehmlich durch den Fortfall des [ǝ] in der unbetonten Endsilbe -en (vgl. auch 4.2.2.1.). Dabei fällt auf, daß die Lautverbindungen *[-f] bzw. *[-v] nicht existieren; dies ist auf eine diachronische Entwicklung zurückzuführen, nach der diese Lautgruppen i m Osnabrückischen früh in [-b.] übergehen (vgl. Niebaum 1974, 313 f., Anm. 83): es heißt etwa [knūvǝn] ‘langsam essen’, aber bei Ausfall des -e- dann [knūb.]. 4.2.2.4. zu den Liquiden und zum /h/ Das Laerische hat ein Zungenspitzen-[r], das interdental realisiert zu werden scheint. Vor (e)n wird es oft zu einem supradentalen dähnlichen Laut. Im Anlaut, intervokalisch und nach Konsonanz ist /r/ als [r] belegt, dagegen ist es vor Dentalen und im Auslaut meist nur in der Artikulationsstellung der Organe vorhanden (etwa in [fǭ ǝ ts] ‘sofort’). Diese (unsilbische) Realisation des Phonems /r/ kann gelegentlich mit dem vorhergehenden Vokal verschmelzen, so in [āveid.] ‘arbeiten‘, wo „die Vokaldehnung [...] nichts anderes [ist] als eine besondere Realisierungsart des zwar latenten, aber immerhin vorhandenen r-Phonems“ (von Essen 196 4, 16 ). Nach Brechungsdiphthongen sowie in der Nebensilbe -er scheint /r/ ebenfalls häufig nicht mehr gesondert vorhanden, sondern im zweiten Diphthongbestandteil
354
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
bzw. im -e- aufgegangen zu sein; /r/ wird hier allenfalls noch fakultativ realisiert (Beispiel: /duǝ(r)p/ ‘Dorf’. — Hinsichtlich des oftmals silbischen [1] kann auf die parallele Erscheinung bei den Nasalen (vgl. 4.2.2.3.) verwiesen werden. — Das auf den Anlaut beschränkte /h/ wird vor dem Hintergrund seiner bedeutungsdifferenzierenden Funktion als selbständiges Phonem gesehen. Bei ihm (wie auch bei /r/ und /l/) ist die Artikulationsstelle ohne Relevanz. 4.3. Zu den suprasegmentalen Merkmalen Die ermittelten Phoneme lassen sich, wie bei der Phonemanalyse deutlich wurde, weiter in distinktive Merkmale strukturieren; zumeist erscheint es jedoch als sinnvoller und ökonomischer, diese Merkmale im Zusammenhang als mehr oder weniger simultan realisierte Merkmalsbündel zu betrachten. Neben diesen (in der amerikanischen Terminologie) segmentalen Phonemen gibt es aber in jeder Sprachäußerung noch weitere linguistisch relevante Eigenschaften, die sich mit (den segmentalen) Phonemen, oft sogar mit ganzen Silben verbinden; z. T. sind sie auch von der Syntax abhängig. Deshalb nennt man sie suprasegmentale Merkmale; Näheres vgl. bei Werner 1972, 59 ff. und Heike 196 9. Im folgenden geht es um die suprasegmentalen Merkmale nur insoweit, als sie eindeutige Relevanz für die Lautstruktur des Dialekts von Laer haben. 4.3.1. Junktur Vor dem Hintergrund dreier Wertungsprobleme bei der Ermittlung des deutschen Phoneminventars (/[χ x]/; Aspiration; Glottisschlag [?]) gelangte Moulton 1947 zur Annahme eines Grenzsignals / + /, dem er Phonemcharakter zuweist, das man mit Werner (1972, 6 2 f.) allerdings besser als distinktives Merkmal auffassen sollte, als ein Merkmal, das die sonst eintretenden phonetischen Veränderungen beim Zusammentreffen zweier Phoneme (Sandhi) verhindert. — Im Dialekt von Laer ergibt sich in diesem Zusammenhang folgender Befund: Beim Phonem /[χ x]/ besteht, wie bereits angedeutet wurde, keine Wertungsproblematik; dies liegt u. a. auch daran, daß die hochdeutsche Diminutivendung -chen, die in der Hochsprache die komplementäre Verteilung durchbricht, im Niederdeutschen -ken lautet. — Im Hinblick auf die Aspiration erlaubt die Annahme eines / + / für die Mundart von
Laer die Betrachtung der aspirierten und nichtaspirierten Verschlußlaute (vgl. 4.2.2.1.) als kombinatorische Varianten der jeweiligen Phoneme /p/, /t/, /k/. Die Lautfolgen [vtręk.] ‘weit recken’ bzw. [vthręk.] ‘wir ziehen’, bei denen aus Demonstrationsgründen die Analyse in Worteinheiten noch nicht als vollzogen vorausgesetzt wird, wären dann wie folgt phonemisch zu werten: /vtrękŋ/ und /v + trękŋ/. Dabei sollte / + / nicht einfach als eine Pause verstanden werden, da seine Realisierung vom jeweiligen Sprechtempo der Äußerung abhängig ist. — Beim Glottisschlag (oder auch Knacklaut), bei dem es sich nicht um einen selbständigen Sprachlaut im eigentlichen Sinne, sondern um den festen Einsatz, der im absoluten oder silbischen Anlaut bei Vokalen gesprochen wird, handelt, zeigen sich ähnliche Verhältnisse: [biǝt?ǝrhaul] ‘(ein) bißchen erhalten’, aber [biǝtǝrhaul] ‘besser halten’, phonemisch /biǝt + ǝrhauln/ und /biǝtǝrhauln/. 4.3.2. Akzent In der Mundart von Laer ist der Akzent — in diesem Zusammenhang interessiert er lediglich in seiner wortunterscheidenden Funktion — nur in einigen wenigen Fällen von Belang, und zwar in dem Gegensatz Hauptakzent (//) vs. Nebenakzent (//), etwa in den Beispielen /unǝrhauln/ ‘(sich) unterhalten, ein Gespräch führen’ vs. /unarhauln/ ‘(ein Gefäß) darunterhalten’. Die Forschung ist allerdings hinsichtlich der Frage, ob man in Fällen wie dem angeführten nicht eher von Morphemoppositionen ausgehen sollte, kontrovers; vgl. dazu die zusammenfassende Diskussion bei Werner 1972, 65 ff.
5.
Distribution der Phoneme
Phonematische Einheiten existieren nicht isoliert, sie werden vielmehr in Kombinationen angewendet. Insofern ist die Lautgestalt einer gegebenen Sprache in zweifacher Weise zu charakterisieren: einmal aufgrund ihres Phoneminventars, zum anderen danach, wie dieses Inventar über das Lexikon verteilt ist. Die Kombinationen unterliegen auf der einen Seite gewissen Beschränkungen phonetischer Natur, auf der anderen Seite aber nutzt jede Sprache auch nur einen Teil aller möglichen Phonemkombinationen aus; daher wird sie nicht nur durch den Bestand, sondern auch durch die Verteilung der Phoneme charakterisiert. Leider ist an dieser Stelle ei-
17. Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie
ne ausführliche Beschreibung der distributionellen Gegebenheiten des laerischen Dialekts, für die als sprachliche Einheit wiederum das Wort (in unflektierter und flektierter Form) gewählt wird, nicht möglich. Auch auf die Anführung von Beispielen muß weitgehend verzichtet werden. Näheres entnehme man Niebaum 1974, 114—140. 5.1. Vokalphoneme Folgende Stellungen werden untersucht (die Zeichen V und K bedeuten Vokal bzw. Konsonant ): /VK/, /KVK/, /KV/. Das Anordnungsprinzip in den nachfolgenden Tabellen geht von dem Bestreben aus, nach Möglichkeit nicht nur anzugeben, ob eine bestimmte Kombination vorhanden ist oder nicht, sondern auch Neutralisierungen deutlich zu machen. Der Zentralvokal /ǝ/ wird in den Tabellen ausgespart, weil er nur im Silbenauslaut und in Nebensilben auftritt. 5.1.1. Präkonsonantische Stellung (/VK/) Aus der Tabelle L läßt sich ablesen, daß /j/ und /h/ nur anlautend vorkommen, daß /z/ und /r/ auf die Stellung nach Langvokal bzw. Diphthong, /ŋ/ auf die Stellung nach Kürze beschränkt sind. Die Opposition kurz vs. lang ist, worauf bereits hingewiesen wurde, im Auslaut zugunsten der Länge neutralisiert. Auf die komplementäre Verteilung der Varianten bei den Phonemen /[ę ]/, /[ ]/, /[ǫ ǭ]/ bzw. /[ei ē]/, /[öi ȫ]/, /[ou ō]/ wurde bereits eingegangen (vgl. 4.1.1. bzw. 4.1.4.). 5.1.2. Postkonsonantische Stellung (/KV/) Hinsichtlich der Stellung /KV/ reicht hier der Hinweis, daß alle Vokalphoneme nach allen Konsonantenphonemen stehen können — außer nach jenen drei Konsonanten, die nicht im Anlaut erscheinen: /z/ und /ʒ/ sowie /ŋ/. 5.2. Konsonantenphoneme 5.2.1. Anlaut 5.2.1.1. Einzelkonsonanten (/KV/) Im Anlaut stehen sämtliche Konsonantenphoneme mit Ausnahme von /z/, /ʒ/ und /ŋ/; vgl. auch 5.1.2.
Abb. 17.14: Distributionstabelle /VK/
355
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
356
Die Anzahl der inlautenden zweigliedrigen Konsonantenverbindungen (etwa /xǝluǝvdǝ/ ‘gelobte’, /klǫptǝ/ ‘klopfte’, /ęksǝ/ ‘Axt’, /hiǝmdǝ/ ‘Hemd’, /strüŋkǝ/ ‘Stengel Pl.’, /tǫrnǝ/ ‘Türme’ etc.) erscheint vergleichsweise klein. Dies liegt einerseits daran, daß sich die Zahl der ehemals auf Vokal ausgehenden Wörter dadurch verminderte, daß die meisten Substantive von der schwachen zur starken Deklination übergingen, wobei das -n der früheren schwachen Deklination aus den übrigen Kasus auch in den Nominativ eindrang, weil es bei der starken Deklination als zum Wort gehörig empfunden wurde. Es kommt hinzu, daß in den gemeinhin als /-ǝn/, /-ǝm/, /-ǝl/, /-ǝr/ usw. gewerteten Endsilben für das Laerische im normalen Sprachgebrauch phonologisch kein Vokal mehr anzunehmen ist, weil die Explosion von vor den genannten Silben stehenden Verschlußlauten erst durch die Nasale bzw. den Lateral gelöst wird (vgl. 4.2.2.1.); auch nach Reibelauten fällt das /-ǝ-/ dann aus. Es erscheinen in diesen Fällen silbentragende Konsonantenallophone. Besonders bei akzentuiertem Sprechen kann der Nebensilbenvokal gelegentlich doch realisiert werden; dabei werden die Assimilationsprozesse dann wieder rückgängig gemacht. Die nur aufgrund solchen akzentuierten Sprechens möglichen zweigliedrigen Konsonantenverbindungen werden im folgenden Schema in () gesetzt.
5.2.1.2. Zweigliedrige Konsonantenverbindungen (/KKV/) Bei den zweigliedrigen Konsonantenverbindungen im Anlaut (Typus /brubm/ ‘brauen’, /pluʒŋ/ ‘Nagel’, /sniʒŋ/ ‘schneien’, /sxaup/ ‘Schaf etc.) ergibt sich, schematisch dargestellt, folgendes Bild: 2. Glied /v/ /p/ /t/ /k/ /x/ /m/ /n/ /b/ /d/ + /v/ /p/ /t/ + /k/ + + /f/ /s/ + + + + + + + /x/ +
/l/ /r/ + + + + + + + + + + + + + +
Abb. 17.15: Distributionstabelle /KKV/ 5.2.1.3. Dreigliedrige Konsonantenverbindungen (/KKKV/) In dieser Stellung sind im Dialekt von Laer vier dreigliedrige Konsonantenverbindungen belegt, die alle als erstes Glied /s/ aufweisen: /s/ + /p/ + /l/ (/spltn/ ‘spalten’), /s/ + /p/ + /r/ (/spriŋsl/ ‘Heupferd’), /s/ + /t/ + /r/ (/straixn/ ‘streicheln’), /s/ + /x/ + /r/ (/sxrūbm/ ‘schrauben’). 5.2.2. Inlaut
5.2.2.3. Dreigliedrige Konsonantenverbindungen (/VKKKǝ/)
5.2.2.1. Einzelkonsonanten (/VKǝ/)
Vom letzten Glied ausgehend lassen sich die laerischen dreigliedrigen Konsonantenverbindungen (z. B. /minskǝ/ ‘Mensch’, /bękskǝs/ ‘Backen Pl.’, /xrtstǝ/ ‘größte’, /blktǝ/ ‘(er) schrie’, /tiǝrxtǝ/ ‘(ich) ärgerte’) schematisch wie folgt darstellen: (vgl. Abb. 17.17).
Im Inlaut begegnen alle Einzelkonsonanten außer den nur anlautend vorkommenden /j/ und /h/. 5.2.2.2. Zweigliedrige Konsonantenverbindungen (/VKKǝ/) 2. Glied /b/ /v/ /p/ /t/ /k/ /f/ /s/ /x/ /m/ /n/ /ŋ/ /l/ (+) /r/ (+)
/d/ +
/ʒ/
/v/
/p/
(+) + + + + +
+
(+)
+ +
+ +
Abb. 17.16: Distributionstabelle /VKKǝ/
/t/
/k/
+
+ +
+ + + + + + + + +
/ŋ/
/s/
/x/
/m/
/n/
+ + +
+ + + + + +
/l/
+
+ + (+) + (+)
+ +
+ +
+
17. Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie
357
Abb. 17.17: Distributionsschemata /VKKKǝ/ /kiǝtls/ ‘Kessel Pl.’, /rüǝrsl/ ‘Gerührtes’, /slaistr/ ‘liederlicher Mensch’, /stiǝrbm/ ‘sterben’, /tüskŋ/ ‘zwischen’ usw.) zur Folge gehabt, die hier jeweils nach dem absoluten auslautenden Konsonanten geordnet sind:
5.2.3. Auslaut 5.2.3.1. Einzelkonsonanten (/VK/) Im Wortauslaut kommen alle Konsonantenphoneme vor außer /z/, /ʒ/, /h/, /j/, /b/, /d/, /v/. 5.2.3.2. Zweigliedrige Konsonantenverbindungen (/VKK/) Die auslautenden zweigliedrigen Konsonantenverbindungen (so z. B. /lütk/ ‘klein’, /lękŋ/ ‘lecken’, /laxn/ ‘lachen’, /biǝrx/ ‘Berg’, /lǫüpr/ ‘Läufer(schwein)’ etc.) lassen sich schematisch wie folgt darstellen: (vgl. Abb. 17.18). 5.2.3.3. Dreigliedrige Konsonantenverbindungen (/VKKK/)
1. Glied
Die oben (5.2.2.2.) besprochenen Gründe für eine Verminderung der inlautenden zweigliedrigen Konsonantenverbindungen haben gleichzeitig eine Vergrößerung der auslautenden dreigliedrigen Konsonantenverbindungen (beispielsweise: /bęrsk/ ‘brünstig’, /duvlt/ ‘doppelt’, /kuŋln/ ‘tauschen’, 2. Glied /p/ /p/ /t/ /k/ /b/ /d/ /ʒ/ /f/ /v/ /s/ /z/ /x/ /m/ /n/ /ŋ/ /l/ /r/
/t/
/k/
/f/
+ +
/s/ + + +
/x/
/m/ +
/n/
/ŋ/
+ +
/l/ + + +
/r/ + +
+ + + + + +
+ + +
+ +
+ +
+ + + + +
+ + + + + + +
+ + + + + + + +
+ +
Abb. 17.18: Distributionstabelle /VKK/
+ +
+ +
+ +
+ +
+
+
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
6.
Abb. 17.19: Distributionsschemata /VKKK/ 5.2.3.4. Viergliedrige Konsonantenverbindungen (/VKKKK/) Folgende auslautende viergliedrige Konsonantenverbindungen sind belegt: /l/ + /f/ + /r/ + /n/ (/xulfrn/ ‘heulen’), /l/ + /f/ + /t/ + /n/ (/vlftn/ ‘Gewölbe’), /l/ + /t/ + /r/ + /n/ (/pultrn/ ‘poltern’), /n/ + /s/ + /l/ + /n/ (/funsln/ ‘befühlen’), /s/ + /t/ + /r/ + /n/ (/lustrn/ ‘horchen’), /s/ + /t/ + /r/ + /s/ (/pǖstrs/ ‘Gewehre’), /r/ + /f/ + /s/ + /t/ (/hiǝrfst/ ‘Herbst’), /r/ + /f/ + /t/ + /n/ (/iǝrftn/ ‘Erbsen’), /r/ + /ʒ/ + /r/ + /t/ (/inxǝbüǝrʒrt/ ‘eingebürgert’), /r/ + /s/ + /p/ + /l/ (/kārspl/ ‘Kirchspiel’), /r/ + /t/ + /l/ + /s/ (/vuǝrtls/ ‘Wurzeln’), /r/ + /t/ + /n/ + /s/ (/sǫrtns/ ‘Sorten’), /x/ + /t/ + /r/ + /n/ (/jaxtrn/ ‘lärmen’).
Archiphonemisierungen
In bestimmten Stellungen ist der Unterschied zwischen zwei Phonemen nicht distinktiv, ihr Gegensatz erscheint aufgehoben; dies zeigt sich entweder durch die Abwesenheit eines der Oppositionsglieder in der betr. Position oder durch das Erscheinen eines „Mitteldings“ zwischen beiden Oppositionsgliedern (Trubetzkoy 196 7, 6 9 ff.). Zu den terminologischen Fragen vgl. auch Jongen 1972, 15. In diesem Zusammenhang wird unter Archiphonem die Summe der relevanten Eigenschaften, die zwei (oder mehr) Phonemen in der Aufhebungsstellung gemeinsam sind, verstanden; daher ist es als neue phonematische Einheit aufzufassen, für die ein besonderes Zeichen benötigt wird. Die Verwendung eines eigenen Zeichens (etwa Kapitälchen) ist allerdings nicht unproblematisch, da oft nicht alle Aufhebungen von Gegensätzen beschrieben und bei den beschriebenen nicht immer alle Aufhebungsstellungen erörtert werden. Bezüglich der Wahl des Archiphonemzeichens ist zu sagen, daß sich hier keine für jeden Fall anwendbaren Kriterien finden lassen; man wird hierbei teils von der phonetischen Realisierung in der betr. Position, teils aber auch von etymologischen Gesichtspunkten ausgehen. — Folgende Aufhebungsstellungen in der Mundart von Laer wurden untersucht: (vgl. Abb. 17.20) Beispiele: 1) /kInt/ ‘Kind’, /SPIr/ ‘Haar’; 2) /XIʒǝnT/ ‘Gegend’, /XĪvl/ ‘Giebel’, /Īzl/ ‘Esel’; 3) /fÜr/ ‘Feuer’, /trÜ/ ‘treu’; 4) /fǕGl/ ‘Vögel’, /Ǖvl/ ‘übel’, /unnǕzǝlix/ ‘ungehobelt’; 5) /bUr/ ‘Bauer’, /vU/ ‘wie’; 6 ) /fŪGl/ ‘Vogel’, /XǝlŪvǝ/ ‘(ich) gelobe’, /hŪzǝ/ ‘Strumpf; 7) /pAr/ ‘Paar’, /SxA/ ‘der Schade’; 8) /riPkǝn/ ‘Rippchen’, /rP/ ‘reif’, /SūPM/ ‘saufen’, /knüPl/ ‘Knüppel’, /lǫüPr/ ‘Läufer(schwein); 9) /STrikTǝ/ ‘(er) strickte’, /SmiT/ ‘Schmied’, /aiTn/ ‘(sie) aßen’, /SlüǝTl/ ‘Schlüssel’, /biǝTr/ ‘besser’; 10) /lęGN/ ‘lecken’, /dęGl/ ‘Deckel’, /lęGr/ ‘lecker’; 11) /XiǝWM/ ‘geben’; 12) /SxrǖFkǝn/ ‘Schräubchen’; 13) /Sal/ ‘soll’, /hūS/ ‘Haus’, /XǫüSkǝn/ ‘Gänschen’; 14) /XiǝWM/ ‘geben’, /tǖX/ ‘Zeug’, /XnāXTǝ/ ‘(er) nagte’; 15) /liPM/ ‘Lippen’, /rWM/ ‘reiben’; 16 ) /māGN/ ‘machen’. Die Verschlußlaute nehmen im System der laerischen Archiphoneme eine besondere Stellung ein: Die stimmlosen Explosivae erscheinen nämlich in sonantischem Kontext (d. h. vor Nasalen und Liquiden) häufig erweicht. Diese Assimilation an die Stimmhaftigkeit des folgenden Sonanten ist jedoch nicht obligatorisch; in der beschriebenen Po-
17. Der Dialekt von Laer. Eine Fallstudie im Rahmen der strukturellen Dialektologie
Gegensatz 1) // vs. /i/ 2) /iǝ/ vs. // 3) /ǖ/ vs. /ü/ 4) /üǝ/ vs. /ǖ/ 5) /ū/ vs. /u/ 6) /uǝ/ vs. /ū/ 7) /ā/ vs. /a/
Aufhebungsstellung vor /nt/, /r/ im (Wort-)Auslaut vor /ʒ/, /G/, /v/, /z/ vor /r/ im (Wort-)Auslaut vor /ʒ/, /G/, /v/, /z/ vor /r/ im (Wort-)Auslaut vor /ʒ/, /G/, /v/, /z/
10) /k/ vs. /ʒ/
vor /r/ im (Wort-)Auslaut in stimmloser Umgebung im Auslaut vor /m/ (/M/), /l/, /r/ in stimmloser Umgebung im Auslaut vor /n/, /l/, /r/ vor /ŋ/ (/N/), /l/, /r/
11) /b/ vs. /v/
vor /m/ (/M/)
8) /b/ vs. /p/ 9) /d/ vs. /t/
in stimmloser Umgebung im Auslaut 13) /s/ vs. /z/ im Anlaut im Auslaut inlautend vor Konsonant intervokalisch (= auch vor Sonoren) nach Kürze 14) /x/ vs. /ʒ/ im Anlaut im Auslaut inlautend vor Konsonant 15) /m/ vs. /n/ nach /P/, /W/ 16) /ŋ/ vs. /n/ nach /G/ 12) /f/ vs. /v/
359
Archiphonem Zeichen Realisierung Merkmale vorderer ungerundeter Vokal /I/ [] von minimalem Öffnungsgrad langer, vorderer ungerundeter [ ~ i · ę] /Ī/ Vokal von minimalem Öffnungsgrad vorderer gerundeter Vokal von [ǖ] /Ü/ minimalem Öffnungsgrad langer, vorderer gerundeter [ǖ ~ ü · ] /Ǖ/ Vokal von minimalem Öffnungsgrad hinterer gerundeter Vokal von /U/ [ū] minimalem Öffnungsgrad langer, hinterer gerundeter Vo[ū ~ u · ǫ] /Ū/ kal von minimalem Öffnungsgrad /A/ [ā] Vokal von maximalem Öffnungsgrad /P/ [p] labialer, nichtnasaler Ver[p] schlußlaut [b ~ p] /T/ [t] medialer, nichtnasaler Ver[t] schlußlaut [d] [g ~ k] /G/ dorsaler, nichtnasaler Konsonant /W/ [b] labialer, nichtnasaler Konsonant /F/ [f] labialer Reibelaut [f] /S/ [s] medialer Reibelaut [s] [s] [s] /X/ /M/ /N/
[χ x] [χ x] [χ x] [m] [ŋ]
dorsaler Reibelaut vorderer Nasal hinterer Nasal
Abb. 17.20: Aufhebungsstellungen sition kommen stimmhafte und stimmlose Verschlußlaute in freier Variation vor. Hierdurch kann gelegentlich Homonymie entstehen, etwa [ve · id.] für ‘Weide’ und ‘Weizen’ oder [lęg.] für ‘legen’ und ‘lecken’. — Zusammenfassend erweisen sich im Dialekt von Laer folgende Gegensätze als archiphonemisierbar: a) der Gegensatz lang vs. kurz (1, 3, 5, 7) b) der Gegensatz stimmhaft vs. stimmlos (8, 9, 10, 12, 13, 14)
c) der Gegensatz Verschlußlaut vs. Reibelaut (11) d) der Gegensatz Diphthong vs. Langvokal (2, 4, 6) e) der Gegensatz medial vs. labial (15) f) der Gegensatz medial vs. dorsal (16).
7.
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360
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
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18. Der Dialekt von Barr (Elsaß). Eine Pilotstudie im Rahmen der gene-rativen Dialektologie
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361
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Hermann Niebaum, Münster
18. Der Dialekt von Barr (Elsaß). Eine Pilotstudie im Rahmen der generativen Dialektologie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
1.
Vorbemerkungen Die phonologische Komponente Die Ablautalternationen Der Einstieg in die Daten Die Ablautregel Exkurs über die Lexikoneintragungen Einige Ableitungsmuster Abweichende Alternationstypen Literatur (in Auswahl)
Vorbemerkungen
Eine generative Beschreibung einer Mundart unterscheidet sich prinzipiell in keinerlei Weise von einer generativen Analyse einer Hochsprache. Sie umfaßt also neben einer phonologischen auch eine syntaktische und eine semantische Komponente. Da sich aber die klassische und die strukturelle Dialektologie vornehmlich dem lautlichen Bereich verschrieben haben, muß eine exemplarische Dialektbeschreibung im Zeichen der generativen Grammatik sich auch in erster Linie mit einem Teil der phonologischen Komponente des zu untersuchenden Dialekts befassen, denn nur auf dem Gebiet, wo die ältere Mundartforschung ihre bedeutendsten Ergebnisse erzielen konnte, lassen sich gültige Vergleiche anstellen, die die besonderen Merkmale und Vorzüge der generativen Dia-
lektologie aufzuzeigen vermögen. Der Dialekt, dessen Phonologie uns in diesem Artikel als Diskussionsbasis dienen soll, ist die von R. E. Keller (196 1, 116 ff.) beschriebene elsässische Mundart von Barr. Als Grundlage für Vergleiche zwischen der generativen Dialektologie und den älteren Methoden der Mundartforschung ist Kellers dialektologisches Lehrbuch besonders gut geeignet: einmal, weil es als Standardwerk einem großen Leserkreis zugänglich ist, zum anderen aber, weil Keller darin bereits zweispurig verfährt, indem er die lautliche Seite der behandelten Dialekte sowohl einer klassisch-diachronischen als auch einer strukturalistisch-synchronischen Untersuchung unterzieht. Der generativ eingestellte Dialektologe hat also diesen beiden Untersuchungen nur noch eine dritte, eigene Analyse an die Seite zu stellen.
2.
Die phonologische Komponente
Die phonologische Komponente einer generativen Grammatik hat die Aufgabe, die von der syntaktischen Komponente generierten Ketten lexikalischer und grammatischer Morpheme phonetisch zu interpretieren. Diese phonetische Interpretation erfolgt dadurch, daß eine Reihe phonologischer Regeln jedes Morphem aus der abstrakten, zu-
362
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
grundeliegenden Form, in der es im Lexikon der Sprache gespeichert und von der syntaktischen Komponente zunächst auch verwertet wird, in seine vom jeweiligen Kontext bedingte phonetische Realisation überführt. Der Sprachforscher, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die generative Phonologie eines Dialekts zu erschließen, muß also für jedes im betreffenden Dialekt vorkommende Morphem eine zugrundeliegende Repräsentation ermitteln, von der er alle kontextbedingten Varianten des Morphems mittels ausdrücklich zu diesem Zweck formulierter phonologischer Regeln ableiten kann. Gelingt es dem Forscher, zugrundeliegende Repräsentationen sowie Regeln zu formulieren, die genau die richtigen phonetischen Formen generieren lassen, so hat er auf dem Gebiet der Phonologie die Mindestforderung erfüllt, die Chomsky (196 4, 28 ff.) an eine Grammatik stellt: Seine Dialektbeschreibung ist observationally adequate, d. h. sie deckt sich vollkommen mit den primären, direkt beobachtbaren Daten. Auf eine zweite Forderung, die jede Grammatik nach Chomskys Auffassung erfüllen muß, kommen wir etwas später zu sprechen.
3.
Die Ablautalternationen
Geht es bei einer generativ-phonologischen Beschreibung in erster Linie um die Erfassung der kontextabhängigen Alternationen, denen die einzelnen Morpheme unterliegen, so werden die ablautenden Verben für die vorliegende Studie wohl den interessantesten Gegenstand bieten, denn keine andere Klasse von Morphemen unterliegt im Deutschen mehr Alternationen als die der starken Verbstämme. Im Dialekt von Barr zerfallen nun die Verben in drei morphologische Klassen, die im Lexikon durch die morphologischen Merkmale [± stark] und [± ablautend] folgendermaßen unterschieden werden können: Klasse 1: [— stark] Klasse 2: [+ stark, — ablautend] Klasse 3: [+ stark, + ablautend] Während die schwachen Verben der 1. Klasse ihr zweites Partizip mit dem Suffix -d bilden, sind die starken Verben der 2. und 3. Klasse durch die Partizipialendung - ǝ gekennzeichnet. Die Verben der 2. Klasse unterscheiden sich von denen der 3. Klasse wiederum darin, daß nur noch letztere Vokalalternationen aufweisen, die auf das
alte germanische Ablautsystem zurückzuführen sind. Daß sich im Barrer Dialekt eine Klasse von nichtablautenden starken Verben herausbilden konnte, hängt damit zusammen, daß das Präteritum in diesem Mundartgebiet durch das Perfekt völlig verdrängt worden ist. Die allermeisten Verben der historischen Ablautreihen V—VII zeigen folglich keine Vokalalternationen mehr, da Präsensstamm und zweites Partizip in diesen drei Reihen bekanntlich auf der gleichen Ablautstufe stehen. Will man die auf Ablaut basierenden Vokalwechsel im Barrer Dialekt untersuchen, genügt es also vollauf, wenn man als Untersuchungsmaterial eine repräsentative Auswahl von Verben aus den ersten vier Ablautreihen heranzieht, wie sie die nun folgende Liste enthält: Ia. [ni : ǝ]/[nιǝ] „schneiden“ Ib. [ R iǝ]/[ǝ R ιǝ] „reiten“ Ic. [ejǝ]/[øjǝ] „steigen“ IIa. [iǝǝ]/[ǝoǝ] „bieten“ IIb. [yɤǝ]/[oɤǝ] „saufen“ IIc. [ɤ R iǝ R ǝ]/[ɤ R o : R ǝ] „frieren“ IId. [ɤliǝjǝ]/[ɤløjǝ] „fliegen“ IIIa. [halɤǝ]/[kholɤǝ] „helfen“ IIIb. [ɤιnɤǝ]/[ɤυnǝ] „finden“ IVa. [ R aɤǝ]/[ǝ R oɤǝ] „treffen“ IVb. [namǝ]/[ǝnυmǝ] „nehmen“ IVc. [a : lǝ]/[do : lǝ] „stehlen“ IVd. [ R eǝ]/[ǝ R oǝ] „dreschen“ Da jedoch ein zeitgenössischer Elsässer zwischen den auf Ablaut beruhenden Vokalalternationen bei den soeben zitierten Verben und den auf Umlaut basierenden Alternationen bei einzelnen Verben der V. Ablautreihe höchstwahrscheinlich keinen prinzipiellen Unterschied erblicken wird (diese wie jene dienen ja zur Unterscheidung der Tempora), wollen wir hier den Bogen etwas weiter spannen und die Verben Va. [ιǝ]/[aǝ] „sitzen“ Vb. [lejǝ]/[ǝla:jǝ] „liegen“ (völlig unhistorisch) ebenfalls zu den „+“ablautenden rechnen.
4.
Der Einstieg in die Daten
Die soeben dargestellten Ablautalternationen mittels einer kleinen Anzahl von Regeln beschreiben zu wollen, scheint auf den ersten Blick ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen zu sein. In dieser Hinsicht ähnelt der Ablaut in einem deutschen Dialekt vielen anderen komplexen Alternationstypen,
18. Der Dialekt von Barr (Elsaß). Eine Pilotstudie im Rahmen der gene-rativen Dialektologie
die man von den verschiedensten Sprachen her kennt. Wie bei so vielen anderen phonologischen Problemen können wir uns jedoch auch hier den Einstieg in die recht verwirrenden primären Daten wesentlich erleichtern, wenn wir uns von vornherein darüber im klaren sind, daß die Wirkung der (meist sehr alten) Regeln, die am Anfang einer phonologischen Derivation operieren, oft durch die Wirkung derer überlagert und maskiert wird, die erst nachher Anwendung finden. So läßt sich die große Vielfalt der Ablautalternationen erheblich reduzieren, wenn man einmal erkannt hat, daß die Unterschiede zwischen einigen der oben angeführten Unterklassen recht oberflächlicher Natur sind und erst mit der Anwendung allgemeiner Regeln zustandekommen, die man zur Beschreibung von Vokalwechseln bei anderen Wortklassen ohnehin benötigt. Wie wir in Abschnitt 8 sehen werden, beschreiben letztere Regeln kontextabhängige Kürzungs-, Dehnungs-, Hebungs- und Palatalisierungsvorgänge, die eben auch die betonten Stammvokale der Klassen Ib/c, IIc/d, IIIb, IVb/c/d und Vb betreffen.
5.
Die Ablautregel
Sieht man von diesen abweichenden Verbtypen vorläufig ab, so lassen sich die Hauptalternationen, die bei den übrigen Klassen begegnen, unschwer durch eine einzelne, wenn auch mehrteilige Ablautregel (1) beschreiben. (1)
Die hier vorgeschlagene Formulierung setzt voraus, daß das Vokalinventar unseres Dialekts auf der zugrundeliegenden Ebene der systematischen Phonemik die (durchwegs gespannten) Laute /i: i e: e å: å o: o u: u ǝ/ umfaßt und daß die Stämme der Verben [ni : ǝ], [iǝǝ], [halɤǝ], [ R aɤǝ] und [ιǝ] im Lexikon jeweils als /ni : /, /iǝ/, /helɤ/, / R ef/ und /i/ erscheinen. Die vier Zeilen unserer Ablautregel nehmen also
363
am zweiten Partizip der betreffenden Verben folgende sequentiell geordnete Veränderungen vor: (a) iǝ > a, (b) e > o, ǝ > o, (c) i > e, (d) i : > i. Nimmt man ferner an, daß der Stamm des Verbes [yɤǝ], das wir oben der Ablautklasse IIb zugewiesen haben, die zugrundeliegende Repräsentation /u : f/ besitzt, so wird der Grund dafür auch klar, weshalb Zeile (b) der Ablautregel etwas komplizierter ausgefallen ist, als erforderlich gewesen wäre, um die Veränderungen /e/ > [o] und /ǝ/ > [o] durchzuführen. Durch Einbeziehung der sonst überflüssigen Merkmalspezifikation [-hoch] in die strukturelle Veränderung dieser Teilregel wurde nämlich erreicht, daß sich das /u:/ von /u : f/ gleichzeitig in ein [o :] verwandeln kann, das sich sodann durch Zeile (d) zu [o] kürzen läßt.
6.
Exkurs über die Lexikoneintragungen
Bevor wir unsere Diskussion der Ablautregel fortsetzen und im einzelnen zeigen, wie diese Regel aus den Lexikoneintragungen der starken Verben die erwünschten Partizipialformen erzeugt, muß die wichtige Frage aufgeworfen werden, wie man diese Lexikoneintragungen denn überhaupt entdeckt. So einfach diese Frage zunächst auch anmuten mag, ihre Beantwortung ist alles andere als einfach, denn im Gegensatz zur Phonemik der Strukturalisten verfügt die generative Phonologie über keine analytischen Verfahren, die die phonologischen Bausteine einer Sprache mechanisch entdecken ließen. Vielmehr ist es so, daß die optimalen zugrundeliegenden Repräsentationen der einzelnen Morpheme erst nach langwierigem Experimentieren und manchem Fehlstart zu ermitteln sind. Es ist nicht zu leugnen, daß die Geschichte der betreffenden Sprache, sofern sie bekannt ist, dem Phonologen für seine Analyse viele wertvolle Anhaltspunkte liefern kann, denn die Regeln und zugrundeliegenden Formen einer generativen Phonologie spiegeln — das hat man in der generativen Fachliteratur immer wieder konstatiert — sehr oft diachronische Lautgesetze und ehemalige phonetische Zustände wider. Es wäre jedoch grundfalsch, in den jeweiligen geschichtlichen Gegebenheiten mehr erblikken zu wollen als heuristische Hilfsmittel, die auf ihre synchronische Gültigkeit hin immer streng geprüft werden müssen. Das muß
364
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden, denn gerade bei Vertretern der generativen Dialektologie herrscht eine gewisse Tendenz, die Grenzen zwischen Diachronie und Synchronie in unzulässiger Weise zu verwischen. Diese Tendenz wäre wohl nicht vorhanden, wenn der Aufgabenkreis des Dialektologen darauf beschränkt wäre, Dialekte zu beschreiben. Eine fast gleichrangige Aufgabe des Mundartforschers besteht aber darin, verwandte Dialekte zu vergleichen und Dialektbeschreibungen aufeinander zu beziehen. Nun haben einige Autoren generativer Dialektstudien versucht, diese Beziehung mit einem Schlag herzustellen, indem sie, dem Beispiel der historischen Linguistik folgend, bei allen Schwesterdialekten die gleichen zugrundeliegenden Repräsentationen ansetzten, so als ginge es bei der synchronischen Dialektologie auch in erster Linie darum, unter Anwendung der komparativischen Methode einen Urdialekt zu rekonstruieren, von dem die phonetischen Oberflächenrepräsentationen sämtlicher Tochterdialekte mittels einiger zu synchronischen Regeln umfunktionierter Lautgesetze direkt abzuleiten wären. Während ein solches Verfahren das Vergleichen verwandter Dialekte ganz unweigerlich erleichtert, indem es alle Dialektunterschiede auf Abweichungen im Regelinventar der einzelnen Dialekte reduziert, führt es leider ebenso unweigerlich zur Konstruktion nichtoptimaler Grammatiken der Einzeldialekte. Da aber die generative Grammatik von dem Grundsatz ausgeht, daß jeder Mensch beim Erlernen seiner Muttersprache eine optimale Grammatik derselben konstruiert und daß nur eine solche Grammatik den Anspruch erheben kann, descriptively adequate im Sinne von Chomsky (196 4, 28 ff.) zu sein, entbehren nichtoptimale Grammatiken jede theoretische Bedeutung. Die Beziehungen zwischen verwandten Dialekten kann man dagegen im Rahmen der generativen Grammatik recht aufschlußreich darstellen, ohne dabei die strukturelle Unabhängigkeit der einzelnen Dialektbeschreibungen preisgeben zu müssen, wenn man neben den unabhängig motivierten synchronischen Beschreibungen eben auch historische Regeln postuliert, die das Entstehen jeder Dialektgrammatik aus der rekonstruierten Grammatik eines Urdialekts im nachhinein verfolgen lassen. Daß sich solche historischen Lautveränderungen nicht nur im Regelinventar des entstehenden Dialekts
niederschlagen können, sondern auch auf der Ebene der systematischen Phonemik, wo sie manchmal zu einer weitreichenden Umstrukturierung (restructuring) der zugrundeliegenden Repräsentationen führen, hat W. Motsch (196 7, 119 ff.) am Beispiel der starken Verben des Gotischen, Altsächsischen und Althochdeutschen mit beachtlicher Klarheit dargelegt.
7.
Einige Ableitungsmuster
Nach diesem theoretischen Exkurs müssen wir uns erneut unserer Ablautregel zuwenden. Folgende Ableitungen zeigen, was geschieht, wenn man diese Regel auf die zugrundeliegenden Repräsentationen unserer „typischen“ Verbstämme anwendet: Ia. /ni : / —1d→ [ni] IIa. /iǝ/ —1a→ [ǝ] —1b→ [o] IIb. /u : f/ —1b→ [o : f] —1d→ [of] IIIa. /helɤ/ —1b→ [holɤ] IVa. / R ef/ —1b→ [ R of] Va. /i/ —1c→ [e] (··· → [e]) 7.1. Es wird dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein, daß zwei der hier generierten Partizipialstämme einen Vokal enthalten, der sich vom erwarteten Laut qualitativ noch immer unterscheidet. So ist im Partizip des Verbes [ni : ǝ], das hier die I. Ablautreihe vertritt, statt eines ungespannten [ι] ein [i] entstanden, das zwar die erforderliche Kürze, nicht aber den erwünschten (negativen) Gespanntheitswert aufweist. Diesen kleinen Mangel könnten wir leicht beheben, wenn wir die vierte Zeile von Regel (1) durch Einbeziehung der Merkmalspezifikation [-gespannt] komplizierten. Ungespannt sind aber im Barrer Dialekt nicht nur diejenigen hohen Kurzvokale, die durch Regel (1) erzeugt werden, sondern auch alle diejenigen, die im Lexikon als Monophthonge erscheinen. So werden beispielsweise die Wörter /i + ǝ/ „sitzen“ und /mu/ „Kuß“ auf der phonetischen Oberflächenebene als [ιǝ] und [mυ], /iǝ + ǝ/ „bieten“ dagegen als [iǝǝ] realisiert. Die soeben erwogene Komplizierung von Teilregeln (1 d) würde folglich allein nicht ausreichen, um das Vorkommen aller ungespannten [ι] und [υ] zu beschreiben, und wir kommen daher nicht darum herum, eine Regel (2) zu formulieren,
18. Der Dialekt von Barr (Elsaß). Eine Pilotstudie im Rahmen der gene-rativen Dialektologie
welche die Generalisation verkörpert, daß alle zugrundeliegenden hohen Kurzvokale, sofern sie nicht vor einem Vokal stehen, [-gespannt] sind. (2)
Nach Regel (1) geordnet, sorgt aber Regel (2) automatisch dafür, daß der betonte Vokal von [nιǝ] und anderen Partizipien der I. Ablautreihe den richtigen Gespanntheitswert erhält. Eine Komplizierung der Ablautregel erweist sich also in diesem Fall nicht nur als unzulänglich, sondern auch als völlig überflüssig. 7.2. Der zweite Partizipialstamm, bei dem unsere Ablautregel zu versagen scheint, gehört der V. Ablautreihe an. Daß Regel (1) das zugrundeliegende /i/ im Partizip von [ιǝ] nicht wie erwartet in ein [a], sondern in ein [e] verwandelt, hängt jedoch mit unserer Analyse von [halɤǝ] und [ R aɤǝ] zusammen. Obwohl es vielleicht nähergelegen hätte, den Stammvokal dieser beiden Verben von einem zugrundeliegenden /a/ abzuleiten, sind wir ja oben lieber von der Annahme ausgegangen, daß es sich hier um ein systematisch-phonemisches /e/ handelt. Für diese Annahme sprach und spricht vor allem, daß die Partizipien [kholɤǝ] und [ǝ R oɤǝ] ein [o] enthalten. Unsere Analyse erlaubt uns also, bei der Formulierung der zweiten Zeile der Ablautregel auf die im ersten Segment sonst notwendige Merkmalspezifikation [-tief] zu verzichten, denn anders als bei der Verwandlung eines [a] in ein [o] braucht man bei der Ableitung eines [o] von einem zugrundeliegenden /e/ den Öffnungsgrad des Vokals nicht zu ändern. Die Vereinfachung von Teilregel (1 b) durch Einsparung der Spezifikation [-tief] setzt freilich voraus, daß wir auf Regel (1) eine zusätzliche Regel (3) folgen lassen, die das zugrundeliegende /e/ im Präsensstamm von [halɤǝ] und [ R aɤǝ] in ein [a] verwandelt.
Haben wir aber Regel (3) einmal postuliert,
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so braucht Zeile (c) der Ablautregel das zugrundeliegende /i/ im Partizip von [ιǝ] nicht mehr unter Veränderung zweier Merkmalspezifikationen direkt in ein [a] zu verwandeln, sondern es genügt, wenn sie dieses /i/ in ein [e] umsetzt. Für die Senkung auch dieses [e] zu [a] sorgt nämlich Regel (3), und zwar völlig automatisch. Von der Zweckmäßigkeit der Annahme, daß phonetische [a] im Lexikon als /e/ erscheinen und erst durch Regel (3) in niedrige Vokale verwandelt werden, zeugt übrigens auch das Verb [ R eǝ] „dreschen“ aus der Ablautreihe IVd, dessen Stammvokal /e/ trotz Regel (3) unverändert an die phonetische Oberfläche gelangt. Hier scheint sich das alte Sprichwort wieder einmal zu bewahrheiten, wonach die Ausnahme die Regel bestätigt. Zwar ist es theoretisch möglich, daß die Infinitive [halɤǝ], [ R aɤǝ] und [namǝ] bereits im Lexikon niedrige Vorderzungenvokale enthalten und daß es folglich keiner Regel (3) bedarf, um diese Verbformen in ihre Oberflächenrepräsentationen zu überführen. Wir würden uns aber schwer tun, auf der Basis einer so gearteten Analyse das [e] von [ R eǝ] zu generieren, und wir sähen uns am Ende wahrscheinlich gezwungen, dieses /e/ ins Inventar der zugrundeliegenden Vokale aufzunehmen. Dies würde freilich zu einer ganz gewaltigen Komplizierung des Lexikons führen, denn die vier Merkmalwerte [+ silbisch, —hinten, —hoch, —lang] würden nicht mehr ausreichen, um /a/ von allen anderen zugrundeliegenden Vokalen zu unterscheiden, und wir müßten fortan jedem einzelnen /a/ im ganzen Lexikon zusätzlich noch den distinktiven Merkmalwert [+ tief] erteilen, um es von /e/ zu differenzieren. Eine Analyse, die [a] mittels Regel (3) von /e/ ableitet, bietet uns dagegen zur Erzeugung des [e] von [ R eǝ] einen ganz einfachen Mechanismus: Wir müssen die Lexikoneintragung für diese Form nur mit dem Regelmerkmal [—Regel 3] versehen, um zu erreichen, daß das zugrundeliegende /e/ in diesem Fall von Regel (3) nicht erfaßt wird. Ausnahmen erfüllen also in der generativen Phonologie eine ähnliche Funktion wie Reliktformen in der historischen Linguistik. Während diese häufig Rückschlüsse auf frühere Sprachzustände gestatten, gewähren jene nicht selten wertvolle Einsichten in die Beschaffenheit der zugrundeliegenden Segmente.
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
7.3. Zur Veranschaulichung unserer Ausführungen zu den Verben [ni : ǝ], [halɤǝ], [ R aɤǝ] und [ιǝ] folgen abschließend noch einige Ableitungen: Ia. /ni : /, [+ Perfekt] —1d→ [ni] —2→ [nι] IIIa. /helɤ/, [—Perfekt] —3→ [halɤ] IVa. / R ef/, [—Perfekt] —3→ [ R af] Va. /i/, [+ Perfekt] —1c→ [e] —3→ [a] (··· → [a]) Va. /i/, [—Perfekt] —2→ [ι]
8.
Abweichende Alternationstypen
Mit der Formulierung der Regeln (1)—(3) ist es uns gelungen, die Partizipien einiger typischer Vertreter der ersten fünf Ablautreihen zu generieren. Damit ist unsere Arbeit aber noch lange nicht getan. Jetzt gilt es vielmehr, unsere Behauptung von vorhin (vgl. 4.) unter Beweis zu stellen und zu zeigen, daß die abweichenden Vokalalternationen, die bei den übrigen Verben in der eingangs zitierten Liste begegnen, tatsächlich einer kleinen Anzahl von unabhängig motivierten Regeln zuzuschreiben sind. 8.1. Fangen wir mit dem Verb [ R iǝ] aus der Klasse Ib an! An dieser Form fällt auf, daß sie im Gegensatz zu den „typischen“ Verben der ersten Ablautreihe im Präsens einen kurzen Stammvokal aufweist. Da dieser Vokal jedoch gespannt ist, können wir ihn im Lexikon nicht einfach als /i/ repräsentieren, denn Regel (2) verwandelt ja alle zugrundeliegenden hohen Kurzvokale in ihre ungespannten Gegenstücke. Man könnte diesen Tatbestand zwar zum Anlaß nehmen, Regel (2) und unsere dadurch aufrechterhaltene Analyse aller zugrundeliegenden Vokale als [+ gespannt] in Frage zu stellen. Das Formenpaar [hys] „Haus“/[hi : ǝ R ] „Häuser“ zeugt aber davon, daß zumindest einige hohe Vokale, die auf der phonetischen Oberflächenebene als [+ gespannt, —lang] realisiert werden, auf zugrundeliegende Langvokale zurückzuführen sind. Wie wir weiter unten zeigen wollen (vgl. 8.2.), handelt es sich beim Stammvokal von [hys]/[hi : ǝ R ] um ein zugrundeliegendes /u :/. Abgesehen also von dem Längenunterschied, um den es uns ja hier in erster Linie geht, verläuft die Derivation beider Formen ähnlich wie bei mhd. hûs/hiuser. Hier wie da
wird das /u :/ der Pluralform umgelautet. Anders als im Mittelhochdeutschen aber werden im Barrer Dialekt alle durch Umlaut erzeugten Vorderzungenvokale sofort auch entrundet, während jedes nichtumgelautete /u :/ (man vergleiche etwa das Verb /u: f + ǝ/ „saufen“ aus der Ablautreihe IIb) unter Beibehaltung seiner Lippenrundung zu [y :] palatalisiert wird. Diesen Tatbestand können wir am elegantesten beschreiben, indem wir ein Regelpaar (4)/(5) formulieren, das die Palatalisierung und Entrundung aller im Umlautkontext stehenden gerundeten Vokale bewirkt, und darauf eine dritte, kontextfreie Palatalisierungsregel (6 ) folgen lassen, die speziell nichtumgelautete /u :/ betrifft.
Der Längenunterschied, auf den es hier ankommt, wird nun ganz offensichtlich durch den nachfolgenden Konsonanten bedingt. Vor einem im Wortauslaut zu [s] verhärteten // wird nämlich das aus /u :/ hervorgegangene [y :] zu [y] gekürzt, während das durch Umlaut und Entrundung erzeugte [i :] in der Pluralform, wo das inlautende // unverhärtet bleibt, seine ursprüngliche Länge beibehält. Die Ableitung von [hys]/[hi : ǝ R ] kann man sich also etwa folgendermaßen vorstellen: zugrundeliegende /hu : / Repräsentationen: Umlaut:- - - Entrundung:- - - û-Palatalisierung:hy : Auslautsverhärtung:hy : s Kürzung:hys [hys] phonetische Repräsentationen:
/hu : + ǝ R / hy : + ǝ R hi : + ǝ R ------------------[hi : ǝ R ]
Daß es sich hier eher um die Kürzung eines zugrundeliegenden Langvokals als um die Dehnung eines zugrundeliegenden Kurzvokals handelt, läßt die Verteilung von [i : i y : y] ahnen. Obwohl alle vier Vokale vor („—“-
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gespannten) Leniskonsonanten vorkommen (vgl. [i : ǝ] „Eisen“, [iǝ] „beißen“, [y : ɤǝ R ] „sauber“, [yɤǝ R ] „Säufer“), trifft man vor („ + “-gespannten) Fortiskonsonanten nur die kurzen Varianten an (vgl. [wit] „weit“, [ys] „aus“). Diese eigentümliche Verteilung läßt sich am einfachsten als Folge eines Kürzungsprozesses verstehen, der /i :/ und [y :] (< /u :/) vor Fortes ihrer Länge beraubt. Regel (7) beschreibt diesen Prozeß. (7)
Vor Fortes werden also /i :/ und /u :/ zu [i] und [y] gekürzt. Diese Zwischenbilanz läßt die Frage nach der Herkunft des kurzen, gespannten [i] vor dem schwachen [d] von [ R iǝ] „reiten“ freilich immer noch offen. Der lange Exkurs über [hys]/[hi : ǝ R ] hätte uns aber wenig genützt, wenn wir anhand von Regel (7) nur die kurzen, gespannten Vokale von [hys], [wit], [ys] usw. generieren könnten. Zum Glück bietet uns Regel (7) auch noch die Möglichkeit, Formen wie [ R iǝ], [iǝ] und [yɤǝ] zu erklären, deren Stammvokal vor einem als [-gespannt] realisierten Konsonanten steht. Dazu brauchen wir nämlich nur anzunehmen, daß der phonetisch ungespannte Konsonant in diesen Wörtern ein Phonem vertritt, das im Lexikon als [+ gespannt] spezifiziert ist. Wir dürfen uns, anders ausgedrückt, durch Wortpaare wie [iǝ]/[i : ǝ] und [ R iǝ]/[ni : ǝ] nicht zum voreiligen Schluß verleiten lassen, daß die Oppositionen zwischen Fortis- und Lenis- bzw. stimmlosen und stimmhaften Konsonanten, die ähnliche Paare in anderen deutschen Mundarten kennzeichnen, i m B arrer Dialekt gänzlich aufgehoben wären. Wir müssen uns vielmehr überlegen, ob es letzten Endes nicht auch der Fall sein könnte, daß diese Oppositionen in den zugrundeliegenden Repräsentationen vieler einzelner Wörter weiterhin erhalten bleiben, auf der phonetischen Oberflächenebene aber nur an der Länge oder Kürze des vorangehenden Vokals erkennbar sind. Dieser Hypothese zufolge würden die Lexikoneintragungen für [iǝ] und [ R iǝ] /s/ und /t/ enthalten, während [i : ǝ] und [ni : ǝ] mit // und // die gleichen Konsonanten im Lexikon aufweisen würden, die in ihren Oberflächenrepräsentationen auch gesprochen werden. (Bei dieser Analyse müßte man übrigens die so-
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noren Laute [m n l] im Lexikon als [+ gespannt] spezifizieren, denn nur so könnte man erklären, warum Wörter wie [mim] „meinem“, [ym] „Schaum“, [inǝ] „scheinen“, [ R yn] „braun“, [wil] „Weile“ und [myl] „Maul“ lauter kurze [i] und [y] enthalten.) Da der Barrer Dialekt auf der phonetischen Ebene Fortis- und Lenisgeräuschlaute nicht in den gleichen Umgebungen duldet, sondern komplementär verteilt, würde die hier skizzierte Hypothese, falls wir sie annehmen sollten, eine zusätzliche Regel (8) erforderlich machen, die den zugrundeliegenden Konsonanten neue, positionsbedingte Gespanntheitswerte erteilte.
Regel (8) besagt, daß die Barrer Konsonanten im allgemeinen als [—gespannt] realisiert werden, daß jedoch ein im Wortauslaut nach kurzem Monophthong oder im Wortanlaut vor [h] befindlicher gehemmter Laut (obstruent) etwas energischer, also [+ gespannt], gesprochen wird. Folgende Ableitungsmuster bieten eine kurze Übersicht über die Kombinationsmöglichkeiten, die sich ergeben, wenn man die Regeln (7) und (8) auf Formen anwendet, in denen ein /i :/ oder ein /u :/ unmittelbar vor einem Geräuschlaut steht. Spielt die eine oder die andere Regel bei einer Derivation keine Rolle, so wird dies durch drei Punkte (···) angezeigt: /ni : ǝ/ —7→ ··· —8a/b→ ··· „schneiden“ /i : ǝ/ —7→ ··· —8a/b→ ··· „Eisen“ / R i : tǝ/ —7→ [ R itǝ] —8a→ [ R iǝ] —8b→ ··· „reiten“ /i : sǝ/ —7→ [isǝ] —8a→ [iǝ] —8b→ ··· „beißen“ /hu : / —6→ [hy : ] — {Auslautsverhärtung} → [hy : s] —7→ [hys] —8a→ [hy] —8b→ [hys] „Haus“ /u : s/ —6 → [y:s] —7→ [ys] —8a→ [y] —8b→ [ys] „aus“ Daß es theoretisch möglich ist, die Kürze des gespannten [i] von [ R iǝ] von der zugrundeliegenden Gepanntheit des darauf folgenden Leniskonsonanten abhängig zu machen, haben wir soeben demonstriert. Die Überlegenheit dieser Analyse gegenüber der weniger abstrakten Annahme, daß gespannte und
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
ungespannte Kurzvokale bereits im Lexikon unterschieden werden, ist jedoch noch nicht nachgewiesen worden. Diesen Nachweis zu erbringen, wird uns beim gegenwärtigen Stand der Forschung auch reichlich schwer fallen, denn mit der Gegenüberstellung dieser beiden sehr unterschiedlichen Betrachtungsmöglichkeiten sind wir mitten in eine Kontroverse hineingeraten, die seit mehr als einem Jahrzehnt in der generativen Phonologie tobt, ohne daß eine endgültige, alle Parteien zufriedenstellende Lösung auch nur in Sicht wäre. Diese von P. Kiparsky (196 8) entfachte Kontroverse dreht sich um den Abstraktheitsgrad, der einer phonologischen Analyse zugeschrieben werden darf, der als Teilmodell der Sprachkompetenz eines Menschen oder einer Menschengruppe noch ernsthaft in Frage kommt. Der Zankapfel ist hier der Umstand, daß das /t/, welches nach unserer Analyse in der Lexikoneintragung für [ R iǝ] erscheint, immer und überall mit // zusammenfällt. Einige Linguisten (allen voran Vennemann [1974] und seine Schülerin Hooper [1976 ]) würden eine Analyse dieser Art für völlig wirklichkeitsfremd erklären und energisch bestreiten, daß sie einen Teil der Sprachkompetenz eines idealen Sprecher-Hörers ausmachen könnte. Andere Linguisten (darunter keine geringeren Vertreter der generativen Phonologie als Chomsky und Halle [196 8]) haben mit noch abstrakteren Analysen aufgewartet und damit ihre Überzeugung kundgetan, daß der Mensch beim Erlernen einer Sprache beträchtliche Abstrahierungsfähigkeiten entfaltet. Wer hat denn recht? Welche Analyse des Barrer Vokalsystems sollten wir annehmen? Die Antwort auf diese Fragen bleibt uns die generative Theorie vorläufig noch schuldig. Normalerweise ist es ja so, daß die in der generativen Phonologie übliche Einfachheitsbewertung entscheidet, welcher von zwei konkurrierenden Analysen man den Vorzug geben soll. Diese Bewertungsprozedur muß jedoch in jedem Fall versagen, wo die Linguisten, die für die Theorie verantwortlich sind, keine Einigkeit darüber erzielen können, ob eine gewisse Analyse als in hohem Maße wahrscheinlich oder aber als völlig unmöglich einzustufen ist. In solchen Fällen, die leider keinen Seltenheitswert besitzen, bleibt nämlich die Frage unbeantwortet, ob die betreffende Analyse durch die Bewertungsprozedur als einfach oder aber als kompliziert gekennzeichnet zu werden verdient. Die Feststellung, daß sowohl Regel (7) als auch
Regel (8) sowieso notwendig sind (erstere zur Beschreibung der Längenalternation beim Stammvokal von [hys]/[hi : ǝ R ], letztere zur Beschreibung der Verteilung von Fortes und Lenes auf der phonetischen Ebene), fällt also zugunsten der Analyse von [ R iǝ], die wir auf diese beiden Regeln gegründet haben, gar nicht erst ins Gewicht, solange man noch nicht m i t Sicherheit sagen kann, ob ein e derart abstrakte Analyse von der phonologischen Theorie überhaupt zugelassen werden sollte. We l ch e n Ausweg gibt es also aus unserem Dilemma? Einerseits könnte man meinen, daß wir sicherer gingen, wenn wir vorerst allen übermäßig abstrakten Analysen abschwüren. Andererseits aber dürfen wir uns Problemen der Dialektbeschreibung nicht mit einer solchen Ausschließlichkeit hingeben, daß wir darüber die zweite, fast ebenso wichtige Aufgabe der Mundartforschung vergessen. Diese zweite Aufgabe — das haben wir bereits erwähnt — besteht eben darin, einmal gewonnene Analysen verwandter Dialekte aufeinander zu beziehen. Es liegt nun auf der Hand, daß es dem Dialektologen um so leichter fallen muß, diese Beziehung herzustellen, je mehr sich die einzelnen Dialekte, die er vergleichen will, ähneln. Ich will damit natürlich nicht sagen, daß der Dialektologe aufhören sollte, jede einzelne Dialektbeschreibung unabhängig von allen anderen zu motivieren. Wie wir (in Abschnitt 6 .) schon angedeutet haben, führt der Verzicht auf unabhängige Beschreibungen ganz zwangsläufig zur Formulierung nichtoptimaler Grammatiken, die, theoretisch betrachtet, völlig uninteressant sind. In den Fällen aber, wo die phonologische Theorie gegenwärtig noch zwei verschiedene Lösungen eines bestimmten Problems zuläßt, ist es nach meinem Dafürhalten durchaus sinnvoll, wenn der Dialektologe, um sich zusätzliche Arbeit zu ersparen, diejenige Analyse vorläufig als richtig betrachtet, die die zu überbrückende Distanz zwischen der gerade vorliegenden Mundart und den übrigen regionalen und sozialen Erscheinungsformen derselben Sprache verringert. Da die meisten anderen deutschen Mundarten über zugrundeliegende Oppositionen zwischen Fortis- und Leniskonsonanten verfügen, wäre, so gesehen, eine Analyse, die sie ebenfalls beim Barrer Dialekt postuliert, einer weniger abstrakten Analyse, die auf sie verzichtet, aus rein praktischen Gründen vorzuziehen. Wir bleiben also provisorisch bei der oben skizzierten Analyse von [ R iǝ].
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8.2. Gleichsam als Gegengewicht zur Kürzungsregel (7) hinterläßt bei den ablautenden Verben auch eine Dehnungsregel ihre Spuren. Diese Regel entspricht dem Prozeß, der in der dialektologischen Fachliteratur unter der Bezeichnung „Leichtinnendehnung“ bekannt ist. Die Barrer Version dieses Prozesses gibt Regel (9).
Regel (9) besagt, daß Monophthonge (d. h. Vokale, denen entweder ein Konsonant oder eine Morphemgrenze [+] vorangeht) gedehnt werden (falls sie noch dehnbar sind), wenn sie vor einem einfachen Konsonanten stehen, der ein [1], [R], [n] oder — falls es sich beim Monophthong um einen „+“-tiefen Vokal handelt — auch irgendein im Lexikon als [—gespannt] spezifizierter Geräuschoder Gleitlaut sein kann. Da Regel (9) auf den zugrundeliegenden Gespanntheitswert gewisser Konsonanten Bezug nimmt, muß sie ganz offenkundig vor Regel (8) angewandt werden. Regel (9) ist aber auch vor Regel (7) einzuordnen, und zwar deshalb, weil sie die durch Regel (7) vor [l] und [n] gekürzten [i :] und [y :] nicht mehr dehnt: die Vokale von [wil], [inǝ], [myl] und [ R yn] bleiben nach Anwendung von Regel (7) kurz. Die Anwendungsreihenfolge unserer ersten neun Regeln wäre also: 1-2-3-4-56-9-7-8. Regel (9) bietet uns eine Erklärung für die abweichende Länge, die u. a. die betonten Vokale von [ɤ R o: R ǝ] (Reihe IIc), [a : lǝ]/ [o : lǝ] (Reihe IVc) und [ǝla : jǝ] (Reihe Vb) kennzeichnet. Um glaubhaft zu machen, daß das als Leichtinnendehnung bekannte Lautgesetz in der synchronischen Phonologie des Barrer Dialekts noch fortlebt, müssen wir allerdings noch mehr tun als eine Handvoll unregelmäßige Verbformen zitieren, deren historische Entwicklung durch die Leichtinnendehnung beeinflußt worden ist. Sonst könnten ja Skeptiker mit vollem Recht behaupten, daß es einem zeitgenössischen Mundartsprecher viel weniger Mühe berei-
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ten dürfte, sich die abweichende phonetische Form dieser paar Verben einfach zu merken als unsere Regel (9) aufgrund einer so kleinen Anzahl von Wörtern zu erschließen. Eine solche Behauptung träfe uns als generative Dialektologen an unserer vielleicht verwundbarsten Stelle, denn auf dem Gebiet der generativen Dialektologie ist, wie schon erwähnt, zwischen Diachronie und Synchronie nicht immer mit der größten Akribie unterschieden worden. Ja, es hat bei manchen generativen Dialektstudien (etwa der von Newton [1972]) sogar den Anschein, als ob diese für die strukturelle Dialektologie so selbstverständliche Unterscheidung bei der generativen Dialektologie eine so unbedeutende Rolle zu spielen hätte wie bei der klassischen Mundartforschung. Es wird sich daher lohnen, wenn wir unsere Besprechung von Regel (9) an dieser Stelle kurz unterbrechen und die drei Hauptmethoden der Dialektbeschreibung einmal im Hinblick auf den Gegensatz Diachronie/Synchronie miteinander vergleichen. Rein praktisch gesehen, besteht die große Stärke der klassischen Dialektbeschreibung zweifelsohne darin, daß sie diachronische Formeln aufstellen läßt, die den Leser mit einigen Vorkenntnissen eines älteren Stadiums der jeweiligen Sprache sofort in die Lage versetzen, die Zahl der angeführten Beispiele fast nach Belieben zu vermehren und sich dadurch relativ schnell in die beschriebene Mundart einzuarbeiten. Wer in einer klassischen Beschreibung eines elsässischen Dialekts beispielsweise liest, daß mhd. û entweder zu [y :] oder zu [y] palatalisiert wird, je nachdem dieses û im Mittelhochdeutschen vor einer Lenis oder einer Fortis stand, der weiß bestimmt weitaus mehr über die Verteilung von [y :] und [y] in diesem Dialekt als jemand, der aus einer strukturellen Darstellung derselben Mundart etwa erfährt, daß [y :] und [y] aufgrund ihrer kontrastiven Funktion in Minimalpaaren wie [my : ǝ] „mausen, stehlen“ (< mhd. mûsen )/[myǝ] „mausern“ (< mhd. mûʒen ) verschiedenen Phonemen zugeteilt werden müssen und somit in ihrem Vorkommen völlig unvoraussagbar sind. So sehr aber die klassische Dialektologie der strukturellen Dialektbeschreibung im praktischen Bereich auch überlegen sein mag, auf theoretischem Gebiet leidet sie als dialektologische Methode ganz unbestritten darunter, daß ihre als Orientierungsmittel so nützlichen diachronischen Formeln
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
eben nicht ausreichen, um die lautliche Seite eines Dialekts als synchronisches System darzustellen. So unterscheidet sich die Formel, die mhd. û mit einem elsässischen [y(:)] gleichsetzt, in keinerlei Weise von der, die mhd. iu in [i(:)] verwandelt, obwohl letztere Formel, sofern sie diejenigen iu betrifft, die ahd. iu fortsetzen und nicht erst durch Umlaut aus û hervorgegangen sind, nur als diachronische Regel gelten darf, während erstere auch synchronische Geltung hat. Es gibt schließlich stichhaltige Gründe dafür, [y(:)] auch synchronisch von /u :/ ableiten zu wollen: Erstens erlaubt uns diese Analyse, den iUmlaut im Barrer Dialekt als einheitlichen Palatalisierungsvorgang zu verstehen, der u. a. auch bei der Derivation der zu [hys] gehörigen Mehrzahl [hi: ǝ R ] eine Rolle spielt; zweitens erklärt sie, warum das [y] von [hys] nicht durch Regel (5) entrundet wird (vgl. 8.1.). Dagegen würde ein zugrundeliegendes /y :/, das auf der phonetischen Oberflächenebene immer und überall mit /i :/ zusammenfiele, eine vom synchronischen Standpunkt aus völlig überflüssige Abstraktion darstellen, denn es gibt im heutigen Elsässisch nicht den geringsten Grund, den betonten Vokal eines Wortes wie [iǝ] „deuten“ (< mhd. diuten ) von dem eines Wortes wie [ R iǝ] „reiten“ (< mhd. rîten ) zu unterscheiden. Die generative Dialektologie hat sich nun zum Ziel gesetzt, die Vorteile der älteren Methoden der Dialektbeschreibung miteinander zu verbinden, ohne dabei die Hauptnachteile beider Methoden mit in Kauf nehmen zu müssen. Sie verfolgt dieses recht hochgesteckte Ziel, indem sie sich ein Phonemkonzept zu eigen macht, das nicht mehr ausschließlich auf Oppositionen der phonetischen Oberflächenebene, sondern vielmehr auf allgemeinen Einfachheitsüberlegungen beruht und somit Analysen zuläßt, die viel abstrakter sein können als die der strukturellen Dialektologie. So gelingt es ihr, die Laute eines Dialekts zu einem synchronischen System zusammenzufügen, ohne dabei auf die große Mehrzahl der Verallgemeinerungen über die Verteilung dieser Laute verzichten zu müssen, die eine klassische Dialektstudie nach wie vor so wertvoll machen. Unsere oben vorgeschlagene Behandlung der gespannten Kurzvokale [i] und [y] (vgl. 8.1.) läuft beispielsweise zu der klassischen Analyse derselben Vokale weitgehend parallel. Statt einer diachronischen Regel, die mhd. î und û vor einer mhd. Fortis kürzt, enthält
unsere Beschreibung eine synchronische Kürzungsregel, die auf /i :/ und /u :/ vor zugrundeliegender Fortis operiert. Beim Versuch, möglichst viele Verallgemeinerungen in seine synchronische Beschreibung einzubauen, darf sich der generative Dialektologe jedoch nicht vom Übereifer dazu hinreißen lassen, die Grenzen des synchronisch Vertretbaren zu überschreiten und diachronische Regeln in seine Analyse zu übernehmen, für die es keine überzeugende synchronische Motivierung mehr gibt. Mit diesen mahnenden Worten wären wir wieder einmal bei der Frage angelangt, ob die oben formulierte Regel (9) aus synchronischer Sicht hinreichend motiviert ist. Ich glaube diese Frage nun bejahen zu können, denn vergleicht man das recht ökonomische Inventar von fünf zugrundeliegenden Langvokalen, das uns bis jetzt ausreichend erschien, mit der weitaus größeren Anzahl von Langvokalen, die auf der phonetischen Ebene begegnen, so wird einem sofort klar, daß Regel (9) uns der Notwendigkeit enthebt, neben /i : e : å : o : u :/ noch mehrere zusätzliche Langvokale ins Lexikon aufzunehmen, und daher als äußerst wertvoll gelten muß. Ohne Regel (9) müßten wir beispielsweise im Lexikon außer /å/ und /å :/ einen dritten niedrigen Hinterzungenvokal aufstellen. Schauen wir uns doch die Vokale /å/ und /å :/ einmal ganz genau an! Auf der phonetischen Ebene werden nichtumgelautete /å:/ als [υ :] realisiert und fallen somit mit nichtumgelauteten /ο :/ und durch Regel (9) gedehnten [υ] (< /u/) zusammen. Angesichts dieser Neutralisierung und der Tatsache, daß unser zugrundeliegendes /å :/ eine synchronische Fortsetzung von mhd. â darstellt, könnte man zwar den Verdacht hegen, dieses /å :/ sei nichts anderes als ein fragwürdiges historisches Relikt, das überall durch /o :/ ersetzt werden könnte — und auch sollte. Ein solcher Verdacht ließe aber das wichtige Faktum unberücksichtigt, daß phonetische [υ :], je nachdem sie auf mhd. â oder auf einen anderen mhd. Vokal zurückgehen, durch die Umlautregel (4) und die Entrundungsregel (5) unterschiedlich behandelt werden. Während ein aus mhd. â hervorgegangenes [υ :] in Formen wie [hυ : R ] „Haar“/[ha : R ǝl] „Härchen“ eine Alternation mit dem niedrigen Vorderzungenvokal [a :] eingeht, alterniert ein von mhd. ô oder u abstammendes [υ :], wie die Formenpaare [ R υ : ] „rot“/[ R ι : ǝ R ] „röter“ und [υ : n] „Sohn“/[ι : n] „Söhne“ zeigen, mit einem
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hohen [ι :]. Die unterschiedliche Behandlung der beiden [υ :]-Sorten können wir am elegantesten erfassen, indem wir bei Morphemen wie [hυ : R ] ein zugrundeliegendes /å :/ postulieren und unsere Phonologie um eine Neutralisierungsregel (10) erweitern, die erst nach Umlautregel (4) angewandt wird.
Die etwas komplizierte Formulierung von Regel (10) ergibt sich daraus, daß sie nicht nur die Hinterzungenvokale /å :/ und /o :/ in [υ :] verwandelt, sondern gleichzeitig auch eine ähnliche strukturelle Veränderung bei den Vorderzungenvokalen bewirkt, indem sie /e :/ mit den durch Regel (9) zu [ι :] gedehnten [ι] (< /i/) zusammenfallen läßt. Die Regeln (4), (5) und (10) haben also zur Folge, daß /å :/ niemals als [å :], sondern immer als [a :] oder [υ :] erscheint. Wir brauchen daher ganz eindeutig eine andere Derivationsquelle für die phonetischen [å :], die in Formen wie [ R å : ] „Rad“ und [ R å : ] „Grab“ nun einmal auch vorkommen. Dank Regel (9) aber können wir all diese [å :] von dem zugrundeliegenden Kurzvokal /å/ ableiten, denn auf der phonetischen Ebene sind [å] und [å :] komplementär verteilt, und zwar genau in der von Regel (9) vorgeschriebenen Weise. Wir müssen allerdings dafür Sorge tragen, daß diejenigen [å :], die durch Regel (9) erzeugt werden, nicht an der von Regel (10) beschriebenen Hebung teilnehmen. Das können wir jedoch sehr leicht tun, indem wir Regel (9) nach Regel (10) einordnen. Für die Aufnahme der Leichtinnendehnungsregel (9) in unsere synchronische Phonologie sprechen also nicht nur einige abweichende Ablautalternationen, sondern auch die Überlegung, daß das Inventar der zugrundeliegenden Segmente ohne Regel (9) um einen zusätzlichen Langvokal erweitert werden müßte, von dem man oberflächenphonetische [å :] herleiten könnte. Die Bedeutung von Regel (9) wird aber noch augenfälliger, wenn man bedenkt, daß sie neben [å :] auch die langen Vokale von Wörtern wie [e : R ǝl] „kleines Tor, Törchen“, [ɤo: R ] „vor“ und [wa : j] „Weg“ generieren läßt. Quasi als Zugabe beschreibt Regel (9) schließlich noch, wenn auch etwas indirekt,
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die stark eingeschränkte Verteilung der phonetischen Kurzvokale [a å e o ι υ], die ja nur in solchen Kontexten vorkommen dürfen, in denen die Leichtinnendehnung unterbleibt. Zur Veranschaulichung der Wirkung der Regeln (9) und (10) folgen einige Ableitungsmuster. Sämtliche Derivationen beruhen auf der Annahme, daß die bisher formulierten Regeln in der Reihenfolge 1-2-3-4-5-6 -109-7-8 anzuwenden sind. /ɤ R iǝ R /, [+ Perfekt] —1a→ [ɤ R ǝ R ] —1b→ [ɤ R o R ] —10→ ·· —9→ [ɤ R o : R ] „(ge)fror(en)“ /e/, [—Perfekt] —3→ [al] —10→ ··· —9→ [a : l] „stehl(en)“ /el/, [+ Perfekt] —1b→ [ol] —10→ ··· —9→ [o : l] „(ge)stohl(en)“ /lij/, [+ Perfekt] —1c→ [lej] —3→ [laj] —10→ ··· —9→ [la : j] „(ge)leg(en)“ /wej/ —3→ [waj] —10→ ·· —9→ [wa : j] „Weg“ /hå : R / —10→ [hυ : R ] —9→ ··· „Haar“ /hå : R + ǝl/ —4→ [hœ : R + l] —5→ [ha: R + ǝl] —10→ ··· —9→ ··· „Härchen“ / R å/ —10→ ·· —9→ [ R å : ] „Rad“ / R å + ǝl/ —4→ [ R œ + ǝl] —5→ [ R a + ǝl] —10→ ··· —9→ [ R a : + ǝl] „Rädchen“ / R o : / —10→ [Rυ : ] —9→ ··· „rot“ / R o : + R / —4→ [ R ø : + ǝ R ] —5→ [ R e : + ǝ R ] —10→ [ R ι : + ǝ R ] —9→ ··· „röter“ /ɤo R / —10→ ··· —9→ [ɤo: R ] „vor“ /o R + ǝl/ —4→ [ø R + ǝl] —5→ [e R + ǝl] —10→ ·· —9→ [e : R + ǝl] „kleines Tor“ /ne :/ —10→ [nι :] —9→ ··· „Schnee“ 8.3. Die nächste Sondergruppe der ablautenden Verben, die unsere Aufmerksamkeit verlangt, bilden jene Zeitwörter aus der III. und IV. Ablautreihe, deren Stammvokal vor einem Nasallaut steht. Es sind dies Formen wie [ɤιnǝ] „finden“, [ɤυnǝ] „gefunden“, [namǝ] „nehmen“ und [ǝnυmǝ] „genommen“. Wenn wir diese Formen mit den „typischen“ Infinitiven und Partizipien vergleichen, auf die unsere Ablautregel (1) zugeschnitten wurde, sehen wir uns vor zwei Fragen gestellt: (i) Wie generieren wir das [ι] von [ɤιnǝ]? (ii) Wie generieren wir das [υ] von [ɤυnǝ] und [ǝnυmǝ]? Die Antwort, die die Sprachgeschichte auf die erste dieser beiden Fragen gibt, dürfte allen Lesern wohlbekannt sein: Vor einer Nasalverbindung ist urgerm. ë gemeinger-
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
manisch zu i gehoben worden. Eine synchronische Phonologie des Dialekts von Barr darf diese diachronische Regel aber keineswegs einfach übernehmen, denn eine solche Regel würde z. B. keine Erklärung bieten für das Vorhandensein von [ι] im Infinitiv des ebenfalls zur III. Reihe gehörigen Verbes [wιmǝ] „schwimmen“, in dem ein alter Doppelnasal schon längst vereinfacht worden ist. Wir müssen vielmehr annehmen, daß der Mundartsprecher das [ι] von [ɤιnǝ] und [wιmǝ] mit dem gleichen zugrundeliegenden Segment /i/ identifiziert, das in Formen wie [mιlιš] (< /milx/) „Milch“ und [ιǝ] (< i + ǝ/) „sitzen“ anzutreffen ist. Wenn es aber stimmt, daß [ɤιnǝ] und [ιǝ] im Lexikon denselben Stammvokal haben, muß unsere Ablautregel (1) offenbar durch eine etwas expandierte Version (11) abgelöst werden, die zugrundeliegende /i/ unterschiedlich behandelt, je nachdem sie vor einem Nasal oder irgendeinem anderen Konsonanten stehen. Sonst würde ja das Partizip von [ɤιnǝ] — analog zu [ιǝ]/[aǝ] — nicht [ɤυnǝ], sondern *[ɤanǝ] lauten!
Die Neufassung unserer Ablautregel transformiert die zugrundeliegenden /e/ und /u :/ von Partizipien wie [kholɤǝ] „geholfen“ und [oɤǝ] „gesoffen“ weiterhin zu [o]. An dieser Transformation läßt aber die erweiterte Zeile (b) fortan auch diejenigen Partizipien teilnehmen, deren Stammvokal /i/ in dem phonologischen Kontext „vor Nasal“ steht. Auch auf Frage (ii) geben die synchronische generative Phonologie und die diachronische Sprachbeschreibung recht verschiedene Antworten. Diese Feststellung wird nach all den Worten, die wir dem Thema Diachronie/Synchronie bereits gewidmet haben, zwar niemanden wundernehmen. Es dürfte aber trotzdem aufschlußreich sein, diese Antworten miteinander zu vergleichen, denn sie zeigen, daß selbst diejenigen diachroni-
schen Prozesse, die in einer synchronischen Grammatik ihren Niederschlag finden, oftmals in einer stark veränderten Form auftreten. Diachronisch betrachtet, hat [ɤυnǝ] deswegen einen anderen betonten Vokal als jene Partizipien der III. Ablautreihe, die keinen Nasal nach ihrem Stammvokal enthalten, weil in voralthochdeutscher Zeit ein Lautgesetz, das urgerm. u vor einem nichthohen Vokal der Folgesilbe zu o „brach“, durch eine dazwischen stehende Nasalverbindung blockiert wurde. Da wir es aber im vorausgehenden für zweckmäßig gehalten haben, unsere Ablautregel so zu formulieren, daß sie Partizipien der III. und IV. Reihe im Normalfall nicht mit [u], sondern mit [o] ausstattet, müssen wir hier die diachronische „u/o-Brechung“ gleichsam auf den Kopf stellen und eine Regel (12) konstruieren, die [o] vor einer Nasalverbindung in ein ungespanntes [υ] verwandelt.
Mit Hilfe der Regeln (11) und (12) können wir die Formen [ɤιnǝ], [ɤυnǝ] und [ǝnυmǝ] also folgendermaßen derivieren: /ɤin + ǝ/ —11→ ··· —2→ [ɤιn + ǝ] —12→ ···; / + ɤin + ǝ/ —11b→ [ + ɤon + ǝ] —12→ [ + ɤυn + ǝ]; / + nem + ǝ/ —11b→ [ + nom + ǝ] —12→ [ + nυm + ǝ] (··· → [ǝ + nυm + ǝ]). Die hier vorgeschlagene Formulierung von Regel (12) ist übrigens viel höher zu bewerten als eine, die dem diachronischen Lautgesetz „u/o-Brechung“ genauer entspräche, denn als synchronische Regel könnte das Lautgesetz nur richtig funktionieren, wenn das Lexikon zwei verschiedene /ǝ/ enthielte: ein als [—hoch] spezifiziertes, das ein vorangehendes [υ] zu [ο] assimilieren könnte, sowie ein als [+ hoch] spezifiziertes, das auf ein vorangehendes [υ] keinen assimilatorischen Einfluß ausübte. Die Umkehrung ins Gegenteilige, die manche diachronische Regel bei der Eingliederung in eine synchronische Grammatik erfährt, hat Vennemann (1972) als „Regelinversion“ (rule inversion) bezeichnet. Außer durch Inversion wird aber im vorliegenden
18. Der Dialekt von Barr (Elsaß). Eine Pilotstudie im Rahmen der gene-rativen Dialektologie
Fall die Verwandtschaft zwischen diachronischem Lautgesetz und synchronischer Regel obendrein noch dadurch verdunkelt, daß Regel (12) [ο] nicht nur vor Nasal + Konsonant, sondern — wie die Form [ǝnυmǝ] zeigt — auch vor einfachem Nasal in [υ] verwandelt. Es ist allerdings unklar, ob Regel (12) durch Verallgemeinerung einer älteren, auf den Kontext „vor Nasal + Konsonant“ beschränkten Hebungsregel entstanden ist oder ob die u/o-Brechung, die hier in invertierter Form vorliegt, schon immer (wie etwa im Altsächsischen) vor einfachem Nasal unterblieben ist. 8.4. Nur eine Gruppe der ablautenden Verben muß noch erklärt werden. Gekennzeichnet sind diese Verben dadurch, daß ihre Wurzelsilbe auf der phonetischen Ebene auf [j] endet. Da wir es in dieser Studie nur mit Vokalalternationen zu tun haben, brauchen wir hier die Frage nicht zu erörtern, ob man diesen Gleitlaut — sofern er sich nicht als Hiatusfüller per Regel einschieben läßt — im Lexikon schon als /j/ oder (etwas historisierend) lieber als /g/ repräsentieren soll. Hier kommt es lediglich darauf an, zu zeigen, welch durchgreifende Änderungen ein solches [j], was immer seine Derivationsgeschichte sein mag, bei einem davor stehenden Vokal herbeiführen kann. Diachronisch betrachtet, hat ein [j] im Barrer Dialekt auf die Entwicklung benachbarter Vokale eine enorme Wirkung ausgeübt. Über das Ausmaß dieser Wirkung können wir uns einen Überblick verschaffen, indem wir einige Formen aus der normalisierten mhd. Dichtersprache, deren Vokalsystem ja weitgehend mit dem einer zeitgenössischen alemannischen Mundart übereinstimmt, mit den etymologisch entsprechenden Formen aus unserem elsässischen Dialekt vergleichen: Mittelhochdeutsch milch/igel îfer/stîgen bucken/kugel sûr/sû gelücke/vlügel hiuser/niu oven/boge hâr/vrâgen rat/wagen Die
verschiedenen
Barrer Dialekt [mι1ιš]/[ejǝl] [i : ɤǝ R ]/[ejǝ] [υǝ]/[khøjǝl] [y : R ]/[øj] [lιk]/[ɤlejǝl] [hi : ǝ R ]/[nej] [oɤǝ]/[bøjǝ] [hυ : R ]/[ɤ R ø : jǝ] [ R å : ]/[wœ : jǝ] diachronischen
Verände-
373
rungen, die diese Tabelle systematisiert, könnte man mit zwei Regeln, (13) und (14), zusammenfassen.
Für unsere Analyse des Dialekts von Barr werden diese beiden Regeln aber erst dann von Belang sein, wenn wir zeigen können, daß sie sich auch synchronisch motivieren lassen. Fangen wir also mit der ersten Zeile von Regel (13) an! Teilregel (13 a) verkörpert die Generalisation, daß hohe Vokale in unserem Dialekt nicht vor [j] gesprochen werden. Daß sie jedoch mehr als eine passive Redundanzbedingung darstellt, erkennt man an dem Verb [lejǝ] „liegen“ aus der fünften Ablautreihe. Wenn [lejǝ] ein zugrundeliegendes /e/ als Stammvokal hätte, wäre das [a :] seines zweiten Partizips [ǝla : jǝ] unerklärbar, denn Zeile (c) unserer Ablautregel (11) erzeugt tiefe Vorderzungenvokale nur in den Partizipien von Verben wie [ιǝ], die im Lexikon den Stammvokal /i/ aufweisen. Teilregel (13 a) bietet uns aber die Möglichkeit, [lejǝ] von einer zugrundeliegenden Repräsentation /lij + ǝ/ abzuleiten: /lij + ǝ/ —2→ [lιjǝ] —13a→ [lejǝ]. Die synchronische Motivierung für Teilregel (13 b) ist jedoch viel stärker. Da (13 b) gerundete Vokale vor [j] palatalisiert, ohne sie gleichzeitig zu entrunden, können wir für eine synchronische Regel (13 b) die gleichen Argumente ins Feld führen, die uns oben zur Rechtfertigung der kontextfreien û-Palatalisierungsregel 6( ) dienten. Wäre es nämlich der Fall, daß Regel (13 b) nur diachronische Bedeutung hätte, so müßten die dadurch palatalisierten Segmente schon im Lexikon als gerundete Vorderzungenvokale erscheinen, und es wäre dann völlig rätselhaft, warum diese Vokale nicht in Singularformen wie [øjǝ] „Bogen“ und [wœ : jǝ] „Wagen“, wohl aber in Pluralform wie [ejǝ] und [wa : jǝ], die ja Umlautkontexte darstellen, durch Regel (5) ent-
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
rundet werden. Wie aber folgende Ableitungsmuster zeigen, lassen sich diese Rätsel durch eine nach Regel (5) eingeordnete, synchronische Regel (13 b) restlos aufklären: /ojǝ/, [— Plural] —4→ ·· —5→ ··· —13b→ [øjǝ] —9→ ··· „(der) Bogen“ /ojǝ/, [+ Plural] —4→ [øjǝ] —5→ [ejǝ] —13b→ ··· —9→ ··· „(die) Bogen/Bögen“ /wåjǝ/, [— Plural] —4→ ··· —5→ ··· —13b→ [wœjǝ] —9→ [wœ : jǝ] „(der) Wagen“ /wåjǝ/, [+ Plural) —4→ [wœjǝ] —5→ [wajǝ] —13b→ ··· —9→ [wa : jǝ] „(die) Wagen“ Allein schon der Umstand, daß wir ohne Regel (13 b) das Inventar der zugrundeliegenden Segmente um die gerundeten Vorderzungenvokale von [øjǝ] und [wœ : jǝ] erweitern müßten, würde uns indessen dazu berechtigen, dieser Regel einen Platz in der generativen Phonologie des Barrer Dialekts einzuräumen, denn je mehr Segmente man auf der abstrakten Ebene der systematischen Phonemik unterscheiden muß, desto größer wird der Aufwand an Merkmalspezifikationen im Lexikon und desto komplizierter wird die Grammatik. Ein ähnliches Einfachheitsargument kann man für eine synchronische Version von Regel (14) geltend machen. In Verbindung mit Regel (13 b) ermöglicht uns nämlich Regel (14), das [ø :] von [ɤ R ø : jǝ] „fragen“ als Stellungsvariante von /å :/ zu betrachten: /ɤ R å : j + ǝ/ —13b→ [ɤ R œ : j + ǝ] —14→ [ɤ R ø : j + ǝ]. Ohne Regel (14) dagegen würden wir uns gezwungen sehen, [ø :] ins Inventar der zugrundeliegenden Vokale aufzunehmen. Daß die Regeln (13), (10), (14) und (9) in eben dieser Reihenfolge anzuwenden sind, zeigen folgende Derivationen: /ɤ R å : j + ǝ/ —13b→ [ɤ R œ : j +ǝ] —10→ ··· —14→ [ɤ R ø : j + ǝ] —9→ ··· „fragen“ /wåjǝ/ —13b→ [wœjǝ] —10→ ··· —14→ ··· —9→ [wœ : jǝ] „Wagen“ Anderenfalls würden sich ja Aussprachefehler wie *[ɤ RY : jǝ], *[ɤ R œ : jǝ], *[w Y : jǝ] und *[wø : jǝ] ergeben. Wir dürfen also für die in dieser Studie formulierten Regeln die Anwendungsreihenfolge 11-2-3-4-56 -13-1014-9-7-8-12 annehmen. Aber zurück zu den Verbstämmen auf /j/! Folgende Ableitungen zeigen, daß wir mit der Formulierung von Regel (13) die letzte Voraussetzung für ein einwandfreies Generieren der Ablautalternationen erfüllt haben, die vor [j] begegnen:
/ɤliǝj + ǝ/ ≡ [ɤliǝjǝ] „fliegen“ / + ɤliǝj + ǝ/ —11a→ [ + ɤlǝj + ǝ] —11b→ [ + ɤloj + ǝ] —13b→ [ + ɤløj + ǝ] „geflogen“ /lij + ǝ/ —2 → [lιj + ǝ] —13a→ [lej + ǝ] „liegen“ / + lij + ǝ/ —11c→ [ + lej + ǝ] —3→ [ + laj + ǝ] —9→ [ + la : j + ǝ] (··· → [ǝ + la : j + ǝ]) „gelegen“ /ej + ǝ/, [—Regel 3] ≡ [ejǝ] „steigen“ / + ej + ǝ/, [—Regel 3] —11b→ [ + oj + ǝ] —13b→ [ + øj + ǝ] „gestiegen“ Daß das Verb [ejǝ] aus Ablautreihe I in Ablautreihe IVd übergetreten ist, hängt wohl damit zusammen, daß die [i(:)]/[ι]-Alternation, die Verben der I. Reihe sonst kennzeichnet, in unserem Dialekt vor [j] nicht mehr möglich ist: Regel (13 a) verwandelt ja sowohl [i :] als auch [ι] in diesem Kontext in kurze, gespannte [e].
9.
Literatur (in Auswahl)
Chomsky 1964 = Noam Chomsky: Current issues in linguistic theory. Den Haag 196 4 (Janua Linguarum, Series Minor Nr. 38). Chomsky/Halle 1968 = Noam Chomsky/Morris Halle: The sound pattern of English. New York 1968. Hooper 1976 = Joan B. Hooper: An introduction to natural generative phonology. New York. San Francisco. London 1976. Keller 1961 = R. E. Keller: German dialects. Manchester 1961. Kiparsky 1968 = Paul Kiparsky: How abstract is phonology? Bloomington 19 6 8 (Indiana Univ. Linguistics Club). Motsch 1967 = Wolfgang Motsch: Zum Ablaut der Verben in der Frühperiode germanischer Sprachen. In: Studia Grammatica 6 . 19 6 7, 119—144. Newton 1972 = Brian Newton: The generative interpretation of dialect. Cambridge 1972. Vennemann 1972 = Theo Vennemann: Rule inversion. In: Lingua 29. 1972, 209—242. Vennemann 1974 = Theo Vennemann: Words and syllables in natural generative grammar. In: Papers from the parasession on natural phonology. Ed. by Anthony Bruck. Robert A. Fox. Michael LaGaly. Chicago 1974 (Chicago Linguistic Society).
Donald A. Becker, Madison (USA)
19. Sprachgebrauch in Ulrichsberg/Oberösterreich. Eine Pilotstudie inkommunikativer Dialektologie
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19. Sprachgebrauch in Ulrichsberg/Oberösterreich. Eine Pilotstudie in kommunikativer Dialektologie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
1.
Zielsetzungen Daten Einschätzung des Sprachgebrauchs/Einstellung zur Sprachvariation Sprachgebrauch/linguistische Beschreibung Sprachgebrauch/statistische Beschreibung Anhang (Textbeispiel/Fragebogen) Literatur (in Auswahl)
Zielsetzungen
Eine Untersuchung zum Sprachgebrauch in einer Gemeinschaft muß sich mit dem Phänomen der Sprachvariation auseinandersetzen (vgl. Art. 87). Bestens bekannt und durch die Dialektologie untersucht ist die Sprachvariation, die i n regionalen Dialekten erfaßt wird. Zwar bekannt, aber weniger erforscht, ist die Sprachvariation zwischen Dialekt und Standardsprache (vgl. Henzen 1954), die primär sozial determiniert ist, in der Dialektologie aber oft nur in ihrem regionalen Aspekt erfaßt wird, z. B. als ‘Regionalmundart’ oder ‘landschaftlich gefärbte Umgangssprache’ (vgl. Knetschke/Sperlbaum 1967), insofern vom Dialekt abweichende Formen einen regional größeren Geltungsbereich aufweisen als spezifische Formen eines Ortsdialekts (vgl. Ammon 1973). Kaum untersucht ist die Variation zwischen Sprechern gleicher regionaler und sozialer Herkunft (vgl. Kirchmeier 1973), also die Varianz zwischen ‘Idiolekten’. Ferner ist die noch wenig beachtete bzw. erkannte Tatsache herauszustellen, daß jeder Sprecher mehr oder weniger deutlich und mehr oder weniger systematisch seinen Sprachgebrauch in Abhängigkeit von Kommunikationssituationen und deren Formalitätsgrad variiert (vgl. Labov 1970), was meist als Stil- bzw. Registerwechsel bezeichnet wird. Schließlich ist auf die weitgehend unbeachtete Tatsache hinzuweisen, daß Sprachvariation auch innerhalb einheitlicher Kommunikationssituationen — einschließlich des Themas — auftritt, die z. T. ebenfalls in funktionale Zusammenhänge (vgl. Blom/Gumperz 1972 ) gestellt werden kann, z. T. als ‘inhärente’ Variation (vgl. Bickerton 1971, Dressler 1976) oder auch unkontrollierte Variation bzw. Interferenz zwischen Registern anzusehen ist (vgl. Art. 15,52 u. 87). Man kann die Sprachvariation daher nur entweder zugunsten der Dar-
stellung der häufigsten oder auch der i n Relation zur standardisierten Form spezifischsten Variante aus der Untersuchung ausschließen oder sie zum Thema machen. Die Dialektologie ging bisher in der Regel den ersten Weg und befaßte sich bekanntlich überwiegend mit der Untersuchung der kontrastiv zur Standardsprache spezifischsten regionalen Varianten der deutschen Sprache (vgl. Goossens 1977). Zwar wurde keineswegs übersehen, daß neben der regionalen auch eine sozial determinierte Variation existierte (vgl. Hard 1966), aber diese konnte nicht adäquater Gegenstand einer dialektologischen Untersuchung sein, da die daraus entstandenen Varianten kei n e Dialekte i m Sinne eigenständiger und von der Standardsprache unabhängiger Systeme waren, sondern offensichtlich Mischformen der regionalen Basisdialekte und der Standardsprache. Ob und inwieweit bisherige Beschreibungen von Dialekten i n diesem Sinne durch die Realität des Sprachgebrauchs jeweils gerechtfertigt waren, wäre zu fragen. Sicher ist Deskription von Dialekten als Vollsprachen Sache einer rekonstruierenden Dialektologie, der Beobachtung bietet sich nur dialektale Variation. Die Untersuchung zum Sprachgebrauch in Ulrichsberg verfolgt dementsprechend nicht das Ziel, primär einen Dialekt zu beschreiben, sondern die sozial und situativ determinierte Variation sprachlicher Formen und Strukturen, insbesondere zwischen solchen mit mehr oder weniger starker regionaler Gebundenheit und solchen mit überregionaler bzw. standardsprachlicher Geltung, und zwar in einer Gemeinschaft mit starker regionaler Identität und regional geprägter Sprachkompetenz. Eine Untersuchung zur Variation im Sprachgebrauch einer Gemeinschaft kann leider noch weniger als eine Systembeschreibung auf Vollständigkeit abzielen, so daß zunächst die Begrenzungen der Untersuchung zu deklarieren sind: Im Fokus des Interesses liegt die Funktion des Gebrauchs regionaler Sprachformen, reflektiert in deren sozial und situativ determinierter Verteilung und Bewertung, d. h. in der Einschätzung der Verwendungsregeln durch die Sprachgemeinschaft. Darüberhinaus geht es aber auch um die Variation von Sprachformen überhaupt, unabhängig von dialektaler
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
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oder standardsprachlicher Markierung, also um eine eher soziolinguistische Fragestellung, insofern damit auch die Grundlage der sogenannten Defizithypothese von der größeren syntaktischen und lexikalischen Vorhersagbarkeit — d. h. geringeren Variabilität — des restringierten Kodes der Unterschicht (vgl. Bernstein 1962 ) überprüft wird, die schließlich inzwischen von den Sprechern auf ihre Sprache, den Dialekt, ausgedehnt wurde (vgl. Ammon 1973; Veith 1974). Es soll daher die Sprachvariation auf allen relevanten funktionalen Ebenen (vgl. Hammarström 1976) untersucht werden: (a) auf der Ebene der Zuordnung von Ausdruckseinheiten und Inhaltseinheiten, und zwar durch Ermittlung der ausdrucksseitigen Variation in Lexikon und Syntax; (b) auf der Ebene des Ausdrucks der Sprechereinstellung zur Äußerung und zur Sprechsituation, und zwar durch Vergleich der Variation in Lexikon und Syntax und deren morpho-phonemischer Repräsentation unter verschiedenen Sprechhandlungsbedingungen, d. h. in Äußerungen aus verschiedenen Situationen; (c) auf der Ebene der idiolektalen, der soziolektalen und/oder regiolektalen Markierung, und zwar durch Vergleich der Variation zwischen dialektalen und standardsprachlichen Formen bei verschiedenen Sprechern und Sprechergruppen aus Ulrichsberg. Die leitenden Hypothesen für Zielsetzungen, Gegenstandsabgrenzung und Untersuchungsmethoden waren: — Sprachgebrauch variiert in Abhängigkeit von i ndividuellen, situativen und sozialen Faktoren, — Sprachgebrauch kann nur als diasystematische Variation zwischen standardsprachlichen und nicht-standardsprachlichen Formen beschrieben werden (vgl. auch Art. 52), — Sprachgebrauch allein reflektiert die kommunikative Relevanz und Funktion der verwendeten Formen, somit also auch Stellenwert bzw. Geltung der “bodenständigen” Sprachformen.
2.
Daten
Die Erhebung der Sprachdaten ist durch die Untersuchungsziele und die Annahme bestimmt, daß man über den eigenen Sprachgebrauch nur begrenzt zuverlässige Auskünfte geben kann (vgl. Labov 1970) und daher die in dieser Untersuchung relevanten Fragen, welche Sprachformen man in welchen
Kommunikationssituationen verwendet bzw. nicht verwendet, wohl nur in einzelnen Punkten korrekt beantworten könnte. Fragen nach quantitativen Relationen zwischen differenziert verwendeten Formen wären entsprechend weniger und bestenfalls ungefähr erfragbar. Es kam daher als Datengrundlage nur ein Korpus in Betracht, und zwar aus möglichst realitätskonformen Situationen, um typischen Sprachgebrauch sicherzustellen. Da das Korpus auch den Umfang vor allem der Variation zwischen dialektalen und standardsprach l ichen Formen nicht nur möglichst realitätskonform, sondern auch möglichst vollständig spiegeln sollte, war es erforderlich, von jedem Sprecher Äußerungen in entsprechend unterschiedlichen Sprechsituationen zu erheben. Als generellstes Merkmal, das z. B. bei Diglossie Situationsunterschiede konstituiert, wurde der Formalitätsgrad angenommen und dementsprechend von den Sprechern zumindest ein Interview und ein Gespräch mit Bekannten oder Freunden aufgenommen, um vergleichbare Sprechsituationen mit unterschiedlichem Formalitätsgrad zu haben. Darüber hinaus wurden Aufnahmen in vorgefundenen Situationen gemacht, z. B. eine Gemeinderatssitzung, Stammtischgespräche, Verkaufsgespräche, Beratungsgespräche im Gemeindeamt. Diese Aufnahmen enthalten weitere Äußerungen von Personen, die nach den genannten statistischen Kriterien als Sprecher ausgewählt wurden, aber auch Äußerungen von vielen anderen Ulrichsbergern. Die Interviews wurden von den Interviewern, die den Interviewten persönlich fremd, hinsichtlich der sozialen Einordnung jedoch als Universitätslehrer bekannt gemacht waren, bewußt möglichst standardsprachlich geführt, um die formelle Interpretation der Situation durch die Interviewten zu verstärken. Die Gespräche wurden von einem aus Ulrichsberg stammenden Projektmitarbeiter aufgenommen, was eine möglichst weitgehende Integration in die Situation sichern und eine Störung der Informalität vermeiden helfen sollte. Einerseits ist jedoch die beabsichtigte sprachliche Anpassung an die verschiedenen Dialektniveaus der Gespräche dem Explorator trotz seiner Ortsverbundenheit nicht erwartungsgemäß gelungen, d. h., er verwendete weniger Dialekt als er beherrscht, hat also, an sich konform den Hypothesen dieser Untersuchung, gegen seine Absicht den eigenen soziolektalen Sprachgebrauch in verschiedenen Ge-
19. Sprachgebrauch in Ulrichsberg/Oberösterreich. Eine Pilotstudie inkommunikativer Dialektologie
sprächen ungefähr beibehalten. Allerdings scheint es, daß dies den Grad der Informalität der Gespräche nicht beeinträchtigt hat, daß es vielmehr den Erwartungen der Gesprächsteilnehmer entsprochen hat. Andererseits haben sich verschiedene Sprecher, soweit Analysen des Sprachmaterials vorliegen, hinsichtlich des Formalitätsgrades ihrer Äußerungen in den objektiv je vergleichbaren Situationen unterschiedlich verhalten, so daß wir in den Interviews keineswegs durchgehend ein formelles Register verwendet finden und in den Gesprächen nicht immer ein informelles. Dies ist zwar kein völlig unerwartetes Ergebnis, schränkt aber die Möglichkeit ein, aus den Sprachdaten auf den maximalen Gesamtumfang an Variation zwischen Dialekt und Standardsprache bei diesen Sprechern zu schließen. Die Sprecher wurden aus der Bevölkerung des Marktes Ulrichsberg in Oberösterreich disproportional als geschichtetes Sample ausgewählt. Die Schichtung war erforderlich, um alle relevanten sozialen Gruppen in statistisch verwertbarer Zahl vertreten zu haben. Die soziolinguistisch interessanten Gruppen wurden nach drei Merkmalen (soziale Position am Arbeitsplatz, Kommunikationsintensität des Berufes, Ausbildungsgrad) i n jeweils zwei Ausprägungen ermittelt, und zwar nach selbständig vs. unselbständig, kommunikationsintensiv-verbal vs. manuell, formale (verbale) Schulbildung vs. Grund- und Berufsschulbildung. Es ergeben sich daher folgende Differenzierungen und Sprechergruppen: U/S: Unselbständige/Selbständige 1/2 u. 3: manuelle/kommunikative berufliche Tätigkeit 1 u. 2 /3: Grundschulbildung/höhere Schulbildung (Matura) U1/S1 z. B. Arbeiter/Bauern U2 /S2 z. B. Angestellte/Selbständige in Handel und Gewerbe U3 Angestellte (Beamte) in mittleren u. höheren Positionen (z. B. Lehrer) S3, z. B. Arzt, ist im Sample nicht vertreten. Unsere ursprüngliche Einteilung ging nur von Unterschieden in Schulbildung (SB) und kommunikativen Erfordernissen (KE) im Beruf aus, und zwar in jeweils drei Ausprägungen (gering [g], mittel[m], hoch [h]). Danach waren die Gruppen U1 und S1 bzw. U2 und S2 jeweils gemischt auf die Gruppen E (gSB/gKE) und D (mSB/gKE) bzw. C (gSB/mKe) und B (mSB/mKE) verteilt. Widersprüchliche Ergebnisse (vor allem bei B und C, aber auch bei D und E) in der inhaltlichen Auswertung der Interviews führten zu der neuen Ein-
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teilung unter Berücksichtigung der Unterscheidung in selbständig/unselbständig (die in unserem Fall auch die Position am Arbeitsplatz, bestimmend/ausführend, als weiteres Unterscheidungskriterium miteinbringt) und zu einer Reduzierung der Unterteilung der gewählten Merkmale in jeweils zwei polare Ausprägungen. Damit sind wir wieder auf eingebürgerte Gruppen gekommen, die in Schichtmodelle der Soziolinguistik einfügbar sind.
Die Besetzung der Gruppen liegt zwischen 11 und 2 2 Personen. Männer und Frauen sowie die Altersgruppen zwischen 18 und 31, 32 und 45, 46 und 65 Jahren sind zwar insgesamt in etwa gleicher Zahl vertreten, aber nicht ganz gleichmäßig auf die sozialen Gruppen verteilt. Insbesondere weist die Gruppe S2 (Handel- und Gewerbetreibende) überdurchschnittlich viele Männer und überdurchschnittlich viele 46—65jährige auf. Insgesamt sind von 80 berufstätigen Männern und Frauen zwischen 18 und 65 Jahren, die im Markt Ulrichsberg ihren Wohnsitz haben, und von 15 Bewohnern aus Dörfern im Gemeindegebiet von Ulrichsberg Interviews von 2 0 bis 40 Minuten Dauer aufgenommen worden, 60 Interviewte sind auch in Gesprächen von 60 bis 12 0 Minuten Dauer vertreten. Die Zahl der Interviewten entspricht fast einem Viertel der berufstätigen Bevölkerung Ulrichsbergs. Der Untersuchungsort, Ulrichsberg, ist eine kleine Marktgemeinde im nordwestlichen Mühlviertel, 65 km von Linz entfernt, der Hauptstadt von Oberösterreich, 9 km von der bayerischen Grenze, 6 km von der Grenze zur CSSR. Der Ort Ulrichsberg hat ca. 1000, die Gemeinde Ulrichsberg ca. 3000 Einwohner. Als Zentralort hat Ulrichsberg einige staatliche Institutionen, und zwar einen Kindergarten, eine vierklassige Volksschule und eine Sporthauptschule, die in zwei Klassenzügen geführt wird, eine Post, eine Gendarmerie und das Gemeindeamt, außerdem ein kath. Pfarramt. Im wirtschaftlich/sozialen Bereich ist eine deutliche Umstrukturierung erkennbar: Die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten ist stark gesunken, die industrielle Erschließung jedoch gering, nur zwei kleinere Webereien und ein Sägewerk befinden sich im Ortsgebiet. Der Großteil der arbeitenden Bevölkerung pendelt, zur Hälfte nach Linz, zur Hälfte in kleinere Orte der österreichischen und bayerischen Umgebung Ulrichsbergs. Damit ist eine hohe regionale und soziale Mobilität gegeben, die im Widerspruch zu einem sehr konservativen Basisdialekt steht, der zumin-
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
dest in den bäuerlichen Dörfern im Gemeindegebiet Ulrichsbergs — und natürlich in der älteren Generation — z. T. noch relativ wenig vermischt i n Gebrauch ist. Die Untersuchung beschränkt sich jedoch nicht auf den Sprachgebrauch, der hier als der manifeste, beobachtbare Teil des Sprachverhaltens definiert sein soll, sondern erstreckt sich auch auf die hinter dem Sprachgebrauch stehenden Spracheinstellungen, um für die Erklärung des Sprachgebrauchs der einzelnen Sprecher wie für die größere Perspektive des Sprachwandels mehr Anhaltspunkte zu haben. Spracheinstellungsdaten werden neben sozialen Daten durch das Interview erhoben, das dadurch eine Doppelfunktion erhält: I n der Meinung der Interviewten dient es der Erfragung des Sprachgebrauchs, für die Untersuchung erhebt es Spracheinstellungen und manifesten Sprachgebrauch in formeller Situation, man könnte auch sagen subjektive und objektive Daten des Sprachgebrauchs (Hufschmidt/Mattheier 1976). Befragungen zur Einschätzung des eigenen Sprachgebrauchs werden dabei jedoch nicht als Instrument zur Erhebung linguistisch verwendbarer Auskünfte über den Sprachgebrauch angesehen (vgl. dagegen 87., 2 .3). Sie können meines Erachtens nur der Feststellung dienen, inwiefern und von welcher Art in der untersuchten Sprachgemeinschaft ein Bewußtsein von Sprachvariabilität existiert. Denn eine Sprachvariation, die der Sprachgemeinschaft überhaupt nicht bewußt ist, hat wohl kaum soziale oder andere funktionale Relevanz in der Kommunikation. Sie wäre zwar immer noch ein adäquater Gegenstand deskriptiver Dialektologie, aber für eine Untersuchung der kommunikativen Funktion von Dialekt unerheblich. D. h., nur die funktionale Relevanz einer Sprachvariation zwischen Dialekt und Standardsprache und insbesondere das entsprechende Bewußtsein in der Sprachgemeinschaft sind die in diesem Rahmen wesentlichen Fragen und die m. E. nötigen, aber auch hinreichenden Voraussetzungen für die Annahme einer Diglossie (vgl. dagegen 15., 4. 3 u. 87., 1.1).
3.
Einschätzung des Sprachgebrauchs/Einstellung zur Sprachvariation
Spracheinstellungen werden mit unterschiedlichen Zielen und auf sehr verschiedene Weise ermittelt (vgl. Holmes 1976), durch
direkte oder indirekte, offene oder geschlossene, umschreibende oder bezeichnende Fragestellungen (vgl. auch Art. 92 ). Wenn z. B. die wirklichen, z. T. unbewußten Motive für/gegen eine bestimmte Sprachform bzw. ihren Gebrauch oder auch n u r der eigene Sprachgebrauch einer bestimmten Sprechergruppe allgemein oder in bestimmten Situationen erfragt werden sollen, dann sind direkte Fragestellungen sicher problematisch. Da es der Selbsterfahrung z. T. unzugängliches, z. T. prestigebesetztes Verhalten betrifft, ist eine Orientierung der Antwort an Normvorstellungen bzw. an der Erwartung des Interviewers anzunehmen (vgl. Noelle 1963). Um Sprachgebrauch (Selbst-/Fremdeinstufung) differenziert zu erheben, sind umschreibende Fragestellungen z. B. mit Hilfe von Mustersätzen (vgl. 87., 2 .3) zwar konkreter als Fragestellungen mit Bezeichnungen wie ‘Mundart’/‘Dialekt’, ‘Umgangssprache’, ‘Hochsprache’ (so bei Schönfeld/Weise 1974, Rein/Scheffelmann-Mayer 1975, Stellmacher 1977) und wohl auch feiner differenzierbar, aber m. E. kann man auf keine andere Weise als durch Beobachtung (Tonbandaufnahme) linguistisch auswertbare Daten über den Sprachgebrauch erhalten. Durch Befragung gewinnt man jedoch soziolinguistisch relevante Daten zu Sprachnormen und Sprachloyalität, und zwar m. E. besser durch konnotativ besetzte Bezeichnungen als durch Mustersätze. Wenn in einer Gemeinschaft mit differenzierendem Sprachgebrauch jemand angibt, immer nur ‘Mundart’ zu sprechen, dann wissen wir zwar noch nicht genau, wie er spricht — es muß seine Sprache linguistisch gesehen nicht dialektaler sein als die eines anderen, der sich bei derselben Frage z. B. für ‘Halbmundart’ entscheidet —, wir erfahren aber m. E. zuverlässig, daß derjenige nicht bewußt oder vielleicht auch bewußt nicht verschiedene Register verwendet. Wir erfahren also etwas über seine kommunikativen Normen hinsichtlich der Verwendung verschiedener Sprachformen, seine subjektive Sprechhaltung in verschiedenen Situationen. In der Untersuchung zum Sprachverhalten i n Ulrichsberg wurde daher entsprechend den Zielsetzungen und den Erhebungsmöglichkeiten polarisierend nach dieser Sprechhaltung gefragt, also ob ein Sprecher in einer bestimmten Situation eher “in der Mundart” oder eher “nach der Schrift” redet. Für die Bewertung der Antworten ist dabei nicht entscheidend, w i e sich dialektaler und stan-
19. Sprachgebrauch in Ulrichsberg/Oberösterreich. Eine Pilotstudie inkommunikativer Dialektologie
dardsprachlich orientierter Sprachgebrauch beim einzelnen Sprecher nach linguistischen Kriterien unterscheiden, sondern d a ß unterschiedlicher Sprachgebrauch bewußt bzw. intendiert ist. Die Antworten geben m. E. jedenfalls das wieder, was der Befragte als Norm ansieht, somit die kommunikative Relevanz verschiedener Sprachformen, und sie geben das auch richtig wieder, unabhängig davon, ob dieser Sprecher die angegebene Norm im Sprachgebrauch (objektiv) erfüllt. Man kann also nicht zuverlässig daraus ableiten, daß eine intendierte Varianz auch linguistisch durch qualitative oder quantitative Unterschiede entsprechen d nachzuweisen ist. Man kann auch nicht davon ausgehen, daß jede sprachliche Variabilität auf einer dem Sprecher bewußten Sprechhaltung beruht. Denn die Verneinung von Variabilität in der Sprechhaltung schließt noch weniger aus, daß im Sprachgebrauch statistisch eindeutige linguistische Varianzen nachweisbar sind, als es im umgekehrten Fall die Bejahung einschließt. Das läßt sich durch die letzte Frage (49) in den Interviews (6.2 ., Anhang II) mit Ulrichsbergern nachweisen. Die Frage sollte erheben, ob die Befragten ihren Sprachgebrauch i n dem eben beendeten Interview an der Standardsprache orientiert hatten, also einen situationsbedingten Registerwechsel in ihrem Sprachgebrauch vorgenommen haben. Diese Frage wurde von den Ulrichsbergern zu 2 4% bejaht, Unterschiede in der Beantwortung zeigen sich dabei kaum zwischen den Geschlechtern (2 6% Männer gegenüber 2 2 % Frauen bejahten die Frage) und nur teilweise zwischen den Altersgruppen (2 7% der jüngeren, 2 7% der mittleren gegenüber 18% der älteren Jahrgänge), jedoch signifikant zwischen den schichtspezifischen sozialen Gruppen, wobei besonders die Schulbildung relevant wird, da 54% der Gruppe U3 bejahten, aber nur 2 7% der Gruppe U2 , 19% der Gruppe U1 und nur zu 8% bzw. 9% die Gruppen S2 und S1. Aufgrund der Übereinstimmung von S2 und S1 wurde bei den Gruppen U2 und U1 kontrolliert, ob in diesen Gruppen das Ergebnis mit regionaler Immobilität vs. regionaler Mobilität (Pendler) korreliert. Dies war jedoch nicht festzustellen. Da der stark abweichende Wert der Gruppe S2 den Unterschied zwischen den älteren Jahrgängen und den übrigen beiden Altersgruppen relativiert, denn die Gruppe S2 ist in der Gruppe der Älteren überrepräsentiert, kann man sagen: bewußter Registerwechsel (im Zusammenhang mit
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der Interviewsituation) korreliert i n dieser Gemeinschaft nur mit schichtspezifischen Merkmalen, und zwar positiv mit höherem Schulbildungsgrad, negativ mit der Selbständigkeit in der Berufsposition. Darüber hinaus läßt sich an dieser Frage das Verhältnis zwischen bewußtem Registerwechsel und unbewußter Situationsanpassung des Sprachgebrauchs ermitteln: Während die Interviewten nur zu einem Viertel der Meinung waren, ihre Sprechweise der Interviewsituation durch Registerwechsel angepaßt zu haben, ist nach der Einschätzung der Interviewer und nach grober Schätzung der vorliegenden Transkriptionen jedenfal l s beim überwiegenden Teil de r Interviewten eine Orientierung an bzw. Bemühung um Standardsprache im Sprachgebrauch erkennbar. Man muß daraus also folgern, daß der variable Sprachgebrauch als Reflex der sprachlichen Einstellung auf verschiedene Sprechsituationen verschiedenen Sprechern i n Abhängigkeit von schichtspezifischen sozialen Merkmalen in unterschiedlichem Ausmaß bewußt ist. Zu überprüfen ist daher im Rahmen dieser Untersuchung erst noch, ob die situationsabhängige Standardorientierung des Sprachgebrauchs bei denen, die sich dessen bewußt sind, i n einem höheren Ausmaß nachweisbar ist als bei anderen. Zumindest i n der Einschätzung des eigenen Sprachgebrauchs erweisen sich die Befragten insgesamt als zuverlässiger, die sich des Registerwechsel s i n der Interviewsitutation bewußt waren. Das läßt sich durch einen Vergleich mit der Frage 44.6 nachweisen: Die Frage soll vordergründig den Sprachgebrauch gegenüber ortsfremden Österreichern einerseits und Deutschen andererseits ermitteln, dahinter jedoch die Funktionen, an denen sich der Sprachgebrauch orientiert. Österreichern gegenüber wird — im Gegensatz zu Deutschen, namentlich Norddeutschen — nicht aus Gründen der Verständigungssicherung ein standardorientierter Sprachgebrauch gewählt, sondern als Reflex und Ausdruck der sozialen Distanz. Beide Fragen (49 und 44.6) beziehen sich also auf gleichwertige Situationen, insofern die Befragten im Interview mit ortsfremden Österreichern gesprochen haben. Konsequenterweise beantworteten diejenigen Befragten diese Fragen in höherem Ausmaß (zu 89%) übereinstimmend, die sich der Orientierung des Sprachgebrauchs an der Standardsprache — im Interview — bewußt waren, als jene anderen, die sich, z. T. trotz objektiv erkennbarer sprachlicher An-
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
passung, eines Registerwechsels nicht bewußt waren. Diese Gruppe beantwortete beide Fragen nämlich nur zu 73% übereinstimmend. Als Sprachgebrauch gegenüber Deutschen (bes. Norddeutschen) wurde von 85% der Befragten standardsprachlicher Sprachgebrauch (“Hochdeutsch” bzw. “nach der Schrift”, “kein Dialekt”) angegeben und mehrheitlich — ungefragt — kommunikationsfunktional (Sicherstellung der Verständigung) begründet. In dieser Frage ist zwischen den schichtspezifischen sozialen Gruppen die bei weitem höchste Übereinstimmung gegeben. Dies zeigt deutlich, daß das in allen übrigen Fragen fast ausschließlich schichtspezifisch differenzierte Sprachverhalten entsprechende soziale Funktionen dieser Variation zwischen Standardsprache und Dialekt reflektiert. Insgesamt wurde der Registerwechsel durch 7 z. T. überschneidende Fragen bzw. Fragenkomplexe erhoben, teils allgemein (38), teils situationsbezogen (37, 49), teils partner- und funktionsbezogen (35, 36), teils partner- und situationsbezogen (44), teils themabezogen (45). Die allgemeine Frage, ob es bestimmte Anlässe gibt, auf die Sprechweise besonders zu achten (formelles Register), wurde übereinstimmend häufig bejaht, und zwar von den schichtspezifischen Gruppen zu 78% bis 85% mit einer signifikanten Ausnahme: Die Gruppe U1 (Arbeiter) bejahte die Frage nur zu 62 %. Die älteren Jahrgänge bejahten ebenfalls signifikant weniger (63%) als die mittleren (80%) und jüngeren (85%). Die Frage erfaßte allerdings nicht nur die formbezogene (Orientierung an der Standardsprache), sondern auch die inhaltsbezogene Kontrolle der Kommunikation (Aufpassen auf das, was man sagt), bedingt durch die indirekte Fragestellung. Als eine Art funktionsbezogenen Registerwechsels würde ich auch den Gebrauch der Standardsprache gegenüber Kindern ansehen und ihn auch als einen gewichtigen Faktor im Sprachwandel werten. Daher beziehen sich gleich drei Fragen des Interviews auf diesen Komplex (35, 36, 44). In Ulrichsberg ist dieses Sprachverhalten, das man zumindest in Städten in allen sozialen Schichten verbreitet findet (vgl. Schönfeld 1977), nur in der sozialen Schicht mit höherem Schulbildungsgrad anzutreffen. Die Frage 35 (Registerwechsel gegenüber Kindern) bejaht die Gruppe U3 z. B. zu 31% im Gegensatz zu 0% (S2 ) bis 8% (S1) der übrigen schichtspezifischen Gruppen. Ähnlich wird die Frage
36 (Korrektur des kindlichen Sprachgebrauchs) zu 62 % von U3 bejaht im Gegensatz zu 17% bis 19% der übrigen Gruppen. Beide Fragen wurden jedoch nicht von allen Interviewten im Sinne von standardsprachlicher Orientierung des Sprachgebrauchs aufgefaßt — auch dies bedingt durch die in diesen Fällen unvermeidbare indirekte Fragestellung. Durch diesen Fragenkomplex wird auch eine wichtige Diskrepanz im Sprachverhalten sichtbar: Einerseits wird der Dialekt von einer Mehrheit (51%) als Nachteil in der Schulsituation eingeschätzt, verständlicherweise häufiger von Frauen (59%), die mehr mit den Schulproblemen der Kinder befaßt sind, häufiger von jüngeren und mittleren Jahrgängen (59%, 57%) als von den älteren (37%), häufiger von der Gruppe U3 (70%) als von den anderen schichtspezifischen Gruppen (35%—55%). Andererseits wird es sogar als abzulehnendes Verhalten hervorgehoben — und zwar ungefragt —, daß in einigen Familien Ulrichsbergs mit den Kindern “Hochdeutsch” gesprochen werde. I n diesem Widerspruch demonstriert sich m. E. die soziale Relevanz (Prestigefunktion) der Sprachform, die offensichtlich eine funktional motivierbare Entscheidung gegen den Dialekt verhindert. Damit ist nicht im geringsten die Notwendigkeit eingeschränkt, daß die Kinder in der Schule die Hochsprache erlernen, ganz im Gegenteil: Die von einer deutlichen Mehrheit als erwünscht bezeichnete Sprachform für die Kommunikation in der Schule ist “Hochsprache” (75%), nur wenige (14%) — vor allem aus den Gruppen U2 und U1 — plädierten für eine Zwischenform (weder Hochsprache noch Mundart). Die Fragen zum partner- und situationsbezogenen Sprachverhalten (44) versuchen wesentliche Situationsklassen zu erfassen, die möglichst allen Befragten aus eigener Erfahrung bekannt sind. Sie wurden in vier Bereiche gegliedert: I Privatsphäre (Familien- und Freundeskreis) II Ortsöffentlichkeit (Sprachgebrauch auf der Straße, in Geschäften bzw. Gaststätten und vor Behörden Ulrichsbergs, beim Arzt und Lehrer in der Sprechstunde) III Fremdkontakte (Sprachgebrauch in Geschäften bzw. Gaststätten oder vor Behörden in der Stadt Linz, gegenüber ortsfremden Österreichern oder [Nord-]Deutschen) IV Arbeitsplatz (Sprachgebrauch gegenüber Vorgesetzten)
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Abb. 19.1: Standardsprachliche Orientierung des Sprachgebrauchs Im privaten Bereich wird nur Kindern gegenüber — vor allem in der Gruppe U3 — ein standardorientierter Sprachgebrauch angegeben. Für den Bereich der Ortsöffentlichkeit gilt bereits variierender Sprachgebrauch: In Geschäften und vor Behörden Ulrichsbergs wird überwiegend familienüblicher mundartlicher Sprachgebrauch angegeben, am meisten von der Gruppe U1 (Arbeiter), am wenigsten bemerkenswerterweise von der Gruppe S1 (Bauern). Zunehmende Distanz vom mundartlichen Sprachgebrauch wird gegenüber Arzt und Lehrer eingeräumt, und zwar am häufigsten von den Gruppen
Abb. 19.2a: Diagramm (Standardsprachliche Orientierung)
U1 und S1. Dies ist auch als Reflex von Soziolekten mit unterschiedlicher Nähe/Ferne zum Ortsdialekt zu verstehen. Bei den Fremdkontakten wird von allen Gruppen überwiegend standardsprachliche Orientierung angegeben. Zwischen Männern und Frauen gibt es im partner- und situationsspezifischen Sprachverhalten keine Unterschiede. Von den Altersgruppen tendieren die älteren Jahrgänge am wenigsten zu standardsprachlicher Orientierung (46,3%), die mittleren am meisten (65,3%). Von den schichtspezifischen Gruppen tendieren U2 , S1, U3 insgesamt am meisten zu standardsprachli-
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
cher Orientierung (62 ,5% bis 61%), deutlich weniger bereits U1 (50,1%), am wenigsten jedoch S2 (42 ,6%). Aussagekräftiger als die Gesamtdurchschnittswerte sind dabei die Relationen der einzelnen Durchschnittswerte aus verschiedenen Situationen zueinander (vgl. Tab. 1/Diagr. 1). Hier zeigen sich einerseits größte Übereinstimmungen zwischen den Gruppen U2 und U3, fast völlige Parallelität der Werte bei geringem Abstand, weiters weitgehende Parallelität der Werte von S2 , aber deutlich unter U2 und U3. Das bedeutet analoge Situationseinschätzung, aber größere Loyalität zum eigenen mundartlichen Sprachgebrauch. Auch die Werte der Gruppe S1 liegen noch verhältnismäßig parallel zu den Werten von U3 und U2 , weisen aber im Bereich II (Ortsöffentlichkeit) eine wesentlich höhere Standardorientierung aus. D. h., die Bauern meinen, sich im Ort einem weniger dialektgeprägten Sprachgebrauch — verglichen mit ihrem eigenen familiären Sprachgebrauch — anpassen zu müssen, sie schätzen ihren informellen Sprachgebrauch (Mund-
Abb. 19.2b: Diagramm (Standardsprachliche Orientierung)
art) von allen schichtspezifischen Sozialgruppen am wenigsten als geeigneten Sprachgebrauch für den Bereich der Ortsöffentlichkeit ein. Deutlich abweichend von allen übrigen Sozialgruppen erweist sich die Gruppe U1 (Arbeiter) im partner- und situationsspezifischen Sprachverhalten bzw. in der diesbezüglichen Selbsteinschätzung. Deutlich erkennbar ist eine allgemein geringere Standardorientierung des Sprachverhaltens, ausgenommen gegenüber sozialen (Arzt, Lehrer) oder staatlichen Autoritäten. Insgesamt ergibt sich also ein differenziertes Bild variablen Sprachverhaltens, bedeutsame Übereinstimmungen z. B. zwischen allen übrigen schichtspezifischen Gruppen gegenüber den Arbeitern, aber auch wichtige Abweichungen wie die der Gruppe der Selbständigen. Ergänzend ist dazu jedoch heranzuziehen, wie die Häufigkeit des eigenen mundartlichen oder standardsprachlich orientierten Sprachgebrauchs eingeschätzt wird (Frage 39). Unter diesem Blickwinkel stellt sich die Unterschiedlichkeit im Sprachge-
19. Sprachgebrauch in Ulrichsberg/Oberösterreich. Eine Pilotstudie inkommunikativer Dialektologie
brauch der schichtspezifischen Gruppen wieder anders dar: Eine signifikante Differenz besteht nur zwischen der Gruppe U3 und den übrigen Gruppen, die zu 77% (Durchschnitt) gegenüber 10% (U3) angeben, hauptsächlich “Mundart” zu sprechen, und nur zu 11% gegenüber 50% (U3), oft oder zumindest gelegentlich “Hochdeutsch”/ “nach der Schrift”. Eine weitere Gruppe von Fragen bezieht sich auf die Bewertung dialektalen oder standardsprachlichen Sprachgebrauchs, also seine soziale Funktion. Zunächst die Frage (46), wie die standardsprachliche Orientierung bzw. Vermeidung mundartlichen Sprechens eingeschätzt wird, unter welchen Voraussetzungen dies akzeptiert bzw. nicht akzeptiert wird: Die Gruppe S2 lehnte dies uneingeschränkt zu 33% ab, die Gruppe U2 dagegen nur zu 5%, alle übrigen Gruppen zu 14%—18%. Entsprechend umgekehrt ist die Zustimmung verteilt, die überwiegend auf Personen mit höherer Schulbildung bzw. sozialer Position eingeschränkt wird. Dari n ist nicht nur das Wissen von sozial differenziertem Sprachgebrauch reflektiert, sondern auch die soziale Verbindlichkeit der Sprachform, ihre Geltung als Prestigeobjekt. Entsprechend wird auch die Frage (41), ob jemand, der ausschließlich mundartlich sprechen würde, in Ulrichsberg dadurch Nachteile hätte, nur selten (13%) bejaht, allerdings zweimal so häufig (2 7%) von Befragten aus Dörfern im Gemeindegebiet Ulrichsbergs. Sie nannten im Gegensatz zu den Marktbewohnern auch keine funktionalen Nachteile im Sinne von Verständigungsschwierigkeiten, sondern nur soziale Nachteile im Sinne geringeren Ansehens.
4.
Sprachgebrauch/linguistische Beschreibung
4.1. Variationsdimensionen: Ausgangspunkt ist die Annahme, daß der Sprachgebrauch zwischen Sprechern auf Grund sehr vielfältiger Bedingungen variiert, so in Abhängigkeit von Thema und Themabehandlung (argumentativ, deskriptiv) innerhalb derselben Kommunikationssituation, in Abhängigkeit von der Sprechhaltung (formelles, informelles Register) in verschiedenen Kommunikationssituationen, in Abhängigkeit von unterschiedlicher Sozialisation zwischen Sprechern verschiedener sozialer Herkunft, Schulbildung und Berufstätigkeit, verschiedenen Alters und verschiede-
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nen Geschlechts (Soziolekte) und schließlich in Abhängigkeit von verschiedener regionaler Herkunft. Die bestimmte regionale Herkunft bedingt jedenfalls regional markierte Sprachformen. Ausmaß und Art der regionalen Markiertheit des Sprachgebrauchs ist schon auf Grund von unterschiedlichen, sehr variablen Sozialisationsbedingungen von Sprecher zu Sprecher sehr verschieden und variiert außerdem auf Grund unterschiedlicher situationsabhängiger Sprechhaltungen (zwischen formel l u n d i nformell). Die Variation zwischen regional und damit oft gleichermaßen sozial markierten Sprachformen, im weiteren als dialektale Sprachformen zusammengefaßt, u n d entsprechenden Formen der Standardsprache konstituiert folglich ein e Variationsdimension. Sie wird i n dieser Untersuchung als Variation zwischen Dialekt und Standardsprache bezeichnet und steht hauptsächlich i m Zusammenhang mit den sekundären sozialen Funktionen des Sprachgebrauchs. Die im Rahmen einer gegebenen Sprachkompetenz primär von Thema und Themabehandlung abhängige Variation von Sprachformen zur Bezeichnung verschiedener Bedeutungen stellt die andere Variationsdimension dar. Sie steht hauptsächlich im Zusammenhang mit der primären Sprachfunktion der Verständigung und leistet die Differenzierung von Bedeutungen durch die Differenzierung von Bezeichnungen in lexikalischen und syntaktischen Repräsentationen. Da größere Variation an Bezeichnungen auch als ein Plus an Bedeutungsdifferenzierung angesehen werden kann, ist diese Dimension durch die Restriktion bzw. Elaboration des Ausdrucks konstituiert. Die Determinanten dieser (synlektalen) Ausdrucksvariation sind mindestens ebenso vielfältig wie die der Variation zwischen Dialekt und Standardsprache und z. T. dieselben. Die von der Soziolinguistik im Anschluß an Bernstein verfolgte Annahme, daß mit einem — weitgehend invariant gesehenen — restringierten (defizitären) Kode auch ein kognitives Defizit verbunden ist bzw. sein könnte (vgl. Veith 1974), wird in dieser Untersuchung allerdings nicht in Betracht gezogen und soll hier auch nicht weiter behandelt werden. 4.2. Ausdrucksvariation 4.2.1. Lexikalische Variation Die Ausdrucksvariation wird in der lexikalischen und syntaktischen Differenziertheit
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
von Äußerungen gemessen. Das Meßinstrument dafür ist das Verhältnis zwischen verschiedenen Ausdruckseinheiten und verwendeten Ausdruckseinheiten, ‘type-token-ratio’ (TTR) genannt. Man kann das auch als Anteil der unterschiedlichen Ausdruckseinheiten in einem Text bezeichnen. In dem Text: Ein + es schön + en Tag + es kam ein schön + er Prinz zu ein + em groß + en schön + en Schloß finden wir optisch durch Zwischenräume gekennzeichnet 21 Ausdruckseinheiten, die nach herkömmlichen Definitionen als Wortformen bezeichnet werden. In diesen 12 Wortformen sind 11 unterschiedlich, das Verhältnis zwischen verschiedenen Wortformen und verwendeten Wortformen ist 11:12 bzw. 0,917. Nimmt man als Ausdruckseinheit, was entweder durch Spatium oder durch + getrennt ist, erhalten wir 19 Realisationen von Morphemen nach strukturalistischer Definition. Der TTR-Wert ist unter diesen Voraussetzungen 12 :19 bzw. 0,632 . Legt man die herkömmliche Wortdefinition zugrunde, ergibt sich ein TTR-Wert von 8:12 bzw. 0,667. In dieser Untersuchung werden die lexikalischen TTR-Werte in der Regel nur nach Wortformen bestimmt. 4.2.2. Syntaktische Variation Schwieriger ist die Messung der syntaktischen Variation, weil die Festlegung der ‘types’ immer problematisch sein wird, solange unterschiedliche Prämissen der Bewertung syntaktischer Strukturen darin eingehen. Die größte Bedeutung hat in diesem Sinne der Begriff Komplexität (vgl. Bartsch 1973), der in verschiedenen Ausführungen vor allem in soziolinguistischen Arbeiten auf der Basis der Defizithypothese eine axiomatische Stellung einnimmt und am meisten mit der Bewertung des “restringierten Kodes”, ein defizitäres Kommunikations- und Erkenntnisinstrument zu sein, befrachtet ist. In dieser Untersuchung soll allerdings kein Komplexitätsmaß für den Vergleich syntaktischer Strukturen definiert oder verwendet werden, sondern eine möglichst offene, von Vorinterpretationen freie deskriptive Messung der Variation an syntaktischen Strukturen i n gesprochenen Äußerungen erreicht werden. Da jedoch die syntaktischen Variationsmöglichkeiten z. B. auf der Basis von Wörtern so groß sind, daß selbst bei einem Korpus von 1000 Sätzen die Variation kaum weniger als 100% betragen würde, also nicht ein Satz einem anderen völlig ent-
sprechen würde, sind jedenfalls weitergehende Abstraktionen nicht zu umgehen. Die Analyse nach Wahlmöglichkeiten an syntaktischen Strukturen, syntaktischen ‘types’, wird einerseits durch die Struktur mit einem Verb als Zentrum (VzS) und deren Verknüpfung mit vorausgegangenen und nachfolgenden VzS begrenzt, andererseits durch Strukturen mit einem Nomen im Zentrum (NzS), da NzS funktional mit VzS weitestgehend alternieren. 4.2.2.1. Verb-zentrierte-Strukturen (VzS) Die Bezeichnung Verb-zentrierte-Struktur soll jene syntaktische Einheit benennen, die durch ein verbales Zentrum konstituiert ist, ohne durch einen Namen wie ‘Satz, Teilsatz, Hauptsatz, Nebensatz, Gliedsatz’ einseitig bestimmte Textrollen mitzubezeichnen und festzulegen. Die konkrete Textrolle einer VzS ist zwar durch den Kontext determiniert, jedoch nicht nur auf eine Funktion hin, und durch formale Merkmale gekennzeichnet, jedoch nicht nur in einem Verbindlichkeitsgrad. Die Verwendung einer neuen Bezeichnung soll uns die Trennung der verschiedenen Ebenen erleichtern, auf denen der Zusammenhang zwischen diesen strukturellen Einheiten hergestellt wird. Die Varianz der verbzentrierten Strukturen kann auf verschiedenen Abstraktionsniveaus untersucht werden, indem als ‘type’ in Termen der Dependenzgrammatik eine der folgenden Varianten festgelegt wird: (1) durch das konkrete Verb und die jeweils durch ein Wort/NzS realisierten dependenten/interdependenten nichtverbalen Positionen der VzS, (2 ) durch das konkrete Verb mit/ohne alle unmittelbar zum Verbalkomplex gehörigen Modifikationen (d. s.: Verbzusätze, lexikalisierte Ergänzungen, Funktionsverbstrukturen), (3) durch die Verbklasse (Kopula-Verb; intransitives Verb; transitives Verb im Aktiv (mit/ohne Zielbezeichnung); transitives Verb im Passiv (mit/ohne Agensbezeichnung)). Es ist eine Frage des Korpusumfangs, welche ‘type’-Festlegung sinnvoll ist. Bei den bisher bearbeiteten Korpusgrößen (ca. 170 VzS je Korpus) sind erst TTR-Werte ab dem zweiten Abstraktionsniveau korpusspezifisch differenziert. 4.2.2.2. VzS-Verknüpfungen Zwischen allen VzS eines Textes oder einer Äußerung bestehen unmittelbar oder mittel-
19. Sprachgebrauch in Ulrichsberg/Oberösterreich. Eine Pilotstudie inkommunikativer Dialektologie
bar semantische Relationen, durch die sie miteinander verknüpft sind, und zwar aus folgenden hierarchisch geordneten Klassen: — Komplementrelationen, entsprechend den obligatorischen Funktionen eines Subjekts/Objekts zu einer VzS, aber auch eine Prädikativs zu einer NzS (attributiver daß-Satz), — Kausal- / Modal- / Temporal-Relationen, entsprechend den Adverbialen zu einem Verb, — Kontrastrelationen (vgl. Meyer 1975), entsprechend adversativen Wort/NzSKoordinationen, — Additionsrelationen (z. B. Thema-/Rhema-Addition; die so zusammengefaßten Relationen zwischen VzS können jedoch sehr unterschiedlich subklassifiziert werden. In dieser Arbeit werden sie unter dem Aspekt erfaßt, ob eine Relation einen formal-syntaktisch variablen Anschluß, Hypotaxe oder Parataxe, zuläßt). Zumindest eine Additionsrelation liegt zwischen fast allen VzS vor. Sie kann jeweils durch “stärkere” Relationen wie Kontrastund / oder Kausal- und / oder Komplementrelation überlagert werden: Z. B. weist VzS (37) eine Additionsrelation überlagert von einer Konditionalrelation und einer Komplementrelation auf: (36) aber mir is s halt fil lieber (37) wann i so redn kann (6.1., Anhang I). Als ‘types’ auf mindestens zwei Abstraktionsniveaus sind einerseits die vier Hauptklassen heranziehbar, andererseits, bei größerem Korpus und spezifischerer Fragestellung, eine Subklassifikation (2 5 und mehr ‘types’, je nach Feinheit der Subklassifikation). Neben dem semantischen Anschluß hat jede VzS auch einen formalsyntaktischen Anschluß an eine vorhergehende (anaphorisch) oder nachfolgende (kataphorisch) VzS, und zwar entweder einen kontextuell als nicht-thematisch (vgl. Bartsch 1978, Weiss 1980) markierten hypotaktischen Anschluß oder einen unmarkierten parataktischen Anschluß. Hypotaktischer Anschluß ist an eine vorangegangene oder nachfolgende Bezugs-VzS möglich, parataktischer Anschluß nur an eine vorangegangene VzS oder auch als Einschub in eine Bezugs-VzS. Als hypotaktisch angeschlossen gilt eine VzS (sonst Nebensatz) jedenfalls dann, wenn an erster Stelle ein Relationsausdruck gesetzt ist und der finiten Verbform weder das Subjekt oder Objekt (im Akk.) noch ein infiniter Verbteil folgt. Endstellung der finiten Verb-
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form ist nicht obligatorisch. Als parataktisch angeschlossen gilt eine VzS (sonst Hauptsatz) jedenfalls dann, wenn der finiten Verbform Subjekt und/oder Objekt und/oder ein infiniter Verbteil folgt. Koordination bezeichnet hier ebenfalls nur die Form des syntaktischen Anschlusses einer VzS an eine vorangegangene VzS, den Grad der syntaktischen Abstimmung einer semantisch durch Kontrast- oder Additionsrelation angeschlossenen VzS. Eine Koordination gilt dann als syntaktisch realisiert, wenn Ausdrücke mit gleicher Referenz i n der koordinierten VzS getilgt sind. Koordinationen tragen also zur syntaktischen Komplexität bei (vgl. Brettschneider 1978). Koordination ist eine fakultative syntaktische Operation, sie erhält jedoch in der gesprochenen Sprache nicht obligatorisch die syntaktische Form (Hypotaxe/Parataxe) der Bezugs-VzS auch bei der koordinierten VzS, sondern ist sogar so überwiegend parataktisch an eine hypotaktische VzS anschließbar (in der R eeperbahn nachts um halb eins ob du n Mädel hast oder hast keins), daß eine die hypotaktische Struktur erhaltende Koordination als standardsprachlich markiert angesehen werden muß. Subordination ist, sofern man sie mit der Gliedfunktion einer VzS in ihrer Bezugs-VzS gleichsetzt, wie es z. B. durch die Bezeichnung ‘Gliedsatz’ geschieht, keine syntaktische Konstruktionsalternative — weder zu Koordination noch zu irgendeiner anderen Anschlußart — und auch keineswegs mit Hypotaxe identisch bzw. obligatorisch korreliert. Neben der isolierten Betrachtung der Varianz bei semantischen Anschlüssen einerseits und syntaktischen Anschlüssen andererseits kommen als ‘types’ auch die unterschiedlichen Kombinationen von semantisch-syntaktischen Anschlüssen in Betracht. Da in der gesprochenen Sprache die meisten semantischen Anschlüsse syntaktisch sowohl durch Parataxe als auch durch Hypotaxe realisiert werden können, ergeben sich sehr viele Anschlußtypen. Vor allem Komplementrealtionen können syntaktisch sehr variabel realisiert werden und überdies von anderen semantischen Relationen überlagert sein, vor allem von kausalen Relationen. Je nach Typ, nämlich Subjekt-, Objektoder Prädikativrelation sind andere Merkmale variabel: Bei allen Komplementrelationen ist kataphorischer/anaphorischer sowie hypotaktischer / parataktischer Anschluß möglich; direkte/indirekte Wiedergabe dagegen ist nicht bei Subjekt- und Prädikativ-
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III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
relation, Infinitiv-Konstruktion nicht bei Prädikativrelation wählbar. Je nach Berücksichtigung von Wahlmöglichkeiten kann folglich das Abstraktionsniveau eines Vergleichs verändert werden. In den Vergleich verschiedener Struktur-
typen läßt sich schließlich auch der Relationsausdruck einbeziehen, was insbesondere für die Variation zwischen Dialekt und Standardsprache die Differenzierungsebene einbringt — wie aus der folgenden Abbildung der Anschlußalternativen bei Kausalrelationen ersichtlich ist:
Abb. 19.3: Anschlußalternativen bei Kausalrelationen Es können auch so unspezifische, polyfunktionale Bezeichnungen wie ja oder nämlich als kausale Relationsausdrücke angesehen werden (vgl. Schulz 1971), die jedoch nicht nur anstelle eines spezifischen Relationsausdrucks stehen können, sondern auch zusätzlich. Somit liegen auch verschiedene Explikationsgrade der Bezeichnung dieser Relationen vor (vgl. Meyer 1975), die nicht nur dialektal-standardsprachliche Variation, sondern auch Ausdrucksvariation darstellen. Die Variation reicht vom Fehlen eines Relationsausdrucks über unspezifische Relationsausdrücke mit geringer dialektaler (ja, daß) oder standardsprachlicher (nämlich) Markierung zu spezifischen Bezeichnungen ohne Markierung (weil, damit) oder mit dialektaler (weil für parataktischen Anschluß) bzw. standardsprachlicher (da, um zu) Markierung. 4.3. Variation zwischen Dialekt und Standardsprache
Dialektal/standardsprachlich markierte Variation gibt es auf allen Ebenen linguistischer Analyse. Hier wird sie auf lexikalischer, syntaktischer, morphologischer und phonologischer Ebene untersucht. Da es jedoch im gegebenen Rahmen nicht möglich ist, alle Variationsmöglichkeiten aufzuzählen, sollen syntaktische bzw. morphosyntaktische und lexikalische Variationsparadigmen lediglich exemplarisch aufgezeigt werden und nur die phonologische Variation ausführlicher, da sie die wichtigste Rolle spielt und auch als Demonstrationsobjekt am geeignetsten ist. 4.3.1 Syntaktische Variation Dialekt/Standardsprache Syntaktische Alternationen sind auf unterschiedliche morphemische Repräsentationen vergleichbarer Kategorien beschränkt. Dabei sind folgende (+ D/+ S) markierte Variationsparadigmen hervorzuheben: — Infinitivkonstruktionen, die wie NzS
19. Sprachgebrauch in Ulrichsberg/Oberösterreich. Eine Pilotstudie inkommunikativer Dialektologie
durch zum (+ D) angeschlossen sind (z. B. VzS (33): i kann s shon a (33) in hochdeutsh zun redn) oder durch zu (+ S), — Überlagerungen von Relationen, z. B. (+ D) der Kond. Rel. durch Kompl. Rel. (vgl. VzS [41]: [39] bei mir gibt s nur den ainn grund ... [41] wann mi wer nit fersteht), — Mehrfache Negation, ohne daß die Bedeutung ‘Negation’ aufgehoben wird, — Herausstellungen von Negationspartikeln, Satzadverbien (Personalpronomen?) vor das Einleitewort (Relationsausdruck) bei hypotaktischen VzS (z. B. VzS [34]: nit dass si mainen ...), — Relationsausdrücke zwischen VzS (Konjunktionen), z. B. weil/denn; (weil)/da; wann/wenn, falls; daß/(damit); daß/so daß; trotzdem daß/(obwohl); wie/als; bevor daß/ ehe; bald/sobald ..., — Possessiver Dativ (+ D)/Possessiver Genitiv (+ S)/(von + Dativ), — Präpositionaler Dativ (+ D)/Präpositionaler Genitiv (+ S), — Zusammenfall von Dativ und Akkusativ bei Mask. Sing. (+ D) und Mask., Fem., Neutr. Pl./Unterscheidung des Dativs (+ S), — Partizip Perfekt beim Modalverb (+ D)/ Infinitiv (VzS [2 9]: sie hättn ja fon wo kemmen gkinnt), — dialektale vs. standardsprachliche Numerusflexion bei Nomen, Adjektivflexion, Pronomina (mir/wir; ihnen, ihr, ihn/sich ‘refl.’; des/das) und pronominale Flexion (Zusammenfall von Dativ und Akkusativ zum Dativ in betonter Position und Form, zum Akkusativ in unbetonter Position und Form), Verbflexion (Praes. 3. Ps. Pl. -nt/-n). Ein großer Teil der hier demonstrierten Variation zwischen Dialekt und Standardsprache ist weder regional-dialektal (Verbreitung auch in anderen Dialekten bzw. in ‘Umgangssprache’) noch sozial-dialektal markiert im eigentlichen Sinn. Aber es ist kein lediglich hypothetisches Variationsparadigma aufgezählt. Jede Variation ist im Korpus des Sprachgebrauchs in Ulrichsberg entweder als registerdifferenzierende oder sprecherdifferenzierende Variation belegbar, und zwar die (+ S)-Formen nicht nur in der Gruppe mit höherer Schulbildung und die (+ D)-Formen nicht nur bei Bauern oder Arbeitern. 4.3.2. Lexikalische Variation Dialekt/Standardsprache
387
Dies ist dann anzunehmen, wenn eine dialektale Form keine phonologisch übersetzbare Entsprechung gleicher Bedeutung in der Standardsprache hat oder wenn eine standardsprachliche Form (gleichgültig ob phonologisch standardsprachlich oder dialektal ausgeführt) verwendet wird, für die es einen gebräuchlichen dialektalen Ausdruck gibt. Die dialektal markierten Lexeme sind zuverlässiger zu ermitteln als die standardsprachl ich markierten, die auf der Grundlage einer guten Dialektkompetenz zunächst nur angenommen werden können und erst nach Vergleich aller alphabetischen Wortformenregister festlegbar sind. Nicht dialektal “markiert” als lexikalische Einheiten (Dialektwörter in der Einschätzung der Sprecher) sind daher auch ganz reguläre Einheiten der Dialektgrammatik (la : es, alõ :a, mi:, sÖ : ve, kaf), sofern die standardsprachlichen Lexeme (Läuse, allein, mich, selbe, kaufe) sich nur durch regelmäßige lautliche Unterschiede (phonische Variation) von den dialektalen Entsprechungen unterscheiden und daher daraus ableitbare morphonologische Übersetzungsregeln (vgl. ‘adaptive rules’, Andersen 1973) rekonstruierbar sind, die z. B. durch ‘hyperkorrekte’ Realisationen, d. h. durch Übergeneralisierung der Regel evident werden können. Dieses Verfahren sagt nichts darüber aus, ob die Sprecher in allen möglichen Fällen auf Grund von solchen Regeln rekonstruieren oder ob sie ‘lexikalisiert’ dialektale neben standardsprachlichen Formen j e getrennt speichern. Es sol l nur die Beschreibung der Variation und die unterschiedlichen Arten der dialektalen Markiertheit objektivieren. Obwohl natürlich aus Gründen der objektiven Analysemethode eine lexikalische Dialektmarkierung schwerer wiegt als eine phonologische, weil sie gewissermaßen ‘tiefer’ liegt, kann daraus nicht geschlossen werden, daß das in jedem Fall auch von den Sprechern so eingeschätzt wird. Allerdings spricht für die generelle Richtigkeit dieser Annahme die Tatsache, daß der Dialektabbau i m Lexikon am weitesten fortgeschritten ist. Da aber manche lexikalische Dialektform eine regional und sozial größere Verbreitung aufweist als bestimmte phonologische Unterschiede und diese je nach Lexem/Morphem verschieden verbreitet (mi: ‘mich’/bO: ‘bach’) und entsprechend unterschiedlich markiert sein können, daher muß die Markiertheit nicht der linguistischen Systematik entsprechen.
388
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
4.3.3. Phonische Variation Dialekt/Standardsprache Eine Übersicht läßt sich für den Vokalismus am besten durch folgende aus dem Dia-System (vgl. Reiffenstein 1968) weiterentwikkelte Darstellung der phonologischen Realisationsalternativen geben, die hier Oppositionen des standardsprachlichen Systems zu den in bezug auf identische Lexem-Basen entsprechenden Oppositionen und Neutralisationen im dialektalen System in Alternationsrelation setzt: Legende (Vokalalternationen): — Querstriche trennen systematische Ebenen, die oberste Zeile, das Bezugssystem, zeigt — Oppositionen (≠) des standardsprachlichen Systems, darunter werden dialektale Entsprechungen angeführt: — Oppositionen (≠), Neutralisationen (=), Alternativen
graduell
verschiedener
dialektaler Markiertheit, — Großbuchstaben bezeichnen die jeweils offenere Qualität, — Doppelpunkt bezeichnet Quantität (Länge), — Einklammerung (:) bezeichnet alternative Quantität, — Punkt bezeichnet phonetische dialektale Qualitätsunterschiede bei der Opposition E ≠ e, und zwar kontrastiv zur Standardsprache geschlossenere (ė) bzw. offenere (Ẹ) Qualität. Vokalalternationen (1): Vokale vor Plosiven/Spiranten
Vokalalternationen l-Vokalisierung
(2 ):
Vokale
vor
Lateral/
Zwischen Vokalen kann /l/ (Lateral) restituiert werden, fakultativ auch über Wortgrenzen hinweg, und zwar nach vorderen Vokalen (i, ü, ė, Ẹ, ö) unter Beibehaltung der Rundung durch die l-Vokalisierung (ül, öl, Öl), nach hinteren Vokalen (u, o, O, a) unter Tilgung der Diphthongierung durch die lVokalisierung (ul, ol, Ol, al). Vokalalternationen (3): Vokale vor Vibrant/ r-Vokalisierung Vokalisierung von /r/ zu /a/, im Auslaut, kann nicht als dialektal markiert angesehen werden; zwischen Vokalen wird /r/ unter Beibehaltung der Diphthongierung durch die r-Vokalisierung restituiert, fakultativ auch über Wortgrenzen hinweg; /r/ kann auch aus /a/ “restituiert” werden, das nicht auf /r/ zurückführbar ist (viara ‘wie er’). Vokalalternationen (4): Vokale vor Nasal/nVokalisierung Nasalierung unter Tilgung von /n/, hier nVokalisierung genannt, ist dialektal markiert; zwischen Vokalen wird /n/ restituiert. Konsonantenalternationen (1): Lenis-Fortis Plosive und Spiranten treten dialektal, kontrastierend zur Standardsprache (vgl. Pilch 1966), anlautend ohne Lenis-Fortis-Opposition auf. Diese Neutralisation zur (unaspirierten) Fortis (B, D, G) ist nicht dialektal markiert. Zwischen Vokalen können bei gleicher Lexem-Basis stimmhafte kurze Konsonanten mit stimmhaften (Lateral, Nasale) oder stimmlosen (Plosive, Spiranten) langen Konsonanten alternieren, wobei Kurzvokal mit Langkonsonant auftritt und umgekehrt (vgl. Bannert 1976): Solche Alternationen begründen im dialektalen System kaum Oppositionen auf der Ebene der Bedeutungsdifferenzierung (lOD : n ‘Latte’ ≠ lO : dn ‘Laden’); sie dienen eher der Register-/Stildifferenzierung (formell vs. informell) oder soziolektaler Differenzierung (z. B. bei fOD:a/ fO:da), wobei in der Regel die standardsprachliche Entsprechung Fortiskonsonant aufweist und (daher) die Variante mit Langvokal und Kurzkonsonant (Lenisierung) die dialektalere, informellere Markierung trägt.
19. Sprachgebrauch in Ulrichsberg/Oberösterreich. Eine Pilotstudie inkommunikativer Dialektologie
Konsonantenalternationen 2( ): Assimilationen — Nasal vor Velarplosiv (Lenis) zu Velarnasal (lO : gŋ/lO : ŋ ‘Lagen’), — Velarplosiv vor Nasal, im Anlaut, zu Dentalplosiv (Gne : dl/Dne : dl ‘Knödel’), — Dentalplosiv vor Nasal, im Auslaut, zu Nasal (re : dn/re : n ‘reden’, danach auch re : D/re : ‘rede’), — Dentalplosiv vor Lateral, im Auslaut, zu Lateral (Gne : dl/Gne : l ‘Knödel’), — Dentalplosiv vor Labialspirans, über Wortgrenzen (#), zu Labialplosiv (D # frao/ B # frao ‘die Frau’), — Dentalplosiv vor Labialnasal, über Wortgrenzen, zu Labialplosiv (D # muaD : a/ B # muaD : a ‘die Mutter’), — Plosiv vor Plosiv, im Auslaut (progressiv) und über Wortgrenzen (regressiv) (kOB: ‘gehabt’, GleG: ‘gelegt’, BrOxD ‘gebracht’, DO ‘getan’, kiaxn ‘die Kirche’). Konsonantenalternationen (3): Tilgungen — Ausfall von Velarspirans, im Auslaut (bO :/bO : x ‘Bach’, -le/-lix‘-lich’), — isolierte Alternationen (z. B. O/jO ‘ja’). Durch unterschiedliche Kombination einzelner Variablen (Alternationsmöglichkeiten) in einer Wortform entstehen weitere Varianten von abgestufter dialektaler Markiertheit: z. B. bei Vater, als Lexem unmarkiert (in Alternation mit Alter), die konsonantischen Alternationen a : t/aD :/O : d und die vokalische Alternation a/O. Von den Alternationen der Nebensilbe abgesehen, ergeben sich daraus 4 Varianten (fa : ta/faD: a/fOD: a/fO : da) zunehmender dialektaler Markiertheit. Zwei Kombinationsmöglichkeiten sind nicht ausgenützt (*fO : ta, *fa : da), da sie entgegengesetzte Markierungen (standardsprachlich-dialektal bzw. formell-informell) tragen.
5.
Sprachgebrauch/statistische Beschreibung
Die Datengrundlage für die folgende Statistik des Sprachgebrauchs ist zwar keinesfalls für jede einzelne der besprochenen Variablen ausreichend, kann aber Demonstrationszwecken genügen: Sie umfaßt 10 Korpora von je 12 00 Wörtern, und zwar 3 Interviews (Lehrer, Angestellte, Arbeiterin) und 7 Korpora aus 3 Gesprächen: Gespräch (1): Lehrer, Lehrerin (Ehepaar); Gespräch 2( ): Selbständige, deren Tochter (mit Leitungsfunktion im Betrieb der Mut-
389
ter), eine manuell arbeitende Angestellte dieses Betriebs; Gespräch (3): Arbeiterin, Arbeiterin; nur von einer dieser beiden Arbeiterinnen sind 2 Korpora aus thematisch unterschiedlichen Teilen dieses Gesprächs hier ausgewertet. Auswertungsgrade: Alle Korpora sind hinsichtlich der lexikalischen und phonologischen Variation ausgewertet; 5 Korpora sind syntaktisch ausgewertet, und zwar der Lehrer und die Arbeiterin mit je einem Korpus aus Gespräch und Interview, die Lehrerin mit einem Korpus aus dem Gespräch. Variablen: Die statistische Auswertung bezieht bei fehlender Repräsentativität keine der untersuchten Einzelvariablen ein, sondern nur Gruppen gleichartiger Variablen. 5.1. Lexikalische und syntaktische Variabilität/Ausdrucksvariation Die lexikalische Variation der Korpora zeigt in verschiedener Hinsicht, z. T. überraschend z. T. einsichtig, übereinstimmende und unterschiedliche Werte. Der Anteil der verschiedenen Wortformen an der Gesamtzahl der verwendeten Wortformen (TTRWortformen) erweist sich z. B. mit Werten zwischen 0,303 und 0,362 als insgesamt ziemlich gleichmäßig (vgl. Müller 1971). Zwischen den verschiedenen Korpora der Teilnehmer des Gesprächs (1) einerseits und den Korpora der Teilnehmer des Gesprächs (2 ) andererseits sind die Unterschiede noch geringer (0,303—0,32 6 bzw. 0,331—0,359). Dies zeigt deutlich die wechselseitige sprachliche Beeinflussung der verschiedenen Teilnehmer ein und desselben Gesprächs. Diese Beeinflussung ließe sich auch im Detail an den häufigeren lexikalischen Übereinstimmungen, durch Verwendung der gleichen Wörter, zwischen Teilnehmern an einem Gespräch zeigen und beweisen. Die Verteilung der verwendeten Wortformen auf verschiedene Klassen (Verb, Nomen, Adjektiv, Adverb) zeigt ebenfalls deutliche Übereinstimmungen (vgl. Abb. 19.4): Gleichmäßigkeiten sind der Tabelle leicht zu entnehmen. Zu beachten ist die textsortenabhängige Verteilung der Nomina, aber auch die Differenz zwischen Gespräch (2 ) und den beiden anderen Gesprächen in diesem Punkt. Anzumerken sind nicht ablesbare sprechspezifische Verteilungen: z. B. verwendet der Lehrer im Interview 18% Adverbien, im Gespräch dagegen 2 8%; die Angestellte in Interview und Gespräch 6% bzw. 8% Ad-
390
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
Abb. 19.4: Verteilung der Wortformen auf Wortklassen. (Anteil der verschiedenen Wortklassen an der Gesamtzahl der Wortformen, in Prozentwerten) jektive, die übrigen Sprecher dagegen nur 4—6%. Kann man beim unterschiedlichen Adverbiengebrauch des Lehrers an Registerdifferenz, beim höheren Adjektivgebrauch der Angestellten an eine idiolektale Auffälligkeit denken? Gleichmäßig sind auch die Wortformentypes auf die verschiedenen Klassen verteilt:
Abb. 19.5: Verteilung der Wortformentypes auf die Wortklassen, in Prozentwerten Auffällig ist an dieser Verteilung jedoch die Differenz zwischen den beiden Gesprächskorpora der Arbeiterin, die nicht wie die übrigen Gesprächskorpora einen zusammenhängenden Text konstituieren, sondern verschiedene Texte aus einem Gespräch sind und daher größere Unterschiede aufweisen als die von verschiedenen Sprechern kommenden Teile eines fortlaufenden Gesprächstextes. Die TTR-Werte der einzelnen Wortklassen entsprechen z. T. ziemlich genau den TTR-Werten der Wortformen (bei Verben und Adverbien), z. T. (bei Nomina und Adjektiven) sind sie deutlich differenziert: Im Gespräch (1) liegt z. B. der TTRWert der Adjektive unter dem der Nomina und weist somit auf einen eher stereotypen Adjektivgebrauch hin! Die syntaktische Variation weist im Bereich der Verbklassen weitgehend übereinstimmende Verteilung in
den Texten der Arbeiterin auf, dagegen deutliche Unterschiede in den Texten des Lehrers: Die Arbeiterin verwendet in beiden Texten intransitive, transitive und KopulaVerben gleich häufig (2 6%/2 7%, 2 8%/30%, 31%/30%), während der Lehrer im Interview deutlich häufiger Kopula-Verben (34%), also Nominalsätze, als intransitive und transitive Verben (2 5%, 2 6%), im Gespräch dagegen deutlich häufiger transitive Verben (37%) als intransitive (2 2 %) oder Kopula-Verben 2( 8%) verwendet. Der Gebrauch von reflexiven Verben, von Passiv, von haben und es gibt ist in Interviews und Gesprächen, und zwar bei der Arbeiterin, beim Lehrer und bei der Lehrerin, fast genau gleich verteilt. Der TTR-Wert der Verben, exklusive der Kopula-Verben, weist ebenfalls deutliche Unterschiede zwischen Interview und Gespräch beim Lehrer aus, keinen Unterschied bei der Arbeiterin und auch keinen Unterschied zwischen den Gesprächstexten der Arbeiterin und des Lehrers. Als markiert ist somit klar das Interview des Lehrers ausgewiesen, wo insbesondere deutlich weniger modifizierte Verben, auch Verbzusätze als Modifikationen gezählt, als im Gespräch zu finden sind (35% gegenüber 44%). Die Variation bei den semantischen und syntaktischen Anschlüssen läßt sowohl auf textsorten- als auch sprecherspezifische Unterschiede schließen. In den Interviews dominiert die Thematisierung eines rhematischen Nomens (lineare Textprogression, vgl. Daneš 1970), in den Gesprächen sind kausale Relationen häufiger. Insgesamt verwendet der Lehrer häufiger die Rhemathematisierung als Verknüpfungsmittel, und zwar im Interview bevorzugt parataktisch, im Gespräch hypotaktisch (als Relativsatz), die Arbeiterin hingegen — nahezu umgekehrt proportional zum Lehrer — häufiger kausalen Anschluß, und zwar öfter als der Lehrer auch in parataktischer Struktur. Sie gebraucht insgesamt häufiger hypotaktischen Anschluß als der Lehrer, besonders aber bei Rhemathematisierung und Komplementrelation, während der Lehrer insgesamt parataktischen Anschluß bevorzugt, und zwar im Gegensatz zur Arbeiterin besonders bei Rhemathematisierung und Komplement-Relation. Komplement-/Kausal-/Modal-/Temporal-Relation plus Rhemathematisierung werden insgesamt (in Gespräch und Interview) von beiden Sprechern gleich häufig verwendet, und zwar in den Gesprächen nur
19. Sprachgebrauch in Ulrichsberg/Oberösterreich. Eine Pilotstudie inkommunikativer Dialektologie
ein wenig (unsignifikant) häufiger als in den Interviews. Die formal-syntaktischen Anschlüsse werden von der Arbeiterin in Gespräch und Interview in genau gleicher Art und Häufigkeit verwendet. Es dominiert der anaphorisch-hypotaktische Anschluß (Subordination 1. Grades); hypotaktischer Anschluß 2 . Grades ist ist etwas häufiger im Interview, Koordination an eine parataktische VzS häufiger im Gespräch zu finden. Beim Lehrer sind größere Unterschiede zwischen Interview und Gespräch festzustellen: Im Gespräch dominiert klar der anaphorisch-hypotaktische Anschluß; Koordination an parataktische VzS ist nur in einem Verhältnis von 1 : 10 dazu vertreten und nicht halb so häufig wie Koordination an hypotaktische VzS. Im Interview hingegen dominiert die Koordination an parataktische VzS knapp vor anaphorisch-hypotaktischem Anschluß, alle übrigen Anschlußtypen sind jeweils im Gespräch häufiger zu finden — ausgenommen Infinitivkonstruktionen. D. h., daß das Interview des Lehrers auch stark von der Relation der Rhema-Addition geprägt ist und die syntaktische Koordination i n der Mehrzahl der Fälle auch durchgeführt ist, während im Gespräch diese Relation nur halb so oft verwendet ist und in der Mehrzahl der Fälle die syntaktische Koordination nicht durchgeführt ist. Zusammenfassend läßt sich für den Sprachgebrauch des Lehrers feststellen, daß in der Ausdrucksvariation mehr Unterschiede auf syntaktischer als auf lexikalischer Ebene bestehen, und zwar eine deutliche textsortenspezifische Variation in der Verwendung semantischer Verknüpfungen, eine eher registerspezifische Variation (sprachliche Kontrolle in der formellen Situation) bei den formal-syntaktischen Anschlüssen, erkennbar z. B. an der häufigeren syntaktischen Durchführung von Koordinationen — nicht jedoch an häufigerer Hypotaxe (vgl. dagegen Van den Broeck 1977). 5.2. Variation zwischen Dialekt und Standardsprache Die dialektal/standardsprachliche Variation wird daran gemessen, wieviele Wortformen eine dialektal/standardsprachlich markierte Morphem/Lexem-Basis oder phonologische Alternation aufweisen. Der folgenden Auswertung, dem Vergleich der 10 Korpora, liegen 30 ausgewählte Variationsparadigmen zugrunde, 15 aus den Vokalalternationen (1),
391
7 aus den Vokalalternationen (2 ), 8 aus den Konsonantenalternationen (2) (vgl. 4.3.3.). Durch die quantitative Analyse werden überraschende Regelmäßigkeiten der dialektal/standardsprachlichen Variation im Sprachgebrauch der Ulrichsberger erkennbar. Obwohl die Verteilung von dialektaler und standardsprachlicher Variante bei einzelnen Variationsparadigmen wegen zu geringer Häufigkeit einschlägiger Wortformen oft unregelmäßig ist, zeigt die Gesamtverteilung dialektaler und standardsprachlicher Varianten bei mehreren gleichartigen Variationsparadigmen, wie sie in den oben angeführten Gruppen vorliegen, entsprechend der Vermehrung der Belege statistisch stabile Werte. So weisen z. B. die Korpora des Gesprächs (2 ) — wie bereits bei der lexikalischen Variation — deutlich übereinstimmende Werte auch in der Variation zwischen Dialekt und Standardsprache auf, nämlich zwischen 41% und 45% an dialektal markierten Wortformen bei den Vokalalternationen (1), zwischen 59% und 60% dialektale Varianten bei den Vokalalternationen 2( ) und hohe Übereinstimmung auch bei den Konsonantenalternationen: Ausfall von /x/ im Auslaut, im Basis-Regiolekt des Mühlviertels fast unbeschränkt durchgeführt, ist z. B. auf Wörter beschränkt, für die diese Alternation zwischen standardsprachlicher Variante mit /x/ und dialektaler Variante ohne /x/ weder regionale noch soziale Grenzen aufweist. Es handelt sich um die Alternationen a/auch, no/noch, do/doch, i/ich, mi/ mich, di/dich, si/sich, nit/nicht. Beide Varianten sind jeweils auch in ähnlicher Verteilung verwendet. Von den Assimilationen werden dieselben Paradigmen verwendet bzw. vermieden (z. B. Gn/Dn). Bei den vokalischen Alternationen werden die dialektalen Entsprechungen von standardsprachlich /ü/ und /ö/ im Gespräch (2 ) nicht verwendet (ausgenommen in mias : n ‘müssen’), in allen übrigen Fällen sind sowohl die standardsprachlichen als auch die dialektalen Varianten vertreten, zu einem geringen Teil auch in gleichen Wörtern. Der Vergleich von Interview und Gespräch des Lehrers, der Angestellten und der Arbeiterin bringt ebenfalls klare Ergebnisse, nämlich deutliche Beweise des Registerwechsels (formell/informell) beim Lehrer mit nur 13% an dialektalen Formen im Interview gegen 61% im Gespräch bei den Vokalalternationen (1) bzw. 52 % gegen 68% bei den Vokalalternationen (2 ), ferner deutlich überwiegende Verwen-
392
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
dung (79% aller Realisationen) der standardsprachlichen Varianten bei den Wörtern mit x-Varianz im Interview, wobei nur i/ich und nit/nicht variant sind, aber fast ausschließliche Verwendung der dialektalen Varianten im Gespräch (96%). Von den Assimilationen werden nur -dn/-n und -bm/-m alternierend verwendet, jedoch ohne Unterschied zwischen Interview und Gespräch. Registerwechsel ist wohl auch bei der Angestellten zu unterstellen, denn sie verwendet nur zu 15% dialektale Varianten im Interview gegenüber 41% im Gespräch bei den Vokalalternationen (1) bzw. zu 46% gegenüber 60% bei den Vokalalternationen (2 ) und macht auch deutliche Unterschiede bei Wörtern mit x-Varianz (57% gegenüber 80% sind dialektale Varianten). Wie beim Lehrer besteht kein Unterschied zwischen Interview und Gespräch hinsichtlich der verwendeten Assimilationen, aber über die dort zu findenden Alternationen hinausgehend sind auch D # G/G, D # k/k, D # m/B # m, D # f/B # f belegt. Wenn man die jeweils belegten Assimilationen einerseits und den Anteil der standardsprachlichen Varianten andererseits bei den verschiedenen Sprechern vergleicht, erkennt man eine Diskrepanz in der dialektalen Variation, die zwei Schlußfolgerungen ermöglicht: Die Vokalalternationen werden registerspezifisch vom Formalitätsgrad gesteuert, und zwar die Vokalalternationen (1) stärker als die Vokalalternationen (2 ), die Konsonantenalternationen sind hingegen eher idio- und soziolektal determiniert. Unter diesen Voraussetzungen würde die registersensitive Variation, die relativ deutliche standardsprachliche Orientierung bei den Vokalalternationen, das Gespräch (2 ) als relativ formell ausweisen, was bei der gegebenen Teilnehmerkonstellation nicht überraschen kann. Ganz anders liegt jedoch der Fall der Arbeiterin. Bei ihr differieren die beiden Gesprächskorpora auch hinsichtlich der dialektalen Variation deutlich — wie bereits bei der lexikalischen Variation —, wobei die größere lexikalische Ausdrucksvariation in dem Korpus mit weniger standardsprachlichen Varianten zu finden ist. Zwischen Gespräch und Interview ist hinsichtlich der dialektalen Variation kein größerer Unterschied festzustellen, als er auch zwischen beiden Gesprächskorpora vorliegt. Da kaum Wortformen sowohl in der standardsprachlichen als auch in der dialektalen Variante belegt sind, wie es bei den anderen Sprechern vor allem aber beim Lehrer der
Fall ist, kann man bei der Arbeiterin Registerwechsel (formell/informell) eher nicht annehmen, obwohl Unterschiede zwischen Interview und Gespräch hinsichtlich der dialektalen Variation jedenfalls dadurch gegeben sind, daß dialektale Morpheme/Lexeme in etwas größerer Zahl und auch i n häufigerer Verwendung zu finden sind. Doch dies ist sicher nicht nur durch die andere Sprechhaltung bedingt: Welche Rolle die Standardsprache im Sprachgebrauch dieser Arbeiterin spielt, darüber gibt sie selbst im Interview aufschlußreich Auskunft (6.1., Anhang I, Frage 45). Sie verwendet einzelne lexikalische Elemente der Standardsprache bei entsprechendem Bedarf (Bezeichnungsfunktion), wird aber nur bei dialektbedingten Verständigungsschwierigkeiten auf Standardsprache “umschalten”. In diesem Sinn verwendet sie in VzS (47) das Wort ferleugne, und zwar in seiner standardsprachlichen phonologischen Form, ohne es dialektal zu adaptieren. Auf diese Weise ergeben sich dann auch größere Schwankungen bei den lautlichen Alternationen, und zwar in Abhängigkeit von themabedingten lexikalischen Entlehnungen, aber unabhängig vom Formalitätsgrad der Sprechhaltung.
6.
Anhang (Textbeispiel/Fragebogen)
6.1. Anhang I (Textbeispiel) Textprobe aus dem Interview mit einer Arbeiterin, die Fragen 42 , 43, 45 betreffend. Die Schreibung des folgenden Textes ist für die Auswertung durch EDV entwickelt worden. Sie drückt phonol.-morpholog. Dialektrealisationen auf weitgehend schriftsprachlichen Basisformen oder entsprechenden Rekonstruktionen aus und ermöglicht daher eine wesentlich bessere Identifikation einzelner Wörter (ohne Kontext), z. B. in einer alphabetischen Liste, aber auch eine gezielte Abrufung einzelner Variationsparadigmen. Frage 42: (1) al)so ifind (2 ) dass d/ie kinde%r sehr sehr arm dran) ha’n + d (3) wi/e sh/on) gsagt (4) be%i meine- kinde%r a han) /i genau d/ies sel)ve problem ghab§t (5) dass d/ie d/ie erstn shul)jahre d/ies so shrei(bn (6) wi/e si§ e/s ausspre/che%n’+t (7) weil§ si§ ei(nfach gar n/it wissn + t (8) wi/e d/ies wort in -n hochde/utsh ha/isst (9) weil) fo%n wo soll)n s d/ie her ha(bn sa(gn&mi%r (10) wann si§ fo%n e%inn dorf hin)dan) si%n (11) d/ie filleicht in /ihrn le(bn no/! gar n/it recht fil)- le/ut gh/
19. Sprachgebrauch in Ulrichsberg/Oberösterreich. Eine Pilotstudie inkommunikativer Dialektologie
ört ha(bn (12 ) d/ie hochde/utsh re(dn + t (13) wi/e soll) + t d/ies kind d/ies hernehme%n (14) wann seine e/l)te%rn und s gshwiste%r’+e%r und alle s nab : ar + l und ume%rdum in -n dialekt re(dn un (15) dann /auf a/in)mal) ko/mmt s in§ d shul) (16) und soll) + t hi/etz da hochde/utsh d/ie d/ie sache%n’ niede%rshrei(bn (17) wo soll) + t s d/ ies kind herha(bn (18) d/ies is ei(nfach z&fil) fe%rlangt (19) d/ies äh mu/ess erscht e%inmal) e%in- zeit in§ d shul) gehn§ (2 0) dass /ihm s d lehrperson d/ies ir(gndwie beibringt Frage 43 (vgl. Anhang II) (2 1) al)so i find (2 2 ) in§ d% shul) soll) + t hochde/utsh gsproche%n wer(dn (2 3) dass si§ wenigstns d/ies fo%n d% shul) aus lern-n + t (2 4) weil§ fo%n daha/im lerne%n’ si§ d/ies ja ni/e (2 5) weil) d e/l)te%rn ni/e mit d/ie kinde%r hochde/utsh re(dn + t wer(nd + t (26) weil) si§ d/ies zum teil a gar n/it kinne%n’ + t Frage 45 (Teil): (2 7) da mü/ess + e%rt sh/on) ganz was gross-s g-kemme%n se%in§ sa(gn&mi%r wircl/i! e% fall) (2 8) dass dass mi! s/ie n/it fe%rstandn hättn (2 9) sie hättn ja fo%n wo kemme%n g-kinnt sa(gn&mi%r (30) dass s/ie mein-n dialekt n/it fe%rstandn hä/ : ttn + t (31) ja genau dann hä : tt i mi! natürl/i! automatish a dazu/e aufraffe%n mü/essn (32 ) i kann s sh/on) a (33) /in§ hochde/utsh zu%en re(dn da hm (34) n/it dass si§ ma/ine%n’ (35) i kann) d/ies n/it (36) aber mir is s hal)t fil) li/eve%r (37) wann i so re(den kann) (38) wi/e mi%r d% shnave/l) gwachsn is Frage 45 (Teil): (39) be%i mir gibt s nur den a/in-n grund (40) wi/e i eh sh/on) gsagt hab (41) wann mi! wer n/it fe%rsteht (42 ) dass i s genau merk (43) der shaut m/i! gross und fe%rständnislos an) (44) hal)t aus der fe%rsteht m/i! hi/etz n/it (45) da mu/ess i hi/etz umshal)tn (46) ave%r so/nst kann) m/i! fast gar nics dazu/e bewe(gn (47) dass /i mein-n dialekt fe%rleugne 6.2. Anhang II (Fragebogen) Der Fragebogen der Interviews hatte Sozialdaten und Spracheinstellungsdaten zu erheben und sollte außerdem die Befragten zu längeren Äußerungen anregen. Die Fragen sind daher überwiegend offen gestellt (nicht ja/nein Fragen) und meist verhältnismäßig umfangreich. Von den 49 Fragen des Fragebogens zielen die ersten fünf auf die Herkunft des Interviewten und seiner Familie, die nächsten 15 Fragen auf die Berufstätigkeit der ganzen Familie, weitere 4 Fragen auf Freizeitaktivi-
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täten, vor allem sprachliche Kontakte, 13 Fragen auf die Schulbildung der Familie und das Ausmaß der Sprachorientiertheit des Erziehungsverhaltens des Interviewten und seiner Eltern, weitere 12 Fragen zielen auf die Einschätzung des eigenen Sprachverhaltens durch den Interviewten (Spracheinstellung). Die letzte Frage ermittelt Bereitschaft und Partner zum informellen Gespräch. Die Fragen zu Spracheinstellungen, Spracheinschätzungen werden im folgenden wörtlich wiedergegeben: 35) Wenn Sie Ihrem Kind/Ihren Kindern etwas erklären, reden Sie dabei anders als mit dem Ehepartner/Bekannten, z. B. langsamer oder deutlicher oder sonst wie anders? Können Sie die Art des Unterschieds erklären? Können Sie erläutern, mit welcher Absicht Sie anders reden? 36) Verbessern Sie Ihr Kind/Ihre Kinder beim Reden? Wann verbessern Sie bzw. was verbessern Sie? 37) Macht es einen Unterschied in Ihrer Sprechweise aus, ob Sie im Familienkreis oder unter Bekannten reden? Können Sie die Art des Unterschieds erläutern? Können Sie auch angeben, warum Sie einen Unterschied machen? 38) Gibt es bestimmte Gelegenheiten/Anlässe, bei denen Sie auf Ihre Sprechweise besonders achten, indem Sie besonders kontrollieren, wie Sie reden? 39) Beherrschen Sie die Ulrichsberger Mundart? Sprechen Sie hauptsächlich Mundart? Oder sprechen Sie oft Hochdeutsch bzw. nach der Schrift? 40) Gibt es einen Unterschied in der Sprechweise zwischen dem Markt Ulrichsberg und den umliegenden Dörfern im Gemeindegebiet von Ulrichsberg? 41) Hätte jemand, der ausschließlich Mundart spricht, hier in Ulrichsberg dadurch Nachteile? Können Sie die Art der Nachteile näher angeben? 42 ) Haben Kinder, die nur Mundart sprechen, in der Schule besondere Schwierigkeiten? Sind sie im Nachteil? Werden sie benachteiligt? 43) Wenn Sie darüber entscheiden müßten, wie in der Schule geredet werden soll, in welcher Form sollten die Lehrer zu den Schülern sprechen, und in welcher Form sollten die Schüler dem Lehrer antworten? 44) Ich lese Ihnen jetzt eine Liste von Personen vor und bitte Sie, daß Sie mir jeweils sagen, welche Sprechweise Sie diesen Perso-
394
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
nen gegenüber wählen? Sagen Sie nur, ob Sie uneingeschränkt/überwiegend Mundart reden oder nicht, und wenn nicht, ob Sie bewußt versuchen, eher Hochsprache zu verwenden und Mundartliches möglichst zu vermeiden? (1) Zu Hause: mit den Eltern, Geschwistern, Kindern (2 ) Am Arbeitsplatz: mit Kollegen, Vorgesetzten, Angestellten, Kunden (3) In der Sprechstunde: mit Lehrern; mit Ihrem Arzt (4) In Geschäften, Gaststätten: mit Freunden, Kollegen, Ulrichsbergern, die Sie vom Sehen her kennen, Bedienungspersonal in Ulrichsberg/auswärts (5) Mit Bediensteten einer Behörde in Ulrichsberg/auswärts (6) Mit Ortsfremden: Österreichern; Deutschen. 45) Macht es für Sie einen Unterschied aus, ob Sie mit Bekannten/Kollegen Geschäftliches oder Dienstliches besprechen oder ob Sie mit ihnen über Privates reden oder ob Sie fachlich diskutieren? Unter welchen Bedingungen sprechen Sie überwiegend Mundart, wann überwiegend Hochsprache, wann trifft keins von beiden zu? 46) Kennen Sie Ulrichsberger, die es überhaupt möglichst vermeiden, Mundart zu sprechen? Wie stehen Sie dazu? Was halten Sie davon? Bei wem würden Sie das akzeptieren, bei wem nicht? 47) Wie reagieren Sie auf mundartliche Sprechweise in Rundfunk und Fernsehen, z. B. bei Diskussionen und/oder bei Interviews? 48) Wenn Sie veranlaßt sind, Hochdeutsch oder nach der Schrift zu reden bzw. eine mundartliche Sprechweise zu vermeiden, wie fühlen Sie sich dabei? Ist es Ihnen unangenehm? Fühlen sie sich unsicher dabei? Oder macht es Ihnen nichts aus? 49) War dieses Interview für Sie eine Situation, in der Sie sich veranlaßt sahen, mundartliche Sprechweise zu vermeiden? Haben Sie in diesem Gespräch Ihre Sprechweise kontrolliert?
7.
Literatur (in Auswahl)
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396
III. Theorien in der Anwendung und Theorieansätze in der Erprobung: exemplarische Dialektbeschreibungen
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Andreas Weiss, Salzburg
397
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie 1. 2.
3. 4.
5. 6. 7.
1.
Einleitung. Abgrenzung der Begriffe ‘Erkenntnisinteresse’ und ‘Zielorientierung’ Verbesserung der deutschen Einheitssprache und ihres Gebrauchs durch Kenntnis und Studium der Mundarten Dialektforschung, Ethnologie, Etymologie bis zum Anfang des 19. Jhs. Dialektforschung im Spannungsfeld von Naturgeschichte, Stammesphysiognomie, sprachhistorischer Prinzipienlehre und sprachgeographischer Landesgeschichte bis zur Mitte des 20. Jhs. Sprache, Volk, Gruppe als Erkenntnisinteresse der Dialektforschung Der strukturelle Ansatz Literatur (in Auswahl)
Einleitung. Abgrenzung der Begriffe ‘Erkenntnisinteresse’ und ‘Zielorientierung’
1.1. Die Anlage von Sammlungen mit Dialektproben; die Veröffentlichung von dialektaler oder sonstiger ‘volksmäßiger’ Literatur; die Zusammenstellung landschaftlicher Idiotika; das massenhafte Erscheinen lautgrammatischer Darstellungen; die Berücksichtigung von Dialekten beim Schreiben von Sprachgeschichte; die Erarbeitung von Sprachkarten und Sprachatlanten und ihre Interpretation im Hinblick auf Sprachbewegung, Sprachgeschichte und Landesgeschichte; das Verfassen von Abhandlungen über Seele, Geist, Charakter und Sprache des ‘Volkes’ und ihren inneren Zusammenhang; die Erörterung kommunikativer Schwierigkeiten und Behinderungen von Dialektsprechern oder bestimmter sozialer Gruppen — dies sind Ergebnisse der Arbeit von Gelehrten, Liebhabern und Schriftstellern aus den letzten Jahrhunderten. Sie begründen die Dialektologie (vgl. auch Art. 1). 1.2. Die Hypothesen Erfahrung
und
wissenschaftliche
Teileinsicht
lassen die Annahme zu, daß, wie allgemein die Forschung, auch die Hinwendung zu den Dialekten nicht aus natürlichem ungerichteten Erkenntnisdrang eingeleitet wurde, sondern daß sie angestoßen, in Gang gehalten und strukturiert wird durch geschichtlich und sozial fundierte Erkenntnisinteressen. Weiter kann man annehmen, daß die Erkenntnisinteressen die Ziele und den Gesichtswinkel beeinflussen, unter dem dies geschieht, und daß sie die Wahl des als erforschungswürdig angesehenen Materialausschnittes steuern. Die Hypothese ist damit weiter, daß Erkenntnisinteressen die Zielorientierungen hinsichtlich der Dialekte als Forschungsobjekte bewirken. Zumindest bestimmte Theorieansätze (Idealismus vs. Positivismus) und methodische Zugänge (z. B. Hermeneutik vs. kritischer Rationalismus) sind ebenfalls eng an geschichtliche Interessenlagen gekoppelt, auch wenn seit dem 19. Jh. zunehmend eine ‘autonome’ Wissenschaftsentwicklung sichtbar wird, deren Verankerung in den gesellschaftlichen Prozessen komplizierter ist. Wissenschaftliche Zielorientierungen können als Folge heute im Rahmen einer teilautonomen Wissenschaftsentwicklung mehr und mehr auch latente gesellschaftliche Bedürfnisse und Interessenlagen aufdecken bzw. schaffen (z. B. die Einführung der Sprachbarrierenproblematik in die deutsche Dialektologie; vgl. Art. 90 u. 92). 1.3. Die Fragestellungen Die Fragen des vorliegenden Artikels sind dementsprechend: (1) Was interessiert wann an den Dialekten und warum ist dies so (Erkenntnisinteresse)?. Wann und warum wird z. B. gefragt nach ihrem Alter und ihrer Reinheit; ihrer Aussagekraft über Denken und Fühlen von Stamm oder Volk; ihrer Bedeutung für die historische Landesforschung; ihrer die Kommunikation, die Erkenntnisfähigkeit und/oder den sozialen Aufstieg hemmenden Funktion? — (2) In
398
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
welcher Weise werden die Erkenntnisinteressen in konkrete Darstellungen umgesetzt? Z. B. durch die Herausgabe von Idiotika, von historischen Ortsgrammatiken, von sprachgeographischen Werken, durch Mundart und Gemeinsprache kontrastierende Abhandlungen usw. (Zielorientierung) 1.4. Die Darstellungsweise Die Fragestellung bedingt es, daß eine systematisierende und problematisierende Darstellung vorrangig die Gliederung des Artikels bestimmen muß, ohne daß dabei allerdings der Gang der Geschichte gänzlich zugunsten einer rein phänomenologischen Betrachtungsweise vernachlässigt wird. Die Systematik der Dialektologie wäre dabei die Ordnung der bisher geschichtlich hervorgebrachten Fragestellungen und Ergebnisse in materialmäßiger, theoretischer und methodischer Hinsicht. Das System der Dialektologie ist insofern weder ‘objektiv’ noch ‘abgeschlossen’, sondern geschichtlich und damit offen für die Zukunft. Neue Impulse können es erweitern (z. B. im Hinblick auf mundartliche Dialogführung). Es wird auch nicht in jedem geschichtlichen Zeitraum in allen seinen dann vorhandenen Teilbereichen gleichmäßig realisiert. Wird eine alte Fragestellung neu aufgegriffen, so geschieht dies im Kontext einer neuen Zeit. 1.5. Methodische Schwierigkeiten Besondere methodische Schwierigkeiten liegen in dem schwer überschaubaren Zusammenwirken allgemeiner zeitund forschungsgeschichtlicher Tendenzen (‘die Sprachauffassung der Romantik’) mit ihren je spezifischen Ausformungen, welche einzelne prägende Persönlichkeiten (z. B. Grimm, Humboldt) setzen (vgl. Rothacker 1930 , 79 ff.). Sie können damit ihrerseits Trends bewirken oder lenken. Phänomenologisch-generalisierende und historisch-individuelle Betrachtungsweisen geraten z. B. in einen unaufhebbaren Widerspruch, wenn das in der Geschichte der Dialektologie immer wieder auftretende Interesse am Zusammenhang zwischen Volkscharakter und Volkssprache betrachtet wird, dessen gemeinsame Merkmale von vielen individuellen Faktoren und Personen überformt werden. In diesem Zusammenhang müssen auch immer die korrespondierenden und intervenierenden Interessen des Publikums in Rechnung gestellt werden, über die man wenig Genaues weiß. — Zu bedenken ist fer-
ner, wie man Vorläufer gegenüber Trends bewertet. 1.6. Quellen Für die Fragestellung dieses Artikels gibt es zwei ganz verschiedene Quellenbereiche: (1) die theoretische Literatur, besonders die Sprachtheorie und Sprachphilosophie und (2) die empirische Sprach- und Dialektforschung selbst. Sprachphilosophie und Sprachtheorie können auf den Platz hin befragt werden, den die Dialekte im Gefüge der Sprache einnehmen: dabei ist auch aus ihrer Aussparung oft eine Aussage zu gewinnen. Der Vorteil dieser Quellengattung ist, daß wir explizit theoretische (und methodische) Aussagen zur Sprache und ihren Gliederungen, zu ihrem Ursprung, zu ihren Zwecken sowie zu wünschenswerten Veränderungen erhalten. Wir sehen auch die zugrundegelegten Forschungsmethoden und finden das Ganze gewöhnlich in größere Zusammenhänge eingeordnet. — Die empirische dialektologische Literatur ist in dieser Hinsicht weniger aussagebereit, dies gilt besonders seit der 2. Hälfte des 19. Jhs., und das um so weniger, je professioneller sie ist. Diese Literatur wird jedoch auswertbar dadurch, daß die Forschungsgegenstände, auf die sie sich richtet (z. B. Laut- und Formenlehre, Wortschatz und Wörterbücher, Sprachgeographie), bzw. die Forschungsdimensionen, denen sie sich zuwendet, z. B. Zeit (historische Grammatik, Sprachgeschichte), Raum (Sprachgeographie), soziale Gruppe (sprachliche Volksforschung u. ä.), in denen die Zielorientierungen festgelegt sind, als Indikatoren für die dahinterstehenden erkenntnisleitenden Forschungsinteressen benutzt werden, die mit den theoretischen Aussagen in Verbindung gebracht werden können. Ferner haben auch die von der Dialektforschung oft unbewußt benutzten und deshalb implizit bleibenden Forschungsmethoden (und auch kanonisch gewordene Theorien) Index-Charakter für unsere Fragestellung. Es ist ganz üblich, daß die Autoren mehrere Gründe angeben, warum sie sich für Mundarten interessieren, bzw. warum man sich für Mundarten interessieren sollte. Es muß in dieser Darstellung daher versucht werden, diesbezüglich eine Gewichtung zu finden. — In vollem Maße gilt hier auch, daß die „[...] begrifflich vor allem aber
formulierten Ergebnisse [...] programmatische Formulierungen
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
und Selbstinterpretationen [...] einer neuen höheren historischen Instanz [unterstehen], welche prüft, inwieweit sie den schöpferischen Tendenzen, denen sie dienen, überhaupt genügen, was sie eigentlich besagen, ob sie die wirkliche Leistung und das wirkliche Sein ihres Gestalters zum Ausdruck bringen“ (Rothacker 1930, 77).
1.7. Onomasiologischer und semasiologischer Dialektbegriff Es ist bei unserer Themenstellung nicht sinnvoll, ausschließlich einen onomasiologischen oder einen semasiologischen Dialektbegriff zugrundezulegen. Auch wenn der Blick vorrangig auf die regionalen Varianten des Deutschen und ihre Erforschung gerichtet bleibt (onomasiologischer Dialektbegriff), so gehört es doch auch zur Erschließung des Problemfeldes, zu beobachten, wie Dialektbegriff und Dialektterminus zu verschiedenen Zeiten erweitert und umgeformt wurden (vgl. dazu auch Art. 1 u. 22). Dies bedingt die Einbeziehung auch semasiologischer Betrachtungen. 1.8. Forschungslage Die vorliegende Darstellung ist soweit als möglich auf Quellen gegründet. Kurze Darstellungen der Dialektologie nach Problemfeldern geben Löffler (1974) und Hard (1966). Vgl. ferner Steger (1978), Gerhardt (1947), Bach (1950 ), Wrede (1919). Ansonsten wird auch hier aus dem reichen Material Socins (1888) bis ca. 1870 geschöpft, wobei allerdings den Interpretationen oft nicht gefolgt werden konnte.
2.
Verbesserung der deutschen Einheitssprache und ihres Gebrauchs durch Kenntnis und Studium der Mundarten
2.1. Der Ansatz für die Beschäftigung mit Dialekten Maßgebende Kreise des Humanismus und der Barockzeit hatten die Mundarten in ihr Gegensatzpaar Kultur — Unkultur auf der negativ, als ‘niedrig’ bewerteten Seite der Unkultur eingeordnet. So richtet sich ihr Interesse auch wesentlich darauf, eine einheitliche, überlandschaftliche deutsche Kultur(= Hoch-)sprache, und das bedeutete auch Schriftsprache, auszubilden. Deshalb verfolgte ein wesentlicher Forschungszweig der damaligen Sprachwissenschaft vorrangig das
399
Ziel, normierende Grammatiken und Wörterbücher dieser deutschen Einheitssprache zu erarbeiten. Die schon länger andauernde Ersetzung des Lateinischen als öffentlicher (Kultur-) Sprache durch das Deutsche ist dabei als Hintergrund zu denken. Es ist anzumerken, daß Luther sich zwar an den Dialekten orientiert hatte und auch ein gewisses deskriptives Verhältnis zu ihnen zeigte (vgl. Hankamer 1927, 43; 51 ff.; 69), so daß er hier in deutlichem Gegensatz zu anderen stand. Aber auch er stellte sich „einem weiteren Eindringen der Mundart in die Schriftsprache mit bewußter Absicht gegenüber“ (Socin 1888, 20 6). Die Dialekte in ihrer vermeintlichen Regellosigkeit, Unlogik, Niedrigkeit, Hilflosigkeit, Verderbtheit, Mißbräuchlichkeit, ja Schädlichkeit — eine Einstellung, „die noch Eckhart [1711] in seiner Historia Studii Etymologici (S. 255 f.) aus Harsdörffer wiedergibt: omnibus dialectis aliquid vitiosi inesse“ (von der Schulenburg 1937, 10 ) — sollte man nach humanistischer Auffassung, die in Barock und Aufklärung weiterwirkt, nur kennen, „damit man das unrecht möge meiden“ (Frangk 1531; vgl. Socin 1888, 254). Immerhin ist damit aber auch ein Ansatzpunkt für die Beschäftigung mit den Dialekten gegeben. Denn Dialekt trat in vielen Landschaften des deutschsprachigen Raumes als Kontrast zur Einheitssprache, besonders zur Sprache der hochangesehenen Lutherbibel auf, ein Kontrast, den man auch ganz sachlich überwinden mußte, ohne die dialektsprechenden Benutzer anzugreifen. Da „nicht yederman verston mag ettliche wörter im yetzt gründtlichen verteutschtē neuwē Testament“ hat so der Verleger Petri 1523 eine hochdeutsch-baseldeutsche Wortliste seinem Bibeldruck beigegeben, die in Straßburger, Nürnberger und Augsburger Drucken nachgeahmt wird (vgl. Socin 1888, 236 ff.). Von vergleichbarer Praxisnähe ist Meichsners Handbüchlein von 1537, das für die Schreiberausbildung Dialekte überhaupt kontrastiert (vgl. Socin 1888, 266 f.). Hier handelt es sich, wie auch in anderen Fällen, um Unterschiede in den Schreibsprachen. 2.2. Die Entwicklung seit der Aufklärung Die Neigung, sich mit Mundarten wissenschaftlich zu beschäftigen, wird teilweise verstärkt, als vor allem in der Aufklärung gegen den Vorrang des Meißnischen (und gegen Gottsched) eingewendet wird, daß auch „in anderen Provinzen viele gute Wörter und
400
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
geschickte Redensarten [erhalten seien,] welche sich in Meißen verloren haben“ (Bodmer 1740 ; vgl. Socin 1888, 379). Auch Schottelius war sich im übrigen im klaren, daß „außer der meißnischen Mundart viele Wörter vorhanden sein, welche etwa bei einer Verfertigung eines Wörterbuches nicht müssen übergangen noch in Beschreibung mancherlei Händel, als Schiffswesens, Bergwerkes, Jagdrechtens ec. werden können gemisset werden. Ja viele Wörter in der hochdeutschen Mundart selbst müssen ihre Ankunft und Erklärung in dem Niedersächsischen suchen, und ist ein Anders, sich allein einer Mundart kündig machen oder sich der Sprache selbst annehmen“ (Schottel 1663; vgl. Socin 1888, 341 ff.).
Der Gedanke, daß man sich mit den Mundarten beschäftigen müsse, um an einer Verbesserung der deutschen Einheitssprache und ihrem Gebrauch mitzuwirken, wird zu einem Leitinteresse, das — oft gebündelt mit weiteren Interessen — die Auseinandersetzung mit den Dialekten in Wissenschaft und Schule begleitet. Leibniz betont schon 1679/168 0 ausdrücklich, eine auch die Dialekte wie die Fachsprachen umfassende „gelehrte Behandlung des Deutschen thue um deswillen Noth, weil ganze Länder voneinander unterschieden [seien] und Kanzleien selbst gegen Kanzleien streiten, als zum Exempel, was für Geschlechtes das Wort ‘Urtheil’ sei“ (vgl. Socin 1888, 344). Daß es dabei regelrechte Fronten gab, zeigt 1777/1778 die Klage des Schwaben J. Nast, dessen ‘Deutscher Sprachforscher’ nicht weiter verlegt wurde, über den „obersächsischen Sprachdespotismus“ und die „Cabale des Leipziger Buchhändlermonopols [...] [,der es] nicht verträglich [war], auch andere Provinzen, besonders das südliche Deutschland, an der Ehre der Vervollkomnung unserer Sprache theilnehmen zu lassen“ (vgl. Socin 1888, 416). Doch die Vorstellung von der Mitwirkung von Dialektstudien an der Verbesserung der Einheitssprache setzt sich durch. 1816 begründet die Königliche Akademie der Wissenschaften in München ihren Auftrag an Schmeller, ein Bayerisches Wörterbuch zu schaffen, damit, die Kenntnis der verschiedenen Mundarten sei „zur richtigen und vollständigen Kenntniß der allgemeindeutschen Sprache unumgänglich nothwendig“ (Schmeller 1816, 82). Schmeller nimmt dies ausdrücklich auf und leitet aus dem Alter und der Gesetzmäßigkeit der Dialekte die Zielorientierung ab, „daß [...] eine geschichtlich begründete Grammatik, so wie
ein vollständiges Wörterbuch der deutschen Büchersprache erst aus der Beobachtung der einzelnen Mundarten hervorgehen kann“ (Schmeller 1816, 83). Die Darstellung regionaler (und oft daran gebundener gruppensprachlicher) Verhältnisse wird dementsprechend zu einer Zielorientierung von Wörterbüchern, Textsammlungen, Mundart und Standardsprache kontrastierenden Grammatiken und anderen Arbeiten. Theoretiker und Praktiker stimmen hier überein. Die seit der Spätaufklärung und der Romantik vorhandene positive Einschätzung der Mundart fördert diese Entwicklung (vgl. 4.). 2.3. Zurückweisung von Gegenströmungen im 19. Jh. Klaus Groth und andere Autoren nach der Mitte des 19. Jh. sahen in der Erneuerung der Mundartliteratur und der Stärkung der Mundarten überhaupt eine Konkurrenzmöglichkeit zur Einheitssprache (wobei teilweise ein alter Widerstand des niederdeutschen Raumes gegen das Hochdeutsche artikuliert wird) (Groth 1858 und 1873). Dies wird von einer ganzen Reihe maßgebender Sprachforscher (und Pädagogen) als zu weit gehend zurückgewiesen. „Es ist wahr: die Schriftsprache genügt Anforderungen der Cultur und alles höheren geistigen Lebens, welche wir an den in dieser Beziehung ohne Uebung und Durchbildung gebliebenen Volksdialekt nimmermehr stellen dürften.“ (Osthoff 1883, 28).
Dabei kommt in der Zeit, da Deutschland ohne Einheit ist, auch der Nationalgedanke deutlich zum Ausdruck (vgl. 4.). Wer Dialekte zu regionalen Schriftsprachen erheben wolle, „der versündigt sich gegen die deutsche Nation, in dem er das einzige sie umschlingende Band zu zerreißen trachtet“ (Schleicher 1874, 112). Den Anteil der „hochdeutschen Gesammtsprache“ am „geistigen Gesammtleben der Nation“ betont auch Karl Ludwig Heyse (vgl. Socin 1888, 473). Dagegen besteht mit Groth in der 2. Hälfte des 19. Jhs. bei den Sprachwissenschaftlern Übereinstimmung, „an welche Quelle sich der Schrifthochdeutsche zu wenden hat, dem es um den Besitz eines über das Niveau der schalen Gewöhnlichkeit und Alltäglichkeit sich erhebenden Stils zu thun ist: [...] Es sind die Mundarten“ (Osthoff 1883, 31 f.) (vgl. Groth 1858, 96 ff. und Groth 1873, 227 ff.). Bei den Halbgebildeten dagegen gebe es noch weiterhin eine Verachtung der
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
Mundart, „und gleichzeitig macht die Sprachwissenschaft vollen Ernst mit dem eindringlichen Studium der Dialekte, wie die Wissenschaft überhaupt mit der Erforschung aller Seiten und unmittelbaren Lebensäußerungen des Volksgeistes“ (Osthoff 1883, 32). Wessen Leitinteresse an der Mundartforschung im 20 . Jh. durch den Gedanken bedingt ist, Mundart sei „Bindeglied zwischen Volk und Boden“, der treibt die Mundartforschung voran, weil der Dialekt „der Mutterboden unseres Hochdeutschen, die frische Erde [ist], aus der diese künstlich gezogene Pflanze immer neue Verjüngungskräfte zieht“ (Hübner 1925, 8). 2.4. Dialekt und Schule Das Verhältnis von Schriftsprache und Mundarten spielt besonders in der Schule eine Rolle und beeinflußt Forschungsinteressen und Zielorientierungen. Die Quellen zeigen, daß dieses Problem von Anfang an gesehen und zu lösen versucht wird. 2.4.1. So taucht schon bei Schmeller als für die Schule wichtige Zielorientierung auf: das Bayerische Wörterbuch könne und müsse so angelegt werden, daß „die zahlreichste Klasse der Lesenden von ihrer angebornen Mundart aus, zu gründlicherer Kenntniß des allgemeinen, d. h. des schrift = deutschen Sprachgebrauches“ geführt wird (Schmeller 1816, 84). Das ist zwar sicher nicht erreicht worden, aber an der Ernsthaftigkeit von Schmellers pädagogischen Absichten ist angesichts von dessen eigener Lebensgeschichte, seinen Beziehungen zu Pestalozzi sowie insbesondere weiterer sprachdidaktischer Versuche (Schmeller 180 3) nicht zu zweifeln (vgl. Brunner 1971). 2.4.2. Einen gegenüber Schmeller vollständig entgegengesetzten Standpunkt nimmt zur gleichen Zeit Jacob Grimm ein: für ihn ist ein Muttersprachenunterricht in der Standardsprache unsinnig und schädlich, weil „dadurch gerade die freie Entfaltung des Sprachvermögens in den Kindern gestört und eine herrliche Anstalt der Natur, welche uns die Rede mit der Muttermilch eingibt und sie in dem Befang des elterlichen Hauses zu Macht kommen lassen will, verkannt“ werde (Grimm 1819, IX). Das ist in Zusammenhang mit Grimms Auffassung vom Gang der Sprachentwicklung (vgl. dazu 4.) zu sehen, welche den alten (Schrift-)Dialekten besonderen Wert zugesteht und die rationalistisch überformte Einheitssprache als ein Verfallsprodukt ansah, das es durch
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Anknüpfung an die alten Dialekte zu überwinden galt. Für ihn gibt es „keine Grammatik der einheimischen Sprache für Schulen und Hausbedarf“ (Grimm 1819, XI). Im Rahmen der für ihn allein möglichen wissenschaftlichen Grammatik müßten „überhaupt die mundarten um ihrer selbst willen untersucht, nicht als ergänzungsmittel der gebildeten sprache betrachtet werden“ (Grimm 1822, XV). 2.4.3. Die Diskussion weitet sich bei von Raumer (1870 ) — ebenfalls einem Vertreter der historisch vergleichenden, d. h. auch kontrastierenden Methode — zu einer entschiedenen Kritik J. Grimms, der dem Grundirrtum unterliege, allein das Naturwüchsige an der Sprache anzuerkennen und alles Reflektierte zu mißachten. Hätte er die Mundarten gründlich studiert, hätte er bemerken müssen, daß die Gemein-/Schriftsprache nicht wie eine Mundart behandelt werden dürfe, wie er es tut, wenn er einen Unterricht in der deutschen Sprache verwerfe. Er hätte also das Wesen der deutschen Schriftsprache besser verstanden. Auf die Gemeinsprache habe die Schrift und die Reflexion so stark eingewirkt, daß sie kein reines Naturprodukt mehr sei. Und deshalb spiele Grammatik und Schule eine wichtige Rolle beim Erlernen des fehlerfreien schriftlichen und mündlichen Gebrauchs der Gemeinsprache (vgl. von Raumer 1870, 654 ff.). 2.4.4. Der Volksschulunterricht soll dabei von der Mundart ausgehen (von Raumer 1852, 116), und überhaupt komme den Mundarten eine wichtige Rolle zu. Außerordentlich wirksam ist in diesem Zusammenhang bis weit in das 20 . Jh. hinein besonders Rudolf Hildebrands Schrift ‘Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule’ (1867) gewesen, die bis 1959 26 Auflagen erreichte. 1878 erscheint in Bern Wintelers in die gleiche Richtung weisende Schrift ‘Über die Begründung des deutschen Sprachunterrichts auf die Mundart des Schülers’. Das Gemeinsame zwischen Schriftsprache und Mundart sei ebenso zu behandeln wie die Differenz zwischen Mundart und Schriftsprache (vgl. Winteler 1878). Vgl. auch schon Mörikofer (1838)! Vgl. ferner Kahl (1893) und Menges (1893): diese kontrastierenden Darstellungen von Hochsprache und elsässischer Mundart bieten echte Vorläufer der heutigen kontrastiven Studien. Vgl. ferner Ghibu (1910 ), Stoecker (1913), Hübner (1925), Müller (1926), Rodiek (1933), Christmann (1938), Sowinski (1967), Essen (1968) und die Lite-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
ratur bei Sonderegger (1962, 294 ff.) und Besch/Löffler/Reich (1976 ff., Anm. 2). Kennzeichnend ist, daß sich bei Sprachwissenschaftlern jeweils herrschende linguistische Fragestellungen, Theorien und Auffassungen wie auch Methoden mit den Zielorientierungen der Schule zu verbinden trachten, während die Pädagogen teilweise durchaus schon genuin sozialpädagogische Erkenntnisinteressen haben, allerdings ohne daß es dafür zur Ausbildung geeigneter wissenschaftlicher Instrumente kommt (z. B. Klatt 1930). 2.4.5. Seit ca. 1970 stellt sich in Deutschland die Lage insofern anders dar, als zwar weiterhin die Vermittlung der Einheitssprache durch die Schule und im Anschluß an die Mundart vorrangiges Ziel bleibt, jedoch nun primär pädagogische und/oder auf Gesellschaftsveränderung (‘Chancengleichheit’) gerichtete Interessen wesentlich an der Ausbildung der wissenschaftlichen Sprachbarrierenforschung (‘Defizithypothese’ — ‘Differenzhypothese’) als Zweig der Soziolinguistik und der Kontrastierung von Mundart und Hochsprache als Zweig der kontrastiven Linguistik beteiligt sind (vgl. unten 5.6.; 5.7. u. Art. 90 ). Vgl. dazu Dittmar (1973), Neuland (1978), Ammon/Knoop/ Radtke (1978, Literatur 377 ff.), Besch/Löffler/Reich (1976 ff.). Man wird allerdings (1980 ) fragen, ob hier schon dauerhafte, praktikable Lösungen gefunden wurden.
3.
Dialektforschung, Ethnologie, Etymologie bis zum Anfang des 19. Jhs.
Für die Wortführer des Forschungszweiges einer normierenden Sprachwissenschaft (Schottelius, Gottsched, Adelung u. a.) blieb die „Verwerflichkeit provincialer Wörter und Formen“ (Adelung 1789, 10 0 ) aus vielen Gründen unbezweifelbar (vgl. dazu 2.). 3.1. Demgegenüber stellen sich Interessenlage und Zielorientierungen hinsichtlich der Dialekte im Bereich der gleichzeitigen und oft miteinander verbundenen ethnologischen, anthropologischen und etymologischen Studien, welche die Sprache als Quelle einbezogen, grundsätzlich anders dar. Ein frühes Beispiel ist Lazius’, ‘De gentium aliquot migrationibus, sedibus fixis, reliquiis linguarumque initiis et immutationibus ac dialectis’ von 1557: Im völkerkundlichen Kontext wird anhand der Gegenüberstellung
von österreichisch-bairischen Mundartbeispielen und schwäbisch-schweizerischen Beispielen versucht, die Sonderstellung der Österreicher herauszuarbeiten. Als Ursache für Mundartmischung/-schwund wird der wachsende Verkehr und die Zuwanderung von Schwaben und Franken in die österreichischen Städte und besonders nach Wien erklärt (vgl. Socin 1888, 267 ff.). — Von Prasch (1689) wird hervorgehoben, daß die deutsche Sprache zwar „bey allen Teutschen Völckern einerley im Grunde, in dialectis aber ungleich“ sei, deshalb habe auch jeder Stamm einen dem Nachbarn unbekannten eigenen Wortschatz (vgl. Brunner 1971, 29). Und so sei es zur Herstellung (besserer) etymologischer Wörterbücher notwendig, daß jeder Stamm, „ein glossarium, oder lexicon seiner Wörter herausgebe. Ich meines wenigen Ortes habe das Glossarium Bavaricum übernommen“ (Prasch 1689; vgl. Brunner 1971, 29). Vgl. auch Eckart 1711 (oben 2.1.). Mit Prasch kann man den Anfang der Dialektforschung erkennen. Wichtig ist, daß sich hier als Zielorientierung die gleichberechtigte Heranziehung aller Sprachen und Dialekte und die sprachvergleichende Methode ankündigen, welche der Etymologie auf die Dauer (und in Verbindung mit der durch sie ermöglichten Entdeckung sprachlicher Regularitäten) eine völlige Neugestaltung brachte. — Weitgespannter, aber nicht grundsätzlich anders, sind die Interessen seines Zeitgenossen Leibniz (1646—1716), wenn er zur Sammlung der ‘Landworte des gemeinen Mannes’ auffordert. Etymologisches Interesse (ebenfalls methodisch auf sprachvergleichender Basis) verbindet sich mit völkerkundlichem („die Sprachen [...] zeigen am besten den Ursprung der Verwandtschaften und Wanderungen der Völker„) (vgl. Arens 1969, 10 1) und mit dem Willen, über die Mundarten Geschichte und Sprache besser zu verstehen (vgl. von der Schulenburg 1937). Gründlichere Kenntnis führe auch hier zu besserem Gebrauch der Sprache (vgl. oben 2.). Es sei, wie „in der Mannigfaltigkeit der Sprachen überhaupt auch in der Vielgestaltigkeit der Mundarten ein selbständiger Wert zu sehen“ (Brunner 1971, 30). 3.2. Leibniz’ Gedankengut wirkte wie so vieles in der Aufklärung fort. Erst seit dieses Zeitalter neubewertet wird, und seit das allgemeine aufklärerische Streben nach Freiheit und Erkenntnis als dialektisches Miteinander und Nebeneinander von Rationalismus und Empfindsamkeit, von Kollektiv-
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
Normiertem und Individuell-Besonderem, von Kultur und Natur verstanden wird (vgl. Pütz 1978, bes. 10 6 ff.), kann auch die unübersehbare und massenhafte Zuwendung zur Dialektforschung mit der Zielorientierung der Erarbeitung von Idiotika (und einigen Grammatiken) in der 2. Hälfte des 18. Jhs. eingeordnet werden und erhält ihren selbständigen Platz neben der normierenden endgültigen Ausformung der deutschen Einheitssprache. Aufklärerisches Vokabular füllt dementsprechend die Programme dieser Arbeiten aus: „Geschichtlich a u f k l ä r e n d und e rl ä u t e r n d wirken und urkundliches Ve rst ä n d n i s ve r m i t t e l n“ (Brunner 1971, 33) sollte Richeys ‘Idioticon Hamburgense’. Selbst in der „plattesten Mund-Art“ sollte alles erfaßt werden, was „eigen ist, und einer E r k l ä r u n g brauchet, vornehmlich wo man Stam-Wörter findet, die an anderen Orten verlohren worden“ (Richey 1755, XXXII; vgl. Brunner 1971, 33; Sperrungen von H. S.). — Das Idioticon enthält kein altes, nicht mehr gebräuchliches Wortgut und wird damit gegen das Etymologicum abgegrenzt, was Nachahmer findet. Die Mundartgrammatik wird hier strikt ausgeschlossen, aber andere Autoren fordern sie bereits: „Mit jedem idiotischen Wörterbuche sollte eine idiotische Grammatik verbunden werden, worin (1) die Grundsätze der Aussprache, (2) die etymologischen Formen, und (3) die Regeln der Syntaxe vorgetragen würden“ (Schmid 1795; vgl. Brunner 1971, 38). — Das aufklärerische Bestreben, alle Lebensbereiche zu erfassen, zu klären, zu ordnen, wird ebenso bemerkbar, wie das Interesse am Kuriosen und Absonderlichen und am Belehrenden, das Unterhaltung schafft. Unverkennbar ist darüber hinaus die aufklärerische Hinwendung zum ‘allgemeinen Mann’ (Rousseau). — Besonders in der Schweiz erfährt dieser Gedanke eine Weiterentwicklung: Stalder (1819) legt besonderen Wert auf die Ständelosigkeit der Schweizer Mundarten: „So stark sonst in den meisten Ländern deutscher Zunge die Mundart der Gebildeten von der Mundart des Volkes absticht, so waltet doch bei uns, d. h. in den Städten sowohl als in den Dörfern, eine und dieselbe Sprache, nämlich die Volkssprache, so daß zwischen der Sprechart des höchsten Staatsbeamten und geringsten Tagelöhners selten ein merklicher Unterschied verspüret wird“ (Stalder 1819, 9).
Die Neigung, auch den landschaftlichen Sonderheiten in der Sprache und im Volksle-
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ben überhaupt nachzugehen, gehört zum Bild des aufgeklärten Gebildeten (vgl. Dünninger 1957, 121). Auch in Schützes Holsteinischem ‘Idiotikon’ von 180 0 geht es vornehmlich um „die E r l ä u t e r u n g und Au f k l ä r u n g vieler einheimischen Sitten und Gebräuche, wodurch dies Buch sich der M e n s ch e n k u n d e u n t e r h a l t e n d und b e l e h r e n d zugleich empfehlen möchte“ (Schütze 180 0 , III; Sperrungen von H. S.). Um Wielands, wohl unter dem Einfluß von Montesquieu formulierte Feststellung: „Jede Sprache ist der Organisation, der Lage, dem Genie und Character der Nation, von welcher sie gebildet worden ist, angemessen — und das Teutsche trägt die Spuren des allgemeinen Charakters [...] auf sehr merkliche Weise.“ (Wieland 1762, 459)
zu belegen und „um in diesen Charakter so tief als möglich einzugehen (und das müssen sich die merken, die es mir zum Vorwurf machten und zur Frage: wie ich mich doch mit einer so gemeinen Sprache — so gemein machen möge?„) (Schütze 180 0 , XIII f.), untersucht er die mündliche Sprache des einfachen und des gehobenen Volkes. Das Ganze sollte auch als Anleitung dazu dienen, wie man sie reiner sprechen lernen konnte. — Ganz klar kommen diese ethnologischen Interessen noch einmal heraus, wenn Schmeller, den man mindestens in dieser Hinsicht zu den Aufklärern stellen muß, 1816 in seiner Einladung zur Mitarbeit am Bayerischen Wörterbuch durchaus aufklärerisch schreibt, es solle der „Menschen-Beobachter“ „Sitten, Gebräuche und Meynungen unseres Volkes kennenlernen“ (Schmeller 1816, 84). Das antiquarische Interesse tritt insgesamt deutlich zurück gegenüber dem praktischen, das auf die Kommunikation gerichtet ist. Das zeigt z. B. auch der ‘Versuch einer allgemeinen teutschen Idiotikensammlung’ von Fulda 1788, wo nicht mehr gebrauchtes Wortgut ausgeschlossen bleibt: „Ein altes Wort muß gegründeten Anspruch auf das Leben haben“ (Brunner 1971, 35). 3.3. Eine sehr wirksame Facette der Aufklärung stellt in unserem Zusammenhang insbesondere die Neubewertung von Reise und Reise-Erlebnis im 18. Jh. dar, die den Blick für das Regionale stärkt und auch in der Mundartforschung einen Widerhall findet. So legt z. B. Zaupser 1789 außer für den „philosophischen Sprachforscher und Geschichtsschreiber“, der das Alter, den „Grad der Cultur und Politur“ wie auch den Cha-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
rakter eines Volkstammes aus den Provinzialismen ablesen könne, auch für den „niederdeutschen Reisenden“ seinen ‘Versuch eines baierischen und oberpfälzischen Idiotikons’ vor (Zaupser 1789, Vorbericht). Ein besonders charakteristisches Beispiel sowohl für das Erkenntnisinteresse wie auch für die Art seiner Umsetzung ist es, daß F. Nicolai in den 9. Band seiner ‘Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781’ den Entwurf eines schwäbischen Idiotikons durch J. Chr. Schmid (vgl. oben 3.2.), einen Ulmer Professor, aufnimmt. Er liefert zusammenfassend die aufklärerische Begründung der Dialektologie aus der Sicht des Völkerkundlers und Anthropologen: „Man ist allgemein damit einverstanden, die Dialekte der Gegenden und Provinzen, die man bereiset, für einen der Aufmerksamkeit der Reisenden nicht unwürdigen Gegenstand zu halten und Demjenigen zu danken, der seine Bemerkungen darüber mittheilt. Die Kenntniß der provinciellen Dialecte verschafft uns einen großen Vorrath von brauchbaren Wörtern, um Begriffe zu bezeichnen, für die wir in der allgemeinen Sprache keine Benennungen haben [vgl. oben 2.]; sie verhilft uns zu einem philosophischen Blicke in die Bildung der Sprachen und setzt uns in den Stand, den Charakter des Volkes von einer neuen, nicht sehr trügerischen Seite zu betrachten. Den letztern Nutzen gewährt sie in einem weit höheren Grade als die allgemeine Schriftsprache, denn diese wird durch die Cultur nach und nach so glatt, so charakter- und so gepräglos, daß sie wie alte gangbare Scheidemünze und allzu gesellschaftliche Menschen nicht nur ihre Rauhheit, sondern mit derselben auch ihre unterschiedliche Eigenart verliert, da hingegen die besonderen Mundarten zwar diesem Schicksal der Politur nicht gänzlich entzogen, aber doch nicht so sehr ausgesetzt sind als die Sprache, deren man sich in Schriften und in seinem Umgange bedient. Eben dadurch aber geben sie ein sicheres Kennzeichen von dem Geiste und Charakter des Volkes ab, welches sich ihrer in seinem Umgange bedient“ (Socin 1888, 441).
3.4. Die Internationalität der Problemstellung ist hervorzuheben mit dem Hinweis auf Montesquieu (1689—1755), dessen Forderung nach dem Studium des Nationalcharakters auf Bodmer, Wieland u. a. wirkte und auf J. Harris (1788, 329 ff.), sowie durch das Hervortreten von Rousseau (1712— 1778), der davon ausgeht, daß das Naturideal die Liebe zum volkstümlichen Gesang entfache und der deshalb das Studium der einfachen Zustände der älteren Zeiten (nicht die Rückkehr zu ihnen!) fordert, um dadurch
die zeitgenössischen Verhältnisse vor noch Schlimmerem zu bewahren (vgl. Körner 1913, 7). Das neue Gegensatzpaar Natur: Unnatur, mit den Dialekten auf der positiv bewerteten Naturseite, tritt hervor. Das Jahrhundert der Geschichte kündigt sich an.
4.
Dialektforschung im Spannungsfeld von Naturgeschichte, Stammesphysiognomie, sprachhistorischer Prinzipienlehre und sprachgeographischer Landesgeschichte bis zur Mitte des 20. Jhs.
4.1. Romantik und Dialekt Aus den oben unter 3. behandelten Anstößen der Spätaufklärung gehen Impulse hervor, welche zur Verstärkung und Bündelung des historischen Interesses in Deutschland beitrugen. Deutscher Nationbegriff und deutsches Nationalbewußtsein entwickelten sich dabei entsprechend den politischen und bewußtseinsmäßigen Verhältnissen am Ende des alten Reiches in Richtung auf den Begriff einer volkhaft-kulturellen vorstaatlichen Nation, der Nationalstaat und Föderalismus als vereinbar erscheinen ließ. So treten seitdem auch deutsche Einheitssprache und deutsche Dialekte nicht mehr als Gegensätze auf, sondern ergänzen sich. Zugute kommt den Dialekten und ihrer Erforschung, daß die Einheitssprache endgültig durchgesetzt ist. So kann Osthoff im Laufe des Jahrhunderts schreiben: „Für unsere Spracheinheit [...] von einer Beibehaltung und Pflege der volksthümlichen Stammsprachen des Vaterlandes hinfüro noch etwelche Gefahr zu befürchten, das wäre doch wohl eine gar eitle und thörichte Furcht“ (Osthoff 1883, 38). Es muß diese Furcht also gegeben haben. Der Übergang von weltliterarischen Ideen des 18. Jhs., etwa in Herders ‘Stimmen der V ö l ke r’ (Sperrung von H. S.) („Ich sammle den Geist jedes Volkes in meiner Seele„) (vgl. Körner 1913, 13), zur romantischen, stärker altdeutsche Studien bevorzugenden Mittelalterrenaissance wird sichtbar, wenn Lessing zuerst das G e r m a n i s ch e (Sperrung von H. S.) an Shakespeare betont (Körner 1913, 7 ff.). Sturm und Drang und Romantik folgen diesem Zug. Dieser Zweig der Entwicklung hat zweierlei Folgen für das Interesse an Dialekten und Dialektforschung: Wort und Begriff der Mundarten werden verstärkt auch auf die älteren
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
Sprachstufen des Germanischen und Deutschen bezogen, denen nun immer mehr das Interesse gilt: Weil die Stauferzeit der ‘schwäbische Zeitpunkt’ ist, wird das Mittelhochdeutsche zum ‘schwäbischen Dialekt’. Die andere Folge besteht im vorrangigen Interesse an der Dichtung in diesem älteren Dialekt. Beide Interessen reichen wieder weit zurück in die Aufklärung. Der sonst dem Regionalen abholde Gottsched hat die Hinwendung zum poetischen Interesse an regionaler altdeutscher Sprache und Literatur eingeleitet (Ausgabe des Reinke de Vos 1752) und die Schweizer folgen ihm mit Proben und Ausgaben „der alten schwäbischen Poesie“ (Körner 1913, 5). Auch Gleim und Hagedorn interessieren sich für die alten Poeten. Daß zunächst Macphersons Ossian, Percys Balladen (und Shakespeares Werke) — eine Trennung von Germanen und Kelten wurde zunächst nicht vorgenommen — gegenüber den Dichtungen im ‘schwäbischen Dialekt’ größeres Interesse fanden, scheint wesentlich mit daran gelegen zu haben, daß „die englische Sprache dem Publikum vertrauter [war] als der sonderbare ‘schwäbische’ Dialekt“ (Körner 1913, 7), so daß eine Übersetzung leichter fiel. Die zweite Romantiker-Generation wird das Gewicht von dem ursprünglich stärker betonten christlichen Gedankengut noch mehr auf die germanisch-volksmäßigen Bestandteile lenken (patriotische Begeisterung der Befreiungskriege!).
Wie die Romantik insgesamt äußert sich das Interesse an den (alten) Dialekten und altdeutscher Literatur und Thematik in drei Richtungen: (1) Bei den Jenaer und Berliner Romantikern in stärker spekulativer Weise mit deduktiver Verfahrensweise. In den Umkreis dieser Gruppe gehören auch die enorm wirksamen ‘Minnelieder’ Tiecks (sie bringen Jakob Grimm zu altdeutschen Studien) und von der Hagens — er hörte Schlegel in Berlin — neudeutsche Ausgabe des Nibelungenliedes (1807). (2) Bei den Heidelberger Romantikern äußern sich diese Interessen mehr in poetischer Weise: Arnims und Brentanos ‘Des Knaben Wunderhorn’ als rein deutsches Gegenstück von Volkspoesie zu Herders internationaler Sammlung. (3) Mit eigentlich wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, in der teilweisen Berührung und Verflechtung beider Gruppen und in Erweiterung auf Rechtshistorie und Geschichtswissenschaft, entsteht schließlich die historische Schule und die Germanistik (vgl. Stroh 1952, 54). Induktive Verfahren und Quellenstudien werden grundlegend.
405
4.2. Romantische Schule und Germanistik Die literarische Romantik war vorrangig auf eine i n h a l t l i c h e W i e d e r ve r l e b e n d i g u n g der alten Poesie gerichtet und zeigte u. a. in sprachlicher Hinsicht nur sehr begrenzte Erkenntnisinteressen für die alten („verfallende Ruine der altdeutschen Ursprache“: Hebel 180 1) (vgl. Socin 1888, 447) und neuen Dialekte. Aber sie bewertete Hebel (1760 —1826) und Grübel (1736—180 9) positiv. Sie hat die literarischen Sammlungen des 18. Jhs. kaum erweitert und wenig Sprachkenntnisse über die (älteren) Dialekte beigebracht. In ihrer Deutung der Vergangenheit und ihrer Dialekte mischte sich objektive Erkenntnis und subjektive Beziehung, so daß man vom späteren Standpunkt aus von einer halbpoetischen Wissenschaft sprechen wird (vgl. Fiesel 1927 und Fauteck 1940 ). So wird hier die scharfe Trennlinie zwischen der romantischen Schule und der Germanistik sichtbar. „Grimms Philologentugend, seine Andacht zum Unbedeutenden“ erschien den literarischen Autoren „als Pedanterie, als ein Wichtignehmen von Kleinigkeiten“ (Körner 1913, 26), während für Grimm umgekehrt die Behandlung der alten Texte durch die Romantiker zu diesem Zeitpunkt „ein Irrtum und für das Studium der Poesie ein Ärger“ war (Brief vom 10 . 0 9. 180 9; vgl. Körner 1913, 25). „Spekulation und Romantik sanken gemeinsam in s Grab“ (Rothacker 1930 , 128). Die wissenschaftliche Betrachtungsweise setzte sich (in Verbindung mit anderen, der literarischen Romantik abträglichen Kräften) durch. Die unter anthropologischem Erkenntnisinteresse der Aufklärung vorbereitete sprachvergleichende Methode ermöglichte Bopp und Grimm die Entdeckung der Lautgesetze der indogermanischen Sprachen. Die Aufdeckung von regelhaften Entwicklungen im sprachlichen Symbolsystem veränderte die gesamte Sprachwissenschaft so nachhaltig, daß viele meinen, sie entstehe in diesem Augenblick erst eigentlich. Die neue Entdekkung trifft mit dem gesteigerten historischen Interesse und der Zuwendung zum Mittelalter zusammen, das alle historischen Disziplinen erfaßt. Gleichzeitig legt der Nachweis von Lautgesetzen aber auch die Grundlagen dafür, daß sich die Sprachwissenschaft von den anderen historischen Wissenschaften, insbesondere der allgemeinen Geschichte, absondert, da dort solche Gesetzmäßigkeiten nicht auftreten. Eine ‘interne’ Betrachtung der sprachlichen Entwicklungen (und Syste-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
me) wird auf Dauer als Erkenntnisinteresse und Zielorientierung, auch völlig losgelöst von der übrigen Geschichte, möglich. Und eine auf eine Gesamtschau der germanischen Sprachund Kulturgeschichte gerichtete Forschung, wie die Grimms, kann, zerstükkelt, später als eine solche isolierte linguistische Betrachtung mißverstanden werden. 4.3. Jakob Grimm Grimms Studium der (älteren) Quellen führt ihn zu mehreren nicht ganz widerspruchsfreien Hypothesen, die sein Erkenntnisinteresse an den alten und heutigen Dialekten kennzeichnen. (1) Die Sprache wächst organisch „langsam, aber unaufhaltbar“ (Grimm 1819, XXXI) wie die Natur und nach einem natürlichen Ökonomieprinzip. Sprachnormierende Eingriffe können die Sprache weder verändern noch fördern (vgl. Grimm 1819, XXXI ff.). — (2) Am Anfang des Deutschen (= Germanischen) stand die Einheit (Sperrung von H. S.) von Sprache, Kultur und Geschichte, die wiederhergestellt werden sollte (Stroh 1952, 86). Auch alle Dialekte sind aus dieser Einheit entsprossen. (3) Die Sprache bildet die Grundlage der Einheit der Nation, anders Redende sollen nicht erobert werden. „Aber auch die i n n e r e n glieder eines volks müssen nach dialect und mundart zusammentreten“ (Grimm 1848, IV). — (4) Der älteste — vorgotische — germanische Dialekt war der reinste, er steht „dem himmlischen Ursprung näher“ (Grimm 1819, XXVIII) und ist darum großartiger. Später ist die Sprache „nach dem unaufhaltbaren laufe aller dinge, in lautverhältnissen und formen gesunken“ (Grimm 1822, XI). Das Beweismittel hierfür ist der ‘Verfall’ der Substantivflexion vom ‘reichen’ Gotischen zum ‘armen’ Neuhochdeutschen. Der fortschreitende Untergang sei geradezu berechenbar (vgl. dazu unten 4.3.) (vgl. Grimm 1819, 18). — (5) In älterer Zeit hatten die verschiedenen Stämme jeweils nebeneinander als sozial gleichwertig betrachtete, alle Teile der Bevölkerung umfassende Mundarten. Durch Macht und bildungsmäßiges Übergewicht eines Stammes breitet sich dessen Mundart über (dann abhängige) Nachbarstämme aus und wird von dem gebildeten Teil der Bevölkerung („deren edlem theile„) angenommen (Grimm 1822, XII). Die einheimische Volksmundart sinkt sozial ab zu den Nichtgebildeten („volkshaufen“; „ungebildeten theile des stammes„) (Grimm 1822,
XII). Durch wachsende Ausdehnung nimmt die siegreiche Mundart vom unterlegenen Teil Eigenheiten an und entfremdet sich damit der Volksmundart des eigenen (Ausgangs-)stammes. Gebildete Sprache wird mit Schriftsprache gleichgesetzt. Flexion und Endungen seien zarter als die Wurzeln, weshalb die Volksmundarten mehr Wurzeln festhielten. — (6) Die Schriftsprache der Dichter und Schriftsteller ist edler als die mündlichen Volksmundarten (vgl. Grimm 1822, XII). Die „durch niederschlagung der dialecte gegründete herschaft größerer vaterländischer spracheinheit konnte [...] nur in der dämpfung sinnlicher Bestandtheile [der Volksmundarten] errungen werden“ (Grimm 1840 , 22). (7) Der aus innerem Bedürfnis kommende, unreflektierte und nicht durch rationale Sprachschulung beeinflußte deutsche (Schrift-)Sprachgebrauch ist der reinste, „weil die Bildsamkeit und Verfeinerung der Sprache [...] mit dem Geistesfortschritt [...] sich von selbst einfindet“ (Grimm 1819, X f.). — (8) Daraus folgt: (8.1.) Die Volksmundarten müssen getrennt von der Schriftsprache: „um ihrer selbst willen untersucht, nicht als ergänzungsmittel der gebildeten sprache betrachtet werden“ (Grimm 1822, XV). — (8.2.) Da Schriftsprache und Volksmundarten „einen so verschiedenen Gang nehmen, wird man die jetzige Volkssprache durchaus nicht mit der Schriftsprache der letzten Jahrhunderte einholen und verstehen können, sondern es muß in viel frühere Zeiten zurückgeschritten werden“ (Grimm 1819, XXXIV). — (8.3.) (Grimm 1840 , 25): „Wie mich dünkt, darf die historische grammatik weniger den bunten wirrwarr der mundartlichen lautverhältnisse, als bruchstücke einzelner flexionen, wortbildungen und selbst structuren berücksichtigen, die sich allwärts unter dem volk erhalten haben“. 1848 heißt es aber: Sicherheit, Fülle und Gewicht der Sprachgesetze werden durch die „aufnahme aller mundarten und dialecte in den kreis der untersuchung sich steigern [und weiter verbessert], wenn auch die sprachen der uns benachbarten und urverwandten völker zugezogen werden“ (Grimm 1848, XII). — (8.4.) Zur Dialektgeographie gibt Grimm (gleichzeitig mit Schmeller) Anregungen, wenn es heißt, „daß wir den althochdeutschen und altsächsischen dialecten land anzuweisen fast nicht anders hoffen dürfen, als durch aufspürung ihrer eigenheit in der eingrenzung heutiger volkssprache“ (Grimm 1822, XIV). „Einzelnes zusammentreffen be-
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
weist freilich nicht genug; hat man erst solcher linien mehr gezogen und viele berührungs- oder abstandspuncte gewonnen, so wird sich die sonderung mancher dialecte fast mathematisch nachrechnen laßen“ (Grimm 1822, XV). — (8.5.) Grimm versucht eine Trennung zwischen den Begriffen Dialekt und Mundarten (vgl. Socin 1888, 469 u. Art. 22). Der theoretische Ansatz Grimms, seine Hochschätzung alter Dialekte, der Vorrang der Schriftsprache, die Forderung nach methodisch getrennter Erforschung der Dialekte lassen verstehen, warum Grimm nur wenig selbst auf Volksdialekte eingeht, obgleich er ja im Bereich von Märchen und Sage sehr viel mündliches Material selbst — und in Gemeinschaft mit seinem Bruder Wilhelm — erhoben hat. Stalder (1819) und Schmeller (1821) haben, wenngleich aus ursprünglich anderem Geiste (vgl. 3.), Dialektgrammatiken vorgelegt, die auch unter sprachhistorischem Gesichtspunkt brauchbar schienen, fanden aber zunächst keine ebenbürtigen Nachfolger, die auch Grimms Anregungen hätten angemessen aufnehmen können. Dabei werden die allgemeinen politischen Verhältnisse samt den für viele Vorrang einnehmenden Einheitsbestrebungen, wie der wenig ausgebaute Zustand der Germanistik an den Universitäten und die erst langsam entstehende Phonetik als Basiswissenschaft der Mundartforschung, hemmend wirken. Die Dinge ändern sich in Deutschland durchgreifend erst nach 1871, als wirtschaftlicher Aufschwung, der zum Ausbau der Universitäten und größeren Studentenzahlen führt (viele deutsche Seminare wurden um diese Zeit gegründet!), und die reale Erneuerung der politischen Reichseinheit, im Zusammenwirken mit wissenschaftsinternen Entwicklungen, eine unvoreingenommene Betrachtung der sprachlichdialektalen ‘Zersplitterung’ (insbesondere auch angesichts der durchgesetzten Einheitssprache) ermöglichten. Grimms methodische Anregungen, vergleichende Mundartuntersuchungen getrennt von der Schriftsprache vorzunehmen, auf ältere Vergleichszustände zurückzugehen und sprachgeographisch zu arbeiten, sind in der wissenschaftlichen Dialektologie seit der 2. Hälfte des 19. Jhs. nach und nach Allgemeingut geworden (vgl. auch Schleicher 1874, 11 0 f.). Schon Weinhold verfolgt (1853) insoweit Grimms Anregungen, als er als Ergänzung zu dessen historischer Grammatik historisch vergleichende Grammatiken
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deutscher Mundarten vorlegt. Aber schon er, wie auch die Dialektforscher nach 1871, haben nicht die Verfallstheorie in Zusammenhang mit der Umstrukturierung der Morphologie angenommen (Osthoff 1883, 15). Zur Ausarbeitung die Mundarten systematisch berücksichtigender Gesamtgrammatiken ist es überhaupt nur in Ansätzen gekommen (vgl. Mausser 1933). 4.4. Mundartforschung im Dienste einer historischen Stammesphysiognomik 4.4.1. Weinhold zitiert Grimms genannte Auffassungen („gelehrte Früchte„) (Weinhold 1853, 1 f.), wendet sie jedoch sogleich ins Allgemeine: Die Entstehung der Dialekte soll nicht weiter verfolgt werden. „Natur und Geschichte, die bildenden Mächte der Welt, haben auch sie erzeugt“ (Weinhold 1853, 2). — Weinholds Erkenntnisinteresse und Zielorientierung ist jedoch gegenüber Grimm ganz verändert: für ihn ist als ‘praktischer Zweck der Dialektologie’ wichtig „daß die Mundarten eine Physiognomik (Sperrung von H. S.) der verschiedenen Stämme geben: auß der Behandlung gewißer sprachlicher Vorgänge, auß der Betonung und dem mechanischen Zungenschlage spricht der schwerfällige und kalte wie der rasche und heiße Herzschlag, deßen zu geschweigen was als stoffliche Schöpfung der Geister im Sprachschatze niedergelegt ist“ (Weinhold 1853, 2).
Als Umsetzung dieser Ziele müssen seine Alemannische und seine Bairische Grammatik (1863, 1867) verstanden werden. Das Erkenntnisinteresse bei Weinhold, wie überhaupt bei einem Teil der bedeutenden späteren Forscher, ist also anthropologisch. Theoretisch und methodisch suchen sie ihre Interessen in der Orientierung an den exakten Wissenschaften umzusetzen: Wir gewinnen so Hinweise auf die Zuwendung zur ‘Lautphysiologie’, als exakt begründeter Phonetik (vgl. Art. 2) auf die Stärkung, teilweise Verabsolutierung naturwissenschaftlicher Prinzipien; wie schließlich auf die Ansicht von einer mechanischen Kausalität in der Sprachentwicklung (‘Ausnahmslosigkeit der Sprachgesetze’) usw. Wir erkennen, wie die gemeinsamen methodischen ‘positivistischen’ Instrumente der nachfolgenden wissenschaftlichen junggrammatischen (zum Terminus vgl. Frings 1934, 28; zur Entwicklung der junggrammatischen Schule vgl. Putschke 1969 und Cherubim 1975) Dialektologie entstehen. —
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
4.4.2. 1889 schreibt Kauffmann: „Wenn die Erforschung der Mundarten, als Einzelgebiet der heutigen Vo l k s k u n d e (Sperrung von H. S.), wissenschaftliches Gepräge tragen soll, muß sie dies durch Aufstellung von Gesetzen dokumentieren. Der [physiologisch]-p h o n e t i s c h e H a b i t u s d e r D i a l e k t e (Sperrungen von H. S.) beruht auf dem Mechanismus unserer Sprachwerkzeuge, deren Bewegungsgesetze wir beobachten, allein für das Verständnis einer Sprache ist dies mehr oder weniger untergeordnet. Wir müssen Gesetze finden in der Entwicklung des Ganzen“ (Kauffmann 1889, 417).
Er ist überzeugt, daß die von ihm angestrebte integrierte Dialektdarstellung (exakte phonetische Analyse, grammatikalische Statistik, historische Entwicklung, kartographisch angelegte Verbreitungsskizzen als erklärende Vorarbeit für ein Idiotikon) dazu führt, daß uns durch die Gesamtdarstellung „das Denken, Wollen und Fühlen einer kleineren oder größeren Sprachgemeinschaft erschlossen [wird], die Kulturgeschichte vereinigt sich unlöslich mit der Sprachbetrachtung, die Darstellung der Mundarten wird hier in eigentlichem Sinne zum Charakterbild des Vo l k s s t a m m e s“ (Sperrungen von H. S.) (Kauffmann 1889, 423 f.).
4.4.3. Ein radikales Programm aus einer historisch-anthropologischen Interessenlage — zunächst nur auf die alten Schriftdialekte bezogen, aber allgemein gemeint — stellt Scherers ‘Geschichte der deutschen Sprache’ vor: „Durch physiologische Analyse (Sperrungen von H. S.) und einheitliche Charakteristik bin ich zu einer Erklärung der Lautform unserer Sprache gelangt, welche in das Ganze der menschlichen Persönlichkeit einführte, moralische Motive als wirksam aufzeigte und die unbedingte leidenschaftliche Hingebung an ideale Ziele als das gewaltige Fundament erscheinen liess, das unserer Nation und Sprache den ersten individuellen Bestand verlieh“ (Scherer 1868, IX).
Scherer, der es „endlich müde [war], in der blossen gedankenlosen Anhäufung wohlgesichteten Materials den höchsten Triumph der Forschung zu erblicken“ (Scherer 1868, VIII; 1878, XII), mußte zwar zehn Jahre später einräumen, daß sich seine Auffassung von einer aus der historischen Grammatik gewinnbaren nationalen Ethik „leider nicht bewährt“ (Scherer 1878, XIII) habe, so daß nur wenig von den ihm besonders wichtig erscheinenden Ergebnissen in der Auflage von 1878 stehen bleiben konnte (vgl. Rothacker 1930 , 213 f.). — Dennoch wird insgesamt damit ein Interesse gekennzeichnet, das mit strengsten, bewußt oder
unbewußt am Darwinismus orientierten Hypothesen und Methoden einhergeht (vgl. z. B. Schleicher 1863 und Scherer 1868, 8), und immerhin ist das „Streben, die sprachlichen Tatsachen als historisch begreifliche Prozesse zu erkennen“, der Dialektwissenschaft auch später noch lange erhalten geblieben (Schröder 1890 ; vgl. Frings 1934, 18). — Die auf das Methodische beschränkten Impulse Scherers sind in die Erforschung der lebenden Mundarten eingegangen und haben besonders auf Sievers (1876) gewirkt. — Das historisch-anthropologische 4.4.4. Interesse liegt im allgemeinen den zahlreichen Dialektwörterbüchern zugrunde, welche im 19. Jh. begonnen wurden und die mit den grammatischen Darstellungen zusammen als Einheit gesehen werden müssen. Vgl. dazu Scholz (1933), Mentz (1892), Löffler (1974, Anm. 315 ff.). — 4.4.5. Wir erkennen insgesamt, daß das anthropologische Interesse inhaltlich — entsprechend dem Zeitgeist — verschiedene Richtungen zeigt, neben einem allgemeinen Interesse, wie bei Weinhold, Kauffmann u. a. und in manchen Wörterbüchern, tritt ein national-ethisches, wie bei Scherer, hervor. Das Volk als Träger der Sprache wird bei ihm durch den sprachverändernden einzelnen Helden ersetzt; der Blick geht weiterhin in die Vergangenheit, aber mehr um sie als Kraftquelle für einen Aufbruch in die Zukunft einzuholen. Insgesamt haben Individualpsychologie und Völkerpsychologie ein Spannungsverhältnis erreicht. Idealismus und Realismus (‘Positivismus’, ‘Materialismus’) sind noch nicht ganz abgeklärt. 4.5. Allgemeine sprachhistorische Prinzipienlehre Anders gelagert, aber nicht weniger weitreichend sind die Erkenntnisinteressen anderer Forscher wie Schleicher, Osthoff und H. Paul in Bezug auf die Dialekte. 4.5.1. Die bei Bopp und Grimm schon aufgetretene Anschauung der Sprache als Naturorganismus wird von Schleicher, der von Hegel zu Darwin überwechselte, ganz im naturwissenschaftlichen Sinn interpretiert (‘Stammbaumtheorie’). Die Sprachwissenschaft gehört dementsprechend für ihn in die (kausalgesetzliche) „Naturgeschichte des Menschen“ (vgl. Slotty 1935, 30 ). Und die Lautphysiologie wird zur „Basis aller Grammatik“, was ihn mit den Junggrammatikern vereinigt (vgl. Slotty 1935, 30 f.). Ausdrücke
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
wie „chemische Gesetze“, „Sprachanatomie“, „Lautstoff“ (vgl. Slotty 1935, 31 f.) charakterisieren einen deterministischen Denkansatz, dem allerdings eine gewisse teleologische Grundströmung nicht zu fehlen scheint, wie Ausdrücke vom Typ „Streben“, „schaffender Drang“, „Trieb“ (vgl. Slotty 1935, 33) und manche Parallele mit Humboldt (und später Vossler) (vgl. dazu 5.) belegen: Im Rahmen dieses intentionalen Grundzuges, der auch seine Gedanken zum Verhältnis von Geist, Sprache und Nation beherrscht, sind hervorzuheben seine übergreifenden Überlegungen zur Sprachökonomie („Veränderungen der Laute [beruhen] auf einem Streben nach Bequemlichkeit„) (vgl. Slotty 1935, 34), mit denen er von den Junggrammatikern angegriffen wird. Auch das Analogieprinzip erfährt eine diesbezügliche Interpretation ebenso wie das Streben nach Verständlichkeit, nach Worteinheit, nach Ästhetik (Slotty 1935, 34 f.). 4.5.2. Osthoff und seine Gruppe wollen wissen, „wie menschliche Sprache überhaupt sich entwickelt, welche Gesetze bei der Veränderung der Sprache zu walten pflegen und ihre Geschicke bestimmen“. So wünscht er „den richtigen Begriff von dem allgemeinen We s e n d e r S p r a ch e zu gewinnen“ (Osthoff 1883, 15). Und für diesen Erkenntniszweck muß ihnen „die Schriftsprache, als S p r a ch e betrachtet, unzweifelhaft zurückstehen an Werthe gegenüber der Volksmundart“ (Osthoff 1883, 15). Die Überlegenheit der Mundarten beruht nach der Hypothese Osthoffs auf der “ C o n s e q u e n z d e r L a u t ge st a l t u n g“ (Osthoff 1888, 17). Von ihr hängt „Wesen und Charakter einer Sprache“ (Osthoff 1888, 17) ab, wird ihr Wert bestimmt. In den Dialekten findet man die „Veränderungen des Lautbestandes der Sprache [...] [die] nach unverbrüchlichen und ausnahmslos wirkenden Gesetzen eintreten“ (Osthoff 1883, 17; vgl. auch Schneider 1973): Deutlich tritt uns das Problem der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze und das Prinzip der Beobachtung sprachlicher Einzelentwicklungen auf der Zeitachse entgegen. Innerhalb eines Dialekts sind für ihn die synchronen Lautgestaltungen auch derartig, „daß sie mit vollster Consequenz und Ausnahmslosigkeit durch den ganzen Sprachstoff durchgeführt erscheinen“ (Osthoff 1888, 17): hier wird die Vorstellung einer idealen Systemsymmetrie sichtbar. Ein zweites allgemein-hypothetisches Prinzip, das besonders an den Mundarten nachge-
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wiesen werden soll, ist das der Analogie, das hauptsächlich für die Morphologie gilt. In Verbindung mit einer seit von Raumer (1863) und Brücke (1856) ständig verbesserten Lautphysiologie/Phonetik, für die Sievers (1876), der selbst kein Dogmatiker war (vgl. Frings 1934, 17), den Durchbruch erreichte, und verfeinerter vergleichender Methode entstehen so, beginnend mit Winteler (1876), zahlreiche dialektologische Arbeiten, meist historische Lautlehren, manchmal Laut- und Formenlehren von Ortsmundarten, die ein deskriptives Verfahren der Erfassung der zeitgenössischen Dialekte und Laut für Laut vorgenommene historische Vergleiche mit einem älteren Sprachzustand verbinden und die verstanden werden wollen als Beiträge zum Nachweis der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze (Leskien 1876), durch die das allgemeine Wesen der Sprache gekennzeichnet werde. Mit dem Studium lebender Dialekte treten jedoch die ‘Ausnahmen’ von den Lautgesetzen stark hervor, so daß eine Bestätigung der Ausgangshypothese in immer weitere Ferne rückt. Im Bereich der historischen Grammatik bleibt es so im allgemeinen bei der ‘erklärenden Vorarbeit’; der Eindruck der „gedankenlosen Anhäufung wohlgesichteten Materials“ (Scherer 1868, VIII) (vgl. 4.4.3.) ohne klare Zielorientierung, deren Erfolge kontrollierbar wären und zu einer Revision oder Neuformulierung der Ausgangshypothese führen würden, läßt sich dabei schwer abweisen. Im Laufe der Zeit wird es zu einer Art Selbstzweck, der mit dem Ethos des Wissen-Wollens um der bloßen Erkenntnis willen (Behaghel 1926, 388) verteidigt wird, solche Darstellungen anzufertigen. Das „Übergewicht des Lautlich-Phonetischen“, das „in den Anfängen mit Recht in den Vordergrund gerückt war, die Überschätzung des Lautgesetzes [...], die Zwangsjacke des nun gewonnenen Schemas“ (Frings 1934, 19) haben auf die Weiterbildung des Sprachdenkens hemmend gewirkt. „Weite Felder der deutschen Sprachgeschichte blieben unbeakkert“ (Frings 1934, 19); antiquarische und dokumentarische Interessen gegenüber den als gefährdet angesehenen Mundarten mögen bei dieser Entwicklung mitgewirkt haben. 4.5.3. Ist bei der zuletzt besprochenen Teilrichtung der Junggrammatiker die Vorstellung einer internen naturgesetzlichen Sprachmechanik unverkennbar, so bringt Hermann Pauls Anschluß an die Psycholo-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
gie einen wesentlich anderen und vertieften Ansatz, innerhalb dessen die Dialekte erneut eine zentrale Rolle spielen. Dabei ist die sprachvergleichende Methode ebenfalls unbestrittenes linguistisches Verfahren. Pauls Erkenntnisinteresse ist prinzipiell statt auf das Wesen der Sprache auf die „Untersuchung des Wesens der historischen Entwicklung“ (Paul 1920 , 5) gerichtet. Es gebe „keinen Zweig der Kultur, bei dem sich die Bedingungen der Entwicklung mit solcher Exaktheit erkennen lassen, als bei der Sprache“, ohne daß damit die Sprachwissenschaft zur Naturwissenschaft würde (Paul 1920 , 5). Zielorientierung ist deshalb eine Prinzipienlehre der Kulturwissenschaft und damit der Sprachwissenschaft, deren Aufgabe es ist, „die allgemeinen Bedingungen darzulegen, unter denen die psychischen und physischen Faktoren, ihren eigenartigen Gesetzen folgend, dazu gelangen zu einem gemeinsamen Zwecke zusammenzuwirken“ (Paul 1920 , 7). Hinzu kommt, daß „die Kulturwissenschaft [...] immer Gesellschaftswissenschaft“ sei, wobei aber „jede sprachliche Schöpfung [...] stets nur das Werk eines Individuums“ sei und die (alltags-)sprachlichen Gebilde „im allgemeinen ohne bewußte Absicht geschaffen“ würden (Unterschied zu künstlerischer Produktion) (Paul 1920 , 18). So muß es darum gehen „das reine Walten der natürlichen Entwickelung“ (Paul 1920 , 18) der Sprache kennenzulernen. Träger der geschichtlichen Entwicklung der Sprache seien jedoch allein die Sprecher. „Das wirklich Gesprochene hat gar keine Entwicklung“ (Paul 1920 , 28). Von hier aus wäre die Überwindung des biologisch-kausalistischevolutionistischen Ansatzes und die Anknüpfung an einen intentionalistisch-teleologischen möglich gewesen. Aber Paul kommt noch nicht zu einer klaren Formulierung. Da die psychische (= verhaltenshafte) Seite des Sprechens nur durch Selbstbeobachtung zu erkennen sei, und das konkrete Sprechen anderer nur mit Hilfe von Analogieschlüssen von der eigenen Intuition aus interpretiert werden kann (Hermeneutik!) sind unverfälschte Beobachtungen am besten am „lebenden Individuum“ möglich, an dem man „seine Beobachtungen beliebig vervollständigen“ kann und mit dem man „methodische Experimente“ machen kann (Paul 1920 , 30 ). Dies und anderes gibt der natürlichen, nichtschriftlichen muttersprachlichen Kommunikation und damit natürlich den Dialekten Vorrang. Von besonderer me-
thodischer Bedeutung ist es, daß Paul ausdrücklich einem unreflektierten Positivismus entgegentritt, wenn er feststellt: „Man befindet sich in einer Selbsttäuschung, wenn man meint das einfachste historische Faktum ohne eine Zutat von Spekulation konstatieren zu können“ (Paul 1920 , 5). So hält er auch seinen positivistischen junggrammatischen Zeitgenossen entgegen: „Es ist überhaupt gar kein Resultat zu gewinnen ohne Erledigung der prinzipiellen Fragen, ohne Feststellung der allgemeinen Bedingungen des geschichtlichen Werdens“ (Paul 1920 , 4). Ein wichtiges Erkenntnisinteresse gilt in Pauls Zusammenhang der Variantenbildung, die er Sprachspaltung nennt. Dabei knüpft auch er an die „durch die vergleichende Sprachforschung zweifellos sicher gestellte Tatsache“ an, daß die Dialekte und Gruppensprachen aus einer „im wesentlichen einheitlichen Sprache“ entstanden seien (Paul 1920 , 37). Er fragt nach dem Anwachsen der dialektalen Verschiedenheiten im Zusammenhang mit der „Veränderung des Sprachusus“ (Paul 1920 , 40 ), nach der Zusammenfügung von Individualsprache zu dialektalen Gruppen auf Grund von natürlichen, politischen, religiösen und Verkehrsverhältnissen sowie nach deren sprachlicher Weiterentwicklung. Nun ist aber nicht mehr von unabänderlichen Lautgesetzen die Rede, vielmehr heißt es, „jede sprachliche Veränderung und mithin auch die Entstehung jeder dialektischen Eigentümlichkeit“ habe ihre besondere Geschichte (Paul 1920 , 42). Diese Geschichte ist nach Pauls Vorstellung wesentlich außersprachlich bestimmt, auch der Bedeutungswandel wird so gesteuert. „Die Wortbedeutung bequemt sich immer der jeweiligen Kulturstufe an“ (Paul 1920 , 10 4). Als durchgängiges, aber eben auch als psychologisch-außersprachliches Prinzip bleibt das Analogieprinzip bestehen. Grundlegende Fragen gibt es in Richtung auf zahlreiche linguistische Probleme, vor allem der Dialekte; historische ebenso wie synchrone, grammatische und pragmatische Probleme (die er psychologische nennt). Gesprochene und geschriebene Sprache, Sprachmischung, natürliche Sprache und künstliche Sprache, Norm und Normierung usw. treten bereits klar als Zielorientierungen einer so verstandenen Dialektologie hervor. Obgleich vielfach aufgelegt, bleibt Pauls tiefsinniger und weitreichender Neuansatz zunächst ohne Wirkung in der Dialektologie der Zeit. Paul war seinen Zeitgenossen zu weit voraus und ist
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
selbst als Sprachdarsteller am ehesten unter den Junggrammatikern erstarrt, so daß er seine Vorstellungen auch nicht selbst in die konkrete Analyse umgesetzt hat (vgl. Frings 1934, 19). 4.5.4. Erste übergreifende Organisationsversuche der Dialektologie Wollte man die wissenschaftliche Behandlung von Mundarten auf breiterer Basis organisieren, so lag es beim Forschungsstand um 1875 klar auf der Hand, den Sprachzustand der Mundarten so zu beschreiben, wie man die mittel- oder althochdeutsche Grammatik schrieb: als historische Dialektgrammatik. Sie konnte methodisch sowohl für anthropologische wie für allgemeine sprachhistorische Erkenntnisinteressen dienen. Wollte man zu einer Gesamtübersicht der deutschen Mundarten kommen, konnten globale Darstellungen, wie die Grammatiken Weinholds, den neuen Exaktheitsansprüchen nicht genügen. Das Ideal mußte sein, für jeden Ort eine eigene Grammatik zu schreiben. Genau dieses Konzept, das forschungslogisch sich aus der Einstellung der meisten Junggrammatiker ableiten ließ, schlugen sie auf Grund eines Antrags von Philipp Wegener 1879 in der germanistischen Sektion der Philologenversammlung vor. Wegener formuliert, Braune, Paul, Sievers, Winteler als Mitglieder einer Kommission bringen den Antrag ein, „dem reichskanzleramte [...] die gründung einer reihe von dialectgrammatiken zur unterstützung zu empfehlen, die nach gemeinsamem plane gearbeitet ein volles und treues bild des betreffenden dialectes geben sollten“ (Wegener 1880, 450). „Die ideale forderung würde [...] die sein, dass für jeden einzelnen ort deutscher zunge eine besondere grammatik gearbeitet würde. Ein derartiger wunsch wäre nicht realisierbar, und die verhältnisse liegen doch so, dass zwar jeder ort seine sprachlichen besonderheiten aufzuweisen haben wird, besonderheiten, welche das nachbardorf meist sehr genau anzugeben weiss, dass sich jedoch nach lautbildung, aussprache und betonung stets eine gruppe von dorfschaften zu einem größeren ganzen zusammenschließen“ (Wegener 1880, 475).
Dabei fällt auf, daß nicht an Kartierungen gedacht ist, und das, was man für den dialektgeographischen Ansatz halten könnte, ist ein Ersatz, ein durch die Gegebenheiten erzwungener Kompromiß. — Die Erhebung des sprachlichen Materials für Dialekte und
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die sie umgebenden Dialektlandschaften muß nach Auffassung der Junggrammatiker im phonologischen Teil ausschließlich durch direkte Befragung erschlossen werden. Flexionselemente, die Syntax, der Wortschatz sowie die Stilistik sollen durch Fragebogen erhoben werden. Auch an die soziale Schichtung war gedacht. Drei Schichten, für die eine soziologische Hypothese aufgestellt wurde, sollten unterschieden werden: Ungebildete — Mundart, Halbgebildete — Stadtmundart/ Umgangssprache, Gebildete — Standardsprache geben die Maße an. Die Junggrammatiker nehmen in ihrem Antrag keinen Bezug auf Wenker. Immerhin erscheint im Jahre 1878, als Wegener zuerst seinen Antrag stellt, bereits Wenkers zweites Werk, der Sprachatlas der rheinischen Provinzen, nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen (Wenker 1878; vgl. Art. 3). Als die Pläne der Junggrammatiker Gestalt angenommen hatten, dann aber doch nicht endgültig verfolgt wurden, weil man erst geeignete Bearbeiter finden wollte, ehe man sich an den Reichskanzler wandte, hat Wenker längst eine nicht reversible Lage geschaffen. 4.6. Die Erkenntnisinteressen und Zielorientierungen der Dialektgeographie 4.6.1. Wenkers Anfänge Wenker begann mit der Absicht, eine „Ausführliche Dialectkarte der niederfränkischen sowie der angrenzenden niederdeutschen Mundarten der Rheinprovinz“ herzustellen (Brief an Kreisschulinspektor Dr. Heyer in Düsseldorf, März 1876; vgl. Martin 1935, 4), und es ist etwas unklar, ob die Fragestellung des sprachhistorisch ausgebildeten Wenker im Zusammenhang mit dem Nachweis der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze stand, was neuerdings bestritten worden ist (vgl. Veith 1969, 395 ff.; Wiegand/Harras 1971, 11 ff.; vgl. Art. 3). Sein methodisches Vorgehen für die Herstellung dieser Karte wie des ganzen späteren Sprachatlasses war und blieb: indirekte Erhebung eines homogenen, durch Reduktion und Standardisierung der Befrager und der Befragung absolut vergleichbar gehaltenen Materials ‘ortsüblicher Mundart’ in möglichst allen Schulorten. Für einen ausreichenden Materialausschnitt aus den mundartlichen Kommunikationssystemen hielt er die Erhebung „sämmtlicher Laut- sowie der unterscheidenden FlexionsVerhältnisse“ (Martin 1935, 4), die er in ca.
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
04 mehrfach umformulierte Sätze eingebracht hatte (sog. Wenker-Sätze; vgl. dazu Art. 3). Sie waren syntaktisch den Mundarten, die er kannte, angenähert, aber in schriftsprachliche Form gebracht. Dabei werden manche Phoneme nur durch ein Beispiel vertreten, und die distributionellen Verhältnisse ebenso wie die Belastungsverhältnisse der Silben werden nicht in Anschlag gebracht: man kannte die damit gegebene Problematik noch nicht. Für die Städte strebte er mehrere Antworten an, welche die sozialen Schichtungen widerspiegeln sollten. Wenker kannte die Forschungslage, er ging selbstverständlich wie die Junggrammatiker davon aus, daß Elemente einer Sprache — Laute, Formen — auf der Zeitachse einen regulären Bezug zu ihren geschichtlichen Vorgängern haben: seine Sätze sind nach den diachronen Prinzipien ausgewählt, auch wenn sie neuhochdeutsch formuliert sind. Während die Junggrammatiker bei ihrem Hauptgesichtspunkt der regelhaften Verteilung von Sprachzuständen auf der Zeitachse blieben, erweitert Wenker diesen Ansatz um eine weitere Dimension: die des Raumes, indem er von Anfang an die Dialektlandschaft zu seiner Hauptfragestellung machte und diese Dialektlandschaft ausschließlich als ein durch Isoglossenbündel ausgegrenztes, also linguistisch definiertes Gebilde ansah. 4.6.2. Wenkers Hypothese: Dialekt vs. Dialektlandschaft Beide Aspekte hatte Wegeners junggrammatischer Plan nicht enthalten. Der sich anbahnende Gedanke der Dialektlandschaft blieb bei den Junggrammatikern zweitrangig; Dialekt war für sie die kommunikativ verwendete Sprache der Ungebildeten eines Ortes. Wichtiger aber noch für das Verständnis der Wegenerschen Vorstellungen von Sprachlandschaften war, daß sie nicht genuin linguistisch ausgegrenzt werden sollte, sondern in einem Mischverfahren: „Auch politische grenzen oder jetzt längst gefallene politische scheidelinien trennen die dialecte. Da hat nun der einzelne dialectforscher die aufgabe, an der hand der heimatlichen geschichte und geographie die mundartlichen gruppen seiner heimat aufzusuchen und sich der charakteristischen unterschiede scharf bewust zu werden“ (Wegener 1880, 475 f.).
Was scheinbar wie eine Vorwegnahme der späteren Entwicklung in der Dialektgeographie aussah, enthält einen entscheidenden Unterschied, daß nämlich die sprachli-
chen Grenzen im junggrammatischen Ansatz nicht als eine autonome Quelle den historischen Grenzen gegenübergestellt werden. Wenkers Versuchsanordnung dagegen ist nur sinnvoll, wenn hinter ihr die Frage steht: Was geschieht, wenn der Zeitfaktor im Abstand Ursprache → Gegenwart stabil gehalten wird und man diesen Endpunkt der Zeitachse mit allen variablen Punkten einer Raumachse, d. h. allen Schulorten, zur Dekkung bringt und in diesem Schnittpunkt von Raum- und Zeitachse die ortsüblichen Geltungen eines ebenfalls stabilgehaltenen Materialausschnitts abliest: die mundartlichen Laute und Formen. Für das erwartbare Ergebnis hat Wenker eine Hypothese. Sie lautet, ebenfalls in Begriffe unserer Zeit übertragen: Die Versuchsanordnung wird ergeben, daß immer die gleichen nebeneinanderliegenden Raumpunkte gleiche mundartliche Erscheinungen zeigen, so daß größere, sprachlich homogene Geltungsbereiche von Dialekten heraustreten, die umgrenzt werden können. Die Frage nach Dialektlandschaften wird damit Wenkers Hauptfragestellung, und sie übersteigt prinzipiell den Ansatz der Junggrammatiker. In strengstmöglicher Weise, da alle Faktoren bis auf den Raumfaktor stabil gehalten werden — im Prinzip noch heute mustergültig —, war über die Wenkersche Versuchsanordnung der Begriff der Dialektlandschaft methodisch operabel gemacht worden. 4.6.3. Schwierigkeiten bei der Wenkerschen Versuchsanordnung Wenkers Versuchsanordnung war methodisch vorbildlich, praktisch aber funktionierte die Sache nicht. Wenker war und blieb ziemlich ratlos, als sich seine Hypothese nicht zu bestätigen schien. Auf den Sprachenkarten zeigte sich nämlich, was der junggrammatische Plan vermutet hatte: „dass [...] jeder ort seine sprachlichen besonderheiten aufzuweisen“ hatte (Wegener 1880 , 475). Die Erscheinungen in den Gebieten, die Wenker zuerst erfaßt hatte, bündelten sich nicht. „Die Grenzen der vermeintlichen Charakteristika liefen eigensinnig ihre eigenen Wege und kreuzten sich oft genug“ (Martin 1935, 27). Ähnliches gilt für Fischer (1895). Dies zerschlug Wenkers Dialektauffassung, denn Wenker spricht von Dialekt, wo er Dialektlandschaft meint. D. h., er sah die Dialekte durch die Dialektlandschaft, also durch den Raumfaktor definiert. Dies war nach seinen Erhebungen nicht mehr mög-
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
lich, denn sonst wären die einzelnen kleinen Gebietchen, die Ortsmundarten, nur als Bruchstücke des Dialekts zurückgeblieben. Man hat den Eindruck, daß Wenker mit der durch die empirischen Ergebnisse seiner Versuchsanordnung hervorgebrachten neuen Lage nicht fertig geworden ist. Seine späteren Äußerungen zum Dialektbegriff bleiben unklar. 4.6.4. Die Fortsetzung der dialektgeographischen Forschung Die anfänglichen Mißerfolge wie die schließliche Anerkennung der Brauchbarkeit der Wenkerschen Hypothese für wissenschaftliche Fragestellungen stehen im engsten Zusammenhang mit der von Wenker benutzten und erst von seinen Nachfolgern im weiteren Sinne verbesserten und weiterentwickelten Versuchsanordnung: Die wichtigsten Verbesserungen sind: (1) Der Übergang zu direkten Aufnahmen der Phonologie und Morphologie (Haag 1898), die Erfüllung einer Forderung bereits des junggrammatischen Plans, und schließlich der Einsatz berufsmäßiger Exploratoren (verwirklicht z. B. bei der Erstellung des ‘Atlas linguistique de la France’ durch Jules Gilliéron und Edmond Edmont) (vgl. Ivić 1976, 293 ff.). Dies bringt Ergebnisse dort, wo der Sprachatlas bei bestimmten Lauten (z. B. nhd. a) versagt, und verbessert die anderen. (2) Die Vergrößerung der Zahl der Beispiele für die Lautund Formenklassen, die Hinzunahme von Wortfragen und die Berücksichtigung synchron-systematischer Gesichtspunkte. Dies brachte, zunächst noch unerkannt, auch die distributionellen Verhältnisse und Teile der Silbenbelastung ins Spiel. (3) Schließlich wurde der Ausschnitt der als Mundartsprecher betrachteten Kommunikationsgemeinschaft, aus dem die Informanten gewählt werden, ständig in seiner sozialen Homogenität verbessert. Wenn nun kartiert wurde, so bündelten sich die Erscheinungen in abgestufter Weise. Man konnte die Stärkegrade der entstehenden Grenzen bewerten und lernte im Laufe der Zeit auch, Gewichtungen in bezug auf die phonologischen Systeme und die Silbenbelastung einzuführen. 4.6.5. Sprache und Geschichte Ein zur dialektgeographischen Methode passendes Erkenntnisinteresse erhält im ersten Viertel des 20 . Jhs. seine klare Ausformulierung durch Gelehrte wie Wrede, Frings, Teu-
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chert. Dabei haben besonders Fortschritte der romanischen Sprachwissenschaft normensetzende Kraft (vgl. Frings 1921, 2). Das Erkenntnisinteresse zielte einerseits auf eine Ne u b e l e b u n g der deutschen (historischen) G r a m m a t i k und der Wissenschaft von den Prinzipien der Sprache (vgl. Frings 1921, 9), die „in schwerer Krise“ sei und die man für „tot erklären [müßte], wenn man [...] die kräftigen Schößlinge übersieht, die mit Gewalt aus einem Stumpf herausdrängen“ (Frings 1921, 2). Alle Zweige der Sprachwissenschaft (z. B. auch Textkritik, Reimforschung u. a.) müßten hierfür ihre Ergebnisse „an der deutschen Prosa und an den heutigen Mundarten messen“ (Frings 1921, 3). Wichtig sei, die Ergebnisse zu integrieren und die teilweise hinter den (unterschiedlichen) Befunden vorhandenen historisch-„soziallinguistischen Revolutionen“ (Frings 1921, 4) sichtbar zu machen. „Die Geschichte der Laute, Flexionen, Wortbildungen, der Satzbildung und der Wörter tritt [so andererseits] in Zusammenhang mit den gesamten Bewegungen des privaten und öffentlichen Lebens, die vertikale wird durch die horizontale Sprachbetrachtung abgelöst“ (Frings 1921, 5). Außersprachliche Faktoren treten methodisch eigenständig der Sprache als Geschichtsquelle gegenüber und führen zu einer sonst in den Geschichtswissenschaften selten geübten Interdisziplinarität der Arbeit und (teilweise der Institutionen) in der Kulturraumforschung (Kulturmorphologie) (vgl. Hard 1966, 12; vgl. Art. 4) unter dem übergreifenden Gesichtspunkt von ‘Sprache und Geschichte’. Von der Inbezugsetzung von Sprachgrenze und Territorialgrenze müsse man zu den „Zusammenhängen zwischen den Territorialund Sprachlandschaften vorwärts“ (Frings 1921, 6) gelangen. Die historisch fundierte Sprachgeographie solle für „die Gründe und Richtungen“ (Frings 1921, 7) neue Erkenntnisse und Argumente zur Datierung sprachlicher Erscheinungen und Grenzen liefern, und zur Rekonstruktion „mittelalterlicher Sprachbilder und -linien“ (Frings 1921, 7) beitragen. Die an der rheinischen Sprachlandschaft zuerst erprobten Erkenntnisinteressen und Zielorientierungen wurden seit den 20 er Jahren an den Sprachverhältnissen des deutschen Ostens, u. a. durch Teuchert (1964), Mitzka (1937), Frings (1948 und Aubin/Frings/Müller 1926), Schwarz (1935 und 1957), Kranzmayer (1956) und deren Schulen, vertieft und erweitert. Die Siedlungsmundarten des Ostens
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
gaben wichtige Hinweise auch auf das Sprachleben des Altlandes und das Alter der Dialekte. Insbesondere wurde dort zunächst, dann auch im Westen (Schützeichel 1961, Steger 1968) die extreme These vom Zusammenhang zwischen Territorium und Mundart relativiert und auf weitere naturräumliche und historische Gebilde (Verkehrsräume) erweitert (vgl. Bach 1950 , 130 ; Hard 1966, 6). Das Thema Sprache und Geschichte führte zu zahlreichen Einzeldarstellungen und einzelnen Gesamtbildern (z. B. Frings 1956). Über ein in der Dialektgeographie ebenfalls früh einsetzendes struktur-linguistisches Interesse vergleiche 6. 4.6.6. Weitere Sprachatlanten Die Arbeit des ‘Deutschen Sprachatlas’ an und mit der Wenkerschen Forschungshypothese sowie die Ergebnisse der deutschen Sprachgeographie haben auf andere Sprachgebiete gewirkt, z. B. die Niederlande, die USA, die Slavia, Japan (vgl. Ivić 1976, 294 ff.). Sie hat Historiker und Geographen, Volkskundler und Vorgeschichtler angezogen, sie ist interdisziplinär erfolgreich verwendet worden. Im akademischen Unterricht war lange Jahre die Dialektgeographie die einzige Beschäftigung mit dem Material neuzeitlicher deutscher Sprache. Seit den 20 er Jahren gibt es Vorarbeiten für einen deutschen Wortatlas, die ebenfalls von Wenkers Befragungen angeregt sind. Martin veröffentlicht zahlreiche wortgeographische Studien. Mitzka baut auf der wortgeographischen Hypothese den ‘Deutschen Wortatlas’ auf und fragt noch kurz vor dem Krieg ab. Er wird seit 1951 veröffentlicht (Mitzka 1951 ff.). Seit 1977 erscheint der ‘Wortatlas der deutschen Umgangssprachen’ (Eichhoff 1977/1978; vgl. Art. 52). Regionale deutschsprachige Sprachatlanten, welche hochentwickelten methodischen Forderungen genügen, sich auf strukturlinguistische Fragestellungen zubewegen und eine weitestgehende Stabilisierung „sozial-, generationsund situationsbedingter Schwankungen“ in der Versuchsanordnung (Hard 1966, 30 ) vorgenommen haben, entstehen (z. B. SDA, TSA, VALTS, SSA). Ein ALE ist in der Ausarbeitung: seine grundlegende Zielorientierung soll „darin bestehen, vergleichbares Material aus verwandten oder nicht verwandten Sprachen nebeneinander darzubieten“ (Weijnen 1975, 169). Erkenntnisinteressen sind: (1) analoge Strukturen in Sprachen, die keine Verwandtschaftsbezie-
hungen miteinander haben, (2) Probleme der Sprachtypologie und (3) der Theorie der Universalien (Weijnen 1975, 162—20 3, bes. 169). Der Atlas gehört damit in die bei 6. behandelten strukturlinguistischen Zusammenhänge. Im HSS gelingt mit dem Material von Urbaren und Röteln die Kartierung von Schreibsprache des 14./15. Jhs. 4.7. Schlußbemerkungen Für alle Richtungen der historischen Sprachwissenschaft gilt, daß sie durch ihre linguistischen Erkenntnisinteressen und Zielorientierungen, welche die Verfolgung einzelner historischer, ‘lautgesetzlicher’ und morphologischer (syntaktischer) und lexikalischer Entwicklungen auf der Zeitachse und/oder der Raumachse mit sich brachten, als Wissenschaft den Kontakt zu Problemen der tatsächlichen Kommunikation gänzlich verloren. Dies zeigt sich äußerlich daran, daß der Text in dieser Wissenschaft überhaupt keine Rolle spielte und nur relativ selten der Satz. Zu dem Zeitpunkt aber, zu dem das Jahrhundert der Sprachgeschichte ansetzte, zog das industrielle Zeitalter große Menschenmassen in die Städte und riß sie dadurch aus ihren dialektgeprägten kommunikativen Gemeinschaften. Die regionale und soziale Mobilität, die Landflucht, das Aufsteigertum und vieles mehr sind Ereignisse und Entwicklungen dieses 19. Jhs. mit noch heute fortwirkenden sprachlichen Folgen. Die Zuwanderung fremdsprachiger Bevölkerung, z. B. ins Ruhrgebiet, fand statt, die soziale Frage entstand und verschärfte sich. Der Übergang vom Handwerk zur industriellen Maschinenarbeit und damit zu einem ganz neuen Typ von Fachsprache breitete sich aus. Die Verkehrsentwicklung, die Medienentwicklung, der Ausbau bürokratischer Apparate gingen voran. Alles hatte erhebliche kommunikative Konsequenzen, besonders für die Mundartsprecher. Aber die Sprachwissenschaftler nahmen nicht Notiz davon, beobachteten nicht, halfen schon gar nicht. Besonders die Tabuisierung des Normierungsgesichtspunktes in der öffentlichen, d. h. universitären und akademischen Sprachwissenschaft: alles urwüchsig, geschichtlich Sprachliche ist gleichwertig, gleich gut, gleich schön — bei in der Praxis unverminderter Durchsetzung der einheitssprachlichen Normierungen und der an sie gebundenen sozialen Bewertungen — erscheint vom heutigen Standpunkt aus schizophren (vgl. dazu 2. und 5.).
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
5.
Sprache, Volk, Gruppe als Erkenntnisinteresse der Dialektforschung
5.1. Der Grundansatz Daß es einen engen Zusammenhang zwischen ‘Wesen’, ‘Charakter’, ‘Geist’, ‘Seele’ einer ‘Gruppe’, eines ‘Stammes’, eines ‘Volkes’, einer ‘Nation’ (verkörpert im einzelnen oder in der Gemeinschaft als ganzer) und der jeweils zugehörigen Sprache (‘Muttersprache’; ‘Stammesdialekt’, ‘Volkssprache’, ‘Gruppensprache’ usw.) gebe, ist ein alter Gedanke. Vielfach wird behauptet, daß die Volkssprachen und Dialekte hervorragende Indikatoren dieses Charakters seien, so daß man das Wesen eines Volkes aus dem Studium seiner Sprache am besten erkennen könne. In der Neuzeit findet sich dieser Gedanke in vielerlei Facettierungen als anthropologisches Erkenntnisinteresse. Es ist schon oben (vgl. dazu 3.4.; 4.4.) deutlich geworden, daß sich dieser Gedanke dabei jeweils mit herrschenden wissenschaftlichen Methoden verbindet, etwa mit der historisch vergleichenden Grammatik und Sprachgeschichte, lautphysiologischen Studien und dem stark naturwissenschaftlich bestimmten Positivismus. Der Gedanke kann historisch rückwärtsgewandt ebenso auftreten, wie in die Zukunft weisend, wie dies etwa bei Scherer (vgl. 4.4.3.) als Verbindung von Volkscharakter, Sprachgeist und Volksethik darzustellen war. Die Betonung liegt im ganzen Bereich insgesamt mehr auf dem Volks- und Artmäßigen, für das je nach der besonderen Anschauung der Forscher der ‘Volkssprache’Begriff die (schriftliche) Einheitssprache mitumfassen kann und gegen ‘Fremdsprache’, Fremdsprachenbestandteile im weitesten Sinne abgesetzt wird. Es ist nur eine besondere Facette, wenn ‘Dialekt’, verstanden als bäuerliche Grundsprache, als besonders hervorragender Vertreter der Volkssprache betrachtet wird, so daß es sogar heißen kann, das Hochdeutsche sei keine bessere Sprache gegenüber einer schlechteren, den Mundarten, sondern eine fremde gegenüber einer angestammten (vgl. Hübner 1925, 9). So fehlt es auch nicht an Stimmen, welche die Volkssprache als Träger der Wahrheit kennzeichnen, die benutzt werden müsse gegenüber internationalen Formen, Schlagwörtern und Modewörtern, besonders auch in den Medien und in der Öffentlichkeit (Klatt 1930 , 403 ff.). Seit Grimm bildet sich auch die facettenreiche Anschauung, die Schriftsprache zeige
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B i l d u n g s wä r m e, stehe dem Vo l k s ge i st näher und sei ein Spiegel der Bildungsgeschichte, die Mundart dagegen vermittle L e b e n swärme, stehe der Vo l k s s e e l e, dem Volksgemüt näher und sei ein Spiegel engerer Landesgeschichte. Für die Weiterverfolgung solcher Auffassungen bis ins 20 . Jh. ist eine Herauslösung der nur auf Dialekt als Raumvariante bezogenen Erkenntnisinteressen weder sinnvoll noch möglich, da hier die Dimensionen Raum (Orts-, Landschaftssprachen), Gruppe (Gruppensprachen, Sondersprachen), Funktion (Alltagssprache) mit Hilfe des Dialektterminus angepeilt sein können, ohne daß dies immer getrennt gehalten werden kann. Das Augenmerk wird jedoch besonders auf jenen Forschungsausschnitt gerichtet, der lokale und regionale Sprache einbezieht. Einige charakteristische (oben noch nicht herangezogene) Stellen finden sich bei J. Harris (1751, III, V), Voltaire (1785, 370 ff.), Herder (1787, 13), Firmenich (1843, II), Heyse (1856, 2 ff.), Abel (1869, 18 ff.), Ghibu (1910 , 33). Ferner Wrede (1919, 4), Osthoff (1883, 33), Wundt (1900, 8). 5.2. W. von Humboldt Die Zusammenfassung früherer Erkenntnisse und die Grundlagen für eine andere und vertiefte Sicht des Problems gehen auf Wilhelm von Humboldt zurück. Für ihn gilt: „Das Studium der Sprachen des Erdbodens ist [...] die Weltgeschichte der Gedanken und Empfindungen der Menschheit“ (vgl. Weisgerber 1948, 10 9). Es setzt Humboldt von der bisher besprochenen Forschung ab, daß er zwar ebenfalls auf ein vergleichendes Verfahren zielt, es soll aber nicht von dem Standpunkt der Grammatik, sondern von dem der Muttersprache ausgegangen werden (vgl. Weisgerber 1948, 10 8 ff.). Humboldt möchte „die ganze Masse des Sprachvorraths, so vollständig als möglich, [...] sammeln, nach allen denkbaren Gesetzen der Analogie [...] vergleichen, und daraus einmal, als aus einer Wirkung, auf die Verfahrensart des Menschen [...] rückwärts, dann aber, als aus einer Ursach, auf die eigne Bildung desselben vorwärts [...] schließen, und zwar beides immer zugleich mit philosophischer Rücksicht auf seine allgemeine Natur und mit historischer auf die verschiedenen Schicksale der Völker“ (Humboldt 1801, 599).
Das kann nichts anderes heißen, als daß Humboldt die Kommunikation als solche zur Materialgrundlage machen wollte. Wesentlich für die Muttersprache sind für Hum-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
boldt: (1) jede Muttersprache ist ein Gebilde von einmaligem und unersetzlichem Wert. (2) Jede Muttersprache ist der Inbegriff des geistigen Lebens ihres Volkes und nicht ein „bloßes Mittel [...], sich die Nation, der sie angehört, oder die Schriftsteller derselben verständlich zu machen“ (vgl. Weisgerber 1948, 10 8). (3) Der Wert jeder Muttersprache zeigt sich, wenn man ihre Leistung im Vergleich mit der von anderen Sprachen sieht. (4) Jede Muttersprache bildet mit allen anderen zusammen eine Ganzheit; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseins. (5) Diese Muttersprachen, die den einzelnen in den Geist einer Gemeinschaft eingliedern, sind die wirklich voranführenden Wege menschlicher Erkenntnis (vgl. Weisgerber 1948, 108 ff.). Humboldt, der sich nicht selbst konkret mit deutschen Mundarten befaßte, wirkte auch kaum auf die Mundartforschung des 19. Jhs. Dafür wird man neben der Verstreutheit seiner einschlägigen Gedanken und seiner den Zeitgenossen schwer verständlichen Redeweise einerseits seinen bewußt kommunikativen und methodologisch intentionalen Ansatz verantwortlich machen, der es den überwiegend kausalistisch denkenden historischen Grammatikern schwer machte, ihm zu folgen (Slotty 1935, 18 ff.). Auf der anderen Seite muß man darauf hinweisen, daß es keine wissenschaftlichen Arbeitsformen gab und daß er auch keine entwickelte, welche in Konkurrenz zu den Arbeitsformen der Grammatik und des Wörterbuchs treten konnten. Die Erkenntnisinteressen Humboldts erscheinen im 20 . Jh. wieder in verschiedenen wissenschaftlichen Strömungen, die sich auf ihn berufen. 5.3. Sprachgeschichte als Geistesgeschichte Vossler (190 4) und Lerch (1929) sind so Vertreter einer Richtung, die Sprachgeschichte als Geistesgeschichte beschreiben will und die schöpferische Freiheit der Sprache gegen Forscher verteidigen, „denen Sprache vorwiegend etwas Mechanisches, Allgemeines, Konventionelles ist“ (Lerch 1929, 357). Deswegen will die neue Richtung zeigen, daß sich „in Eigenheiten der französischen Sprache [...] gewisse Eigenheiten des französischen Nationalcharakters wiederspiegeln“ (Lerch 1929, 357) und daß der Sprachwandel dem Seelenwandel des Volkes folge. Konsequenterweise wendet sich die linguistische Zielorientierung hierbei von Phonologie und Morphologie weg zu Syntax und Stilistik
und zu einer intentionalen Sicht (‘bewußtes sprachliches Handeln’) (Lerch 1929, 360 ). Es wird dabei von der Romanistik an die sprachlich Kultivierten gedacht, und damit wird deutlich, daß hier der Nationalsprachenbegriff an das Sprachverhalten der Elite angebunden wird. Aber im deutschen Bereich wird die Fragestellung auch auf die Dialekte ausgedehnt (vgl. Naumann 1923 und Stammler 1924). Der Haupteinwand der angegriffenen Junggrammatiker gegen eine solche Sprachgeschichte als Geistes-, Bildungs- und Nationalgeschichte bzw. Nationentypologie ist nicht, daß Sprachgeschichte auch Geistesgeschichte ist („wir lehnen nicht die Geistesgeschichte an sich ab„) (Behaghel 1926, 389), sondern sie nehmen Anstoß an der Art, wie die Jungen ihre Wissenschaft betreiben. „Was wir den jüngeren Herren zum Vorwurf machen, das ist ihre leichtfertige Behandlung der Tatsachen“ (Behaghel 1926, 389; vgl. auch die Auseinandersetzung zwischen Behaghel und Stammler: Behaghel 1925 und Stammler 1925). Als Beispiel aus der deutschen Dialektologie heißt es: „Ein dritter erklärt, daß in Zürich ‘bekanntlich’ das Wort Anke durch das Wort Butter verdrängt sei, während eine einfache Anfrage bei Albert Bachmann ergibt, daß das falsch ist“ (Behaghel 1926, 389). Inhaltlich hat schon Scherer (vgl. 5.1.) durchaus vergleichbare Zielvorstellungen wie Vossler und Lerch, auch wenn er sie mit einer anderen, noch weniger geeigneten Methode verfolgte (Frings 1934, 22 ff.). 5.4. Dialekt und Volksseele Seit den 20 er Jahren des 20 . Jhs. wendet sich die deutsche Volkskunde verstärkt der Frage nach der Erkenntnis der ‘Volksseele’ auf Grund der Volkssprache zu. Enthalten die meisten Darstellungen dabei zunächst einerseits eine beschreibende Mundartgrammatik oder Mundartgeographie und/oder andererseits auch aus dem Sprachinhalt selbst geschöpfte Schlüsse auf die Sprecher (vgl. Maurer 1927, 157), so suchen später Arbeiten von Naumann (1925, 55 ff.), Müller (1926, 169 ff.), Maurer (1927, 157 ff.), Stroh (1931/32, 229 ff.) (weitere Literatur siehe: Stroh 1931/32, 230 ; 235; 239; 244) mit ihrer Art „der Erforschung der Volkssprache [...], neben die stark naturwissenschaftlich gerichtete Mundartforschung und die kulturgeschichtliche Fragestellung der Dialektgeographie eine eigentümliche Betrachtungsweise“ treten zu lassen, „deren Ge-
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
genstand allererst die Sprache selbst ist in ihrer i n h a l t l i c h e n Leistung und in ihrer inneren Bindung an die gesellschaftliche Gruppe“ (Stroh 1931/32, 230 ). Die Arbeiten hätten auszumünden „in die Erforschung der gesamten deutschen Volkssprache: der Nationalsprache“ (Stroh 1931/32, 230).
5.5. Der neue inhaltbezogene Sprachbegriff Die Zielorientierung für die Dialektologen geben dabei die Bemühungen um einen neuen inhaltbezogenen Sprachbegriff, wie er in der Nachfolge Humboldts und in teilweiser Zusammenschau mit de Saussures Auffassungen u. a. von Cassirer (1923, 44), Porzig (1924, 126 ff.), (1928, 1 ff.), (1923, 150 ff.), (1934, 70 ff.), Ipsen (1930 und 1932), Weisgerber (1929), Trier (1931) und Stroh entwikkelt wurde. Dabei wird „Sprache als eine Sinngebung eigener Art, eine selbständige und ursprüngliche, auf einem eigentümlichen Gesetz beruhende Kraft des Geistes“ verstanden (Stroh 1931/32, 231), wobei der Systemgedanke in Deutschland zunächst auf die Semantik bezogen wird (‘Sinnbezirk’, ‘Wortfeld’) und ‘Bedeutungen’ als „soziale Tatbestände“ verstanden werden, als „Begriffs- und Denkformen, die in der Sprache eines Volkes und nur in ihr existieren, festgehalten und weiter überliefert werden“ (Weisgerber 1930 , 26). Sprache wird damit gleichzeitig als eine „gesellschaftliche Erkenntnisform“ (Weisgerber 1929, 71) begriffen. Noch weiter zugespitzt stellt sich darüber hinaus der neue Sprachbegriff dar, wenn — von Schmidt-Rohr — behauptet wird: „Die Sprache ist nicht [nur] die Schöpfung einer Kulturgemeinschaft [...], sondern sie ist ganz und gar die Volksseele selbst, [...], in ihr erst vollzieht sich die Bindung [...] [einer] Menschengruppe zu einer seelischen Gemeinschaft“ (Schmidt-Rohr 1933, 243). 5.6. Erstes Stadium der Soziolinguistik in Deutschland Auf der Basis dieses philosophischen Konzepts wird es zum Erkenntnisinteresse der Volkssprachenforscher „ein solches unvollendbares Insgesamt der deutschen Sprachinhalte, [...] aus den Beständen der landschaftlichen Volkssprachen und der gesellschaftlichen Sondersprachen aufzubauen“ (Stroh 1931/32, 245). Und dies „würde alle Erfahrungen, die das Volk in seiner Geschichte erworben und als Sprache vergegenständlicht hat, zum deutschen Weltbild zu-
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sammenfügen“ (Stroh 1931/32, 245). Methodisch setzte dies unter Beibehalt geschichtlicher Betrachtungsweise eine „Erfassung der Sprache in einer Weise voraus, wie sie die wissenschaftlichen Arbeitsformen der Betrachtung im allgemeinen nicht bieten. Denn Wörterbuch und Grammatik pflegen die Sprachinhalte vornehmlich nach der äußeren Form darzustellen und in zufällige Stükke zu zerschlagen“ (Stroh 1931/32, 245). Methodisches Erfordernis war dementsprechend die Erforschung und Anordnung des Materials auf der Zeit- und Raumachse nach der Sinnverwandtschaft. Diese Zielorientierung bildet in Verbindung mit dem inhaltbezogenen Sprachbegriff den eigentlichen Unterschied zu älteren Forschungsrichtungen ähnlicher Art. Sie begründet ein erstes Stadium der Soziolinguistik des Deutschen. 5.7. Volkssprache-Forschung Einige Bedeutung erlangte zunächst Naumanns Auffassung über das sprachliche Verhältnis von Ober- zu Unterschicht, das er mit dem Bilde des Aufsteigens und Fallens kennzeichnete. Dabei war Mundart in positiver Weise gekennzeichnet und verbunden mit dem Bodenständigen, Primitiven der Gemeinschaftskultur, dem Heimatgefühl und der Sehnsucht danach (vgl. Naumann 1925, 68 f.). Der Beweis wird an Beispielen aus dem lebenden Wortschatz der Mundarten, aber auch aus der Sprachgeschichte, aus fremdsprachlichen Berührungen zu führen gesucht, aber die Material- und Beweisgrundlage bleibt unverkennbar schwach und sucht mehr Zugang durch intuitive Plausibilität. Über Naumann (1925) und Müller (1926) mit seiner ebenfalls noch stark auf die Inhalte eingestellten Sicht hinaus gelangt erst Maurer („Ich versuche ausdrücklich, Eigenschaften der Volksseele aus der Volkssprache zu erschließen“. Maurer 1927, 158), der mit Material des Südhessischen Wörterbuchs und in Verbindung mit der sprachgeographischen Methode Naumanns Ansatz für den Raum Mainz, Darmstadt, Frankfurt, Gießen zu belegen und zu reformieren versucht (Maurer 1927, 160 f.). Verschiedenartige sprachliche Erscheinungen, wie sprachlicher Reichtum der Mundarten, enumerative Redeweise (Havers 1927, 229 ff.) in Verbindung mit mangelnder Kraft zur Zusammenfassung, formelhafte Wendungen, Bevorzugung der Umschreibung, parataktischer Satzbau und aus ganzheitlichen Erfahrungen gewonnene Eindrücke, wie den der Um-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
ständlichkeit und Breite, Streben nach Deutlichkeit, Ordnung, Derbheit, Kollektivvorstellungen, Gefühlsbetontheit usw., werden auf ihre Aussagekraft für seelische Hintergründe bei den Sprechern untersucht. Aus heutiger Sicht ist unverkennbar, daß die Methode noch nicht ausgereift war, daß der Spekulation zu viel Raum bleibt, um dauerhafte, reproduzierbare, erweiterbare Ergebnisse zu gewinnen. Am konsequentesten und methodisch sorgfältigsten hat das Programm der älteren Volksspracheforschung Friedrich Stroh in konkrete und methodisch gesicherte Forschung umzusetzen gesucht in der mehrbändigen, ungedruckten Dissertation über die Mundart von Naunstadt/Taunus (Stroh 1928). Vgl. ferner die Studie ‘Stil der Volkssprache’ (Stroh 1930). Neuere Arbeiten mit den hier vorliegenden Interessen und Orientierungen, die teilweise bereits in Verbindung mit methodischen Verbesserungen der Sinnbezirkforschung, Wortfeldforschung, inhaltbezogenen Grammatik stehen und auch verbesserte linguistische Instrumente benutzen können, vgl. bei Löffler (1974, 110 f.) und Bach (1969, 227). Vgl. dazu auch Weisgerber (1956), Schwarzenbach (1969). 5.8. Zweites Stadium der Soziolinguistik in Deutschland Zu einer wesentlich reformulierten und von irrationalen und ideologischen Elementen entlasteten Fortführung der Soziolinguistik kommt es ansatzweise in der deutschen Dialektologie seit den 50 er Jahren. Durch die durch elektronische Tonspeicher ermöglichte Sammlung originaler mündlicher Kommunikation, sowie die Einführung von Methoden der empirischen Soziologie in die Dialektforschung in Verbindung mit verbesserten Beschreibungsmethoden, werden Erkenntnisinteressen, welche auf den Zusammenhang zwischen sozialer Gruppe und Dialekt, sozialer Gruppe, Raum und Dialekt, Situation und Dialekt zielen, methodisch wesentlich besser umsetzbar. Vgl. Engel (1954), Hünert-Hofmann (1968), Steger (1964; 1967), Zwirner (1966), Ruoff (1973), Veith (1975), Schwarzenbach (1969), Zürrer (1975). Zu einer Forschungsrichtung, welche mit Elementen der Grammatik (Phonologie, Morphologie, Syntax) und des Wortschatzes — auch frequentiell — arbeitet, tritt neuerdings das Interesse an pragmatischer Analyse von mündlicher Kommunikation. Die
hier gegebenen Möglichkeiten, wie auch Vorschläge zur Überwindung des gewöhnlich benutzten korrelativen Ansatzes durch weitreichende sozialpsychologische Erkenntnisinteressen, müssen erst noch in konkrete Dialektforschung umgesetzt werden. Vgl. Steger (1978), Ris (1980). Wesentlich sozialpädagogische Interessen und Zielorientierungen sind im Bereich der Schule und dort im Spannungsfeld Dialekt und Einheitssprache angesiedelt und sind mit dem Schlagwort der Sprachbarrierenforschung vergesellschaftet. Dies war bereits bei 2.4. zu behandeln (vgl. Art. 90 u. 92).
6.
Der strukturelle Ansatz
Die kulturmorphologisch interessierte Dialektgeographie der ersten Hälfte des 20 . Jhs. (vgl. oben 5. u. Art. 4) verfuhr, da sie in ihrer Sprachanalyse die vergleichend-historische Methode des 19. Jhs. weiter benutzte, weithin ‘atomistisch’ insofern, als sie nicht weiter beachtete, daß die Sprache „kein Konglomerat von isolierten Elementen [ist], sondern ein System, in dem nach dem Wort de Saussures alles auf Beziehungen beruht“ (Goossens 1969, 17). Hierdurch konnten falsche Interpretationen entstehen. Ferner blieben allein mit extralinguistischen Faktoren manche Isoglossen nicht erklärbar. Schließlich stellte sich immer neben der Frage nach der Verbreitung von Sprachelementen die ihrer Entstehung. Es wurde also sowohl ein verändertes Erkenntnisinteresse sichtbar (in der l i n g u i s t i s ch e n Erklärung), wie auch eine verfeinerte Zielorientierung (in der Darstellung von mundartlichen Systemen und Teilsystemen: z. B. von Vokalreihen, Wortfeldern, ganzen morphologischen Paradigmen). Angezielt wird ein Vergleich im Diasystem und Teildiasystem. Wesentlich war zur Lösung der den Sprachwandel betreffenden strukturellen Fragen die Annahme, daß öfters mundartliche Neuerungen „durch innere Kausalität“ bedingt seien (Goossens 1969, 23; 1977, 141). In dieser Hinsicht werden Ansichten des 19. Jhs. (vgl. 4.) wieder aufgenommen, ohne daß das Kausalitätsproblem grundlegend neu diskutiert wurde. Allerdings bringt die Einführung der Vorstellung von Teleologie als mentaler Gerichtetheit gewisse Hinweise auf eine Neuorientierung. Martinet (1955) hat die Prinzipien des inneren ‘strukturellen Druckes’ für die Phonologie beschrieben, für die Wortgeschichte wird in
20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
der Nachfolge Gilliérons/Roques (1912) von Weinreich (1954, 388 f.) weiterhin angenommen, daß der Faktor der Homonymie beim Sprachwandel eine Rolle spielt. Die in den 20 er Jahren großteils als Folge der de Saussure Rezeption begonnene internationale Entwicklung (Trubetzkoy 1931) wurde erst seit ca. 1960 in größerem Maße in die deutsche Dialektologie eingeführt. Vgl. dazu Literatur bei Goossens (1969, 9 und 1977, 140). Die methodische Verfeinerung führt im phonologischen Bereich zur Möglichkeit, Inventar- und Distributionskarten zur Darstellung der mundartlichen phonologischen Systemunterschiede und Entwicklungsund Abstammungskarten für phonemische Substanzunterschiede zu gewinnen. Endgültiges Ziel wird die Deutung von Bezugskarten. Die Verbindung zu Problemen der Kulturraumforschung, die in ihren Ergebnissen größtenteils nicht in Frage gestellt wird, kann erhalten bleiben. Als intern-linguistische Ergebnisse werden im S y n ch r o n b e r e i ch (1) das Prinzip des phonemischen ‘Zwischenraums’ — als Sicherheitszone zwischen den Phonemen — und (2) das Prinzip der maximalen Differenzierung — der ‘Zwischenraum’ wird möglichst groß gehalten — formuliert. Die linguistische Realität der phonemischen Unterscheidung zwischen Dreiecks- und Viereckssystemen, der Lücke im System sowie die Tendenz zur Symmetrie im System werden als bewiesen angesehen. Im D i a ch r o n bereich wird sowohl das Eintreten wie die Verhinderung des Lautwandels auf Grund innerer Kausalität als Ergebnis gewertet. Zum Sprachwandel vergleiche besonders Haas (1978). Im Wortschatzbereich findet die sprachinterne sprachgeographische Gliederung von Wortfeldern und die geographisch vergleichende Untersuchung lexikalischer Merkmale von Mundarten das Interesse der strukturell arbeitenden Dialektologen. Einzelfragen richten sich dabei z. B. auf die geographische Verteilung von Inhaltsmerkmalen wie allgemein vs. speziell; auf die Synonymik, Polysemie und Homonymie (vgl. Goossens 1969). Bei der strukturellen Dialektgeographie dürfte der Zuwachs an methodischen Zugriffsmöglichkeiten wesentlich höher zu bewerten sein als die gewonnenen Erklärungen. Die durch Chomsky und seine Schule entwickelte weitreichende Theorie der Sprache und des Sprachverhaltens, das „die Vielfalt und Komplexität der mentalen Konzepte und Prozesse erklären [will], die dem Verhalten zugrundeliegen“ (Leuninger 1976, 32)
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(mit Problemen wie Generativität, Kreativität, Universalien, Erklärungsadäquatheit, deduktives Verfahren) fand in der deutschen Dialektologie lediglich durch ihren Beschreibungsapparat Widerhall (vgl. Art. 14 u. 18). Auf dem Gebiet der Phonologie führt dies zu einzelnen Gesamtentwürfen zur generativen Phonologie (z. B. Becker 1967). Ein Beispiel für die Einführung des generativ-transformationalistischen Ansatzes in die DialektMorphologie stellt Schönfeldt (1977) dar. Wie in anderen Fällen ist die Grundfrage: Wie lassen sich dialektale Regelsysteme einfach, ökonomisch und natürlich darbieten und die Regelhaftigkeit gegenwärtiger Mundarten sprachhistorisch durchleuchten (vgl. Veith 1975, 68 ff.; Goossens 1977, 142)?
7.
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
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20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
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20. Erkenntnisinteressen und Zielorientierung in der Dialektologie
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
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21. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
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Hugo Steger, Freiburg
Verhältnis von Theorie und Empirie in der Dialektologie Einleitung Ursachen des Theoriedefizits Variabilität und Systematizität Standardsprache und Normbewußtsein Dialekt und Soziolekt Literatur (in Auswahl)
Einleitung
Die Erörterung des Verhältnisses von Theorie und Empirie in der Dialektologie mit der Feststellung zu beginnen, daß einem beeindruckenden Reichtum an empirischen Arbeiten ein oft beschworenes Theoriedefizit gegenübersteht, hat bei dem gegenwärtigen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungs-
stand kaum mehr als den Wert einer Berufung auf einen Gemeinplatz. Nicht mehr in gleichem Maße trivial sind hingegen die Konsequenzen, die aus dieser Feststellung zu ziehen sind. Die naheliegende Forderung nach einer Behebung besagten Theoriedefizits führt unmittelbar zu den zwei wichtigsten Rahmenbedingungen jeglichen therapeutischen Bemühens: dieses hat erstens an den Ursachen und nicht an den Symptomen eines festgestellten Mangels anzusetzen, und es hat zweitens so vorzugehen, daß es nur diesen Mangel und nicht gleichzeitig auch den Patienten beseitigt. Auf das Theoriedefizit in der Dialektologie angewandt bedeutet dies, daß zunächst nach seinen Ursachen zu
21. Verhältnis von Theorie und Empirie in der Dialektologie
fragen ist und daß der erst im Anschluß daran mögliche Versuch, Beiträge zur Behebung dieses Theoriedefizits zu leisten, so angelegt sein muß, daß er zu einer Theorie der Dialektologie und nicht zu der einer Disziplin führt, die mit dieser höchstens noch den Namen gemeinsam hat.
2.
Ursachen des Theoriedefizits
Die erste Frage nach den Ursachen des Theoriedefizits in der Dialektologie ist zumindest in einem ihrer Aspekte sehr leicht zu beantworten. Jede Disziplin benötigt zur Konstitution ihres Objektbereichs ein empirischen Untersuchungen vorgreifendes Vorverständnis über diesen Objektbereich, das zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Disziplin ausschließlich und in jedem wissenschaftsgeschichtlich späteren Stadium immer noch partiell implizit und intuitiv zu bleiben pflegt (vgl. dazu Art. 20 u. 22). Je umfassender nun der durch einen solchen implizit-intuitiven Vorgriff konstituierte Objektbereich ist, desto umfangreicher und arbeitsaufwendiger sind die sich aus ihm ergebenden empirischen Aufgabenstellungen, und desto naheliegender ist die Neigung, der Erfüllung dieser empirischen Aufgaben absoluten Vorrang einzuräumen. Dem Bemühen um das Explizitmachen des vortheoretischen Vorgriffs und um seine Überführung in einen theoretischen wird dann höchstens dort ein eigener Stellenwert zugebilligt, wo es praktikable Methodologien für die empirische Arbeit zu liefern verspricht. Genau diese Situation charakterisierte auch die Lage, in der vor rund hundert Jahren die zunächst anderen — meist sprachhistorischen — Interessen dienende wissenschaftliche Beschäftigung mit Dialekten zur Dialektologie als eigener Disziplin wurde: von dem der empirischen Arbeit eingeräumten Vorrang legen umfassende Materialsammlungen und -aufbereitungen wie die Sprachatlanten ein beredtes Zeugnis ab. Ihnen komplementär ist ein Defizit an Explizitheit des Vorgriffs, der den Objektbereich dieser Dialektologie konstituiert hat und der seinerseits als das vortheoretische implizit-intuitive Wissen um das, was Dialekte sind, bestimmt werden kann. Wer dieses Defizit beheben will, muß somit vorab die zwei Fragen nach dem, was dieses Wissen beinhaltet, und nach dem, was von ihm in eine theoretisch abgesichertere Dialektdefinition übernommen werden kann, beantworten.
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2.1. Der vortheoretische Dialektbegriff Ein praktisch allen intuitiven Vorstellungen von dem, was Dialekte sind, gemeinsames Merkmal ist der relationale Charakter des vortheoretischen Dialektbegriffs: etwas ist Dialekt nicht per se, sondern — in allgemeinster Formulierung — mit Bezug auf eine Sprache. In einem ersten Spezifizierungsschritt läßt sich in der so gewonnenen Opposition von Dialekt und Sprac he an Stelle von Sprac he das einsetzen, was je nach weiterer Subspezifizierung als Standardsprac he, Allgemeinsprac he, Sc hriftsprac he oder dergleichen mehr bezeichnet wird. Je nach der näheren Bestimmung dieser Standardsprache lassen sich verschiedene vortheoretische Dialektbegriffe unterscheiden. Ihrerseits erklärt diese Vielfalt, warum zwar jeder schon irgendwie immer weiß, was Dialekte sind, aus diesem Wissen aber sehr verschiedene Vorstellungen von Dialekt und damit von den Aufgaben der Dialektologie resultieren können. Insbesondere in zwei Dimensionen sind Unterscheidungen vorzunehmen: in einer gegebenen historischen Situation kann eine dem Dialektbegriff als Bezugspunkt dienende Standardsprache vorhanden sein oder fehlen; im zweiten Fall kann ihr Fehlen einfach hingenommen sein oder aber den Anlaß zum Bemühen um seine Behebung bilden; und in diesem letzten Fall wiederum kann das Bemühen um die Schaffung einer Standardsprache aus der betreffenden Sprechergemeinschaft selbst oder aber von außen kommen. Liegt eine Standardsprache vor oder wird sie angestrebt, so ist in einer weiteren Dimension danach zu unterscheiden, ob sie sich primär glottopolitisch als Nationalsprache oder dergleichen, primär sprachsoziologisch als Schrift- oder wie auch immer motivierte Prestigesprache, oder aber primär sprachkulturell als Prestigesprache in Mehrsprachigkeitssituationen gegenüber ihren Dialekten definiert. Aus der Multiplikation dieser Unterscheidungen ergeben sich die folgenden sieben Kombinationsmöglichkeiten: (1) Das Vorliegen einer sich glottopolitisch als Nationalsprache definierenden Standardsprache war und ist teilweise auch heute noch Normalfall in den Teilen Europas, in denen vor hundert Jahren die Dialektologie als eigene Disziplin entstanden ist. Diesem Ausgangspunkt entspricht das intuitive Wissen darum, daß Moselfränkisch und Schwäbisch deutsche oder daß Pikardisch und Poitevinisch französische Dialekte sind,
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
und aus ihm folgte eine Dialektologie, die ihre Hauptaufgabe in der Beschreibung und Erklärung der regionalen Untergliederung eines Sprachgebiets erblickt. (2) Das Vorliegen einer sich sprachsoziologisch als Prestigesprache definierenden Standardsprache ist ein charakteristisches Merkmal urbaner Zentren in modernen Industriegesellschaften. Ihm entspricht das intuitive Wissen um die sozial-distinktive Funktion von Dialekten wie dem Missingsch oder dem Cockney. Hieraus resultiert eine Dialektologie, die in Dialekten primär soziolinguistisch stratifizierte Varianten einer abstrakten Sprache erblickt, von der auch die wie auch immer definierte Standardsprache nur mehr eine unter anderen Varianten ist. (3) Das Vorliegen einer sich sprachkulturell als Prestigesprache in einer Mehrsprachigkeitssituation definierenden Standardsprache läßt sich im Hinblick auf die von ihm ausgehenden Wirkungen am besten mit Beispielen aus der Vergangenheit wie der Stellung des Latein im mittelalterlichen Europa oder des Arabischen in der islamischen Welt der gleichen Zeit illustrieren. Charakteristisch ist hier der akkulturierende Einfluß (vgl. Bossong 1978), den eine solche Standardsprache mehr noch als auf die ihr prestigemäßig untergeordneten Sprachen und/ oder Dialekte selbst auf das Bewußtsein ausübt, das deren Sprecher von ihnen haben. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist die jahrhundertelange Auseinandersetzung um die questione della lingua in Italien. Für die Bestimmung des Objektbereichs der Dialektologie hat dieser Fall kaum eine Rolle gespielt, obgleich auch in moderner Zeit die Stellung europäischer Kolonialsprachen in Übersee hierzu reichliches Beispielmaterial bieten könnte. (4) Beispiele für das Bemühen um die Institutionalisierung einer glottopolitisch als Nationalsprache fungierenden Standardsprache liegen aus junger und jüngster Vergangenheit vor. Dabei scheint die Frage, ob dieses Bemühen aus der betreffenden Sprechergemeinschaft selbst oder von außen kommt, in Fällen wie einerseits dem des Iwrit in Israel und andererseits dem des Moldavischen in der gleichnamigen Unionsrepublik der Sowjetunion vergleichsweise leicht, in Fällen wie dem des Rätoromanischen in der Schweiz oder des Quechua in Perú hingegen nicht mehr ganz so einfach zu beantworten zu sein. Alle vier Beispiele aber
machen deutlich, daß diese Frage unmittelbar in mehr oder minder brennende glottopolitische Auseinandersetzungen führt und daß daher der Verzicht auf ihre Beantwortung — und damit letztlich ein aus diesem Verzicht resultierendes Theoriedefizit — gelegentlich auch eine wohlüberlegte Schutzmaßnahme gegen unerwünschte Implikationen sein kann. (5) Beispiele für das bewußte Bemühen um eine sprachsoziologisch als Prestigesprache fungierende Standardsprache sind seltner und an jeweils spezifische historische Bedingungen gebunden. Für ein aus der betreffenden Sprechergemeinschaft kommendes entsprechendes Bemühen ließen sich die 1910 offiziell vollzogene Ablösung des Wényán durch das Guó-yǔ in China, die Ablösung des klassischen Malaiisch durch die Bahasa Indonesia oder, bezogen auf ein isoliertes Phänomen, der 1789 durchgesetzte Übergang von der [wε]- zu der [wa]-Aussprache in der französischen Standardsprache als Beispiele zitieren. In gewisser Weise ein analoges, aber von außen kommendes Bemühen lag vor, als die deutsche Kolonialverwaltung in Neuguinea das dortige englische Pidgin zur Verwaltungssprache machte, die heute als Neomelanesisch bekannt und auf dem besten Wege ist, zur Nationalsprache von Papua-Neuguinea zu werden. Auf die Bestimmung des Objektbereichs der Dialektologie haben diese Fälle kaum einen Einfluß ausgeübt. (6) Beispiele schließlich für das Bemühen um eine sprachkulturell als Prestigesprache in einer Mehrsprachigkeitssituation fungierende Standardsprache existieren in vielfältiger Form. In seiner extremsten Form liegt es in dem Bemühen um den Status einer Weltsprache vor, wie es sich in der Stellung des Englischen in der internationalen Luftfahrt oder in den französischen Maßnahmen zur Erhaltung und Ausweitung der francophonie niederschlägt. Für die Dialektologie und die Bestimmung ihres Objektbereichs sind derartige Bemühungen im wesentlichen nur dort von Interesse, wo sie zusätzlich an Rahmenbedingungen gebunden sind, die die mögliche Bandbreite von Mehrsprachigkeitssituationen auf denjenigen Teil begrenzen, der für sich genommen eher als Polydialektalitätssituation bezeichnet werden sollte. Ein Musterbeispiel hierfür liegt in dem Bemühen christlicher Missionare der Neuzeit vor, für Bibelübersetzungen standardisierte oder standardisierbare Sprachen zu benut-
21. Verhältnis von Theorie und Empirie in der Dialektologie
zen, die einem möglichst großen Kreis von Lesern und/oder Hörern einen möglichst ungehinderten Textzugang garantieren. Zumindest dort, wo die Missionstätigkeit erfolgreich ist, ist der Schritt von einer so geschaffenen Standardsprache zu einer Prestigesprache mit sprachkultureller Funktion nicht sehr groß. Für die Dialektologie ist dieser Fall deswegen von Interesse, weil er bei aller Ähnlichkeit insbesondere mit dem unter (4) genannten Fall ein gegenüber allen bisher aufgeführten Fällen neues Kriterium ins Spiel bringt: im Interesse des besagten möglichst ungehinderten Textzugangs müssen alle der neu geschaffenen Standardsprache zugeordneten Dialekte untereinander wechselseitig verständlich sein, und umgekehrt muß überall dort, wo diese wechselseitige Verständlichkeit endet, eine Sprachgrenze angesetzt werden. Dies erklärt, warum die Frage nach der Bestimmbarkeit und insbesondere der Quantifizierbarkeit der wechselseitigen Verständlichkeit kaum irgendwo so intensiv diskutiert wird wie bei den Bibelübersetzern (vgl. Weathers 1973). Aus dem gleichen Prinzip erklärt sich eine im Einzelfall wesentlich engere Sprachdefinition: Moselfränkisch und Schwäbisch hätten bei dem Kriterium der wechselseitigen Verständlichkeit kaum mehr eine Chance, als Dialekte ein und derselben Sprache gelten zu können. (7) Wenn nur das totale Fehlen einer wie auch immer gearteten Standardsprache konstatiert werden kann, entfällt selbstverständlich auch die Möglichkeit einer Unterscheidung nach der funktionalen Definition dieser fehlenden Standardsprache. Es entfällt darüberhinaus aber auch infolge des relationalen Charakters des vortheoretischen Dialektbegriffs die Möglichkeit überhaupt, von Dialekten und mit Bezug auf sie von Sprachen zu sprechen. Dieser Konsequenz entsprechen die Schwierigkeiten, die auch der nicht sprachwissenschaftlich und/oder dialektologisch vorbelastete Sprecher beim Gebrauch der Ausdrücke Dialekt und Sprache mit Bezug beispielsweise auf die australischen Sprachen verspürt. 2.2. Vom vortheoretischen zu einem theoretischen Dialektbegriff Nach dieser Bestandsaufnahme derjenigen implizit-intuitiven Vorstellungen von Dialekten, die — wenn nicht ausschließlich, so jedenfalls vorrangig — an der Konstitution des Objektbereichs der Dialektologie beteiligt gewesen sind, kann nun die zweite Frage
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nach dem gestellt werden, was von diesen Vorstellungen in eine theoretisch abgesichertere und explizite Dialektdefinition übernommen werden kann. Eine optimale Beantwortung dieser Frage unterliegt zwei Bedingungen. Einerseits folgt aus der Forderung nach einer Dialektdefinition, die die theoretische Grundlage der Dialektologie und nicht einer mit dieser nur mehr den gemeinsamen Namen teilenden neuen Disziplin sein soll, daß die implizit-intuitiven Vorstellungen von Dialekt so vollständig wie möglich in die zu erstellende Dialektdefinition zu übernehmen sind. Andererseits folgt aus der Forderung nach einer theoretisch abgesicherteren Dialektdefinition, daß in sie nur solche Elemente übernommen werden können, die weder zu Mehrfachdefinitionen noch zu Widersprüchen gleichviel welcher Art führen. Kein Problem werfen diese beiden Bedingungen auf, wenn es um die Übernahme des allen vorgeführten vortheoretischen Vorstellungen von Dialekt gemeinsamen Merkmals der Relationalität des Dialektbegriffs geht. Die Forderung, daß auch eine explizite Dialektdefinition diese Relationalität zu enthalten habe, ist ohne weiteres dadurch erfüllbar, daß Dialekt mit Bezug auf Sprac he als zweites Relationsglied definiert wird. Dies wiederum ist am einfachsten dadurch zu erreichen, daß beide als verschiedene Species eines gemeinsamen Genus proximum definiert werden. Schon bei den nächsten Schritten jedoch ergeben sich Probleme. So darf eine Dialektdefinition, auf der die Dialektologie schlechthin und nicht nur diejenige einer gegebenen Sprache X soll aufbauen können, nicht die Möglichkeit ihrer eigenen Unanwendbarkeit zulassen, wie sie sich in 2.1. unter (7) aus dem intuitiven Wissen um Dialekt ergab. Erst recht darf eine solche Dialektdefinition keine Bestimmungsstücke enthalten, die zu Widersprüchen der Art führen, wie sie in 2.1. unter (1) und (6) beobachtet werden konnten; dort erwiesen sich das Moselfränkische und das Schwäbische nach dem Kriterium der gemeinsamen Nationalsprache als Dialekte ein und derselben Standardsprache, während sie nach dem Kriterium der wechselseitigen Verständlichkeit entweder als Dialekte zweier verschiedener Standardsprachen oder selbst als zwei verschiedene Standardsprachen einzustufen sind. Es bleibt somit in detaillierter Form danach zu fragen, was in eine theoretisch abgesichertere Dialektdefinition übernommen werden kann. Die Beantwortung dieser Fra-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
ge tut gut daran, getrennt in einem ersten Schritt das Dialekt und Sprache gemeinsame Genus proximum zu bestimmen und auf seine Subspezifizierbarkeit hin zu überprüfen. Erst in einem zweiten Schritt kann dann nach dem speziellen Kriterium gefragt werden, das Dialekt und Sprache einander gegenüberzustellen gestattet.
3.
Variabilität und Systematizität
Für die Erfüllung der mit dem ersten Schritt gestellten Aufgabe einer Bestimmung des gemeinsamen Genus proximum von Sprache und Dialekt und seiner Subspezifizierbarkeit sind in der Sprachwissenschaft eine Reihe wichtiger Voraussetzungen erarbeitet worden. Im wesentlichen auf zweien von ihnen soll im folgenden aufgebaut werden. 3.1. Diachronie, Diatopie und Diastratie Die erste dieser beiden Voraussetzungen betrifft die nicht zuletzt aus der Dialektologie bestens bekannte Variabilität historischer Sprachen und liegt in Form der von Flydal (1951) eingeführten Unterscheidung zwischen diachronisch, diatopisch und diastratisch vor. Entsprechend der Lokalisierbarkeit des Sprache benutzenden Menschen in der Dimension der Zeit, in der Dimension des Raums und als Ens sociale werden danach in der diachronischen Dimension verschiedene Synchronien oder Sprachstadien, in der diatopischen Dimension verschiedene Syntopien oder Dialekte und in der diastratischen Dimension verschiedene Synstratien oder Soziolekte jeweils ein und derselben historischen Sprache unterschieden. Diese vereinfachte Formulierung läßt allerdings nicht nur den auch anderwärts in der Sprachwissenschaft üblichen Reichtum an terminologischen Varianten erkennen, sondern verbirgt auch eine Reihe von Punkten, an denen die Gefahr von Fehlinterpretationen droht und auf die daher eigens aufmerksam zu machen ist. 3.1.1. Aus der Abgrenzbarkeit einer gegebenen Variante in einer der drei Dimensionen folgt selbstverständlich nicht, daß sie nicht auch in den jeweiligen beiden anderen Dimensionen abgrenzbar wäre. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit — das dreidimensionale Modell Flydals impliziert genau das Gegenteil jener falschen Folgerung — eigens zu betonen, besteht deswegen Anlaß, weil nur so die gern gestellte Frage,
ob eine gegebene Variante Dialekt oder Soziolekt sei, als falsche Fragestellung erwiesen werden kann. So ist ein in der diatopischen Dimension abgegrenzter Dialekt zumindest virtuell — d. h. unter der Voraussetzung einer sinnvollen Abgrenzbarkeit in den beiden anderen Dimensionen — immer auch ein Soziolekt und ein Sprachstadium. Ein Beispiel hierfür bietet etwa das von Suter (1976) beschriebene Baseldeutsch, das schon durch seinen Namen in eindeutiger diatopischer (= geographischer) Opposition zu anderen alemannischen Dialekten steht, aber ebenso eindeutig von anderen Basler Soziolekten diastratisch abgrenzbar ist und wohl auch von eigenen früheren Sprachstadien diachronisch abgrenzbar sein dürfte. 3.1.2. Eine zweite Gefahr von Mißverständnissen droht aus der unterschiedlichen Interpretierbarkeit des Präfixes syn- der Termini synchronisch, syntopisch und synstratisch. Mindestens drei verschiedene Deutungen sind in der sprachwissenschaftlichen Literatur mehr oder minder ausgeprägt anzutreffen: (1) Syn- wird als semantisch eigenwertiger Terminusbestandteil aufgefaßt und absolut gesetzt; aus der Synchronie wird dabei die absolute kalendarische Gleichzeitigkeit, und das synchronische Sprachstadium umfaßt auch noch die heterogensten Elemente, wenn sie nur gleichzeitig vorkommen; für den syntopischen Dialekt und den synstratischen Soziolekt gilt Entsprechendes. (2) Syn- wird abermals als semantisch eigenwertiger Terminusbestandteil aufgefaßt, aber nur mehr relativ in Bezug auf jeweils festlegbare Bezugspunkte verstanden; sync hronisc h kann dann beispielsweise auf relative Entwicklungsstadien bezogen werden und so dem Indogermanisten als Rechtfertigung dafür dienen, daß er das heutige Litauisch lieber mit dem Alt- als mit dem Neuirischen konfrontiert. (3) Syn- wird ausschließlich als Negat des komplementären dia- aufgefaßt und als Hinweis darauf verstanden, daß von der durch dieses komplementäre dia- thematisierten Dimension zu abstrahieren ist; in dieser Deutung sind die mit dia- und syn- zusammengesetzten Termini nicht mehr auf die Gegenstände einer sprachwissenschaftlichen Analyse, sondern nur noch auf diese selbst anwendbar und geben an, welche Dimensionen thematisiert und welche nicht thematisiert werden sollen. Obgleich die unter (1) vorgestellte Deutung die am weitesten verbreitete sein dürfte,
21. Verhältnis von Theorie und Empirie in der Dialektologie
soll im folgenden wegen zweier gewichtiger Vorteile der Deutung (3) der Vorzug gegeben werden. Zum einen kann nur das Operieren mit einer Differentia specifica und ihrem Negat garantieren, daß die Subspezifizierung des entsprechenden Genus proximum exhaustiv erfolgt ist und daß nicht eines Tages Fälle auftauchen, die in dem vorgesehenen Modell nicht untergebracht werden können. Zum zweiten läßt die Beschränkung der Anwendbarkeit der Opposition von dia- und syn- auf die sprachwissenschaftliche Analyse alle diejenigen Probleme zu Resultaten eines unzulässigen transitus ab intellectu ad rem werden, die sich bei dem Versuch ergeben, entsprechende Unterscheidungen in dem Objektbereich sprachwissenschaftlicher Analysen vorzunehmen, und die insbesondere in dem Fall der Opposition von diachronisc h und sync hronisc h Gegenstand langer Auseinandersetzungen gewesen sind. 3.1.3. Nach diesen Klärungen können aus der Unterscheidung von diachronischer, diatopischer und diastratischer Dimension für eine Bestimmung der Subspezifizierbarkeit des — seinerseits nach wie vor unbestimmten — Genus proximum von Sprache und Dialekt, die gleichzeitig für die gesuchte Dialektdefinition nützlich sein zu können verspricht, die folgenden gleichermaßen legitimen Möglichkeiten abgeleitet werden: (1) Als Unterschiede zwischen Dialekten werden ausschließlich Unterschiede in der diatopischen Dimension gewertet; aus dem hierbei zu erwartenden Dialektbegriff leitet sich eine Bestimmung des Objektbereichs der Dialektologie ab, die die in 2.1. unter (1) aufgeführten Fälle vollständig und die unter (4) und (6) aufgeführten Fälle zu einem für die Dialektologie wesentlichen Teil, nicht jedoch die unter (2) und (5) aufgeführten Fälle einschließt; mit diesem letzteren Nachteil verbindet diese Möglichkeit die Vorteile erstens einer mit Bezug auf die drei hier in Frage stehenden Dimensionen eindeutigen Abgrenzung und zweitens einer Bestimmung des Objektbereichs der Dialektologie, die diese in Übereinstimmung mit ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung in unmittelbare Nähe zur Sprachgeographie rückt. (2) Als Unterschiede zwischen Dialekten werden Unterschiede in der diatopischen und/oder diastratischen Dimension gewertet; aus dem hierbei zu erwartenden Dialektbegriff leitet sich eine Bestimmung des Objektbereichs der Dialektologie ab, die sämtli-
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che in 2.1. unter (1) bis (6) aufgeführten Fälle einschließt; dieser Vorteil wird durch den Nachteil einer mit Bezug auf die drei hier in Frage stehenden Dimensionen insofern nicht-eindeutigen Abgrenzung erkauft, als von ihr aus die Auswahl zweier von drei Dimensionen als reichlich willkürlich erscheinen muß. (3) Als Unterschiede zwischen Dialekten werden Unterschiede in der diatopischen und/oder diastratischen und/oder diachronischen Dimension gewertet; diese Möglichkeit verbindet wesentliche Vorteile der Möglichkeiten (1) und (2) und vermeidet deren Nachteile; dafür aber hat sie den neuen Nachteil, einen Dialektbegriff erwarten zu lassen, aus dem sich die Bestimmung eines Objektbereichs der Dialektologie ableitet, der weit über die in dieser Disziplin bislang behandelten Bereiche hinausgeht. Da die im folgenden anzustellenden Überlegungen alle drei Möglichkeiten gleichermaßen betreffen, und da Beispiele so ausgewählt werden können und werden, daß Unterschiede zwischen Dialekten immer zumindest unter anderem auch Unterschiede in der in allen drei Möglichkeiten vorgesehenen diatopischen Dimension sind, braucht hier keine Entscheidung zwischen diesen dreien gefällt zu werden. Ausdrücklich festzuhalten bleibt damit aber, daß sich alle im weiteren Verlauf zu entwickelnden Bestimmungen auf drei verschiedene und per se gleichermaßen legitime Konzeptionen von Dialektologie beziehen. Es bleibt dem einzelnen Dialektologen anheimgestellt, mehr oder minder explizit erkennen zu lassen, welcher dieser Konzeptionen er sich verbunden fühlt. 3.2. Variabilität Die zweite hier heranzuziehende wichtige Voraussetzung für die Bestimmung des gemeinsamen Genus proximum von Sprache und Dialekt betrifft die Frage, auf welchem Abstraktionsniveau die Variabilität historischer Sprachen wie zu bestimmen ist. Diese Voraussetzung liegt in Form der Bestimmungen vor, die Lieb (1970 ) für die Variabilität in der diachronischen Dimension gegeben hat (und die von der diatopischen und der diastratischen Dimension abstrahieren und somit im Sinne von 3.1.2. (3) als syntopisch und synstratisch einzustufen sind). Gemäß diesen Bestimmungen können auf einer gegenüber den konkreten und an ihr jeweiliges hic et nunc gebundenen Sprechereignissen
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
niedrigen Abstraktionsebene in der diachronischen Dimension von einander abgrenzbare Sprachstadien als homogene Klassen sprachlicher Verständigungsmittel definiert werden. Die solche Sprachstadien umfassende historische Sprache bestimmt sich dann als Vereinigung dieser homogenen Klassen sprachlicher Verständigungsmittel. Auf einer höheren Abstraktionsebene kann jedem sprachlichen Verständigungsmittel (mindestens) ein System zugeordnet werden. Jedem Sprachstadium und überhaupt jeder weiteren (Vereinigungs-)Klasse sprachlicher Verständigungsmittel entspricht somit als Korrelat die Klasse der Systeme, die den in ihm/ ihr enthaltenen sprachlichen Verständigungsmitteln zugeordnet sind. In Form eines qualitativ neuen Abstraktionsschritts können nun mit Hilfe von Transformationen von Systemen aus einer solchen Klasse von Systemen Systeme höheren Abstraktionsgrades gebildet werden. Damit kann auch jedem Sprachstadium, jeder historischen Sprache (womit Lieb über Saussure hinausgeht) und (über Lieb hinausgehend) jeder diachronischen Abfolge historischer Sprachen wie der vom Latein zu den romanischen Sprachen führenden ein System entsprechend hohen Abstraktionsgrades zugeordnet werden. Aus diesen Bestimmungen ergeben sich eine Reihe wichtiger Konsequenzen für die hier zu beantwortende Frage nach dem Genus proximum von Sprache und Dialekt und seiner Subspezifizierbarkeit. 3.2.1. Vorab ist nach der Übertragbarkeit des von Lieb für die diachronische Dimension Erarbeiteten auf die diatopische und die diastratische Dimension zu fragen. Lieb baut seine Bestimmungen auf einer engen Korrelierung von Sprechern und sprachlichen Verständigungsmitteln auf. Die Lokalisierbarkeit von Sprechern in der Dimension der Zeit weist nun mit deren Lokalisierbarkeit in der Dimension des Raums und als Entia socialia zwar prinzipielle Analogien, infolge der unterschiedlichen Mobilität des Menschen in diesen Dimensionen und des unterschiedlichen Bewußtseins, das er von ihnen hat, aber auch erhebliche Divergenzen auf. Deshalb ist die gesuchte Übertragbarkeit weder automatisch gegeben, noch kann sie auf knappem Raum in extenso nachgewiesen werden. Für die hier in Frage stehenden Probleme allerdings reichen die prinzipiellen Analogien aus, um die folgende Annahme zu rechtfertigen: auch mit Bezug auf die diatopische und die diastratische Abgrenzbar-
keit sind in Analogie zu dem von Lieb eingeschlagenen Verfahren homogene Klassen sprachlicher Verständigungsmittel definierbar, die genau wie die Sprachstadien der Vereinigung zu historischen Sprachen fähig sind und denen Systeme zugeordnet werden können. Die sich möglicherweise aus der Bestimmung dieser Klassen sprachlicher Verständigungsmittel als homogener Klassen ergebende Problematik wird im folgenden dadurch umgangen, daß als Ausgangspunkt minimale und somit notwendigerweise homogene momentane Idiolekte angesetzt werden; die Beantwortung der Frage, bis zu welcher Grenze diese Homogeneität darüberhinaus angenommen werden kann, bleibt damit unerheblich. In dem so abgegrenzten Rahmen kann nun als gemeinsames Genus proximum von Sprache und Dialekt die Klasse sprachlicher Verständigungsmittel im Sinne der von Lieb gegebenen Bestimmungen eingesetzt werden, denn auch die Vereinigung solcher Klassen ist selbst wieder eine Klasse sprachlicher Verständigungsmittel. Außer Sprache und Dialekt selbst gehören als Species zu diesem Genus proximum das im Sinne der von Lieb gegebenen Bestimmungen diachronisch abgegrenzte Sprachstadium, der im Sinne von 3.1.3. (1) gegebenenfalls dem Dialekt gegenüberzustellende diastratisch abgegrenzte Soziolekt, der im Sinne gleichzeitig aller drei in 3.1. eingeführten Dimensionen minimale momentane Idiolekt und schließlich jede nach welchem Kriterium auch immer gebildete Klasse von Sprachen. Für die Subspezifizierbarkeit dieses Genus proximum steht mit der Unterscheidung der drei Dimensionen diachronisch, diatopisch und diastratisch ein Ansatz zur Verfügung, der seinen Nutzen inzwischen schon erwiesen hat. 3.2.2. Vor der weiteren Verfolgung der so eröffneten Möglichkeiten ist eine methodologische Alternative zu berücksichtigen, die die von Lieb gegebenen Bestimmungen eröffnen. Sie besteht in der Möglichkeit, alle weiteren Definitionen entweder auf das niedrige Abstraktionsniveau der Klassen sprachlicher Verständigungsmittel oder aber auf das höhere Abstraktionsniveau der ihnen zugeordneten Systeme zu beziehen. Wenn im folgenden der zweiten Möglichkeit der Vorzug gegeben wird, so spielen dabei zwar gewisse Nützlichkeitserwägungen eine erhebliche Rolle; jedoch soll dies in keiner Weise ausschließen, daß auch eine Entscheidung zu Gunsten der ersten Möglichkeit zum Ziele
21. Verhältnis von Theorie und Empirie in der Dialektologie
führen könnte. Es wird somit hinfort weniger von Sprachen, Dialekten etc. als von Sprachsystemen, dialektalen Systemen etc. die Rede sein. Dabei sollen jedes aus einer Klasse von Systemen gebildete System höheren Abstraktionsgrades mit Bezug auf die in dieser Klasse enthaltenen Systeme als deren Diasystem, und umgekehrt Systeme niedrigeren Abstraktionsgrades mit Bezug auf ihr Diasystem als Subsysteme bezeichnet werden. Subsystem und Diasystem stehen somit nicht nur in einer Relation, die das Enthaltensein der Klasse in der Vereinigung von Klassen, denen sie zugeordnet sind, widerspiegelt, sondern gleichzeitig in einer Ordnung, die von niedrigerem zu höherem Abstraktionsgrad führt. Daß der höhere Abstraktionsgrad mit dem Diasystem selbst auch sämtliche in ihm figurierende Entitäten betrifft, sei an einem einfachen Beispiel illustriert: wenn den bekannten Korrelationen der vokalischen Phoneme in den Reihen (standard-)deutsch /? aux/ : /haus/ : /būx/, rheinfränkisch /āx/ : /haus/ : /būx/ und alemannisch /au/ : /hūs/ : /buĕx/ in einem alle drei umfassenden Diasystem Rechnung getragen werden soll, so kann dies nur durch die Einführung entsprechend abstrakterer Phoneme vom Typ / /ú/ /, / /ù/ / und / /û/ / sowie die Festlegung erfolgen, daß in den genannten Subsystemen dem Diaphonem / /ú/ / die Subphoneme /au/ und /ā/, dem Diaphonem / /ù/ / die Subphoneme /au/ und /ū/ und dem Diaphonem / /û/ / die Subphoneme /ū/ und /uĕ/ in der folgenden Verteilung entsprechen:
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interessierenden Möglichkeiten und Zwängen gehört insbesondere der Umstand, daß — entgegen möglichen Befürchtungen — die Beschreibung von Diasystemen hohen Abstraktionsgrades sich nicht etwa in nichtssagenden Allgemeinheiten verlieren darf, sondern die Beschreibungen der in einem solchen Diasystem zusammengefaßten Subsysteme exhaustiv zu integrieren hat (vgl. Heger 1976, 17—18). Dies erfolgt dadurch, daß die für die Unterscheidung dieser Subsysteme relevanten Oppositionsmerkmale in symptom- und/oder signalfunktional relevante Merkmale innerhalb des gemeinsamen Diasystems uminterpretiert werden. Mit Hilfe solcher Merkmale gibt sich der jeweilige Sprecher gegenüber dem jeweiligen Hörer — gleichviel ob wissentlich oder unwissentlich, ob mit oder ohne eine bestimmte kommunikative Absicht, ob vom Hörer bemerkt oder nicht — als Benutzer eines bestimmten Subsystems und damit als — gleichviel ob tatsächlicher, vermeintlicher oder fingierter — Angehöriger einer bestimmten Untermenge der betreffenden Sprechergemeinschaft zu erkennen. Auf das hier benutzte Beispiel übertragen bedeutet die genannte Uminterpretation, daß eine Beschreibung des Diaphonems / /ù/ / sich nicht mit der Darstellung der symbolfunktionalen Opposition, in der es zu den Diaphonemen / /ú/ / und / /û/ / steht, begnügen kann, sondern auch seine Konkretisierung in Form der Subphoneme /au/ und /ū/ sowie die von diesen gebildete symptom- und/oder signalfunktionale Opposition zum Gegenstand haben muß. 3.3. Hierarchie von Diasystemen
Abb. 21.1: Diaphoneme und Subphoneme Daß diese nicht nur sprachliche Systeme, sondern auch die in ihnen figurierenden Entitäten betreffende Unterscheidung verschiedener Abstraktionsgrade für die sprachwissenschaftliche und damit für die dialektologische Beschreibung zusätzliche Möglichkeiten und Zwänge zur Präzision schafft, liegt auf der Hand; darauf, daß sie auch für die Bestimmung des Verhältnisses von Dialekt und Sprache nicht ohne Folgen bleibt, wird in 4.3. zurückzukommen sein. Zu den hier
Auf der Basis der in 3.2.1. erfolgten Bestimmung des gemeinsamen Genus proximum von Sprache und Dialekt als der Klasse sprachlicher Verständigungsmittel und der in 3.2.2. getroffenen Entscheidung, im weiteren Verlauf auf der abstrakteren Ebene der diesen Klassen sprachlicher Verständigungsmittel zugeordneten Systeme zu operieren, kann nun aus der gleichermaßen durch den geringeren vs. höheren Abstraktionsgrad und durch die geringere vs. größere Extension bestimmten Relation von Subsystem zu Diasystem und deren beliebiger Iterierbarkeit eine Hierarchie von Systemen wachsenden Abstraktionsgrades und entsprechend wachsender Extension abgeleitet werden. Auf dem untersten Rang dieser Hierarchie kommt als System niedrigsten Abstraktionsgrades gemäß 3.2.1. das momentane idiolektale System zu stehen; es ist einer sowohl in
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
der diachronischen als auch in der diatopischen als auch in der diastratischen Dimension als minimal abgegrenzten Klasse sprachlicher Verständigungsmittel — eben dem momentanen Idiolekt — zugeordnet. Durch Zusammenfassung mehrerer solcher momentaner idiolektaler Systeme zu einem gemeinsamen Diasystem und durch entsprechende Iterierung dieses Schrittes entsteht eine Hierarchie, wie sie in vereinfachter Form im folgenden Schema dargestellt ist:
Abb. 21.2: Hierarchie von Diasystemen Unter der Voraussetzung, daß die übliche, im wesentlichen diachronisch-genetisch begründete Klassifizierung romanischer Sprachen und Dialekte unbesehen übernommen werden kann, läßt sich Schema B folgendermaßen konkret illustrieren: Rang (a) = Momentaner Idiolekt eines Sprechers in Marseille Rang (b) = Stadtdialekt von Marseille Rang (c) = Provenzalisch Rang (d) = Okzitanisch Rang (e) = Galloromanisch Rang (f) = Romanisch Rang (g) = Indogermanisch In dieser Illustration sind implizit zwei für die Bestimmung des Verhältnisses von Dialekt und Sprache zwar noch nicht hinreichende, aber notwendige Definitionsstükke enthalten. Auf sie ist zunächst näher einzugehen. Dem Verhältnis zwischen einer 3.3.1. Sprache und den ihr zuzuordnenden Dialekten entspricht in der Hierarchie von Diasystemen das Verhältnis zwischen einem System (n)-ten Abstraktionsgrades und den ihm — unmittelbar oder mittelbar — direkt untergeordneten Systemen (n-i)-ten Abstraktionsgrades (mit 0 < i < (n—1)). Auf die in Schema B darstellbaren Relationen zwischen den romanischen Sprachen und Dialekten bezogen schließt diese Festlegung aus, daß das auf Rang (c) lokalisierte Provenzalische als Dialekt des auf Rang (b) lokalisierten Stadtdialekts von Marseille (Überordnung), des auf Rang (c) zu lokalisierenden Langue-
dokischen (Nebenordnung) oder des auf Rang (d) zu lokalisierenden Französischen (indirekte Unterordnung) eingestuft wird. Hingegen ermöglicht sie seine Einstufung als Dialekt des auf Rang (d) lokalisierten Okzitanischen (unmittelbare direkte Unterordnung) oder des auf Rang (e) lokalisierten Galloromanischen (mittelbare direkte Unterordnung). Neben diesen erwünschten Resultaten ermöglicht sie aber auch die unerwünschte Einstufung etwa des auf Rang (d) zu lokalisierenden Französischen als Dialekts des auf Rang (e) lokalisierten Galloromanischen (unmittelbare direkte Unterordnung) oder des auf Rang (g) lokalisierten Indogermanischen (mittelbare direkte Unterordnung). Sie erweist damit ihre Ergänzungsbedürftigkeit um ein hinreichendes Definitionsstück für die Bestimmung des Unterschieds zwischen Sprache und Dialekt. 3.3.2. Das hierarchische Verhältnis zwischen einem System (n)-ten Abstraktionsgrades und den ihm direkt untergeordneten Systemen (n-j)-ten Abstraktionsgrades (mit 0 < j < n) entspricht nicht nur dem zwischen einer Sprache und den ihr zuzuordnenden Dialekten, sondern bildet gleichermaßen das Verhältnis zwischen einem Dialekt und den ihm zuzuordnenden momentanen Idiolekten sowie das zwischen einer Sprachgruppe oder -familie und den ihr zuzuordnenden Sprachen ab. Von den damit zu unterscheidenden vier statt zwei Species von Klassen sprachlicher Verständigungsmittel — momentaner Idiolekt, Dialekt, Sprache und Sprachgruppe — ist einstweilen lediglich die erste durch ihre eineindeutige Zuordnung auf den untersten Rang der Hierarchie von Diasystemen wohldefiniert: momentane idiolektale Systeme können nur auf Rang (a) erscheinen, und auf Rang (a) können nur momentane idiolektale Systeme erscheinen. Von Dialekten, Sprachen und Sprachgruppen hingegen ist einstweilen lediglich bekannt, daß die ihnen zugeordneten Systeme im Verhältnis hierarchischer Unterordnung zu einander zu stehen haben, nicht jedoch, nach welchem Kriterium zwischen der Zuordnung von Dialekten zu einer Sprache und der von Sprachen zu einer Sprachgruppe zu unterscheiden ist. 3.4. Kriterien der Diasystem-Bildung Vor der Verfolgung der Frage nach diesem Kriterium ist festzuhalten, daß mit dem Prinzip der Hierarchie von Diasystemen noch keineswegs die Frage entschieden ist und
21. Verhältnis von Theorie und Empirie in der Dialektologie
auch nicht in abstracto entschieden werden kann, welche Subsysteme im jeweiligen Einzelfall zu welchem Diasystem zusammengefaßt werden sollen. Sowohl aus der Dialektologie als auch aus dem Bemühen um Sprachklassifizierungen sind im Gegenteil die Schwierigkeiten hinlänglich bekannt, mit denen bei der Beantwortung dieser Frage zu rechnen ist. Sie ergeben sich in erster Linie daraus, daß verschiedene Klassifizierungskriterien häufig auch zu verschiedenen Klassifizierungen führen. So eindeutig beispielsweise das Neomelanesische nach lexikalischen bzw. lexikostatistischen Kriterien als englisch einzustufen ist, so eindeutig ist es nach phonologischen und manchen morphologischen Kriterien als melanesisch einzustufen. Analoge einander scheinbar widersprechende Resultate ließen sich für zahlreiche andere Beispiele erzielen — es sei hier nur an den entsprechenden Streit um die Gewichtung des lexikalischen Einflusses des Französischen auf das Englische oder des Slavischen auf das Rumänische erinnert. Widersprüchlich sind diese Resultate jedoch nur so lange, wie man an eine Homogeneität von Klassifizierungskriterien glaubt, die zwar im Einzelfall einmal vorliegen kann, es aber keineswegs muß. Geht man stattdessen von der jederzeit in Rechnung zu stellenden Möglichkeit des Nicht-Vorliegens dieser Homogeneität aus, dann ergibt sich die Notwendigkeit einer Auswahl oder jedenfalls einer Gewichtung von Klassifizierungskriterien. Hierbei stehen zwei prinzipiell verschiedene Wege zur Verfügung. 3.4.1. Der eine Weg führt zu dem, was üblicherweise als typologische Klassifizierung von Sprachen und Dialekten bezeichnet wird. Ihm entspricht ein Vorgehen, das grundsätzlich in allen zu erfassenden Fällen dieselben Klassifizierungskriterien mit denselben Prioritäten anwendet. Beispiele hierfür bieten Klassifizierungen etwa nach den Greenbergschen ‘Universalien’, Gegenüberstellungen wie die von präfigierenden und suffigierenden Sprachen, die in älteren Klassifizierungen afrikanischer Sprachen eine große Rolle gespielt hat (und die das Französische und das Rätoromanische aus dem Kreis der romanischen Sprachen ausschliessen würde), oder Klassifizierungen nach lexikalischen und/oder lexiko-statistischen Kriterien, aus denen etwa für das Englische eine Zwischenstellung zwischen den germanischen und den romanischen Sprachen resultieren würde.
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3.4.2. Der andere Weg stellt die Sprachklassifizierung in den Dienst mehr oder minder vorgegebener Klassifizierungsziele und besteht in einem Vorgehen, das die Gewichtung möglicher Klassifizierungskriterien von Fall zu Fall jeweils so abwandelt, daß die sich ergebenden Resultate dem gesetzten Ziel so nahe wie möglich kommen. Neben dem einen oder anderen eher marginalen Fall ist als bekanntestes und mit Abstand seriösestes Beispiel hierfür die historisch-genetische Sprachklassifizierung zu nennen, die naturgemäß mit variierenden Prioritäten verschiedenster Klassifizierungskriterien arbeiten muß. So kann sie beispielsweise einerseits unter Hintanstellung lexikalischer Kriterien das Englische zweifelsfrei den germanischen Sprachen und andererseits unter bevorzugter Anwendung eben dieser lexikalischen Kriterien die Kreolensprachen kolonialer Herkunft ebenso zweifelsfrei ihren jeweiligen europäischen Ausgangssprachen zuordnen. Ebenfalls naturgemäß stößt sie dort auf die größten Schwierigkeiten, wo — wie etwa im Fall der Indianersprachen — mangels hinreichender allgemein-historischer Kenntnisse das Klassifizierungsziel selbst erst noch bestimmt werden muß und nicht wie in der Romanistik in mehr oder wie in der Indogermanistik in minder deutlicher Form vorgegeben ist.
4.
Standardsprache und Normbewußtsein
Der Versuch, die in 3.3. offen gebliebene Frage nach dem für die Bestimmung des Unterschieds zwischen Dialekt und Sprache hinreichenden Definitionsstück zu beantworten, bildet den zweiten der beiden abschließend in 2.2. unterschiedenen Schritte. An seinem Beginn hat abermals eine Rückbesinnung auf das zu stehen, was in 2.1. als der Inhalt des für die Dialektologie konstitutiv gewesenen implizit-intuitiven Wissens um Dialekte dargestellt worden ist. Hierzu gehört neben dem in 3. explizit gemachten relationalen Charakter des vortheoretischen Dialektbegriffs dessen Bezugsetzung auf Sprache qua Standardsprache, Allgemeinsprache, Schriftsprache und dergleichen mehr. Auf die je spezifischen Ausprägungen dieses Bezugspunktes beispielsweise als Nationalsprache oder als Literatursprache kann hier nicht zurückgegriffen werden, da ihr Nebeneinander, wie in 2.1. gezeigt wurde, zu
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Widersprüchen führt und da die Entscheidung zu Gunsten einer einzigen unter ihnen völlig externe Kriterien in die Definition eines theoretisch abgesicherteren Dialektbegriffs hineintragen würde. Sehr wohl hingegen kann der Versuch unternommen werden, mit dem zu operieren, was allen diesen Ausprägungen gemeinsam ist und was daher zunächst präziser gefaßt werden muß. 4.1. Norm und Normbewußtsein Sämtliche derartige Ausprägungen von Standardsprache und dergleichen mehr sind dadurch charakterisiert, daß sie von ihren Benutzern in irgendeiner Form und in mehr oder minder hohem Ausmaß als verbindliche Muster sprachlichen Verhaltens akzeptiert und anerkannt werden. Diese präskriptiv-normative Verbindlichkeit veranlaßt den Benutzer einer solchen Standardsprache, sich mehr oder minder getreu an die von ihr gesetzten Regeln zu halten, und sie befähigt ihn dazu, anderen gegenüber Urteile wie ‘falsch’ und ‘richtig’ oder Auskünfte wie die abzugeben, wo seine Standardsprache ‘am besten’ gesprochen wird. Es liegt daher nahe, im Anschluß an Havránek 1936 (vgl. Heger 1969, 55) in allen solchen Fällen vom Vorliegen einer Norm zu sprechen und diesen Terminus im Sinne der besagten normativen Verbindlichkeit zu verstehen, die das sprachliche Verhalten derer, die diese Verbindlichkeit akzeptieren, in dem Ausmaß, in dem sie sie akzeptieren, normiert. Für denjenigen allerdings, der eine solche Norm nicht intrakommunikativ akzeptieren (oder ablehnen), sondern extrakommunikativ beschreiben will, ergibt sich sofort die Notwendigkeit, zusätzliche Differenzierungen einzuführen. 4.1.1. So untrennbar Norm und Normbewußtsein für den, der eine Norm akzeptiert hat, mit einander verknüpft sind, so unumgänglich ist es für den analysierenden Sprachwissenschaftler, zwischen beidem strikt zu trennen. Verhältnismäßig oft zu beobachten ist beispielsweise, daß die metasprachlichen Auskünfte, die eine Gewährsperson über ‘richtig’, ‘falsch’, ‘schön’ und dergleichen mehr abgibt, offensichtlich auf eine andere Norm bezogen sind als die, die ihr sprachliches Verhalten selbst normiert — so etwa, wenn die Frage nach den deutschen Analoga französischer Temps surcomposés mit der überzeugenden Auskunft beschieden wird, „nein, so was hab’ ic h noc h nie gehört gehabt“. Würde man nicht zwischen Norm und Normbewußtsein unterscheiden, bliebe
in einem solchen Fall nur die kaum befriedigende Möglichkeit, der betreffenden Gewährsperson eine völlig unsinnige Widersprüchlichkeit zu unterstellen. Ähnliche scheinbare Widersprüche können sich bei der Zuordnung einer akzeptierten oder abgelehnten Norm zu einer bestimmten Klasse sprachlicher Verständigungsmittel ergeben und dazu führen, daß auf Grund glottopolitischer oder irgendwelcher anderer der in 2.1. dargestellten Faktoren beispielsweise der Sprecher des Stadtdialekts von Marseille davon überzeugt ist, ein ‘schlechtes Französisch’ zu sprechen. Dieser Fall wäre gleichzeitig charakteristisch für die besonderen Schwierigkeiten, die sich für das Normbewußtsein bei der Zuordnung der Norm zu einer Klasse sprachlicher Verständigungsmittel ergeben, die durch eine relativ große Extension ausgezeichnet und der infolgedessen auch ein Diasystem relativ hohen Abstraktionsgrades zugeordnet ist. Einerseits wird es hinsichtlich der relativ großen Extension solcher Klassen sprachlicher Verständigungsmittel dem durchschnittlichen Normbewußtsein völlig unproblematisch erscheinen, von der Norm des Französischen oder irgendeiner anderen Standardsprache mit einer acht- bis neunstelligen Sprecherzahl auszugehen. Andererseits aber wird man von kaum einem Sprachbenutzer erwarten können, daß er sein Normbewußtsein auf so abstrakte Entitäten wie die in 3.2.2. vorgeführten Diaphoneme bezieht. Auf sich hieraus ergebende Probleme wird in 4.3. zurückzukommen sein. 4.1.2. Wie für jedes Bewußtsein von etwas gilt auch für das Normbewußtsein, daß es zu der Frage nach der Unterscheidbarkeit verschieden hoher Bewußtheitsgrade herausfordert. Zwar wird man als Antwort keine bestimmte Zahl säuberlich durch wechselseitige Oppositionen definierter Grade, aber immerhin eine kontinuierliche Skala mit mehr oder minder eindeutig bestimmbaren Extrempunkten erwarten dürfen. In der Tat läßt sich für das Normbewußtsein eine solche Skala aufstellen. An ihrem unteren Ende kommt dasjenige Minimum an Norm zu stehen, das immer und überall, wo Sprache benutzt wird, zu unterstellen ist. Dieses Minimum umfaßt einerseits die das tatsächliche sprachliche Verhalten normierende Norm, die im Extremfall dem jeweiligen momentanen Idiolekt zuzuordnen ist und die im Sinne der Unterscheidung zwischen einem Können und dem Wissen um dieses Können völ-
21. Verhältnis von Theorie und Empirie in der Dialektologie
lig unbewußt bleiben kann. Andererseits gehört zu dem besagten Minimum an Norm die in jeder Sprechergemeinschaft vorhandene Fähigkeit, gegenüber den in ihr aufwachsenden Kindern Urteile über ‘richtig’ und ‘falsch’ abzugeben; auch diese Fähigkeit kann zwar nicht völlig, aber immer noch sehr weitgehend unbewußt bleiben. Am anderen Ende der Skala kann als in der Praxis unter Garantie nicht überschreitbares Extrem jene exhaustiv bewußte Normierung jeglichen denkmöglichen sprachlichen Verhaltens eingesetzt werden, die zwar den Wunschtraum manch eines Sprachnormierers bilden mag, deren Wirkung jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach in der totalen Sprechunfähigkeit des mit einem solchen Normbewußtheitsgrad Geschlagenen bestehen würde. Für theoretisch etwas weniger anspruchsvolle Zwecke wird es daher genügen, von einer völlig impliziten Norm am unteren Ende der Skala, wie sie in dem angedeuteten Minimum an Normbewußtheit vorliegt, und einer völlig expliziten Norm am oberen Ende der Skala, wie sie im Fall fixierter Schriftsprachen vorzuliegen pflegt, auszugehen und beliebig viele Zwischengrade mehr oder minder expliziter Normen zuzulassen. Bei aller Vereinfachung ist diese Gegenüberstellung von impliziter und expliziter Norm insbesondere für denjenigen von nicht geringem Interesse, der die Frage zu beantworten sucht, ob für die Klasse sprachlicher Verständigungsmittel, der ein gegebenes Diasystem zugeordnet ist, eine Norm existiert oder nicht. Da nur eine explizite, nicht aber eine implizite Norm unmittelbar zugänglich ist, ergeben sich bei der Beantwortung dieser Frage je nach dem, welcher der folgenden drei Fälle vorliegt, auch je verschiedene Schwierigkeiten. 4.1.2.1. Wenn für die Klasse sprachlicher Verständigungsmittel, der ein gegebenes Diasystem zugeordnet ist, in der betreffenden Sprachgemeinschaft — verstanden als der Menge der Benutzer dieser Klasse sprachlicher Verständigungsmittel — keine explizite Norm existiert, ergibt sich für die linguistische Beschreibung die in der Praxis oft nur unter erheblichen Schwierigkeiten zu lösende Aufgabe zu eruieren, ob die Abwesenheit einer expliziten Norm gleichbedeutend ist mit der Abwesenheit jeglicher Norm, oder ob eine implizite Norm vorliegt und wie dieses Vorliegen wahrscheinlich gemacht werden kann. Ein Beispiel für den ersten Fall bietet das Rätoromanische mit seinen eindeutig nicht identischen expliziten Nor-
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men für die Schulsprachen Surselvisch und Engadinisch und der ebenso eindeutigen Abwesenheit jeglicher diesen übergeordneter Norm. Ebenso wird man die Abwesenheit jeglicher Norm dort unterstellen müssen, wo zwei Diasysteme zwar typologisch und/oder genetisch eng mit einander verwandt sind, wo aber nachweislich zwischen den betreffenden Sprachgemeinschaften überhaupt kein Kontakt besteht. In vielen anderen Fällen hingegen wird es ratsam sein, mit der Unterstellung der Abwesenheit auch impliziter Normen eher vorsichtig umzugehen. Dies gilt insbesondere dort, wo — wie bei vielen afrikanischen und amerikanischen Sprachen — aus historischen und sozialen Gründen eine explizite Norm nicht oder nur ansatzweise vorliegen kann. 4.1.2.2. Wenn für die Klasse sprachlicher Verständigungsmittel, der ein gegebenes Diasystem zugeordnet ist, in der betreffenden Sprachgemeinschaft eine explizite Norm existiert, ist die Frage ihres Vorhandenseins dank der aus Schulunterricht, normativer Tätigkeit von Akademien und dergleichen mehr bekannten und jedermann zugänglichen Art ihrer Fixierung schon vorweg beantwortet. Eventuelle Schwierigkeiten können sich hier jedoch aus der anderen Frage nach der Berechtigung der Zuordnung von Norm und Diasystem zu derselben Klasse sprachlicher Verständigungsmittel ergeben. Die Fragwürdigkeit einer solchen identischen Zuordnung erklärt sich zumeist daraus, daß die diachronische Entwicklung von Sprachen anderen Einflüssen ausgesetzt ist als die diachronische Entwicklung (bzw. Konstanz) von explizit fixierten Normen und diese wiederum anderen als diejenige des sie tragenden Normbewußtseins. Allerdings werden die daraus resultierenden divergierenden Entwicklungen auch immer wieder durch den konvergierenden Effekt wechselseitiger Beeinflussungen von Sprache, Norm und Normbewußtsein abgemildert und partiell rückgängig gemacht. 4.1.2.3. Wenn für eine gegebene Klasse sprachlicher Verständigungsmittel in der betreffenden Sprachgemeinschaft mehrere mehr oder minder explizite Normen existieren, liegt insofern ein Irrtum des Sprachbewußtseins dieser Sprachgemeinschaft vor, als typologisch und/oder genetisch eng verwandte Diasysteme, deren jedem einzelnen jeweils eine eigene mehr oder minder explizite Norm entspricht, für identisch gehalten
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
und einer nur vermeintlich einzigen Klasse sprachlicher Verständigungsmittel zugeordnet werden. Diasysteme, die die Gefahr eines solchen Irrtums herbeiführen, sind einander hierarchisch direkt unter- oder nebengeordnet. Beispiele für den ersten Fall bieten die zwischen Europa und Amerika geführten Auseinandersetzungen um ‘die’ Norm ‘des’ Spanischen, ‘des’ Englischen und ‘des’ Portugiesischen. Diese Beispiele machen gleichzeitig deutlich, daß hinter dem, was in sprachwissenschaftlicher Sicht als Irrtum des Sprachbewußtseins einzustufen ist, nicht selten unverkennbare glottopolitische Interessen und Ansprüche stehen, die — vielleicht nicht einmal immer ohne Absicht — übersehen lassen, daß es beispielsweise für den Mexikaner einerseits ein Diasystem und eine ihm entsprechende Norm gibt, die ihm mit der gesamten übrigen spanischsprachigen Welt gemeinsam sind, und daß es andererseits ein jenem ersten hierarchisch untergeordnetes Diasystem und eine diesem entsprechende Norm gibt, durch deren Gebrauch er sich von allen übrigen spanischsprachigen Gebieten unterscheidet. Der zweite Fall einander nebengeordneter Diasysteme in derselben Sprachgemeinschaft ist wesentlich seltner und entspricht der sog. Diglossie-Situation (im engeren, d. h. nicht in dem von Ferguson ausgeweiteten Sinn des Terminus), wie sie aus Griechenland oder Norwegen bekannt ist. 4.2. Sprachsystem als ranghöchstes Diasystem mit Norm Nach diesen Vorklärungen kann der hier zu Grunde gelegte Normbegriff als hinreichend präzise gefaßt gelten, um an Stelle der vortheoretischen Bezugsetzung auf Sprache qua Standardsprache und dergleichen mehr in eine theoretisch abgesichertere Bestimmung des Unterschieds zwischen Sprache und Dialekt eingebracht werden zu können. Zum Zweck dieser Einbringung genügt es, einerseits an die schon in 4.1.2. angedeutete Tatsache zu erinnern, daß einem momentanen Idiolekt immer eine — wenn auch kaum je explizite — Norm zuzuordnen ist; denn daß für einen Sprecher im Moment des Sprechens eine diesem Sprechen zu Grunde liegende Norm verbindlich ist, ist Voraussetzung jeden Sprechens. Und andererseits ist auf den nicht minder evidenten Umstand hinzuweisen, daß einer Sprachgruppe wie dem Romanischen oder gar dem Indogermanischen weder eine implizite noch gar eine
explizite Norm zugeordnet werden kann, da ein entsprechendes Normbewußtsein fehlt, und daß dies a fortiori für das sehr hypothetische absolut ranghöchste Diasystem gilt, das der Gesamtheit aller möglichen Sprachen zuzuordnen wäre. Wenn aber, bezogen auf die Klassen sprachlicher Verständigungsmittel, denen die Systeme zugeordnet sind, am unteren Ende der Hierarchie von Diasystemen notwendigerweise ein System mit Norm und an ihrem oberen Ende notwendigerweise ein Diasystem ohne Norm stehen, dann muß es ebenso notwendigerweise auch irgendwo ein rangniedrigstes Diasystem ohne Norm und irgendwo anders ein ranghöchstes (Dia-)System mit Norm geben. Für den Versuch, den Normbegriff nutzbringend in die Bestimmung des Unterschieds zwischen Sprache und Dialekt einzubringen, ist der zweite Fall der interessantere. Da sein Sonderfall, in dem das momentane idiolektale System selbst schon ranghöchstes System mit Norm ist, als andere Umschreibung für die totale Privatsprache außer Betracht bleiben kann, kann mit Bezug auf ihn auch einfach von dem ranghöchsten Diasystem mit Norm die Rede sein. Es bedarf nun nur mehr der Festsetzung, daß dieses ranghöchste Diasystem mit Norm Sprac hsystem heißen soll, um das bislang fehlende hinreichende Definitionsstück für die Bestimmung des Unterschieds zwischen Dialekt und Sprache nachzuliefern — und zwar in einer Form nachzuliefern, die größtmögliche Nähe zu dem garantiert, was auch in dem für die Dialektologie konstitutiv gewesenen vortheoretischen Dialektbegriff enthalten war. Gemäß dieser Festsetzung ist das rangniedrigste System der Hierarchie das momentane idiolektale System, das ranghöchste Diasystem mit Norm ist das Sprachsystem, die zwischen beiden lokalisierten Diasysteme sind dialektale Systeme, und die oberhalb des Sprachsystems lokalisierten Diasysteme sind Sprachgruppen zugeordnete Systeme. In vereinfachter Übertragung auf die Klassen sprachlicher Verständigungsmittel, denen diese Systeme zugeordnet sind, ergibt sich daraus die hierarchisch aufsteigende Reihe Momentaner Idiolekt — Dialekt — Sprache — Sprachgruppe. Dabei entsprechen lediglich der momentane Idiolekt und die Sprache jeweils einer einzigen hierarchischen Rangstufe, während sich Dialekte und Sprachgruppen auf jeweils mehrere Ränge verteilen können und es daher notwendig ist, die Möglichkeit des
21. Verhältnis von Theorie und Empirie in der Dialektologie
Redens einerseits von Dialekten, Subdialekten, Sub-Subdialekten etc. und andererseits von Sprachgruppen, Ober-Sprachgruppen etc. vorzusehen. Ferner ergibt sich aus der Bestimmung des Sprachsystems als ranghöchsten Diasystems mit Norm, daß Sprachen ebenso wie momentane Idiolekte per definitionem eine Norm besitzen, und daß hingegen Sprachgruppen per definitionem keine Norm haben. Lediglich für die Dialekte besteht keine derartige automatische Festlegung, weswegen jederzeit mit der Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Dialekten mit Norm und solchen ohne Norm zu rechnen ist. So erfreulich somit das Resultat der hier vorgenommenen Festsetzung und seine bislang aufgewiesenen Konsequenzen sind, so wenig lassen sich jedoch auch einige Schönheitsfehler übersehen, die es ratsam erscheinen lassen, die bisherigen strikten Bestimmungen zumindest dort etwas flexibler zu gestalten, wo dies ohne Einbuße an Widerspruchsfreiheit möglich ist. 4.2.1. Gesetzt den Fall, einem einer Sprachgruppe zugeordneten Diasystem N (n)-ten Abstraktionsgrades sind ein Sprachsystem M1 und ein abermals einer Sprachgruppe zugeordnetes Diasystem M2, beide (n-1)-ten Abstraktionsgrades, unmittelbar untergeordnet. Wenn dem Diasystem M2 seinerseits zwei Sprachsysteme L21 und L22 (n-2)-ten Abstraktionsgrades unmittelbar oder mehrere Sprachsysteme K211 bis K2nm (n-i)-ten Abstraktionsgrades mit geringen Werten für i fast unmittelbar untergeordnet sind, ist dieser Fall unproblematisch, und die Aufzählung der in N enthaltenen Sprachen wird in ihm die Reihe M1, L21 und L22 bzw. M1, K211 bis K2nm umfassen. Ein Beispiel hierfür wäre eine Aufzählung der iberoromanischen Sprachen, die — unter anderen — das Spanische ( ≅ M1), das Galizische (≅ L21) und das Portugiesische (≅ L22) aufführt. Anders jedoch liegt der Fall, wenn dem Diasystem M2 erst hierarchisch sehr viel weiter unten ein Sprachsystem B2 ... (n-j)-ten Abstraktionsgrades mit relativ hohen Werten für j untergeordnet ist. Unter der überaus wahrscheinlichen Voraussetzung, daß im Frankoprovenzalischen auf mittleren und höheren hierarchischen Rangstufen keine Normen existieren, ließe er sich an dem Beispiel M1 = Französisch, M2 = Frankoprovenzalisch und B2 ... = (Sprache/Dialekt des) Val d’Hérémance illustrieren. Bei strikter Anwendung der hier vorgeschlagenen
437
Bestimmungen würde daraus folgen, daß in einer Aufzählung der galloromanischen Sprachen neben dem Französischen unter anderen die ‘Sprache’ des Val d’Hérémance erschiene. Um dieses kaum wünschbare Resultat zu vermeiden, erscheint es angebracht, die Definition von Sprache dahingehend zu erweitern, daß nicht nur ranghöchste Diasysteme mit Norm, sondern auch diesen unmittelbar nebengeordnete (d. h. demselben nächsthöheren Diasystem unmittelbar untergeordnete) Diasysteme ohne Norm dann als Sprachsysteme gelten sollen, wenn ihnen keine Diasysteme mit expliziter Norm untergeordnet sind; in allen Konkurrenzfällen soll dieses zweite Kriterium Vorrang vor dem ersten genießen. Für das zur Illustration herangezogene Beispiel ergibt sich auf Grund dieser erweiterten Definition die wesentlich befriedigendere Lösung, daß ein Dialekt mit Norm für das Val d’Hérémance anzusetzen und, ihm übergeordnet, das Walliser Frankoprovenzalisch als (Ober-)Dialekt ohne Norm und erst das Frankoprovenzalische als dem Französischen ranggleiche Sprache einzustufen sind. Gleichzeitig ergibt sich daraus, daß entgegen der zunächst getroffenen Feststellung jetzt auf Grund dieser erweiterten Sprachdefinition nicht nur bei den Dialekten, sondern auch bei den Sprachen zwischen solchen mit Norm und solchen ohne Norm zu unterscheiden ist. Nutzanwendungen hieraus können für Fälle wie die Aufzählung der (heutigen) iberoromanischen Sprachen bezogen werden, in der so neben den Sprachen mit Norm Portugiesisch, Galizisch, Spanisch und Katalanisch auch das Asturisch-Leonesische und das Aragonesische als Sprachen ohne Norm ihren Platz finden. 4.2.2. Die in der erweiterten Sprachdefinition dort angebrachte Einschränkung, wo dem einem Sprachsystem mit Norm unmittelbar nebengeordneten Diasystem ohne Norm ein Diasystem mit expliziter Norm untergeordnet ist, ist eine weitere Konzession an den üblichen Terminusgebrauch. Sie soll verhindern, daß eine Schriftsprache mit explizit fixierter Norm als Dialekt einer Sprache ohne Norm — beispielsweise also das Portugiesische als Dialekt des GalizischPortugiesischen — einzustufen wäre. Während dieser Fall somit befriedigend gelöst ist, ist eine analoge Lösung schon theoretisch dort unmöglich, wo innerhalb ein und derselben direkten Hierarchie von Diasystemen auf zwei verschiedenen Rangstufen Diasysteme mit expliziter Norm vorkommen. Das
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
vielleicht eindeutigste Beispiel hierfür bietet das Maltesische, das als fixierte Schriftsprache mit expliziter Norm ein System hat, das unmittelbar dem Diasystem ohne (oder bestenfalls mit sehr impliziter) Norm der maghribinischen Dialekte und damit mittelbar dem Diasystem mit explizit fixierter Norm des Arabischen untergeordnet ist. Der dem üblichen Sprachgebrauch entsprechenden Einstufbarkeit des Maltesischen als Sprache zuliebe die Existenz mehrerer Sprachsysteme innerhalb ein und derselben direkten Hierarchie von Diasystemen zuzulassen, hieße, auf die Eindeutigkeit des für die Bestimmung von Sprache und damit für die des Unterschieds zwischen Dialekten, Sprachen und Sprachgruppen benutzten Kriteriums zu verzichten. Da dieser Preis doch wohl etwas zu hoch wäre, bleibt nur die Möglichkeit, das Maltesische und vergleichbare Fälle als Dialekte mit expliziter Norm einzustufen und hinzuzufügen, daß solche Dialekte mit expliziter Norm in jeder anderen Hinsicht als der ihrer spezifischen Beziehung zu der ihnen hierarchisch übergeordneten Sprache dasselbe sind wie Sprachen. 4.3. Sprache und Standardsprache Neben den Schwierigkeiten, die durch Modifizierungen der Definition der Sprache oder durch andere Termini umgangen werden können, ist hier noch auf eine prinzipielle Problematik einzugehen, die sich aus der Herleitung des Normbegriffs aus dem vortheoretischen Wissen um Standardsprachen und dergleichen mehr ergibt. In 4.1.1. wurde schon auf den Widerspruch hingewiesen, der zwischen einerseits der Leichtigkeit, mit der einer Klasse sprachlicher Verständigungsmittel mit relativ großer Extension eine Norm — und insbesondere eine explizite Norm — zugeordnet werden kann, und andererseits der Schwierigkeit besteht, die das entsprechende Normbewußtsein im Umgang mit dem dieser Klasse zugeordneten Diasystem wegen dessen relativ hohen Abstraktionsgrades haben muß. Diesem Widerspruch entspricht die Beobachtung, daß das, was sich — sei es im Sinne der dialektologischen Tradition, sei es auf Grund der hier vorgeschlagenen Definitionen — beispielsweise als die allen französischen Dialekten übergeordnete französische Sprache bestimmt, keineswegs dasselbe ist wie die von der Académie Française und neuerdings auch von der französischen Regierung normierte und in den Schulen gelehrte französi-
sche (Standard-)Sprache. Etwa das System des Pikardischen oder des Wallonischen als ein dem Diasystem dieser französischen Standardsprache untergeordnetes Diasystem beschreiben zu wollen, wäre ein genau so zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, wie es in 3.2.2. der Versuch gewesen wäre, die alemannischen Phoneme /au/, /ū/ und /uĕ/ als Subphoneme der standarddeutschen Phoneme /au/ und /ū/ statt als solche der deutschen Diaphoneme / /ú/ /, / /ù/ / und / /û/ / zu beschreiben. Was hier sichtbar wird, ist der Umstand, daß eine Norm zwar ohne weiteres einem Diasystem relativ hohen Abstraktionsgrades entsprechen kann, daß die mit ihrer Explizitmachung automatisch verbundene (progressive) Konkretisierung aber notwendig zur Auswahl eines einzigen unter den diesem Diasystem untergeordneten Subsystemen (progressiv) niedrigeren Abstraktionsgrades führt. Die Klasse sprachlicher Verständigungsmittel, der dieses Subsystem (progressiv) niedrigeren Abstraktionsgrades zugeordnet ist, kann in nun auch durch Definition abgesicherter Form weiterhin Standardsprac he heißen. Diese — jeder Schriftsprache, jedem Fremdsprachenunterricht und vielem anderen mehr als unverzichtbare Voraussetzung zu Grunde liegende — Standardsprache erweist sich somit mit Bezug auf die Hierarchie von Diasystemen als einer unter anderen Dialekten derjenigen Sprache, von der sie Standardsprache ist. Hingegen ist sie sowohl mit Bezug auf Norm und Normbewußtsein als auch mit Bezug auf ihre diachronische, diatopische und/oder diastratische Lokalisierbarkeit, die zwar gegeben sein kann (diatopisch z. B. im Fall der französischen Standardsprache, diastratisch z. B. im Fall der britischen Standardform des Englischen), es aber — besonders im Fall von künstlich geschaffenen Standardsprachen — nicht zu sein braucht, hinreichend eindeutig ausgezeichnet, um die terminologische Sonderstellung als Standardsprache vollauf zu rechtfertigen. Mit der damit eingeführten sachlichen und terminologischen Unterscheidung zwischen Sprache und Standardsprache ist nun auch endgültig die Gefahr ausgeschlossen, daß sich die für den vortheoretischen Dialektbegriff in 2.1. unter (7) aufgewiesene Möglichkeit einer unausweichlichen Unanwendbarkeit in bestimmten Fällen bei den hier vorgeschlagenen Definitionen wiederholt: das Vorhandensein oder Fehlen einer Standardsprache hat nichts mit der Frage
21. Verhältnis von Theorie und Empirie in der Dialektologie
nach dem Vorhandensein eines ranghöchsten Diasystems mit Norm zu tun. — Ebenfalls von hier aus erklärt sich eine oft zu beobachtende Ambivalenz im Gebrauch der Namen von Sprachen und ihnen zugeordneten Standardsprachen, die zwar meist durch den Kontext hinreichend geklärt wird, bisweilen aber auch zu Irrtümern und überflüssigen Auseinandersetzungen führt. So hat beispielsweise die sich auch auf Grund der hier vorgeschlagenen Bestimmungen ergebende Einstufung des im Elsaß gesprochenen Alemannischen als alemannischen, damit als oberdeutschen und damit als deutschen Dialekts nichts mit der — wohl eher negativ zu bescheidenden — Frage zu tun, ob neben diesen Unterordnungsbeziehungen zwischen den elsässischen Dialekten und der deutschen Sprache auch irgendwelche relevanten Beziehungen zwischen ihnen und der deutschen Standardsprache bestehen.
5.
Dialekt und Soziolekt
Da alle hier vorgeschlagenen Bestimmungen zwar im Prinzip sich auf alle drei in 3.1.3. unterschiedenen Dialektdefinitionen gleichermaßen beziehen, an konkreten Beispielen jedoch nur solche Fälle herangezogen wurden, die der dort unter (1) vorgeschlagenen Bestimmung entsprechen, ist es angebracht, abschließend in Kürze auf einige besondere Probleme einzugehen, die sich bei gleichzeitiger Berücksichtigung diatopischer und diastratischer Unterschiede ergeben. Zu den zahlreichen Problemen, die sich in beiden Dimensionen in jeweils analoger Form stellen, gehören unter anderen die Schwierigkeiten dessen, was in 3.4. in aszendenter Richtung als Auswahl adäquater Kriterien für die Bildung von Diasystemen dargestellt worden ist und dem in deszendenter Richtung die Frage nach der wechselseitigen Abgrenzbarkeit von Dialekten in der diatopischen (geographischen) Dimension und von Soziolekten in der diastratischen Dimension entspricht. Mit Bezug auf eine Hierarchie von Diasystemen sind diese Schwierigkeiten in beiden Fällen identisch. Hingegen ergeben sich bei der Bestimmung und Abgrenzung soziolektaler Strata zusätzliche Schwierigkeiten aus der Bezugsetzung auf Norm und Normbewußtsein. Sie resultieren daraus, daß im Gegensatz zu der völligen wechselseitigen Unabhängigkeit von Normbegriff und diatopisch-geographischen Einteilungskriterien im Rahmen einer aus soziolektalen Strata gebildeten Hierarchie außer in Situ-
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ationen revolutionärer soziolinguistischer Umschichtungen damit zu rechnen ist, daß infolge einer automatischen wechselseitigen Koppelung von akzeptierter Norm und soziolinguistisch relevantem Prestige Diasysteme mit expliziter Norm solchen mit impliziter Norm und Diasysteme mit impliziter Norm solchen ohne Norm immer nur überund nie untergeordnet sein können. Solange diese zusätzliche soziolektale Hierarchie und die in 3.3. eingeführte Hierarchie von Diasystemen entweder wie im Fall der diastratischen Unterordnung des Bretonischen unter das Französische überhaupt nichts mit einander zu tun haben oder wie im Fall der sowohl diastratischen als auch systematischen Unterordnung des Pikardischen unter das Französische kongruent sind, ergeben sich keine besonderen Probleme. Wenn jedoch lediglich scheinbar geringfügige Abweichungen von dieser Kongruenz vorliegen, dann ergeben sich überall dort zusätzliche Probleme, wo die Tendenz zur Korrelierung beider Hierarchien am Werk ist — eine Tendenz, die zumindest im Sprach- und Normbewußtsein der Sprecher selbst meist bis zur Identifizierung beider Hierarchien geht und dann Folgen zeitigt wie die in 4.1.1. unterstellte Überzeugung eines Sprechers aus Marseille, statt seines Subdialekts des Okzitanischen ein ‘schlechtes Französisch’ zu sprechen. Insbesondere in den beiden folgenden Fällen pflegen derartige Probleme aufzutreten. (1) Im Fall der umgekehrten Kongruenz beider Hierarchien ist in der Hierarchie soziolektaler Strata eine Sprache einem ihrer Dialekte oder ein Dialekt einem seiner Subdialekte untergeordnet. Beispiele hierfür bieten das Verhältnis zwischen dem mexikanischen Spanisch und dem seiner als zu europäisch empfundenen traditionellen Norm wegen in México weniger beliebten Normal-Spanischen, oder dasjenige zwischen den lokalen alemannischen Dialekten der Schweiz und dem seiner fehlenden Authentizität wegen weniger geschätzten gemein-schweizerischen ‘Normal’-Alemannischen. Beide Beispiele zeigen gleichzeitig, daß das Vorliegen einer solchen umgekehrten Kongruenz zumeist auch Ausdruck jeweils besonderer glottopolitischer Situationen ist. (2) Im Fall der begrenzten Inkongruenz zwischen beiden Hierarchien ist beispielsweise ein Dialekt K diastratisch der Sprache mit Norm L1 und systematisch der L1 unmittelbar nebengeordneten, d. h. mit ihr derselben Sprachgruppe M angehörenden Sprache ohne Norm L2 untergeordnet. Zur Illustration dieses Falles diene die Fabla Chesa des Ortes Hecho (Provinz Huesca), die so-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
ziolektal dem Spanischen untergeordnet und systematisch ein (Sub-)Dialekt des Aragonesischen ist. Die dem Sprecher aus Hecho zur Verfügung stehende Hierarchie von Soziolekten umfaßt somit an ihrem unteren Ende den eindeutig aragonesischen Dialekt der Fabla Chesa und an ihrem oberen Ende die nicht minder eindeutig spanische Standardsprache, wie sie in der explizit fixierten Form der normierten spanischen Schriftsprache vorliegt. Verbunden sind diese beiden Extrempunkte durch ein Kontinuum von Übergängen, das über mehrere Stufen aragonesischer Soziolekte mit einer zunehmenden Anzahl spanischer Superstrateinflüsse und über mehrere Stufen spanischer Soziolekte mit einer progressiv abnehmenden Anzahl aragonesischer Substrateinflüsse reicht. Daß ein derartiges Kontinuum dem Sprachwissenschaftler die Aufgabe einer Abgrenzung von Aragonesisch und Spanisch nicht gerade erleichtert, liegt ebenso auf der Hand, wie es ohne weiteres verständlich ist, wenn das Sprachbewußtsein des Benutzers der Fabla Chesa dadurch dazu verführt wird, in dieser statt eines aragonesischen einen spanischen Dialekt zu erblicken. Dabei rührt, wie ausdrücklich zu betonen ist, dieser — jedenfalls gemessen an den sich aus den hier vorgeschlagenen Definitionen ergebenden Zuordnungen und Einstufungen: — Irrtum des Sprachbewußtseins nicht aus einer prinzipiellen und hier möglicherweise unbeachtet gebliebenen Verschiedenheit diatopischer und diastratischer Unterschiede. Vielmehr ist er aus der zwar automatisch gegebenen, im Rahmen der für die hier entwickelten Vorschläge beachteten Prioritäten jedoch sekundären wechselseitigen Koppelung von akzeptierter Norm und soziolinguistisch releventem Prestige zu erklären.
Daß gerade diese und keine anderen Prioritäten beachtet wurden, entspricht dem Ziel, eine Dialektdefinition vorzulegen, die dem für die Dialektologie konstitutiv gewesenen vortheoretischen Dialektbegriff so nahe wie möglich kommt und damit nicht in den Fehler jener eingangs genannten Therapie verfällt, die mit dem festgestellten Mangel gleichzeitig auch den Patienten beseitigt.
6.
Literatur (in Auswahl)
Alvar 1961 = Manuel Alvar: Hacia los conceptos de lengua, dialecto y hablas. In: Nueva Revista de
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Klaus Heger, Heidelberg
22. Gegenstandskonstitution in der Dialektologie: Sprache und ihreDifferenzierungen
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22. Gegenstandskonstitution in der Dialektologie: Sprache und ihre Differenzierungen 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Schwierigkeiten bei der Bestimmung von Gegenstand und Begriff Dialekt Bezeichnungen für Dialekt und deren Geschichte Gegenstandskonstitution Begriffsbestimmung von Dialekt Literatur (in Auswahl)
Schwierigkeiten bei der Bestimmung von Gegenstand und Begriff Dialekt
Innerhalb der traditionellen Dialektforschung ist eine auffallende Zurückhaltung festzustellen in der theoretischen Diskussion über den Gegenstand und den Begriff des Dialekts. Dies liegt offensichtlich nicht nur daran, daß die Dialektforschung als empirische Disziplin sich mit einem operationalen Begriff von Dialekt begnügen konnte (Dialekt ist da, wo der älteste Sprecher an einem Ort mit seinesgleichen spricht.), oder daran, daß die traditionelle Mundartforschung, gemessen an heutigen Ansprüchen, eher theoriefeindlich war. Die Schwierigkeiten einer Gegenstands- und Begriffsbestimmung von Dialekt scheinen vielmehr grundsätzlicher Natur zu sein. Die notwendigen Abgrenzungen können nämlich nur im Rahmen einer Taxonomie der Sprachwirklichkeit erfolgen. Diese jedoch entzieht sich als ein Kontinuum von Kompetenzen, Registern und Codes einem taxonomisch-klassifizierenden Zugriff, besonders dann, wenn mit diesem der Anspruch verbunden wird, praktikable Kategorien für die konkrete empirische Forschung bereitzustellen. Eine Definition von Dialekt und anderen Ausschnitten der Sprachwirklichkeit müßte übereinzelsprachlich-universell und damit von einem derartigen Abstraktionsniveau sein, daß gerade die Anwendbarkeit in keiner Weise gewährleistet wäre (vgl. z. B. Heger 1969 und: Zur Theorie des Dialekts 1976). Hinzu kommt, daß die fachsprachlichen Bezeichnungen zur Differenzierung des binnensprachlichen Kontinuums wie z. B. Dialekt, Mundart, Hoc hdeutsc h, Umgangssprac he, oder die internationalen dialec t, patois, argot, ac c ent, vernac ular, koiné u. a. vielfach auch einen umgangsoder alltagssprachlichen Gebrauch haben, so daß der terminologische durch diesen beeinflußt wird; überdies kön-
nen sie immer nur im Kontext eines festen terminologischen Bezugsrahmens gelten. Weiterhin fehlen zu vielen feinsinnigen Unterscheidungen einfach die nötigen Belege aus der Sprachbeobachtung. Dieser Mangel muß trotz der hundertjährigen Tradition der empirischen Dialektforschung beklagt werden. Gelegentlich kann die fehlende Datenbasis durch die dialektale Individualkompetenz des Forschers ersetzt werden. Diese hat jedoch, da sie sich nicht, wie die schriftsprachliche Kompetenz, an der verbindlichen Schriftlichkeit kontrollieren kann, einen viel geringeren Repräsentationswert gegenüber den mehr oder weniger exakt erhobenen Sprachbefunden aus der Feldarbeit. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Tatsache, daß der Gegenstand der Dialektologie als Teil des Sprachganzen doch eher in den Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften gehört und nicht in den der Naturwissenschaften, selbst wenn die Anwendung naturwissenschaftlicher Beobachtungs- und Auswertungsmethoden über diesen Umstand gelegentlich hinwegtäuscht. Bei der Begriffsbildung ergeben sich deswegen dieselben Probleme wie in den Sozialwissenschaften. So kommt es, daß in der praktischen Dialektologie die Diskussion um den Dialektbegriff bei weitem nicht so intensiv geführt wurde und wird wie in der allgemeinen Linguistik. Die empirische Dialektforschung kommt offensichtlich auch ohne einen expliziten Dialektbegriff aus, nicht jedoch ein Handbuch der Dialektologie oder ein Wörterbuch zur linguistischen Terminologie, obwohl gerade letztere, selbst wenn sie neueren Datums sind, eine große Zurückhaltung an den Tag legen bei der Auswahl und der Erläuterung der Begrifflichkeit zur binnensprachlichen Differenzierung. Hierbei mag sich der selbstauferlegte Zwang zur Explizitheit und zur übereinzelsprachlich-universellen Geltung der Begriffe als hinderlich erweisen. So war im Lexikon der Germanistischen Linguistik in der 1. Aufl. 1973 überhaupt kein Stichwort Dialekt enthalten (vgl. jetzt Löffler 1980 ). Ältere Nachschlagewerke (Meyers 1889, 4, 929; Brockhaus 1929, 13, 39) zeigten weniger Bedenken bei einer näheren Bestimmung von Dialekt, die — selbst an heutigem Erkenntnisstand gemessen — denn auch gar nicht so unzutreffend ausge-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
fallen war. Eine Ausnahme unter den neueren Wörterbüchern bildet Knobloch (1977 Lfg. 8, 590 ff.), wo unter dem Stichwort Dialekt versucht wird, annähernd 40 Termini der internationalen Linguistik auf einen Begriff zu bringen, was indessen nur teilweise gelingt. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Dialektbegriff findet sich bezeichnenderweise in den allerjüngst erschienenen Arbeiten zur Einführung in die Dialektologie (Löffler 1974, 1 ff.; Wolf 1975, 1 ff.; Goossens 1977, 7 ff.) und in den praxisorientierten Handbüchern zur Sprachdidaktik (z. B. Menzel 1969, 10 9 ff.; Ammon 1978, 49 ff.). In den Arbeiten zur empirischen Dialektologie sind, wenn überhaupt, am ehesten operationale Dialektbegriffe zur besseren Identifizierung des Forschungsobjektes formuliert, wenn es z. B. bei Hotzenköcherle (1934, 27) auf der Suche nach der ortstypischen Mundart heißt: „[...] daß tatsächlich doch ein gewisser Kern von einer größern und konstanten Dichte vorhanden ist; er wird da sichtbar, wo Frauen unter sich sind [...]. Bei Männern dagegen sehe ich viele Stufen [...] bis zur bewußten Entäußerung („Verschönerung„), die sogar die Entrundung aufgibt.“ Auch Ruoff (1973, 48) gebraucht für die drei an einem Ort vorfindlichen Sprachebenen die Termini Ortsmundart, Umgangsspra c he und landschaftliche Hochsprache, wobei er „[...] Mundart (oder Dialekt) [versteht] als die durch den Lautstand repräsentierte, in einem engeren Gebiet gültige Sprachform, wie sie von der Mehrzahl der Einheimischen in normalen, alltäglichen Gesprächen gebraucht wird.“ Hasselberg mußte, um aus 70 0 0 hessischen Schülern die Dialektsprecher herauszufinden, ebenfalls zu einem einfachen operationalen Begriff Zuflucht nehmen. Dialektsprecher war, wer vom Lehrer nach einer Dreierskala: ‘Dialekt deutlich’ — ‘O-neutral’ — ‘Hochsprache deutlich’ unter die Rubrik ‘Dialekt deutlich’ eingestuft wurde (Hasselberg 1976, 31). Es kann nun nicht Aufgabe eines Handbuchartikels sein, einer etablierten Forschungsdisziplin aus der terminologischen Verlegenheit zu helfen. Es ist auch nicht möglich, die Vielfalt der Bezugs- und Bezeichnungsfelder, die jeweils über der Sprachwirklichkeit ausgespannt sind, einzeln vorzuführen oder zu diskutieren. Es kann hier nur darum gehen, in die Vielzahl der Benennungen, Unterscheidungen und Begriffe eine ungefähre, vom Gegenstand her bestimmte Ordnung zu bringen, damit
die weitere Theoriediskussion und empirische Forschung, wenn nötig, einen rascheren Zugang zu Begriff und Materie haben möge. Am sinnvollsten scheint es deshalb, zunächst (vgl. 2.) die Wortgeschichte der wichtigsten Bezeichnungen und Benennungen in einem kurzen Überblick darzulegen, dann (vgl. 3.) in einem forschungsgeschichtlichen Abriß anhand des von wechselndem Interesse bestimmten jeweiligen Objektausschnittes und der Methoden historisch-systematisch einen Gegenstand Dialekt zu konstituieren und abschließend dann in einem eher systematischen Abschnitt (vgl. 4.) den schillernden Dialektbegriff in eine ebenso ungefähre Ordnung zu bringen.
2.
Bezeichnungen für Dialekt und deren Geschichte
Eine vorläufige Durchsicht eines knappen Hunderts wissenschaftlicher Äußerungen zur Abgrenzungsproblematik Dialekt-Sprache (vgl. unter 5. Literatur) förderte gut 50 Namen und Bezeichnungen für Dialekt und dialektartige Sprachvarietäten und ungefähr 30 verschiedene Namen für die andere Seite des Sprachspektrums, genannt Hoch- oder Standardsprache, oder Standard zutage. Man könnte nun annehmen, angesichts dieses Bezeichnungsfeldes müsse durch eine Wortfeldanalyse das Bedeutungsfeld ‘Dialekt-Nichtdialekt’ und Zwischenstufen einigermaßen konsistent darstellbar sein. Die vielen Namen stammen jedoch aus sehr heterogenen Verwendungsebenen und Kontexten und sind stets nur systemimmanent von einem einigermaßen eindeutigen Status. Trotz aller konkurrierenden Bezeichnungen haben sich bis heute einige wenige Wörter immer wieder gegen alle Spitzfindigkiet gewissermaßen als Archi-Benennungen für Dialekt und sein Gegenteil gehalten. Es sind dies Dialekt (Dialektologie/Dialektfors c hung) und Mundart (Mundartfors c hung/Mundartwissenschaft). Dank gründlicher Vorarbeiten (Grimm 1976, 852 f.; Knobloch 1977 Lfg. 8, 590 ff.; älter: Henzen 1954, 12 f.; Martin 1939, 8 f.; Socin 1888, 337 ff. Trübner 1939, 698 ff.) ist die Wortgeschichte dieser Hauptbenennungen gut bekannt. 2.1. Dialekt ist die aus dem Griechischen stammende Bezeichnung für die regionalen Varianten der Sprachen. Das Wort lebte lange nur in der lateinischen Wissenschaftsprache (die mhd. Bezeichnungen waren
22. Gegenstandskonstitution in der Dialektologie: Sprache und ihreDifferenzierungen
zungen, lantsprac hen, s. Löffler 1974, 2) und ist vermutlich recht spät, im 18./19. Jh., in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Belege für das Wort Dialekt (nach Grimm 1977, 852) sind aus der deutschsprachigen Literatur erst seit dem Jahre 1649 bekannt (v. Spee, Gottsched, Herder, Goethe, Schiller, N. Hartmann, Wienbarg, Haller u. a.) und in ununterbrochener Reihe bezeugt in vier Bedeutungsnuancen: (1) als landschaftliche begrenzte Teilsprache, überwiegend mündlich; (1a) als eine bestimmte mündliche Kommunikationsform; (1b) verallgemeinernd für Aussprache; (2) auf mündlicher Rede basierende landschaftlich begrenzte Sprache; (3) übertragen auf andere Ausdrucksformen. In den Aussagen der Dialektsprecher wird das Wort Dialekt für die eigene heimische Sprache noch am ehesten gebraucht, wenn nicht der Dialekt mittels des Ortsadjektivs gleich beim Namen genannt wird (z. B.: Köls c h, Baseldyts c h, Badis c h, Elsässis c h u. a.). Nicht gebräuchlich ist hingegen die Bezeichnung Mundart für die eigene Sprache. 2.2. Im ehemals niederdt. Gebiet ist die einheimische Bezeichnung für Dialekt Platt, eine sehr junge Benennung, die erst im 19. Jh. für die Reste des alten Dialekts mit zusätzlichem pejorativem Aspekt verwendet wurde, vorher als plattdeutsch synonym mit niederdeutsch war und sich ursprünglich auf das platte Land Niederdeutschlands (Norddeutsche Tiefebene) bezogen hat. Der pejorative Nebensinn von heutigem Platt dürfte über die parallele adjektivische Verwendung von platt (neben „niedrig, flach” auch als „seicht”, „dumm”, „abgeschmackt”) zustande gekommen sein. Belege für das Wort und die Bezeichnung Platt (nach Grimm 1889, 7, 190 3 ff. und Trübner 1939, 5, 146 f.) sind seit dem Jahre 1477 im Niederdeutschen als französische Entlehnung bezeugt, 1524: plat = deutlich, verständlich; 1660 : plattdeutsch = norddeutsch-niedersächsisch „[...] namentlich in bezug auf die bewohner und die volkssprache des norddeutschen flachlandes“ (Grimm). Für die Gebildeten: Vorstellung einer gemeinen, pöbelhaften Sprechweise. Platt norddt. für Dialekt, ist erst relativ spät bezeugt (seit 1876; Lasch 1917, 134 ff.). 2.3. Mundart ist im 17. Jh. analog zu Schreibart und Redart entstanden und be-
443
zeichnete eigentlich die mündliche Sprechweise oder das Idiom. Noch bei Goethe steht Mundart für eigenständige Sprache. Vermutlich in Anlehnung an die lutherische Maxime, dem Volk aufs Maul zu schauen, wurde Mundart spätestens im 19. Jh. der Name für die mündliche Sprache des gemeinen Volkes, die sich landschaftlich gesondert von der einheitlichen Schriftsprache und den schriftlich überlieferten und grammatikalisierbaren historischen Schriftdialekten abhoben. So pflegte man zeitweilig Dialekt für die historisch-genealogisch unterscheidbaren Großformen (Stammesmundarten) wie Fränkisch, Bairisch, Thüringisch, Sächsisch zu verwenden. Man sprach von den germanischen Dialekten und meinte Deutsch, Englisch, Skandinavisch oder man bezeichnete Französisch, Spanisch und Italienisch als lateinische Dialekte. Mundarten waren dann die innerhalb eines solchen sprachhistorischen Dialekts unterscheidbaren Sprechweisen, vornehmlich aufgrund lautlicher Unterscheidungsmerkmale. Belege für das Wort und die Bezeichnung Mundart nach Grimm (1885, 6, 2, 683 f.): „Übersetzung des griech.-lat. dialectus, die im 17. Jh. bereits gewöhlich ist, und von der sprechart sowohl eines einzelnen als eines standes oder einer landschaft gebraucht wird, und zwar in bezug auf den klang der worte.“ Der erste Beleg stammt von Philipp v. Zesen 1640 , der älteres Redart durch Mundart ersetzte. Bei Goethe und Bodmer wird Mundart neutral im Sinne von Aussprac he gebraucht (Trübner 1943, 4, 698; Bach 1950, 4; vgl. Löffler 1974, 1 ff.). Mit wechselndem Standpunkt konnten sich die Bezüge der Ausdrücke Dialekt — Mundart verschieben. So unterscheidet J. Grimm zwischen Dialekt und Mundart als den großen und kleineren Geschlechtern oder einem Stamm (= Dialekt) und seinen Ästen (= Mundarten) (Trübner 1939, 698; Grimm 1870 , 3, 574 und 579). Heute ist es schwierig, einen Unterschied zwischen beiden Bezeichnungen konstruieren zu wollen. Mundart wird weiterhin als Kunstwort benutzt, sowohl in der Wissenschaft, genannt Mundartforschung, Mundartkunde, Mundartwissenschaft, als auch im allgemeinen gebildeten Sprachgebrauch. Gegenüber Dialekt hat Mundart dort den Beigeschmack des Altertümlichen, Feinen, Echten und Urwüchsigen, auch eher Poetischen, wobei zwischen Mundartdichtung und Dialektdichtung heute beinahe ein thematischer Unterschied konnotiert wird. Dialekt ist hingegen die
444
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
eher neutrale Bezeichnung für die lautliche Sprachvariante, teilweise auch schon pejorativ (vergleichbar mit Platt s. o.) markiert und eher beschränkt auf die formal-grammatischen Unterschiede. Dialektdic htung wird im Zweifel gegenüber Mundartgedi c hten mit Protest und Umweltschutz oder mit sozialkritischen Intentionen assoziiert. Dialekt klingt emotionsfreier und ist gleichzeitig die international gebräuchliche Bezeichnung, wenn auch nicht in einheitlicher Bedeutung. Das gleiche gilt für die Wissenschaftsbezeichnung Dialektologie. Die Tendenz geht heute dahin, im Wissenschaftsbereich Dialekt und Dialektologie zu verwenden, während Mundart, Mundartkunde auf dem Weg sind, die nicht-wissenschaftlichen und literarisch-poetischen Bereiche zu charakterisieren. Auch wenn die wechselnden Namen für die Sache und für die zuständige Wissenschaftsdisziplin eine Inhaltsbestimmung nicht zulassen, so läßt sich aus der zeitlichen Abfolge Mundart/Mundartforsc hung — Dialekt/Dialektologie doch ein wechselndes Erkenntnisinteresse und Selbstverständnis der Epochen ablesen (vgl. Art. 20). Einen ähnlichen Wandel spiegelt 2.4. auch die Ablösung der Bezeichnungen von Sprachraum/Sprachgrenze oder Mundartraum/Mundartgrenze samt zugehöriger Forschungsrichtung der Sprachgeographie durch Isoglosse, Spra c hareal und Areallinguistik wieder. Weder in der Sache noch in der Methode lassen sich zwischen der Sprachgeographie und der Areallinguistik Unterschiede angeben außer dem einen, daß diejenigen, die die jüngeren Bezeichnungen verwenden, sich terminologisch gegenüber dem bisherigen älteren absetzen möchten. Sprachgeographie und Areallinguistik unterscheiden sich im konnotativen Bereich etwa wie Sprachwissenschaft und Linguistik durch ‘alt’ gegen ‘neu’, ‘traditionell’ gegen ‘modern’, ‘einheimisch’ gegen ‘international’. Unterschiedliche Objektbereiche und Methoden sind an die sprachliche Unterscheidung nicht geknüpft. Die Bezeichnungsvielfalt für Dialekte und Dialektähnliches, die schon in vorlinguistisch-traditioneller Zeit gegeben war, und bereits vor 40 Jahren (Henzen 1954, 12, 1. Auf. 1938) bedauert wurde, betrifft in gleichem Maße auch den Gegenpol des Sprachkontinuums. Bezeichnungen wie (überregionale) Sc hrift- oder Einheitssprache, Ho c hspra c he, Ho c hdeuts c h, Standard-, Ge-
mein- oder Literatursprac he u. a. zeigen dies. Im alltagssprachlichen Gebrauch hat sich hier die Bezeichnung hoc hdeutsc h eingebürgert (man spricht hochdeutsch, Dialekt oder bairisch; mit regionalen Abweichungen z. B. in der Schweiz, wo man Schriftdeutsch oder nach der Schrift spricht.). Alle diese Bezeichnungen, ob nun für den Dialekt oder für die Einheitssprache, sind mehr oder weniger künstlich und stellen gegenüber dem Sprachkontinuum Abstraktionen dar, die von außen, von der Sprachwissenschaft an die Sprachwirklichkeit herangetragen werden. Kaum eine dieser Benennungen ist in den Alltagssprachgebrauch eingegangen, wenn man von dialekt- und hochdeutschsprechen (adverbiell gebraucht) und den Namen für die eigenen Sprache (Ortsadjektiv vom Typus: Kölsch) absieht. Von allen Bezeichnungen hat sich noch keine soweit terminologisieren lassen, daß sie im Wissenschaftsbereich allgemein und eindeutig benutzt würde. Dies gilt auch für die Zwischenwerte auf der zweipoligen Skala zwischen Dialekt und Standard, z. B. die Bezeichnungen Halbmundart, Stadtmundart, Umgangsspra c he, Regiolekt, regionale Ho c hspra c he etc. (vgl. Bichel 1975). Ungefähre Einigkeit herrscht lediglich im nichtwissenschaftlichen Sprachgebrauch, wo man, mit welchen Benennungen auch immer, grundsätzlich zwei Sprachformen unterscheidet. Ferguson (1959, 325 ff.) hat hierfür den Terminus Diglossia eingeführt als Bezeichnung für eine innersprachliche Zweisprachigkeit mit einer höheren und einer niederen Variante, wobei höher und niedriger sozial, stilistisch-ästhetisch oder pragmatisch verstanden werden können (vgl. Art. 52 u. 87). Auf der wissenschaftlichen Ebene konkurrieren sozusagen noch alle Bezeichnungen gegen alle. Nimmt man den nicht-deutschen Sprachgebrauch hinzu, etwa frz. dialecte vs. patois, engl. dialect vs. vernacular oder standard (Fourquet 1968, 183; Martinet 1971, 142 f.), so wird das Wortfeld ‘Dialekt’ noch weit komplizierter. Es gibt wohl kaum eine Wissenschaft, für deren Gegenstandsbereich eine derartige Fülle von Benennungen und Differenzierungsvorschlägen gemacht wurde. (Vgl. 5: Literatur). Gründe dafür sind bereits oben genannt. Es würde sich lohnen, dieses Bezeichnungsfeld einmal synchron und historisch zu erforschen, ähnlich wie dies bereits für den Bereich der Umgangssprache (Bichel 1975) geschehen ist. Indes kann auch die feinsinnigste Analyse der Bezeichnungen aus dem Sinnbezirk ‘Dialekt’
22. Gegenstandskonstitution in der Dialektologie: Sprache und ihreDifferenzierungen
nicht gleichgesetzt werden mit der Rekonstruktion des Gegenstandsbereiches der Dialektforschung, wie er sich nur aus der Kenntnis der bisherigen Forschungen ergeben kann, ganz unabhängig von den zeitgebundenen modischen Benennungen. Erst die Integration aller bisherigen dialektologischen und mundartwissenschaftlichen Themen ergibt den Gegenstand der Dialektologie, ohne daß dies alles einem von der Dialekttheorie postulierten Dialektbegriff genau entsprechen muß.
3.
Die Gegenstandskonstitution
3.1. Gegenstandskonstitution als Rekonstruktion aus Erkenntnisinteresse, Themenwahl und Art der Bearbeitung Stellt die Objektwahl seitens der Forschung bereits gegenüber der Wirklichkeit eine Art Abstraktion dar, so gilt das in noch höherem Maße von dem Versuch, a posteriori aus den jeweiligen ausgewählten Objekten den Gegenstand der gesamten Disziplin zu rekonstruieren. Gegenstandskonstitution einer empirischen Wissenschaft mit über hundertjähriger Tradition kann zunächst nur Rekonstruktion sein, jedoch nicht bloß als nachträgliche Addition von Forschungsthemen oder Buchtiteln. Die Gegenstände entstehen vielmehr unter dem jeweiligen Erkenntnisinteresse, d. h. der mutmaßlichen Auffassung vom Objektbereich und dem daran geknüpften Wissenwollen, aus der Art und dem Umfang des Ausschnitts aus dem zu untersuchenden Objektbereich Dialekt (Grammatikebene etc.), ferner aus der Art und Qualität der Informationsquelle, also daraus, wessen Sprache (Dialekt) überhaupt untersucht wurde, und schließlich aus der Art und Weise der gewählten Darstellung und Dokumentationsform von Material, aus der/den Methode(n) und den Ergebnissen. Aus all diesen Teilen läßt sich dann der Gegenstand ermitteln, so daß im Nachhinein ein Schluß auf die Dialektauffassung, die Merkmalbeschreibung oder „Wesens“-Bestimmung von Dialekt möglich wird. Das Interesse war jedoch immer auf die ganze Sprachwirklichkeit und den ganzen Dialekt gerichtet und in der Regel umfassender als dies in einer nachträglichen, aus Systemgründen vereinfachenden Typologie zum Ausdruck kommen kann (vgl. Art. 20 ). Ja selbst dieses Interesse an forschungsgeschichtlicher Inventarisierung und Gegenstandsrekonstruktion könnte bereits wieder als jüngste Phase der
Gegenstandskonstitution aufgefaßt werden.
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der
Dialektologie
3.1.1. Dialektforschung als Teil der Landesbeschreibung — Dialekt als landschaftskonstituierender Faktor Das Interesse der ersten wissenschaftlich zu nennenden Phase der Dialektologie war eigentlich nicht primär sprachwissenschaftlich-grammatisch oder sprachhistorisch bestimmt, wie man dies gemeinhin annimmt (vgl. auch Art. 1). Es war vielmehr ein zu Beginn des 19. Jh. in vielen Bereichen zu beobachtendes Bestreben nach einer vollständigen Landesbeschreibung, welches sich niederschlug in der erstmaligen Durchführung von Volkszählungen, von ersten vollständigen Orts- und Bevölkerungsverzeichnissen, von lückenlosen Landesvermessungen u. a. m. Sog. Oberamtsbeschreibungen (z. B. in Württemberg), die Vorgänger der heutigen Kreisbeschreibungen, waren damals Ausdruck dieser staatlich-hoheitlichen Selbstdarstellung. Zu dieser Landesbeschreibung gehörte auch die Beschreibung der Volkseigenart, von Brauchtum und Sitten und nicht zuletzt eben der Landessprache (z. B. Bairisch, Schweizerisch, Alemannisch) als Hauptcharakteristikum für die unverwechselbare Kennzeichnung eines Landes in Abgrenzung gegen Nachbarländer und vielleicht auch gegen den aufkommenden Gedanken einer politischen Reichseinheit. Die Form einer sprachorientierten Landesbeschreibung konnte nur die einer möglichst umfassenden grammatischen Darstellung der Regionalsprache sein (vgl. Art. 1). Was Schmeller (1821), Stalder (1819) und Birlinger (1868) vorgelegt haben, sind denn auch Gesamtgrammatiken der Landessprachen genau nach dem Muster der damals zahlreichen Sprachlehren des Deutschen (Schriftsprache). Dabei kann man weder einen emanzipatorischen noch historischen Aspekt herauslesen. Es ging um die „sprachlehrige“ (= grammatische, Stalder 1819, 8) Darstellung der Landessprache als Ausdruck der regionalen Eigenheit und wohl auch um eine obrigkeitlich nicht unerwünschte Selbstdarstellung (vgl. weitere Arbeiten bei Bach 1950 , § 26). Quellen solcher Gesamtgrammatiken waren, neben der eigenen Sprachkompetenz der Autoren, Aufzeichnungen und Sammlungen anderer Sprachfreunde und impressionistische Aufnahmen der Verfasser aus vielen persönlichen Reisen und Wanderungen durch das zu beschreibende Land.
446
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Hauptinformant war im Zweifel das eigene, durch viele Reisen geschärfte Ohr. Aber bereits Schmeller hatte sich die Gelegenheit zu verschaffen gewußt, Rekruten, die aus dem ganzen bayerischen Staatsgebiet zentral einberufen wurden, mit behördlicher Erlaubnis als sprachliche Repräsentanten der verschiedenen Gegenden zu befragen (Schmeller 1819, XI). Dialekt als Objekt der ersten dialektologischen Epoche kann im Nachhinein verstanden werden — ähnlich wie Sitte, Brauchtum, Wirtschaft, Verkehr, Bodenbeschaffenheit und Bevölkerungsdichte — als ein landschaftskonstituierendes Charakteristikum, das sich in Lauten, Flexionsformen, Wörtern, Wortbildungen und Redewendungen sowohl von den Nachbargegenden als auch von der überregionalen Gemeinsprache deutlich abhebt. Die Darstellungsform ist die vollständige Grammatik analog zur vollständigen Grammatik des Deutschen und reiht sich ein in die gleichzeitig aufkommenden Landesbeschreibungen, die einem Bedürfnis nach regionaler, enzyklopädischer Bestandsaufnahme aus einem fast naturwissenschaftlich-positivistischen Forschungsinteresse entsprangen und auf den verschiedensten Gebieten des Lebens zu umfassenden Beschreibungswerken führten. 3.1.2. Dialektforschung als Sprachgeschichte — Dialekt als kontinuierliche Fortsetzung eines früheren Sprachzustandes Eine zweite Epoche der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Dialekten zeigte ein ausgesprochen sprachwissenschaftliches Interesse. Die Wissenschaft von der Sprache war seit J. Grimm u. a. gleichzusetzen mit der Kenntnis deren historischer Zustände. Eine wissenschaftliche Grammatik war eine historische Grammatik oder eine solche, die den heutigen Sprachbefunden als Nachweis ihrer Historität gewissermaßen historische Zeugnisse unterlegen konnte. Dialekte waren in dieser Epoche die einzelnen aus dem germanischen Sprachverband hervorgegangenen Großsprachen: Deutsch, Englisch, Skandinavisch und deren historische Zeitstufen wie Althochdeutsch, Altenglisch, Altnordisch usw. Mit Mundart wurden die zeitgenössischen Aktualisierungen der mündlichen Rede in den einzelnen Gebieten solcher urverwandter Großdialekte bezeichnet (Grimm 1970 , 574). Den kleineren Mundarten wurde die direkte und ungebrochene
Nachkommenschaft der historischen Dialekte (Mhd., Ahd.) zugesprochen, während die neuhochdeutsche Schriftsprache nicht der natürliche Nachfahre der älteren Sprachstufen war, sondern als eine eher „künstliche Züchtung“ aus vielen möglichen Wurzeln angesehen wurde. Bereits Bodmer (1773, 149) hatte die Echtheit der oberdt. Dialekte gegenüber dem Monopolanspruch der neuen deutschen Schriftsprache betont (gegen die Gottschedianer). An den lebenden Mundarten konnte man einerseits die Vergangenheit der eigenen Sprache studieren, auf der anderen Seite bedeutete die wissenschaftliche Erforschung und Dokumentation eines Dialekts oder einer Mundart, daß der zeitgenössischen Form jeweils eine historische aus schriftlichen Quellen derselben Region beigegeben wurden. Diese Art von wissenschaftlichen Regionalgrammatiken, deren bekannteste wohl diejenigen von Weinhold sind (Weinhold 1853, 1863, 1867 vgl. auch Löffler 1974, 23), hatten demnach ein zweifaches Anliegen. Zunächst wollten sie den Dialektdarstellungen durch historische Unterlegung eine neue wissenschaftliche Dimension geben und andererseits den Nachweis führen, daß die zeitgenössischen Dialekte tatsächlich die ungebrochenen Nachfahren der alten Schriftdialekte oder Literatursprachen waren. Dialekt ist so die eigentlich echte, grammatikalisierbare Sprache mit einer historischen Tiefendimension, die sich mit alten Schriftzeugnissen belegen läßt. Dialekt ist als unmittelbare Fortsetzung der historischen Vorstufe gleichzeitig selbst eine historische Quelle für vergangene Zeitstufen, aus denen andere Nachrichten nur spärlich überkommen sind. Da nach romantischer Sprachauffassung das Echte und Unverfälschte in der Vergangnheit des Volkes und damit auch seiner Sprache ruhte, hatten die Dialekte als Volkssprache in unmittelbarer Nachfolge des alten und echten Zustandes viel eher den Status der eigentlichen Sprache als die verderbte und gekünstelte Literaturoder Gebildetensprache der Gegenwart. Dialekt als die eigentliche Sprache war als Gegenwartssprache des Volkes und als schriftlich belegbare historische Sprachstufe der eigentliche Gegenstand der germanistischen Sprachwissenschaft. Eine andere Grammatik konnte lediglich eine Sprachlehre für Unterrichtszwecke sein. Die Quelle für den zeitgenössischen Dialekt war wiederum das eigene Sprachvermögen, das man sich notfalls auch durch mehrjährigen Landesaufenthalt auch
22. Gegenstandskonstitution in der Dialektologie: Sprache und ihreDifferenzierungen
als Zugereister aneignen konnte, wie dies von Weinhold selbst bezeugt wird. Für seine schlesische Grammatik hatte ihm während seiner Grazer Zeit das aus Schlesien stammende Dienstmädchen als zeitgenössische Gewährsperson zur Verfügung gestanden (Weinhold 1853). Als historische Belege konnten alle zeitlich früheren, schriftlich überlieferten Zeugnisse dienen. Zwischen einzelnen Textsorten wurde dabei nicht unterschieden. Urkunden, literarische Handschriften, Abschriften, Rechtstexte u. a. wurden ununterschieden als gleichwertige Quellen benutzt. Die reichlich einsetzende Editionstätigkeit lieferte seit der Mitte des 19. Jhs. hierzu vielfältiges Material. Diese historisch-wissenschaftlichen Dialektgrammatiken wurden als notwendige Ergänzung zu den Grammatiken der alten Schreibdialekte: Gotisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch angesehen. So entstanden der Reihe nach Fränkische, Bairische, Alemannische, Schlesische u. a. Grammatiken in der genannten zeitgenössisch-historischen Mischbelegung offensichtlich aus dem Anliegen heraus, eine wissenschaftlich-grammatische Gesamtbeschreibung aller regionalen und zeitlich-epochalen Abstufungen des Deutschen zustandezubringen. Die Darstellungsform war wiederum die Gesamtgrammatik. Daneben begann allenthalten bereits auch in der Nachfolge Schmellers und einiger früherer Bemühungen die Sammlung von Dialektwörtern in wissenschaftlich-historischer Aufmachung. Auch das wissenschaftliche Wörterbuch wollte zeitgenössisch-aktuelle Dialektwörter mit historischen Wortbelegen versehen und auf die Grundbedeutung (Etymologie) zurückführen (Bach 1950 , § 15 ff.; Löffler 1974, 15 ff.). Bloße Regionalismen oder Provinzialismen zu sammeln, war Ziel einer früheren Epoche gewesen. Und auch hier läßt sich eine Parallelität feststellen zwischen der Entstehung eines gemeindeutschen historisch-etymologischen Wörterbuches (Grimm 1854), den wissenschaftlichen Wörterbüchern für historische Sprachstufen des Deutschen wie für das Althochdeutsche (Althochdeutscher Sprachschatz 1834/46), das Mittelhochdeutsche (Mittelhochdeutsches Wörterbuch 1854/61) und eben einer Reihe von Dialektwörterbüchern, die neben den genannten die dritte Sparte der Lexikographie des Deutschen darstellten (vgl. Art. 41). Auch hier hatte der Dialekt einen weitaus höheren Stellenwert als etwa die zeitgenössische Umgangssprache oder Gebrauchsspra-
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che der Gebildeten. Dialekte und alte Sprachstufen waren der eigentliche Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Grammatik und Lexikologie. Die Gegenwartssprache lag nur am Rande des Interesses der deutschen Sprachwissenschaft und wurde den Schulgrammatikern überlassen. 3.1.3. Dialektforschung als Experimentierfeld der phonetischen (lautphysiologischen) Sprachwissenschaft. — Dialekt als natürlich reagierende Sprache mit störungsfreien Lautgesetzen Noch im 19. Jh. richtete sich das Interesse der aufkommenden Lautphysiologie, die sich fast mit naturwissenschaftlichen Methoden der Beschreibung der Hervorbringung natürlicher Laute und deren Wandlungsgesetzen widmete, gleichfalls auf die Dialekte, weil nur in den Dialekten eine natürliche, von künstlichen Einflüssen und normativer Sprachpflege unberührte Lautentwicklung angenommen wurde (vgl. Art. 2). In der Nachfolge von Sievers’ Lautphysiologie (1876) wurden die Gesetze der artikulatorischen Lauterzeugung und der kombinatorischen und spontanen Lautveränderungen nicht nur auf historische Entwicklungen bis zurück zum Indogermanischen angewendet, sondern gleichzeitig auch auf die lebenden Dialekte, die somit zum Studier-, Beobachtungs- und Experimentierfeld wurden für die junggrammatische Sprachtheorie von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze. Hauptdarstellungsform waren sog. autophonetische Beschreibungen der Laute (und der Flexion) der Mundart eines Ortes. Gewährsperson war wiederum der Autor selbst (Vgl. die Lit. bei Löffler 1974, 25 ff.). Techniken der exakten phonetischen Exploration waren noch nicht entwickelt, sehr wohl jedoch die Anfänge der phonetischen Transkription (vgl. Art. 2 u. 34). Mit Hilfe technischer Apparaturen fing man an, die Stimmen des Volkes und der Völker phonogrammatisch zu inventarisieren, woraus dann die zahlreichen Phonogrammarchive hervorgegangen sind (vgl. Art. 11). Auch hier galt das Interesse wiederum bevorzugt den Dialekten (vgl. die Lit. bei Löffler 1974, 20 f.). Die Phonetik der Gemeinsprache war ein auf unnatürlichem Wege durch Eingriffe von außen entstandenes Konglomerat verschiedener historischer Entwicklungen. Beweis dieser Künstlichkeit war zu eben dieser Zeit die Bemühung um eine bewußte Normierung der
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
überregionalen Aussprache für Schauspieler und öffentliche Redner (Siebs 1898). Der Dialekt wurde als derjenige Teil der Sprache oder des Sprachlebens angesehen, bei dem lautliche Zustände und Entwicklungen ohne Störungen von außen sich selbst überlassen naturgesetzlichen Abläufen unterworfen sind, an denen man exemplarisch sprachgesetzliche Universalien studieren konnte. Die Darstellung beschränkte sich bei dieser Richtung auf die Vokale und Konsonanten, gelegentlich ergänzt um Teile der Formenlehre. Später wurden auch intonatorische und prosodische Probleme am Dialekt studiert (Sprechgeschwindigkeit, Satzmelodie, Akzente) (vgl. die zit. Arbeiten bei Löffler 1974, 99). 3.1.4. Dialektforschung als Sprachgeographie. — Dialekt als raumbildender Faktor Bereits Schmeller hatte seiner Darstellung der Mundarten Bayerns eine Übersichtskarte beigegeben, auf der in der Manier der Zeit durch eingedruckte Buchstaben und eine umständliche Legende in grobgeographischer Verteilung einige sprachliche Besonderheiten verzeichnet waren, die für einen ungeübten Leser jedoch kaum als geographische Raumbildung erkennbar waren (Schmeller 1821, Anhang). Aus den Erfahrungen der grammatisch-historischen und lexikalischen Bearbeitung wuchs allenthalben das Bedürfnis nach möglichst breitem und dichtgestreutem Belegmaterial, damit auf diese Weise die lückenlose Geltung der Lautgesetze oder die gestaffelte Abfolge mancher reihenartiger Lautentwicklungen in der geographischen Verbreitung nachweisbar würden (vgl. Art. 7). Mit zu den ersten großflächigen Aufnahmen gehörten die sog. Konferenzaufsätze, die Adalbert von Keller, 1860 in Württemberg an 320 Orten hatte schreiben lassen, um ein möglichst dichtes Ortsnetz für die Kennzeichnung der schwäbischen Mundart kontrastiv zur Hochsprache zu erhalten (Ruoff 1973, 28). Der erste, der die Ergebnisse einer breit gestreuten Fragebogenerhebung in einem Atlasband publizierte, war Fischer mit seiner „Geographie der schwäbischen Mundarten“ (Fischer 1895). Fast zur gleichen Zeit (1887) verschickte Wenker 40 Fragen zur dialektalen Übertragung („Wenker-Sätze„) an annähernd 05 000 Schulorte des gesamten deutschsprachigen Gebietes (vgl. Art. 3). Die ersten 128 Karten wurden, allerdings erst
ca. 50 Jahre später, als Deutscher Sprachatlas (DSA 1926—56) publiziert. Ergebnis dieser Erhebungen mit hoher Ortsnetzdichte waren Symbolkarten (vgl. Art. 24) mit deutlichen Verdichtungen in manchen Zonen und Mischbereichen in anderen Gebieten, jedoch so, daß Hauptverbreitungsgebiete deutlich mit einer Linie umrandet werden konnten. Hierfür wurde der Terminus Isoglosse geprägt (Freudenberg 196 0 , 219 ff. (vgl. Art. 25). Isoglossen konnten einzeln oder gebündelt ganze Zonen und Räume ein- oder ausgrenzen. Auf diese Weise entstanden durch eine Handvoll Sprachlinien dialektale Großräume mit Außengrenzen und einer feinen Binnengliederung (vgl. Löffler 1974, 134 ff.). Hierdurch wurde die These der romanistischen Dialektologie widerlegt, daß es abgrenzbare Dialekte gar nicht gebe (Vgl. die Hinweise auf Meyer, Schuchardt und Malmberg bei Hammarström 1966, 96), daß vielmehr von Ort zu Ort feine Abweichungen bestünden, die eine Grob- oder Feingliederung von Dialekten nicht zuließen. Gewährspersonen solch großflächiger Erhebungen mit hoher Ortsnetzdichte waren ortsansäßige Amtspersonen: Pfarrer, Lehrer und deren Informanten. Die Übermittlung geschah schriftlich-indirekt in grobphonetischer Transkription (vgl. Art. 29 u. Art. 3). Mit den sprachgeographischen Methoden, die sich vorwiegend auf Lautunterschiede desselben Etymons beschränkten und weniger die Wortvarianten beachteten, wurde die raumbildende Kraft der Dialekte nachgewiesen. Als weiteres Forschungsziel ergab sich hieraus die Frage nach der Einteilung und Innengliederung der deutschen Dialekte, woraus sich dann sofort das Problem der Interpretation und Erklärung solcher sprachlich konstituierter Zonen stellte. 3.1.5. Dialektforschung als historische Hilfswissenschaft. — Dialekt als Symptom und Bestandteil einer kulturräumlichen, geographischen und politischen Raumbildung. (Stammesmundart und historische Sprachlandschaft) Die ersten Interpretationsversuche der teilweise verwirrenden Kartenbilder mußten auf außersprachliche Erklärungszusammenhänge zurückgreifen, denn mit Sprachgesetzlichkeit allein war die fast unübersichtliche Kleinkammerung der Kartenbilder nicht zu erklären. Die Auffassung, daß Dialekträume sich mit den endgültigen Ansiedlungsgebieten der deutschen Stämme nach der Völker-
22. Gegenstandskonstitution in der Dialektologie: Sprache und ihreDifferenzierungen
wanderungszeit deckten, weshalb man geradezu begeistert von Stammesmundarten sprechen konnte und einem Sprachstamm im Grimmschen Sinne einen bestimmten Volksstamm zuweisen konnte, galt lange Zeit als die plausibelste Erklärung der großräumigen deutschen Dialektareale. Doch bereits mit dem Beginn der überörtlichen, d. h. sprachgeographischen Einzelforschung zeigte sich, daß die Grenzen solcher Sprachlandschaften sich in den wenigsten Fällen exakt bestimmen ließen. Und die Isoglossenforschung neueren Datums ist zunehmend weniger imstande, feste Raumgrenzen für die Verbreitung sprachlicher Eigenheiten anzugeben. Hinzu kommt die Einsicht, daß politische und kulturgeographische Zustände sich als Ursache für sprachliche Befunde kaum über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren haben erhalten können. Jedenfalls wurde die Kultureinheit auf der Basis eines deutschen Stammesverbandes, mit der man im 19. Jh. auch auffällige Ortsnamenfelder deuten wollte, als Erklärungsrahmen für die großen Sprachräume nur noch im großen und ganzen, gewissermaßen für die Kernlandschaften einer Stammesmundart akzeptiert (z. B. des Schwäbischen, Bairischen, Sächsischen, Thüringischen usw.), und die erhaltenen Stammesnamen für die großen Dialektlandschaften haben sich weiterhin als praktisch erwiesen, weil diese Großräume auch unter anderen Gesichtspunkten, der Siedlungs-, Kultur- und Territorialgeschichte, ja überhaupt zur großräumigen Gliederung des deutschsprachigen Gebietes mit diesen Oberbegriffen eingeteilt werden. Hier steht dann der Stammesname als Etikett für eine historisch-geographische, durch weltliche wie kirchliche Territorialgeschichte begründete kulturlandschaftliche Großeinheit, ohne daß damit ein Anspruch auf einen stammesgeschichtlichen Erklärungszusammenhang erhoben würde. Es ist umgekehrt eher so, daß die historisch-kulturräumliche Gliederung nach Stammesgebieten sich vielmehr an die Ergebnisse der zeitgenössischen wie historischen Sprachgeographie anlehnt. In diesem Sinne ist z. B. der Begriff der Alemannia zwar eine stammesbezogener Begriff für eine sprach- und kulturgeographische Einheit, jedoch mit vorwiegend deskriptivem Charakter, keinesfalls von unmittelbar explanativem Wert (Bach 1950 , § 25, 81, 82 mit älterer Lit.; Löffler 1974, 141 ff. mit Lit.). Damit wird jedoch die Möglichkeit einer extralinguistischen Inter-
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pretation sprachlicher Verbreitungszonen nicht in Abrede gestellt. Dialekt als raumbildendes Element ist danach eine Ko-Variable oder interdependent mit anderen Variablen wie politische oder kirchliche Organisation, geographische Struktur, Verkehrsverhältnisse u. dgl. Dabei konnten für vergangene Zeitstufen, für die andere historische Nachrichten eher spärlich flossen, die historischsprachlichen Belege und ihre räumliche Lagerung wenn nicht die mangelnde Quellenlage ersetzen, so doch einen gewissen Anstoß nach der Suche außersprachlicher Faktoren vermitteln. Darstellungsform der historischen Sprach- und Kulturgeographie ist die Dialektgrammatik mit historisch-politischem und kulturgeschichtlichem oder -geographischem Teil, oder die gegenwartssprachlich/ historische Sprachkarte in Kombination mit Territorialkarten (vgl. Art. 25). Quellen für Dialektbelege sind die publizierten und nicht publizierten Materialien des deutschen Sprachatlasses und anderer regionaler Atlasunternehmen nebst historischen Zeugnissen aus Urkundenbüchern, Urbarien und anderen schriftlichen Quellen, die im betreffenden Dialektraum lokalisiert und zeitlich genau datiert sind (Vorarbeiten und Studien 1965; Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas 1979). 3.1.6. Dialektforschung als empirische Linguistik. — Dialekt als klassisches Objekt für eine Linguistik der natürlichen Sprache Während die bisher geschilderten Dialektauffassungen, die sich in der jeweiligen Art der Dialektforschung manifestierten, jede auf ihre Weise in Form von institutionalisierten Forschungsunternehmen oder in Form vorbildlicher Publikationsreihen weiterleben, wurde entsprechend dem Stand der linguistischen Kenntnisse der Gegenstandsbereich der Dialektologie bzw. das Spektrum der Probleme, unter denen man Dialekt linguistisch bearbeiten konnte, immer breiter. Kaum einer der früheren Ansätze konnte als überwunden oder abgeschlossen gelten, und immer neue traten hinzu. Die in den dreißiger Jahren aufkommende Phonologie wurde von Anfang an fast ausschließlich an Dialekten erprobt und demonstriert, wenn auch die Anwendung an deutschen Dialekten erst in den 60 ger Jahren in größerem Umfang erfolgte. Erst danach wandte sich das Interesse der Phonologen auch den lautlichen Gegebenheiten der
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Hochsprache zu. Die Dialekte als reine Sprechsprachen boten die beste Gewähr für eine Lautsystematik auf Grund einer exakten Merkmalbeschreibung, die saubere Datenerhebung und eine akribische Notationsweise voraussetzten. Hierfür hatten sich die Aufnahmetechniken im Zusammenhang mit verschiedenen Sprachatlasunternehmen und Tondokumentationen erheblich verfeinert (Zwirner 1965, 374 ff.) (vgl. Art. 34). Gerade in jüngster Zeit wurde denn auch der Nachweis erbracht, daß Einzelortsaufnahmen in phonetischer Transkription, die für den Schweizerdeutschen Sprachatlas bereits vor 20 Jahren gemacht wurden, für die Erstellung von Ortsphonologien quantitativ und qualitativ brauchbar waren (Werlen 1977). Voraussetzung für die strukturalistische Bearbeitung der Laute eines Ortsdialekts war die strenge Beschränkung der Informationsquellen auf möglichst einen Informanten, den sog. ältesten Sprecher am Ort, da idiolektale und soziolektale Varianten eine phonologische Analyse erheblich störten und die Unterscheidung zwischen Allophonbereich und Code-Wechsel eigentlich unmöglich machten. Ebenfalls seit den 60 ger Jahren entstanden im Gefolge des aufkommenden Strukturbegriffs auch für die Grammatik des Deutschen einzelne strukturelle Ortsgrammatiken (Kufner 1961; Gladiator 1971), die neben der Phonologie auch Morphologie, und in beschränktem Umfang auch die Syntax enthielten. Syntax hat sich zu allen Zeiten einer dialekt-grammatischen Bearbeitung entzogen, da der Unterschied: Dialekt — Einheitssprache auf syntaktischer Ebene größtenteils identisch ist mit dem Unterschied: gesprochen — geschrieben (vgl. Art. 78). Die Methoden der strukturellen Sprachbetrachtung wurden auch auf die Bereiche der lexikologischen Dialektologie angewandt (vgl. Art. 80 ). Insbesondere die sog. Wortfeldtheorie erfuhr mehrfach Anwendung. Aber auch andere Versuche der strukturellen Semanalyse wurden an dialektalen Materialien ausprobiert (Harras 1972; Zürrer 1975). Auch die Sprachgeographie, neuerdings Areallinguistik genannt, machte sich den Strukturbegriff zu eigen. Beleggrundlage waren immer noch die alten Unterlagen der bisherigen Atlaswerke und Wörterbücher, die unter der idealisierten Bedingung des einheitlichen ungebrochenen Orts-Codes erhoben worden waren. Alle Ergebnisse auch der strukturellen Sprachgeographie, welche zu sauberen Systemarealen führten und die
traditionellen Lauträume als System- oder Teilsystem-Zonen bestätigten oder in teilweise abweichender, aber umso deutlicher Abgrenzung korrigierten, konnte auf Grund der genannten idealisierten Datengrundlage eindrückliche und manchmal geradezu verblüffende Ergebnisse vorweisen (Moulton 1963; Goossens 1969; Panzer/Thümmel 1971; Putschke 1974; Wegera 1977; Werlen 1977). Auch die neuesten sprach- und grammatiktheoretischen Ansätze der generativen Richtung wurden inzwischen im Dialektbereich ausprobiert (vgl. Art. 14 u. 18), weniger die Syntax aus den eben genannten Gründen, häufiger jedoch jene neue Notationsweise, die unter dem Namen generative Phonologie ihre Verwandtschaft mit der generativen Syntax kundgibt, im Grunde jedoch außerhalb der generativen Grammatiktheorie ein Eigenleben führt. Anstelle der traditionellen Rückführung auf ein ideales historisches Laut-Bezugssystem des Mhd. wird eine phonologische Tiefenstruktur angesetzt, im Vergleich zu der die tatsächlich vorkommenden Lautrealisationen an einem Ort als Transformationen im Merkmalsbereich oder in Form von generativen Lautregeln dargestellt werden können, die also eine Lauterscheinung nicht kontrastiv zum Nachbarort oder zur historisch vorgelagerten Bezugstufe des Mhd., sondern prozessual als aus einer Basis-Struktur abgeleitet darstellt (Veith 1970 , 420 ff.; Werlen 1977, 232 ff.; vgl. Art. 14). Mit dieser differenzierten Darstellung der Laute als sich verändernde Merkmalbündel glaubt man auch endlich ein Beschreibungsinstrument gefunden zu haben, welches nun nicht mehr nur den einen idealisierten Sprecher als ideolektalen Ortsrepräsentanten zuläßt, sondern theoretisch die gesamte Sprachlichkeit und Lautvielfalt einer Ortsmundart beschreibbar macht, zumindest der Theorie nach. Daß hierfür erhebungstechnische Schwierigkeiten im Wege stehen, schränkt diesen Adäquatheitsanspruch nicht ein. Dialekt ist auch als Objekt der strukturell-grammatischen Bearbeitung der gegenüber der Einheitssprache idealere Gegenstand, weil er authentisch erhoben ist unter standardisierten Bedingungen, einerseits also von seiner Trägerschaft her klar und eindeutig bestimmt ist, andererseits durch die örtliche Verschiedenheit d. h. diatopische Variabilität gerade die Leistungsfähigkeit der Beschreibungsmethoden auf eine harte Probe stellt. Dialekt ist also nach wie vor das Arbeits- und Bestätigungsfeld der Gramma-
22. Gegenstandskonstitution in der Dialektologie: Sprache und ihreDifferenzierungen
tiktheorien, insbesondere der konkurrierenden Beschreibungsmethoden. Selbst die allerjüngsten Ansätze innerhalb der Linguistik, Pragmatik, Texttheorie und Textlinguistik sind bereits mit dialektologischen Fragestellungen konfrontiert worden (Veith 1978). Hier werden nun die Grenzen und Möglichkeiten der klassisch erhobenen Dialekt-Daten deutlich aufgewiesen. Allerdings bieten die neueren Techniken der empirischen Sozialforschung Möglichkeiten zur Beschaffung und Aufbereitung neuer und tauglicher Materialgrundlagen (vgl. Art. 31 u. 33). 3.1.7. Dialektforschung als Sozialforschung. — Dialekt als Soziolekt oder als pragmatische Variante innerhalb eines vielregistrigen Sprachkontinuums Bereits in den ersten Reaktionen auf das deutsche Atlasunternehmen von Wenker wurden Stimmen laut, die auf den unrealistischen Status der Dialektgrundlage hinwiesen (Bremer 1895, 7 ff.). Dialekt sei vielmehr eine schillernde Größe, die je nach Art der Sprecher, Alter, Geschlecht, Thema, Situation eine jeweils andere Gestalt annehme. Für die hauptsächlichsten Vorkommensformen zwischen dem Grund-Dialekt des ältesten Sprechers in idealisierter Standartsituation und der allgemeinen Hochsprache wurde terminologisch als weitere Unterscheidung die sog. Umgangssprache eingeführt, unter der man alles verstand, was nicht mehr das eine und noch nicht das andere war (vgl. Bach 1950 , § 189; Moser 1959; Bichel 1973; 1975; vgl. Art. 52). Weitere Differenzierungen in der Nähe der Mundart sind Halbmundart, in der Nähe von Hochsprache Stadtmundart, höhere Umgangssprache oder Slang (frz. argot) als jenseits der Hochsprache bereits wieder absteigende Linie der Sprachachse (Bach 1950 § 227 ff.; Moser 1959, 225 f.; Philipp 1973, 298 f.). Die Zusammenhänge von Stadtund Landmundart, gebildeter und einfacher Sprechweise, wurden jedoch aus prinzipiellen Gründen in der Regel nur theoretisch abgehandelt und mit selbsterfahrenen, meist impressionistischen Belegen versehen (Lit. vgl. Löffler 1974, 42 f.). Systematische Arbeiten zu den sprachlichen Zwischenbereichen auf einer pragmatischen oder sozialen Achse konnten nicht durchgeführt werden, solange die empirisch-methodischen Voraussetzungen fehlten. Erst in allerjüngster Zeit werden einige großangelegte Untersuchungen unter-
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nommen von der Tübinger Arbeitsstelle (Ruoff 1973, 111 ff.), von U. Ammon (1977, 165 ff.) und im sog. Erp-Projekt in Bonn (Besch/Mattheier 1975, 173 ff.; Besch 1981). Dialekt ist hierbei ein Code oder eine Sprechvariante neben anderen, deren Verwendung und Einsatz abhängig ist von der Person des Sprechers und seinen individuellen Merkmalen (Alter, Geschlecht, Bildung, Herkunft, Mobilität), oder von den äußeren Umständen, dem Ort, der Situation, der Gelegenheit, den teilnehmenden Kommunikationspartnern u. a. m. (vgl. Art. 66). Dialekt ist so ein pragmatisch determiniertes Sprechregister (Ruoff 1973, § 31; Löffler 1976, 391). Als schriftsprachliches Register wurde Dialekt auch als Literatursprache eingesetzt und in seiner Wirkung als Stilistikum auch schon dialektologisch beachtet (Boesch 1963, 166 ff.; vgl. Art. 10 0 u. 10 1). Zu dieser Auffassung gehört auch teilweise die Beschäftigung mit aussterbenden Dialekten (Restdialekten) der ehemals deutschsprachigen Gebiete und der deutschen Sprachinseln, deren Sprecher heute teilweise als Vertriebene, Aussiedler oder Flüchtlinge oder integrierte Volksgruppe eine aussterbende soziale Minderheit darstellen (vgl. z. B. Fiess 1977). Dialekt als Sprache von sozialen Minderheiten, oder als Soziolekt überhaupt ist denn auch Gegenstand der zuletzt noch zu nennenden Forschungsrichtung. 3.1.8. Dialektforschung als Hilfsdisziplin der Sprachdidaktik — Dialekt als Substrat des muttersprachlichen Unterrichts Die Forderung aller ernsthaften Sprachlehrer des Deutschen ging von Anfang an dahin, daß der muttersprachliche Unterricht darauf Rücksicht nehmen müsse, daß viele Schüler als erste Muttersprache einen Dialekt erlernt haben. Diese Grund- und Erstsprache müsse Ausgangspunkt für weitere Sprachförderung und Sprachlehre sein. Immer wieder hat es Ansätze gegeben, dem wohlmeinenden Lehrer auch entsprechende Hilfsmittel an die Hand zu geben, die den deutschen Sprachunterricht ausdrücklich an einen regionalen Dialekt anknüpften (Besch 1975, 150 ff.; Löffler 1979; vgl. Art. 90 ). Die normative Kraft der neuen Einheitssprache hat jedoch das dialektale Substrat allmählich pejorisiert und immer mehr aus den Schulstuben und Lehrbüchern verdrängt, obwohl in der Wirklichkeit besonders auf der Unterstufe der Dialekt in der Schule noch ein sehr
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
vitales Leben führt. Mit dem neuen Interesse, das die Soziolinguistik seit Ende der 60 ger Jahre an den Dialekt herantrug, und mit dem Stichwort Sprachbarriere auch zu einem Schulproblem hat werden lassen, hat sich das Interesse eines Teiles der Dialektologie auf diesen Aspekt gerichtet (vgl. die Beiträge in Ammon/Knoop/Radtke 1978): Dialekt als reduziertes Teilsystem eines größeren Sprachzusammenhangs muß für den Sprecher, dem nur diese eine Variante zur Verfügung steht, dann, wenn er in direkte Konkurrenz mit einheitssprachlichen oder sprachlich mobilen Sprechern (mit codeswitching) tritt, kommunikative Nachteile bringen, die sich in der Schule als schlechte Leistungsbewertung bemerkbar machen und im ganzen eine eingeschränkte geistige und soziale (berufliche) Mobilität zur Folge haben (Ammon 1972; Besch/Löffler 1973; Bausinger 1973; Dialekt/Hochsprache-kontrastiv H. 1 1976, 8 f.; vgl. Art. 92). Einige empirische Untersuchungen haben diesen Eindruck mit festen Zahlen belegen können (Hasselberg 1976; Ammon 1978). Bemühungen anderer gingen dahin, durch regionale Aufarbeitung des linguistischen Kontrastes Dialekt — Schulsprache dem wohlmeinenden Lehrer konkrete Hilfen zu geben, die Kluft von der mono-lektalen Ausgangsstufe der Dialektsprecher hin zu einer poly-lektalen Sprachkompetenz überwinden zu helfen (Hasselberg/Wegera 1976; Zehetner 1976; Löffler/Besch 1977; Ammon/Löwer 1977; Niebaum 1977; Klein/Mattheier/ Mickartz 1978). Dialekt ist hier verstanden als ein in sich konsistentes Sprach- und Kommunikationssystem mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit, welches einerseits alle Merkmale einer vollständigen Sprache aufweist, andererseits in einem teilweise fremdsprachlichen Kontrast zur Unterrichts-Zielsprache steht (Löffler 1974a), zudem neben der reduzierten kommunikativen und pragmatischen Reichweite regional verschieden konnotativ pejorisiert ist bis zur Stigmatisierung, wofür in allerjüngster Zeit aus verschiedenen Gegenden Nachweise erbracht wurden (Steinig 1976; Reitmajer 1975, 310 ff; 1976, 87 ff.; vgl. Art. 92). Dialekt — so verstanden — ist ein Sektor des einem kompetenten Sprecher zu Verfügung stehenden Lekt-Inventars oder eines von vielen pragmatisch determinierten Registern. Kennzeichen und unterscheidendes Merkmal des dialektalen Registers sind nicht primär die situativen und soziolektalen Merkmale, sondern die sprachlichen, der ehemali-
gen örtlichen Grundsprache am nächsten kommenden lautlichen und lexikalischen Merkmale (vgl. Dialektniveau u. Dialektale Stufenleiter: Ammon 1973, 62 ff.). Dialekt bleibt somit von allen Varietäten der polylektalen Sprachwirklichkeit die am ehesten und einfachsten zu fassende und zu beschreibende Variante.
4.
Begriffsbestimmung von Dialekt
4.1. Dialektbegriff als „Addition“ der Forschungsgegenstände Wenn bereits die achtfache Einteilung des dialektologischen Interesses eine grobe Vereinfachung darstellte, so gilt dies noch in viel höherem Maße von einem aus solchem Interesse erwachsenen Dialekt-Begriff als Integration aller dialektologischen Forschungsthemen. Neben die solcherart historisch verstandene Gegenstandskonstitution muß demnach eine systematische Begriffskonstitution treten, die allerdings auch nur in einem ähnlich verkürzten Verfahren darzustellen ist. 4.2. Die Wesensbestimmung von Dialekt oder die inhärenten Merkmale Einige Merkmale des Dialekts kehren in allen Definitionsversuchen wieder. Sie scheinen zu den inneren oder immanenten Merkmalen von Dialekt zu gehören: z. B. ‘bodenständig’, ‘alt’, ‘mündlich’, ‘ortsgebunden’, ‘emotional’ usw. Es scheint so, als sei es möglich, ohne Bezug auf einen Gegenpol Nicht-Dialekt anzugeben, welche inhärentabsoluten Merkmale Dialekt habe oder welches sein eigentliches Wesen sei (Bähr 1974, 28; Brockhaus 1971, 13, 61; Chloupek 1966, 176 ff.; Ettmayer 1976, 42 ff.; Grimm 1885, 6, 2, 2683 f.; Hammarström 1966, 94 f.; Heupel 1975, 218; Hotzenköcherle 1934, 27; Klappenbach 1974, 4, 2569; Markey 1973, 3; Maurer 1933, 69; 1976, 55; Philipp 1969, 394 ff.; Seiffert 1977, 170 ; Stammerjohann 1975, 86; Ulrich 1976, 77; v. Wartburg 1970 , 13; Wegener 1976, 16 f.; Weisgerber 1964, 295 ff.). Von den inhärenten Merkmalen lassen sich noch relationale Merkmale d. h. solche, die die Beziehung zu etwas anderem charakterisieren, unterscheiden, z. B. ‘älter als’, ‘abgeleitet’, ‘weniger weit reichend’, ‘verwandt mit’ (‘verstehbar für Nachbardialekte’, ‘Subsystem eines Hauptsystems’..). (Ammon
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1978, 49 ff.; Glinz 1970 , 76 ff.; Hasselberg 1976, 16 f.; Grimm 1976, 852; Goossens 1977, 49; Heger 1976, 223, 232; Jvić 1976, 284; Langacker 1971, 37 ff. Löffler 1974, 6 ff.; Lyons 1975, 35 f.; Meyers 1889, 929 f.; Schirmunski 1962, lf.; Sheldon 1976, 39 ff.; Soeteman, 1976, 20 8 f.; Sowinski 1970 , 180 f.; Wächter 1977, 38 ff.; Wegener 1976, 16 f.; Wolf 1975, 2 ff.). Auch wenn es so scheint, als sei eine Merkmalsbestimmung „an sich“ möglich, so muß doch festgestellt werden, daß Dialekt nirgends allein vorkommt. Er existiert immer nur als Komplement zu seinem Gegenpol, dem Nicht-Dialekt, einer Über- oder Hauptsprache, auch wenn die Merkmalsbestimmung nicht immer ausdrücklich auf den Gegenpol bezogen ist (Löffler 1974, 1 ff.). Die folgende Übersicht soll diese Bezogenheit dokumentieren, indem für die einzelnen Merkmalsebenen jeweils für Dialekt und Nicht-Dialekt die am häufigsten genannten Eigenschaften und die mit bestimmten Merkmalbündeln vorwiegend verknüpften Benennungen zusammengestellt werden. 4.3. Merkmalsbestimmung von Dialekt und Nicht-Dialekt, aufgeteilt nach Merkmalsebenen (1) Vorkommensbereich Dialekt: ist örtlich, lokal, landschaftlich, regional determiniert. Namen hierfür sind: Ortsmundart, Regiolekt, Regionalspra c he, Lokal-Idiom. Nicht-Dialekt hingegen ist: überörtlich, überregional, einheitlich angelegt. Namen hierfür sind: Einheitssprac he, Hoc hsprac he, überregionale Sprache. Diese Merkmalsunterscheidung scheint die wichtigste zu sein. Sie fehlt in kaum einer Begriffsbestimmung, oder sie wird als geradezu selbstverständlich weggelassen (Bähr 1974, 28; Brockhaus 1971, 13, 61; Hammarström 1969, 94 f.; Heupel 1975, 218; Klappenbach 1974, 4, 2569; Markey 1977, 3; Meyers 1889, 4, 929 f.; Philipp 1973, 295 ff.; Seiffert 1977, 170 ; Ulrich 1976, 77; Stammerjohann 1975, 86; v. Wartburg 1970, 13). (2) Typologische Hierarchie Nach der historisch-genetischen Entwicklung ist Dialekt abgeleitet, absteigend verwandt, hervorgegangen aus einer Übersprache als Descendent. Nicht-Dialekt ist: die Übersprache, eine Ganzes—Teil-Beziehung, Ausgangspunkt für (= Antecedent) abgeleitete Dialekte oder End- und Brennpunkt dialektaler Fortentwicklung. Benennungen
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auf diesem Hintergrund sind: germanische, romanisc he Dialekte und deren Einzelbenennung gegenüber den Bezeichnungen der jeweils übergeordneten Sprachen. Hierher gehört auch der Begriff der Ausbausprache (Kloss 1976, 30 1 ff.). Nach diesem Kriterium wird Dialekt zweifach bestimmt: Einmal als Ableitung aus einem größeren Urverband und das andere Mal als Vorstufe zu einer später folgenden Gemeinsprache. Die Relation Dialekt—Sprache ist in jedem Fall Subordination oder eine Teil—Ganzes-Beziehung. (Brockhaus 1971, 13, 61; Fishman 175, 25 ff.; Glinz 1971, 76 ff.; Goossens 1977, 21 u. 49; Heger 1976, 232 ff.; Hockett 1967, 322; Jvi 1976, 284; Martinet 1976, 76; Rei 1966, 67 f.; Sheldon 1976, 39 ff.; Soeteman 1976, 20 8 f.; Sowinski 1970 , 180 f.; Wächter 1977, 38 ff.; Wolf 1975, 2 ff.). (3) Linguistischer Status Unter linguistischem Aspekt ist Dialekt von seiner formalen-ausdrucksseitigen Qualität her dadurch gekennzeichnet, daß er sich als selbständiges und vollständiges System darstellen läßt, das im Idealfall auf allen grammatischen Ebenen lückenlos besetzt ist, wenn auch die Zahl der Besetzungen, also die quantitative Ausstattung der einzelnen Ebenen und Kategorien kleiner sein dürfte als die einer polyfunktionalen Gemeinsprache. Als systemhaft ist Dialekt grammatisch beschreibbar und wie jede andere Sprache regelhaft darstellbar (Fishman 1975, 25 ff.; Jvić 1976, 285; Klein 1974, 42 f.; Lewandowski 1973, 1, 146 f.; Löffler 1974 a, 165 ff; Lyons 1975, 35 f.; Soeleman 1976, 20 8 f.). Diese Erkenntnis ist zwar so alt wie die wissenschaftliche Beschäftigung mit Dialekten, wird aber im populären und wissenschaftlichen Bewußtsein landläufig angezweifelt, wobei unter Dialekt meistens lautliche, intonatorische oder lexikalische Varianten verstanden werden, die kein vollständiges linguistisches System darstellen, sondern eher als zwar korrekte, aber unregelmäßige Abweichung von der normierten Hochsprache aufgefaßt werden. Insbesondere die amerikanische Variety-Theorie ist hier zu nennen (Abraham 1974, 86; Fishman 1975, 25 ff.; Ferguson 1959, 325 ff.; Glinz 1971, 31 zitiert Gumperz und Ferguson; Martinet 1976, 76; Sheldon 1976, 39 ff.). Neben der sprachlichen Eigenständigkeit wird dem Dialekt jedoch auch der Charakter eines Subsystems zu einem hierarchisch übergeordneten Supersystem zugeschrieben (Goossens 1977, 49; Heger 1976, 232 ff.; Jvić 1976, 284; La-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
bov 1971, 159). Das Subsystem enthält zu den meisten fakultativen Regeln des Hauptsystems gewöhnlich obligatorische Selektionen, die eben für jede grammatische Ebene die Dialektmerkmale ergeben. Auch wenn ein Subsystem nur noch in Teilen (einzelnen Lauten oder Allophonen, Intonationen, Wörtern und Wendungen) vorhanden ist, wird für die ganze Subsprache die Bezeichnung Dialekt verwendet, vorausgesetzt, dieses partielle Subsystem ist das einzig vorhandene und nicht bloß eine Zwischenstufe zwischen zwei vollständigen und selbständig nebeneinander bestehenden Supra- und Subsystemen. Als Dialekt (Nationaldialekt) wird auch der Fall bezeichnet, daß alle Merkmale (syntaktische, semantische, lexikalische, pragmatische) einer Schriftsprache vorliegen, jedoch gegenüber der eigentlichen Hochsprache eine dialektale Phonation als bloße oberflächenstrukturelle Um-Kodierung vorgenommen wird. Dies ist vielfach beim sog. Schweizerdeutschen der Fall (Keller 1962, 155 ff.; 1973/74, 130 ff.; Schenker 1973, 93 ff.; Zimmer 1977, 145 ff.). Systemare Nähe wurde früher dadurch umschrieben, daß eine unmittelbar vorausgehende historische Vorstufe beiden Systemen in gleicher Weise zugeschrieben werden konnte, oder daß sie auf der Basis gemeinsamer Etyma oder Wortstämme lediglich lautlich-artikulatorische Unterschiede aufwiesen oder innerhalb desselben Wortschatzes lediglich teilsemantische Abweichungen zeigten. In der Terminologie der Regel- oder Prozeßgrammatik kann systemare Nähe auch dadurch ausgedrückt werden, daß innerhalb eines solchen Dia-Systems (Heger 1976, 215 ff.; anders bei Goossens 1971, 258 f.) die Überführung von einem System in das andere mit einer bestimmten Zahl von Transformationsregeln abbildbar ist, während fehlende Verwandtschaft oder diasystemare Nähe nicht durch Transformationsregeln beschreibbar sind. Echter Dialekt ist sodann von bloßen Zwischenstufen gegenüber der Nationalsprache dadurch zu unterscheiden, daß zur Überführung von einem Endpunkt zum anderen innerhalb dieses Dia-Systems eine maximale Zahl möglicher Transformationsschritte nötig ist. (Goossens 1977, 21) Solche regelhaften Definitionen wurden indes zugegebenermaßen noch recht selten praktisch nachgewiesen (vgl. den Versuch von Panzer/Thümmel 1971). Nicht-Dialekt ist Teil des Dia-Systems und selbstverständ-
lich ebenfalls systemhaft regelgerecht und stellt gegenüber dem Dialekt das System mit der größeren Zahl von Elementen innerhalb der einzelnen Kategorien dar. (Putschke 1974, 329 f.). Das Suprasystem hat auch eine größere Zahl fakultativer Regeln. Die Ausstattung und Besetzung des übergeordneten Systems ist gleichmäßiger und polyfunktionaler. Die größte Regel-Übereinstimmung zwischen beiden Diasystempolen ist wohl auf dem Gebiet der Syntax der gesprochenen Sprache festzustellen (Vgl. die Arbeiten zur gesprochenen Sprache, die von der Tübinger Arbeitsstelle in der Reihe Idiomatica herausgegeben werden. Ruoff 1973 u. a.). Bezeichnungen für Dialekt unter diesem Aspekt sind: Subsystem, Subc ode, Variante, Oberflächenvariante einer tiefenstrukturell identischen Gemeinsprache. Für Nicht-Dialekt: Super-, Supra-System, Superc ode, Hauptsprac he, Übersprac he. Für beide Pole und ihre Relation zueinander: Diasystem. (4) Benutzerkreis Gleichzeitig mit der Ausbreitung der überregionalen Literatursprache, Schreibund Bildungssprache hat auch der Dialekt die besondere Beachtung der Sprachforscher erfahren. Dialekt war im Gegensatz zur neuen gelehrten oder Gelehrten-Sprache die Sprache des Volkes, zunehmend des einfachen Volkes, und mit der Ausbreitung der neuen Schriftsprache unter den Gebildeten zunehmend auch die Sprache der weniger Gebildeten und der sozial weniger privilegierten Schichten, zumindest in Deutschland: der Handwerker und Bauern, der Industrie- und Landarbeiter. Durch die geographisch unterschiedliche Ausbreitung der Schriftsprache als Sprechsprache der Gebildeten innerhalb der deutschsprachigen Gebiete ist der Dialekt vom Benutzerkreis her regional jeweils anders gekennzeichnet: von Süden ausgehend als Sprache aller oder des ganzen Volkes in der Schweiz, über die Alteingesessenen oder Einheimischen aller Schichten in Süddeutschland bis hin zu den sozialen Außenseitern im geographisch mittleren Deutschland, im Westen ebenso wie im Osten. Nach Norden hin nimmt die Zahl der sozialen Benutzerkreise wieder zu. Eine Kennzeichnung von Dialekt an sich durch Angabe eines bestimmten sozialen Merkmales der Sprechergruppe ist überregional nicht möglich, sehr wohl jedoch in kleinräumlicher Differenzierung (Vgl. die Einleitungen in: Dialekt/Hochsprache-kontrastiv H. 1—6, 1976 ff. S. 8 ff.; Ammon 1978, 72 ff.;
22. Gegenstandskonstitution in der Dialektologie: Sprache und ihreDifferenzierungen
Ris 1978). Namen für diese Art Dialektbegriff sind: Bauernspra c he, Volksspra c he, Sprac he der ‘sc hlic hten Sc hic hten’ (Martin 1939, 5), Handwerkerdialekt, Stadt- und Landdialekt, Stadtsprac he u. a. Nicht-Dialekt ist demgegenüber immer die Sprache der Gebildeten und des Sozialprestiges. Selbst im Süden, in der Schweiz, wo Dialekt die Sprache aller ist, gilt die Beherrschung von Nicht-Dialekt bei Einheimischen als Zeichen von Bildung und hohem Sozialprestige, wenn auch nicht im gleichen Maße als Zeichen volkstümlicher Beliebtheit. In nördlich anschließenden Gebieten ist Nicht-Dialekt die Sprache der Bildungsbürger, der Fremden, Zugereisten oder der Flüchtlinge, im mittleren Deutschland wiederum Zeichen der aufsteigenden und aufgestiegenen sozialen Schichten bereits von mittlerer Schulbildung an. Auch hier gilt entsprechend der soziolektalen Funktion des Dialekts, daß auch die Hochsprache vom Benutzerkreis her in Deutschland nicht als überregionale Gebildetensprache definiert werden kann, sehr wohl jedoch für einzelne Regionen und Ballungsräume. (5) Verwendungsebene Dialekt ist analog zum Benutzerkreis eingeschränkt durch dessen kommunikative Bedürfnisse und Gepflogenheiten. Für alle Gegenden gilt, daß Dialekt nur und fast ausschließlich die mündliche Verwendung betrifft. Bezogen auf Situationen und Themenkreise muß man wiederum regional differenzieren. In der Schweiz ist mittlerweile keine Situation mehr vom Dialektgebrauch ausgeschlossen, nicht einmal mehr die kirchliche Liturgie und der Schulunterricht (Schwarzenbach 1969; Ris 1973, 29 ff.). Ausgenommen sind am ehesten noch Vorlesungen und Vorträge. Auf deutsches Gebiet bezogen reduzieren sich die Verwendungsebenen, Situationen und Themen mit der Zahl der Benutzerkreise. Fast überall da, wo Dialekt noch eine Variante des Sprechens ist, gilt der nichtöffentlich-private Bereich als Dialektdomäne: Familie, Freundeskreis, Straßenöffentlichkeit oder Sportveranstaltungen, während Behörden, Schulen, offizielle Straßenöffentlichkeit wie Umzüge, Demonstrationen, Kontrollen in aufsteigender Linie der Einheitssprache vorbehalten sind. Selbst wenn die Gebildeten den Dialekt für das einfache Volk reservieren möchten, sind es doch dieselben Intellektuellen, nicht die einfachen Dialektsprecher, die in einer intellektuellen Dialektnostalgie eine bukolische
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Sehnsucht des Städters nach der heilen Welt artikulieren. Die situative, thematische und überhaupt pragmatische Bestimmung von Dialekt ist überdies kleinräumlich sehr unterschiedlich vorzunehmen, und zwar zwischen dem dialektsprechenden Universitätsprofessor oder Radiosprecher auf der einen und der hochdeutschsprechenden Gemüsefrau auf der anderen Seite (Bausinger 1976, 12 ff.). Nicht-Dialekt ist von seiner pragmatischen Grunddefinition und seiner literarisch-schulischen Herkunft her für alle Gebiete der Kultur und Bildung vorgesehen, dann absteigend für andere öffentliche Gelegenheiten usw. spiegelbildlich oder symmetrisch zum Dialekt. Auch hier definieren sich Dialekt und Hochsprache regionalspezifisch komplementär. (6) Kommunikative Leistungsfähigkeit Vom reduzierten sprachlichen Inventar, vom Benutzerkreis her und von der pragmatischen Bestimmung aus gilt der Dialekt im ganzen sowohl kommunikativ als auch rein informatorisch gegenüber der Hochsprache als eingeschränkt oder restringiert. Alles, was Dialekt kann, vermag auch die Hochsprache. Dennoch gibt es einige Zonen besonderer Leistungsfähigkeit des Dialekts: In der sprachlichen Beschreibung feinster Differenzierung des konkreten täglichen Lebens. z. B. den Sinnbezirken der Bewegung, der Emotionalität, der konkreten Sinneseindrücke, ist der noch voll ausgestattete Dialekt, wenn er darüberhinaus noch expansiv ist, der Hochsprache an Zahl und Nuancierung der Wörter überlegen. Nimmt man die Integration nichtverbaler und paraverbaler Kommunikationsmittel hinzu, so ist Dialekt, wo er noch als geachtete oder zumindest neutrale Sprache der Mehrzahl der Menschen in Gebrauch ist, gerade als Sprechsprache kommunikativ leistungsfähiger. Die verbale Restriktion wird durch paraverbale und extraverbale (gestische, mimische, kinesische) Elaboriertheit mehr als kompensiert, obwohl man gemeinhin nicht von dialektspezifischen nonverbalen Mitteln spricht. Wenn in einer Sprachgemeinschaft Dialekt noch als sprachliche Alternative voll zu Verfügung steht, wirkt Dialekt bei sonst äquivalenter kommunikativer Leistung als Nahsprache (Dingeldein/Jenkel 1978, 20 8 zitieren H. Kloss) distanzmindernd, d. h. die emotionale Bereitschaft zum Verstehen oder zum Konsens ist mittels Dialekt schneller herbeizuführen. Die distanzmindernde Wirkung ist dabei nicht primär den dialektspezi-
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fischen sprachlichen oder lexikalischen Mitteln zuzuschreiben, sondern einer kollektiven Dialektbewertung als Sprachregister, dessen Benutzung schon durch wenige Signale (Tonfall oder Signallaute, bzw. -wörter) die Bereitschaft zu engerem Partnerkontakt, Verständnis, goodwill und Konsens andeuten. Mit Hilfe des Dialekts können sich Partner auf der menschlich-affektiven Ebene identifizieren. Dialekt ist dann ein humanes Gruppenidentifikationsmittel oder eine Möglichkeit des Abbaus einer durch den Sozialstatus bedingten Distanz, z. B. zwischen Lehrer und Schüler (Ramge 1978, 197 ff.). Man erkennt an den Dialektsignalen im Gegenüber den familiären, mitfühlenden Mitmenschen, Kumpel, Freund oder Verwandten. Auf einer etwas anderen Ebene kann Dialekt auch emotional als landsmannschaftliches Erkennungszeichen und Identifikationssymbol fungieren. Eine solche identifizierende Kraft wurde neuerdings unter der Bezeichnung Nationaldialekt der Gesamtheit der schweizerischen Dialekte zugeschrieben (Zimmer 1977, 135 ff.; 1978, 204 f.; Haas 1978, 62 ff.). (7) Kommunikative Reichweite Dialekt ist in seiner kommunikativen Möglichkeit der Intensität nach nicht weniger leistungsfähig als Nicht-Dialekt. Er erreicht unter Dialektsprechern im selben Grade den Partner wie die Einheitssprache unter ihresgleichen. Der Extension nach, d. h. nach der räumlichen Erstreckung der Kommunikation, der möglichen Zahl der Partner und der lokalen Ausdehnung hat der Dialekt jedoch eine eingeschränkte kommunikative Reichweite sowohl gegenüber Nachbardialekten als auch gegenüber Sprechern der Einheitssprache (Bausinger 1972, 13 ff.; Ammon 1972, 55 ff.; Löffler 1974, 8). Dabei wird von vielen Theoretikern als konstituierendes Merkmal in die Dialektdefinition die Bedingung der interdialektalen Verstehbarkeit aufgenommen. Ein Dialekt sei nur dann ein Dialekt innerhalb einer Sprache und ein Mitdialekt neben Nachbardialekten, wenn die Verstehbarkeit sowohl gegen die Hochsprache hin als auch gegenüber der Nachbardialekten in beide Richtungen garantiert sei (Brook 1973, 20 ff.; Jvić 1976, 284; Meyers 1889, 4, 929 ff.; Sapir 1976, 67; Schirmunski 1962, 12; Wakelin 1977, 1). Einer Überprüfung im Gelände würde diese Definition jedoch nicht standhalten. Allerdings gibt es Grade der Verstehbarkeit zwischen dem historisch-etymolo-
gisch-phonetisch geschulten Verstehen des Dialektologen und dem einfachen, naiven, auf eine einzige Lautung hin ausgerichteten Nichtverstehen selbst einfachster oberflächlicher Abweichungen in geschlossenen Kommunikationsgruppen, die es bei den gebildeten genauso gibt wie bei ungebildeten Sprechern. Die Theorie der minimalen Reichweite widerspricht offensichtlich der Forderung anderer Theoretiker, daß der Dialekt innerhalb seiner übergeordneten Sprachgemeinschaft nach allen Seiten hin verstehbar sein müsse. Diese Auffassung trifft nur auf die angelsächsische Dialektdefinition zu, nach der Dialekte vor allem phonetische Variationen ein und derselben Nationalsprache darstellen, so daß dort behauptet wird, man könne gar nichts anderes sprechen als einen Dialekt, d. h. eine lokale phonetische Variante einer nirgends in Reinform existierenden Gemeinsprache (Martinet 1971, 134). Nach dieser Definition muß Dialekt natürlich verstehbar sein, da seine Merkmale nur im Allophonbereich liegen und per definitionem keine Bedeutungen distinguiert werden, und damit auch keine Verstehensprobleme auftreten. Die Verstehbarkeit garantiere, daß es sich bei Dialekt und Sprache um dieselbe Sprachfamilie handle. Nicht-Dialekt ist demgegenüber von seiner Entstehung her die Sprache mit der maximalen Ausdehnung, d. h. mit der größten kommunikativen Reichweite. Gerade aus der interdialektalen nicht mehr oder noch nie dagewesenen Verstehbarkeit ist das Bedürfnis nach einer überregionalen, übereinzelsprachlichen Kompromißsprache entstanden, die am Anfang wie heute noch zwischen Dialektsprechern verschiedener Gegenden als Koiné und Verständigungssprachen gebraucht werden. Selbst da, wo die Ausgleichssprache wiederum ein Großdialekt oder ein Hauptdialekt ist, steht der Ausgleichsdialekt nach Merkmalen oder Regelschritten der überregionalen Einheitssprache näher. Ausnahmen gibt es allerdings auch, wenn wie im Schweizerdeutschen die deutsche Einheitssprache gar nicht als kommunikatives Wunschziel angestrebt wird, sondern u. U. eine prestigebehaftete Stadtsprache (Stadtdialekt) den Höherwert darstellt. Als Benennungen gelten hier: Lokalmundart, Ortsdialekt, Regionaldialekt — gegenüber: (überregionale) Einheitssprac he, Ausgleic hssprac he, Kompromißsprac he, Verständigungssprac he, Koiné, Verkehrssprache, Umgangssprache u. a.
22. Gegenstandskonstitution in der Dialektologie: Sprache und ihreDifferenzierungen
(8) Einschätzung und Bewertung Bereits bei der eben skizzierten distanzmindernden Leistungsfähigkeit wurde als Ursache ein dialektcharakteristisches Merkmal genannt: die positive emotionale Bewertung des Dialekts. Mehr als seine linguistisch beschreibbaren Elemente und Funktionen ist die Stellung des oder eines Dialekts in der jeweiligen Sprachwirklichkeit geprägt von der positiven (Prestige) oder negativen (Stigma) Wertschätzung im ganzen oder einzelner Elemente, die als Signale für soziale Wertsysteme gelten. Wo Dialekt in unmittelbare Konkurrenz zur Hochsprache tritt, beim einzelnen zweisprachigen Sprecher in einer Person oder in gemischtsprachigen Gruppen, so ist der Dialekt auf Grund seiner sozialen Markierung potentiell mit negativem Prestige behaftet. Hierbei können jedoch am gleichen Ort je nach sozialer Bewertungsebene gegenteilige Einschätzungen vorliegen. Was in der Schule als Vorbelastung gilt, ist zu Hause im selbstbewußten Familienkreis durchaus als Prestigesprache denkbar und umgekehrt, wenn z. B. Fremde in reine Dialektgebiete zugezogen sind. Dialekt kann also prinzipiell eine negative oder positive Werteinschätzung erfahren. Diese kann am selben Ort bei denselben Sprechern je nach angewandter Wertskala wechseln. Wechselnde Bewertungen erhält man auch, wenn man zwischen Selbst- und Fremdbewertung unterscheidet. Ganz verschiedene Einschätzungen (Stereotypen) finden sich in den einzelnen Landstrichen, wiederum von Süd nach Nord bei linguistisch-formal gleichen Erscheinungsweisen von der hochgeachteten Prestigesprache bis zur geächteten Gossensprache (argot). (Moser 1959, 227). Auch die einzelnen Großdialekte oder landschaftlichen Teildialekte unterliegen den landschaftlichoder ethnokulturellen Stereotypen (Vgl. Subjektive Heimaträume u. sozialpsychologische Raumeinheiten bei Hard 1966, 43 ff.; Ris 1978, 96 ff.). Der Nicht-Dialekt ist ein weiteres Mal das spiegelbildliche Komplement. Die Bewertung des Dialekts zielt immer polar gleichzeitig auch auf sein Gegenteil. In den Bereich der affektiven Bewertung fallen Bezeichnungen wie: schöne Sprac he, sc hönes Deutsc h, gepflegtes, ric htiges Deutsc h, jedoch haben die einzelnen Prestigestufen meistens keine eigenen Namen. (9) Standard — Nonstandard Selbst universelle Termini wie Nonstandard (= Dialekt) versus Standard (sprac he) suggerieren eine falsche Eindeutigkeit (Jäger
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1973), da Standard als eine Art gemäßigte Hochnorm ebenfalls landschaftlich variiert. Was in Bayern oder in der Schweiz als Standard gilt, würde ein Außenstehender als echten Dialekt bezeichnen. Umgekehrt würde ein Schweizer einen Westfalen, der von Einheimischen eher einem niedrigen Platt zugeordnet würde, spontan als Standardsprecher einstufen. Dabei stehen sich hier nicht nur mangelnde phonetische oder dialektologische Erfahrungen gegenüber, auch die meßbaren Unterschiede würden der Zahl und Intensität nach weder in der einen noch in der anderen Richtung eine objektive Zuweisung erlauben. So bekommt letztlich diejenige Auffassung innerhalb der Dialekttheorie ein neues Gewicht, die anfangs eher als exzentrisch und ganz und gar unlinguistisch erscheinen mußte, daß Dialekt nämlich das sei, was die Dialektsprecher dafür halten (Hammarström 1967 Löffler 1974, 136 ff.). Daß man mit einer derartigen Definition schon praktisch hat arbeiten können, ist bereits erwähnt worden (Ammon 1972, 10 1; Hasselberg 1976, 31). (10) Metasprachliche Ebene Die binnensprachlichen Unterscheidungen haben alle nur metasprachlichen Status und sind von außen durch die Sprachwissenschaft an die Sprache herangetragen. Begriffe wie Dialekt und Einheitssprache sind im Grunde Abstraktionen der klassifizierenden Theorie. In der Natur der Sprachwirklichkeit lassen sich die Unterscheidungen nur schwer nachweisen. So wurden denn auch Dialektgrenzen und Dialekträume für theoretische Konstrukte erklärt, da die Sprachwirklichkeit in räumlicher Lagerung wie auch in vertikaler oder stilistischer Schichtung ein Kontinuum mit unsichtbaren oder fließenden Grenzen darstelle. Eine Relativierung oder gar Leugnung der dialektalen Realität als eine Art linguistischer Nominalismus wird jedoch durch die praktische Dialektologie widerlegt: Zumindest in der traditionellen Form als Sprache der am Ort lebenden ältesten Einwohner hat Dialekt doch eine recht greifbare Realität. Ob andere feinsinnige und spekulative Unterscheidungen ein fundamentum in re haben, kann nur die Einzelforschung nachweisen. Die Dialekttheorie ist jedoch der Empirie hinsichtlich der Ein- und Unterteilung weit vorausgeeilt, so daß vielfach der Eindruck entstehen mußte, die Dialektologie befasse sich gar nicht mit dem, was die Dialekttheorie als Dialekt bezeichne.
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
4.4. Erweiterung der Zweierskala Dialekt — Nicht-Dialekt. 4.4.1. Mundart — Umgangssprache — Hoch-sprache sprache Erweitert man die Zweierskala zur Vermessung der Sprachrealität zu einer vielstelligen vom Typus: Mundart, Halbmundart, Umgangssprache, Stadtmundart, gemäßigte Hochsprache, Hochsprache, Slang, Gossensprache u. a., so bekommt Dialekt wieder einen einfachen Platz am Ende der Skala, als echte, nur noch vereinzelt von wenigen Sprechern am Ort gesprochene Sprache. Alles andere noch Dialektgefärbte oder hochsprachlich Durchsetzte ist dann Zwischenstufe und fällt nicht mehr unter diesen Dialektbegriff. Daß man in einem Modell mit solchen fließenden Übergängen kaum eine universelle, überregional eindeutige Terminologie erhält, mit der man überdies noch empirisch arbeiten könnte, scheint einleuchtend zu sein. 4.4.2. Die Lekte Auch in der sog. Lekt-Reihe bekommt Dialekt einen nur theoretisch eindeutigen Platz zugewiesen. Wenn man von Dia-lekt, Soziolekt, Idio-lekt, Techno-lekt, Oeko-lekt, neuerdings auch Glotto-lekt (für die nationale Übersprache) und Chrono-lekt (zeitl.-histor. Sprachstufe) spricht und -lekt für innersprachliche Variante nimmt, so heißt Dia-: örtlich variierend, Idio-: individuell, einzelmenschlich variierend, Techno-: nach Fachbereichen, Arbeitsbereichen variierend und Glotto-: gegenüber anderen Glotten, d. h. Hauptsprachen variierend (Hammarström 1967, 20 5 ff.; Wandruszka 1975, 326 f.; Burger/Imhalsy 1978, 13). Wie diese Lekte aus der jeweiligen Sprachwirklichkeit dann mit Belegen angefüllt und nachgewiesen werden sollen, bleibt im Ungewissen. Dasselbe gilt auch für taxonomische Termini wie Dial (= dialektales Merkmal) und Dialem (= Klasse gleichfunktionaler dialektaler Merkmale) (Hammarström 1966, 12), solange man nicht die Notwendigkeit solcher kategorialer Unterscheidungen glaubhaft machen kann. 4.5. Ein universeller Minimalbegriff von Dialekt Will man die Begriffskonstitution nicht ganz im Bereich der Attitüde belassen und aus den verschiedenen Merkmalsbeschreibungen einen übereinzelsprachlichen, universellen
Querschnitt ziehen, so ist dieser Dialektbegriff fast von unbrauchbarer Inhaltsleere: Dialekt setzt eine irgendwie geartete Zweisprachigkeit voraus, die historisch, politisch oder linguistisch eine gemeinsame Basis hat. Alle weiteren Merkmale wie: räumliche Erstreckung, geringe Reichweite, soziale Zuordnung, sprachliche Ausstattung, pragmatischer Status, informatorische und kommunikative Leistungsfähigkeit oder Bewertungen müssen einzelsprachlich innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft oder Nationalsprache und bezogen auf ein bestimmtes gesellschaftliches System kleinräumlich ermittelt und festgelegt werden. Nicht einmal ein anscheinend universelles Merkmal, daß Dialekt in der Zweierskala die niedrigere Stufe darstelle, ist übereinzelsprachlich gültig. So ist Dialekt beinahe in jeder Region und an jedem Ort, insbesondere innerhalb einer größeren Sprachgemeinschaft nicht nur den äußeren Erscheinungsformen nach, sondern auch dem Begriff nach etwas jeweils anderes. Dialekt als Gegenstand der Dialektologie unterscheidet sich von einem solchen lokalen Dialektbegriff dann noch einmal, indem er vermehrt und verändert ist jeweils um das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse (Vgl. Art. 20).
5.
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
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Heinrich Löffler, Basel
23. Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie 1. 2. — 3. 4. 5. 6.
7.
1.
Problemstellung Repräsentativitätsprobleme bei der grammatischen Beschreibung von Mundarten Mathematisch-statistische Methoden Repräsentativitätsprobleme bei der Festlegung eines Ortsnetzes Repräsentativitätsprobleme bei der Sprecherauswahl Repräsentativität und Sprechsituation Probleme der Repräsentativität bei der Darstellung und Interpretation dialektologischer Forschungsergebnisse Literatur (in Auswahl)
Problemstellung
In allen Wissenschaften, in denen aus irgendwelchen Gründen die Gesamtheit des Untersuc hungsgegenstandes mit allen seinen Einzelteilen (bzw. die Gesamtheit der Unter-
suchungsgegenstände) nicht untersucht und dargestellt werden kann, beschränkt man sich auf die Erforschung und Darstellung von Ausschnitten der Grundgesamtheit. Überall, wo Teilbereiche untersucht werden, in der Absicht, Aussagen zu gewinnen, die für größere Gesamtheiten gelten können, überall, wo von einer beschränkten Menge Materials auf die Beschaffenheit größerer Einheiten geschlossen, „hochgerechnet“ werden soll, treten Probleme der Repräsentativität auf. Solche Hochrechnungen sind nur möglich, wenn der untersuchte Ausschnitt repräsentativ für die Gesamtmenge des Untersuchungsgegenstandes ist. Repräsentativ ist eine Auswahl dann, wenn sie ein verkleinertes Abbild der Gesamtheit darstellt, dann, wenn zwischen den Elementen, zwischen den Beziehungen und Verhältnissen der Elemente innerhalb dieser Auswahl und der Grundgesamtheit so viele Übereinstim-
464
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
mungen bestehen, daß eine Verallgemeinerung der am Teilkorpus gewonnenen Ergebnisse auf den gesamten Bereich möglich ist. — Insbesondere bei der Erforschung von lebenden, noch gesprochenen Sprachformen können niemals sämtliche Äußerungen untersucht werden; es muß eine Auswahl getroffen werden. Auch in der geschriebenen Sprache oder bei nur schriftlich überlieferten Sprachformen können die Textmengen so groß sein, daß eine Untersuchung des gesamten Materials nicht möglich ist. In der Forschungstradition der Dialektologie steht die Beschäftigung mit gesprochenen, in der Regel geographisch definierten Varianten von Sprachsystemen im Mittelpunkt. Auch hier können immer nur Teilausschnitte erforscht werden. Aber auch, wo historische, schriftlich vorgegebene Sprachformen nach geographischen Gesichtspunkten erforscht werden, kann in der Regel nur ein kleiner Teil des vorhandenen Materials bearbeitet werden (vgl. Art. 30). Die Beschränkung auf Ausschnitte aus der Grundgesamtheit ist notwendig, nützlich und legitim. Denn beim Untersuchungsgegenstand Sprac he handelt es sich um eine endliche Anzahl von Elementen und Regeln, die es gestatten, eine nicht begrenzte Anzahl von Äußerungen zu produzieren. Diese Elemente und Regeln — wie vielgestaltig sie auch sein mögen — zu erforschen, ist das Ziel der Sprachwissenschaft und damit auch der Dialektologie. Die Sprachwissenschaftler haben in der Vergangenheit mit konsistenten Ergebnissen bewiesen, daß es möglich ist, dieses Ziel mit Textmengen, die nur einen kleinen Teil der Grundgesamtheit aller Äußerungen ausmachen, zu erreichen. Repräsentativitätsprobleme wurden meist nicht theoretisch, sondern empirisch gelöst, nach Erfahrungswerten, wie sie im Laufe der eigenen oder auch bei anderen vergleichbaren Arbeiten gewonnen wurden und die vor allem an der Schlüssigkeit der Ergebnisse gemessen wurden.
2.
Repräsentativitätsprobleme bei der grammatischen Beschreibung von Mundarten. Mathematisch-statistische Methoden
2.1. Vorbemerkung: System und Gebrauch — Kompetenz und Korpus Die Mehrzahl der mundartkundlichen Abhandlungen beschäftigt sich mit Aspekten
des Systems des zu beschreibenden Dialekts und hier wiederum vor allem mit paradigmatischen Strukturen. Es handelte sich dabei in erster Linie um Beschreibung und Vergleich von Elementen mundartlicher Systeme. Für dieses Forschungsziel ist eine Repräsentativität in anderer Weise herzustellen als bei einer Sprachwissenschaft, die quantifizierend den tatsächlichen Gebrauc h der Elemente und Regeln einer Mundart sich zum Thema gemacht hat. Unter Beschreibung des Gebrauchs müssen hier zweierlei Dinge verstanden werden: einmal Untersuchungen auf der Ebene des Systems, die die Häufigkeit bestimmter Elemente A1 im Verhältnis zu anderen Elementen B1 des gleichen Systems oder zu vergleichbaren Elementen anderer Systeme A2, A3 usw. zum Thema haben; zum anderen Untersuchungen, die Variationen im subsystematischen Bereich quantifizierend zu beschreiben suchen, also Variationen der Segmente a1, a2 usw., die sich zum systematischen Segment A klassifizieren lassen. Quantitative Analysen werden in der Mundartforschung zunehmend mehr Raum einnehmen: Der Übergang von einer Sprachform zur anderen — und hier sind geographisch, historisch, sozial und pragmatisch definierte Sprachformen zu nennen — ist in den meisten Fällen zunächst nicht über Unterschiede im System zu beschreiben. Er ist zunächst nur greifbar in der verschiedenen Häufigkeit von bestimmten Elementen eines Systems. Ein Wort verschwindet nicht plötzlich, sondern es wird im Laufe der Zeit immer seltener, und es dauert noch länger, bis es selbst im passiven Wortschatz eines Sprechers nicht mehr vorhanden ist. Unter Kompetenz versteht Chomsky „die Kenntnis des Sprecher—Hörers von seiner Sprache“ (Chomsky 1969, 14), und meint damit die Fähigkeit eines Sprechers einer bestimmten Sprache, „eine beliebig große Anzahl von Sätzen seiner Sprache zu bilden und zu verstehen“ (Bechert 1971, 14). Der kompetente Sprecher muß Äußerungen in seiner Sprache als richtig oder falsch beurteilen können, er muß aber keine Aussagen über die Grammatik seiner Sprache machen können (Schank 1973). Damit stellt die Erforschung einer Sprache mit Hilfe der Kompetenz eines Sprechers nur einen Spezialfall einer Korpusanalyse dar. Die Äußerungen des Sprechers summieren sich zu einem Korpus, das dann Gegenstand der Untersuchung werden kann. Der kompetente Sprecher erleichtert in hohem Maße die Arbeit, indem er Äußerungen als akzeptabel bzw. gramma-
23. Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie
tisch oder als nicht akzeptabel bzw. nicht grammatisch bezeichnen kann und damit dem Sprachwissenschaftler hilft, Regeln aufzustellen. In einer reinen Korpusanalyse erfordert es die Untersuchung von sehr großen Textmengen, bis man mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit sagen kann, daß dieser oder jener Äußerungstyp in einer Sprache nicht vorkommt. Ein kompetenter Sprecher kann kein Korpus ersetzen; er kann dem Sprachwissenschaftler aber helfen: (1) sein Korpus rationeller und systematischer aufzubauen, so daß mit einer geringeren Menge an Material ein Mehr an Aussagen über das System einer Sprache (genauer: eines Sprechers) möglich ist (vgl. dazu Bausch 1975, 146, der von „manipulierten Korpora“ spricht), (2) gewisse Äußerungen und Äußerungstypen als nicht grammatisch zu kennzeichnen, und er kann damit dem Sprachwissenschaftler helfen, Hypothesen schneller als bei einer Analyse eines Korpus fortlaufender Texte zu verifizieren oder zu verwerfen. — Die Äußerungen sog. kompetenter Sprecher über ihre Sprache sind aber nicht geeignet: (1) Erkenntnisse über Häufigkeiten von Elementen in zusammenhängender Rede zu gewinnen und (2) richtige Erkenntnisse über den tatsächlichen Gebrauch von sprachlichen Varianten in verschiedenen Kontexten zu gewinnen. Die klassische Arbeitsmethode der Mundartforschung ist die mit einem Gewährsmann, mit einem „kompetenten Sprecher“. Mit ihm wird ein Korpus erstellt, das bestimmte isolierte Elemente enthält, die ausreichen, ein bestimmtes Forschungsvorhaben durchzuführen. Im Extremfall enthält es nur so viele Äußerungen, wie zur Erforschung des beabsichtigten Teilbereichs nötig sind. Bei der Aufnahme fortlaufender Rede gibt es schon nach kurzer Zeit Elemente und Regeln, die sich wiederholen. Diese sind für die Beschreibung des Systems nicht mehr wichtig, wohl aber für nähere Erkenntnisse über das, was oben als „Gebrauch“ bezeichnet wurde. — Für die sync hrone Besc hreibung des Systems eines Dialekts ist es völlig gleichgültig, ob ein Element häufig verwendet wird oder sehr selten ist. Ein wenig gebrauchtes Element hat genauso seinen Platz im System wie das sehr häufige. Der Genitiv als Kasus des Objekts (Ic h erinnere mic h des Vorfalls) steht im System des Deutschen gleichberechtigt neben dem Dativ und Akkusativ, obwohl er im Verhältnis zu den beiden anderen Kasus sehr selten verwendet
465
wird. Um dem Genitiv seinen Platz im Kasussystem zu sichern, reicht ein einziger Beleg in einem Korpus aus. Um das Vorhandensein eines phonologischen Gegensatzes zu erweisen, braucht man nur ein einziges sicheres minimales Paar. Deshalb kann man das Phonemsystem als Phoneminventar mit einem sehr geringen Korpus eruieren: z. B. mit einem kompetenten Sprecher, mit dem man ein Reimwörterbuch erarbeitet. Um aber die funktionelle Belastung der einzelnen Oppositionen zu messen, benötigt man praktisch ein Wörterbuch der gesamten Mundart, oder, wenn man das schon besitzt, kann man sich auf einen Ausschnitt beschränken. Dieser Ausschnitt muß aber repräsentativ sein, d. h. er muß die Verhältnisse der Grundgesamtheit und damit des gesamten Lexikons widerspiegeln. — Auch wenn man die relative Häufigkeit der einzelnen Phoneme feststellen möchte, reicht ein Ausschnitt aus: ein Ausschnitt aus einem fortlaufenden Text, ein Ausschnitt aus einem Wörterbuch, je nachdem wie die zu beantwortende Frage aussieht. Wenn man davon ausgeht, daß die Arbeit mit einem kompetenten Sprecher nur einen Sonderfall der Korpusanalyse darstellt, dann sind bei der Lösung von Repräsentativitätsproblemen grundsätzlich zwei Fälle zu unterscheiden: (1) der Fall, wo man für qualitative Aussagen nur jeweils ein einziges Beispiel für die Argumentation benötigt (Beschreibung des Systems); (2) der Fall, wo man quantitative Aussagen über bestimmte Elemente eines Untersuchungsgegenstandes machen will und dafür eine sehr viel größere Menge Beispiele braucht (Beschreibung des Gebrauchs). 2.2. Mathematisch-statistische Methoden und Repräsentativität 2.2.1. Voraussetzungen Die Mathematik und ihre Anwendung in der Statistik hilft beim Herausfinden, wie groß das Korpus für eine bestimmte Fragestellung sein muß, wenn der Fehler, der sich aus ungleicher Verteilung von Elementen innerhalb eines Textes ergibt, nicht über eine vorher festzulegende Größe hinauswachsen soll. Voraussetzung dafür ist aber eine Zufallsverteilung der zu untersuchenden Elemente. Auf phonologisc her Ebene hieße das z. B., daß in einem Text, der 20 0 0 0 Phoneme enthält, diese in derselben Weise innerhalb des
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Textes oder eines anders gearteten Korpus verteilt sind, wie wenn diese Phoneme einzeln auf Zettel geschrieben, in einer Lostrommel gemischt und dann einzeln gezogen würden. Der Wert jedes gezogenen Zettels müßte aufgeschrieben und der Zettel wieder zurückgelegt werden. Nach einer erneuten Mischung müßte neu gezogen werden. Der dabei entstehende Kunsttext müßte die gleiche quantitative Verteilung der Elemente zeigen wie der tatsächlich gesprochene: Wenn man diese beiden Texte in 10 0 Blöcke zu je 20 0 Phonemen einteilte, dann müßten z. B. bei einem Element /s/, das in der Gesamtheit 5% ausmacht, der Fall am häufigsten sein, daß in einem Block 10 Phoneme /s/ vorhanden sind. Mit gleichmäßig abnehmender Häufigkeit müßten Blöcke mit 9 bzw. 11, 8 bzw. 12, 7 bzw. 13 Elementen /s/ vorhanden sein. Diese Gaußsche Normalverteilung läßt sich in einer Glockenkurve darstellen (Bartel 1971, I. 60 ). Bei seltenen Ereignissen, also sehr seltenen Phonemen, wo eine sehr große Zahl der Blöcke keines dieser Elemente enthält, entsteht keine Glockenkurve, sondern eine Verteilung nach Poisson (Bartel 1971, II. 49). Den eben geschilderten Versuch haben E. und K. Zwirner (1935 a, 45) gemacht und damit eine Zufallsverteilung der Phoneme in nhd. Texten nachgewiesen. Für verschiedene Bereiche weiß man, daß Zufallsverteilungen vorliegen: So z. B. für die Dauer kurzer Vokale (E. und K. Zwirner 1936 a), Phonemhäufigkeiten (E. und K. Zwirner 1935 a) bei der nhd. Lautmelodie (E. und K. Zwirner 1935 b, vgl. auch E. und K. Zwirner 1966, 169—20 1) sowie für verschiedene syntaktische Erscheinungen (A. Ruoff 1973, 219—223). Dies ist auch theoretisch wahrscheinlich: Nur sehr schwer vorstellbar ist ein rededeterminierender Faktor, der verhindert, daß die absoluten Werte der Vokalquantitäten nicht zufällig streuen, oder der verhindert, daß gewisse Phoneme in einem (längeren) Text häufiger vorkommen und in einem anderen weniger häufig. Bei morphologischen, lexikalischen oder syntaktischen Erscheinungen kann man eine solche Voraussage nicht so ohne weiteres treffen. So z. B. lassen sich Textsorten nachweisen, in denen der Konjunktiv nicht vorkommt (Ruoff 1973, 221). Auch der Gebrauch des Passivs ist textsortenspezifisch (Schoenthal 1976), und selbst der Gebrauch des Artikels kann abhängig von der Textsorte sein (Brainerd 1972). Innerhalb einer solchen einheitlichen Textsorte aber wird ein
bestimmtes Element dann in Zufallsverteilung vorkommen. Auch in diesem Fall kann man mit Hilfe der unten beschriebenen mathematisch-statistischen Methoden die Größe eines für diese Textsorte — aber nicht für die gesamte Sprache — repräsentativen Korpus ermitteln (vgl. 2.2.2.). Ein repräsentatives Korpus schlechthin gibt es nicht. Repräsentativität ist immer nur für ein bestimmtes Wofür, für eine bestimmte Fragestellung gegeben. Ein mundartlicher Text (phonetisch eng transkribiert) kann repräsentativ für den Wortschatz eines bestimmten Sachbereichs sein, kann repräsentativ für den Allophonbereich sein, kann aber zur Beantwortung von vielen anderen Fragen nicht geeignet sein. 2.2.2. Anwendungsbeispiele Im folgenden wird davon ausgegangen, daß eine Erscheinung in einem Korpus zufallsverteilt oder wenigstens annähernd zufallsverteilt vorkommt. Nur dann lassen sich die vorgeführten Berechnungsarten anwenden. 2.2.2.1. Beschreibung des Systems Bei einer Fragestellung, die auf die Beschreibung des Sprachsystems zielt, ist im Extremfall nur ein einziges Beispiel nötig (vgl. 2.1.), um einem Element oder einer Regel einen Platz im System zu sichern. Die Frage, die man mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung beantworten kann, lautet so: Wie groß muß die Textmenge sein, damit eine bestimmte Ersc heinung, die eine gegebene oder als Hypothese gesetzte relative Vorkommenshäufigkeit aufweist, mit einer vorher zu bestimmenden Si c herheit darin mindestens einmal vorkommt? Dies läßt sich mit der folgenden, von der Binominalentwicklung nach Bernoulli (Essen 1967, 20 —26, Bartel, 1971 II, 33—39, Muller 1972, 51) abgeleiteten Formel berechnen: (1) k= log Pk log (1—p) Hier bedeutet: k = Anzahl der erforderlichen Einheiten im Korpus log = Logarithmus Pk = Unsicherheitsgrad des Ergebnisses: Wenn ich eine Sicherheit von 99% haben will, ist Pk = 0 ,0 1. Sicherheit von 99% bedeutet, daß der Fall in 99 von 10 0 Fällen eintreten wird. Bei 99,9% Sicherheit ist Pk = 0,001.
23. Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie
p = relative Häufigkeit des gesuchten Elements. Kommt ein Element mit 5% Häufigkeit vor, ist die relative Häufigkeit 0,05. Beispiel: Der Laut [ü:] hat nach einer Auszählung von Texten („Prosa“ und „Poesie„) mit zusammen 10 0 0 0 0 Lauten nach Meier (1964, 250 ) im Hochdeutschen eine relative Häufigkeit von 0 ,441%. Mit der obigen Formel kann man berechnen, wie groß der Ausschnitt eines fortlaufenden Textes sein muß, damit gewährleistet ist, daß das [ü:] mindestens einmal darin vorkommt: Bei einer Sicherheit von 90% ist k= log 0,1 log (1—0,00441)
= 521
Ein hochdeutscher Text muß also 521 Laute enthalten, damit mindestens ein [ü:] darunter ist. Dies gilt für eine Sicherheit von 90 %, d. h. nur in 90 von 10 0 Textauschnitten (zu je 521 Lauten) ist ein [ü:] vorhanden. Bei einer Sicherheit von 95% ist k 99% ist k 99,9% ist k 99,99% ist k
= = = =
678 1042 1563 2084
Die Anwendung der Formel setzt voraus, daß man schon bestimmte Hypothesen über die Häufigkeit eines Elements oder einer Erscheinung besitzt. Dies kann man jedoch dadurch umgehen, indem man bestimmt, daß alle Einheiten einer bestimmten grammatischen Ebene erfaßt werden sollen, die über einer bestimmten Vorkommenshäufigkeit liegen. Beispiel: Sollen alle Phoneme, Morpheme, Lexeme oder Nebensätze, die häufiger als 0 ,1% sind, mindestens einmal im Korpus vorhanden sein, ergäbe das (bei einer Sicherheit von 99%) ein Korpus von k= log 0,01 log (1—0,001)
= 4603
Einheiten. Mit anderen Worten: Damit alle Phoneme, Morpheme, Lexeme oder Nebensätze, die häufiger als 0 ,1% vorkommen, in 99 von 10 0 Texten mindestens einmal vorhanden sind, benötigt man einen Text, der rund 460 0 Phoneme bzw. 460 0 Morpheme bzw. 460 0 Lexeme bzw. 460 0 Nebensätze enthält. Häufig wird es so sein, daß man ein bestimmtes Textkorpus schon besitzt. Dieses Korpus beruht auf einer Zufallsauswahl, es kann aber aus arbeitstechnischen oder anderen Gründen nicht vergrößert werden. In diesem Korpus sollen bestimmte Phänomene
467
untersucht werden. Überträgt man diesen Sachverhalt nun auf Formel (1), dann kennt man zwar k, und man kann Pk frei wählen, p ist jedoch unbekannt. Die Auflösung der Formel (1) nach p ergibt die Formel oder
Mit dieser Formel kann man nun berechnen, wie häufig ein bestimmtes Phänomen in der Grundgesamtheit vorkommen muß, um mit einer bestimmten Sicherheit noch in einem gegebenen Korpus mindestens einmal vorhanden zu sein. Beispiel: Ein vorhandener Text besteht aus 20 0 0 Phonemen. Dieses Korpus kann nicht erweitert werden; der Forscher möchte aber wissen, in welchem Maße er auch mit selteneren Phonemen in diesem Korpus rechnen kann. Die Anwendung von Formel (1 a) ergibt folgende Werte:
Wenn man das Ergebnis der letzten Rechnung (c) in Worte faßt, lautet es so: In 999 von tausend Fällen sind im gegebenen Textkorpus alle Phoneme, die in der Gesamtsprache häufiger als 0 ,35% vorkommen, mindestens einmal vorhanden. Rechnung (a) besagt, daß in 90 von 10 0 Fällen Phoneme, die in der Gesamtsprache häufiger als 0 ,12% erscheinen, im Versuchskorpus mindestens einmal vorhanden sind. Vergleicht man diese Zahlen mit den Ergebnissen, die z. B. Auszählungen am Neuhochdeutschen erbracht haben (Meier 1964, 250 ), dann kann man einen Eindruck davon gewinnen, wie vollständig das aus dem Korpus gewonnene Phoneminventar ist. 2.2.2.2. Quantitative Analysen Es ist eine Erfahrungstatsache, daß die Genauigkeit einer Aussage von einer gewissen Größe einer Stichprobe an nur mehr geringfügig wächst. Prüft man den Anteil von Substantiven im Verhältnis zu anderen Wortar-
468
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
ten in einem Text, dann kann es vorkommen, daß man den wahren Wert schon bei der Auszählung von einer Seite des Textes hat, man kann aber auch eine Seite getroffen haben, die atypisch viele oder wenige Substantive enthält. Je mehr Seiten man nun auszählt, desto mehr erreicht man den wahren Anteil an Substantiven. Mit den folgenden Formeln kann man berechnen, wieviel Text man bearbeiten muß, um mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einen bestimmten Fehlerwert nicht zu überschreiten. Voraussetzung dabei ist, daß das zu erforschende Phänomen über den ganzen Text hinweg einer Zufallsverteilung gehorcht. Die Varianz (σ2) ist ein Maß für die Berechnung der Streuung von Meßwerten. Sie bezeichnet das Mittel der Abweichungsquadrate vom arithmetischen Mittelwert einer Meßreihe. Die Wurzel aus der Varianz wird als Standardabweic hung σ bezeichnet und stellt einen Parameter für die Streuung dar. Sie errechnet sich nach der Formel:
Diese Standardabweichung kann man auf das arithmetische Mittel der Meßwerte p rückbeziehen und erhält so die relative Standardabweichung oder den relativen mittleren Fehler (Szameitat/Koller 1958, 11) nach der Formel
(4) n=
q p · σ2rel
Auch sie ist noch mit einem Unsicherheitsfaktor von 32% belastet, d. h. der gewünschte, limitierte relative mittlere Fehler σrel tritt nur in 68,3% der Stichproben ein. Bei 32 von 10 0 Stichproben ist der relative mittlere Fehler größer als gewünscht. Wünscht man einen größeren Sicherheitsgrad, muß man die Formel (4) um einen Faktor z erweitern: (5) n=
q·z P · σ2rel
Bei z = 1 erhält man eine Sicherheit von 68,3% und ein Fehlerrisiko von 31,7% (Kellerer 1973, 123). Bei z = 2: z = 2,58: z = 3: z = 3,29:
Sicher- = 95,5%; Fehler- = 4,5% heit = 99,0%; risiko = 1,0% = 99,7%; = 0,3% = 99,9%; = 0,1%
Beispiel: Der Anteil des Lauts [n] macht nach Meier (1964, 251) in fortlaufenden Texten 10 ,275% aus. Wollte man diesen Wert mit einem relativen Fehler von ± 5% an einem Text neu bestimmen, müßte man die Größe des Textes nach der Formel (5) wie folgt berechnen: n= 0,897 · 1 0,103 · (0,05)2
= 3484 (bei 68% Sicherheit)
Dabei bedeutet: σ = Standardabweichung. Beispiel: Bei einem Mittelwert (Häufigkeit eines Elements) von 01 % und einer Standardabweichung von 2 liegen in 68 von 10 0 Stichproben die errechneten Mittelwerte zwischen 8% und 10 %. Der relative mittlere Fehler liegt damit bei 20%. p = relative Häufigkeit des Elements in der Grundgesamtheit q = 1—p n = Größe der Stichprobe Formel (3) gilt nur für die Fälle, in denen die Grundgesamtheit im Verhältnis zur Stichprobe sehr groß ist, wie es bei sprachwissenschaftlichen Fragestellungen in der Regel der Fall ist. Der mit ihr zu berechnende Wert von σrel tritt in rund 68 von 10 0 Stichproben auf. (Die Formel von Frumkina (1973, 282) ist ungenau, da in ihr bei großem p der relative Fehler zu groß wird.) Formel (3) kann man nach n auflösen:
n= 0,897 · 3 0,103 · (0,05)2
= 10 450
(bei 99,7% Sicherheit) Um einen Wert zu bekommen, der um ± 5% und den „wahren Wert“ schwankt, d. h. der zwischen 10 ,82 und 9,78 liegt (in 997 von 0100 Fällen/Stichproben), muß man ein Korpus von 10 450 Lauten auszählen. Begnügt man sich mit einer Sicherheit von 68,3%, reichen schon ca. 3480 Laute. Zählt man ca. 70 0 0 Laute aus, sinkt der relative Fehler etwas über 6%, bei ca. 20 0 0 0 Lauten liegt er bei 3,6%, und selbst Meiers Zählung von 10 0 0 0 0 Lauten ist noch mit einem relativen Fehler von 1,6% behaftet. Auch bei diesen Berechnungen muß man bereits eine Hypothese darüber haben, wie häufig eine Erscheinung im Korpus vorkommt, um zu Ergebnissen hinsichtlich Korpusgröße und Fehlerrisiken zu kommen. Und ein Korpus ist dann repräsentativ für ein quantitativ zu beschreibendes sprachliches Phänomen,
23. Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie
wenn der Fehlerspielraum nicht größer wird, als es das Ziel der Arbeit zuläßt. Umgekehrt kann man auch mit diesen Formeln genauso wie bei 2.2.2.1. arbeiten und die Korpusgröße bestimmen, indem man eine Untergrenze der Häufigkeit von Elementen, die noch erfaßt werden soll, bestimmt. Dann ist die errechnete Größe des Textausschnittes repräsentativ für Phänomene, die häufiger sind als in der festgesetzten unteren Häufigkeitsgrenze. Hilfe für die Grenzziehung können vorliegende Statistiken von verwandten Systemen (z. B. des Neuhochdeutschen) sein. 2.3. Art und Größe von Korpora in der Forschungspraxis 2.3.1. Beschreibung des Systems Es wurde oben schon festgestellt (vgl. 2.2.2.1.), daß zur Systembeschreibung eine relativ geringe Menge fortlaufenden Textes ausreicht, sofern die zu beschreibenden Elemente zufallsverteilt sind und eine gewisse Häufigkeit besitzen. Mit geringen Textmengen kann man schon sehr viel über die häufigeren Phänomene aussagen. Dem entsprechen auch empirisch gewonnene Erkenntnisse: Im Projekt „Frühneuhochdeutsche Grammatik“ werden zur Erforschung der Flexionsmorphologie jeweils 30 „Normalseiten“ (zu je 40 0 Wörtern) genau untersucht und der Rest des Textes nur nach bestimmten Problemen gesichtet. Schwierigkeiten können dabei Erscheinungen machen, die nicht zufallsverteilt sind: Für die Untersuchung der Verbalflexion unergiebig (wegen vielfachen Fehlens der 1. und 2. Person) sind z. B. Rechts- und Geschäftstexte (Graser/ Wegera 1978, 83). Sparman (1973) weist 79 der 10 0 häufigsten Wörter der Meierschen Rangliste in den ersten 3 Seiten (839 Wörter) eines Romans nach. Samarin (1967, 68—71) empfiehlt die vollständige Analyse eines Kern-Korpus und weitere Korpora, die stufenweise größer werden und dabei immer weniger aufwendig aufbereitet und immer gezielter nach Einzelphänomenen analysiert werden. Versuche und Erfahrungswerte mit verschiedenen Textlängen für die Erkundung der Silbentypologie des Italienischen stellt Rettweiler (1950 ) dar. Maas (1972) erstellt eine Formel, die den Zusammenhang zwischen Wortschatzumfang und der Länge eines Textes darstellt. Doch zusammenhängende Texte bilden und bildeten nur in Ausnahmefällen die Grundlage dialektologi-
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scher Forschung. Bei Syntaxuntersuchungen sind sie unabdingbar, zur Beschreibung anderer Bereiche aber bietet sich die direkte Arbeit mit Informanten an. Für eine phonologische Beschreibung, die nichts anderes als ein Phoneminventar aufstellen will, kommt man nach den Berechnungen oben u. U. mit relativ geringen Textmengen aus (vgl. 2.2.2.1.). Aber schon ein etwas weiter gespanntes Forschungsziel, die Erforschung der Distributionsverhältnisse, läßt die benötigten Textmengen anschwellen, nämlich wenn gewisse Phonemkombinationen nur in einigen wenigen Wörtern vorkommen. Dann geht die prozentuale Vorkommenshäufigkeit gegen Null und damit die Menge der benötigten Einheiten gegen Unendlich (vgl. Formel [1]). Man kann in diesem Fall praktisch nur den Gewährsmann direkt und systematisch befragen. Ein Fragekatalog ist dabei zweckmäßig. Er soll so gestaltet sein, daß das mit seiner Hilfe erhobene Material repräsentativ für die Ziele der Arbeit ist: Bei einer grammatikalischen Beschreibung eines Dialekts repräsentativ für jenen Teilausschnitt der Grammatik, den man erforschen will. Dabei heißt repräsentativ, daß in dem Fragebuch alle Phänomene, die zur systematischen Beschreibung des betreffenden Teilgebiets nach der Meinung des Forschers notwendig sind, mit wenigstens einem Beispiel vertreten sind. Besitzt man keinerlei Vorwissen über das zu Erwartende, kann höchstens eine Liste mit dem Grundwortschatz Hilfestellung bieten. Der Rest bleibt der Arbeit mit dem Informanten vorbehalten oder muß durch (teilnehmende) Beobachtungen bzw. aus Tonbandaufzeichnungen herausgefunden werden (dazu Samarin 1967, Gleason 1975). Doch dies ist nicht die übliche Situation des Mundartforschers. Er kann sich mit Hilfe grammatischer Beschreibungen verwandter Dialekte und vor allem von vergleichbaren Systemen wie Neuhochdeutsch oder Mittelhochdeutsch oder auch aufgrund eigener Kompetenz eine Frageliste erstellen. Nützliche Grundlage dafür können auch bereits publizierte Fragebücher von Sprachatlasunternehmungen (Hotzenköcherle 1962 B, König 1974) sein. Solche Fragekataloge für dialektgeographische Untersuchungen dienen dazu, eine Auswahl von Phänomenen, die innerhalb des Untersuchungsgebiets Isoglossen aufweisen, verfügbar zu haben. Ein Fragebuch, das dem Ziel entspricht, erfordert sehr viel Vorwissen über die im Gebiet vorhandenen Dia-
470
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
lekte. In seiner idealen Form enthält es Beispiele aller Phänomene, die innerhalb des Untersuchungsraumes abhängig vom geographischen Parameter variieren. Es ist damit repräsentativ für die dialektgeographische Gliederung eines Raumes. Allerdings können mit Fragebüchern — wie oben schon erwähnt — verschiedene Bereiche, wie z. B. die Syntax, nicht erforscht werden. Hier braucht man spontan gesprochene, zusammenhängende Texte. Über den Umfang solcher Korpora können nur Erfahrungswerte mitgeteilt werden, so lange umfassende quantitative Untersuchungen aus dem Bereich der Syntax fehlen (Eckner 1973 : 15 Stunden; Rohrer 1973: 26 Stunden; Ruoff 1973: pro Ort ca. 6 Sprecher zu je 10 bis 15 Min., die sich pro geographischer Untersuchungseinheit zu einem vielstündigen Korpus summieren). Auch bei der lexikologisc hen Erforsc hung von Dialekten hat man mit dem Problem relativ seltener Erscheinungen zu tun: Der größte Teil der Lemmata eines Wörterbuchs ist in Texten selten. Umgekehrt machen die in Texten häufigen Wörter nur einen sehr geringen Teil eines Wörterbuchs aus (vgl. z. B. König 1978, 115). Die meisten Wörterbücher arbeiten deshalb nicht nur mit schriftlichen Quellen, sondern auch mit der systematischen Befragung von Gewährsleuten. Damit können Wörter schneller und sicherer für einen bestimmten Ort nachgewiesen werden als mit Texten, zumal es außerdem genügend Wörter gibt, die sich der Schriftlichkeit entziehen. 2.3.2. Quantitative Analysen Quantitative Untersuchungen im Wortsc hatzbereic h mit Versuchen, bei denen Korpusgröße bzw. Auswahlverfahren variiert wird, liegen vor von Billmeier (1968) bzw. Těšitelová (1970). Meist geht es in der Dialektologie bei den relativ seltenen quantitativen Arbeiten um die Beschreibung von Teilsystemen und ihrer Veränderlichkeit abhängig von sozialen Parametern. Der Inhalt der Untersuchung gilt meist Variablen, die sich innerhalb der Versuchsanordnung verändern. Hier läßt sich mit Signifikanz- und Korrelationstests, wie sie die Statistik bereitstellt, zufällige von systematischer Variation trennen. Diese Tests beziehen die Größe des untersuchten Korpus mit ein und geben auch auf Grund dieses Datums die Stärke und Wahrscheinlichkeit der Korrelation zweier Parameter an. Zu
Korrelations- und Signifikanztests vgl. Ruoff 1973, 219—259, Bartel 1971, I. 79—113, II. 62—89, Haseloff/Hoffmann 1970 , 95—126, 160 —190 . Anwendung z. B. bei Stellmacher 1977, Graf 1977, Eisenmann 1973.
3.
Repräsentativitätsprobleme bei der Festlegung eines Ortsnetzes
Bei dialektgeographischen Untersuchungen ist es in der Regel so, daß in einem Gebiet relativ „gleichartige“ Mundarten vorliegen, doch ist im allgemeinen nicht vorhersagbar, welche Teile wo gleich und welche Teile wo verschieden sind. Das ist die Forschungsfrage, die durch eine geeignete Versuchsanordnung beantwortet werden soll. Die Repräsentativitätsfrage stellt sich hier in anderer Weise. Im Normalfall ist es so, daß aus einer großen Menge (die in verschiedenen Fällen sogar gegen Unendlich gehen kann) von Einheiten nur ein Teil ausgewählt wird und dieser für die anderen Einheiten steht, sie repräsentiert. Voraussetzung dafür ist eine große Anzahl von Einheiten, die relativ gleichartig sind, so daß nur ein kleiner Teil davon untersucht werden muß, um Aussagen über die Gesamtheit zu machen. Diese Voraussetzung ist bei dem hier anstehenden Problem der Festlegung eines Ortsnetzes in den allermeisten Fällen nicht vorhanden. Ausgenommen ist der Fall, in dem es größere Flächen homogener Sprache gibt: Wenn feststeht, daß zwei relativ weit voneinander entfernte Orte A und B eine identische Sprache besitzen, dann liegt der Schluß nahe, daß auch die zwischen A und B liegenden Orte diese gleiche Sprachform besitzen. Sobald aber zwischen zwei Orten sprachliche Unterschiede bestehen, dann kann für die dazwischenliegenden Orte nichts mehr ausgesagt werden. Es ist nicht vorherzusehen, ob der eine Ort zu dem einen zu stellen ist oder zu dem anderen. Hier kann nicht hochgerechnet werden, die Fehlerquote betrüge 50 %. Es muß Ort für Ort untersucht werden. Bei der Festlegung eines Ortsnetzes kommt es immer auf den Zwec k der Untersuchung an: Für eine großräumige Analyse der geographischen Verteilung verschiedener Formen ist es unerheblich, ob dieser oder jener Ort an der Isoglosse XY die Form X oder die Form Y besitzt. Für den Bearbeiter eines Kleinraumes kann solches Wissen sehr wichtig werden. Wenn man z. B. ein gewisses Gebiet als Expansions- und Innovationszentrum erwei-
23. Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie
sen will, argumentiert man jeweils mit dem Befund einer größeren Menge Belegorte, bei denen einer mehr oder weniger keinen Einfluß auf den Gang der Beweisführung haben darf. Diese baut vielmehr allein auf die Form der Verteilung auf. Man interpretiert z. B. Keile als Vorbrüche entlang von Verkehrswegen, einen Kreis als Ausbreitung einer Neuerung von einem Zentrum aus (vgl. Art. 24). Dem Betrachter eines kleineren Raumes stellen sich andere Fragen: Warum hat sich die eine Seite des Keils gerade hier festgesetzt? Oder: ist die Sprachgrenze hier noch im Fluß, über welche Zwischenform findet die Entwicklung statt? Hier kann oft auf einen Nachweis Ort für Ort nicht verzichtet werden. In der konkreten Forschungsarbeit mit direkter Aufnahmemethode wird man aus arbeitstechnischen Gründen immer Kompromisse schließen müssen. So hat Rudolf Hotzenköcherle für seinen SDS Ortsnetzdichten, die in den verschiedenen Kantonen zwischen ca. 25% und ca. 70 % liegen. Diese Unterschiede liegen einmal in der verschiedenen dialektgeographischen Struktur von Alpen- und Voralpengebiet sowie auch in der Definition dessen, was als Ort zu gelten hat: Es gibt Kantone mit starker Zusammenfassung kleiner Einzelgemeinden und Kantone ohne solche Gebietsreformen (Hotzenköcherle 1962, A 88, 91 f.). Auch für größere Atlasunternehmungen (wo man inzwischen mit EDV sehr schnell Probekarten herstellen kann) dürfte ein Verfahren, wie es z. B. Ibrom (1971) angewendet hat, zweckmäßig sein: Zunächst mit einem umfassenden Fragebuch ein relativ großmaschiges Netz über die sprachgeographisch zu beschreibende Fläche legen und in einem zweiten Arbeitsgang nach einer Auswertungsphase mit einem kleineren, eventuell regional wechselnden Fragebuch das Netz so weit verdichten, daß alle intendierten Fragestellungen damit gelöst werden können.
4.
Repräsentativitätsprobleme bei der Sprecherauswahl
4.1. Diatopische Untersuchungen Die traditionelle Mundartforschung beschäftigte sich vor allem mit Dialektgeographie. Dialektgeographie war Beschreibung der Variabilität von Sprache in Abhängigkeit von einem sich verändernden geographischen Parameter, mit Raum als unabhängi-
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ger, Sprache als davon abhängiger Variablen. Die Dialektologen, motiviert von einem Interesse, das antiquarische, dokumentarische und sprachwissenschaftliche Komponenten enthielt, fühlten sich von Anfang an als Bewahrer eines Erbes, das es vor dem Verfall zu schützen galt (Löffler 1974, 11—22). Die Auffassung, daß sich die Mundarten in Auflösung befänden, ist nicht nur heute verbreitet, sondern findet sich schon am Anfang des 19. Jhs. (Bellmann 1957, 169). In diesem Sinne suchte man die sprac hlic he Grundsc hic ht, suchte die „ältesten“ noch erreichbaren Sprachformen, und dies, indem man Mitglieder der ältesten Generation als Gewährsleute befragte. Doch man achtete und achtet bei den Informanten nicht nur auf ihr Alter, sondern auch darauf, daß sie im Ort geboren und aufgewachsen sind, daß die Eltern und eventuell auch die Großeltern aus demselben Ort stamm(t)en. Diese Information erhält der Mundartforscher in der Regel von einer „Autoritätsperson“ des Ortes, vom Bürgermeister (Lehrer oder Pfarrer). Auch diese Personen werden im allgemeinen über ein antiquarisches Interesse motiviert, so daß sie ihre Auswahl danach ausrichten. Nicht immer stimmt ihr Urteil dabei mit dem des Forschers überein. Insbesondere bei länger andauernden Aufnahmen z. B. für einem Sprachatlas stellt sich manchmal heraus, daß ein zufällig vorbeigekommener Nachbar oder die Ehefrau des von der Amtsperson ausgewählten Gewährsmannes dem Ideal des Explorators sehr viel näher kommt. Solche Mängel bei der Auswahl für das oben beschriebene Ziel repräsentativer Sprecher werden bei größeren Unternehmungen (z. B. beim Schweizerdeutschen Sprachatlas und beim Südwestdeutschen Sprachatlas) dadurch ausgeschaltet, daß durchschnittlich 2—3 Personen befragt werden. Das Material nicht geeigneter Sprecher kann dabei noch vor Ort korrigiert werden. Bei Forschungsarbeiten, die (mit einem relativ kleinen Fragebuch) auf einem Sprecher pro Ort aufbauen, besteht hierin eine nicht zu vernachlässigende Fehlerquelle. Bei ihnen ist aber in der Regel das Ortsnetz dichter, so daß auf diese Weise ein Ausgleich zustande kommt. Die gewonnenen Spra c hkarten sind als idealtypisches Modell der Veränderung der Sprache in Abhängigkeit vom Raum zu betrachten. Die unabhängige Variable Raum wird über Geburts- und Aufenthaltsorte des Gewährsmannes und seiner Eltern operatio-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
nalisiert. Alle anderen Variablen versucht man konstant zu halten. So wird versucht, die Variable Situation in einer künstlichen Versuc hsanordnung zu standardisieren (vgl. Art. 27 und 28), indem man mit vereinheitlichten Wortlisten und Fragebüchern den Gewährsleuten gegenübertritt. Mit der Entscheidung, einen wenigstens seit der zweiten Generation im Ort ansässigen älteren Gewährsmann zu wählen, sind in der Regel noch weitere soziale Daten des Informanten und seiner Vorfahren festgelegt: Beruf: Bauer; Ausbildung: Volksschule; Alter: ca. 55—70 Jahre. Damit ist eine Einheitlichkeit des sozialen Maßes (Kranzmayer 1956, III) gegeben, die aus gutem Grunde zu den konsistenten Ergebnissen von dialektgeographischen Darstellungen und Sprachatlanten geführt hat. Die beschriebene Versuchsanordnung gewährleistet, daß die Informanten, deren Sprache beschrieben werden soll, für den Zweck der Dialektgeographie durchaus als geeignet bezeichnet werden können. Sind sie für den ganzen Ortsdialekt repräsentativ? Kann man von ihrer Sprache auf die Sprecher des ganzen Ortes schließen? Einen solchen Schluß legen Formulierungen der Art nahe wie Im Dialekt von ... gilt ..., denen Material aus Aufnahmen der eben geschilderten Art zugrundeliegt. Aussagen dieses Typs sind in der dialektologischen Literatur (fast) die Regel, wenn man sich auf Material aus Sprachatlanten oder aus dialektologischen Einzeldarstellungen (Landschaftsgrammatiken) beruft, obwohl hier meist im Ort nur ein Sprecher mit den oben erwähnten sozialen Daten interviewt wurde. Solche Verallgemeinerungen („Hochrechnungen„) sind nur dann zulässig, wenn der Dialekt im untersuchten Ort homogen ist, d. h. wenn alle Sprecher die gleiche Sprache haben. Um den Inhalt eines Sackes mit tausend roten Kugeln kennenzulernen und zu beschreiben, reicht es, nur eine rote Kugel herauszunehmen, vorausgesetzt, man weiß schon, daß der Inhalt aus lauter gleichen Einheiten besteht. Die Homogenität der Sprache eines kleinen Ortes auf dem Lande wurde bis ins 20 . Jh. hinein vielfach angenommen. Doch weist z. B. schon Wiget (1916, 5) darauf hin, daß ein vollständig einheitlicher Dialekt in keinem Dorfe seines Untersuchungsgebietes mehr gesprochen werde. Auch Hotzenköcherle (1934, 26) findet in einem sozial (relativ) homogenen Ort eine Vielzahl von Schwankungen vor. Erhöhte Mobilität, Ab-
wanderung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft, Pendlertum, Ausdehnung der höheren Schulbildung, Kriegswirren und in deren Gefolge eine große Anzahl von Heimatvertriebenen mit fremden Dialekten machten die Gesamtheit des Gesprochenen in einem Dorf vielfältiger, so daß der befragte alte Bauer nicht mehr als Repräsentant des Durchschnitts des Gesprochenen, nicht mehr als Repräsentant der dialektalen Alltagssprache des Ortes gelten kann, sondern eine Sprachform vertritt, die früher einmal diese Geltung im Ort gehabt haben mag. Im Rahmen einer historisch orientierten Dialektgeographie, die die alten Züge, welche die sprachliche Landschaft geprägt haben (Hotzenköcherle 1962 A, 5), aufzeichnen will, für eine Dialektgeographie, die die Sprachkarte zur Ergründung und Erklärung sprachgeschichtlicher Erscheinungen zum Verständnis und zur Beschreibung der Mechanismen sprachlichen Wandels verwendet, ist der alte Bauer aber immer noch der einzig richtige Informant. Dem entspricht in den Städten die „alteingesessene Handwerkerund Industriebevölkerung“ (Steger 1967, 279). Im Extremfall, d. h. wenn er der letzte ist, der die oben angegebenen Bedingungen erfüllt, und solche Fälle sind schon vorgekommen, z. B. bei den Aufnahmen zum Vorarlberger Sprachatlas, muß dieser alte Bauer für eine historisch orientierte Dialektgeographie repräsentativ bleiben, auch wenn er allein unter 999 Anderssprechenden steht und alles andere als ein Sprecher der durchschnittlichen Ortssprache ist (wenn es die überhaupt gibt). Das oben beschriebene Ziel des größten Teils der dialektgeographischen Arbeiten erfordert das. 4.2. Syntopische Untersuchungen (herkömmlicher Art) Ein weiteres großes Arbeitsfeld der Dialektologen war und ist die Erstellung von Beschreibungen des Dialekts eines Ortes. Solche Ortsmonographien lieferten bisher in der Regel das System eines einheitlichen Dialekts und nur selten (meist in größeren Städten) Angaben zur sprachlichen Varianz. In vielen Ortsmonographien beschrieben die Verfasser häufig nur den Dialekt von ein paar wenigen Gewährsleuten bzw. ihren eigenen Dialekt (Löffler 1974, 25). Bei einer homogenen Mundart ist dieses Verfahren auch legitim. Bei komplizierteren Verhältnissen in bezug auf Variabilität von Sprechern und Sprache wurde dieses Verfahren aber
23. Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie
genauso angewandt. Dialektologie ist nämlich immer eine diatopisch (und diachronisch) orientierte Wissenschaft gewesen, und man wählte auch in einer Ortsmonographie die Sprecher so aus, als arbeitete man an einer geographischen Darstellung. Fragen der Sprachsoziologie, der Variation interessieren weniger oder gar nicht; damit gab es für die Verfasser auch kaum Probleme mit der Repräsentativität ihrer Ergebnisse. In der Regel sind die Gewährspersonen in der Arbeit gar nicht genannt, man erfährt nichts über die aktuelle soziale Gliederung im Ort, die Einleitung hat vielfach nur die Geschichte des Ortes zum Thema. Man betrachtete den beschriebenen (ältesten) Sprachstand als den einzig beschreibenswerten, man betrachtete die Sprecher, die ihn sprachen, als repräsentativ. Im Titel der Arbeit ist dann die Kompetenz des Verfassers oder die Kompetenz weniger Sprecher die Kompetenz aller Sprecher im Ort: Die Mundart/der Dialekt von [...] sind häufig gebrauchte Titel (vgl. z. B. Winteler 1876, Tschinkel 190 8, Weizenböck 1942, Kober 1962). — Will man gerecht sein, dann kann man den Verfassern solcher Dialektmonographien diese Beschränkung auf eine Sprecherschicht und weniger Sprecher heute kaum als Mangel vorwerfen. Es fehlte ein ausgeprägtes sprachsoziologisches Bewußtsein, es fehlten vor allem aber eine Theorie und ein Instrumentarium, die es möglich machten, mit vertretbarem Aufwand zu Ergebnissen zu kommen. 4.3. Beschreibung von Sprachvariation, die nicht geographisch bedingt ist Auch heute fehlt für den deutschsprachigen Raum eine methodisch vorbildliche Beschreibung der Sprac hform eines Ortes, die alle Bereiche, die die sprachwissenschaftliche Theorie heute fordern muß, berücksichtigt. Einige ältere Arbeiten bringen zwar soziologische Gesichtspunkte mit ein, doch vielfach befragt der Verfasser seine eigene Kompetenz und ergänzt sie durch relativ unsystematische Beobachtungen. Er beschreibt Sprachschichten, die intuitiv voneinander abgegrenzt werden und meist an einem Dreiermodell „Mundart“, „Umgangssprache“, „Hochsprache“ orientiert sind. Datengewinnung und Auswertungsgang werden meist nicht beschrieben. Es werden Situationen angeführt oder Themenbereiche aufgezählt, in denen diese oder jene Sprachform angewendet wird. Ein solches Vorgehen arbeitet mit einem zu einfachen Modell der so-
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zialen und sprachlichen Wirklichkeit, zu viele Dinge im methodologischen Instrumentarium sind nicht kontrollierbar; vgl. z. B. Kuntze (1932), Grund (1935), Benigni (1971). Neuere Arbeiten, die soziologische Gesichtspunkte berücksichtigen, zeigen eine größere Durchsichtigkeit und Adäquatheit hinsichtlich ihrer Methoden: z. B. Bellmann (1957) Wolfensberger (1967), Schönfeld (1974), Keller (1976), Stellmacher (1977). Die Frage in diesem Zusammenhang ist die nach einer repräsentativen Auswahl der Informanten für eine solche Untersuchung, denn eine Totalerhebung, eine Untersuchung der Sprache aller Einwohner eines Ortes, wie sie Arno Ruoff in seinem Schwarzwald-Projekt (vgl. Kirchmeier 1973) versucht hat, ist in der Regel aus arbeitstechnischen Gründen unmöglich. Im Bereich der Sprecherauswahl treten im Falle einer Totalerhebung keine Repräsentativitätsprobleme auf. Vielmehr können die gewonnenen Ergebnisse als repräsentativ für eine Beurteilung des Sprachgebrauchs in Orten mit vergleichbarer Sozialstruktur in vergleichbarer Verkehrslage angesehen werden. Sie helfen mit, Fragen der Repräsentativität bereits erhobenen Sprachmaterials zu lösen. Es gibt verschiedene Methoden, um eine repräsentative Sti c hprobe herzustellen. Sie sind für den Sprachwissenschaftler praktisch die gleichen wie für den Sozialwissenschaftler und in Handbüchern und zahlreichen Einführungen in die empirische Sozialforschung eingehend beschrieben (grundlegend: Cochran 1972). Sie sind alle abgeleitet von der reinen Zufallsstichprobe, die bei einer Population, über deren Gliederung und Schichtung keine Daten vorhanden sind, ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit bietet. Die Herstellung einer Zufallsstichprobe gehört zu den schwierigsten Problemen der empirischen Sozialforschung (Rieger 1979, 63 f.). Es muß gewährleistet sein, daß jedes Element die gleiche Chance hat, in diese Stichprobe zu kommen. Dies ist dann der Fall, wenn die ganze Population an einem Ort — wenn auch nur im Modell — versammelt ist (z. B. in einer Lostrommel mit Namen oder Nummern oder in einem Zettelkasten) in dem jeder Einwohner durch eine Karte gegenwärtig ist. Durch ein Zufallsverfahren (z. B. mit Hilfe einer Zufallszahlentafel) kann man dann eine Auswahl treffen. Häufiger sind in der Sozialwissenschaft mehrstufige Stic hproben. Sie können mit Erfolg bei der Erforschung von spezielleren
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Problemen angewandt werden: Will man z. B. die Sprache der Arbeiter einer Stadt erforschen, dann kann man in einer ersten Stufe eine Zufallsstichprobe aus allen Betrieben, die Arbeiter beschäftigen, herstellen. Dabei erhält man eine repräsentative Auswahl von Groß-, Mittel- und Kleinbetrieben aus verschiedenen Branchen und Stadtbezirken, aus denen man wieder in einer Zufallsauswahl die benötigten Sprecher bestimmen kann. Bei einer geschichteten Stichprobe muß man schon einiges mehr über den Forschungsgegenstand wissen; sie ist aber in sehr vielen Fällen rationeller und läßt einen genauen Zuschnitt der Informantenauswahl auf die zu beantwortenden Fragen zu. Beispiel: Will man eine Untersuchung der Sprache in ihrer Abhängigkeit von sozialen Schichten der Sprecher (z. B. zur Sprachbarrierenproblematik) machen, dann erhält man bei einer reinen Zufallsstichprobe — z. B. bei einer Orientierung an dem Modell vom Statusaufbau und der Schichtung der Bevölkerung, wie es Bolte (1967, 317) dargestellt hat — ca. 2% Oberschicht, ca. 19% obere und mittlere Mittelschicht, ca. 58% untere/unterste Mitte, ca. 17% Unterschicht und 4% sozial Verachtete. Hier ist es bei einer gesamten Stichprobe von 10 0 Personen nicht zweckmäßig, 2 Angehörige der Oberschicht und 58 der unter(st)en Mitte auszuwählen. Es dient vielmehr der genannten Fragestellung, wenn man die Zahl der Befragten aus den verschiedenen Schichten einander annähert. Man entgeht damit leichter dem Zufallsfehler, der im Falle der zwei Angehörigen der Oberschicht vielleicht ein untypisches Mitglied liefert und damit das Ergebnis in wesentlichen Punkten verfälscht. Deshalb wird man die schwach vertretenen Gruppen (hier: Oberschicht und sozial Verachtete, sofern man glaubt, daß sie ein eigenes gruppenspezifisches Sprachverhalten zeigen) „überrepräsentieren“, also eine sehr viel größere Anzahl von Sprechern nehmen, um den Zufallsfehler (damit nicht „untypische“ Sprecher eine zu große Bedeutung erlangen können) weitgehend auszuschalten (Noelle 1976, 153). Das ist der Fragestellung nur gemäß. Bei neueren sprachlichen Untersuchungen von Stadtsprac hen werden häufig geschichtete Zufallsstichproben verwendet: so bei Trudgill (1974), der aus 5 verschiedenen Stadtbezirken mit Hilfe von Zufallszahlentafeln je 25 Informanten willkürlich auswählte. Ähnliche Verfahren schlagen Shuy u. a. (1968) vor. Eine ganze Reihe verschie-
dener Arten der Sprachdatengewinnung in Städten erprobt W. Labov (1966). Eine absolute Repräsentativität gibt es nicht, es gibt nur eine Repräsentativität für eine bestimmte Frage, die wir zu beantworten haben. Je mehr man über eine Population schon weiß, desto spezieller kann die wissenschaftliche Frage werden. Und das erfordert jeweils darauf abgestimmte Verfahren zur Herstellung eines dafür repräsentativen Korpus. Je weniger man von vorneherein weiß, desto allgemeiner muß die Fragestellung bleiben, desto mehr ist man darauf angewiesen, daß eine einfache Zufallsauswahl einen repräsentativen Querschnitt liefert. Diese Zufallsauswahl gewährleistet — wenn richtig durchgeführt — eine Repräsentativität, deren Fehlerquote berechenbar ist. Diese Fehlerquote ist abhängig von der Größe der Stichprobe. Sie wächst aber nicht linear mit der Erhöhung der Anzahl, sondern steigert sich nur proportional zur Quadratwurzel aus der Stichprobengröße (vgl. oben Formel [2]). Der Standardfehler beträgt bei einer Stichprobe von 10 0 0 Elementen (bei einem Signifikanzniveau von 95,5% und bei p = 60 %) 3,10 %. Um den Fehler auf 1,54%, also um die Hälfte, zu verkleinern, braucht man eine Stichprobe von 40 0 0 . Bei einer Stichprobe von nur 10 0 Elementen ist bei gleichem Signifikanzniveau und gleichem p der Standardfehler 9,8%. Mit anderen Worten: In 96 von 10 0 Stichproben zu je 10 0 Elementen erhält man aus einer Population, in der eine Einheit zu 60 % vorkommt, einen Wert zwischen 51,2 und 69,8% (Noelle 1976, 10 9). Dieser Fehler ist sehr groß, und er wird auch nicht entscheidend kleiner, wenn man die Zahl der Stichproben auf 20 0 erhöht. Und viel mehr Personen können in einer sprachlichen Untersuchung kaum befragt werden. Doch die Aufgabe besteht ja nicht darin — um das Beispiel von oben wieder aufzunehmen — die Sozialschichtung innerhalb einer Ortschaft zu erforschen, sondern Abhängigkeiten von Schichtung und Sprachgebrauch festzustellen. Und deshalb bleibt hier nur die Frage, wie viele Informanten von jeder Gruppe genommen werden müssen, damit gewährleistet ist, daß das Ergebnis auf die ganze Schicht hochgerechnet werden kann, für die ganze Schicht repräsentativ ist. Um sicher zu sein, daß die Äußerungen eines atypischen Sprechers einer schwach vertretenen Gruppe nicht zu viel Gewicht erhalten, muß man die Zahl der Sprec her ver-
23. Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie
mehren. Hat man 90 Äußerungen von 2 Sprechern (je 45 von einem), von denen einer für seine Gruppe atypisch ist, ist das Ergebnis zu 50 % falsch. Bei 90 Äußerungen von 15 Sprechern (je 6 von jedem) fallen die 6 „falschen“ nicht so sehr ins Gewicht. Noch besser sind natürlich 90 Äußerungen von 30 Sprechern (je 3 von jedem). Die benötigte Anzahl von Sprechern und Belegen hängt ab von der Homogenität der Gruppe, die untersucht werden soll. Bei einer völlig homogenen Gruppe reicht ein Sprecher aus, denn „atypische“ Fälle gibt es dort nicht. Je inhomogener eine Gruppe ist, desto größer muß die Stichprobe werden, damit man den „wahren“ Mittelwert, das „wahre“ durchschnittliche Verhalten erkennen kann. Dabei hat sich eine Zahl von 30 als Mindestmaß erwiesen. Ab 30 zählbaren Einheiten lassen sich in der Regel Normalverteilungen erkennen, es ordnen sich die gemessenen Werte in Gaußkurven; der Zufallsfehler kann ein Ergebnis nicht mehr total verfälschen (Haseloff/Hoffmann 1970 , 146). Um das Beispiel zu vollenden: Man müßte, wenn man von der Hypothese ausginge, das Sprachverhalten korreliere mit sozialen Schichten, je Schicht mindestens dreißig Sprecher durch Zufallsauswahl ermitteln, um dies erweisen zu können. Bei sehr günstigem Verlauf des Versuchs kann es sein, daß sich die Homogenität einer Gruppe schon nach wenigen Stichproben zeigt: Wenn bei den ersten 10 Sprechern einer Gruppe das gleiche Sprachverhalten vorhanden ist, dann ist eine Abweichung bei den nächsten 20 Sprechern auch nicht mehr wahrscheinlich; deshalb könnte auf sie auch verzichtet werden. Bei wenig signifikantem Unterschied, d. h. bei großer Streuung innerhalb einer Gruppe kann es aber auch notwendig werden, eine sehr viel größere Anzahl von Sprechern aufzunehmen. Denn so homogen wie gerade angenommen sind soziale Gruppen in der Regel nicht. Auch die Schichteinteilung von Bolte zeigt nicht so klare Abgrenzungen, wie sie oben dargestellt wurden. Auch hier gibt es schwierige Fälle in der Gewichtung der statusdeterminierenden Argumente, und die Übergangszonen von einer Schicht in die andere sind sehr breit. Außerdem sind in diesem Modell gewisse Daten, die für die Sprache wichtig werden können, überhaupt nicht berücksichtigt (z. B. die soziale Stellung der Eltern). Deshalb wird der Sprachsoziologe die Gruppenbildung häufig erst nach der sprachlichen Analyse vornehmen. Textstücke, die gleiche oder ähnliche
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sprachliche Merkmale, Sprecher, die gleiche oder ähnliche soziale Merkmale zeigen, werden zusammengefaßt, und dann wird versucht, Korrelationen zwischen den sprachlichen Phänomenen und den erfaßbaren und isolierbaren Rededeterminanten herauszuarbeiten (Ruoff 1973, 175—239. Stellmacher 1977, 76—141). Die Statistik stellt hierfür Tests zur Verfügung, mit deren Hilfe man die Wahrscheinlichkeit, mit der zwei Merkmale oder Merkmalsgruppen korrelieren, berechnen kann (vgl. 2.3.2.). Verfehlt ist es auf jeden Fall, Repräsentativität herstellen zu wollen, indem man den Auswahlsatz aus der Grundgesamtheit auf z. B. 1, 10 oder 50 % festlegt. Solche Auswahlsätze können je nach Größe der Grundgesamtheit zu hoch oder zu niedrig sein. Wie in 2.2.2.2. ausgeführt, spielt die Größe der Grundgesamtheit praktisch keine Rolle bei der Festlegung der Genauigkeit von Stichproben (vgl. z. B. Löffler 1974, 47).
5.
Repräsentativität und Sprechsituation
5.1. Vorbemerkung Die Sprecherauswahl legt den größten Teil der Sprachform, die bei der dialektologischen Forschungsarbeit erkundet werden soll, fest (Ruoff 1973, 161). Ein weiterer großer Teil wird determiniert durch die Sprechsituation, d. h. durch die Art und Weise, wie die Sprachdaten gewonnen werden. Das betrifft nicht nur die zu erforschenden Textsorten, sondern selbst die zu erforschenden Bereiche der Grammatik. Deshalb werden sich Kapitel 5.2. und 5.3. damit befassen, auf welchen Sprechsituationen die bisher von der Dialektologie hauptsächlich beschriebenen Sprachformen beruhen. Es wird an der indirekten Methode von DSA und DWA sowie an der direkten Methode von Regionalatlanten und der meisten Orts- und Landschaftsgrammatiken erörtert, welche Sprechsituationen und entsprechend dazu, welche Sprachform das darin dokumentierte Material repräsentiert. Außerdem sollen vor allem auch die Fehlerquellen aufgezeigt werden, die aus einer von Informant und Forscher verschieden interpretierten Situation bei der Datenaufnahme erwachsen. Theoretisch bringt eine genau beschriebene und durchgeführte bzw. beobachtete Situation immer wieder gleiches Sprachverhalten. Praktisch gibt es aber keine zwei gleichen Situationen,
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
praktisch können auch äußerlich identische Situationen von den Teilnehmern verschieden interpretiert werden (Falk/Steinert 1972). Bei Versuchsanordnungen, die identische Sprechsituationen zur Erforschung anderer Variablen intendieren (z. B. Veränderung der Sprache im geographischen Raum) wird diese Fehlerquelle das Ergebnis so lange nicht wesentlich beeinflussen, so lange die Sprachvariation bedingt durch eine nicht konstant gehaltene Sprechsituation nur einen geringen Teil der zu untersuchenden Sprachvariation ausmacht. Je geringer aber die sprachliche Variation ist, die durch eine Versuchsanordnung erforscht werden soll, um so mehr wird eine nicht konstant identisch zu reproduzierende Situation als Fehlerquelle eine Rolle spielen. Und: Je mehr der sprachliche Befund abhängig ist von Faktoren, die zum „Faktorenbündel Situation“ gerechnet werden müssen, desto mehr Versuche sind nötig, um das „wahre“ Sprachverhalten eines Situationstyps zu erforschen. Dies kann nur durch Erhöhung der Anzahl der Versuche geschehen. Zahlenwerte richten sich nach den im Kapitel 4 beschriebenen Prinzipien. 5.2. Dia- und syntopische Untersuchungen 5.2.1. Indirekte Methode. DSA und DWA Für welche Sprac hform, für welche Sprechsituation steht das Material, das in den Karten des DSA publiziert ist? Die Aufnahme des größten Teils des Materials erfolgte in den Jahren 1879/80 (Nord- und Mitteldeutschland); 1887/88 (Süddeutschland), 1926—33 (Österreich und die Schweiz) (Schmitt 1964, 9). Ob dieser Zeitraum noch als synchron bezeichnet werden kann, soll hier nicht untersucht werden. Die Fragebögen wurden an die Schulen versandt: Die Lehrer füllten sie aus mit Hilfe der Schulkinder, aber auch oft unter Anleitung älterer Dialektsprecher aus dem Dorf. Auch diese Tatsache trägt nicht dazu bei, das Material des Sprachatlas repräsentativ für eine Sprechergruppe zu machen, die Sprechsituation (im weiteren Sinne) einheitlich zu gestalten. Doch diese beiden Umstände sind es nicht in erster Linie, die die Beantwortung der Frage danach, was die ausgefüllten Fragebögen eigentlich repräsentieren, so schwer macht. Es ist vielmehr einmal die sc hriftlic he Form der Erhebung, die Laien mit dem schwierigen Problem der phonetischen Umschrift betraute, und zum andern ist es die Form der Sätze, die eine
Übersetzung so schwierig macht und eine Syntax natürlicher, spontaner Sprache im Keim erstickt (Ruoff 1969). Die Laienschreibungen bedürfen der Interpretation: Nur so sind — wenn überhaupt — die wahren Lautwerte zu eruieren. Die ausgefüllten Fragebogen repräsentieren nur die Versuche einer in dieser Hinsicht wenig ausgebildeten Gruppe, gesprochene Sprache mit Hilfe des Alphabets zu Papier zu bringen. Häufig sind diese Versuche von bemerkenswertem Erfolg gekrönt. Dies ist immer dann der Fall, wenn eine sprachliche Variable auch einen Ausdruck in der Alphabetschrift besitzt und wenn der Unterschied zwischen Mundart und Hochsprache dem Ausfüller des Fragebogens bewußt wurde. So z. B., wenn es darum ging, die Aussprache von Eis und Haus als Iis und Huus zu kennzeichnen oder die Aussprache von Water gegenüber Wasser festzulegen. So haben wir klare Grenzen von Monophthongierung, Diphthongierung, zweiter Lautverschiebung vor allem in Gegenden, wo eine der Formen homogen herrscht. Wo soziologisch oder durch andere Faktoren bedingte Variation besteht, ist das Bild dann weniger durchsichtig. Die oben angeführten Tatsachen, die die Synchronie bzw. die Einheit des sozialen Maßes durchbrechen, beginnen sich auszuwirken (vgl. z. B. die DSA Karten 8 ‘Beine’ oder 24 Dativ-e im Norden mit sog. Mäanderlinien als Isoglossen). Auch in der Morphologie lassen sich dialektale Einheiten sehr gut mit der Alphabetschrift fassen, so daß die Fragebögen des DSA bei verschiedenen Erscheinungen die Besonderheiten der deutschen Dialekte sehr gut darstellen, wie z. B. das Problem des Einheitsplurals beim Verb, die Nichtunterscheidung von Dativ und Akkusativ im pronominalen Bereich. Die Regeln der Syntax sind die, die einem Beobachter zunächst am wenigsten auffallen, es sind auch die, die am wenigsten stabil sind und die bei der geringsten Störung der Spontaneität der Sprecher sich verändern: So ist es denn auch ein Einzelfall, daß die Methode des DSA mit ihrer Übersetzung von Einzelsätzen ein Ergebnis für die großräumige Syntax lieferte, nämlich eine Grenze für den Gebrauch von Perfekt und Präteritum als Erzählzeit (Maurer 1926). Mit am besten ist die Fragebogenmethode für Wortsc hatzuntersuc hungen geeignet. Die Ergebnisse des DWA sprechen dafür, und auch die Wortkarte ‘Pferd’ und ‘Füße’ des DSA (Karte 8) war ein frühes, schönes Beispiel für diese Tatsache. Hier, wo es weniger
23. Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie
auf genaue phonetische Notierung ankommt, hier, wo jeder Sprecher ein festes Bewußtsein von seinem Sprachgebrauch zu haben glaubt, ist mit dieser Methode am besten zu arbeiten: Auch sehr viele Wörterbüc her haben auf diese Weise (durch Korrespondenz mit den Gewährsleuten) erfolgreich ihr Material gesammelt (Friebertshäuser 1965, 126, 141, 144, 146 u. ö.). Allerdings bleibt auch hier eine Frage unbeantwortet, nämlich inwieweit das Bewußtsein vom Sprechen — und nur das findet seinen Weg auf den Fragebogen — auch mit dem tatsächlichen Sprechen übereinstimmt. Eine Fülle von Beispielen für das Gegenteil kann jeder Explorator beibringen. Streng genommen repräsentieren die Antworten auf den Fragebögen (vor allem im Wortschatzbereich) nur die Auffassung der Informanten, wie sie zu sprechen oder zu hören glauben, und nicht, wie sie tatsächlich sprechen (Schönfeld 1974, 17). Die Antworten geben keinen Aufschluß über sprachliche Phänomene, die den Gewährsleuten bei der Niederschrift nicht bewußt wurden oder durch die Alphabetschrift nicht adäquat ausgedrückt werden konnten, wie Konsonantenschwächung, Stimmtonbeteiligung bei Frikativen und Plosiven, Behauchung bei Plosiven, Länge und Kürze von Vokalen (vgl. dazu Bremer 1895, Wesche 1963). Nicht nur die eben geschilderten Tatsachen muß man sich bei der Betrachtung indirekt erhobenen Materials immer vor Augen halten, sondern auch die Fälle, bei denen es aufgrund der Abfragemethode zu nicht korrigierbaren Mißverständnissen in der Kommunikation zwischen Fragendem und Befragten gekommen ist, bei denen eine verschiedene Interpretation der fiktiven Sprechsituation bei Fragendem und Befragtem vorliegt. Bei solchen Fällen von gestörter Kommunikation ist die Frage, für welche Sprachform der Beleg steht, welche Sprachform der Beleg repräsentiert, praktisch in jedem Falle neu zu beantworten. Nur sorgfältige Interpretation hilft, die Ergebnisse der schriftlichen Befragung in den richtigen Rahmen zu stellen. Die Menge der Belege, die große Dichte des Ortsnetzes kann dabei wertvolle Hilfe sein. Im folgenden sollen nun einige Fälle solcher Mißverständnisse mit Beispielen des DWA dargestellt werden. (1) Die Frage wird in ihrem „Literalsinn“ nicht verstanden: So beziehen sich Antworten in der DWA Frage 174 ‘unfruchtbar (von der Kuh)’ häufig auf das ‘Nicht-Milch-Geben’ am Ende der Tragzeit oder auf einmaliges ‘Nicht-Trächtig-Werden’ bei der Begattung und nicht auf eine Krank-
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heit, die eine Kuh unfruchtbar werden läßt, wie es von Mitzka (wahrscheinlich) intendiert war. (2) Die Frage wird zwar verstanden, doch in der „falschen Sprachebene“ beantwortet: z. B. sind es Koseformen, die auftauchen (DWA 7, 1 Kalb weiblich, Ptatschek 1957, 52—57). (3) Die Frage wird zwar verstanden, doch aufgrund besonderer Gegebenheiten „falsch“ beantwortet: (3.1) Die Feldgliederungen bei Fragenden und Befragten sind verschieden: Wenn ein Bauer 3 verschiedene Ausdrücke für ‘Kalb, weiblich’ (DWA Frage 76) besitzt, ist er überfordert, wenn generell nach dem ‘Kalb, weiblich’ gefragt wird. Er wird wahrscheinlich dasjenige auswählen, das für ihn das besondere Wort ist, dasjenige, das am weitesten von der Hochsprache entfernt ist, da er dem Befrager das Motiv der „Kuriositätensammlung“ unterstellt. (3.2) Dies ist auch der Fall, wenn der Beantworter statt des Dialektwortes, das zufällig mit der Hochsprache übereinstimmt, eines mit ähnlicher Bedeutung liefert; was besonders beim affektiven Wortschatz vorkommt (König 1978, 177, Trüb 1963, 425).
5.2.2. Direkte Methode. Regionalatlanten Solche Mißverständnisse können bei direkter Befragung des Informanten durch den Sprachwissenschaftler ausgeschaltet werden, denn durch Nachfragen kann die gewünschte Sprachform eruiert werden. Bei zusätzlich auftauchenden Elementen kann ihr Ort im Sprachsystem und es kann auch ihre soziale Wertigkeit bestimmt werden (König 1975 a, 184). Welche Sprac hform repräsentiert das direkt aufgenommene Material, das z. B. bei Sprachatlasbefragungen aufgeschrieben wird? Welchem Redekonstellationstyp entspringt es? Die übliche Aufnahmesituation, die Interviewsituation der direkten Methode, ist differenzierter als es zunächst den Anschein hat (vgl. Art. 27). Sie kann auch nicht durch eine fixierte Fragestellung standardisiert werden. Und auch die «conversation dirigée» ist ein Ideal, das sich in der Praxis mitunter über längere Strecken (besonders bei ergologisch geprägten Teilen des Fragebuchs) durchhalten läßt, aber nicht über die ganze Zeit einer Atlasaufnahme hinweg. Die vielen verschiedenen Kommunikationssituationen, die bei einer solchen Aufnahme entstehen, brauchen hier nicht beschrieben zu werden (dazu König 1975 b). Es sollen hier nur zwei Grundsituationen dargestellt werden, die in der Regel auch verschieden geartetes Material liefern: nämlich
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
einmal das vom Fragebuch her intendierte und vom Explorator evozierte Primärmaterial und das, was vom Explorator an spontanen Äußerungen des Gewährsmanns mitgeschrieben wird: Spontanmaterial (Hotzenköcherle 1962 A, 132). (1) Primärmaterial: Da in der Regel nach Einzelworten bzw. kleineren Wendungen gefragt wird, stehen Äußerungen der Gewährsperson ohne syntaktischen Kontext, werden isoliert, betont, bewußt gesprochen. Wenn der Informant die Aufnahmesituation durchblickt (und das ist in den meisten Fällen gegeben), dann produziert er diese Äußerungen zu dem Zweck, dem Explorator den ältesten ihm erreichbaren Sprachstand zu bieten, denn dies ist die wesentliche, eigentliche Motivation seiner Mitarbeit. Er spricht langsam, deutlich, um den transkribierenden Frager eine möglichst genaue Umschrift zu ermöglichen, er diktiert gleichsam in die Feder. Die Äußerungen stellen praktisch Zitate dar, nämlich Zitate aus seinem normalen spontanen Sprechen. Die Aufnahme findet damit im metasprachlichen Bereich statt. Auch wo dieses metasprachliche Bewußtsein beim Gewährsmann fehlt, zeichnen sich die durch die Fragen hervorgerufenen Antworten im allgemeinen durch relative Deutlichkeit und relative Langsamkeit aus. (2) Spontanmaterial: Ganz anders ist es damit: Es wird produziert, wenn der Gewährsmann dem Explorator eine Sacherklärung gibt oder wenn die beiden sich einfach unterhalten, wenn der Postbote, ein Nachbar kommt oder sonstiger Anlaß zum Reden gegeben ist. Die daraus resultierenden Sprachformen haben alle Eigenschaften normaler, spontaner Sprache mit ihren Verschleifungen, Abkürzungen, Undeutlichkeiten sowie einem Sprachstand, der häufig von dem, was zum Zwecke des Aufschreibens produziert wird, abweicht. Die Unterschiede stellen — historisch gesehen — oft verschiedene Stufen der Sprachentwicklung dar, sie stellen verschiedene situationsspezifische Varianten von Sprachformen, die vom Dialekt bis zur Hochsprache reichen, dar. Welche Form jeweils die ältere, welche Form die jeweils in „höheren“ sozialen Situationen gebrauchte ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie z. B. von der Art der betroffenen sprachlichen Einheit, vor allem aber von der allgemeinen Situation des Dialekts im untersuchten Ort sowie von individuellen Eigenschaften der Gewährspersonen unter Einbeziehung der Sprechsituation. Zur Entscheidung
solcher Probleme gehört die genaue Prüfung jedes Einzelfalles unter Berücksichtigung der eben aufgezählten Faktoren. Nur auf diese Weise läßt sich eruieren, welche Belege welche Sprachformen repräsentieren (König 1975 b, 352—354, Rhiner 1958). Die Spontanbelege sind bei diesen Aufnahmeformen ohnehin nicht der wichtigste Teil, sondern dienen der Ergänzung und Interpretation von Kartenbildern, die mit Hilfe des Primärmaterials erstellt werden. Das bei Sprachatlasaufnahmen erhobene Spontanmaterial ist (von wenigen Ausnahmen abgesehen: z. B. Meyer 1967) in der Regel zu wenig vollständig, als daß man syntop oder diatop zu abgeschlossenen Ergebnissen kommen kann. Die isoliert, betont ausgesprochenen Wörter des Primärmaterials kommen in der Alltagssprache nur sehr selten vor: nämlich um Mißverständnissen vorzubeugen oder um solche zu korrigieren: Ic h sagte nic ht: méin, sondern: déin. Dies ist die Situation, in der die gesamte Bedeutung einer Sequenz durch ein nicht deutlich ausgesprochenes Phonem verändert wird. Es ist die Situation, in der das Minimalpaar sprachliche Wirklichkeit wird. Es ist die Sprachform, in der satzphonetische Erscheinungen, Schnellsprechformen keinen Platz haben. Auch wenn sie geradezu selten ist, hat jeder Sprecher eine Kompetenz für diese Sprachform, jeder Sprecher beherrscht sie. Nicht nur, weil diese Sprechweise durch die dialektologische Befragepraxis hervorgerufen wird, nicht nur, weil diese Sprechsituation sich leichter standardisieren ließ als alle anderen, sondern vor allem, weil diese Sprechweise die ist, die zur Erforschung von Phonologie und Morphologie am besten geeignet ist. Dieser Satz gilt nicht nur für die Erforschung deutscher Dialekte, auch Vertreter anderer Philologien können bei der Erforschung gesprochener Sprache nicht auf jene „künstliche“ Sprechweise verzichten (Samarin 1967, 57 f., Hockett 1955, 220 ). Sie ist die ausführlichste, vollständigste, die ein Sprecher produzieren kann; je weniger formal ein Sprechstil ist, desto mehr entfernt er sich in der Regel von ihr. Sie ist die Sprachform, die das widerspiegelt, was der kompetente Sprecher als sprachrichtig, als Norm betrachtet. Von ihr aus können die Allegro-Formen meist leicht abgeleitet werden (Dressler u. a. 1976). Der Hauptvorteil dieser Sprachform ist aber, daß sie im sprachwissenschaftlichen Interview ohne Schwierigkeiten über die ganze Zeit hin relativ stabil gehalten und auch mit jedem
23. Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie
neuen Informanten erzeugt werden kann. Sie ist gleichsam die „natürliche“ Sprachform der dialektologischen Interviewsituation. Auch wenn man sie als künstlich bezeichnen mag, kann man nicht auf sie verzichten, denn auf keine Weise läßt sich bisher mit vertretbarem Aufwand besseres Material für dialektologische Zwecke erheben. Auch für akustische Untersuchungen eignen sich am besten satzbetonte Formen (Göschel 1967, 277). Sie kommen der eben geschilderten Sprachform nahe. W. Labov (z. B. 1971) hat in seinen Untersuchungen der Sprache New Yorks fünf verschiedene Kontextstile herausgearbeitet und abgefragt, die vom Minimalpaar bis zur zwanglosen Sprechweise reichen. In ihnen wird jenes Spannungsfeld dargestellt, das sich bei Sprachatlasaufnahmen nach der direkten Methode zwischen Primär- und Spontanmaterial auftut. Leider läßt sich seine Methode nicht so ohne weiteres auf die deutsche Dialektologie übertragen (vgl. dazu auch Dressler u. a. 1976). Nach all diesem ist es nicht verwunderlich, daß es z. B. beim Sprachatlas der deutschen Schweiz Karten mit verschiedenen laufenden Sprachgrenzen mehrmals erfragte Belege sowie für Primär- und Spontanmaterial gibt (z. B. II, 16 und III, 256; vgl. Karte 23.1) oder daß Sprachatlas und Tonbandmaterial verschiedene Isoglossenverläufe bieten (Knetschke 1961, Sperlbaum 1974, Ruoff 1980). 5.2.3. Beschreibung von Sprachvariation, die nicht geographisch bedingt ist Die ideale Versuc hsanordnung wäre, jeweils einen der rededeterminierenden Faktoren in der Sprechsituation zu verändern und die anderen konstant zu halten. Die abhängig davon variierende Sprache könnte dann sehr leicht beschrieben werden. Ziel einer solchen Dialektologie sollte es sein, die kleinste Anzahl von Rededeterminanten aufzufinden, die für die sprachliche Variation verantwortlich sind und die den Sprachgebrauch damit vorhersagbar machen (Fishman 1975, 22). In der Sprachsoziologie und damit verwandten Forschungsansätzen (wie Textlinguistik, Pragmatik und Sprachpsychologie — die aber in der Dialektologie bisher fast keine Rolle spielen) ist die Zahl der Variablen sehr groß, und diese sind manchmal auf engste, sehr häufig aber nur sehr locker miteinander verknüpft. Es ist außerdem praktisch unmöglich, einen Faktor einer Sprechsituation
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Karte 23.1: Beispiel für unterschiedliche Grenz- verläufe bei Primär- und Spontanbelegen. zu verändern, und die anderen dabei konstant und gleich zu halten. Bei der Zusammenstellung von Korpora zur Erforschung solcher Variation gilt prinzipiell das gleiche wie bei der Auswahl von Sprechern. Das Korpus ist dann repräsentativ, wenn es so groß ist, daß „atypische“ Fälle, die durch irgendwelche nicht vorhersehbare, nicht kontrollierbare „zufällige“ Umstände ins Korpus gelangen, das Forschungsergebnis nicht entscheidend beeinflussen können. Zahlen sind hier wiederum nur sehr schwer zu nennen. Wenn zwei Kategorien eine sehr starke Abhängigkeit voneinander zeigen, dann kann die Zahl der Versuche kleiner sein, als wenn zwei Kategorien nur sehr locker zusammenhängen. Es wurde oben (2.2.2.) schon gezeigt, daß der Zufallsfehler um so kleiner wird, je größer die absolute Größe der Auswahl aus der unendlich großen Anzahl der Texte, die produziert werden (können), ist.
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Alle Forschungsunternehmen können vorerst nur einen Ausschnitt der möglichen und empirisch vorkommenden Redekonstellationstypen und der ihnen entsprechenden Textsorten erfassen. Vollständigkeit in diesem Bereich kann erst angestrebt werden, wenn es einmal eine qualitative und quantitative Beschreibung dieser Phänomene gibt (Nikitopoulos 1974, Bungarten 1979, 43). Dies gilt auch für die Sprac hgeographie (vgl. Gluth 1976, 10 8). Die Karten des DSA, DWA und der Regionalatlanten repräsentieren Sprachmaterial, das mit den oben (vgl. 5.2.) beschriebenen Versuchsanordnungen gewonnen wurde. Das Material besteht in seiner Masse nur aus Zitaten aus dem tatsächlichen Sprachleben. Eine Sprac hgrenze ist erst dann ausreichend beschrieben, wenn nicht nur die Ergebnisse von Fragebogenaktion und Direktbefragung von Einzelwörtern kartiert sind, sondern auch davon abweichende Sprachformen anderer Textsorten mit ins Kartenbild eingehen. Doch bei der Menge der redebestimmenden Faktoren ist es praktisch unmöglich, das dazu nötige Material durch gleichbleibende Versuchsanordnungen, bei denen nur der Parameter Raum verändert wird, zu gewinnen. Wäre dies möglich, könnte man für Sprecher mit gemeinsamen sozialen Merkmalen Sprachgrenzen aufstellen, man könnte auch eigene Isoglossen aufstellen für bestimmte Sprechsituationen und Themenbereiche: Erst diese Vielzahl von Grenzen miteinander kombiniert, ergäbe ein getreues Modell einer Sprachgrenze (vgl. Ruoff 1980 ). Erst die quantitative Analyse verschiedener Sprecher in verschiedenen Situationen liefert ein adäquates Bild der tatsächlich gesprochenen Sprache. In Ruoffs Schwarzwaldprojekt lassen sich u. U. entsprechende Ergebnisse erwarten: Die Totalaufnahmen erstrecken sich auf drei nicht weit auseinanderliegende Orte mit drei verschiedenen Dialekten (Kirchmeier 1973).
6.
Probleme der Repräsentativität bei der Darstellung und Interpretation dialektologischer Forschungsergebnisse
6.1. Vorbemerkung Die hier auftretenden Repräsentativitätsprobleme sind in der Dialektologie zunächst die gleichen wie in der sonstigen Sprachwissenschaft (oder auch in anderen Wissenschaften). Es geht dabei zunächst um physikalisch
meßbare Schallereignisse, die man mit Tonträgern konservieren und reproduzieren kann. Doch dann ist die eigentliche Arbeit der Analyse erst noch zu leisten: Die Schallereignisse werden nach bestimmten Gesichtspunkten segmentiert und klassifiziert. Dies geschieht in der Regel im Medium der Schrift. Die angewandten Schriftzeichen symbolisieren, repräsentieren auf irgendeine Weise die konkreten Äußerungen, die der Analyse zugrunde liegen (vgl. Art. 34 und 34 a). Eine vollständige Grammatik stellt so alle Möglichkeiten der Äußerung in einer Sprache dar. Sie beschreibt alle Elemente und Einheiten einer Sprache und gibt auch die Regeln an, die die Einzelelemente zu größeren Einheiten zusammenfügen. So gesehen ist eine Grammatik repräsentativ für eine gesamte Sprache, weil man mit der in ihr vorhandenen und beschriebenen Teilmenge von Äußerungen, sämtliche anderen möglichen Äußerungen erzeugen und beschreiben sowie vorhersagen kann. 6.2. Syntopische Untersuchungen Legt man die eben formulierten Überlegungen bei der Beurteilung von vorliegenden dialektologischen Untersuchungen zugrunde, dann kommt man zu dem Ergebnis, daß die Arbeiten im allgemeinen nur sehr kleine Aussc hnitte des Gesamtdialekts beschreiben. Die meisten Arbeiten beschäftigen sich mit der Lautseite der Sprache, auch Besonderheiten des Wortschatzes sind häufig noch miteinbezogen, weniger schon die Morphologie, und Arbeiten über die Syntax und aus dem suprasegmentalen Bereich sind vollends die Ausnahme. Eine Erklärung dieses Phänomens fällt nicht schwer: Lautung und Wortschatz sind Phänomene, die jedem als dialektale Besonderheiten sofort auffallen und dann auch als beschreibenswert betrachtet werden. Außerdem sind diese beiden Teilbereiche auch im Kleinraum lohnenswert zu erforschen und erfordern bei der Bearbeitung in der Regel einen geringeren Aufwand, als dies z. B. bei Syntaxdarstellungen der Fall ist. Die Darstellung der meisten Lautlehren ist historisch orientiert: Das Mittelhochdeutsche bzw. das Althochdeutsche (im Niederdeutschen Bereich ein hypothetisches Westgermanisch) werden mit dem Dialekt konfrontiert und die Unterschiede sehr häufig diachron interpretiert. Im allgemeinen lassen sich aus einer guten Arbeit dieser Art mit ihrem distributionell vorsortierten Material
23. Probleme der Repräsentativität in der Dialektologie
auch die Daten gewinnen, die zu einer strukturalistisch-taxonomisch-synchronen Beschreibung eines Dialektes nötig sind. Damit erfüllen diese Arbeiten hinsichtlich ihres Umfanges meist auch die Repräsentativitätsforderungen, wie sie heute an eine Darstellung der Phonologie eines Dialekts gestellt werden. Die Auffassung, daß die Dialekte der Hoc hsprac he untergeordnet sind, die Tatsache, daß sie in vielen Bereichen mit der Hochsprache konform gehen, d. h. große Teile der Grammatik gemeinsam haben, ist ein weiterer Grund für das Faktum, daß vor allem diejenigen Teile der Mundarten beschrieben wurden, die sich von der Hochsprache unterscheiden. Es wurden vor allem diejenigen Teile der Grammatik für beschreibenswert empfunden, deren Verschiedenheit von der Grammatik der Hochsprache offenkundig war. Das ist vor allem bei Phonologie, Wortschatz und z. T. auch bei der Morphologie der Fall. Bei den nur sehr großräumig unterschiedenen Phänomenen der Syntax und auch der Morphologie beschränken sich sehr viele Darstellungen auf Hinweise, die auffallende Eigenheiten betreffen (wie den Verlust des Präteritums, Zusammenfall von Dativ und Akkusativ) und setzen, bewußt oder unbewußt, stillschweigend den Rest der Grammatik gleich. Diese Auffassung wird zwar — soweit ich sehe — nirgends explizit vertreten, doch nur so lassen sich Arbeiten mit einem Titel nach dem Muster Die Mundart von [...], in denen dann nur eine Lautlehre mit Wortschatzbeispielen und Morphologie geboten werden, erklären (vgl. z. B. Winteler 1876: Lautlehre und Morphologie, ebenso Maurmann 1898, Tschinkel 190 8 und Bock 1965; Obernberger 1964: nur Lautlehre). Hier ist ein Mißverhältnis zwischen dem Repräsentativitätsanspruch und dem, was die Arbeit tatsächlich repräsentiert, vorhanden. Selbstverständlich kann aus dem Fehlen von Angaben in einer Mundartgrammatik nicht darauf geschlossen werden, daß die betreffenden Phänomene gleich der Hochsprache oder einer sonstigen Sprachform sind. 6.3. Diatopische Untersuchungen Genauso ist es bei dialektgeographischen Darstellungen. Hier ist die Besc hränkung auf den Bereich von Lautlehre und Wortschatz aus den schon beschriebenen Gründen (auch bei einem Titel der Arbeit, der sich auf den
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gesamten Dialekt bezieht) noch sehr viel häufiger (vgl. z. B. Gregory 1936 und Reiffenstein 1955: Lautlehre und Wortschatz; Trunkenbrod 1973: nur Lautlehre). Die Ergebnisse der Mundartforschung finden ihren Niederschlag in Sprachkarten. Die sich darauf befindenden Isoglossen wurden und werden aufgestellt auf Grund der verschiedenen Aufnahmeverfahren, die jeweils verschiedene Sprachformen erfassen und jeweils auch von der spezifischen Datenerfassung und der spezifischen Kartierungsform beeinflußt sind. Probleme, die sich aus dieser Tatsache ergeben, stellt Ruoff 1980 dar. Jede Grenzlinie, die gezogen wird, ist schon eine Interpretation (vgl. Händler/ Naumann 1976). Der gleiche Befund in Symboldarstellung kann in verschiedenen Isoglossenverläufen wiedergegeben werden (Boje 1968; vgl. auch Art. 25). Aber auch im Großraum verführt die suggestive Kraft von Sprachkarten vielfach zu Argumentationen, deren Last sie nicht tragen können. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Kombinationskarte von Theodor Frings (1957), der dieser einen großen Teil der Beweislast für seine These von der Ausbildung der nhd. Schriftsprache im mitteldeutschen Osten aufbürdet. Hier wird von wenigen Sprachatlaskarten zu viel „hochgerechnet“. Das Material repräsentiert in zweifacher Hinsicht nicht das, wofür es verwendet wird: Die Karten repräsentieren Dialektgrenzen, wie sie nach 1876 bestanden. Man kann sie deshalb nicht ohne weiteres als Zeugen von sprachlichen Zuständen, wie sie vor Jahrhunderten herrschten, verwenden. Zum anderen sind die ausgewählten Beispiele nicht repräsentativ für das Verhältnis von ostmitteldeutschen Dialekten und nhd. Schriftsprache. Es gibt eine ganze Reihe anderer wichtiger Erscheinungen, wo die beiden Sprachformen nicht übereinstimmen (Kuhn 1951, 62). — Auf diese Weise spielen Repräsentativitätsfragen auch bei der Interpretation von Sprachkarten (vgl. Goossens 1977, 74—101) immer eine große Rolle.
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24. Verfahren dialektologischer Karteninterpretation und ihre Reichweite
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Werner König, Augsburg
24. Verfahren dialektologischer Karteninterpretation und ihre Reichweite 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Graphische Information der Sprachkarte Daten Information durch das Kartenbild Zusatzinformationen durch die Sprachdaten einer Karte Information durch Kartenbildvergleich Zusammenfassung Literatur (in Auswahl)
1.
Graphische Information der Sprachkarte
1.1. Sprachkarte als Forschungsinstrument Zwar richten sich die Reichweite und die Verfahren dialektologischer Karteninterpretation — wie bei jeder Interpretation einer
486
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
thematischen Karte — grundsätzlich nach dem Erkenntnisinteresse (dem, was eine Karte zeigen soll) und den technischen Möglichkeiten (dem, was eine Karte zeigen kann). So ist es unmittelbar einleuchtend, daß eine Lautkarte gänzlich andere Interpretationen ermöglicht als eine Karte, die z. B. den Grad der Dialektalität oder die Verwandtschaft der Dialekte untereinander zum Thema hat. Gemeinsamer Nenner bei allen Unterschieden in Fragestellung und Interpretationsmöglichkeiten ist jedoch die Erwartung, daß das Darstellungsmittel Sprachkarte besondere Erkenntnisse liefert und insofern ein Forschungsinstrument ist. 1.2. Visualisierungsschritte Diese Erkenntnisse basieren auf der Wahrnehmung von Bildern, die durch die Visualisierung mindestens der geographischen Position der Daten zueinander erzeugt werden (Originaldatenkarte). Es liegt in der Konsequenz dieses Visualisierungsprinzips, daß darüber hinaus auch Ähnlichkeiten bzw. Verschiedenheiten zwischen den Sprachdaten besser sichtbar gemacht werden (Punktsymbolkarte; vgl. Art. 39) und/oder Verbreitungsgebiete ähnlicher Daten mit weiteren Mitteln graphisch dargestellt werden (z. B. Isoglossenkarte; vgl. Art. 25). 1.3. Kartenhersteller und Kartenbenutzer Mit jedem dieser Schritte erfolgen bereits Interpretationen, wobei mit zunehmender Visualisierung der Dokumentationscharakter der Karte abnimmt (Putschke 1969, 54 ff; Naumann 1976, 28 ff). Es ist also zu unterscheiden zwischen interpretatorischen Leistungen des Kartenherstellers und solchen des Kartenbenutzers. Mit der interpretatorischen Leistung des Kartenherstellers geht Vorwissen in die Karte ein, dessen Visualisierung neues Wissen erzeugen soll. Wann die interpretatorische Leistung des Kartenbenutzers einsetzt, hängt davon ab, welchen Visualisierungszustand der Kartenhersteller erreicht hat. Liegt als fertige Karte nur eine Originaldaten- oder Punktsymbolkarte vor, so bestehen die ersten Interpretationsschritte in der Entdeckung und Festlegung des Kartenbildes. Sofern dieser Interpretationsvorgang in den Prozeß der Kartenherstellung einbezogen ist, ist die Karteninterpretation die Auswertung des als Tatsache bereits akzeptierten Kartenbildes. Wenn auch im Folgenden die Interpretation durch den Kartenbenutzer im Vorder-
grund steht, so müssen doch bei jeder konkreten Interpretation alle genannten Faktoren, die bei der Herstellung eines Kartenbildes wirksam sind, mitberücksichtigt werden.
2.
Daten
2.1. Datenkategorien Hinsichtlich der Daten, die zur Herstellung und Interpretation einer Sprachkarte benötigt werden, ist zwischen folgenden Kategorien zu unterscheiden: (1) den Sprachdaten zu einer Karte (Themadaten oder Kartenthema); (2) den Lagedaten (Belegortsnetz); (der Bezug dieser Datenmengen aufeinander reicht zur Herstellung des Kartenbildes und zu dessen immanenter Interpretation aus); (3) den Zusatzdaten zu den Sprachdaten: (3 a) durch weitere Angaben zur Qualität der Sprachdaten (z. B. Hochsprach[ähn]lichkeit eines gegebenen Datums); (3 b) durch weitere Angaben zur Datenherkunft (z. B. Sprecher- oder Situationsmerkmale); (diese Datenmengen haben keinen selbständigen Status, sondern sie existieren nur in Bezug auf die Sprachdaten; sie können zur weiteren Interpretation des Kartenbildes gebraucht werden, ohne daß es sich hierbei um den Vergleich zwischen Kartenbildern handeln könnte); (4) den Vergleichsdaten: (4 a) den Themadaten zu anderen Sprachkarten (4 b) den Themadaten zu nichtsprachlichen Karten; (diese Datenmengen ergeben zusammen mit der Kategorie der Lagedaten potentiell weitere Karten, die zum Vergleich mit der gegebenen Sprachkarte herangezogen werden können). 2.2. Sprachdaten Bisher war nur abstrakt von Sprachdaten die Rede. Einerseits ist dies berechtigt, weil die Verfahren der Kartenbildinterpretation unabhängig von der Art der kartographisch dargestellten Sprachdaten (dem Kartenthema) sind: es kann, wenn es um die Deutung eines Kartenbildes geht, bis zu einem gewissen Grad gleichgültig sein, an welchen sprachlichen Phänomenen sich eine bestimmte geographische Verteilung zeigen läßt. Das Kartenbild selbst und seine Einzelheiten sind hier die Zeichen, die entschlüsselt werden sollen. Die räumliche Konfiguration der Daten zueinander enthält Informationen unabhängig davon, welches die
24. Verfahren dialektologischer Karteninterpretation und ihre Reichweite
kartierten Daten sind. Die Auswertung dieser Informationen ist eine Ebene der Karteninterpretation, die sich auf die formalen Charakteristika des Kartenbildes beschränkt. Was die Eigenschaften der Sprachdaten betrifft — seien es parole-Daten oder Umformungen von parole-Daten — so ist hier lediglich vorausgesetzt, daß die Kartierung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Merkmale eine Struktur in der räumlichen Verteilung erwarten läßt und daß das Kartenbild in diesem Sinne in einem Erklärungszusammenhang mit dem anderer raumabhängiger Sachverhalte steht. Andererseits stehen Datenart und Kartenbild auch im Zusammenhang, weil nur aufgrund der Beschaffenheit einer konkreten Datenmenge entschieden werden kann, welche kartographische Technik adäquat ist (z. B. ob Daten oder Datenmerkmale skalierbar sind; Grosse 1965, 314).
3.
Informationen durch das Kartenbild
3.1. Arten der räumlichen Beziehung Karteninterpretation besteht in der Erklärung von Kartenbildern. Grundannahme dabei ist, daß das Kartenbild seine Erklärung oder zumindest Hinweise zu seiner Erklärung bereits in sich trägt, indem die Kenntnis der räumlichen Position der Daten zueinander und vor allem die visuelle Darstellung dieser räumlichen Beziehungen Aufschlüsse über Beziehungen anderer Art geben. So kann z. B. räumliche Beziehung als zeitliche Beziehung interpretiert werden (Kartenbild als Momentaufnahme eines Bewegungsablaufs, d. h. diachrone Interpretation der diatopischen Darstellung; z. B. Weijnen 1977, 3; Löffler 1980 , 150 ff), oder sie kann interpretiert werden als Ähnlichkeitsbeziehung z. B. in etymologischer oder semantischer Hinsicht (räumliche Nachbarschaft kann auf Ähnlichkeiten aufmerksam machen, die sonst vielleicht nicht erkennbar wären). Elementare Bestimmungsstücke für areale Konfigurationen sind z. B. die folgenden räumlichen Beziehungen: (1) Die identischen oder ähnlichen Sprachdaten a1, a2 und a3 liegen nebeneinander, d. h. sie erscheinen als ein zusammenhängendes Gebiet. Ohne weiteres ist zu vermuten, daß räumliche Nachbarschaft und Ähnlichkeit oder Identität der Sprachdaten etwas miteinander zu tun haben.
487
(2) Die identischen oder ähnlichen Sprachdaten a1 und a2 liegen nicht nebeneinander, d. h. sie erscheinen nicht als ein zusammenhängendes Gebiet. Das Kartenbild fordert im Kontrast zu (1) in besonderem Maße zur Erklärung heraus. Der Widerspruch, der zu den unter (1) genannten Annahmen besteht, kann dadurch aufgelöst werden, daß eine vermittelnde Hypothese eingeführt wird (z. B. die, daß der räumliche Zusammenhang zu einem früheren Zeitpunkt bestanden h a t). (3) Sprachdatum a liegt zwischen den Sprachdaten b und c. Diese räumliche Konstellation bietet es generell an, die Eigenart des Datums a aus seiner räumlichen Nachbarschaft sowohl zu b als auch zu c zu erklären — z. B. als Kontamination aus b und c (Bach 1950, 157 ff). (4) Auch die Position eines Sprachdatums a in der Kartenfläche (Rand- oder Mittenlage) enthält Information, wenn man unterstellt, daß die Kartenmitte das Zentrum eines Sprachgebiets repräsentiert (Atten 1979, 214 ff; vgl. 3.3.1.). 3.2. Interpretierbare Merkmale der Arealbildung Die Erkennung eines Kartenbildes im Sinne der Konfiguration von Gebieten hängt stark mit der Isoglossentechnik zusammen. Die Interpretation solcher Kartenbilder setzt voraus, daß eindeutige Kriterien für den Begriff eines Gebietes und dessen Auffindung vorliegen. Nur dann können die nachfolgenden Charakteristika die Bedeutung haben, die ihnen hier zugesprochen wird. 3.2.1. Arealgrenzen Gebietsgrenzen können (a) geradlinig oder mäandrierend und (b) scharf oder unscharf sein (Maurer 1930, 823; Bach 1950, 120). Zu (a): Geradliniger Grenzverlauf wird normalerweise mit zeitlich stabilen, mäandrierender Grenzverlauf mit zeitlich instabilen Grenzen in Zusammenhang gebracht (vgl. 3.3.1.). Zu (b): Jedoch kann es auch aus anderen Gründen als der zeitlichen Instabilität Häufungen von gleichen Daten in einer bestimmten Region geben, deren Abgrenzung mittels der Isoglossentechnik zu stark mäandrierenden Linien führt (Bach 1950 , 121). Zu bedenken ist, daß hier die Vorstellung einer Grenzlinie überhaupt unangemessen sein kann, nämlich dann, wenn der Gebietsrand eigentlich als Übergangszone angesehen
488
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
werden müßte (vgl. Art. 25). Vor allem ist zwischen zwei Arten von Gebieten zu unterscheiden: kompakten und diffusen, wobei die diffusen Gebiete entweder als nicht mehr oder als noch nicht kompakt interpretiert werden können oder aber als solche Regionen, in denen sich die Auswirkungen von Störfaktoren besonders bemerkbar machen (vgl. 3.4.). Außerdem stellt sich die Frage, ob die geradlinige oder mäandrierende Grenze in einer Region liegt, die groß oder klein gekammert ist, wobei im letzteren Fall die Isoglosse unruhig verläuft, obwohl die Gebiete zeitlich stabil und scharf begrenzt sein können. 3.2.2. Arealgröße Bei der Frage der Interpretierbarkeit von Grenzverläufen wurde bereits die Arealgröße angesprochen. Im Folgenden soll danach gefragt werden, welche weiteren Informationen aus ihr gewonnen werden können. Dabei ist zu berücksichtigen, daß ein Areal in zweierlei Hinsicht groß oder klein sein kann: (a) in Bezug auf die anderen Gebiete auf einer Karte, (b) in Bezug auf die Gebietsbildungen in anderen Sprachkarten (vgl. die Wortkarten Bauc hsc hmerzen und klein bei König 1978, 174). Zu (a): Bestimmte Teile eines Sprachgebiets tendieren eher zu Kleinräumigkeit als andere (Bach 1950 , 63). Dem liegen Faktoren zugrunde, die in diesen Räumen selbst aufzufinden sind (z. B. Art und Alter der Besiedlung, räumliche Kontinuität von Machtzentren). Zu (b): In ähnlicher Weise tendieren bestimmte Arten von sprachlichen Phänomenen stärker zu Kleinräumigkeit als andere. So wird z. B. ein Zusammenhang gesehen zwischen Kleinräumigkeit und Intimwortschatz einerseits und Großräumigkeit und Marktwortschatz andererseits, der sich auf allen Beschreibungsebenen manifestieren kann (Bach 1950 , 170 ff; Hildebrandt 1968, 158; dagegen Atten 1979, 20 2 ff). Hier wirken also Faktoren auf die Gebietsbildung ein, die in der komplexen kommunikativen Funktion dieser Phänomene und der Art des Verhältnisses zur bezeichneten Sache zu suchen sind. In dem Maße, in dem solche Faktoren auf die areale Konfiguration einwirken, kann die Arealgröße in die Interpretation einbezogen werden. 3.3. Arealformen Ein wesentlicher Antrieb für die Beschäfti-
gung mit Dialekten besteht darin, daß sie sich in besonderem Maße für die Erforschung des Sprachwandels eignen, weil sie dem Ideal der natürlichen Sprache am nächsten kommen. Demnach stellen Sprachkarten aus synchron gewonnenen Daten Momentaufnahmen dauernder Bewegungs- und Veränderungsprozesse dar. Bewegung im Raum heißt folglich prinzipiell auch Bewegung in der Zeit (Maurer 1956, 26; Gilliéron/Mongin 190 5, 4 f; Jud 190 8, 84). Implizit mit dieser Vorstellung stellt sich die Frage nach den bewegungsverursachenden, -fördernden und -hemmenden Faktoren, gewissermaßen nach dem Gefälle, das bei der Annahme einer Strömungsbewegung unterstellt werden muß (Hard 1966, 10 f; Hildebrandt 1968, 153). Kartenbildimmanente Interpretation — um die es im Folgenden gehen soll — hat deshalb das Ziel, den Bewegungsablauf anhand des Kartenbildes selbst zu rekonstruieren und damit zu dynamisieren. Dies ist in dem Maße möglich, in dem aus der Art der im Kartenbild erstarrten Gebietsformen auf die Eigenart des Bewegungsprozesses und seine Ursachen geschlossen werden kann. Arealformen, die derartige Schlüsse zuzulassen scheinen, sollen im Folgenden dargestellt werden, und zwar unter den Aspekten der Fortgeschritten- und Gerichtetheit des Prozesses. In der traditionellen Sprachgeographie wird zwischen kontinuierlichem und punktuellem Vorrücken von sprachlichen Phänomenen unterschieden (Bach 1950 , 135 ff). Das Darstellungsmedium Sprachkarte evoziert die Vorstellung einer flächenhaft sich vollziehenden Veränderung; jedoch darf die vertikale Dynamik nicht außer acht gelassen werden, auch wenn sie sich im Kartenbild u. U. nur in zunehmender Diffusität manifestieren mag. Hiervon unberührt ist die Unterscheidung zwischen Sprachbewegung und Sprecherbewegung (Migration), die bei der Karteninterpretation als Bewegungsablauf prinzipiell mitbedacht werden muß und insbesondere bei der historisch orientierten Dialektologie des deutschen Sprachgebiets eine bedeutende Rolle spielt (Westgebiete versus Ostgebiete; Frings 1956, 11 f versus Mitzka 1935, 4 f; Mitzka 1940, 2 f). 3.3.1. Indikatoren für kontinuierliches Vorrücken Die meisten Arealformen lassen sich auf zwei Grundmuster von arealen Konfigurationen zurückführen. Im Folgenden werden solche Grundmuster (vgl. Putschke 1974,
24. Verfahren dialektologischer Karteninterpretation und ihre Reichweite
489
Abb. 24.1: Kreis (nach Weijnen 1977, Karte 3)
Abb. 24.2: Stern (nach Weijnen 1977, Karte 6) 354), die das jeweilige Ideal darstellen, Kartenbildern gegenübergestellt, die als Realisationen der Grundmuster angesehen werden. (1) Kreis: Ein sprachliches Phänomen breitet sich gleichmäßig von einem Zentrum (Z) her aus (vgl. Abb. 24.1). Bei ausbreitungsfördernden bzw. -hemmenden Einflüssen, die im Raum ungleichmäßig verteilt sind, wird der Kreis zu Arealformen wie Sternen oder anderen vom Kreis ableitbaren Formen verzerrt (vgl. Abb. 24.2). Bei Karten, die gleichzeitig mehrere Phänomene in dieser Ausbreitungsart zeigen, ergibt sich die Arealform Stufen- oder Staffellandschaft (vgl. Abb. 24.3). Die besondere Information dieser arealen Konfiguration besteht zum einen darin, daß bei den verglichenen Phänomenen die Ausbreitungsgeschwindigkeit oder auch der Zeitpunkt des Ausbreitungsbeginns verschieden sein können, so daß die Gesamtkonfigu-
Abb. 24.3: Stufen- oder Staffellandschaft (nach Hard 1972, Abb. 1) ration diachron interpretiert werden kann. Zum anderen kann das Zentrum einer derartigen Konfiguration mit größerer Sicherheit lokalisiert werden (vgl. Abb. 24.4). Unter Zentrum wird hier zunächst lediglich der geometrische Schwerpunkt der Figur verstanden. Er ist interpretierbar als Ort der Ursache dieser Arealbildung, wobei das Kar-
490
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Abb. 24.4: Bewegungsrichtungen bei der Staffellandschaft
Abb. 24.5: Zersplitterter Block (nach Weijnen 1977, Karte 8)
Abb. 24.6: Geradliniger Isoglossenverlauf (nach Goossens 1969, Karte 27)
24. Verfahren dialektologischer Karteninterpretation und ihre Reichweite
tenbild selbst allerdings keine Aussagen über die Ausbreitungsrichtung (nach außen oder von außen) erlaubt (vgl. Abb. 24.4). Ein weiter fortgeschrittenes Stadium der kreisförmigen Ausbreitung, die bereits fast das ganze Untersuchungsgebiet eingenommen hat, zeigt Abbildung 24.5. Wenn die Sprachphänomene an den Rändern identisch sind, so deutet dies auf ein ursprünglich zusammenhängendes Gebiet hin. Damit wird auch ohne weitere Information die Ausbreitungsrichtung vermutbar, weil die Existenz einer derartigen Figur in umgekehrter Ausbreitungsrichtung extrem unwahrscheinlich ist. Entscheidend für die Frage, ob diese Randformen tatsächlich relikthaft sind, ist die Überprüfung des Kartenausschnitts, die sicherstellen muß, daß das Kartenbild nicht nur einen irreführenden Ausschnitt aus dem Gesamtzusammenhang darstellt (vgl. 3.1. (4)). Es wird deutlich, daß unter diesen Voraussetzungen auch die Relation zum Kartenrand interpretierbar ist. (2) Geradliniger Isoglossenverlauf: Dieses Kartenbild (vgl. Abb. 24.6) enthält keine Information außer der, daß zwei Gebiete aneinandergrenzen (Gebiete im Ruhezustand, wenn man dem geradlinigen Isoglossenverlauf die oben erwähnte Interpretation zuschreibt, da keine Arealformen erkennbar sind, vgl. 3.2.1.). Im Gegensatz zu den aus dem Grundmuster des Kreises abgeleiteten Arealformen läßt sich bei den folgenden kein Zentrum im Sinne eines geometrischen Mittelpunktes einer Figur feststellen. Es kann offen bleiben, ob es sich hier um einen Ausschnitt aus einer Gesamtkonfiguration handelt, die einen geometrischen Mittelpunkt hat, oder ob auch bei der Gesamtdarstellung ein geometrischer
Abb. 24.7: Bewegungsrichtungen beim Keil
491
Schwerpunkt nicht erkennbar ist. Diese Arealform (vgl. Abb. 24.7), deren äußere Gestalt mit der vermuteten Bewegung direkt in Verbindung zu bringen ist, wird als Keil bezeichnet, wobei aber die Richtung der Bewegung aus der Konfiguration allein nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden kann.
Karte 24.1: Keilförmiger Vorstoß nach Norden (nach Bach 1950, 139) Betrachtet man auch hier wiederum mehrere Phänomene gleichzeitig, so können sich Figuren wie z. B. die des Fächers (vgl. Abb. 24.8) ergeben. Im wesentlichen nimmt diese Figur eine vermittelnde Stellung zwischen deformierter Staffellandschaft und mehrfach sich wiederholendem Keil ein. Aus dem Kontrast zu den im Folgenden zu erörternden Arealformen läßt sich bei den bisher genannten Formen schließen, daß die Ausbreitung kontinuierlich erfolgt.
492
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Abb. 24.8: Fächer (nach Frings 1957, Karte 2)
Abb. 24.9: Inseln als Vorposten oder Nachhut
Abb. 24.10: Trichter (aus König 1978, 140)
24. Verfahren dialektologischer Karteninterpretation und ihre Reichweite
493
3.3.2. Indikatoren für punktuelles Vorrücken Daß es überhaupt verschiedene Arten der Ausbreitung (vgl. 3.3.) gibt und daß das Kartenbild Aufschlüsse darüber zuläßt, ergibt sich aus dem Vorkommen folgender Konfigurationen (vgl. Abb. 24.9). Dieses punktuelle Vordringen ist mit der Vorstellung des Strömens nicht mehr in Einklang zu bringen und gibt Anlaß zur Differenzierung des vorläufigen Begriffs Gefälle. Zeitliches Nacheinander und soziales Untereinander muß nicht notwendigerweise etwas mit unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft zu tun haben; offensichtlich pflanzen sich sprachliche Veränderungen auch sozialgruppenspezifisch von Insel zu Insel fort, je nachdem wie die sozialen Gruppen im Raum verteilt sind (Fernstrahlung). Aus dem Kartenbild selbst ist die Richtung der Ausbreitung (Inseln entweder als Vorposten oder als Nachhut verstehbar) nicht zu erschließen. Kontinuierliche und punktuelle Ausbreitungsart können gleichzeitig vorkommen und ihre Abbilder in der Karte sind oft nicht eindeutig voneinander zu unterscheiden. Ein Beispiel für das Zusammenwirken beider Bewegungsarten ist der Trichter (vgl. Abb. 24.10).
Karte 24.2: Inseln als Reliktgebiete (nach Bach 1950, 149)
Abb. 24.11: Schlauch (aus König 1978, 140)
494
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Der Trichter ist also eine zwischen dem Keil (kontinuierliches Vordringen) und der Insel (punktuelles Vordringen) vermittelnde Arealform, die sich vom Keil durch ihren ‘Flaschenhals’, von der Insel aber durch die Verbindung mit dem ‘Festland’ unterscheidet. Wie schwierig die Erkennung einer solchen aus den zwei unterschiedlichen Bewegungsarten gebildeten Arealform ist (Becker 1942, 59 ff), macht der Hinweis auf die Arealform Schlauch (vgl. Abb. 24.11) deutlich, die als Indiz für kontinuierliches Vorrücken entlang eines Verkehrsweges angesehen wird, aber wie auch der Keil dem Trichter sehr ähnlich sein kann. 3.4. Probleme der kartenbildimmanenten Interpretation Generell ist es ein Problem der kartenbildimmanenten Interpretation, daß verschiedene Ursachen zu ähnlichen Kartenbildern führen können (Weijnen 1977, 31; Remmel 1979, 20 ). Es ist zu berücksichtigen, daß den Idealtypen in der Realität des empirischen Materials nur durch Zufallseinflüsse verzerrte Gebilde entsprechen — und zwar durch Zufälle in der Datengewinnung (Fehlervarianz) und Zufälle im Ablauf des tatsächlichen Sprachwandels. Die Unterscheidung von zufällig entstandenen (bedeutungslosen) und nichtzufälligen (interpretierbaren) Zügen des Kartenbildes ist dringend notwendig; die Grundlage dazu ist bislang aber nur die Erfahrung im Umgang mit Sprachdaten. Es erscheint daher wenig sinnvoll, sehr viele und daher sich immer ähnlichere Idealtypen voneinander unterscheiden zu wollen. Die Reichweite der kartenbildimmanenten Interpretation der Arealformen ist generell auch dadurch weiter eingeschränkt, daß die Idealtypen — selbst wenn sie im Kartenbild sicher identifiziert werden können — ihrerseits mehrdeutig oder nicht genügend eindeutig sind. Die Arealformen sind nur als Indikatoren einer Entwicklung oder Bewegung interpretierbar, erlauben aber keine qualitativen Aussagen über die Bewegungsintensität und -dauer sowie über deren Verursachung. Ob ein aus dem Betrachten des Kartenbildes zunächst erkanntes Grundmuster der Realität entspricht, kann nur eine weitergehende, kartenbildtranszendierende Interpretation abklären. Das Kartenbild als solches ermöglicht Hypothesen, die weiter geprüft werden müssen (Schützeichel 1965, 30 f; Hard 1972, 36). Sein Wert besteht
im wesentlichen darin, die Richtung für bestimmte Hypothesen anzugeben. Axiome der Karteninterpretation müssen als Wahrscheinlichkeitsregeln — bisher weitgehend ungeklärten Grades — aufgefaßt werden (Wolf 1975, 65; Weijnen 1977, 25 ff).
4.
Zusatzinformationen durch die Sprachdaten einer Karte
Soviel zunächst zur Interpretation, die allein auf der Wahrnehmung der räumlichen Konfiguration der Daten beruht. Über diese formale Information des Kartenbildes hinaus enthalten die Daten Informationen anderer Qualität, die zur weiteren Interpretation der arealen Konfiguration mitverwendet werden können. In dieser Phase der Karteninterpretation wird mitberücksichtigt, was die areale Konfiguration bildet, d. h. ihre inhaltliche Füllung — z. B. hochsprachliches versus dialektales, altes versus neues (vgl. die Wortkarte Sc hwiegersohn bei König 1978, 169) oder mehrwertiges versus minderwertiges sprachliches Phänomen (vgl. Karte 24.3 in 5.4.1.). Derartige Beurteilungen der Daten und entsprechende Annahmen (etwa daß neuere Formen ältere oder hochsprachliche Formen dialektale verdrängen) können dazu führen, daß Hypothesen, die aus der Betrachtung der bloßen arealen Konfiguration gewonnen werden, präzisiert werden. So können z. B. Aussagen über eine Bewegungsrichtung gemacht werden, über die das Kartenbild allein keinen Aufschluß gibt.
5.
Informationen durch Kartenbildvergleich
5.1. Möglichkeiten der Hypothesenüberprüfung Die weiteren Schritte der Karteninterpretation — nämlich die der Hypothesenüberprüfung — bestehen darin, die Sprachdaten der gegebenen Karte mit weiteren Daten in Beziehung zu setzen. Die Auswahl der Vergleichsdaten bzw. -karten richtet sich nach Vermutungen über einen Erklärungszusammenhang oder doch zumindest über ein ähnliches Kartenbild. Je nach der Richtung, in die diese Vermutungen gehen, können die gewählten Vergleichsdaten nichtsprachlich oder ebenfalls sprachlich sein. Entsprechend ist zwischen außer- und innersprachlicher Interpretation zu unterscheiden.
24. Verfahren dialektologischer Karteninterpretation und ihre Reichweite
495
5.2. Außersprachliche Interpretation
5.2.2. Politische Gliederung: Territorien
Eine rudimentäre außersprachliche Interpretation besteht bereits darin, daß die Themakarte ja einem realen geographischen Raum zugeordnet ist (d. h. eine Grundkarte unterlegt wird) und daß damit von vorneherein ein Wissen über außersprachliche Daten vorhanden ist. Die entwickelte Form dieser Interpretationsrichtung ist jedoch erst der Vergleich mit Daten, die den betreffenden Raum charakterisieren und gleichzeitig in einem adäquaten Verhältnis zu den gegebenen Sprachdaten stehen. Im Prinzip lassen sich zwei Arten von außersprachlichen Vergleichsdaten nach ihrer zeitlichen Beziehung zu den gegebenen Sprachdaten benennen: Daten zum selben Zeitpunkt und Daten zu einem anderen — meist vergangenen — Zeitpunkt. Welche Daten und welches zeitliche Verhältnis der Daten zu den gegebenen Sprachdaten adäquat sind, hängt von der Fragestellung des Interpreten ab. Auch wenn hierfür eigentlich nur zeitgleiche Daten adäquat sein können, so ist ein Vergleich mit vorangegangenen außersprachlichen Strukturen doch dann statthaft, wenn abgeleitet werden kann, daß beide in einem ursächlichen Verhältnis zueinander stehen. Dabei wird man davon ausgehen können, daß ein zur sprachlichen Verteilung passender außersprachlicher Sachverhalt eines früheren Zeitpunktes auch außersprachlich noch in veränderter Form nachwirkt (Haag 190 0 , 141) und daß hier der Erklärungszusammenhang zur sprachlichen Raumbildung zu suchen ist. Ein Erklärungszusammenhang gilt als um so wahrscheinlicher, je größer die Koinzidenz zwischen den Konfigurationen der sprachlichen und außersprachlichen Daten ist. — Außersprachliche Vergleichsdaten liegen in verschiedener Qualität, Eindeutigkeit und Kompatibilität zu den Sprachstrukturen vor.
Wesentlichere Faktoren scheinen die historischen Grenzen zu sein, weil sie als sozialer Sachverhalt dem Gegenstand Sprache angemessener sind (König 1978, 142 f). Doch ist die Frage, ob die germanischen Stammes-, mittelalterlichen Herrschafts- oder frühneuzeitlichen Territorial- und Verwaltungsgrenzen staatlicher und kirchlicher Art als erklärende Momente bevorzugt werden müssen, bisher nicht befriedigend geklärt worden (Moser 1954, 90 ff; Hard 1966, 7 f). Unter dem Gesichtspunkt der methodischen Stringenz der Karteninterpretation ist es vielmehr entscheidend, nach der Übereinstimmung sprachlicher Areale mit Verbreitungsgebieten solcher außersprachlicher Sachverhalte zu suchen, die bereits vor dem Vergleich als Ursache angenommen worden sind. Zumindest gehört es zu den vordringlichen Aufgaben dieser Interpretationsphase, eine entdeckte Übereinstimmung — sofern keine vorgängige Hypothese zu einem Zusammenhang vorlag — zu begründen.
5.2.1. Physikalische Gliederung: Naturräume Die nächstliegenden Vergleichsdaten sind naturräumliche Schranken und Hindernisse wie Wälder, Moore und Gebirge. Sie stellen Kommunikationsbehinderungen dar, können jedoch nur mit wenig Recht als direkte Ursache für sprachliche Raumbildung angesehen werden (Maurer 1930 , 823; Moser 1954, 88). Daten dieser Art entsprechen einer sehr vorläufigen Operationalisierung des Begriffs Verkehr (vgl. 5.3.2.).
5.2.3. Soziale Gliederung: Verkehr Einen weiteren Schritt in der Erklärung des Kartenbildes stellt die Berücksichtigung der Interaktionsbeziehungen dar: des Verkehrs im engeren und weiteren Sinne, der sich oft nach gegebenen territorialen Grenzen richtet und als eigentliche Ursache der Bildung von Sprachlandschaften angenommen werden muß. Verkehr im engeren Sinne, der im wesentlichen auf das Straßen-, Wege- und Flußnetz beschränkt bleibt, muß von dem z. T. auch immateriellen Austausch durch sprachliche Verständigung jeglicher Art unterschieden werden. Die Projektion von Verkehrswegen und -knotenpunkten auf eine zunächst nur hypothetisch identifizierte Arealform in der Sprachkarte sichert die Identifikation weiter ab, indem sie die Konfiguration erklärt (vgl. Abb. 24.11). Die Interpretation einer Sprachkarte mit Daten zum Verkehr im weiteren Sinne ist abhängig von speziellen Hypothesenbildungen und beim gegenwärtigen Forschungsstand weitgehend der Findigkeit des Kartenbenutzers überlassen. Die Spannbreite solcher Daten reicht von einfachen demographischen Informationen bis hin zu Merkmalen des Sozialprestiges, des Gefühls der Gruppenzugehörigkeit etc. (Moser 1954, 100 ff). Die Auswirkungen des sozialen und ökonomischen Wandels — besonders in neuerer Zeit (Industrialisierung, Bildung eines Indu-
496
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
strieproletariats und Entstehung von großen Ballungsräumen etc.) — sind zwar schon früh als raumrelevante Faktoren erkannt worden (Hard 1966, 8), sind aber nur selten, ebenso wie Ansätze der Soziolinguistik und Sprachsoziologie, in konkreten Interpretationskonzepten behandelt worden (Debus 1962, 1 ff; Hildebrandt 1968, 151 ff). — In die Interpretation ist einzubeziehen, daß sich areale Konfigurationen dieser Art ihrerseits im Fluß befinden. 5.3. Probleme der außersprachlichen Interpretation Dem Gedankengang nach — einige beispielhafte Untersuchungen entsprechen dem auch — scheinen die hier vorgestellten Interpretationsphasen: Kartenbilderkennung, Zuordnung zu einem Konfigurationstyp und Überprüfung der aufgestellten Hypothese durch Vergleich mit außersprachlichen Sachverhalten, hinreichend zu sein. Generell ist aber zu bedenken, daß zum einen eine strenge Hypothesenüberprüfung über die Veränderung arealer Konfigurationen in der Zeit nur möglich wäre, wenn unmittelbar vergleichbare Sprachdaten zu mehreren Zeitpunkten vorlägen oder vorliegen, was aber nur die Ausnahme darstellt (Beispiel Metzger/Fleisc her bei König 1978, 196 f). Zum anderen haben Versuche zur Simulation von Verbreitungsvorgängen gezeigt, daß das Ergebnis nicht den Erwartungen entspricht, obwohl die eingegebenen Erklärungsdaten als hinreichend angesehen wurden (Hard 1972, 40 ff). Schließlich bleibt zu fragen, ob einige Glanzlichter der Karteninterpretation nicht vielleicht doch darüber hinwegtäuschen, daß die große Masse der in Sprachkarten gezeigten Phänomene mit den bisherigen Interpretationsmethoden nicht erklärt werden kann. Es bleibt daher weitgehend der Intuition bzw. der langjährigen Erfahrung des Kartenbenutzers überlassen, zufällige, also nicht interpretierbare Züge des Kartenbildes von informationshaltigen zu unterscheiden. Die Kriterien, die aus dieser Erfahrung resultieren, sind allerdings kaum expliziert; das Verfahren der Arealformerkennung ist nicht objektiviert. 5.4. Innersprachliche Interpretation Mit der Betrachtung einer Karte vor dem Hintergrund der sprachgeographischen Erfahrung — also im impliziten Vergleich zwi-
schen Sprachkarten — erfolgt bereits eine rudimentäre innersprachliche Interpretation, ähnlich wie bereits bei der bloßen Kenntnis des Untersuchungsgebiets eine außersprachliche Interpretation einsetzt. — Neben dem Vergleich sprachlicher Konfigurationen mit außersprachlichen Daten haben sich komplexere Interpretationsgrundlagen in der Auseinandersetzung mit strukturalistisch und statistisch orientierten Theoremen in der Dialektologie ergeben. Gemeinsam ist diesen beiden Ansätzen das Ziel, Konfigurationen isolierter sprachlicher Phänomene systematisch zueinander in Beziehung zu setzen und so eine atomistische Beschreibungsweise zu überwinden. In beiden Richtungen soll vom einzelnen Fall (der immer auch ein Zufall sein kann) abstrahiert werden. 5.4.1. Strukturalistisch orientierter Ansatz Der strukturalistisch orientierte Ansatz i n der Sprachgeographie operiert mit der Grundannahme, daß in der Kartierung eines einzelnen sprachlichen Phänomens — und gerade, wenn man sich darauf beschränkt — die Datenklassifikation nach Kriterien erfolgt, deren Wichtigkeit unter dem Gesichtspunkt des Systemcharakters der Sprache gänzlich ungeklärt ist. Das Ziel dieses Ansatzes ist es, die areale Konfiguration systemar verschiedener Eigenschaften sprachlicher Phänomene darzustellen — Konfigurationen, die sich von denen in herkömmlichen Karten unter Umständen unterscheiden. Trotzdem können Karten herkömmlicher Art einer strukturellen Interpretation zugrunde gelegt werden, so daß im weiteren zu unterscheiden ist zwischen struktureller Interpretation von (nicht unter diesem Gesichtspunkt hergestellten) Karten und der Herstellung und Interpretation einer strukturellen Karte. Strukturelle Interpretation von Karten der traditionellen Sprachgeographie ist zunächst — sofern das Material dies überhaupt zuläßt — die Neubearbeitung von Grund auf (Abstraktion von systemirrelevanten Unterscheidungsmerkmalen bei Datenklassifikation und -darstellung). Die strukturell orientierte Interpretation vollendet sich jedoch erst im Vergleich solcherart bearbeiteter Karten, wobei die Summe dieser Karten das System teilweise oder im Idealfall ganz abbildet. Der Vergleich der einzelnen Kartenbilder zielt im wesentlichen auf die Erklärung der arealen Konfiguration des einzelnen Phänomens als Indiz des Sprachwandels
24. Verfahren dialektologischer Karteninterpretation und ihre Reichweite
durch systemar verlaufende Prozesse in der Sprache selbst (vgl. Karte 13.1). Die integrierende Darstellung der Systemteile in einer Karte macht die strukturelle Karte aus. Die Daten einer solchen synthetischen Karte sind abstrakter und komplexer und vom strukturalistischen Standpunkt aus gesehen die relevanten. Aber letzten Endes impliziert die Entscheidung zur Darstellung im geographischen Raum eine Interpretationsmethodik, die sich von der bei herkömmlichen Kartenbildern nicht unterscheidet: die in 5.3. genannten Probleme bleiben im Prinzip dieselben. Die bisher getroffenen Feststellungen lassen sich auf alle Beschreibungsebenen beziehen. Allerdings tritt bei der Behandlung lexikologischer Fragestellungen das Problem der Bedeutung in besonderem Maße hervor, vor allem dann, wenn von struktureller Sprachgeographie die Rede ist. Da die lexikalische Beschreibungsebene diejenige ist, auf der selbständige bedeutungstragende Einheiten auftreten, ergibt sich hier die Möglichkeit von Grenzen zwischen unterschiedlichen Wortinhalten, die nicht mit den Konfigurationen der Zeichenaußenseite übereinstimmen müssen. Mit anderen Worten: es muß davon ausgegangen werden, daß bei Kartenbildern zu bedeutungstragenden Einheiten Unterschiede in deren räumlicher Verteilung nicht sichtbar werden, wenn die Darstellung nur unter dem Gesichtspunkt der ausdrucksseitigen Ähnlichkeit erfolgt (Staib 198 0 , 10 5 ff). Eine Wortkarte herkömmlicher Provenienz, bei der onomasiologisch nach der Bezeichnung zu einer gegebenen Sache gefragt wird, zeigt ja in der Regel nicht, ob die auf der Karte vorkommenden Ausdrücke überall denselben Zeicheninhalt haben und in welchen anderen Kartenthemen, vor allem sachlich oder semantisch benachbarten, diese Ausdrücke ebenfalls vorkommen (vgl. Art. 80 ). Dieses Problem und Sachstrukturen, die im Untersuchungsgebiet verschieden sein können (vgl. Beispiel Sahne bei König 1978, 222 f), müssen bei der Interpretation des Kartenbildes mitberücksichtigt werden, weil auch diese Faktoren raumbildende Wirkung haben können (z. B. Streugebiete, Häufung von Doppelantworten und ähnliches, die durch semantische Besonderheiten bedingt sein können; vgl. Schlesischer Wortatlas, Karte 70 die bauchige Tonflasche). Die Erkenntnis, daß die Strukturen der Zeichenaußenseite und der Wortinhalte zu unterschiedlichen Konfigurationen führen
497
können, bedeutet für die Interpretation von Wortkarten, daß diese nur dann als vollständig gelten kann, wenn sie unter onomasiologischen und semasiologischen Gesichtspunkten erfolgt (Wiegand 1970 , 247 ff). Mit der strukturellen Semantik wird ein Instrumentarium zur Beschreibung von Wortinhalten bereitgestellt, das auch zur Geographie der Verschiedenheit von Wortinhalten verwendet werden kann (vgl. Art. 80). Eine Interpretation von Sprachkarten durch andere Sprachkarten erfolgt auch außerhalb eines strukturalistischen Ansatzes im engeren Sinne, nämlich auf der Basis der allgemein unbestrittenen Annahme, daß Isoglossen Funktionen anderer Isoglossen sein können, d. h. es wird hier von einem Zusammenhang der Elemente einer Sprache ausgegangen, ohne daß explizit strukturalistische Beschreibungsmodelle vorliegen oder vorliegen sollen (z. B. Verbreitungsgebiet trecken für ziehen und Trec ker für landwirtschaftliche Zugmasc hine; Eichhoff 1980 , 156 ff). Diese Interpretationsmethode scheint insbesondere zur Rekonstruktion eines Ausbreitungsprozesses geeignet zu sein, indem areale Konfigurationen verschiedener, aber vergleichbarer sprachlicher Phänomene als verschiedene Stadien im zeitlichen Ablauf gedeutet werden (vgl. Karte 24.3; vgl. auch 3.2.2.). 5.4.2. Statistisch orientierter Ansatz Neben strukturellen Verfahren in Phonologie, Morphologie und Lexikologie zur Interpretation räumlicher Konfigurationen hat sich auch eine quantitativ und weitergehend statistisch orientierte Betrachtung räumlicher Konfigurationen etabliert. Es geht hier weniger um die Beobachtung bestimmter sprachlicher Phänomene im systemaren Zusammenhang als um die Konstruktion und Interpretation von Kartenbildern, deren Daten die verschiedenen Häufigkeiten sind, in denen sich Ortspunkte bei einer größeren Menge sprachlicher Phänomene voneinander unterscheiden. Der quantitative Beschreibungsansatz liegt bereits mit den sog. Wabenkarten vor und ist in der Folgezeit weiterentwikkelt worden (vgl. auch Art. 25). Von arealen Konfigurationen kann hierbei gesprochen werden, wenn sich überzufällige Verteilungen zeigen. Die arealen Konfigurationen in solchen Karten sind aber auch davon abhängig, ob das Ausmaß der Abweichungen von einem bestimmten Ortspunkt zu allen anderen definiert wird oder immer nur für jeweils benachbarte Ortspunkte gilt. Im ersten Fall
498
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Karte 24.3: Synchrone Konfigurationen als Ausbreitungsstadien (aus Hard 1972, Abb. 3) sind die erkennbaren Arealcharakteristika nur in Abhängigkeit vom Bezugspunkt zu interpretieren, da sich das Kartenbild ändert, wenn ein anderer Bezugspunkt angenommen wird (Goebl 1977, 339; vgl. Art. 45). Gleiches gilt, wenn der Bezugspunkt nicht räumlich sondern zeitlich oder sprachsoziologisch definiert wird, z. B. das Verhältnis der Sprachdaten zum Neuhochdeutschen untersucht wird. Im zweiten Fall — schon bei der Wabenkarte — ist die Abbildung der Arealcharakteristika gewissermaßen absolut, was bedeutet, daß die sichtbaren Konfigurationen nicht nur wie die Konfigurationen eines einzelnen sprachlichen Phänomens interpretierbar sind (vgl. 3.), sondern auch als Vergleichsgröße für einzelne Kartenthemen verwendet werden können. Mit ihnen kann die Frage beantwortet werden, wie typisch die betreffende Konfiguration im Verhältnis zu einer vorher ausgewählten Grundgesamtheit von Raumbildungen ist.
5.5. Probleme der innersprachlichen Interpretationsrichtungen Der statistisch orientierte Ansatz verspricht Aussagen über die sprachliche Tektonik einer Region in dem Sinne, daß eine Vielzahl von arealen Konfigurationen mit statistischen Kennwerten beschrieben wird. Es handelt sich um den Versuch, die immer subjektive — bisweilen kaum nachvollziehbare — Identifizierung von Arealformen zu objektivieren und das Chaos von Isoglossen mit solchen Kennwerten überschaubar zu machen (vgl. Karte 45.3). Die Datengrundlage bleibt jedoch — zumindest bei Ivić — die traditionelle (Ivić 1976, 130 ff). — Auch im strukturalistisch orientierten Ansatz wird Überschaubarkeit angestrebt und erreicht, indem alle nicht systemrelevanten Unterscheidungsaspekte von der weiteren Betrachtung ausgeschlossen bleiben — das Bestreben, große Mengen von Isoglossen statistisch zu beschreiben, scheint
24. Verfahren dialektologischer Karteninterpretation und ihre Reichweite
im strukturalistischen Ansatz deshalb gegenstandslos zu sein. Allerdings ist dieses Verfahren nicht dazu geeignet, den Zufall in der Verteilung sprachlicher Merkmale zu eliminieren. — Diese beiden Versuche der Überschaubarmachung sollten sich also ergänzen und stehen keineswegs in dem Gegensatz, der von den Vertretern beider Richtungen konstruiert wird (vgl. die Diskussion zu Ivić 1962, 123 ff).
6.
Zusammenfassung
Die Auswahl einer Karte zur Interpretation sowie alle Interpretationsphasen und Entscheidungen zur weiteren Interpretationsrichtung sind geleitet und begleitet vom speziellen Erkenntnisinteresse des Kartenbenutzers. Analytisch unterschieden — in der Praxis der Interpretation wohl in dauernder Wechselbeziehung — wurden folgende Interpretationsphasen: (1) dem Bild der Themakarte immanente (2) themadatenimmanente (3) Kartenbild und Themadaten transzendierende. Phase (1) ermöglicht Hypothesen, die in den Phasen (2) und (3) geprüft, präzisiert, gegebenenfalls modifiziert werden. Drehund Angelpunkt ist das Kartenbild; die weitergehenden Arbeitsschritte könnten im Prinzip auch ohne die Benutzung einer Karte geleistet werden. In der Phase der Interpretation einer Karte durch den Einbezug weiterer Daten bzw. anderer Kartenthemen (3) sind grundsätzlich zwei Richtungen zu unterscheiden: (3 a) außersprachliche Interpretation; die Fragestellung ist hier tendenziell interdisziplinär; (3 b) innersprachliche Interpretation; die Fragestellung verbleibt hier eher im Bereich der Sprachwissenschaft. Innerhalb der innersprach(wissenschaft)lichen Interpretationsrichtung wurden zwei Wege unterschieden: der strukturalistisch und der statistisch orientierte. Die oben genannten Phasen der Interpretation bauen logisch aufeinander auf; die Richtungen der transzendierenden Interpretation und ihre einzelnen Wege sind miteinander kompatibel.
7.
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500
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
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Klaus Gluth, Marion Lompa, Hans-Henning Smolka, Marburg
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
501
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Charakterisierung des Gegenstandsbereiches Zur Geschichte der dialektologischen ‘IsoTerminologie’ Systematische Aspekte der Kartierung von Sprachdaten Methodische Explikation einer sprachkartographischen Grenzbestimmung Literatur (in Auswahl)
Charakterisierung des Gegenstandsbereiches
„Das Feststellen und Abgrenzen des Verbreitungsgebietes sprachlicher Einzeltatsachen ist geübt worden, solange die Menschen sich mit dem Phänomen Sprache beschäftigen“ (Kuhn 1947/48, 25; vgl. auch Art. 1). Diese Feststellung gilt vor allem für die (Dialekt-)Sprecher selbst. Innerhalb der Dialektologie gilt sie vor allem für diejenigen Arbeiten, in denen mit der dialektgeographischen Methode gearbeitet wird (vgl. Art. 3). Seit der Frühzeit der am Thema ‘Sprache und Raum’ interessierten Darstellungen werden auf Dialektkarten Linien gezogen, die kartierte Dialektdaten begrenzen. Diese B e g r e n z u n g sl i n i e n a u f D i a l e k t k a r t e n, die der optischen Vereinfachung und damit der Übersichtlichkeit dienen, indem sie durch Gebietsbildung das Kartenbild für die Wahrnehmung strukturieren, sind Gegenstand dieses Artikels (vgl. auch Art. 39). Untersucht werden die Eigenschaften der Begrenzungslinien, wie sie sich historisch (vgl. 2.) und systematisch (vgl. 3. und 4.) darstellen, mit dem Ziel eines vertieften theoretischen Verständnisses dessen, was meistens — nämlich wenn der Terminus generisch gebraucht wird — mit Isoglossen bezeichnet wird. Isoglossen werden von Wissenschaftlern gemacht: daher geht es nachfolgend um die Terminologie und Methode der Isoglossenkonstruktion (Isoglossenfindung). Was Isoglossen sind, weiß man erst dann genau, wenn man einen Algorithmus für ihre Konstruktion angeben kann, der unmißverständlich kommunizierbar ist. Es geht also n i ch t um die Interpretation bereits ‘gefundener’ Isoglossen (vgl. Art. 24).
2.
Zur Geschichte der dialektologischen ‘Iso-Terminologie’
Zunächst wird eine wissenschaftshistorische Skizze der Entstehung, Entwicklung und Problematik der dialektologischen ‘Iso-Terminologie’ unter kritischer Berücksichtigung einiger der zugehörigen Definitionen gegeben. Diese Darstellung hat den Zweck — und nach diesem erfolgt die Literaturauswahl und Problemexegese — die zentralen terminologischen (insbesondere terminologiesemantischen), methodologischen und informationstheoretischen (semiotischen) Probleme, die mit Begrenzungslinien auf Dialektkarten verbunden waren und noch sind, in historischer Perspektive schrittweise so zu entfalten, daß eine möglichst präzise, explizite und detaillierte Problemformulierung möglich wird, und zwar als notwendige Voraussetzung für eine systematische und daran anschließende algorithmische Behandlung. 2.1. Bildungsweise der ‘Iso-Termini’ und Umfang der dialektologischen ‘IsoTerminologie’ Zur ‘Iso-Terminologie’ im Bereich der deutschen dialektologischen Fachsprache werden hier gerechnet: (1) alle Termini, die nach dem Wortbildungsmuster ‘ISO-GRUNDKONSTITUENTE’ gebildet sind und in sprachwissenschaftlichen Texten verwendet werden (bzw. wurden), um sowohl einzelne Exemplare von Begrenzungslinien als auch Typen oder Klassen solcher Linien zu bezeichnen wie z. B. Isoglosse, Isoglotte, Isophon, Isomorph, Isoform, Isofix, (vgl. Huber 190 9, 10 0 ), Isolex, Isosem, Isosyntax oder Flächen (Gebiete, Areale) auf Dialektkarten wie z. B. Isoglotte (vgl. Schütte 190 3/4, 270 ), Isoglosse (vgl. Maas 1973, 63; vgl. Lang 1982, 6.3.), Isofläc he (vgl. Putschke 1974, 335) und Isoquantore (vgl. Veith 1969, 70). (2) alle Termini, die Komposita sind (einschließlich ‘Bindestrich-Fügungen’), und deren Bestimmungskonstituenten selbst — nach dem Muster unter (1) gebildete — Termini sind und die in sprachwissenschaftlichen Texten verwendet werden (bzw. wurden), um entweder einzelne Exemplare von speziellen Konfigurationen von Begrenzungslinien oder Typen oder Klassen solcher
502
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Linienkonfigurationen (z. B. Trichter, Fächer, Staffel etc.; vgl. Art. 24) zu bezeichnen wie z. B. Isoglossen-Bezugskarte (vgl. Goossens 1969, 124), Isoglossensc hema (Markey 1977, 14), Isoglossenbündel, Isoglossenkarte, Isoglossensc hranke (vgl. Art. 82.1.), Isoglossenkonstellation, Isoglossenkonstellationstyp (vgl. König 1978, 141). Isoglossenfindung (Händler/Naumann 1976). (3) alle Termini, die Komposita (einschließlich ‘Bindestrich-Fügungen’) sind, und deren Grundkonstituente selbst — nach dem Muster unter (1) gebildete — Termini sind und die in sprachwissenschaftlichen Texten verwendet werden (bzw. wurden), um bestimmte Begrenzungslinien bestimmten sprachlichen Erscheinungen zuzuordnen, wie z. B. Lautversc hiebungsisoglosse (oder LV-Isoglosse; vgl. Beckers 1980 , 469), oder um eine bestimmte Klasse von Linien zu subklassifizieren, wie z. B. Leitisolexe (vgl. Art. 82.1.), bestimmte Linien mit einem Namen zu versehen, z. B. ‘maken/machen’-Isoglosse (oder: Benrather Isoglosse ≈ Benrather Linie; vgl. Wenker 1877, 8* und Karte 3.2.) oder die ‘i/e’-Isoglosse (vgl. Debus 1963, 37). (4) alle zwei- oder mehrgliedrigen terminologischen Fügungen wie z. B. isoglossische Linien und isoglossematisc he Linien (vgl. Saussure 1967, 242), phonometrisc he Isophonen der Quantität (Zwirner 1958, 1959), phonetisc he und phonologisc he Isoglossen (Grosse 1967, 293). Zur nicht-deutschen dialektologischen ‘IsoTerminologie’ gehören, entsprechend alle mit isogebildeten Termini, wie z. B. im Englischen: isoglottic line oder isograph, isogloss, isolex, isosem, isomorph sowie isophone (vgl. Adamus 1962, 123) und isolexic , isomorphic , isophonic , isosyntagmic , isotonic line (vgl. z. B. Pei/Gaynar 1954, 10 6 f; Crystal 1980 , 194). Es lassen sich aus zahlreichen Sprachen Beispiele angeben. Die ‘Iso-Terminologie’ ist heute international geläufig.
Ausdruckseitig-formal gesehen nicht zur deutschen dialektologischen ‘Iso-Terminologie’ gehören solche Termini, die mit ‘IsoTermini — terminologiesemantisch gesehen — bedeutungsähnlich oder -gleich sind wie z. B.: Sprac h-, Mundart- (z. B. Davin 1864, 30 0 ; Gauchat 190 3; Haag 1898, 190 5, 1927) Dialektgrenze („denn nirgends bildet der Rhein eine Sprach- oder Dialectgrenze“ Wenker 1877, 11*; Fischer 1895, vgl. die Legende zur Karte 26); Sprac hlinie (Berthold 1924/25, 224), Dialektlinie, lautlic he Sc heidelinie (Mertes 1922, 396 f., Haag 1927 a, 83); Versc hiebungslinie (Herkner 1914, 5), Laut-
sc heide, Wortsc heide (Behaghel 1928, 155), Spra c hs c heiden (Berthold 1924/25, 224), Laut-, Monophthong-, Diphthong-, Fortis-, Nasalierungsgrenze (vgl. Ruoff 1980 , 94 f.) Präfixgrenze, Plural-, Verbalpluralgrenze usw.; Grenzlinie (Fischer 1895, VII; Haag 1972 a, 83; Bielenstein 1892, 397), als Name z. B. Uerdinger Grenzlinie (Wenker 1877, 8*) oder Benrather Grenzlinie (Wenker 1877, 9*) Grenzsaum, Binnengrenzsaum, Sc hranke (vgl. Beckers 1980 , 468 f.; schon Haag 190 5, 184 f.); Uebergangsgebiet (Bielenstein 1892 a), Übergangslands c haft (Bretschneider 1934, 66 f.), geolinguistisc he Übergänge (Philipp 198 0 ), Saumlands c haft (nach Haag; vgl. Bach 1969, 60 —63), Interferenzraum (vgl. Putschke 1968, 10 8 u. 1974, 332) und zahlreiche andere. Diese Termini werden nur, wenn die Darstellung der ‘Iso-Termini’ es erfordert, berücksichtigt. 2.2. Entstehung der ‘Iso-Terminologie’: die Prägung des Terminus Isoglosse Nach Freudenberg (1966, 223 ff.) war es der Lettologe, J. G. August Bielenstein (1826—190 7), der den Terminus Isoglosse geprägt hat. In seinem „Atlas der ethnologischen Geographie des heutigen und des prähistorischen Lettenlandes“ (1882 a, 7 Karten mit Erläuterungen als Teilbd. zu Bielenstein 1892) hatte er die räumliche Verbreitung von Lauten und Wörtern (und auch landwirtschaftlichen Geräten) durch insgesamt 37 unterschiedlich verlaufende Linien gekennzeichnet (vgl. Karte 25.1.: „Die lettischen Dialekte der Gegenwart„). Bielenstein (1892) erläutert im Anhang (391—496) Kap. I „Die Grenzen der lettischen Dialekte der Gegenwart“: „Ich habe nach Analogie der Isothermen für die Linien auf dieser Karte den Namen Isoglossen zu erfinden gewagt. Man wird ihn leicht verstehen. Diese Linien sollen ebenso die Verbreitungsgrenzen für die einzelnen dialektischen Spracherscheinungen bezeichnen, wie die Isothermen das gleiche Klima angeben und die Verbreitungsgrenze gewisser Pflanzen sichtbar machen und überschauen lassen. Die Analogie geht aber noch weiter. Keine Isotherme kann genau die Verbreitungszone eines Gewächses abgrenzen. Sie erfüllt nur annäherungsweise ihren Zweck; sie kann nur angeben, wie weit es z. B. Buchen- oder Eichenwälder giebt, wie weit der Weinstock oder der Weizen ohne Schwierigkeiten gedeiht. Die Kulturarbeit des Menschen oder besondere günstige Naturverhältnisse machen es, daß Pflanzen, namentlich Kulturpflanzen, oft weit über ihre natürliche Grenzen hinaus doch noch vorkommen, angebaut
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
werden und relativ auch gedeihen. Ebenso geben unsere Isoglossen nur ungefähr die Grenze einer Lautgestalt, einer Formbildung, eines oder des anderen dialektisch herrschenden Ausdrucks an. Namentlich lassen die Nüancierungen und Schattierungen der Vokallaute, z. B. die allmähligen Uebergänge eines reinen a in das dumpfe o oder eines e in das breite ä oder weiter noch in das ganz offene a sich unmöglich geographisch genau fixieren. Es darf also von unseren Isoglossen nicht mehr gefordert werden, als sie leisten können, und wenn sie manchesmal eine Grenze angeben, über die hinaus Bezzenberger in seinen „lettischen Dialektstudien“ Beispiele anführt, welche er sicher gehört hat, so wolle man auf Grund dessen meine Isoglossen noch nicht gleich als ungenau verwerfen. Es ist ein Unterschied zu machen, z. B. ob ein Umlaut nach herrschendem Gesetz in einer Gegend massenhaft vorkommt, oder ob vereinzelte Umlauterscheinungen als Pröbchen weit über die Isoglosse hinaus im Volksmund sich finden (wie pairīt für parīt, übermorgen).“ (Bielenstein 1892, 391 f.; Ausschnitt dieses Zitats bei Freudenberg 1966, 226 f.)
Bezieht man Bielensteins Redeweise von der „Analogie“ lediglich auf den mehr formalen Aspekt der sprachlichen Bildungsweise, dann trifft seine Feststellung zu: Der neue linguistische Terminus Isoglosse (griech. ισος isos, ‘gleich’ u. griech γλωσσα/ glōssa, ‘Zunge’, ‘Sprache’) ist analog zum meteorologischen/klimatologischen Termilichen Feststellungen Bielensteins sind jedoch — s owe i t s i e d i e A n a l o g i e z u d e n ge ow i s s e n s c h a f t l i ch e n L i n i e n b e t r e f fe n — relativ zum Kenntnisstand im 19. Jh. zu ungenau und teilweise sogar irreführend. Zunächst haben Isothermen nie „das gleiche Klima angegeben“. Seit der ersten Jahresisothermenkarte, die A. v. Humboldt 1817 für die nördliche Hemisphäre zeichnete, versteht man unter Isothermen Linien gleicher Lufttemperatur. (Vgl. Humboldt 1817. Reproduktion der Karte Humboldts bei Model 1959; vgl. auch Witt 1970 , 319; die Geschichte der Isarithmenkarten reicht bis ca. 1630 zurück; vgl. Horn 1959, 226.) Das Klima wird jedoch nicht nur durch die Temperatur der Luft bestimmt. In der modernen Klimageographie zieht man auch heute noch keine ‘Linien gleichen Klimas’. Denn der Ausdruck Klima bezeichnet — fachsprachlich verwendet — u. a. eine komplexe Gesamtheit von meteorologischen Erscheinungen. Daher zeichnet man Linien für Klimaelemente und hat hier das ‘Interpretations’-Problem nach welchen Kriterien man von einer Menge von Linien für unterschied-
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liche Klimaelemente zu einer kartographischen Linie für Klimagrenzen kommt. Theoretisch-methodologisch ist dieses Problem dem dialektologischen ähnlich, das sich aus der Frage ergibt: Anhand welcher Kriterien kommt man von einer Menge Isoglossen für unterschiedliche sprachliche Erscheinungen zu kartographischen Liniensignaturen, die als Abbildungen für Dialektgrenzen auf einer Sprachkarte gelten können? Weiterhin ist aufschlußreich, daß Bielenstein von den vermeintlichen Klimagrenzen bedenkenlos auf die „Verbreitungsgrenze gewisser Pflanzen“ und auf ihre „natürliche Grenze“ schließt. Ein solcher Schluß (ähnlich strukturierte gab es in der Dialektologie), der auch eine Interpretation einer Begrenzungslinie enthält, ist unzulässig. Denn erstens gibt es keine Pflanzen, deren ‘natürliches’ Verbreitungsgebiet nur vom ‘Klima’ abhängt, so daß hier gerade eine Funktion gegeben wäre; vielmehr spielt z. B. die Bodenbeschaffenheit ebenfalls eine Rolle, und zweitens kann das ‘Klima’ seinerseits durch den Pflanzenbewuchs der Erdoberfläche beeinflußt sein. Die inhaltliche Analogie, auf die Bielenstein dann eingeht, ist eine reine Erfindung. Denn kein Fachmann aus den Geowissenschaften hat bis dato behauptet, daß Isothermen Verbreitungsgrenzen von Pflanzen sichtbar machen und diese nur annäherungsweise abgrenzen können. Zwar hatten Humboldts Studien insgesamt ein pflanzengeographisches Ziel, seine Untersuchungen zur Temperatur waren jedoch nur eine Voraussetzung zur Erreichung dieses Ziels. Daß Bielensteins Isoglossen „nur ungefähr“ die Grenzen einer sprachlichen Erscheinung angeben, ist zwar richtig, aber keine analoge Eigenschaft zu Isothermen. Der wichtigste Unterschied zwischen seinen Isoglossen und den Isolinien oder Isarithmen der Themakartographie war Bielenstein nicht bekannt, und es hat Jahrzehnte gedauert, bis man in der Dialektologie auf ihn aufmerksam wurde (vgl. z. B. Grosse 1967, 289; Freudenberg 1966; Wiegand/ Harras 1971, 69—74; Naumann 1976; Händler/Naumann 1976). Dieser Unterschied wird unten unter 3. expliziert. 2.3. Exkurs zur Geschichte des Problems der Isoglossenfindung Auf das Problem der Isoglossenfindung (vgl. hierzu Händler/Naumann 1976) stößt man, wenn man folgende Frage zu beantworten hat: Wie läßt sich ein Verfahren zur Kon-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
struktion von Begrenzungslinien angeben, daß sowohl operationalisierbar als auch empirisch adäquat ist? 2.3.1. Die Isoglossenkarte und die ‘IsoglossenVerlaufskommentare’ Bielensteins Während Bielensteins inhaltliche Argumentationen in Analogie zu den geowissenschaftlichen Linien nicht stichhaltig sind, sind seine Ausführungen zu den Isoglossen dann vom höchsten Interesse, wenn man seine Isoglossenkarte (vgl. Karte 25.1.) und seine Erläuterungen dazu, die sich sowohl im Anhang (1892) als auch im Atlas (1892 a) finden, in eine Kartenanalyse, die hier allerdings auf Fragen zu den Begrenzungslinien beschränkt wird, einbezieht. Bielensteins Karte VI ist wahrscheinlich in folgenden Hinsichten die e r st e Isoglossenkarte (a) Als themabezogene Liniensignaturen, die auf das Kartenthema Sprache bezogen sind, finden sich nur Begrenzungslinien für dialekte „Eigenthümlichkeiten“, in denen sich die Dialekte unterscheiden. E i n e Begrenzungslinie, die als ‘klare Dialektgrenze’ (vgl. hierzu Art. 3, 3.) interpretierbar wäre, findet sich nicht und daher sind auch keine Dialektnamen in die Karte eingetragen. (b) Es ist die erste Karte, die von ihrem Verfasser Isoglossenkarte genannt wurde, wenn es auch bereits vor Bielenstein Dialektkarten gab — z. B. Wenkers „Sprach-Karte der Rheinprovinz nördlich der Mosel“ von 1877 (vgl. Wenker 1877 u. Art. 3, Karte 3.2.) — die auch Begrenzungslinien aufweisen. Die Erläuterungen zur Karte 25.1. im Kartenband lauten folgendermaßen: „[...] 2. Die das lettische Gebiet durchziehenden Linien (Isoglossen) bezeichnen die ungefähren Grenzen gewisser dialektischer Erscheinungen an Wortformen oder an Lauten oder auch die Grenzen für den Gebrauch einiger Ausdrücke (ja auch beiläufig für den Gebrauch einiger landwirtschaftlicher Geräthe) und kennzeichnen da, wo sie dichter nebeneinander laufen, die Uebergangsgebiete 1) zwischen dem tahmischen (nordwestkurischen) und dem reinen niederlettischen (Schrift-) Dialekt und 2) zwischen diesem letzteren und dem rein hochlettischen Dialekt. 3. Die Isoglossen 1—16 zeigen die einzelnen mehr und mehr nach Südosten reichenden Haupteigenthümlichkeiten des thamischen (unreinen niederlettischen) Dialektes. Die Isoglossen 19—37 (oder 37—19) zeigen die einzelnen mehr und mehr nach Westen reichenden Haupteigenthümlichkeiten des hochlettischen Dialektes. Das von Isoglos-
sen am wenigsten durchzogene Gebiet zwischen den beiden Uebergangsgebieten ist das des reinen niederlettischen (Schrift-) Dialektes von Wolmar bis Doblen, beziehungsweise von Walk über Wolmar und Doblen bis Amboten und Nieder-Bartau.“
Das Zitat zeigt, daß Bielenstein bereits bestimmte Ergebnisse der späteren Sprachgrenzdiskussion vorweggenommen hat. Denn er kennt (a) Isoglossen für dialektale Einzeldaten, (b) „Uebergangsgebiete“, in denen die Isoglossen „dichter nebeneinander laufen“ und schließlich (c) ein „von Isoglossen am wenigsten durchzogenes Gebiet zwischen beiden Uebergangsgebieten“; hier wird der sog. reine niederlettische (Schrift-) Dialekt gesprochen. Die Begriffsbildung Kernlandsc haft vs. Saumlandsc haft ist hier — zumindest teilweise — vorweggenommen (vgl. hierzu die Haag-Interpretation bei Lang 1982). Das Problem der „klaren Dialektgrenze“ (vgl. Wenker 1886, 189; vgl. dazu Wiegand/Harras 1971, 11 f. u. Art. 3) und damit das Problem des Zusammenhangs zwischen Isoglossen und Dialektgrenze als einer Grenze für den Dialekt als ganzen stellt sich für Bielenstein von vorneherein nicht in seiner zugespitzten Form, und zwar aus folgenden Gründen: (a) Bielenstein berücksichtigt bei der Ziehung der Isoglossen die Vorkommenshäufigkeit (vgl. die Ausführungen über den Umlaut im 1. Zitat). Er betont ausdrücklich, daß er sich „einigermassen auf die Grenze beschränken musste, bis wohin eine Spracheigenthümlichkeit zu herrschen schien“ (Bielenstein 1892, 393) und herrsc hen bedeutet hier soviel wie „massenhaft vorkommen“. Einzelbelege jenseits einer Isoglosse, die er in Bezzenbergers „Lettischen Dialektstudien“ fand, hat er ausdrücklich bei der Grenzziehung nicht berücksichtigt. Damit hat Bielenstein auch Ansichten Haags (vgl. Haag 1898) und dessen Häufigkeitsargument in der Auseinandersetzung mit Gauchat (vgl. Haag 190 1, 236 ff u. 190 5, 188) implizit vorweggenommen. (b) Nicht Liebisch war der erste „der erfolgreich die indirekte Methode des F r a geb o ge n s anwandte“ (so Freudenberg 1965, 180 ; Lienhart 190 0 ; vgl. Art. 29), sondern vor ihm u. a. bereits Bielenstein: „Ausserdem habe ich mich schon in den sechsiger Jahren an fast alle Pastoren der betreffenden Gebiete mit Fragebogen gewandt und Auskünfte von Ihnen erhalten über die Verbreitung der einzelnen dialektischen Eigenthümlichkeiten der lettischen Sprache“. (Bielenstein 1892, 393).
Karte 25.1: Isoglossenkarte. Die lettischen Dialekte der Gegenwart (aus Bielenstein 1892 a, Karte VI)
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Ab 1863 hat jedoch Bielenstein auch die direkte Methode angewandt, und zwar auf zahlreichen Reisen (vgl. z. B. Bielenstein 1892, 392 u. 190 4). Seine Isoglossenkarte verzeichnet die Ergebnisse der Anwendung beider Befragungsmethoden! Bielenstein ist sich bewußt, daß der kartographische Verlauf der Isoglossen aus Darbietungsgründen nur recht grob ist, daher vom Benutzer nur ungenau erschlossen werden kann. Unter der Überschrift „Genauere Angaben über den Lauf der einzelnen Isoglossen“ gibt er daher für alle 37 Isoglossen einen Verlaufskommentar relativ zu Ortsnamen: „Zur Vervollständigung dessen, was Karte VI [...] bieten kann [vgl. Karte 25.1.], folgen hier für jede einzelne Isoglosse nach der Nummer, welche dieselbe auf der Karte in der Richtung von West nach Ost führt, zwei Reihen Ortsnamen; die eine Reihe, links, zeigt die Orte, Güter, Parochien, welche westlich von der Isoglosse, die andere Reihe, rechts, zeigt die Orte, Güter, Parochien, welche östlich von der Isoglosse liegen. Die betreffenden Isoglosse, die ungefähre dialektische Grenzlinie ist zwischen den beiden Namen-Reihen zu denken. Die einzelnen in der Mitte zwischen den beiden Namen-Reihen stehenden Namen bezeichnen Parochien, die von der Isoglosse durchschnitten werden “ (Bielenstein 1892, 397).
Für die Isoglosse Nr. 1 (Schwund der Endsilben, vgl. Karte 25.1.) sieht der Verlaufskommentar folgendermaßen aus (ohne die gestrichelten Linie und das Himmelsrichtungskreuz in der Abb. 25.1.):
Abb. 25.1: Isoglossenverlaufskommentar (nach Bielenstein 1892) Im Grunde liegt in diesen ‘IsoglossenVerlaufskommentaren’ Bielensteins — was ihre Form betrifft — eine eigene Erfindung vor: alle Ortsnamen westlich einer Isoglosse werden in der linken, alle östlichen einer Isoglosse in der rechten Ortsnamenkolumne aufgeführt. Dabei stehen Ortsnamen für die am weitesten nördlich liegenden Örtlichkei-
ten am weitesten oben, so daß man ‘von Norden nach Süden’ liest. Namen für Parochien, durch deren kartographisches Abbild die Isoglosse läuft, stehen in der mittleren Kolumne (vgl. die gestrichelte Linie). Die einheitliche Form der 37 Kommentare wird dadurch möglich, daß sich unter den 37 Isoglossen keine findet, die durchgängig einen Ost-West-Verlauf hat. Will man nun die Verlaufskommentare benutzen, ergibt sich: Die Menge der Ortsnamen, die auf der Karte den Symbolen für Orte zugeordnet sind, ist mit der Menge der Ortsnamen in den Kolumnen nicht identisch. Es gibt Ortsnamen, die sich nur auf der Karte finden, solche die sowohl auf der Karte als auch in einer der drei Kolumnen stehen und solche die nur in den Kolumnen aufgeführt sind. Bielenstein schreibt: „Wichtig und zweckmässig ist es, dass ich die Summe dieser Ermittlungen hier in Worten genauer mittheile, als es auf der Isoglossenkarte für das Auge mit Zeichen möglich gewesen ist, denn der beschränkte Raum auf der Karte gestattet nicht dort alle die Namen der Güter zu verzeichnen, zwischen welchen eine Isoglosse hingeht. So sind auf der Karte hauptsächlich nur die Kirchenorte, die Mittelpunkte der kirchlichen Parochien und auch nicht einmal alle angegeben, und es ist auf der Karte nur umgefähr zu ersehen, ob die Isoglosse auf der Grenze zweier Parochien hinläuft, oder vielleicht eine Parochie in der Mitte durchschneidet “ (Bielenstein 1892, 393).
Die Ortsnamen, die nur in den Kolumnen aufgelistet sind, lassen sich daher auf der Karte 25.1. nicht finden, und dies bedeutet, daß die Verlaufskommentare ihre Hilfsfunktion nur dann erfüllen können, wenn ihr Benutzer wenigstens eine weitere Karte, auf der sie sich finden, vergleichend benutzt. Damit dürfte deutlich sein, daß bereits mit der ersten Isoglossenkarte kartographische Darstellungsfragen auftreten, die — auf informationstheoretischer bzw. semiotischer Grundlage — kartographietheoretisch (vgl. Art. 39) zu behandeln sind. Insgesamt ergibt sich aus der ausschnittshaften Analyse der Bielenstein’schen Ausführungen folgendes Resümee: (1) Isoglosse ist — aufgrund der Analogie zu den geowissenschaftlichen Linien — in einen unangemessenen terminologischen Zusammenhang gestellt. (2) Isoglosse wird generisch für die Verbreitungsgrenzen unterschiedlicher dialektaler Erscheinungen verwendet: für die Verbreitung von Wörtern (vgl. z. B. Isoglosse Nr. 9), für die von Flexionsformen (vgl. z. B.
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
Isoglosse Nr. 3), für die von Lauten (vgl. z. B. Isoglosse Nr. 6). (3) Der Terminus Isoglosse wird im Sg. verwendet, wo er — genau genommen — im Pl. verwendet werden müßte. So ist z. B. die Isoglosse Nr. 26 (i-Umlaut) ein ‘Isoglossenbündel’ mit identischem Verlauf zweier Isoglossen nämlich der für 26 a: a > ä vor i, , ė der Folgesilbe (z. B. māzīt ‘lehren’ mäzit) und der für 26 b: u > ui vor i, , é der Folgesilbe (z. B. upe ‘Bach’ > uipe; vgl. Bielenstein 1892, 396). (4) Isoglosse wird für die Verbreitungsgrenzen von Sachen verwendet (vgl. z. B. Isoglosse Nr. 16). (5) Die Datengrundlage für die Isoglossen wird durch die direkte und indirekte Methode gewonnen. (6) Bei der kartographischen Fixierung des Verlaufs der Isoglossen — der Isoglossenfindung oder -konstruktion — werden intuitiv quantitative Aspekte berücksichtigt. (7) Eine Methode zur Ermittlung des Isoglossenverlaufs wird nicht angegeben. Die Isoglossenfindung geschieht so, daß i rge n d wo z w i s ch e n den Belegpunkten mit unterschiedlichem Objekt- und Lagewert eine Isoglosse gezogen wird. (8) Die Isoglossen leisten nur eine grobe Gebietsbildung; daher wird ein deskriptiver Isoglossenverlaufskommentar notwendig, der jedoch nicht ohne die zusätzliche Benutzung geographischer Karten funktioniert. Nach (1) bis (8) ist daher die Einführung des Terminus Isoglosse von vorneherein mit terminologischen, sprachwissenschaftlichsachlichen, kartographietheoretischen und praktischen Problemen belastet. 2.3.2. Die geometrische Isoglossenkonstruktion Haags Haag, dessen dialektgeographische Leistungen erst in jüngerer Zeit angemessen eingeschätzt werden (vgl. Lang 1982), verwendet den Terminus Isoglosse nicht. Er ist aber derjenige der älteren Dialektgeographen, der das ausgeprägteste Problembewußtsein für Begrenzungslinien auf Dialektkarten hatte. Bereits in seiner ersten Arbeit (1898) wendet Haag ein Verfahren zur Isoglossenkonstruktion an, das er wahrscheinlich selbst erfunden hat; auf jeden Fall ist die zwölffarbige Karte der Baarmundarten in Haag (1898) die erste Dialektkarte, auf der sich (78!) „Sprachlautgrenzen“ (Terminus nach Haag 1898, Überschrift zur rechten Kartenlegende) und Linien für politische Grenzen finden, die nach einem st r e n ge n ge o m e t r i -
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s ch e n Ve r fa h r e n konstruiert sind, das wohl im wesentlichen mit der theamakartographischen Berechnung sogen. Choroplethen übereinstimmt (vgl. dazu weitere Einzelheiten Art. 45). Haag hat dieses Verfahren, das er auch bei allen anderen Karten angewandt hat (vgl. z. B. Haag 1927, 1927 a, 1929/30 , 1930 ; vgl. auch die vier leicht veränderten HaagKarten bei Lang 1982 sowie Karte 25.2.), mehrmals kurz beschrieben und auch gerechtfertigt. „Alle Grenzen zwischen Nachbargemeinden, seien sie staatliche oder nur Markungsgrenzen sind dargestellt durch die Mittellote auf der Distanz. Die politischen Gebiete nach dem thatsächlichen Umfang der Gemeindemarkungen, nach dem Bodenbesitz abzugrenzen hat hier keinen Sinn, da die Zusammengehörigkeit und die Entfernung der Orte allein in Betracht kommt. Die durch die Mittellote entstandenen Polygone, ideale Markungen, versinnbildlichen die durch Lage und Entfernung gegebenen nachbarlichen Beziehungen: soviel Seiten das Polygon, soviel Nachbargemeinden; jede Seite drückt die Beziehungen zu einer Nachbargemeinde aus, je grösser das Polygon, desto vereinsamter, entlegener die Gemeinde. Zugleich wird jede Willkür in der Linienführung vermieden und das Kartenbild gewinnt nicht nur an Bedeutung, sondern auch wesentlich an Klarheit.“ (Haag 1898, 7 f.)
Rückblickend schreibt Baarmundarten-Karte:
Haag
über
seine
„Die Fülle der Auskunft, die die Karte gewährt, war nur zu erreichen durch die Entdeckung des geometrischen Gebietsnetzes und seine strenge Anwendung. (Zu jedem System von Punkten gehört ein System echter Vielecke aus den Mittelloten der Abstände und nur eines.) Dieses Gebietsnetz zeigt dann auch jeden Ort der Karte in seiner sprachlichen und politischen Beziehung zu seinen Nachbarorten.“ (Haag 1929/30, 2).
Schließlich führt Haag bei der Beschreibung der Karte zur östlichen Hälfte der schwäbisch-fränkischen Sprachgrenze aus (vgl. Karte 25.2.): „Die Herrschaftsgebiete von Lauten, die in ganzen Wörtermassen gelten, müssen abgesteckt werden. Diese Herrschaftsgebiete selbst bestehen aus denen der Ortsmundarten, deren Bild das Vieleck der Scheidelinien gegen die Nachbarn ist. Diese Scheidelinien, die Mittellote der Abstände, geben das geometrische Gerüst. Ohne dieses schlägt jeder Versuch der bildhaften Darstellung kläglich fehl und führt zum sinnlosen Wirrwarr“ (Haag 1927 a, 83).
Nach diesen drei Haag-Zitaten läßt sich das Verfahren zur Konstruktion von Begrenzungslinien relativ genau charakterisieren;
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Karte 25.2: Karte der schwäbisch-fränkischen Sprachgrenze in Württemberg — östliche Hälfte: von Back- nang bis Dinkelsbühl (Ausschnitt aus Haag 1927 a, nach Seite 87) die nachfolgende Darstellung wird bewußt so gegeben, daß erkennbar wird, daß Haags geometrisches Verfahren im Prinzip algorithisierbar ist — Haag selbst spricht von der „mathematische[n] Behandlung der Zeichnung“ (Haag 190 5, 189) — und daher computativ realisiert werden kann. Gegeben sei eine Menge M1 von sechs Ortspunkten Pk, nämlich M1 = {P1, P2, ..., P6}. Jedem der sechs Ortspunkte sei die Merkmalvariable A zugeordnet. Diese Zu-
ordnung sei notiert als P1/A, P2/A usw. (vgl. Abb. 25.2.). Gegeben sei weiterhin eine Menge M2 von sechs Ortspunkten, nämlich M2 = {P10, P11, ..., P15}. Jedem dieser sechs Ortspunkte sei die Merkmalvariable B zugeordnet, notiert als P10/B, P11/B usw. (vgl. Abb. 25.2.). Der Lagewert aller zwölf Ortspunkte sei das jeweilige Koordinatenwertepaar (xi/yj), das aus der Abb. 25.2. ablesbar ist. (Z. B. hat P3/A das Wertepaar (6/9).) — Gesucht sei diejenige „Scheidelinie“ (vgl.
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
das 3. Haag-Zitat), die alle Ortspunkte, denen A zugeordnet ist, von allen, denen B zugeordnet ist, trennt. Haags Vorgehen beim Zeichnen von Begrenzungslinien läßt sich als eine Folge von Anweisungen rekonstruieren, die folgende Form hat: (i) Man bestimme die äußersten Ortspunkte einer Menge M’1 von Ortspunkten Pk, denen das Dialektdatum De zugeordnet ist, sowie die äußersten Ortspunkte einer Menge M’2 von Ortspunkten Pk, denen das Dialektdatum Dm zugeordnet ist. (Der Kürze halber wurde dieser Schritt bereits vorweggenommen: M1 ist — allerdings aus Darstellungsgründen — nur eine Untermenge derjenigen Untermenge von M’1, die alle äußersten Ortspunkte von M’1 enthält; entsprechendes gilt für M’2). (ii) Man beginne bei einem der äußersten Ortspunkte aus M1 (z. B. P1/A, vgl. Abb. 25.2.) und ziehe die gerade Verbindungslinie zu dem am nächsten liegenden Ortspunkt aus M2 (also zu P10/B), so daß man die Strecke hat. (iii) Von diesem Ortspunkt aus M2 (also P10/B) ziehe man die Verbindungslinie zu dem am nächsten liegenden Ortspunkt aus M1, der noch nicht mit einem Ortspunkt aus M2 durch eine Gerade verbunden ist (also zu P2/A), so daß man die Strecke hat. (iv) Auf die in (ii) und (iii) beschriebene Weise fahre man fort. (Für bestimmte Lagewertkonstellationen muß man eine zusätzliche Folge von Anweisungen geben; man beachte, daß in Abb. 25.2. P3/A als Endpunkte z we i e r Strecken vorkommt.) (v) Dann fälle man die Mittellote auf allen Verbindungslinien, die zwischen den Punkten aus M1 und denen aus M2 gezogen wurden. (vi) Die gesuchte Scheidelinie ist dann gerade derjenige Streckenzug (die gestrichelte Linie in Abb. 25.2.), den man erhält, wenn man die Schnittpunkte der Mittellote S1, S2, ... S10 so durch eine gerade Linie verbindet, daß jede Strecke usw. ein Teil eines Mittellotes ist. Setzt man nun für die Merkmalvariablen A und B bestimmte Sprachlaute ein (im konkreten Fall natürlich diejenigen Daten, die an demjenigen Ort aufgenommen wurden, der von dem Ortspunkt Pk abgebildet wird), dann ist die Scheidelinie eine Sprachlautgrenze im Sinne Haags. Setzt man für die
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Merkmalvariablen Prädikate für Eigenschaften von Ortschaften ein, z. B. gehört zum politisc hen Territorium A versus gehört zum politisc hen Territorium B, dann ist die Scheidelinie eine Begrenzungslinie für eine politische Grenze. Dies bedeutet: Haag hat die Linien für z. B. politische Grenzen genau so konstruiert wie seine Sprachlautgrenzen (vgl. Karte 25.2.). Dies rechtfertigt er z. B. im ersten Zitat: Die Zusammengehörigkeit der Orte und ihre Entfernung sind die Größen, auf die es alleine ankommt. Für Haag waren die Begrenzungslinien geistige Trennungsstriche zwischen zwei Punkten, und das graphische Sinnbild eines solchen geistigen Trennungsstriches war das Mittellot: „[...] so will es das räumliche Denken“ (Haag 1927, 240 ; vgl. auch Lang 1982). Aus diesem Grunde kann man den Verlauf einer Isoglosse nicht gedankenlos an das kartographische Abbild einer z. B. natürlichen Geländegegebenheit angleichen. Haag war einer der wenigen älteren Dialektgeographen, die stets deutlich zwischen Basis- und Metabereich getrennt haben; er war der einzige, der seine Begrenzungslinien nach einem expliziten, für jeden nachvollziehbaren Verfahren gezogen hat. Ein Satz wie: „[wir sehen], daß da, wo Gebirge sind, die Grenzlinien a u f d e r H ö h e der Berge laufen“ (Wenker 1877, 16*) wäre — ohne nähere Begründung — für Haag wohl kaum möglich gewesen. Daß Haags Verfahren auch expliziter ist als das von Wrede, ergibt sich aus dem nachfolgenden Zitat. In ihm gibt Wrede seinen Lesern Anweisung, wie sie nach seinem Bericht über die Diminutivkarten des handschriftlichen DSA die Isoglossen (die er z. B. Vocal-, Consonant-, Stamm- oder Endungslinien nennt, vgl. Wrede 190 8, 77) auf Pausblättern selber zeichnen sollen: „Man wähle sich ein für alle Mal eine Karte des Deutschen Reichs nicht zu kleinen Maßstabs [...], die möglichst viele Ortsnamen enthält: eine Reise- oder Eisenbahnkarte ist meist leicht zur Hand und besonders namenreich. Die Grenzbeschreibung lediglich nach Ortschaften [die Wrede in seinen Berichten zum DSA im Anzeiger gewählt hatte] hat sich durchaus bewährt, während eine solche nach Landes-, Provinz-, Kreis-, Amtsgrenzen nur zu leicht wörtlich verstanden wird und dann zu einem falschen Bilde führt. Nach der Größe der gewählten Grundkarte schneide man sich gut durchsichtiges P a u s p a p i e r auf Vorrat und markiere auf diesen Pausblättern den Rand der untergelegten Karte oder auch nur ihre vier Ecken [...], sodass beim Auflegen jedesmal das Pausblatt genau übereinstimmend auf die Karte zu liegen kommt. [...] Geht man nun daran, nach
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Abb. 25.2: Isoglossenkonstruktion (nach Karl Haag 1898) dem Bericht auf aufgelegter Pause die Skizze zu entwerfen, so markiere man sich auf dieser zuerst durch Punkt oder Kreischen die von mir genannten Grenzorte und ziehe dann zwischen diesen die Linien: die vorher markierten Ortspunkte erinnern dann stets daran, dass die Linien zunächst nur für diese, nicht für alle durchschimmernden Orte der Grundkarte gilt (hier soll die Localforschung einsetzen!), und schützen so vor Trugschlüssen. Ja es ist nicht einmal in jedem Falle ge-
sagt, dass für den aufgeführten Grenzort selbst die jedesmal abgegrenzte Dialektform gilt, denn er kann trotzdem leicht eine städtische Ausnahme bilden [...] und wird dann nur aus praktischen Gründen aufgezählt, nicht um seiner eignen Localform wegen, sondern um die Grenzlinie der in seiner Umgegend vorherrschenden Dialekterscheinung zu leiten“ (Wrede 1908, 76 f.).
Man sieht: eine Anweisung über die Linienführung z w i s ch e n d e n G r e n z o r t e n erhält der Leser nicht, während Haag gerade
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
in diesem Punkt die mathematische Behandlung der Zeichnung fordert. Wenn Lang allerdings feststellt: „Haags System wird allen Anforderungen gerecht, die an diese Trennungslinien zu stellen sind“ (Lang 1982, 6.3.), dann ist dies eine Überschätzung des Verfahrens, was aus den Ausführungen unter 3. und 4. unten hervorgeht. So bleibt z. B. die Frage weitgehend offen, was bei räumlich vermischten Merkmalmengen geschehen soll. Daß Haag Begrenzungslinien auch numerisch gewichtet hat, sei nur erwähnt (vgl. z. B. die Karte in Haag 190 1, 237). 2.4. Verständnis- und Verständigungsschwierigkeiten beim Gebrauch des Terminus Isoglosse Nach der in 2.3.1. gekennzeichneten Gebrauchsweise des Terminus Isoglosse ist zu erwarten, daß mit dieser griffigen und einer internationalen Verbreitung entgegenkommenden Wortprägung Isoglosse auch Verständnis- und daraus resultierende Verständigungsschwierigkeiten im fachinternen und interfachlichen Kommunikationsbereich verbunden sind. Diese zeigen sich wowohl in der Frühphase der Rezeption als auch im Gebrauch im neueren dialektologischen Schrifttum und spiegeln sich sogar noch in den Artikeln von Meyers Enzyklopädischem Lexikon (1974, Bd. 12: Hf-Iz). Dies liegt daran, daß der Terminus Isoglosse lediglich für Philologen verständlich und etymologisch durchschaubar gebildet, aber weder inhaltlich plausibel erläutert noch gar — nach den Regeln irgendeiner Definitionstheorie — definiert wurde (vgl. 2.2.). Definitionen regeln u. a. das wissenschaftliche Verständnis eines Ausdrucks; sie stabilisieren den Gebrauch dieses Ausdruckes hinsichtlich seiner Semantik (vgl. z. B. Wiegand 1979). Bei Verständnisschwierigkeiten kann man dann auf die Definition(en) zurückgehen und gegebenenfalls unterschiedliche Gebrauchsweisen des Terminus explizit auseinanderhalten. Ein solches Vorgehen war aber in der Dialektologie lange Zeit nicht möglich. Dementsprechend blieb der Gebrauch von Isoglosse relativ instabil, häufig nur um Nuancen verschoben, so daß dadurch auch das prägnante Erfassen des Gegenstandes Isoglosse beeinträchtigt wurde. Bielensteins Einschätzung: „Man wird ihn [den ‘Namen’ Isoglosse] leicht verstehen“ (vgl. 2.2.) erwies sich als falsch, wenigstens dann, wenn man unter ‘Verstehen’ mehr als nur das etymologisch-
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philologische Verständnis begreift. An einigen Beispielen sei dies erläutert. Zunächst führt eine wö r t l i ch e Übersetzung von Isoglosse z. B. ins Deutsche zu nichts- bzw. zu (zu)vielsagenden Ausdrükken, die deswegen weitgehend wissenschaftlich unverständlich sind, weil sie nicht quasi ‘automatisch’ auf einen wissenschaftlichen Zusammenhang verweisen. Bereits Saussure schreibt: „Die Grenze der Dialekteigentümlichkeiten hat man ‘isoglossische Linien’ oder ‘Isoglossen’ genannt; dieser Terminus ist gebildet nach dem Muster von Isotherme. Er ist jedoch dunkel und ungeeignet, denn er bedeutet ‘der die gleiche Sprache hat’.“ (Saussure 1967, 242).
Für Saussure ist Isoglosse wohl deswegen „dunkel“, weil sich die philologisch erschließbare Bedeutung dieses ‘Kunstwortes’ mit seinem Gebrauch in sprachwissenschaftlichen Texten, nämlich der Bezugnahme auf die „Grenzen der Dialekteigentümlichkeiten“ nicht deckt. N i ch t wö r t l i ch e Übertragungen in Anlehnung an die fachliche eingespielte Interpretations- bzw. Definitionspraxis der verschiedenen Geowissenschaften sind zunächst scheinbar besser verständlich. In diesen Wissenschaften ist die Praxis ziemlich homogen; man vergleiche z. B.: Isokatabasen = Linien gleicher Landsenkung in säkularen Zeiträumen Isodynamen = Linien gleicher Intensität des erdmagnetischen Feldes = Linien gleicher HagelhäufigIsochalazen keit = Linien gleicher Dauer der EisIsopagen decke Das sprachliche Muster für die Definitionen ist mithin: LINIEN GLEICHER X, wobei X stets eine meßbare Größe bezeichnet. Definiert man in der Dialektologie nach diesem Muster, ergeben sich z. B. folgende Möglichkeiten: Linien glei c her Spra c he/ Spra c hdaten/Spre c hweisen und Linien gleic hen Sprac hgebrauc hs. Man sieht: Das geowissenschaftliche Muster ist offenbar für die Dialektologie ungeeignet, denn eine wesentliche Eigenschaft von Isoglossen soll seit Bielenstein ja sein, daß sie das Verbreitungsge b i e t einer sprachlichen Erscheinung b eg r e n z e n, während für geowissenschaftliche Isolinien diese Eigenschaft gerade nicht zentral ist: sie sind Hilfsmittel der Darstellung kontinuierlicher arealer Werteprofile, so z. B. die Isohypsen, die in ihrer Bezogenheit aufeinander eine Geländestruktur erkennen
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
lassen. Dennoch hat man in der Sprachwisenschaft die Isoglossen öfters nach dem geowissenschaftlichen Muster charakterisiert. So schreibt z. B. Porzig: „Dann zieht man eine Linie zwischen den Punkten, die die eine, und denen, die die andere Form aufweisen, also z. B. zwischen denen, wo man ic h, und denen, wo man ik sagt. Diese Linien nennt man I s o g l o s s e n, Linien gleicher Sprechweisen, so wie man die Linien gleicher Barometerstände Isobaren und die gleicher Thermometerstände Isothermen nennt“ (Porzig 1957, 222).
Hier wird die falsche Analogie besonders deutlich: die Isoglossen sind gerade n i ch t
(Verbindungs-)„Linien gleicher Sprechweisen“ sondern Trennungslinien zwischen Räumen verschiedener Sprechweise. Diese Diskrepanz sei noch etwas näher erläutert. Der erste Satz in dem Porzig-Zitat ist in fataler Weise ambig. Verfährt man beim Zeichnen der Linien nach der 1. Lesart, ergibt sich dies (vgl. Abb. 25.3.): Gegeben seien fünf Belegpunkte, an denen ein sprachliches Datum A (z. B. ich) aufgenommen wurde, und fünf andere, an denen ein sprachliches Datum B (z. B. ik) aufgenommen wurde. Dann muß man — in schematischer Darstellung — z. B. folgende ‘ich-/ik-Isoglossen’ zeichnen:
Abb. 25.3: Schematische Isoglossenskizze (nach Porzig 1957) Die ‘A-Isoglosse’, also die durchgezogene Linie, und die ‘B-Isoglosse’, also die gestrichelte Linie, sind genau nach der Beschreibung in der 1. Lesart gezogen, (nämlich als Linie zwischen den Punkten, die die eine und als Linie zwischen den Punkten, die die andere Form aufweisen) allerdings mit der Voraussetzung, daß Porzig mit Linie eine ge r a d e Linie als kürzeste Verbindung zweier Punkte meint; anderenfalls könnte man nach der 1. Lesart zwischen jedem Punkt beliebig viele Linien ziehen. Die ‘C-Isoglosse’ ist nach der 2. Lesart der Beschreibung Porzigs gezogen. Porzigs ungenaue Charakterisierung der Isoglossen ist nicht etwa ein einmaliger Fall; vielmehr kann man zahlreiche Fälle anführen; dabei ist allerdings die Ungenauigkeit von ganz unterschiedlicher Art. Man vergleiche z. B. Löffler 1974, 31 u. 134—136, Markey 1977, 11 ff. — Schwierigkeiten entstehen auch durch die lexikalische Polysemie von Isoglosse, die in keinem der linguistischen Wörterbücher explizit berücksichtigt wird. So findet man z. B. im Handbuch der Linguistik (1975) unter dem Stichwort Isoglosse
folgende ‘Definition’: „Gleiche dialektale Erscheinung, die sich in einem → Sprachatlas als Linie nachzeichnen läßt“ (!). In diesem Zitat werden die sprachlichen Erscheinungen die als gleich gelten, selbst mit Isoglosse bezeichnet. Wer das Lemma Isoglosse nicht schon kennt, kann daraus nicht folgern, daß auch die Linien Isoglossen heißen. Dieser Terminusgebrauch findet sich auch außerhalb dialektologischer Texte. So schreibt z. B. Pisani (1975, 53): „Ein annähernd identisches Phänomen, das in mehreren Sprechakten, in mehreren Dialekten usw.5 im Unterschied zu anderen auftaucht, nennen wir in der Linguistik I s o g l o s s e: wir werden deswegen definitiv sagen können, daß eine Sprache (und d. h. auch ein Dialekt, eine Sondersprache) das S y s t e m vo n I s o g l o s s e n i s t , d a s i n den Sprechakten der Angehör igen einer bestimmten Gemeinschaft w i e d e r k e h r t“.
Die Anm. 5 heißt bezeichnenderweise: „Ursprünglich zeigte (und zeigt noch immer) der Terminus Isoglosse, analog zu den Termini Isotherme, Isobare, Isobate, Isohypse, die Linie an,
Karte 25.1: Isoglossenkarte. Die lettischen Dialekte der Gegenwart (aus Bielenstein 1892 a, Karte VI)
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
die auf einer geographischen Karte das Gebiet bestimmt, innerhalb dessen ein bestimmtes linguistisches Phänomen auftritt: so z. B. ist eine Isoglosse die Linie, die auf einer Karte das rumänisch-bulgarisch-albanische Sprachgebiet als dasjenige umfassen würde, in dem der Artikel dem Substantiv nachgestellt wird, und zugleich bezeichnet der Terminus das Phänomen selbst.“
Aufgrund dieses Sprachgebrauchs kann dann Lang (1982) als Abschnittsüberschrift formulieren: „Graphische Darstellung von Isoglossen“ während man nach dem anderen Gebrauch sagen kann: Isoglossen sind graphisc he Darstellungen! Andere Verständnisunsicherheiten, die zu Verständnisschwierigkeiten führen können und geführt haben, werden sichtbar, wenn man den Gebrauch der Termini Sprac hgrenze und Isoglosse vergleicht. Dies zeigt sich selbst noch bei Ruoff (1980 ) in der Arbeit „Probleme der Sprachgrenzen und -übergänge“. Ruoff stellt zunächst fest: „Die Sprachgrenz-Frage war von Anfang an die theorielastigste in der ganzen Dialektologie [...]“ (1980 , 93). Diese Feststellung trifft allerdings nur dann zu, wenn man vorschnelle Hypothesen und nicht abgesicherte, weitgehende Schlußfolgerungen und großzügige Spekulationen zur ‘Theorie’ zählt. Auffallend ist vielmehr dies: In der sog. Sprachgrenzdiskussion der letzten rund 10 0 Jahre läßt sich ein üppiger terminologischer Wildwuchs feststellen: Sprechende Metaphern, die auf kein einheitliches topologisches Modell bezogen sind, kontraintuitiv terminologisierte Ausdrücke der Gemeinsprache (verstanden als Nicht-Fachsprache) und mangelhaft definierte ‘Iso-Termini’ werden nebeneinander verwendet. Ruoff (1980, 94) konstatiert: „Irreführend in der Sprachgrenzdiskussion ist, daß Sprachgrenzen im Lauf der letzten 20 Jahre zu Isoglossen umbenannt worden sind, was erstens unpraktisch ist und zweitens im Grunde falsch“.
Diese Feststellung greift — historisch und terminologiesemantisch gesehen — zu kurz. Es ist nämlich — auch wenn sich vielleicht viele in der fachinternen Kommunikation inzwischen an diesen Sprachgebrauch gewöhnt haben — zunächst einmal irreführend, daß z. B. sog. Laut- oder Wortgrenzen, mithin Grenzen für sprachliche Einzeldaten (die es natürlich realiter als beobachtbare raum-zeitliche Gebilde gar nicht gibt, denn es existieren als solche Gebilde nur Begrenzungslinien für Kartierungsdaten) in der ‘Sprachgrenzdiskussion’ Sprachgrenzen ge-
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nannt wurden. Denn das Wort Sprachgrenze ist so gebildet wie z. B. Staatsgrenze, Grundstü c ksgrenze, Waldgrenze. Eine Grundstücksgrenze als G r e n z e e i n e s G r u n d st ü cke s z. B. ist eine konkret-reale Gegebenheit im Gelände; sie kann geodätisch erfaßt, d. h.: vermessen und markiert werden und ist danach ein standortgebundenes Objekt. Eine Sprachgrenze aber ist nun gerade nicht die (geodätisch erfaßbare, standortgebundene) G r e n z e e i n e r S p r a ch e, was bereits Haag explizit feststellte (vgl. 2.3.2.) vielmehr wird in der Sprachgrenzdiskussion — einschließlich Ruoff (1980 ) — mit Sprachgrenze z. B. eine sog. Lautgrenze bezeichnet, was kontraintuitiv, d. h. hier: entgegen der Wortbildungssemantik ist. Da man aber gerade aus dieser Diskussion weiß, daß z. B. sog. Lautgrenzen nicht notwendig mit Mundart- oder Dialektgrenzen zusammenfallen, die Ausdrücke Mundart- und Dialektgrenze — im Unterschied zu Sprac hgrenze (!) — aber auch im Sinne von Grenzen für den (gesamten) Dialekt verwendet werden, ergibt sich, daß die Semantik dieser Termini folgende wissenschaftssprachliche Äußerung erlaubt: Diese Lautgrenze X ist eine Sprac hgrenze aber keine Dialektgrenze (Mundartgrenze). Eine Fachsprache, die Äußerungen dieses Typs als korrekte zuläßt, ist — auch wenn solche Äußerungen in der fachinternen Kommunikation verständlich sind — dennoch ungeeignet. Denn sie definiert ihre Termini entgegen dem Sprachbewußtsein derer, die diese Fachsprache verstehen sollen; dies ist keineswegs immer, im vorliegenden Fall aber ohne weiteres vermeidbar. Der Terminus Sprac hgrenze ist daher keineswegs verständlicher als Isoglosse. Seine generische Verwendung für alle Typen von Begrenzungslinien auf Sprachkarten (außer für die Isophonen der Vokalquantität im Sinne Zwirners) bei Ruoff hat zur Folge, daß spezifische Unterscheidungen notwendig werden, nämlich (a) „Hauptsprac hgrenze durc h Verknüpfung von Einzelmerkmalen“ und (b) „Spra c hgrenze dur c h Einzelmerkmal“ (vgl. Ruoff 1980 , 96 f.). Eine Hauptsprachgrenze kann dann z. B. eine Dialektgrenze sein, was wiederum zu merkwürdigen Redeweisen führt; schließlich zeigt sich die Umständlichkeit dieser Terminologie in der (b)-Formulierung. Hier handelt es sich einfach um eine Linie für ein sprachliches Merkmal, und es besteht kein Grund, solche kartographischen Linien durch Rückgriff auf den älteren Sprachgebrauch in der Sprachgrenzdiskus-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
sion kontraintuitiv mit dem Ausdruck Sprac hgrenze zu benennen. — Bei der Verwendung solcher Komposita wie Sprach-, Dialekt- und Mundartgrenze muß überdies bedacht werden, daß sie einer Vermengung zwischen Basis- und Metabereich (im Sinne von Wiegand/Harras 1971) Vorschub leisten. Die Darstellung der Beispiele sowie die Analyse des Bielenstein-Zitats (vgl. 2.2.) dürften exemplarisch verdeutlicht haben, daß weder eine Erklärung, die bei der philologisch erschlossenen Bedeutung des Kunstwortes Isoglosse ansetzt, noch eine solche, die in Analogie zu den Isolinien der Geowissenschaften erfolgt und auch nicht die Ersetzung des Ausdrucks Isoglosse durch den Terminus Sprac hgrenze etwas zum wissenschaftlichen Verständnis derjenigen Linien auf Dialektkarten beitragen kann, die gezogen werden, um Mengen von Kartierungsdaten für ausgewählte sprachliche Erscheinungen zu begrenzen. Ein angemessenes Verständnis dieser Linien ist nur relativ zu einer Festsetzungsdefinition möglich, die über die Termini in ihrem Definiens an andere Definitionen angeschlossen ist, damit in eine Definitionskette als einer geordneten Menge von Definitionen steht, welche Teil einer Theorie der Sprachkartographie ist. 2.5. Zur Entwicklung der ‘Iso-Terminologie’ In diesem Abschnitt wird nicht etwa ein historischer Abriß der durch zahlreiche Diskussionen verzahnten romanistischen und germanistischen ‘Sprachgrenzdiskussion’ (vgl. z. B. die Kontroverse Gauchat/Haag/ Fischer) und auch keine Analyse des sog. Isoglossenstreites gegeben (vgl. das Referat bei Horning 1893 sowie Kap. II, 2. „The Dialect Boundary Controversy“ in Jochnowitz 1973, 27—33). Es geht mithin nicht um die I n t e r p r e t a t i o n der Begrenzungslinien auf Dialektkarten, sondern zunächst einmal darum, ausschnittsweise herauszuarbeiten, welches Verständnis dieser Linien als kartographischen Liniensignaturen jeweils vorlag und darum, das wachsende Problembewußtsein hinsichtlich der Herstellung und Leistung dieser Begrenzungslinien herauszuarbeiten. Dabei muß auch berücksichtigt werden, daß das jeweilige Problembewußtsein einzelner Dialektgeographen nicht davon abhängig ist, ob sie die Begrenzungslinien mit irgendeinem der ‘Iso-Termini’ bezeichnen.
2.5.1. Die Verbreitung und Verwendung von Isoglosse in der frühen Rezeptionsphase Freudenberg (1966, 228—231) hat die Ve rb r e i t u n g des Bielenstein’schen Terminus in der frühen Rezeptionsphase (bis ca. 1960 ) skizziert: Die Verbreitung beginnt in der Lettologie in Rezensionen von Bielensteins Atlas, führt über die Allgemeine und Indogermanische Sprachwissenschaft (z. B. Saussure, Meillet, Feist) zunächst in das niederländische (z. B. Schrijnen 1920 , Klocke) und dann in das englischsprachige Schrifttum (z. B. Bloomfield). Die deutschen Dialektologen haben den Terminus zunächst nicht verwendet. Frühe Belege finden sich bei Debus (1963); dieser verwendet Isoglosse generisch, d. h. für kartographische Linien, die unterschiedliche sprachliche Einheiten begrenzen. Die Semantik des Terminus (und damit der Begriff der Isoglosse) bleibt in dieser Phase variabel und zugleich relativ undeutlich. An einigen Beispielen sei das verdeutlicht. Schütte (1903/4, 270) führt aus: „[...] daß die verschiedenen Gürtel des Verkehrskreises ihre Entsprechungen in den Zonen der mehr oder weniger weit vorgedrungenen Sprachneuerungen des Zentrums finden; für solche Sprachzonen gibt es schon einen feststehenden Kunstausdruck, nämlich ‘Isoglotten’“.
Aus -ss- ist -tt- und aus den Linien sind Flächen, Sprachzonen, geworden. Die Verwendung von Isoglossen für Gebiete findet sich auch noch in neueren Darstellungen: „Eine Isoglosse [...] ist ein Gebiet mit gleicher lautlicher (oder auch allgemein: sprachlicher Erscheinung [...]. Sprachliche Gebiete erscheinen so als Isoglossenbündel [...]“ (Maas 1973, 63).
Dieser — weniger verbreiteten und besonders in der germanistischen Dialektologie weniger geläufigen — Auffassung liegt ein anderes sprachliches Definitionsmuster zugrunde, nämlich: GEBIETE GLEICHER X, wobei für X jede Bezeichnung für ein sprachliches Merkmal eingesetzt werden kann. Dieses Muster ist im Grunde für dialektologische Zwecke geeigneter als LINIEN GLEICHER X, denn bei der Ermittlung von kartographischen Begrenzungslinien geht es ja um Bildung von Gebieten für Kartierungsdaten, die für die jeweiligen sprachlichen Merkmale stehen. Bei manchen Autoren wird mithin Isoglosse so verwandt wie später bei Putschke (1974, 332 vgl. die Definition im Register
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
516) der Terminus Isofläc he oder isogloss area (vgl. Pei/Gaynar 1954, Stichwort isogloss). Das Problembewußtsein für die kartographischen Begrenzungslinien als solche (nicht das für ihre Interpretation) bildet sich in der Dialektologie nur langsam und relativ spät heraus. Eine der ersten problematisierenden Stellungnahmen findet sich bei Goossens (1959); dieser weist daraufhin, daß man anstelle von e i n e r eigentlich z we i Isoglossen ziehen müßte, nämlich eine für die Verbreitungsgrenzen einer sprachlichen Erscheinung A und eine für die einer vergleichbaren und benachbarten Erscheinung B. Damit wird das Verfahren problematisiert, nach dem e i n e Isoglosse in einer Zwischenzone, und zwar z w i s ch e n den äußersten Belegpunkten für A und den äußersten für B gezogen wird und nicht zwei als Verbindungslinien der äußersten A- und der äußersten BBelegpunkte. Mit Goossens’ Überlegung wird dies deutlich: Nicht jede Begrenzungslinie auf Dialektkarten ist auch eine Tr e n n u n g s l inie (oder S ch e i d e l inie) in dem Sinne, daß sie z u g l e i c h z we i unterschiedliche, aber aufgrund eines tertium comparationis vergleichbare sprachliche Erscheinungen begrenzt. Freudenberg (1966, 22 0 , Anm. 2) weist darauf hin, daß eine der beiden vergleichbaren Erscheinungen in der „Zero-Form“ vorliegen kann, so daß ohnehin die Kartierungsdaten für A und B nicht durch eine Isoglosse getrennt werden können und auch Atwood stellt fest: „Moreover,
since
responses
from
more
than
one informant are normally enteres at each ‘point’, an isogloss should never be regarded as a dividing line between two usages; rather it is an indication of the approximate outer limit of a single feature“ (1963/64, 15).
Atwood wendet sich hier gegen die in der amerikanischen Dialektgeographie verbreitete Auffassung, daß nur Isoglossen „dividing lines“ sind. Die in der frühen Rezeptionsphase häufig anzutreffende Auffassung, daß Isoglossen nur approximativ die Verbreitung eines Merkmals angeben, wird während dieser Phase nirgends kritisch problematisiert, d. h.: es gibt keine systematischen Überlegungen, nach welchem Verfahren die Approximation systematisch in den Verlauf einer kartographischen Begrenzungslinie transformiert wird.
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2.5.2. Die Erweiterung der ‘Iso-Terminologie’ durch sprachliche Analogiebildungen Die meisten neuen, zu Isoglosse analog gebildeten ‘Iso-Termini’, stammen aus der romanistischen Dialektologie. Bereits 190 9 gibt Huber folgende terminologische Systematik: „Aus dem Sprachatlas wird man natürlich die Punkte gleicher Erscheinungen heraussuchen und miteinander verbinden. Die Linien, welche die äussersten Punkte gleicher lautlicher Entwicklung verbinden, nennt man 1. Isophonen; 2. Isomorphen sind solche, welche die Verbreitungsgebiete gleicher morphologischer Entwicklung umrändern. 3. Isoformen möchte ich die Umfassungslinien gleicher Wortbildung durch Suffixe nennen. 5. Isolexen würden die Gebiete formell gleichen, 6. Isoglossen solche bedeutungsgleichen Wortschatzes umrahmen und 7. Isosyntaxen gleiche syntaktische Erscheinungen umgrenzen“ (Huber 1909, 100).
Huber spezifiziert hier den vorher nur generisch verwendeten Terminus Isoglosse: Isoglossen sind nun (Umfassungs-)Linien, die die Gebiete bedeutungsgleichen Wortschatzes umrahmen. Dies ist allerdings — relativ zum Terminusgebrauch vor und nach Huber — eine merkwürdige Charakterisierung, denn bedeutungsglei c her Worts c hatz kann wohl nur verstanden werden wie Wörter, die in ihrer Bedeutung gleic h sind, d. h. aber: Isoglossen werden hier als Begrenzungslinien charakterisiert, die das Verbreitungsgebiet von wenigstens zwei Synonymen (oder Heteronymen) insgesamt begrenzen. Nähere Ausführungen zu Eigenschaften der „Umfassungslinien“ — die hier also keine Trennungslinien sind — finden sich bei Huber nicht; sein terminologischer Vorschlag hat sich als ganzer nicht durchgesetzt. Allerdings werden einige der ‘Iso-Termini’ in der Forschung rasch geläufig und bis in Gegenwart in teilweise oder gänzlich anderer Bedeutung verwendet. So schreibt z. B. Wagner (1920, 53): „Man hat die einzelnen Laut-, Form- und Wortwellen gegenseitig abgegrenzt und wie man nach Analogie der Isothermen sich zu sagen gewöhnt hat, die einzelnen Isophonen, Isomorphen und Isolexen auf Karten eingezeichnet [...]“
Wagner stellt die ‘Iso-Termini’ explizit in den Zusammenhang der Wellentheorie (Lautwelle = Isophon). Daß beim Einzeichnen z. B. der Isophone auf Karten methodische Fragen auftreten könnten, liegt nicht im Gesichtsfeld von Wagner. Vergleicht man die Charakterisierung von Isolex bei Huber, z. B. mit der bei Reichmann (1969, 68; vgl. auch Abraham 1974, 191) erkennt man, daß
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
sich die Verwendung von Isolex vollständig gewandelt hat: „Unter einem Isolex, einem Spezialfall der Isoglosse, versteht man eine Linie, die zwei sich geographisch gegeneinander absetzende Synonyme kartographisch voneinander trennt“.
Isolex ist nach dieser Definition ein Terminus der onomasiologisch orientierten Wortgeographie, die man Bezeichnungsgeographie nennen kann. Der komplementäre Terminus der semasiologisch arbeitenden Bedeutungsgeographie ist Isosem. Grosse (1967, 288) charakterisiert Isoseme als semasiologische Grenzlinien und Adamus (1962, 123) definiert: „isosemes, i. e. lines dividing territories where a lexical morpheme in different meanings is used“.
Bei Crystal (1980 ) findet man unter dem Stichwort ‘ i s o-’: „an i s o s e m e marks the limits of a SEMANTIC feature (as when lexical items of the same phonological form take on different MEANINGS in different areas)“.
Insgesamt gesehen, führt die Erweiterung der ‘Iso-Terminologie’ nicht zu einem größeren Bewußtsein für die methodischen und theoretischen Probleme, die sich bei der Festlegung von kartographischen Begrenzungslinien stellen. 2.5.3. Erste Präzisierungen zu den ‘Iso-Termini’ in der zweiten Rezeptionsphase Der Anlaß dafür, daß man in der Dialektologie auf die unklare und — hinsichtlich der Analogie zu den Isolinien der Themakartographie — falsche Verwendung der ‘Iso-Termini’ aufmerksam wird, sind Zwirners phonometrische Isophonen der Quantität (vgl. Zwirner 1958, 1959 und 1965). Zwirners Isophonen sind Verbindungslinien zwischen Ortspunkten einer Karte, denen ein gleicher Quotient zugeordnet ist, welcher das Verhältnis der statistischen Mittelwerte der Realisierung (Dauer) der phonologischen Längen zur Realisierung (Dauer) der phonologischen Kürzen (nach einer Tonbandaufnahme eines Sprechers der Ortsmundart) angibt, wobei die Kürzen gleich 1 gesetzt wurden. Die Andersartigkeit dieser phonometrischen Isophonen der Quantität im Vergleich zu den phonetischen und phonologischen Isoglossen, insbesondere ihre Eigenschaft, daß sie Verbindungslinien von Punkten mit unterschiedlichem Lage- aber gleichen Meßwert sind, führt zu den ersten, weiterreichenden Überlegungen zu den Eigenschaften der Isoglossen als kartographischen Begrenzungslinien, und zwar zunächst bei Grosse
(1967): „In Anlehnung an Begriffe wie I s o b a r e n, Linien gleichen Luftdrucks, oder I s o h y p s e n, Linien gleicher Höhe über dem Meeresspiegel, könnte man versucht sein, die Isoglossen als Linien gleichen Wortgebrauchs zu definieren, die phonetischen und phonologischen Isoglossen als Linien gleicher Lautung bzw. gleichen Phonemsystems. Doch es ist wohl nötig, sich die Unterschiede zu verdeutlichen. Wir verbinden auf unseren dialektgeographischen Karten ja gar nicht die Orte mit gleichen Belegen miteinander wie der Meteorologe die Punkte gleichen Barometerstandes, sondern wir ziehen die Linien zwischen Orten. Die I s o g l o s s e n u m g r e n z e n also die F l ä c h e n , d i e R ä u m e g l e i c h e n Wo r t g e b r a u c h s, gleicher Lautung, gleichen phonematischen Systems. Mag diese Differenzierung nicht von weittragender Bedeutung sein, so trifft ein anderer Unterschied Wesentliches. Die I s o b a r e n wie die I s oy h y p s e n und andere vergleichbare Linien aus dem Bereich der Naturwissenschaften geben Werte aus R e i h e n g l e i c h m ä ß i g w a c h s e n d e r Z a h l e n wieder; es sind gedachte Stufen, Grade eines mehr oder weniger gleichmäßigen Gefälles. An arithmetische Stufung ist aber bei den I s o g l o s s e n k e i n e s f a l l s zu denken. Bei den Wortgrenzen wie bei den markierten Lautgrenzen stehen wir vor glatten Gegensätzen [...] Mit den Isohypsen und Isobaren stimmen aber nach beiden Gesichtspunkten die phonometrischen Isophonen E. ZWIRNERS überein [...]“ (Grosse 1967, 292 f.).
Grosse macht darauf aufmerksam, daß (a) die Isolinien der Themakartographie (Isohypsen, Isobaren) anders gezogen werden als die Isoglossen, (b) daß die Datengrundlage eine andere ist, (c) daß nur die phonometrischen Isophonen den themakartographischen Isolinien vergleichbar sind. Damit ist die falsche Analogie, in der die ‘Iso-Terminologie’ seit Bielenstein stand, aufgedeckt und der Weg für weitere Präzisierungen gewiesen. Einen Schritt weiter auf diesem Weg gehen Wiegand/Harras (1971). Bei ihrem Versuch, den Status von Sprachkarten im Rahmen linguistischer Deskriptionsmittel zu klären, gelangen sie — nach einer Auseinandersetzung mit der Isoglossendefinition Freudenbergs (vgl. 1966, 220 f.) und unter Heranziehung von Überlegungen aus der Themakartographie — zu folgender Isoglossendefinition, wobei Isoglosse als generischer Terminus und als Pseudoisolinie im Sinne der Themakartographie aufgefaßt ist: „Eine Isoglosse ist eine Linie auf Sprachkarten, die in ihrem interpretativ festgelegten Verlauf
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
mindestens zwei Mengen A und B von unstetig verteilten nominalen Deskriptionsmitteln (z. B. nominalen Signemen u. Symbolen), die alle einen voneinander unterschiedlichen, aber eindeutig fixierten Lagewert haben, so trennt, daß alle nominalen Deskriptionsmittel der Menge A sich von allen nominalen Deskriptionsmitteln der Menge B im Hinblick auf den Abgrenzungszweck der gleichen Isoglosse in mindestens einem, ein und demselben Merkmal unterscheiden“ (Wiegand/Harras 1971, 72).
Eine wesentliche Lücke in dieser Definition besteht darin, daß im Text nicht angegeben wird, was unter interpretativ festgestellten Verlauf genau zu verstehen ist (vgl. die Kritik bei Händler/Naumann 1976, 126 ff.). Um dies zu klären, muß nun ein weiterer theoretischer Rahmen dargelegt werden, der eine systematische Behandlung der kartographischen Begrenzungslinien und ihre Konstruktion (‘Isoglossenfindung’) erlaubt.
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Systematische Aspekte der Kartierung von Sprachdaten
3.1. Die Sprachkarte als Abbildung 3.1.1. Lokalisierbarkeit Unter einem sehr allgemeinen Aspekt kann eine Sprachkarte als Abbildung (im mathematischen Sinne) verstanden werden: Punkten einer topographischen Karte des Untersuchungsraums werden die erhobenen Belege — oder aus diesen abgeleitete Elemente, Signeme — zum Zwecke einer sprachwissenschaftlichen Fragestellung zugeordnet. Bereits auf dieser Betrachtungsebene lassen sich die wichtigsten Fehldeutungen des Isoglossenkonzepts aufarbeiten. Eine Abbildung im mengentheoretischen Sinn läßt sich folgendermaßen charakterisieren: Den Elementen einer ersten Menge (Urbild, Vorbereich) werden durch eine Funktion (Abbildungsfunktion, Transformation) Elemente einer zweiten Menge (Bild, Nachbereich) so zugeordnet, daß jedes Element der ersten Menge genau ein Element der zweiten Menge erhält. Im Falle der thematischen Kartographie besteht die erste Menge aus den Punkten des arealen Kontinuums, die zweite aus den Werten des zu kartierenden Themas in diesen Punkten. Dargestellt wird diese Abbildung meist als graphische Einheit, in der die beiden Mengen synoptisch zusammengefaßt sind: in einer Grundkarte, die den Untersuchungsraum zweidimensional
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repräsentiert, werden die Repräsentanten der realen geographischen Punkte mit den ihnen zugeordneten Werten gekennzeichnet. In der kartographischen Praxis steht natürlich nur eine endliche Wertemenge zur Verfügung, und das Urbild ist reduziert auf eine ausgewählte Menge von Stützstellen. So ist der Meteorologe, der eine Wetterkarte zeichnet, auf die Meldungen der Wetterbeobachtungsstationen angewiesen. Prinzipiell aber ließe sich dieses Netz beliebig verfeinern: in jedem Punkt der Erdoberfläche läßt sich z. B. der Luftdruck messen. Die Sprachkartographie ist in diesem Punkt in einer ungünstigeren Situation. Dialektologisch relevante Sprachdaten lassen sich nämlich im allgemeinen — sieht man von Teildisziplinen wie der Flurnamenforschung ab — nur über einen Sprecher lokalisieren, und diesem kann ein Geburtsort, ein Wohnort, ein ‘Wirkungskreis’ u. ä., aber kein exakter geographischer Punkt sinnvoll zugeordnet werden. Für die Interpretation eines Sprachkartendatums hat dies Konsequenzen: man kann n i ch t sagen, daß i n d i e s e m P u n k t s o ge s p r o ch e n w i r d, sondern nur, d a ß i n d e r Um ge bung dieses Punktes jemand lebt, der s o s p r i ch t; der gewählte Kartenpunkt repräsentiert ein dem Sprecher zugeordnetes Flächenstück. Sinnvoll wird die Kartierung eines Sprachdatums häufig erst, wenn es für den Raum typisch ist, d. h. wenn die Individuen, die die dem Kartenpunkt korrespondierende Fläche bewohnen, insgesamt oder überwiegend das kartierte Sprachdatum verwenden. Geht man davon aus, daß die Ortsgemeinschaften dialektologisch hinreichend homogen sind, um durch einzelne Sprecher repräsentiert zu werden, so läßt sich das Urbild einer sprachkartographischen Abbildung konkreter bestimmen: es besteht aus jenen geographischen Teilflächen, die den Ortsgemeinschaften als ‘Lebensräume’ — nicht unbedingt als amtliche Gemarkungen — zuzuordnen sind. In diese areale Einheiten gehört das erhobene Sprachdatum; geographisch genauer läßt es sich nicht lokalisieren. Die exakten Grenzen dieser Areale sind, streng genommen, nicht zu bestimmen — dazu müßte das Mobilitätsverhalten der Ortsgemeinschaft festliegen und bekannt sein; für die sprachkartographische Praxis werden sie auch nicht benötigt. Normalerweise genügt es, den Kartenpunkt, der dem Ortsmittelpunkt zugeordnet ist, als Repräsentanten für das sprachgeographische Areal heranzuziehen. Die Interpretation der Sprachkarte ist aber immer vor diesem Hin-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
tergrund zu führen. So beruht die Frage nach ‘Zwischenwerten’ zwischen zwei benachbarten Ortspunkten ebenso auf einem Mißverständnis der sprachkartographischen Abbildung wie die Annahme von Linien auf der Sprachkarte, durch die dialektale Varianten getrennt werden. Genau betrachtet, verlaufen solche Linien zwischen Kartenpunkten, denen die Sprachdaten nur auf die beschriebene, stark vermittelte Art und Weise zugeordnet werden können. Die Ortspunkte der Sprachkarte sind gewissermaßen ‘Kunstpunkte’, Repräsentanten für areale Bereiche, die sich sprachgeographisch nicht weiter gliedern lassen. Es handelt sich um ein Diskontinuum besonderer Art: Die grundsätzliche Problematik der arealen Abbildbarkeit von Sprache — und nicht bloß erhebungstechnische Fragen — schränkt die Approximation an ein Kontinuum von vornherein auf außersprachlich vorgegebene Grenzen ein. Für den theoretischen Status der Sprachkarten bedeutet diese Struktur des Urbildbereichs, daß sie auf der Skala der Kartentypen, die die thematische Kartographie bereitstellt (Imhof 1972, 99 ff.), sehr weit unten rangieren; sie sind als Einzelpunktkarten (nach Imhof Gefüge von Gattungs- und Wertsignaturen) zu bezeichnen, die sich für die Anwendung höherer kartographischer Verfahren wie der Isolinienbildung streng genommen nicht, in der Annäherung nur mit den in der Sache liegenden Einschränkungen eignen. 3.1.2. Die Meßniveaus von Sprachdaten Für den Bildbereich der sprachkartographischen Abbildung ist das M e ß n i ve a u d e r S p r a ch d a t e n von besonderer Bedeutung (vgl. hierzu Art. 38 und bes. Art. 39). Die in herkömmlichen Sprachatlanten kartierten Daten rangieren i. allg. auf der untersten Stufe der Niveauskala, dem No m i n a l n i ve a u. Es handelt sich um Lexeme, Morphe, Lauttaxen u. ä., also Sprachdaten, die in direkter Weise aus Sprachäußerungen erschließbar sind. Die einzige datentechnisch sinnvoll anwendbare Eigenschaft dieses Datentyps ist die der Gleichheit und der Ungleichheit. Ohne Einbezug weiterer Informationen — z. B. etymologischer oder lautgesetzlicher Natur — lassen sich solche Daten weder in eine inhaltlich begründbare Reihenfolge bringen, noch ist es sinnvoll, mit ihnen mathematische Operationen durchzuführen. Für die Anwendung des themakarto-
graphischen Isolinienbegriffs fehlen bei Sprachkarten diesen Datentyps, also sowohl von der Urbild- als auch von der Bildseite her, die Voraussetzungen; Händler/Naumann (1976, 126 ff.) verwenden deshalb den unspezifischen Terminus Grenzlinie. Ohne die im folgenden Abschnitt zu behandelnden methodischen Aspekte hier vorweg zu nehmen, sei auf den i n t e r p r e t a t i ve n C h a r a k t e r von Grenzlinien (was nicht mit deren Interpretation — vgl. 1. — zu verwechseln ist) auf Sprachkarten nominalen Datenniveaus hingewiesen: die Entscheidung, ob ein Ortspunkt einem abzugrenzenden Gebiet zuzuschlagen ist oder nicht, ist nicht allein aufgrund der Kenntnis seiner Belegung zu treffen, sondern setzt eine Bewertung der Belegstruktur seiner näheren und weiteren Umgebung voraus; ein anderes Vorgehen läßt das niedrige Datenniveau nicht zu. Bereits die Aussage, daß ein Ortspunkt der Belegung A isoliert in einem Gebiet der Belegung B liege, stellt eine Interpretation der Belegstruktur dar, die den Punkt dem Gebiet als — dialektologisch zu erklärenden — Fremdkörper zuschlägt. Eine tragfähige Grenzliniendefinition muß diesen interpretativen Aspekt methodisch explizieren und hat sich dabei am intuitiv-arbeitstechnischen Vorgehen des Dialektologen, wie es z. B. Hildebrandt (1967) darlegt, zu orientieren. Man kann die lokale Analyse von Belegstrukturen durch die Einführung eines H o m o ge n i t ä t s m a ß e s quantitativ angehen. Ordnet man z. B. jedem belegten Kartenpunkt den Prozentwert zu, mit dem seine Belegung in seiner näheren Umgebung vorkommt, oder den des häufigsten Belegs seiner Nachbarschaft, so impliziert dies eine Abbildung, in der sich ausdrückt, wie stark homogen einzelne Kartenteile sind; Gebiete mit hohen Werten zeichnen sich durch gleichförmige Belegung aus, niedrige Werte deuten auf eine durchmischte Belegstruktur hin. Wenn geklärt ist, was unter der Umgebung eines Kartenpunktes verstanden werden soll, läßt sich auf diese Weise zu jeder Sprachkarte eine ‘Homogenitätskarte’ konstruieren, auf der die Verwobenheit der Ortspunkte in ihre Umgebung kartiert ist. Bezüglich des Meßniveaus rangiert die Homogenitätskarte einer Stufe höher als die Ausgangskarte: die Stärke der Verwobenheit in ihre Nachbarschaft bringt die Ortspunkte in eine sinnvolle Rangfolge; die Homogenitätskarte besitzt O r d i n a l n i ve a u. Das Problem der Grenzlinienbestimmung unterscheidet sich
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
hier noch nicht grundsätzlich von dem bei Karten nominalen Datentyps; nach wie vor lassen sich Verbindungslinien zwischen Punkten gleichen Werts nicht sinnvoll interpretieren; eine Grenzlinie ist eine Umfassungslinie, die eine Menge von Ortspunkten umschließt, deren Homogenitätsmaß einen vorgegebenen Wert erreicht. Dennoch besteht ein wichtiger Unterschied zu Grenzlinien nominalen Niveaus. So läßt sich z. B. um einen stark homogenen Gebietsteil eine Folge von Umfassungslinien mit immer niedrigeren Homogenitätsmaßen ziehen. Von diesen schließt jede mit geringerem Wert alle mit höheren Werten ein. Auf die nominale Ausgangskarte übertragen, entstehen auf diese Weise um die homogenen Kerne Linienscharen, die — mit weiteren methodischen Ergänzungen — als Grundlage einer umgebungsorientierten Belegstrukturanalyse dienen können. Das hier gegebene Beispiel einer Karte ordinalen Niveaus eignet sich für die Kartierung im herkömmlichen Sinne kaum; es handelt sich um ein abgeleitetes Konstrukt, das als Arbeitsmittel dient. Das Hauptaugenmerk gilt der nominalen Ausgangskarte, auf der mit Hilfe methodisch expliziter Verfahren das Problem der Grenzlinienbestimmung zu lösen ist. Als Zahlenwerte sind die Homogenitätsmaße zwar mit den arithmetischen Operationen zu behandeln, die Resultate lassen sich jedoch nicht sinnvoll interpretieren. Eine Aussage z. B., daß ein Punkt A um 20 % stärker in seine Umgebung verworben sei als ein Punkt B, stellt eine Überinterpretation der in den Werten ausgedrückten Information dar; verwendbar ist nur die Tatsache, d a ß — und nicht w i ev i e l — die Eingebundenheit größer ist. Kartendaten, bei denen auch die quantitativen Unterschiede sinnvoll interpretabel sind, rangieren auf der höchsten Stufe der Niveauskala, dem Intervall- bzw. Quotientenniveau. Das für den Bereich der Dialektologie bekannteste Beispiel für diesen Datentyp sind Zwirners phonometrische Meßwerte, auf deren Grundlage seine Isophonen der Quantität gebildet wurden (Zwirner 1959). Hier sind zumindest von der Bildseite her die Voraussetzungen für die Anwendung des themakartographischen Isolinienbegriffs erfüllt. Was die Urbildseite betrifft, so gelten auch in diesem Fall die gemachten Einschränkungen, d. h. es handelt sich nicht um echte Isolinien. Auf dicht belegten Karten kleinsten Maßstabs können solche Linien u. U. als approximiert gelten; die Interpretation großmaßstäblicher Aus-
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schnitte bleibt problematisch und wird spätestens unterhalb der Ortsebene sinnlos. Voll auszunutzen sind die arithmetischen Möglichkeiten auf dem Intervall- und Quotientenniveau bei dialektologischen Fragestellungen kaum. Weder ist die Abbildungsfunktion, die den Ortspunkten Zahlenwerte zuordnet, als geschlossener Formelausdruck darstellbar — was die Isolinienfindung auf ein mathematisch lösbares Nullstellenproblem zurückführen würde —, noch läßt sich die Berechtigung für Wertinterpolationen inhaltlich begründen. Man hat es mit einem nicht beliebig verfeinerbaren Netz von Stützstellen zu tun, denen empirisch Meßwerte zugeordnet werden. Für methodisch explizite Verfahren zur Grenzlinienbestimmung stellen sich damit ähnliche Probleme wie auf den unteren Datenniveaus. Da nun die höheren Niveaus alle Eigenschaften der niedereren besitzen, sei im folgenden das Problem der Grenzlinie für den nominalen Kartentyp erörtert, wobei die begriffliche Explikation auch abgeleitete Konstrukte höherer Datenniveaus erforderlich machen wird. 3.2. Repräsentativität Ist schon, wie oben ausgeführt, die lokale Fixierung eines Sprachphänomens nicht unproblematisch, so gilt dies erst recht für die Auswahl des Sprachdatums, das einem Ortspunkt zugeordnet wird (vgl. hierzu auch bes. Art. 23). „[...] eine Gewährsperson wird bei der Befragung selbst durch einen gut geschulten Explorator, vollends im unbeobachteten Reden nicht selten Varianten gebrauchen, die [...] oft freie sind, oft aber auch durch bestimmbare Einflußfaktoren veranlaßt werden: Es kommen [...] unterschiedliche Sprachformen zu Ohr oder zu Papier, je nachdem, ob die Gewährsperson weiblich oder männlich; alt, mittleren Alters oder jung ist; ob Arbeiter, Bauer, Handwerker, Kaufmann oder Angehöriger der Oberschicht; je nach Gesprächsart, dem Thema, der Einstellung zu diesem Thema und anderen situativen Faktoren mehr“ (Ruoff 198 0 , 99 f.).
Sperlbaum (1974) erklärt die weitgehende Nichtübereinstimmung der DSA-Karte ‘wir’ (Wenker-Satz 23) mit neuerem, direkt erhobenem Datenmaterial des Deutschen Spracharchivs in einem Teil Westfalens erhebungstechnisch: die im DSA kartierten Vollformen [fui], [fei] und [fi] treten in der gesprochenen Sprache fast völlig hinter die reduzierte Form [fǝ] zurück. Lediglich in der seltenen akzentuierten Position werden die
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Vollformen gebraucht, und für diesen Fall stimmen die Isoglossen auch überein. Die Wort-für-Wort-Übertragung des Satzes Wir sind müde und haben Durst muß die Informanten zum Gebrauch der Vollformen veranlaßt haben. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die lokalen Varianten eines Sprachphänomens vollständig zu erheben und ihre Gebrauchsfrequenz abzuschätzen, ist die Dialektkartographie kaum in der Lage, einen solch vielschichtigen Gegenstand übersichtlich darzustellen (vgl. Westerhoff 1977). In der Praxis wird die Frage, welcher Beleg — denn normalerweise ist nur einer kartierbar — für einen Ort repräsentativ ist, durch eine Entscheidung des Dialektologen gelöst. Für die Interpretation eines konkreten Kartenbildes, aufgrund dessen etwa eine Grenzlinie ausgezeichnet werden soll, wirft dies — insbesondere im Falle durchmischter Zonen — eine Reihe von Fragen auf. Wie ist ein singulärer Karteneintrag zu bewerten? Entspricht ein stark mäanderförmiger Linienverlauf der Sprachrealität oder liegt ihm die Entscheidungsnot des Dialektologen zugrunde? Ein Verfahren zur Bewertung von Belegstrukturen muß davon ausgehen, daß von zwei unsicheren Linienführungen die einfachere die geeignetere ist, denn sie verhindert eher die ungewollte Assoziation nicht-existenter Exaktheit. Berücksichtigt man darüber hinaus, daß den interpretativen Begrenzungslinien auch die Aufgabe einer übersichtlichen Materialdarstellung zukommt, liefert dies ein Gestaltungsprinzip, an dem sich die methodische Explikation von kartographischen Grenzlinien zu orientieren hat. Einfacher liegen die Dinge, wenn neben der Karte selbst noch weitere Informationen zum Kartenthema zur Verfügung stehen. So läßt sich die Zuordnung eines singulären Punktes zu einem Gebiet auch inhaltlich rechtfertigen, wenn bekannt ist, daß die vorwiegende Gebietsbelegung in dem Ort als lokale Variante existiert. Die systematische Heranziehung solcher Zusatzinformation, die auf der Karte normalerweise keinen Platz findet, läßt sich arbeitstechnisch durch den Einsatz dialektaler Informationssysteme (vgl. Art. 43) realisieren; eine solche Datenbasis kann alle Informationen aufnehmen, aus denen die Sprachkarte ein Extrakt darstellt. Das Repräsentativitätsproblem wird hier quantitativ gelöst durch Aufnahme aller (verfügbaren) Belegvarianten, unter denen sonst ausgewählt werden muß.
4.
Methodische Explikation einer sprachkartographischen Grenzlinienbestimmung
4.1. Wachstumsmodelle Die bisherigen Ausführungen haben ergeben, daß das Meßniveau der nominalen Sprachkarte für methodisch tragfähige Ansätze einer direkten Grenzlinienbestimmung zu niedrig ist. Um das Vorgehen des Dialektologen, das intuitiv, aber nicht willkürlich ist, methodisch explizit zu fassen, müssen Eigenschaften der Kartenbelegstruktur, die die Grenzlinienführung bestimmen, operational verfügbar gemacht, d. h. quantifiziert werden. Das entscheidende Kriterium ist der Homogenitätsgrad: Grenzlinien verlaufen zwischen in sich homogenen Kartenteilen dort, wo diese aufeinander stoßen oder ineinander übergehen. Die Quantifizierbarkeit der Homogenität wurde bereits angedeutet (vgl. 3.1.): jedem Ortspunkt ist mittels Bewertung der ihn umgebenden Belegstruktur ein Maß der Verwobenheit in seine Nachbarschaft zuzuordnen. Damit entsteht eine abgeleitete Karte ordinalen Meßniveaus, auf der sich homogene Kerngebiete auszeichnen lassen. Mit diesen besitzt man einen operationalen Ausgangspunkt, von dem aus sich die visuell-intuitive Bestimmung von Grenzlinienverläufen approximieren läßt, denn sie sind ‘unstrittig’: kein Verfahren würde durch sie hindurch Grenzen verlegen, und sie entsprechen dem, was man als Zentren sprachlicher Verbreitungsgebiete auf der Karte ‘sieht’. Auf diese Weise ist der Anfang einer methodischen Explikation in einen unproblematischen Bereich verlegt: sie beginnt nicht mit der heiklen Frage des Grenzlinienverlaufs selbst, sondern mit der unstrittigen Auszeichnung von Regionen, auf die sich die Grenzlinien letztlich beziehen; dieses Vorgehen kommt dem Bielensteins sehr nahe. Läßt man nun die Umfassungslinien um die homogenen Kerne solange wachsen, bis sie aufeinandertreffen, so hat man auf methodisch explizitem Weg Linienzüge gewonnen, die den herkömmlichen Isoglossen entsprechen. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß der eigentliche Wachstumsprozeß in gleicher Weise wie die Auszeichnung der Kerne das visuell-intuitive Vorgehen ausreichend approximiert, und daß eine exhaustive Kartenaufteilung sprachkartographisch sinnvoll ist (vgl. hierzu Art. 39). Um dies beurteilen zu können, müs-
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sen die einzelnen Aspekte noch etwas konkreter vorgestellt werden. Die Bildung der homogenen Kerne hängt von der Art des gewählten Verwobenheitsmaßes ab. Bei reiner Umgebungsorientierung, wenn also jedem Ortspunkt ein Maß des Anteils der häufigsten Belegung seiner Nachbarschaft zugeordnet ist, gehört ein Punkt ‘in natürlicher Weise’ einer bestimmten Belegart an, nämlich der ihm zugewiesenen; lediglich, wenn in einer Umgebung zwei gleiche Anteile auftreten, wird eine Entscheidung erforderlich. Betrachtet man eine bestimmte Belegart, so entspricht ihr ein über die ganze Karte verteiltes Werteprofil (‘Tafelbergprofil’), das graphisch als sich wellenförmig um die homogensten Kartenteile (‘Hochebenen’) ausbreitende Linienstruktur darstellbar ist. Da nun jeder Kartenpunkt genau einem der den Belegarten entsprechenden Profile angehört, besitzt man in den äußersten Linien der Wellenstrukturen bereits die Isoglossen. Das Wachstum der Kerne ist hier eher bildlich zu verstehen; faktisch stehen die Grenzlinienverläufe mit der Zuordnung der Homogenitätswerte fest; der kleinräumliche Verlauf der Linien ist zunächst allein durch das Zuordnungsverfahren bestimmt und damit — besonders in stärker durchmischten Zonen — kaum zu kontrollieren. Die Grundanforderungen, die der Dialektologe von der kartenbildlichen Seite her an die Isoglosse stellt, sind aber erfüllt: die Linienzüge trennen die Verbreitungszentren verschiedener Belegart, und in Saumzonen verlaufen sie so, daß das anteilsmäßige Auftreten der Belege in einem Kleinraum für dessen Zuschlag zu einem Kern entscheidet, daß also der optische Eindruck der Belegstruktur Berücksichtigung findet. Sind die Homogenitätsmaße ortsbezogen gewählt, einem Ortspunkt also ein Parameter zugeordnet, der sich auf seine Belegung bezieht, bekommt die abgeleitete ordinale Karte ein anderes Aussehen. Sie ist hier ein genaueres Bild der Ausgangskarte, ‘die Tafelberge sind zerklüfteter’. Bereits die Bildung der Kerne setzt in diesem Fall eine Umgebungsanalyse voraus; ohne eine solche würde z. B. ein singulärer Punkt in einer sonst homogenen Zone ein ‘Loch’ darstellen. Da hier allgemein keine Zuordnung der Ortspunkte zu bestimmten Kernen ‘von selbst’ gegeben ist, sind die Grenzlinien nur über einen echten Wachstumsprozeß zu finden: längs der Kernumfassungslinien ist das Außengebiet umgebungsanalytisch auf beleg-
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strukturelle Ähnlichkeit zu untersuchen und gegebenenfalls der Grenzlinienverlauf nach außen zu erweitern. Auf diese Weise wachsen die Kerne in die sie umgebenden Säume hinein, und beim Aufeinandertreffen zweier Grenzlinien verschmelzen diese zu einer Trennungslinie (dividing line) zwischen zwei Verbreitungszentren. Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Wachstumsprozeß geeignet ist, das visuell-intuitive Vorgehen zu approximieren; sein Grundelement ist ja gerade das ‘Ertasten’ belegstruktureller Ähnlichkeiten. Die Grenzlinie wird zum aktiven Element, mit dem sich insbesondere auch das Problem der Generalisierung, also der den Umständen angepaßten Vereinfachung des Linienverlaufs angehen läßt. Das in der Themakartographie für die Isolinien formulierte Gebot der Generalisierung (vgl. Imhof 1972, 141 ff.) gilt nämlich besonders auch für dialektkartographische Grenzlinien: da die kartierten Sprachdaten zwar in unterschiedlichem Maße, bis zu einem gewissen Grade aber in jedem Fall unsicher und unvollständig sind, m. a. W. den realen Gegenstand, aus dem sie abgeleitet sind, nur eingeschränkt abbilden, kann eine zu enge Interpretation des Kartenbildes eine Überinterpretation im Sinne ungewollt behaupteter Exaktheit bedeuten. Daß der Verlauf einer Grenzlinie den dokumentarischen Wert einer Dialektkarte nicht zu tangieren braucht, sei hier nur erwähnt; der Zusammenhang kartographischer Darstellungsfragen wird eingehend in Art. 39 behandelt. Konkrete verfahrenstechnische Schritte zur Grenzlinienfindung, die über den Bielensteinschen Ansatz hinaus gehen, finden sich bereits bei Haag (vgl. 2.3.2.). Geht es hier noch hauptsächlich um den kleinräumlichen Linienverlauf zwischen den Ortspunkten, so stellen die Verfahren von Janssen (1973) und besonders auch Pudlatz (1977) parametrisch steuerbare Ansätze dar, mit denen sich der Glättungsgrad der Grenzlinien variieren läßt. Händler/Naumann (1976) gehen von einem Wachstumskonzept aus, mit dem sich eine Grenzlinienkonstruktion auf beliebigen Belegstrukturen durchführen läßt. Die Grenzlinien der Karte 25.3. wurde mit Hilfe eines Wachstumsverfahrens computativ konstruiert. Kartiert ist der auslautende Konsonantismus der Form (ge)blieb(en) (Wenker-Satz 25: Der Sc hnee ist diese Nac ht bei uns liegen geblieben ...), und zwar handelt es sich um unkorrigiertes Datenmaterial aus den Beständen des Deut-
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
schen Sprachatlas, das hier lediglich der Illustration dient. Die neun Teilkarten geben den Wachstumsprozeß zur Isoglossenbildung in verschiedenen Phasen wieder. Die obere Reihe zeigt reinere Gebiete (= geringes Wachstum) mit von links nach rechts fortschreitender Auflösung der Mischzonen (= hoher bis niedriger Schwellenwert für die Größe der Wachstumskerne). Die beiden unteren Reihen stellen Wachstumsversionen der oberen Reihe dar: die mittlere ein Zwischenstadium (die Schraffurdarstellung erhöht die Erkennbarkeit der Gebietskonturen), die untere das Endstadium (exhaustive Kartenaufteilung). Der hier verwendete Operator inkorporiert eingeschlossene Fremdpunktmengen in das einschließende Gebiet (‘Positivdarstellung’ der Einschlüsse), auch wenn sie in einem früheren Wachstumsstadium ein eigenes Gebiet bildeten. Grenzlinien zwischen reinen Gebieten, die am ehesten als Isoglossen im herkömmlichen Sinne zu interpretieren sind, werden von allen Varianten nahezu gleich wiedergegeben; sie sind ‘stabil’, parameterunabhängig: Darstellungskonstanten. Die Aufteilung der Mischzonen im Verlaufe des Wachstumsprozesses hängt stark vom Schwellenwert der Wachstumskerngröße ab. Bei extremer Durchmischung der Belegarten ist während der frühen Phasen kein Wachstum zu erzielen; in den späteren Phasen mit immer schwächeren Qualifikationsanforderungen für den Zuschlag zu einem Gebiet überwiegen schließlich die ‘Standortvorteile’ innerhalb der bis dahin entstandenen Linienstruktur: die Grenzlinien in stark durchmischten Zonen sind ‘instabil’, parameterabhängig, Darstellungsvariablen: die Möglichkeit einer lokalen Determinierung ist von der Sache her eingeschränkt. Für die exhaustive Kartendarstellung ergibt sich daraus die Notwendigkeit, zwischen Übersichtlichkeit und Genauigkeit zu wählen; innerhalb von Mischzonen ist das eine nur auf Kosten des anderen zu erreichen. Dies demonstriert die untere Kartenreihe. Alle Karten — mit Ausnahme der schraffierten natürlich — sind dokumentarisch; der Belegwert eines belegten Ortes entspricht entweder dem direkt eingetragenen Kleinsymbol oder dem Großsymbol des Gebietes, in dem er liegt. Die gestrichelte Umrißlinie ist ein rein verfahrenstechnisches Konstrukt, das den Wachstumsprozeß nach außen hin begrenzt. Sie soll darüber hinaus einen ungefähren Eindruck von der geographischen Lage des Beleg-
raums vermitteln, ist aber keinesfalls im Sinne einer politisch-territorialen Grenze zu i nterpretieren. 4.2. Isoglossendefinition Jede sprachkartographische Regionalisierung — abgesehen von der trivialen, die zwischen je zwei verschieden belegten Ortspunkten eine Grenze annimmt — bedeutet, wie dargelegt, eine Interpretation der Belegstruktur. In der herkömmlichen Kartierungspraxis erfolgt sie visuell-intuitiv. Ausgehend vom theoretischen Standort der Sprachkarte, wurde in den vorangehenden Abschnitten versucht, dies verfahrenstechnisch zu fixieren, und zwar mit Hilfe abgeleiteter Karten höheren Datenniveaus, die eine quantitative Approximation des visuellen Vorgehens gestatten. Auf dem erreichten Argumentationsstand soll nun versucht werden, die verwendeten Arbeitstermini — Grenzlinie, Umfassungslinie, Trennungslinie, Isoglosse — begrifflich zu klären und in Beziehung zu anderen Definitionen zu setzen. Händler/Naumann (1976) gebrauchen die Termini Grenzlinie und Isolinie, bzw. Isarithme in Abhängigkeit vom Datenniveau; der Art. 39 folgt dieser Praxis. Die Grenzlinie wird hier im wesentlichen dem nominalen Bereich, dem die ganz überwiegende Zahl der Anwendungsfälle zugehört, vorbehalten, die Isolinie dem Intervall- und Quotientenbereich, beides mit gewissen Überschneidungen zum Ordinalniveau hin. Dieser Verwendung, für die es gute Gründe gibt, steht zweierlei entgegen: Erstens ist es, wie in 3.1.1. dargelegt, strenggenommen generell unzulässig, im Bereich der Dialektkartographie von Isolinien zu sprechen; die Fälle, in denen dies näherungsweise statthaft ist — z. B. bei Zwirners Isophonen der Quantität —, sind methodisch nicht vorrangig am Aspekt des Datenniveaus orientiert. Und zweitens hat sich der Ausdruck Isoglosse, der dialektkartographischen Ausprägung der Isolinie, unbeschadet seiner terminologiegeschichtlichen Fragwürdigkeit durchgesetzt; auch die Einsicht in den Irrtum des Kolumbus hat niemanden veranlaßt, den Indianern einen neuen Namen zu geben. Solange die falsche Analogie zu den echten Isolinien im Bewußtsein bleibt und nicht zu Fehldeutungen führt, und solange keine objektbereichlichen Verwechslungen (Sprachgrenze vs. Begrenzungslinie auf Sprachkarten) geschehen, ist gegen die herkömmliche Verwendung des Terminus Isoglosse nicht einzuwenden. Dies
25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
um so mehr, als die typologischen Gemeinsamkeiten der dialektkartographischen Begrenzungslinien — wegen der methodisch stark einschränkenden Urbildstruktur — doch größer sind als es eine isolierende Betrachtung unter dem Aspekt des Datenniveaus erkennen läßt. Wichtig bleibt die Klärung der arbeitstechnischen Verwendung. Der unspezifische generische Terminus Grenzlinie wird dialektkartographisch vor allem in zwei Bedeutungen gebraucht: einmal wie der Ausdruck Umgrenzungslinie und einmal wie Trennungslinie. Im ersten Falle überwiegt der darstellerische Aspekt, im zweiten der der Interpretation, der wissenschaftlichen Aussage, und nur in diesem Fall scheint die Verwendung des Terminus Isoglosse zulässig. Auf dem jetzt erreichten Argumentationsstand läßt sich die unter 2.5.3. zitierte Definition von Wiegand/Harras präzisieren: Eine Isoglosse ist eine Linie auf Sprachkarten, deren Verlauf interpretativ festgelegt ist. Die Interpretation erfolgt unter Berücksichtigung — der besonderen Spezifik der Unstetigkeit dialektkartographischer Lagedaten — der Unsicherheit der kartierten Daten — nicht kartierter weiterer Information und — der lokalen Belegstruktur der Karte durch Intuition oder durch ein approximierendes explizites Verfahren. Die Isoglosse trennt zwei Mengen A und B von Deskriptionsmitteln (z. B. nominalen Signemen, Symbolen oder numerischen Zuordnungswerten) mit verschiedenem Lagewert so, daß sich, bis auf verfahrenstechnische Ausnahmen, alle Deskriptionsmittel der Menge A von allen der Menge B in Hinblick auf den Abgrenzungszweck in mindestens einem, ein und demselben Merkmal unterscheiden. 4.3. Status der dialektkartographischen Grenzlinie Die hier gegebene Definition der Isoglosse grenzt sie eindeutig gegen den Begriff der Sprachgrenze ab; nach der von Wiegand/ Harras (1971) gewählten Terminologie gehört letztere dem Basisbereich, erstere dem Metabereich der linguistischen Forschung zu. Wenn es zutrifft, „daß Sprachgrenzen im Lauf der letzten 20 Jahre zu Isoglossen umbenannt worden sind“ (Ruoff 1980 , 94), so liegt dem eine Vermengung dieser grundsätzlich verschiedenen Bereiche zugrunde; die Isoglosse ist ein dialektkartographisches Arbeitsmittel, das zur Auffindung und Erfor-
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schung von Sprachgrenzen beiträgt. Die Explizitheit der Isoglossenkonstruktion verfolgt vor allem zwei Ziele. Zum einen bedeutet der Zwang zur verfahrenstechnischen Beschreibung der Arbeitsschritte eine möglichst exakte Analyse auch des interpretativen Vorgehens, was methodisch explikative Elemente in die Isoglossendefinition bringt und sie auf diese Weise faßbarer macht; daß der explizite Aspekt nur fakultativ in die Definition eingeht, hat nicht nur den trivialen Grund, auch die herkömmlichen Isoglossen als solche gelten zu lassen, es stellt darüber hinaus den — nunmehr methodisch zerlegten — manuell-intuitiven Arbeitsprozeß als Approximationsziel heraus. Zum anderen verweist die methodische Explikation auf einen perspektivischen Bereich: den der automatischen Isoglossenbestimmung im Rahmen dialektaler Informationssysteme (vgl. Händler/Naumann 1976, Janssen 1974, Pudlatz 1977). Innerhalb der automatischen Sprachkartographie (vgl. Art. 44) kann die Isoglosse als Arbeitsmittel noch stärker in den Vordergrund treten als in der herkömmlichen Forschung. Die Variabilität und Wiederholbarkeit automatisch erzeugter Karten sowie der (potentielle) Informationsreichtum und die Ergänzbarkeit der Datenbasis, aufgrund derer sie entstehen, versprechen auch im Hinblick auf die sprachkartographische Regionalisierung einen kontinuierlichen, auf das Datenmaterial zurückwirkenden Arbeitsprozeß. Hier ist die parametrisch steuerbare Isoglossenfindung, bei der der Dialektologe z. B. den Generalisierungsgrad des Linienverlaufs bestimmen kann, von besonderem Interesse. Die Isoglosse wird in diesem Fall zum aktiven graphischen Element, die Notwendigkeit, sie operational zu erzeugen, macht sie veränderbar, übertragbar, in ihren geometrischen Eigenschaften analysierbar. Auf diese Weise wird sie brauchbar auch für kartenübergreidende Aufgabenstellungen, wie sie sich etwa aus den von Ivić (1976) skizzierten Ansätzen zur typologischen Charakterisierung von Sprachlandschaften ergeben. In Anwendungsfällen dieser Art tritt der deskriptive Aspekt der Isoglosse zurück; sie wird zum Hilfsmittel empirisch gestützter Theoriebildung.
5.
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
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25. Das Konzept der Isoglosse: methodische und terminologische Probleme
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Harald Händler, MarburgHerbert Ernst Wiegand, Heidelberg
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
528
26. Interferenz-Areale Dialekt/Standardsprache: Projekt eines deutschen Fehleratlasses 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
1.
Ausgangspunkt Anlage eines Projekts und bisheriges Vorgehen Zur Kartierungstechnik Wissenschaftliche Zielsetzungen Probleme und Schwierigkeiten Kartenbeispiele Literatur (in Auswahl)
Ausgangspunkt
In den Jahren 1976—1981 sind insgesamt acht Hefte der Reihe „Dialekt-Hochsprache konstrastiv“ erschienen, die mit einem sprachpädagogischen Ansatz die besonderen systembedingten Schwierigkeiten aufarbeiten wollen, denen sich ein Dialektsprecher bei der Erlernung der deutschen Standardsprache gegenübergestellt sieht. Als unabdingbare Vorarbeit für ein solches Heft mußten die Verf. sämtliche Grammatikbereiche ihres Großdialektes mit der Standardsprache, wie sie z. B. im Duden kodifiziert ist, Punkt für Punkt kontrastieren, um so die fehlerträchtigen Zonen der Überlagerungen zweier Sprachsysteme aufzudecken (publizierte Beispiele: Wegera 1977, Henn 1978, Henn 1978 a). Gewissermaßen als Beleg für eine derartige Fehlerprognose wurden aus unzähligen Schulheften aller Schulgattungen und Altersstufen des Untersuchungsgebietes Fehlerbeispiele zitiert. Damit wurde das etwas spielerisch anmutende Kontrastieren zweier binnensprachlicher Gebrauchssysteme mit der Sprachwirklichkeit der Schule konfrontiert. Die bisher erschienen Hefte sind: Hessisch (Hasselberg/Wegera 1976), Bairisch (Zehetner 1976), Alemannisch (Besch/Löffler 1977), Schwäbisch (Ammon/Löwer 1977), Rheinisch (Klein/ Mattheier/Mickartz 1978), Westfälisch (Niebaum 1978), Pfälzisch (Henn 198 0 ), Niedersächsisch (Stellmacher 1981). Noch nicht bearbeitet sind die Großgebiete Ostfränkisch, Südfränkisch und Ostfälisch. Wünschenswert wäre auch eine Bearbeitung einiger großstädtischer Ballungsräume wie z. B. das Ruhrgebiet, der Raum Mannheim/Ludwigshafen/Heidelberg, Hamburg oder Berlin.
Obwohl noch nicht alle Dialektgebiete der Bundesrepublik Deutschland in dieser großflächigen Weise kontrastiert und als Fehlerlandschaften aufgearbeitet sind, von den übrigen deutschsprachigen Ländern, der DDR, Österreich und der Schweiz ganz zu
schweigen, entsteht schon heute das Bedürfnis einer zusammenfassenden Darstellung dialektbedingter Sprachschwierigkeiten. Mit jedem neu fertiggestellten Heft verstärkte sich der Eindruck, daß es landschaftstypische Fehlerzonen gibt, die eine Dialektlandschaft wie in einem Zerrspiegel zwar, aber unverkennbar und charakteristisch kennzeichnen. Aus ersten zusammenfassenden Versuchen in Form einiger Kartenskizzen entstand daher der Plan eines deutschen Fehleratlasses mit Karten, Dokumentation und Kommentaren (Löffler 1980). Die Intentionen einer solchen deutschen Fehlergeographie sind nun nicht mehr primär sprachpädagogisch oder soziodialektologisch ausgerichtet (vgl. Ammon/Knoop/ Radtke 1978), sondern haben durchaus einen allgemeinen Aspekt, der die Fehlerlinguistik auf der einen (vgl. Nickel 1973, Cherubim 1980 ) und die diatopische Linguistik oder Sprachgeographie auf der anderen Seite in einer neuen und eigenartigen Weise betrifft.
2.
Anlage des Projekts und bisheriges Vorgehen
In einer ersten Phase wurden aus den in den genannten Heften publizierten Materialien für den geographischen Geltungsraum des Heftes nach grammatischen Bereichen Fehler kartiert und als typisch für eine Großlandschaft in eine Karte eingetragen. Hierfür mußte das Fehlermaterial der Hefte neu sortiert und zugeordnet werden, da die einzelnen Problemkapitel der acht Hefte nicht übereinstimmten, sondern nach regionaler Wichtigkeit jeweils anders ausgewählt worden sind. In einem ersten skizzenhaften Kartierungsgang wurden exemplarische Fehlerbeispiele unmittelbar auf eine Grundkarte eingetragen, die sich im großen und ganzen an die Raumeinteilung des Heft-Projekts hielt (Löffler 1980 , 10 3—10 5. Besch/Löffler 1973, 99). Auf diese Art sind allein auf Grund der Materialien der kontrastiven Hefte 10 0 Kartenentwürfe zustandegekommen. Das Umsortieren des Fehlermaterials nach neuen, allen Heften gemeinsamen Gesichtspunkten erforderte einen großen Aufwand und erhebliche sprachgeographische und grammatische Kenntnisse. (Diese Vorarbeiten hat
26. Interferenz-Areale Dialekt/Standardsprache: Projekt einesdeutschen Fehleratlasses
in der Hauptsache Mathilde Gyger als wissenschaftliche Hilfskraft geleistet.) Neben den Kartenentwürfen mit direkter Fehlereintragung wurden noch Fehlerlisten und tabellarische Übersichten angelegt.
In einer zweiten Phase wurden dann die aussichtsreichsten Problemfelder gesichtet, mit Symboltechnik kartiert und dokumentiert. Aus dieser Phase, die immer noch als Projekt- oder Pilotphase zu bezeichnen ist, werden hier ein paar exemplarische Fälle vorgeführt, um daran die besonderen Probleme, den wissenschaftlichen Stellenwert und die weiteren notwendigen Schritte aufzuzeigen.
3.
Zur Kartierungstechnik
Da Dialektfehlerlandschaften offensichtlich sehr großflächig sind, da nur überörtliche— großräumige Dialektmerkmale fehlerträchtig zu sein scheinen, die oft den Status von „sekundären“ Merkmalen haben, läßt sich eine Kartierung durch eine symbolische Schraffur rechtfertigen (zur Flächenkartierung vgl. Art. 39). So wurde bewußt die Lokalisierung der Fehler an einem bestimmten Punkt vermieden. Es sollten dadurch großflächige Fehlerzonen sichtbar werden, die einen geographisch definierten Kernbereich von Fehlerträchtigkeit abbilden, dessen genaue Grenzen trotz aller kartographischer Notwendigkeit eigentlich unbestimmt bleiben sollten. Die Symbolschraffur hat noch den Vorteil, daß man bis zu sechs verschiedene, doch zusammengehörige Fehlerphänomene auf einer Karte darstellen kann. Auch soll durch die Flächenhaftigkeit die areale Charakteristik der Fehlerzonen innerhalb des deutschen Sprachgebietes sichtbar gemacht werden. Die in geographischer Reihenfolge von Nord nach Süd angelegte Fehlerdokumentation soll die Kartenlegende mit Beispielen belegen. Ein kurzer Kommentar will den diasystemaren oder sprachgeographischen Hintergrund eines bestimmten Fehlerbereiches andeuten oder die Besonderheit eines Kartenbefundes hervorheben. Die Karten selbst können keine Mikroverbreitung bestimmter kleinregionaler Fehlerarten darstellen oder gar punktuelle Gegebenheiten berücksichtigen. Sie haben vorderhand nur Entwurfscharakter. Vermutlich wird der ganze Atlas, falls er zustandekommt, diesen instrumentalen Charakter beibehalten. Denn die Kenntnis der Fehlerlandschaften eines Sprachgebietes kann zu weiterführenden Re-
flexionen und Einsichten sprachliche Probleme führen.
4.
529
über
binnen-
Wissenschaftliche Zielsetzungen
Außer der genannten sprachpädagogischen Zielsetzung, der Aufdeckung und Berücksichtigung regionaler „Hauptschwierigkeiten“ beim Einüben der Muttersprache in der Schule, hat ein deutscher Fehleratlas noch weitere interessante Funktionen. Die binnensprachliche Fehlerlinguistik erhält nicht nur eine breitere Belegbasis, sondern auch genauere Informationen über deren geographisches Vorkommen, worüber bisher nur Vermutungen angestellt werden konnten. Die Interferenzareale verlangen aber auch nach einer Interpretation, in der versucht wird, primärsprachlich-dialektale Spracheigentümlichkeiten aufzudecken, die ihre Spuren als Fehlergebiete in der Landschaft hinterlassen haben. Dabei zeigt sich häufig, daß die Fehlerträchtigkeit sich nicht in einem direkten Verhältnis zur kontrastiven Distanz Dialekt-Standardsprache beschreiben läßt. Offensichtlich müssen noch andere Faktoren des Sprachgebrauchs, der schulsprachlichen Eigentümlichkeit, des Verhältnisses gesprochen-geschrieben (die Fehlerbeispiele stammen aus methodisch-technischen Gründen nur aus dem Bereich der geschriebenen Schulsprache) zu einer Deutung herangezogen werden. Darüber hinaus ergeben sich weitere Erkenntnisse über die regionale Varianz der schriftsprachlichen Norm im Deutschen. Es scheint kein abwegiger Gedanke zu sein, daß regionale Fehlerareale und großlandschaftliche Sondernormen wie Bairisches Hochdeutsch, Schweizerhochdeutsch u. a. gar nicht so weit auseinanderliegen (vgl. Ebner 1969, Kaiser 1969/70 , Schläpfer 1980 ). Vielfach wird in der Schule als Grammatik-, Stiloder Ausdrucksfehler moniert, was in der gesprochenen Sprache oder auf Zeitungsebene längst zur regionalen Sondernorm erhoben, in einer zur Tradition gewordenen Medienschelte oftmals aber sprachpflegerisch als Sprachverhunzung diffamiert wird. Auch die Tatsache, daß die regionalen Fehlerzonen nicht schicksalhaft als geographische Naturnotwendigkeit den Sprachverwender, hier den Schüler, zum sprachlichen Fehltritt zwingen, daß vielmehr auch ein Entrinnen möglich oder sogar ein stilistischer Gewinn herauszuschlagen ist, läßt einiges Licht auf das Problem der Fehlerpsychologie fallen.
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Diese scheint eng zusammenzuhängen mit landschafts- und gruppenspezifischen Wertsystemen, die sich auf das gesamte Handeln und Agieren, also auch auf das Sprechen beziehen (vgl. Keller 1980 , Ris 1978). Hinter den an sprachlichen Oberflächenphänomenen gewonnenen Fehlerarealen mögen sich subkulturelle oder subregionale Regelsysteme verbergen, die in den Zusammenhang mit Selbst- und Fremdeinschätzungs-Stereotypen stehen, zu denen eben auch das sprachliche Selbst- und Fremdwertgefühl gehört (Schmid 1973). In diesem Zusammenhang wäre interessant zu wissen, ob sich ähnlich wie bei der klassischen Dialektgeographie die Städte und städtischen Agglomerationen als Sondergebilde mit eigenem Sprachprestige und entsprechendem Selbstbewußtsein aus den Umlandzonen herausnehmen und sich als gesonderte Fehlerareale mit eigenen Fehlertypen herausstellen lassen. (Mattheier 1980 , 161 ff.) Die areal-systematische Fehlerlinguistik, die Fehler als verzerrte Reflexe von sprachlichen Systemkonflikten und Sprachwertdifferenzen darstellt, wirft weitere Fragen auf über das linguistische Verhältnis von Standard- bzw. Schriftsprache auf der einen und dialektaler oder umgangssprachlicher Sprechsprache auf der andern Seite. Dabei ergeben sich Aspekte der synchronen Konfrontation ebenso wie solche der diachronen Entwicklung. Offensichtlich hinterläßt auch ein aus der Sprachwirklichkeit verschwundener oder zumindest ein in der Öffentlichkeit unterdrückter Dialekt über gewisse sekundäre Merkmale im „Zwischenträger“ Umgangssprache eine Art Schleifspur in Gestalt von oftmals harmlosen aber hartnäckig wiederkehrenden Fehlern in den Schulheften der Kinder. Was in der Sprachwirklichkeit sich als kaum noch wahrnehmbare Intonations- oder Akzentangelegenheit ausnimmt, schlägt sich auf dem Konfliktfeld „gesprochen—geschrieben“ in der Schule unter Umständen als Grammatikfehler nieder. Daran lassen sich weitere Überlegungen zum Sprachwandel an sich und zur Genese des „heutigen Deutsch“ im besonderen anfügen. Die Kartenentwürfe bestätigen eindrücklich, daß ausnahmslos alle deutschen Sprachregionen in einem stillen oder offenen Konflikt mit der überregionalen Standard- oder Einheitssprache liegen. Die heute geltende Schriftsprache ist eben nicht die Verschriftung oder Versteinerung einer einmal irgendwo gültigen Sprechnorm, sondern
eine in einem langen und künstlichen Prozeß herausgebildete Literaten- und Gelehrtensprache, deren Künstlichkeit und Distanz zur Sprechsprache von Generationen von Schülern an der Schulbörse sozusagen mit Fehlern bezahlt werden muß. Angesichts des fast totalen Konflikts, der zwischen der deutschen Schriftsprache und allen landschaftlichen Sprechvarianten besteht, müssen sich Sprachhistoriker und Sprachpfleger fragen, nach welchem Normverständnis die früheren Grammatiker diese deutsche Kunstsprache kreiert haben, angefangen von Schottelius und den deutschen Sprachgesellschaften über Bödiker, Gottsched, Adelung bis hin zu Karl Kraus und Karl Korn (Kully 1980). Nicht unbefragt bleiben dürfen auch die Prinzipien, nach denen seinerzeit die deutsche Siebskommission wohl doch nach ausdrücklich geographischen Rücksichten die deutsche Einheits-Aussprache-Norm geschaffen hat. Es besteht der Eindruck, daß in Fällen, wo mehrere Sprachlandschaften in Konkurrenz lagen, man nicht so sehr dem größeren Sprachraum, sondern der größeren Dialektferne oder Kunstmäßigkeit den Vorzug gegeben hat (Siebs 1969). Schon diese wenigen Andeutungen zeigen, daß ein deutscher Fehleratlas nicht nur als Materialgrundlage für Schulsprachbücher dienen kann, sondern auch Anstoß und heuristisches Instrument zu mancherlei AnschlußProblemen sein dürfte.
5.
Probleme und Schwierigkeiten
Abgesehen von der beschränkten Arbeitskapazität (das Projekt ist bisher ausschließlich als persönliche Nebenarbeit unter gelegentlicher Mithilfe einer studentischen Hilfskraft entstanden) sind einige prinzipielle Probleme und Schwierigkeiten methodisch-praktischer Art nicht zu verschweigen. Ein Hauptmangel ist derzeit noch die geographische Unvollständigkeit. Es fehlen noch wichtige Zonen wie das Ostfälische und Fränkische. Ebenso fehlen natürlich die übrigen deutschsprachigen Länder, die DDR, Österreich und die Schweiz. Da außer den vorliegenden acht kontrastiven Heften aus verlagsökonomischen Gründen keine weiteren mehr hinzukommen werden, ist die Fehlerbeschaffung schwieriger geworden. Ein weiterer Arbeitsgang muß sich also zunächst um die Schließung der Lücken zumindest in der vorliegenden Grundkarte bemühen ohne die Zwischenstufe der kontrastiven Hefte. Eine
26. Interferenz-Areale Dialekt/Standardsprache: Projekt einesdeutschen Fehleratlasses
weitere Schwierigkeit stellt die unterschiedliche Herkunft der Fehlerbelege dar. Die in den Heften notierten Fehler sind aus größeren Sammlungen ausgewählt, die wiederum aus allen möglichen Schul- und Altersstufen des Untersuchungsgebietes stammen, sowohl aus Diktaten wie aus Aufsatzheften. Die Fehlerbelege können auf der Karte nicht nach ihrer Fehlerqualität differenziert werden, haben also keine regionale oder statistische Repräsentativität. Allerdings läßt sich bereits schon aus ihrem Vorhandensein gegenüber einem absoluten Nichtvorkommen in anderen Gebieten indirekt eine regionaltypische Qualität ableiten. Eine Weiterbearbeitung der Entwurfkarten zu einem größeren Fehleratlas, der alle 10 0 kartierten Probleme enthält, wird wohl auf die hinter den Heften stehenden umfangreichen Fehlerbelegsammlungen der Mitarbeiter zurückgreifen müssen. Aber auch dann wird auf der Karte die unterschiedliche Provenienz der Fehler nach Schüleralter (bis jetzt zwischen 8 und 15 Jahren), Schultyp und Textsorte nicht darstellbar sein. Es gibt sehr wohl Schreibfehler, die altersbedingt vorwiegend in der ersten Phase des Schreibenlernens vorkommen. Ebenso dürfte die Fehlerquali-
Karte 26.1: Grundkarte zu einem deutschen Fehleratlas
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tät und -häufigkeit im Gymnasium anders sein als in Berufsschulen. Da aber Fehlerdiagnose und -prognose sich hier nach kontrastiven Kriterien zwischen Regionaldialekt und Standardsprache ausrichten, ist die Altersstufe und Schulart für den tatsächlich vorkommenden Fehler von untergeordneter Bedeutung, da der Fehler ja auch gar nicht einzutreten braucht. Die Fehlerkarten sollten demnach nicht so sehr eine Fehlererwartung, womöglich in einer festen Größenordnung, gar noch für einen bestimmten Ort oder Schultyp suggerieren, sondern einer besseren linguistischen Interpretation und Einordnung von einmal „passierten“ Fehlern in ein differenziertes Fehlersystem und damit einer adäquateren Bewertung und Therapie förderlich sein.
6.
Kartenbeispiele
Folgende zehn Karten (26.1.—26.10 .) sollen einen Eindruck vermitteln über den derzeitigen Stand der Bearbeitung und die mögliche Form der Darstellung. Die Originalkarten haben das Format A 4 und sind hier aus Platzgründen verkleinert wiedergegeben.
Karte 26.2: Rundungs- und Entrundungsfehler
IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
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Karte 26.3: Fehler im i/e-Bereich
Karte 26.4: Fehler bei den nhd. Diphthongen
Karte 26.5: Fehler durch Auslautverhärtung und erweichung
Karte 26.6: Fehler bei anlautend p-, t-, k-
26. Interferenz-Areale Dialekt/Standardsprache: Projekt einesdeutschen Fehleratlasses
Karte 26.7: Fehler im Bereich g/ch/j
Karte 26.8: Falsche Plurale auf -er und -s
Karte 26.9: Falsche Präsensformen
Karte 26.10: Falsches Partizip Präsens
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Bei den nachfolgenden Fehlerbeispielen bedeutet die Unterteilung I = unmittelbarer Reflex des Dialektes, Direktanzeige; II = indirekter Reflex, hyperkorrekte Form. Die Belegzitate werden in der Reihenfolge der Ziffern (1—11) auf der Grundkarte gegeben. Die Zahlen hinter den Landschaftsnamen weisen auf Seiten der entsprechenden kontrastiven Hefte hin. In den nachfolgenden Kommentaren Kartennumerierung der Themakarten 26.10. wiederaufgenommen.
wird 26.2.
die bis
6.2. Rundungs-, Entrundungsfehler Daß im Bereich der gerundeten Vokale e/ö, u/ü, ei/eu, äu Schreibschwierigkeiten auftreten, ist jedem Lehrer bekannt und auch in den Rechtschreiblehren vermerkt. Das Ausmaß dieser Schwierigkeiten scheint jedoch größer zu sein als bisher angenommen. Die dialektale Grundlage ist in den einzelnen Dialektlandschaften verschieden. Die Fehler resultieren jedoch ausnahmslos aus einer Nichtübereinstimmung zwischen gerundetem und ungerundetem Vokal im gesprochenen und geschriebenen Bereich. Auf Karte 26 a.2. spiegelt sich die Künstlichkeit der für das Nhd. geltenden Regeln, die offensichtlich in keiner der Dialektlandschaften eine direkte Lautentsprechung haben. Fe h l e r b e i s p i e l e: (1) NIEDERSÄCHSISCH (67/69) I: Das stümmt nicht. Er schümpfte mit Bettina. ümmer. (2) WESTFÄLISCH (25/26) I: herumdivteln. wirden. Ib: Schultünüster. slislüch. geschümpfte. nütlich. (5) HESSISCH (24) I: Ligner. Fligel. vergnigt. — Firster. netisch. II: übrük. Ründer. Gewörtschaften (Gewerkschaften). (6) PFÄLZISCH (33) heit (heute). (9) ALEMANNISCH (29) I: driber. benitzt. Phisiklehrer. Gimnasium. zerkliffteten Gestein. zelf. — ein paar Beilen. ohrenbeteibend. II: Gübelwand. — mölkt die Kühe. bis ölf Uhr. (10) SCHWÄBISCH (39/49) I: mirrisch. schlirfen. willkierlich. — Ehmd. Kerper. tericht. — Beite. heite. leiten. Raiber. saigen (säugen). Fraind. II: vermüssen. — Pöndel. — Kreude. verwäugert (verweigert). (11) BAIRISCH (24/28) I: ich fieschte (fürchte). winschen. gewinscht. mirb. nitzt. angedrickt. Hilse. Haustiere (-türe). eingeschirrt (-eingeschürt). abkielen. verwiesten. — grestes Brot. Knechel. Teeläffel. Essleffel. zwelf Uhr. mägen (mögen). Gnädeln (Knödel). ehlen (ölen).nätig. — Sc hleidern. ein aufgesc hic htes Reh. Saile (Säule). laitet (läutet). neilich. schneitzen. gereiht (gereut). Fäilniß. II: würken. Büleder. wüssen. aufspühsen. — schöppern (scheppern). stöchen (stechen).
6.3. Fehler im i/e-Bereich (Senkung i→ e) Die sog. „Senkung” der hohen Vorderzungen- und Hinterzungenvokale, die in vielen Dialekten vorkommt, hat zwar im mündlichen Bereich keine kommunikativen Folgen, da der Unterschied Dialekt/Standardsprache nicht auf diesem phonologischen Unterschied beruht. Die Senkung betrifft das ganze Vokalsystem, die Relationen zwischen den Vokalen bleiben also erhalten. Daß dennoch eine erhebliche Fehlerquelle vorliegt, zeigen Karte und Fehlerliste. Auffällig ist die regional unterschiedliche Verteilung. Größte Unsicherheit besteht offensichtlich im Norden und Südosten. Zur dialektalen Grundlage sind die angegebenen Stellen in den kontrastiven Heften heranzuziehen. Fe h l e r b e i s p i e l e: (1) NIEDERSÄCHSISCH (67/69) I: nec h wahr. rueges Verhalten. nec ht. Sc hnellegkeit. unwahrscheinlecher. unwellkürlich. II: Milkmaschinen. Gisichter. (2) WESTFÄLISCH (25) I a: entressirt. wergest (vergißt). bes. I b: Minsch. Hingst. (4) RHEINISCH (28) I: dec ke Wurst. ergendwo. er werft. nergend wo. es stemmt. erwesc ht (erwischt). werd. daren. zegarre. (5) HESSISCH (26) I: gesc hec kt. besc hen (bißchen). blenken. Kender. nemand. (6) PFÄLZISCH (31) trotz entsprechender dialektaler Grundlage sind keine Fehler notiert. (9) ALEMANNISCH keine Fehler notiert, da die dialektale Grundlage fehlt. (10 ) SCHWÄBISCH (43) I: blenzeln. Render (Rinder). schwemmen (schwimmen). (11) BAIRISCH (33) I: Sterio. Ziment. II a: kultevieren. Medezin. Tegel (tiegel). zwec kt (zwickt). Kerschkompott. 6.4. Fehler bei den „nhd.“ Diphthongen Es ist im allgemeinen bekannt, daß das Alemannische bis heute noch die alten Monophthonge Is, Hus, Lüt anstelle der Diphthonge Eis, Haus, Leute bewahrt hat. Diese Besonderheit wird als auffälliges Merkmal des Dialekts empfunden. Die Fehlerkarte verzeichnet aber für den Süden so gut wie keine schriftlichen Fehler. Dort hingegen, wo die alten Monophthonge als weniger dialektbestimmend angesehen werden, nämlich im Niederdeutschen, wirken sie als häufige Fehlerquelle. Fe h l e r b e i s p i e l e: (1) NIEDERSÄCHSISCH (66/67) I: wieter, biem. sien bestes Pferd. füern (feiern). stehen und sc hrien (schreien). — Husdac h. — hüte (heute).
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(2) WESTFÄLISCH (32) I: Sin (sein). Zit. — Gestrük (Gesträuch). Müse (Mäuse). (4) RHEINISCH (38) I: Zietung. — brun. — Lüte. II: Waurst (Wurst). (5) HESSISCH (NORD) (30) I: Ziet. Wieß. sinen. — schnufen. — Strüche, Müse. Fahrzüg. 6.5. Fehler durch Auslautverhärtung/ -erweichung In der korrekten Aussprache der deutschen Standardsprache gilt die Regel, daß auslautende -b, -d, -g als -p, -t, -k gesprochen werden. Die Orthographie richtet sich jedoch nicht nach dieser „Auslautverhärtung“. Dies führt dort, wo dialektal die Auslautverhärtung gilt, zwangsläufig zu Schreibproblemen. Wie die Karte zeigt, handelt es sich dabei um ein „norddeutsches“ Problem. Im Süden, wo die Verschlußlautlenisierung, also der umgekehrte Vorgang gilt („binnendeutsche Lenisierung„), zeigt sich der gegensätzliche Fehlertyp. Während in den Orthographie-Fibeln auf das Problem der Auslautverhärtung geachtet wird, weil sie auch für den Hochdeutschsprechenden ein Schreibproblem darstellt, gilt die Lenisierung als grob dialektal und wird nicht als Schreibfehlerquelle behandelt. Die Karte zeigt, daß beide lautlich gegensätzliche Erscheinungen zu orthographischen Fehlern führen, deren Erscheinungsweise auf den ersten Blick keine Unterschiede zeigt, jedoch zu zwei geographisch scharf zu scheidenden Fehlertypen gehört. Falsche -p, -t, -k sind im Norden „Direktanzeigen“ (Fehlertyp I), im Süden hyperkorrekt und umgekehrt. Fe h l e r b e i s p i e l e: (1) NIEDERSÄCHSISCH (54/55) I: Dinck. empfingk. (2) WESTFÄLISCH (55) I: anstrenkt. gebeukt. Gelt. jauchtzent. niehmant. Teick. sprank. fink. II: Gestrüb. dord. Flud. verwirrd. versang. blang (blank). Kleiderschrang. Geschäng. (4) RHEINISCH (50 f.) I: hiep. Stap. Raup. Kint. Walt. Schult. II: schlab. Hud. er had. (5) HESSISCH (38) (Lenisierung) I: späd. dord. schigt. Lod. ald. Brod. II: Wint. Zweik. Korp. balt. (6) PFÄLZISCH (34) II: Wilt. prasselnt. Rintviecher. Sietlung. abgelatten. (9) ALEMANNISCH (48) I: gestrigt. dugt (duckt). Pungt. bedegt. Haubtstadt. hubte. II: gebändickt. erledikt. ich frackte. prächtik. (10 ) SCHWÄBISCH (55) I: Kublung. halden. II: Puplikation. (11) BAIRISCH (49) I: starg. gesc heid. er freud sich. verlierd. Fleg. Stog. Dreg. Schried (Schritt). II: grop. angeklept. balt. Gegent. Mort. Mopet. fragte op (teilweise auch Direktanzeigen).
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6.6. Fehler bei anlautend p-, t-, kZur „süddeutschen“ Lenisierung (vgl. Karte 26 a.5.) gehört auch die Erweichung von p-, t-, k- im Anlaut vor Vokal und in der Kombination mit r: pr-, tr-, kr- oder l:pl-, kl-. Die hieraus resultierende Fehlerzahl ist beträchtlich. Auch die geographische Verbreitung ist sehr groß, so daß es sich fragt, welcher Sprachraum seinerzeit bei der Festlegung der korrekten Hochlautung wohl normgebend gewirkt haben mag. Fe h l e r b e i s p i e l e: (1) NIEDERSÄCHSISCH (keine Fehler) (2) WESTFÄLISCH (55) I: dranken. drug. dregt (trägt). II: aufgetrückt. (4) RHEINISCH (47 f.) I: Bilz. aufbassen. Budding. Dag. er gam. Gäfig. ich gomme. — blötzlich. blatt. exblodieren. gräftig. gegriegt. — Dresor. drotzdem. Asdrit. dreffen. drauen. II: peginnen. pellen (bellen). Pischof. — türfen. — karage (Garage). kanz. — Pluse. — kroß. Kroschen. — Treck. (5) HESSISCH (38) I: Berson. — Brod. — Greuzung. — verdreiben, dragen. II: ketan. türr. tafun (davon). — Pret. pringen. prach. — kroß. (6) PRÄLZISCH (33/36) I: brasselnd. Schallblatten. — Gran (Kran).griegen. vergriec hen. drommelt. II: pat. krose (große). kräbt. „Tag, Herr Tekan!” (9) ALEMANNISCH (46) I: Bendeluhr. gebarkt. betschnaß. er dunkt. dunn (tun). — blötzlich. blagen. blatzen. Druc kblatten. — groc hen. Grämer. Graut. Grom (Kram). Grumme (Krume). Dritt. drotz. droc kenn. drefen. Gepäc kdreger. II: pekraben. Tachboden. tie (die). — Plöcke. krundlegen. trängen. Sc heißtrec k. vortringen. trehte. trüc kt. Traht (Draht). (10) SCHWÄBISCH (53) I: Baar. batscht. dief. — Blatte. grumm. Hemdgragen. Dräger —. II: beträngen. (11) BAIRISCH (42) I: Kofferbac ken. Burzelbaum. Bulver. Deig. wir dun. — Blatz. Blastig (Plastik). Schallblate. grumm. graulen. Grieg. — dreffen. dragt. drinken. II: Pac kblec h. Poxen. Tac h. tünn. — Taplett. krunzen. trücken. 6.7. Fehler im Bereich g/ch/j (Spirantisierung) Die Spirantisierung von -g ist hochsprachlich nur auslautend in der Silbe -ig und -igt (iç, -içt) korrekt. In den Dialekten ist die spirantische Aussprache von g als ç oder j weit verbreitet. Nur das Alemannische, das Schwäbische und Bairische kennen diese Spirantisierung nicht. Im Südwesten wird im Gegenteil auslautendes ich als -ik gesprochen (Tepik statt Teppich). (Vgl. Alemannisch 42 f.). Im Nordbairischen kommt zusätzlich noch ç als Hiatustilgung hinzu (schreichen für schreien). Die teilweise abstrusen
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IV. Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie
Schreibfehler lassen auf eine große Schreibunsicherheit schließen. Im Westfälischen sind hyperkorrekte Formen (gez für jetzt) teilweise dialektale „Norm“. Die nicht bearbeiteten Zonen 7 und 8 (Fränkisch) haben ebenfalls die Spirantisierung, so daß eine scharfe Nord-Süd-Trennung vorliegt. Südlich dieser Scheidelinie gibt es das allbekannte Schreibproblem -ig, -ich, -lich nicht. Fe h l e r b e i s p i e l e: (1) NIEDERSÄCHSISCH (62 ff.) I: Bahnsteich. Obric hkeit. unwic htic h. Teic h (Teig).einschluch. Tach. mulmich. II: nägsten. selbstverständlig. bark. frolige. glücklig. Tepieg. behilflig. (2) WESTFÄLISCH (48 f./58 f.) I: Morchen. Zeiche. lachen (lagen).umschluch. Tach. sachte (sagte). Ostwestf.: gubelt (jubelt). eine gähe Hitze. getoch (jedoch).gets. genseits. II: gelekt (gelegt).jeklich. gebeuckt. Teick. Teppig. üblig. — mit den gleigen. gesugt. Baug (Bauch). (4) RHEINISCH (73 ff.) I: Betruch. Kriech. arch. — fraren (fragen). Waren (Wagen). — Fliejen. Jabel (Gabel). II: gemand. geder. (5) HESSISCH (40) I: Feichling. schräch. ersteicht. sorcht. zeischt. nötisch. II: Debig (Teppich).schädlig. üblig. girik. ruhik. gutmütik. (6) PFÄLZISCH (35) I: wenich. beucht. — bewete (bewegte). II: zok. (9) ALEMANNISCH (West) (42): I: herzlige Grüße. unvergeßlig. prächtik. II: zwanzich. Keramich. völlich. eilichst. (10) SCHWÄBISCH keine Fehler notiert. (11) BAIRISCH (Nord) (60 ): I: Teic h. Nec her (Neger). Gartenzwerche. wir sechen (sehen). Zeiher (Zeiger). II: einweiken (-weichen). duc hen (tun). schreichen (schreien).wiechern. 6.8. Falsche Plurale auf -er und -s Die meisten Dialekte haben zwar prinzipiell dieselben Pluralbildungsmöglichkeiten und damit auch Substantivflexionsklassen wie die Standardsprache. Die Verteilung der einzelnen Wörter auf die verschiedenen Pluralklassen ist jedoch recht unterschiedlich. So wundert es nicht, daß überall zwar dieselben Pluralfehler registriert werden, jedoch in unterschiedlicher Häufigkeit. Die falschen -erPlurale sind eine süddeutsche Besonderheit, die falschen s-Plurale kennzeichnen eher den Norden. Fe h l e r b e i s p i e l e: (1) NIEDERSÄCHSISCH (87) I: Holzpfähler. die Junger (Jungen). — mit den Bohrers. Igels. Knüppels. Rockers. (2) WESTFÄLISCH (76) I: Fliegerverbänder. — Bildergeschichtes. Schraubenschlüssels. Nachbars. Schwesters. II: die Locken (Loks). (4) RHEINISCH (92) I: die Dorf. Wört (Wörter). II: Flücher.
(5) HESSISCH (50 ) I: Hemder. Stüc ker. Sc hutzblecher. Klötzer. (6) PFÄLZISCH (51): I: die Jungs. die Jungens. (9) ALEMANNISCH (58): I: Steiner. Seiler. II: die Würm. (10) SCHWÄBISCH (68) I: Steiner. Hemder. Hefter. — die Würm. (11) BAIRISCH (39) I: Steiner. Beiner. Gewehrer. — mit zwei Roß. Würm. 6.9. Falsche Präsensformen Der alte Wechsel von e und i im Präsens bestimmter starker Verben vom Typ: ic h gebe, du gibst, er gibt ist in manchen Dialekten ausgeglichen nach i:ic h gib, du gibst, er gibt oder nach e: ic h geb, du gebst, er gebt. Ferner fehlt in oberdeutschen Dialekten der Umlaut von a und o bei Verben der alten 6. und 7. Ablautreihe: ic h fahre, du fahrst — ic h stoße, du stoßt etc. Obwohl in beiden Fällen nur sehr wenige Verben betroffen sein können, werden die Fehler doch sehr häufig beobachtet. Fe h l e r b e i s p i e l e: (1) NIEDERSÄCHSISCH (93) I: Nehm sie nur mit. Eß vernünftig. Seh zu, daß ... Helf mir doch. Lese, Gebe. Nehm! (5) HESSISCH (57) I: ihr konnt. ihr mußt. II: er käuft. er dürf (er darf. dial.: derf). (6) PFÄLZISCH (58) I: er fangt an. er halt. er lasst. — er trefft. er derf. werf! II: sie wirfen, sie tritten. (9) ALEMANNISCH (67) I: ic h vergiß. — jetzt helf dir doch. — er grabt. er haltet. er schlaft. du wachst (wächst).abhaltet. er tragt. bratet. stoßt er. schlaft. er lauft. (10) SCHWÄBISCH (74) I: ich vergiß. ich gib. — dann lauft er. er stoßt mich um. (11) BAIRISCH (108 f.) I: ich nimm. dann gib ich. ich wirf. sie flecht. Mutter meßt. wer es am schönsten lest. les das vor. befehl mir. — II: so helfe mir doch. Esse das. — fangt sie an. der Stier stoßt. er lauft davon. wer wascht die Hose. du ratest nichts Gescheites. 6.10. Falsches Partizip Präsens Nach Ausweis der Karte 26 a.10 . beruht der standardsprachliche Gebrauch des deutschen Partizips Präsens nicht auf dialektaler Basis, zumindest nicht derjenigen Regionen, die auf der Karte verzeichnet sind. In den meisten Dialekten ist eine Form für das Partizip Präsens nicht vorhanden, oder sie ist mit alten Gerundium- bzw. Infinitivformen zusammengefallen. Der rechte Gebrauch dieser Partizipialformen bereitet denn auch allen Dialektsprechern erhebliche Schwierigkeiten. Selbst in Zeitungen z. B. in der Schweiz (Alemannisch) kann man als Reflex
26. Interferenz-Areale Dialekt/Standardsprache: Projekt einesdeutschen Fehleratlasses
des fehlenden Partizips eine hybride Verwendung in ungewohnten Stellungen und Kombinationen („die noc h immer den Weltrekord innehabende ...”) beobachten. Auch diese Karte läßt erneut die Frage aufkommen, in welcher Weise denn die deutschen Regionalsprachen bei der Normierung der Standardform berücksichtigt worden sind, wenn manche grammatische Formen in keinem Dialekt eine Basis haben. Fe h l e r b e i s p i e l e: (1) NIEDERSÄCHSISCH (94) I: strahlen. wandelnes Skelett. die Überlebenen. (3) WESTFÄLISCH (83) I: Er kam lac hen auf mich zu. ein weinenes Kind. für die etwas höer liegen Fensterrahmen. — und das immer abwechselt. wachsene Sicherheitsansprüche. er hockt jubelt auf der Tonne. (5) HESSISCH (55) I: ein weinen Kind. mit glänzen Fell. das schwankete Schiff. (9) ALEMANNISCH (68) II: ein donnerntes Krollen. grün glänzernde Rohre. der Hund schnupperte aufregent (aufgeregt).dieser gernhabende Schein Falschgeld. ein ganz unerwartendes Ereignis. im vergangenden Jahr. (10 ) SCHWÄBISCH (79): mit glänzigen Augen. mit zittriger Hand. (11) BAIRISCH (110 ) I: hell leuc htede, glänzede Augen. krac hete Raketen. eine stinkede Zigarre. der hungernte Mann. — nacket, nackert. — bist du dorend (dorad = taub). II: ein Geistesgestörender. wir hatten es verwechselnd. man kann es zusammengesteckender nicht brauchen. es ist regnend geworden. schon wird es gehend.
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Literatur (in Auswahl)
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Heinrich Löffler, Basel
539
V.
Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebung und Datenbearbeitung
27.
Erhebung von Sprachdaten in natürlicher oder simuliert-natürlicher Sprechsituation
1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Einleitung Theoretische Voraussetzungen Methodische und theoretische Anforderungen an eine Erhebungssituation Laufende Projekte Zusammenfassung Literatur (in Auswahl)
Einleitung
Soziolinguistik gilt aufgrund der verwendeten empirischen Methoden und ihres Untersuchungsgegenstandes als Sozialwissen schaft, als Wissenschaft, die soziales Handeln untersucht, den Blickwinkel auf sprachliches Handeln gerichtet. Gerade bei der Untersuchung von Sprechsituationen (SPS) wird ersichtlich, daß ein eingegrenzter Sprachbegriff (ohne Situationsbezug) nicht zielführend ist (Leodolter 1975b, 27 ff., 136 ff.). Im folgenden wird daher auf den Untersuchungsgegenstand „SPS“ eingegan gen, auf kategoriale Beschreibungsrahmen und theoretische Voraussetzungen, auf Methoden und Probleme empirischer Feldfor schung, welche exemplarisch anhand einiger fertiggestellter Studien dargestellt werden sollen.
2.
Theoretische Voraussetzungen
2.1. Jegliches sprachliche Handeln findet in einem sozialen Kontext statt, ist ohne diesen nicht versteh- und interpretierbar. Teildisziplinen der Linguistik behandeln unter schiedliche Aspekte des Kontexts, wie psychologische Voraussetzungen der Sprecher, soziologische Rollen und Machtstrukturen in SPS, Sprechakte, Sätze usw. Der Begriff des Sprachspiels kann als theoretisches Fundament für eine Theorie der SPS gelten: es handelt sich um regelgeleitetes Sprechen, auch in der kleinsten pragma- linguistischen Einheit, dem Sprechakt (Searle 1971, Austin
1971). Alle SPS sind sozial normiert, d. h. Bündel von gesellschaftlichen Erwartungen leiten unser Handeln in SPS an, deren Verletzung bedingt negative Sanktionen (Ger hard 1971, Krappmann 1972). Jede SPS ist „objektiv“ und „subjektiv“ erfahrbar, d. h. es gibt objektive Komponenten (Zeit, Raum usw.) wie auch das subjektive Verständnis und die Definition der SPS. „Situation“ im letzteren Sinn ist eine Erlebniseinheit, also dasjenige, was das interagierende Subjekt von den sozialen Umweltgegebenheiten perzipiert und für sein Handeln wesentlich werden läßt; die Art und Weise, auf welche dem Handelnden die „objektiven Bestimmungen eines sozialen Beziehungsgefüges subjektiv gegeben sind“ (Dreitzel 1968, 153—154). Das „subjektive“ Erleben einer SPS läßt sich am besten mit der Methode „teilnehmender Beobachtung“ (Nowotny/Knorr 1975, Huf schmidt/Mattheier 1976) erfassen. Die „objektive“ Dimension von SPS (Prozesse und Strukturen beider Dimensionen beeinflussen einander natürlich wechselseitig) kann mit Hilfe einer interaktionistischen Rollentheo rie erfaßt werden (Leodolter 1975b, Holly 1977). Diese Rollen bestimmen — wie eine Reihe empirischer Untersuchungen beweisen — stark das sprachliche Handeln. 2.2. Da wir die SPS als sinnvolle pragmalinguistische Einheit definiert haben, scheint es günstig, bei einer empirischen Datenerhebung von dieser Einheit auszugehen. Schon erste Vorstudien (Dressler et al. 1976) haben signifikant erwiesen, daß sich das Sprachverhalten von den SPS her bestimmt, und zwar sind sowohl die subjektive wie auch die objektive Dimension von großer Bedeutung: Ändert sich etwas am institutionellen Rahmen einer Situation, so beeinflußt dies maßgeblich die sprachliche Produktion. Ändern sich die Teilnehmer, so hat dies ebenfalls ein neues Sprachverhalten zur Folge. In der erwähnten Vorstudie wurde dieselbe Versuchsperson in drei verschiedenen SPS aufgenom-
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
men — die unterschiedliche Sprachproduktion, gemessen an der Variation phonologischer Indikatoren, war signifikant. Aus diesen Gründen sollte die Datengewinnung auf alle Fälle an der SPS ansetzen. Traditionelle Formen der Datengewinnung (Befragung, Interview, Tests) haben sich als unsicher und insignifikant erwiesen (Deutscher 1971, Cicourel 1970). Alle diese Methoden evozieren nicht spontanes Sprachverhalten, nicht tatsächliches Verhalten, son dern dasjenige, was die Versuchsperson über ihr Verhalten denkt, wird erfragt (Leodolter 1975b). Durch die Standardisierung ergeben sich alle Nachteile einer Experimentalsituation. Exkurs: Kurz muß an dieser Stelle auf den Methodenstreit innerhalb der Sozialwissenschaften eingegangen werden, da sich dieser auch auf die (sozio)- linguistische Untersuchung von SPS auswirkt. Anzustreben ist m. E. eine Kompromißlösung, beide Methodenarten sind für verschiedene Aspekte einer Untersuchung brauchbar. — Die Polemik jener Wissenschaftler, die sich streng an einer logisch deduktiven Verfahrensweise orientieren, hat sich immer schon auf die Arbeiten der „Verstehenden Soziologie“ (Sudnow 1972, Cicourel 1970) konzentriert: Einzelne nicht quantifizierte Ergebnisse dürften nicht generalisiert werden, Meinungen und Wertungen würden in das Beobachtete projiziert, anstatt Theorie und Empirie streng zu trennen usw. Die Verachtung qualitativer Methoden rührt aus den 20- er und 30- er Jahren, die damals junge Wissenschaft „Soziologie“ mußte um Anerkennung innerhalb der an den Naturwissenschaften orientierten Wissenschaftlergemeinde ringen. Feine quantitative Meßverfahren und Analysetechniken wurden rasch entwickelt, um die Ernsthaftigkeit dieser neuen Wissenschaft zu untermauern, sie dem Vorbild der „exakten“ Wissenschaften anzupassen: exakt sei nur das, was sich in Zahlen ausdrücken ließe. Über die Entscheidung, formale Methoden zu entwicklen, vergaßen viele, nach dem Inhalt dessen zu fragen, was überhaupt gemessen wurde (Filstead 1971, 3). Die Komplexität sozialen Geschehens kann auch nicht mit Hilfe feinster Meßmethoden erfaßt werden, die Operationalisierung gegebener Katego rien, wie „Rolle“, „Code“, „Kommunika tionskonflikt“ usw. bereitet größte Schwierigkeiten. Eine eindeutige Zuordnung einzelner Textstellen zu je bestimmten Kategorien ist letztlich nicht möglich und beruht auf ei-
ner Entscheidung des Einzelwissenschaftlers. Daher läßt sich die von den logischen Positivisten behauptete Trennung von Theorie und Empirie nicht durchhalten (dies gilt übrigens auch für die Naturwissenschaften). Die Verstehende Soziologie hat sich zum Ziel gesetzt, den Sinn sozialen Handelns zu erforschen: der Untersuchungsgegenstand (SPS in unserem Fall) wird beobachtet, dadurch gelangt der Forscher zu einem immer besseren Verständnis der vorfallenden Sprachhandlungen, er kann „sinnadäquate“ Kategorien auswählen. Durch solche Feldarbeit kommt man mit der „wirklichen“ Welt in Berührung („get close to the data“ Blumer 1962, 188), Beobachtung aus der Ferne erlaubt nur spekulative Interpretationen, in einer Experimentalsituation wird die unter suchte Realität erst geschaffen und hat mit der „Welt“ nichts mehr zu tun. „Verstehen“ heißt i n diesem Zusammenhang „Verstehen der Handlungen und Sprache aus der Sicht der Versuchspersonen“ und nicht aus der Sicht des Forschers (Deutscher 1971, 27 f.). Auch diese Art empirischer Forschung verwendet quantitative Methoden als Ergän zung ihrer Beobachtungen und zu deren Überprüfung. Zusätzliche Daten können mittels Interviews, Selbsteinschätzungstests, Fragebögen, Sprachtests usw. erhoben werden; so ist man in der Lage, zwischen Selbstbild und Beobachtungen zu vergleichen. Die ausschließliche Verwendung quantitativer Verfahren würde zwar letztlich die Versuchsanordnung bestätigen, jedoch nicht das tatsächliche Sprachverhalten von Individuen verstehen und erklären lassen. Die SPS bewähren sich als Untersu chungskategorie auch von der soziolinguistischen Theoriebildung her: die Code- Theorie Bernsteins und seiner Schule ist gerade zurecht in diesem Punkt kritisiert worden — die Situation als Einheit wurde dort vernachlässigt, sowohl was die empirische Untersuchung betrifft, wie auch die Theorienbildung (Leodolter 1975b). Im weiteren wollen wir uns daher jetzt den methodischen und theoretischen Anforderungen an eine repräsentative Erhebungssituation und Studie zuwenden.
3.
Methodische und theoretische Anforderungen an eine Erhebungssituation
Friedrichs (1973) und Hufschmidt/Matthei er (1976, 11) listen eine Reihe von Punkten auf, die für eine empirische Untersuchung
27. Erhebung von Sprachdaten in natürlicher oder simuliert-natürlicherSprechsituation
von SPS relevant sind. Im einzelnen können wir hier nicht auf alle diese Punkte eingehen. Hier sollen daher eher einige problematische Aspekte behandelt wie auch generellere Anforderungen erstellt werden: (1) Die SPS muß zeitlich und räumlich genau definiert sein, da zumindest mehrere Aufnahmen in derselben Situation notwendig sind. Da es sozialen Phänomenen eigen ist, daß sie (außer im Experiment) unwiederholbar sind, eignen sich zur wiederholten Aufnahme eher SPS, die institutionalisiert sind: auf diese Weise ist eine Konstanz von vielen Variablen garantiert, gewisse Normen und Regeln bleiben explizit, die Situation ist dadurch leichter verstehbar und interpretierbar (Schulsituation, Gerichtssituation, Betrieb, usw.). Offene Situationen sind fast unkontrollierbar, eine notwendige Repräsentanz der Stichprobe kann daher kaum gewährleistet werden (siehe Goffman 1975). (2) Die Situation muß dem Forscher (und hier spielen Position des Forschers, Er kenntnisinteresse und Intention bei der Datengewinnung eine wesentliche Rolle (Hufschmidt/Mattheier 1976, 111, Hess - Lüt tich Ms.,11—14)) bekannt und einigermaßen vertraut sein, er muß sie verstehen können. Sie sollte auch eine Situation des „normalen Alltags“ darstellen, da sonst kaum ein durchschnittliches Sprachverhalten erwartet werden kann. Es ist daher wesentlich, daß der Forscher mit Hilfe einer Vorstudie die Situation kennen lernt und wesentliche von unwesentlichen Variablen unterscheiden kann. Letztlich entspricht die gewählte SPS, wie auch die interessierende soziolinguistische Variable (z. B. Alter, Geschlecht, Schicht usw.) dem Forschungsinteresse. Die gewählte soziolinguistische Variable beein flußt die Konstitution des Hauptprojekts, die Hypothesenbildung und die Wahl der Methoden erheblich (Cicourel 1971, Habermas 1968, 1969, Leodolter 1975b). Geht es v. a. um eine Erfassung der Variation in einer bestimmten Gegend (Labov 1966), so ist es notwendig, verschiedene genau definierte SPS aufzunehmen und zu beschreiben, um die Repräsentativität der erfaßten Sprachvariationen zu garantieren. (3) Eine Vielzahl von Methoden sollte gleichzeitig Anwendung finden: neben der teilnehmenden und verstehenden Beobach tung und der Aufnahme sprachlicher Daten mit Hilfe von Tonband, Video usw. dienen Selbsteinschätzungstests, Interviews, Lese proben u. ä. einer sinnvollen Ergänzung des
541
Bildes des zu erfassenden Sprachverhaltens. Die Entscheidung für jede Methode, wie auch für den Transkriptionsstil (Ehlich/Switalla 1976, Hess- Lüttich 15 f.) sollte explizit begründet werden und ist von der Intention des Forschers, wie auch vom jeweiligen Untersuchungsgegenstand abhängig. Drei Probleme sollen kurz behandelt werden, die notwendigerweise bei jeder empirischen Datenerhebung auftreten: (1) Das Interviewerparadoxon: Dies wurde schon von Labov, wie auch vielen anderen treffend festgestellt: einerseits ist man bemüht, möglichst natürliche, spontane sprachliche Daten zu erhalten, andererseits verzerrt der Untersucher sofort die SPS. Der Interviewer bzw. Beobachter verändert durch sein beobachtendes und beschreibendes Eingreifen in die natürliche Struktur eines funktionierenden Kommunikationssy stems (z. B. einer Kleingruppe) eben diese Struktur selbst. Am geringsten ist dieser Bias bei der teilnehmenden Beobachtung. Ent scheidet man sich für eine heimliche Aufnahme von SPS, so ist die Situation zwar wenig verzerrt, es tritt jedoch das ethische Problem in den Vordergrund: (2) Die Rolle des Beobachters ist sehr schwierig: wie weit darf er sich in den Privatbereich der Versuchspersonen herein drängen? Darf der Psychotherapeut Ton bandaufnahmen von Sitzungen machen? Stört die Aufnahme in der Gerichtssituation oder bei einem Arzt die Versuchspersonen, beeinträchtigt sie eine solche Handlung, was ja oft weittragende Konsequenzen zur Folge haben kann (Leodolter 1975b,c, 1977, Becker 1971, Hufschmidt/Mattheier 1976, 111). Dieses Dilemma ist unvermeidbar: auf jeden Fall müssen Personen gefragt werden, ob sie zu einer Aufnahme bereit sind. Bei negativer Antwort muß der Forscher diese Entscheidung auch respektieren und nicht eine Erlaubnis durch höhere Instanzen vorweisen. Die Grenzen muß sich aber jeder selbst setzen. (3) Sind natürliche SPS nicht zugänglich, so kann man versuchen, simuliert natürliche Situationen herzustellen. Diese entsprechen in ihrer Grundstruktur einer natürlichen Kommunikationssituation. Die für eine Sprachdatenerhebung unumgänglichen Eingriffe in den natürlichen Kommunikationsablauf werden auf ein Minimum reduziert und kontrolliert. Die Konstruktion solcher SPS ist aber immer sehr problematisch (das Beobachterparadoxon ist recht groß und kann
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
542
erst gelingen, wenn man über die Sprachverhaltens - und Lebensgewohnheiten der Un tersuchungsgruppe genaue Informationen hat. Die Spontaneität und Natürlichkeit ist sicher bei natürlichen SPS eher garantiert. Bei manchen Versuchspersonen, wie Kin dern, ist ein Simulieren manchmal unumgänglich (Vorgeben von Spielen usw.).
4.
Laufende Projekte
Eine Menge von Projekten und Studien in den letzten Jahren haben je eigne Problemlösungsversuche und methodische Ansätze für die erwähnten Fragen und Probleme gefunden: Leodolter 1975b stellt den Versuch dar, eine SPS (nämlich die Gerichtssituation) genau zu untersuchen. Die wichtigste soziolinguistische Variable war die soziale Schicht. Da die Situation institutionalisiert ist, war eine gewisse Konstanz und Wiederholbarkeit garantiert. Neben Beobachtung dienten Protokollierung, Gespräche mit Richtern usw. einer angestrebten methodischen Vielfalt. Die Daten wurden sowohl quantitativ wie auch qualitativ ausgewertet. Das „ERP - Projekt“ (Hufschmidt/Mat theier 1976) ist eine soziolinguistische Untersuchung einer kleinen Gemeinde, die soziologisch für eine Menge anderer Orte typisch ist: es interessieren Sprachzustände und Sprachwandelprozesse, die von gesellschaftlichen Strukturen und Umstrukturierungs prozessen ökonomischer Art beeinflußt sind. Es wird mit drei SPS gearbeitet, die zum Teil simuliert natürlicher Art waren. Bei der vielleicht bisher größten Studie dieser Art, Labovs Untersuchung in New York (Labov 1966), wurde eine Vielzahl verschiedenster Methoden angewendet: Tests, Interviews und Fallstudien mit Hilfe zentrierter Interviews (= Tiefeninterviews Friedrichs 1973: 224 f.). Einzelne SPS wurden allerdings nicht genau untersucht, z. T. durch die verschiedenen Abschnitt des Tests hergestellt. (Jeder Testabschnitt sollte einen anderen Sprechstil evozieren.) Wichtigste soziolinguistische Variablen waren Schicht, ethnische Zugehörigkeit und Geschlecht. Auch das Heidelberger Forschungspro jekt „Pidgin- Deutsch“ (1975) vereinigt mehrere methodische Ansätze: nebst der Beschreibung und Erfassung der Variation und der den Gastarbeitern eigenen Sprachfor men („Pidgin„), wurden Interviews gemacht, Fallstudien und Selbstdarstellungen analy -
siert (die ebenfalls von Interviewern provoziert wurden). Mehrere linguistische Be schreibungsverfahren kamen zum Zug: phonologische Variation mit Hilfe der eigens entwickelten Variatätengrammatik, Konver sationsanalyse usw. Meisel und seine Mitarbeiter (Clahsen 1979) untersuchen den Erwerb des Deutschen durch Italiener und Spanier: Es wird v. a. mit Interviews gearbeitet, Schwerpunkt liegt auf Lexikon und Syntax. Daher scheint eine phonetische Transkription nicht not wendig. Beobachtungen werden nur am Rande gemacht. Die SPS „Schule“ wurde von Ammon (Ammon 1972) untersucht: Schulleistungen dialektsprechender Schüler im Raum Reutlingen werden studiert. Aufgrund statisti scher Korrelationen zwischen Dialektniveau und Leistungen (in Rechtschreibung, Auf satz, Lesen, Beteiligung am Unterricht, also verschiedenen „Untersituationen„) vermutet der Forscher eine Benachteiligung der Dialektsprecher in deutschen Schulen. Bielefeld, Lundt und Hess - Lüttich sind an dem Projekt „Arbeitersprache“ beteiligt (Bielefeld et al. 1977). Einerseits interessierte die Art der „Sprachbarrieren“ zwischen Arbeitern und Studenten, andererseits die Überprüfung von Annahmen der Code Theorie. Es wurde v. a. mit „zentrierten“ Interviews gearbeitet, d. h. das Interviewer- Paradoxon konnte klein gehalten werden. Gerade bei diesem Projekt ergaben sich massive Schwierigkeiten für die Forscher in ihrer Beobachterrolle, überhaupt Zugang zu ihrem Untersuchungsbereich zu bekommen. An dieser Stelle können natürlich nicht alle laufenden Projekte aufgezählt werden, es sei daher auf Bielefeld et al. verwiesen 1977, Leodolter 1975b: 333 f.
5.
Zusammenfassung
Zum Abschluß seien thesenhaft die wichtigsten Anforderungen für die Erhebung natürlicher Sprachdaten zusammengefaßt: (1) Wahl einer genau definierten und begrenzten SPS. (2) Definition und Explizierung des For schungsinteresses und der daraus folgenden einzelnen Schritte und Phasen der Untersuchung. (3) Konstanthalten möglichst vieler Faktoren, um einige Variablen sinnvoll untersuchen zu können.
27. Erhebung von Sprachdaten in natürlicher oder simuliert-natürlicherSprechsituation
(4) Herbeiziehen geschulter Beobachter, genaues Protokollieren nonverbaler Vorfälle. (5) Genaues Hintergrundwissen, welches über eine Vorstudie erworben wird. (6) Minimierung des Beobachterparadoxons durch überlegte Wahl der eigenen Rolle, wie der verwendeten Methoden und Geräte. (7) Bewußte Konfrontation mit dem ethischen Dilemma, Beschreibung der eigenen Beobachterrolle, wie auch der unterschiedlichen Phasen in der Beobachterrolle (besonders bei einer Longitudinaluntersuchung). (8) Testen einzelner allgemeiner Hypothesen und Variablen in einer Vorstudie. (9) Hinzuziehen weiterer linguistischer und sozialwissenschaftlicher Methoden zur Ab rundung und Validierung der Untersuchung.
6.
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Ruth Wodak, Wien
28. Erhebung von Sprachdaten in ‘künstlicher’ Sprechsituation (Experiment und Test) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Zur Bewertung dialektologischer Methodik Experiment und Test in Psychologie und Dialektologie Die ‘klassischen’ Experimentsituationen der Dialektologie Die ‘Pragmatik der Dialekte’ und ihre erwartbaren Auswirkungen auf die Methodik “Feldaufnahmen” vs. “Studioaufnahmen” Methodische Einzelprobleme Die spezifischen Probleme soziolinguistischer Untersuchungen Literatur (in Auswahl)
1.
Zur Bewertung dialektologischer Methodik
Das Vorgehen der Dialektologen bei der Erhebung sprachlicher Daten (auch “Datenerfassung”, “Datengewinnung”, “Material sammlung” u. ä. genannt) ist einmal als „relativ unbekümmert“ bezeichnet worden (Schlieben- Lange 1978, 100). Diese Unbekümmertheit ist bei der Datenerhebung durch Experiment und Test in soziolinguisti-
28. Erhebung von Sprachdaten in ‘künstlicher’ Sprechsituation(Experiment und Test)
schen Untersuchungen tatsächlich teilweise anzutreffen; hier wird der Gewinnung sprachlicher Daten oft erheblich weniger Aufmerksamkeit geschenkt als der Gewinnung sozialer Daten (vgl. unten 7.). Auf die systemlinguistisch orientierten Dialektolo gen trifft die Bewertung allerdings kaum zu, wie die methodischen Teile dialektologischer (Löffler 1974, Goossens 1977) oder linguistischer Handbücher (Putschke 1974, Goossens 1980) und explizite Veröffentlichungen zur Methode (Hufschmidt/Mattheier 1976, Mat theier 1980, Weiers 1980) ausweisen. Da die genannten Publikationen die methodischen Verfahren meist nur beschreiben und sie kaum je in einem Horizont des Möglichen bzw. Wünschbaren plazieren, soll im folgenden der Akzent auch auf die Eröffnung von weiteren Perspektiven gelegt werden. Viele Forschungsfragen sind in der Dialektologie erst noch zu stellen und adäquate Methodologien erst noch zu entwickeln.
2.
Experiment und Test in Psychologie und Dialektologie
In der Psychologie dienen Experiment und Test dazu, bestimmte Verhaltensweisen zu provozieren. Die experimentell gewonnenen Verhaltensweisen, so die Grundannahme in der Psychologie, lassen, wenn die entsprechenden Methoden gut sind, Rückschlüsse auf das ‘alltägliche’ Verhalten zu. Der Vorteil bei der Anwendung von Experimenten besteht (gegenüber der Beobachtung realen Verhaltens) in der Standardisierung der Erhebungssituation, was u. a. auch eine Verkürzung des Verfahrens bedeutet. Experi mente und Tests müssen nicht im Labor stattfinden, im Prinzip können sie auch bei den Probanden durchgeführt werden; auch in diesem Fall befindet sich der Gewährsmann nicht in einer ‘natürlichen’ Situation, sondern in einer ‘künstlichen’, das heißt, in einer Situation, die in seinem alltäglichen Leben nicht vorkommt. Dem Dialektologen, der den direkten Kontakt zu seinen Informanten sucht, geht es anders als dem Psychologen nicht darum, sprachliches Verhalten zu provozieren, das Rückschlüsse auf das Sprachverhalten in alltäglichen Situationen zuläßt; er ist vielmehr an Sprachproben interessiert, die in möglichst rationeller Weise das zugrundeliegende sprachliche System zu entdecken helfen. Sprachliche Funktionen kommen da bei kaum in den Blick; Textsorten wer-
545
den (meist unbewußt) unter rein praktischen Gesichtspunkten gewählt (“Erzählen Sie ‘mal ...”). Bislang ist der Gebrauch der Begriffe “Experiment” und “Test” in der Sprachwissenschaft eher als metaphorisch zu klassifizieren.
3.
Die ‘klassischen’ Experimentsituationen der Dialektologie
Die eine Experimentsituation der Dialektologie ist der Besuch des Forschers beim Informanten, bei dem dieser auf bestimmte, meist hochsprachlich formulierte Stimuli dialektal reagieren soll. Beliebt ist, dabei die Wenker- Sätze, die Wochentage, die Zahlen 1—10 u. ä. abzufragen. In der Regel aber werden für phonetisch/phonologische und lexikalische Untersuchungen Wortabfragun gen mittels eines umfrangreichen Frage buchs (“Questionnaire”) vorgenommen (Schallaufnahme 1977, Knetschke/Sperl baum 1979). Diese Art der Befragung lebt davon, daß der Informant eine Art translatorischen Bewußtseins für die Äquivalenz hochsprachlicher und dialektaler Ausdrucksweise besitzt. Dieses Bewußtsein bezieht sich aber in der Regel nur auf Teilbereiche des jeweiligen Wortschatzes. Partikeln, Anreden, Interjektionen z. B. liegen meist außerhalb dieses Bewußtseins und lassen sich dementsprechend schlecht auf diese Weise erheben. Medium für die Konservierung ist heute meist das Tonband; es sind früher allerdings auch sehr brauchbare Ergebnisse durch sofortige Transkription entstanden (Westfäli sches Wb., Beiband). — Leider werden Fragebücher bzw. - bögen meist nicht publiziert. Die andere ‘klassische’ Experimentsituation ist der Besuch des Forschers beim Informanten, bei dem dieser dazu angehalten wird, in seinem Dialekt etwas zu erzählen, und zwar heute meist vor dem Mikrophon. Diese Erhebungssituation ist scheinbar an natürli chen Situationen orientiert (an Stammtischoder Familientreffen, wo man Anekdoten, Witze, Geschichten usw. erzählt); trotzdem ist die Aufnahmesituation eine Experimentsituation par excellance, und zwar aus mehreren Gründen: — das Gespräch Aufnehmender — Aufgenommener ist meist ein sog. Erstgespräch; bei Erstgesprächen aber kommen die genannten Textsorten in der Regel nicht vor, der Aufgenommene ist also dauernd ge zwungen, gegen internalisierte Regeln für Erstgespräche zu verstoßen (die ihm im übri-
546
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
gen auch nahelegen, die Standardsprache statt des Dialekts zu benutzen) — das Erstgespräch bringt zwangsläufig auch Distanz zum eigenen Sprachverhalten mit sich, was natürlichen Sprachgebrauch weitgehend verhindert; weitere Verzerrun gen entstehen dadurch, daß der Aufgenommene (selbst bei noch so intensiver Aufklärung über die verfolgten Untersuchungs zwecke) dauernd Annahmen über die Intentionen des Aufnehmenden durchspielt, was sein Sprachverhalten stark beeinflussen kann (“War’s so, wie Sie sich’s vorgestellt haben?”). — In großem Stil ist das geschilderte Verfahren bei den Aufnahmeaktionen des Deutschen Spracharchivs (jetzt Teil des IdS, Mannheim) durchgeführt worden (Bethge 1976). Angesichts des experimentellen Charakters der Aufnahmesituation ver wundert es nicht, daß die Aufnahmeleiter viel Energie aufwenden mußten, die Informanten dazu anzuhalten, den Dialekt zu gebrauchen (“Op Platt, op Platt!”).
4.
Die ‘Pragmatik der Dialekte’ und ihre erwartbaren Auswirkungen auf die Methodik
Wofür die Sprachproben, die in den in 3. genannten Situationen gewonnen werden, repräsentativ sein können, wird meist nicht diskutiert. Die implizite Grundannahme läßt sich aber wohl so beschreiben, daß die sprachliche Kompetenz, die sich in den Sprachproben manifestiert, mit der dialektalen Kompetenz des Sprechers mehr oder weniger identisch ist. Damit wird von allen situativen bzw. textsortenspezifischen Varia tionen abstrahiert bzw. diese werden nicht in Rechnung gestellt. Ob diese Abstraktion zu Recht erfolgt, müssen künftige Untersuchungen erweisen. Im Prinzip ist nicht einzusehen, wieso es in den Dialekten nicht eine genauso reiche ‘pragmatische’ Differenzierung gibt wie in der Standardsprache. Möglicherweise hat die Fixierung auf die bekannte Diglossie- Situation den Blick auf die funktionale Differenzierung innerhalb der Dialekte versperrt. — Es ist zu erwarten, daß die Entdeckung von kommunikativen Funktionen innerhalb der Dialektologie auch zu einer großen Erweiterung der experimentellen Klaviatur führen wird. Die Aufspürung der situativen Variation kann allerdings nicht in Experimenten erfolgen, sondern muß in einer Phase intensiver teilnehmender Beob achtung vor sich gehen. Die Strukturen des “Erzählens in einer Dorfgemeinschaft”
(Brinkmann 1933) sind durch wie immer geartete Erhebungen kaum aufzuweisen. Sind sie aber einmal aufgewiesen, lassen sich durchaus Arrangements denken, durch die das Erzählen hervorgerufen werden könnte (Rollenspiele). Auch andere Formen von Praxis müßten erst einmal beobachtet werden. Was hätte es z. B. für einen Sinn, eine Dialektsprecherin ein Märchen im Dialekt erzählen zu lassen, wenn der vorherrschende Usus darin besteht, Märchen hochdeutsch vorzulesen?
5.
“Feldaufnahmen” vs. “Studioaufnahmen”
Die in den unter 3. genannten Situationen gewonnenen Aufnahmen werden gewöhn lich unter dem Begriff “Feldaufnahmen” zusammengefaßt und den sog. “Studioaufnahmen” gegenübergestellt. Unter dem Ge sichtspunkt der ‘Natürlichkeit’ gibt es zwischen den beiden Aufnahmetypen allerdings bestenfalls einen minimalen graduellen Unterschied. Einem Wissenschaftler die eigenen vier Wände präsentieren zu müssen, kann größere Hemmungen hervorrufen, als sich an eine fremde Studioatmosphäre zu gewöhnen. — Studioaufnahmen sind nicht nur deshalb so beliebt, weil sie höchsten technischen Ansprüchen genügen, sondern auch weil sie es dem Forscher ersparen, seine vertraute Umgebung verlassen zu müssen. — Studioaufnahmen bzw. Aufnahmen von Studioqualität sind von vielen phonetisch/phonolo gisch ausgerichteten Dialektologen praktisch zum Standard erklärt worden. Sie nehmen aber zwangsläufig in Kauf, daß sie mit erheblichen Restriktionen leben müssen, vor allem was die erhobenen Textsorten betrifft: Lesungen von Texten, Nachsprechen von Sätzen und Wörtern u. ä. mehr gehören zum üblichen Repertorium.
6.
Methodische Einzelprobleme
6.1. Sprecherauswahl, Kontaktaufnahme Bei allen Formen der Sprachdatenerhebung stellt sich die Frage, welche Sprecher ausgewählt werden sollen und auf welche Art und Weise die Kontaktaufnahme erfolgen soll. Letztlich hängt beides vom Untersuchungsziel ab; bei der Kontaktaufnahme hat sich aber unabhängig davon eingespielt, daß sie meist über sog. Honoratioren angebahnt wird. Dieser Weg führt zwangsläufig dazu,
28. Erhebung von Sprachdaten in ‘künstlicher’ Sprechsituation(Experiment und Test)
547
daß solche Sprecher ins Sample kommen, die den (wie immer gearteten) Ansprüchen des Auswählenden genügen. Bei intensiven Untersuchungen empfiehlt es sich daher, die “Kontaktaufnahme über Dritte” sorgfältig zu planen, was dazu führen könnte, gerade nicht den Bürgermeister, Vorsitzenden etc. auszuwählen. — Im übrigen muß bei jeder Sprecherauswahl damit gerechnet werden, daß ‘unerkannte Auswahlparameter’ im Spiel sind. In jedem Sample werden extrovertierte Sprecher überwiegen; und wenn bei der Kontaktaufnahme bekannt wird, daß die Aufnahmegespräche in der Wohnung des Probanden stattfinden werden, werden viele abwinken, die keine Erfahrung in der Bewirtung von Gästen haben. Solche unerkannten Parameter sind z. B. dafür verantwortlich, daß in Stellmachers Sample 84% der Sprecher Eigenheimbesitzer waren (Stellmacher 1977, 77 f.).
Insgesamt aber sollte auch beim Experiment gelten, daß die heimliche Aufnahme aus prinzipiellen Erwägungen aus dem Reper toire dialektologischer Methodik auszu schließen ist, ganz abgesehen davon, daß auch methodische Gründe gegen sie sprechen. Der Forscher sollte die Informanten auch nie über seine Zwecke im unklaren lassen; allerdings wird er gelegentlich den Effekt des “blinden Flecks” nutzen, d. h. er wird vorgeben, an Inhalten interessiert zu sein, wenn es um die Syntax geht, und umgekehrt. Die sehr nahe beieinander liegenden Ziele gewährleisten einmal, daß nichts Falsches vorgespiegelt wird, andererseits sorgt der Effekt des blinden Flecks für eine optimale Ablenkung.
6.2. Interviewer-Verhalten
Mit der Qualität der Sprachdatenerhebung, die schon bei systemlinguistischer Auswertung die Güte der Analyse entscheidend mitbestimmt, steht und fällt der Erfolg soziolinguistischer Untersuchungen. Leider gilt hier in besonderem Maße, was eingangs als Bewertung dialektologischen Vorgehens zitiert wurde. Das ist umso bedauerlicher, als derartige Untersuchungen oft gewichtige Ergebnisse, vor allem was die sog. Benachteiligung von Dialektsprechern betrifft, formulieren. Die subtilsten Sozialdatenerhebungen und die aufwendigsten statistischen Verfahren sind, das zu betonen ist wichtig, völlig wertlos, wenn die sprachlichen Daten, die der Einteilung der Probanden zugrundeliegen, schlecht oder falsch erhoben worden sind (Ammon 1978, 29 f.). Bei den in soziolinguistischen Untersu chungen erhobenen Sprachproduktionen stellt sich immer das Problem, inwieweit sie für den Dialekt des Sprechers repräsentativ sind. Erhebliche methodische Schwierigkei ten macht auch die für die Anwendung von statistischen Operationen unerläßliche Quantifizierung sprachlicher Erscheinungen. Ammons Einstufung auf einer dialektalen Stufenleiter (Ammon 1978, 33 ff.) oder Stellmachers Bestimmung von Dialektniveau (Stellmacher 1977, 102 ff.) können nur als erste Vorschläge für Quantifizierungen angesehen werden. Auch die Annahme, daß es Parallelitäten zwischen den sprachlichen Ebenen gibt, d. h. daß Daten im phonetischen Bereich stellvertretend für die anderen sprachlichen Ebenen erhoben werden kön-
Weniger bei der Abfragung mithilfe des Fragebuchs als beim Versuch, Gespräche bzw. Erzählungen zu initiieren, kommt es auf das sog. Interviewer- Verhalten des Forschers an. Bei Dialektaufnahmen sollte der Forscher in etwa die gleiche Sprache wie der Informant sprechen; denn (in Platt- Gebieten etwa) ist nicht zu erwarten, daß der Angesprochene im Dialekt antwortet, wenn er auf Hochdeutsch angesprochen wird. Beherrscht der Forscher die einheimische Varietät nicht, sollte er den “Kontakt über Dritte” ausbauen; d. h. er sollte bei dem Aufnahmegespräch anwesend sein, die Gesprächsfüh rung aber seinem Mittelsmann überlassen. — Allgemeingültige Regeln für ‘richtiges’ Interviewer- Verhalten lassen sich kaum angeben; schlecht wird das Verhalten immer dann, wenn der Forscher nur an der Aufnahme und nicht an der Person des Aufgenommenen interessiert ist. Negative Beispiele lassen sich aus den vorhandenen Textkorpora zahlreich anführen (man vgl. etwa die Aufnahmen I/2975 und III/248 des Deutschen Spracharchivs). 6.3. “Heimliche Aufnahme” In der Experimentsituation stellt sich das Problem der “heimlichen Aufnahme”, d. h. der Aufnahme, bei der der Sprecher erst nachträglich informiert wird, nicht im gleichen Maße, wie wenn man versucht, möglichst natürliche Gespräche aufzunehmen.
7.
Die spezifischen Probleme soziolinguistischer Untersuchungen
548
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
nen, bedarf noch eingehender Verifizie rungsversuche. Soziolinguistische Untersuchungen inner halb der deutschen Dialektologie haben als Probanden meist Schulkinder (Ausnahme ist Stellmachers wegweisende Untersuchung). Das hängt einmal mit der didaktischen Relevanz entsprechender Untersuchungen zu sammen, zum anderen mögen aber auch praktische Gründe eine Rolle spielen: die Informantenauswahl, der Aufbau einer ex perimentellen Situation, forschungsethische Probleme etc. stellen sich bei Kindern (vermeintlich) einfacher dar als bei Erwachsenen. Stimuliert werden die Kinder, die wegen der chancenverteilenden Funktion der von ihnen besuchten Klasse oft dem 4. Grundschuljahrgang entstammen, meistens durch Bildergeschichten oder durch Filme, die es zu verbalisieren gilt. Die Güte eines soziolinguistischen Designs liegt nun weniger in der Auswahl geeigneter Stimuli als im Entwurf einer geschickten Verbalisierungsanweisung. Bei Reitmajer (1976, 56) z. B. müssen die Kinder den Inhalt des Films “Wie der Maulwurf zu seiner Hose kam” dem Versuchsleiter in bairischer Mundart und auf Hochdeutsch erzählen, anschließend müssen sie ihn schriftlich wiedergeben. Dieses an sich sehr einfache Design ist in vielen soziolinguistischen Untersuchungen anzutreffen. Daß der Versuchsleiter, der zudem den Film auch noch selbst vorgeführt hat, Adressat des Berichts der Kinder ist, dürfte immensen Einfluß auf das Sprachverhalten der Kinder gehabt haben. Daß es auch anders geht, hat Steinig (1976, 166—170) in seiner interessanten Untersuchung demonstriert. Hier erzählt Schüler A seinem Partner B, mit dem er gemeinsam den ersten Teil eines Films gesehen hat, den Inhalt des von B nicht gesehenen zweiten Filmteils. Wie stark das Sprachverhalten sich verändert, wenn der Adressat ein Erwachsener ist, konnte Steinig nachweisen, indem er in das Projektdesign noch zwei weitere Berichte von Schüler A einbaute: er erzählte den Film auch dem beim ersten Gespräch nicht anwesenden Versuchsleiter sowie einem weiteren Erwachsenen, der auf den Schüler wie eine ‘Respektsperson’ wirkte. Steinigs Ergebnisse sind im Ruhrgebiet gewonnen, wo es die ‘alten Dialekte’ kaum noch gibt; deshalb sind sie auf andere Gebiete mit ungebrochener Dialekttradition nicht ohne weiteres übertragbar. Sein Design
ist es aber wert, auch in anderen Gegenden einmal durchgespielt zu werden. Leider steht dem aber wohl eine in den anderen Humanwissenschaften nicht in gleichem Maße anzutreffende Scheu vor der Übernahme von Projektdesigns entgegen. Ähnlich, wie das in 4. konstatiert wurde, gilt auch für soziolinguistische Untersuchungen, daß wichtige Forschungsfragen noch gar nicht gestellt sind. Das Problem der Benachteiligung von Dialektsprechern z. B. ist bisher immer nur für schulische Karrieren gestellt worden. Inwieweit auch berufliche Karrieren tangiert sind, ist als Frage noch nicht in den Blick getreten. Und da das Leben nicht nur aus Schule und Beruf besteht, sollte auch gefragt werden, inwieweit sich der Dialektgebrauch auf die sozialen Fähigkeiten der Sprecher auswirkt. Es ist sogar denkbar, daß Dialektsprecher ein anderes Verhältnis zu Natur und Geschichte haben als sog. Einheitssprachesprecher. Solche utopisch anmutenden Forschungsfragen sind mit dem heute zur Verfügung stehenden methodischen Instrumentarium nicht zu lösen. Möglicherweise fordern sie aber heraus, ein geeignetes Ensemble an Experimenten und Tests zu entwickeln. Sie müßten dann auch an anderen Orten stattfinden als im bislang bei soziolinguistischen Untersuchungen not gedrungen beliebten schulischen Karten raum.
8.
Literatur (in Auswahl)
Ammon 1978 = Ulrich Ammon: Schulschwierig keiten von Dialektsprechern. Empirische Untersu chungen sprachabhängiger Schulleistungen und des Schüler- und Lehrerbewußtseins mit sprachdidaktischen Hinweisen. Weinheim. Basel 1978 (Pragmalinguistik, 17). Andresen 1976 = Helga Andresen: Das Problem der Datenerhebung und der empirischen Bestäti gung linguistischer Theorien. In: Methodologie der Sprachwissenschaft. Hrsg. v. Michael Schek ker. Hamburg 1976 (Kritische Wissenschaft), 123—149. Bethge 1976 = Wolfgang Bethge: Vom Werden und Wirken des Deutschen Spracharchivs. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 43, 1976, 22—53. Brinkmann 1933 = Otto Brinkmann: Das Erzählen in einer Dorfgemeinschaft. Mit 1 Kartenskizze. Münster 1933 (Veröffentlichungen der Volkskundlichen Kommission des Provinzialinstituts für westfälische Landes - und Volkskunde. Erste Reihe, H. 4).
29. Erhebung von Sprachdaten durch schriftliche Befragung
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Grundschule und Gymnasium. Eine empirische Untersuchung. Marburg 1979 (Deutsche Dialekto graphie, 106). Schallaufnahm 1977 = Die Schallaufnahme deutscher Dialekte im Forschungsinstitut für deutsche Sprache. Bestandsbeschreibung und Arbeits bericht. Hrsg. v. Joachim Göschel. Marburg 1977. Schlieben-Lange 1978 = Brigitte Schlieben - Lange: Soziolinguistik. Eine Einführung. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart. Berlin. Köln. Mainz 1978 (Urban-Taschenbücher, 178). Soz iolinguistik und Empirie 1977 = Soziolinguistik und Empirie. Beiträge zu Problemen der Corpusgewinnung und - auswertung. Hrsg. v. Hans- Ulrich Bielefeld. Ernest W. B. Hess - Lüttich. André Lundt. Mit einem Register laufender Forschungsprojekte der Empirischen Soziolinguistik von Er nest W. B. Hess- Lüttich. Wiesbaden 1977 (Athenaion-Skripten Linguistik, 17.) Steinig 1976 = Wolfgang Steinig: Soziolekt und soziale Rolle. Untersuchungen zu Bedingungen und Wirkungen von Sprachverhalten unterschied licher gesellschaftlicher Gruppen in verschiedenen sozialen Situationen. Düsseldorf 1976 (Sprache der Gegenwart, 40). Stellmacher 1977 = Dieter Stellmacher: Studien zur gesprochenen Sprache in Niedersachsen. Eine soziolinguistische Untersuchung. Marburg 1977 (Deutsche Dialektgeographie, 82). Weidmann 1974 = Angelika Weidmann: Die Feldbeobachtung. In: Techniken der empirischen Sozialforschung. Hrsg. v. Jürgen von Koolwijk und Maria Wieken- Mayser. Bd 3: Erhebungsmethoden. Beobachtung und Analyse von Kommunikation. München. Wien 1974, 9—26. Weiers 1980 = Michael Weiers: Linguistische Feldforschung. Ein Leitfaden. Wiesbaden 1980. Westfälisches Wörterbuch, Beiband 1969 = Westfälisches Wörterbuch. Beiband. Bearbeitet von Felix Wortmann. Neumünster 1969.
Heinz H. Menge, Bochum
29. Erhebung von Sprachdaten durch schriftliche Befragung 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Beschreibung der Methode Vorteile und Nachteile der Methode Der Fragebogen Zur Darstellung schriftlich erhobener Sprachdaten Fehlerquellen Literatur (in Auswahl)
Beschreibung der Methode
Die Erhebung von Sprachdaten durch schriftliche Befragung geschieht mit Hilfe ei-
nes Fragenbogens, in den die Gewährsperson ihre Antworten auf die vom Explorator formulierten Fragen einträgt (Auszüge aus Fragebogen finden sich in Art. 3). Die Methode wird auch als die indirekte bezeichnet im Gegensatz zur direkten Methode, bei der der Explorator seine Fragen mündlich an die Gewährsperson richtet und die Antwort selbst niederschreibt oder auf Tonträger aufnimmt. Als Variante der schriftlichen bzw. indirekten Befragung hat zu gelten, wenn der Explorator einen Vermittler, zum Bei-
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
spiel einen Lehrer, damit beauftragt, an seinem Wirkungsort einer geeigneten Person die Fragen vorzulesen und die Antworten in den Fragebogen einzutragen.
2.
Vorteile und Nachteile der Methode
Aus den Unterschieden der Befragungssituation ergibt sich eine Reihe weiterer Unterschiede zwischen der direkten und der indirekten Methode, die hier mit Rücksicht auf die Themenstellung als Vor- bzw. Nachteile der schriftlichen Befragungsmethode aufge zählt seien. Als Vorteile der Methode lassen sich die folgenden Punkte anführen: — Die Gewährsperson kann die Fragen in Ruhe beantworten, ohne sich durch die Anwesenheit des Explorators oder gar eines Mikrofons in ihren Äußerungen beeinflussen zu lassen. — Die Befragung ist mit verhältnismäßig geringem personellen und zeitlichen Aufwand durchzuführen. — Die Kosten liegen wesentlich niedriger als bei der mündlichen Befragung. — Aus den beiden zuletzt genannten Gründen ist es praktisch nur mit Hilfe der schriftlichen Befragungsmethode möglich, auch größere Gebiete mit einem so gut wie lükkenlosen Netz von Belegorten zu überziehen. Diesen Vorteilen stehen die folgenden Nachteile der schriftlichen Befragungsme thode gegenüber: — Die Aufzeichnung der Sprachdaten kann nur mit Hilfe des gewöhnlichen Alphabets erfolgen. — Bestimmte sprachliche Erscheinungen lassen sich auf schriftlichem Wege schwer (z. B. Probleme der Syntax, Wortbedeutungen) oder gar nicht (Prosodik) erheben. — Bei schwierigen Fragen kann der Explorator der Gewährsperson keine unmittelbare Hilfe leisten. — Die Formulierung der Fragen kann Erkenntnissen, die während der Befragung gewonnen werden, in der Regel nicht mehr angepaßt werden. — Die Zahl der Fragen, die eine Gewährsperson selbständig zu beantworten bereit ist, ist viel niedriger als die, die ein anwesender Explorator stellen könnte. — Der Explorator kann nicht persönlich eine geeignete Gewährsperson aussuchen und auch nicht darauf hinwirken, daß eine in Aussicht genommene Gewährsperson die Fragen dann wirklich und mit der nötigen Sorgfalt beantwortet.
— Reaktionen der Gewährspersonen wie Zögern, Unsicherheit, Heiterkeit und sachliche Kommentare, die für die Interpretation wichtige Hinweise geben können, gelangen zumeist nicht auf das Papier. Wie die Zusammenstellung zeigt, betreffen die Nachteile der indirekten Methode vor allem die Qualität des erhobenen Datenmaterials. Am schwersten wiegt, daß die Kompetenz des Explorators als Phonetiker der Befragung in jenem entscheidenden Augenblick, in dem das akustische Signal in den geschriebenen Beleg umgewandelt wird, nicht zugute kommen kann. Die Aufzeichnung muß mit Hilfe des gewöhnlichen Alphabets in “Laienschreibung” erfolgen. Die Mängel dieses Alphabets zur exakten Wiedergabe gesprochener Laute lassen sich durch orthographische Anweisungen an die befragten Personen nur unwesentlich mil dern. Auch die sachliche Kompetenz des Explorators und sein Vorwissen um die möglichen richtigen Antworten, das, behutsam angewandt, das Datenmaterial von manchen Fehlern freizuhalten vermag, bleibt unge nutzt. Die Vorteile der schriftlichen Erhebung liegen vornehmlich in der Quantität der Daten, die unter vergleichbarem Aufwand eingebracht werden können. Der Explorator muß entscheiden, ob das Ziel der Erhebung die Anwendung der einen oder der anderen Methode fordert, und er muß diese Entscheidung auch unter verantwor tungsbewußter Berücksichtigung personel ler, zeitlicher und nicht zuletzt finanzieller Erwägungen treffen. Die Entscheidung zugunsten der indirek ten Methode wird bei Wortschatzuntersu chungen am leichtesten fallen. Hier kommen die Vorteile der schriftlichen Befragung voll zur Geltung, während die Nachteile das Datenmaterial in seinen wesentlichen Aspekten nicht berühren. Die in die Hunderte, in größeren Gebieten in die Tausende gehende Zahl typenmäßig unterschiedlicher regiona ler Bezeichnungen läßt sich nur auf indirektem Wege mit einiger Aussicht auf Vollständigkeit erfassen. Andererseits fallen beim Wortschatz — ebenso wie übrigens auch bei den grammatischen (morphologischen) For men — die Mängel der Laienschreibung noch am wenigsten ins Gewicht, weil es dabei vornehmlich auf den Typ und erst in zweiter Linie auf seine exakte akustische Realisierung ankommt. Das hier zugrundeliegende und im Hinblick auf den Wortschatz von Mitzka (1938, 45) zitierte Prinzip
29. Erhebung von Sprachdaten durch schriftliche Befragung
“lieber Weniges aus möglichst allen, als Vieles aus einer ungenügenden Zahl von Ortschaften” stammt allerdings von Wenker (1881, VIII), der es als Grundsatz für die Untersuchung der Laute und Formen der deutschen Sprache formuliert hat. Dieses ‘Marburger Prinzip’ führt zu sehr großen Materialmengen, so daß im Deutschen Wortatlas keineswegs alle Antwortbögen ausgewertet werden konnten (vgl. dazu die Übersicht in Art. 82). Kein größeres, auf Laute und Formen zielendes Sprachatlas Unternehmen im Inland oder Ausland hat die Methode aufgegriffen.
3.
Der Fragebogen
Von der Qualität des Fragebogens hängt es ab, ob die mit seiner Hilfe erhobenen Sprachdaten für die Erreichung des Abfrageziels von Wert sind. Aber es kommt nicht nur auf die Fragen allein an, so bedachtsam sie auch formuliert sein mögen. Die vorgesehene Gewährsperson muß überhaupt erst einmal veranlaßt werden, sich zur Beantwortung der Fragen bereitzufinden und, wenn sie mit der Arbeit begonnen hat, bei der Stange zu bleiben. Diese Aufgabe hat vor allem ein Begleitbrief zu leisten (vgl. dazu Art. 3). Der erfahrene Explorator weiß auch, daß die Länge des Fragebogens, die Anordnung der Fragen innerhalb des Fragebogens, ja selbst scheinbare Äußerlichkeiten wie der Absendeort oder die Verwendung von Sondermarken auf dem Umschlag ihre Auswirkungen haben auf die Rücklaufquote und die Sorgfalt, mit der die Fragebögen ausgefüllt werden. Wer es nicht weiß, kann dazu bei der empirischen Sozialforschung (z. B. bei Richter 1970 oder Goode/Hatt 1972) einige sehr gute Ratschläge finden. Narrensichere Regeln allerdings gibt es nicht, und erst hinterher wird man wissen, was man hätte besser machen können: “Le questionnaire [...] pour être sensiblement meilleur aurait du être fait après l’enquete” (Gilliéron 1912, 45). Die Formulierung der Fragen richtet sich nach dem sprachlichen Bereich, aus dem die Sprachdaten erhoben werden sollen. Er scheinungen der Lautung, der grammati schen Formen, der Syntax, aber auch Pronomina, Adverbien und Formwörter, z. B. die Konjunktionen und Präpositionen, wird man in Sätze einzubauen suchen, die dann von der Gewährsperson in der zu erhebenden Sprachform wiedergegeben werden sol-
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len. Die verschiedenen Arten der Fragestellung zum Wortgebrauch erläutern Wiegand/ Harras (1971, 108—111). In der Dialektologie ist vor allem die Frage nach der Bezeichnung für einen definierten Begriff üblich (Beispiel: “Wie heißt in Ihrer Mundart der Tag vor dem Sonntag?”). Auch die Ergänzungsfrage führt, wo sie eindeutig auf ein Wort zielt, zu guten Ergebnissen (“Wenn man lange nicht geschlafen hat, ist man ...”). Bei konkreten Dingen hat sich die Fragestellung mit Hilfe von Abbildungen bewährt. Nicht immer jedoch läßt sich ein Begriff eindeutig definieren, ergänzen oder abbilden. Dann kann es nötig sein, in einer Übersetzungsfrage die standardsprachliche Bezeichnung zu verwenden, zum Beispiel “Wie heißt in der Mundart des Ortes: Ahorn (allgemein, nicht bes. Sorte)” (Fragebogen zum Deutschen Wortatlas; vgl. Art. 3 u. 82). Diese Methode ist vielfach kritisiert worden, weil sie dazu führen kann, daß die Gewährsperson ohne viel nachzudenken die so vorgegebene Bezeichnung als ortsüblich in den Fragebogen einträgt. Die Gefahr solcher Echoformen besteht auch bei Fragen, in denen einem Definitionsversuch einige mögliche Antworten als Beispiele hinzugefügt werden: “Wie heißt an Ihrem Ort gewöhnlich das kleine, feste Zuckerwerk, das Kinder gern lutschen (z. B. Guetsel, Guatl, Bombom, Bonsche, Bollchen, Zuckerle, usw.)?” (Fragebogen zum Wortatlas der deutschen Umgangssprachen). Es ist aber immer noch besser, einige Echoformen in Kauf zu nehmen, die ja von der sprachlichen Wirklichkeit doch nicht gar so weit entfernt sind, als durch eine nicht eindeutig formulierte Frage massenweise “falsche” Antworten einzusammeln. Die Frage “Wie sagt man ganz gewöhnlich für jenes Tier, das früher beim Bauern den Wagen zog?”, die für einen Norddeutschen absolut unfehlbar aussieht, bringt ohne den Zusatz “z. B. Roß, Pferd, Gaul” im Süden des deutschen Sprachgebiets eben doch sehr oft die Antwort Ochse. Durch Zusätze wie “z. B.” und “usw.” wird bei den Gewährspersonen das Bewußtsein wachgehalten, daß auch andere Antworten möglich sind. Es sollte auch nicht übersehen werden, daß einzelne vorgegebene Antwortmöglichkeiten über die Vermeidung von Mißverständnissen hinaus einen für die gesamte Erhebung positiven Effekt haben können. Sie helfen nämlich durch ihr Beispiel einer Gewährsperson, Sprachformen in einer Orthographie niederzuschreiben, die von der
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
der Standardsprache abweicht und somit ungewohnt ist. Deshalb sollte eine solche Frage schon ziemlich zu Beginn des Fragebogens eingeplant werden. Auf die Funktion vorgegebener Bezeichnungen als “Erinnerungshilfen” bei Abfragungen von Sprachdaten, die im alltäglichen Sprachgebrauch der Ge währsperson nicht mehr verwendet werden, hat Bellmann (Schlesischer Sprachatlas, Bd. 2, 1) hingewiesen. Da alle Antworten jedoch nie genau vorherzusehen sind und in der Regel ja ausdrücklich die Vielfalt der sprachlichen Möglichkeiten erkundet wer den soll, sind die in der empirischen Sozialforschung so beliebten “geschlossenen” Fragen, bei denen die Gewährsperson nur eine vorgegebene Antwortmöglichkeit anzukreu zen braucht, bei der Erhebung von sprachlichen Daten weniger geeignet. Die Anordnung der Fragen auf dem Fragebogen kann bei Fragen nach dem Wortgebrauch alphabetisch oder nach Sachgruppen vorgenommen werden. Die alphabetische Methode reißt die Wörter unnötig aus natürlichen Zusammenhängen und ist ohnehin nur bei Übersetzungsfragen anwendbar. Die psychologisch viel günstigere Anordnung nach Sachgruppen erlaubt es, den Fragebogen optisch aufzulockern. Was dessen Länge betrifft, so wird eine Befragung zum Sprachgebrauch mit der von der empirischen Sozialforschung als Maximum angesehenen Dauer von 15—20 Minuten (Richter 1970, 216) in aller Regel nicht auskommen. Um so wichtiger ist es, die Gewährsperson hinreichend für die Abfragung zu interessieren und zu motivieren. Diese Aufgabe fällt dem Begleitbrief zu. Er soll nicht nur der Gewährsperson kurz das Wichtigste über den Zweck der Befragung mitteilen, die Probleme, die ihr zugrundeliegen, erläutern, sowie die nötigen Anleitungen zum Ausfüllen geben, sondern er muß darüber hinaus das leisten, was der Explorator bei der direkten Befragung durch sein Verhandlungsgeschick und seinen persönlichen Charme zu erreichen versucht: die in Aussicht genommene Gewährsperson davon überzeugen, daß es gerade auf ihre Mitarbeit entscheidend ankommt. Diese Art der Motivierung wirkt sich weit günstiger auf die Rücklaufquote aus als etwa die Zusicherung kleiner Belohnungen oder die Beilage von Rückporto (dessen Ersatz jedoch immer angeboten werden sollte). Zur Vorbereitung jeder indirekten Befragung gehört es, daß die Fragen sowohl durch
direkte Stichproben wie auch durch indirekte Vorausfragebögen getestet werden. Dabei sind die verschiedenen geographischen Bereiche, in denen der Fragebogen verwendet werden soll, und die unterschiedlichen, im Bildungsgrad und in der sozialen Stellung der Gewährspersonen liegenden Einfluß möglichkeiten zu berücksichtigen. Die Sprachform des Fragebogens und des Begleitbriefs wird in der Regel die im schriftlichen Verkehr des Untersuchungsgebiets gebräuchliche Standardsprache sein. Während bei der direkten Befragung das Ansprechen in der Mundart vielfach üblich ist oder sogar als eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Befragung angesehen wird (Hotzenköcherle 1962, 30; Ruoff 1973, 87—89), bildet ihre Verwendung für die schriftliche Befragung eine Ausnahme. Einen in letzeburgischer Mundart gedruckten Fragebogen verschickt aber zum Beispiel das Institut Grand- Ducal in Luxemburg bei einer neuen Umfrageaktion.
4.
Zur Darstellung schriftlich erhobener Sprachdaten
Instrument der Darstellung von Sprachda ten, die mit dem Blick auf geographische Unterschiede erhoben worden sind, ist vor allem die Sprachkarte. Die Methoden der Kartierung werden in Art. 39 beschrieben. Bei Berücksichtigung der im Belegmaterial vorliegenden Voraussetzungen ist einsichtig, daß indirekt erhobene Sprachdaten am angemessensten in Form der Symbolkarte darzustellen sind. Denn einerseits ist bei der indirekten Befragung die Umwandlung des akustischen Signals in den Beleg nicht nach hinreichend einheitlichen Gesichtspunkten erfolgt, um es gerechtfertigt erscheinen zu lassen, jeden Transkriptionsversuch der Gewährspersonen im Original auf der Karte (als Textkarte, Originalkarte) auszuschrei ben. Andererseits vereinfacht die Flächen karte zu rigoros, als daß sie als adäquate wissenschaftliche Darstellungsmethode von Sprachdaten gelten darf. Zur Darstellung der Ergebnisse schriftlicher Massenbefra gungen, bei denen die Eintragung eines Symbolzeichens für jeden einzelnen Ort die Möglichkeiten einer Symbolkarte sprengen würde, bildet die Verbindung von Symbolund Flächenkarte, wie sie im Deutschen Sprachatlas und im Deutschen Wortatlas versucht worden ist, einen akzeptablen Kompromiß.
29. Erhebung von Sprachdaten durch schriftliche Befragung
5.
Fehlerquellen
Durch Befragung erhobene Sprachdaten stellen nicht natürliche Rede dar, sondern sprachliche Elemente, die die Gewährsper son als Reaktion auf isolierte, zumeist in der Standardsprache gestellte Fragen niederge schrieben hat. Bei sorgfältiger Vorbereitung und Durchführung der Befragung darf davon ausgegangen werden, daß die Gewährsperson “die Suggestivkraft der Frage in weitgehendem Maße zu überwinden vermag” (Jaberg/Jud 1928, 239), so daß die Antwort in der großen Mehrzahl der Fälle der sprachlichen Norm entspricht, die in der Kommunikationsgemeinschaft, der der Sprecher angehört, anerkannt ist (Wiegand/Harras 1971, 106—107). Irrtümer lassen sich jedoch nicht ausschließen, und daß sie ins Belegmaterial gelangen, ist zum Teil in der Natur der schriftlichen Befragung begründet. Eine Gewährsperson kann zum Beispiel den Sprachgebrauch ihres Heimatortes schlichtweg falsch einschätzen, vor allem in Übergangszonen zwischen Gebieten mit unterschiedlichem Sprachgebrauch. Auch ist es möglich, daß für Sachen, die hauptsächlich dem privaten Lebensbereich angehören, ein aus einem anderen Sprachbereich stammender Elternteil den häuslichen Sprachgebrauch beeinflußt, ohne daß dessen Abweichung von der örtlichen Norm der Gewährsperson bewußt ist. Bei direkter Befragung wird ein Explorator eine ihm aufgrund seines Vorwissens zweifelhafte Antwort durch vorsichtige Nachfrage zu verifizieren suchen. Dadurch ist manche fehlerhafte Meldung noch rechtzeitig zu korrigieren. Bei der indirekten Befragung lassen sich am Beleg keine Korrekturen vornehmen, es sei denn durch Ausscheidung, wenn die Frage ganz offensichtlich nicht im Sinne des Explorators verstanden worden ist (Ochse, wo nach dem Pferd gefragt wurde, siehe Abschnitt 3.). Eine gewisse Möglichkeit der Korrektur bietet die Interpretation der Sprachkarte. Einer außerhalb seines eigentlichen Geltungsbereichs auftretenden Meldung wird der Interpret nur eine verhältnismäßig geringe Aussagekraft zusprechen, falls es sich nicht gerade um eine standardsprachliche Form handelt, mit deren punktweisem Eindringen in anderssprachige Gebiete gerechnet werden müßte. Wenn in jedem Belegort zwei Gewährspersonen befragt werden und Nicht übereinstimmung der Antworten dann durch diakritische Zeichen kenntlich gemacht wird (Wortatlas der deutschen Umgangssprachen,
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Bd. 1, 18) verliert die möglicherweise irrtümliche Einzelmeldung noch mehr von ihrer Aussagekraft. Von irrtümlichen Belegen, die in Übergangszonen oder isoliert vorkommen, wird das Ergebnis einer Befragung nicht wesentlich beeinträchtigt. Anders ist es, wenn Irrtümer flächenweise auftreten. Sie können durch mangelnde Sachkenntnis des Explorators, die bei indirekter Befragung nicht zu korrigieren ist, verursacht sein. Auf der Karte entstehen auf diese Weise Mischgebiete, ohne daß in der Sprachwirklichkeit der betroffenen Gebiete tatsächlich Bezeichnungen gleicher Bedeutung (Synonyme) nebeneinander verwendet werden. Ein Beispiel nennt Wenzel (1930, 3—4): „Wer [...] nicht weiß, daß die Kuh entweder keine Milch gibt, weil sie kurz vor dem Kalben steht, oder weil sie überhaupt unfruchtbar ist, wird auf seine Frage: “Wie sagt man für nicht-milchgebend bei der Kuh?” bald sie steht trocken, bald sie ist güste zur Antwort bekommen, und diese Bezeichnungen fälschlich für synonym halten.“ Mischgebiete, die andererseits in man gelnder Sachkenntnis der Gewährspersonen ihre Ursache haben, diskutiert Goossens (1969, 88—89). Auf Lautkarten, die nach indirekten Erhebungen gezeichnet sind, können Gebiete durch Grenzen gegeneinander abgehoben sein, obwohl tatsächlich keine Unterschiede bestehen. Mitzka (1952, 42—45; 47) zeigt als Ursachen landschaftliche Schreibsitten oder (zumeist unbewußte) graphische Substitution auf. Abgesehen von diesen Ausnahmefällen wird man von der auf indirekt erhobenem Belegmaterial beruhenden Sprachkarte sa gen dürfen, daß sie flächengetreu ist. Wo sich Einzelmeldungen zu Gebieten zusammenschließen, in denen der gleiche Sprachgebrauch ermittelt worden ist, darf sie innerhalb dieser Gebiete sogar als punktgetreu angesehen werden.
6.
Literatur (in Auswahl)
Deutscher Sprachatlas = Deutscher Sprachatlas auf Grund des von G. Wenker begründeten Sprachatlas des Deutschen Reichs und mit Einschluß von Luxemburg. Bearbeitet von Ferdinand Wrede, Walther Mitzka und Bernhard Martin. 23 Lfgn. Marburg 1927—56. Deutscher Wortatlas = Deutscher Wortatlas. Bd. 1—22. Bd. 1—4 hrsg. von Walther Mitzka. Bd. 5—17 hrsg. von Walther Mitzka und Ludwig
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
554
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Jürgen Eichhoff, Madison (USA)
30. Erhebung von Sprachdaten aus schriftlichen Quellen 1. 2. 3.
1.
Zu neueren Texten als dialektologischen Quellen Datenerhebung aus mittelalterlichen Texten Literatur (in Auswahl)
Zu neueren Texten als dialektologischen Quellen
Bei schriftlichen Quellen hat der Dialektologe — über schon Art. 29 angesprochene Fragen hinaus — vorweg zu berücksichtigen, daß sie höchst selten mit objektiv- dokumentarischer Absicht entstanden sind. Bei schrifttumsmäßiger Etablierung von Diglos -
sie in der Neuzeit kann ein zu hohes, bei mittelalterlichen Texten das grundsätzlich fehlende Interesse an Dialekt als solchem zu jeweils inadäquaten Selektionen aus der Sprechsprachwirklichkeit führen. — Nur mangels anderer Möglichkeiten wird man Sprachformen mit den Merkmalen ‘gesprochen’, ‘dialogisch’ und ‘regional’ etwa wie Kufner 1961 erheben, der als Korpus 611 Sätze direkter Rede aus Münchnerischen Zeitungsbeiträgen S. Sommers auswertete, die er von Einheimischen auf Band sprechen ließ. — Sinnvoll ist eine Auswertung dialektaler Texte vor allem: (a) Im phonologischen
30. Erhebung von Sprachdaten aus schriftlichen Quellen
Bereich hinsichtlich des Problems unge normter Verschriftlichung gesprochener Sprache. Beispielhaft ist Lerchs (1971) Analyse des Schreibverhaltens von 40 schweizerdeutschen Dialektautoren (1855—1967) in ihrer Determination durch hoch und schweizerdt. Schreibusus sowie den Dialekt. (b) Im lexikalischen und syntaktischen Bereich hinsichtlich des Problems der Literarisierung gesprochener Sprache. Gegenüber mehr ‘literarisch’ ausgerichteten herkömmlichen Texten (oft überakzentuierende Dia lekt- Demonstration, vor dem 19. Jh. auch als Tölpelsprache) nähern sich die mehr ‘kommunikativ’ orientierten Texte jüngerer Autoren zunehmend der Sprechsprachrealität an. Eine Typisierung von Literatur in Hinblick auf ihre Adaption von Dialekt versucht Schenker 1977. Als musterhafte Analyse einer komplizierten literarischen Dialektmi schung (um 1743) ist Haas 1975 zu nennen.
2.
Datenerhebung aus mittelalterlichen Texten
Das Angewiesensein auf schriftliche Quellen in ihrer zufälligen Überlieferungslage ist ein fundamentales Problem der historischen Dialektologie. Grundlegender Arbeitsschritt jeder Untersuchung ist hier die Wahl optimal auswertbarer Texte. Das folgende beschränkt sich auf eine abrißhafte Typologie entsprechender Quellen (und Untersuchun gen); sie ist im Rahmen eines Handbuches vorrangig angebracht. Arbeitstechnische Hinweise zur Datenerhebung aus den Quellen werden dabei an geeigneter Stelle subsumiert. Als exemplarischer Zeitraum diene das Spätmittelalter, in dem erstmals volkssprachiges Schrifttum textsortenmäßig genügend ausdifferenziert erscheint. Der Blick wird einseitig auf die Erfassung möglicher Reflexe der damaligen dialektalen Kammerung gerichtet; Arbeiten, welche primär den damaligen sprachlichen Ausgleichsbewegun gen gelten, bleiben hier weitgehend außer Be tracht. — Vorweg ist festzuhalten, daß die einer heutigen Gewährsperson entsprechende histori sche Instanz nicht die Quelle ist, sondern die Schreiberhand. Eine mehrhändige Quelle ist wie mehrere Gewährspersonen, verschiedene Quellen einer Hand sind wie eine Gewährsperson zu behandeln.
2.1. Auswahl isolierter Quellentypen 2.1.1. (Privat)-Urkunden. Sie sind unter den Archivalien aufgrund ihrer Datierbarkeit und relativ frühen Auftretens in der Volks-
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sprache seit der Mitte des 13. Jhs. der am meisten (vor allem im graphematisch- phonologischen Bereich) herangezogene Quellen typ. Die sozialen Merkmale der Kommunikationspartner sind weitgehend faßbar, Textsituation sowie - intention sind relativ einheitlich, der Ausschnitt des inhaltlich erfaßten (alltäglichen) Lebens und damit Sprachbereichs nicht allzu schmal. Probleme bieten bei der Lokalisierung die methodisch unerläßliche Trennung von Ausstellungs und Herstellungsort, von Aussteller oder Empfängerausfertigung; hinzu kommt die (nicht generell lösbare) Frage, inwieweit Urkunden jeweils die Schreibtradition des betr. Schreibortes oder die Schreibart eines evtl. woanders ausgebildeten oder ungeübten Schreibers wiedergeben (Meissburger 1965; Reiffenstein 1980; Menke 1980). Hier wie bei anderen Textsorten ist der Forschungsstand zur außerlinguistischen (lokalen, so zialen usw.) Ortung der Sprachträger (Schreiber) ein wesentliches Kriterium bei der Zusammenstellung von Korpora zur Sprachdatenerhebung. Noch wenig genutzt ist eine Lokalisierungsme thode, welche die Schreiber - und Schreibortpro bleme umgeht, indem sie die Belege auf die i n den Quellen angesprochenen Betrefforte bezieht und als Reflex des dortigen Sprachgebrauchs auffaßt (s. Art. 8 a, 4.3). Sie bleibt bei Urkunden freilich auf wenige lexikalische Einzelfälle beschränkt, kann hier jedoch zur Aufhellung spracharealer Feinstrukturen schon der althochdeutschen Zeit beitragen (Kleiber 1979, 155—159; Kunze 1975, 50—52). Sonderegger 1961 wies am günstigen Überlie ferungsfall St. Galler Urkunden nach, wie sehr schon in ahd. Zeit die Reinschrift einem archaisierenden Zeicheninventar verpflichtet ist, während in den Konzepten sogar beim gleichen Schreiber sich die aktuellen Sprachverhältnisse deutlicher widerspiegeln (vgl. Schmitt 1966, 165 für das Spätmittelalter). — Der Romanist Goebl (1976 a, b) erhebt Trennung und Vergleich von Original und Zweitschrift (Cartulaire) zu einem methodischen Ausgangsprinzip seiner scriptologischen Arbeiten zur normandischen Urkundensprache (1250 bis 1550). In den Originalen fließen oft noch regionale, vom dialektalen Substrat mitgesteuerte Residualgraphien ein, die bei einem weiteren Schreibzugriff durch eine Zweitschrift als vor der reichsfranzösischen Schreibnorm nicht mehr ak zeptabel getilgt werden.
Zur Sortierung von Urkunden und - teilen stellte Brandstetter 1890 für den Typ einer lokalen Untersuchung Regeln auf, die noch immer beachtenswert sind. Großräumige Urkundenarbeiten (zuerst: Gleissner/Frings
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
1941) wurden durch Wilhelm 1932 ermöglicht. Durch zeichentreue Edition fast sämtlicher Originalurkunden bis 1300 stellte er diese Textsorte bereit “als verläßlichste Quelle” für die nebeneinander existierenden “orthographischen Systeme, die den Ausgangs punkt für die phonetische Interpretation bieten müssen” (LX). Wegen des Dt.- lateinischen Süd- Nordgefälles ist freilich das Md. und vor allem Nd. stark unterrepräsentiert. Zugunsten einer Verbreiterung der Materialbasis, einer Ausweitung des Zeitraums über 1300 hinaus sowie einer Verdichtung des Ortsnetzes ist eine regionale Beschränkung des Untersuchungsraumes in Kauf zu nehmen. Je nachdem die Arbeit einen kompletten grammatischen Bereich (z. B. Boesch 1946), für eine bestimmte Fragestellung ausgewählte Beispiele (z. B. Schützeichel 21974) oder ein Einzelproblem behandelt (z. B. Schulze 1967), kann die Belegmenge mehr oder weniger komplett erfaßt und dokumentiert werden. Die Bestimmung und Interpretation historischer Schreibgebräuche, ihrer Geltungsbereiche und der in ihnen möglichen Varianz wird umso sicherer, je höher die Belegfrequenz, je kompletter das erfaßte (Sub- )System, je dichter das Ortsnetz, je häufiger die zeitlichen Schnitte, je intensiver die Erhebung außersprachlicher Kanzlei und Schreiberdaten, je möglicher der Vergleich mit dem Befund in gleichzeitigen anderen Textsorten und mit den rezenten Dialekten. Vgl. auch die “Zehn Gebote der historischen Wortgeographie”, die Baldinger (1979, 147—149) für die Arbeit mit alt- und mittelfranzösischen Rechtstexten (Coutumes) for muliert. Auch die beste Edition vermag die Aussonde rung ‘nur paläographisch’ relevanter Schriftele mente nicht restlos zu leisten (wichtig ist der Hinweis, daß eine Edition auch “Symptomwerte” der Graphien zu beachten hat, Reichmann 1978, 347—353). In speziellen Bereichen (diakritische Zeichen, Kürzel, Segmentierungssignale) emp fiehlt sich ein (wenigstens kontrollierender) Rückgriff auf das Faksimile. — Bisweilen ist es rationell, die zentralen Untersuchungsbereiche mit primär (Handschriften), die mehr periphären mit sekundär (Editionen) oder tertiär (Indices, Gram matiken) vermittelten Quellen abzudecken, wobei man die Editionen wiederum etwa nach den Kriterien der Bonner Arbeitsgruppe ‘Frühneuhoch deutsch’ klassifizieren kann (Besch 1976, 409—411).
Ei 2.1.2. Urbare (Beraine, Lagerbücher). ne spezifisch dialektologische Auswertbar -
keit der Urkunden wird seit langem zunehmend zurückhaltend beurteilt (vgl. De Boor 1976, 137). Hingegen erweist sich eine andere Archivaliengruppe, die seit Ende des 13. Jhs. zunehmend auf Deutsch verfaßten Urbare, für diese Zwecke als so geeignet, daß auf ihrer Basis ein ‘Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas’ erstellt werden konnte, in mancher Hinsicht ein spätmittelalterliches Pendant zu Regionalatlanten rezenter Dialekte. Über die Nähe der Urbare zur dialektalen Grundschicht und über ihre Eignung zur Anlage historischer Sprachkarten s. o. Art. 8 a. (Für das Mittelenglische vgl. die — auf onomastisches Material beschränkten — Auswertungsansätze von ‘Lay Subsidy Rolls’ d. J. 1296—1346 bei Kristensson 1967). Anders als bei Urkunden bieten Datierung, Lokalisierung und quellenkritische Fragen (Schützeichel 1975) hier kaum Schwierigkeiten. Nicht nur in derselben Kanzlei, sondern auch beim selben Schreiber kann sich in den Urbaren gegenüber den Urkunden ein stark variiertes Inventar von Graphien verwendet finden, das, so komplex die Interpretation im Einzelfall sein mag, eindeutig die stärkere Bindung der Urbare an den lokalen Dialekt reflektiert (Kleiber 1965, 200—207). Sie stehen, wenn man Schriftstücke nach ihrem intendierten Kommunikationsradius in eine Skala ‘lokal - re gional- überregional’ einstuft, ganz am unteren Ende. Indem sie sich nicht auf städtische, sondern auf grundherrschaftlich- dörfliche Belange beziehen und weitgehend auf bäuerliche Weisung zurückgehen, bilden sie (zusammen mit den in dieser Hinsicht vergleichbaren Weistümern) jene Quellengrup pe, in der noch am ehesten von städtischen Ausgleichsbewegungen und Neuerungen unberührte Sprachlagen faßbar werden (vgl. Schmidt- Wiegand 1978, 52 f., 197). — Ein einmaliger Vorteil dieser Quellen ist, daß sie als Besitzstandprotokolle meist an den Besitzorten aufgenommen und nach ihrer Reihenfolge angeordnet sind, so daß sich die entsprechenden Textpartien ein- und derselben Quelle auf diese Orte verteilt lokalisieren lassen (‘mikrotopische’ oder BesitzortLokalisierung, s. Art. 8 a, 4.3). Die Datenerhebung gelangt hier noch hinter die Ausgangseinheit Quelle/Hand zurück. Je höheren Aufwand solche differenzierten Verfahren zur Ortung der Materialmengen erfor dern, desto mehr wird man sich dabei nur auf eingegrenzte kritische Arbeitsfelder konzentrieren (Grenzzonen, Übergangszeiten, Kanzleien/Hände
30. Erhebung von Sprachdaten aus schriftlichen Quellen
mit uneinheitlichem Schreibusus usw.). Zur vorherigen Ermittlung solcher Felder und zur Problemfindung überhaupt empfiehlt es sich, zunächst mit einem reduzierten, ‘heuristischen’ Quellenkorpus (‘Testkorpus’) und noch mit Schreibort - Lokalisie rung zu operieren (s. o. Art. 8 a, Karten 3 und 4; vgl. Stopp 1976).
Die Bedeutung der Urbare als Quellen der historischen Dialektologie wurde vor allem im Zusammenhang mit der Onomastik erkannt. Die Aufzeichnung gerade etymologisch dunkler Namen mußte oft unmittelbar nach dem Gehör erfolgen, und so, daß das Schriftbild wiederum jederzeit phonetisch in eindeutig identifizierbare Namen umgesetzt werden konnte. Solche Versuche lautgetreuer Schreibung können entweder als dialektale ‘Direktanzeige’ oder ‘hyperkorrekt’ ausfallen (vgl. Art. 49). Hauptsächliche (und vielfach kombinierbare) Erhebungstypen der (Mikro - ) Toponymie sind der flächig - syn chrone Typ anhand (nach dem Kriterium der Homogenität) ausgewählter Quellen mit Schreibortlokalisation (z. B. Kleiber/Kun ze/Löffler 1979, K. 2, 197 u. a.), und der punktuell - diachrone Typ mit Berücksichti gung sämtlicher den örtlich fixierten Namen betreffender Quellen jeder Art und Herkunft (so die meisten Flurnamenarbeiten, wobei ältere Arbeiten oft hinsichtlich phonologi scher Auswertbarkeit quellenkritisch und editorisch zu wenig abgesichert sind). Vgl. Steger 1969. — Erwähnt seien in diesem Zusammenhang die seit dem 8. Jh. erhaltenen Verbrüderungsbücher. Ihre interdisziplinäre Edition und die Auswertung der hier hunderttausendfach überlieferten Personenna men ermöglichen es, das dürftige Ortsnetz ahd. (literarischer) Quellen ergänzend zu verdichten und eine tragfähige Grundlage zur Erfassung ahd. Sprachlandschaften erst eigentlich zu gewinnen (Sonderegger 1965; Geuenich 1976; Schmid/Geuenich/Wol lasch 1977). Wie die Namen waren viele Bezeichnungen von “Alltagsrealien” aufgrund lokaler Geltung oder seltenen Schreib- Anlasses oft nur spontan zu verschriftlichen. Für Otten 1977 bildet daher das Auftreten solchen Materials (vgl. Eylenbosch 1966) hinsichtlich der Sprachdatenerhebung ein Kriterium zur Ausgrenzung einer eigenen Archivalienschicht.
Lexikalisch enthalten 2.1.3. Vokabularien. Urkunden ein zwar viele Lebensbereiche umfassendes, in seiner Formelhaftigkeit dialektologisch jedoch nur bedingt auswertbares Material; die Urbare bieten einen relativ beschränkten Appellativ - Wortschatz aus
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dem Agrarbereich. Für (großräumige) lexikalische Erhebungen sind daher die lat.- dt. Vokabularien wichtig. Ein Vorteil ist, daß hier aufgrund des lat. Interpretaments die Bedeutung der dt. Wörter festliegt (wodurch jedoch der mangelnde volkssprachliche Kontextbezug nicht voll ersetzbar ist). Erhebungen einzelner Wörter lassen sich bei diesem Quellentyp relativ einfach zur Erhebung von Wortfeldern ergänzen. Seit dem 16. Jh. finden sich hier zunehmend auch ausdrückliche Markierungen dialektaler Ausdrücke. Man kann die dt. Entsprechungen mehrerer etwa gleichzeitig in verschiedenen Regionen entstandener Wörterbücher vergleichen (De Smet 1968), oder die Geschichte der Überlieferung der Wörter eines Vokabulars bei seiner (handschriftlichen) Verbreitung in diverse Landschaften beobachten (Grubmüller 1967, 216—257). In Rücksicht auf Benutzerschicht, Zweck (etwa wissenschaftliche Propädeutik) und literarische Tradition finden sich in diesem Quellentyp primär Schichten überregionaler Lexik; dialektale Reflexe können in bestimmten Sachbereichen (Landwirtschaft, Handwerk usw.) und bei innovatorischem Schreiberverhalten vor allem beim Auftreten von Zweit und Drittinterpreta menten faßbar werden. 2.1.4. Andere Gebrauchstexte. Die mittel alterliche dt. Sachliteratur ist im wesentlichen Übersetzung aus dem Latein. Der Vergleich in verschiedenen Regionen entstandener Übersetzungen desselben Textes, klas sisch an der Bibel (Ising 1968 u. a.), aber auch an anderen Beispielen durchgeführt (Wolf 1975), ist aufgrund literarischer Intentionen und Traditionen für die Blickrichtung speziell der historischen Dialektologie nur bedingt günstig. Ergiebiger als auf der “ersten”, d. h. lateinisch- dt. Rezeptionsstufe, erweisen sich Erhebungen auf der “zweiten” Rezeptionsstufe, d. h. bei jener Varianz, die sich während der innerdeutschen Überlieferung ein- und desselben volkssprachlichen Textes einstellt. In ihrem Verlauf kann die vom Autor evtl. angezielte überregionale Sprachschicht von regionalen Sprachschich ten bis hin zum mundartlichen Substrat wieder aufgesogen werden, je nach dem Grad der “Vulgarisierung”, den der jeweilige Schreiber beabsichtigt. Bei Archivalien wird als Vorteil gewertet, daß sie weitgehend als Originale erhalten sind, weil damit das Problem eines (direkten, schriftlichen) Vorla genzwangs entfällt. Erst eigentlich mit Besch 1967 begann man auch den entgegengesetz-
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
ten Überlieferungstyp, nämlich reiche räumlich und sozial ausgefaltete Streuung der Handschriften eines Textes systematisch als Chance für die (Schreib- ) Sprachdatenerhebung zu nutzen. In der Varianz solcher Hss. bietet sich höchste Vergleichbarkeit der Daten, und zwar in allen Bereichen einschließlich der Syntax. Rieck 1977 untersucht für ein syntaktisches Problem (Konjunktionen) denselben Text wie Besch 1967, jedoch nicht wie dieser durch den Vergleich eines Textausschnittes in allen Hand schriften, sondern indem sie den kompletten Text ausgewählter Handschriften vergleicht. Die Ent scheidung zwischen solchen Möglichkeiten hängt von der Art des zu erhebenden Datenbereichs ab. — Zur Ausgrenzung repräsentativer Teilmengen aus dem Textganzen ist der Einsatz prüfstatistischer Verfahren erwägenswert (z. B. Alberts 1977, 84 ff., 129 ff.). Im Bonner Projekt “Grammatik des Frühneuhochdeutschen” wurde ein allgemeiner Richtwert von 30 “Normalseiten” ermittelt. Be leglücken lassen sich durch punktuelle Zusatzer hebungen ausgleichen (Graser 1977, 22—35).
Bei Varianten in der handschriftlichen Überlieferung eines Textes kann der Aussagewert für die Erfassung (aktiver) GeltungsAreale sprachlicher Erscheinungen hoch sein, bei Textkonstanten ist er minimal, weil mit Vorlagenzwang zu rechnen ist. An diesem Punkt ermöglichen Arbeiten der Würzburger Forschergruppe “Prosa des späten Mittelalters” (Programm: Grubmüller/Jo hanek 1973) neuerdings methodisch verfeinerte Zugriffe. Hier werden die Herstel lungs- , Gebrauchs- und vor allem die stemmatischen Abhängigkeits - Verhältnisse der Handschriften einiger massenhaft verbreite ter spätmittelalterlicher Gebrauchstexte er mittelt und sprachliche Umsetzungsprozesse im Laufe der Überlieferung vor diesem Hintergrund geprüft. Schnell 1979 und Dittmann 1980 geben Beispiele dafür, wie problematisch eine Erhebung (und Interpretation) z. B. lexikalischer Varianz ist, wenn der stemmatische Ort eines Textzeugen im Überlieferungsganzen unberücksichtigt bleibt; wie genau Bearbeitungsschwankungen im sprachlichen Umsetzungsvorgang mittels EDV - unterstützter statistischer Verfahren analysiert werden können; wie wesentlich die Berücksichtigung dieser Faktoren zur Rekonstruktion historisch - dialektaler Ver hältnisse beitragen kann. 2.1.5. Versifìz ierte Texte bieten in den Reimen Materialmengen, die durch die historische Instanz des Autors auf phonologischer
Ebene schon einander zugeordnet wurden. “Seules les rimes permettent de reconnaître la prononciation du poète” (Philipp 1968, 2). Speziell zur Ermittlung von Vokalquantitäten können sie wichtig sein. Die Verfahren der Reimstatistik und Reimgrammatik wurden (zunächst als Mittel der Textkritik) anhand klassisch - mittelhochdeutscher Dich tungen entwickelt. Reimer und Reime, die sich nach dialektalen Normen richten, sind freilich selten. Zudem lassen sich literarisches und sprachliches Niveau nicht trennen, d. h., je mehr ein Autor in regional gebundener Sprache schreibt, desto weniger wird er auf reine Reime achten, und desto fragwürdiger wird es, sie als solche dialektologisch auszuwerten. Doch kann die Reimlexikographie (zusammenfassend: Leclercq 1975, mit einem Repertorium von Reimlexika unter Einschluß von EDV - Ausdrucken und Manuskripten) über die Erfassung literatursprachlich - dialektneutralen Standards zur Indizierung von ‘dialektverdächtigen’ Abweichungen und Überlieferungsunsicher heiten führen. Bei der Datenerhebung sind nicht nur die Reime, sondern auch die Nichtreimpartien zu berücksichtigen; je nach Stellung des Versificators zur Reimtradition wird man bei der Analyse die Reime bald kontrastiv (Marwedel 1973), bald ergänzend zu den Nichtreim - Partien behan deln (Philipp 1968). 2.1.6. Mit zunehmender Verfestigung der Tendenzen und Ergebnisse sprachlichen Ausgleichs im Schrifttum seit Ende des 15. Jhs. (vor allem auch in Druckerzeugnissen; zum unterschiedlichen Sprachstand in Handschrift und Druck vgl. Stopp 1980) nimmt die Zahl dialektologisch verwertbarer Quellen ab. Unter den Texten, die auf Dialekt rekurrieren, sei im Archivalienbereich auf die nach mündlicher Rede wortgetreu protokollierten gerichtlichen Zeugenaussagen verwiesen, wie sie z. B. Müller 1953 für Basel 1420—1644 auswertete (van Loey/ Goossens 1974 betonen in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Schöffenbriefen, Rechnungen usw.). Aus dem literarischen Bereich seien die Fastnachtsspiele genannt; in ihnen wird, wie jedenfalls Marwedel 1973 für Nürnberg wahrscheinlich machte, eine schon ‘gehobenere’ Schicht städtischer Sprechsprache faßbar. Wichtig ist, daß in den beiden letztgenannten Textarten die dialogische Situation eine Entsprechung findet. Sie ist für gesprochene Sprache konstitutiv. Daher empfiehlt sich grundsätzlich, bei der Datenerhebung — vor allem im syntakti-
30. Erhebung von Sprachdaten aus schriftlichen Quellen
schen Bereich — zwischen Rede- und Nichtredeteilen zu unterscheiden (vgl. Sonderegger 1971 zu ahd. Quellen). 2.2. Quellenkontrastierung Die Forderung nach Vergleichbarkeit der Daten bezüglich Zeitstufe, Sach und Sprachbereich, Schreibergruppe, Textinten tion, Überlieferungstyp usw. führte nach einer Phase weitgehend unbesehener Benut zung heterogener Quellen zu vornehmlich isolierender Verwendung einzelner Quellen typen; man suchte, ausgehend von außerlinguistischen Vorüberlegungen, den für den jeweils angezielten Datenbereich optimalen Quellentyp und verglich die Ergebnisse mit den heutigen Sprachverhältnissen. Ein drittes, beiläufig schon oft praktiziertes, bei systematischem Ausbau vielversprechendes Verfahren ist die methodisch bewußte Kombination verschiedener Quellentypen. Stopp 1976 konnte auf diese Weise einige anhand isolierender Quellenbenutzung gewonnene Thesen (etwa zur Geschichte der Opposition «s»: «ss, ß») korrigieren. Die Erfassung konstanter und varianter Daten erfolgte bei den 2.1 genanten Verfahren entweder durch Vergleich verschiedener Übersetzungen oder Handschriften einer Quelle, oder verschiedener Exemplare eines Quellentyps; erst durch Benutzung verschiedener Quellentypen fin det neben der Anordnung ‘Konstante: Quellentyp (Sprachschicht) / Variable: Raum, Zeit’ auch die Anordnung ‘Konstante: Raum, Zeit / Variable: Quellentyp (Sprachschicht)’ stärkere Berücksichtigung. Bei dialektologischer Fragerichtung stehen dabei weniger quellenkombinierende als ausge sprochen - kontrastierende Verfahren im Vordergrund, um die schichtenmäßige Amplitude schriftlicher Sprachrealisierung ab zustecken und die Distanz zwischen den Alternativen zu notieren (Schreibschichtenpro file; Besch 1972). So wird eine relative diastratische Ortung einzelner Quellen auch ohne den (nicht unproblematischen) Rückgriff auf rezente Verhältnisse möglich. In diesem Sinne untersuchte z. B. Otten 1977 den Gesamtbestand des in und für Sittard 1450—1609 entstandenen Archivmaterials. Er gruppierte es in eine Hoch- (Urkunden), Mittel- (Rechnungen usw.) und Grundschicht (Privatbriefe usw.) und stellte heraus, wie unterschiedlich sich diese Schichten gegenüber der nhd. Schreibnorm verhalten. Neben die lokale Untersuchung kann die regionale treten, mit noch breiterem Spektrum an Quellen (Weistümer, Urkunden, Urbare, Vo-
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kabularien, ‘literarische’ Texte, vgl. Art. 8 a, 4.6 (Kunze 1980, 22—24); erst hier wird faßbar, wie sich (örtlich) konkurrierende sprachliche Varianten in unterschiedlich ausge dehnten Geltungsräumen überlagern. Auch großräumige Erhebungen wären denkbar, etwa in Form diastratischer ‘Sonden’ an ausgewählten Ortspunkten.
3.
Literatur (in Auswahl)
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560
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
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30. Erhebung von Sprachdaten aus schriftlichen Quellen
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
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31. 1. 2. 3. 4. 5.
1.
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Konrad Kunze, Freiburg
Erhebung von situativen Daten und Daten der nonverbalen Kommunikation Vorbemerkungen “Situative Daten” “Nonverbale Kommunikation” Voraussetzungen und Probleme der Datenerhebung Literatur (in Auswahl)
Vorbemerkungen
Die Erhebung “situativer Daten” und “Daten der nonverbalen Kommunikation” in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen setzt eine Theorie des sprachlichen Handelns voraus, zumindest jedoch die Erkenntnis, daß sprachliche Äußerungen sich nie losgelöst von bestimmten äußeren Bedingungen der Sprachproduktion ereignen und immer in einem Zusammenhang mit nichtsprachlichen Äußerungen stehen. Sprachwissen schaft hat es demzufolge nicht mehr allein mit der Erhebung und Interpretation linguistischer Daten zu tun, sondern müßte einen Komplex anderer Daten erfassen und in die wissenschaftliche Untersuchung einbezie hen. Die Erhebung “situativer Daten” und “Daten der nonverbalen Kommunikation” setzt weiterhin voraus, daß neben einer Definition und Operationalisierung der Kategorien “situativ” und “nonverbal” die spezifischen inneren Kopplungen zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen sowie die Relationen zwischen Handeln/
Sprache und “Situation” wissenschaftlich untersucht werden. Die Sprachwissenschaft steht hier weitgehend am Anfang, kann sich jedoch auf Forschungsergebnisse aus anderen “Handlungswissenschaften” stützen. Zu untersuchen ist daher hier nicht nur, inwieweit innerhalb der Sprachwissenschaft “situative Daten” und “Daten der nonverbalen Kommunikation” erhoben werden und wie deren Bedeutung für Sprache begründet wird, sondern auch, wieweit Ansätze und Erfahrungen z. B. aus den Sozialwissenschaften oder den Kommunikationswissenschaften für diesen Forschungsbereich der Sprachwissenschaft genutzt und übertragen werden können. Das Schwergewicht der Darstellung ist auf einen Literaturbericht zu legen, der die wichtigsten Ansätze skizziert und kritisch würdigt. Von diesem Literaturbericht ausgehend sollen dann Perspektiven einer Weiterentwicklung positiver Forschungsansätze aufgezeigt werden.
2.
“Situative Daten”
Ungefähr seit Anfang der Siebziger Jahre erscheint relativ häufig in sprachwissenschaftlichen Publikationen der Begriff “Situation”. Innerhalb der Germanistischen Linguistik mag ein 1971 in deutscher Sprache erschienener Aufsatz von C. B. Cazden (Cazden 1971) Signalwirkung gehabt haben. Cazdens Forderung, die Sprachwissenschaft müsse
31. Erhebung von situativen Daten und Daten der nonverbalenKommunikation
sich stärker mit der “vernachlässigten” Variablen “Situation” befassen, fällt zeitlich zusammen mit der sich abzeichnenden Sackgasse, in die eine überwiegend schichtenund rollenspezifisch ausgerichtete Soziolin guistik die Sprachwissenschaft bei ihrem Versuch, Sprache in ihren Entstehensbedingungen zu erforschen, gebracht hatte. Das von Cazden und anderen geforderte Studium der “Charakteristika der Situation oder jeweiligen Umgebung” (Cazden 1971, 273) führte allerdings zunächst nur zu einer weitgehend unkritischen Übernahme des Begriffes “Situation”. “Situation” wurde zu einem “Potentiellen Merkmalskomplex” (Jä ger 1972, 146), in dem “Mannigfaltigkeiten unbestimmter Bestimmungen” (Jäger 1972, 149) repräsentiert wurden. Mit Recht kritisiert Klaus Bayer den weitgehend vagen alltagssprachlichen Gebrauch des Begriffes “Situation” (Bayer 1977, 86). Gegen einen vagen Sammelbegriff und einen idealisierten Situationsbegriff wenden sich einige Autoren (Dieckmann/Schulz 1972, 407) und fordern eine wissenschaftliche Begriffsdefini tion, “Strukturierungsvorschläge für Sprechsituationen” (Leist 1972, 66) oder “Situationstypisierungen” (Hufschmidt 1973, 90). 2.1. “Situation” als Begriff der Sozialwissenschaften Der viel zu späte Rückgriff auf den Situationsbegriff der Verhaltenswissenschaft brachte für die sprachwissenschaftliche Diskussion einerseits Anregungen für eine wissenschaftliche Rahmendefinition, anderer seits die Begriffsdifferenzierung in “Situation” und “Definition der Situation”. Der Begriff “Situation” wurde bereits Ende der 20er Jahre wissenschaftlich definiert und zwar von W. J. Thomas und F. Znaniekki. Der Begriff “Situation” steht im Zentrum der soziologischen Theorie von Thomas. Nach Thomas kann der “im Gang befindliche soziale Prozeß, wie er im wirklichen Leben erfahren wird” am besten durch eine Folge von “Situationen” veranschaulicht werden (Volkart 1965, 19). Thomas geht davon aus, daß menschliches Verhalten nur unter bestimmten Voraussetzungen stattfindet: “Die Situation, in der sich jemand befindet, wird aufgefaßt als Summe der Faktoren, welche die Verhaltensreaktion bedingen” (Thomas 1931, 176).
“Situation” wird hier gekennzeichnet als die Gesamtheit aller Faktoren, die das Verhalten der Menschen bedingen. Diese Fakto-
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ren, die in einer Situation wirksam werden, wirken einerseits als objektive Faktoren auf den Handelnden, z. B. als physische Umgebung oder Verhalten anderer. Sie wirken nach Thomas aber auch als Faktoren, die für den Handelnden rein subjektiv existieren. Diese subjektiven Verhaltensfaktoren resul tieren aus der Vorstellung der handelnden Personen, “etwa wie sie die Situation auffassen, was sie ihnen bedeutet” (Volkart 1965, 14). Da jeder mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Erfahrungen und Erwartungen in Situationen hineinkommt, werden Situatio nen auch unterschiedlich interpretiert. Thomas und Znaniecki bringen diese subjektive Einschätzung der “Situation” auf den Begriff “Definition der Situation”, der notwendig zum Begriff der “Situation” gehört. Die Art der Definition hängt von dem “Zusammenspiel einer Vielzahl biologischer, physiologischer, psychologischer, sozialer und kultureller Faktoren” ab (Volkart 1965, 20). Thomas und Znaniecki verweisen in diesem Zusammenhang auf die enge Verschränkung der rein subjektiv - individuellen und der sozial - kulturellen Interpretation verall gemeinerter und typisierter Situationen. Volkart (1965, 21 ff.) betont, daß der Einzelne die Situation fast immer in Übereinstimmung mit der Norm seiner sozialen Klasse bzw. Bezugsgruppe definiert. Trotzdem hält er es für notwendig, zwischen einer subjektiven und einer sozialkulturellen “Definition der Situation” zu differenzieren, auch wenn die subjektive “Definition der Situation” nie losgelöst von der sozial gesteuerten Definition gedacht werden kann. Volkart warnt davor, “Situation” als “Komplex statischer Bedingungen” mißzuverstehen. Die Bedingun gen sind eher “fließend und dynamisch und gestatten die Wirkung neuer stimuli, welche ihre Definition und das daraus folgende Verhalten beeinflussen können” (Volkart 1965, 26). R. F. Bales (1950) definiert in “Interaction process analysis” den Begriff “Situation”. Verhalten wird für Bales durch die Begriffe “Aktion” und “Situation” beschrieben. Er sieht “Situation” in drei Bereiche gegliedert: Ein innerer Kreis ist der Handelnde selbst, die Person als Objekt betrachtet, der nächste Kreis ist der der inneren Gruppe, deren Mitglieder gerade gegenwärtig sind und mit der Person agieren und der äußere Kreis umfaßt die Gesamtsituation, beste hend aus Menschen, die an der Handlung nicht unmittelbar teilnehmen. Den Terminus
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
“Gesamtsituation” verwendet auch Goffman (Goffman 1971), vermutlich um den komplexen Bereich einer solchen Einheit zu betonen. Bei Goffman findet sich auch der Begriff “situiert” (Goffman 1971, 32) für alles, was innerhalb der räumlichen Grenzen einer “Situation” passiert. “Situiert” meint: in einer “Situation” befindlich und sie gleichzeitig schaffend. Auch in der Psychologie und Sozialpsychologie findet der Begriff “Situation” Verwendung. In der Feldtheorie Lewins (Lewin 1963) sind die Begriffe “Psychologisches Feld”, “Situation” und “Lebensraum” von zentraler Bedeutung, wobei Lewin “Psychologisches Feld” und “Situation” durchaus synonym verwendet. Mit Feldtheorie wird der von Lewin in die Persönlichkeitsfor schung eingeführte Ansatz benannt, der Verhalten und Zustände des Individuums auf die momentan wirksamen “Feldkräfte” bezieht. Der aus der Physik entlehnte Feldbegriff findet Anwendung für die Gesamtheit der Bedingungen, die einen Prozeß mitbedingen. Ein Verhalten wird dann als vom Feld abhängig bezeichnet, “wenn es sich als eine Resultante der vorhandenen Bedingungen ... erklären läßt bzw. sich als von den Feldgegebenheiten mitbedingt erweist” (Drever 1970, 164). Es geht Lewin in seiner Theorie darum, “die Vielzahl gleichzeitig bestehender und miteinander verknüpfter Tatsachen in ihrer relativen Lage zueinander zu beschreiben, um daraus Einsichten in Bezug auf die Dynamik des Verhaltens zu gewinnen” (Drever 1970, 104).
Die resultierenden psychischen Kräfte werden auf die gegenwärtige “Situation” mit ihren Komponenten bezogen. “Situation” ist einmal eine Bezeichnung für die raum- zeitlichen äußeren Bedingungen des Verhaltens und zum anderen Bezeichnung für alle zu einem gegebenen Zeitpunkt wirksam werdenden Eindrücke, Einstellungen und Denk schemata. Für Lewin ist das Verhalten des Individuums zu einer bestimmten Zeit die Funktion der aktuellen “Situation”, die “Situation” konstituiert sich aus dem Subjekt und aus dem objektiven Umfeld. Die bisher vorgestellten Begriffsdefinitio nen aus Soziologie und Psychologie schießen eine Einengung auf die äußere Seite, auf die Umwelt als etwas Außerindividuelles aus. “Situation” wird vielmehr als ein einheitliches Bezugsfeld verstanden, das innen und außen, Individuum und Umwelt integriert. Ausgehend davon, daß “Situation” alle Be-
dingungsfaktoren menschlichen Verhaltens zusammenfaßt, sind objektive und subjektive Faktoren integriert. Aus heuristischen und methodischen Gründen erscheint es jedoch zweckmäßig, unterhalb der komplexen Gesamtsituation eine Differenzierung vorzunehmen, z. B. i n “Situation” und “Definition der Situation” oder “innerer Kreis”, “Kreis der inneren Gruppe” und “äußerer Kreis”. Die wesentlichen Aussagen der verschiedenen Ansätze aus Soziologie und Psychologie lassen sich verkürzt und verallgemeinert etwa so zusammenfassen: (1) “Situation” stellt einen Komplex von Bedingungsfaktoren für Verhalten dar. In der “Situation” werden wirksam: (a) objektive, außerindividuelle Umweltbe dingungen, die im gegebenen Augenblick das handelnde Subjekt beeinflussen, (b) individuelle Einstellungen, die im gegebenen Augenblick aktualisiert werden, (c) subjektive Einschätzung der “Situation” und ihrer Bedingungen, die “Definition der Situa tion”. (2) Verhalten ereignet sich in “Situationen” und ist nur unter den Bedingungen der jeweiligen “Situation” vorstellbar und erklärbar. (3) Eine Untersuchung des menschlichen Verhaltens hat die gegebene “Situation” und die in ihr potentiell und realiter wirksam werdenden Faktoren zu berücksichtigen. 2.2. “Situative Daten” in der Sprachwissenschaft Innerhalb der Sprachwissenschaft hat die Einbeziehung “situativer Daten” vor allem in der Dialektologie eine lange Tradition, ohne daß die jeweils dominierenden spezifischen Produktionsbedingungen sprachlicher Äußerungen begrifflich so gefaßt worden wären. Wenn z. B. die Kulturgeographie zur Erklärung der Grenzlinien, die sich auf den Lautkarten der Dialektatlanten abzeichne ten, über innersprachliche Gegebenheiten hinausging und die “Erklärung, daß man an einem Ort oder in einer Gegend so, in der anderen anders spricht, in außersprachlichen Gegebenheiten wie Topographie, Verkehr, wirtschaftliche Verhältnisse, Territorial grenzen und anderen Faktoren” (Löffler 1974, 35/36)
suchte, dann reflektierte sie durchaus situative Bedingungen, wenn auch in einem durch den speziellen Forschungsansatz bedingten eingeschränkten und keineswegs komplexen Sinne.
31. Erhebung von situativen Daten und Daten der nonverbalenKommunikation
Als einer der ersten in der Sprachwissenschaft faßte Bloomfield (Bloomfield 1933) die “Situation” als Determinante von Bedeutungen sprachlicher Äußerungen. Aus der Alltagsbeobachtung heraus, daß die Bedeutung einer Äußerung erst unter Beachtung der Situation voll erschließbar ist und zudem von Situation zu Situation differiert, zog Bloomfield den Schluß, daß jede sprachliche Äußerung “in einen Handlungszusammenhang eingebettet ist, der sowohl Vorgänge im Sprecher wie die Veränderungen in der Wirklicheit umfaßt” (Rehbein 1977, 260).
Nach Bloomfields in einer Situation
Sprachtheorie
müssen
“Distinktive Merkmale enthalten sein, die die Äußerung dem Höhrer gegenüber derart qualifizie ren, daß er in der Folge die Bedeutung der Äußerung durch eine response - Handlung realisiert, ja die response- Handlung ist noch Teil der Bedeutung” (Rehbein 1977, 260).
Bloomfields Verdienst dürfte darin bestehen, Ansätze zum funktionalen Zusammenhang von Sprechen und Handeln unter situativen Bedingungen geliefert zu haben. Dieser funktionale und interaktionale Ansatz wird von allem in der “ethnography of speaking” bzw. “ethnography of communication” aufgegriffen, die auf Dell Hymes zurückgeht. Das Hymessche Konzept der Ethnographie des Sprechens läßt sich aus anthropologischen Untersuchungen herlei ten, die von einer Einheit von sprachlichkommunikativen und sozial - kulturellen Handlungsweisen ausgehen. Diese Wissen schaft, die im Kreuzungsfeld von Kulturanthropologie, Linguistik und Kommunika tionsforschung liegt, deutet sprachliche Daten aus dem Kommunikationszusammen hang. Hymes ordnet Sprechen in die Hierarchie des kommunikativen Repertoires ein und stellt dabei fest: “Not all behaviour is communicative, from the viewpoint of the participants; not all communication is linguistic; and linguistic means include more than speech” (Hymes 1968, 109).
Bei jeder Kommunikationshandlung ist zunächst zu fragen, welches kommunikative Mittel eingesetzt wird, da die kommunikativen Mittel unterschiedlich verteilt sein können: “for any group some situations must be speech situations, some may be, some cannot be” (Hymes 1968, 109).
Hymes macht den Einsatz eines bestimm-
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ten kommunikativen Mittels also von der “Situation” bzw. der sozial vermittelten Einschätzung der “Situation” abhängig. Hymes geht bei der Analyse von Sprache von Gebrauchsmustern aus. Auf der Grundlage seiner sprachökonomischen und anthropologischen Grundüberlegungen nennt Hy mes als Gegenstand der “ethnography of speeking“ die “speech events” als solche, ihre konstitutiven Faktoren und die Funktionen des Sprechens. Nach Hartig/Kurz sind die “speech events” soziale Muster des Sprechens, die als “normierte Verhaltensberei che” (Hartig/Kurz 1971, 38) zu verstehen sind. Es handelt sich dabei um “mit Erwartungen ausgestattetes Sprechen in hochgradig normierten Sprechsituationen” (Hartig/ Kurz 1971, 37), die sich nach Hymes zu Klassen zusammenfassen lassen. “Speech events” enthalten eine Reihe von Elementen, die am Zustandekommen und Funktionieren beteiligt sind. Nach Hymes involviert jedes “speech event”: addresser/receiver/message form/channel/code/topic/setting (scene, si tuation) (Hymes 1968, 110). Hymes legt sich beim letzten Faktor, den er setting nennt, terminologisch nicht fest. (In der deutschen Übersetzung des Textes steht für setting “Kontext”). In einer anderen Arbeit entwikkelt Hymes eine integrierte soziolinguistische Beschreibungstheorie, deren Grundkatego rien “speech community”, “speech situ ation” und “speech event” sind (Hymes 1967, 18 ff.). Auffallend ist die Modifizierung der Komponenten des “speech event”. Er nennt: setting or scene/participants or personnel/ends (intentions and effects)/art characteristics (form, content, message- form and topic/key (tone)/instrumentalities (channel, code)/norms of interaction and of interpretation. Susan Ervin - Tripp diskutiert in “analysis of the interaction of language, topic and listener” (Ervin- Tripp 1968) folgende, den Ablauf von Kommunikation im wesentlichen bestimmende Komponenten des Sprechens: (1) ‘setting’ = Ort, Zeit und Situation (2) ‘participants’ = Teilnehmer sowie ihre sozialen Rollen und ihre sozialen Attribute wie Alter, Geschlecht, Status (3) ‘topic’ = manifester Inhalt (4) ‘functions of interaction’ = Funktion und kommunikative Absicht, z. B. Befriedigung sozialer Kontakte (5) ‘formal features of communication’ = Kanal; Kode als geordnete Menge linguisti-
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
scher Zeichen in bestimmten Situationen; soziolinguistische Varianten; paralinguisti sche Signale (Ervin-Tripp 1968, 193—197). Ervin - Tripp betrachtet diese Komponen ten als Variablen, die die sprachliche Organisation von Interaktionen bestimmen. “Situation” ist in diesen theoretischen Konzepten e i n zentraler Bereich, der auf sprachliches und nichtsprachliches Handeln deter minierend wirkt. Er ist allerdings nicht so weit gefaßt wie bei frühen sozialwissen schaftlichen Ansätzen Thomas’ und Lewins, schließt nicht das ganze Bedingungsgefüge ein. “Situation” bezieht sich auch bei einer Reihe neuerer Arbeiten auf einen engeren Definitionsbereich. So versteht Lyons (Lyons 1971, 279) unter “Situation” vor allem eine “Raum - Zeit - Situation”. Ungeheuer faßt unter dem Begriff die “Einwirkungen der Umgebung” und die “Gesamtheit der die Kommunikation berührenden Umstände” zusammen, betont aber, daß er darunter nur solche Bedingungen versteht, die “nicht selbst am Kommunikationsgeschehen teilhaben” (Ungeheuer 1972, 242/43). In der neueren linguistischen und pragmalinguistischen Literatur sind die unter schiedlichsten Situationsbegriffe in Verwen dung. Mit Recht betont Bayer, daß diese Begriffe nur unzulänglich präzisiert werden und oft eine “Wortmarke für eine diffuse Sammelkategorie bleiben, unter die man alle diejenigen Erscheinungen und Verhältnisse subsumiert, zu deren Be schreibung und Erklärung bisherige theoretische Ansätze nicht ausreichen” (Bayer 1977, 89).
Bayer empfiehlt den Versuch, “ausgehend von den bisherigen Verwendungswei sen des Wortes als heuristisch wertvollen Hilfen den Bereich von Phänomenen, auf den sich die vielfältigen Situationsbegriffe in unterschiedlicher Weise beziehen, theoretisch angemessen zu erfassen; erst auf der Basis eines solchen theoretischen Ansatzes kann ein Vorschlag für den wissenschaftlichen Gebrauch eines nun in seinem systematischen Zusammenhang geklärten Situationsbegriff erarbeitet werden” (Bayer 1977, 89/90).
Genutzt werden können für eine theoretisch abgesicherte Erhebung situativer Daten die Erfahrungen einiger Forschungsprojekte mit bestimmten Situationskomponenten. Die Freiburger Forschungsstelle um H. Steger z. B. hat den Versuch gemacht, eine Theorie gesprochener Kommunikation im Rahmen der Kategorie “Redekonstellation” zu ent wickeln. Die von Steger und seiner Forschungsstelle eingeführten Faktoren der Re-
dekonstellation werden nicht als umfassende Situationstypisierung verstanden, sie erlau ben aber gleichwohl eine Klassifizierung von Texten gesprochener Sprache nach zentralen Gesichtspunkten ihrer Entstehung im Kommunikationszusammenhang. Sprechsituation ist für K. H. Deutrich der Gebrauch bestimmter Redekonstellationen in “sozial - si tuativen Kontexten” (Deutrich 1973, 121). Die jeweilige Sprechsituation kann nach Deutrich u. a. aus folgenden Merkmalen konstituiert sein: Kommunikationsmedium/ handlungsbegleitendes Sprechen/Ort und Raum/Geschlecht und Alter der Partner/ Gruppenzugehörigkeit der Partner/soziale Beziehungen (soziale Rollen)/Kommunika tionsgegenstand/situative Rollen/Interesse am Kommunikationsgegenstand/Intention/ Vorbereitung auf den Kommunikationsakt/ Häufigkeit eines Kommunikationsaktes und Häufigkeit der Kommunikation mit ver schiedenen Kommunikationspartnern. Bausch geht in seinem Modell zur Typisierung von Kommunikationssituationen in Anlehnung an Bühlers Organon- Modell zunächst von den situationskonstituierenden Merkmalen “Spielregeln der Sprecher zueinander”, “Art der Themendurchführung” und “Grad der Vorbereitetheit der Sprecher” aus (Bausch 1973, 80). Diesen Grundmerkmalen fügt er in seinem Modell als weitere Komponente der Situation noch “Partnerkonstellation”, “Mitteilungsaspekt”, “Modalität der Themenbehandlung” und “Grad der Öffentlichkeit” hinzu. Das Modell müßte nach Bausch allerdings noch um “Raumfakto ren”, “situative Umgebung”, “Sprecherda ten”, “Rollenverhalten” und “Themenklas sen” erweitert werden.
3.
Nonverbale Kommunikation
Eine Erhebung von Daten der nonverbalen Kommunikation im Rahmen sprachwissen schaftlicher Untersuchungen hat ihre Grundlage in kommunikationstheoretischen oder interaktionistischen Vorstellungen. Gerold Ungeheuer differenziert zwischen drei Kommunikationsformen (Ungeheuer 1974). Ne ben der sprachlichen Interaktion, die als das “ausgebildetste Verfahren” bezeichnet wird, das den Menschen zur Kommunikation zur Verfügung steht, und der sozio- perzeptiven Kommunikation, die handlungsauslösend ist, liegen nach Ungeheuer “die breit aufgefächerten systeme nonverbaler kommunikationshandlungen, die in ihrer system -
31. Erhebung von situativen Daten und Daten der nonverbalenKommunikation
gebundenen ausprägung ebenso soziokulturellen bedingungen unterliegen wie die systeme natürlicher sprachen” (Ungeheuer 1974, 11).
Die Grundformen kommunikativer aktion können zwar isoliert auftreten:
Inter -
“Bei sprachlicher kommunikation in gemeinsamer wahrnehmungssituation sind jedoch für die kommunikationspartner alle drei Formen gleichzeitig im Spiel, wobei sie sich jeweils gegenseitig in ihrer funktion verstärken, abschwächen oder ergänzen können” (Ungeheuer 1974, 12).
Mit dem Sammelbegriff “nonverbale Kommunikation” wird ein amerikanischer Forschungsansatz der Sozial - und Verhal tenswissenschaft umschrieben, der die Bedeutung aller nicht durch das Medium der Sprache vermittelten Kommunikation her ausstellt. Nonverbale bzw. nichtsprachliche Kommunikation schließt im strengen Sinne die sehr heterogenen para- und extralinguistischen Phänomene ein und stellt sie der verbalen Kommunikation gegenüber. Es kommt allerdings häufig vor, daß paralinguistische Phänomene ausgesondert werden und nicht zu den nonverbalen hinzugerechnet werden. Hier sollen beide Phänomene zur nonverbalen Kommunikation gerechnet werden. Paralinguistik ist die von G. L. Trager (Trager 1966) eingeführte Bezeichnung solcher phonetischen Signale, “die der nonverbalen Kommunikation dienen, d. h. die weder auf der segmentalen noch auf der suprasegmentalen Ebene Sprachzeichen in Dar stellungsfunktion differenzieren” (Stammerjohann 1975, 296).
Paralinguistische Merkmale können sprachbegleitende Funktion haben und können andererseits intermittierend auftreten, d. h. das linguistisch- phonetische Syntagma unterbrechen (Stammerjohann 1975, 296/ 297). Tempo, Sprechrhythmus, Timbre, Intensität, artikulatorische Ausprägung sowie “Stimmtypen wie Hauchen, Flüstern, Wispern, Murmeln, Näseln, Knarren usw.” (Stammerjohann 1975, 297) begleiten linguistische Merkmale. Räuspern, Husten, Seufzen und Schluchzen unterbrechen. E. Sapir unterscheidet fünf verschiedene “levels of speech behavior”, die für ihn große kommunikative Bedeutung haben. Paralinguistische Elemente sind für ihn: “Voice”, “Voice Dynamics” (“Intonation”, “Rhythm”, “Relative continuity of speech”, “Speed of speech”), “Pronunciation”, “Vocabulary” und “Style” (Sapir 1951, 535 ff.). Trager hat einen sehr umfangreichen Symbolkatalog für seine paralinguistischen Kategorien vorgelegt (Trager 1966, 278 ff.).
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In der Grundkategorie “Voice qualities” z. B. verzeichnet Trager acht Kategorien, jeweils mit Buchstabensymbolen. Eine weitere Feindifferenzierung dieser Kategorien wird durch “letter symbols combined with mnemonic visual symbols” zum Ausdruck gebracht. Trager erhält so alleine 30 Symbole für “Voice qualities”. Insgesamt bietet er ein ausdifferenziertes Raster, mit dem alle paralinguistischen oder prosodischen Phänome ne — wie sie auch bezeichnet werden, — beobachtet und beschrieben werden können. “Nonverbale Kommunikation” im enge ren Sinne bezeichnet die extralinguistischen Elemente der Kommunikation. Klaus Scherer (1972) liefert in seiner Arbeit zur nonverbalen Kommunikation einen sehr detaillierten Literaturbericht über Forschungstechniken und zeigt Ansätze zur Beobachtung und Analyse der außersprachli chen Aspekte von Interaktionsverhalten auf (Scherer 1972). Den kommunikationstheoretischen Ansätzen Scherers liegt ein “Multikanal - Modell” des Kommunikationsprozes ses im Interaktionsablauf zugrunde. Die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger läuft auf mehreren Ebenen in “Kommunikationskanälen” ab. Scherer definiert diese Kommunikationskanäle nach den Sinnen, mit denen der Empfänger eine Information aufnimmt, und unterscheidet zwi schen einem auditiven (Informationen werden gehört), visuellen (Informationen wer den gesehen), taktilen (Informationen wer den gefühlt), olfaktorischen (Informationen werden gerochen), thermalen (Informationen werden gespürt) und gustatorischen (Informationen werden geschmeckt) Kommunika tionskanal. Eine andere Differenzierung nonverbaler Kommunikation wird in zwei neueren Forschungsrichtungen sichtbar: das Studium der kommunikativen Körperbewegungen steht in der “Kinesics”, die auf theoretische Überlegungen und Studien Birdwhistels (Bird whistel 1952, 1967, 1968) zurückgeht, im Zentrum und das Studium der Raumausnutzung in Kommunikationssituationen in der vor allem durch Hall repräsentierten “Proxemics” (Hall 1959). Für Scherer bilden die verschiedenen Kommunikationskanäle die Gliederungspunkte für die “Mikro- Beobachtungstechniken” und deren Anwendungs möglichkeiten im Interaktionsablauf “Für jeden Kommunikationskanal gesondert wer den jene nonverbalen Verhaltensweisen und die zu ihrer Beobachtung verwandten Techniken be -
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
schrieben, aufgrund derer der Empfänger be stimmte Attributionen von Merkmalen des Sen ders vornimmt” (Scherer 1972, 4).
In Scherers Literaturbericht über empirische Forschungen im Bereich der einzelnen Kommunikationskanäle zeigt sich allerdings ein deutlicher Überhang an Untersuchungen auditiv und visuell erfaßbarer Kommunikation und eine weitgehende Vernachlässigung der anderen Kommunikationskanäle. Sche rer unterstreicht die Bedeutung anderer, vor allem taktil vermittelter Kommunikation und hält eine systematisch empirische Erforschung für notwendig. Als zentrale theoretische und praktische Aufgabe hält Scherer die “Untersuchung der Beziehungen zwischen dem verbalen und dem nonverbalen Kommunikationskanal” und die Beantwortung der Frage, “ob nonverbale Kommunikation von der verbalen abweichende, ergänzende oder voneinander unabhängige Informationen vermittelt” (Scherer 1972, 85). Er verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Arbeiten von Condon und Ogston, die eine sehr enge Abhängigkeit von Sprache und Körperverhalten annehmen (Condon/Ogston 1966, 338 ff.). Condon und Ogston haben die Beobachtung gemacht, daß Veränderungen der Körperbewegungen eines Sprechers syn chron (“Self- synchrony”) zu den artikulatorischen Segmenten des Sprachflusses ablaufen und sogar die Veränderungen der Körperbewegungen des Zuhörers synchron zu denen des Sprechers ablaufen (“interactional synchrony”) (Scherer 1972, 86/87). Kendon (Kendon 1967) bestätigt diese Beobachtung und zieht daraus nach Scherer (Scherer 1972, 88) folgende Schlußfolgerungen: Körperbe wegungen unterliegen in gleicher Weise wie die mit ihnen koordinierten Spracheinheiten einer hierarchischen Gliederung, jeder Spracheinheit entsprechen eine bestimmte Bewegungsabfolge und bestimmte sich bewegende Körperregionen, und zu Beginn von Sprecheinheiten beobachtete Bewe gungsveränderungen dienen als Signale für den Zuhörer und regulieren somit den Interaktionsfluß. Neben dem Problem der Beziehung zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation wird in der Forschungsliteratur die Frage der Planbarkeit bzw. Bewußtheit des Einsatzes nonverbaler Elemente diskutiert. Trotz des Mangels an systematischen Untersuchungen zu diesem Bereich schlagen Haug und Rammer (Haug/Rammer 1974, 148)
vor, das Moment der Planung nonverbaler Phänomene mit in ein Modell aufzunehmen und Phänomene wie Stirnrunzeln, Nase rümpfen, Mundverziehen, Augenaufreißen usw. hinsichtlich ihres geplanten oder unbewußten Einsatzes zu klassifizieren. Als methodologische Probleme und Aufgaben werden bei Scherer angeführt: die Definition und Segmentierung von Beobachtungsein heiten, die Entwicklung von Kategoriensystemen zur Klassifikation der beobachteten Verhaltensweisen sowie das Problem der systematischen Verzerrung durch den Beob achter bei der Verhaltensbeobachtung. Als zentrales Problem der Forschungstechnik sieht Scherer die Methode einer adäquaten Aufzeichnung der Mikro - Verhaltensweisen. Aufgrund der “Vielzahl der gleichzeitig ablaufenden, miteinander koordinierten Ver haltensweisen in verschiedenen Körperre gionen” ergibt sich für Scherer die Notwendigkeit einer permanenten Film- und Tonaufzeichnung des Verhaltensablaufs, um wiederholte detaillierte Beobachtungen zu ermöglichen (Scherer 1972, 89). Konkrete Beobachtungsverfahren stellt R. F. Bales in einigen seiner Arbeiten vor (Bales 1950, 1972). Er entwickelte eine Methode zur Aufzeichnung und Analyse sozialer Interaktion in Kleingruppen, die gerade deshalb von besonderem Interesse ist, da sie auf schriftlichen und damit weniger aufwendigen und kostspieligen Notationsverfahren beruht. Bales’ Analyse des Interaktionsprozesses basiert auf einer Methode, bei der das Rohmaterial der Verhaltensbeobachtung klassifiziert wird mit dem Ziel, “Indices zu erhalten, die den Gruppenprozeß und die ihn beeinflussenden Faktoren beschreiben” (Bales 1972, 152). Die Beobachtungskategorien, die Bales in einem Kategoriensystem zusammenfaßt, sind in einem Abstraktionsprozeß inhaltsanalytisch unter dem Gesichtspunkt der “Bedeutsamkeit jeder Handlung für die Lösung des Problems im Gesamtablauf des Gruppengeschehens” (Bales 1972, 152) gesetzt worden. Bales geht davon aus, daß jede mögliche Handlung irgendeiner der zwölf Kategorien zugeordnet werden kann. Das Kategoriensystem ist folgenderma ßen aufgebaut: (A) Sozialemotiver Bereich: positive Reaktionen (1) Zeigt Solidarität, bestärkt den anderen, hilft, belohnt (2) Entspannte Atmosphäre, scherzt, lacht, zeigt Befriedigung (3) Stimmt zu, nimmt passiv hin, versteht, stimmt überein, gibt nach
31. Erhebung von situativen Daten und Daten der nonverbalenKommunikation
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schen befinden und Handeln sich ereignet. “Situation” sollte sämtliche Faktoren umfassen, die auf das Handeln wirken und es in je besonderer Weise bewußt oder unbewußt determinieren. Darin einzuschließen sind alle Momente, die bereits vor dem Kommunikationsakt und unabhängig von ihm vorhanden sind, alle Momente, die mit dem Kommunikationsakt aktiviert werden, und alle Momente, die am Kommunikationsakt unmittelbar beteiligt sind. Auch das sprachliche Zeichen sollte insoweit zur “Situation” hinzugerechnet werden, als es eine gegebene Situation stabilisieren oder verändern kann, also Situation schaffen kann. Von anderen Faktoren der Situation unterscheidet es sich lediglich dadurch, daß es keine Vorbedingung, sondern ein Ergebnis der Situation ist. Der häufig synonym verwendete Begriff “Kontext” sollte für die sprachliche Umgebung eines Zeichens verwendet werden. Es scheint notwendig und sinnvoll zu sein, be4. Voraussetzungen und Probleme der grifflich zwischen einer sprachlichen UmgeDatenerhebung bung und einer Gesamtumgebung = “Situation” zu unterscheiden, innerhalb derer Die wissenschaftliche Erhebung von situatiHandlungen sich ereignen. ven Daten und Daten nonverbaler Kommu(2) Ein umfassendes Modell, das alle Situanikation setzt eine Theorie bzw. ein Modell tionsfaktoren integriert, kann nur das Ergebvoraus, das die Kategorien “situativ” und nis eines langen Forschungsprozesses sein, “nonverbale Kommunikation” integriert. in dem theoretische Konstrukte der empiri Handlungstheoretische, kommunikations schen Forschung ausgesetzt werden, und bzw. interaktionstheoretische und pragmati wissenschaftliche Annahmen sich bestätigen sche Konzepte bieten Ansätze zur Überwinoder als nicht haltbar herausstellen. Beim so dung der traditionellen Isolierung der Spraentstehenden Situationsmodell sollte zu che von anderen Kommunikations- bzw. Innächst von einigen Grundvariablen ausge teraktionsmedien. Für die Fortentwicklung gangen werden, über deren Relevanz innerdieser Ansätze wird entscheidend sein, daß halb der entsprechenden Wissenschaften durch empirische Forschungen vor allem die weitgehende Übereinstimmung besteht. In Regularitäten des Zusammenspiels und der empirischen Untersuchungen müßten deren Kopplungen der verschiedenen Kommuni Wirkung auf sprachliches und nichtsprachli kationsmittel genauer erschlossen werden. ches Handeln systematisch analysiert wer Denn gerade auf diesem Gebiete bewegen den. Unverzichtbare Grundvariablen sollten sich die Annahmen häufig im Spekulativen. dabei sein: Kommunikationspartner/Inten Für eine Situationstheorie bestehen im wetion/Kommunikationsgegenstände/physi sentlichen drei Desiderate: die Schaffung eische Umgebung/örtlich - soziale Umgebung/ nes wissenschaftlich nutzbaren SituationsbeMedium der Interaktion/Kode/Interak griffes in Abgrenzung von einem umgangstionszusammenhang. Auf ein solches forma sprachlich verwendeten Begriff, die Einordles Grundmuster der Situationsvariablen nung relevanter Situationsfaktoren in ein Siläßt sich jede Situation reduzieren. Die Vatuationsmodell sowie die Erhellung von deriablen lassen sich inhaltlich füllen durch ren Verbindungen und Abhängigkeiten und eine Skala der wichtigsten Varianten einer die Rekonstruktion der Wirkungsgesetze, Variablen. nach denen Situationsfaktoren bestimmte (3) Bei der Rekonstruktion der Wirkung beHandlungsmedien und Handlungsformen stimmter Faktoren der Situation sollte von sprachlicher und nichtsprachlicher Art selekAdäquatheitsregeln ausgegangen werden, tieren. die als integrierende Instanz Regeln für so(1) Unter “Situation” sollte der unmittelbar ziales, kommunikatives und sprachliches gegebene Ausschnitt der konkreten Wirk Handeln enthält. Die Selektionsweisen, die lichkeit verstanden werden, in der sich Mensich im Handeln manifestieren, orientieren (B) Aufgabenbereich: Versuche der Beantwortung (4) Macht Vorschläge, gibt Anleitung (5) Äußert Meinung, bewertet, analysiert, drückt Gefühle oder Wünsche aus (6) Orientiert, informiert, wiederholt, bestätigt (C) Aufgabenbereich: Fragen (7) Erfragt Orientierung, Information, Wiederho lung, Bestätigung (8) Fragt nach Meinungen, Stellungnahmen, Be wertung, Analyse, Ausdruck von Gefühlen (9) Erbittet Vorschläge, Anleitung, mögliche Wege des Vorgehens (D) Sozialemotiver Bereich: Negative Reaktionen (10) Stimmt nicht zu, zeigt passive Ablehnung, Förmlichkeit, gibt keine Hilfe (11) Zeigt Spannung, bittet um Hilfe, zieht sich zurück (12) Zeigt Antagonismus, setzt andere herab, verteidigt oder behauptet sich (Beobachtungskategorien nach Bales)
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sich an dieser, jeweils auf die konkrete Situation ausgerichteten Kompetenz. In bestimmten Situationen dürften sich dann typische Selektionsweisen herausbilden, die den Charakter von Handlungsmustern anneh men. Anzunehmen ist auch, daß es unterschiedliche Konventionalisierungsgrade und Formen der Situationsabhängigkeit gibt. Im Anschluß an Wunderlichs Überlegungen (Wunderlich 1972) zur Konventionalität von Sprechhandlungen wären systematische Un tersuchungen hierzu notwendig beim Aufbau einer Situationstheorie. Bei der Erhebung von situativen Daten und Daten der nonverbalen Kommunikation in der Feldforschung ergeben sich zahlreiche Probleme der Datenbeobachtung, - erhebung und - konservierung (Hufschmidt/Mattheier 1976). Einige zentrale Probleme sollen hier zumindest angesprochen werden: (1) Situationen verändern sich ständig. Dieser Dynamik müssen die Erhebungsmethoden angepaßt sein. Es genügt daher nicht, bei zu beobachtenden Handlungen die situativen Ausgangsbedingungen festzuhalten. Jede beobachtbare Veränderung innerhalb der gegebenen Situationskonstellation muß bei der Datengewinnung festgehalten werden. Soweit die Veränderungen im Inneren der Kommunikationspartner liegen und nicht nach außen dringen, sind diese situativen Veränderungen nur durch eine spätere Befragung der handelnden Personen ansatz weise zu rekonstruieren. (2) Situative Daten können weitgehend schriftlich festgehalten werden. Für die wissenschaftliche Auswertung ist es jedoch unabdingbar, daß diese Daten simultan zum Verhalten der relevanten Personen festgehalten werden. Entstehen z. B. in einer Situation plötzlich Affekte, so sind mögliche auslösende situative Bedingungen und die Verhaltensreaktion parallel zu erfassen. Hierbei stoßen schriftliche Erhebungsverfahren an ihre Grenzen. Film- bzw. Videoaufnahmen sind hier genauere Verfahren (Hufschmidt/ Mattheier 1976). (3) Bei der Erhebung von Daten der nonverbalen Kommunikation können beim derzeitigen Stand der Forschung nur relativ kurze Sequenzen erhoben und ausgewertet werden. Wegen der Genauigkeit und Reproduzier barkeit sind auch hier Filmaufnahmen das bessere Erhebungsmittel. Filmaufnahmen sind allerdings nicht geeignet, wenn es darum geht, Verhalten außerhalb des auditiven und visuellen Kommunikationskanals zu erheben. Hierzu müssen andere Meß- und Erhebungsverfahren entwickelt werden. Die
Sprachwissenschaft sollte allerdings zuerst in den Bereichen ihre Forschung intensivieren, wo andere Wissenschaften bereits wertvolle Vorarbeit geleistet haben.
5.
Literatur (in Auswahl)
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31. Erhebung von situativen Daten und Daten der nonverbalenKommunikation
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Jochen Hufschmidt, Bonn
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
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32. Erhebung von Regionaldaten (historisch, sozial, kulturell, geographisch) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
1.
Begriffsabgrenzung Kategorisierung der Regionaldaten und Typen von Erhebungsmethoden Regionaldaten zum Siedlungs- und Lebensraum Regionaldaten zur wirtschaftlichen Gliederung Regionaldaten zur administrativ-politischen Gliederung Regionaldaten zur gesellschaftlichen Wertstruktur Literatur (in Auswahl)
Begriffsabgrenzung
Durch die Erweiterung des dialektologi schen Forschungsinteresses um den kommunikativen Aspekt hat sich der Schwerpunkt der Dialektologie in den letzten Jahren auf die Erarbeitung von Beschreibungs- und Erklärungsmodellen zur Deutung von Dialektverbreitung verlagert, die den Dialektsprecher und die ihn umgebende Sprachgemeinschaft in ihrer Totalität mit einbezieht. Dadurch wird das gesamte Umfeld thematisiert, in das der Dialekt als eine Sprachvarietät neben anderen — etwa Standardsprache oder Fachsprache — eingebettet ist. Dieses Umfeld gewinnt als Rahmen für eine angemessene Erklärung von Struktur und Veränderung dialektalen Sprachverhaltens in seiner Gesamtheit an Bedeutung. Die kommunikative Dialektologie geht dabei bezogen auf Sprache von einem ähnlichen Konzept aus wie die moderne Sozialgeographie, die die Erde als Lebensraum des Menschen auffaßt und zugleich alle menschlichen Beziehungen als ihrem Gegenstand zugehörig ansieht, die räumliche Ausdehnung haben, weil sie einen wesentlichen Aspekt in den Beziehungen zwischen dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben des Menschen und seiner natürlichen Umwelt offenbaren (Atteslander/ Hamm 1974, 24 f.). Jeder kategorisierende Eingriff in dieses Beziehungsfeld kann nur methodisch - analytischen Charakter haben. Die prinzipielle Einheitlichkeit des ökologischen Umfeldes des Phänomens ‘Dialekt’ darf dabei nicht aus dem Blick geraten (Luckmann 1969, 1072). Eine grobe Kategorisierung dieses komplexen Gebietes ist im vorliegenden Zusammenhang insofern vor gegeben, als die Konzeption des Handbu-
ches von drei unterschiedlichen Datengruppen zur Beschreibung eines solchen Umfeldes ausgeht: den auf die einzelne Person des Sprechers/Hörers bezogenen sozialen Daten (vgl. Art. 33), den situativen Daten (vgl. Art. 31) und den sogenannten ‘Regionaldaten’, die die historischen, gesellschaftlichen, kulturellen und geographischen Aspekte des Umfeldes dialektalen Sprechens erfassen sollen. Soll z. B. das sprachliche Verhalten einer Gruppe von Pendlern aus einem Dorf beschrieben werden, dann ist einmal die persönliche Sozialbiographie der einzelnen Sprecher heranzuziehen (Sozialdaten), wei terhin die besonderen Bedingungen, die sich durch die ständig wechselnden Kommunikationssituationen der Pendler ergeben (situative Daten) und schließlich die Regionaldaten, die diese Sprechergruppe charakterisieren. Das sind etwa Informationen über die Bedingungen der regionalen Wirtschafts struktur, über die Bedingungen der regionalen Wirtschaftsentwicklung, über die regionale Mobilität, die Urbanisierungsprozesse, die Siedlungsstruktur des Raumes, seine allgemeine gesellschaftliche Gliederung und seine sozialkulturelle Bedeutung. Alle diese Daten können dazu beitragen, die Verbreitungsstrukturen von dialektalen Sprachvarietäten und ihre Veränderungspro zesse näher zu bestimmen und zu erklären. Regionaldaten charakterisieren dabei die Gliederungen im gesellschaftlich - räumlichen Umfeld des Sprechers, die sich diesem als regionale Sozialstruktur darbieten und als solche sein gesellschaftliches Verhalten prägen und steuern. Sozialdaten beziehen sich dagegen, wie oben erwähnt, direkt auf die Person des Sprechers, bilden seine persönliche Sozialbiographie. Beide Datengruppen stehen jedoch insofern in einem engen Zusammenhang, als aus der Summe der Sozialdaten aller in einer Gemeinschaft lebenden Personen sich die Regionalstruktur bis zu einem gewissen Grade ergibt. Es kann daher i n der Praxis zu Überschneidungen zwischen beiden Datentypen kommen. Wenn z. B. für die Erstellung der Altersstruktur einer Sprachgemeinschaft keine geeigneten sekundären Quellen vorhanden sind, wird der Dialektologe diese durch eine direkte Erhebung bei der Gesamtgruppe oder einer repräsentativen Stichprobe erheben müssen. Eine solche Erhebung liefert
32. Erhebung von Regionaldaten (historisch, sozial, kulturell,geographisch)
das Alter des Sprechers zugleich auch als Sozialdatum im engeren Sinne zur Charakterisierung einer bestimmten Person. Doch sollten diese beiden Verwendungsweisen auseinander gehalten werden, da dasselbe Datum in beiden Zusammenhängen einen völlig anderen Stellenwert hat. Als Sozialdatum lassen sich daraus Aussagen ableiten wie: 50jährige Ortsbewohner verwenden mehr Dialekt als 20jährige. Als Regionaldatum wird die Altersangabe etwa zum Aufbau einer Alterspyramide verwendet.
2.
Kategorisierung der Regionaldaten und Typen von Erhebungsmethoden
Nach den oben angestellten allgemeinen Überlegungen kommt den Regionaldaten neben den sozialen und den situativen Daten eine wichtige Funktion bei der Beschreibung und Analyse des ökologischen Umfeldes von dialektalen Sprachgemeinschaften zu. Ob wohl jede strukturierende Unterteilung dieses Umfeldes nur analytischen Charakter haben kann, wird es für eine übersichtliche Gliederung der sehr unterschiedlichen Problemfelder der Regionaldaten notwendig sein, Kategorien anzugeben, nach denen eine weitere Unterteilung des Gesamtkomplexes der Regionaldaten erfolgen kann. Dabei ist bei jeder der folgenden Kategorien zwischen einem gegenwartsbezogenen und einem historischen Aspekt zu unterscheiden. Wir nehmen hier eine vierfache Unter gliederung des Regionaldatenkomplexes vor: 1. Daten zum Siedlungs- und Lebensraum 2. Daten zum Wirtschaftsraum 3. Daten zur administrativen und politischen Struktur des Raumes 4. Daten zur gesellschaftlichen Wertstruktur des Raumes Diese Datenkomplexe lassen sich nun ihrerseits wiederum vielfach untergliedern, so daß eine komplexe Hierarchie von Kategorien zur Beschreibung des regionalen Umfeldes von dialektalen Sprachgemeinschaften entsteht. Bevor diese Bereiche einzeln kurz skizziert werden, einige allgemeine Bemerkungen zur Methodik der Datensammlung im Regionalbereich. Daten zu den vier genannten Komplexen lassen sich grundsätzlich durch zwei verschiedene Methoden gewinnen, durch die Analyse von Quellen oder
573
durch die Befragung. Analyse von Quellen meint hier die Verwertung von Informationen, die nicht direkt zum Zwecke der jeweiligen Sprachanalyse gesammelt worden sind, sondern vor Beginn der Untersuchung schon für andere Zwecke erarbeitet vorliegen. Dabei kann man unterscheiden zwischen Daten aus anderen Forschungsvorhaben, Daten aus der wissenschaftlichen Literatur und Daten, die für allgemeine Statistik- oder Verwaltungszwecke erarbeitet worden sind. Während für die wissenschaftlichen Quellen die einschlägigen Bibliotheken und Bibliographien ausreichende Auskunft geben, sind Verwaltungsdaten oder detaillierte Statistik Daten oft unveröffentlicht und nur in den statistischen Ämtern der jeweiligen Regionalverwaltungen oder in den lokalen und regionalen Archiven zu erhalten. Vom Quellenwert her sind beide Datengruppen als gleichwertig zu betrachten. Die Verwaltungsdaten liegen jedoch meist in noch uninterpretiertem Zustand vor. Das kann für dialektologische Arbeiten Nach- aber auch Vorteile haben, da einerseits noch alle Möglichkeiten zur Deutung der Daten im Rahmen der speziellen Fragestellung offen bleiben, andererseits die Aufbereitung von statistischen Rohdaten mit erheblichem Zeitaufwand verbunden ist. Ein besonderes Problem bei der Verwendung von Quellen für die dialektologische Regionalanalyse ist der vorgefundene Raumausschnitt, für den die Quellendaten erhoben worden sind und der nur selten gerade mit dem Sprachraum - Ausschnitt übereinstimmt, der dialektologisch untersucht werden soll. So liegen etwa für das ehemals preußische Rheinland eine Reihe von historisch- statistischen Daten zur Bevölkerungs - und Er werbsstruktur nur für die Verwaltungseinheit ‘Gemeinde’ vor, in der oft eine Reihe von Einzelortschaften zusammengefaßt worden sind. Eine dialektologische Analyse eines Einzeldorfes kann dann nur bedingt auf solche Daten zurückgreifen. Der zweite Erhebungstyp für Regionaldaten ist die Befragung (Holm, Hg. 1975). Hier können wir in etwa die Expertenbefragung und die direkte Befragung unterscheiden. Die Expertenbefragung ist besonders gut geeignet für die Sammlung von Informationen zu verhältnismäßig komplexen Datenberei chen wie etwa dem Erziehungsverhalten und der sozialen Wertstruktur in verschiedenen Stadtvierteln. Solche Datenkomplexe sind nur schwer so genau zu operationalisieren,
574
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
daß sie durch normale Fragebogen - Befra gungen erfaßt werden können. Doch ist bei der Expertenbefragung darauf zu achten, daß es durch die Auswahl der Experten nicht zu Einseitigkeiten im Informations spektrum kommt, weil die zentralen gesellschaftlichen Gruppen des Untersuchungs raumes nicht in ausreichendem Maße repräsentiert sind. Als Experten in diesem Sinne eignen sich in ländlichen Gemeinden Pfarrer, Lehrer, Vereinsvorsitzende, Oberhäupter von größe ren Familienklans, örtliche Offizielle, El ternsprecher und Gastwirte. Mit solchen Personen sollte man im Rahmen der Regionalanalyse mehrer Gespräche führen, in denen man anhand eines Interviewerleitfadens auf die interessierenden Gebiete zu sprechen kommt, um auf informellem Wege erste Informationen über die sozialen Strukturen der Region zu erhalten. Die so gesammelten Daten haben dann natürlich auch nur informellen Charakter, sie können aber hilfreich sein für die weitere Planung einer Untersuchung und für die Interpretation von komplexen Zusammenhängen in der sprachso ziologischen Struktur der Region. Ganz anders ist die Methode der direkten Befragung für die Regionaldatengewinnung einzuset zen, die sich entweder an eine Stichprobe oder an die gesamte Population des Untersuchungsraumes wendet. Direkte Befragungen in Form von schriftlich vorgelegten oder mündlich abgefragten Fragebögen, die mehr oder weniger standardisiert sein können, liefern fraglos die beste Datengrundlage für Regionalanalysen, sind aber auch die weitaus zeitaufwendigste Erhebungsform. Des halb wird man diese Erhebungsart für Regionaldatenanalysen möglichst selten oder nur in Zusammenhang mit dem Erfragen von Sozialdaten, situativen Daten bzw. Sprachdaten verwenden. Eine besondere Form der direkten Befragung, die jedoch ebenfalls nur bei speziellen Untersuchungen angewendet werden sollte, ist der Test. Kommt es z. B. darauf an, im Rahmen einer Regionalanalyse die Struktur der Einstellung zum Dialekt im untersuchten Gebiet festzustellen, dann kann es nötig sein, in einer Stichprobe der Gesamtpopulation geeignete Parameter, wie etwa das Ortsbewußtsein oder ähnliches, durch einen Einschätzungstest zu erheben. Neben Quellenanalyse und Befragung sind auch noch andere Datensammlungsformen, die die empirische Sozialforschung und
die Sozialgeographie bereitstellen, für die Erhebung von Regionaldaten geeignet. So kann etwa die teilnehmende Beobachtung (Friedrichs/Lüdtke 1973; Dechmann 1978) interessante Aufschlüsse über regionale Unterschiede liefern.
3.
Regionaldaten zum Siedlungs- und Lebensraum
Ausgangspunkt einer Beschreibung des Siedlungsraumes einer Gemeinschaft muß die Bevölkerungsgeschichte des Raumes sein. Die sprachlichen Grundlagen werden durch die erste dauerhafte Besiedlung eines Raumes festgelegt, und selbst in vielfältig zersiedelten Regionen muß und wird in der Forschung noch mit Substrateinflüssen früherer Siedlungsschichten zu rechnen sein (Schützeichel 1976, 180—182). Für einen Sprachraum sollte also eine möglichst lückenlose Besiedlungs und Bevölkerungsgeschichte erstellt werden. Das ist in manchen Räumen aufgrund von historischen Vorarbeiten leicht möglich, wenn man sich dabei auch oft mit unterschiedlichen Forschungsmeinungen der Siedlungshistoriker auseinandersetzen muß. Doch besonders in modernen Industrie gebieten, wie dem Rhein- Main- Raum, dem sächsischen Revier und dem Ruhrgebiet, sind die verschiedenen Besiedlungsphasen und Einwandererschichten bis in die jüngste Zeit hinein noch keineswegs endgültig untersucht. Dabei ist zu vermuten, daß etwa für das Ruhrgebiet der Aufbau der Bevölkerung im Zuge der industriellen Ost- West- Wanderung nach 1871 für die Beschreibung der dort heute gesprochenen Sprache wohl von zentraler Bedeutung sein dürfte (Glück 1977). Gerade in solchen Regionen sollte daher bei der Bearbeitung derartiger Fragestellungen auf die Bestände der örtlichen Archive und Registraturen sowie auf die statistischen Ämter zurückgegriffen werden, in denen oft schon wichtige und sonst bibliographisch nicht erfaßte Materialien aufbereitet vorliegen. In enger Beziehung zu der allgemeinen Besiedlungsgeschichte eines Raumes steht — quasi als Resultat dieser Entwicklung — die interne Siedlungsstruktur, eine Komponente, die keineswegs nur bei größeren Regionen, sondern selbst in den kleinsten Dorfgemeinschaften eine erhebliche Bedeutung auch für sprachliche Binnenstrukturen haben kann. Siedlungsstrukturen sind in kleineren Regionen auf den ersten Blick oft nicht festzu-
32. Erhebung von Regionaldaten (historisch, sozial, kulturell,geographisch)
stellen. Ein Dorf, eine Stadt oder ein anderer kleiner Raum treten dem Forscher zuerst einmal als ein verhältnismäßig homogener Block entgegen. Mit den Methoden der Sozialgeographie lassen sich jedoch verhältnismäßig einfach solche Binnenstrukturen beschreiben. In städtischen Regionen wird man hier zuerst an die Stadtviertel, die Vorstädte, die evt. vorhandenen Ghettos und ähnliches denken. Aber auch in kleinen Dörfern findet man reine Bauernwohnbezirke neben den Bezirken, in denen Landarbeiter oder auswärts Arbeitende leben. Eine Hilfe ist in Dörfern für eine solche Analyse oftmals ein Blick auf die Wohnhaus- und Stallungstypen, an denen selbständige Bauern, Nebenerwerbsbauern, ortsgeborene Pendler und Zugezogene recht gut zu differenzieren sind. Wichtiger Ausgangspunkt für eine solche Analyse der Siedlungsbinnenstruktur wie auch für eine Reihe weiterer Regionaldatenkomplexe ist eine genaue Karte der jeweiligen Region. Für die Kleinregion wird man hier Karten verwenden, in denen die Straßenzüge und die Bausubstanz in allen Einzelheiten verzeichnet sind. Dafür bieten sich die Gemarkungskarten im Maßstab 1 : 2500 an. In solche Karten sollten die Ergebnisse der Binnenstrukturanalyse eingetragen werden. Dabei ist auch leicht eine Kombination mit den Konstanten der naturräumlichen Gliederung, den geologischen und topographischen Daten einer Region möglich. Die siedlungshistorische Analyse und die Untersuchung der gegenwärtigen Binnen struktur einer Region wird abgerundet durch die Bevölkerungsstatistik, die meist über die Einwohnermeldeämter zu erfassen ist. Hier werden für die jeweilige Region die Bevölkerungszahlen, das Geschlechtsverhältnis, die Altersstruktur, die Zahl der Haushalte und ähnliches mehr zusammengestellt. Ein Großteil dieser Daten wird in den amtlichen Statistiken in bestimmten Zeitabständen publi ziert. Für die Einbettung der Bevölkerungsda ten in den zu untersuchenden Raum sollten Karten mit der vorliegenden Bevölkerungsverteilung und der Bevölkerungsdichte erarbeitet werden. Im Zusammenhang mit dieser regionalen Strukturierung der Bevölkerung kann auch die hauptsächliche Erwerbstätigkeit und die Schichtzugehörigkeit in den einzelnen Regionen sowie — wenn nötig — die ethnische und die konfessionelle Verteilung in der Bevölkerung kartiert werden. Neben der allgemeinen Bevölkerungsglie -
575
derung ist ein weiterer Faktor einer Regionalanalyse die Verkehrsstruktur des Raumes. In den Verkehrsämtern oder bei den Verkehrsbetrieben der Regionen findet man normalerweise hierzu ausreichendes Mate rial, das sowohl qualitativ und quantitativ die interne Verkehrserschließung des Gebietes durch öffentliche Verkehrsmittel und Verkehrswege als auch die Einbindung der Region in überregionale Verkehrsnetze umfaßt. Ein wichtiger Aspekt der Strukturierung des Lebensraumes ist die Bildungsstruktur einer Region. Dabei können die zuständigen Schulämter die notwendigen Daten liefern: Daten zu den Schularten, den Schülerzahlen an den einzelnen Schulen und ihren binnenregionalen Einzugsgebieten, zu der Anzahl der Schulen und ihrer regionalen Verteilung, der Alters- und Geschlechtsgliederung der Schüler, der sozialen Zusammensetzung der Schüler in den einzelnen Schulen und zu der Anzahl und der Herkunft der Lehrer. Schwieriger ist jedoch die Feststellung bestimmter subjektiver und interner Kompo nenten der Bildungsstruktur der Region, wie z. B. der Attraktivitätsunterschiede der einzelnen Schulen, sowie der Differenzen im Erziehungsverhalten und in den Bildungszielen. Dabei sind es besonders solche Daten, die relevant werden können für das Sprachverhalten von Kindern und auch von Eltern. Zu diesen Informationen kommt man am ehesten durch eine differenzierte Expertenbefragung, wenn man nicht komplizierte Testverfahren ansetzen will. Wie bei einer Reihe anderer Datenkomplexe so ist auch bei dem Faktor ‘Bildung’ der historische Aspekt nur schwer in die Untersuchung einzubeziehen, obgleich durch die Entwicklung einer Region im Bildungssektor oder durch Veränderungen im Erziehungsverhalten der Eltern die entscheidenden Weichen für Veränderungen in Sprachgebrauchsstrukturen gelegt werden. Meist wird man sich dabei — wenn vorhanden — auf Schulgeschichten und Schulberichte verlassen müssen. Solche Schulgeschichten, besonders aber die in einigen Teilen Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert üblichen Berichte der staatlichen oder kirchlichen Schulinspektoren, die normalerweise in den städtischen oder provinzialen Archiven lagern, enthalten oft reiches Material über die Ausbildungsverhältnisse in früheren Zeiten und auch über Probleme mit fremden Sprachen oder Dialekten im Unterricht.
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
Schließlich gehört zur allgemeinen Gliederung eines Sprachraumes als Lebensraum und Siedlungsraum auch noch die konfessionelle Gliederung, die anhand der Materialien der verschiedenen in dem Raum vertretenen Kirchengemeinden erarbeitet werden kann, und die Gliederung der allgemeinen gesellschaftlichen Kontakte im privaten Bereich. Für den letzteren Aspekt hat John J. Gumperz in seiner Ortssprachenanalyse in einem norwegischen Dorf auf die Bedeutung der innerhalb der Regionen vorhandenen kommunikativen Netzwerke hingewiesen (Gumperz 1975). Solche Netzwerke gründen etwa auf den Verwandtschaft- und Bekanntschaftssystemen innerhalb der Regionen, auf den Vereinsgliederungen, den Nachbar schaftsgruppierungen und ähnlichem mehr. Erhebungsmethoden sind für diese Art von Beziehungen innerhalb einer Sprachgemein schaft erst in Ansätzen vorhanden. So hat Gumperz selbst etwa Freundschaftsgruppie rungen erfragt und untersucht. William Labov hat in jugendlichen Gruppen die Beziehungen durch Soziogramme (Labov 1973) zusammengestellt. Man wird dabei auch zu berücksichtigen haben, daß eine Reihe derartiger Sozialkontakte durch Rahmenbedin gungen gesteuert werden, die in den übrigen Strukturanalysen oder in den Sozialdatenerhebungen erfaßt werden. So werden Elterngruppen durch die Schulsituation der Kinder und Freundeskreise von Arbeitskollegen durch die Berufsgliederung festgelegt. Trotzdem ist festzustellen, daß kommunikative Netzwerke innerhalb von Regionen unmittelbare Bedeutung gewinnen für die Sprachgebrauchsstrukturen. Gumperz konnte nach weisen, daß etwa offene kommunikative Netzwerke, die weniger durch persönlichen Bindungen als durch institutionalisierte Situationen konstitutiert sind, in der Regel andere Sprachverwendungsstrukturen aufwei sen als geschlossene Netzwerke (Gumperz 1975, 349 f.).
4.
Regionaldaten zur wirtschaftlichen Gliederung
Solange die Dialektgeographie sich auf dörfliche Gesellschaften konzentrierte, war die wirtschaftliche und berufliche Gliederung einer Region nicht von zentraler Bedeutung. In der Regel lag eine bäuerliche Erwerbsstruktur zugrunde, die nur in besonderen Fällen durch Heimarbeit, durch Wander -
handwerk oder durch andere Gewerbezweige modifiziert wurde. Die sozialen Verhältnisse zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern waren in diesen Bereichen durch Tradition und Herkommen, aber auch durch gesetzliche Regelungen, wie etwa Gesindeordnungen u. a., festgelegt. Nur in seltenen Fällen lassen sich in solchen Gesellschaften Sprachverhaltensunterschiede zwi schen den verschiedenen beruflichen und gesellschaftlichen Gruppen feststellen, es sei denn im Bereich von Fachsprachen. Ebenso wie durch die fortschreitende Urbanisierung die ländlichen Siedlungs - und Lebensräume verändert und umgestaltet wurden, so verursachte die Industrialisie rung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts tiefgreifende Veränderungen in der Wirt schafts- und Berufsgliederung Deutschlands. Die Industrialisierungsprozesse, die in den einzelnen Gegenden Deutschlands in sehr unterschiedlichen Formen abgelaufen sind und noch ablaufen und die keineswegs mit einer Verstädterung einhergehen müssen, werden normalerweise über die Wirtschaftsund Sozialgeschichtsschreibung greifbar. Hier ist besonders auf die regionalen und lokalen Zeitschriften und auf die örtlichen Archive hinzuweisen, in denen sich häufig schwer erreichbare und ungedruckte Arbeiten zur regionalen und lokalen Wirtschaftsund Sozialgeschichte befinden. Die historische Analyse der wirtschaftlichen und gewerblichen Entwicklung einer Landschaft muß einmünden in die Beschreibung ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen und gewerblichen Struktur. Ausgehen wird man dabei von der Verteilung der Wohnund Arbeitsplätze im Raum, die kartenmäßig gut darstellbar ist. Aber auch die Branchengliederung des Wirtschaftsraumes und die Strukturierung nach Erwerbssektoren sollte berücksichtigt werden. Der zweite Komplex der Wirtschaftsstruktur ist die Berufs- bzw. Berufsgruppengliederung der Bevölkerung sowie die Gliederung nach der Stellung im Beruf. Hier bietet die empirische Sozialforschung unterschiedliche Beschrei bungskategorien - Systeme an. Letztlich wird sich die gewählte Gliederung jedoch nach den besonderen Bedingungen des zu untersuchenden Raumes zu richten haben. Es ist sinnlos, eine detaillierte Strukturierung der landwirtschaftlichen Betriebe nach verschiedenen Größenklassen vorzunehmen, wenn alle Betriebe ungefähr die gleiche Größe haben. Neben der Berufsstruktur und der Ge-
32. Erhebung von Regionaldaten (historisch, sozial, kulturell,geographisch)
werbegliederung der Region sind von besonderer Bedeutung gerade für Sprachge brauchsuntersuchungen die Beziehungen zwischen der Arbeitsplatzstruktur und der Wohnstruktur einer Region (Ammon 1978). Fallen beide Bereiche auseinander, dann muß man mit Berufspendlern rechnen (Albrecht 1972). Dabei gilt es festzulegen, wo die in der Region wohnenden Erwerbstätigen arbeiten und wo die hier Arbeitenden leben, sei es nun innerhalb oder außerhalb des jeweiligen sprachlichen Problemgebietes. Weiterhin sind auch die Formen des Pendelns zwischen Arbeitsort und Wohnort festzustellen. Handelt es sich dabei um Tagespendler, um Wochenendpendler oder um Pendler, die sich noch längere Zeit an ihrem Arbeitsort aufhalten. Arbeiten die Pendler i m mer an dem gleichen Ort oder muß man — wie bei Vertretern bzw. Bauarbeitern oder Kraftfahrern — mit ständig wechselndem Arbeitsort rechnen? Welche Verkehrsmittel werden für die Fahrten zwischen Arbeitsu n d Wohnort benutzt? Viele dieser Daten sind über die statistischen Ämter zu erhalten. Sie werden für die einzelnen Orte in den zehnjährigen Volkszählungen und in den Gewerbezählungen festgelegt und — korrigiert durch den Mikrozensus — jährlich fortgeschrieben.
5.
Regionaldaten zur administrativpolitischen Gliederung
Die administrativ - politischen Gliederungen von Sprachräumen und besonders ihr geschichtliches Werden standen lange Zeit im Zentrum der Interpretation dialektgeogra phischer Strukturen. Arbeiten zur sprachlichen Kulturraumforschung (vgl. Art. 4) enthalten oft weitgehend neu erarbeitete Besitzund Verwaltungsgeschichten der untersuch ten Region. Die vielfach wechselnden Grenzziehungen zwischen Grundherrschaf ten, Kirchspielen, Marktgenossenschaften und Dorfgemeinden sind nach den theoretischen Annahmen dieser Forschungsrichtung von entscheidender Bedeutung für die Erklärung von Mundartgrenzen und Mund arträumen. Mit der Neuorientierung der Dialektologie auf soziale Verkehrsräume, aber auch mit der Entstehung größerer Wirtschaftsräume traten derartige Daten bei dialektologischen Analysen oft zu sehr in den Hintergrund. In einem angemessenen Maße
577
und je nach der Detailfragestellung wird auch heute noch eine Untersuchung der Verwaltungs und Herrschaftsgeschichte eines Raumes wichtig sein, besonders dann, wenn überkommene Verwaltungsstrukturen und moderne sozialräumliche Gliederungen ge genläufige Tendenzen aufweisen. Das zeigt sich etwa im Ruhrgebiet, wo der seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts entstehende soziale Verkehrsraum Ruhr heute immer noch in Nord- Süd- Richtung gegliedert wird durch die kulturräumlichen Auswirkungen der überkommenen Provinzialgrenze zwi schen Rheinland und Westfalen, die ihrerseits wiederum auf sehr viel ältere Grenzziehungen zurückzuführen ist. Bei dialektologischen Untersuchungen in diesem Raum wird man auf diese Tatsache zu achten haben. Wichtiger jedoch als die historische Komponente ist die Erfassung der gegenwärtigen administrativen Gliederung der Region: der Stadt - und Regionalverwaltung, der Stadt teil und Dorfverwaltung, der regionalen und lokalen Zuständigkeitsstrukturen, der Wahlkreisgliederungen und ähnlichem mehr. Die Wahlkreisgliederung leitet zur politischen Gliederung des Raumes über. Hier wird man die Parteienstruktur, die gesellschaftliche Struktur der politischen Eliten und auch die Parteimitgliedschaften sowie das Wahlverhalten zu beachten haben. Einen Versuch zur Verwendung solcher Daten in dialektsoziologischen Untersuchungen hat Else Hofmann in ihrer Analyse des Sprachverhaltens in dem hessischen Dorf Nauborn bei Wetzlar unternommen (Hofmann 1963). Sie stellte hier durch informelle Beobachtung eine direkte Korrelation zwischen der politischen Orientierung ihrer Gewährsper sonengruppe und ihrer Einstellung zu sprachlichen Neuerungen, wie dem Eindringen der Standardsprache in ihren Ort, fest. Alle Daten zur administrativen und politischen Struktur der Region wird man in den allgemeinen Verwaltungen erhalten können. Besondere Befragungen werden dafür nicht notwendig sein.
6.
Regionaldaten zur gesellschaftlichen Wertstruktur
Daten zur Wertstruktur eines gesellschaftlichen Raumes sind bisher nur selten und sehr peripher in die Überlegungen zur Analyse der Sprachgebrauchsstrukturen in Dialektgebieten einbezogen worden. So suchte etwa
578
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
Büld für eine niederdeutsche Dialektregion ‘innere Sprachlandschaften’ aufzuzeigen, indem er die subjektiv bei den Sprechern vorhandenen Vorstellungen über Sprachgrenzen und Sprachräume analysierte (Büld 1939). Auch Gerhard Hard wies auf die Bedeutung solcher Raumgliederungen sowohl für das reale Sprachverhalten als auch für mögliche Veränderungen im Verhältnis zwischen Dialekt und Standardsprache und für die Interpretationen von Aussagen über den Mundartgebrauch hin (Hard 1966, 39—47). Man muß davon ausgehen, daß Regionen, die objektiv im Verhältnis zwischen Dialekt und Standardsprache ähnliche Gliederungen auf weisen, trotzdem nicht gleich zu beurteilen sind, wenn sie sich in der Wertschätzung des Dialektes unterscheiden. Regionen, in denen der Dialekt einen positiven Wert hat, werden verhältnismäßig stabile Diglossie - Konstella tionen aufweisen, ja die Mundart kann hier sogar noch Domänen hinzugewinnen. Re gionen mit negativer Dialekteinschätzung tendieren meist zu einer raschen Aufgabe des Dialektes (Mattheier 1980). Deshalb sind auch Befragungen über den Dialektge brauch, wie sie seit einigen Jahren öfter durchgeführt werden (Kamp/Lindow 1967), nur vor dem Hintergrund der Einstellung zum Dialekt angemessen zu deuten. Diese Einstellung differiert nicht nur in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen, so daß etwa die unteren Mittelschichten oft der Mundart kritischer gegenüberstehen als oberschichtlich orientierte Gruppierungen. Auch räumlich gibt es erhebliche Differenzen in der Beurteilung von Mundartge brauch, die sich sowohl innerhalb von geschlossenen Regionen auswirken als auch einzelne Regionen in typischer Weise voneinander unterscheiden. Bei der Analyse solcher regionenbezogener Differenzen in der Einschätzung von bestimmten Sprachvarietäten hat man zwei Aspekte auseinanderzuhalten. Einmal wir ken sich hier allgemeine Einstellungen zur sozialen Umwelt direkt aus, die man mit dem Stichwort ‘Ortsloyalität’ umschreiben kann (Treinen 1974). ‘Ortsloyalität’ bezeichnet in diesem Zusammenhang die Bereitschaft von Individuen, die in der sie umgebenden Region üblichen Lebens- und Anschauungsformen zu akzeptieren und zu übernehmen. Unterschiede in der ‘Ortsloyalität’ sind sicherlich teilweise auf Differenzen im gesellschaftlichen Status der Ortsbewohner zurückzuführen. Sie sind aber auch
als Ergebnis von regional unterschiedlichen sozialhistorischen Entwicklungen zu be trachten, die dazu führen, daß es heute in Bezug auf die Ortsloyalität unabhängig von städtischen und ländlichen Regionen einen erheblichen Unterschied zwischen dem Süden und dem mittleren Deutschland gibt. Das der Ortsloyalität entgegenstehende Phänomen ist die ‘Urbanität’, womit die Bereitschaft eines Individuums zur Übernahme von fremden, durch die öffentliche Kultur und die Medien verbreiteten Verhaltensweisen und Meinungsmustern bezeichnet wer den soll. Dabei ist ‘Urbanität’ ebenso wie ‘Ortsloyalität’ prinzipiell unabhängig vom Stadt - /Land - Gegensatz, obgleich in der Realität die ‘Urbanität’ für städtische Regionen und die ‘Ortsloyalität’ für ländliche Regionen typisch ist. Der zweite Aspekt, den man bei der Analyse von raumgezogenen Differenzen in der Einschätzung von bestimmten Sprachvarie täten beachten muß, ist der Unterschied in der allgemeinen sozialen Wertschätzung von bestimmten Regionen Deutschlands (Bau singer 1972, 21). Sowohl in größeren sozialen Räumen wie etwa dem Rheinland als auch in einzelnen Städten und sogar in kleinen Dörfern gibt es jeweils Differenzen in der Bewertung von Teilräumen. Für einen Stadt - Kölner sind die aus dem Umkreis von Köln kommenden Land- Kölner ‘die Buuren’. Der in Rheinnähe Lebende hält die Eifelbewohner für Hinterwäldler, und sogar im kleinsten Dorf gibt es oft ein angesehenes ‘Unterdorf und ein negativ bewertetes ‘Oberdorf’. Solche regionalen Wertstrukturen stehen in engem Zusammenhang mit dem sozialen Ansehen der Bewohner der Region, wobei in durch Urbanität geprägten Bereichen die städtischen Lebensformen hoch - bewertet werden, in durch Ortsloyalität geprägten Bereichen dagegen die althergebrachten Ver haltensweisen prestigereicher sind. Da bei den Lebensformen und sozialen Verhaltensweisen die jeweils verwendete Sprachform bzw. das Sprachverhaltenssy stem von zentraler Bedeutung ist, wird man bei einer Sprachgebrauchsanalyse eines Raumes den Differenzen in der Ortsloyalität und in der sozialen Wertstruktur- Gliederung erhebliche Bedeutung zuzumessen haben. Die Frage, wie man derartige Regionalstrukturen erfassen kann, läßt sich derzeit erst mit einigen Hinweisen auf mögliche Datensamm lungsmethoden beantworten.
32. Erhebung von Regionaldaten (historisch, sozial, kulturell,geographisch)
Der gegenwärtig vorliegende Zustand wird am besten durch eine Kombination von Expertenbefragung und speziellen Testver fahren festgestellt werden können. Durch die Expertenbefragung können die groben Differenzen in der Wertschätzung verschiedener Teilregionen und auch im Grad der Ortsloyalität innerhalb des Untersuchungs gebietes umrissen werden. Spezielle Testverfahren für die Messung von Ortsloyalität — die bisher noch nicht entwickelt sind — könnten etwa Einstellungsskalen (Triandis 1975; Asperger/Haider 1974) oder, direkt auf die Sprache bezogen, die von Lambert entwickelte ‘matched guise technique’ sein (Lambert 1972; Werlen 1980). Indirekt ergeben sich Hinweise auf Unterschiede in der Bewertung von Regionen aber auch aus einer systematischen Analyse von Ortsspott, der sich in Neckversen u. ä. zeigt (Zender 1974). Erste Hinweise auf den Grad der Ortsloyalität kann man aus dem Stand der Differenzierung des örtlichen Vereinswesens und der Rolle des orts- und regionenbezogenen Brauchtums in dem Gebiet gewinnen (Kleinschmidt 1977, 152 f.). Dagegen können Faktoren wie ‘Anzahl der Tagespendler’ oder ‘Schichtstruktur’ nur bedingt als Indizien für den Grad der Ortsloyalität herangezogen werden, da mit einem vermehrten Kontakt zu urbanisierten Gebieten nicht zwangsläufig die soziale Wertstruktur dieser Gebiete übernommen werden muß. Noch schwieriger als die Bestimmung gegenwärtiger regionaler Wertstrukturen ist deren Erfassung in früheren Zeiten und der Nachweis von Veränderungen in der regionalen Wertstruktur. Hier wird man weitgehend auf zufällige sekundäre Quellen, auf Äußerungen über bestimmte Regionen und auch auf früh belegte Ortsneckereien angewiesen bleiben. Das gilt auch für die Ortsloyalität und ihr allmähliches Zurückdrän gen i m Rahmen der mit dem 19. Jahrhundert einsetzenden Urbanisierung. Im Bereich der Regionaldaten - Analyse, die neben der Berücksichtigung sozialer und situativer Daten für eine kommunikative Dialektologie von erheblicher Bedeutung ist, sind vier Schwerpunkte unterschieden worden: die Siedlungsstruktur, die Wirtschaftsstruktur, die administrativ - politische Struk tur und die Wertstruktur einer Region. Es zeigte sich, daß diese gesellschaftlichen und sozialgeographischen Gliederungen die konstituierenden Faktoren des Sprachge brauchssystems und das Verhältnis zwischen Dialekt und Standardsprache in unterschied-
579
lichem Maße prägen, daß sie jedoch teilweise nur mit erheblichem technischen und zeitlichen Aufwand angemessen erfaßt werden können. Es wird daher wichtig sein, die Datenbereiche herauszufinden, denen für die Strukturierung von dialektalen Regionen und für die Ausprägung bestimmter Sprachverteilungsmuster besondere Bedeutung zu gemessen werden muß.
7.
Literatur (in Auswahl)
Albrecht 1972 = Günter Albrecht, Soziologie der geographischen Mobilität. Stuttgart 1972. Ammon 1978 = Ulrich Ammon, Begriffsbestim mung und soziale Verteilung des Dialektes. In U. Ammon u. a. (Hg.), Grundlagen einer dialektorientierten Sprachdidaktik. Weinheim, Basel 1978, 49—71. Asperger/Haider (Hgg.) 1974 = Hans Asperger, Franz Haider (Hgg.), Das Werden sozialer Einstellungen in Familie, Schule und anderen Sozialformen. Wien 1974. Atteslander/Hamm 1974 = Peter Atteslander, Bernd Hamm, Einleitung, Grundzüge einer Siedlungssoziologie. In: P. Atteslander, B. Hamm, (Hgg.), Materialien zur Siedlungssoziologie. Köln 1974, 11—33. Bausinger 1972 = Hermann Bausinger, Deutsch für Deutsche. Dialekte, Sprachbarrieren, Sonder sprachen. Frankfurt 1972. Büld 1939 = Heinrich Büld, Sprache und Volkstum im nördlichen Westfalen. Sprachgrenzen und Sprachbewegungen in der Volksmeinung. Emsdet ten 1939. Dechmann 1978 = Manfred D. Dechmann, Teilnahme und Beobachtung als soziologisches Basisverfahren. Bern, Stuttgart (UTB) 1978. Friedrichs/Lüdtke 1973 = Jürgen Friedrichs, Hartmut Lüdtke, Teilnehmende Beobachtung. 2. Aufl. Weinheim, Basel 1973. Glück 1977 = Helmut Glück, Zur Geschichte der industriellen Polyglossie. Die Arbeitereinwande rung ins Ruhrgebiet und ein Exempel aus der Praxis des preußischen Sprachenrechts um 1900. OBST 4 (1977) 76—105. Gumperz 1975 = John J. Gumperz, Zur Ethnologie des Sprachwandels. In D. Cherubim (Hg.), Sprachwandel. Berlin, New York 1975, 335—355. Hard 1966 = Gerhard Hard, Zur Mundartgeographie. Ergebnisse, Methoden, Perspektiven. Düs seldorf 1966. Hofmann 1963 = Else Hofmann, Sprachsoziolo gische Untersuchungen über den Einfluß der Stadtsprache auf mundartsprechende Arbeiter. In: Marburger Universitätsbund, Jahrbuch 1963. Marburg 1963, 203—281.
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
580
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Klaus J. Mattheier, Heidelberg
33. Erhebung von Sozialdaten des Informanten 1. 2. 3. 4.
1.
Definition Theoretische Überlegungen im Vorfeld der Erhebung von Sozialdaten Praktische Durchführung der Erhebung Literatur (in Auswahl)
Definition
Bei ‘Sozialdaten’ handelt es sich um einen Index von quantitativ erfaßbaren Kriterien und Merkmalen, die es erlauben, den Informanten aufgrund seines sozio - ökonomi schen Status einer sozialen Schicht zuzuordnen. Auswahl und Gewichtung der Indices stehen in Abhängigkeit zum jeweils zugrunde liegenden Schichtenmodell.
2.
Theoretische Überlegungen im Vorfeld der Erhebung von Sozialdaten
2.1. Das Problem der Schichteneinteilung Ein Vergleich der bisher im soziolingui stisch - dialektologischen Bereich vorliegen den empirischen Untersuchungen (vgl. Ammon 1973, Bernstein 1958 ff., Bühler 1972, Hasselberg 1972 u. 1976, Jäger 1970, Reitmajer 1976 u. 1979) zeigt hinsichtlich der jeweils verwendeten Modelle zur Bestimmung der Schichtzugehörigkeit bis heute keinen
allgemein anerkannten Schichtbegriff (Kö nig 1970, 266) und damit keinen Konsens bezüglich der sozialen Differenzierung der Gesellschaft. Die z. Zt. zur Verfügung stehenden Methoden zur Schichteneinteilung lassen sich, nimmt man die aus Gründen der Übersichtlichkeit kaum zu umgehenden Vereinfachungen des tatsächlichen Sachverhalts in Kauf, hinsichtlich ihres wissenschaftlich - theoreti schen Ansatzes in zwei antagonistische Grundmodelle einteilen: (1) Die von der sog. ‘bürgerlichen’ empirischen Soziologie vertretenen Schichtungs theorien (vgl. Bolte 1963 und 1968, Geiger 1967, Moore u. Kleining 1960, Scheuch 1961, Bauer 1976), die bezüglich ihrer Intention als ‘deskriptive Modelle’ bezeichnet werden, da sie sich darauf beschränken, die soziale Realität der Gesellschaftsstruktur lediglich zu beschreiben, nicht aber nach den Ursachen der sozialen Ungleichheit zu fragen. (2) Die sog. ‘analytischen’ Modelle (vgl. Tjaden- Steinhauer/Tjaden 1970, Mauke 1970, Jung 1968), welche in mehr oder weniger modifizierter Form auf der marxistischen Klassentheorie basieren. Entscheidender Maßstab der Einteilung der Gesellschaft in die Klasse der ‘Kapitalisten’ und die der ‘Lohnabhängigen’ ist die Teilhabe bzw.
33. Erhebung von Sozialdaten des Informanten
Nichtteilhabe an den Produktionsmitteln. Darüber hinaus erscheint die Art (manuell/ nichtmanuell) der Beteiligung am Produk tionsprozeß von wesentlicher Bedeutung. So interessant und wichtig die Frage nach den Ursachen sozialer Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft auch sein mag, so problematisch gestaltet sich die Verwendung sogenannter ‘analytischer’ Modelle in der Praxis. Als erstes stellt sich die Frage, inwieweit wie auch immer modifizierte marxistische Klassentheorien in der Lage sind, die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland adäquat und überzeugend zu beschreiben. Die sozio- ökonomischen Veränderungen der letzten 100 Jahre lassen dies zumindest zweifelhaft erscheinen. Für den Pragmatiker und meist Nicht- Soziologen als viel gravierender erweist sich der Umstand, daß im Bereich dieser Schich tungstheorien keine leicht handhabbaren und operationalisierbaren Modelle vorlie gen. Dieses Defizit an praktikablen Modellen zwingt dazu, auf bereits mehrfach erprobte Einteilungsmethoden der sog. ‘de skriptiven’ Modelle zurückzugreifen. Diese weisen hinsichtlich Differenziertheit und Eignung aber große Unterschiede auf. Für den soziolinguistisch - dialektologi schen Autor ungeeignet erscheint die in offiziellen Verlautbarungen und Statistiken häufig verwendete Einteilung der Gesellschaft in Selbständige und Unselbständige bzw. Ar beitgeber und Arbeitnehmer oder auch in Arbeiter, Angestellte und Beamte, da diese Klassifikation einzelner Gruppen der Gesellschaft nur wenig über den tatsächlichen sozio - ökonomischen Status des Informanten aussagt. Da es nach bisherigen Erfahrungen der empirischen Sozialforschung nicht ausreicht, einen Faktor als alleinigen Bestimmungs grund sozialer Zugehörigkeit herauszustel len, werden mehrere zusammengenommen. In den meisten Fällen (vgl. Moore u. Kleining 1960, Scheuch 1961, Bolte 1963 u. 1968, Geiger 1967, Bauer 1976) handelt es sich hierbei u. a. um die Kriterien ‘Berufsposition’, ‘Schulbildung’ und ‘Einkommen’. Darüber hinaus (vgl. z. B. Scheuch 1961) können aber noch die Kriterien “Relation Raum -pro Person”, “Kaufkraft”, “Wohl standsindex”, “Theaterbesuch”, “Konzertbe such”, “Niveau des Lesens” usw. hinzugezogen werden, wobei den einzelnen Kriterien zugeordnete Punktwerte die für die Einord-
581
nung in eine bestimmte Schicht ausschlaggebende Relevanz widerspiegeln. In der konkreten Anwendung ist darauf zu achten, zwischen Komplexität und Operationalisierbar keit einen praktikablen Mittelweg zu finden. Die quantitative und qualitative Verschie denheit der verwendeten Kriterien spiegelt sich auch in der Schichtaufteilung wider. Einige Autoren (z. B. Scheuch 1961, Bauer 1975) unterscheiden sechs verschiedene soziale Gruppen [(1) Oberschicht, (2) Obere Mittelschicht, (3) Mittlere Mittelschicht, (4) Untere Mittelschicht, (5) Obere Unter schicht, (6) Untere Unterschicht], andere beschränken sich auf vier [(1) Obere MS, (2) Untere M S (3) Obere US, (4) Untere US]. Obwohl keines der vorhandenen Modelle hinsichtlich der Zuordnungskriterien mit einem anderen völlig übereinstimmt, seien zur Verdeutlichung einige Schichten beispielhaft mit für sie typischen Berufsgruppen illustriert. Der ‘Oberschicht’ sind demnach Spitzenpolitiker, Großunternehmer, der ‘oberen MS’ leitende Angestellte und Beamte, der ‘unteren MS’ höchstqualifizierte Arbeiter aus Handwerk und Industrie zuzuordnen. Der ‘oberen US’ gehört der größte Teil der qualifiziert ausgebildeten Facharbeiter, der ‘unteren US’ alle ungelernten bzw. nur angelernten (Fabrik- )Arbeiter an. Da diese Zuordnungskriterien nicht bei allen Modellen gleich sind, weist auch der bei empirischen Untersuchungen sich ergebende prozentuale Anteil der sozialen Schichten an der Gesamtbevölkerung Unterschiede auf (vgl. Bolte 1968, 64 f.) Ein exakter Vergleich zweier nach unterschiedlichen Methoden gewonne ner Ergebnisse erscheint daher beinahe unmöglich. Die notwendige Vereinheitlichung der Methodenvielfalt erweist sich deshalb als äußerst dringend. Sofern es gelingen sollte, zwischen ‘de skriptiven’ und ‘analytischen’ Methoden eine Symbiose zu erreichen, indem man den für linguistische Fragestellungen äußerst wesentlichen, durch unterschiedliche Arbeits weisen (manuell/nichtmanuell) bedingten Faktor ‘Kommunikationsdichte’ (= Kom munikationsnotwendigkeit am Arbeitsplatz) in traditionelle Schichtungsmodelle inte griert, schiene die manchmal als Rückschritt bezeichnete Beibehaltung traditioneller Mo delle jedoch von Vorteil, da hiermit einerseits eine Erklärung gesellschaftlicher Ungleichheiten wenigstens ansatzweise gegeben würde, andererseits eine weitergehende,
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
differenziertere Begründung n icht-linguistischen und damit hierfür kompetenteren Forschungszweigen offengehalten würde. Neben dieser am Schichtmodell orientierten Sozialdaten - Diskussion, die allerdings innerhalb neuerer empirischer Untersuchun gen soziolinguistischer Prägung eine zentrale Stellung einnimmt, bestehen noch eine Reihe weiterer Möglichkeiten der Erfassung von sozialen Realitäten. Die Akzentuierung, die der Autor bei der Erfassung des Sozialdatenspektrums vornimmt, hängt neben wissenschaftstheoretischen Präsuppositionen sehr stark vom jeweiligen Erkenntnisinteresse der Untersuchung ab (vgl. Jäger 1977, S. 146). J e nach Fragestellung mag beispielsweise die Einbeziehung des Merkmals Rollenverhalten und der daraus resultierenden Einstellungen und Verhaltensweisen bzw. des Merkmals Gruppenz ugehörigkeit, nach sozialen, regionalen, sprachlichen, beruflichen etc. Aspekten differenziert, (vgl. König 1970, S. 104 ff.) für die Bestimmung sozialer Realitäten von großer Bedeutung sein, da davon ausgegangen werden kann, daß jedes Individuum Mitglied mehrerer Gruppen und Träger verschiedener gesellschaftlicher Rollen ist, die durch Verhaltens- und Aktionsarten als auch durch verschiedene Sprachverhalten gekennzeichnet sind (vgl. Hofmans 1960, S. 102 ff.). Insbesondere für Problemstellungen der sog. traditionellen Dialektologie erscheint es unumgänglich, Merkmale wie Grad der Ortsgebundenheit, Ortsorientierung, Einstellung zu sprachlichen Varianten und zum Verhältnis von Sprechsituation und Sprachgebrauch, berufliche Mobilität und Aktionsradius, aber auch Alter und Geschlecht der Probanden in das zu erfassende Sozialdatenspektrum zu integrieren. 2.2. Das Problem der Datengewinnung Für die Einholung von Sozialdaten des Informanten stehen verschiedene Methoden zur Verfügung. Eine der unproblematisch sten Methoden besteht darin, Extrempopulationen aufzustellen, indem man Testpersonen auswählt, die in Stadtteilen wohnen, die für eine der beiden relevanten Schichten (US bzw. MS) repräsentativ sind (vgl. z. B. Jäger 1970). Die in der Stadtstatistik angegebenen Berufe der Bewohner eines Stadtteils, der Prozentsatz an weiterführenden Schulen sowie der ‘Ruf’ eines Viertels (Nobel- bzw. Elendsviertel) können hierbei als Orientierung dienen. Eine andere Möglichkeit wäre es, eine willkürlich ausgewählte Gruppe von Berufs-
schülern der einer von Gymnasiasten (vgl. Bernstein 1958) gegenüberzustellen, in der durch empirische Untersuchungen (vgl. z. B. Schorb/Schmidbauer 1973) durchaus be gründbaren Annahme, i m ersteren Fall vorwiegend die Unterschicht, im zweiten i n erster Linie die Mittelschicht mit all ihren schichtspezifischen Merkmalen zu erfassen. Bei genauerem Zusehen stellt sich jedoch bei beiden Verfahren heraus, daß weder in Schulen noch in Stadtvierteln völlig homogene Schichtverhältnisse anzutreffen sind. Unpräzise, vielleicht sogar falsche Ergebnisse sind daher bei Anwendung dieser Verfahren unvermeidlich. Etwas mehr Genauigkeit verspricht die individuelle jedoch nur auf den Faktor Beruf beschränkte Datenerhebung, die durch mündliche Befragung der Testperson bzw. durch Einsicht in Akten (z. B. Schülerbogen, Personalkartei) erfolgen kann. Wenig aussagekräftige Berufsbezeichnungen (z. B. Angestellter, Beamter) und die Tatsache, daß e i n Faktor als alleiniger Bestimmungsgrund sozialer Zugehörigkeit in der Regel nicht ausreicht, lassen auch dieses Verfahren problematisch erscheinen, da es den Erfordernissen exakter empirischer Untersuchungen nicht standhält. Deshalb erscheint es in der Regel — für empirische Untersuchungen differenzierterer Art in jedem Fall — unumgänglich, eine ganze Palette von Informationen zum sozioökonomischen Status des Informanten einzuholen. Der Abfassung eines hierzu nötigen Fragebogens wird in jedem Fall die Entscheidu n g vorauszugehen haben, welchem Verfahren der Schichteneinteilung man den Vorzug gibt, da hiervon ganz wesentlich die Fragebereiche und die Fragen im Detail abhängen. Ebenso wichtig und für den Erfolg einer Fragebogenaktion ausschlaggebend er scheint es jedoch, bei der Konzeption der Fragen einige Grundprinzipien der empirischen Sozialforschung, besonders aber der Befragung zu beachten. Insbesondere ist bei jeder Formulierung einer Frage darauf zu achten, ob sie einfach (unkomplizierte Syntax und Lexik), so eindeutig und präzise (keine mehrdeutigen Begriffe, keine Synonyme) und so anschaulich (Beispiele) wie nur möglich erstellt ist. Besondere Aufmerksamkeit gebührt auch dem Einfluß der Fragestellung auf das Antwortverhalten des Informanten, da erfahrungsgemäß unterschiedliche Formulierungen ein und derselben Frage verschiedene Antwor -
33. Erhebung von Sozialdaten des Informanten
ten provozieren können. Deshalb erscheint es wichtig, alle Arten von Suggestivfragen (z. B.: “Sie fühlen sich in Ihrem Beruf sicher wohl?”) sowie Begriffe mit stark konnotativer Komponente (z. B.: “Fühlen Sie sich als Pauker?”) zu vermeiden. Aus demselben Grund ist darauf zu achten, daß sich bei sog. Skala- Fragen (z. B.: “Fanden Sie den Unterricht interessant immer — häufig — gelegentlich — nie?” Würde man z. B. “nie” weglassen, wäre die positive Seite überbewertet.) die vorgegebenen positiven Ant wortmöglichkeiten mit den negativen in etwa die Waage halten. Einseitigkeiten können zur Verfälschung der Ergebnisse führen. Der Umfang der einzelnen Fragen bzw. deren Antwortmöglichkeiten (falls vorgege ben) sollte keinesfalls zu komplex sein, da ansonsten die Gefahr besteht, daß die Testperson den Überblick verliert. Willkürliches Antwortverhalten bzw. Resignation und Verweigerung der Mitarbeit könnten sich sehr leicht einstellen. Soweit möglich, erscheint es aus auswertungstechnischen Gründen (Computer) von großem Vorteil, sog. “geschlossene Fragen” (= Vorgabe aller relevanten Antwortmöglichkeiten) dem Typ der sog. “offenen Frage” (= keine feste Antwortkategorie) vorzuziehen, obgleich vor allem bei Wertungsproblemen erstere Fragekategorie ein gewisses Maß an Manipulation nicht ausschließt, da sie insbesondere unkritische Testpersonen dazu verleitet, sich Pauschalantworten unreflektiert anzuschließen. Im einzelnen unterscheidet man bei “geschlossenen Fragen” zwischen drei teilweise nochmals unterteilten Typen: (1) “Identifikationstyp: Eine Frage, welche die Nennung (Identifikation) einer Person, Gruppe, eines Ortes, einer Zeit, Nummer usw. verlangt, indem gefragt wird: wer, wo, wann, wie viele oder welche.“ (z. B.: „Würden Sie als Chef Ihre Sektretärin bei einem außerbetrieblichen Treffen als erster grüßen?”) (2) „Selektionstyp: Eine Frage mit vorgegebenen Alternativen, wobei der Befragte eine von zwei oder mehreren Antwortmöglichkeiten auszuwählen hat.” (z. B.: “Wie oft kommen Sie dazu, zu verreisen?” gar nicht — alle paar Jahre einmal — durchschnittlich einmal im Jahr — mehrmals im Jahr) (3) “Ja- Nein- Typ: Eine Frage, die mit Ja oder Nein genügend beantwortet werden kann.” (z. B.: “Besitzen Sie ein Telefon?” JA/NEIN) (Atteslander 1971, S. 92)
583
Um evtl. auftretende Antwortbarrieren seitens des Informanten, die sich gerade bei der Erfassung von Sozialdaten sehr leicht einstellen, zu überwinden, empfiehlt es sich, hiervon betroffen e Informationen (z. B. Wertungen, Einstellungen) mittels sog. “indirekter Fragen” einzuholen. Basis dieser Art der Befragung ist die Annahme, daß die Testperson die ihr angebotenen Stimuli zu strukturieren versucht und damit wichtige Aspekte ihrer Persönlichkeit und ihres Verhaltens offenbart. (Atteslander, 1971, S. 94) Insgesamt sollte jedoch von dieser Fragetechnik nur in seltenen Ausnahmefällen Gebrauch gemacht werden, da bei gehäufter Verwendung beim Informanten der Ver dacht aufkommen könnte, mit psychologi schen Tricks manipuliert zu werden. Außerdem steht der Aussagewert dieser Befragungsmethode innerhalb der empirischen Sozialforschung etwas im Zwielicht. Auch die Strukturierung des gesamten Fragebogens bedarf noch einer Bemerkung. Soweit nicht spezielle Absichten verfolgt werden sollen, erscheint es sinnvoll, die Reihenfolge der einzelnen Fragen nach logischen und psychologischen Gesichtspunkten vorzunehmen. Dies bedeutet zum einen, daß Fragen zu gleichen Themenbereichen in der Regel nacheinander angeführt werden, zum anderen, daß Informanten nicht schon am Anfang mit besonders komplizierten bzw. persönlichen Fragen abgeschreckt werden sollen. Einfache und di e Neugierde bzw. das Interesse des Informanten weckende Fragen bilden daher den Anfang, komplizierte und u. U. heikle den Schluß des Fragebogens. Für den soziolinguistischen Forschungs bereich liegen bereits Muster solcher Fragebögen vor. (Vgl. Oevermann 1972, Bühler 1972, Reitmajer 1976, Viereck 1976, Stellmacher 1977, Vahle 1978, Ammon 1978.) Ein besonderes Problem bei der Erhe bung von Sozialdaten stellt die Frage nach der Repräsentativität des erhobenen Materials dar. Da aus arbeitsökonomischen und finanziellen Gründen kaum die Gesamtheit der jeweils für eine bestimmte Problematik in Frage kommenden Population erfaßt werden kann, wird auf die von der empirischen Sozialforschung (vgl. z. B.: Atteslander 1971, S. 185 ff.) zur Verfügung gestellten statistischen Verfahren zurückgegriffen, die eine Beschränkung auf bestimmte Untergruppen (Stichproben oder Samples) vorsehen. Die Auswahl der Samples, welche grundsätzlich nach dem Prinzip der “Zufallsauswahl”
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
584
(z. B.: einfache Zufallsstichprobe, geschichtete Stichprobe, Klumpen und Flächen stichprobe) oder dem Prinzip der “bewußten Auswahl” (z. B.: Quotenverfahren, Konzentrationsprinzip) vorgenommen werden kann, orientiert sich an der angestrebten Genauigkeit der Ergebnisse. Zur Berechnung der für eine repräsentative Aussage notwendigen Sample - Größe und des zu erwartenden “Stichprobenfehlers” bietet die empirische Sozialforschung auf dem Prinzip der Wahrscheinlichkeitstheorie basierende mathemati sche Methoden an. Da jedoch das hierbei geforderte Postulat der repräsentativen Stichprobe nur in den seltensten Fällen erfüllt werden kann, ergeben sich in der Praxis meist nur nicht - repräsentative Zufallsstich proben mit lediglich probabilistischen Aussagen.
3.
Praktische Durchführung der Erhebung
Vor der endgültigen Ausgabe eines Fragebogens ist es notwendig, zunächst eine Probebefragung mit ausgewählten, für die spätere Populationsgruppe repräsentativen Infor manten durchzuführen. Bei der Auswertung dieser Umfrage, die nach Möglichkeit die Urteile über die Qualität des Fragebogens seitens der getesteten Personen mitberück sichtigen soll, ergeben sich in der Regel Erkenntnisse, die zur Verbesserung des Fragebogens führen. Nach Einholung der für Umfragen notwendigen Genehmigungen von seiten der zuständigen Behörden ist es notwendig, den Verteilungsmodus der Fragebögen festzule gen. Sinnvollerweise sucht man für die Verteilung Personen bzw. Institutionen zu gewinnen, die (z. B. Lehrer, Geistliche, Schulämter usw.) das Vertrauen der zu befragenden Informanten besitzen und gleichzeitig über Organisationen verfügen, die einen möglichst hohen Rücklauf der Fragebögen ermöglichen. In der Regel kann mit einem Rücklauf von ca. 50—70% gerechnet werden. Von besonders positiver Wirkung auf das Rücklaufergebnis dürfte ein persönliches Begleitschreiben sein, das Sinn und Zweck der Untersuchung, unter besonderer Berücksichtigung der Interessenlage des Informanten, in leicht verständlicher Form erklärt. Ein hinzugefügtes Gutachten einer offiziellen Stelle bzw. eine wohlwollende Stellungnahme einer dem Informanten persönlich bekannten Vertrauens bzw. Autoritätsper son könnte diese Wirkung noch intensivieren. Falls möglich, sollte sich der Versuchs-
leiter dem Informantenkreis vorstellen (z. B. i n Elternversammlung), um eventuelle Unklarheiten über Beantwortung bzw. Zweck der Fragen im persönlichen Gespräch beseitigen zu können. In Fällen, in denen es nicht möglich ist, eine Organisation, wie z. B. die Schule, für die Verteilung der Fragebögen zu gewinnen, ist eine persönliche Übergabe durch den Versuchsleiter dem Postversand in jedem Fall vorzuziehen. In vielen Fällen wird das Ausfüllen des Fragebogens im Beisein des Versuchsleiters wohl die erfolgversprechendste Methode sein.
4.
Literatur (in Auswahl)
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34. Darstellung und Verwendung verschiedener Transkriptionssystemeund -methoden
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585
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Valentin Reitmajer, Erding
34. Darstellung und Verwendung verschiedener Transkriptionssysteme und -methoden 1. 2. 3. 4.
1.
Problemgeschichtlicher Überblick Transkriptionssysteme Transkribieren als wissenschaftliche Arbeit Literatur (in Auswahl)
Problemgeschichtlicher Überblick
Die Geschichte des lautschriftlichen Tran skribierens beginnt lange vor der Veröffentlichung des „Teuthonista“ - Alphabets oder der Lautschrift der Association Phonétique Internationale (API). Mit dem Lin guistik - Historiker Robins (1973) läßt sich deren Tradition über den Phonetiker Henry Sweet in die Renaissance zurückverfolgen, als die Entwicklung von Orthographien für die europäischen Sprachen der Neuzeit Pro-
bleme einer einzelsprachlich orientierten „Reduzierung von Sprache auf Schrift“ aufwarf, die noch heute aktuell sind. Aber orthographie und phonemtheoretische Fra gen werden schon im isländischen „Ersten Grammatiktraktat“ aus dem 12. Jh. behandelt, und implizit muß bereits bei der Adaptation der phönizischen Schrift durch die Griechen eine einschlägige Problemstellung bearbeitet worden sein. Ein Blick auf die skizzierte Tradition ist in mehrfacher Beziehung aufschlußreich. (1) Wenn es so etwas wie einen phonetischen Turmbau zu Babel gegeben hat, so hat sich dieser in der Welt des Schreibens nicht notwendig schon beim Übergang von der Heterogramm zur Lautschrift ereignet.
586
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
(Unter der Bezeichnung ‘Heterogramm schrift’ seien hier piktographische und insbesondere ideogrammatische Schriften zusammengefaßt.) In einer hamito - semitischen Sprache wie dem Phönizischen, d. h. bei konsequent verbreiteter Vokalisierung kon sonantischer Wurzeln, fallen grundlegende Bedeutungen und kinästhetisch - taktil leicht wahrnehmbare Folgen konsonantischer Artikulationen zusammen. (Man denke z. B. an die arabische Wurzel SLM ‘Frieden, Ergebung’ mit vokalisierenden Ableitungen wie SaLaM, iSLaM, muSLiM.) Bei solchen Voraussetzungen hätte die Erfindung einer Lautschrift, konsequenterweise Vokale unberück sichtigt lassend, nicht mit dem Hetero grammprinzip der zeitgenössischen „Be griffsschriften“ zu brechen brauchen. Genial auch unter den günstigen sprachtypologi schen Voraussetzungen, hätte diese Erfin dung allerdings ihre Heterogramme aus sehr wenigen graphischen Elementen kombinie ren können. Im Zentrum einer zugehörigen Praxis des Schreibens steht nicht notwendig die Wiedergabe der lautlichen Substanz bzw. ein System von langue- Gegensätzen. Tatsächlich sind aus der mittelpersischen Epoche Texte überliefert, in denen zwar die iranischen Flexionsendungen genuin lautschriftlich aber die gleichfalls iranischen Wurzeln hetero grammförmig durch aramäische Zeichense quenzen, also ohne Bezug auf die iranische Phonologie, wiedergegeben werden. Die griechische Adaptation ging den anderen Weg der Wiedergabe lautlicher Substanz. In gleicher Schreibung (als ‘Homographe’) erscheinen hier Homonyme, während im mittelpersischen Verfahren Homogra phie, was die Wurzeln betrifft, auf Synonymie beruhte. Vokale, nicht minder zum lautlichen Distinktionssystem der langue gehörig denn Konsonanten, finden im Alphabet eine Entsprechung. Wie man sich erinnert, wurde das Vokalzeichen Alpha durch „Umfunktionierung“ des semitischen Schriftzeichens für den Glottiskonsonanten (Aleph im Hebrä ischen, alīf im Arabischen) gewonnen. Sobald sie auf die lautliche Substanz abhob, tendierte eine auf Nachvollziehbar keit gerichtete Praxis der Textherstellung zur Orthographie. Indem diese Praxis sich nach wie vor auf Bedeutungen beziehen mußte, gewann die wortunterscheidende Leistung der lautlichen Substanz vorrangiges Inter esse. In historischer Perspektive läßt sich dem Satz, daß gelingende Orthographie in
der Tendenz Phonologi e ist, somit kaum widersprechen. Riskanter mag die umge kehrte Behauptung, Phonologie tendiere zur Orthographie, erscheinen. Mindesten s i n der vorsichtigen Lesart, daß phon o logische Texte keine Dokumentation von redehistorisch konkretisierter lautlicher Substanz sind, läßt sich die Behauptung aber aufrechterhalten. Der phonologische Text dokumentiert günstigenfalls, daß sich das Redereignis einer bestimmten lautlichen Systematik anbequemt hat. Die l ineare Ausbreitung dieser Systematik könnte durch ei n e Kette von Heterogrammen zu allen denkbaren Dokumentationszwecken außer dem einen ersetzt werden, daß der Text ‘prärealisatorisch’ als Vorlage systemgemäßer Reproduktion durch Sprecher mit mangelhaft - ansatzweiser Kenntnis der lautlichen Systematik dienen soll. (2) So sehr insbesondere die letzte Überlegung der von Richter etwa in Zwirner/ Rensch (1968) vertretenen Auffassung oder auch der heute stark beachteten Kritik des l inguistischen Strukturalismus durch Jacques Derrida (1974, mittelbar auch Derrida 1976) entspricht: wir verlassen mit ihr gar nicht den eingangs abgesteckten historischen Rahmen. Henry Sweet hat die Phonemtheorie nicht einfach mit der Einführung von Namen fü r mehr oder weniger ausführliche Transkriptionen vorbereitet. Seine Unter scheidung zwischen enger und weiter Umschrift setzt unterschiedliche Traditionen ikonisch dokumentierter („organischer„) Registrierung konkreter Artikulationen einerseits, alphabetischer Fixierung des einzelsprachlich Bedeutsamen andererseits vor aus, welch letztere nunmehr, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit der Problematik einer reformbedürftig erscheinenden Orthographie distinktiv verbunden wird. Auf der dokumentierenden Seite versucht Sweets Zeitgenosse A. M. Bell im Jahre 1867, also genau acht Jahrzehnte vor dem — i h m zum Gedenken gleich benannten — spektrographischen Versuch von Potter, Kopp und Green, mit Mitteln der Transkription ‘visible speech’ zu erreichen. Die defensive Betonung des einzelsprachlich Bedeutsamen scheint nicht erst mit der Experimentalphonetik einen Anlaß und mit der auf sie reagierenden Prager Phonologie einen Protagonisten gefunden zu haben. (3) Der Gegensatz von dokumentarischer Registrierung und einzelsprachlicher Ortho graphie ist freilich zu grob, als daß man das
34. Darstellung und Verwendung verschiedener Transkriptionssystemeund -methoden
„wahre“ phonetische Transkribieren der einen oder der anderen Seite zuschlagen könnte. Setzt man voraus, daß sich die Zwecke der Herstellung phonetischer Texte nicht in einer Dokumentation des ‘Was’ konkreter Rede erschöpfen, vielmehr ihr ‘Wie’ einschließen, so kann eine phonologisch- weite Umschrift diesen Zwecken nicht gerecht werden, mögen die Prinzipien der Umschrift auch von allen Unvollkommen heiten historischer Orthographien gereinigt sein und ein tragfähiges lautlich- substantielles Fundament für das Gesamtgebäude einer langue abgeben. Aber deswegen wird die einzelsprachliche Seite nicht irrelevant. Nicht nur daß — negativ — die Aporie einer zum unvollkommenen Messen degenerierenden Transkription droht; der einzelsprachliche Bezug scheint — positiv — eine Richtschnur für die Systematisierung von Transkriptionszeichen zu liefern, die den Aufgaben namentlich auch der dialektologischen Textherstellung angemessen ist. Hiermit gelangt eine speziellere tran skriptionsgeschichtliche Kontroverse in den Blick, die bis in die jüngste Vergangenheit unter dem Motto ‘diakritisches vs. monotypes Prinzip’ eine Rolle gespielt hat. Die deutsche Dialektologie reklamierte dabei das diakritische Prinzip für sich, um eine ihren Aufgaben gemäße Subtilität und Lesbarkeit der lautschriftlichen Texte zu gewährleisten, während sie der Phonologie eine Konzentration auf normativ - orthographische Texte zubilligte, für die monotype Transkriptionssysteme ausreichen sollten. Unverkennbar und mit größter Bedeu tung für unsere Frage nach der angemessenen Situierung des einzelsprachlichen Be zugs kommt in diesem Differenzierungs versuch das Nebeneinander von historischvergleichender Sprachwissenschaft und frü hem Strukturalismus um die Jahrhundert wende zum Ausdruck. Auch wenn das Internationale Phonetische Alphabet (IPA) in seiner ersten Version schon 1886—1888, also einige Zeit vor den 1906 beginnenden und 1916 publizierten Vorlesungen Ferdinand de Saussures entstand, spricht die Beteiligung von Sprachlehrern wie auch des mit Fug und Recht als Vorläufer der strukturalistischen Lautlehre anzusprechenden Henry Sweet deutlich dafür, daß das IPA unter einzelsprachlich - funktionalen, nicht unter histo risch- vergleichenden Prämissen in die Welt getreten ist. Auf der anderen Seite wurde die i n der deutschen Dialektologie insbesondere
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durch den Deutschen Sprachatlas weit verbreitete und als diakritische Alternative zum IPA verstandene Lautschrift des „Teuthonista“ zwar erst 1924 i m ersten Heft dieser Zeitschrift veröffentlicht, aber es gibt ei n e zugehörige Kontinuität der Transkriptions praxis, von der Wiesinger (1964 b) i m einzelnen nachgewiesen hat, daß sie bis i n die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht, also die junggrammatische Kulmination der historisch - vergleichenden Sprachwissen schaft einschließt. Komplementär war nun das Nebeneinander von frühem Strukturalismus und historisch - vergleichender Sprachwissenschaft al lenfalls scheinbar, und ähnlich wird sich das Verhältnis von monotypem zu diakritischem System nicht als komplementäres halten lassen. Blendete diese die aktuel l e Funktion der lautlichen Einheiten aus, fehlte jenem ein effektiver Variantenbegriff. Noch die Varianten der Prager Schule sind von der vorstehend erwähnten defensiven Bestre bung abhängig, den vermeintlichen Wild wuchs der lautlichen Substanz auf das zur Fundierung der Sprachstruktur unumgängli che Maß zurechtzustutzen; Zwirners Auseinandersetzung mit Trubetzkoj im Zeichen der Lautklasse hat gezeigt, welches kategoriale Vakuum gelassen wird, wenn das Problem der Phonemrealisierung von der Linguistik an die Experimentalphonetik delegiert wird. Das als monotyp charakterisierte Internationale Phonetische Alphabet kam denn auch nicht ohne modifizierende diakritische Zeichen aus. Wären die häufigsten Verwendungen — zumindest i m deutschen Sprachgebiet — nicht tatsächlich auf die Wiedergabe lautlicher Normen beschränkt gewesen, hätte dies zu denken gegeben. Worauf aber bezogen sich die diakri tischen Modifikationen im ‘Teuthonista’ System? Steht eine historisch- geographische Variation der sprachlichen Phänomene gemäß naturhaften (oder naturförmigen) Lautgesetzen im Vordergrund, versucht die Transkription auf ein absolutes Bezugssy stem zurückzugreifen, das historische oder geographische Distanzen zu messen gestattet. Es trifft den Kern dieser Intention, wenn Wiesinger (1964 a, 48) Erfordernisse der Erfassung lautlicher Unterschiede an Dia lektgrenzen als Argument geltend macht, das den Ausschlag zugunsten eines diakritischen Transkriptionssystems geben soll. Hier wiederum ist zu bezweifeln, ob allfällige Varianten tatsächlich auf absolut- naturhafte Grö-
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
588
ßen bezogen werden können. Es ist, mit anderen Worten, zu fragen, ob jemals auf einzelsprachliche Bezugssysteme als Voraussetzung für Konzepte lautlicher Variation und ihrer Wiedergabe im phonetischen Text verzichtet werden kann — sei die Perspektive nun systemimmanent oder kontrastiv. (4) Das Variantenproblem ist mit der vorstehenden Feststellung nicht erledigt, denn bekanntlich ist das einzelsprachliche System eine Abstraktion. Sie relativieren, heißt nicht, zur naturhaften, absoluten Referenz der Transkriptionszeichen zurückkehren, sondern führt auf jeweils wiederum systemhafte Regulative sprachlicher Verständigung — nach Maßgabe der Sprecherindividualität (‘Idiolektsysteme’ im Sinne von Lieb 1970 und Lieb 1977) oder der Situation in einem selten einfachen Sinne. Kombiniert man diese systemhaften Bezüge der wiederzugebenden Ereignisse mit den diversen Aufgaben nicht - orthographischer Transkription — dialekt- oder soziolektbezogene Quer- oder Längsschnittuntersuchungen, Klassifikation zu Zwecken der Messung am Sprachsignal —, gelangt man an einen Punkt, wo die überkommenen Lautschriften, alphabetisch oder nicht, diakritisch oder monotyp, nur noch eingeschränkt als Transkriptionssy steme anzusprechen sind. Demgemäß hat es Richter (1973, 19) zur „Aufgabe des Bearbeiters eines Textes“ erklärt, „aus den Grundzeichen und Zusatzzeichen des IPA(G) ein seinen Intentionen angemessenes Inventar von Text z eichen zusammenzustellen“. Für sein IPA(G) genanntes Inventar, dessen über zehnjährige dialektologische Bewährung in der „Lautbibliothek der europäischen Sprachen und Mundarten PHONAI, deutsche Reihe“ (vgl. Knetschke/Sperlbaum 1967) man heute konstatieren darf, kann er nicht mehr die Eigenschaften einer Sprache mit identischer Referenz und Kombinierbarkeit ihrer Elemente beanspruchen; das IPA(G) bildet lediglich einen ‘limitativen’ Rahmen für beliebig viele mit diesem Rahmen kompatible Transkriptionssysteme.
Wagener 1981). Angesichts etwa der Möglichkeit einer Zuordnung von Internationalem Phonetischem Alphabet (IPA) und „Teuthonista“ - Lautschrift zu verschiedenen sprachwissenschaftlichen Traditionen mag es naheliegen, das IPA ein enges, das „Teuthonista“ - System ein weites Transkriptions system zu nennen. Doch schon aus Gründen eines kontrol l ierten Sprachgebrauchs, also durchaus abgesehen von der faktischen Verwendung beider Systeme, kommen Aussagen über Enge oder Weite den Umschriften als den Ergebnissen des Transkribierens zu, nicht den Systemen. Mag die angedeutete Zweck - Mittel - Beziehung auch auf eine Kanalisierung der Eigenschaften von Transkriptionen hinauslaufen und mögen die Systeme auch als Niederschlag ausgespro chener oder unausgesprochener Transkrip tionstheorien gelten können — die Theorie des Transkribierens im Kontext wissen schaftlichen Arbeitens ist vorrangig und derart die analytische Trennung von Aussagen über Umschriften und über Systeme notwendig. Dies gesagt, kann unbeschadet der Priorität des Transkribierens mit einer Darstellung der Systeme begonnen werden, was den Vorteil der Praxisnähe und des Realismus hat: Wer transkribieren will, greift nach einem vorgefundenen Kanon. In welcher Gesin nung das geschehen sollte, wird im Abschnitt 3, „Transkribieren als wissen schaftliche Arbeit“, zu erörtern sein. Wir wollen unter einem Transkriptionssystem eine Reihe von Zuordnungen einer mindestens eingliedrigen Kette graphischer Symbole zu mindestens einer sprachlichen Repräsentation eines ‘Bündels’ — sc. quasigleichzeitig auftretender — lautlicher Eigenschaften verstehen; diese Zuordnungen mögen gewisse Bedingungen der Eindeutigkeit erfüllen und mit einem gewissen Verbindlichkeitsanspruch versehen sein. (‘Gebrauchsanweisungen’ und marginale Konventionen lassen wir zunächst unbe rücksichtigt.) Beispiel
2.
Transkriptionssysteme
Der problemgeschichtliche Überblick hat gezeigt, daß zwischen der Tätigkeit des Transkribierens und den systematisierten Mitteln zum Zweck dieser Tätigkeit ein enger Zusammenhang besteht (vgl. auch
Sprachliche Repräsentation Graphische eines Bündels lautlicher Eigen- Symbolschaften kette stimmloser labiodentaler f Reibelaut stimmhafter labiodentaler v Reibelaut
1:
34. Darstellung und Verwendung verschiedener Transkriptionssystemeund -methoden
Beispiel 1 stellt den Ausschnitt eines möglichen Transkriptionssystems dar. Einfach heitshalber betrachten wir nur Symbole, d. h. strenggenommen den Grenzfall eingliedriger Symbolketten. Nicht vorausgesetzt wird, daß z. B. die Eigenschaft der Stimmhaftigkeit merkmalhaft in der maßgeblichen Sprach struktur ist. Es hieße das Transkriptionssystem überfordern, ließe man auf seiten der gebündelten lautlichen Eigenschaften die Spezifizierung ‘sprachliche Repräsentation’ fort, denn eine unmittelbare Zuordnung von Symbolen zu Eigenschaften würde den Verbindlichkeitsanspruch des Systems auf ein unpraktikables Maß ausdehnen: auf die ohren oder instrumentalphonetischen Ver fahren zur Bestimmung einerseits von Bilabialität oder Stimmhaftigkeit, andererseits von deren Gleichzeitigkeit, ferner auf die implizit mathematischen Verfahren der Bildung von Klassen gleichartiger Fälle. Die graphischen Symbole ersetzen also ausführlichere Beschreibungen durch kurze. Im allgemeinen sind Transkriptionssysteme am Ideal einer umkehrbar eindeutigen Zuordnung der beiden sprachlichen Repräsentationen zu einander ausgerichtet. Doch stehen nicht selten diverse graphische Symbole für die Repräsentation eines Eigenschaftsbündels zur Verfügung (vgl. die IPA - Konventionen zur Bezeichnung der Behauchung von Konsonanten); hiermit ist immerhin die Dekodierung der graphischen Symbole verbindlich festgelegt. Ist ein graphisches Symbol mehr als einer Repräsentation von Eigenschaftsbündeln zugeordnet (vgl. die verbreitete Anwendbarkeit von t auf alveolare wie auf dentale Verschlußlaute), kann die Umschrift trotz verbindlicher Kodierung ceteris paribus mehrdeutig für den Leser ausfallen. Diakritische Spezifizierungen von ver gleichsweise allgemein bestimmten graphi schen Symbolen können ein Mittel sein, Eindeutigkeit herzustellen. Dies ist einer der Gründe dafür, daß wir für die Kurzbeschreibungen den Status von Symbolketten reklamiert haben. Offensichtlich unterscheidet sich die Kettenbildung kraft des Transkriptionssystems von der Verkettung solcher Ketten zum Text. (Man beachte jedoch den Begriff des Quasi-Textes in Richter [1981].) Der allgemeine Rahmen zeigt bei vor findbaren Transkriptionssystemen eine unterschiedliche Ausgestaltung. Wir können versuchen, dieser Differenzierung beizukom-
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men, indem wir i n existierenden Systemen die Pole einiger binärer Merkmalsdimensionen identifizieren. Wenig aussichtsreich erscheint demgegenüber der Versuch, die Systeme als ganze in das Gefüge der Dimensionen einzuordnen, denn weder bilden die Transkriptionssysteme reine Typen noch unsere Dimensionen mehr als einen Kompromiß zwischen empirischen Hin oder Rücksichten und absoluter Systematik mit vielleicht fatalen kombinatorischen Konse quenzen. 2.1. Alphabetizität (analphabetisch — ‘alphabetisch’) Von dem Phonetiker Otto Jespersen sind zu Zwecken phonetischen Transkription sog. analphabetische Zeichen vorgeschlagen worden. Nach der Darstellung in Jespersen (1904) ergibt sich Beispiel 2: Sprachliche Repräsentation eines Bündels lautlicher Eigenschaften a) Unterlippe als artikulierendes Organ, obere Schneidezähne als Artikulationsstelle, Verweilen i n der Stellung; offene Glottis b) wie vorstehend, doch mit Stimmbeteiligung
Graphische Symbolkette α1c.
ε3. α1c. ε1
Lateinische Buchstaben [...] bezeichnen die Artikulationsstellen [...] Griechische Buchstaben [...] bezeichnen die artikulierenden Organe [...] Zahlzeichen [...] bedeuten Grad und Form der Öffnung [...] Punkt bzw. Doppelpunkt (. oder ..) bedeutet Verweilen in der Stellung, [...] Strich (—) bedeutet Bewegung oder Gleiten [...]; wird die betreffende Stellung nicht erreicht, so wird das durch (bezeichnet [...] (Jespersen 1904, nach der Faksimile - Wiedergabe in Tillmann/Mansell 1980, 91.)
Wie ein Vergleich von Beispiel 1 mit Beispiel 2 zeigt, können ‘alphabetische’ — d. h. nicht in Jespersens Sinne analphabetische — Notationen auch analphabetisch ausge drückt werden. Das gleichsam tabellarische Arrangement der Symbole mit einer Zeilenordnung, die der Situierung der artikulierenden Organe in der Mundhöhle folgt, läßt sich unschwer als Kette auffassen — ganz entsprechend der Auflösung von ligaturartigen oder mit Hilfszeichen in horizontaler und vertikaler Anordnung versehenen IPASymbolen in Sequenzen, wie in Richter
590
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
(1973) zu EDV- Zwecken durchgeführt. Der Behauptung einer Ausdrückbarkeit analpha betischer Notationen mit ‘alphabetischen’ Mitteln scheint entgegenzustehen, daß Jespersen, wie zitiert, Konventionen für die mehr oder weniger große Flüchtigkeit und Vollständigkeit der Artikulationen vorsieht. Zwar darf nicht übersehen werden, daß ‘alphabetische’ Systeme wie das Internationale Phonetische Alphabet ein beträchtliches Potential zur Wiedergabe feinkörnig - prozes sualer Aspekte der Artikulation aufweisen, das Richter (1973) mit seiner ‘German version’ dem IPA(G), zu aktivieren sucht. Doch Jespersens System ist ein ausgeprägter Vertreter der „organischen“ Richtung in der Geschichte der Transkription, sein Subtilitätsanspruch global, nicht regional oder lokal nach Maßgabe empirischer Besonderheiten (z. B. häufiger sekundärer Artikulationen wie Labialisierung, Palatalisierung, Velarisierung). Mit jenem Anspruch wie derum dürfte zusammenhängen, daß sich die analphabetischen Zeichen nicht durchsetzen konnten. Auch wenn analphabetisch von Fall zu Fall subtilere Einzelnotationen möglich sind als ‘alphabetisch’, erscheint doch zweifelhaft, ob auch nur eine verläßlichere, validere oder endgültigere Transkription natürlicher Sprache Ergebnis der Benutzung analphabetischer Zeichen war, sei ihr Gegenstand nun eine auditiv wahrgenom mene fremde oder ei n e auch kinästhetischtaktil wahrgenommene eigene Äußerung gewesen. Was mit analphabetischen Mitteln vergleichsweise gut und doch nicht erschöpfend gelingen dürfte, ist die quasi digitale Wiedergabe der Information von Röntgenfilmen. Im Rahmen einer sonst voll mit der unseren kompatiblen Argumentation billigen Tillmann/Mansell (1980, 95 f.) Transkriptionen mit analphabetischen Zeichen gute Chancen bei der Selbstbeobachtung zu. Mir scheint zwischen auditivem und kinästhe tisch - taktilem Modus kein erheblicher Unterschied in der Problematik zu bestehen, Beobachtungen schneller und dabei unwiederholbarer Äußerungen auf Begriffe zu bringen. Vor unsere Funktion als Analogrechner haben die Götter das bündelnde Urteil gesetzt. 2.2. Kategorialität (auditiv — artikulatorisch)
Die Frage der Leistungsfähigkeit der analphabetischen Zeichen von Jespersen wäre leicht zu entscheiden gewesen, stände deren entschieden auf Artikulationsvorgänge zugeschnittenem System eine auditive Alternative gegenüber. Man hätte dann geltend machen können, daß die Artikulation wegen des Dazwischentretens von Fremd- oder Selbstwahrnehmung gar n icht unmittelbar zugänglich sei, derart daß auf seiten des Bündels lautlicher Eigenschaften tunlichst gar keine artikulatorischen, sondern perzeptive, vor rangig auditive Ausdrücke vorkommen müßten. Nun sind solche Zuordnungen möglich, etwa Beispiel 3: Sprachliche Repräsentation eines Bündels lautlicher Eigenschaften sehr hohe Tonlage im Bezugssystem der Stimmlage eines Sprechers
hohe Tonlage wie vorstehend
Graphische Symbolkette — obere Hilfslinie auf handelsüblichem Notenpapier ≙ Stufenzahl 6 — oberste Notenlinie auf handelsüblichem Notenpapier ≙ Stufenzahl 4
Daß jedoch das Beispiel der suprasegmentalprosodischen Sphäre entstammt (Richter 1964), kommt nicht von ungefähr. Die gleichsam musikalische Gestalt der Rede gehört zu der Weise, wie die Rede i n erlebter Zeitlichkeit perzeptiv gegeben ist; die zugehörigen Phonations und die zugehörigen akustischen Übertragungsmechanismen ent ziehen sich sehr weitgehend auch einer — nicht instrumentell bewirkten — mittelbaren Erfassung. Demgegenüber sind Lautseg mente ‘Inhalt’ der Wahrnehmung nicht als zeitliche Abschnitte, sondern als Qualitäten ohne eindeutige lineare Ordnung, und sie erlangen den Status von aufeinanderfolgenden Segmenten erst durch einen Rückgriff auf zugrunde l iegende Artikulationsvor gänge; über diese können wegen der kinästhetisch - taktilen Explorierbarkeit der eige nen Mundhöhle wenigstens Hypothesen aufgestellt werden. Bei den gebräuchlichen Systemen für segmentale Transkriptionen treten deshalb auf
34. Darstellung und Verwendung verschiedener Transkriptionssystemeund -methoden
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der linken Seite unseres Zuordnungsschemas artikulatorische Ausdrücke auf, auditive dagegen bei Systemen oder Teilsystemen (so der entsprechenden Komponente des IPA) für suprasegmentale Transkriptionen. Ver fahren und Probleme der suprasegmentalen Transkription behandeln Ehlich/Rehbein (1981) und Winkler (1981 a). Daß segmentale und suprasegmentale Transkriptionen in der Regel auf dem Abhören von Äußerungen beruhen, ist eine Angelegenheit des (gleichen) Erfassungsmodus, nicht der (verschiedenen) Kategorialität (vgl. Richter 1966). Wir kommen auf den Erfassungsmodus noch zurück u n d merken zur Kategorialität hier lediglich an, daß eine wichtige Aufgabe bei der Zusammenstellung leistungsfähiger suprasegmentaler Transkriptionssy steme in der Findung sachgemäßer Metaphern besteht. Die metaphorische Natur der einschlägigen Ausdrücke verhindert ebenso wenig einen direkten Bezug auf Wahrnehmungsgegebenheiten, wie eine verbreitete räumliche Metaphorik in den natürlich sprachlichen Mitteln der Zeitreferenz letz tere zu etwas Uneigentlichem werden läßt. Doch scheinen die Erfordernisse der auditiven Transkription von Redeereignissen gelegentlich Grenzen sichtbar zu machen, die durch abweichende Zielsetzungen der abendländischen Musikpraxis einer Über nahme von deren Beschreibungsmitteln gezogen sind (vgl. etwa Richter 1967 a zur begrenzten Anwendbarkeit der Ausdrücke ‘steigend’ oder ‘fallend’).
modellen aus der Selbstbeobachtung betrifft, machen Vokale größere Schwierigkeiten als Konsonanten. Doch besagen die hierauf reagierenden Ansätze vo n Ungeheuer (1965) und Richter (1973) zur extensionalen, d. h. ohne modal bestimmte Prädikate auskom menden Rekonstrukti o n des vokalischen Bereiches nicht, daß die Verbindung von auditivem Erfassungsmodus und artikulatori scher Kategorialität bei den Vokalen auflösbar wäre. Eine Pointe der mathematisch- topologischen Konstruktion in Richter (1973) ist gerade die Demonstration der Ähnlichkeit eines auf bloßen perzeptiven Verwechslungsmöglichkeiten beruhenden Urteils raums mit der Topographie der Vokalartikulationen in der Mundhöhle — als Bedingung der Möglichkeit, trotz einer relativ wenig prägnanten kinästhetisch - taktilen Eigen wahrnehmung Hypothesen über fremde Vokalartikulationen zu bilden. Die ‘alphabetischen’, kategorial artikula torischen Transkriptionssysteme unterschei den sich in Hinsicht auf mutmaßliche Zwischenräume zwischen den vorgegebenen diskreten Alternativen. Interpolierend seien Systeme genannt, di e ihre Bezugseinheiten (grundlegende vokalische oder konsonanti sche Bildungen) wie auf Skalen anordnen und verschiedene — meist diakritische — Mittel dazu bereitstellen, Werte (solcher Skalen) zwischen den Bezugseinheiten zu notieren.
2.3. Interpolation (interpolierend — nichtinterpolierend [tendential])
Sprachliche Repräsentation eines Bündels lautlicher Eigenschaften „ein offener, sehr breiter unreiner [vokalisch-palataler — H. R.] Laut, dessen Mundstellung zwischen ē und liegt, jedoch dem letzten näher, so daß er mancherorts fast wie ein unreines sehr breites klingt“
Der auditive Erfassungsmodus bei segmentalen Transkriptionen erschöpft sich nicht in seinen durchaus evidenten Gemeinsamkei ten mit der mutmaßlichen Erfindung der Buchstabenschrift. Er schließt darüber hinaus die Beurteilung konkreter auditiver Wahrnehmungen ein, nur beziehen sich diese Urteile gleichsam dekodierend auf die artikulatorische Verursachung des Wahrge nommenen, bleiben deshalb hypothetisch und i n hohem Maße auf ein diskretes Raster vorgegebener Alternativen bzw. aus der Kenntnis der eigenen Artikulation bezogener Modelle angewiesen. Hierin zeigt sich eine Art von intrinsischem Alphabetismus der auditiv vermittelten Beurteilung lautlicher Äußerungen. Was die Beziehbarkeit von Artikulations-
Beispiel 4: Graphische Symbolkette
Das Beispiel, zitiert nach Möhn (1964, 30), entstammt den „Studien zur westfälischen Dialektgeographie im Süden des Teutoburgerwaldes“ von H. Wix (1921) und dient Möhn neben zahlreichen anderen Beispielen zur Darstellung und Dokumentation der Arbeitsweise der Lautschrift des „Teuthonista“. Dieses durchaus flexible System ist in den durch das Beispiel exemplifizierten Zügen
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
wie auch in seinem Selbstverständnis als interpolierend einzustufen. Außergewöhnlich subtile Interpolationen erlaubt vielfach das Transkriptionssystem des Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS), z. B. mit der folgenden Konvention: untergesetzter Punkt für geschlosseneren (‘en gen, spitzen’) Gehörseindruck, untergesetztes Häklein für offeneren (‘weiten, breiten, stumpfen, dumpfen’) Gehörseindruck. Fehlen von diakriti schen Zeichen bedeutet zentralen Gehörseindruck (z. B. e = zwischen ẹ und ę), Doppelsetzung des diakritischen Zeichens extrem geschlossenen (z. B.: ) bzw. extrem offenen (z. B. ) Gehörseindruck (Hotzenköcherle 1962, zitiert nach Möhn 1964, 29).
Trotz den in Klammern angegebenen impressionistisch - auditiven Kategorien ist die kategoriale Hauptdimension ‘offen ge schlossen’ natürlich artikulatorisch; ‘Gehörseindruck’ referiert in unserer Auffassung auf den Erfassungsmodus. Nicht - interpolierend sind demgegenüber in der Tendenz das Internationale Phonetische Alphabet (vgl. “The Principles” 1949 und das Übersichtsblatt “The International Phonetic Alphabet” 1951) und ausgespro chen seine IPA(G)- Variante (Richter [1973], Knetschke/Sperlbaum [1967]). Was das IPA betrifft, finden sich unter den ‘modifiers’ solche mit zugeordneten tendentialen Ausdrükken wie “ lips more spread”, “—or—tongue retracted” und in Verbindung damit Unterscheidungen zwischen Kurzcharakteristik einer Abweichung und Komposition der Kurzcharakteristik einer eigenen Bezugsein heit: The sign — is an alternative to — [...] When it is desired to show in writing that t, d, n are alveolar and not dental, the retraction sign, in the form —, may be placed underneath, thus ṯ, ḏ, ṉ (“The Principles” 1949, 17).
Nachdem Unterschiede in unserer Di mension der Interpolation bei der unter 1 angesprochenen Auseinandersetzung wenig glücklich in Termen des an sich typographischen Gegensatzes ‚diakritisch — monotyp‘ angesprochen worden waren, ist in Richter (1973) eine besondere Klasse von Zusatzzeichen als Tendentiale von eigentlichen Diakritika abgetrennt worden. Wenn es op. cit., S. 28, heißt: „Das Tendential gibt an, daß die Lautbildung auf Grund eines Abhörurteils spezifisch in Richtung auf einen realen oder virtuellen Systemnachbarn abweicht“, so ist das eine Konsequenz der Auffassung, daß beim Transkribieren zwischen diskreten
Bezugseinheiten keine Interpolationen vor genommen werden, wobei aber die Richtung einer von der Bezugseinheit abweichenden Lautung als Tendenz genau beurteilt werden kann. Beispiel 5: Sprachliche Repräsentation eines Bündels lautlicher Eigenschaften gespreizter über-mittelhoher Zentral mit Abweichungstendenz auf [y] runder halbhoher Proversal mit Abweichungstendenz auf [ë]
Graphische Symbolkette +ɔ —c
Das nach dem IPA(G) gebildete Beispiel zeigt, daß ziemlich enge Transkriptionen mit einem nicht - interpolierenden, tendentialen System möglich sind, sollte der Transkribierende derartig fein unterscheiden können. Trema- Verbindungen sind Elemente der Liste der Grundzeichen, was eigene Subtilisierungen ermöglicht. Dabei brauchen sich die Bezugseinheiten nicht auf Phoneme oder auf die Standardvarianten (vgl. Richter 1967 b) eines Dialekts zu beschränken. Nimmt man die Möglichkeit hinzu, durch Symbole mit numerischen Indizes (e1, e2, ...) Bezugseinheiten zu unterscheiden, die von unter sich ähnlichen Bündel n lautlicher Eigenschaften gebildet werden, besteht auch kein Anlaß zu bezweifeln, daß mit einem nicht- interpolierenden System gemäß dem oben zitierten Wiesingerschen Desiderat Unterschiede an Dialektgrenzen effektiv erfaßt werden können. Eine Annäherung an den tendentialen Pol zeigt übrigens das dem “Teuthonista”Bereich entnommene Beispiel 4. Auch [konstatiert] eine verbreitete Teuthonista -Va riante, wie sie etwa von A. Ruoff praktiziert wird, [...] eine Relation zwischen zwei Grundeinheiten und [erkennt] dabei — man vergleiche die Zeichen
und
—
einer
der
Grund-
einheiten Priorität [zu] [...] Verf. verhehlt nicht, daß entsprechende Regelungen des IPA(G) dieser Teuthonista - Praxis verpflichtet sind. (Richter 1973, 66)
Theoretisch allerdings tendieren die interpolierenden Systeme, in sich folgerichtig, dazu, die Grundzeichen selbst Skalenab schnitten und nicht Rasterpunkten zuzuordnen, d. h. ihre Interpolationen in eine umfassende Graduierung einzubetten. Dement -
34. Darstellung und Verwendung verschiedener Transkriptionssystemeund -methoden
sprechend ist in der „Theuthonista“- Darstellung von Möhn (1964) die Rede von ‘Grenz- ’ und von ‘Übergangswerten’, während die Kardinalvokale des IPA (“The Principles” 1949, 4 f.) als punktuelle, in den nicht- extremen Lagen konventionelle Bezugsgrößen eingeführt werden; erst nachträglich werden den Punkten Bereiche zugeordnet, deren unscharfe Grenzen das IPA(G) in der Form mehrfacher Definierbarkeit jeweils einschlä giger Symbole expliziert. Eine weitere Pointe der topologischen Konstruktion von Richter (1973) besteht in dem Versuch, eine Form menschlicher Erfahrungsorganisation unter halb des ‘ordinalen’, doch oberhalb des bloß ‘nominalen Skalenniveaus’ zu erfassen. Mit ihrem Hang zur durchgängigen Graduierung nähern sich die interpolierenden Systeme der Konzeption von Jespersens analphabetischen Zeichen an, was in dem im Abschnitt 1 diskutierten geschichtlichen Kontext nicht wundernimmt. Das IPA(G) bezieht sich mit den eigentlichen Diakritika auf das Hinzutreten/den Wegfall von Eigenschaften zu/von dem Bündel, für welches das unspezifizierte Symbol steht (z. B. Anwesenheit bzw. Abwesenheit von Stimme und von Aspiration). Wir versuchen mit Abb. A eine Einordnung der behandelten Transkriptionssysteme in das Gesamtgefüge der berücksichtigten Dimensionen, die unter dem eingangs von 2 formulierten Vorbehalt steht, also eher akzentuierend denn separierend ist. Bei den nicht ausdrücklich als prosodisch gekenn zeichneten Systemen ist die segmentale Komponente gemeint. Die kleineren, ausgezogenen Pfeile verweisen auf eine Tendenz des betreffenden Systems zum unmittelbaren Nachbarn in der Abbildung; die gestrichelten Pfeile deuten offene Statusfragen an. Für einen Blick auch über den Zaun des hier durchmessenen Territoriums empfiehlt sich das dankenswerterweise im Nachdruck seit kurzem wieder verfügbare Buch Martin Heepes von 1928 (Heepe 1981).
3.
Transkribieren als wissenschaftliche Arbeit
Außer den drei Dimensionen der Alphabetizität, Kategorialität und Interpolation hätte im vorigen Teil dieses Artikels auch die Dimension der Offenheit (geschlossen — offen) eingeführt werden können. Mehr oder weniger strenge Festlegungen fallen i n den Anleitungen zum Umgang mit dem jeweili-
593
gen Zeicheninventar ins Auge. Während wir aber weitgehend vermeiden konnten, die Merkmale der vorgefundenen Systemkon zeptionen im Zeichen der eigentlich relevanten Theorie, der des Transkribierens, anzufechten, führt ein präsumptives Systemmerkmal der Offenheit u nvermeidlich auf deren Gebiet. Anders denn als offenes funktioniert ein Transkriptionssystem überhaupt nicht, als wie geschlossen es sich auch verstehen mag. Transkribieren ist i n aktueller, von der interpretativen Soziologi e inspirierter Sicht Datenkonstitution (vgl. den Sammelband Winkler [Hrsg.] von 1981). I n diesem Rahmen ist kei n e genaue Reproduktion der i m Zugriff der Transkription befindlichen Wirklichkeit zu fordern (sosehr manche Transkriptionsbemühungen gerade in den interpretativen Sozialwissenschaften unter Exhaustivitätszwängen zu stehen scheinen), sondern lediglich ein in sich stimmiger Aufbau des Transkriptionstextes und der Ausschluß von Textabschnitten, die unter der hoffentlich vorhandenen Problem - , Frage oder Aufgabenstellung nicht relevant sind. In der technischen Formulierung von Richter/Richter (1981) wird gefordert, daß der Transkription eine Abbildung einer Menge von Ereignissen in und auf eine Menge von Transkriptionsabschnitten sowie eine Abbildung einer Menge von Relationen zwischen den Ereignissen in eine Menge von Relationen zwischen den Transkriptionsabschnitten zugrunde liegt, wo bei beliebig lange zusammengesetzte Ketten von Formationen [hier: elementaren lautschriftlichen Elementen — H. R.] und Formationskomplexen [hier: graphischen Symbolketten — H. R.] bildbar sind (Text), die sich restlos i n interpretierbare Teilketten zerlegen lassen. Insbesondere scheint es unrealistisch, eine Interpretierbarkeit der einzel nen Formationen des Inventars zur notwendigen Bedingung zu machen.
Es ist hier nicht der Raum, bedeutungstheoretische oder semiotische Fragen zu erörtern; daher verstehe man Ausdrücke wie ‘Interpretation’, ‘Bedeutung’, ‘Zeichen’ möglichst schlicht. Man beachte, daß keine Abbildung a u f die Menge von Relationen zwischen den Transkriptionsabschnitten ange setzt wird. Namentlich aus der technischen Formulierung einer in sich nicht sehr starken Forderung ergibt sich die wohl gerade im Hinblick auf die dialektologische Transkriptionspraxis plausible Überlegung, daß eine teilweise Bedeutungslosigkeit der Systemelemente Voraussetzung dafür ist, eine Tätig-
594
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
Abb. 34.1 : Transkriptionssysteme im Gefüge der Dimensionen 2.1—2.3
keit mit wissenschaftlichem Ad- hoc- Charak ter wie Transkription überhaupt normieren zu können. Man sieht derart von vornherein, wie wenig solche Offenheit auf Vagheit der Festlegungen zurückzuführen ist und wie wenig sie zwangsläufig grobe Transkriptionen zum Ergebnis haben muß. Die partielle Bedeutungslosigkeit der Systemelemente geht bei einem leistungsfähigen Transkriptionssystem mit der Nötigung des Transkribenten einher, die wissenschaftliche Arbeit der Einführung einer verbindlichen Sprache zu übernehmen; je mehr das System hierzu an wohlunterschiedenen definitorischen Al ternativen bzw. an Maximen für unvorhersehbare Innovationen bereitstellt, desto besser nicht nur für die Einheitlichkeit derart ‘limitierter’ Transkriptionen insgesamt, son dern auch für die Subtilität der Transkriptionssprache ad hoc. Wir wollen anhand der ‚Grundsätze‘ des IPA(G) das allgemein - charakteristische Ver fahren bei der Transkription erläutern. Es wird also kein besonderer Rang für diese IPA - Variante beansprucht; die von Möhn (1964) dokumentierte „Teuthonista“ - Praxis hat sich in gleichen Bahnen bewegt, was auch durch unser dieser Praxis entstammendes Beispiel 4 belegt wird. Die IPA(G)Grundsätze unterscheiden zwischen Elementen der Zeichenliste und Textzeichen. Die Zeichenliste enthält Grundz eichen (‘Lautzeichen’ und ‘Grenzzeichen’) sowie Zusatzzeichen (Tendentiale und Diakritika sowie ‘Marginale’; durch letztere wird einigermaßen halbherzig die suprasegmentale Komponente des IPA repräsentiert). Die Definitionen der Inventarelemente sind weitgehend,
bei den Lautzeichen durchgängig, ergän zungsfähige alternative Minimalbestimmun gen. Das Inventar enthält derart lediglich ‘Voraussetzungen von Textzeichen’. Textz eichen entstehen erst aus der Kompetenz und Ad - hoc - Zielsetzung des Tran skribierenden. Dieser führt unter Wahrung des Definitions und Kompositionsrahmens der Zeichenliste als Textzeichen Grund zeichen (also Laut- bzw. Grenzzeichen) oder Kombinations z eichen (Lautzeichen mit Zu satzzeichen) ein. Hierbei erhält das im Abschnitt 2 benutzte Zuordnungsschema ein Maß an Eindeutigkeit, das es als wissenschaftliches Darstellungsmittel qualifiziert und das es im limitativen Inventar noch nicht haben konnte (einmal abgesehen davon, daß die Zusatzzeichen in der Zeichenliste praktischerweise für sich, mit Angabe von einander u. U. ausschließenden Kompositionsmöglichkeiten aufgeführt sind). Da der Begriff des Systems gemeinhin 8eine entsprechende Qualifikation ein schließt, haben wir am Ende von Abschnitt 1 die Neigung zu erkennen gegeben, vorgefundenen Alphabeten, das IPA(G) natürlich keineswegs ausgenommen, den Systemstatus ab- und ihn dafür den Textzeicheninventaren zuzusprechen. Die Auffassung des Verfahrens der Transkription als Aufstellung und Verwendung eines je eigenen Transkriptionssystems aus — einer Rahmenregelung entsprechenden — Textzeichen hat wichtige praktische und praxisbezogene Konsequenzen: — Für die nach wie vor erstrebenswerte Einheitlichkeit eines Thesaurus von Dialekttexten ist die Kommunikation zwischen de-
34. Darstellung und Verwendung verschiedener Transkriptionssystemeund -methoden
ren Autoren unumgänglich. Die Normierung des Transkriptionsrahmens gewinnt damit über den — für Produktion, Rezeption und automatische Verarbeitung — durchaus wichtigen typographischen Aspekt (vgl. Pfeiffer - Rupp 1981) hinaus Bedeutung, indem sie ein kommunikatives Medium für die Abstimmung verschiedener Ad - hoc - Systeme schafft. — Mehr als eine Äußerlichkeit drückt sich in diesem Zusammenhang wissenschaftlicher Kommunikation darin aus, daß die graphischen Symbole in Zeichenlisten (so bei IPA und IPA(G)) links von der sprachlichen Repräsentation (ihrer Vorausset zung!), also umgekehrt zur Anordnung im Abschnitt 2 dieses Artikels stehen. Nach Richter (1973, 26) [unterstellt] die Anlage der Liste, daß sich der Textbearbeiter nach Identifikation eines Eigen schaftskomplexes bereits für eine Notierung ent schieden hat und die Liste lediglich benutzt, um sich zu vergewissern, daß seine Entscheidung zulässig ist.
Diese Beschreibung erhält in sinngemä ßer Anwendung auf die Kommunikation zweier Textbearbeiter, die ihre Systeme aufeinander abstimmen, eine ganz wirklich keitsnahe Lesart. Dem vorgängigen Verfahren bei Aufstellung der Ad- hoc- Systeme ist weit eher die Ordnung von Abschnitt 2 gemäß. Beispiel 6: Nr.
IPA
„Teuthonista“
595
— Konkordanzen oder Übersetzungen zwischen verschiedenen vorgefundenen Sy stemen sind ohne Relativierung auf das Transkriptionsziel und das transkribierte Idiom nicht möglich. Wir können einem verständlichen Interesse des Lesers daher nur in der Weise entsprechen, daß wir, ausgehend von einer besonders elementenreichen In ventarisierung der nhd. Phoneme (Mangold o. J., 104 f.), eine Konkordanz für deutsche Standardlautungen zwischen dem IPA und dem „Teuthonista“- Alphabet als den für die deutsche Dialektologie kruzialen Systemen angeben. Wir benutzen dabei die Anordnungskonvention nach Nummern der Zei chenliste von Richter (1973); bezüglich der Lautungen folgen wir dem Duden - Aus sprachewörterbuch (1974); i nsofern ist etwa die Schreibung der Diphthonge Ausfluß einer Ausspracheregelung, nicht einer Nor mierung der Transkription. Die „Teuthonista“ - Zeichen entstammen der Version von 1924 (Möhn 1964, 21 f.).
4.
Literatur (in Auswahl)
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WortbeiNr. spiel nach Mangold i: biete 1(&106) 23&106 y: 3 Güte 29 ǖ I bitte 30 5 8 Y Bütte 30&41&106 gute 10 u: ū 30&106 11 e: ē bete 14 ø: böte 29,3 ȫ ʊ Butte 30,1 16 17 ǝ ǝ mache 30,10 18 ε ę bette 60 Teint 18&41 : 61 n ε: bäte 18&106 64 21 œ dörren 85 Parfum 44,60 21&41&106 : n Fond 23&41&106 õ: 45,61 ōn Übereinstimmend: p, b, t, d, k, g, f, v, s, z, j, x, h, l, r, m, n; pf, ts
IPA
„Teutho- Wortbeispiel nista“ nach Mangold
o: ɔ a ã: a:
ō ǫ α ān ā
Bote Bottich Matte Franc baten
ɔy ai au ʃ ʒ ç ŋ tʃ dʒ
ǫü αi αu š ž χ η tš dž
Mäuler Meile Maul Asche Genie Charis Rang Tscheche Gin
596
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
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34a. Probleme der phonetischen Transkription
Winkler 1981 a = Peter Winkler: Notationen paralinguistischer Phänomene. In: Zeichenkonsti tution. Akten des 2. Semiotischen Kolloquiums Regensburg 1978. Hrsg. v. Annemarie Lange Seidl. Bd. 2. Berlin. New York 1981, 120—128. Winkler 1981 b = Methoden der Analyse von Face - to - Face - Situationen. Hrsg. v. Peter Winkler. Stuttgart 1981.
597
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Helmut Richter, Berlin (West)
34a. Probleme der phonetischen Transkription 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Transkription Historische Aspekte Transkriptionssysteme Transkriptionsprobleme Automatische Transkription Literatur (in Auswahl)
Transkription
In eine schriftliche Form kann fast alles gebracht werden: akustische Signale (Sprache, Musik, Umweltschall im allgemeinen), Gedanken, Gefühle, Gesten, Bewegungen, Zustände, Prozesse aller Art. Über Beschaffenheit, Grenzen und Nutzen einer schriftlichen Fixierung all dieser Erscheinungen kann man philosophisch wie gefühlsmäßig (aber eher auf beide Arten) streiten. Eine erste schriftlich fixierte Kritik am Nutzen von Schrift ist bekanntlich in Platons Phaidros (Kap. 59 f.) zu finden, wo ihre Funktion, an Vergangenes oder Vergessenes zu erinnern, thematisiert und relativiert wird. Der Umwandlung wahrgenommener oder erfaßter Wirklichkeit in irgendeine Art von Schrift können wir uns aber in unserer Kultur nicht entziehen. In der Phonetik entwickelte sich seit den Anfängen unseres Jahrhunderts eine besondere Schrift, die ermöglichen sollte, jedes wahrgenommene Lautsegment einer lautsprachlichen Äußerung durch ein Symbol oder einen Symbolverbund darzustellen, dem (im Prinzip) ein und nur ein Artikulationsmuster entspricht. Für diese artikulatorisch definierte Schrift bürgerte sich der Ausdruck “Transkription” ein. Das steigende Interesse von Psychologie, Kommunikations und Sprachwissenschaft an aktuellen Kommunikationssituationen führte bei Übernah me dieses Ausdrucks zu einer Ausweitung des Begriffes auf die Notation von Ge-
sprächsverläufen, Gesichts -, Körperaus druck usw. Ein erstes und berühmtes Beispiel “mikroskopischer Gesprächsanalyse” wurde im Jahr 1960 von Pittenger, Hockett und Danehy unter dem Titel The First Five Minutes vorgestellt. In dieser Arbeit benutzen die Autoren für die Transkription der lautsprachlichen Äußerungen das allgemein anerkannte, aber noch nicht überall verwendete System der Association Phonétique Internationale. Eine phonetische Transkription scheint jedoch nicht für alle Zwecke nötig zu sein, denn Ehlich/Rehbein (1976) berichten über “halbinterpretative Arbeitstranskriptio nen”, bei denen die Rechtschreibung die Grundlage für Segmenttranskription bietet, und zwar derart, daß auch Auslassungen, Verschleif und dialektale Erscheinungen mit an die Orthographie angelehnten oder in ihr zugelassenen Methoden wiedergegeben werden (zu weiteren kommunikationsanaly tischen Verfahren vgl. Henne/Rehbock 1979). Wir wollen hier ausschließlich auf die Probleme der phonetischen Transkription, sprich der Transkription lautsprachlicher Äußerungen mittels artikulatorisch definier ter Symbole eingehen, schreiben aber der Einfachheit halber nur Transkription oder gelegentlich Notation (zu beiden Termini vgl. Heike 1964, 1967). Wir beschränken uns hierbei auf die Notation von Segmenten (zur suprasegmentalen Notation vgl. Léon/Mar tin 1970, Wunderli et al. 1978, Ehlich/Rehbein 1979; zu suprasegmentalen Aspekten des Deutschen vgl. in diesem Band den Artikel von Heike, Isačenko/Schädlich 1970, Stock 1980). Zur hier verwendeten Terminologie sei angemerkt, daß wir im folgenden den Ausdruck “Produktion” (bzw. “produktorisch”) für den aus Luftstromversorgung, Phonation und eigentlicher Artikulation be-
598
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
stehenden Komplex (vgl. Catford 1970) verwenden, der Ausdruck “Artikulation” (bzw. “artikulatorisch”) kommt in diesem eingegrenzten Sinne selbstverständlich weiterhin vor. Allgemein betrachtet, besteht Schrift darin, daß für ungefähr konstante “Ideen”, “Silben” oder “Laute” ebenfalls ungefähr konstante graphische Zeichen zur Darstellung benutzt werden. Transkription ist nun insofern eine besondere Sorte Schrift, als sie einen Versuch darstellt, so nahe am Gesprochenen zu bleiben wie nur möglich, während Schrift bereits ein Kristallisationsmoment von Ideen- , Silben- oder Lautdarstellung ist und selten das tatsächlich Gesprochene wiedergibt. Anders ausgedrückt: Mit Schrift assoziiert man in der Regel die Rechtschreibung, wogegen Transkription eine Art Lautwiedergabe durch Umsetzung von Hörein drücken in visuelle Muster, sprich schriftliche Symbole, darstellt. Normalerweise er scheint dem Laien die Transkription gerade nur als die Beherrschung von bestimmten Symbolen, die der lateinischen Schrift stark angenähert sind und eine “Lautschrift” (die deutsche Bezeichnung für die Association Phonétique Internationale, nämlich Weltlautschriftverein, betont auch gerade diesen Aspekt) sein sollen. Es handelt sich hierbei um eine verfehlte Ansicht, denn zwischen dem Gesprochenen und seiner transkripti ven Darstellung liegen viele Vermittlungsstufen, die keineswegs erlauben, die Fähigkeit zur Transkription sowie ihren Vorgang so trivial zu beschreiben. 1.1. Vom Gesprochenen zum Transkribierten In einer “normalen” Kommunikationssitua tion achten wir vornehmlich darauf, was gesagt wird. Bei der Transkription geht es nicht darum zu verstehen, was jemand sagt oder sagen will, sondern darum, zu erfassen und zu beschreiben, wie er es gesagt hat. Die Vermittlungsstufen vom Gesprochenen des anderen bis zum eigenen Transkript kann man etwa wie in Abb. 34 a. 1 schematisieren. Aus dieser Abbildung wird ungefähr ersichtlich, was für Vermittlungsstufen angesetzt werden können und welche Fertigkeiten der Transkribent benötigt: (1) ein trainiertes Gehör zusammen mit der Fähigkeit (2), das Gehörte nachzuahmen und (3) sich seiner eigenen Nachahmung körperlich bewußt zu werden; erst am Ende (4) braucht er ein System von Symbolen, mit denen er seine Empfindun-
Abb. 34 a.1: Vermittlungsstufen in der Tätigkeit der Transkription
gen am eigenen Sprechwerkzeug wiedergibt. Diese Erkenntnis ist für das Verständnis dessen, was Transkription ist, und für eine nüchterne Einschätzung ihrer Grenzen und Fehlerquellen sehr wichtig. In ihrem Licht betrachtet, stellen die Transkriptionssymbole eine Art Chiffre oder Abkürzung für die vom Transkribenten bereits geleistete Lautbe schreibung dar, und ihre Beschaffenheit ist “zweitrangig” (vgl. u. 3.). 1.2. Störungsquellen und Leistungsgrenzen Stellen wir anhand des Schemas in Abb. 34 a. 1 weitere Überlegungen bezüglich möglicher, bei der Transkription vorkom mender Störungen an, so liegt die Vermutung nahe, daß diese bei vorausgesetzter guter Übertragungsqualität des Signals und “normaler” Hörfähigkeit des Transkribenten ihren Ursprung wohl zunächst einmal in den Instanzen der Lautperzeption und der Lautproduktion desselben haben. Die trivialste Erfahrung in Hinsicht auf solche Störungen bezieht sich auf das Erlernen einer Fremdsprache: Bei der Perzeption entstehen Verständnisprobleme, solange die sprachspezifischen Hörstrategien noch nicht entwickelt sind; bei der Produktion macht sich der Fremdakzent bemerkbar, solange die sprachspezifischen Sprechmuster noch feh len, d. h. es werden zunächst einmal die ungeeigneten Hörstrategien und Sprechmuster der Erstsprache benutzt. Dies drückt die in der kontrastiven Linguistik übliche Meta pher der Erstsprache als Sieb oder Raster ebenfalls aus. Bezüglich der Perzeption müssen wir zwei grundlegende Funktionen betrachten: zum einen die der I d e n t i f i k a t i o n, zum anderen die der D i s k r i m i n a t i o n. Identifika-
34a. Probleme der phonetischen Transkription
tion ist die vorherrschende Aufgabe des Hörers in der “normalen” Kommunikationssituation, und im Hinblick darauf haben bereits frühe Experimente der Haskins Laboratories (vgl. Forschungsüberblick bei Strange/Jenki n s 1978) gezeigt, daß Sprachperzeption kategorisch (categorical) ist, d. h. Lautunterschiede werden innerhalb des Realisationsbereichs eines Phonems schwer, an Phonemgrenzen jedoch leicht wahrgenom men. Realisationsbereich und - grenzen der Phoneme sind sprachspezifisch definiert, d. h. die Wahrnehmung derselben Stimuli führt bei Hörern mit verschiedenem sprachlichem Hintergrund zu verschiedenen Identifikationen, wenn in ihren jeweiligen Sprachen (oder Dialekten) sich scheinbar entsprechende Phoneme verschiedene Phonem grenzen aufweisen oder sich durch zusätzliche Merkmale unterscheiden (vgl. Miyawaki et al. 1975; vgl. auch Bieritz 1974, Künzel 1977). Die Fähigkeit der Diskrimination entspricht eher der Situation des Beobachters beim Transkribieren: Es geht darum, möglichst kleine Unterschiede zu bemerken. Auf Diskrimination angelegte Experimente ha ben ergeben, daß es auch innerhalb des Realisationsbereichs eines Phonems möglich ist, Unterschiede zu perzipieren. Für Vokale wurden die Unterscheidungsschwellen für Formantabweichungen untersucht, wobei festgestellt werden konnte, daß Unterschiede von etwa drei bis fünf Prozent von F1 und F2 die kleinsten wahrnehmbaren sind (vgl. Flanagan 1955, Laver 1965). Dies entspricht etwa 1/6 bis 1/4 des Abstandes zwischen den Formantmittelwerten benachbarter deut scher Vokale; Zuverlässigkeit der Hörerur teile wird etwa bei der Hälfte dieses Abstandes erreicht (Schätzungen anhand der ermittelten Formantwerte in Almeida 1978, 80 ff.). Für Konsonanten ist die Fähigkeit zur Diskriminierung innerhalb der Phonemgrenzen ebenfalls festgestellt, jedoch weder systematisch beleuchtet, noch in ähnlicher Weise quantifiziert worden (vgl. Sinnott et al. 1974). Der Einfluß des sprachlichen Hintergrundes des Hörers auf seine Diskriminationsleistung ist bisher kaum geprüft worden. Ein wichtiger Faktor bei der Sprachperzeption ist die Sprecheradaptation, bei der einzelne Äußerungen eines Sprechers in den Rahmen seines produktorisch - akustischen Raumes gestellt werden. Ladefoged/Broad bent (1957) konnten feststellen, daß derselbe (synthetische) Stimulus verschiedentlich (z. B. als engl. bet oder bit) verstanden wur-
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de, je nachdem, welche Formantenstruktur der vorausgehende Satz aufwies. Seit langem ist diese Fähigkeit zur Adaptation für die Sprechergruppen Kinder, Frauen, Männer bekannt (Peterson/Barney 1952). Lindner (1976) fand heraus, daß die Perzeption der Vokallänge im Deutschen relativ zur Dauer aller Vokalsegmente derselben Äußerung geschieht (vgl. auch Janson 1979). Die Interpretation des Inhaltes einer Äußerung kann ebenfalls auf Grund einer sich einstellenden phonetischen Erwartung zum Hören nicht vorhandener bzw. zum Überhören vorhan dener Segmente oder Merkmale führen (vgl. Oller/Eilers 1975, Lindner 1967). Grundsätzlich ist hier anzumerken, daß die oben erwähnten Ergebnisse in einer Laborsituation, meist mit sauberem Einzellautoder Silbenmaterial, entstanden, während wir es im allgemeinen mit zusammenhängender Rede zu tun haben. Auch werden hier und da in der phonetisch - phonologischen Literatur Unterscheidungen getroffen, die später nicht wieder aufgenommen werden, und bezüglich derer wir nur Zweifel oder Unkenntnis haben. Trubetzkoy (1958, 139) unterscheidet z. B. unter den Überwindungsartkorrelationen Zweiten Grades die Spannungskorrelation (Fortes/Lenes) von der Druckkorrelation (schwer/leicht) und der Aspirationskorrelation (Aspirata/unaspi riert), aber Jakobson/Fant/Halle (1951, 38 f.) führen nur die Entsprechung zur Spannungskorrelation auf und gehen davon aus, daß Fortes wie Lenes konkomitant aspiriert sein können. Chomsky/Halle (1968, 325 f.) trennen zwar beide, kennen aber keine Entsprechung zur Druckkorrelation. Wenn wir nun sämtliche angesprochenen Störfaktoren in Betracht ziehen, so müssen wir in der Tat davon ausgehen, daß bei mehreren Transkriptionen derselben Äußerung Abweichungen unumgänglich sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Transkriptionen mehrerer Transkribenten mit verschiedenem oder ähnlichem sprachlichem Hintergrund oder um Transkriptionen eines einzelnen Transkribenten zu verschiedenen Zeitpunkten handelt. Variation ist eine Konstante bei der Sprache, und sie kommt produktions wie perzeptionsseitig, inter- wie intraindividuell vor. In diesem Zusammenhang sollte man noch darauf hinweisen, daß selbst der scheinbar umgekehrte Fall von gleichen Transkripten mehrerer trainierter Hörer keine Gewähr für die “Richtigkeit” der Transkription bietet, weil
600
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
fast gleiche akustische Ergebnisse von doch verschiedenen Sprechmustern hervorgerufen werden können. Es ist dies ein Phänomen, das in der Phonetik unter der Bezeichnung “Kompensation” bekannt ist. Die oben getroffene Unterscheidung zwischen Identifikation und Diskrimination kann helfen, den Unterschied zwischen breiter (weiter) und enger Transkription deutlicher zu sehen. Eine breite Transkription kann grob mit der Aufgabe der Identifikation gleichgesetzt werden und setzt die Kenntnis von zu identifizierenden Einheiten eines Lautinventars voraus. Die enge Transkription versucht, Kleinstunterschiede in nerhalb der kontinuierlichen phonetischen Parameter ausfindig zu machen. Breite Transkription ist phonologisch und gewissermaßen normativ, enge Transkription ist phonetisch und stellt eine Entdeckungsprozedur dar. 1.3. Verbesserung von Transkriptionsleistungen In Anbetracht des im vorigen Abschnitt angedeuteten Auftretens von intra- wie interindividuell abweichenden Transkriptionen stellt sich natürlich die Frage nach den Möglichkeiten, solche Abweichungen einzugren zen oder zu verringern. Diesbezüglich gibt es aber keine Lösung, die allen Forschungszwecken angemessen wäre. Für die Transkription von Vokalen schlägt z. B. Heike (1964, 1967) die Verwendung eines lautlichen Bezugssystems vor: Er hat “absolute” und “relationelle” (d. h. ohne bzw. mit Verwendung eines solchen Systems) Transkriptionen durchgeführt und miteinander verglichen, wobei die Ergebnisse “relationeller” Transkriptionen in vieler Hinsicht günstiger, nämlich untereinander sowohl intra wie auch interindividuell kohärenter waren und eher den Ergebnissen von akustischen Messungen entsprachen. Wenn aber die gestellte Aufgabe darin besteht, ein umfangreiches Korpus von Sprachaufnahmen zu transkribieren, erlaubt die zu leistende Arbeit keineswegs den ständigen Abruf von Bezugslauten, selbst wenn diese von einem eigens dafür konstruierten Apparat bequem geliefert werden könnten. Auch ist anzumerken, daß nach unserer Erfahrung die größeren Probleme nicht in den — natürlich auch auftretenden — abweichenden Transkriptionen von Vokalqualitäten, sondern in der Silbenund Lautsegmentierung sowie in der Nach-
vollziehbarkeit von Vokallänge, von di phthongierten Vokalen und von Diphthongen sowie auch i n der Diskriminierung bestimmter Merkmale von Konsonanten (vor allem Stimmhaftigkeit, Gespanntheit, Plo sion/Affrikation/Friktion/Aspiration) lie gen (vgl. u. 4.2.). Im Falle einer umfangreichen Untersuchung kann die Arbeit nicht von einer Person allein, sondern muß von einer Gruppe bewältigt werden. I n einer solchen Gruppe muß die Kenntnis der Unumgänglichkeit von abweichenden Transkrip tionen in ein verschärftes Problembe wußtsei n umgesetzt werden derart, daß durch Diskussion individueller Transkriptionen eine kausale Bestimmung der Unter schiede erreicht wird, d. h. die verschiedenen Transkriptionsleistungen müssen auf koope rativem Wege rational durchleuchtet, kon struktiv überprüft werden. Man kann aber vielleicht allgemein sagen, daß jedes wissenschaftlich verwertbare Transkript von mindestens zwei ausgebildeten Transkribenten angefertigt werden muß, die die Probleme erfassen, ihre unterschiedlichen Transkrip tionen thematisieren und einen allgemeinen sowie einen sprecherspezifischen Kommen tar zu ihren Transkripten abgeben. Für die Weiterentwicklung und Schär fung der Hör - und Sprechfähigkeiten des einzelnen Transkribenten empfiehlt sich (unter Voraussetzung einer elementaren phonetischen Ausbildung), das Verständnis der Lautklassifikation nach Kriterien der Lautproduktion als aus unabhängigen Parame tern bestehendes Raster derart auszunutzen, daß “parametrische Sprechübungen” ge macht werden. Was die Vokale betrifft, so kann man sich ihre Produktion wie einen
Abb. 34 a.2: Dreidimensionaler Vokalartikula- tionsund -beurteilungsraum
34a. Probleme der phonetischen Transkription
dreidimensionalen Raum vorstellen, in dem die Dimensionen “Zungenhöhe”, “Zungen form” und “Lippenform” unabhängig voneinander veränderbar sind. In Anlehnung an die graphische Darstellung in Abb. 34 a.2 ist es dann möglich, den Versuch zu unternehmen, je zwei Dimensionen konstant zu halten, während die dritte langsam und kontinuierlich verändert wird. Zum Beispiel: (1) maximale Zungenhöhe, (2) maximal nach vorne gerückte Zungenform, (3) kontinuierliche Veränderung der Lippenform von gespreizt bis gerundet: i → iʾ → yʿ → y. Ähnliche Übungen kann man für die Konsonanten entwerfen, vgl. Abb. 34a.3, wobei der
Abb. 34 a.3: Dreidimensionale Darstellung von drei Klassifikationskriterien für Konsonanten: Plosiv/Frikativ, Gespannt/Ungespannt, Stimm- los/Stimmhaft fließende Übergang zwischen Ecktermen natürlich nicht immer im Sinne eines artikulatorischen, zeitlich ununterbrochenen Konti nuums (wie dies bei den Vokalen der Fall ist), sondern als sequentielle Aussprache von möglichst nah beieinander liegenden, jedoch zeitlich diskreten Realisationen verstanden werden muß.
2.
Historische Aspekte
Obwohl die Notation von Sprechereignissen häufig mit Phonetik assoziiert oder sogar gleichgesetzt wird (vgl. Abercrombie 1967, 111), ist sie wesentlich älter als dieser Wissenschaftszweig. Notationsprobleme im weiteren Sinne stellten sich bei allen Versuchen, Sprachen zu verschriften bzw. eine Orthographie festzulegen (für eine ausführlichere Darstellung vgl. Art. 34), aber auch im Gehörlosenunterricht besitzt die Verwendung ikonischer Zeichen eine lange Tradition, wie das von A. M. Bell entworfene visible speechSystem zeigt. Mit dem Aufkommen der “Lautphysiologie” in Deutschland und der “phonetic science” in England entwickelte sich die Lautschrift als notwendige Erweiterung des vorgefundenen Alphabets zu einem
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zentralen Forschungsinstrument, das, wie Abercrombie (1967, 111) resümiert, “one of the strong points of the subject” geworden ist. Die Association Phonétique Internationa le (im folgenden API, wohingegen das nach dieser Vereinigung benannte International Phonetic Alphabet hier, einer Anregung Richters (1973, 11) folgend, mit IPA abgekürzt wird), 1886 als The Phonetic Teachers’ Association von einer kleinen Gruppe von Fremdsprachenlehrern in Frankreich ge gründet, hatte einen maßgeblichen Anteil daran, daß aus der Vielzahl der in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. konzipierten Lautschriften eine zur dominierenden wurde. Der Verein beschäftigte sich zunächst — gemäß der beruflichen Ausrichtung seiner Grün dungsmitglieder — mit phonetischen Problemen des Englischunterrichts, aber da sich bald Phonetiker aus verschiedenen Ländern anschlossen (so z. B. Lundell, Sweet und Viëtor), erwuchs das Bedürfnis nach einer international verwendbaren Lautschrift. Ein er ster Entwurf lag 1888 vor und bildete die Grundlage für das mit gewissen Modifikationen noch heute weltweit anerkannte Transkriptionssystem der API, das i n Punkt 3.3. ausführlich diskutiert wird. Die universelle Ausrichtung des Faches Phonetik und der API brachte es mit sich, daß man phonetische Transkription nie als ein auf eine Sprache oder Sprachgruppe zugeschnittenes Instrument betrachtete, sondern von Anfang an eine Anwendbarkeit auf verschiedene Sprachfamilien anstrebte. (Dieses wird u. a. deutlich durch die spätere Übernahme des idealtypischen Systems der Kardinalvokale nach Daniel Jones als Referenzsystem für Vokaltranskription durch die API.) Die durchweg europäische Prägung der Wissenschaftler bewirkte jedoch trotzdem ein gewisses Maß an ‘kultureller Borniertheit’, die sich u. a. darin äußert, daß das Zeichensystem an charakteristischen Stellen des Artikulationsraumes — nämlich solchen, die von den indo - europäischen Sprachen üblicher weise nicht genutzt werden — Leerstellen aufweist, und außerdem das API - Prinzip “jedem Phonem sein eigenes Grundzeichen” allenfalls für die europäischen Sprachen erfüllt ist. Das International Phonetic Alphabet (IPA) ist orientiert an den seinerzeit entwikkelten und noch heute gebräuchlichen universellen produktorischen Beschreibungspa -
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
rametern und diente im wesentlichen zwei Zielen, die methodisch klar voneinander zu scheiden sind: (1) der Fixierung bislang unerforschter Sprachen; (2) der systematischen Aufzeichnung von Sprachen, deren Phoneminventar bekannt ist. Gemäß diesen unterschiedlichen Zielset zungen stehen sich zwei Vorgehensweisen bei der Transkription gegenüber, die als phonetisch vs. phonologisch (bisweilen auch phonematisch), impressionistisch vs. syste matisch bzw. eng vs. weit (bisweilen auch breit) bezeichnet worden sind. (Letzteres Begriffspaar wird allerdings nicht immer — wie hier — im Sinne der API- Prinzipien verwendet. Ruoff (1973, 129) und Wiesinger (1964 b, 44) benutzen es beispielsweise unabhängig von der genannten Dichotomie, und Abercrombie (1954, 233) behandelt es als Subkategorie systematischer Transkription.) Die wesentlich aufwendigere p h o n e t is ch e Transkription, die die Aufzeichnung möglichst vieler Details der Lautkette zum Ziel hat und damit eine Materialgrundlage für die Bestimmung des Phonemsystems schafft, spielt heute fast nur noch bei der Erfassung von Sprachen bzw. Dialekten eine Rolle, deren Phonemsystem nicht bekannt ist. Die dem System nach bekannten Sprachen werden meist p h o n e m i s c h wiedergegeben (sofern nicht ein spezielles Erkenntnisinteresse vorliegt, das eine phonetische Umschrift erfordert), was so weit führt, daß z. B. Ladefoged (1975, 37 f.) die phonetische Transkription nur noch beiläufig erwähnt. Dies ist jedoch keineswegs als Hinweis auf etwaige Antiquiertheit phonetischer Tran skription, sondern allenfalls auf verminderte Quantität dieser Art von Notation zu werten. Phonemische Transkription stellt also im Vergleich zur phonetischen gleichsam eine höhere Abstraktionsstufe sprachlicher Un tersuchung dar, die erst dann einen Sinn hat, wenn das der zu notierenden Sprechäußerung zugrunde liegende System bereits bekannt ist. 2.1. Bisherige Transkriptionspraxis der deutschen Dialektologie Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß für eine lautliche Untersuchung deutscher Dialekte eigentlich nur das impressionisti sche Transkriptionsverfahren in Frage kommt, solange die Kenntnis der Phonemsy-
steme (ein) Ziel und nicht Ausgangspunkt der Untersuchungen darstellt. Die Frage “enger” oder “weiter” Umschrift stellt sich somit theoretisch nicht. (In diesem Sinne auch Hotzenköcherle 1962 a, 54 f.) Praktisch hingegen bildet die Transkription eine aus der Wissenschaftsgeschichte erklärbare Schwachstelle der Dialektologie. Die Ver mittlung zwischen an sich zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen der Phonetik (z. B. i n Form der API- Prinzipien) einerseits und dialektologischer Feldforschung andererseits hat nämlich aus verschiedenen Gründen — mit Ausnahme des deutschschweizerischen Bereichs, beginnend mit der in mancher H insicht bahnbrechenden Arbeit Wintelers (1876) — kaum stattgefunden — ein Mangel, der bis heute fortwirkt und noch keineswegs behoben ist. Wie aus der sehr aufschlußreichen Aufsatzsammlung zu diesem Thema in der Zeitschrift für Mundartforschung (1964) hervorgeht, liegt der Ablehnung des API- Systems durch die deutsche Dialektologie und dem Festhalten an den Transkriptionsrichtlinien der Zeit schrift Teuthonista (vgl. dazu Punkt 3.1.2.) nur in zweiter Linie eine Auseinandersetzung um die Form zugrunde; sie ist vielmehr symptomatisch für die mangelnde theoretische Fundierung der Vorgehensweise bei der Notation von Dialekten. I n der Frage der Lautschrift orientierte sich die Mundartforschung nämlich von Anfang an an “Sachzwängen”, die darin bestanden, daß die Forscher — fast ausnahmslos engagierte Gymnasiallehrer, denn an den junggrammatisch ausgerichteten Universitäten war für dialektologische Feldforschung kein Raum (vgl. Wiesinger 1964 a) — ohne phonetische Vorbildung ans Werk gingen. Auf deren bescheidenen Kenntnissen fußten die Tran skriptionen, und es nimmt nicht wunder, daß bei Wiesinger (1964 a, z. B. 11) in der Hauptsache Begriffe wie “handhabbar” und “einfach” zur Charakterisierung der Um schriftenpraxis herangezogen werden. Den Bedürfnissen der Transkribenten kam das weniger komplizierte und im Vergleich zum IPA weniger umfangreiche Zeicheninventar der Zeitschrift für hochdeutsche Mundarten (später Teuthonista) zwar entgegen, aber der von Phonetikern vorgebrachten Forderung nach Bezug auf produktorische Parameter konnte es in keiner Weise genügen. Das ganze Dilemma der lautlichen Aufzeichnung deutscher Dialekte wird deutlich in der Tatsache, daß Philipp Lenz, auf dessen Vorar-
34a. Probleme der phonetischen Transkription
beiten das Teuthonista - System mit seinem Theorie - Defizit basiert, in seinen eigenen Studien das IPA verwendete. Ein möglicher Weg, dieses Problem zu lösen, hätte darin bestanden, das Interesse der Junggrammatiker am Einzellaut und seiner Beschreibung für die Sprachgeographie nutzbar zu machen und damit eine neue Transkriptionstradition zu begründen. Ein derartiger Prozeß vollzog sich allerdings nicht; im Gegenteil öffnete sich die Schere zwischen Phonetik und Dialektologie im Laufe der Zeit immer weiter. Das Streben nach “einfacher” Transkription wurde zum Symbol einer Gegenbewegung der Mundartforscher angesichts der (Natur- ) Wissenschaftlichkeit der Phonetik, wie die folgende Bemerkung Wiesingers belegt: “[...] man [konnte] der immer stärker in die Bereiche der Physik und Medizin eintretenden Phonetik nicht mehr folgen [...] bzw. [war] auch nicht dazu bereit [...], so daß eine höchst einfache Transkription geradezu als Gegenreaktion der Linguistik zu verstehen ist” (1964 a, 18 f.). Man transkribierte in bewährter Manier, d. h. mit fast unverändertem Teuthonista- System, dem nicht etwa ein produktorischer Rahmen “unterlegt”, son dern das in der Hauptsache unter typographischen Gesichtspunkten diskutiert und reformiert wurde (vgl. Möhn 1964). Die Ungebrochenheit dieses Formalismus bestätigt in gewisser Weise auch Wiesinger, wenn er das IPA ablehnt, weil “[...] sich die deutsche Dialektologie nicht mit der Einordnung der Vokale in ein Vokaltrapez und der Bestimmung des Vokalinhaltes eines API- Zeichens nach den englischen Gegebenheiten abfinden [kann], weil diese von der Struktur des Deutschen abweichen” (1964 b, 45), ohne auf den Charakter der Kardinalvokale als von der Einzelsprache unabhängiger Refe renzpunkte einzugehen. Dies merkt Kohler süffisant an (1977, 151), der dann auch folgerichtig Zweifel anmeldet an der wissenschaftlichen Transparenz der Methoden, nach denen Transkription in der deutschen Dialektologie — besonders am Deutschen Sprachatlas und am Deutschen Spracharchiv — bislang betrieben worden ist, und damit das immer noch gespannte Verhältnis zwischen Mundartforschung und Phonetik dokumentiert. Daß dieser Zustand keineswegs naturgegeben ist, zeigt das Beispiel des Sprachatlas der Deutschen Schweiz , in dessen Einführungsband nicht nur die theoretische Problematik phonetischer Transkription dis kutiert wird, sondern auch die dort verwen-
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deten Zeichen eindeutig definiert und in einem ungewöhnlichen Maße expliziert wer den (Hotzenköcherle 1962 a, 50—64; 1962 b, 79—95). Auch in jüngerer Zeit sind positive Ansätze zur Überwindung des über Jahrzehnte hinweg entstandenen “Theoriedefizits” auf seiten der Dialektologie zu verzeichnen: so liegt mittlerweile eine für deutsche Verhältnisse aufbereitete Fassung des IPA vor (Richter 1973), und die daran ausgerichtete PHONAI- Reihe (1969 ff.) stellt einen Versuch dar, nach sehr klar formulierten Kriterien abgefaßte Mundarttranskriptionen zu gänglich zu machen (vgl. auch Knetschke/ Sperlbaum 1967). Auch am Deutschen Sprachatlas in Marburg ist seit der Berufung Georg Heikes im Jahre 1963 die Teuthonista- Tradition rückläufig zugunsten der von der API aufgestellten Grundsätze, obwohl noch 1964 ein gutgemeinter Versuch unternommen wurde, die Teuthonista umzuge stalten (Schmitt/Wiesinger 1964), der allerdings ohne größere Resonanz blieb (vgl. Wagener 1981, 155). Dem Trend zum IPA entgegen steht die Entscheidung der Tübinger Arbeitsstelle “Sprache in Südwestdeutschland” für ein Festhalten an der — im Bereich des Konsonantismus allerdings erheblich verbesserten — Teuthonista - Lautschrift. Die von Ruoff (1973, 126 f.) dafür angeführten Gründe (Wahrung dialektologischer Traditionen und wissenschaftlicher Kontinuität gegenüber den bereits vorliegenden Umschriften; leichtere Handhabung) sind gewichtig, vermögen aber nicht voll zu überzeugen angesichts der Tatsache, daß sich die von der Tübinger Arbeitsstelle verwendete Neufassung der Teuthonista durch Einführung phonetischer Parameter so erheblich von der ursprünglichen Version unterscheidet, daß eine Vergleich barkeit mit früheren Umschriften allenfalls an der Oberfläche besteht. Auch in neueren Einführungen in die Dialektologie sind die Stellungnahmen zum Transkriptionsproblem nicht einheitlich. Löffler (1980, 55) vermerkt in seiner Arbeit, “[...] das sogenannte API- System [...] hat sich in der deutschen Dialektologie nicht recht eingebürgert”, und verweist auf die Teuthonista- Tradition. Dabei hat er aber offensichtlich nur phonemische Transkription im Auge. Mattheier (1981) arbeitet dagegen mit dem Inventar der API, während Goossens (1977) das Transkriptionsproblem nicht diskutiert.
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
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Es besteht die Aussicht — und in diesem Sinne möchte sich auch dieser Beitrag verstanden wissen — daß sich in der Dialektologie die Tendenz zu einer verstärkten Berücksichtigung der Ergebnisse phonetischer Forschung für ihre Transkription fortsetzt, was zweifellos eine für beide Seiten positive Entwicklung bedeuten würde.
3.
Transkriptionssysteme
In den vorangehenden Abschnitten sind bereits einige Andeutungen zum Verhältnis zwischen Transkriptionsvorgang und ge wähltem Zeichen (Symbolisierung) gemacht worden, die man mit Heike (1964, 50) wie folgt zusammenfassen kann: “Angesichts der Schwierigkeiten, die mit einer hinreichend genauen und nachvollziehbaren Beschrei bung der lautlichen Korrelate von Lautzeichen verbunden sind, erweist sich die Frage der Einigung auf ein Zeichensystem als zweitrangig.” Die äußere Form der Zeichen ist in der Tat von untergeordneter Bedeutung, solange diese in symbolisierender Weise auf produktorische (oder, was auch denkbar wäre, aber für größere Textmengen nicht durchführbar sein dürfte (vgl. o. 1.3.), auditive) Parameter bezogen sind und ein in sich schlüssiges System bilden. Dennoch können Transkriptionssysteme nicht völlig unabhän gig von Erkenntnisinteresse und Arbeitsmethode des jeweiligen Wissenschaftlers gesehen werden, worauf bereits Martinet (1968, 146) hinweist, d. h. nicht alle Systeme eignen sich für jeden Zweck gleich gut (vgl. z. B. die Begründung, mit der sich Hotzenköcherle (1962 a, 53—54) für das in der Romania gebräuchliche System nach Böhmer/Ascoli entschied, ohne daß dies der Qualität der Transkription Abbruch täte). Vom äußeren Charakter der gewählten Zeichen ausgehend, unterscheidet man al phabetische und nicht alphabetische (manchmal auch als analphabetisch bezeichnete) Systeme. Erstere folgen dem allgemeinen Prinzip, ein Zeichen für jedes erkannte Segment zu setzen, wohingegen letztere jedes Segment mittels einer komplexen “Formel” symbolisieren, die beliebig viele Parameter enthalten kann. Der Vokal in engl. all würde z. B. in dem von dem dänischen Phonetiker Otto Jespersen entwickelten System als α7bβgγ7kδ0ε1 notiert (nach Abercrombie 1967, 114; für ausführliche Erläuterungen vgl. Richter Art. 34). Es versteht sich von
selbst, daß eine derart komplexe Symbolik für die Transkription längerer Texte völlig ungeeignet ist. Sie erlaubt hingegen die sehr exakte Wiedergabe einzelner Segmente, ein Zweck, für den sie auch entwickelt wurde. Unter den alphabetischen Umschriften dominieren diejenigen, die sich am lateinischen Alphabet orientieren (so z. B. die Systeme von Lepsius oder Lundell sowie das der API), es existieren jedoch auch ikonische Notationen, die — wie eingangs erwähnt — beispielsweise im Taubstummenunterricht Verwendung fanden. Trotz der im Prinzip untergeordneten Bedeutung der Zeichenkörper sollen im folgenden einige Transkriptionsinventare vorge stellt werden in der Absicht, über den Aufbau der in der deutschen Dialektologie meistgebrauchten Systeme zu informieren und einige Kriterien für die Entscheidung zwischen verschiedenen Inventaren an die Hand zu geben. Die wichtigsten Anforderungen, die an ein System phonetischer Zeichen zu richten sind, sind natürlich die des Bezugs auf ein produktorisches Beschreibungsmodell und die innerer Stringenz. Weiterhin von Bedeutung für die eigene Transkriptionspraxis ist der Zweck bzw. der räumliche Geltungsbereich, für den die verschiedenen Systeme entwickelt worden sind (es wäre z. B. unsinnig, bestimmte afrikanische Sprachen mittels eines Zeicheninventars transkribieren zu wollen, das keine Symbole für Clicks oder Töne kennt). Letztlich sollen auch nicht zu unterschätzende praktische Gesichtspunkte wie Unverwechselbarkeit, Schreibbarkeit, Setzbarkeit und potentielle Ausbaufähigkeit des Symbolvorrates bei der Diskussion Berücksichtigung finden. I n diesen Rahmen gehört auch die Frage einer eher diakritischen oder eher monotypen Ausgestaltung des Zeicheninventars, die allerdings in der Vergangenheit häufig überbetont worden ist. Dies könnte seine Ursache darin haben, daß in den Zeiten, als noch nicht auf Tonträger aufgezeichnet, sondern direkt notiert wurde, die aus der Unterscheidung “monotyp vs. diakritisch” resultierenden Unterschiede in der Handhabbarkeit tatsächlich einen höheren Stellenwert einnahmen, als er ihnen heute noch zuzumessen ist. 3.1. Anfänge Das Problem einer schriftlichen Fixierung regionaler Besonderheiten in der Lautung
34a. Probleme der phonetischen Transkription
stellte sich seit dem Beginn der Mundartforschung in der Romantik. Sie wurde jedoch anfangs nicht systematisch durchgeführt, sondern man verwendete im Prinzip die normale Orthographie und erweiterte sie vor allem i m Bereich der Vokale durch diakritische Zeichen (so verwendete z. B. J. A. Schmeller im Jahre 1821 erstmals die nachgestellte Tilde zur Bezeichnung von Nasalvokalen). Der erste systematische Versuch einer Art “Mundartorthographie” wurde erst etwa 50 Jahre später in der Zeitschrift Die deutschen Mundarten unternommen von J. F. Kräuter, der zusätzlich zum lateinischen Alphabet sowohl neue Grundzeichen wie auch eine Reihe von Diakritika für die wissenschaftliche Lautdarstellung vorschlug. Das Inventar trägt allerdings deutliche Züge lokaler Begrenzung auf den Wirkungsbereich des Verfassers (Elsaß), die sich u. a. darin äußern, daß Symbole für gespreizte Hinterzungenvokale oder für bilabiale Frikative völlig fehlen. Kräuters System wurde vor allem von der Straßburger Schule Ernst Martins rezipiert. Neben Kräuters Inventar existieren zahlreiche Beispiele für die spezifischen Bedürfnisse kleinräumiger Untersuchungen entwik kelter Transkriptionssysteme, die jedoch sämtlich vom Forschungsstand der Lautphysiologie unbeeinflußt blieben. Eine Ausnahme verdient es, angeführt zu werden: Otto Bremer entwickelte eine für die von ihm herausgegebene Reihe “Sammlung kurzer Grammatiken deutscher Mundarten” ver bindliche Lautschrift, die dem phonetischen Erkenntnisstand der Zeit (1893) entsprach und den Wert ihrer Zeichen produktorisch definierte. Dieses System, das in der Hauptsache mit neu entworfenen, dem lateinischen und griechischen Alphabet entlehnten Grundzeichen und nur in geringem Maße mit Diakritika arbeitet, war natürlich vergleichsweise kompliziert in der Handhabung und wurde daher von der deutschen Dialektologie als zu schwierig und praxisfern abgelehnt. Es lieferte lediglich für die Zürcher Schule Albert Bachmanns Anregungen und fand im Bereich des Konsonantismus auch Eingang in die auf Josef Seemüller zurückreichende österreichische Transkriptionstra dition. 3.2. Teuthonista Die als Teuthonista- System in die Wissenschaftsgeschichte eingegangene Lautschrift
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Abb. 34 a.4: Die Transkriptionsrichtlinien der Zeitschrift Teuthonista (aus Teuthonista 1, 1924/25) (vgl. Abb. 34 a.4) trägt ihren Namen im Grunde nicht ganz zu Recht, denn es handelt sich dabei um das praktisch unverändert übernommene Transkriptionssystem der Zeitschrift für hochdeutsche Mundarten, das um 1900 von Ph. Lenz konzipiert worden war. Wie bereits im Forschungsüberblick erwähnt, war in der deutschen Mundartfor schung seinerzeit Einfachheit die Devise, so daß trotz einiger Korrekturen, die nicht wert sind, hier im einzelnen behandelt zu werden, auch das dem ersten Band des Teuthonista vorangestellte Inventar (Teuchert 1924/25, 5) noch schwerwiegende Mängel aufweist. (Gleichwohl gewann die Lautschrift im Bereich der Dialektologie schnell an Popularität, wie die folgende Bemerkung Heepes (1928, 37) belegt: “Die Lautschrift des ‘Teuthonista’ dehnt ihren Einflußbereich stetig aus und scheint zur Grundlage einer Einheitstranskription der deutschen Mundartenforschung berufen zu sein.”) Obwohl das System für phonetische Umschriften entwickelt
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
und auch verwendet worden ist, fehlt bei der “Definition” der Zeichen der Bezug auf produktorische Parameter fast völlig, und große Teile des Artikulationsraumes sind außer acht gelassen. So ist z. B. im Bereich des Konsonantismus nur ein einziger Laut durch so etwas wie ein Dreiwortetikett bezeichnet (“3 ist stimmhafter Kehlreibelaut”) (Teuchert 1924/1925, 5); alle übrigen sind äußerst ungenau beschrieben, wobei man sich offenbar meist an den Lautwerten der standard sprachlichen Grapheme orientierte, wie das Beispiel “ts steht für z” belegt (Teuchert 1924/25, 5; zu den Gefahren einer solchen Verwechselung von Transkription und Schrift vgl. unter 1.). Die mangelnde “Ausnutzung” des Arti kulationsraumes könnte auf eine unter schwellig phonemische Ausrichtung hindeuten, aber dieser Vermutung steht die Tatsache entgegen, daß einerseits sowohl für den ich- als auch für den ach-Laut Zeichen vorliegen, andererseits jedoch keinerlei Symbolisierungsmöglichkeit für die Phoneme /f/ und /j/ gegeben ist (für weitere kritische Anmerkungen vgl. Wiesinger 1964 a, 19 sowie Kohler 1977, 153 f.). Die Teuthonista- Lautschrift stellt sich somit dar als ein nicht systematisiertes Inventar von Zeichenkörpern ohne eindeutig zugeordneten Gehalt, das vor seiner Anwendung zunächst einer Definition und Ergänzung bedarf, wenn diese zu wissenschaftlich kontrollierbaren und vergleichbaren Ergeb nissen führen soll. Den Versuch einer solchen Definition hat Ruoff (1973) für die Tübinger Arbeitsstelle des Deutschen Spracharchivs im Zusammenhang mit der IDIOMATICA - Reihe unter nommen mit dem Resultat, daß das nunmehr präzisierte und erweiterte TeuthonistaInventar im Konsonantismus etwa die gleichen Symbolisierungsmöglichkeiten eröffnet wie die IPA(G) (vgl. unten 3.3.) und gegenüber der ursprünglichen Fassung eine qualitative Veränderung bedeutet. Was den Vokalismus betrifft, so läßt die Lautschrift allerdings einige Wünsche offen: Die nunmehr in einem Vokaltrapez angeordneten Laute sind zum einen mißverständlich definiert (so werden a, e, i, o und u alle als “geschlossene [sic!] kurze Oralvokale” (Ruoff 1973, 137) bezeichnet), zum anderen fehlen die hinteren ungerundeten Vokale völlig, so daß der von Kohler geäußerte Vorwurf, das TeuthonistaAlphabet trage “ad- hoc- Charakter” und ver-
diene somit kaum die Bezeichnung “System” (Kohler 1977, 154), nicht unberechtigt erscheint. 3.3. IPA — IPA(G) Im Gegensatz zur Teuthonista - Lautschrift war das Transkriptionssystem der API (vgl. Abb. 34 a.5) von Anfang (1888) an dem jeweils neuesten Stand phonetischer For schung ausgerichtet (für die wichtigsten I nformationen über die API vgl. API 1949, Neudruck 1979). Dies findet seinen Ausdruck einerseits in einer wissenschaftlich fundierten Definition aller Zeichen (durch Dreiwortetiketten aus Artikulationsart und - ort und Stimmbeteiligung im Falle der Konsonanten sowie das auf Daniel Jones zurückgehende einzelsprachunabhängige System der Kardinalvokale) und andererseits in dem — durch die universelle Ausrichtung der Vereinigung bedingten — Streben nach möglichst vollständiger symbolisierender Erfassung der Lautproduktionsmöglichkeiten des Menschen. Das letztgenannte Ziel läßt sich allerdings nur in einem langwierigen, immer noch nicht abgeschlossenen Prozeß erreichen, wie überhaupt die API beständig darum bemüht ist, ihr System durch kleinere Korrekturen zu vervollkommnen (so wurden z. B. die Zeichen für Ejektive und Clicks erst nachträglich hinzugefügt). Ergänzungen sind jedoch dank des vorgegebenen produktorischen Rasters ohne größere Probleme möglich, und bis heute stellt die Zeitschrift der API (vormals ðǝ fonetik tîtcǝr, dann Le Maître Phonétique, seit 1971 The Journal of the International Phonetic Association) ein gern genutztes Forum für Reformvorschläge dar (vgl. z. B. Fox 1974 und McClure 1975). Das System der API kann sowohl für phonetische wie auch für systematische Umschriften verwendet werden und hat sich in den nunmehr fast 100 Jahren seiner Existenz weltweite Anerkennung erworben, zumal sich auch die typographische Ausgestaltung (eine ausgewo gene Kombination von Grundzeichen und Diakritika) als benutzerfreundlich erwies. Seit 1973 liegt eine auf deutsche Verhältnisse zugeschnittene Fassung des IPA vor (Richter 1973; vgl. Art. 34), die einerseits die Zeichen für im Deutschen nicht zu erwartende Realisationen unberücksichtigt läßt und andererseits — im Einklang mit den Prinzipien der API — gezielte Symbolisierungsvorschläge für spezielle Probleme des Deut-
34a. Probleme der phonetischen Transkription
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Abb. 34 a.5: Das Transkriptionsinventar der API (aus Journal of the International Phonetic Association 8, 1978 [Beilage]) schen und seiner Varianten unterbreitet. Selbst die Verwendung eines noch so guten vorgegebenen Systems macht es allerdings nicht überflüssig, in einem der Transkription beigegebenen Anhang die vorgefundenen Laute noch einmal verbal zu charakterisieren und Besonderheiten anzumerken. Ein derartiger Kommentar ist kein Zeichen unzulänglicher Transkriptionsarbeit, sondern Zeugnis wissenschaftlicher Fundierung. Das IPA(G) findet — nicht zuletzt dank seiner Verwendung in der PHONAI - Reihe des Deutschen Spracharchivs — eine immer größere Verbreitung und repräsentiert den neuesten Stand phonetischer Lautsymboli sierung im deutschen Sprachgebiet.
4.
Transkriptionsprobleme
Bevor wir in den nächsten Abschnitten einige praktische Empfehlungen anhand von Beispielen aus der eigenen Transkriptionspraxis deutscher Dialekte geben, vergegenwärtigen wir uns, z. T. durch Rekapitulation,
einige Voraussetzungen. Im folgenden geht es ausschließlich um enge Transkription, um Transkription als Entdeckungsprozedur. Daß altbewährte Transkriptionssysteme vorhanden sind, mag zuerst den Eindruck erwecken, als ob alle Bedürfnisse der Forschung in ihnen erfüllbar wären. Doch muß der um spezielle Probleme bemühte Forscher bei der Anwendung der vorhandenen Systeme bald feststellen, daß einige (oder sogar viele) für seine besonderen Bedürfnisse wichtige Nuancen nicht vorgesehen sind. Er kann also das ausgewählte System nur als hilfreichen und nötigen, aber ungenügenden Rahmen, seine Leerstellen bestenfalls als eine Herausforderung an seine eigene Gestaltungskreativität betrachten. Wenn er später seine Materialien oder Ergebnisse veröffentlicht, braucht er den Rahmen nur zu nennen; seine eigens entwickelten Symbole oder eventuelle, auch drucktechnisch bedingte Abweichungen vom gegebenen System muß er ausdrücklich vorstellen und definieren. Das wichtigste für jede Transkription ist die Beherrschung des eigenen Sprechwerk-
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
zeugs. Dies bedeutet gleichzeitig die Fähigkeit, Gehörtes nachzusprechen und die dabei entstehenden Empfindungen in ein perzeptorisch - produktorisches Raster einzuordnen. Ist diese Einordnung, die das gleiche bedeutet wie Lautklassifikation, erfolgt, so kann das phonetische Symb o l ausgesucht und eingetragen werden, das der ausgemachten Stelle des Rasters entspricht. Ausgehend von diesen, in 1.1. bereits angestellten Überlegungen kann man weitere Gedanken an schließen, z. B.: (1) I n Anbetracht des subjektiven Charakters von Transkription ist die Behauptung berechtigt, daß es kein eindeutig richtiges Transkript gibt, wobei die Frage nach einem eindeutig falschen meistens intersubjektiv lösbar ist; (2) Die Beherrschung des eigenen Sprechapparates wird durch gesteuerte Übung erzielt; wer etwa im Sinne von 1.3. übt und immer wieder Sprachaufnahmen abhört, wird schnell feststellen, daß beim Sprechen sämtliche Ausprägungen der verschiedenen phonetischen Parameter aus genutzt werden, d. h. es kommen Realisationen im Bereich der Grenze zwischen zwei Lauttypen vor, deren Zugehörigkeit zum einen oder anderen manchmal nur schwer oder gar nicht entscheidbar ist; dies gilt für Übergänge zwischen Realisationen inner halb einer Lautklasse wie auch für Übergänge zwischen sogar vokalischen und konsonantischen Realisationen, worauf wir wie derholt eingehen werden; der einzelne Transkribent kann Unklarheiten durch Al ternativtranskripte oder Fragezeichen fest halten, die deutlichen Anlaß zur gemeinsamen Besprechung geben; (3) Für die Eintragung des phonetischen Symbols sollte der Transkribent zumindest anfänglich die Symboltafel und Beschreibung des ausgewählten Systems ständig benutzen, denn Vertrautheit und Auswendigkennen der Transkriptions symbole ist keine Ehrensache, sondern entspringt zwangsläufig aus der Transkriptionspraxis. Wir benutzen durchgehend das Tran skriptionssystem IPA bzw. IPA(G). Abgesehen von einem höheren Formalisierungsgrad bietet IPA(G) wenig mehr als IPA. Aus den besonderen Konventionen in IPA(G) er scheinen zwei als empfehlenswert für die Transkription tatsächlicher Äußerungen deutscher Dialekte: ein Punkt auf der Zeile als Zeichen für velare Verschlußlösung von Plosiven vor Nasalen (vgl. u. 4.2.1.) und ei n e Tilde unter dem Zeichen, um Undeutlichkeit zu signalisieren.
4.1. Vokale Grundsätzlich ist daran zu erinnern, daß die Klassifikation von Vokalen nach den drei unabhängigen artikulatorischen Parametern der horizontalen bzw. vertikalen Zungenlage und der Lippenform vorzunehmen ist. Auch auf Nasalität des Vokals in nasaler Umgebung oder überhaupt auf vokalische Nasalität in bestimmten Dialektgebieten sollte geachtet werden. Dagegen brauchen die Parameter der Phonation und der Luftstromversorgung im Deutschen kaum bemüht zu werden, da es sich bei Vokalen fast immer um egressive stimmhafte Laute handelt. 4.1.1. Schwa Es gibt einen zentralen Bereich im Artikulationsraum, der durch Zeichen wie [, Ï, ë, ǝ, з, ɐ] angedeutet werden kann. Wahrscheinlich ist es aber i n deutschen Dialekten aus phonologischen Gründen nicht nötig, so viele Nuancen durch eigene Zeichen wiederzugeben. Deshalb kann die Übereinkunft getroffen werden, das Schwa- Zeichen [ǝ] grundsätzlich zu benutzen, wobei Schließung oder Öffnung, Vor oder Rückverlegung durch die entsprechenden Diakritika [, , , ] wiedergegeben werden kann. Somit ist etwa [ +] gleich [з] und wird bevorzugt. Sollte jedoch ein Dialekt phonologisch nach weiterer Unterscheidung verlangen, so ist die Verwendung verschiedener Grundzeichen zu empfehlen. 4.1.2. Spreizung und Rundung, Velarisierung Weder IPA noch IPA(G) verfügen über getrennte Zeichen für Spreizung und Rundung. Daher kann das für die Rundung vorhandene Zeichen [] benutzt werden, um auch Entspreizung darzustellen: z. B. ‘Milch’ [mεlç] enthält ein entspreiztes [ε], aber kein gerundetes [ε], welches durch [œ] wiedergegeben werden muß. Empfindet man dieses als etwas entrundet, so wird es als [œ] repräsentiert. Hierzu muß im Falle einer Veröffentlichung ausdrücklich vermerkt werden: Das Rundungszeichen bedeutet nach einem Symbol für gespreizten Vokal keine Rundung, sondern Tendenz zu neutraler Lippenstel lung. Hier sei noch darauf hingewiesen, daß sich Velarisierung akustisch ähnlich bis gleich auswirken kann wie Rundung. Für diese Art Velarisierung gibt es kein besonders Zeichen, es kann aber das Rückverlegungssymbol verwendet werden.
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4.1.3. Halbvokale, diphthongierte Vokale, Diphthonge Untersucht man Diphthonge, so muß man erst Klarheit über einige Termini und die damit verbundenen Vorstellungen gewinnen. Danach müssen die vorhandenen Transkriptionskonventionen erweitert werden, da IPA für die Notation von Diphthongen aus schließlich das Brevis- Zeichen [] über dem schwächeren Vokalelement vorsieht, was keineswegs alle vorhandenen Ausspracheva rianten deckt. Hier werden nun einige Punkte angeschnitten und mögliche Notationserweiterungen erdacht. In Grammatiken und phonologischen Werken wird von “Halbvokalen” geredet. Auch IPA sieht Symbole für “Halbvokale” vor. Der Terminus hat aber in beiden Kontexten verschiedene Bedeutung. Phonolo gisch bedeutet “Halbvokal”, daß ein be stimmtes identifiziertes Segment zwar vokalische Eigenschaften hat, aber kein “Silbenträger” ist, was gleichbedeutend mit “unbetontem” Element eines Diphthonges ist. Symbolisiert wird dies meist durch die Zeichen [j] oder [y] bzw. durch [w]. Phonetisch bedeutet “Halbvokal” zunächst nur, daß man etwa zwischen der Artikulation eines [i] oder [u] und der eines konsonantischen [j] oder [ß] wohl Übergangsstufen ausmachen kann, bei denen eine Entscheidung zwischen “freiem/nicht freiem Mundluftstrom”, d. h. eine Entscheidung bezüglich des Kriteriums für Vokal/Konsonant, unmöglich ist. Daß eine solche Artikulation in einer bestimmten Sprache unter diphthongischen Bedingun gen vorwiegend vorkommen kann, darf jedoch keinen Anlaß geben, beide Begriffe durcheinanderzubringen. Dementsprechend sollte man, will man “phonetisch” vorgehen, unbedingt darauf achten, daß auch bei Diphthongen erst bei hörbarer Reibung etwa [aj, aw], ansonsten etwa [ai, au] geschrieben wird. Nicht nur der artikulatorische Übergang zwischen Vokal und Konsonant ist kontinuierlich, es gibt auch keine scharfe artikulatorische Trennung zwischen Vokal und Diphthong. Vokale sind “quasi - stationäre” Klänge, d. h. sie weisen in ihrem Verlauf stets Formantenbewegungen auf, die mit Bewegungen im artikulatorischen Raum zu sammenhängen. Deshalb kann es auch schwierig sein, “phonetisch” zu entscheiden, ob eine bestimmte Realisation einerseits als Vokal oder als diphthongierter Vokal bzw.
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andererseits als diphthongierter Vokal oder als Diphthong zu werten ist. Bezüglich letzterer Unterscheidung kann man versuchen, sie ungefähr so anzusetzen, daß die Artikulationsbewegung zwischen Nachbargebieten im Artikulationsraum den diphthongierten Vokalen, den Diphthongen aber eine zwischen weiter auseinander liegenden Gebieten entspricht. Wenn man meint, diesen Unterschied in einem bestimmten Fall wahrgenommen zu haben, so kann man für diphthongierte Vokale die Zeichen für den Anfang und das Ende der Artikulationsbewegung hintereinander schreiben und sie durch Ligatur verbinden: z. B. [ı̑i]; für Diphthonge kann man beide Zeichen durch einen über der Zeile geschriebenen Pfeil verbinden: z. B. [ɐ→I]. Da beim Diphthong wohl das wichtigste Kennzeichen seine Bewegungs richtung, nicht aber die genauen Vokalqualitäten der angesetzten Anfangs- und Endelemente darstellt, so darf eine ungefähre Symbolisierung hingenommen werden. I m Deutschen, zumal in der Standardsprache, wird es in den meisten Fällen ausreichen, die Zeichen für ungespannte Realisationen im jeweiligen Vokalbereich zu benutzen: z. B. [ɐ→ I] (statt etwa [ae] in IPA(G)). Jedenfalls ermöglicht das Ansetzen von Transkriptionsformen für standardsprachliche Diphthonge, bei der Transkription dialektaler Varianten die jeweilige Eigenart deutlicher hervorzuheben. Hat man den Eindruck, daß bei einem Diphthong das erwartungsgemäß silbentra gende Element ganz im Gegenteil “schwächer” ist, so kann man das in IPA für das “schwächere” Element des Diphthongs vorgesehene Zeichen darübersetzen: etwa ‘auch’ [ǎ → ɔʁ] statt erwartungsgemäß [a → ɔʁ]. Zwei Vokale nebeneinander ohne Ligatur oder Pfeil gelten als zwei Silben. Sollte eine Realisation so perzipiert werden, daß auf einen “fallenden” Diphthong ein “steigender” Diphthong in der nächsten Silbe derart folgt, daß das Endelement des ersten trotz Silbenschnitt keine deutliche Trennung vom Erstelement des zweiten aufweist, so kann man etwa das Ligatur - Zeichen unter die Zeile schreiben und auf jeden Fall einen Vermerk dazu machen: z. B. ‘Eier’ [ o→ → ǝ], das bedeutet dann “durchgehender artikulatori scher Übergang von einer Silbe zur anderen”. 4.1.4. Quantität und Dauer Die Perzeption von Dauer in fließender Rede ist ein noch ungeklärtes Kapitel der Per-
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zeptionsforschung (vgl. 1.2.). Dagegen kann es phonologisch vertreten werden, daß in deutschen Dialekten im allgemeinen nur ein Quantitätsunterschied, nämlich zwischen kurz und lang, vorhanden ist (vgl. Tödter 1982). Aus beiden Gründen erscheint es möglich, aber verfehlt, auf einer Differenzierung zu bestehen, die mehr als diese zwei Urteile vorsieht. Bezüglich der Verwendung der Symbole bedeutet dies: entweder kein Zeichen für Kürze oder ein diakritisches Zeichen (beispielsweise [:]) für Länge. Wahrscheinlich mehr als die Vokalqualität ist die Beurteilung der Länge abhängig von übergreifenden Faktoren wie Sprechtempo, Position im Satz, Betonung usw. Von daher sollte die Vokallänge grundsätzlich in einem durchgehenden Arbeitsgang nach vorheri gem Abhören der Gesamtaufnahme und Einfühlung in die Sprechweise des Sprechers vorgenommen werden. Die Untersuchungen von Meinhold (1967) scheinen nahezulegen, daß die Klassifikation “lang” hauptsächlich durch die Definition “potentiell dehnbar” gegen “kurz” als “nicht dehnbar” erfolgt. Dies würde heißen, daß ein “überlang” gesprochener Vokal als “lang” gelten kann, “kurz” gesprochene Vokale aber nicht unbedingt als “kurz” gewertet werden müssen. Auch hier ist ein Hinweis bezüglich der Diphthonge nötig: Obwohl man normaler weise davon ausgeht, daß Diphthonge “lang” sind, gewinnt man beim häufigen Abhören von Diphthongen den Eindruck, daß sie oft sehr kurz gesprochen werden. 4.1.5. R-Qualität Das Phänomen der perzipierten R - Qualität von Vokalen bedarf noch einer kritischen Analyse. Es mag sein, daß oft etwas gehört wird, was tatsächlich artikulatorisch und akustisch vorhanden, aber schwer zu erfassen ist. Es mag aber auch oft so sein, daß auf Grund von Erwartungen etwas gehört wird, das gar nicht existiert. Gründe für eine Perzeption von R- Qualität können u. a. sein: ein etwas offener Vokal, etwa [ɐ] statt [ǝ]; eine tendenzielle Velarisierung des Vokals, etwa []; eine Apikalisierung des Vokals, etwa []. Das Problem kann in unserem Rahmen nicht gelöst werden, aber für die praktische Transkriptionsarbeit sollte Vorsicht im Umgang mit dem R- Qualitätszeichen [ι] geboten werden.
4.2. Konsonanten So wie zwischen vokalischer und konsonantischer Artikulation Übergangsstufen festzu stellen sind, so gibt es auch bei den Konsonanten Übergangsstufen von Artikulations art zu Artikulationsart, von Artikulations stelle zu Artikulationsstelle und auch von Stimmhaftigkeit zu Stimmlosigkeit. So gibt es immer wieder Realisationen, bei denen es schwer auszumachen ist, ob es sich um einen Plosivlaut, etwa [t], um einen Frikativlaut, etwa [θ] oder um eine Affrikate, etwa []; um einen stimmhaften Plosiv, etwa [d], oder um einen stimmhaften Frikativ, etwa [ð], oder um einen Vibranten, etwa [ſ]; um ein stimmhaftes [ð] oder um ein stimmloses [t] handelt. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich oft bei der Beurteilung, ob es sich um einen oder um zwei Laute handelt: z. B. läßt der Gehörseindruck nicht unterscheiden zwischen [/] und [s] mit abnehmendem Intensitätsverlauf, etwa []. Solche Probleme können oft nicht gelöst werden, zumal wenn verschiedene Hörer zu verschiedenen Hörergebnissen kommen. In diesem Fall muß ein Randvermerk auf die Urteilsschwierigkeit hinweisen. Neben dieser paradigmatischen Ver schwommenheit besteht ebenfalls eine Art syntagmatischer Unschärfe, die auf die gegenseitige Beeinflussung von Nachbarlauten im Sprachkontinuum zurückgeht. Zwei häufige Unklarheiten sind die Palatalisierung von Konsonanten durch ein Nachbar- i und der u- Übergang zwischen [ß] und einem Nachbarvokal. 4.2.1. Nasale Verschlußlösung von Orallauten, Nasale ohne Verschlußlösung im Mundraum IPA(G) sieht als Kennzeichnung für Plosive, auf die ein Nasal folgt und die nur die Implosions - , nicht aber die Explosionsphase aufweisen, einen Punkt auf der Zeile direkt hinter dem jeweiligen Plosivzeichen vor: z. B. [t.]. Dies kann erweitert werden auf Frikative, deren Artikulation durch frühzeitige velare Verschlußlösung “gestört” wird und auf Nasale, die keine Verschlußlösung im Mundraum erfahren: z. B. ‘Äpfelchen’ [εpǝſIç.], ‘treiben’ [tſi:b..]. Bei Nasalen, auf die ein homorganer Plosiv- oder Frikativlaut folgt, ist der Punkt selbstverständlich nicht nötig: z. B. ‘bunt’ [bunt].
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4.2.2. Labiale Reibung
4.2.6. Unerwartete Sprechproduktionen
Die paradigmatischen Übergänge von [u] über [w] nach [ß] und [v] sind kontinuierlicher Art, und bei schnellem Tempo ist es nicht immer möglich zu entscheiden, ob ein Vokal, ei n Halbvokal oder bereits ein Konsonant gesprochen wird, wobei im letzten Fall nicht immer klar wird, ob es sich um einen bilabialen oder labiodentalen Konso nanten handelt. Wahrscheinlich reicht es aus, in solchen Fällen das Zeichen [ß] zu schreiben. Die anderen Zeichen werden eingesetzt, wenn die Identifikation leichter fällt.
In fließender Rede kann alles geschehen. Stimmhafte Laute werden stimmlos ([, ]), stimmlose werden stimmhaft. Aber auch Laute, die in der jeweiligen Sprache nicht systematisch vorkommen, können plötzlich auftreten. So scheint es i n deutschen Dialekten verbreitet zu sein, am Ende des Satzes Plosive ejektiv auszusprechen. Ferner finden sich tendenziell Fälle von Pharyngalisierung, und sogar Schnalze kommen vereinzelt vor. Eine andere Erscheinung besteht darin, daß bei sonst normalen Lauten eine sonderbare Qualität perzipiert wird: Dies kann auf eine mögliche, aber im Deutschen unübliche Artikulationsweise zurückzuführen sein, wie z. B. bei einem laminai artikulierten [] mit abnehmendem Intensitätsverlauf (vgl. 4.2.), das man etwa mit einem darunter gesetzten Bogen symbolisieren kann, ohne jedoch zu vergessen, einen besonderen Vermerk zu machen. Diese unerwarteten Sprechproduktionen müssen in bezug auf ihr linguistisches Gewicht bewertet werden; so liegen sicherlich etwa die bei vielen Sprechern auftretenden satzauslautenden Ejektive höher in einer solchen Skala des linguistischen Gewichts als etwa selten und wahrscheinlich situationsbedingt vorkommende Schnalze.
4.2.3. R-Laute An R- Lauten im postpalatalen Bereich läßt IPA nur Uvulare zu und sieht das Zeichen [R] vor. Da oft wohl deutliche Unterschiede im Artikulationsort zu hören sind (Pike 1943, 125, zieht Vibranten auch im velaren Bereich in Betracht) und außerdem nicht immer Stimmhaftigkeit vorhanden ist, emp fiehlt es sich, [R] als Grundzeichen für uvulare stimmhafte Vibranten zu verwenden, während [] die stimmlose, [] die stimmhafte velare, [ +] die stimmlose velare Variante darstellt. Diese Artikulationen sind nicht immer von [χ, ʁ, x, γ] deutlich zu unterscheiden. Die von uns beobachteten Fälle bedürfen jedoch einer eingehenderen Analyse. Apikales einschlägiges [ſ] wird gelegentlich von einem speziellen Nachhaucheffekt begleitet, der als [] symbolisiert werden kann: [ſ].
4.3. Suprasegmente
So wie für den vokalischen Bereich bei diphthongierten Vokalen die Ligatur für die Verbindung beider Elemente, so wird sie im konsonantischen Bereich für die Verbindung zweier Elemente einer Affrikate, einer Doppelartikulation oder einer bei gleicher Artikulation veränderten Phonation verwendet, in dieser Reihenfolge etwa [, , ].
Wir haben anfänglich darauf hingewiesen, daß wir kein besonderes Augenmerk auf prosodische Aspekte richten. Bei gesprochener Sprache sind jedoch zwangsweise Wort- , Satz- , Text- und Ausdrucksprosodie vorhanden, die sich auf die Aussprache eines jeden Wortes auswirken. Die Auswirkungen von Grundton - , Intensitäts - und Qualitätsverläu fen sind vielfältig, aber in der segmentalen Transkriptionspraxis gibt es Bereiche, denen besondere Aufmerksamkeit gilt: Silbe und Akzent.
4.2.5. Silbische Konsonanten
4.3.1. Silbe
Auch Konsonanten können “Silbenträger” sein. Dies geschieht oft bei Nasalen, Lateralen und Vibranten, die bekanntlich alle vokalische Eigenschaften aufweisen. Es kann aber auch bei schallstarken Frikativen wie [s] vorkommen. In allen Fällen sollte die perzipierte Silbigkeit durch einen Strich unter dem jeweiligen Symbol signalisiert werden.
Es gibt kein besonderes IPA- Zeichen für Silbeneingrenzung. Wir haben jedoch bereits zwei Konventionen besprochen, die die Silbe angehen: einmal, daß konsonantische Silbenträger besonders gekennzeichnet wer den sollten (vgl. 4.2.5.) und zum anderen, daß ohne Verbindungszeichen nebeneinan der stehende Vokale als zwei Silbengipfel zu verstehen sind (vgl. 4.1.3.). Was den zweiten
4.2.4. Ligatur
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Fall anbelangt, muß eine Konsequenz noch erwähnt werden: Es gibt Fälle, in denen ein erwarteter Diphthong zweigipflig gespro chen wird, etwa in ‘glaub’ als [glaɔp] statt [gla → ɔp]. 4.3.2. Akzent In der IPA- Konvention ist Akzent (oder Betonung) immer Silbenakzent. Daher wird das entsprechende Symbol immer vor den Silbenlaut gesetzt: als normaler Apostroph für Hauptakzent, als tief gesetzter Apostroph für Nebenakzent. Da Wortbetonung mit zum Wort gehört, wird sie bei allen mehrsilbigen Wörtern eingetragen. 4.4. Abhörpraxis Abhörpraxis führt normalerweise zur sinnlichen Einsicht über Variation in der Sprache: intra- wie interindividuelle Variation. Deshalb stellt sich auch bald die Ansicht ein, daß für dialektale Untersuchungen mehrere Sprecher und bei jedem Sprecher mehrere Beispiele aufs sorgfältigste abgehört werden müssen. Auch kann der Transkribent i m Laufe der Zeit lernen, daß sorgfältiges Abhören nicht nur Wiederholung, sondern auch die Einbeziehung von Abhörtricks beinhaltet, die ihm einige Perzeptionsschwierigkeiten erleichtern können. Hierzu zwei kurze Hinweise: (1) Ein Vokal kann beim Rückwärtshören plötzlich zum diphthongier ten Vokal oder sogar zum Diphthong werden, oder ein überhörter Auslaut wird bei derselben Technik deutlich hörbar; (2) Langsamer und überlangsamer Lauf können Hinweise für Stimmhaftigkeit bzw. Stimmlosigkeit dadurch geben, daß eine Plosionspause oder der Verlauf eines Frikativs deutliche bzw. keine Glottisimpulse aufweist. Beide Verfahren müssen natürlich mit Vorsicht in dem Sinne verwendet werden, daß die dabei entstehenden Vokal oder Konsonantenqua litäten keineswegs als die genaue Abbildung des Normalablaufs gelten, sondern diesen nur in umgekehrter Reihenfolge bzw. in verlangsamter Geschwindigkeit darstellen oder wiedergeben. So braucht ein beim Rück wärtshören entstehender Diphthong (oder diphthongierter Vokal) nicht unbedingt den tatsächlichen Vokalqualitäten zu entspre chen, aber es läßt sich mit großer Sicherheit sagen, daß es sich um keinen Monophthong handelt.
5.
Automatische Transkription
Die Idee von der automatischen Schreibmaschine (vgl. etwa Flanagan 1976, 414) hat auch zumindest in informellen Gesprächen auf die Erwartungen von Linguisten und Dialektologen bezüglich der unbequemen Arbeit des Transkribierens abgefärbt: Man gebe ein Tonband in den Computer und erhalte ein Transkriptionsprotokoll zurück. Ein Teil der anfänglichen Forschung im Bereich der “automatischen Spracherkennung” war dazu angetan, diesen Wunsch zu bestärken, weil sie automatische Segmentierung und Lauterkennung (was das auch immer bedeutet haben mag) beinhaltete (vgl. Smith 1951). Bald haben jedoch selbst Nachrichtentechniker und Naturwissenschaftler ver standen, daß Lautwahrnehmung eine per zeptorische Leistung ist, für deren Vollbringung Information aus dem linguistischen und dem allgemeinen Erfahrungsbereich herangezogen wird. Somit ist die Vorstellung aufgegeben worden, daß es je möglich sein würde, allein auf Grund des akustischen Sprachsignals und mit einfacher Technik Laut - oder Spracherkennung zu betreiben, und die Bemühungen der Wissenschaftler wurden auf die komplexeren Sprachverstehenssysteme gerichtet (vgl. Newell et al. 1973). Sprachverstehenssysteme aber sollen den Si n n des Gesagten erfassen, d. h. sie sollen sinnvoll auf eine Äußerung reagieren, selbst wenn Dekodierungslücken in der akustischen Komponente vorhanden sind. Dies bedeutet wiederum, daß ihre Zweckmäßigkeit eher eine phonologische oder orthographische Repräsentation des Gesagten ermöglichen könnte, nicht aber eine phonetische, exploratorisch angelegte Transkription (für Geschichte und neuere Entwicklung der Spracherkennung und der Sprachverstehens systeme vgl. Reddy 1975, Ungeheuer 1977, Dixon/Martin 1979, auch Levinson/Liber man 1981). Es ist nicht auszuschließen, daß die Vereinigung dieser mit anderen Forschungsrichtungen (etwa Sprachen- oder Dialekterkennung, Sprechererkennung) im nächsten Jahrtausend ein automatisch transkribierendes Computersystem hervorbringen wird. Aber augenblicklich kann man demjenigen Leser, der sich voller Hoffnung diesen Abschnitt als ersten zu Gemüte führte, nur empfehlen, nun doch die vorangehenden aufmerksam zu lesen, denn er muß sich einstweilen noch auf
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die unbequeme gefaßt machen.
6.
Arbeit
des
Transkribierens
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35. Apparative Transformation phonetischer Signale
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615
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Antonio Almeida, Angelika Braun, Marburg
35. Apparative Transformation phonetischer Signale 1. 2. 3. 4.
1.
Einführung Der Produktionsbereich Der Transmissionsbereich Literatur (in Auswahl)
Einführung
Unter phonetischen Signalen verstehen wir alle bei der Sprachproduktion beobachtbaren und meßbaren Prozesse. Dabei handelt es sich nicht nur um akustische Signale, sondern um physiologische, optische und u. U. neurale Signale. Hinsichtlich der Stadien, die zeitlich aufeinander folgen, kann man im wesentlichen folgende drei unterscheiden: 1. die physiologischen Prozesse bei der Artikulation und Phonation, 2. die Transformation dieser Prozesse in ein akustisches Signal (Akustogenese), und 3. das akustische Signal als Träger sämtlicher phonetischer Information, die vom Sprecher zum Hörer übertragen wird. Um phonetische Prozesse einer quantita-
tiven Beschreibung und einem Vergleich zugänglich zu machen, ist eine Messung mit entsprechenden Hilfsmitteln erforderlich. Daraus ergibt sich 1. die Speicherung des flüchtigen phonetischen Signals und 2. erforderlicherweise die Transformation des Signals in anschauliche und meßbare Form. Das klassische Beispiel hierfür ist die Umwandlung des Schalldruckverlaufs in eine Kurve (z. B. in der Experimentalphonetik und Phonometrie). Die apparative Transformation schafft erst die Voraussetzungen für die Erarbeitung phonetischer Daten, indem sie das signalphonetische Material in einer bearbeitbaren Form vorlegt. Da nicht alle bei der Sprachproduktion ablaufenden Prozesse direkt beobachtbar und meßbar sind, sind indirekte Messungen mit geeigneten Hilfsmitteln erforderlich. Ein Beispiel für direkte Messungen wäre der Abstand der Lippen bei der Artikulation, ein Beispiel für indirekte Messung wäre die Messung des Nasenluftstroms als Indiz für das Senken des Gaumensegels (nasale Artikulation).
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
616
2.
Der Produktionsbereich
Die komplexen Vorgänge bei der Spracherzeugung vereinfachen wir auf drei räumlich, zeitlich und funktionell verschiedene Teilbereiche: 1. die Initiation (Lungen), 2. die Phonation (Kehlkopf) und 3. die Artikulation (supraglottaler Trakt). Die Abbildung 35.1 gibt eine Zusammenfassung der bei der Sprachproduktion beteiligten Organe, der in Frage kommenden physiologischen Parame ter, der Meßapparate und der von den Apparaten gemessenen physikalischen Para meter. Die Unterscheidung zwischen physiologischen und gemessenen Parametern ist wichtig, da in vielen Fällen eine direkte Messung physiologischer Parameter nicht möglich ist. 2.1. Die Initiation Die mechanische Funktion der Lunge kann mit der eines Blasebalgs verglichen werden. Bewegungen des Bruskorbes und des ORGAN Lunge Kehlkopf Stimmlippen Filmkamera Lichtblitzstroboskop Berührungsfläche
Größe der Öffnung Muskelkontraktion Velum
PHYSIOLOGISCHER PARAMETER Brustkorb-, Zwerchfellbewegung vertikale Bewegung Form
Elektroglottograph
Photoglottograph Elektromyograph Bewegung, An- bzw. Abkoppelung des Nasenraumes
nur An- bzw. Abkoppelung Aerometer Zunge
Nasenluftstrom Berührungsfläche
Berührungsfläche
Elektropalatograph
Form
Röntgenfilm
Unterkiefer Lippen Lippenform (frontal)
vertikale Bewegung Lippenöffnung Filmkamera
Vorstülpung (seitlich) Muskelkontraktion
Elektromyograph
Zwerchfelles werden am einfachsten mit dem Gürtelpneumographen als Gürtelaus dehnung erfaßt. Zur Registrierung genügen elektromechanische Schreiber, die auf mechanischem Wege Kurvenregistrierungen auf einem Papierstreifen durchführen. Die Lungen liefern den für die Lautbildung normalerweise erforderlichen Betriebsdruck, mit Ausnahme der Schnalzlaute, die unabhängig von der Atmung gebildet werden. Änderungen des Druckes, bzw. der daraus resultierenden Strömungsgeschwindigkeit der Luft sind für differenziertere Lautbildungen von Bedeutung, z. B. für die Bildung von Plosivlauten (Erhöhung des Druckes bei geschlossener Glottis) oder bei der Bildung von Frikativlauten (erhöhte Strömungsge schwindigkeit, so daß Turbulenzen entste hen). 2.2. Phonation Vertikale Bewegungen des Kehlkopfes sind von nicht unerheblicher Auswirkung auf das APPARAT Gürtelpneumograph Aerometer Laryngograph Kehlkopfspiegel
GEMESSENER PARAMETER Gürtelausdehnung Atemluftstrom vertikale Bewegung Form
elektrische Impedanz im Larynx (zwischen 2 Elektroden) Lichtmenge Muskelaktionsstrom Röntgenfilm
Abstand von Rachenrückwand
Palatograph Kontaktstellen in künstlichem Gaumen Begrenzungslinien der Zunge in der vertikalen Ebene mechanisch, Film Labiograph Lippenform, Lippenvorstülpung
Kontaktfläche an Gaumen, Zahndamm, Zähnen
Winkel mit Oberkiefer Abstand Ober-/Unterlippe
Muskelaktionsstrom
Abb. 35.1: Gegenüberstellung von Organen, die an der Sprachproduktion beteiligt sind, den interessieren- den physiologischen Parametern und den Meßapparaten mit den gemessenen Parametern. Gemessene Para- meter (z. B. Lichtmenge) stehen in den meisten Fällen in indirektem Zusammenhang mit den physiologi- schen Parametern (z. B. Größe der Glottisöffnung)
35. Apparative Transformation phonetischer Signale
akustische Endresultat bei der Vokalartikulation. Senken des Kehlkopfes führt zu einer Verlängerung des Ansatzrohres und damit zu einem Absenken der Resonanzfrequen zen. Dies ist vor allem der Fall bei Vokalartikulationen im velaren Bereich.
617
Von den Registrierungsmöglichkeiten der Stimmlippenbewegungen haben praktische Bedeutung nur die glottographischen Methoden. Es handelt sich um indirekte Verfahren, die im Falle des Elektroglottographen eine Registrierung der vertikalen Berührungsflä che ermöglichen und im Falle des Photoglottographen eine Aufzeichnung der Größe der horizontalen Öffnung zwischen den Stimmlippen. Für die Registrierung sind relativ schnelle Aufzeichnungsverfahren erforder lich, da es sich nicht nur darum handelt, die Frequenz der Stimmlippenschwingungen in der Registrierung zu erfassen, sondern auch die Form der einzelnen Schwingungen und somit auch steile Anstiege einzelner Öffnungs- und Schließbewegungen. Als Registrierungsgerät findet deshalb normalerweise der Elektronenstrahloszillograph Verwen dung. 2.3. Artikulation
Abb. 35.2: Elektroglottogramme, (a) normale Stimmbandschwingung, (b) Stimmbandpressung, (c) weich ausklingender Vokal, (d) abrupt unter- brochene Stimmbandschwingung, etwa [..?]
Die Registrierung der Bewegungen des Gaumensegels sind von Bedeutung für die Erfassung des zeitlichen Ablaufs der Nasalität. Als Registrierungsmethoden gibt es nur indirekte Verfahren, die, wie z. B. beim Aerometer, die Menge des Nasenluftstroms im Verhältnis zum oralen Luftstrom bestimmen. Die Zungenartikulation kann in ausrei chender Weise im Sagittalschnitt unter Verwendung des Röntgenfilms erfaßt werden. Die praktischen Einsatzmöglichkeiten des Röntgenfilms sind infolge der Strahlungsgefährdung eingeschränkt. Palatogramme geben ein Abbild der Kontaktfläche der Zunge mit dem Gaumen. Die klassische Palatographie ist ein durchaus verwendbares Verfahren, wenn es darum geht, bestimmte Lautbildungen in einer Laborsituation zu fixieren. Die mit einer abdruckfähigen Masse bestrichene Zunge hinterläßt bei der Artikulation eines Lautes am Gaumen Spuren. Über einen Spiegel kann der Gaumen betrachtet und photographiert werden. Dynamische Palatographie ist erst durch die Entwicklung künstlicher Gaumen mit elektrischen Kontakten ermöglicht worden. Von großem Nachteil ist bis jetzt, daß die Herstellung eines künstlichen Gaumens für jeden Sprecher zu erfolgen hat und einen relativ großen Kostenaufwand bedeutet. Die zeitabhängige Registrierung der Veränderungen der Kontaktfläche kann ver nünftigerweise nur auf digitalen Speichermedien erfolgen.
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
618
Abb. 35.3: Palatogramme von [1] in alle, (a) denti-alveolare Artikulation (Herkunftsort des Sprechers: Neu- wied), (b) alveolare Artikulation (Sprecher: Schwäbische Alb), (c) post-alveolare Artikulation (Sprecherin: Kassel, seit dem 4. Schuljahr im Kölner Raum)
3.
Der Transmissionsbereich
Der Transmissionsbereich erfaßt sowohl alle Vorgänge, die für die Umwandlung phonatorischer und artikulatorischer Information in ein akustisches Signal wesentlich sind, als auch das Signal selbst als Produkt. 3.1. Akustogenese Die in der artikulatorischen Phonetik traditionellerweise verwendeten Beschreibungs variablen wie Artikulationsart, Artikula tionsstelle und artikulatorische Öffnung stellen eine praktikable Vereinfachung der arti-
kulatorischen Vorgänge dar. Ein direkter Zusammenhang zwischen artikulatorischer Information und akustischen Signaldaten ist im Falle des Querschnittsverlaufs des Ansatzrohres gegeben, d. h. also der Größe und Form des Artikulationstrakts. Auf der Basis von Palatogrammen, Mundausgüssen und Computertomogrammen lassen sich Algorithmen angeben (Greisbach/Philipp 1980), die eine Umrechnung in Querschnittsfunktionen (Areafunktionen) ermöglichen. Aus der Querschnittsfunktion läßt sich die akustische Übertragungsfunktion und damit das akustische Signal vorausberechnen. Der umgekehrte Vorgang, die Rückrechnung der Areafunktionen und der artikulatorischen
36. Datenerhebung und Forschungsziel
Abb. 35.4: Röntgenfilmaufnahmen (nach Delattre 1965, 107, 103) Antizipatorische Vokalartikulation an den Lippen (a.—b.): Während im amerikanischen Englisch die Rundungs- und Schließbewegung der Lippen gleichzeitig mit dem Zurückziehen der Zunge zum [u] erfolgt, liegt im Französischen Lippenrundung und -schließung schon während des ZungenZahnkontaktes vor. Ein Vergleich der Zungenprofile beim [1]-Verschluß (c.—f.) liefert Hinweise auf die neutrale Zungenposition in den verschiedenen Sprachen. Im Englischen ist die Zunge hier weiter hinten und stärker konkav.
Abb. 35.5: Dem schematisierten Sagittalschnitt liegt ein Röntgenfoto zugrunde. Die sagittale Abstandsfunktion wird mithilfe des Rasters als Abstand der oberen und unteren Begrenzung des Artikulationstrakts ermittelt (siehe Funktion s (x)). Auf der Basis empirischer Untersuchungen (Palatogramme, Mundausgüsse, Tomogramme) kann die Funktion des Querschnittsverlaufs aus der sagittalen Abstandsfunktion berechnet werden. Damit sind die Voraussetzungen zur Berechnung der akustischen Übertragungsfunktion gegeben
619
(siehe Abb. 35.6). Es handelt sich um einen i-ähnlichen Vokal.
620
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
Geometrie aus dem akustischen Signal, ist nur bedingt möglich. Unter welchen Voraussetzungen eine solche Rückrechnung möglich ist, ist Gegenstand der aktuellen phonetischen Forschung. Immerhin wäre damit ein Weg gegeben, aus akustischen Sprachauf nahmen die artikulatorische Information zu rekonstruieren. 3.2. Akustik Die akustischen Eigenschaften des Sprachsignals konnten erst mit den Hilfsmitteln der Signalspeicherung und Signaldarstellung erforscht werden. Voraussetzung für die heute verwendeten Techniken ist eine Umwandlung der Schalldruckschwankun gen in einen elektrischen Spannungsverlauf. Erst die modernen Möglichkeiten der Speicherung des elektrischen Signals haben Transformationen des Sprachsignals und weitere Bearbeitungen möglich gemacht. Als Speichermöglichkeit kommt nach wie vor das Tonbandgerät in Frage, und zwar als transportables Batteriegerät für die Feldforschung und als aufwendiges Studiogerät für Laboruntersuchungen. Voraussetzung für die apparative Weiterverarbeitung ist nicht nur die technische Qualität des Aufnahmegeräts und des Mikrophons, sondern vor allem das Vermeiden von Störgeräuschen und von Nachhall des Raumes, in dem die Aufnahme durchgeführt wird. Neben der Speicherung
Abb. 35.6: (a) Oszillogramm einer Periode des aufgrund des Sagittalschnitts von Abb. 35.5 berechneten Signals (etwa Vokal [i]). (b) Berechne-
auf Tonband steht auch das Verfahren der Speicherung des digitalisierten Sprachsignals auf einem digitalen Massenspeicher (digitales Band, digitale Platte) zur Verfügung. Dieses Verfahren ist nicht nur für Laborzwecke interessant, sondern wird, sobald die Speicherkosten auf das Kostenniveau normaler Tonbänder oder Schallplat ten gesunken sind, auch für die Archivierung von Schallaufnahmen Verwendung finden. Die digitale Speicherung ist einmal in der technischen Qualität überlegen, und zum zweiten tritt kein Qualitätsverlust ein, wie dies bei langer Lagerung von Tonbandaufnahmen zu beobachten ist. Sichtbar gemachte Schalldruckschwan kungen, bzw. deren elektrisches Äquivalent, nennt man Oszillogramme (Schwingungs aufzeichnungen). Die phonetische Interpre tation von Oszillogrammen ist auf Segmentation und Lautdauermessung beschränkt, wobei auf die Problematik der Lautabgrenzung eines kontinuierlichen Artikulations vorgangs besonders hinzuweisen ist. Für phonetische Fragestellungen von größerer Bedeutung sind die Veränderungen der Stimmtonhöhe (Akzentuierung, Intonation), der Gesamtintensität (Hervorhebungsakzent, Silbengipfelbestimmung) und der spektralen Zusammensetzung des Sprachsignals (aku stische Lautklassifikation). Zur Extraktion der Stimmtonfrequenz und ihrer Darstellung als Kurve gibt es eine
tes Spektrum zu Oszillogramm von a. Ein Programm zur automatischen Formantextraktion ergibt folgende Werte: F1 = 228.8 Hz, F2 = 1805.0 Hz, F3 = 2957.0 Hz, F4 = 3639.0 Hz
36. Datenerhebung und Forschungsziel
große Anzahl von technischen Verfahren, die unter den Stichwörtern Grundfrequenzanalyse, Periodizitätsdetektion, Melodieregi strierung, „pitch detection“ u. a. m. in zahlreichen Publikationen beschrieben werden. Handelsübliche Geräte sind z. B. die folgenden: Pitchmeter (Frøkjaer - Jensen), Pitch computer (Frøkjaer - Jensen), Visi - Pitch (Kay Elemetrics). Der Intensitätsverlauf ist eine durch Gleichrichtung und Integration des Schalldruckverlaufs abgeleitete Größe. Als Geräte stehen zur Verfügung z. B. der Pegelschreiber oder, für phonetische Signale besser geeignet, das Intensitymeter (Frøkjaer - Jen sen). Bei der direkten Registrierung von Oszillogrammen, Tonhöhen und Intensitätskur ven ist zu beachten, daß unterschiedliche Anforderungen an die zeitliche Auflösung bzw. die obere Grenzfrequenz des Registrierungsgeräts gestellt werden. Bei Oszillogrammen ist als obere Grenzfrequenz diejenige
621
des Sprachsignals bestimmend (ca. 6000 Hz), für Tonhöhenregistrierungen eine obere Grenzfrequenz von ca. 500 Hz und fü r Intensitätsregistrierungen eine Grenzfre quenz von ca. 100 Hz. Indirekte Verfahren bestehen darin, daß das Sprachsignal auf einem Medium gespeichert vorliegt, das eine Wiedergabe des Signals mit einer wesentlich geringeren Wiedergabegeschwindigkeit er möglicht. Infrage kommen Verfahren der frequenzmodulierten oder pulsecodemodu lierten Tonbandaufzeichnung, oder, in neuerer Zeit, der digitalen Speicherung auf einem digitalen Datenträger. Das in der praktischen Phonetik immer noch übliche Verfahren zur Spektralanalyse und - darstellung ist das sonagraphische Verfahren (Sonagraph, Firma Kay Electric). Der unterschiedliche Grad der Schwärzung des Registrierpapiers in den verschiedenen Frequenzbereichen als Funktion der Zeit ergibt ein Muster, das im allgemeinen die wichtigsten Veränderungen des Sprach-
Abb. 35.7: Sonagramm (Spektrogramm), Intensitäts- und Tonhöhenkurve des Satzes /me: r han m: s em h : s/ („Wir haben Mäuse im Haus„), gesprochen von einem Sprecher der Stadtkölner Mundart (Heike 1964). [+] symbolisiert Schärfungsakzent. Schärfungsakzent zeichnet sich durch überdurchschnittlichen Tonhöhen- und Intensitätsabfall in hauptbetonter Position aus. Die Ausprägung der Schärfungsmerkmale ist betonungsabhängig. Die Schärfungsmerkmale von /m:s/ und /h:s/ sind deshalb unterschiedlich aus- geprägt.
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
622
4.
Abb. 35.8: Dreidimensionale Darstellung der spektralen Änderungen des Anfangs von /me:r han my:s .../ (vgl. auch Sonagramm Abb. 35.7) signals erkennen läßt (Heike/Thürmann 1973). Dieses klassische Verfahren der sonagraphisch - analytischen Darstellung (Sona gramm) ist für die Bearbeitung großer Materialmengen, wie sie in der Dialektologie aus komparativen und sprachgeographischen Gründen anfallen, nur bedingt geeignet. In Frage kommen hierfür entweder Verfahren der Echtzeitanalyse oder vor allem die digitale Signalspeicherung und - verarbeitung mithilfe von Laborrechnern bzw. geeigneten Mikroprozessorsystemen. Zur Zeit werden von mehreren Firmen universale Echtzeit analysatoren angeboten (zu einer speziellen Entwicklung für die Analyse und Darstellung von Sprachsignalen vgl. Döring 1980).
Literatur (in Auswahl)
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Georg Heike, Köln
36. Datenerhebung und Forschungsziel 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Themenstellung und Abgrenzung des Problemgebiets Aussagetypen in dialektologischen Forschungsprozessen Datentypen der Dialektologie Datenerhebungsformen in der Dialektologie Forschungsziele der Dialektologie Die Struktur des dialektologischen Forschungsprozesses Probleme empirischer Forschung in der Dialektologie Der Forschungsprozeß bei dialektologischen Dokumentationen Literatur (in Auswahl)
1.
Themenstellung und Abgrenzung des Problemgebiets
Im Rahmen der Behandlung von Erhe bungsmöglichkeiten und - formen von dia lektalen Daten ist die Beziehung zwischen der empirischen Fundierung durch Datenerhebung und dem dabei zugrundeliegenden Forschungsziel von entscheidender Bedeu tung. Besonders der Frage nach den strukturierenden und steuernden Einflüssen be stimmter Forschungsziele auf die Konzipierung und Durchführung von empirischen
36. Datenerhebung und Forschungsziel
Forschungen wird dabei nachzugehen sein. Doch auch Auswirkungen von überkommenen und erprobten Datenerhebungsformen auf die allgemeinen Zielsetzungen, die der Forscher in den Blick bekommt, sind zu überprüfen. Dagegen muß die Diskussion allgemeiner mit der Dialektologie im Zusammenhang stehender wissenschaftstheoretischer und - methodischer Problemstellungen auf wenige Bemerkungen beschränkt bleiben. (Vgl. die Artikel des Kap. IV). Die hier vorliegende Fragestellung läßt sich dem Bereich der Theorie der Spracherforschung zuordnen, der von dem der Sprachbeschreibungstheorie unterschieden ist, der der systematische Ort für die Gegenstandskonstitution der Sprachwissenschaft und ihrer Teildisziplinen ist (Bartsch/Vennemann 1980, 59). Eine Theorie der Spracherforschung er faßt den gesamten Bereich der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung von sprachlichen Daten (Paprotté/Bünting 1980, 86). Die Wechselbeziehungen, die zwischen diesem Bereich und den dabei verfolgten Forschungszielen für die Erforschung der Dialekte von Bedeutung sind, sollen Gegenstand des folgenden Beitrags sein. Allerdings liegt das Schwergewicht der Darstellung bei den Auswirkungen der Forschungsziele auf die Auswahl und Anwendung von Methoden zur Erhebung von Dialektdaten. Das ge schieht deshalb, weil die Datenerhebung mehr als andere Bereiche des Spracherforschungsprozesses durch die Position und die Entscheidungen der Forscher beeinflußt wird.
2.
Aussagetypen in dialektologischen Forschungsprozessen
Empirische Untersuchungen werden in der Dialektologie wie in allen anderen Wissenschaftsbereichen unternommen, um Theo rien bzw. Modelle (Wiegand 1974, 91 f.) über den Aufbau, die Verwendung und die Veränderung von Dialekten zu erarbeiten, die den allgemeinen Bedingungen, die man an eine Theorie stellt, möglichst weitgehend entsprechen, nämlich solchen Bedingungen wie Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit und Prognosefähigkeit. Diese Theorien bestehen aus allgemeingültigen prognosefähi gen Aussagen bzw. Regelformulierungen (Winch 1966, 107 ff.). Eine solche Aussage ist in dem hier vorliegenden Bereich der Dialektologie etwa (1) Der Dialekt a hat hohe
623
Vokale oder (2) Der Dialekt b wird ausschließlich in privaten Situationen verwendet. Dabei wird erkennbar, daß ein Forscher, der (1) oder (2) formuliert, zurückgreifen muß auf vorgängige Theoriebereiche, in denen die Termini Dialekt, Vokal und Situation bereits bestimmt sind. Jede dieser allgemeingültigen Aussagen ist daher eingebettet in einen historischen Prozeß der Theoriebildung innerhalb des Faches, der als Prozeßobligat (Leinfellner 1967, 15) in die Theoriearbeit eingeht. Der zweite Bereich, der für die Theoriebildung relevant ist, ist der empirische. Er übernimmt bei der Theoriebildung die Funktion des Korrektivs. Unter bestimmten von der vorgängigen Theorie festgelegten Prä missen wird ein Erfahrungsbereich beobachtet. Die dabei gewonnenen Beobachtungsergebnisse können bis zu einem gewissen Grad Aussagen Regelformulierungen (z. B. Hypothesen etc.) modifizieren bzw. sie ganz umstoßen. Stellt man etwa fest, daß der Dialekt b aus (2) in Situationen verwendet wird, die nach der vorgängigen Definition von Situation und privat nicht eindeutig als private Situationen gelten können, dann ist der Theoriesatz zurückgewiesen durch die in einem theoriegeleiteten Beobachtungsprozeß gewonnenen Erfahrungssätze. Neben den gültigen theoretischen Aussagen und Regelformulierungen sowie den Erfahrungssätzen wird der Theoriebildungs prozeß durch einen dritten Aussagetyp strukturiert, durch normative Sätze (Opp 1970, 321). In diesen normativen Sätzen wirkt sich das jeweilige Forschungsziel bzw. das Forschungsinteresse aus, das den Forscher bei der Auswahl seines Untersuchungsfeldes oder bei der Festlegung seiner Forschungsmethode leitet (vgl. auch Art. 20). Normative Sätze über das erstrebte Forschungsziel können im Zusammenhang mit den Theorieaussagen (1) und (2) etwa folgende Form annehmen: (3) Ich unternehme Forschungen z u Aussage (1), um die Verbreitung von hohen Vokalen in verschiedenen Sprachvarietäten festzustellen. (4) (...), um Kindern, die den Dialekt (b) und die lautlich anders strukturierte Standardsprache sprechen, Hilfsmittel an die Hand z u geben, damit sie daraufhin keine Interferenz fehler mehr in diesem Bereich machen. (5) Ich unternehme Forschungen z u Aussage (2), um z u begründen, daß man den Dialekt eigentlich abschaffen sollte, weil er seine historische Aufgabe erfüllt hat.
624
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
(6) (...), um gesellschaftliche Benachteiligungen durch Dialektgebrauch zu verhindern. (7) Ich unternehme Forschungen z u den Aussagen (1) und (2), um die Satz strukturen und Verwendungsweisen von Dialekten z u dokumentieren, solange es sie noch gibt, damit spätere Generationen sich ein Bild über die heutigen Sprachzustände machen können. In diesen fünf normativen Aussagen sind die wohl wichtigsten Typen von Forschungszielen erfaßt, die derzeit dialektologische Forschungen strukturieren: (a) das theoriebezogene Forschungsziel (b) das didaktikorientierte Forschungsziel (c) das gesellschaftsorientierte Forschungs ziel (d) das ideologiebestimmte Forschungsziel (e) das dokumentatorische Forschungsziel Aussagen dieser Art über die Forschungsziele werden von außen über den Ausbildungsgang des Forschers, seine allgemeine sozialbiographische Situation und andere gesellschaftliche Komponenten an den For scher herangetragen und über ihn bewußt oder z. T. auch unbewußt im Forschungsprozeß wirksam. Aufgrund dieser nicht zum engeren Theoriebildungsprozeß gehörenden normativen Aussagen trifft der Forscher dann etwa bei der terminologischen Fassung von Begriffen oder bei der Entscheidung für bestimmte Methoden Aussagen des Typs: (8) Es ist z weckmäßig, (nütz lich, notwendig, angemessen,) daß (...). Neben den drei Aussagetypen ‘Regelfor mulierung, Erfahrungssatz, normative Aus sage’ spielt in der Theoriearbeit noch ein weiterer Aussagetyp eine Rolle, die methodologische Aussage, welche Techniken für das effektive Erreichen des genannten Forschungsziel festlegen. Diese methodologi schen Aussagen werden begründet durch die gültigen Normen der Verwendung von Datenerhebungsmethoden überhaupt, die wie derum z. T. auf Erfahrungen über den Erfolg oder Mißerfolg von Datenerhebungsmetho den beruhen. Aber auch ethische Beschränkungen in der Verwendbarkeit von Datenerhebungsmethoden wirken sich in diesem Bereich der methodologischen Aussagen aus (Opp 1970, 321). Zu den methodologischen Aussagen ge hören neben solchen über die Leistungsfähigkeit von Datenerhebungsmethoden und über die ethischen Beschränkungen ihrer Verwendbarkeit auch die Formulierungen der Standards über die Formen und die Zulässigkeit von Praktiken wissenschaftlicher Argumentation, etwa das Diskriminierungs -
verbot neuer Theorien (Opp 1970, 322 f.). Die Wechselwirkungen zwischen gültigen Regelformulierungen, Erfahrungsaussagen, normativen Aussagen über Forschungsziele und methodologischen Aussagen gliedern den gesamten Forschungsprozeß, den innerhalb der Sprachwissenschaft die Theorie der Spracherforschung beschreibt. Im folgenden wird die besondere Beziehung zwischen den möglichen Forschungszielen und den Datenerhebungsprozessen im Zentrum stehen. Es wird einerseits zu fragen sein, inwieweit zur Erreichung von bestimmten Forschungszielen bestimmte Datenerhe bungsmethoden auszuwählen oder auszu schließen sind. Es wird aber andererseits auch zu klären sein, ob und in welchem Maße sich Auswirkungen von bestimmten Datenerhebungsformen auf die Forschungsziele selbst feststellen lassen.
3.
Datentypen der Dialektologie
Innerhalb der Dialektologie lassen sich, wie allgemein in der Sprachforschung, zwei Datentypen unterscheiden, die sich auf die zwei zentralen Objektbereiche der modernen Sprachwissenschaft beziehen, die Daten zum Dialektsystem im engeren Sinne und die Daten über die Verwendungsbedingungen und die Funktionen von Dialekt. Eine klare Abgrenzung zwischen diesen beiden Datentypen wird jedoch in dem Maße schwierig, in dem man einen engen Begriff von Sprache bzw. Sprachbeschreibung aufgibt und Untersuchungen von situativ - pragmatischen und sozialen Auftretensbedingungen von Dialekt zu der reinen bzw. vergleichenden Beschreibung der sprachlichen Strukturen hinzu nimmt. 3.1. Daten zum Dialektsystem im engeren Sinne In den Bereich des ersten Datentyps fallen alle Informationen über Dialekte, die die einzelnen Strukturebenen betreffen, die im Dialekt — je nach der verwendeten Sprachtheorie — als gegeben angenommen werden; z. B. Daten der lautlichen Ebene, der Phonebene, der morphologischen oder der lexikalischen Ebene. Daten dieser Art werden in der Dialektologie meist vergleichend zu einem historischen oder standardsprachlichen Kontrastsystem beschrieben. Im Bereich von situativ und sozial gesteuerten Variablenregeln, aber auch bei Dialektdaten der prag-
36. Datenerhebung und Forschungsziel
625
matischen Ebene wird die Abgrenzung, wie oben erwähnt, zum Datentyp der Dialektverwendungsdaten fließend.
pulierte Dialektaufnahmen 11) und Lehrexperimente chenden Schülern.
3.2. Dialektverwendungsdaten
4.2. Beobachtungen im engeren Sinne
In den Bereich dieses zweiten Datentyps fallen alle Angaben über die Regelhaftigkeit der Verwendung von dialektalen Sprachvarietäten durch einzelne Sprecher oder Sprachgemeinschaften in verschiedenen Si tuationen oder durch unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen. Zur Dialektverwen dungsstruktur, die ebenfalls normalerweise vergleichend zu Verwendungsstrukturen von parallel existierenden Varietäten beschrieben wird, gehören Regeln über die Verwen dungsbereiche von Dialekt in einer Sprachgemeinschaft bzw. im Sprachwissen eines Sprechers. Hierzu gehören aber auch Angaben über die Bewertung von dialektalen Sprachvarietäten, die entscheidende Steuer faktoren für die Anwendung und Veränderung von Dialektverwendungsregeln, aber auch von innersprachlichen Dialektregeln sind (vgl. auch Art. 92).
Beobachtungen dieses Typs suchen jede aktive Veränderung ihres Beobachtungsobjektes zu vermeiden. Trotzdem kann man auch hier nicht von einer passiven Einstellung dem beobachteten Objekt gegenüber sprechen. Auch die Beobachtung im engeren Sinne setzt in vielfacher Weise bei der Auswahl und Bestimmung des Beobachtungsobjektes und bei der Festlegung der Beobachtungsmethode aktive und zielgeleitete Tätigkeiten des Forschens voraus. Man kann in der Dialektologie je nach der Position des Forschers die externe oder distante Beobachtung und verschiedene Formen der teilnehmenden Beobachtung unterscheiden.
(Jongen 1972, bei dialektspre -
4.2.1. Die externe Beobachtung
Nach der Methode, mit der man Daten der beiden unter 3. genannten Typen innerhalb eines Forschungsprozesses erheben kann, unterscheidet man verschiedene Datenerhe bungsformen. Alle diese Typen und ihre Untergliederungen sind im weiteren Sinne ‘Beobachtungen’. Jede Beobachtung ist Aus druck einer aktiven Einstellung des Menschen zu seiner Umwelt (Kröber 1972, 183). Der wissenschaftliche Beobachter sucht sein Beobachtungsobjekt bewußt aus und ver folgt mit der Beobachtung ein bestimmtes, vom Forschungsziel und dem dadurch strukturierten Forschungsplan gesetztes Ziel. Innerhalb der Beobachtung im weiteren Sinne ist zu unterscheiden zwischen der Beobachtung im engeren Sinne und dem Experiment.
Bei der Dialektdatenerhebung durch externe Beobachtung befindet sich der Forscher in der Position eines nicht am Entstehungsprozeß der von ihm beobachteten Sprache beteiligten Registrators. Er beobachtet auf der Grundlage seiner aus den theoretischen Annahmen abgeleiteten Beobachtungskatego rien einen Sprachverwendungs oder Sprachproduktionsvorgang mit dem Ziel, eine Beschreibung dieses Objektes im Rahmen der vorgegebenen Kategorien zu geben. So befindet sich etwa der Aufnahmeleiter, der bei den Aufnahmen zum Deutschen Sprachatlas den Sprecher auffordert, Dia lekterzählungen ins Mikrophon zu sprechen, idealiter in der Position eines externen Beobachters. Das gleiche gilt aber auch für den Forscher, der durch die Post Dialektfragebogen verschickt oder der Sprachproben als Sonagramm - Aufzeichnungen auswertet. Die Unterschiede bei diesen verschiedenen Formen externer Beobachtung liegen in Differenzen im Grad der Direktheit und der Kontrolliertheit der Beobachtung.
4.1. Das Experiment
4.2.2. Die teilnehmende Beobachtung
Im Experiment werden die zu untersuchenden Objekte, also die Sprache oder der Sprachgebrauch, zielgerichtet verändert und innerhalb von festgelegten Experimentbe dingungen variiert (Zimmermann 1972, 32— 38). Solche Experimente sind in der Dialektologie etwa systematische Kommunikabili tätstests zwischen Sprechern verschiedener Dialekte, Tests über die Reaktionen von Sprechern auf systematisch akustisch mani-
Die teilnehmende Beobachtung unterschei det sich von der externen Beobachtung dadurch, daß der Forscher selber in unterschiedlichem Maße nicht nur mit aktiver Einstellung, sondern auch mit unmittelbarer Einwirkung an dem Datenerhebungsprozeß teilnimmt. Der Übergang zum Typ des Experiments kann dabei fließend sein (Friedrich/ Lüdtke 1973, 95 ff.).
4.
Datenerhebungsformen in der Dialektologie
626
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
4.2.2.1. Die intuitive Vergegenwärtigung von Sprache und Sprachgebrauch Dieser Datenerhebungstyp ist die extremste Form teilnehmender Beobachtung, bei der der Forscher seine eigene Gewährsperson ist und die gesuchten Dialektdaten durch ‘innere Beobachtung’ in einem Akt der Introspektion sammelt. Es ist besonders in der Dialektologie umstritten, ob man diese Art der Beobachtung als Datenerhebungsmethode gel ten lassen soll, da hier das wichtige Kriterium der interpersonalen Verbindlichkeit und der Kontrollierbarkeit fehlt (Paprotté/ Bunting 1980, 85). Trotzdem ist diese Methode in der Dialektologie schon seit der Mitte des vorigen Jhs. sehr häufig angewendet worden. Die meisten der seit dieser Zeit entstandenen Ortsgrammatiken beruhen expli zit oder auch implizit auf durch einen introspektiven Vergegenwärtigungsprozeß ge wonnenen Sprachdaten, die der ortsgeborene Sprachforscher aufgrund seiner Sprachbeherrschung seinem eigenen Sprachwissen entnimmt. 4.2.2.2. Die Thematisierung von Kommunikationssituationen. Hier sind zwei unterschiedliche Ansätze (Wunderlich 1974, 83—86) zu unterschei den: (a) Die einseitige Thematisierung von ablaufenden Kommunikationssituationen durch den Forscher. Zu diesem Datenerhebungstyp gehört die in der Dialektologie bisher selten systematisch verwendete teilnehmende Be obachtung (Schlieben- Lange 1976). Dabei ist der Forscher als Mitglied einer Kommunikationsgruppe einerseits voll in den Sprachverwendungsprozeß integriert. Andererseits besteht bei ihm neben dem momentanen, auf die jeweilige Kommunikationssituation ge richteten Kommunikationsinteresse noch ein weitergehendes, linguistisches Interesse. (b) Die metakommunikativ - reflexive The matisierung von gegenwärtig ablaufenden oder von reflexiv vergegenwärtigten Sprachhandlungen. Zu diesem Datentyp gehören die Gespräche mit Dialektsprechern über bestimmte von ihnen gleichzeitig verwendete Sprach und Sprachgebrauchsstrukturen oder auch über ihre Sprache und die Sprache in ihrem Erfahrungsbereich überhaupt. Die meisten der in letzter Zeit publizierten Arbeiten über die Verbreitung verschiedener Sprachvarietäten in bestimmten Regionen beruhen auf Daten, die durch solche Interviews über Sprache und Sprachverhalten ge-
wonnen wurden (vgl. Hufschmidt, Mattheier, Mickartz, 1983).
5.
Klein,
Forschungsziele in der Dialektologie
Während die Datenerhebung in der Dialektologie schon häufiger Gegenstand von theoretischen und methodischen Überlegungen gewesen ist (Mitzka 1952, Harras/Wiegand 1971, Hufschmidt/Mattheier 1976; vgl. auch die Art. in Kap. IV), ist der wissenschaftstheoretische Bereich, den man mit dem Ausdruck Forschungsz iel umschreibt, zumindest in der Dialektologie und der Sprachwissenschaft noch nicht genauer untersucht worden (Vgl. aber Art. 20). Dabei wird man in jedem Fall die wissenschaftstheoretische Diskus sion über Typen und Formen des For schungsziels von der Analyse von For schungszielen in den Einzelwissenschaften wie hier in der Dialektologie zu trennen haben. 5.1. Typen von Forschungszielen Verschiedene Typen von Forschungszielen sind unter 2. schon genannt worden. (1) theoriebezogenes Forschungsziel (2) gesellschaftsorientiertes Forschungsziel (3) ideologiebestimmtes Forschungsziel (4) didaktikorientiertes Forschungsziel (5) dokumentatorisches Forschungsziel Diese fünf Forschungsziel - Typen liegen jedoch nicht auf der gleichen Ebene. Man kann unterscheiden zwischen dem Theoriebereich, zu dem das erste Forschungsziel gehört, und der in gewissem Ausmaß strukturierende Funktion auch für die übrigen Forschungsziele hat; dem Dokumentationsbe reich mit dem fünften Forschungsziel und dem Anwendungsbereich, in dem die Forschungsziele ‘Lösung von sozialen Problemen’, ‘Absichern von Ideologie’ und ‘Lösen von didaktischen Problemen’ zusammenge faßt werden können. 5.1.1. Theoriebezogenes Forschungsziel Inhalt des theoriebezogenen Forschungsziels ist die Neukonstruktion von wahren, präzisen und empirisch gehaltvollen Theorien über einen bestimmten Objektbereich. Dazu gehören auch die Bereiche der Theoriekritik und der Weiterentwicklung von Theorien. Ein solches Forschungsziel wurde und wird oft implizit als selbstverständlich für alle Forschungen vorausgesetzt, ja es wird auch teilweise als einziges angemessenes bzw.
36. Datenerhebung und Forschungsziel
‘richtiges’ Ziel wissenschaftlicher Tätigkeit allen anderen Zielsetzungen übergeordnet. 5.1.2. Gesellschaftsorientiertes Forschungsziel Das gesellschaftsorientierte Forschungsziel hat zum Inhalt das Aufzeigen von Lösungen für Probleme, die innerhalb der alltagsweltlichen Lebensbereiche auftreten, aber auch die Aufdeckung solcher gesellschaftlichen Probleme. Es ist abgeleitet aus einer praxisorientierten Auffassung von wissenschaftli cher Tätigkeit. 5.1.3. Ideologiebestimmtes Forschungsziel Beim Vorliegen eines ideologiebestimmten Forschungsziels wird die wissenschaftliche Absicherung von außerwissenschaftlich — speziell politisch/weltanschaulich — festge legten oder postulierten Axiomsystemen angestrebt. Bei dieser Form des Forschungsziels, die oftmals nur implizit vorliegt, machen sich die jeweiligen Interessengruppen ausdrücklich das Prestige von wissenschaftlicher Forschung zunutze für die Rechtfertigung und Durchsetzung politischer oder weltanschaulicher Interessen. In dem Maße, in dem an die Stelle der gesellschaftlichen Gruppeninteressen die Interessen der Gesamtgesellschaft treten, kann die Grenze zu den gesellschaftsorientierten Forschungszielen fließend werden. 5.1.4. Didaktikorientiertes Forschungsziel Dieses Forschungsziel ist auf die Erarbeitung, Kritik und Weiterentwicklung von Programmen und Hilfsmitteln zum Erlernen des jeweiligen Fachbereiches ausgerichtet, aber auch auf die Aneignung von Wissen über den jeweiligen Gegenstandsbereich und auf die Erfassung der dabei ablaufenden Prozesse. 5.1.5. Dokumentarisches Forschungsziel Dieses fünfte Forschungsziel unterscheidet sich in grundlegender Weise von allen bisher genannten Zielen. Das theoriebezogene, das gesellschaftsorientierte, das ideologiebe stimmte und auch das didaktikorientierte Forschungsziel gründen letztlich auf dem Paradigma der analytisch - induktiven Wis senschaften, denen es darum geht, aus einer Reihe von Erfahrungssätzen gültige Regelformulierungen abzuleiten (Seifert 1975 I, 186). Das Forschungsziel Dokumentation eines
627
Objektbereiches zur Sicherung gegen die Gefahr, daß er im Verlauf der weiteren historischen Entwicklung verlorengeht, gehört mehr in das Paradigma der historisch- hermeneutischen Wissenschaften (Seifert 1975 II). Deren allgemeines Bestreben ist nicht die Herausarbeitung allgemeiner Regelformulie rungen, durch die möglichst viele Einzelfälle erklärt werden können. Die historisch - her meneutische Wissenschaft will einmalige historische Phänomene in beschreibend- verstehender Weise erfassen. Das Interesse ist dabei normalerweise auf den Einzelfall gerichtet, nicht auf allgemein erkennbare Tendenzen oder Regelmäßigkeiten. 5.2. Forschungsziele in der Dialektologie In jeder Einzelwissenschaft, auch in der Dialektologie, können aus den oben genannten übergreifenden Forschungszielen eine Fülle von einzelwissenschaftlichen Forschungszie len abgeleitet werden, die sich nach dem gewählten Gegenstandsbereich, aber auch nach dem jeweils vorliegenden Erkenntnisinteresse erheblich voneinander unterschei den können. In folgendem soll das an einem Beispiel veranschaulicht werden. Gewählt dazu sei der Gegenstandsbereich ‘Beschreibung einer Sprachgebrauchsstruktur in einer ländlichen Gemeinde der Gegenwart’. Be trachtet man diesen Gegenstandsbereich unter den sich aus den verschiedenen Forschungszielen ergebenden unterschiedlichen Gesichtspunkten, so zeigen sich sowohl für die Datengrundlage als auch für die hierzu auszuwählenden Datenerhebungsmethoden ganz erhebliche Unterschiede. Wählt man als Forschungsziel die Konstruktion einer Theorie über das Sprachverhalten in ländlichen Gemeinden, dann bildet die Beschreibung der Sprachverwendungs struktur einer solchen Gemeinde einen Ansatzpunkt für die Formulierung von Hypothesen zu einer solchen Theorie und für die Strukturierung weiterreichender, großräumi ger Forschungsprojekte. Stehen dagegen etwa die Kommunikationsprobleme im Vor dergrund des Interesses, die die Einwohner ländlicher Gemeinden bei der Konfronta tion mit fremden gesellschaftlichen Institutionen aufgrund ihrer Sprache haben, dann wird man andere, auf die Klärung der einzelnen sozialen Probleme gerichtete For schungsfragen formulieren und Daten dazu erheben. Hier wird etwa weniger der Kontakt mit anderen, ähnlich strukturierten Gemeinschaften in der Umgebung eine Rolle spielen als die Kontaktstruktur mit den pre-
628
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
stigereicheren städtischen Regionen der Umgebung. Bestimmte, unter dem theoriebezogenen Forschungsziel durchaus interessante Fragestellungen treten dagegen zurück. Im Rahmen des ideologiebestimmten Typs von Forschungsziel wird eine dialektologische Untersuchung von Sprachge brauchsstrukturen etwa durchgeführt, um Einwänden einzelner Ortschaften gegen die Bildung von Mittelpunktsgemeinden auf der Grundlage sprachlicher Differenzen entge gentreten zu können oder solche Einsprüche zu begründen. Dabei handelt es sich häufig nur vordergründig um einen Forschungsprozeß, dessen Ergebnisse den schon vorher gegebenen Axiomen untergeordnet werden. Völlig anders sehen dagegen einzelwis senschaftliche Forschungsziele der Dialektologie aus, die von einem didaktikorientierten allgemeinen Forschungsziel abgeleitet wer den. Beschäftigt man sich etwa in der Dialektologie mit den orthographischen und grammatischen Fehlleistungen dialektspre chender Kinder in der Schule, dann geht es nicht um Strukturen, in denen Dialektphänomene und standardsprachliche Phänome ne linguistisch miteinander kontrastieren, sondern um die Prinzipien, durch die ein dialektsprechendes Kind in einem gelenkten Spracherwerbsprozeß die Standardsprache erlernen kann. Dabei wird man grundsätzlich auf ganz andere Theorien und Teiltheorien zurückgreifen müssen, wie etwa auf die Spracherwerbstheorie oder die Lerntheorie. Forschungsziele vom dokumentatori schen Typ sind in der Dialektologie besonders weit verbreitet. So ist die Dokumentation von Dialektdaten im Deutschen Sprachatlas, im Deutschen Wortatlas (vgl. Art. 3) und auch beim Deutschen Spracharchiv letztlich auf die Bereitstellung von For schungsmitteln für die spätere Forschung ausgerichtet. Aussagen zu Forschungszielen sind ihrem wissenschaftstheoretischen Status nach nor mative Aussagen. Sie sind also innerhalb eines Forschungsprozesses allenfalls hinsicht lich ihrer logischen oder empirischen Konsequenzen zu kritisieren. Ihren eigentlichen wissenschaftstheoretischen Rahmen finden normative Aussagen zu übereinzelwissen schaftlichen oder einzelwissenschaftlichen Forschungszielen jedoch einerseits in der Wissenschaftssoziologie und andererseits in der Forschungsgeschichte (Kuhn 1970). Welches allgemeine Forschungsziel erlaubt, angemessen und unter welchen Bedingungen
anzuwenden ist, das legt der Stand der Wechselwirkungen zwischen Forschungs prozessen und allgemeinen gesellschaftli chen Entwicklungen fest. Welche einzelwissenschaftlichen Forschungsziele etwa inner halb der Dialektologie zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung möglich und angemessen waren und sind, das wird letztlich durch die Position festgelegt, durch die der einzelne Forscher gesellschaftlich in den Prozeß der Erforschung von Dialekten eingebettet ist (vgl. Art. 20). Dabei ist eine völlig freie Wahl des Forschungsziels selbst, abgesehen von den unbewußten Bindungen des Wissenschaftlers an dialektologische Stan dards, nur in den seltensten Fällen möglich. Wie jeder Wissenschaftler, so bleibt auch der Dialektologe eingebunden in die jeweilige wissenschaftssoziologische Interessenkon stellation, durch die neben den Forschungsmitteln auch die Forschungsfragen und die Forschungsschwerpunkte vorgegeben wer den.
6.
Struktur des dialektologischen Forschungsprozesses
Innerhalb eines Forschungsprozesses nimmt die Fixierung des Forschungszieles eine für die gesamte Gliederung der Durchführung der Forschung entscheidende Position ein. Die Benennung und Festlegung des Untersuchungsgegenstandes, des Untersuchungsrau mes und der zentralen Untersuchungsfragen sind entscheidend durch das vorgegebene Forschungsziel vorgeprägt. Eine Untersu chung von dialektologischen Forschungsvor haben auf ihre wissenschaftstheoretischen Standards in Bezug auf das Forschungsziel läßt jedoch eine Reihe von immer wieder auftretenden Problemen in der Beziehung zwischen dem Forschungsziel und der Erhebung der Datengrundlage erkennen, die im folgenden zuerst allgemein und dann an zwei gut dokumentierten Forschungsprozes sen der Dialektologie aus jüngster Zeit dargestellt werden sollen. 6.1. Phasen eines Forschungsprozesses in der Dialektologie Obgleich nur sehr selten spezielle Überlegungen zur Gestaltung von dialektologi schen Forschungsvorhaben angestellt wer den, kann man, wie in der gesamten empirischen Sozialforschung so auch in der Dialektologie, den unter 2. skizzierten analytisch-
36. Datenerhebung und Forschungsziel
empirischen Typ von Forschungsprozeß als Normaltyp dialektologischen Forschens be zeichnen. Es geht dem Dialektologen dabei darum, aus der systematischen und theoriegeleiteten Beobachtung, Beschreibung und Analyse einer für den Forschungsgegenstand repräsentativen Menge von Einzelerfahrun gen allgemeingültige prognosefähige Aussa gen oder Regelformulierungen herauszulö sen, mit denen dann auch nicht untersuchte oder neu auftretende Phänomene bis zu einem gewissen Grade erfaßt und verstanden werden können. Der Gesamtprozeß der intuitiv - empiri schen Forschung besteht in der stufenweisen Konstruktion eines wissenschaftlichen Ge genstandes, einer Theorie oder eines Modells (Wiegand 1974, 91 f.) mit dem Ziel, daß diese Theorie in möglichst allen Eigenschaften, die für das jeweilige Forschungsziel relevant sind, dem zu erforschenden Gegen stand entspricht. Die Grundlage bildet dabei das theoretische Vorverständnis von For schungsgegenstand ebenso wie der Kennt nisstand des Forschers. Hinzu tritt das jeweilige Forschungsziel unter dessen Prämissen das theoretische Vorverständnis gewichtet und gegliedert wird. Aus diesen Komponenten baut sich das Theoriekonzept auf, das der weiteren Arbeit zugrunde liegt. Im zweiten Schritt des Forschungsprozesses werden auf dieser Basis Hypothesen über wahr scheinlich im Erfahrungsbereich aufzufin dende Strukturen und Prozesse gebildet. Die dritte Phase besteht in der Operationalisierung der Hypothesen. Dabei werden die allgemeinen Annahmen über den Erfahrungsbereich in eine Aussageform gebracht, in der sie durch ein empirisches Überprüfungsverfahren auf ihre Richtigkeit getestet werden können. Diese Operationalisierung erfolgt im Hinblick auf die für eine Überprüfung der Hypothese zur Verfügung stehenden empirischen Methoden. Soll etwa, geleitet durch ein theoriebezogenes Forschungsziel, die Verbreitung des Dialektes in privaten Situationen in einer bestimmten Region untersucht werden, so wird man zuerst versuchen, den Forschungsstand zu diesem Thema zu erarbeiten. Dabei würde sich ergeben, daß in privaten Situationen in Süddeutschland unter Ortsgeborenen immer Dialekt verwendet wird. Unklar ist jedoch, in welchem Ausmaß Dialekt verwendet wird, da der Forschungsstand hier keine klare Vorstellung vermittelt. Auf der Basis einer Dialektdefinition und der terminologischen Festlegung von ‘priva-
629
ter Situation’ werden dann Hypothesen formuliert wie etwa: (9) Es gibt eine Wechselwirkung z wischen Alter und Dialektverwendung in privaten Situationen. In der Phase der Operationalisierung muß diese Hypothese dann in eine Form gebracht werden, in der man sie durch empirisches Verfahren überprüfen kann. Man muß festlegen, ob man das Dialektverhalten von Altersgruppen, etwa Generationen, untersu chen will, oder das natürliche Alter der Einzelpersonen. Besonders wichtig ist jedoch die Festlegung dessen, was unter ‘Ausmaß der Dialektverwendung’ verstanden wird. Hier könnte man an unterschiedliche Grade der Dialektalität denken, die mit Dialektalitätsmessungsverfahren wie etwa der dialektalen Stufenleiter von Ammon (1973, 62—69) erfaßt werden können. Nach einer solchen Operationalisierung könnte die Hypothese folgendermaßen lauten: (10) Es gibt eine Wechselwirkung z wischen den drei Generationen Jugend (bis 25), mittleres Alter (26—60) und hohes Alter (61 und mehr) einerseits und andererseits der Dialekttiefe, wie sie durch die Ammonschen dialektalen Stufenleitern gemessen wird. Nach der Operationalisierung der Hypothesen setzt dann der eigentliche Rückbezug auf die Erfahrungswelt ein. Dabei werden die Arbeitsmethoden und - verfahren festgelegt, soweit sie nicht durch die Operationalisierung schon vorgegeben sind. Danach ist zu prüfen, ob und inwieweit der ausgewählte Erfahrungsbereich von Art und Umfang her repräsentativ ist (vgl. Art. 23) und ob die gewählten Forschungsmethoden valide und verläßliche Ergebnisse zu den Hypothesen liefern können. (Mayntz, Holm, Hübner 1971, 120—122). Diese Fragen werden oft durch Pilot - Untersuchungen abgeklärt, die bis zu einem gewissen Grade auch zur Verfeinerung von Hypothesenbildung und Operationalisierung beitragen können. Danach erst erfolgt die eigentliche Erhebung und Auswertung von Erfahrungsdaten. Der Forschungsprozeß schließt mit der Ergebnisformulierung ab. Die Hypothesen werden dabei durch empirische Überprü fung verifiziert oder falsifiziert. Falsifizierte Hypothesen führen dann im abschließenden Reflexionsprozeß zu einer Modifikation in den theoretischen Annahmen, die Ausgangspunkt für die Hypothesenbildung gewesen sind. Durch verifizierte Hypothesen werden bestimmte Teilbereiche theoretischer Aussa gesysteme fester und tragfähiger.
630
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
6.2. Veranschaulichung an zwei dialektologischen Forschungsvorhaben In der dialektologischen Forschung ist man — wie oben erwähnt — zwar implizit fast immer nach diesem Forschungskonzept verfahren. Doch nur selten wird das auch explizit gemacht, so daß es immer besonderer wissenschaftstheoretischer Analysen bedarf, die in den Projekten vorliegenden methodologischen Probleme erkennbar machen. Ausnahmen sind hier z. B. die Forschungen von U. Ammon (Ammon 1972, 1973) und von D. Stellmacher (Stellmacher 1977). Bei beiden Forschungsvorhaben steht die gesell schaftliche Differenzierung im Gebrauch von Dialekt und Standardsprache im Zentrum des Interesses. Während jedoch Stellmacher an dieses Problemfeld mit einem theoriebezogenen Forschungsziel herantritt, nämlich allgemeine Regularitäten über die gesellschaftliche Steuerung von Dialektge brauch herauszufinden, steht bei Ammon ein gesellschaftsorientiertes Forschungsziel im Vordergrund. Ihm geht es in erster Linie um den Nachweis und die Behebung von gesellschaftlicher Ungleichheit, die sich mit den Unterschieden zwischen Dialekt- und Standardgebrauch verbindet (vgl. auch Art. 89). Beide formulieren ihr theoretisches Vorverständnis auf der Grundlage einer detaillierten Analyse der Forschungsliteratur. In die theoretischen Konzepte, die Ammon und Stellmacher für die Hypothesenbildung erarbeiten, geht jedoch nicht nur der dialektologische Forschungsstand ein, sondern auch die Annahmen über den Aufbau sozialer Gemeinschaften, die Dialekt verwenden. Stellmacher hält sich dabei im Groben an das von der empirischen Sozialforschung erar beitete Schichtmodell der Gesellschaft, dem eine Vorstellung von gesellschaftlicher Ungleichheit als Ungleichheit gesellschaftlicher Leistungsfähigkeiten und Leistungsmöglich keiten zugrundeliegt. Er geht davon aus, daß diese Theorie gesellschaftlicher Ungleichheit am besten der sozialen Wirklichkeit in seinem Untersuchungsort entspricht, die er möglichst unverzerrt erfassen will. Mit der Wahl des Schichtmodells übernimmt Stellmacher zugleich auch das empirische Instrumentarium, das man zur Beschreibung eines derartig strukturierten Schichtaufbaus der Gesellschaft braucht, den von E. Scheuch entwickelten Schichtenindex (Scheuch 1970). Durch diesen Index wird Schichtzugehörigkeit als Zugehörigkeit zu bestimmten Status-
gruppen operationalisiert, die aufgrund von Berufsgruppenzugehörigkeit, Bildungsstand, Einkommen und anderen objektiven Daten das gesellschaftliche Ansehen einer Gruppe mißt (vgl. Art. 89). Ammon geht dagegen unter dem Einfluß seines gesellschaftsorientierten Forschungs ziels von einem anderen Modell sozialer Ungleichheit aus, durch das die konstatierte gesellschaftliche Benachteiligung der Dialekt sprecher gegenüber den Standardsprache sprechern greifbar wird. Dialekt und Standardsprache sind für ihn gesellschaftliche Symbole für die Zugehörigkeit zu zwei sich antithetisch in kapitalistischen Gesellschaf ten gegenüberstehenden Gruppen; den manuell Arbeitenden und den nicht manuell Arbeitenden. Durch diese Annahme ist die Operationalisierung seiner Hypothese im Bereich der Gesellschaftsstruktur vorgege ben. Die relevanten Gruppierungen der gesellschaftlichen Gliederungen sind für Ammon bestimmt durch die Art der Arbeit, die die Menschen verrichten. Der zweite Theoriebereich der Untersuchungen von Ammon und Stellmacher, die Sprache, wird von beiden in ähnlicher Weise aufgefaßt. Die Sprecher verwenden Sprachvarietäten, die in unterschiedlichem Ausmaß dialektgeprägt sind. ‘Dialektgeprägtheit’ wird von beiden durch ein eigens dafür entwickeltes Dialektalitätsmessungsinstrument festgelegt. Ammon fundiert sein Verfahren durch Überlegungen zur unterschiedlichen regionalen Reichweite der Kommunikabilität von verschiedenen Dia lektvarietäten. Stellmacher geht dagegen allgemein davon aus, daß Unterschiede in den ländlichen Lebenswelten auch Unterschiede in der Dialektalität sprachlichen Verhaltens hervorrufen. Die so operationalisierten Forschungshy pothesen werden dann in der Empirie überprüft. Dabei verwendet Ammon Sprach- und Sozialdaten, die im Rahmen eines anderen Forschungsprojektes erhoben worden sind. Das führt zu einer Reihe von notwendigen Reduktionen. So kann er nicht in allen Fällen die Gruppenzugehörigkeit zu den von ihm festgesetzten sozialen Gruppen eindeutig bestimmen. Stellmacher erhebt bei einer ausgewähl ten Stichprobe seiner Untersuchungsgruppe die Sprach- und die Sozialdaten selbst. Dabei ergeben sich bei der Sprachdatenerhebung Probleme bei der Aufzeichnung von alltäglicher Sprache der Gewährspersonen. Durch die Anwesenheit des Forschers bei
36. Datenerhebung und Forschungsziel
631
der Sprachaufnahme gelingt es nur teilweise ‘alltägliches’ Sprachmaterial aufzunehmen. Die auf die Datenerhebung folgende Auswertung der Sprach- und Sozialdaten und ihre Korrelation ergeben in beiden Fällen eine Verifizierung der Hypothesen, nämlich, daß der Dialektgebrauch sozial gesteuert wird.
7.
Probleme empirischer Forschung in der Dialektologie
Schon die sehr verkürzte und auf wenige Aspekte der Forschungen von Ammon und Stellmacher reduzierte Skizze des For schungsablaufs läßt erkennen, daß man in den einzelnen Phasen des Prozesses immer wieder auf Probleme stößt, die prinzipiell die Leistungsfähigkeit analytisch - empiri scher Forschung in Frage stellen: So etwa, wenn man — wie Ammon — Datengrundlagen verwendet, die nicht speziell für das Forschungsvorhaben erarbeitet worden sind und daher zu Modifikationen führen; oder auch wenn man — wie Stellmacher — durch die Art der Sprachaufnahme von Alltagssprache in Anwesenheit der Interviewer das Zustandekommen von alltäglichen Sprechsituatio nen erschwert. Derartige Probleme erstrecken sich ein mal auf den Forschungsprozeß selbst. Für jede Fragestellung kann der Wissenschaftler unter den von seinem Forschungsziel gesetzten Prämissen ein Instrumentarium von idealen Datenerhebungsmethoden entwerfen. Ein lokales Kommunikationsprofil sollte etwa möglichst alle kommunikativen Möglichkeiten aller Bewohner eines Ortes und deren jeweilige Bedingungen und Funktionen aufzeigen. Dazu könnte man in einer langen Phase der teilnehmenden Beobachtung zuerst einmal alle Kommunikationssituations Typen im Ort und auch alle gesellschaftlichen Gruppierungen feststellen. Danach werden dann durch persönliche Interviews indirekte Sprach- und Sozialdaten und weiterhin möglichst unbeobachtete Sprachauf nahme in allen Situationen gemacht. Alles das bietet dann eine recht gute Datenbasis für die Beschreibung eines lokalen Kommunikationsprofils. Derartig idealen Datener hebungsmodellen sind aber in der konkreten Realität des Forschens enge Grenzen gesetzt. 7.1. Innere Problembereiche des Forschungsprozesses Erstens
ist
eine
vollständige
Beschreibung
der gesamten Komplexität eines Wirklich keitsausschnitts wie etwa einer lokalen Sprachgemeinschaft prinzipiell unmöglich. Jede Art von Datenerhebung filtert aus der unendlichen Menge von Fakten nach den vom Forschungsziel gesetzten Prämissen nur einen kleinen Ausschnitt als Daten heraus. Das Kommunikationsprofil einer Sprachge meinschaft umfaßt die Gesamtheit aller kommunikativen Beziehungen bewußter und unbewußter Art. Durch das theoretische Konzept vom Kommunikationsprofil, das Grundlage für die Formulierung von Hypothesen ist, wird die Wirklichkeit der Fakten in ein Datensystem überführt. Dabei wird man grundsätzlich damit rechnen müssen, bedeutsame Faktoren der Kommunikations wirklichkeit übersehen zu haben. Das Ziel jedes Forschungsprozesses ist es gerade, die potentielle Wirkung von Faktoren nachzu weisen, die dann in folgenden Forschungsprozessen Untersuchungsgegenstand sein können. Zweitens sind jedem Forschungsvorha ben methodische Grenzen gesetzt. Gerade die Untersuchungen von Ammon und Stellmacher zeigen, daß es in der Dialektologie — wie auch in allen anderen Wissenschaften — Bereiche gibt, in denen es (noch) keine geeigneten Methoden zur Datenerhebung gibt. So sucht sowohl Ammon als auch Stellmacher das Phänomen der Dialektalität durch ein Meßverfahren zu erfassen. In beiden Fällen ist aber fraglich, ob das, was dabei gemessen wird, tatsächlich ‘Dialektalität’ ist, wie sie innerhalb der Sprachgemein schaften für die Beurteilung und Bewertung von Sprachverhalten bedeutsam wird. Die Validität (Selltiz u. a. 1972 I, 183—196) dieser Meßverfahren ist nicht gesichert. Bisher ist noch keine ideale Methode zur Messung von Dialektalität entwickelt worden, ob gleich sich in dialektologischen Forschungen immer wieder die Notwendigkeit zur Erfassung dieses Phänomens ergibt (Mattheier 1980, 188—198). Drittens schließlich sind der Durchfüh rung idealer Datenerhebungsprozesse in der Regel forschungstechnische und forschungs praktische Grenzen gesetzt, die man in ihrer Bedeutung nicht übersehen sollte, da sie jeden Forschungsprozeß und die Ergebnisse oft in entscheidender Weise prägen. Im Vordergrund stehen dabei Fragen der Finanzierbarkeit von Forschung, des Vorhandenseins von geeignetem Forscherpotential und des Verfügens über ausreichend Zeit zur Durchführung von Untersuchungen. So ver-
632
V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
wendet etwa Ammon aus Geld- und Zeitmangel für die Überprüfung seiner Hypothesen in anderem Zusammenhang erhobenes Material. Er muß deswegen seine Hypothesen modifizieren. Stellmacher ist es aus Zeitmangel und weil er allein an seinem Forschungsvorhaben arbeitet, nicht möglich, systematisch von allen seinen Sprechern Sprachmaterial aus verschiedenen Ge sprächssituationen zu erheben. Das er schwert dann die situative Interpretation seiner Ergebnisse. 7.2. Äußere Problembereiche des Forschungsprozesses Die mehr forschungspraktischen Einschrän kungen bei der Durchführung empirischer Untersuchungen leiten über zum zweiten Typ von Problemen, zu Problemen, die sich aus der Übertragung der Forschungskonzepte auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ergeben. Es handelt sich dabei im wesentlichen um vier Bereiche, die sehr eng miteinander verbunden sind und die von Kritikern an der analytisch - empirischen Sozialforschung oft als prinzielle Bedenken gegenüber der Brauchbarkeit dieser Art von Forschung im Bereich der gesellschaftlichen Kontakte unter Menschen vorgebracht werden (Cicourel 1970, Berger 1974): (1) die prinzipielle Gegenstandsinadäquatheit von wissenschaftlicher Begrifflichkeit und Beschreibungssprache, (2) die prinzipielle Verzerrung von Normalsituationen durch den beobachtenden oder messenden Zugriff der Wissenschaftler, (3) die Mißachtung der Interessen der untersuchten gesellschaftlichen Gruppen an den Untersuchungen, (4) die Mißachtung allgemeiner moralischer Forderungen menschlichen Zusammenle bens und der Persönlichkeitsrechte der ‘Forschungsgegenstände’ durch den Wissen schaftler. 7.2.1. Datenbasis und Beschreibungssprache Mit dem ersten der oben genannten Probleme ist eine Fragestellung angesprochen, der in der Dialektologie bisher erst selten nachgegangen worden ist, deren Relevanz sich jedoch häufig in dialektologischen Untersu chungen zeigt: Inwieweit sind die Beschreibungskategorien, die der Dialekt - Forscher für die Erfassung der Wirklichkeit verwendet, auch Kategorien, in denen der Dialektsprecher selbst seine Umwelt und seine Spra-
che erfaßt. Die klassische Dialektgeographie geht davon aus, daß der Ortspunkt für eine dialektale Raumaufnahme eine sprachliche Einheit bildet. Sie macht daher Dialektaufnahmen an jedem einzelnen Ort. Nun haben aber Untersuchungen gezeigt, daß für die Dialektsprecher selbst die Räume, in denen ihrer Meinung nach gleich gesprochen wird, keineswegs immer von der Ortsgrenze bestimmt werden (vgl. Büld 1938). Für die Sprecher selbst können diese Räume kleiner als einzelne Orte sein und sich z. B. auf einen Ortsteil oder eine Gehöftgruppe beschränken, sie können aber auch mehrere Ortspunkte umfassen. Das Sprachverhalten der Dialektsprecher orientiert sich dabei nicht an den etwa objektiv festgestellten Sprachdifferenzen, sondern an den Vorstellungen, die die Sprecher von ihrem Sprachraum haben. Bei der 1965/66 vom Allensbacher Meinungsforschungsinstitut erhobenen Verbrei tung des Dialektes in der Bundesrepublik Deutschland ist nach Verständnis und Verwendung von ‘Dialekt’ (Heuwagen 1974) gefragt worden, ohne daß sichergestellt war, daß das Dialektverständnis der Forscher mit dem übereinstimmte, was die Befragten sich unter ‘Dialekt’ vorstellen. Die Interpretation der Ergebnisse im Sinne des von Allensbach gesetzte Forschungsziels ist dadurch nicht eindeutig möglich (Mattheier 1974). Ein ähnliches Problem ergibt sich, wenn es innerhalb eines dialektologischen Forschungsvor habens nötig ist, das Spektrum der Sprachvarietäten von der Standardsprache bis zum tiefen Dialekt einzuteilen. Eine solche Einteilung kann einmal nach objektiven Kriterien etwa der Sprachstrukturdifferenz vorgenommen werden. Doch können daran dann keine Aussagen über Bedeutung des Sprachvarietäten- Kontinuums für die Sprecher angeschlossen werden. Denn das Bewußtsein von sprachlichen Differenzen fällt nicht unbedingt mit den ‘objektiven’ Differenzen zusammen. Untersuchungen dieser Frage haben gezeigt (Mattheier 1983), daß schon innerhalb von kleinen Sprachgemeinschaften unter verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verschiedene Modelle der Gliederung des sprachlichen Kontinuums verbreitet sind. Das bedeutet, daß die eine soziale Gruppe etwa Unterschiede zwischen einer überregionalen und einer regionalen Um gangssprache macht, eine andere jedoch beides nicht trennt (vgl. Art. 52). In all diesen Fällen steht der Forscher vor
36. Datenerhebung und Forschungsziel
dem Problem, in welchem Verhältnis sein eigenes theoretisches Konzept der zu untersuchenden Alltagswelt zu den Vorstellungen steht, die sich die Mitglieder dieser Alltagswelt selbst machen. Dabei gibt es sicherlich Forschungsbereiche wie etwa die Beschreibung von dialektalen Sprachstrukturen, in denen die Vorstellungen der Sprecher keine Rolle spielen. Bei allen Fragen jedoch, die den Sprachgebrauch und seine Veränderung innerhalb der Gemeinschaft betreffen, wird der Forscher seine eigene Theorie in enger Anlehnung an den alltagsweltlichen ‘Theorie’- Konzepten (vgl. dazu Schütz, Luckmann 1975) der Gewährspersonen konzipieren müssen, will er relevante Aussagen machen. 7.2.2. Der beobachtende Wissenschaftler Der zweite Bereich der kritischen Einwände gegen die induktiven Methoden in der empirischen Sprach- und Sozialforschung betrifft ebenfalls die Wechselwirkung zwischen dem Forschungsinstrument und dem ‘lebendigen’ Forschungsgegenstand. Jedoch stehen dabei nicht forschungstheoretische Probleme der Konstitution der Kategoriensysteme im Vordergrund, sondern der methodische Bereich der empirischen Überprüfung der Hypothesen. Die Datenerhebung bei dialektologischsprachsoziologischen Untersuchungen kann nur dadurch erfolgen, daß der Daten aufnehmende Forscher in irgendeiner Weise in die Sprachgemeinschaft eindringt. Entweder er schickt Fragebogen oder er führt Interviews und Gespräche durch bzw. macht Sprachaufnahmen von Gesprächen, die sonst auch stattgefunden hätten oder die speziell vom Forscher initiiert worden sind. Der einzige Fall, in dem der Sprachforscher nicht in dieser Weise in eine ihm fremde Sprachgemeinschaft eingreift, liegt dann vor, wenn die Sprachaufzeichnung zu den normalen Konstituenten der Kommunikationssitua tion gehört, die der Forscher analysieren will, also etwa bei öffentlichen Diskussionen vor Publikum, bei öffentlichen Vorträgen oder bei Rundfunk - und Fernsehsendungen (Steger 1971). Diese Konstellation spielt jedoch für dialektgeprägte Sprachgemein schaften in der Regel keine Rolle. Alle anderen, dem Forscher zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Datensammlung sind mit einem ‘unnormalen’ Eingriff in die normale Sprechsituation verbunden, die es aufzu zeichnen gilt. Die Auswirkungen dieses Eingriffs führen dazu, daß die Sprecher die
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Sprechsituationen nicht so interpretieren, wie es vom Forscher geplant ist. So sind sowohl die von Ammon verwendeten Sprachmaterialien als auch die von Stellmacher aufgenommenen Gespräche in Anwesenheit und unter der direkten Beteiligung der Forscher bzw. der Aufnahmeleiter entstanden (Zwirner 1964, Ruoff 1973). Die Gewährspersonen werden durch diese An wesenheit der ihnen nur oberflächlich bekannten Forscher dazu veranlaßt, die Gesprächssituationen nicht mehr — wie vom Forscher intendiert — als privat, sondern zumindest teilweise als öffentlich zu interpretieren. Das führt dazu, daß aus dem Sprachvarietätenspektrum nicht die privatsprachli che Varietät, sondern die öffentliche Varietät oder eine Mischform ausgewählt wird. Der Forscher verursacht also durch seine Anwesenheit eine Veränderung der Normalkon stellation und dadurch einen Meßfehler. Dieses Phänomen ist in sprachsoziologi schen Untersuchungen systematisch zuerst von W. Labov berücksichtigt worden. Labov nannte es das ‘Interviewer- Paradoxon’ (Labov 1978). Die ‘paradoxe’ Situation, auf die dieser Terminus abzielt, besteht darin, daß der Forscher die Normalsituation desto mehr ändert, je näher er mit seinen Beschreibungsinstrumenten an die Normalität heran will. Dieses Interviewerparadoxon ist nicht für alle dialektologischen Datenerhebungskon stellationen von gleicher Bedeutung. Je weniger alltägliche Situationskonstellationen für die Entstehung des gewünschten Sprachmaterials von Bedeutung sind, desto weniger muß man mit den Auswirkungen dieses Faktors rechnen. Das Lesen von Minimalpaarlisten unter Sprachlaborbedingungen greift zwar extrem stark in die alltägliche Sprechkonstellation ein. Das dabei erhobene Sprachmaterial hat aber auch nicht den Anspruch, alltägliche Sprache zu sein. Bei allen Aufnahmen von Alltagssprache muß jedoch bei der Aufnahmeplanung das Interviewer - Paradoxon berücksichtigt wer den. Dabei kann man seine Auswirkungen in zweierlei Richtungen kontrollieren. Einmal kann man die Fremdheit der Interviewer reduzieren, wenn man vor die Sprachaufnahme eine längere Phase des Kennenlernens setzt. Zum anderen kann man trotz Anwesenheit des Forschers oder seiner Mikrophone die Alltäglichkeit der Situation stabilisieren, indem man zusätzlich noch andere Komponenten alltäglicher Situationen hin -
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
zufügt. Das kann dadurch geschehen, daß man Aufnahmen von Situationen macht, die nicht speziell für den Dialektologen zusammengestellt sind, also etwa von Familientreffen, Vereinssitzungen und ähnlichem. Es ist aber auch möglich, in speziell vom Forscher konstituierten Aufnahmesituationen die Normalsprachlichkeit zu stabilisieren, indem man die Gespräche unter Einheimischen ablaufen läßt und als Forscher ganz in den Hintergrund tritt, oder sogar gar nicht anwesend ist (Hufschmidt, Mattheier 1976, Weiss 1976). Doch ändern alle diese Techniken nichts daran, daß die Sprache aus derartigen Aufnahmen kein völlig normalsprachliches Material ist, was den Wert dieser Methoden für die Datenerhebung prinzipiell ein schränkt. 7.2.3. Das Interesse der Gewährspersonen und des Forschers Die letzten beiden Problemstellungen grundsätzlicher Art, die sich bei der Anwendung induktiv - empirischer Forschungsmethoden auf den zwischenmenschlichen Bereich ergeben, betreffen beide die Rolle des menschlichen ‘Untersuchungsgegenstandes’ bei sol chen Forschungen. Dabei stellt sich einmal die Frage, in welchem Ausmaß die Forschungsziele der Wissenschaftler mit den allgemeinen Interessen der untersuchten sozialen Gemeinschaften bzw. ihrer Mitglieder übereinstimmen. Die meisten dialektologischen Untersu chungen folgen einem theorieorientierten Forschungsziel im oben definierten Sinne. Sie wollen die sprachlichen Zustände innerhalb einer dialektalen Gemeinschaft erfassen und beschreiben, um daraus allgemeine Regelformulierungen über die Existenzbedin gungen und Funktionen von Dialekt ableiten zu können. Eine Beziehung zu den alltäglichen Problemen und Interessen, die die Dialektsprecher in einer Sprachgemeinschaft selbst mit ihrem Sprachvarietätenspektrum haben, existiert nur sehr indirekt und informell, wenn die Forscher auf später mögliche praktische Verwertungszusammenhänge ih rer Untersuchungen verweisen. Andererseits werden die Vorstellungs strukturen, die Stereotype und die Begrifflichkeiten, die innerhalb einer Sprachge meinschaft im Alltagswissen verbreitet sind, entscheidend von diesen Alltagsinteressen und - problemen gegliedert und bestimmt. Für einen Dialektsprecher kommt es über-
haupt nicht darauf an, in wieviele Varietäten sich sein Sprachlagenkontinuum empirisch analytisch aufteilen läßt. Für ihn ist nur wichtig, welche Varietät welche Bewertungsstereotypen oder Verständigungsschwierig keiten auslösen (vgl. Art. 92). Daraufhin wird er seine Bezeichnungsspektren und Vorstellungsstrukturen für das Sprachlagen kontinuum ausrichten. Auch von den anderen möglichen Forschungszielen bietet allenfalls das gesellschaftsorientierte Forschungsziel einen Ansatzpunkt für die partielle Übereinstimmung von Forschungsinteressen und Alltagsinteressen der Gewährspersonen, wenn der Forscher hier ein gesellschaftliches Problem aufgreift, das innerhalb der untersuchten Gruppe sozial relevant ist. Eine solche Anpassung ist keineswegs leicht durchzuführen. Einmal ist nur sehr wenig darüber bekannt, welche Alltagsinteressen sich überhaupt mit den Dialekten verbinden. Weiterhin kann man nicht davon ausgehen, daß innerhalb einer Sprachgemeinschaft homoge ne Interessen in diesem Bereich existieren. Hier können etwa sprachpflegerische Interessen in mittelschichtlich - ortsloyalen Krei sen Interessen an der Behebung von dialektbedingten Sprachbarrieren in der Unter schicht diametral entgegenstehen. Trotzdem ist eine Annäherung zwischen den Forschungszielen des Wissenschaftlers und den Alltagsinteressen aus zwei Gründen zu fordern: aus wissenschaftsethischen Gründen, auf die unten eingegangen wird, und aus theoretisch-methodischen Gründen. Im theoretisch - methodischen Bereich zeigt sich, daß ein Forscher desto leichter eine Untersuchung auf der Grundlage der Alltagsbegrifflichkeit durchführen kann, je enger sein Forschungsziel mit den in der Sprachgemeinschaft verbreiteten Interessen übereinstimmt, weil deren Begrifflichkeit dann direkt forschungsrelevant wird. Und desto leichter wird es auch möglich sein, das Interviewer - Paradoxon zu unter laufen, da ein Forscher, der sich die Alltagsinteressen einer sozialen Gemeinschaft zu eigen macht, sehr viel leichter als Mitglied dieser Gemeinschaft akzeptiert wird und so den Fremdheits-Effekt vermeidet. Das letzte der vier hier skizzierten Probleme ist schon kurz angesprochen worden. Es handelt sich darum, in welchem Maße ein Forscher das Recht hat, zum Zwecke der Datenerhebung in die Privat - und Intim sphäre der Gewährspersonen einzudringen, sie zu ‘Forschungsgegenständen’ zu machen.
36. Datenerhebung und Forschungsziel
In der Dialektologie ist dieses Problem besonders relevant, da hier immer wieder die Notwendigkeit besteht, in alltäglichen und privaten Situationen entstandenes ‘unver fälschtes’ Sprachmaterial zu sammeln. Die Methoden reichen dabei von der geheimen Beobachtung und Sprachaufnahme mit dem Mikrophon bis zum Experiment und der bewußten Manipulation sprachlicher Entwick lungen und Prozesse. So wäre es etwa denkbar, zur Erforschung der sprachlichen Entwicklungsprozesse von Dialekt sprechenden Kindern spezielle Lernprogramme zu erar beiten, die dann zur Evaluierung an einer Kindergruppe erprobt würden, während eine andere Kindergruppe ‘unbehandelt’ bleibt. Auch ermöglicht es die technische Entwicklung, jede Art von Kommunikation durch Tonband- oder Videoaufnahmen insgeheim aufzuzeichnen. Wie weit darf der Forscher hier gehen? In der Dialektologie hat sich zu diesem Problem ein Forschungsstandard herausgebil det, der jegliche Manipulation von Sprechern zu Forschungszwecken, die Auswir kungen auf die sprachliche Entwicklung haben könnte, verbietet. Außerdem sind geheime Sprachaufnahmen, abgesehen von den juristischen Festlegungen, wissenschafts ethisch abzulehnen. Das gilt nach Meinung des Verfassers auch für Aufnahmen, über die die Gewährspersonen nachträglich infor miert werden. Alle diese Einwände gegen die prinzipiellen Möglichkeiten empirischer Sozialfor schung mit dem theoretisch - methodischen Modell der induktiven Wissenschaften betreffen im Grunde ein und dasselbe zentrale Problem: Inwieweit ist es bzw. darf es dem Forscher möglich sein, alltagsweltliche Vorgänge in der sozialen Wirklichkeit aus der der Alltagswelt weitgehend fremden Perspektive der wissenschaftlichen Lebenswelt zu erfassen? Wie kann er Vorgänge verstehen, an deren Bedeutungsfindung er selbst nicht beteiligt ist und deren Intentionen er auch nicht teilt? Wie kann man wissenschaftlich gelenktes Fremdverstehen sicherstellen (Schütze u. a. 1973)? Die Gegensätzlichkeit bzw. die prinzipielle Fremdheit zwischen der Alltagswelt und der wissenschaftlichen Lebenswelt kommt dabei in erster Linie eben durch die Differenzen in den Zielsetzungen der in den beiden unterschiedlichen Lebenswelten Agie renden zustande. Problemlösungszielsetzun gen der Alltagswelt stimmen nicht mit For-
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schungszielen überein, die die wissenschaftlichen Lebenswelten strukturieren. Als Antwort auf diese grundlegenden Probleme hat die Soziologie eine Reihe von Untersuchungsmethoden erarbeitet und er probt, die auch in der Dialektologie angewendet werden könnten. Diese Methoden beruhen einmal auf einer bewußten Annäherung der Forschungsinteressen der Wissenschaftler an die Problemlösungsinteressen der untersuchten Gruppen. Zum anderen beruhen sie auf einer systematischen Weiterentwicklung der Methoden der teilnehmenden Beobachtung (Schlieben-Lange 1976).
8.
Der Forschungsprozeß bei dialektologischen Dokumentationen
Neben dem Normaltyp der Relation zwischen dem Forschungsziel und dem empirisch - analytischen Prozeß der Hypothesen überprüfung, der für das induktiv - analyti sche Verfahren der Natur- und Sozialwissenschaften von Bedeutung ist, gibt es in der Dialektologie noch einen anderen Typ. Dabei steht im Vordergrund des Interesses nicht die Formulierung von allgemeinen Aussagen aufgrund einer Menge von repräsentativen Einzelfall - Analysen, sondern die Erarbeitung eines Datenkorpus für spätere Untersuchungen. Wie Wiegand/Harras (1971) gezeigt ha ben, war etwa eines der Ziele, die man mit der Erarbeitung des Deutschen Sprachatlasses (DSA) verbunden hat, mit dem DSA ein Forschungsmittel für spätere Generationen zu schaffen. Auch das Korpus der Tonbandaufnahmen des Deutschen Spracharchivs (DSpA) ist mit dem Ziel angelegt worden, eine repräsentative Dokumentation von Dialektaufnahmen zu erstellen, die späteren Bearbeitern zur Verfügung steht. Hier wie auch bei dem DSA, dem DWA und anderen Dialektdaten- Korpora steht neben dem Dokumentationsgedanken auch der ‘Rettungsgedanke’. Der Forscher sieht sich in der Situation, in der er derzeit verlorengehende Dialekte zum letztmöglichen Zeit punkt noch für die Nachwelt sichern kann. Er sieht sich aber auch in der Rolle des Geschichtsforschers, der eine Sammlung wichtiger Quellenzeugnisse über eine vergehende Zeit zusammenstellt. Bei derartigen Untersuchungen kommt es zu der paradoxen Situation, daß die Datenerhebung abgeschlossen ist, bevor das spezielle Forschungsziel formuliert werden
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
kann. Das ist eine Beziehungskonstellation zwischen Datenerhebung und Forschungs ziel, die der empirisch- analytischen Wissenschaft direkt widerspricht. Trotzdem ist die Notwendigkeit derartiger Untersuchungen in vielen Fällen nicht von der Hand zu weisen. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit solche Forschungen wissenschaftstheoretisch möglich sind und welche Forderungen an so erhobenes Material gestellt werden müssen. Daß man an derartiges Korpusmaterial auch empirisch - analytische Forschungsfra gen stellen kann, das beweisen die vielen Arbeiten, die auf der Grundlage des DSA- Materials, aber auch der anderen Korpora wie des Materials des Schweizerdeutschen Sprachatlasses oder des DSpA entstanden sind. So basieren etwa die dialektsoziologischen Untersuchungen Ammons teilweise auf Material des DSpA, und auch die informativen Studien zur gesprochenen Sprache in der Reihe Idiomata, die Arno Ruoff (Ruoff 1973) herausgibt, verwenden Material des DSpA und ähnlich erhobene Zusatzdaten. Doch zeigen Untersuchungen wie die von Ammon oder etwa die Arbeit von Eisenmann (Eisenmann 1973) über den Konjunktiv in der gesprochenen Sprache auch die Grenzen und die Probleme, die in derartigen Sekundär - Forschungen vorliegen. Der For scher, der schon erhobene Korpusdaten verwendet, ist sowohl theoretisch - methodisch als auch in der Abgrenzung des Arbeitsfeldes in die Enge des vom Korpus vorgegebenen Datenfeldes eingebunden. Ziel bei der Sammlung eines Sprachkorpus für dialektologische Untersuchungen kann nicht, wie etwa bei bestimmten Korpora historischer Texte die vollständige Dokumentation, d. h. die Sammlung aller vorhandenen Sprachzeugnisse sein. Erste Forde rung ist daher, daß das Korpus repräsentativ für den zu dokumentierenden Gegenstand ist (vgl. Art. 23), etwa für einen Ortsdialekt oder das gesamte Sprachvarietätenspektrum einer bestimmten Sprachgemeinschaft. Doch noch bevor das Problem der Repräsentativität relevant wird, ist bei jeder Korpuszusammenstellung der Gegenstand zu bestimmen und zu operationalisieren, der dokumentiert werden soll. Erst durch diese Festlegungen können die unendlich vielen Fakten, die vorhanden sind, zu wenigen übersichtlichen und erfaßbaren Daten sublimiert werden. Bei einer dialektologischen Korpusbil dung muß festgelegt werden, welche Varietä-
ten erhoben werden sollen, wie diese Varietäten zu definieren sind, wie sie beschrieben werden können, in welchen Regionen sie erhoben werden sollen usw. Dazu ist eine differenzierte Dialekttheorie erforderlich. So mußte etwa für die Erhebungen zum Deutschen Spracharchiv (Zwirner 1964) festgelegt werden, wieviel und welche Sprachlagen es zwischen dem tiefen Dialekt und der Hochsprache gibt und wie sie unterschieden werden können. Es mußte vor Beginn der Erhebung auch festgelegt werden, an welchen Orten Dialektaufnahmen gemacht, welche Sprecher dazu ausgewählt und in welchen Sprechsituationen welche Texttypen aufge zeichnet werden sollten. Auch für diese Entscheidungen wären Rückgriffe auf eine Theorie des Dialektes nötig gewesen, die zumindest in den 50er Jahren noch möglich waren, da die Dialektologie noch keine tragfähige Theorie des Dialektes entworfen hatte. So war über die soziale Verteilung von Dialekt innerhalb einer dörflichen Sprachgemeinschaft nur wenig bekannt. Man wußte nicht, ob hier innerhalb von Altersgruppen oder geschlechtspezifischen Gruppen die Dialektanteile variierten oder etwa zwischen verschiedenen Berufsgruppen, sozialen Schichten usw. Auch die Rolle des Arbeitsortes für den Dialektgebrauch war in ihrer Relevanz noch nicht erkannt, so daß man es unterließ, bei den Sozialdaten überhaupt danach zu fragen. Besonders die situative Einbindung des Dialektes wurde bei der Planung der Sprachaufnahmen weitgehend außer Acht gelassen, weil die situationsspezifische Steuerung der Dialektverwendung in den damaligen theoretischen Überlegungen zum Dialekt noch keine Rolle spielte. Erst durch G. Hard (Hard 1966, Mattheier 1980, 90—106) ist dieser Aspekt systematisch in die Dialekttheorie eingeführt worden. Der einzige Bereich, in dem fundierte theoretische Grundlagen vorhanden waren, war der Bereich der regionalen Absicherung der Aufnahmeorte. Hier wäre es theoretisch möglich gewesen, nicht nur städtische und ländliche Bereiche zu differenzieren, wie das in etwa versucht wurde, sondern auch Regionen mit unterschiedlicher absoluter Dialektstufe. Doch gerade in diesem Bereich waren dem Vorhaben organisatorisch und auch finanziell enge Grenzen gesetzt, so daß man sich für eine völlig mechanistische Einteilung des deutschen Sprachraumes in gleichgroße Planquadrate entscheiden mußte.
36. Datenerhebung und Forschungsziel
Auch in diese scheinbar so ‘theoriefreie’ Entscheidung gingen jedoch implizit theoreti sche Prämissen ein: So etwa, daß der Dialekt in allen Regionen in gleicher Weise zum Problem wird. Hier gibt es aber sowohl vom Norden nach Süden als auch zwischen Regionen mit unterschiedlicher Erwerbsstruk tur recht unterschiedliche Problemlagen, die Grundlage eines gewichteten Ortsnetzes hätten werden können. Der scheinbare Verzicht auf eine theoretische Vorentscheidung eröffnet hier nicht das gesamte Spektrum der Möglichkeiten für spätere Forscher, sondern er schränkt diese Forschungen entscheidend ein. Die Theorieentscheidungen, die der Festlegung der Aufnahmestruktur des Deutschen Spracharchivs vorausgingen, spiegeln, ob sie nun explizit oder implizit abliefen, den Stand der Dialekttheorie in der Mitte der 50er Jahre. Hieran zeigt sich, daß Datenkorpora, die für spätere Forschungsziele konzipiert werden, deswegen keinesfalls ‘theoriefern’, ohne Theorie konzipiert werden. In die Planung jeder Dialektsammlung geht der jeweilige Forschungsstand der Dialekttheorie ein. Dadurch ist auch für die Auswertbarkeit des Korpus ein fester Rahmen vorgegeben. Forschungsziele, die an derartige Korpora herangetragen werden, müssen sich in den Rahmen der für die Korpuserstellung verbindlichen Theorie einfügen. So sind etwa die Auswertungen, die sich an das Korpus des DSpA angeschlossen haben, bzw. heute anschließen, in der Regel strukturalistische Beschreibungen der Dialekte oder phonometrische Analysen, wie sie im Blickfeld der Forschergruppe um E. Zwirner lagen (Zwirner 1959). Die Auswahl der Gewährspersonen, der Regionen und der Textart, aber auch die hohe Tonqualität der Aufnahmen waren auf diese Fragen zugeschnitten. Dialektsoziolo gische Untersuchungen wären nur möglich durch eine gezielte Erweiterung des Materials. Fragestellungen moderner Art, die die innere Variablität des Dialektes, seine situative Steuerung und ähnliches betreffen, können mit dem Material nicht beantwortet werden. Welche Konsequenzen haben diese Überlegungen für das scheinbar paradoxe Verhältnis von Datenerhebung und Forschungsziel, das sich bei der Verwendung von dialektologischen Datenkorpora für die Untersuchungsanlage ergibt? (1) Dialektkorpora, die ‘einen Ausschnitt aus der Sprachvarietät in ihrer Totalität’ festhalten wollen, kann es aus theoretischen
637
Gründen nicht geben. Ein Datenkorpus ist so gut wie die theoretische Grundlegung, die es hat und die explizit vorliegt. Ohne eine genaue Kenntnis dieser Grundlegung ist die Formulierung eines Forschungsziels auf der Grundlage eines vorgegebenen Korpus nicht möglich. Das führt zu der Forderung, alle neuen Datenkorpora mit einer solchen expliziten theoretischen Grundlegung zu versehen. Auch sollten alle schon vorhandenen Datenkorpora der Dialektologie daraufhin analysiert werden, welche theoretischen Grundlagen implizit in sie eingegangen sind. Eine solche Analyse haben etwa Wiegand/Harras (1971) für den Deutschen Wortatlas und z. T. auch für den Deutschen Sprachatlas vorgelegt. (2) Forschungsvorhaben, die schon vorhandene Datenkorpora verwenden wollen, sollten ihre Forschungsziele unter Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen des Korpus formulieren. Dabei sind sie an die bei der Korpusentstehung vorstellbaren Theo riefragen gebunden.
9.
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V. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenerhebungund Datenbearbeitung
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640
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentation und Ergebnisdarstellung
37. 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Apparative Datenaufbereitung im signalphonetischen Bereich Kriterien für die Datenerfassung Der Produktionsbereich Akustischer Bereich Dialektgeographie mit apparativ-phonetischen Methoden Literatur (in Auswahl)
Kriterien für die Datenerfassung
Die Signaltransformation (vgl. Art. 35) ist die Voraussetzung für die Datenerfassung. Hinsichtlich der Kriterien für die Datendefinition gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen allgemein phonetischen und dialektologisch relevanten Fragestellungen. Erst im B ereich der Datenauswertung auf höherer Ebene werden die spezifisch dialektologischen Fragestellungen wie z. B . die Feststellung konstitutiver und dialektunterscheidender Eigenschaften wichtig. Doch muß bereits bei der Datenaufbereitung eine sinnvolle Datenauswahl getroffen werden, um die physikalisch möglichen auf die erfahrungsgemäß für linguistisch-phonetische Fragestellungen ergiebigen Daten zu reduzieren. Im folgenden wird anhand von B eispielen ein Überlick über Methoden und Ergebnisse apparativer Datenbearbeitung im signalphonetischen Bereich gegeben.
2.
gende B eispiel aus einer Untersuchung von Eli Fischer-Jørgensen (1979; vgl. Abb. 37.1). Die Untersuchung zeigte, daß der Luftstromverbrauch bei den sog. stimmlosen p, t, k sehr erheblich größer ist als bei den stimmhaften b, d, g, und zwar nicht nur innerhalb des untersuchten norddeutschen Idioms, sondern auch im Vergleich zur beispielsweise französischen Aussprache. Verantwortlich dafür ist insbesondere die starke B ehauchung der stimmlosen Plosive, die bekannterweise in einigen oberdeutschen Mundarten als einziges Unterscheidungsmerkmal bei Aufhebung des Gegensatzes stimmhaft — stimmlos bleiben kann. Die Möglichkeiten der Untersuchung von Stimmbandschwingungen sind ebenfalls auf die Laborsituation beschränkt, erfordern jedoch relativ geringe B eeinträchtigungen der sprechenden Person. Prosodische Erscheinungen sind nicht nur an die Frequenz und die Amplitude der Stimmbandschwingungen gebunden, sondern sind auch
Der Produktionsbereich
Als wichtigste Teilbereiche sind hier anzusehen: die Phonation und die Vorgänge bei der Artikulation. Nicht unwesentlich wären auch Spezifika der Luftstromdynamik. Es hat sich gezeigt, daß sprachspezifische Charakteristika auch hier anzusetzen sind, die dafür erforderlichen Methoden scheiden jedoch wegen der Kompliziertheit und B eeinträchtigung der Natürlichkeit der Sprechsituation aus. Ein aufschlußreiches B eispiel für die Luftstrom- und Luftdruckverhältnisse bei der Artikulation von Plosiven liefert das fol-
Abb. 37.1: Kurven zur Luftstromdynamik im Bei- spiel die Panne in norddeutscher Aussprache (nach FischerJørgensen 1979). (a) Luftstrom (b) subglottaler Druck (c) intra-oraler Druck (positiv nach unten) (d) Oszillogramm
37. Apparative Datenaufbereitung im signalphonetischen Bereich
mit der Form, d. h. dem Öffnungs- und Schließvorgang der Stimmlippenbewegung gekoppelt. Nicht nur expressiv relevante prosodische Phänomene, sondern auch sprachkonstitutive (Akzenttypen) können in ihren Auswirkungen auf die Form der Stimmlippenschwingung untersucht werden (vgl. Art. 67). Im artikulatorischen B ereich sind, vor allem wenn es um die B eschreibung von geschichtlichen und geographischen Tendenzen geht, die bekannten Phänomene der Koartikulation und Assimilation phonetischer Merkmale von dialektunterscheidender B edeutung. Untersuchungen diesbezüglicher Fragestellungen lassen sich auch in der Feldsituation mit relativ geringem Aufwand durchführen, wenn man sich auf die Lippenartikulation und B ewegungen des Gaumensegels (zur Untersuchung der Nasalität) beschränkt. Filmaufzeichnungen der Lippen mit gleichzeitiger Aufnahme des akustischen Signals und, mithilfe eines Kontaktmikrophons, der Vibrationen der Nasenflügel lassen sich leicht durchführen und ergeben ein anschauliches Korrelat der untersuchten Vorgänge.
3.
Akustischer Bereich
Der akustische B ereich ist der bisher am gründlichsten erforschte Untersuchungsbereich phonetischer Forschung. Aufgrund der weitentwickelten elektroakustischen Meßtechnik ist er prädestiniert für die Anlieferung von meßbaren und darstellbaren Daten, die sowohl mit den Vorgängen bei der Produktion als auch mit der auditiven Interpretation korreliert werden können. Entsprechend den in Artikel 35 beschriebenen apparativen Transformationsverfahren wollen wir im folgenden unterscheiden zwischen dem Zeitbereich, dem suprasegmentalen B ereich und dem B ereich des Frequenzspektrums. 3.1. Zeitbereich Voraussetzung für eine B eantwortung von Fragestellungen aus dem Zeitbereich phonetischer Signale ist in der Regel eine annähernde Segmentation des Sprachsignals, was z. B . anhand des Oszillogramms durchgeführt werden kann (vgl. Abb. 37.2). Mit Segmentation ist der Versuch gemeint, das kontinuierliche Sprachsignal seiner phonetischen Transkription derart zuzuordnen, daß
641
eine im allgemeinen nachvollziehbare Entsprechung von Lautsymbolen, bzw. deren artikulatorisch-phonetischem Gehalt, und Stücken des Oszillogramms resultiert. Segmentation im akustischen B ereich bedeutet also nicht eine Zergliederung in scharf abgegrenzte Einheiten, die phonetischen oder gar phonologischen Segmenten eindeutig zugeordnet werden können. — Die Sicherheit, mit der Segmentationen durchführbar sind, hängt von zwei Faktoren ab: von der Größe des phonetischen Kontrasts aufeinanderfolgender Artikulationsvorgänge und von der Sprechgeschwindigkeit bzw. der damit zusammenhängenden artikulatorischen Präzision. Je ähnlicher aufeinanderfolgende Lautelemente sind (z. B . Nasale miteinander oder Nasale mit Liquiden kombiniert), desto schwieriger ist eine Segmentation. Abbildung 37.2 demonstriert beide Phänomene anhand eines Ausschnitts aus einer Aufnahme freier Rede, die vom selben Sprecher zur Kontrolle mit langsamem Sprechtempo nachgesprochen wurde. Die Zuordnung von linguistisch-phonetischen Strukturelementen und akustischem Signal ist um so sicherer und nachvollziehbarer, je größer die zeitliche Erstreckung dieser Elemente ist: Silben lassen sich besser zuordnen als Laute, Silbenkomplexe besser als Silben, ganze Äußerungen besser als Silbenkomplexe. — Eine Segmentation in silbische Elemente ist erforderlich, wenn man Aussagen zum Sprechtempo machen will. Man kann immer wieder nachweisen, daß Änderungen des Sprechtempos mit der Zahl von Silben pro Zeiteinheit am besten korrelieren. Änderungen des Sprechtempos wirken sich nicht in gleichem Maße auf alle Lautkategorien aus. B etroffen sind vor allem Dauerlaute (Vokale, Nasale, Liquide, Frikative), und davon in erster Linie solche mit silbischer Funktion. Marginale Laute sowie solche mit typischer Artikulationsbewegung (Plosive, Affrikaten, Glides) sind von Änderungen des Sprechtempos weitgehend unabhängig. Im Falle von Plosiven und Affrikaten kann die Dauer ein wichtiges Erkennungs- und Unterscheidungsmerkmal von Lautkategorien sein. Es ist bekannt, daß die Verschlußdauer bei stimmlosen bzw. gespannten Plosivlauten größer ist als bei stimmhaften und ungespannten. — In gewissen Fällen kann dieses Unterscheidungsmerkmal das einzige sein, wie im Falle der Stadtkölner Mundart. Abbildung 37.3 zeigt den Unterschied in der Pausendauer der Okklusions-
642
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Abb. 37.2: Oszillogramm eines Ausschnittes aus einer Äußerung mit eingezeichneten Segmentationsgrenzen, Ausschnitt aus ... aber das genaue Datum wissen wir noch nicht ... (a): deutlich gesprochener Text (Nach- sprechen von Beispiel 2); (b): Ausschnitt aus einer Spontanaufnahme, relativ schnell gesprochen. Beide Aufnahmen vom selben Sprecher phase zwischen stimmhaften und stimmlosen velaren Plosivlauten. Die Explosionsphase selbst ergibt spektral keinen deutlichen Unterschied. Durch künstliches Verändern der Okklusionspausendauer ließ sich auch auditiv eine Transformation von einer Plosivlautkategorie in die andere durchführen. Die Möglichkeit von Lautdauermessungen legt die Vermutung nahe, daß die Untersuchung von phonologisch relevanten Dauerunterschieden durch einfache Messung am Schallsignal durchgeführt werden könnte. Aufgrund dieser Hypothese müßten Vokaldauermessungen eines gesprochenen Textes
in einer Sprache wie dem Deutschen eine zweigipfelige Verteilung ergeben, eine für Kürzen und eine für Vokallängen. Wie Abbildung 37.4 (1) zeigt, ist dies nicht der Fall. Erst eine Reduktion der Daten auf Dauern betonter Vokale läßt eine deutliche zweigipflige Verteilung erkennen. Die Ergebnisse sind jedoch kaum vergleichbar mit solchen, die bei isoliert gesprochenen Einzelwörtern gewonnen wurden (vgl. Abb. 37.4 (2)). Untersuchungen zur Vokalquantitätsopposition im Deutschen (von Essen 1962, Heike 1969 b) haben ferner ergeben, daß
37. Apparative Datenaufbereitung im signalphonetischen Bereich
643
Abb. 37.3: Sonagramm des Kontrastpaares Röggelchen (Roggenbrötchen)/Röckelchen in Stadtkölner Mundart (nach Heike 1964). Der signifikante Merkmalsunterschied zwischen Lenis- und Fortisartikulation von g bzw. k ist allein durch die unterschiedliche Dauer der Okklusionsphase gegeben. Eine künstliche Ver- änderung der Okklusionsphase durch das Bandschnittverfahren führt zu einer Transformation der auditiven Wahrnehmung.
Abb. 37.4: Dauermessungen von deutschen a-Realisationen nach Heike (1969 a) (a): Häufigkeitsverteilun- gen der Dauerrealisationen eines gelesenen Textes von einem Sprecher. Gestrichelte Kurve: hauptbetonte a- Vokale. (b): Häufigkeitsverteilung der Dauerrealisationen von a in isoliert gesprochenen Wörtern. Anzahl der Sprecher: 11 nicht nur Unterschiede der absoluten Dauer eine Rolle spielen, sondern auch ein charakteristischer Unterschied im Intensitätsverlauf des finalen Vokalteils beobachtet werden kann. Wie Abbildung 37.5 zeigt, ist der Intensitätsabfall bei Kurzvokalen wesentlich stärker als bei Langvokalen, was auch sehr gut korreliert mit den älteren phonetischen B ezeichnungen ‘Anschluß’ bzw. ‘Silbenschnitt’, die auf auditiv-phonetischer B asis gemacht worden sind. Da bekannt ist, daß in gewissen Mundartgebieten die Daueropposition weitgehend aufgehoben ist, dennoch eine Differenzierung zwischen den beiden Vokalklassen möglich ist, scheint die Vermu-
tung nahezuliegen, daß der Kontrast durch einen unterschiedlichen Silbenschnitt aufrechterhalten wird. 3.2. Suprasegmentaler Bereich Als Daten kommen in diesem B ereich in erster Linie Meßwerte der Grundfrequenz und der Schallintensität in Frage. An welchen Stellen Meßwerte gewonnen werden, ist von der Fragestellung abhängig. Automatische Meßwerterfassung mit einem bestimmten Zeitraster (z. B . alle 50 msec ein Meßwert) ergeben ein digitales Abbild der Parameterverläufe und sind für statistische Untersuchungen am besten geeignet. —
644
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Abb. 37.5: Oszillogramme des finalen Vokalteils von Aas und As (nach Heike 1969 b) zur Demonstration von ‘losem’ und ‘festem Anschluß’, bzw. ‘schwach’ und ‘stark geschnittenem Silbenakzent’
Abb. 37.6: Registrierung von Intensität (obere Kurve) und Tonhöhe (untere Registrierung; der Tonhöhen- verlauf ergibt sich aus der unteren Berandung der vertikalen Striche) zur Demonstration von Betonungs- kontrasten im Deutschen (a) Kontrastpaar ǘbersetzen / übersétzen (b) Kontrastpaar dámit / damít
37. Apparative Datenaufbereitung im signalphonetischen Bereich
Häufigkeitsverteilungen von Grundfrequenz und Intensität (vgl. dazu Art. 42) weisen in der Regel keine Gauß-Verteilung auf, so daß vermutet werden kann, daß mit der Untersuchung der statistischen Verteilung unter Umständen Aussagen über Dialekteigentümlichkeiten gemacht werden können. Untersuchungsergebnisse zu dieser Fragestellung liegen in ausreichendem Maße noch nicht vor. Es liegt nahe, linguistisch-phonetische Einzelphänomene aus dem suprasegmentalen B ereich anhand von Grundfrequenzund Intensitätskurven zu untersuchen (vgl. auch Art. 67). An dem folgenden B eispiel soll die Problematik der Interpretation von akustischer Schallintensität im Hinblick auf das linguistische Phänomen der B etonung oder Hervorhebung skizziert werden. B ekanntlich zeichnen sich Vokale durch spezifische Intensitäten aus, d. h. bestimmte Vokale (vor allem die offenen Vokale wie a, ɔ usw.) weisen eine im Durchschnitt wesentlich größere Intensität auf als geschlossene
645
Vokale. Wie aus Abbildung 37.6 (1) hervorgeht, ist der betonte Vokal in ǘbersetzen der intensitätsschwächste, aber in der Grundfrequenz der weitaus höchste Vokal. Geringere Intensität wird also durch besonders hohe Tonhöhe kompensiert. Ebenfalls liegt der unbetonte a-Vokal von damit in Abbildung 37.6 (2) in der Intensität nicht wesentlich unter dem betonten Vokal. Das auditive Phänomen der B etonung ist, wie das Wort sagt, im wesentlichen von der höheren Grundfrequenzlage der betonten Silbe abhängig. Eine besonders deutliche Hervorhebung der betonten Silbe wird erreicht, wenn Intensität und Tonhöhe zusammenfallen, wie in den restlichen B eispielen von Abbildung 37.6. 3.3. Spektraler Bereich Eine dreidimensionale Darstellung, wie sie das Zeit-Frequenz-Spektrum (vgl. Art. 35) abgibt, enthält nicht nur mehr Information zur Lautklassifikation, sondern gerade auch
Abb. 37.7: Sonagramm der Sprachbeispiele aus Abbildung 37.2. Textausschnitt aus ... aber das genaueDatum wissen wir nicht ... Selbst im langsam nachgesprochenen Text (oberes Sonagramm) ist eine Segmen- tation nicht in jedem Fall einwandfrei durchführbar, siehe aber, ... aue aus genaue
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Abb. 37.8: Spektrogramme ausgewählter repräsentativer Vokale der Stadtkölner Mundart (nach Heike 1964)
37. Apparative Datenaufbereitung im signalphonetischen Bereich
647
Abb. 37.8: Spektrogramme ausgewählter repräsentativer Vokale der Stadtkölner Mundart (nach Heike 1964) deswegen zur Lautsegmentation. Abbildung 37.7 ist ein Sonagramm, das von Abbildung 37.2 (Oszillogramm) hergestellt wurde. Die akustische Klassifikation von Vokalen erfolgt in erster Linie durch die Frequenzlage der Energiemaxima im Spektrum, die man Formanten nennt. Die akustischen Korrelate der artikulatorischen Vokalmerkmale sind im wesentlichen die folgenden:
Ausgeprägte Formantstruktur, Frequenz des ersten Formanten (korreliert mit der Zungenhöhe bzw. Öffnung), Frequenz des zweiten Formanten (korreliert mit der Artikulationsstelle) und die Erniedrigung in der Frequenz des zweiten Formanten (korreliert mit Lippenrundung). — Als B eispiel für Vokalspektren ist in Abbildung 37.8 das Vokalsystem der Stadtkölner Mundart anhand
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Abb. 37.9: Formantkarten der Vokale von drei Sprechern der Stadtkölner Mundart (aus Heike 1964) (a) und (b): männliche Sprecher; (c) weiblicher Sprecher repräsentativ ausgewählter Vokalrealisationen in gesprochenen Wörtern abgebildet. Die Frequenzpositionen der Formanten bei den verschiedenen Vokalen liefern eine Klassifikation, wie sie von der artikulatorischen Vokaldarstellung im Vokaldreieck oder -viereck bekannt ist. Trägt man die Formantfrequenzen der Vokale in ein Diagramm ein, so ergibt sich eine Darstellung, die man Formantkarte nennt. Vokalformantmessungen an verschiedenen Sprechern haben gezeigt, daß zum Teil erhebliche individuelle Unterschiede zu beobachten sind. Abbildung 37.9 zeigt Formantkarten von drei verschiedenen Sprechern der Stadtkölner Mundart. Man erkennt sowohl Unterschiede zwischen den beiden männlichen Sprechern, als auch besonders zwischen den männlichen und der weiblichen Sprecherin. Von Peterson (1961) ist ein Verfahren entwickelt worden, mit dem rechnerisch eine Normalisierung systematisch verschobener individueller akustischer Vokalrepräsentation erzielt werden kann. — Innerhalb einer mehr oder weniger homogenen Sprechergruppe lassen sich Nivellierungen auf statistischem Wege erzielen. Abbildung 37.10 zeigt die Streubereiche der vokalischen Realisationen von insgesamt acht männlichen Sprechern der Stadtkölner Mundart. Man erkennt, daß die Streubereiche nicht nur zum Teil erheblich groß sind, sondern sich auch überlappen können. Der Grund dafür ist u. a. darin zu sehen, daß die Formantpositionen von Vokalen auch eine gewisse Abhängigkeit vom konsonantischen Kontext als auch vom Kontext im Syntagma aufweisen. Es muß ganz allgemein der Grundsatz
Abb. 37.10: Formantkarte der Streubereiche der Vokale von acht Sprechern der Stadtkölner Mundart (aus Heike 1964) hervorgehoben werden, daß akustische Meßergebnisse einen Kontexteinfluß erkennen lassen, wie er bei der artikulatorischauditiven B eschreibung lautlicher Äußerungen nicht entdeckt werden konnte. Als B ezugssystem für die Interpretation von gemessenen Vokalformanten in konkreten Untersuchungen empfiehlt sich ein von einem bestimmten Idiom unabhängiges allgemeines B ezugssystem, wie z. B . das der synthetischen Kardinalvokale (Delattre, Liberman/Cooper u. a. 1952) oder ein aufgrund natürlich gesprochener Vokale ermitteltes B ezugssystem (Heike 1973, 11). Folgende Tabelle (vgl. Abb. 37.11) enthält die
37. Apparative Datenaufbereitung im signalphonetischen Bereich
649
Formantfrequenzwerte der Kardinalvokale der API, wie sie für Vergleichsuntersuchungen an natürlich gesprochenen Vokalen geeignet erscheinen. Eine Darstellung als Formantkarte ist in Abbildung 37.12 ersichtlich. Wie bereits in Abbildung 37.7 erkennbar, finden artikulatorische B ewegungen einen Niederschlag in kontinuierlichen, mehr oder weniger starken Verschiebungen der Formantfrequenzen, vor allem des ersten und zweiten Formanten. Spektrogramme sind deswegen ein ausgezeichnetes Darstellungsmittel, um Artikulationsbewegungen, wie sie bei Diphthongen und Konsonant-VokalÜbergängen gegeben sind, zu untersuchen. Ein besonderes Problem ist die gelegentlich in Mundarten auftretende Fülle von Diphthongen bei der Lautklassifizierung. Wie Abbildung 37.13 zeigt, lassen sich sowohl Artikulationsbewegungen beim Übergang von Vokal zu vokalisiertem r als auch die Vokalisierung des r selbst, d. h. das Fehlen von Unterbrechungen, wie sie bei der Artikulation typisch ist, im Sonagramm gut erkennen. Der Vergleich zwischen vokalisiertem r und unbetontem Schwa-e in der gleichen Position offenbart eine gute Entsprechung von Vokalqualität und Formantverlauf und darüber hinaus, daß sich akustisch-phonetisch kein Unterschied in der
Silbenzahl ausmachen läßt. Trägt man die Formantbewegungen in eine Formantkarte mit den bekannten Kardinalvokalen als B ezug ein, so wird der Unterschied im artikulatorischen Zielpunkt der B ewegung besonders deutlich (vgl. Abbildung 37.13). — Formantbewegungen (Transitionen) demonstrieren die gegenseitige koartikulative Abhängigkeit von Vokalen und Konsonanten. Wie Abbildung 37.14 zeigt, bewirkt die unterschiedliche Artikulationsstelle des intervokalischen Konsonanten verschiedene Formantbewegungen der umgebenden Vokale. An diesem Kontrastbeispiel werden insgesamt zwei Unterscheidungsmerkmale deutlich: Die Artikulationsstelle, die mit Frequenzposition des zweiten Formanten korreliert, und die Artikulationsart, wobei Gleitlautartikulation und Verschlußlautbildung mit Verschlußpause und explosivem Anteil sich gegenübersteht. Frikativlaute weisen keine Formantstruktur auf, sondern sind durch breite Frequenzgebiete unterschiedlicher Lage differenziert. In Abhängigkeit vom vokalischen Kontext können höchstens formantartige Gliederungen auftreten. Abbildung 37.15 zeigt die Frikative s, ʃ und x in Wortbeispielen der Stadtkölner Mundart. Die formantartige Gliederung in den unteren Spektralgebieten ist am stärksten, je weiter die Artikulationsstelle
Abb. 37.11: Systematisierte Formantfrequenzen als Referenzwerte für Vokalmessungen. Die Werte entsprechen einer Einteilung, wie sie das System der Kardinalvokale der API vornimmt (aus Heike 1973)
Abb. 37.12: Formantkarte der Vokale nach Abbil- dung 37.11. Es sind zwei Teilsysteme differenziert: o gespreizte Vokale; ● gerundete Vokale
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Abb. 37.14: Zur Demonstration des Kontrasts g/j in der Stadtkölner Mundart (nach Heike 1964). Wortbeispiele dügge ‘deuten’, düjǝ ‘stoßen’ nach hinten verlagert ist. Die Affrikata zeigt in Übereinstimmung mit den genetischen Prozessen keinen spektralen Unterschied, sondern einen Unterschied im Zeitablauf (Okklusionspause wie bei Plosivlauten). Eine Übersicht über die wesentlichen akustischen B eschreibungsmerkmale der wichtigsten Lautklassen ist in Abbildung 37.16 zusammengestellt. Sie kann als Hilfe zur Interpretation von Sonagrammen und als Anregung für Fragestellungen innerhalb der vergleichenden Dialektologie dienen.
4. Abb. 37.13: (a) Sonagramme zur Demonstration von Formantbewegungen in diphthongischen Lautverbindungen. Wortbeispiele mir und nähen in entsprechender Lautung in Stadtkölner Mundart (nach Heike 1964). Erster und zweiter Formant führen zum vokalisierten r im ersten Beispiel eine stärkere Bewegung zum velaren offenen Vokalbereich durch als im Übergang zum unbetonten auslautenden Schwa. (b) Formantkarte mit eingezeichneten Formantbewegungen der Wortbeispiele aus Abbildung 37.13 (a). Als Referenzpunkte sind die Eckvokale nach Abbildung 37.12 eingezeichnet. Obere Kurve [ni : ǝ], untere Kurve [mi:ɐ]
Dialektgeographie mit apparativphonetischen Methoden
Obgleich die akustische Analysiertechnik eine Fülle von Möglichkeiten anbietet, vergleichende Untersuchungen an Dialekten durchzuführen, ist davon in der Vergangenheit kaum Gebrauch gemacht worden. Neben der unzureichenden Motivation ist als Hauptgrund wohl der erhebliche Arbeitsund Zeitaufwand zu nennen. Akustische Messungen werfen die Frage der Repräsentativität des ausgewählten Materials auf, wie sie sich eigentlich auch bei den üblichen dialektologischen Untersuchungen, sei es anhand von phonetisch transkribiertem oder transliterarisch fixiertem Material, stellen müßte. Dem Problem der Repräsentativität (vgl. Art. 23) kann in zweierlei Hinsicht begegnet werden: 1. durch Verwendung statistisch ausreichenden Materials und 2.
37. Apparative Datenaufbereitung im signalphonetischen Bereich
651
Abb. 37.15: Zur Demonstration der Spektralunterschiede der Frikative f, s, ʃ und x in den Wörtern eff ‘Buch- stabe F’, bes ‘bist’, Täsch ‘Tasche’, aach ‘acht’ und der Affrikata ts am Beispiel der Stadtkölner Mundart (aus Heike 1964) durch ausgewählte typische Einzelbeispiele, wobei die Auswahl durch außerphonetische Kriterien abgesichert werden muß. — Ein B eispiel für den zweiten Fall liegt in einer Zusatzuntersuchung zum Schlesischen Sprachatlas vor (Heike/Schindler 1970). Dabei wurde am B eispiel der Karte für schlesisch hin der geographischen Gliederung aufgrund der auditiven phonetischen Transkription eine Gliederung durch akustische Formantmessungen gegenübergestellt. Für geeignete Formantmessungen gibt es in solchen Fällen kein vorgefertigtes Rezept, vielmehr muß im einzelnen Fall ein dem Material angemessenes Meßverfahren ermittelt werden. In diesem B eispiel bot es sich aufgrund der vorliegenden phonetischen Transkription an, die Formantbewegungen
des vokalischen Kerns, der von Monophthong bis Diphthong variieren konnte, durch zwei Meßwerte zu erfassen, und zwar durch die Formantposition am Anfang und am Ende des Vokals. Den bereits weiter oben (vgl. 3.3.) anhand Abbildung 37.9 gemachten B emerkungen zur Problematik der Formantverschiebungen zwischen Männer- und Frauenstimmen wurde in der Weise begegnet, daß nicht die absoluten Formantwerte, sondern Quotienten aus den beiden ersten Formanten gebildet wurden. Wie die Karte 37.1 zeigt, ergibt die Repräsentation der Quotienten durch vertikale Striche eine überraschend differenzierte geographische Gliederung. Außerdem ist die Gliederung im Groben gesehen durchaus in Übereinstimmung mit der auditiven Transkription. Man
652
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Lautklasse Vokale
Formantstruktur ausgeprägt; Formantfrequenzen relevant
Diphthonge
relativ große Formantbewegungen weniger ausgeprägt, abhängig vom Kontext (vor allem von Vokalen)
Konsonanten Liquide Gleitlaute, Halbvokale
Nasale
Frikative
Plosive
rel. kurzzeitige Formantbewegungen, intensitätsschwache Oberformanten, starke Abhängigkeit vom vokalischen Kontext breite, schwach ausgeprägte Formanten, kontextabhängig und intensitätsschwach bei hohen Frequenzen, intensitätsstark bei ca. 300 Hz, nasale Antiformanten bei 500 Hz im allg. kontinuierliches Spektrum, keine scharf ausgeprägte Formantstruktur; breite Spektralgebiete, formantähnlich gegliedert in Abhängigkeit vom vokalischen Kontext und von Artikulationsstelle im Mittel wie bei Frikativen
Intensität im Mittel höher als kons. Umgebung wie Vokale
Dauer sehr variabel, max. Dauer > Konsonanten wie Vokale
Periodizität ausgeprägt
im Mittel etwas geringer als bei Vokalen
weniger variabel, bei Vibranten Unterbrechungen des Signals kaum variabel, nach oben begrenzt
ausgeprägt
geringer als bei Liquiden
wenig variabel, isoliert beliebig
ausgeprägt
variabel, im Mittel wesentlich geringer als bei Vokalen
wenig variabel, isoliert beliebig
keine ausgeprägte Periodizität, stimmhafte Frikative weisen periodische Modulation des Rauschens auf
sehr gering
impulsartig, variabel bis zu einem gewissen Grad durch verschiedene Behauchung und durch Okklusionspause
keine Periodizität ausgeprägt; stimmhafte Plosive quasi-periodisch
geringer als bei Liquiden
ausgeprägt
ausgeprägt
Abb. 37.16: Beschreibung akustischer Merkmale der wichtigsten Lautklassen nach Formantstruktur, Intensität, Dauer und Periodizität (nach Heike 1973) kann sagen, daß akustische Meßwerte mit Erfolg zur objektivierten geographischen Differenzierung von Dialekten eingesetzt werden können, und darüberhinaus die Möglichkeit kontinuierlicher Differenzierung im Gegensatz zur kategoriellen bei symbolischer Notation an die Hand geben.
5.
Literatur (in Auswahl)
Delattre/Liberman/Cooper u. a. 1952 = P. Delattre/A. M. Liberman/F. S. Cooper u. a.: An experimental study of the acoustic determinants of vowel colour; observations on one- and two-formant vowels synthesized from spectrographic patterns. In: Word 8. 1952, 195—210.
37. Apparative Datenaufbereitung im signalphonetischen Bereich
653
Karte 37.1: Geographische Verteilung von Formantmeßwerten des Vokals bzw. Diphthongs in schlesischhin, siehe zum Vergleich Transkriptionskarte 32 aus dem Schlesischen Sprachatlas (aus Heike/Schindler 1970, Karte 6) v. Essen 1962 = Otto von Essen: Trubetzkoys “fester” und “loser Anschluß” in experimentalphonetischer Sicht. In: Proceedings of the 4th International Congress of Phonetic Sciences. The Hague 1962, 590—597. Fischer-Jørgensen 1979 = Eli Fischer-Jørgensen: Zu den deutschen Verschlußlauten und Affrikaten. In: Sprache und Sprechen. Festschrift für Eberhard Zwirner. Hrsg. K. Ezawa/K. H. Rensch. Tübingen 1979, 79—100. Heike 1964 = Georg Heike: Zur Phonologie der Stadtkölner Mundart. Marburg 1964 (Deutsche Dialektgeographie Bd. 57).
Heike 1969 a = Georg Heike: Sprachliche Kommunikation und linguistische Analyse. Heidelberg 1969. Heike 1969 b = Georg Heike: Suprasegmentale Analyse. Marburg 1969. Heike 1973 = Georg Heike: Phonetische Grundlagen der musikalischen Sprachkomposition. Köln 1973 (IPKöln Berichte Nr. 1). Heike/Schindler 1970 = Georg Heike/Frank Schindler: Versuche zur Dialektgeographie akustisch-phonetischer Meßwerte am B eispiel schlesischer Mundartaufnahmen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 1. 1970, 26—43.
654
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Peterson 1961 = G. E. Peterson: Parameters of vowel quality. In: Journal of Speech and Hearing Research 4. 1961, 10—29. Schlesischer Sprachatlas, Band 1. 1967 = Schlesischer Sprachatlas. Hrsg. von Ludwig Erich
Schmitt. B and 1: Günter B ellmann: Laut- und Formenatlas. Unter Mitarbeit von Wolfgang Putschke und Werner Veith. Marburg 1967.
Georg Heike, Köln
38. Statistische Datendarstellung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
1.
Aufgabe der Statistik innerhalb der Dialektologie Stichprobenerhebung Metrisierung, Skalierung, Messung Ähnlichkeitsmessung Variabilitätsmessung Klassifikation von Dialekten Literatur (in Auswahl)
Aufgabe der Statistik innerhalb der Dialektologie
1978). — Im Sinne der lange vermuteten Kontroverse Wenkers mit den Junggrammatikern könnte man gegen das Ziel, Gesetzmäßigkeiten aufzuhellen, ein anderes setzen: etwa historisch-geographisch bedingte B esonderheiten festzustellen (vgl. Naumann 1976, 15). Wenn man damit Dialektologie nicht auf dokumentarische Tätigkeit eingrenzen will, muß man klären, ob nicht auch für das B edingungsgefüge Sprache—Historie—Geographie Regelmäßigkeiten gelten. Regularitäten sind übrigens nicht die Regeln der gTg; vgl. Goossens 1977, 13—16; 19 f., differenzierter Klein 1974.
Zu einem Teil besteht die Rolle der Statistik in der Dialektologie in Zählungen für die Herstellung von Orts- und Gebietsgrammatiken oder Sprachkarten. Die hierfür erforderlichen Kenntnisse in Statistik und graphischer Darstellung ihrer Ergebnisse liegen in Lehrbüchern vor (vgl. z. B . Weber 1972, Hald 1967, Steel/Torrie 1960, B osch 1976). Der andere, bisher kleinere Teil statistischer Aufgaben in der Dialektologie richtet sich unmittelbarer auf das Ziel, Regularitäten bzw. Tendenzen in B au und Funktion ihres Gegenstandes festzustellen, um dadurch Ansätze für die Formulierung von Gesetzen bzw. Gesetzmäßigkeiten zu finden. Die Entwicklung steht hier jedoch erst am Anfang eines sehr langen Weges. Wegener (1880, 28) ist in diesem Zusammenhang wohl nur ein Vorläufer dieses Traditions-Neben-Stroms mit seiner Empfehlung „dem reichskanzler vorzuschlagen, im statistischen amte eine abteilung für ermittlung der dialectverhältnisse zu gründen“ (im Original gesperrt). Ähnlich sind B emühungen wie die von Doroszewski (1935), Ivić (1960—61), aber auch der Arealtypologie/Neolinguistik oder der Phonometrie nur wenig über erste Ansätze hinausgekommen. Erstaunlich reichhaltig sind dagegen die bisherigen Ergebnisse der jungen B emühungen schulorientierter, soziolinguistisch beeinflußter Dialektologen (vgl. Grundlagen
Die beiden folgenden Abschnitte 2. und 3. wenden einige Überlegungen, die für andere empirisch orientierte Disziplinen erarbeitet wurden, auf dialektologische Fragen an; sie betreffen Datengewinnung und Datenbeschreibung. Auswertungen solcher Daten mittels Ableitungen von Maßen in den Abschnitten 4 bis 6 sollen zeigen, wie einige dialektologische B egriffe mit statistischen Mitteln weiterentwickelt werden können. Ähnlichkeitsmessung (vgl. 4.) und Klassifikation (vgl. 6.) dienen zwar auch der Sprachkartenherstellung. Darüberhinaus kann aber die Quantifizierung diese B egriffe (wie auch die Variabilitätsmessung, vgl. 5.) geeigneter machen für verbesserte B eschreibungen, u. U. mit größerer Abstraktheit, als sie Sprachkarten bieten können, und damit geeigneter für Vergleiche und Korrelationen, letzten Endes also für die Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten. (Allgemeines bei Stegmüller 1970, Teil A; zur Dialektologie Goossens 1977, bes. 7—23) — Zur Demonstration werden alle Rechnungen mit einfachen, fingierten Beispielen durchgeführt.
2.
Stichprobenerhebung
In der Dialektologie erfolgt die Stichprobenerhebung in mehreren Stufen und richtet
38. Statistische Datendarstellung
sich nach dem Zweck der Untersuchung: (a) Zuerst muß man linguistische Einheiten wählen, deren Repräsentanten im Dialekt man ermitteln will. B ei einigen Methoden entfällt dieses Problem, und es werden nur die häufigsten Einheiten ermittelt, etwa bei der Analyse von Gesprächen. (b) Wenn es sich nicht um die spezielle Untersuchung einer Ortschaft handelt, so muß man eine Auswahl der Belegorte (Meßpunkte) treffen. (c) Innerhalb der B elegorte muß man Informanten wählen, wobei man zusätzlich mehrere Attribute (Alter, Geschlecht, sozialer Status, Textart u. a.) in B etracht ziehen kann. (d) Nachdem die Erhebungsarbeit abgeschlossen ist und die B elege ggf. zu einem Dialektatlas verarbeitet wurden, wertet man die Daten aufgrund einer Wahl der Atlaskarten aus. — Folgende Stichprobenarten scheinen in der Dialektologie sinnvoll zu sein: (a) Die Wahl linguistischer Einheiten, falls sie in einem Fragebogen eingehen sollen, geschieht durch eine autoritative Stichprobe, die ein Forscher aufgrund seiner Ausbildung und Kenntnisse bestimmt, und die die ‘wichtigen’, ‘typischen’, ‘häufigen’ Formen (Lexeme, syntaktische Verbindungen u. a.) enthält. Anscheinend liefert diese Methode gute Resultate, aber die Wahrscheinlichkeitstheorie ist nur in speziellen Fällen anwendbar. Messungen an solchem Material sollen nur dann durchgeführt werden, wenn diese Stichprobe groß genug ist und nicht nur Einheiten einer Kategorie enthält. — Die Wahl der Ortschaften kann auf mehrere Weisen durchgeführt werden: (b1) Eine einfache zufällige Stichprobe der Ortschaften eines Gebietes (Goossens 1971) oder Dialektes, wenn dieser vorläufig identifiziert ist, erhält man z. B . folgendermaßen: (i) man numeriere die Ortschaften des Gebietes und wähle dann die Zahlen mit Hilfe der Tabelle der Zufallszahlen. So bekommt man etwa das Resultat, wie in der Abb. 38.1 dargestellt. (ii) Eine andere Möglichkeit: Man teile das Gebiet in zwei gleiche Teile, werfe eine Münze und wähle danach einen Teil. Diesen teile man wieder in zwei Teile und wähle auf dieselbe Weise einen usw., bis man auf e i n e Ortschaft kommt. Dann wiederhole man die Prozedur solange, bis man den notwendigen Stichprobenumfang der Ortschaften hat. (iii) Eine dritte Möglichkeit: Man versehe die Karte mit Koordinaten und
655
wähle zufällig jeweils zwei Zahlen, die die Koordinaten der Ortschaft angeben. — Für diese Methode ist es charakteristisch, daß alle Ortschaften unabhängig voneinander gewählt werden und jede eine bekannte, nicht unbedingt dieselbe Wahrscheinlichkeit hat, in die Stichprobe zu gelangen. Sie kann sowohl bei der Datenerhebung als auch bei der Verarbeitung der Kartenbelege verwendet werden. (b2) Eine systematische Stichprobe entsteht so, daß man eine Ortschaft zufällig wählt und alle anderen in gleichmäßigen Intervallen (äquidistant) nebeneinander. Diese Methode liefert in der Dialektologie gute Resultate und wurde bei der Identifizierung der Dialektgrenzen benutzt (Händler/Naumann 1976); vgl. Abb. 38.2. Problematisch dabei ist der Umstand, daß man ein Netz von äquidistanten Ortschaften kaum findet, daher muß man im allgemeinen ein gröberes Raster zugrundelegen.
Abb. 38.1: Einfache Zufallsstichprobe der Ort- schaften
Abb. 38.2: Systematische Stichprobe von Ort- schaften (b3) Eine geschichtete Stichprobe entsteht so, daß man das Gebiet in gleiche Quadrate aufteilt und innerhalb jedes Quadrats entweder eine oder mehrere Ortschaften zufällig oder systematisch wählt; vgl. Abb. 38.3.
656
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
3.
Abb. 38.3: Geschichtete (zufällige) Stichprobe von Ortschaften
(b4) Eine zweistufige Stichprobe entsteht so, daß man sowohl die Primäreinheit als auch die Sekundäreinheit zufällig wählt. Die Primäreinheit kann ein quadratisches Teilgebiet bestimmter Größe sein, die Sekundäreinheiten sind die Ortschaften. Eine solche Stichprobe wird in Abb. 38.4 dargestellt.
Abb. 38.4: Zweistufige Stichprobe von Ortschaf- ten
(c1) Eine dreistufige Stichprobe entsteht so, daß man in einer zweistufigen Stichprobe die Informanten aus den gewählten Ortschaften zufällig erhebt. Die Wahl des Informanten sollte immer zufällig sein, wenn keine Faktoren wie Alter, Geschlecht usw. relevant sind, s. u. 3. Jedoch sollte man auch bei der B erücksichtigung dieser Faktoren bei jedem Merkmal die Zufälligkeit anstreben. Welches Verfahren zur Festlegung der Ortschaften auch verwendet wird, die Auswahl der Informanten ist immer mindestens zweistufig. (c2) Eine Klumpenstichprobe entsteht so, daß man nur wenige Ortschaften wählt und in diesen dann eine große zufällige oder systematische Stichprobe der Informanten erhebt oder auch alle Informanten untersucht. Viele Erhebungen in der Dialektologie sind von dieser Art, wobei sich das Netz der Ortschaften allmählich verdichtet.
Metrisierung, Skalierung, Messung
Für die B eschreibung der erhobenen Daten sind die Beschreibungsbegriffe sorgfältig zu formulieren, da von einigen ihrer Eigenschaften das weitere statistische Vorgehen abhängt. Für die Einfachheit der B eschreibung, aber auch für die Güte der erreichbaren Ergebnisse kommt es dabei auf möglichst weitgehende Metrisierung an. (Inwiefern die Metrisierung zugleich genauer Dokumentation und der Ermittlung von Gesetzmäßigkeiten dienen kann, zeigt allgemein Stegmüller 1970, 98—105.) — Man unterscheidet vier Skalenarten, d. h. vier Möglichkeiten, B eschreibungsbegriffe so zu formulieren, daß ihr Gegenstandsbereich teilweise oder ganz auf die rationalen Zahlen abgebildet werden kann. Unscharf formuliert, können die Skalenarten wie folgt unterschieden werden: (a) Nominalskala oder klassifikatorische B egriffe: die erhobenen Daten lassen sich klassifizieren; (b) Rangoder Ordinalskala oder komparative B egriffe: die Daten lassen sich außerdem in eine Reihe ordnen; (c) Intervallskala oder Messung als intensive Größen: auch die Abstände zwischen den Daten sind aussagekräftig; (d) Verhältnis- oder Ratioskala oder Messung als extensive Größen: außerdem besteht ein Nullpunkt, und es lassen sich Quotienten bilden. Nur die beiden letztgenannten Fälle wird man umgangssprachlich als ‘Messen mit einer Skala’ bezeichnen. Da sie aber die beiden anderen enthalten und sich insgesamt eine vierteilige Aufstufung formulieren läßt, ist diese terminologische Ausweitung des Meßbegriffs sinnvoll. Man kann danach auch ein Klassifizieren — z. B . Variante x gehört zu Dialekt a / zu Dialekt b — oder ein Vergleichen — z. B . Text y macht auf einen Beurteiler den Eindruck größ erer Dialektizität als Text z — als Messen bezeichnen. Zu einer verbreiteten B etonung des Unterschieds von qualitativen und quantitativen Begriffen: (a) Der Unterschied wird durch das Prinzip der Aufstufung — die Eigenschaften jeder Skala sind in den Eigenschaften der nächsten jeweils enthalten — insbesondere durch die Existenz der komparativen B egriffe aus dem scheinbaren Gegensatz in eine sinnvolle Reihe überführt. (b) Eine genauere Analyse zeigt, daß sowohl qualitative wie quantitative B egriffe eine sorgfältige Konstruktion nach den noch zu nennenden Grundsätzen erfordern (vgl. z. B . Stegmüller 1970, 138—152). — Die Tatsache, daß umfangreichere dialektologische Datenmengen zunehmend mit
38. Statistische Datendarstellung
Rechenanlagen bearbeitet werden, verstärkt die Argumente für eine Metrisierung nicht direkt. Rechner erfordern zunächst lediglich eine Operationalisierung, auch unter Verwendung nicht-metrischer B egriffe. Sie erlauben allerdings, metrisierte B eschreibungen vergleichsweise bequem weiterzuverarbeiten.
B eim gegenwärtigen Stand von Dialektologie und Linguistik ist die Mehrzahl der verwendeten Skalen von niedrigem Niveau; ob und wieweit Metrisierungen möglich sind, ist erst in wenigen B ereichen geprüft (allerdings lassen sich z. T. Skalen ableiten, vgl. dazu die nächsten Abschnitte). — Für diese Prüfung gelten einige allgemeine Gesichtspunkte: Rechtfertigen die empirischen B efunde das Meßniveau? — Können Gesetzmäßigkeiten im Verhalten der zu messenden Einheiten vermutet werden? — Wie verhält sich das Meßniveau zu vorhandenen Konventionen? — Läßt sich der Sachverhalt einfacher formulieren? — Verspricht die gewählte B egrifflichkeit, fruchtbar zu werden? — Ist das Meßverfahren praktikabel? — Für jede Skala sind dann jeweils spezielle Fragen zu stellen, um die angemessene Skalierung zu finden. Um eine weitgehende Metrisierung zu erreichen, müssen die Daten so (um)formuliert werden, daß alle Informationen, die nach den allgemeinen Gesichtspunkten vorhanden sind, auch berücksichtigt werden, aber eben nur diese. Für das obige B eispiel Variante x gehört zu Dialekt a / zu Dialekt b, wäre z. B . zu erwägen: Sind a und b disjunkte (nicht überlappende) Klassen? — Sind die Klassen exhaustiv, decken sie also alle möglichen Werte von x ab? — Könnte für beliebige x1 und x2 festgestellt werden, welches von beiden eher zu a und weniger zu b gehört? Wenn dies nicht gesagt werden kann, aber Disjunktivität und Exhaustivität gelten, liegt eine Nominalskala vor. Kann auch die letztere Aussage gemacht werden, liegt eine Rangskala vor. — Könnte für zwei beliebige Paare (x1, x2) und (x3, x4) darüberhinaus festgestellt werden, welches auf einer Skala mit den Polen Zugehörigkeit zu a und Zugehörigkeit zu b dichter zusammenliegt? In diesem Fall würde eine Intervallskala gelten. — Für das zweite B eispiel Schätzung des Dialektizitätsunterschieds zweier Texte y und z könnte z. B . folgendes erwogen werden (die Verwendung einer Rangskala ist bereits durch die Aufgabenstellung vorgegeben, es kann also nur noch um die Angemessenheit
657
einer Intervall- oder gar Verhältnisskala gehen): Kann der Dialektizitätsvergleich so formuliert werden, daß ein Größenunterschied zwischen der Dialektizitätsdifferenz innerhalb des Textpaars (y1, z1) und innerhalb des Textpaars (y2, z2) feststellbar ist? In diesem Fall gilt Intervallniveau. — Ist eine Aussage sinnvoll, in der zwei Dialektizitätsdifferenzen addiert und mit einer dritten verglichen werden? Oder könnte man über irgendeinen Text sagen, daß er gar keine Dialektizität hat, z. B . weil er völlig hochsprachlich ist? B eide Fälle (für sich) konstituieren Verhältnisniveau. Drei weitere, nicht fingierte B eispiele für Metrisierungsfragen seien noch angeführt: (a) Metrisierung von distinktiven Lautmerkmalen. Für B eschreibung und Vergleich von Lauten/Phonemen kann die verbreitete Einschränkung auf (binäre) Klassifikationen zu arm sein. Für eine Skala ‘Artikulationsort’ mit Rangniveau z. B . ‘vorn — mitte — hinten’ oder vielleicht sogar mit Intervallniveau, z. B . für den Vergleich von solchen Reihen mit unterschiedlichen Stufenzahlen, sprechen verschiedene empirische B efunde, Fruchtbarkeit und Einfachheitsüberlegungen (vgl. z. B . Geršić 1971, Ladefoged 1970, 1976, Lehfeldt 1978; vgl. auch 4.2.). (b) Metrisierte Darstellung von (Dia-)Systemen. Die Schwierigkeiten eines phonetischen Systemvergleichs, die in der Diskussion über das Diasystem erörtert wurden, können vielleicht folgendermaßen gelöst werden: Man versucht nicht, die Systemelemente zu vergleichen (was wegen des historisch-etymologischen Interesses wohl nahelag), weil nach streng strukturalistischen Prinzipien Elemente eines Systems nicht mit denen eines anderen vergleichbar sind. Vielmehr beschreibt man die Charakteristika des Systems als Ganzen (Altmann/Lehfeldt 1973; kartographische Vorformen dieses Vorgehens bei Goossens 1969, 120; 123) und vergleicht dann die so gewonnenen Systemparameter (vgl. 4.2. (1)). (c) B estimmung der Skalen für ein MehrVariabeln-Modell dialektaler Variation. Wenn man den Zusammenhang dialektaler Variation mit anderen Faktoren darstellen will, muß man für jeden Faktor eine eigene Skala aufstellen. Es ist üblich, solche Skalen als Dimensionen eines n-dimensionalen Hyperwürfels oder Hyperraumes zu bezeichnen. Goossens (1977, 8—12; vgl. auch Klein 1974, Putschke 1974) hat folgende Faktoren genannt: Sozialschicht (Goossens: diastrati-
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
658
sche Dimension) — Historie (diaphasische Dimension) — Pragmatik/Stilistik (diasituative Dimension) — Geschlecht — Geographie (diatopische Dimension) — Dialektizität (Hochsprache-Dialekt-Skala, Goossens 1977, 9) — Sprachwillen (= subjektives Dialektizitätsurteil). Hiernach ist jede „Sprechweise“ (Goossens 1977, bes. 7—23) vorzustellen als auf diesen sieben Skalen gemessen, sozusagen als Punkt in einem 7-dimensionalen Würfel. — B ildlich fortgefahren, bestünde die Metrisierungsaufgabe dann weiter darin, die Kanten dieses Würfels näher zu bestimmen. Zur B estimmung der Skalenarten einige Argumente, die das Metrisierungsproblem weiter verdeutlichen sollen: Ob überhaupt die Dimensionen in sich Reihen bilden (also Rangskalen sind), ist nicht nur für die diatopische Dimension zu prüfen. Goossens (1977, 11) hält die diatopische Differenzierung generell für zweidimensional; ein Gegenbeispiel ist aber seine eigene Skizze der germanisch-romanischen Sprachgrenze (vgl. Goossens 1977, 47). Die einfache Linearität muß auch für die diasituative und die diastratische Dimension je nach dem Zusammenhang infrage gestellt werden: Reicht z. B . ‘formlos — förmlich’ als Ordnungsbegriff für einschlägig relevante Situationsklassen? — Wie sollten auf einer Unterschicht— Oberschicht-Reihe Subkulturen von Jugendlichen (Rocker vs. Gymnasiasten) eingeordnet werden? Für die Skalierung sind zwei Folgerungen zu erwägen: entweder Formulierung jeweils als Klassen, also Nominalniveau, oder Aufspaltung der Dimension in eine Ebene, allgemeiner einen Hyperraum, was die Gesamt-Dimensionen-Zahl des Modells erhöhen würde. — Auch bei der Feststellung der Skalenarten für die anderen Dimensionen ist sorgfältige Formulierung erforderlich: Soll die Historizität von sprachgeschichtlichen Fakten nach Jahren intervallskaliert oder nach Epochen lediglich rangskaliert werden? — B eruht ein Dialektizitätsmaß auf Schätzungen, dann liegt zunächst eine Rangskala nahe, oder auf Merkmalshäufigkeiten (bei eventueller Gewichtung der Merkmale), dann ist eine Intervallskala, u. U. Verhältnisskala angezeigt.
4.
Ähnlichkeitsmessung
Die Vorbereitung zur quantitativen Verarbeitung dialektologischer Daten erfolgt durch die Erstellung einer Belegmatrix, die
etwa folgendermaßen Abb. 38.5). O1 O2 O3 O4 O5 · · ·
X1 x111 x211 x312 x412 x513 · · ·
X2 x121 x221 x322 x422 x522 · · ·
aussieht X3 x131 x232 x333 x432 x532 · · ·
(vgl. ...
Abb. 38.5: Belegmatrix Hier bedeutet: Oi (i = 1, 2, ..., n)
die Ortschaften einer Landschaft, Xj(j = 1, 2, ..., r) die einzelnen sprachlichen Phänomene (bzw. Dialektkarten mit einem Phänomen), xijk (k = 1, 2, ..., s) den k-ten Beleg (Typ) auf der j-ten Karte für die i-te Ortschaft. Weiter werden bezeichnet mit x.jk mj
die Häufigkeit des Belegs (Typs) k auf der Karte j, die Anzahl der Belege auf der Karte j; wenn für jede Ortschaft nur ein Beleg vorhanden ist, so ist mj = n.
Die weitere B ehandlung geht von einer idealisierten Situation aus, indem angenommen wird, daß ein Dialekt bzw. die Sprache einer Ortschaft einheitlich ist. Notfalls läßt sich eine Unifizierung immer durchführen. B eim Vergleich zweier Dialekte geht es hier nur um Ähnlichkeit oder Unterschied (prinzipiell ebenso beim Vergleich von Dialekt mit Hochsprache). Üblicherweise beschränkt man sich dabei auf den phonetischen oder den lexikalischen B ereich, aber prinzipiell könnte man so viele Ähnlichkeitsarten untersuchen, wie man Aspekte zu ersinnen imstande ist. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich ebenfalls auf diese beiden Ebenen und zeigen mehrere Spielarten des Vergleichs. 4.1. Lexikalische Ähnlichkeit Diese kann auf zwei Arten gemessen werden: (a) Hat man r B elege nur für zwei Ortschaften Oi und Oi′, so vergleicht man die einander entsprechenden B elege und betrachtet die Proportion der ‘identischen’ B elege als das Maß der Ähnlichkeit der Dialekte zweier Ortschaften. Formal ausgedrückt,
38. Statistische Datendarstellung
vergleicht man die B elege xijk und xi′jk′, und definiert eine Funktion
659
Die Funktion ϕ kann man weiter verfeinern, wenn nötig (vgl. 4.2 (c)). Um nun die Ähnlichkeit aus allen Karten zu ermitteln, definiert man das Maß der Ähnlichkeit zweier Ortschaften Oi und Oi′ als
so daß die lexikalische Ähnlichkeit zwischen Oi und Oi′ als
ausgedrückt werden kann. Aus der Abb. 38.5 ergibt sich z. B . für O1 und O2 eine lexikalische Ähnlichkeit von S(O1, O2) = 2/3. Dieses Maß wird üblicherweise auch dann verwendet, wenn man eine Matrix von mehreren Ortschaften zur Verfügung hat. (b) Die Messung unter (a) scheint jedoch etwas grob zu sein; man kann die bereits vorhandenen B elege auch gewichten und das Gewicht für die Ähnlichkeitsmessung verwenden. Man geht dabei von der Überlegung aus, daß ein B eleg, der nur in zwei Ortschaften vorkommt, für ihre Ähnlichkeit gewichtvoller ist, als ein solcher, der fast in allen Ortschaften vorkommt. Ein Maß dieser Art bekommt man folgendermaßen (vgl. Altmann 1977): Wenn der B eleg xijk in der Ortschaft Oi vorkam, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß er in der Matrix am B elegort Oi′ auch vorkommt, gleich
wobei x.jk/mj die relative Häufigkeit des B eleges k auf der Karte j ist. Diese Größe ist desto kleiner, je kleiner die Häufigkeit des B elegs k. Da das Gewicht desto größer sein soll, je kleiner x.jk, definiert man die Ähnlichkeit zweier Ortschaften Oi und Oi′ auf der Karte j als Sj (Oi, Oi′) = 1 — P (xi′jk′, xijk) ϕ (k, k′) (3) wobei
Die Funktion ϕ sichert lediglich, daß bei ungleichen B elegen keine Ähnlichkeit berechnet wird, da für k ≠ k′ gilt
Wäre die Matrix in Abb. 38.5 auf 5 Ortschaften und 3 Karten beschränkt, so ergäbe sich für den Vergleich von O1und O2 die Ähnlichkeit folgendermaßen: Auf allen Karten ist mj = n = 5; auf der ersten Karte kommt x.11 zweimal vor, daher ist P (x.11) = 2/5 , und dieser B eleg ist für die beiden Ortschaften gleich, d. h.
Auf der zweiten Karte haben wir denselben Fall, während auf der dritten Karte die B elege für O1 und O2 unterschiedlich sind. Daher ist nach (5 b)
4.2. Phonetische Ähnlichkeit Die Messung der phonetischen Ähnlichkeit bereitete schon immer Schwierigkeiten. Es gibt mehrere Ansätze und Diskussionen (vgl. Afendras/Tzannes/Trépanier 1973, Altmann 1969, Altmann/Lehfeldt 1980, Austin 1957, Avram 1965—66, 1967 und 1972, B lack 1970, Geršić 1971, Grimes/ Agard 1959, Heike 1961, Kloster-Jensen 1966, Kučera 1964, Kučera/Monroe 1968, 85 ff., Ladefoged 1970, Meyer-Eppler 1969, 408 f., Naumann 1976, 151—155 und 1977, 199 f., Perebyjnis 1970, 66 f., Peterson/
660
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Harary 1961, Saporta 1955, Tolstaja 1968, Vinogradov 1966), aber die Probleme wurden bisher nicht zufriedenstellend gelöst. — Man kann hier zwei Aspekte unterscheiden, nämlich die synchrone und die diachrone Ähnlichkeit von Dialekten. (a) Synchron kann man einzelne Laute/ Phoneme nicht direkt vergleichen, da man durch nichts begründen kann, warum die gegebenen Vergleiche und nicht andere durchgeführt wurden. Man müßte alle Phoneme/ Laute mit allen vergleichen, wobei die Resultate ziemlich verzerrt werden könnten. Daher ist synchron nur der Vergleich von Charakteristiken des ganzen Systems sinnvoll, die in Form von Indices, Vektoren, Funktionen u. a. dargestellt werden. Verschiedene Möglichkeiten wie z. B . Gleichmäßigkeit der Merkmalsausnutzung, Entropie, lexikalische Ökonomie, Effektivität und Asymmetrie des Transkriptionskodes u. a. findet man bei Altmann/Lehfeldt 1979. (b) Diachron zielt der Vergleich im wesentlichen auf phonetische Divergenz zweier Dialekte oder auf die Varietät eines Diasystems. Vergleicht man zwei Dialekte O1 und O2, so muß man miteinander diejenigen Laute/Phoneme vergleichen, die sich etymologisch entsprechen. Falls einem Laut in O1 zwei Laute in O2 entsprechen, so müssen beide Vergleiche in die B erechnung der Differenz eingehen. Man vergleicht selbstverständlich nicht direkt die Laute, sondern ihre Eigenschaften, die auf sehr unterschiedliche Weisen definiert und gemessen werden können. An einem künstlichen Beispiel soll eine der vielen Möglichkeiten illustriert werden. — Seien zwei verwandte Dialekte O1 und O2 gegeben mit den Vokalinventaren P1 = {a, e, i, o, u, ǝ} P2 = {a, e, i, o, u, ö, ü} , wobei folgende etymologischen Entsprechungen bestehen:
Daher muß man z. B . nicht nur e1 mit e2, sondern auch ǝ1 mit e2 vergleichen, um die Di-
vergenz festzustellen. Die Eigenschaften der Vokale können z. B . nach Ladefoged 1975 folgendermaßen quantifiziert werden: a High 1 Back 1 Round 0
e 3 0 0
i 4 0 0
o 3 1 1
u 4 1 1
ǝ 2 1 0
ö 3 0 1
ü 4 0 1
Eine Spalte in dieser Matrix bezeichnet man als den Vektor V (p) des Phonems/Lautes p und definiert die Differenz zwischen dem Laut/Phonem p im Dialekt O1 und dem Phonem/Laut p′ im Dialekt O2 als D (p1, p′2) = V′ (p1) — V′ (p′2) · U (6) wobei V′ der Zeilenvektor und U der Einheitsvektor ist. Die senkrechten Linien bedeuten, daß alle Zahlen im resultierenden Vektor im absoluten Wert (B etrag) zu schreiben sind. So wäre z. B.
d. h. (6) ist die Summe der Differenzen einzelner Vektorelemente beider Phoneme/ Laute. Den Durchschnitt aller solcher Vergleiche kann man als das Maß der historischen (phonischen) Divergenz betrachten, formal
wobei der senkrechte Strich “” die etymologische Entsprechung bedeutet, n ist die Anzahl der Vergleiche, die größer sein kann als P1 oder P2 (Inventarumfang), weil ein Phonem/Laut mehrere Korrespondenzen haben kann. In dem Beispiel wäre
38. Statistische Datendarstellung
HD (O1, O2) = + + + + =
D D D (0
(i1, (o1, (u1, D +
[D (a1, a2) + D (e1, e2) i2) o2) u2)
0
661
+ + + +
0
D D D (e1, +
(i1, (o1, (u1, 2
u2) ö2) ü2) e2)] +
0
+ 1 + 0 + 1 + 2) = 0,67. Maße dieser Art sind leicht zu konstruieren, aber mit Vorsicht zu gebrauchen und zu i nterpretieren (Lehfeldt 1978). Das B eispiel soll nur als Illustration, nicht als Vorbild dienen. Die Normierung der Vektorelemente wäre in jedem Fall ratsam. (c) Verfeinerung der lexikalischen Ähnlichkeit. In der Formel (4) haben wir eine Funktion ϕ definiert, die den Wert 1 annahm, wenn die verglichenen B elege zu einem Typ gehörten. Möchte man auch noch die phonische Ähnlichkeit in das Maß (5) einbauen, so könnte man die Funktion ϕ folgendermaßen definieren:
lektes, einer Ortschaft, eines Dialekts, d. h. die Variabilität der Sprachträger. 5.1. Spracheinheiten Die Variabilität der Spracheinheiten oder, allgemeiner, Spracherscheinungen kann wiederum qualitativ oder quantitativ gemessen werden. (a) Qualitative Variabilität, z. B . phonetische, bedeutet die phonetische Heterogenität einer Erscheinung, wobei der Unterschied zwischen den Varianten paarweise auf einer geeigneten Skala gemessen wird und die Variabilität sich als eine Funktion aller gemessenen Differenzen (z. B . Durchschnitt) ergibt. Hierbei müssen die einander entsprechenden Phoneme/Laute in Spracheinheiten verglichen werden, wobei auch der Unterschied Laut vs. Ø, d. h. „Laut“ gegen „kein Laut“, festgelegt werden muß. — Das Verfahren soll an einem künstlichen Beispiel illustriert werden: In einem Dialekt wurden drei phonetische Formen des Wortes AB CD gefunden (A, B , C, D sind die Laute des Wortes), nämlich 1.abcd 2.a′bc′d′ 3.a″b′c′ ,
wobei S (W1, W2) die Ähnlichkeitsfunktion für zwei Wörter sein soll. Diese Funktion sollte so definiert werden, daß, je größer die Ähnlichkeit, desto kleiner S (W1, W2), und die Funktion sollte Werte im Intervall 〈0, 1〉 annehmen. Durch große Ähnlichkeit würde P(xi′jk′, xijk) noch mehr verringert. Weiter müßte sie als eine Funktion aller Vergleiche der sich positionell entsprechenden Phoneme/Laute im Wort definiert werden. B efriedigende Lösungen gibt es bisher nicht, so daß lediglich auf die Ansätze von Geršić (1971) und Naumann (1977) verwiesen werden kann.
5.
wobei die kleinen B uchstaben die Laute der einzelnen Wortvarianten bedeuten. Aus einer Differenzfunktion stellt man z. B . folgende Lautdifferenzen fest: D (a, a′) D (a, a″) D (a′, a″) D (Laut, Ø)
=1 = 1,5 = 1,7 =5
D (b, b′) = 2 D (c, c′) = 4 D (d, d′) = 3
Die Differenz des ersten und des zweiten B eleges wird folgendermaßen berechnet:
Variabilitätsmessung
Absolute Idenitität von Phänomenen gibt es nicht, es gibt lediglich partielle Ähnlichkeiten von gewissen Standpunkten aus gesehen. Daher muß man in der Dialektologie zwei Arten von Variabilitäten erfassen können: die Variabilität einzelner Spracherscheinungen, z. B . phonetische Variabilität der Wörter, und die globale Variabilität eines Idio-
wobei p1i den i-ten Laut des ersten Wortes bedeutet. Ebenso ergibt sich D (W1, W3) = 1,5 + 2 + 4 + 5 = 12,5 D (W2, W3) = 1,7 + 2 + 0 + 5 = 8,7 Die gesamte Variabilität eines Wortes ist dann zu definieren als
662
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
wobei C die Anzahl der Lautvergleiche ist. In dem Beispiel ergibt sich
Ist die Wortlänge L bei jedem Vergleich identisch — was nicht der Fall sein muß, wenn beispielsweise in zwei Varianten ein Laut ausgefallen ist — so ergibt sich
wobei W die Zahl der verglichenen Wörter (Belege) ist. In dem Beispiel war L = 4 und W = 3, woraus = 12. Wenn jedoch in zwei Varianten derselbe Laut fehlt, so muß C anders abgezählt werden; Rechnungen dieser Art findet man bei Geršić 1971. (b) Quantitative Variabilität. B ei dieser Messung ist der qualitative Unterschied einzelner Varianten irrelevant, man zählt nur ab, wie oft (in wie vielen Meßpunkten) eine Variante vorkommt. Es gibt bereits viele geeignete Maße; hier soll für die quantitative Variabilität einer Spracherscheinung die sog. Wiederholungsrate benutzt werden
wobei K die Anzahl der unterschiedlichen Varianten ist, pj = fj/n ist die relative Häufigkeit der Variante j, und n = ∑ fj ist die Anzahl aller Meßpunkte. — Ein Beispiel: Für das Wort W wurden in 100 Meßpunkten 5 Varianten W1 bis W5 gefunden, und zwar mit folgenden Häufigkeiten: f (W1) = 24; f (W2) = 30; f (W3) = 16; f (W4) = 5; f (W5) = 25. Daraus ergibt sich die quantitative Variabilität des Wortes W als
Dieser Index bewegt sich im Intervall (1/K; 1), und man kann ihn auch als Unifizierungsdrang interpretieren. Je kleiner die Variabilität der sprachlichen Einheit, d. h. j e stärker die Unifizierung verläuft, desto größer wird R. Die Unifizierung läßt sich natürlich auch mit Hilfe einer Wahrscheinlichkeitsverteilung oder einer Kurve modellieren, deren Parameter als eine Funktion des Unifizierungsdrangs interpretiert werden könnten. 5.2. Sprachträger Die Variabilität ist im allgemeinen desto größer, je größer der Sprachträger. So ist eine ganze Sprachlandschaft sicherlich heterogener als jeder Dialekt, der in ihr vorkommt, und eine Ortschaft ist heterogener als ein Idiolekt. Man kann hier beliebige Zwischenstufen einbauen, es gilt immer, daß eine Menge mindestens so heterogen ist wie ihre Teilmengen. — Im weiteren soll nur die quantitative Heterogenität einer Sprachlandschaft betrachtet werden, da sich alle Resultate mutatis mutandis auf kleinere Einheiten übertragen lassen. Ausgehend von der Abb. 38.5 definieren wir mit Hilfe von (10) das Maß der L-Homogenität als
Zu s wurde noch der Index j angefügt, weil die Anzahl unterschiedlicher B elege s sowie ihre Gesamtzahl m von Karte zu Karte j unterschiedlich sein kann. So ergibt sich aus Abb. 38.5 für X1
Hier ist m1 = n. Summiert man nun diesen Index für alle sprachlichen Phänomene j = 1, 2, ..., r und dividiert durch die Zahl der Phänomene, so bekommt man ein Maß der (lexikalischen) Homogenität einer Sprachlandschaft L als
Ein Beispiel soll nach Abb. 38.6 folgendermaßen aussehen:
38. Statistische Datendarstellung
O1 O2 O3 O4 O5 O6 O7
X1 x111 x211 x312 x411 x511 x613 x714
X2 x121 x222 x323 x423 x523 x623 x723
X3 x131 x231 x332 x432 x533 x633 x733
663
X4 x141 x242 x343 x444 x545 x646 x747
X5 x151 x251 x351 x451 x551 x651 x751
Abb. 38.6: Belegmatrix Hier ergibt sich wegen mj = n = 7
was alle Probleme der Isoglossenfindung in das Ergebnis einträgt; vgl. auch Händler/ Naumann 1976.) Der Index Hom(L) bewegt sich im Intervall (1/max sj; 1〉, Het(L) im Intervall 〈0; 1—1/max sj), wobei max sj das größte s in der Belegmatrix ist. Ein anderes Maß läßt sich folgendermaßen aufstellen. Sei
das Maß der E-Entropie der Spracheinheit Xj (einer Atlaskarte), wobei ld der Logarithmus zur Basis 2 ist, dann ist
das Maß der (lexikalischen) Entropie einer Sprachlandschaft L. Es ist einfach der arithmetische Durchschnitt der E-Entropien der Einheiten. B eispielsweise ergibt sich aus der Abbildung 38.6 H (X1) folgendermaßen
Die Tabellen von ld x findet man z. B . bei Meyer-Eppler (1969) oder man berechnet sie mit Hilfe der Umformung
Umgekehrt kann man die Heterogenität einer Sprachlandschaft L als Het (L) = 1 — Hom (L) definieren. In unserem Beispiel hätten wir Het (L) = 1 — 0,4857 = 0,5143. (Vgl. dazu Ivićs Überlegungen zu einem Maß der Differenzierungsdichte; prinzipiell identisch ist sein Maß für Arealgröße (1960—61, 130—134 und 140 f.). Ivić schlägt vor, vorhandene Isoglossen auszuwerten,
Der Index H (Xj) bewegt sich im Intervall 〈0, ld s〉. Für die ganze Abbildung 38.6 ergibt sich H (L) als
664
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Da das Maximum von H (Xj) = ld sj ist, kann man auch ein relativiertes Maß aufstellen, nämlich
woraus die relative Entropie einer Sprachlandschaft L sich als
S (O1, O3) = 0 S (O1, O4) = 0,35 usw. X1 x111 x211 x312 x411 x511 x613
O1 O2 O3 O4 O5 O6
X2 x121 x222 x323 x423 x523 x623
X3 x131 x231 x332 x432 x533 x633
X4 x141 x241 x342 x441 x542 x642
Abb. 38.7: Belegmatrix ergibt. Ist mj für alle Xj gleich, nämlich n, so wird (17) zu
In dem B eispiel ist mj = n = 7, so daß sich (17 a) als
ergibt. Hrel(L) bewegt sich im Intervall 〈0, 1〉.
6.
Klassifikation von Dialekten
Aufgrund der Distanzmessung zwischen den Ortschaften läßt sich auch eine Klassifikation der Ortschaften in dialektähnliche Klassen durchführen. Die B edingung dafür ist der paarweise Vergleich aller in Frage kommenden Ortschaften. Die Klassifikationsverfahren sind heutzutage mechanisiert (vgl. Steinhausen/Langer 1977) und lassen sich leicht durchführen, sind aber mit einigen Gefahren verbunden. Sie hängen stark von dem benutzten Ähnlichkeitsmaß ab, und jeder Algorithmus liefert etwas andere Resultate. — Hier wird lediglich eine einfache Methode dargestellt, die sich bei einer kleineren Menge von Daten auch „mit der Hand“ durchführen läßt und eine hierarchische Ordnung der zu klassifizierenden Elemente liefert; sie wird in Form eines Algorithmus entwickelt. Andere Methoden findet man bei Bock (1974). Schritt 1. Man berechne die Ähnlichkeiten von Dialekten bzw. Distanzen aller Ortschaften, für die B elege vorhanden sind. Anhand der Abbildung 38.7 werden die einzelnen Schritte illustriert. Unter Verwendung des Ähnlichkeitsmaßes (5) ergibt sich:
Schritt 2. Alle Ähnlichkeitswerte werden in eine n × n symmetrische Matrix eingetragen. In dem B eispiel ergeben sich die Resultate wie in der Abbildung 38.8 aufgeführt:
O1 O2 O3 O4 O5 O6
O1 1 0,58 0 0,35 0,15 0
O2 0,58 1 0 0,35 0,15 0
O3 0 0 1 0,38 0,35 0,35
O4 0,35 0,35 0,38 1 0,30 0,15
O5 0,15 0,15 0,35 0,30 1 0,58
O6 0 0 0,35 0,15 0,58 1
Abb. 38.8: Ähnlichkeitsmatrix (unreduziert) Schritt 3. Man suche den größten Wert in der entstandenen Tabelle und zeichne die beiden Oi s zusammen. In dem B eispiel ist S (O1, O2) = S (O5, O6) = 0,58 der größte Wert, so daß im ersten Durchgang das B ild
entsteht. Schritt 4. Man fasse die beiden ähnlichsten Oi s in der Matrix zusammen und behalte nur die jeweils niedrigeren Werte von beiden. In dem B eispiel sind die Spalten und Zeilen von O1und O2 gleich, so daß die Werte direkt zu übernehmen sind, während bei O5 und O6 für S (O4, O5 und O6) = 0,15 als der kleinere von 0,30 und 0,15 übertragen wird; zu O1, O2 wird entsprechend 0 behalten. So entsteht Tabelle 38.9.
O1, O2 O3 O4 O5, O6
O1, O2 1 0 0,35 0
O3 0 1 0,38 0,35
O4 0,35 0,38 1 0,15
O5, O6 0 0,35 0,15 1
Abb. 38.9: Ähnlichkeitsmatrix (1. Reduktion)
38. Statistische Datendarstellung
665
Schritt 5. Man wiederhole Schritt 3 und 4 solange, bis alle O i s verbunden sind. (Dieser Algorithmus stammt von Johnson 1967.) Im zweiten Durchgang ist aus der Abb. 38.9 die größte Zahl für S (O3, O4) = 0,38 zu ersehen, so daß die folgenden Ähnlichkeitsverhältnisse entstehen:
Die Zusammenfassung von O3 und O4 ergibt die Abbildung 38.10:
O1, O2 O3, O4 O5, O6
O1, O2 1 0 0
O3, O4 0 1 0,15
O5, O6 0 0,15 1
Abb. 38.10: Ähnlichkeitsmatrix (2. Reduktion) Im letzten Durchgang werden die Klassen O3, O4 mit O5, O6 verbunden, und man bekommt
Resultate wie dieses sind selten, meistens sind alle Gruppen auf einer Ebene höher als 0 verbunden. In dem B eispiel würde man zwei Dialekte ansetzen, und zwar D1 = {O1, O2} und D2 = {O3, O4, O5, O6}. — Im allgemeinen Fall muß man z. B . eine bestimmte Ebene wählen, auf der man Gruppen bildet. Im nächsten B ild (Abb. 38.11) wurden mit einem ‘Abbruchkriterium’ A drei Klassen gebildet, mit B vier Klassen:
Abb. 38.11: Dendrogramm
7.
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666
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
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Gabriel Altmann, BochumCarl Ludwig Naumann, Aachen
39. Kartographische Datendarstellung
667
39. Kartographische Datendarstellung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
1.
Zur Rolle der Kartographie in der Dialektologie Entwicklungsstand Kartentypen Kartenzwecke Erhebungsergebnisse Klassifikation Symbolisierung ‘Isoglossen’ Perspektiven Literatur (in Auswahl)
Zur Rolle der Kartographie in der Dialektologie
Dialektkarten dienen der Dokumentation von dialektologischen Fakten zum Zweck der geographisch-synoptischen Veranschaulichung dialektgeographischer Hypothesen (über Raumstrukturen, Deutungen, etc.). Die Dialektkarte ist also ein Dokumentationsund Forschungsmittel. Die Dialektkartographie stellt die Methoden zur Herstellung, B enutzung und B eurteilung von Dialektkarten bereit. Die Unterordnung der Dialektkartographie unter die Dialektgeographie folgt daraus, daß die Dialektgeographie auch über andere Werkzeuge verfügt, wie z. B . die Statistik. (Ferner liegt eine Unterordnung der Dialektgeographie unter die Dialektologie zunächst im Objektbereich begründet; hier müssen außer den geographischen Aspekten der Linguistik historische, soziale und psychische beachtet werden — was dann methodische Folgen hat.) Verbreitete Unklarheiten über Aufgaben und Abgrenzungen der Dialektkartographie (Freudenberg 1965, 176; Löffler 1974, 32) können aus den konkreten Arbeitsbedingungen erklärt werden: Die Herstellung von Dialektkarten erfordert neben der Erhebung den größten Arbeitsaufwand innerhalb der Dialektgeographie. Dieser Aufwand steigert sich bei Atlanten parallel zur Vergrößerung von Erhebungsnetz und Problembereich; die Steigerung geht aber schnell über die Parallelität hinaus, wenn das Vorhaben nicht von einem einzelnen oder wenigen gleichzeitigen B earbeitern bewältigt werden kann, da Fakten- und Methodenkenntnisse explizit kommuniziert werden müssen (vgl. Wiegand/Harras 1971, 10—34). Jahrzehntelange B earbeitungen und Abbrüche sind daher in der Geschichte der Dialektkartographie nicht sehr selten. — Es erstaunt auch nicht, daß bei solchen An-
strengungen sich immer wieder die Unterscheidung der Dialektkartographie von der Dialektgeographie und die der Dialektgeographie von der Dialektologie verwischt haben, weil die Kräfte für Auswertungen n a ch d e r K a r t e nicht mehr reichten. Daß der Zeichentisch zum Denkhorizont wird, liegt zunächst nicht näher oder ferner wie entsprechende B eschränkungen bei anderen materialintensiven empirischen Arbeiten. Die Karte erweckt aber außerdem mit ihren graphischen Elementen wie Symbolen und Linien in besonderer Weise einen Schein von Konkretheit, der die ihr vorausgehenden Prozesse der Auswahl und Interpretation der Daten (vgl. 3.) sowie die interpretativen Anteile des Karten-‘Lesens’ verdunkeln kann, weil sie unmittelbarer wahrgenommen wird als Texte oder Zahlen. — Dementsprechend werden hier u. a. Ziele und Zwecke von Karte und Kartographie zu zeigen sein, damit ihr Stellenwert deutlicher wird. Ferner muß auch bei der Darstellung des Kartierungsvorgangs markiert werden, wie er eine Auswahl, Deutung und Wertung der Fakten fordert.
2.
Entwicklungsstand
2.1. Allgemeine Aspekte Auch für die historische Entwicklung der Dialektkartographie wäre der B ezug auf die Arbeitsbedingungen von Dialektkartographen nützlich, um den derzeitigen Stand reflektierter zu bestimmen; hier können nur Aspekte angedeutet werden. Neben den obengenannten allgemeinen oder ‘inneren’ B edingungsfaktoren sind Einflüsse der wissenschaftlich-institutionellen Arbeitsbedingungen zu beachten — z. B . Identifikation von Dialektkartographie und Dialektologie auch deswegen, weil hier eine genuine Methode Autonomie zu begründen versprach. Daneben Einflüsse der allgemeineren Wissenschaftsgeschichte — nach der inneren Gesetzlichkeit mußte der empirische Ansatz von kleinen zu großen Stichproben, also von Karten zu Atlanten, führen (vgl. Wiegand/ Harras 1971) — und müßte in kartographische Synthese münden (vgl. 4.2.); die Konfrontation mit dem Strukturalismus führte zunächst wegen der Komplexität beider B ereiche zu wechselseitiger Ignoranz und nur wenigen Karten. Ferner sind zu erwägen all-
668
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
gemein historische Einflüsse — nationale Atlanten als B eleg der Einheit in der Vielfalt einer Nation — und demographische B edingungen — in den USA ein Desinteresse an Atlanten (und ein auffallend breiter Dialektbegriff) als Reflex immer noch großer geographischer Mobilität. 2.2. Entfaltung der Systematik in der Kartierungspraxis Die erwähnten Verschiebungen in der Einschätzung und Abgrenzung haben allerdings nicht bewirkt, daß der Prozeß der Kartenherstellung so systematisch dargestellt wurde, daß die B ezeichnung als ‘Dialektkartographie’ berechtigt gewesen wäre bzw. die Kartentechnik ‘Kartiermethode’ hätte genannt werden können, wenn man einigermaßen strenge Maßstäbe anlegt. — Allerdings haben bei mehreren Atlanten die gewonnenen Erfahrungen zu Verfahren geführt, die fraglos das Prädikat ‘Kartierungskunst’ verdienen. Hier muß betont werden: ein gewisser Anteil künstlerischer Gestaltung der Karte wird auch bei einer systematisierten Kartographie, die weit über das z. Z. Erreichbare hinausgeht, unerläßlich sein. Die Systematik erleichtert die Wahl der Darstellungsmöglichkeiten, indem sie einige ausschließt; sie liefert aber keine engen Vorschriften, die jedes Detail festlegen. — Der Schritt zu einer systematisch begründeten Methode ist oft nur klein gewesen, er lag aber dann doch immer wieder abseits, weil die Karte für den Dialektgeographen nur Arbeitsmittel, die Dialektkartographie eben Hilfsdisziplin ist. Der immer erneute Ansatz bei wechselnden sachlichen Problemen und personellen Randbedingungen ließ Verallgemeinerungen kaum zu. Am weitesten kamen Punktsymbolkarten und insbesondere Atlanten in Punktsymboltechnik, die wie der Schlesische Sprachatlas (vgl. B d. 2) und der SDS hohe kartographische Systematik erkennen lassen. 2.3. Systematisierung unter Einbezug von Nachbardisziplinen Die ‘Linguistisierung’ der 70er Jahre (Wiegand/Harras 1971) und die Computerisierung der Sprach- und Dialektkartographie (Naumann 1976, Putschke 1977) führten dann zu einer Zusammenfassung und expliziten Darstellung der Systematik. Diese Systematik dient nicht allein der Standortbestimmung und weiterführenden Kritik, sondern ist auch unmittelbar wichtig für praktische Karten- und Atlasherstellung sowie
-verwendung: Erstens hängt zu einem Teil die Langwierigkeit der Atlasherstellung davon ab, daß die angewendeten Verfahren nicht explizit benannt waren, so daß miteinander und nacheinander arbeitende Kartographen sich schwerer verständigen konnten, und zweitens kann bisher der Kartenleser nicht immer die Herstellungsschritte nachvollziehen (zum Wert der systematischen — und algorithmischen — Darstellung für die computative Kartographie vgl. Art. 44). — Als nützlich erwiesen sich bei dieser Systematisierung Arbeiten aus der Thematischen Kartographie (Arnberger 1966, Imhof 1972, Witt 1970) und B ertins streng systematisch ansetzende Graphische Semiologie (B ertin 1974). B eide Disziplinen haben allerdings einen viel weiteren Objektbereich — Themakartographie: alle nicht-physikalischen Karten; Graphische Semiologie: alle Karten und außerdem Netze und Diagramme — so daß sie insbesondere nicht für die spezifischeren B elange genügende Lösungen anbieten können. Diese Kritik ist keine grundsätzliche an beiden genannten Disziplinen, sondern nur eine immanente; für den Praktiker der Dialekt- und Sprachkartenherstellung sind die einschlägigen Lehrwerke eine unumgängliche Grundlage. — B isher hat es sich nicht als erforderlich gezeigt, zwischen Sprachkartographie und Dialektkartographie zu unterscheiden. Die z. B . im zentralgermanischen B ereich im Nordwesten und in der Romania allgegenwärtige Schwierigkeit, Dialekte von Sprachen eindeutig zu trennen, erlaubt es häufig sowieso nicht, vo r der Kartenerstellung Entscheidungen zu fällen. Wenn das dennoch geschah, lagen wohl administrative oder politische Gründe vor, aber die Chance einer dialektgeographischen Präzisierung des Problems war dann verschenkt (vgl. z. B . Goossens 1973, 319). — Im folgenden sind daher Sprachkarten mitgemeint, wenn von Dialektkarten etc. die Rede ist, und umgekehrt. Ferner wird vereinfachend von ‘Karten’ gesprochen, wenn eine Unterscheidung sich von selbst versteht oder nicht notwendig ist.
3.
Kartentypen
In der bisherigen Arbeit standen einige Kartentypen deutlich im Vordergrund, die im folgenden zunächst schematisch genannt werden sollen (3.1.—3.4.). Zu ihrer Ordnung und Kritik (3.5.), auch zu ihrer konkreten Kombination (3.6.) werden Gesichtspunkte
39. Kartographische Datendarstellung
669
aufzuzeigen sein, die zunächst nur auf die graphischen Eigenschaften der Karte sich beziehen; unter 4. soll dann näher auf die Zwecke von Dialektkarten eingegangen werden. 3.1. Originalformkarten Diese in der Romania weitverbreitete Kartierungsart kann man als geographisch situierte Liste der B elege bezeichnen. Auch vom optischen Eindruck her kann meist nicht von einer Karte die Rede sein, da ausser im besonderen Falle der Darstellung eines einzigen phonetischen Zeichens mit wenigen Diakritika nichts erkennbar ist, was eine kartographische Aussage genannt werden könnte (vgl. Karte 39.1 und 39.2.).
Karte 39.2: Bezeichnungen für mento ‘Kinn’ im Sardischen (aus Saggio di un atlante linguistico delle Sardegna, Band I, Karte 22) das Erhebungsnetz ist und je homogener die Erhebungsergebnisse sind (vgl. Karte 39.3 und 39.4). 3.3. Flächenkarten
Karte 39.1:Lastig ‘schwierig’ in einem Teil des Niederländischen (aus Goossens 1965, Karte 11) 3.2. Punktsymbolkarten Diese für Regionalatlanten bevorzugte Kartierungsart zeigt an jedem Ort ein graphisches Symbol, das in der Legende einem B eleg oder B elegtyp zugewiesen ist. Die Punktsymbolkarte erlaubt eine sehr genaue Darstellung der erhobenen Fakten. Eine graphische Aussage entsteht um so leichter, je einfacher die Zeichen sind, je übersichtlicher
Diese Kartierungsart teilt das Erhebungsgebiet in Flächen, deren Färbung, Rasterung etc. bzw. Umgrenzungsart anzeigt, zu welchem B eleg oder B elegtyp die in der Fläche liegenden B elegpunkte gehören. Die Flächenkarte erlaubt eine sehr prägnante graphische Aussage. Wieweit es zugleich möglich ist, daß der Leser aus der Karte den B eleg für jeden Ort rekonstruieren kann, hängt von der Genauigkeit ab, mit der Abweichungen vom flächenkonstituierenden B eleg(typ) gekennzeichnet sind, sowie von der Homogenität der Erhebungsergebnisse, der Erhebungsdichte und Kartengröße, was sich aber hier und im weiteren von selbst versteht (vgl. Karte 39.5 und 39.6).
670
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Karte 39.3: Wortkarte ‘Sahne, aus der die Butter hergestellt wird’ für das schlesische Dialektgebiet (aus Schlesischer Sprachatlas Bd. 2, Karte 55)
Karte 39.4: Struktur der Phoneme /ē, , ae/ in der Nordschweiz (aus Moulton 1963, 79)
39. Kartographische Datendarstellung
671
Karte 39.5: Distribution /ʃ/ im Limburgischen (aus Goossens 1969, Karte 9) Karte 39.7: Dialekt- und Verwaltungsgrenzen im Siegerland (aus Kroh 1915, nach Veith 1970, Karte 2)
Karte 39.6: Bezeichnungen für Hagebutte i m Südostdeutschen (aus Naumann 1975, Karte 5 nach DWA, Band 11, Karte 2)
Karte 39.8: Wortgrenzenbündel im Meißnischen (aus Grosse 1955, Kombinationskarte I)
3.4. Flächenkombinationskarten Unter verschiedenen Termini sind in der Dialektgeographie auch Karten verwendet worden, auf denen Flächen kombiniert werden. Zu unterscheiden sind dabei zwei Verfahren: (1) Zur Demonstration außerlingualer Determinanten und anderwärts verwendete differenzierte Flächenkombinationskarten, wo die dialektalen, politischen, u. a. Grenzen je einzeln nebeneinander verlaufen. In der Thematischen Kartographie hat die-
ses Verfahren verallgemeinert als ‘Grenzgürtelmethode’ B edeutung erlangt (Witt 1970, 516—524). — (2) Zur Veranschaulichung dialektaler Raumabgrenzungsfragen konzipierte integrierte Flächenkombinationskarten, die große Zahlen dialektaler Grenzen, teils nach B edeutung gewichtet, in abgestuft starken Linienzügen bündeln (‘Wabenkarte’) (vgl. Karte 39.7 und 39.8). — Auf den systematischen Stellenwert beider Kartentypen,
672
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
die auf der Flächenkarte aufbauen, wird unter 4.3. näher eingegangen.
Übersichtlichkeit, die Interesse zugeordnet ist.
3.5. Interpretation als kartenkonstitutives Moment
3.6. Kombination der Kartentypen
Die Auswahl eines bestimmten Kartengegenstandes hängt ab von der Unterstellung, daß er, unter welchem Gesichtspunkt auch immer, von B edeutung sei — daß er z. B . eine historische Entwicklung oder ein Raumgliederungsproblem repräsentiere. Ferner enthält die Fixierung der B efragungsergebnisse unvermeidlich Deutungen, abgesehen von meßphonetischen und z. T. von statistischen Daten. Diese und andere vo r der Karte erforderlichen Deutungsprozesse finden ihre Fortsetzung im Kartierungsvorgang, wobei sich zugleich die drei Kartentypen — schematisch — nach wachsendem Deutungserfordernis ordnen lassen: Die Originalformkarte erfordert keine Deutungen, außer den generellen Voraussetzungen; eben deswegen veranschaulicht sie auch im allgemeinen keine dialektalen Fakten, außer für eine kleine Klasse von Erhebungsdaten. Die Punktsymbolkarte erfordert eine Zuweisung von Symbolen zu B elegen; wenn diese Zuordnung nicht willkürlich sein soll, muß sie Eigenschaften der Daten bzw. Strukturen auf der Datengesamtheit darstellen. Welches aber die wesentlichen darzustellenden Merkmale sind, liegt nicht auf der Hand, muß also durch eine begründbare Auswahl festgelegt werden. Die Flächenkarte setzt noch mehr voraus, daß Strukturen auf der Datengesamtheit gefunden werden, daß nämlich die Daten klassifiziert wurden, wenn nicht i. allg. kleine Flächen ohne kartographische Aussage entstehen sollen. B ei den Flächenkombinationskarten sind Interpretationen nun vollends unübersehbar: Die Auswahl bestimmter Grenzlinien ist eine implizite Gewichtung — für den zu repräsentierenden Zusammenhang sollen ja die gewählten Linien wichtig sein —, eine allfällige explizite Gewichtung muß ebenso begründbar sein. Es läßt sich also eine schematische Reihe von Kartentypen aufstellen, die gekennzeichnet ist durch eine Zunahme der einzubringenden Interpretation, entsprechend der hier gewählten Anordnung. Diese Interpretation hat die Form von Auswahl und Gewichtung aufgrund der B ewertungen von Fakten. Zugleich lassen sich hieraus zwei Zwecke von Dialektkarten induzieren: (1) Genauigkeit, die einem dokumentarischen Interesse an der Karte entspricht, und (2)
einem
interpretativen
Diese beiden Grundzwecke der Karte werden unten weiterzuverfolgen sein (vgl. 4.1.). Zunächst muß aber der Schein von Ausschließlichkeit der Kartentypen aufgelöst werden, der zur Entfaltung der ordnenden B egriffe erforderlich war. In einer guten Karte können alle kartographischen Mittel nebeneinander benutzt werden, wie das z. B . der DWA tut, der Originalformen zur ‘klarschriftlichen’ B ezeichnung von Gebieten, Punktsymbole zur Markierung von Abweichungen gegenüber den durch Flächen dargestellten Hauptbeleg(typ)en verwendet, oder der Kleine Polnische und der Kaschubische Atlas, die zur Grundlage Punktsymbole nehmen, diese aber ersetzen bzw. überlagern durch Flächen von homogenen Phänomenen (Mały Atlas Gwar Polskich und Atlas Jȩzykowy Kaszubsczczyny). Als Terminus wird meist ‘Punktsymbol-FlächenKarte’ verwendet, auch bei zusätzlichen Originalformen. Die B eschränkung auf e in e n Kartentyp, der genauer dann Kartierungstyp bzw. Kartierungs-Verfahrens-Typ heißen sollte, wie ihn sich einige Atlanten auferlegt haben, ist unnötig. Sie bleibt aber solange unschädlich, wie die Verengung der Kartenthemen, die Isolierung von Einzelphänomenen, diese ‘Vereinfachung’ der Kartierung erlaubt.
4.
Kartenzwecke
Das Ziel dieser Darstellung schließt nicht ein, hierunter alle denkbaren Verwendungen von Sprach- und Dialektkarten für linguistische und nichtlinguistische sowie außerwissenschaftliche Zwecke aufzuzählen; eher wäre im Gegenteil auf der Unabschließbarkeit einer solchen Nennung zu bestehen, da sich eine auffällige Vorliebe für Laute und Wörter, oft historisch-atomistisch weiter eingeengt, immer noch ausprägt. Diese Kritik auszuarbeiten, ist Sache der Dialektgeographie; für die Kartographie gilt es aber, die historisch bedingten Einseitigkeiten, sozusagen die ‘Schieflastigkeit ihrer Erfahrungsbasis’, zu berücksichtigen und durch eine weiter ausgreifende Systematik im Ansatz zu überwinden. Hierzu sollen die möglichen Kartenthemen unter Gesichtspunkten beschrieben werden, die von genuin kartographischen Anforderungen ausgehen (vgl. dazu 5.).
39. Kartographische Datendarstellung
673
4.1. Dokumentation und Interpretation
4.2. Kartographische Synthese
Aus der Kartentypik wurden Genauigkeit und Übersichtlichkeit als Grundeigenschaften der Dialektkarte induziert (vgl. 3.5.), die den Zielen Dokumentation und Interpretation sprachgeographischer Fakten zuzuordnen sind. — In der Geschichte der Dialektkarte gibt es markante B eispiele, wie die Isolierung eines dieser beiden Ziele zu Schwierigkeiten führt: Die extrem genauen romanistischen Originalformkarten sind i. allg. ohne graphische Aussage, die großzügig interpretativen Fringsschen Übersichtskarten sind i. allg. ungenau. Das letztere B eispiel zeigt, inwiefern Übersichtlichkeit ohne Genauigkeit wertlos ist: Ob nämlich kartographisch zulässig interpretiert wurde, ist nicht nachprüfbar. Dialektkarten müssen also zugleich dokumentarisch und interpretativ sein, wenn sie wissenschaftlich sein sollen und wenn Wissenschaftlichkeit erstens mehr als Dokumentation bedeutet und zweitens Überprüfbarkeit von Folgerungen einschließt. Allerdings ist diese Forderung nicht bei jedem Kartenthema erfüllbar. U. U. stehen Daten, besonders wenn sie inhomogen sind, und Zielsetzung, wenn die Karte sehr viele Daten darstellen soll, in zu starker Spannung zueinander, so daß einer der beiden Grundzwecke höher bewertet werden muß. — Hier ist hinzuweisen auf die Möglichkeiten, die B ertin (1974, 397) unterscheidet und entwickelt, wenn auch die Schärfe seiner Alternative zwischen diesen drei Möglichkeiten eben nur für den hier unterstellten Extremfall gilt. B ertin nennt: (1) eine nur dokumentarische Karte: B estandsaufnahme-Karte; (2) eine nur interpretative Karte: Kartographische Mitteilung. Wichtig und in der Dialektkartographie bisher zu selten genutzt ist sein ‘mittlerer’ Vorschlag (3) „Karten zur Weiterverarbeitung (Sammlung von Graphischen B ildern), in denen die Information auf getrennten, miteinander vergleichbaren ... Karten erschöpfend dargestellt ist“ (B ertin 1974, 397). (Das impliziert eine Kritik an der Praxis mehrerer romanischer Regionalatlanten, die zwar dementsprechend Vereinfachungen zwecks Übersicht auf Nebenkarten geben, aber in kleinerem Format. Dies sichert nämlich bequeme Vergleichbarkeit nur mit anderen Nebenkarten, nicht mit dem zugrunde liegenden Material in den Hauptkarten.)
Eine allgemeine Forderung der Themakartographie lautet, mehr übersichtliche (‘synthetische’) Kartenthemen zu realisieren, die vorhandenen Karten seien im allgemeinen zu stark am Genauigkeitspol interessiert (der in der Themakartographie — unspezifisch — ‘analytisch’ genannt wird). Dies läßt sich auf die dialektgeographische Situation anwenden: Während der Genauigkeit meist eifrig genügt wird, manchmal sogar über das sinnvolle Maß hinaus, indem etwa Wortkarten sehr viel weiter als erforderlich phonetisch differenziert werden, fehlt es an synthetisierenden Darstellungen weithin. Möglicherweise wirken gerade B eispiele wie die von Frings abschreckend, so daß mit der Ausführung — Unkontrollierbarkeit der Interpretation — zugleich das Ziel problematisch geworden wäre, was den Rückzug auf die Kartierung isolierter Phänomene zu legitimieren schiene. Für die kartographische Synthese, die ein Weg ist, die Sprachatlanten vor einer Zukunft als Datenfriedhöfe zu bewahren, gilt es also, kontrollierbare Interpretationsverfahren bereitzustellen, die auch komplexe, u. U. nachträglich kombinierte Daten übersichtlich zu kartieren erlauben, unter weitgehender Rückschlußmöglichkeit auf die eingebrachten Fakten. 4.3. Grobablauf der Kartierung Das Zusammenwirken der Kartenzwecke mit den Eigenschaften der Erhebungsdaten und den Kartierungs-Verfahrens-Typen im Ablauf der Kartierung soll als Flußdiagramm und verbal dargestellt werden (vgl. Abb. 39.1). Zur Vergegenwärtigung der Frage, wie bestimmte Kartentypen entstehen, kann man von den mit gerissenem Rand markierten Flußdiagrammelementen rückwärts gehend die erforderlichen Arbeitsschritte auffinden. Hier soll der Ablauf m i t den Pfeilen verfolgt werden: Vorausgesetzt ist, daß die Situation (die Grundkarte), die Lagedaten zu jedem B eleg (die zugeordneten Signaturen oder Koordinaten) und die Fragedaten (der Kartentitel) festliegen und daß die Erhebung hinreichend oder wenigstens gleichmäßig zuverlässige Daten erbracht hat. Lediglich die Erhebungsergebnisse (also die zu kartierenden Sprachdaten) zur Karte werden dem nachfolgenden Prozeß unterzogen; die anderen Fakten werden fast alle nur im Prozeß der konkreten Kartenzeichnung verwendet.
674
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Abb. 39.1: Flußdiagramm zum Grobablauf der Kartierung (a) Ist das Thema der Karte komplex? Wenn ja, zunächst auswählen oder vereinfachen oder beides. Es folgt (b). (b) Sind die Erhebungsergebnisse homogen? Wenn nein, zunächst klassifizieren bzw. typisieren. Es folgt (c). (c) Kartentyp bzw. Kartierungsverfahren wählen gemäß Kartenzweck. Falls nicht b e i d e n Grundzwecken entsprochen werden
kann, bei vorrangiger Genauigkeit weiter bei (d), bei vorrangiger Übersichtlichkeit bei (g); sonst bei (e). (d) Originalformkarte zeichnen. Ende. (e) Symbole den B elegen bzw. B elegtypen zuweisen. Falls kombinierte PunktsymbolFlächenkarten gewünscht, zunächst weiter bei (g), sonst folgt (f). (f) Grenzlinien finden. (Dieser Schritt
39. Kartographische Datendarstellung
greift — außer den Auszeichnungsprozessen (d) und (f) — als erster direkt auf die Lagedaten jedes B elegs zurück.) Falls kombinierte Punktsymbol-Flächen-Karte gewünscht, weiter bei (i); falls Flächenkombinationskarten gewünscht, weiter bei (k) oder (m). Sonst weiter bei (h). (h) Flächenkarte zeichnen. Ende. (i) Punktsymbole tilgen, soweit sie bereits durch umgebende Fläche dargestellt sind. Weiter bei (j). (j) Kombinierte Punktsymbol-Flächenkarte zeichnen. Ende. (k) Grenzlinien nebeneinander ordnen. (1) Flächenkombinationskarte zeichnen. Ende. (m) Grenzlinienbündel festlegen. (n) Integrierte Flächenkombinationskarte zeichnen. Ende. Diese Ablaufdarstellung kann kein Algorithmus sein, der jeden Arbeitsschritt eng festlegt. Denn erstens sind die Entscheidungen unter Vorgriff auf spätere Schritte oder deren Ergebnisse zu treffen. Dies wäre noch insoweit algorithmisierbar, als von den späteren Schritten jeweils Rücksprünge für optimierende Mehrfachdurchläufe eingezeichnet werden könnten: Der Kartograph verbessert ja auch eine unbefriedigende Karte. Zweitens sind aber die B edingungen einer solchen Optimierung nicht alle allgemein angebbar — was den erwähnten ‘Kunstanteil’ mitbegründet (vgl. dazu 2.). Drittens sind an dieser Stelle die Arten möglicher Erhebungsdaten noch nicht zureichend differenziert worden. Dies soll im nachfolgenden Abschnitt geschehen, danach werden die anschließenden Arbeitsschritte weiter präzisiert. — Schwergewichtig müssen dabei diejenigen genuin dialektkartographischen Aspekte ausgeführt werden, die in der Themakartographie nicht ausreichend dargestellt sind, z. B . die Klassifikation (vgl. dazu 6.). Ebenso treten Arbeitsschritte zurück, die auf der vorliegenden Erfahrungsbasis noch nicht verallgemeinert werden können, z. B . die optische Gesamtwirkung der Karte. — Gegenüber einer verbreiteten Praxis der Kartierung im herkömmlichen, nichtcomputativen Verfahren muß aber auf der Trennung der Arbeitsschritte bestanden werden, insbesondere auf einem eigenen Schritt Klassifikation, auch wenn das bei großen Datenmengen und umfangreichem B elegnetz schwierig ist. Zeichnet man nämlich Stichprobenkarten und legt auf diesen Klassifikationen, Symbole und ggf. ‘Isoglossen’ zugleich fest, so ist die gleichförmige klassifi-
675
katorische B ewertung gleicher B elege i n verschiedenen Orten nicht gesichert. Wenn tatsächlich gleiche B elege i n verschiedenen Orten verschieden zu bewerten sind, so kann sich das kartographisch erst in ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Gebieten zeigen, sonst besteht der Verdacht eines Artefakts. Hieraus ergibt sich die weitere Darstellungsweise: In Abschnitt 5. werden diejenigen Dateneigenschaften aufgeführt, die in den nachfolgenden Arbeitsschritten wesentliche Differenzierungen begründen. Unter 6. werden die Klassifikationen, in Abschnitt 7. die Symbolzuweisungen und in 8. die Grenzfindungsverfahren erörtert.
5.
Erhebungsergebnisse
Die Eigenschaften von zu kartierenden Daten, auf denen u. a. die Unterscheidungen in den nachfolgenden Arbeitsschritten beruhen, können nicht in üblichen linguistischen Termini beschrieben werden (Naumann 1976; anders Goossens 1969, Löffler 1974; ähnlich Putschke 1969). Dialektkartographisch relevant sind vielmehr B eschreibungsbegriffe, die für jeden B eleg seinen Aufbau, seine Schichtung, seine Struktur ausdrücken können, also bestimmte Eigenschaften der Erhebungsergebnisse. Diese Beschreibungsbegriffe sind so zu formulieren, daß sie (1) die Grundlage für explizite Klassifikationsverfahren bilden können, weil ggf. (vgl. 4.3.) diese zur Erreichung von Übersichtlichkeit anzuwenden sind; (2) die relevanten Eigenschaften derjenigen Erhebungsdaten benennen, die in Punktsymbole ‘übersetzbar’ sind (zum Verhältnis zwischen unklassifizierten und klassifizierten Daten und der graphischen Darstellbarkeit beider vgl. 7.); (3) die relevanten Eigenschaften von Erhebungsdaten (ggf. auch unklassifizierten) benennen, die für die Auswahl des angemessenen Verfahrens zur Findung von ‘Isoglossen’ erforderlich sind (vgl. dazu 8.). — Wünschenswert wäre eine detailliertere Herleitung dieser Anforderungen. Umfangreichere Vorgriffe auf das nachfolgende wären dann aber unvermeidlich, so daß hier die ‘prozeßbegleitende’ Abfolge vorrangig bleibt. 5.1. Hauptniveau Elemente Mit den B egriffen des ersten von drei Hauptniveaus wird gesagt, wie weit eine Eigenschaft als gemessen, als auf Zahlen beziehbar betrachtet werden kann. Es handelt sich
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
um die Meßniveaus der Statistik, von denen auch die B ezeichnungen — und der B egriff ‘Niveau’ — übernommen werden können (vgl. Art. 38). (1) Das erste Unterniveau enthält Eigenschaften, bzw. wenn man — wie üblich — Dinge, Größen mit nur einer Eigenschaft fingiert, Objekte, die voneinander verschieden sind, über die sonst aber nichts ausgesagt wird: Nominalniveau. (2) Das zweite Unterniveau enthält Objekte, die unterschieden und darüber hinaus zu einer Reihe geordnet werden können, ohne daß allerdings Aussagen über die Abstände auf dieser Reihe gemacht werden: Rangoder Ordinalniveau. (3) Das dritte Unterniveau enthält Objekte, über die die beiden vorigen Aussagearten gemacht werden sowie dazu Angaben über Abstände (erst jetzt ist die für Zahlen bekannte Subtraktion zulässig); evtl. außerdem Angaben über Verhältnisse zwischen Werten bzw. einen wirklichen Nullpunkt, wodurch Divisionen sinnvoll werden): Intervall- und Verhältnis- oder Quotientenniveau. (Zu B eispielen und weiteren Erläuterungen vgl. Art. 38.) In der Statistik wird das dritte Unterniveau differenziert, dies scheint aber für die Dialektkartographie überflüssig. 5.2. Hauptniveau Mengen Im allgemeinen sind kartographische Objekte, also Erhebungsdaten, die für kartographische Zwecke formal charakterisiert werden sollen, nicht vom ersten, elementaren Hauptniveau, sondern aus solchen elementaren Eigenschaften zusammengesetzt. (1) Auf dem ersten Unterniveau stehen Objekte, denen mehr als eine Eigenschaft von elementarem Niveau zugeordnet wird. Dem entspricht z. B . die Auffassung von Lauten als Mengen (‘B ündeln’) von elementaren Eigenschaften (‘distinktiven Merkmalen’), also von ‘nasal/nicht nasal’, ‘zentral/lateral’ etc. Die weithin übliche B eschränkung auf binäre als eine spezielle Gruppe von nominalen Elementareigenschaften ist dabei übrigens meßtheoretisch und kartographisch fragwürdig: Sie macht zwar keine falschen, aber ‘zu arme’ Aussagen, indem sie durchaus legitimierbare Annahmen über höhere B eschreibungsniveaus auch dann ignoriert, wenn sie größere Fruchtbarkeit versprechen (vgl. Lehfeldt 1978). (2) Auf dem zweiten Unterniveau stehen dann Objekte, die aus Mengen solcher Men-
gen zusammengesetzt sind. Diese ergeben sich z. B . bei gleicher Auffassung der Laute wie oben und der Erhebung mehrerer Laute für jeden B elegort, z. B . aller Plosive, die dann für jeden B elegort das Inventar der Plosive darstellen. (3) Das dritte Unterniveau faßt mehrere Objekte vom dritten Hauptniveau zusammen, wie das z. B . bei der Synthetisierung von Daten geschehen kann. 5.3. Hauptniveau relationierte Mengen Objekte, die mit B egriffen dieser dritten B eschreibungsstufe dargestellt werden, sind sozusagen genuin linguistische. B ei ihnen werden nicht nur Aussagen über Mengen von Elementen oder von Mengen gemacht, sondern auch über die Relationen zwischen den Mengenbestandteilen. (1) Auf dem ersten Unterniveau können als spezielle relationierte Mengen die Regeln genannt werden, wobei eine vollständige Regelform die Einheiten Ausgangsobjekt, Ergebnisobjekt, B edingungen, Eintretenswahrscheinlichkeit umfassen muß. Diese Einheiten können nach allen bisherigen Hauptund Unterniveaus beschrieben sein. B eispiele von historischen oder distributionellen Regeln brauchen wohl nicht ausgeführt zu werden. (2) Auf dem zweiten Unterniveau stehen die Sequenzen als vorwiegende sprachliche Größe, wie Wörter, Satzbaumuster, Intonationsverläufe. (3) Auf dem dritten Unterniveau sind alle übrigen (nicht durch die speziellen Relationen der beiden vorgenannten Unterniveaus) verknüpften Mengen zu nennen, also die Systeme im üblichen linguistischen Sinne. 5.4. Eindeutigkeit der Niveauzuweisung Auf eine verbreitete Möglichkeit, zu arme Aussagen zu machen, war bereits hinzuweisen. Die umgekehrte, sozusagen ‘zu reiche’ Aussage entsteht, wenn Erhebungsergebnisse formal charakterisiert werden mit nicht anwendbaren B egriffen. B eide Möglichkeiten beruhen darauf, daß die aus der Meßtheorie weiterentwickelten Eigenschaftsarten nicht als etwas aufgefaßt werden können, das den Erhebungsergebnissen von vorneherein zukommt. Vielmehr bedürfen die Eigenschaftszuweisungen ihrerseits der B egründung — womit die ‘Interpretativität’ im Vorfeld der Kartierung weiter erhärtet wäre. Im konkreten Arbeitsablauf der herkömmlichen Kar-
39. Kartographische Datendarstellung
tierung wird man zunächst von konventionellen Annahmen über Eigenschaften ausgehen. Erst das Auftauchen von Auffälligkeiten beim Klassifizieren, von SymbolflächenVerhältnissen oder Grenzfindungsproblemen beim weiteren Arbeitsprozeß wird dann die Frage anstoßen: Was geben die Erhebungsergebnisse her? Wurden alle Eigenschaften richtig, weder zu arm, noch zu reich, bestimmt? Wie lassen sich die bisher verwendeten oder andere B eschreibungsarten rechtfertigen? — Für die computative Sprachkartographie (vgl. Art. 44) gilt demgegenüber, daß diese Fragen von vorneherein möglichst klar zu beantworten sind, weil programmierte Arbeitsabläufe auf Algorithmen beruhen müssen und diese eindeutig definierte Entscheidungsgrundlagen erfordern.
6.
Klassifikation
Die Klassifikation ist der kartographische Arbeitsschritt, der allen anderen Arbeitsschritten (außer der Originalformkarte) vorausgehen muß, sofern die Daten zu inhomogen sind für den angestrebten Übersichtlichkeitsgrad (vgl. Abb. 39.1). — Die erforderlichen Verfahren werden nur zu einem kleinen Teil von der Themakartographie bereitgestellt, wohl weil sie weitgehend sachbereichsspezifischer Natur zu sein scheinen. Nützliche Möglichkeiten stellt aber die Klassifikatorik (‘numerische Taxonomie, Taxometrie, Clusteranalyse’, etc.) zur Verfügung. Ihre Verfahren, die, zunächst von B iologen und Psychologen, unter Verwendung von Computern erprobt und dann sehr weit verallgemeinert wurden, haben ihre anfängliche inhaltliche B indung verlassen. Daß sie weiterhin an Computer gebunden sind, liegt weniger an ihrem mathematischen Gehalt — der ist weithin elementar — als an der großen Zahl und Wiederholungsrate der auszuführenden Schritte. Eine systematische Darstellung gibt B ock (1974), zahlreiche Programme bei Steinhausen/Langer (1977) und Späth (1975); dialektkartographisch orientierte Übersicht und B eispiele bei Naumann (1976, 92—184). Auch die spezifisch linguistische Anwendung kann hier nicht dargestellt werden, daher werden nur Grundbegriffe und einige grundlegende Verfahrenseigenschaften erörtert; diese sind zugleich geeignet, die nichtcomputative Kartenerstellung auf den B egriff zu bringen und evtl. weiterzuentwikkeln.
677
6.1. Grundbegriffe, Verfahrensgruppen Klassifizieren dient dem Zweck der Datenreduktion. Die Daten, ‘Objekte’, werden so zu Klassen zusammengefaßt, daß die Klassen möglichst homogen und möglichst gut separiert sind. Kontrollierbar kann ein solches Verfahren nur dann sein, wenn für Homogenität und Separation ein Maß der Ähnlichkeit bzw. ihr logisches Gegenstück, ein Maß der Distanz benutzt wird. Eine Klassifikation, die alle Objekte (für eine Karte) zu Klassen ordnet und keines als singuläres Objekt, einelementige Klasse oder eben Ausnahme stehen läßt, heißt exhaustiv. Die Existenz der sogenannten Sondermeldungen deutet an, daß dialektkartographische Klassifikationen i. allg. nicht völlig exhaustiv sind; sie sollen es aber soweit wie möglich sein. — Eine weitere Gliederung teilt Klassifikationen in disjunktive und nicht-disjunktive, je nachdem, ob die zu klassifizierenden Objekte nur je einer oder zugleich mehreren Klassen angehören können. Die disjunktive Klassifikation entspricht am meisten einem intuitiven Klassifikationsbegriff. Als Sonderfall der disjunktiven Klassifikation können wir die geordnete Reihe von Klassen betrachten. Sie kann allerdings nur auf Daten gebildet werden, die ihrerseits mindestens von ordinalem Niveau sind — eine Spezifikation, die für alle anderen Unterscheidungen dieses Abschnitts unwesentlich ist. B ei nicht-disjunktiven Klassifikationen ist zusätzlich zu unterscheiden, wie die zwei oder mehr Klassen, denen ein Objekt angehören darf, einander zugeordnet sind: Liegen diese Klassen, auch mehrfach gestuft, ineinander, schließt also die Zugehörigkeit zu einer ‘innersten’ Klasse die Zugehörigkeit zu einer umfassenderen Klasse ein etc., so spricht man von Klassenhierarchien, wobei die Objekte und Klassen auch gut auf einem Graphen angeordnet werden können. Gilt diese Klassenrelation nicht, sondern können sich Klassen überlappen, so sprechen wir von einer Kreuzklassifikation, besser: Klassenkreuzung, wobei die Objekte oft gut in einer Matrix dargestellt werden können. Die beiden letzten Klassifikationsarten entsprechen den üblichen linguistischen Verfahren. Klassenhierarchien und Klassenkreuzungen schließen einander nicht aus, und beide können auch zugleich exhaustiv oder nicht-exhaustiv sein. Disjunktivität erlaubt nicht zugleich Nicht-Disjunktivität, beide sind aber von Exhaustivität oder Nicht-Exhaustivität unabhängig. — Der
678
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
nächste Grundbegriff beschreibt nicht wie die vorigen die mehr oder weniger bekannte Praxis herkömmlicher Verfahren, sondern führt neben dem bisher üblichen Vorgehen ein zusätzliches neues ein: B eim Klassifizieren komplexerer Objektbereiche wird i. allg. in aufeinander folgenden Schritten von (Zwei-)Teilungen vorgegangen. Wie klassifikatorisch gezeigt wurde, ist dieses monothetische Vorgehen prinzipiell fragwürdig, da es voraussetzt, daß man weiß, welches die wichtigsten Unterschiede sind, die zweitwichtigsten etc., weil man also Eigenschaften bzw. Eigenschaftsunterschiede a priori gewichten muß. Demgegenüber bestehen die polythetischen Verfahren darin, daß man alle bekannten Eigenschaften zugleich für die Einteilung benutzt, wobei eine a posteriori Gewichtung folgen kann. Alle vorigen B egriffe sind von der monothetischen oder polythetischen Vorgehensweise unabhängig. Monothetische Vorgehensweisen sind in Prozeß und Ergebnis hierarchisch, polythetische können es im Ergebnis sein. 6.2. Erhebungsdaten und Klassifikationen Einem Teil der in 5. genannten Arten von Erhebungsdaten sind bestimmte Klassifikationsverfahren zugeordnet. Z. T. müssen dabei Annahmen über Ähnlichkeiten zwischengeschoben werden (‘Ä!’ in Spalte 2 der Abb. 39.2); z. T. sind Klassifikationen nur möglich, wenn zuvor die Erhebungsdaten in B egriffen eines anderen Niveaus formuliert wurden (‘→ E’ in Spalte 2 der Abb. 39.2). Außerdem sind bis auf die Klassenhierarchien alle Klassifikationen formal identisch mit Unterniveaus der B eschreibungsbegriffe für Erhebungsdaten. Dementsprechend veranschaulicht die Abb. 39.2 die Zuordnungen zwischen Erhebungsdatenarten und Klassifikationen so, daß die einander entsprechenden Gruppen auf gleichen Zeilen stehen. Diese ‘auf der Zeile’ laufenden Klassifikationsverfahren (Nrr. ①—④ in Spalte 3) dienen natürlich auch dem Ziel der Vereinfachung zur Übersichts-Gewinnung, indem die Anzahl der zu unterscheidenden Werte reduziert wird. Das Zeichen ./. markiert eine fehlende Entsprechung. Die Spalten 5 und 6 werden in Abschnitt 7. erläutert. — Die in Spalte 3 eingesetzten Zahlen bezeichnen Verfahren, die etwas näher erörtert werden sollen (weitergehende Angaben in Naumann 1976, Naumann/Neumann 1980). ① und ② sind die üblichen Methoden der Intervallfestlegung (vgl. 6.3.), ⑤ und ⑥ die soge-
nannten projektiven oder Hauptkomponentenverfahren, von denen die Faktorenanalyse das bekannteste ist (vgl. Überla 1971). In günstigen Fällen erlauben diese Verfahren die drastische Vereinfachung, die mit ③ und ④ angedeutet ist. Die Verfahren ⑦ und ⑧ sind die in der Taxometrie bekannten, ⑨ und ⑩ daraus entwickelte linguistische Verfahren (vgl. 6.4.). 6.3. Klassenreihen Die Verfahren zur Auffindung von Klassen auf Eigenschaften von Rang-/Ordinalniveau, Intervallniveau oder Verhältnis-/Quotientenniveau können hier nicht ausführlich beschrieben werden (Jenks/Coulson 1963, Naumann 1976, 105—109), zumal Daten von diesem Niveau in der Dialektkartographie noch selten sind. Erwähnt werden muß aber, daß das Verfahren, Intervalle festzulegen, die durch gleiche oder gesetzmäßig variierte Skalenabschnitte oder feste Objektzahlen pro Klasse definiert werden, zwar auch dem Zweck dient, den Datenumfang zu reduzieren, also Übersicht zu schaffen. Es entspricht aber nicht dem sonst in allen Verfahren berücksichtigten Ähnlichkeitsprinzip, das sozusagen Verdichtungen im Objektraum auswertet; danach dürften lediglich Minima als die natürlichen Klassengrenzen verwendet werden. Das scheint aber auf diesen Datenniveaus nur selten der Fall zu sein. Insofern ist die übliche B ezeichnung als Klassifikation unzutreffend, und man sollte nur von einer ‘Meßvergröberung’ sprechen. 6.4. Klassenhierarchien Die zahlreichen, teils programmiert verfügbaren Verfahren der Taxometrie können ebenfalls nicht dargestellt werden. Da sie auf sehr einfachen mathematischen Grundlagen beruhen, also nur aus den erwähnten Gründen computerisiert sein müssen, sollten sie wegen ihrer methodischen Überlegenheit herkömmliche Klassifikationstechniken bald ersetzen. Den Eingewöhnungsprozeß mag es dabei erleichtern, daß i. allg. die Ergebnisse als anschauliche Hierarchien dargeboten werden, aus denen der B earbeiter nur noch die darzustellenden Ebenen auszuwählen braucht. — Daß auch innerhalb dieser Prozeduren, nämlich bei der impliziten Gewichtung durch Eigenschaften-Auswahl, und der expliziten durch a posteriori Gewichtung, Interpretationen vorgenommen werden, ist andernorts ausführlicher entwickelt (Naumann 1976, 110—115, 123—125). — Das B a-
Abb. 39.2: Erhebungsdaten, Klassifikationen und weitere Arbeitsschritte
39. Kartographische Datendarstellung 679
680
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
siskonzept der Sequenzähnlichkeit, die die Grundlage zur Klassifikation z. B . von Wörtern bildet, sei wegen seiner praktischen Relevanz genannt. Es beruht auf einer Ähnlichkeitsfunktion der sequentierten Elemente, für Wörter also der Laute. Für Wortkarten steht damit ein approximativ etymologisches Klassifikationsverfahren zur Verfügung (Naumann 1976, 148—164). — Das B asiskonzept der Systemähnlichkeit beruht auf der Annahme, daß z. B . nicht Laute oder Lauteigenschaften, sondern Parameter des gesamten Systems als die konstitutiven Eigenschaften aufgefaßt werden (Altmann/ Lehfeldt 1973). Dies bedeutet eine Umformung ins Hauptniveau Mengen — ein B eispiel für die erwähnte Neufassung von Eigenschaftszuweisung. (Vgl. Goossens 1969, 33, 120, Karte 2.) 6.5. Klassensysteme Disjunktive Klassifikationen und Klassenreihen sowie Klassenhierarchien können zu Klassensystemen verbunden auftreten, die durch Klassenkreuzung entstehen, also dadurch, daß ein Objekt zugleich in mehreren Hierarchien etc. eingeordnet ist. (Zu einer weiteren formalen Vereinfachung Naumann/Neumann 1980.) Selbst einfache dialektkartographische Beispiele zeigen derart kombinierte Klassifikationen. Schweizerdeutsch stupfen ‘jemanden mit dem Finger leicht anstoßen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen’ bietet eine Legende (vgl. SDS IV, 83), die als Klassensystem mit Kreuzung folgender Klassifikationen aufzufassen ist (vgl. Abb. 39.3): (1) Eine Hierarchie besteht aus heteronymen B elegtypen, nämlich stupfe, tupfe, schupfe, mupfe (unklar bleibt, ob mupfe als eigener Haupttyp oder — wie unterstellt werden kann — als Untertyp zur ersten Hauptgruppe gerechnet werden soll), puffe, purffe, pungge (bei pungge das gleiche Problem wie bei mupfe), etc. (2) Gekreuzt wird damit die Variation des Hauptsilbenvokals -u-, -ü-, -i-. Die hierin liegende Struktur kann als disjunktive Klassifikation mit drei Klassen, d. i. eine einstufige Hierarchie mit ternärer Verzweigung, aufgefaßt werden. Man könnte die Vokalvariation darüberhinaus als eine dreistufige Klassenreihe betrachten, gegen die Kartenersteller, deren Symbolwahl die erste Auffassung vermuten läßt. (3) Gekreuzt mit (1) und (2) wird noch unterschieden, ob der B eleg als Verb ( u n d
als Substantiv?) oder ‘nur Subst. des betr. lex. Typs’ belegt ist — eine zweielementige disjunktive Klassifikation. (4) Rudimentär ausgebildet, nämlich nur bei stupfe, die zweielementige disjunktive Klassifikation ‘diminuiert/nicht-diminuiert’. — Die Einschränkung der prinzipiellen Kreuzbarkeit ist nicht neu, sondern hier nur am stärksten: die matrixartige Anordnung der Legende im Original zeigt annähernd gleichviel freie wie besetzte Plätze. Aspekt (3) erscheint nicht in der Matrix selbst. 6.6. Leitfragen Der Kartenhersteller sollte also (mindestens) folgende Fragen beachten: Welche Klassifikationsarten sind angemessen? Disjunktiv? Reihen? Hierarchien? Kreuzungen? Wie setzt sich das Klassifikationssystem zusammen? Wie können die Schwierigkeiten mit Problembelegen genauer beschrieben werden (Ausnahmen, Mischtypen)? War die Eigenschaftsbeschreibung der Erhebungsdaten
Abb. 39.3: Legende stupfen ‘jemanden leicht an- stoßen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen’ (aus SDS, IV, Karte 83)
39. Kartographische Datendarstellung
681
angemessen? Inwiefern zu reich? Inwiefern zu arm? B erührt die Klassifikation die gewünschte Genauigkeit? Erlaubt sie die gewünschte Übersichtlichkeit? Sind die ausgeführten Klassifikationen nachvollziehbar? Können sie graphisch/tabellarisch dargestellt werden, evtl. auch in der Legende?
7.
Symbolisierung
Sollen in einer Karte Punktsymbole verwendet werden, so ist zunächst zu fragen, was durch solche ortsbezogenen Zeichen ausgedrückt werden kann. In der Dialektkartographie sind es in keinem Falle die sonst in der Themakartographie z. T. brauchbaren analogen Zeichen (z. B . stilisierte Produktbilder), insofern akustische Phänomene eben für kein Abbild eine visuelle Vorlage bilden. Selbst phonetische Zeichen liegen nur scheinbar auf dieser untersten, am wenigsten erklärungsbedürftigen Stufe, die für die Legenden die beste Zuordnung böte. Vielmehr gehören sie einer zweiten Stufe der ‘Leseerleichterungen’ an, die konventionalisierte Zuordnungen zwischen darzustellenden Einheiten und graphischen Zeichen umfaßt (z. B . Farben für Höhen über N. N.). Phonetische Schriftzeichen sind hiervon ein spezieller Fall (was erlaubt, die Originalformkarte als spezielle Punktsymbolkarte aufzufassen). Andere Konventionalisierungen hängen prinzipiell von der ‘Enge’ des Kartenthemas bzw. der Atlasthemen ab; so sind feste Symbolzuordnungen von einigem Anspruch — also über feste Zeichen für Sondermeldung, Fraglichkeitsfälle, hochsprachliche Form hinaus — bisher besonders geglückt bei der Darstellung der Vokale in Lautatlanten (vgl. z. B . Schlesischer Sprachatlas, B and 1: LautDarstellbare Datenniveaus Nominalniveau (Qualitative Stufe) Rang-, Ordinalniveau (Geordnete Stufe) Intervall- und Quotientenniveau (Quantitative Stufe)
Größe
Helligkeit
X
X
X
Abb. 39.4: Visuelle Variable (nach Bertin 1974)
atlas), wo das darzustellende Repertoire an Einheiten überschaubar ist, nämlich etwa die prinzipiell begrenzte Zahl der Phoneme umfaßt. — Im allgemeinsten Fall muß also die Leseerleichterung auf einer dritten Stufe angesetzt werden: In der Themakartographie implizit und bei B ertin (1974) ausdrücklich und bisher am weitgehendsten ausgeführt, leistet das der Rekurs nicht auf analoge oder konventionalisierte Darstellungen der Einheiten selbst, sondern auf ihre Verhältnisse zueinander, wozu auf die Semiotik (und Meßtheorie) zurückgegriffen wird. Man fragt nach den Relationen zwischen den Beschreibungsbegriffen bzw. nach den Klassifikationen der Erhebungsdaten (vgl. Abschnitt 5. und 6.). Die Darstellungsmöglichkeiten sind in Abb. 39.2 tabellarisch genannt, wobei die unklassifizierten Erhebungsdaten in Spalte 1 und die klassifizierten in Spalte 4 auf der gleichen Zeile stehen wie die zuweisbare Punktsymbolart in Spalte 5. — Da die Flächenwirkung derart vergebener Zeichen noch nicht generalisiert beschrieben werden kann, unterliegt die synoptische Wirkung der B eurteilung des Kartographen, wonach ggf. eine Revision der Symbolzuweisung erfolgt. 7.1. Elementare Erhebungsdaten, disjunktive Klassifikationen und Klassenreihen Hierfür kann eine Zuordnungstabelle aufgestellt werden (vgl. Abb. 39.4), die die in 5.1. genannten Unterscheidungen voraussetzt, wenn auch in B ertins Darstellung z. T. andere Termini benutzt werden. Außerdem will B ertin seine ‘qualitative Stufe’ (Nominalniveau) in assoziative und selektive Stufe unterteilen. Dem damit verfolgten Zweck (vgl. B ertin 1974, 44—47 und passim) dienen besVisuelle Variable Muster Farbe X X X
Richtung X
Form X
682
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
ser graphische Hierarchien (vgl. 7.3. — Abb. 39.4 ist verkürzt auch im oberen Teil der Spalte 5 der Abb. 39.2 enthalten. Lediglich der Terminus ‘Muster’ ist nicht sprechend: Er bezeichnet Raster bzw. Schraffuren, die bei konstanter Helligkeit nach Feinheitsstufen differenziert werden können). Andere als die gekennzeichneten Zuordnungen zwischen Erhebungsdaten bzw. deren Klassifikationen und Eigenschaften von Punktsymbolen, wie sie die visuellen Variablen festlegen, sind ungeeignet. Sie würden die Erhebungsdaten zu arm darstellen, d. h. vorhandene Eigenschaften ignorieren (Zuordnungen im rechten unteren freien Teil der Tabelle), bzw. die Darstellung zu reich machen, d. h. nicht vorhandene Eigenschaften suggerieren (Zuordnungen im linken oberen freien Teil der Tabelle). — Für die wünschenswerte eingehende Diskussion ist hier nicht der Platz, genannt werden kann nur noch der B egriff der ‘Länge einer visuellen Variablen’. Er bezeichnet die Anzahl der optisch differenzierbaren und damit graphisch darstellbaren Werte, die eine Eigenschaft haben darf. Z. B . kann ein Kreis bzgl. der Variablen ‘Richtung’ keine Differenzierung in sich ausdrücken, hat also die Länge 1, und dient damit nur der Unterscheidung von Punktsymbolen anderer Form oder Farbe. Demgegenüber ist ein längliches Rechteck bzgl. der Richtung von der Länge 4, weil es in vier optisch differenzierenden Winkeln liegen kann; es dient damit zur Unterscheidung von maximal 4 Typen. — An einer fingierten Klassifikation sollen mögliche Symbolzuweisungen gezeigt werden. (Die B eispielreihe wird des Zusammenhanges wegen in 7.2. und 7.3. weitergezählt.) Vorgegeben sei die Klassifikation
Wenn die Vokaldauer in pferd als lang, mittellang, kurz zu unterscheiden wäre,
ergäbe sich bei Annahme eines Rangniveaus mit der Darstellung durch die Variable Muster
falls die prinzipielle Gleichwertigkeit der Punktsymbole gewahrt sein müßte, denn die visuelle Variable Größe ist dazu nicht geeignet.
als Anlauttypologie könnte wie (2 a) dargestellt werden: Sie könnte mit Hilfe der visuellen Variabeln Form dargestellt werden:
39. Kartographische Datendarstellung
Dies vermittelt aber vielleicht den Eindruck eines Rangniveaus, was phonetisch schlecht vertretbar ist; die Darstellung auf Nominalniveau wäre jedenfalls sicherer, also z. B . mit der visuellen Variablen Form:
683
7.2. Erhebungsdaten mit Mengen von Eigenschaften, Klassenkreuzungen und Regeln Für die Darstellung dieser Einheiten sind Punktsymbole zu konstruieren, die die Eigenschaften der Elemente darstellen. Dabei müssen die visuellen Variabeln, wie im vorigen Abschnitt, verwendet und kombiniert werden. Hierzu gibt B ertin einen Satz von Hinweisen (B ertin 1974, 107—200). — Die Kombination von (2) und (3) aus 7.1. ergäbe:
oder durch Richtungsvariation, die in der erforderlichen Länge nicht das Quadrat, aber das Rechteck bietet:
(4 a) unter Verwendung von (2 a) und (3 b):
684
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
7.3. Klassenhierarchien Derart klassifizierte Erhebungsdaten bieten die günstigste Voraussetzung für eine Punktsymbol-Karte unter gleichzeitiger Wahrung von Genauigkeit und Übersichtlichkeit. Man kann nämlich die Ebenen der Hierarchie so auswählen, daß die unterste die B elege selber und die oberste die wichtigsten Klassen umfaßt, und die Symbole entsprechend zu einer Hierarchie ordnen, z. B . wie oben (vgl. 7.1.) angedeutet. Der Kartenleser kann dann durch gesamtheitliche B etrachtung die Klassen, durch genauere B etrachtung der Orte die B elege erkennen. Wenn nicht die graphischen Variablen damit erschöpft oder ihre Länge voll genutzt sind, können auch Unter-
klassen auf einer oder mehreren mittleren Ebenen dargestellt werden. Mit diesem Verfahren entspricht man dem Zweck, den B ertin (1974, 44) mit der Unterscheidung von assoziativer und selektiver Stufe innerhalb der ‘qualitativen Stufe’ verfolgt, und verallgemeinert seinen Ansatz zugleich. Kreuzungen werden dabei in das Hierarchienkonzept einbezogen, indem man zuläßt, daß gleiche B elege in untersten Ebenen von mehreren Hierarchien stehen; dafür werden diese Hierarchien zu einer obersten Hierarchie vereinigt. — Beispiele: (5) als etymologisch-morphologische Hierarchie aufgefaßt (= 1 und entsprechend 3), mit eingekreuzter Vokaldauer (entsprechend (2)):
(5 a) analog zu (1 a), (3 a) und (4 b):
Graphisch hier nicht anschaulich zu machen ist die Einkreuzung der (Teil-)Hierarchie Diminuierung
39. Kartographische Datendarstellung
(Das Quadrat ist Platzhalter für jede andere Form.) (7) — nur die oberste Ebene der Gesamthierarchie —
685
diesen Symbolen eine Karte gezeichnet und die flächige Wirkung geprüft werden. Für umfangreichere B eleglisten müßten in der Klassifikation Teilhierarchien oder einzelne Ebenen vereinfacht oder getilgt werden, um die visuellen Variablen für lesbare Punktsymbole und eine genügend klare Gesamtwirkung der Karte zu nutzen. 7.4. Leitfragen
Unterstellt, die B elegtypen für eine Karte seien in (7) alle enthalten, dann könnte mit
Der Kartenhersteller sollte also (mindestens) folgende Fragen beachten: Gibt es für die Symbolvergabe bereits Konventionen? Sollten welche angestrebt werden? Für welchen Sachbereich? Unter Rückgriff auf welche der Eigenschaften oder Klassifikationen der Daten sind welche visuellen Variablen zur Punktsymbolkonstruktion zu wählen? Ergeben sich bei Kombinationen unterscheidbare Symbole? Wie weit sind die von der Klassifikation herrührenden Hierarchien ausschöpfbar? B leibt die Karte übersichtlich genug, wenn die B elege als unterste Ebene dargestellt sind? B leibt die Klassifikation genau genug, wenn die oberste(n) Ebene(n) dargestellt ist (sind)? Welche mittlere(n) Ebene(n) ist (sind) darzustellen? Legt die Gesamtwir-
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
686
kung nach der Symbolvergabe nahe, auf den Arbeitsschritt Klassifikation oder ErhebungsdatenB eschreibung zurückzugehen, um sie ggf. zu revidieren? Sind die Symbolzuweisungen nachvollziehbar? Können sie graphisch/tabellarisch dargestellt werden, evtl. auch in der Legende?
8.
‘Isoglossen’
Für die Darstellung in Flächenkartenform liegen die reichsten themakartographischen Überlegungen vor, so daß hier nur das für die Dialektkartographie relevante Problem der Grenzfindung für Erhebungsdaten vom Hauptniveau Elemente, Unterniveau Nominalskala, erörtert werden muß. Die Zuordnung zwischen Erhebungsdateneigenschaften bzw. Klassifikationen und B egrenzungsarten ist einfach und wird in Abb. 39.5 dargestellt. Elementares Unterniveau Nominalniveau Rang-/Ordinalniveau Intervall- und Verhältnis-/Quotientenniveau
Begrenzungsart Grenzlinien Grenzlinien oder Isarithmen Isarithmen
Abb. 39.5: Zuordnung der Begrenzungsarten Alle anderen B eschreibungsarten und Klassifikationen führen zu B egrenzungen von Flächen unter Rückgriff aus Kombinationen dieser beiden B egrenzungsarten. Für die beiden Arten von kombinierten Flächenkarten müssen die in 4.3. unter (k) und (m) angedeuteten Schritte angefügt werden. 8.1. Grenzlinienfindung Die meist ‘Isoglossen’ oder ähnlich genannten B egrenzungslinien auf Dialektkarten verdienen diesen Namen nicht, wenn man der strengeren Auffassung der Themakartographie folgt. Da das Verfahren zur Findung von Isarithmen oder Isolinien auf Dateneigenschaften beruht, die frühestens bei Intervallniveau vorliegen (außer den genannten Eigenschaften der Daten (vgl. 5.1.), muß die Annahme der Stetigkeit über der Kartenfläche sinnvoll sein), können Daten von nominalem Niveau keine entsprechende Prozedur durchlaufen, i. allg. auch Daten vom Rangniveau nicht. Das entsprechende Verfahren für solche Erhebungsdatenarten muß daher
auf den weniger spezifischen Eigenschaftsmerkmalen des Nominalniveaus operieren. Als weitere Grundlagen benutzt es den Homogenitätswert in über der Karte gleitenden Nachbarschaftsbereichen. (Weitere Einzelheiten bei Händler/Naumann 1976 und im Art. 25.) Die zunächst für den Computereinsatz entwickelte Operationalisierung des Verfahrens sollte zumindest dem Prinzip nach Eingang in die nicht computative Kartographie finden: Zwar kann auch ein operationalisiertes Verfahren nicht gänzlich die Fragwürdigkeit von Grenzfindungen aufheben. Zumindest aber muß mit Hilfe der Operationalisierung versucht werden, wenn schon nicht optimal begründete, so doch angebbare und wenn irgend möglich konstante Verfahren zu entwickeln. Für die B etrachtung von Flächenkarten, gravierender noch für Vergleich und Synthese mehrerer Karten, ist sonst unentscheidbar, ob die Grenzen aus den Fakten oder aus dem Verfahren herrühren. 8.2. Exhaustive Flächenbildung Die Fragwürdigkeit der ‘Isoglossen’ liegt weniger in der falschen Terminologie, da diese zwar den Schein größerer Exaktheit wie eben bei Karten auf der Grundlage wirklicher Meßwerte suggerieren konnte, aber doch methodisch-praktisch ihr gar nicht entsprochen wurde. Die Fragwürdigkeit liegt vielmehr in der häufigen Unterstellung, die von wirklichen Isarithmenkarten her eingeflossen zu sein scheint, daß auf Flächenkarten das Erhebungsgebiet vollständig aufzuteilen sei. Das ist aber keineswegs immer möglich, und für Mischgebiete, Gebiete mit Ausweichformen etc. ist eine Grenzziehung, die solche Gebiete mit aufzuteilen versucht, geradezu irreführend. U. U. erfordern die Erhebungsergebnisse eine Karte, auf der die Flächen nicht das gesamte Gebiet abdecken, also eine nicht-exhaustive Flächenbildung (vgl. Art. 25). 8.3. Kombinierte Punktsymbol-Flächenkarte Daß i. allg. die Kombination von Punktsymbol- und Flächenkarte die Doppelaufgabe der Dialektkarte, genau und übersichtlich zu sein, optimal löst, wurde bereits betont. Das Mißverständnis, diese beiden Darstellungsmittel seien Methoden, zwischen denen man sich zu entscheiden habe, mag gelegentlich die kombinierte Verwendung beeinträchtigt
39. Kartographische Datendarstellung
687
Karte 39.9, 1 und 39.9, 2: Punktsymbolreduktion für eine kombinierte Punktsymbol-Flächenkarte (fiktives Beispiel) (aus Naumann 1975, 162)
haben. Verfahrenstechnisch ist hierzu nur die Punktsymbolreduktion zu nennen: sofern ein Punktsymbol in einem Gebiet liegt, zu dessen gebietskonstituierender Klasse es gehört, kann es um diejenigen Symbolanteile verringert werden, die sozusagen schon durch die Fläche dargestellt sind (vgl. Karte 39.9, 1 und 39.9, 2). Weil das Kartenbild dadurch ähnlich entlastet wird wie durch die Grenzlinien, lohnt sich dafür u. U. auch eine Neuzuweisung der Punktsymbole, d. h. eine Neubesetzung der Symbolhierarchie, um die Zuweisung der visuellen Variablen dieser Reduktion anzupassen. 8.4. Leitfragen Welche Eigenschaften bzw. Klassen sollen Gebiete konstituieren? Wie sind diese den elementaren Unterniveaus zuzuordnen? Kann bei mindestens ordinalem Niveau Stetigkeit über der Fläche unterstellt werden? — Dann Isolinien. Oder erlauben die Eigenschaften der Erhebungsdaten bzw. Klassen nur Grenzlinien: Welches Findungsverfahren? Sind scharfe Grenzen angemessen? Wie sollen andernfalls Säume, Mischzonen etc. dargestellt werden? Welche Symbolreduktionen sind möglich? Welche Flächenkombinationen, wie ggf. werden Flächenklassen unterschieden? Machen Symbolreduktionen oder Flächenwirkung Rückgang zu Symbolzuweisung, Klassifikation oder Eigenschaften der Erhebungsdaten wünschenswert, evtl. zwecks Revision? Können die flächenkonstituierenden B elege bzw. Klassen in der Legende markiert werden?
9.
Perspektiven
Die systematische Fundierung der Sprachund Dialektkartographie hat die Grenzen ih-
rer Entwicklungsmöglichkeiten noch nicht erreicht. Sie wird auch einen sozusagen künstlerischen Anteil an der Kartenerstellung nicht gänzlich überflüssig machen, da weiterhin problemorientierter Einfallsreichtum und wirkungsorientierte Gestaltung benötigt werden. Die Methodik wird aber immer deutlicher einen Rahmen für große Teile der Arbeitsschritte geben und damit dem Erfindungsreichtum Grenzen setzen, soweit das die Kommunizierbarkeit von Kartierung und Karte verbessert. Die B egriffs- und Verfahrensentwicklung dient dann: (1) dem Hersteller, insofern er nicht auf eher zufällig erlangbaren Erfahrungen von anderen oder sich selbst aufbauen muß; (2) größeren Kartierungsprojekten wie Atlanten, insofern sie homogener werden können; (3) Kartenbenutzern, insofern Karten damit besser verstehbar und kritisierbar werden. Die Methodenentwicklung kann so, durch partielle ‘Routinisierung’, das Erkennen neuer Fragen und die Formulierung neuer Ziele begünstigen. Sie muß auch umgekehrt von Zielsetzungen gesteuert sein: Vorrangig ist gegenwärtig die Ausarbeitung des Übersichtlichkeitsaspekts, der kontrollierten Datenreduktion. Sie sei hier nur mit Stichworten wie kartographische Synthese, Dialektometrie (vgl. Art. 45), Auffinden sprachgeographischer Gesetzmäßigkeiten in die erforderliche weitere Perspektive gestellt. Damit soll nicht der herkömmliche Akzent auf der Genauigkeit der Karte bestritten werden, der die dialektgeographische Aufgabe sorgfältiger Würdigung einzelner Orte oder Landschaften widerspiegelt. Aber der Wert des Details kann vor der Folie des Allgemeinen erst wirklich klar werden.
688
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
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Carl Ludwig Naumann, Aachen
40. Typen grammatischer Darstellung
693
40. Typen grammatischer Darstellung 1. 2.
3.
4.
5.
1.
Grundlagen der Typisierung Grammatische Darstellungstypen zur grundlegenden Sichtung und Ordnung des dialektologischen Gegenstandes Grammatische Darstellungstypen als Anwendung und Modifikation linguistischer Methoden- und Theorieentwicklungen Grammatische Darstellungstypen zur Erklärung dialektaler Varietät durch außerlinguistische Daten Literatur (in Auswahl)
Grundlagen der Typisierung
Die Mundarten als Gegenstand der Dialektologie fordern für ihre Darstellung Formen, die für die B eschreibung der Hoch- oder Nationalsprachen gewöhnlich nicht nötig sind. Der Grund ist ihre spezifische diatope, diachrone und diastratische Erscheinungsform. Räumlich stehen sehr ähnliche Sprachformen dicht nebeneinander, sie können, da die Gemeinsamkeiten meist größer sind als die Unterschiede, direkt miteinander verglichen werden. Zeitlich macht sich in der Mundart, die nicht durch konstantisierende Faktoren wie Orthographie und normative Grammatik in ihrer Entwicklung behindert wird, schon der Unterschied zwischen den Generationen bemerkbar. Weniger auffällig sind die schichtenspezifischen Unterschiede zur Standardsprache. — Das Hauptinteresse der Mundartforschung liegt gerade auf den Punkten, die sonst einer Idealisierung weichen. Dialektologie ist im Sinne Chomskys in erster Linie anthropologische Sprachwissenschaft und richtet sich daher gerade auf die Differenzen und Variabilitäten mehr als auf die Konstanten und Universalien. Manchmal ist das erst ersichtlich, wenn man die Einzeluntersuchungen in den größeren Rahmen einordnet. — Je nach Erkenntnisinteresse, den verwandten Methoden und den beigezogenen Daten haben sich unterschiedliche Formen der Darstellung entwickelt, von denen allerdings nur ein Teil als grammatisch bezeichnet werden kann. Die Typisierung bringt selbst Probleme mit sich, da eine Scheidung in disjunkte Klassen nicht möglich ist. Merkmale, die für eine Darstellung charakteristisch sind, können in einer anderen mit entgegengesetztem Schwerpunkt doch auch als Randmerkmale auftauchen; außerdem gibt es Vorformen und Vermischungen. Eine Kreuzklassifikation, bei
der die Einheiten mehreren Äquivalenzklassen angehören, wäre aber nur sinnvoll, wenn alle oder doch alle wichtigen Arbeiten in ihren Eigenschaften charakterisiert werden könnten. Die hier gewählte Form gibt daher eher Prototypen grammatischer Darstellungen in der Dialektologie. Folgende Typen werden vorgestellt: Historisch-vergleichende Areal- und Ortsgrammatik, Phonologie einer Ortsmundart, Diasysteme und Regelvergleich, Sprachlandschaftsgrammatik, soziologischkontrastive Grammatik. Die Merkmale der Prototypen überschneiden sich. Die Phonologie der Ortsmundart ist eine Ortsgrammatik, die Sprachlandschaftsgrammatik eine Arealgrammatik usw. Die Konstituierung und Ausarbeitung dieser Prototypen grammatischer Darstellung steht in engstem Zusammenhang mit der jeweiligen Interessen- und Forschungslage der Dialektologie, so daß dieses B edingungsverhältnis für die nachfolgende B ehandlung als Gliederungskriterium verwendet werden kann: die Areal- und Ortsgrammatik ergibt sich aus der Notwendigkeit, den dialektologischen Gegenstand in der wissenschaftlichen Anfangsphase zu sichten und zu ordnen, während die phonologische B eschreibung als dialektologische Anwendung der in der Linguistik entwickelten Methoden und Theorien anzusehen ist, die mit Diasystem und Regelvergleich auch gleichzeitig eine gegenstandsspezifische Anpassung erreicht; demgegenüber ergibt sich die Sprachlandschaftsgrammatik im wesentlichen aus dem B emühen, die sprachkartographischen Gliederungsmuster durch Heranziehung außerlinguistischer Phänomene zu erklären, während die soziologisch-kontrastive Grammatik deutlich auf soziologische Anregungen zurückzuführen ist und überwiegend auf eine Erleichterung der sprachlichen Sozialisation zielt.
2.
Grammatische Darstellungstypen zur grundlegenden Sichtung und Ordnung des dialektologischen Gegenstandes
Nur bei künstlicher Verengung des B lickwinkels wird Mundart als abgeschlossene Einheit erfahren. Der Mundartsprecher selbst ist sich immer der Differenz zur Nachbarmundart und in neuerer Zeit zur Stan-
694
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
dardsprache bewußt, das zeigen die Ortsnekkereien, die sich in langer Tradition gerade auch auf die sprachliche Andersartigkeit beziehen. Ohne daß die Art der Eigenheiten bewußt wird, kann der Sprecher der benachbarten Mundart nach seiner Herkunft eingeordnet werden. In der gegenseitigen Charakterisierung treten zuerst die lexikalischen Unterschiede deutlich hervor, dann auffällige lautliche Differenzen und meist recht vage beschriebene suprasegmentale Eigenheiten der Intonation. Neben der diatopischen Gliederung wird aber auch die zeitliche naiv erfaßt, wenn Eigenheiten vor allem im Wortschatz älterer Sprecher auffallen; der schichtenspezifische Unterschied vermischt sich hiermit und wird erst von der Wissenschaft deutlich getrennt. Die diatopischen Unterscheidungen werden eher als normative, zur langue gehörige, die diachronen und diastratischen eher als innerhalb der Toleranz liegende, zur parole gehörige begriffen. 2.1. Historisch-vergleichende Arealgrammatik In ihren Anfängen spiegelt die Dialektologie dieses natürliche Interesse mit einer Ausweitung in die geschichtliche Dimension wider. Das erste Augenmerk richtet sich auch hier auf den Wortschatz, die Idiotica stehen am Anfang eigenständiger Untersuchungen der Dialektologie. Im B ereich der Grammatik steht nicht die detaillierte Darstellung der Ortsmundart am Anfang, sondern die regionale B eschreibung einer Mundartvielfalt, die Arealgrammatik. Die wissenschaftliche Grundlage für die dt. Dialektologie legt die „Deutsche Grammatik“ Jacob Grimms. Johann Andreas Schmeller (Schmeller 1821, vgl. auch Stalder 1819) verfaßt sein bahnbrechendes Werk „Die Mundarten B ayerns“ zwar schon vor Erscheinen von Grimms Grammatik, arbeitet es dann aber methodisch vollständig um. B ei ihm finden sich schon die meisten der konstituierenden Merkmale, die über lange Zeit die regionalen und vollständigen Arealgrammatiken deutscher Mundarten bestimmen. Die Methode der Darstellung ist historisch-vergleichend. Die Mundart wird als regelmäßige Entfaltung früherer Sprachstufen begriffen. Auch wenn in späteren Untersuchungen kein direkter Zusammenhang zwischen der als Vergleichssystem dienenden Vorstufe und aktueller Form behauptet wird, dient die vorgegebene Ordnung der Vorstufe als Ordnungsprinzip der Darstellung, als Ur-
bild, das über Entsprechungsregeln auf die Mundartwirklichkeit projiziert wird. Das phonologische Problem der diskreten Einheiten wird dadurch vermieden. Die Schreibung ist, wie Schmeller selbst sagt, eine etymologische. Er verwendet phonetische Zeichen, um Differenzen der Lautung zu erfassen. In diesem Punkt wird mit den wachsenden Einsichten der Experimentalphonetik bei späteren Arbeiten ein gewaltiger Fortschritt sichtbar. — Das Grenzproblem tritt bei Schmeller noch nicht deutlich hervor, da das B elegnetz nicht dicht genug ist. Dafür finden sich B emerkungen über die soziale Differenzierung der örtlichen Aussprache; er unterscheidet drei Stufen: die ländliche Aussprache, die städtische Aussprache und die provinzielle Aussprache der Gebildeten. Da das Königreich B ayern auch nichtbayrische Mundarten umfaßt, wird das Werk zur vergleichenden Grammatik oberdt. Dialekte. In die Reihe ähnlicher Arbeiten gehört: z. B . Weinhold (1853), Nerger (1869), Kauffmann (1890); auch nach Fischer (1895) und dem DSA (1926) mit ihren kartographischen Darstellungen wird diese Form weiterhin gewählt, z. B . Jutz (1931) und auch als Gesamtdarstellung dt. Dialekte Schirmunski (1962) oder auch unter anderen theoretischen Voraussetzungen Wiesinger (1970). — Die mundartliche Entsprechung zum mhd., ahd. oder germ. Laut wird dabei immer eingebettet in ein Lexem gegeben, von dem man annimmt, daß seine moderne Form sich in regelmäßiger Entwicklung aus der historischen Vorstufe ergibt, so daß ein etymologischer Zusammenhang besteht. Ist beispielsweise ẹ das mhd. Primärumlauts-e, das sich vor i, j, in der Folgesilbe aus dem ahd. Kurzvokal a entwickelt hat und sind A, B , C Abkürzungen für die untersuchten B elegorte, dann hat der Vergleich die Form: mhd. ẹ — bẹtǝ (A, B ), bętǝ (C), kẹtenǝ (A, B , C). mhd. ẹ vor n — ręnǝ (A, B , C), thęnd (A, B ), thẹnd (C). A, B haben also gemeinsame Formen und sind von C durch eine einfache Lautgrenze getrennt. Es ist offensichtlich, daß hier keine sprachwissenschaftliche Aussage über den mhd. Laut bzw. das mhd. Phonem e gemacht wird. Das mhd. e kann als eine mathematische Funktion angesehen werden, die lautliche Kontexte und Sprechorte als Argumente nimmt und die mundartliche Lautform als Wert hat; Kontext, Sprechort und mundartliche Lautform sind die Variablen dieser Funktion. Die lautlichen Kontexte können mehr oder weniger groß gewählt werden. Je
40. Typen grammatischer Darstellung
kleiner der Kontext ist, umso größere Gültigkeit hat das Gesetz; ist das ganze Wort, in dem der entsprechende funktionale Laut vorkommt, als Kontext nötig, um die mundartliche Form zu determinieren, handelt es sich um eine Ausnahme von der ortsüblichen Entwicklung. Als Wert der Funktion kann die vollständig determinierte phonematische Darstellung gewählt werden oder auch wie in den meisten Darstellungen, eine nur in einer Streuungsklasse möglicher Realisationsschwankungen einzuordnende phonetische, die dann etwa eine einmalige Aktualisierung in einem Textcorpus darstellt. Durch die allgemeine Annahme, daß die Streuungsbreite nur so groß sein darf, daß die Phoneme auch in jeder zufälligen Aktualisierung noch unterscheidbar bleiben müssen, wenn die Kommunikation möglich sein soll, kann dann diese Aktualisierung als Repräsentant des Phonems angesehen werden. — Diese Form der Darstellung ist keineswegs überholt. Gegenüber der kartographischen hat sie neben ökonomischen Vorteilen vor allem den Vorzug schnellerer Aufarbeitung der sprachlichen Entwicklung. Die Formen eines DSA sind dagegen nur als Gemeinschaftsarbeit mit großem finanziellen Aufwand möglich. Die Vergleichsstruktur, die idg. Phonologie in ihrer Entwicklung, ist zudem jedem Sprachwissenschaftler durch seine Ausbildung so geläufig, daß er sie für etwas Quasinatürliches hält. Die Transformation konnte jeweils als eine begrenzte Zahl von Entsprechungsregeln erfaßt werden, lange bevor eine generative Phonologie solche Entsprechungen formal zu erfassen suchte. 2.2. Historisch-vergleichende Ortsgrammatik Neben der historisch-vergleichenden Arealgrammatik findet sich als früher Haupttyp die Ortsgrammatik. Die methodische Variation ist hier etwas größer, da die Untersuchung der Einzelmundart dem Sprachwissenschaftler Mittel zu vielerlei Zwecken ist. Obwohl eine große Zahl von Arbeiten die theoretisch-methodischen Annahmen des historisch-vergleichenden Typs reproduzieren und im Grunde als punktuelle Vertiefung der Arealgrammatik oder der Sprachatlanten angesehen werden wollen, wird das naive Interesse hier früh überspielt. — Das berühmteste B eispiel für diesen Typ ist wohl Jobst Winteler „Die Kerenzer Mundart“ (Winteler 1876), der von seinem Lehrer Sievers ausgehend eine lautphysiologische B e-
695
schreibung einer Mundart geben wollte und durch die dabei auftauchenden Probleme über die Grenzen der Experimentalphonetik und der junggrammatischen Prinzipien hinausgelangt. Er betrachtet die Sprachlaute als System, in dem die Einzellaute nicht nur durch ihre Artikulationseigenschaften, sondern auch durch ihre Stellung im System, ihre Funktionen und ihre B eziehungen zu den übrigen Lauten und Artikulationen bestimmt werden. Trubetzkoy sieht in Winteler daher einen Vorläufer der Phonologie. Das ist sicher eine Überinterpretation, die übrigen Leitsätze Wintelers widersprechen dem. Was er darstellt, ist nicht die langue und daher auch keine Sprachgebildelautlehre, sondern ganz ausdrücklich die parole, die Sprache des Individuums, das sich selbst beobachtet (Autophonie), und zwar seine realen einmaligen Produktionen. Das gilt für viele ähnliche Arbeiten: Holthausen (1886), Heusler (1888), Schatz (1897), u. a. sowie die Reihen Deutsche Dialektgeographie, Mitteldeutsche Studien, B eiträge zur schweizerdeutschen Grammatik, B eiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung. Auf der Ebene der Lautlehre wird auch hier die langue durch das in die Vergangenheit projizierte Vergleichssystem und die Entsprechungsregeln (Lautgesetze) vertreten. Die Ortsgrammatik mit ihrer oft vollständigen Erfassung des Wortschatzes, manchmal auch der Morphologie, seltener der Syntax ist eine notwendige Ergänzung der Arealgrammatik. — Da dieser Artikel auf die B ehandlung grammatischer Darstellungen beschränkt ist, tritt hier in der Wissenschaftsgeschichte eine Lücke auf, weil sich die Aufmerksamkeit durch die Untersuchungen des DSA fast ausschließlich auf die kartographische Methode richtete. Die ersten Ergebnisse zeigten so viele Probleme, die eine Lösung verlangten, daß eine ganze Generation von Mundartforschern dadurch absorbiert wurde.
3.
Grammatische Darstellungstypen als Anwendung und Modifikation linguistischer Methoden- und Theorieentwicklungen
Neuansätze in der Grammatikdarstellung bringt erst der Strukturalismus mit sich, der mit durch den Krieg bedingter zeitlicher Verspätung die deutsche Dialektologie erreicht. Neben den Darstellungstypen, Phonologie einer Ortsmundart und Diasystem und Regelvergleich sind das Grenzproblem und
696
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
die Sprachveränderung durch innere Kausalität die Gegenstände der Aktivität. Die Untersuchungen sind hier weitgehend theorie- und methodegeleitet. — Die Methode der relationalen Beschreibung unter einem funktionalen Aspekt hatte sich vor allem bei der Analyse von Sprachen bewährt, deren Geschichte unbekannt ist. Man konnte sich damit vom historisch-vergleichenden Modell, das naiv betrachtet verdächtig war, befreien. Auch war man sich bei besserer Kenntnis der phonetischen Tatsachen und einer besseren Ausbildung der Exploratoren in der auditiven Phonetik und in der Anwendung genauerer Transskriptionssysteme der Variabilität der lautlichen Produktionen bewußt geworden. Die Zusammenfassung auftretenden Realisationsnuancen und ihre Identifikation in einer funktionalen Einheit war daher ebenso erwünscht wie die Möglichkeit, Wichtiges und Unwichtiges bei der Vielfalt der phonetischen Eigenschaften zu unterscheiden. 3.1. Phonologie einer Ortsmundart Die Phonologie einer Ortsmundart ist von den hier behandelten Typen wohl die am wenigsten mundartspezifische, da sie nicht wie die historisch-vergleichende Ortsgrammatik nur Teil und Vertiefung einer Arealgrammatik oder einer kartographischen Darstellung ist. Trotzdem soll sie hier als Prototyp angesehen werden, da sie innerhalb der klar abgrenzbaren Darstellungsformen einen charakteristischen Platz einnimmt, was man von den wenigen strukturalistischen Darstellungen der Morphologie (z. B . Kufner 1961, Gladiator 1971) nicht sagen kann. Beispiele für Phonologien einer Ortsmundart sind Koekkoek (1955), Heike (1964, experimentalphonetisch angelegt), Werner (1964, Textbeschreibung eines Tonbands aus der dt. Lautbibliothek) Singer (1965, als ergänzender Teil einer Arealgrammatik), Philipp (1965, mit besonderer B etonung der Phonemdistribution), Liébray (1969). — Da die Darstellungen der Phonemsysteme eher universell sind und ihre Unterschiede nur unwesentliche Differenzen in der Theorie widerspiegeln, sind die Nebenergebnisse interessanter. Eine sorgfältige B elegung der minimalen Oppositionspaare erfordert eine Analyse des gesamten Wortschatzes, die über das in der Ortsgrammatik Übliche hinausgeht. Eine Kombinatorik für sämtliche Lautverbindungen liefert z. B . die Arbeit von M. Philipp. Da in den historisch-verglei-
chenden Arbeiten die Kombinatorik sozusagen im als gegeben vorausgesetzten Vergleichssystem verborgen blieb und als für die Mundart selbst ebenfalls garantiert angesehen wurde, liegen hier neue Einsichten vor. — Martinet (1955) hat dazu beigetragen, daß innersystematische B egründungen für sprachlichen Wandel in der Mundart untersucht wurden. Leider blieb es nur bei Ansätzen. Moulton (1960, 1961) begründet die ostschweizerische Vokalspaltung durch innere Kausalität. Durch phonematisierte Allophone war aus dem vierstufigen Vokalsystem der Langvokale ein fünfstufiges geworden, dadurch entstand eine Asymmetrie zum System der Kürzen. Durch eine Art Symmetriezwang, der als Systemdruck wirkt, wird die zunächst allophonische Phonemspaltung bei den Kürzen begünstigt. Dialektgeographische Erwägungen auf Grund von Material des SDS, das die historische Entwicklung in ihrem räumlichen Ablauf sichtbar macht, lassen die Erklärung plausibel erscheinen. — Ebenfalls von Moulton (1964) wird das Grenzproblem neu diskutiert. Lautgrenzen werden traditionell als Linien aufgefaßt, an denen die lautgesetzlichen Entwicklungen des Vergleichsystems zu verschiedenen Ergebnissen führen, sie sind also Grenzen divergierender Lautgesetze. Es gibt nun Gebiete fließenden Übergangs von einer phonetischen Realisation zur anderen, vor allem bei gerade stattfindenden Veränderungen, die keine eindeutige Grenzziehung zu erlauben scheinen. Die strukturalistische B etrachtung erlaubt eine begründete klare Grenzziehung, wenn aus der Divergenz eine veränderte Stellung im Lautsystem resultiert. Die übrigen Fälle können als Zonen allophonischer Streuung betrachtet werden. Trotzdem können auf anderer Ebene, etwa der Kundgabeebene, auch diese Unterschiede relevant sein. 3.2. Diasystem Von größerer B edeutung wurde der B egriff des Diasystems, den Uriel Weinreich prägte. Eine ausführliche Darstellung gibt Goossens (1969, 18 f.). Ein Teilsystem für die palatalen Kurzvokale zweier Mundarten A und B könnte so aussehen: A/i≈ e ≈ B/i e
æ ε∽æ
≈
a a
Die beiden Vokale ε und æ würden im System B die gleiche Stellung einnehmen, wie der Vokal æ allein im System A. Diese Aus-
40. Typen grammatischer Darstellung
sage ist insofern mehrdeutig, als nichts über die Distribution der Phoneme im Wortschatz gesagt wird. Meist wird daher noch ein historisches Vergleichssystem beigefügt, das wie in der historisch-vergleichenden Grammatik diese Aufgabe übernimmt. Die Teilgruppe A æ und B ε ~ æ kann aber auch als eine tieferliegende Einheit angesehen werden, als eine Art Supraphonem, die im Dialekt A als æ repräsentiert ist, im Dialekt B je nach phonematischer oder auch morphematischer Umgebung als ε oder als æ. Für Dialekt A handelt es sich um eine Identikationsformel, für Dialekt B um eine Divergenzformel. Trotz der theoretischen Unvollständigkeit ist der B egriff von großer praktischer B edeutung, wie die Arbeiten von Panzer/Thümmel (1971) und Wiesinger (1970, der B egriff wird hier nicht verwendet) zeigen. B eide Arbeiten gehen von einem historischen Vergleichsystem aus. Während Wiesinger eine Gesamtdarstellung der Vokalentwicklung in den deutschen Dialekten versucht, ist das Zentralproblem bei Panzer/Thümmel eine intralinguistisch begründete historisch-strukturelle Einteilung der niederdt. Mundarten. Die theoretisch am besten begründete Arbeit in diesem B ereich ist zweifellos die Intersystemare Phonologie Veiths (1972). 3.3. Regelvergleich Die Weiterentwicklung macht aus dem Typ des Diasystems den Typ des Regelvergleichs. Sie bezieht neben diatopischen auch diastratische Unterschiede mit ein und bewältigt auch das Problem der Distribution. In einem generativen Modell (Phonologie) werden diatopische-diastratische Kontrastierungen ohne Protosystem beschrieben. B ezugssystem ist das Nhd., zu dem die Dialektsysteme als Kontrastsysteme fungieren. Als Regeln treten intersystemare und infrasystemare auf, die sich jeweils kontrastiv auf die Diskordanzen oder identifikativ auf die Konkordanzen der verglichenen Systeme beziehen. — Die intersystemaren Regeln haben die Form (Veith 1972, 100):
zu lesen als: in der Umgebung vor Vokal wird ein Nucleusx eines B ezugsystems B in den Kontrastsystemen 1 und 4 bis 8 zum Nucleusy, in den Kontrastsystemen 2 und 3 zum Nucleusz. — Die infrasystemaren Regeln haben die Form:
697
(Ny)K 6—8 → (Nw) / (U)__(V)K 6—8 zu lesen als: in der Umgebung nach U und vor V wird der Nucleusy der Kontrastsysteme 6 bis 8 zum Nucleusw. — Es handelt sich bei den Regeln also um das normale Format der generativen Phonologie, bei dem die Konstituenten aber nicht als Konstante aufgefaßt werden, sondern als Familien mit Vergleichssystemen als Indices, d. h. als Funktionen, die die Vergleichssysteme auf sprachliche Werte abbilden. Die Frage bleibt, ob ein rekonstruiertes, nur als Ordnungsprinzip dienendes Protosystem die Darstellung nicht vereinfachen würde. Allerdings erlaubt Veiths Vorgehen einen direkten Vergleich hd. und nd. Mundarten. Ein historisches Vergleichssystem müßte dazu ziemlich weit zurückverlegt werden. — Generativistische Darstellungen sind noch nicht sehr häufig. Als weitere B eispiele können dienen: Stellmacher (1972), Lipold 1976 (Morphologie), Werlen (1972). Sie sind ebensowenig mundartspezifisch wie valenzgrammatische (Henn 1978). In der theoretischen Diskussion spielt zunehmend der B egriff der Varietät und der von Labov (1969, 728) geforderten Variablenregel eine Rolle. Labov faßt die Variablenregel als eine Funktion auf, die eine Reihe von außer- oder innersprachlicher Daten auf einen sprachlichen Wert abbildet. Dabei werden sowohl die Argumente wie die Werte als Variable bezeichnet. Sind a, b, c, d die Argumente mit a = Ort, b = Sozialstatus, c = Alter, d = Geschlecht und x ein abhängiger sprachlicher Wert, dann ist fi∈l (a, b, c, d) = x eine Familie von Funktionen, die je einer Angabe aus den genannten B ereichen genau eine sprachliche Form zuweisen. Jedes fi kann dabei als ein tiefenstrukturelles Element angesehen werden, z. B . als ein Phonem im traditionellen Sinn, dessen Realisationen durch die Argumente determiniert werden. Wie man sieht ist die Variablenregel nichts weiter als die Form aller wissenschaftlichen Aussagen, die Determinationen beschreiben, und ein Großteil der bisher angeführten Modelle könnte in diese Form gebracht werden. Unklar ist in dem angeführten B eispiel, das Labovs Intentionen wiedergibt, der theoretische Status der abhängigen Variablen x. Es handelt sich dabei nicht wie etwa bei Veith um Phoneme, Morpheme usw., sondern um Realisationen, die aber durch die angegebenen Daten gar nicht vollständig determiniert sind, oder um Mengen von solchen Realisationen, die irgendwo zwischen Phonemen und Phonen, Morphe-
698
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
men und Morphen usw. eingeordnet werden müßten. Die Variablengrammatik wurde deshalb hier nicht als eigener Typ angesetzt. Wo der B egriff auftaucht, handelt es sich meist um eine Varietätenbeschreibung, da auf die Determinationsforderung verzichtet wird. Eine diatopische Pragmatik fordern Schlieben-Lange/Weydt (1978, 257 ff.), um die Möglichkeiten sprachlicher Verhaltensdifferenzen in den Mundarten zu erfassen, z. B . die Möglichkeit des B ayrischen, einen Dialog rein formal mit halt so oder i mog halt net abzuschließen, die weiter nördlich als Unhöflichkeit aufgefaßt werden würde. Dazu liegt in den traditionellen Darstellungen wohl eine Menge Material vor, doch fehlt eine systematische komparative Darstellung.
4.
Grammatische Darstellungstypen zur Erklärung dialektaler Varietät durch außerlinguistische Daten
Da die Sprache nicht eine von den übrigen Handlungen isolierte Fähigkeit des Menschen ist, interessieren neben der B eschreibung der Vielfalt ihrer Formen in den Mundarten von Anfang an auch ihre Verbindungen und Verknüpfungen mit außersprachlichen Erscheinungen. Man sucht hier Begründungen für die Differenzen und Veränderungen in der Sprache und sieht neuerdings auch umgekehrt die Sprache als wirksamen Faktor für die soziale Rolle des Sprechers. Lautgesetze, Analogie und der oben erwähnte Systemdruck sind innerlinguistische B egründungen. Ihr Erklärungsgehalt liegt in der Allgemeingültigkeit der psychophysischen B edingungen alles Sprechens. Die verschiedene geschichtliche Entwicklung der gleichen sprachlichen Grundform läßt sich schlecht mit allgemeingültigen Gesetzen erklären, da sie ja für jede Sprache und jeden Sprecher in gleicher Weise gelten. Es muß also in jedem Falle entweder eine Indeterminiertheit oder eine Einwirkung von auß en angesetzt werden, wenn man die Differenzen erklären will. Germanische Stammesgeschichte, Klima und Geographie dienen früh als B egründungen. An das Klima denkt heute niemand mehr; die Geographie ist in anderen B egründungen aufgegangen, die Stammesgeschichte lebt in der B enennung der Großmundarten fort und wirkt von daher in die Abgrenzungsfrage hinein.
4.1. Sprachlandschaftsgrammatik Die eigentliche Epoche der extralinguistischen Begründung sprachlicher Erscheinungen in den Mundarten beginnt mit dem DSA und der Notwendigkeit, die von der junggrammatischen Theorie abweichenden Phänomene im Raum zu erklären. Auf der einen Seite hätte ja die lautgesetzliche Entwicklung aus den germanischen Stammessprachen klar abgegrenzte Mundarträume erwarten lassen, auf der andern Seite die Vorstellung Hermann Pauls, daß das Individuum das Zentrum der sprachlichen Entwicklung sei, und ein ständiger Ausgleich zu anderen Sprechern nur minimale Unterschiede zulasse, ein sprachliches Kontinuum. Ausgehend von den ersten Ergebnissen des DSA erklärt Ferdinand Wrede, der Assistent und Nachfolger Georg Wenkers am DSA, die Verletzungen der Lautgesetze als das gewöhnliche Ergebnis der Dialektmischung infolge des Verkehrs. Für die B egründungen ist es also wesentlich die B egrenzungen dieses Verkehrs, die Verkehrsgemeinschaften zu bestimmen. Sprachmischung und Sprachausgleich auf der Grundlage außersprachlich determinierter Verkehrsgemeinschaften sind für ihn die Hauptgesetze für die Entwicklung der Mundarten in Vergangenheit und Gegenwart. Stammbaumtheorie und spontane Entwicklung ersetzt er durch Johann Schmidts Wellentheorie, wellenförmige Ausbreitung sprachlicher Neuerungen von kulturellen Zentren aus, deren Grenzen durch die historisch wechselnden Verkehrsgrenzen festgelegt sind. B esonders wichtig sind dabei für die dt. Dialektverhältnisse die Grenzen der feudalen Territorien des 14. bis 16. Jhs. Der Lautphysiologie stellt Wrede eine historisch begründete Sprachwissenschaft des sozialkulturellen Raumes gegenüber. Eine B estätigung von anderer Seite geben die süddt. Dialektologen Fischer, B ohnenberger und Haag. Die praktische Umsetzung von Wredes Analysen in die Forschung beginnt mit Theodor Frings in der Rheinischen Schule. Die Methode der neuen Arbeiten, die alle von kartographischen B efunden ausgehen und schließlich zum Typ der Sprachlandschaftsgrammatik führen, ist die Parallelisierung von sprachlichen, historischen, sozialen und volkskundlichen Daten, die sich wechselseitig erklären und eine darauf zurückgeführte Dynamisierung des sprachlichen Raumes. Die Dynamisierung äußert sich schon in der Wahl der B egriffe, die verwendet wer-
40. Typen grammatischer Darstellung
den, um die räumliche Verteilung von lautlichen oder lexikalischen Fakten zu erklären (vgl. B ach 1950, 39 ff.). Da ist von Strahlungen, Fernstrahlungen, Vorstößen, Einbrüchen, Hauptund Nebenstoßrichtungen, Keilen, Umzingelungen und Relikten die Rede, so als wäre überall ständig die heftigste Auseinandersetzung im Gange und die Grenzlinien und -linienbündel gerade eine im vibrierenden Zustand des Ausgleichs zwischen gleich mächtigen Gegnern gehaltene Zone. Die Sprachlandschaft selbst wird personifiziert und tritt als aktive oder passive Kraft in das Geschehen ein. Als Ausgangspunkt für eine solche B etrachtung dient die Form der Isoglossen in der kartographischen Darstellung, auf die eine verkehrsmäßige, ökonomische, politische und kulturelle Gliederung ebenfalls in Form von räumlichen Darstellungen gleichsam projiziert wird. Als ein B eispiel soll die B eschreibung der Strahlkraft landschaftlicher Zentren bei B ach (1950, 116) dienen: „Die Sprachstrahlungen, die, von Norden kommend, die elsässische Nordgrenze, das Linienbündel zwischen dem Hagenauer Forst und der Lauter, überwanden und nach Süden vordrangen, machten das Elsaß für die herangetragenen Neuerungen zu einem Raum starker landschaftlicher Ausstrahlungskraft. Dabei spielte vor allem die Stadt Straßburg eine Rolle, auf die die Strahlungen des mittelrheinischen Raumes zunächst gerichtet waren. Getragen von der Kraft dieses alten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkts des Oberrheingebiets drangen die nördlichen Formen von ihm aus weiter nach Süden vor, und was besonders zu beachten ist: auf der elsässischen Rheinseite mit größerer Macht als auf der badischen. In der Straßburger Gegend strahlten die linksrheinischen, also die Straßburger Formen, auch nach dem rechten Rheinufer hinüber zur Ortenau und weiterhin nach B aden, wie das die Untersuchungen Otto Stöckichts deutlich erkennen lassen.“
Eine solche Darstellung ist nicht sehr genau und beruht meistenteils auf Plausibilitätserwägungen, gibt aber doch ein eindrückliches B ild von den sprachlichen Zuständen und vom sprachlichen Geschehen. — Nachdem Frings eine Reihe von Untersuchungen zur Dialektgeographie seiner Heimat, der rheinischen Übergangsmundarten nördlich der B enrather Linie angestellt hatte, folgt 1926 eine Gemeinschaftsarbeit zusammen mit einem Historiker und einem Volkskundler „Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte, Sprache, Volkskunde“ (Aubin/Frings/
699
Müller 1926). Diese Arbeit wird zu einem Programm für viele Nachfolger. Die Verkehrsgemeinschaft, innerhalb derer der vereinheitlichende Ausgleich stattfindet, wird als Kulturraum begriffen. F. Maurer (1942 a) hat die Methode auf die Frühzeit deutscher Dialekte angewandt, indem er die sprachlichen Zeugnisse mit archeologischen Fundkreisen verglich. Ebenso hat er die Dialekte des dt. Südwestens einbezogen (Maurer 1942 b). Nach seiner B erufung nach Leipzig hat Frings die ostmd. Mundarten untersucht. Der entscheidende sprachlandschaftbildende Faktor sind hier nicht die spätmittelalterlichen Territorien, sondern die Siedlungsströme der Kolonisten. Hier entsteht nach seiner Ansicht durch Sprachmischung auch die Grundlage der nhd. Schriftsprache als volkssprachliche Leistung, nicht, wie B urdach meinte, durch das soziale Prestige einer kanzleisprachlichen Norm. Eine Reihe von nachfolgenden Arbeiten haben vor allem die sprachlandschaftbildenden Faktoren genauer erfaßt (v. Polenz 1954, Große 1955, Schützeichel 1961, Steger 1968). — Die Erklärungen gelten in erster Linie diatopen und diachronen Erscheinungen. Diastratische Unterschiede wurden zunächst meist nur nebenbei behandelt, obwohl immer ein gewisses Interesse dafür da war, so daß man auch den frühen Arbeiten eine Menge von Fakten und Einsichten entnehmen kann (vgl. B ach 1950, 227 ff., Löffler 1974, 36 ff.). Die Diskussion wird dabei beherrscht von den Gegenüberstellungen: Mundart — Umgangssprache — Hochsprache, Stadtmundart — Landmundart, Halbmundart — Vollmundart, Sprache der Gebildeten, Halbgebildeten und B auern, Mundart — Slang — Sondersprachen usw. 4.2. Soziologisch-kontrastive Grammatik Die Adaption der Arbeiten B . B ernsteins brachte hier einen Neuansatz. Die Mundart läßt sich allerdings nur schwer als restringierter Code begreifen, da sie eine funktional vollwertige Sprache ist. Die Frage, ob Defizit oder Differenz bekommt von hier neue Nahrung (vgl. Art. 89). — Eine großangelegte Studie hat die B onner sprachsoziologische Projektgruppe Erp (Sprachsoziologische Projektgruppe 1975, 173 ff.) begonnen. Untersucht wird die Gesamtbevölkerung eines Ortes in ihrer sprachlichen und sozialen Variation. Neue mundartspezifische Typen der Darstellungsform entstehen aber eher da, wo nicht nur sprachliche und soziale Da-
700
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
ten korreliert werden, sondern wo ein praktisches Interesse im Vordergrund steht. Es handelt sich um die Arbeiten, die vom Problem der Sprachbarriere ausgehen und vor allem die B eziehung zwischen Mundart der Schulkinder und schulisches Leistungsniveau untersuchen (vgl. Art. 90). Für das Mundart sprechende Schulkind, das in der Schule vielleicht zum ersten Mal mit der Standardsprache konfrontiert wird, entsteht ein Übersetzungsproblem. Es wäre also naheliegend, die Formen der kontrastiven angewandten Grammatik, die für den Fremdsprachenunterricht entwickelt wurden, zu übernehmen. Es zeigte sich aber, daß die Übersetzungsprobleme des Mundart sprechenden Kindes komplexer sind als die im Fremdsprachenunterricht auftretenden. Die Komplexität entsteht überraschenderweise durch die große Nähe der beiden Sprachformen. So sind z. B . die Differenzen zwischen mundartlicher Semantik und standardsprachlicher Semantik oft sehr gering und liegen teils nur im B ereich der Konnotationen. Sie führen gerade deswegen zu Verstehensschwierigkeiten und Sprechhemmungen, da sie nur mit Mühe bewußt gemacht werden können. Auf anderen Ebenen, etwa der phonologischen, führt der regelhafte Zusammenhang, wenn nicht alle kontextuellen Determinanten der Regel beachtet werden, zu hybriden B ildungen, sog. Interferenzen. Die B ildung der Übersetzungsregel durch das Schulkind geschieht ja nicht durch vollständige Induktion, sondern durch Versuch und Irrtum, so daß hier Fehler durch falsche, vorschnelle Generalisierung unvermeidlich sind. Die Fehleranalyse ist daher auch der einfachste Zugang zur anstehenden Problematik und nimmt in den meisten Arbeiten großen Raum ein. Theoretische und exemplarische B ehandlung findet sich bei Jäger (1971), Löffler (1972), Ammon (1973). Direkt auf die Anforderungen der Schule abgestellt, also gewissermaßen therapeutisch sind die Sprachhefte „Hochsprache/Mundart — kontrastiv“ B( esch/Löffler/Reich 1976 ff.). Hier wird der Umsetzungsprozeß auf allen grammatischen Ebenen beschrieben und wahrscheinliche Fehlerquellen vorausgesagt. Die durch die Interferenz Mundart — Standardsprache entstehenden Abweichungen können von anderen schulischen Fehlleistungen geschieden werden und Übungen zur ihrer B eseitigung können aufgebaut werden (vgl. Art. 90). — Als Beispiel für den Typ
soziologisch-kontrastive Grammatik können die Arbeiten von Wegera (1977) und Henn (1978) dienen: Die Kontrastive Grammatik „Osthessisch — Standardsprache“ steht in Zusammenhang mit den Sprachheften „Hochsprache/ Mundart kontrastiv“. Die einzelnen Kapitel zeigen zunächst die Kontraste zwischen Mundart und Standardsprache in Form von Tabellen und Listen. B ei den Lauten wird z. B . die verschiedene Verteilung der Phoneme in der Mundart und in der Standardsprache durch Korrespondenzregeln aufgezeigt, und zwar in beiden Richtungen. Es wird dazu die Verteilung der Phoneme in gleichen Lexemen parallelisiert. Im Anschluß an die Kontrastierung folgt jeweils ein Kapitel Differenzanalyse und Fehler. Die Unterschiede werden beschrieben und die Fehlerbereiche bei den Leistungen der Schulkinder erörtert, dann folgt eine Fehlerstatistik und B eispiele aus den untersuchten Diktaten und Aufsätzen. Abschließend werden die Schwierigkeiten und Fehlerrisiken in den einzelnen Teilbereichen der Grammatik beurteilt und nach ihrer B edeutung in den Gesamtzusammenhang eingeordnet. Der Lehrer hat damit ein direkt verwendbares Instrument der Sprachtherapie in der Hand. Die Arbeit von B eate Henn (1978) ist syntaxzentriert. Sie verwendet die „Deutsche Syntax“ von Heringer (1972), also ein valenzgrammatisches Modell, als Rahmen für die B eschreibung von Mundart und Standardsprache. Das Modell wird als Regelsystem aufgefaßt, dem eine Norm, verstanden als Ausnutzung der Regeln, gegenübergestellt wird. In den Fehleranalysen wird dann allerdings mehr nach Norm und System getrennt. Die Darstellung selbst ist kontrastiv, d. h. es werden auf die Zielsprache ausgerichtet nur die Regeln behandelt, bei denen Abweichungen vorliegen. Eine wesentliche Leistung der Arbeit ist auch eine Kategorisierung der mundartbedingten Abweichungen nach Interferenztypen. Folgende Typen treten auf: Kontrastnivellierung als Reduktion der diskriminierenden Merkmale und damit Angleichung an die Erstsprache, Kontrastübertreibung als Ausweitung der diskriminierenden Merkmale, Kontrastverschiebung als abweichende Verteilung der diskriminierenden Merkmale (Henn 1978, 332). Für den definierten Interferenzbegriff wird eine Übereinstimmung mit den Erklärungsmodellen der Gedächtnispsychologie gefordert. — Der außersprachliche Einfluß macht
40. Typen grammatischer Darstellung
sich in diesen Arbeiten in erster Linie in dem Ziel, die sprachliche Sozialisation zu erleichtern bemerkbar. In den Arbeiten selbst treten Sozialdaten kaum auf.
5.
Literatur (in Auswahl)
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
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41. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
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Horst Singer, Bochum
Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung Dialektlexikographische Typisierungsaspekte Räumlicher Geltungsbereich Methodologische Prinzipien Materialgrundlage und -beschaffung Zielsetzung Kodifikationsprinzipien Perspektiven der Dialektlexikographie Literatur (in Auswahl)
1.
Dialektlexikographische Typisierungsaspekte
Dialektlexikographie (Mundartlexikographie) ist die Praxis des Wörterbuchschreibens im B ereich der Mundarten (Dialekte). In der Dialektlexikographie werden theoretische und methodologische Erkenntnisse und
41. Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung
Ergebnisse der Dialektologie angewendet. Dies führt zur Kodifikation des durch die „dialektale Semantik“ Löffler 1974, 118) (‘Dialektalsemantik’ [Art. 80]) registrierten und semantisch explizierten mundartlichen Wortschatzes und manifestiert sich im Mundartwörterbuch (Dialektwörterbuch). Die inhaltliche B eschreibung des Mundartwörterbuchs (vgl. Art. 5 u. 79) spiegelt dabei die theoretische und methodologische Konzeption insbesondere der Dialektalsemantik wider. Als dominierende Zielsetzung der Dialektlexikographie muß das Registrieren, Inventarisieren und Explizieren der mundartlichen Sprachvarietät(en) angesehen werden. Das Registrieren beinhaltet dabei das Erfassen dialektspezifischer B ezeichnungs- und B edeutungsvarianten, während sich das Explizieren auf die phonetische, grammatische, sprachgeographische, syntaktische, idiomatische, etymologische, volkskundliche und vor allem semantische B eschreibung dieser Varianten bezieht. Registrieren und Explizieren obliegen der Dialektalsemantik. Die Inventarisierung bezieht sich auf die systematische, lexikographische Disposition der durch die Dialektalsemantik bereitgestellten und explizierten mundartlichen Sprachzeichen nach spezifischen Kodifikationskriterien. Die Frage nach dem Nutzen der Mundartlexikographie ist immer wieder gestellt worden (vgl. u. a. Dietrich 1975; Friebertshäuser 1976). Dabei werden vor allem folgende Gesichtspunkte genannt: (a) Im Mundartwörterbuch wird eine dem Standard gleichwertige Sprachform verzeichnet (vgl. Dietrich 1975, 73); (b) Mundartwörterbücher enthalten neben rein sprachlichen Angaben auch außersprachliche Informationen für Historiker, Soziologen, Volks- und Heimatkundler (vgl. Dietrich 1975, 74); (c) Mundartwörterbücher haben sprachpflegerischen Charakter (vgl. Dietrich 1975, 75); (d) Mundartwörterbücher sollen als Hilfsmittel im sprachdidaktischen B ereich eingesetzt werden (vgl. Dietrich 1975, 76), und (e) die Kodifizierung des dialektalen Wortschatzes dient der weiteren sprachwissenschaftlichen Forschung (z. B . in der Wortgeographie) als Materialsammlung. (Vgl. Friebertshäuser 1976, 9 u. Art. 3). In Versuchen, Wörterbücher nach ihren dominanten Kodifikationsmerkmalen zu systematisieren (vgl. Kühn 1978, 3—16; Henne 1980, 778—787), gilt das Mundartwörterbuch als ein selbständiger, in sich geschlossener Wörterbuchtyp, in dem der Wortschatz
703
nach regionalfunktionalen Gesichtspunkten verzeichnet ist. Dieser Eindruck der Einheitlichkeit verblaßt jedoch sehr schnell, wenn man mehrere Mundartwörterbücher miteinander vergleicht. Die Skala der Verschiedenartigkeit reicht dabei von ‘unterschiedlich’ bis ‘andersartig’, so daß die Mundartlexikographie und ihre Ergebnisse als äußerst heterogen bezeichnet werden müssen. Diese Ungleichartigkeit in der mundartlexikographischen Praxis wird durch die Vielschichtigkeit und Verschiedenartigkeit der dialektologischen Theorie und Methodik, sowie der Erkenntnisinteressen, Zielsetzungen und Fähigkeiten der Verfasser verursacht. Für die Spezifik der Typisierung können folgende Kriterien herangezogen werden: (1) Regionaler Geltungsbereich der einzelnen Mundartwörterbücher hinsichtlich quantitativer und qualitativer Gesichtspunkte. Unter quantitativem Aspekt lassen sich Mundartwörterbücher nach der Größe des räumlichen Geltungsbereichs differenzieren (vgl. Art. 79, Karte 79.3.), während dieser räumliche Geltungsbereich nach qualitativen Gesichtspunkten politisch, kulturell, sprachgeographisch oder geographisch spezifiziert werden kann (vgl. 2.). (2) Methoden der Lemmaauswahl und Interpretamentdarstellung. In methodischer Hinsicht kann die Wahl der Lemmata und die Interpretamentdarstellung zum einen synchronisch, historisch oder gegenwartsbezogen, zum anderen rein diachronisch ausgerichtet sein. In den meisten Fällen werden diese Methoden in den Mundartwörterbüchern nicht getrennt, sondern miteinander vermischt (vgl. 3. u. Art. 79., 3.). (3) Prinzipien der Materialauswahl und -beschaffung (vgl. Art. 11. 2.2.4.). Aus Gründen einer mangelhaften Repräsentativität und eines unzureichenden Informationsgehaltes wurden die mundartlichen Wortschatzsammlungen von Einzelpersonen dadurch erweitert, daß mündliche und schriftliche Quellen sowie möglichst viele Textsorten und Textthemen bei der Materialbeschaffung herangezogen wurden (vgl. 4.). (4) Vielzahl unterschiedlicher Ziel- und Zweckbestimmungen (vgl. auch Art. 20). Nach den Zielsetzungen lassen sich Wörterbücher unterscheiden, in denen entweder nur die mundarttypische Lexik oder der gesamte (standardsprachliche, umgangssprachliche, fachsprachliche usw.) Wortschatz des jeweiligen Mundartgebiets enthalten ist. Zudem lassen sich Mundartwörterbücher da-
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
nach einteilen, ob sie eher wissenschaftlichen oder praktischen Ansprüchen genügen wollen, ob sie sprachkulturell restaurative oder konservierende Ausgangspunkte haben, ob Sprache und Volkskunde miteinander in B eziehung gesetzt werden oder ob der gesammelte Wortschatz lediglich als Materialsammlung für weitere wissenschaftliche Untersuchungen gelten soll (vgl. 5.). (5) Fragen der Kodifikation des registrierten Wortschatzes. In bezug auf die Gestalt der Lemmata existieren Mundartwörterbücher, in denen die Stichworte in der mundartlichen oder in einer ‘verneuhochdeutschten’ Form aufgelistet werden. Die Lemmaordnung ist entweder alphabetisch — in einigen Fällen lediglich durch lautgeographische und wortbildungsmorphologische Gesichtspunkte gebrochen — oder etymologisch-alphabetisch, d. h. sprachhistorisch ausgerichtet. Zudem unterscheiden sich die einzelnen Mundartwörterbücher beträchtlich hinsichtlich der Interpretamentinformation. Diese dialektlexikographischen Grundlagen müssen entweder implizit aus der lexikographischen Darstellung von Artikelaufbau und -information erschlossen oder können explizit aus den Vorworten entnommen werden (vgl. 6.).
2.
Räumlicher Geltungsbereich
Da in Mundartwörterbüchern in erster Linie die diatopischen Differenzierungen der Lexik eines bestimmten geographischen Raumes kodifiziert sind, ist es ganz natürlich, daß die Mundartwörterbücher in der Forschung hinsichtlich ihrer regionalen Distribution typisiert werden. Die Dichotomie diatopisches vs. syntopisches Mundartwörterbuch (Gebiets-, Raum-, Regional-, Großlandschaftswörterbuch; vgl. Art. 79, Karte 79.3.; vs. Orts-, Lokalwörterbuch) ist die gängigste Einteilung der Mundartwörterbücher hinsichtlich ihres regionalen Geltungsbereichs (vgl. Löffler 1974, 69; Niebaum 1979, 347 bis 353). Diatopische Dialektwörterbücher verzeichnen dabei denjenigen Wortschatz, der sprachgeographisch ein größeres Territorium umfaßt, während in syntopischen Dialektwörterbüchern der Wortschatz eines Einzelortes verzeichnet ist. Weil die diatopischen Mundartwörterbücher — mit Ausnahme des mittelelbischen Sprachgebiets — den gesamten deutschen Sprachraum abdecken (vgl. Art. 79, Karte 79.3.), stehen die meisten Lokalwörterbücher zu den entsprechenden
Regionalwörterbüchern in Inklusionsbeziehung (vgl. z. B . die Aufzählung der im Rheinischen Wörterbuch 1928, VI—VII, Anm. 2, eingearbeiteten Lokalwörterbücher; vgl. Art. 5). Es existieren nur wenige syntopische Dialektwörterbücher, deren Sprachgebiet nicht bereits von einem — zumindest begonnenen — diatopischen Wörterbuch umfaßt ist. Es handelt sich um diejenigen Lokalmundarten, die im Vergleich mit den Nachbarmundarten besondere lexematische Eigentümlichkeiten aufweisen (vgl. Hamburgisches Wörterbuch 1956 ff. od. Frankfurter Wörterbuch 1971 ff.). B etrachtet man diejenigen Mundartwörterbücher, die in einem Gebietswörterbuch lexikographisch eingearbeitet sind, stellt man fest, daß die strikte Zweiteilung in Gebiets- und Ortswörterbücher zur Typologisierung der Mundartwörterbücher relativ unpräzise ist, weil zum einen Mundartwörterbücher existieren, die vom regionalen Geltungsbereich zwischen Gebiets- und Ortswörterbüchern anzusiedeln sind und zum anderen das Ortswörterbuch in der Regel neben der zentralen Ortsmundart noch die Mundartvarianten der näheren Umgebung einschließt. So sind im Rheinischen Wörterbuch (1928—1971) beispielsweise Mundartwörterbücher eingearbeitet, die kleinlandschaftliche Sprachregionen (vgl. z. B . Schön 1922) oder einzelne Orte mit ihrem sprachlichen Einflußbereich (vgl. z. B . Christa 1927) abdecken. B ei der Typisierung der Mundartwörterbücher in regionaler Hinsicht muß also von einer ineinander übergehenden Raumstaffelung der lexikographisch erfaßten Mundarten ausgegangen werden. Diese raumlexikographische Auffächerung besteht in ihrer Grundstufe aus Lokalwörterbüchern, die den Wortschatz eines Einzelortes und gegebenenfalls den der mundartlich beeinflußten Umgebung enthalten. Auf einer Übergangsstufe können Regionalwörterbücher angesiedelt werden, in denen die Lexik eines größeren Sprachgebietes kodifiziert ist. Auf der Schlußstufe sind die Territorialwörterbücher anzusetzen, in denen der Wortschatz eines großlandschaftlichen Sprachraums aufgelistet ist. Diese Raumstaffelung ist jedoch nicht nur unter quantitativen, sondern auch unter qualitativen Gesichtspunkten für eine Klassifikation der Mundartwörterbücher interessant: So gibt es Mundartwörterbücher, deren regionaler Geltungsbereich — nach Meinung der Autoren — in erster Linie mit einem politischen Territorium (“B ayern” um 1820; vgl. Schmeller
41. Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung
1827—1837), einem geschlossenen Kulturraum (vgl. z. B . Westfälisches Wörterbuch 1969 ff.), einem sprachgeographischen Gebiet (Schlesien; vgl. Mitzka 1963—1965) oder einem geographischen Areal (Nordharz; vgl. z. B . Damköhler 1927) zusammenfallen. Die räumliche Staffelung fällt auf der Übergangsstufe vor allem mit geographischen und sprachgeographischen Gebieten zusammen, während die Staffelung auf der Schlußstufe in erster Linie mit raumpolitischen Zonen identisch ist (vgl. Wrede 1919; Mitzka 1937; Mitzka 1949). Die sprachgeographisch orientierte Raumstaffelung der Mundartwörterbücher wird zur systematischen bibliographischen Erfassung der Mundartlexikographie genutzt (vgl. Lemmer 1968, 56—66; Kühn 1978, 125—141).
3.
Methodologische Prinzipien
Methodologisch gesehen können Mundartwörterbücher synchronisch oder diachronisch orientiert sein und zwar sowohl was die Auswahl der Lemmata als auch was die Interpretamentdarstellung betrifft. Ein Mundartwörterbuch mit synchronisch orientierter Lemmaauswahl verzeichnet den aktuellen Wortschatz eines in sich abgeschlossenen historischen oder gegenwärtigen Sprachstadiums (zum B egriff des Sprachstadiums vgl. Objartel 1980). B ei einer diachronisch orientierten Lemmaauswahl ist der kodifizierte Wortschatz sowohl gegenwärtigen als auch historischen Sprachstadien entnommen. Das Idioticon Hamburgense enthält z. B . eine synchronisch historische Lemmaauswahl, da Richey (1755, XXXIV bis XXXV) bei seiner Materialerhebung nicht „aus der heutigen lebenden Sprache in die alte laengst verlebte [...] gegangen“ ist. Das Berndeutsche Wörterbuch von v. Greyerz/ B ietenhard (1976, 5) ist in der Auswahl der Lemmata synchronisch gegenwartsbezogen, denn dieses Wörterbuch „soll den Sprachstand des B erndeutschen im zwanzigsten Jahrhundert spiegeln“. Sehr häufig ist in Mundartwörterbüchern mit dem Anspruch einer synchronisch orientierten Wortwahl ein heterogenes B elegmaterial kodifiziert, da der Erfassungszeitraum mehrere Sprachstadien umfaßt. So entstammt im Badischen Wörterbuch (1925 ff.) die Masse des B elegmaterials „der lebenden Volkssprache der Jahre 1894—1974“ (B aur 1976, 30). Die meisten Mundartwörterbücher bilden zwar in synchronischer Hinsicht den gegenwärtigen
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Sprachgebrauch ab — dabei gilt das Jahr 1900 sehr häufig als Zeitmarke (vgl. Pfälzisches Wörterbuch 1965 ff.) —, beziehen aber bewußt B elege aus vorangegangenen historischen Sprachstadien ein (vgl. Schmeller 1827, VII; Kehrein 1891, V). Auch die meisten großen, wissenschaftlich orientierten Territorialwörterbücher des 19./20. Jhs. (vgl. Art. 11 u. 79) enthalten sowohl gegenwartsbezogenes als auch historisches B elegmaterial (vgl. z. B . Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich 1963 ff.). Einige Mundartwörterbücher sind in der Lemmaauswahl bewußt historisch angelegt: Im Schweizerischen Idiotikon (1881 ff.) manifestiert sich ein historisch gewachsenes sprachliches Eigenbewußtsein gegenüber der binnendeutschen Standardsprache (vgl. Kühn 1980, 533); zudem fungiert dieses Mundartwörterbuch auch als spätmittelhochdeutsches und frühneuhochdeutsches Sprachstadienwörterbuch (vgl. Wanner 1960). Daneben sind es ‘mundartkonservierende’ Gründe, die zu einer B etonung der historisch orientierten Wortwahl herangezogen werden: So zielt das Frankfurter Wörterbuch (1971, 7—8; ‘Kernzeitraum 1814—1914’) auf eine historische Darstellung, „denn die Einwohner der Stadt sprechen keine Mundart mehr, die sich charakteristisch von einer allgemeinen Umgangssprache des Großraums Frankfurt absetzen ließe„; ebenso zwingt der „katastrophale Rückgang des Hamburger Platts in den letzten Menschenaltern“ die Lexikographen des Hamburgischen Wörterbuchs (1956, III) zu einer B evorzugung des historischen Wortschatzes. Auch die lexikologische Erklärung des ausgewählten Wortschatzes kann synchronisch-historisch bzw. -gegenwartsbezogen oder diachronisch ausgerichtet sein. In einer synchronisch orientierten B edeutungserklärung wird bewußt auf eine etymologisch-historische Herleitung und Erklärung der angesetzten Lemmata verzichtet, da man sich hier auf unsicherem B oden wähnt (vgl. Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch 1927, XI). So hat J. C. Dähnert (1781, 3) in seinem Platt=Deutschen Woerter=Buch „alle gelehrt seyn sollende etymologische und critische Muthmassungen, oder spielende Anmerkungen, von dem Ursprunge oder Verwandtschaften der Woerter [...] weggelassen.“ (Vgl. auch Tiling 1767—1771; Hügel 1873; Hertel 1895). In einigen Wörterbüchern ist die etymologische Erklärung daher „eine Zuthat“, auf die der Lexikograph „keinen
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
besonderen Wert gelegt haben will“ (Lexer 1862, VII); trotz dieser verbalen B eteuerungen fallen die ausgeführten B edeutungserklärungen zuweilen recht ausführlich aus.
Textbeispiel 41.1: Matthias Lexer, Kärntisches Wörterbuch. Leipzig 1862, 26 B esonders die frühen Mundartwörterbücher wollten nicht „aus einem Glossario zugleich ein Etymologicum“ machen (Richey 1755, XXXIV). Auch in gegenwartsorientierten Mundartwörterbüchern, deren Hauptanliegen die Mundartpflege und weniger eine exhaustive wissenschaftliche Inventarisierung und B eschreibung ist, wird weitgehend auf etymologische Angaben verzichtet (vgl. Conrath 1977; Endres 1979 u. a.). Trotz der Zurückhaltung gegenüber etymologischen Erklärungen enthalten die meisten Mundartwörterbücher etymologische Angaben, denn „den Ursprung der Woerter zu lehren, wo es sich ohne Zwang thun ließ, ist eine der Hauptabsichten der Verfasser gewesen“ (Tiling 1767, 6 1.). Häufig scheint dies den Lexikographen — im Zuge der historisch ausgerichteten Sprachwissenschaft — selbstverständlich gewesen zu sein, da sie hierzu keinerlei B egründungen abgeben (vgl. Schöpf 1866; Kehrein 1891), bisweilen ist ihnen „die etymologische Klarstellung“ ein „notwendiges Erfordernis“ (Frischbier 1882, IV). Da die Territorialwörterbücher des 19./20. Jhs. besonders dem Anspruch wissenschaftlicher Genauigkeit und Vollständigkeit genügen wollen, wird in ihnen selten auf etymologische und wortgeschichtliche Angaben verzichtet (vgl. z. B . Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch 1927 ff.). Dennoch werden auch hier etymologische Angaben — jedenfalls als programmatische Forderung — mit
Zurückhaltung gemacht (vgl. Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch B d. 2. 1943, VII), seitdem ein enger Zusammenhang zwischen wortgeographischen Erhebungen und etymologischen Deutungen nachgewiesen (vgl. Frings/Tille 1923, 212—214) und die B erücksichtigung laut- und wortgeographischer Ergebnisse (Wortkarten) zur Erklärung der Etymologie, der B edeutung und B edeutungsentwicklung zum mundartlexikographischen Postulat erhoben wurde (vgl. B erthold 1924; B erthold 1955; vgl. Art. 76, 1.3.). Aufgrund der unsicheren etymologischen Aussagemöglichkeiten (vgl. z. B . B randenburg-B erlinisches Wörterbuch 1976 ff., VI) oder auch aus „Raumgründen“ (Wörterbuch der elsässischen Mundarten 1899—1907, XV) verzichten einige wissenschaftlich ausgerichtete Territorialwörterbücher nahezu gänzlich auf etymologische Ausführungen. Zur grundsätzlichen Frage nach der wissenschaftlichen Seriosität etymologischer Angaben in Mundartwörterbüchern tritt schließlich das Problem des Erklärungsumfangs: So beschränkt man sich im Voralbergischen Wörterbuch (1960) auf die Nennung der mittelhochdeutschen Vorstufe, während im Preußischen Wörterbuch (1974 ff.) detaillierte etymologische Hinweise auf das Polnische, Kaschubische, Litauische und Altpreußische gegeben werden. Der Vergleich des Mundartlexems (bissen) in verschiedenen Wörterbüchern zeigt die unterschiedliche Handhabung etymologischer Herleitung und Erklärung.
Textbeispiel 41.2: Johann Carl Dähnert, Platt Deutsches WoerterBuch. Stralsund 1781, 42
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Textbeispiel 41.6: Johann B. Schöpf, Tirolisches Idiotikon. Innsbruck 1866, 42
Textbeispiel 41.3: Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch, Bd. I. Neumünster 1976, 613—614
Textbeispiel 41.4: Matthias Lexer, Kärntisches Wörterbuch. Leipzig 1862, 28 Textbeispiel 41.7: Vorarlbergisches Wörterbuch, Bd. I. Wien 1960, Sp. 363
Textbeispiel 41.5: Eberhard Tiling, Versuch eines bremischniedersaechsischen Woerterbuchs, Bd. I. Bremen 1767, 90
Textbeispiel 41.8: Johann Fr. Schütze, Holsteini- sches Idiotikon, Bd. I. Hamburg 1800, 106
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
und durch die unterschiedlichsten Faktoren beeinflußt. Die Heterogenität der Materialgrundlage ist dabei in erster Linie an die Planung, Entstehung und Geschichte der einzelnen Wörterbücher bzw. Wörterbuchunternehmen geknüpft (vgl. z. B . Rheinisches Wörterbuch 1928—1971; vgl. Art. 5 u. Art. 79., 3.). Oft steht am B eginn eines Wörterbuchunternehmens die private Sammlung eines Einzelnen. Dies gilt sowohl für Lokalwörterbücher (z. B . die von R. Schwander für das Wörterbuch der Elberfelder Mundart 1910) als auch für Territorialwörterbücher (z. B . die von H. A. Keller für das Schwäbische Wörterbuch 1904—1936). Im Oberhessischen Wörterbuch von W. Crecelius (1897— 1899) sind sogar die Materialien und Vorarbeiten dreier Lexikographen (Weigands, Diefenbachs, Hainebachs) synoptisch zusammengetragen. Häufig waren es zudem keine Philologen, sondern an der Mundart Interessierte, die diese Wörtersammlungen angelegt haben (vgl. Frischbier 1882 bis 1883; Hönig 1905). Diese mehr oder weniger systematischen Sammlungen einer Einzelperson waren aufgrund der Materialfülle unvollständig und aufgrund der differenzierten B eschreibungsanforderungen ergänzungsbedürftig, so daß sie oft einer gründlichen Korrektur bedurften (vgl. Woeste 1930). Aus diesem Grunde waren es sehr oft große Institutionen, die solche Sammlungen als Ausgangspunkt für eine systematische Erfassung der Dialekte förderten und nutzten (vgl. Textbeispiel 41.9: Hermann Frischbier, Preussi- sches Art. 11, 2.2.4.). In erster Linie sind es kulturWörterbuch, Bd. I. Berlin 1882, 84—85 politische (Kultusministerium für das Südhessische Wörterbuch 1965 ff.), kulturhistorische (Verein ‘Öcher Platt’ für Hermanns Während in einigen Mundartwörterbü1970), industrielle (z. B . B ASF für das Pfälzichern (z. B . Dähnert 1781) gänzlich auf etysche Wörterbuch 1965 ff.) oder besonders mologische Angaben verzichtet wird, bewissenschaftliche Institutionen und Gesellschränkt man sich in anderen Wörterbüschaften (z. B . Akademie der Wissenschaften chern auf die Angabe einer historischen und Literatur in Mainz für das Preußische Sprachstufe (z. B . Vorarlbergisches WörterWörterbuch 1974 ff.), die entweder finanzielbuch 1960). In den meisten Mundartwörterle Unterstützung oder wissenschaftliche B ebüchern werden jedoch mehr oder weniger treuung gewährten. Häufig haben diese Einausführliche wortgeschichtliche Erklärungen richtungen einen starken Einfluß auf das aufgezeigt, besonders dann, wenn die MundProgramm und die Anlage des Wörterbuchs art starke lexikalische Interferenzen aufweist ausgeübt (vgl. Art. 5), gelegentlich kam es so(vgl. Frischbier 1882). gar zu unüberbrückbaren Auseinandersetzungen zwischen institutioneller Veranke4. Materialgrundlage und rung und individueller lexikographischer B earbeitung (vgl. Westfälisches Wörterbuch, -beschaffung B eiband 1969, 10). Auf die Notwendigkeit Die Materialgrundlage und -beschaffung ist und den Nutzen einer institutionellen B inbei Mundartwörterbüchern sehr uneinheitdung bei der Wörterbuchherstellung ist lich (vgl. Löffler 1974, 69 f. und 119; Nieschon früh hingewiesen worden (vgl. Richey baum 1979, 353—356; vgl. Art. 11, 2.2.4.) 1755, XI ff.; Tiling 1767, 5 l.). Diese institu-
41. Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung
tionelle B etreuung und Finanzierung hat im B ereich der Mundartlexikographie zu einer vollständigeren und systematischeren Materialbeschaffung und -erklärung beigetragen. Nur wenige Mundartwörterbücher beruhen ausschließlich auf mundartlicher Sprachkompetenz eines oder mehrerer Lexikographen oder auf eigenständigen B efragungen und Erhebungen von Lexikographen. So beruht z. B . die Materialbasis des Akener Wörterbuchs nicht auf systematischer Abfragung, sondern führt den Wortschatz auf, den der Lexikograph B ischoff (1977, XII) „in den zwanziger Jahren selbst gebraucht, von seinen Eltern und Akenern, gleichaltrigen und älteren, gehört und in der Erinnerung bewahrt hat.“ (Vgl. auch B ock 1759; Schleef 1967). Auch J. C. Dähnerts PlattDeutsches WoerterBuch (1781, 3 l.) beruht auf einer mehr zufälligen, unsystematischen Informantenbefragung, denn Dähnert „sammlete vom Land und StadtMann, Handwerker und B auren, und es ward [ihm] nuetzlich, allerley Art Leute bey guter oder muerrischer Laune, in Geschaefften oder Taendeleyen, sprechen zu hoeren.“ Die meisten Mundartwörterbücher sind jedoch bei der Materialbeschaffung nicht auf die Sprachkompetenz oder die selbständige B efragung des Lexikographen beschränkt, sondern versuchen neben mündlichen Quellen durch die Auswertung schriftlicher Mundartbelege ihre Materialgrundlage zu erweitern: So sind schon im Bremisch-Niedersaechsischen Woerterbuch (Tiling 1767, 5 r. f.) „die Gerichtswörter der mittlern Zeit, sowol aus gedruckten und ungedruckten, das ganze ehemalige Erzstift B remen betreffenden, Documenten, Urkunden der Erzbischoefe etc. als auch aus alten oberkeitlichen Verordnungen, Gesetzen und Statuten [...] imgleichen aus den Chroniken, gesammelt.“ Neben historischen Dokumenten und lexikographischen Vorläufern wurde in der Folgezeit der Mundartlexikographie die Materialgrundlage vor allem durch eine Expansion der auswertbaren Textsorten und Themenbereiche erweitert: So ist das Holsteinische Idiotikon (Schütze 1800—1806) eine „Sammlung plattdeutscher, alter und neugebildeter Worte, Wortformen, Redensarten, Volkwitzes, Sprichwoerter, Spruchreime, Wiegenlieder, Anekdoten und aus dem Sprachschatze erklaerter Sitten, Gebraeuche, Spiele, Feste der alten und neuen Holsteiner“ (Untertitel).
Ein B lick in das Quellenverzeichnis eines beliebig ausgewählten Mundartwörterbuchs
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illustriert den thematischen Reichtum und gleichzeitig das thematische Durcheinander. Dies zeigt z. B . die unter dem B uchstaben M zitierten verschiedenartigen Quellen des Steirischen Wortschatzes 1903, XVI f.: Macher To p .: Medizinischstatistische Topographie des Herzogthums Steiermark von Dr. M. Macher. Graz 1860. M a l y: Flora (Pflanzenkunde) von Steiermark von Dr. J. K. Maly. Wien 1868. M ä n h a r d: Passologia, das ist Christliche Predigen und zugleich anmuthige B etrachtungen von dem Leyden Jesu Christ etc. durch P. Mänhardum, ord. min. s. Francisci Priestern. Grätz 1639. 7 Tle. M a n i f . 1711: Des i. ö. Herzogth. Steyermarck Manifest betreffend die verdaechtige Personen als Raubs, Diebs und BettlerGesindel. Grätz 1711. M a n i f . 1713: Des i. ö. Herzogth. Steyermark neues Manifest betreffend des landschaedige u. gefährliche Raub, Dieb, Mörder u. Ziggeiner Gesindl. Grätz 1713. M a r e t a P r o b .: Proben eines Wörterbuches der österreich. Volkssprache von Hugo Mareta (B ll. f. Landesk. v. NÖ. I. 1865 und Jahresber. d. Ober Gymnas. zu den Schotten in Wien 1861 und 1865). M a r i a Tr o s t Fa m a: Marianische, gantz neu in sieben Jahrs-Ruessen eroeffnet schallende Fama, d. i. B eschreibung der Gnaden durch Mariam in Maria=Trost von 1708 bis 1714 ertheilet. Wien= Neustadt 1725. Maurer F r o h n h .: Geschichte der Frohnhöfe, der B auernhöfe und der Hofverfassung, von Maurer. Erlangen 1862. Megerle H s: Der Stubenbergerische Hoffnungs=Saal in Passai, d. i. eine allg. hertzflammende Andacht u. s. w. auffgericht durch F. J. Megerle, Pfarrern bei St. Catharein i. Ossenegg. Grätz 1688. M e i x n e r 1: Mundartliche Ausdrücke u. Redensarten a. d. Gegend von St. Georgen an d. Stiefing, gesammelt v. A. Meixner. Hdschr. d. L.A. M e i x n e r 2: Wörterbuch der Umgangssprache zu St. Georgen a. d. Stiefing. Hdschr. d. L.A. M e i x n e r 3: Sammlung von Worten u. Ausdrükken aus dem Stiefingthale u. Umgebung von A. Meixner. Hdschr. d. L.A. M e i x n e r S. u. G.- Des Volks Sagen und Gebräuche. Gesammelt u. zusammengeschrieben 1864 von Kaplan Ant. Meixner zu St. Georg. a. d. St. Hdschr. d. L.A. Meixner L i e d . - S a m m l .: LiederSammlung, enthaltend hundert Volks- u. andere Lieder, ergänzt von A. Meixner. Hdschr. des L.A. M e i x n e r B k l d .: Sammlung steirischer Volkslieder von A. Meixner dem hist. Verein f. Stmk., eingesendet 1872. Hdschr. des L.A. M e l l i n H a u s m .: Die Hausmittel, eine Sammlung der besten und gemeinnützigsten Mittel die Gesundheit des Menschen zu erhalten. Von Chr. Jac. Mellin. Grätz 1792. M e r k u r: Gräzer Merkur, politische Zeitung. Gräz 1780—1792.
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
M e r t z e n - F r e y t .: Andaechtige Mertzen-Freytaeg zu Ehren des an einem aus denenselben am Creutz für uns sterbenden Heyland Jesu Christi. Von der catechetischen B ibliothec soc. Jesu. Grätz 1742. Michelitsch C h r i s t .: Der andaechtige zum Altar angewiesene, die Frucht d. h. AltarsSacrament zu ueberkommen verlangende Christ. Von A. R. P. Melch. Michelitsch. 7 Bde. Graz o. J. Michelitsch G n a d s c h .: Marianischer Gnadenschall des Gnaden B ilds Maria Huelf zu Graetz von 1611 bis 1737. Von Melch. Michelitsch. Grätz 1739. M i n d e r e r I n s t r.: Von hitzigen Fiebern, Hungarischen Suchten, Peteckhen u. s. w. Khurtze Instruction auß weil. Doris Minderer Capiteln. Grätz 1633. M i t t l . d. h. B . f. St.: Mittheilungen d. hist. Ver. f. Steiermark. Graz 1850 u. ff. M i t t l . d. J. B .: Mittheilungen d. steiermärkischen JagdschutzVereines. Graz 1882 u. ff. M i t t l . d. ö. A. B .: Mittheilungen d. österreich. Alpen=Vereines. Wien 1863 u. ff. M o r r e N u l l .: „’s Nullerl“, Volksstück mit Gesang von C. Morre. Graz 1885. M u c h a r G e s c h .: Geschichte des Herzogthums Steiermark von Dr. A. v. Muchar. Graz 1844—74. 9 Bde. Muchitsch A n t .: Petern Muchitschen,
Probsten zu Poellau, Antwort auf den B ericht, den die Wuertemberg. Theologen auf den erst. Theil der Schulführung gethan. Grätz 1590. M u c h i t s c h P e a d .: Anderer Theil Paedagogiae oder Schulführung der Wuertemberg. Theologen, gestellt durch P. Muchitsch. Grätz 1589. M. Z e l l . 1744: Cellerisches Salve Regina oder B eschreibung der Gutthaten v. 1730—39. B eschrieben durch einen Professor des Stüftes St. Lamprecht. v. O. u. J.
Zudem werden in zunehmendem Maße wissenschaftliche Monographien, publizistische Regionalbeiträge, private Einsendungen, handschriftliche Wörtersammlungen und literarische Werke eingearbeitet (vgl. Schütze 1800, XIX—XX). Die wissenschaftlich orientierten Mundartwörterbücher des 19./20. Jhs. versuchen durch eine systematische Erhebungstechnik die Materialsammlung zu erweitern und zu vervollständigen. Textbeispiel 41.10 zeigt einen Ausschnitt aus einem Fragebogen, eine der frühesten Methoden für eine systematische Erhebung der Mundarten. Dabei wird die Forderung erhoben, daß „alle Methoden der Materialsammlung für Mundartwörterbücher [...] nicht nur die gleiche B erechtigung haben, sondern auch nebeneinander betrieben werden müssen“
Textbeispiel 41.10: Fragebogen für das HessenNassauische Wörterbuch Nr. 1, Seite 1 und 4
41. Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung
(Große 1958, 317). So setzt sich das B elegmaterial des Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs (1976, IV) aus mehreren Sektoren zusammen: 1. Direktaufnahmen von Wörterbuchmitarbeitern oder Gewährsleuten, deren Aufzeichnungen bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. 2. Indirekte Aufnahmen durch Fragebogenerhebungen, vor allem in den Jahren von 1950—1959. 3. Gedruckte dialektologische Untersuchungen und Wortschatzsammlungen von brandenburgischen Mundarten und des Berlinischen. 4. Heimatliteratur, vor allem Kreiskalender und Lokalzeitungen und -zeitschriften, sowie Veröffentlichungen von Mundartschriftstellern. 5. Exzerptionen aus historischen Quellen und aus Archiven (in Auswahl). 6. Tonbandaufnahmen, die vor allem 1962/64 in etwa 100 Orten des Arbeitsgebiets durchgeführt wurden.
Trotz, oder gerade wegen der exhaustiv angelegten Materialbeschaffung ist die Materialgrundlage der Mundartwörterbücher äußerst heterogen und wenig repräsentativ. Die unterschiedliche B ewertung und Handhabung mündlicher und schriftlicher Informationsquellen (z. B . Informantenbefragung vs. schriftliche Quellen), die Auswertung unterschiedlichster Textsorten (z. B . literarische Texte vs. Gebrauchstexte), die B erücksichtigung divergenter Themen (z. B . Mitteilung d. Steiermärkischen Jagdschutz-Vereins vs. Rezeptbuch; vgl. Steirischer Wortschatz 1903) und die Uneinheitlichkeit der Erhebungsmethode (z. B . protokollarische Direktaufnahme vs. Tonbandaufzeichnung) können als Gründe für die uneinheitliche Materialbasis bisheriger Mundartwörterbücher angesehen werden. Auch die wissenschaftlich orientierten Territorialwörterbücher weisen diese Mängel auf (vgl. Niebaum 1979, 353 ff.).
5.
Zielsetzungen
Registrieren, Inventarisieren und Explizieren semantischer Differenzen zwischen Standardsprache und Dialekt bilden die Grundmotivation jeglicher Mundartlexikographie. Trotz dieser gemeinsamen Grundmotivation sind die postulierten Zielsetzungen der Mundartwörterbücher äußerst divergent. Zunächst lassen sich die Mundartwörterbücher nach ihrer Zielsetzung in solche unterscheiden, in denen die zu kodifizierenden Lexeme ausdrucks- und inhaltsseitig nur in der jeweiligen Mundart existieren oder
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aber ausdrucksseitig der Standardsprache und der Mundart gleichermaßen zuzurechnen, inhaltsseitig jedoch unterschieden sind, und in solche, die den Gesamtwortschatz eines Mundartraums enthalten. Terminologisch werden diese beiden Typen von Mundartwörterbüchern gelegentlich als Idiotikon und Dialektwörterbuch unterschieden, so daß Mundartwörterbuch der generische Terminus ist. B esonders die älteren Mundartwörterbücher (vgl. zu den im Artikel genannten Idiotika u. a. auch Prasch 1689; Meisner 1705; B erndt 1787; Zaupser 1789; Reinwald 1793; Schmid 1795; Schmidt 1800; Stalder 1806; Mueller 1836; Vilmar 1868; Schultze 1874; Köppen 1877; Spiess 1881) verstehen sich als Idiotika: So betont Richey (1755, XXXIII u. XXXIV), daß er „keine Woerter oder Redens-Arten mit eingetragen, die auch im Hoch-Teutschen gebraeuchlich sind, und sich von demselben bloß durch die Aussprache unterscheiden. [...] Von Woertern, die mehr als einerley bedeuten, [hat er] diejenige B edeutung weggelassen, die sie mit dem Hoch=Teutschen gemein haben, und nur denjenigen Gebrauch angefuehret, der bey uns eigen ist.“
Andererseits werden „umgangssprachliche oder geradezu schriftliche Entlehnungen in das Wörterbuch aufgenommen, wenn sie heute in der Gesamtheit oder in bestimmten Teilen des Mundartgebietes als allgemein gebräuchlich gelten können“ (Pfälzisches Wörterbuch 1965, XIII). Vielfach wurden auch fachsprachliche Ausdrücke in die Mundartwörterbücher aufgenommen, und zwar aus denjenigen Standes- und B erufssprachen, die im jeweiligen Mundartgebiet aufgrund einheimischer Zünfte, Handwerker und B etriebe gesprochen wurden, die „volkstümlich geworden sind oder gar in der Mundart eine besondere B edeutung erhalten bzw. in ihrer Form gewisse charakteristische Umgestaltungen erfahren haben“ (Vorarlbergisches Wörterbuch 1960, VIII). So sind im Wörterbuch der Elberfelder Mundart (1910) aufgrund der ortsansässigen Webereien und Textilbetriebe eine große Anzahl von Fachausdrücken der Webersprache verzeichnet: Luppe, Lupe, Fadenzähler (Web.) Reetkamm, Riet, leiterartiges Gestell zum gleichmäßigen Auseinanderhalten der Kettfäden und zum Herausziehen d. Schußfadens (Web.) Schoat, Mz. Schöate, Vkl. Schöatschen Schoß; Gewebe zwischen Lade und Brustbaum (Web.)
Das Idioticon Hamburgense enthält Fachwörter, “die zur SchiffFahrt gehoeren, und durch die haeuffig anwesenden See-Leute
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
bey dem gantzen Volcke durchgaengig werden” (Richey 1755, XXXIII), z. B.:
Textbeispiel 41.11: Michael Richey, Idioticon Hamburgense. Hamburg 1755, 5—6 Einige Mundartwörterbücher enthalten „gesunkenes Kulturgut“ insofern es in jedem Dialekt „fremde Worte“ gibt, „welche durch die gebildeten oder durch die Kirchen= und Statsterminologie, durch Juristerei und Medizinerei in das Volk gekommen sind“ (Kehrein 1891, II). Häufig sind es auch fremdsprachliche Interferenzen, die den mundartlichen Wortschatz erweitern. So blieben viele Ausdrücke französischer Herkunft, „die seit dem 17. Jh. ins Dt. übernommen wurden, [...] nicht auf die Sprache der Gebildeten beschränkt, sondern sind von dorther auch in die Mundarten eingedrungen“ B( ach 1970, 311). Hermanns (1970) verzeichnet im Aachener Sprachschatz beispielsweise: Hussjé, m. Gerichtsvollzieher [frz. huisier] Forschett, f. Gabel [frz. fourchette] Kadó, n. Zugabe [frz. cadeau]
Schütze (1800, XI) hat schon sehr früh auf die problematische Unterscheidung von Dialektwörterbuch und Idiotikon hingewiesen und ist überzeugt, „daß ein ganz reines Idiotikon nicht denkbar ist; das wenige ganz Eigne ist doch immer mit Worten gemengt, die in andern Laendern [...] auch und oft eben so ueblich sind.“ Selbst innerhalb eines Wörterbuchunternehmens gibt es in bezug auf die Art der Kodifikation Unstimmigkeiten: So plante Jungandreas für das Niedersächsische Wörterbuch (1953, IX—X) aus Praktikabilitätsgründen auch die Kodifikation neuhochdeutscher Lexeme (z. B . Admiralitätsflagge, Advokatentasche); sein Nachfolger Wesche (1958, III) schloß eine standardsprachliche Lemmatisierung aus. Noch problematischer als die Gewichtung von dialektaler und standardsprachlicher Kodifikation ist die B erücksichtigung verwandter sozialer Sprachvarianten im Mundartwörter-
buch. Diese Frage ist eng an die Definition des Mundartbegriffs geknüpft (vgl. Art. 21 u. 22). In fast allen Mundartwörterbüchern wird implizit oder explizit auf die „echte B auernmundart als eigentliche B ehüterin und B ewahrerin ältester Sprachgestaltung“ (Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich 1963, 20; vgl. auch schon Richey 1755, .L) hingewiesen, dennoch wurde der mundartliche Wortschatz schon immer als offenes und von anderen Sprachvarietäten stark beeinflußtes System betrachtet; „namentlich konnte die Umgangssprache der Städter wie überhaupt der höheren Schichten nicht ausgeschlossen werden, beruht doch das Hausdeutsch zumeist auf der Mundart“ (Müller-Fraureuth 1911, VI). Sehr früh wurde dabei auf die vertikale Schichtung der Mundartlexik verwiesen: Nach Schütze (1800, XIV) umfaßt die Mundart die „Poebelsprache, die der sogenannte gemeine Mann spricht“ und die Nicht-Pöbelsprache; „die feine Welt in Hamburg, Altona, Kiel und Flensburg spricht sie gewoehnlich von Jugend auf in vertrauten Zirkeln.“ Obwohl die Abgrenzungen zwischen der Dialektlexik und anderen lexikalischen Sprachsystemen (Umgangssprache, Sondersprache usw.: vgl. Art. 52 u. 87) äußerst schwierig und problemreich sind, bemühen sich die wissenschaftlich ausgerichteten Mundartwörterbücher, möglichst alle vergangenen und gegenwärtigen Sprachschichtungen, die in irgendeiner Form die mundartliche Lexik beeinflußt haben bzw. noch beeinflussen, zu berücksichtigen (vgl. Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich 1963, 19). Im Vergleich zu dieser quantitativen Ausdehnung der lexematischen Grundlage scheint eine B estimmung des Mundartwortschatzes unter funktionalen Gesichtspunkten erfolgversprechender: Dähnert (1781, 3 l.) verzeichnet die „heutige platte Sprache [...] als eine haeusliche Sprache der Vornehmern, als die verstaendlichste in Handthierungen und Gewerben, und als die gelaeufigste des gemeinen Mannes.“ Weiterhin lassen sich Mundartwörterbücher danach unterscheiden, ob sie streng wissenschaftlichen Ansprüchen genügen wollen. Wissenschaftlich orientierte Wörterbücher (z. B . schon Schmid 1795) werden auf der Grundlage umfangreicher Materialsammlungen unter Anwendung lexikologischer und lexikographischer Prinzipien und Methoden erstellt. In ihnen soll der Wortschatz eines eingegrenzten Arbeitsbereichs
41. Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung
möglichst umfassend registriert, lexikographisch kodifiziert und nach lexikalsemantischen Aspekten beschrieben werden. Aufgrund der dazu notwendigen langfristigen Planung und Ausführung sind noch nicht alle wissenschaftlich ausgerichteten Mundartwörterbücher vollständig erschienen (vgl. Art. 79, 2.). Jedes dieser Wörterbücher spiegelt ein Stück Wissenschaftsgeschichte wider. Im Gegensatz zu den wissenschaftlich orientierten Mundartwörterbüchern betonen einige Lexikographen „nicht die Absicht gehegt zu haben, eine gelehrte, sondern nur eine praktische Abhandlung veröffentlichen zu wollen“ (Hügel 1873, 6). Diese praxisorientierten Mundartwörterbücher (vgl. z. B . Autenrieth 1899; B aum 1972; B uurman 1962—1975; Dähnert 1781; Dang 1953; Endres 1979; Fulda 1788; Gehle 1977; Heinrichs 1978; Hönig 1905; Hügel 1873; Richey 1755) fungieren als lexikographische Verstehenshilfen (vgl. Autenrieth 1899, 6) (1) zur Festigung und Vervollkommung der Mundartverwendung im täglichen Gebrauch (vgl. B uurman 1962, VIII), (2) zur Produktion mundartlicher Schriftstücke (vgl. Fulda 1788, 3; Hönig 1905, XIII), (3) zur Rezeption der Mundartliteratur (vgl. Vollbeding 1806; B aum 1972, 5) oder (4) zum Verständnis älterer Sprachzeugnisse (Urkunden, Chroniken) (vgl. Richey 1755, V; Dähnert 1781, 2 r. f.). Die ersten Mundartwörterbücher im niederdeutschen Raum (vgl. Richey 1755; Strodtmann 1756; B ock 1759; Tiling 1767 bis 1771; Dähnert 1871; Hennig 1785; Schütze 1800—1806; Vollbeding 1806 u. a. m.) werden zunächst einmal als B eitrag zur einheitlichen deutschen Standardsprache verstanden, denn „das Wesen der Haupt= Sprache lieget ja in allen MundArten zum Grunde, und muß darin anerkannt und aufgesuchet werden“ (Richey 1755, IV); das Mundartwörterbuch ist „ein Werk, worin man das Seinige zur Erleichterung eines so lange sehnlich gewuenschten allgemeinen deutschen Woerterbuchs beytragen wollte“ (Tiling 1767, 5 l.). Die meisten älteren niederdeutschen Mundartwörterbücher tragen zudem starke restaurative Züge und sind als Reaktion auf die Ausbreitung des Hochdeutschen im niederdeutschen Sprachgebiet entstanden (vgl. Richey 1755, XLIV). Schütze (1800, XIV) bezweckte mit dem Holsteinischen Idiotikon, daß man das Holsteinische „sich reiner und richtiger zu sprechen gewoehnte [...], daß man die mit Unrecht ver-
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nachlaessigte niederdeutsche Sprache zur B üchersprache, was sie ja ehmals auch in unserm Holstein war, wieder hinanhöbe.“ Die älteren Mundartwörterbücher entstehen also zunächst aus „ihrer Gegensätzlichkeit zum Wörterbuch der deutschen Schriftsprache“ (Scholz 1933, 83; vgl. Schophaus 1973, 194), d. h., ihren eigentlichen Ausgangspunkt gewinnt die Mundartlexikographie zu der Zeit, „welche sich um die Feststellung unserer neueren Schriftsprache so redlich bemühte“ (v. Raumer 1870, 244; zur Geschichte der Mundartlexikographie vgl. Richey 1755, XIV—XXIX; v. Raumer 1870, 242—247; Socin 1888, 439—444; Scholz 1933; Mensing 1939; Schophaus 1973, 193—198). Die meisten Mundartlexikographen wollen durch die Kodifikation des mundartlichen Wortschatzes teils aus wissenschaftlichen Gründen (Wörterbuch der elsässischen Mundarten 1899—1907, III), teils aus kulturhistorischen Motiven (Hermanns 1970, XI) einen B eitrag zur Sicherung und Konservierung der Mundart leisten. Dabei geht es nicht nur um rein sprachliche Gesichtspunkte: Das Mundartwörterbuch wurde als „Sprach- und Sittenbuch“ verstanden, in dem „die Erläuterung und Aufklärung vieler einheimischen Sitten und Gebraeuche“ (Schütze 1800, III) sowie „die Geschichte der Sprache und Sitte“ (Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch 1927, IV) gegeben wird; „die Kenntnis der provinziellen Dialekte [...] setzt uns in den Stand, den Charakter des Volkes zu betrachten“ (Schmid 1795, 113). Diese Symbiose von Sprache und Volkskunde im B ereich der Mundarten führt zu einer Funktionserweiterung des Mundartwörterbuchs, denn es „wird von vielen Landsleuten nicht etwa bloß zum Nachschlagen benutzt wie sonst wohl Wörterbücher, sondern geradezu gelesen, fast Zeile für Zeile“ (Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch 1927, XIV); das Mundartwörterbuch ist ein „Lesebuch“ (Dang 1953, 6) oder „Hausbuch“ (Niedersäschsisches Wörterbuch 1953, X). Dieser unterhaltende und belehrende Charakter (vgl. Schütze 1800, III) führt in seiner extremen B eanspruchung zur Exaltation: G. A. Seilers Beitrag zum schweizer-deutschen Idiotikon ist zugleich „ein Wörterbuch für Schule und Haus“ (Untertitel); „[...] es möchte auch in der Familie Eingang finden [...], möchte denkenden Müttern namentlich einen Stoff bieten, mit dem sie der öffentlichen Erziehung wirksam unter die Arme greifen könn-
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
ten, zu Nutz und Frommen der Jugend, zur eigenen Erholung und Verjüngung.“ (Seiler 1879, XII—XIII)
Die nachfolgenden Ausschnitte aus verschiedenen Mundartwörterbüchern illustrieren die Vielzahl und Art und Weise volkskundlicher Informationen und Erklärungen:
Textbeispiel 41.12: Johann S. Dang, Darmstädter Wörterbuch. Darmstadt 1953, 207—208
Textbeispiel 41.13: Schleswig=Holsteinisches Wörterbuch, Bd. I. Neumünster 1927, Sp. 441
Textbeispiel 41.14: Johann Fr. Schütze, Holsteini- sches Idiotikon, Bd. III. Hamburg 1802, 88—90
41. Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung
Textbeispiel 41.15: Gustav A. Seiler, Die Baseler Mundart. Basel 1879, 266 Einige wenige Mundartwörterbücher sind durch eine bescheidene Zielsetzung gekennzeichnet. Sie verstehen sich als Materialsammlung für eine weitere wissenschaftliche Verarbeitung (vgl. B irlinger 1864, VII; Gehle 1977, IV), andere stehen unter dem Leitwort „Sprache ist Heimat“ (Krämer 1979) und verstehen sich als erinnerndes Symbol der Heimatverbundenheit (vgl. Krauss 1970, VII).
6.
Kodifikationsprinzipien
Da die Mundart in erster Linie eine Erscheinungsform der gesprochenen Sprache ist, tritt bei der Kodifikation des mundartlichen Wortschatzes das Problem auf, nach welchen Konventionen die Mundart verschriftlicht und in welchem Umfang die mundartliche Lautung oder ob sie überhaupt bei der Lemmatisierung ausgedrückt werden soll (vgl. auch Art. 82, 1.). Dabei müssen im besonderen Maße B enutzerinteressen berücksichtigt werden, „um das B uch auch für Ungelehrte lesbar zu machen“ (Wörterbuch der Elberfelder Mundart 1910, 8). Aus diesem Grunde schließen sich die Mundartwörterbücher der hochsprachenahen Dialektgebiete in der Orthographie „grundsätzlich unserer hochdeutschen nach Möglichkeit an“ (Wörterbuch der Elberfelder Mundart 1910, 8).
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In den ersten niederdeutschen Mundartwörterbüchern wird folgende Regelung befolgt: Der schriftsprachliche Mundartwortschatz ist orthographisch den jeweiligen Quellen verpflichtet, während das nichtschriftsprachliche mundartliche Lexem so geschrieben ist, „wie es von dem groeßten Theil ausgesprochen wird“ (Dähnert 1781, 4 r.). Umgekehrt gilt für diese älteren Mundartwörterbücher auch, daß die Wörter so gesprochen werden, „wie sie geschrieben sind“ (Danneil 1859, VII). Dazu werden in der Regel Lauttabellen (vgl. Damköhler 1927, IX bis X) oder eine generalisierende B eschreibung der einzelnen Lautungen (vgl. Danneil 1859, VII—X) als zusätzliche Hilfsmittel angeführt. Die Form der Lemmatisierung hat in der älteren Mundartlexikographie somit nicht nur einen „Ordnungswert“ (Wörterbuch der elsässischen Mundarten 1899, VII), da hier die orthographische Information mit der phonetischen zusammenfällt. Dieses Prinzip der Lemmatisierung muß für die niederdeutsche Wörterbuchschreibung als charakteristisch angesehen werden. Da es nie eine gesamtniederdeutsche Rechtschreibung gegeben hat und sich der niederdeutsche Sprachraum vom Hochdeutschen in lexikalischer Hinsicht sehr stark unterscheidet, ist es nicht verwunderlich, daß der mundartlexematische Vergleich zwischen hoch- und niederdeutschen Mundartwörterbüchern einerseits und zwischen verschiedenen niederdeutschen Mundartwörterbüchern andererseits sehr schwer ist. Die Uneinheitlichkeit des Lemmaansatzes in niederdeutschen Mundartwörterbüchern zeigt sich darin, daß die verschiedenen Wörterbücher unterschiedliche orthographische B ehelfsnotierungen übernehmen: So verwendet das Mecklenburgische Wörterbuch (1942 ff.) F. Reuters Rechtschreibrichtlinien, das Schleswig-Holsteinische Wörterbuch (1927 bis 1935) ist nach den ‘Lübecker Richtlinien’ orientiert, das Hamburgische Wörterbuch (1956 ff.) ist B orchlings (1934) orthographischen Grundsätzen verpflichtet und B öning (1970, VIII) berücksichtigt die Rechtschreibgrundsätze von Saß (1935); vielfach beruht die Notation auf eigenen Ansätzen (vgl. Schambach 1858, XI). Vgl. die nachfolgend aufgeführten nen Schreibweisen für Hintertür:
verschiede-
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VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Achterport Richey 1755, 2; SchleswigHolsteinisches Wörterbuch 1927, 35 Achterporrt Dähnert 1781, 3 Achterpoort Schütze 1800, 16; Teut 1959, 32; B öning 1970, 1 achterpôrte Schambach 1858, 1 Achterpuoten Frederking 1939, 3 Achterpuurt Mecklenburgisches Wörterbuch 1942, 54 Achterporte Niedersächsisches Wörterbuch 1965, 57
Das Westfälische Wörterbuch (Beiband 1969, 62) versucht der unsicheren Handhabung orthographischer Prinzipien dadurch zu entgehen, daß zur Lemmatisierung die sprachhistorisch älteste Form, aus der also die anderen hervorgegangen sind, ausgewählt wird und „[...] wenn aber keine der jetzigen Formen der Ursprung für alle anderen ist, dann wird aus den verschiedenen mundartlichen Formen eine rekonstruiert, auf der sie alle beruhen, wobei etwa aus der einen Mundart der Vokalstand, aus einer anderen die Nebensilben übernommen werden.“
Wegen dieser Uneinheitlichkeit der orthographischen Notierung ist es nicht erstaunlich, daß Jungandreas für das Niedersächsische Wörterbuch (1953 ff.) neben der niedersächsischen Notierung eine neuhochdeutsche vorsah und gerade im niederdeutschen Raum Wörterbücher geschaffen wurden, die den mundartlichen Wortschatz von der neuhochdeutschen Schriftsprache her in Form eines zweisprachigen Wörterbuchs erschließen: Hochdeutsch alsdann Ostwestfalen Warburger Höhe alsdann, dono
Westmünsterland Ibbenbüren dornau
Ravensburg Lippe ösdänn
Mark = Bochum Holstein Hamburg Münster asdann; do-achterno! hernocher!
denn sodenn hierup
(Gehle 1977, 9—9 a)
Dabei kann ein und dasselbe Mundartlexem auf „fünferlei Weise geschrieben werden“ (Westfälisches Wörterbuch, B eiband 1969, 64). Im Westfälischen Wörterbuch wird die verschiedenartige Schreibung an den Wörtern Weg und Hirt erläutert:
Textbeispiel 41.17: Otto Buurman, Hochdeutschplattdeutsches Wörterbuch, Bd. I. Neumünster 1962, Sp. 239 Im mitteldeutschen, teilweise auch im oberdeutschen Sprachgebiet hat man sich hingegen sehr früh an die Schriftsprache angelehnt. Dafür gaben in erster Linie B enutzerinteressen den Ausschlag: „Zunächst gebot schon die Verschiedenartigkeit des Lautstandes in den einzelnen Untermundarten die Voranstellung der ein einheitliches Gepräge tragenden und allgemein bekannten Schriftsprache, so daß das Aufsuchen der einzelnen hochdeutschen Wörter keine Schwierigkeiten verursacht. Solche dialektische Ausdrücke hingegen, die sich nicht unmittelbar in die Schriftsprache übertragen lassen, sind in der überlieferten Form angeführt“ (Hertel 1895, VI).
Textbeispiel 41.16: Westfälisches Wörterbuch, Beiband. Neumünster 1969, 64
Dieses Lemmatisierungsprinzip haben alle Mundartwörterbücher der hochsprachenahen Dialektgebiete in der Folgezeit über-
41. Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung
nommen und nur in Nuancen modifiziert (vgl. Niebaum 1979, 356 f.). Im oberdeutschen Dialektbereich dominiert — unter dem Einfluß der „etymologischen Orthographie“ Schmellers (1821, 8—20) — ein sprachhistorisch orientierter Lemmaansatz. (Vgl. Schweizerisches Idiotikon 1881, 12; Wörterbuch der elsässischen Mundarten 1899, V). Eine Kompromißform zwischen historisch-etymologischer und neuhochdeutscher Schreibung gibt das Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (1963, 17): Hier erfolgt die Lemmatisierung nach drei Gesichtspunkten, „die bei der jeweiligen B evorzugung konkurrierend nebeneinander herlaufen“: (1) Größtmögliche Angleichung an die schriftsprachliche Entsprechung; (2) größte räumliche Verbreitung; (3) größte Annäherung an die etymologisch beste Ausgangsform. In bezug auf die Lemmaordnung existieren in der Mundartlexikographie zwei Prinzipien. Die meisten Mundartwörterbücher sind alphabetisch systematisiert. Die streng alphabetische Lemmatisierung ist in einigen Fällen durch lautgeographische oder wortbildungsmorphologische Gesichtspunkte gebrochen. Neben der streng alphabetischen Systematisierung (Mecklenburgisches Wörterbuch 1942 ff.) gibt es Wörterbücher, die in der Systematik vom Alphabet abweichen, weil in bestimmten Dialektgebieten die Anlaute der Lemmata „nur mit Künstelei und endlosen Verweisungen zu scheiden sind“ (B adisches Wörterbuch 1925, 4). So sind im Badischen Wörterbuch (1925 ff.) beispielsweise die B uchstaben B und P, D und T, F und V zusammengefaßt. Unter wortbildungsmorphologischem Gesichtspunkt kann die alphabetische Reihenfolge der Stichwörter unterbrochen sein, „um nicht zu oft Verwandtes auseinanderzureißen“ (Westfälisches Wörterbuch, B eiband 1969, 62; vgl. schon Schmid 1795, 120). Dadurch entstehen Wortgruppen, die im Westfälischen Wörterbuch (B eiband, 1969, 63) folgendermaßen geordnet sind: Grundwort, Diminutiva, Komposita (Partikelkomposita ...), Ableitungen; die gruppeninterne Gliederung ist alphabetisch; z. B.: Hūs mit Hǖseken, dann Füer-hūs, Füer-hǖseken; Hūs-abetēke, hūs-bakken, Hǖseken-snāgel, Hūsweark; Gehǖse, ümme-hǖseken, hūsen, be-hūsen, hūsēren, Husērer, ūt-hǖsig, hǖslik, Hǖsling, Hǖster, hǖsteren, hǖsterlik, Be-hūsunge.
Neben der alphabetischen Lemmatisierung hat Schmeller (1827, VII) die „etymologisch-
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alphabetische“ Anordnung in die Mundartlexikographie eingeführt (Schmellersche Lemmatisierung; vgl. Art. 79, 3.). Nach diesem Prinzip werden die Lemmata nach ihrer Stammsilbe und alphabetisch so geordnet, „daß der Vocal oder Diphthong der Stammsylbe erst nach dem oder den ihm folgenden Consonanten in B erücksichtigung kommt.“ Schmellers Prinzip der etymologisch-alphabetischen Anordnung wurde mit Verbesserungen später im Schweizerischen Idiotikon (1881 ff.) und im Wörterbuch der elsässischen Mundarten (1899—1907) angewendet. So folgen etwa im Wörterbuch der elsässischen Mundarten (1899, 90 ff.) auf FaCH, FeCH, ViCH, FuCHS, FaCHT usw. (vgl. Art. 79, Textbeispiel 79.6). Unter den jeweiligen Lemmata sind zudem dazugehörende Ableitungen und Zusammensetzungen angeführt; z. B . unter FuCHS die Ableitungen FuCHSen, verFuCHSen, FuCHSer usw. und die Zusammensetzungen DübelFuCHSer, PfennigFuCHSer usw. Obwohl durch die sprachhistorisch orientierte Systematisierung alles etymologisch Zusammengehörige beieinandersteht, erschwert diese Art der Lemmaordnung den handlichen Zugang zum Wörterbuch. Aus diesem Grunde wurde zumindest das Bayerische Wörterbuch (Schmeller 1827—1837) durch den Zusatz eines streng alphabetischen Registers (von K. G. Frommann) besser benutzbar. Hinsichtlich der Interpretamentinformation und -gestaltung unterscheiden sich die einzelnen Mundartwörterbücher beträchtlich. Im Aufbau der Wörterbuchartikel spiegeln sich implizit vor allem die lexikalsemantischen Prinzipien und Methoden. Zudem richten sich die Prinzipien der Interpretamentinformation nach den Zielsetzungen, die mit den einzelnen Wörterbüchern verbunden sind. So werden für eine wissenschaftlich orientierte Interpretamentaussage eines Mundartwörterbuchs Angaben zur Lautung, Grammatik und Wortbildung, zur sozialen, regionalen und temporalen Verwendung, über B elegnachweise in Zitaten, Redewendungen und Sprichwörtern, zur semantischen Differenz zwischen Mundart und Standard, zur Synonymik und Etymologie und nicht zuletzt zur Sach- und Volkskunde verlangt (vgl. z. B . Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich 1963, 1—30; vgl. die Textbeispiele 79.4. bis 79.13. in Art. 79). Mundartwörterbücher mit praktischer Zielsetzung verzeichnen in erster Linie semantische Differenzen zwischen Mundart
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
718
und Standard und fungieren gewissermaßen als mundartlich-standardsprachliche ‘Übersetzungswörterbücher’ (vgl. z. B . Hönig 1905, Heinrichs 1978). In Einzelfällen sind Mundartwörterbücher sogar mundartlich-standardsprachlich und standardsprachlichmundartlich aufgebaut.
Textbeispiel 41.18: Albert Weber/Jacques M. Bächtold, Zürichdeutsches Wörterbuch. Zürich 1968, 105 und 296 Die semantische Information zu den mundartlichen Lemmata besteht dabei lediglich in der Angabe einer standardsprachlichen synonymen Wort- oder Satzparaphrase. gleckle (7) Ohrringe, Glöcklein. gleck, f. (sp.) das Gelege frisch geschnittenen Getreides. (Autenrieth 1899, 54) Schet, Schatten schallig, Stoff, der durch Licht bzw. Sonne die Farbe verloren hat, ist schallig geworden (Endres 1979, 62)
7.
Perspektiven der Dialektlexikographie
B ei der Typisierung der Mundartwörterbücher zeigt sich immer wieder die Uneinheitlichkeit und damit die Revisionsbedürftigkeit der Mundartlexikographie in Theorie und Praxis. Eine Verbesserung der Dialektlexikographie müßte in erster Linie bei folgenden Punkten ansetzen: (1) Zwischen den einzelnen Wörterbuchunternehmen sollte ein stärkerer Informationsaustausch und eine größtmögliche Abstimmung der theoretischen und praktischen Konzeption stattfinden (vgl. die B emühungen zwischen dem Südhessischen Wörterbuch 1965 ff. und dem Pfälzischen Wörterbuch 1965 ff.). (2) Die Provenienz des Materials aus schriftlichen und mündlichen Quellen sowie die Datierung des Materials müßten besonders gewichtet und gekennzeichnet werden (vgl. Niebaum 1979, 369). (3) Auf die Gewährleistung einer Repräsen-
tativität des Materials müßte durch die B erücksichtigung textsortenspezifischer und textthematischer Gesichtspunkte größeren Wert gelegt werden. (4) Wegen der Korrelation von Mundartverwendung und Sozialschichtung muß ein Mundartwörterbuch neben sprachgeographischen Angaben auch sprachsoziologische Informationen enthalten (vgl. Große 1958, 312). (5) Das Aufnahmeverfahren und die Aufbereitung des Materials müßte — unter Anwendung technischer Hilfsmittel — mit dem Anspruch größtmöglicher Exaktheit erfolgen (vgl. Scheuermann 1974, 13, Anm. 46). (6) Die Explikation der Lemmata müßte neben semantischen Angaben in stärkerem Maße auch Informationen zur situationstypischen, funktionalen Sprachverwendung enthalten (vgl. Wiegand 1982, 203 ff.). (7) Als Ergänzung zum Wörterbuch wäre von vornherein eine Grammatik zu konzipieren, die die einzelnen Wörterbuchartikel von umfangreichen grammatischen Informationen entlasten könnte. (8) Die Form und Anordnung der Lemmata müßte nach einheitlichen Gesichtspunkten erfolgen, um die Voraussetzung für den lexematischen Vergleich zwischen den Mundarten zu schaffen. (9) Die Beschreibung des Materials müßte stärker nach lexikalsemantischen Methoden erfolgen. (Vgl. hierzu Art. 80 u. Wiegand/ Wolski 1980.) Dadurch könnten B edeutungs- und B ezeichnungsstrukturen besser bestimmt und herausgestellt werden. (10) Das Belegmaterial sollte nicht auf literarische und historische Quellen beschränkt, sondern aus der tatsächlichen Kommunikation gewonnen werden.
8.
Literatur (in Auswahl)
Autenrieth 1899 = Georg Autenrieth: Pfälzisches Idiotikon. Ein Versuch. Zweibrücken 1899. (Neudruck Wiesbaden 1968). Bach 1970 = Adolf B ach: Geschichte der deutschen Sprache. 9., durchgesehene Auflage. Heidelberg 1970. Badisches Wörterbuch 1925 ff. = B adisches Wörterbuch. B earb. v. E. Ochs, fortgesetzt von K. F. Müller und (seit 1968) G. W. B aur. B d. 1 ff. Lahr 1925 ff. Barth 1966 = Erhard B arth: Deutsche Mundartwörterbücher 1945—1965. In: Zeitschrift für Mundartforschung 33. 1966, 190—192.
41. Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung
Baum 1972 = Hubert B aum: Alemannisches Taschenwörterbuch für Baden. Freiburg i. Br. 1972. Baur 1976 = Gerhard W. B aur: Das B adische Wörterbuch. In: Dialektlexikographie. B erichte über Stand und Methoden deutscher Dialektwörterbücher. Festgabe für L. B erthold zum 85. Geburtstag am 27. 1. 1976. Hrsg. v. H. Friebertshäuser. Wiesbaden 1976, 25—35. Berndt 1787 = Johann Georg B erndt: Versuch zu einem slesischen Idioticon; nebst einer grossen Anzahl anderer veralteten Worte, welche in Documenten und sonderlich bey alten slesischen Dichtern angetroffen werden. Stendal 1787. Berthold 1924 = Luise B erthold: Die wortgeographische Forderung und die Programme der modernen deutschen Mundartwörterbücher. In: Teuthonista 1. 1924, 222—226. Berthold 1955 = Luise B erthold: Das wortgeographische Prinzip in den deutschen Mundartwörterbüchern. In: Orbis 4. 1955, 415—427. Birlinger 1864 = Anton B irlinger: SchwäbischAugsburgisches Wörterbuch. München 1864. (Neudruck Wiesbaden 1968). Bischoff 1977 = Karl B ischoff: Akener Wörterbuch. Köln 1977. (Mitteldeutsche Forschungen. Bd. 82). Bock 1759 = Johann Georg B ock: Idioticon prussicum, oder, Entwurf eines preussischen Woerterbuches, darin die deutschen Redensarten und Ausdruecke die allein in hiesigem Lande gebraeuchlich sind, zusammen getragen und eroertert werden sollen. Koenigsberg 1759. Böning 1970 = Hermann B öning: Plattdeutsches Wörterbuch für das Oldenburger Land. 1. Aufl. Oldenburg 1941. (2. Aufl. Dinklage 1970). Borchling 1934 = Conrad B orchling: Zur Regelung der heutigen niederdeutschen Rechtschreibung. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 47. 1934, 3—9. Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch 1976 ff. = B randenburgB erlinisches Wörterbuch. B egründet und angelegt v. A. B retschneider, unter Einschluß der Sammlungen v. H. Teuchert, bearb. unter der Leitung v. G. Ising. B d. 1 ff. B erlin, Neumünster 1976 ff. Buurman 1962—1975 = Otto B uurman: Hochdeutsch-plattdeutsches Wörterbuch. Auf der Grundlage ostfriesischer Mundart. 12 B de. Neumünster 1962—1975. Christa 1927 = Peter Christa: Wörterbuch der Trierer Mundart mit Sprachgesetzen derselben und Sprachproben in Prosa und Poesie. B ad Honnef 1927. (Neudruck Wiesbaden 1969). Conrath 1977 = Karl Conrath: Die Volkssprache der unteren Saar und der Obermosel. Ein moselfränkisches Wörterbuch. Giessen 1977. B( eiträge zur deutschen Philologie. Bd. 41). Crecelius 1897—1899 = Wilhelm Crecelius: Oberhessisches Wörterbuch. Auf Grund der Vorarbeiten Weigands, Diefenbachs und Hainebachs sowie
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eigner Materialien bearb. im Auftrag des Historischen Vereins für das Großherzogtum Hessen. Darmstadt 1897—1899. (Neudruck Wiesbaden 1966). Dähnert 1781 = Johann Carl Dähnert: Platt Deutsches Woerter B uch nach der alten und neuen Pommerschen und Ruegischen Mundart. Stralsund 1781. (Neudruck Wiesbaden 1967). Damköhler 1927 = Eduard Damköhler: Nordharzer Wörterbuch. Auf der Grundlage der Cattenstedter Mundart. Hrsg. v. Harzverein für Geschichte und Altertumskunde. Wernigerode 1927. (Neudruck Wiesbaden 1970). Dang 1953 = Johann Sebastian Dang: Darmstädter Wörterbuch. Mit 13 “Originalen” aus dem Darmstädter Skizzenbuch von Hermann Müller. 2. Aufl. Darmstadt 1953. Danneil 1859 = Johann Friedrich Danneil: Wörterbuch der altmärkisch-plattdeutschen Mundart. Salzwedel 1859. (Neudruck Wiesbaden 1966). Dialektlexikographie 1976 = Dialektlexikographie. B erichte über Stand und Methoden deutscher Dialektwörterbücher. Festgabe für L. B erthold zum 85. Geburtstag am 27. 1. 1976. Hrsg. v. Hans Friebertshäuser. Wiesbaden 1976. (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. B eih. N. F. 17). Diener 1971 = G. Walter Diener: Hunsrücker Wörterbuch. Niederwalluf 1971. Dietrich 1975 = Margot Dietrich: Dialektwörterbücher — wozu? In: Der Sprachdienst 19. 1975, 73—76. Endres 1979 = Edmund Endres: Moselfränkische Mundart. Die Volkssprache im Raum Waxweiler, Eifel. Köln 1979. Follmann 1909 = Michael Ferdinand Follmann: Wörterbuch der deutsch-lothringischen Mundarten. Leipzig 1909. (Quellen zur lothringischen Geschichte. B d. 12). (Neudruck Hildesheim/New York 1971). Frankfurter Wörterbuch 1971 ff. = Frankfurter Wörterbuch aufgrund des von J. Oppel (1815—1894) und H. L. Rauh (1892—1945) gesammelten Materials hrsg. i. Auftrag der Frankfurter Historischen Kommission in Verbindung mit dem Institut für Kulturanthropologie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M. von W. B rückner. Lfg. 1 ff. Frankfurt/M. 1971 ff. Frederking 1939 = Christian Frederking: Plattdeutsches Dorfwörterbuch des Dorfes Hahlen bei Minden in Westfalen. Wortschatz, Spruchweisheit, Volkskunde. Bielefeld, Leipzig 1939. Friebertshäuser 1976 = Hans Friebertshäuser: Relevante Aspekte der Dialektlexikographie. In: Dialektlexikographie. B erichte über Stand und Methoden deutscher Dialektwörterbücher. Festgabe für L. B erthold zum 85. Geburtstag am 27. 1. 1976. Hrsg. v. H. Friebertshäuser. Wiesbaden 1976, 5—10.
720
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Frings/Tille 1923 = Theodor Frings/Edda Tille: Aus der Werkstatt des Rheinischen Wörterbuchs. In: Zeitschrift für Deutsche Mundarten 18. 1923, 205—216. Frischbier 1882—1883 = Hermann Frischbier: Preussisches Wörterbuch. Ost- und westpreussische Provinzialismen in alphabetischer Folge. 2 B de. B erlin 1882—1883. (Neudruck Hildesheim/New York 1971). Fulda 1788 = Friedrich Karl Fulda: Versuch einer allgemeinen teutschen Idioticensammlung. Sammlern und Liebhabern zur Ersparung vergeblicher Muehe bey bereits schon aufgefundenen Woertern und zu leichterer eigener Fortsetzung gegeben. Berlin/Stettin 1788. Gehle 1977 = Heinrich Gehle: Wörterbuch westfälischer Mundarten. Hochdeutsch-Plattdeutsch. Münster 1977. v. Greyerz/Bietenhard 1976 = Otto von Greyerz/ Ruth B ietenhard: B erndeutsches Wörterbuch. Bern 1976. Groß e 1958 = Rudolf Große: Zu den Methoden der Materialsammlung für Mundartwörterbücher. In: Forschungen und Fortschritte 32. 1958, 312— 317. Hamburgisches Wörterbuch 1956 ff. = Hamburgisches Wörterbuch. Auf Grund der Vorarbeiten v. Chr. Walther und A. Lasch hrsg. v. H. Kuhn u. U. Pretzel, bearb. v. K. Scheel. Lfg. 1 ff. Neumünster 1956 ff. Heinrichs 1978 = Werner Heinrichs: B ergisch Platt. Versuch einer B estandsaufnahme. B urscheid 1978. Henne 1980 = Helmut Henne: Lexikographie. In: Lexikon der germanistischen Linguistik. Hrsg. v. H. P. Althaus. H. Henne. H. E. Wiegand. 2. Aufl. Tübingen 1980, 778—787. Hennig 1785 = Georg Ernst Sigmund Hennig: Preußisches Wörterbuch, worinnen nicht nur die in Preussen gebräuchliche eigenthümliche Mundart und was sie sonst mit der niedersächsichen gemein hat, angezeigt, sondern auch manche in preussischen Schriftstellern, Urkunden, Documenten und Verordnungen vorkommende veraltete Wörter, Redensarten, Gebräuche und Alterthümer erklärt werden, im Namen der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg herausgegeben. Königsberg 1785. Hermanns 1970 = Will Hermanns: Aachener Sprachschatz. Wörterbuch der Aachener Mundart. Im Auftrag des Vereins “Öcher Platt” für den Druck überarb. u. hrsg. v. Rudolf Lautin. Aachen 1970. (B eiträge zur Kultur- und Wirtschafts-Geschichte Aachens und seiner Umgebung. Bd. 1.). Hertel 1895 = Ludwig Hertel: Thüringer Sprachschatz. Sammlung mundartlicher Ausdrücke aus Thüringen nebst Einleitung, Sprachkarte und Sprachproben. Mit Unterstützung des Thüringerwald-Vereins. Weimar 1895. (Neudruck Wiesbaden 1966).
Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch Lfg. 1 ff. 1927 ff. Bd. 2 ff. 1943 ff. = Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch. Aus den von F. Wrede angelegten und verwalteten Sammlungen ausgewählt u. bearb. v. L. B erthold u. (ab B d. 4) H. Friebertshäuser. Lfg. 1 ff. Marburg 1927 ff.; B d. 2 ff. Marburg 1943 ff. Hönig 1905 = Fritz Hönig: Woerterbuch der Koelner Mundart. Hrsg. v. seinen Freunden und Verehrern. Köln 1905. (1. Aufl. Köln 1877). Hügel 1873 = Franz S. Hügel: Der Wiener Dialekt. Lexikon der Wiener Volkssprache. (Idioticon Viennense). Leipzig 1873. (Neudruck Wiesbaden 1972). Kehrein 1891 = Joseph Kehrein: Volkssprache und Wörterbuch von Nassau. Nassau 1891. (Neudruck Wiesbaden 1966). Köppen 1877 = Heinrich Köppen: Verzeichnis der Idiotismen in plattdeutscher Mundart, vorzüglich in Dortmund und dessen Umgegend. Veröffentl. von seinen Freunden und Verehrern. Dortmund 1877. Krämer 1979 = Julius Krämer: Unser Sprachschatz. Wörterbuch der galizischen Pfälzer in Schwaben. Stuttgart—Bad Cannstatt 1979. Krauss 1970 = Friedrich Krauss: Treppener Wörterbuch. Ein B eitrag zum Nordsiebenbürgischen Wörterbuch. Marburg 1970. Kühn 1978 = Peter Kühn: Deutsche Wörterbücher. Eine systematische B ibliographie. Tübingen 1978. (Reihe Germanistische Linguistik. Bd. 15). Kühn 1980 = Peter Kühn: Die deutsche Sprache in der Schweiz. In: Lexikon der germanistischen Linguistik. Hrsg. v. H. P. Althaus. H. Henne. H. E. Wiegand. 2. Aufl. Tübingen 1980, 531—536. Lasch 1917 = Agathe Lasch: Mundartwörterbücher. In: Stader Archiv NF 7. 1917, 10—20. Lemmer 1968 = Manfred Lemmer: Deutscher Wortschatz. B ibliographie zur deutschen Lexikologie. 2. Aufl. Halle (Saale) 1968. Lexer 1862 = Matthias Lexer: Kärntisches Wörterbuch. Mit einem Anhange: Weihnacht-Spiele und Lieder aus Kärnten. Leipzig 1862. (Neudruck Wiesbaden 1965). Löffler 1974 = Heinrich Löffler: Probleme der Dialektologie. Eine Einführung. Darmstadt 1974. Mecklenburgisches Wörterbuch 1942 ff. = Mecklenburgisches Wörterbuch. Hg. v. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig aus den Sammlungen R. Wossidlos und aus den Ergänzungen u. nach der Anlage v. H. Teucherts. Ab B d. VI, Lfg. 4 bearb. unter der Leitung v. J. Gundlach. Bd. 1 ff. Berlin/Neumünster 1942 ff. Meisner 1705 = Christian Meisner: Silesia loquens oder Von der Sprache der Schlesier. Wittenberg 1705. Mensing 1939 = Otto Mensing: Zur Geschichte der älteren niederdeutschen Wörterbücher. In: Volkskundliche B eiträge. R. Wossidlo am 26. 1. 1939
41. Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung
zum Dank dargebracht. Neumünster 1939, 88—96. Mitzka 1937 = Walther Mitzka: Die landschaftlichen deutschen Mundartwörterbücher der Gegenwart. In: Zeitschrift für Mundartforschung 13. 1937, 91—99. Mitzka 1949 = Walther Mitzka: Schicksal der deutschen Mundartwörterbücher der Gegenwart. In: Muttersprache 1949, 144—146. Mitzka 1963—1965 = Walther Mitzka: Schlesisches Wörterbuch. 3 Bde. Berlin 1963—1965. Müller 1836 = Josef Mueller/Wilhelm Weitz: Die Aachener Mundart. Idiotikon nebst einem poetischen Anhange. Aachen 1836. Müller-Fraureuth 1911—1914 = Karl MüllerFraureuth: Wörterbuch der obersächsischen und erzgebirgischen Mundarten. 2 B de. Dresden 1911—1914. (Neudruck Leipzig 1968). Niebaum 1979 = Hermann Niebaum: Deutsche Dialektwörterbücher. In: Deutsche Sprache 7. 1979, 345—373. Niedersächsisches Wörterbuch 1953 ff. = Niedersächsisches Wörterbuch. Auf Grund der Vorarbeiten v. H. Janßen, Hrsg. v. W. Jungandreas (B d. 1). B d. 2, Lfg. 1—2 hrsg. v. H. Wesche, ab Lfg. 3 v. Institut für historische Landesforschung der Universität Göttingen, bearb. v. G. Keseling, W. Kramer, U. Scheuermann. Lfg. 1 ff. Neumünster 1953 ff. Pfälzisches Wörterbuch 1965 ff. = Pfälzisches Wörterbuch. B egr. v. E. Christmann. B earb. v. J. Krämer. Bd. 1 ff. Wiesbaden 1965 ff. Objartel 1980 = Georg Objartel: Sprachstadium. In: Lexikon der germanistischen Linguistik. 2. Aufl. Hrsg. von H. P. Althaus, H. Henne, H. E. Wiegand. Tübingen 1980, 557—563. Prasch 1689 = Johann Ludwig Prasch: Dissertatio altera de origine germanica latinae linguae, accidit glossarium bavaricum. Regensburg 1689. Preuß isches Wörterbuch 1974 ff. = Preußisches Wörterbuch. Deutsche Mundarten Ost- und Westpreußens. Hrsg. v. E. Riemann. Lfg. 1 ff. Neumünster 1974 ff. v. Raumer 1870 = Rudolf von Raumer: Geschichte der Germanischen Philologie vorzugsweise in Deutschland. München 1870. Reinwald 1793 = Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald: Hennebergisches Idioticon oder Sammlung der in der gefürsteten Grafschaft Henneberg gebräuchlichen Idiotismen, mit etymologischen Anmerkungen und Vergleichung anderer alten und neuen Germanischen Dialecte. 1. Theil B erlin 1793. 2. Theil, welcher B erichtigungen, Ergänzungen und Vermehrungen des Ersten enthält. Voran ein Versuch über die sämtlichen Germanischen Hauptdialecte und einige Unterscheidungszeichen derselben und am Ende ein Verzeichnis von Volkswörtern des mittleren Frankens. B erlin 1801. Rheinisches Wörterbuch 1928—1971 = Rheini-
721
sches Wörterbuch. B earb. v. J. Müller und ab B d. 9 v. H. Dittmeier. 9 B de. B onn/B erlin 1928—1971. Richey 1755 = Michael Richey: Idioticon Hamburgense oder Woerter=B uch, Zur Erklaerung der eigenen, in und um Hamburg gebraeuchlichen, NiederSaechsischen MundArt. Jetzo vielfaeltig vermehret, und mit Anmerckungen und Zusaetzen Zweener beruehmten Maenner, nebst einem Vierfachen Anhange. Hamburg 1755. (Neudruck Leipzig 1976). Saß 1935 = Johannes Saß: Plattdeutsches Wörterverzeichnis mit den Regeln für die plattdeutsche Rechtschreibung. Hamburg 1935. Schambach 1858 = Georg Schambach: Wörterbuch der niederdeutschen Mundart der Fürstenthümer Göttingen und Grubenhagen oder Göttingisch-Grubenhagen’sches Idiotikon. Einbeck 1858. (Neudruck Wiesbaden 1967). Scheuermann 1974 = Ulrich Scheuermann: Linguistische Datenverarbeitung und Dialektwörterbuch. Wiesbaden 1974. (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beih. N. F. 11). Schleef 1967 = Wilhelm Schleef: Dortmunder Wörterbuch. Köln 1967. (Niederdeutsche Studien. Bd. 15). SchleswigHolsteinisches Wörterbuch 1927—1935 = SchleswigHolsteinisches Wörterbuch. (Volksausgabe). Hrsg. v. Otto Mensing. 5 B de. Neumünster 1927—1935. (Neudruck Neumünster 1973). Schmeller 1821 = Johann Andreas Schmeller: Die Mundarten B ayerns grammatisch dargestellt. München 1821. Schmeller 1827—1837 = Johann Andreas Schmeller: B ayerisches Wörterbuch. Stuttgart u. Tübingen 1927—1837. (3. Neudruck der v. G. Karl Frommann bearb. 2. Ausg. München 1872—1877. Mit der wiss. Einleitung zur Ausg. Leipzig 1939 v. Otto Mausser u. mit einem Vorwort v. 1961 v. Otto Basler. 2 Bde. Aalen 1973). Schmid 1795 = Johann Christoph Schmid: Versuch eines schwaebischen Idiotikon, oder Sammlung der in verschiedenen schwaebischen Laendern und Staedten gebraeuchlichen Idiotismen. Mit etymologischen Anmerkungen. B erlin, Stettin 1795. Schmidt 1800 = Karl Christian Ludwig Schmidt: Westerwaeldisches Idiotikon; oder, Sammlung der auf dem Westerwalde gebraeuchlichen Idiotismen mit etymologischen Anmerkungen und der Vergleichung anderer alten und neuen germanischen Dialekte. Hadamar und Herborn 1800. Scholz 1933 = Adolf Scholz: Deutsche Mundarten-Wörterbücher. Versuch einer Darstellung ihres systematisch-historischen Werdeganges von Anbeginn bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1933. Schön 1922 = Friedrich Schön: Wörterbuch der Mundart des Saarbrücker Landes nebst einer Grammatik der Mundart. Saarbrücken 1922.
722
VI. Arbeitsverfahren in der Dialektologie: Datenpräsentationund Ergebnisdarstellung
Schöpf 1866 = Johann B . Schöpf: Tirolisches Idiotikon. Nach dessen Tode vollendet v. Anton J. Hofer. Hrsg. auf Veranlassung u. durch Unterstützung des Ferdinandeums. Innsbruck 1866. (Neudruck Wiesbaden 1968). Schophaus 1973 = Renate Schophaus: Zur Wortgeographie und zu den Wörterbüchern. In: Niederdeutsch. Sprache und Literatur. Eine Einführung. Hrsg. v. Jan Goossens. B d. 1: Sprache. Neumünster 1973, 175—198. Schultze 1874 = Martin Schultze: Idioticon der nord-thüringischen Mundart. Nordhausen 1874. Schütze 1800—1806 = Johann Friedrich Schütze: Holsteinisches Idiotikon, ein B eitrag zur Volkssittengeschichte; oder Sammlung plattdeutscher, alter und neugebildeter Worte, Wortformen, Redensarten, Volkwitzes, Sprichwoerter, Spruchreime, Wiegenlieder, Anekdoten und aus dem Sprachschatze erklaerter Sitten, Gebraeuche, Spiele, Feste der alten und neuen Holsteiner. Mit Holzschnitten. 4 Theile. Hamburg 1800—1806. (Neudruck Osnabrück 1973). Schwäbisches Wörterbuch 1904—1936 = Schwäbisches Wörterbuch. Aufgrund der von A. v. Keller begonnenen Sammlungen bearb. v. H. Fischer (ab B d. VI, I zu Ende geführt v. W. Pfleiderer). 6 B de. Tübingen 1904—1936. Schweizerisches Idiotikon 1881 ff. = Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. B egonnen v. F. Staub u. L. Tobler, fortgesetzt v. A. B achmann, O. Gröger, H. Wanner und P. Dalcher. Bd. 1 ff. Frauenfeld 1881 ff. Seiler 1879 = Gustav A. Seiler: Die B aseler Mundart. Ein grammatisch-lexikalischer B eitrag zum schweizerdeutschen Idiotikon zugleich ein Wörterbuch für Schule und Haus. Mit einem Vorwort v. M. Heyne. B asel 1879. (Neudruck Wiesbaden 1970). Socin 1888 = Adolf Socin: Schriftsprache und Dialekte im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit. Heilbronn 1888. (Neudruck Hildesheim/New York 1970). Spiess 1881 = B althasar Spiess: B eiträge zu einem Hennebergischen Idiotikon. Wien 1881. Stalder 1806 = Franz Joseph Stalder: Versuch eines Schweizerischen Idiotikon mit etymologischen B emerkungen untermischt, samt einer Skizze einer Schweizerischen Dialektologie. 2 B de. Aarau und Basel 1806—1812. Steirischer Wortschatz 1903 = Steirischer Wortschatz als Ergänzung zu Schmellers B ayerischem Wörterbuch gesammelt v. Theodor Unger, für den Druck bearb. u. hrsg. v. Ferdinand Khull. Gedruckt mit Unterstützung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Graz 1903. (Neudruck Wiesbaden 1968). Strodtmann 1756 = Johann Christoph Strodtmann: Idioticon Osnabrvgense. Leipzig u. Altona 1756. Südhessisches Wörterbuch 1965 ff. = Südhessi-
sches Wörterbuch. B egründet v. F. Maurer, bearb. v. Rudolf u. Roland Mulch. B d. 1 ff. Marburg 1965 ff. Teepe/Niebaum/Schophaus 1973 = Paul Teepe/ Hermann Niebaum/Renate Schophaus: Die niederdeutschen Mundarten. In: Niederdeutsch. Sprache und Literatur. Eine Einführung. Hrsg. v. Jan Goossens. B d. 1: Sprache. Neumünster 1973, 130—138. Teut 1931 = Heinrich Teut: Hochdeutsch-plattdeutsches Wörterbuch. Hamburg 1931. Teut 1959 = Heinrich Teut: Hadeler Wörterbuch. Der plattdeutsche Wortschatz des Landes Hadeln (Niederelbe). 4 Bde. Neumünster 1959. Tiling 1767—1771 = Eberhard Tiling: Versuch eines bremisch-niedersaechsischen Woerterbuchs, worin nicht nur die in und um B remen, sondern auch fast in ganz Niedersachsen gebraeuchliche eigenthuemliche Mundart nebst den schon veralteten Woertern und Redensarten in bremischen Gesetzen, Urkunden und Diplomen gesammelt, zugleich auch nach einer behutsamen Sprachforschung, und aus Vergleichung alter und neuer verwandter Dialekte erklaeret sind; hrsg. v. der B remischen deutschen Gesellschaft. 5 Theile. B remen 1767—1771. Zusätze und Verbesserungen v. L. Dreyer. B remen 1869. (Neudruck Osnabrück 1975). Vilmar 1868 = August Friedrich Christian Vilmar: Idiotikon von Kurhessen. Marburg und Leipzig 1868. Vollbeding 1806 = Johann Christoph Vollbeding: Kurzgefasstes Wörterbuch der plattdeutschen oder niederdeutschen Mundart woraus sich die Niedersächsische gebildet hat; zum Verständniss der niederdeutschen Schriftsteller und Urkunden. Zerbst 1806. Vorarlbergisches Wörterbuch 1960 = Vorarlbergisches Wörterbuch mit Einschluß des Fürstentums Liechtenstein. B earb. v. Leo Jutz. 2 B de. Wien 1960. Wanner 1960 = Hans Wanner: Das sogenannte historische Material in landschaftlichen Mundartwörterbüchern. In: Zeitschrift für Mundartforschung 27. 1960, 129—143. Weber/Bächtold 1968 = Albert Weber/Jacques M. B ächtold: Zürichdeutsches Wörterbuch für Schule und Haus. 2. Aufl. besorgt v. J. M. B ächtold. Zürich 1968. (Grammatiken und Wörterbücher des Schweizerdeutschen. B d. III). (1. Aufl. Zürich 1961). Westfälisches Wörterbuch 1969 ff. = Westfälisches Wörterbuch. Hrsg. im Auftrage der Kommission für Mundart u. Namenforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe v. Jan Goossens. B earb. v. F. Wortmann, H. Niebaum, P. Teepe. B eiband Neumünster 1969; Lfg. 1 ff. Neumünster 1973 ff. Wiegand 1982 = Herbert Ernst Wiegand: Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen
41. Typen lexikographischer Ergebnisdarstellung
Wörterbüchern. Ein B eitrag zur praktischen Lexikologie. In Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie I. Hrsg. von Herbert Ernst Wiegand. Hildesheim, New York (Germanistische Linguistik 3—4/79, 139—271). Wiegand/Wolski 1980 = Herbert Ernst Wiegand/ Werner Wolski: Lexikalische Semantik. In: Lexikon der germanistischen Linguistik. 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Hrsg. von H. P. Althaus, H. Henne, H. E. Wiegand. Tübingen 1980, 199—211. Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich 1963 ff. = B ayerisch-Österreichisches Wörterbuch. I. Österreich. Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich. B earb. v. V. Dollmayr u. E. Kranzmayer. Bd. 1 ff. Wien usw. 1963 ff. Wörterbuch der Elberfelder Mundart 1910 = Wörterbuch der Elberfelder Mundart. nebst Abriß der Formenlehre und Sprachproben. Zur Dreijahrhundertfeier der Stadt Elberfeld mit Unterstützung des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins hrsg. v. dessen Zweigverein zu Elberfeld. Elberfeld 1910. (Neudruck Wiesbaden 1967). Wörterbuch der elsässischen Mundarten 1899— 1907 = Wörterbuch der elsässischen Mundarten. B earb. v. E. Martin u. H. Lienhart. 2 B de. Straßburg 1899—1907. (Neudruck B erlin/New York 1974). Woeste 1930 = Friedrich Woeste: Wörterbuch der westfälischen Mundart. Norden 1882. Im Auftrage
723
des Westfälischen Heimatbundes neu bearb. u. hrsg. v. Erich Nörrenberg. Norden 1930. (Neudruck Wiesbaden 1966). Wrede, A. 1976 = Adam Wrede: Neuer Kölnischer Sprachschatz. 3 B de. 6. Aufl. Köln 1976. (1. Aufl. Köln 1956—1958). Wrede, F. 1919 = Ferdinand Wrede: Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Mundartforschung. In: Zeitschrift für Deutsche Mundarten 14. 1919, 3—18. Zaunmüller 1958 = Wolfram Zaunmüller: B ibliographisches Handbuch der Sprachwörterbücher. Ein internationales Verzeichnis von 5600 Wörterbüchern der Jahre 1460—1958 für mehr als 500 Sprachen und Dialekte. Stuttgart 1958. Zaupser 1789 = Andreas Zaupser: Versuch eines baierischen und oberpfaelzischen Idioticons, nebst grammatikalischen B emerkungen ueber diese zwo Mundarten, und einer kleinen Sammlung von Spruechwoertern und Volksliedern. Muenchen 1789. Ziesemer 1939—1940 = Walther Ziesemer: Preußisches Wörterbuch. Sprache und Volkstum Nordostdeutschlands. Im Auftrag mit Unterstützung der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Provinz Ostpreußen. 2 B de. [A—F] Königsberg 1939—1940. (Neudruck Hildesheim/New York 1975).
Peter Kühn, Trier
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
42. Automatische Signalverarbeitung 1. 2. 3. 4.
1.
Arten und Grade der Automation Automatisierung und Automatisierbarkeit signalphonetischer Analysen Beispiele zur Transmission Literatur (in Auswahl)
Arten und Grade der Automation
In den Artikeln 3 5 und 3 7 wurde dargelegt, wie Signaltransformation, Datenerfassung und -aufbereitung miteinander zusammenhängen. Sind die Daten einmal erfaßt, so ermöglichen sie hinsichtlich der Problemstellung noch keine Interpretation; vielmehr müssen sie anschließend im Hinblick auf die Fragestellung selektiert, reduziert und nach den verschiedensten Gesichtspunkten mathematisch verändert werden. Für diese Signalaufbereitung standen bis in die 60er Jahre ausschließlich analog arbeitende Geräte (vgl. Art. 3 5) zur Verfügung, z. B. Detektoren für Tonhöhe und Intensität. So nützlich diese Geräte waren, so sehr haftete ihnen doch der Nachteil an, entweder nicht sehr flexibel zu sein, was zu einem hohen zeitlichen und manuellen Arbeitseinsatz zwang, oder — falls Flexibilität gegeben war — technisch recht umfangreich sowie hinsichtlich ihres Einsatzes kritisch und nicht einfach beherrschbar auszufallen; mit zunehmender Komplexität des Gerätes spielten dabei subtile technische Probleme, wie Bauteiletoleranzen oder Ergebnisbeeinflussung durch Temperaturänderungen eine nicht unerhebliche Rolle. — Als eigentlich gravierender Nachteil muß jedoch gesehen werden, daß die Ergebnisdarstellung meist ebenfalls nur analog erfolgen konnte und damit — je nach Projektumfang — noch manuelle Tätigkeiten in erheblichem Umfang und mit den entsprechenden Fehlermöglichkeiten durchzuführen waren. Vor diesem Hintergrund gewann das Auftreten digitaler Verarbeitungsgeräte eine besondere Bedeutung. Bestand ihre Verwendung zunächst vorrangig in der Auswertung der Ergebnisse vorgeschalteter Analogge-
räte, so verschob sich ihr Einsatzschwerpunkt doch sehr rasch über die Simulation analoger Prozesse hin zum Ersatz von Analoggeräten. Ausschlaggebend hierfür waren neben der zuverlässigen Arbeitsweise, der erreichbaren arithmetischen Genauigkeit und der Flexibilität vor allem die Lösung des Quantisierungsproblems analoger Eingangssignale. Mit fortschreitender Entwicklung der Digitaltechnik wurde jedoch deutlich, daß Sprachanalyse und -synthesesysteme, welche als Programme für Digitalrechner geschaffen wurden, nicht mehr als Simulation analoger Prozesse angesehen werden können. Tatsächlich sind viele digitale Prozeduren in Analogtechnik heute nicht mehr oder nur bedingt realisierbar: Reichliche Beispiele hierfür liefert allein schon die digitale Filterung. Da die moderne Schaltkreistechnologie den Aufbau komplexer digitaler Funktionen in Form spezialisierter Geräte durchaus ermöglicht, scheint es besser, Programme für digitale Rechenanlagen als Mittel zur Simulation spezieller digitaler Geräte zu betrachten. Bei der Beschreibung der Analog-DigitalWandlung beschränken wir uns im folgenden auf eine Darstellung des wohl wichtigsten Wandlungsverfahrens und der erreichbaren Auflösung. 1.1. Wandlungsverfahren Da digitale Anlagen per se keine Analogsignale verarbeiten können, muß zwischen Meßgrößenaufnehmer (z. B. Mikrofon) und dem Digitalrechner ein zusätzlicher Meßwertumformer, der Analog-Digital-Wandler (A/D-Wandler) eingeschaltet werden. Dieser Wandler hat die Aufgabe, die Amp litude des an seinem Eingang anliegenden kontinuierlichen Signals in bestimmten, äquidistanten Zeitschritten zu messen, und den erhaltenen Meßwert zur weiteren Verarbeitung an die Rechenanlage zu senden. Abbildung 42.1 soll diesen Vorgang veranschaulichen. Die obere Bildhälfte enthält das
42. Automatische Signalverarbeitung
Abb. 42.1: Darstellung des Prinzips der AnalogDigital-WandlungEin Analogsignal (A1) wird in bestimmten äquidi- stanten Zeitabschnitten (repräsentiert durch die kurzen senkrechten Quantelungsmarken an A1) gemessen.Bei ausreichender Meßwertdichte läßt die so erhaltene Folge von Meßwerten eine Rekonstruktion des Analogsignals zu (vgl. A2). Die in A2 gra- phisch dargestellten Meßwerte sind in A3 nume- risch gelistet (erste Spalte ist Ordnungszahl, 2. Spalte der eigentliche Meßwert; die Maßeinheit bleibt hier unberücksichtigt) Analogsignal mit den Zeitmarken (kurze senkrechte Striche) für die Quantisierung; wird an genau diesen Stellen des Eingangssignals die Amplitude gemessen, so erhält man bei ausreichender Meßdichte eine Folge von Meßwerten, aus welchen sich der ursprüngliche Kurvenverlauf des Eingangssignals rekonstruieren läßt (vgl. A2). Die Rechenanlage erhält die Meßreihe natürlich nicht in dieser analogen Form, sondern als Folge von numerischen Meßwerten (vgl. A3). Von allen bekannten Wandlungsverfahren hat sich die Wandlung mit sukzessiver Ap p roximation im Bereich der Sprachverarbeitung als optimaler Kompromiß aus der erforderlichen hohen Wandlungsrate, technischem Aufwand und vertretbaren Kosten
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erwiesen. Dieses Verfahren soll an einem Beispiel veranschaulicht werden: Nimmt man eine Waage und dazu einen Satz binär gestaffelter Gewichte an, d. h. beginnend mit dem kleinsten sei das nächstgrößere Gewicht immer doppelt so groß wie das vorausgehende, also: 1, 2, 4, 8, 16, 3 2, 64, 128. (Die Maßeinheit soll hier unberücksichtigt bleiben.) Neben diesem Gewichtsatz hat man noch das zu messende Gewicht; der Einfachheit halber kann man dieses zu 100 annehmen (realiter ist es ja unbekannt, darf aber nicht größer sein als die Summe der Vergleichsgewichte). Um dieses Gewicht zu wiegen, probiert man nun aus dem Gewichtssatz nacheinander, beginnend mit dem größten, alle Gewichte aus: Sinkt die Waagschale mit den Vergleichsgewichten (ist sie also zu schwer), so nimmt man das zuletzt aufgelegte Vergleichsgewicht wieder herunter und schreibt dafür eine ∅; sinkt dagegen die Waagschale mit dem zu messenden Gewicht oder bleibt in der Schwebe, so beläßt man das zuletzt aufgelegte Vergleichsgewicht auf der Schale und schreibt dafür eine 1. Also: man legt zunächst das Gewicht ‘128’ auf; die Waagschale sinkt, weil es zu groß ist; man nimmt es wieder ab und schreibt eine ∅. Danach legt man das Gewicht ‘64’ auf; die Waage neigt sich zur anderen Seite, man beläßt dieses Vergleichsgewicht auf der Schale und schreibt eine 1. In genau der gleichen Weise verfährt man mit allen anderen Vergleichsgewichten. Wenn der Wiegevorgang beendet ist, erhält man die Zahlenreihe ∅11∅∅1∅∅. Das Gesamtgewicht kann man ermitteln, indem man die Summe der aufliegenden Vergleichsgewichte bildet, oder indem man rechnet 0 · 27 + 1 · 2 6 + 1 · 2 5 + 0 · 2 4 + 0 · 2 3 + 1 · 22 + 0 · 21 + 0 · 20 = 100. 1.2. Auflösung In genau dieser Form einer Kette von ∅ und 1 (der Terminus für das einzelne Zeichen ist ‘bit’) erhält der Computer den Meßwert vom vorgeschalteten A/D-Wandler. Wie genau ist aber die Messung? Greift man noch einmal zurück auf das Wiegebeispiel: Das kleinste Vergleichsgewicht ist 1; d. h. das ermittelte Gewicht liegt im Bereich von 99.5 bis 100.4. Zwar kann man — hätte man weitere Vergleichsgewichte von 0.1 aufsteigend zur Verfügung — das zu ermittelnde Gewicht noch genauer bestimmen, z. B. als
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
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100.1; aber das würde ja nur bedeuten, daß das tatsächliche Gewicht im Bereich von 100.05 bis 100.14 liegt, usw. Kurzum: Man kann das tatsächliche Gewicht immer nur bis auf die Hälfte des kleinsten Vergleichsgewichts bestimmen. In der oben ermittelten Zahlenreihe ∅11∅∅1∅∅, dem digitalen Meßwert, entspricht das kleinste Vergleichsgewicht der am weitesten rechts stehenden Stelle; diese wird in der Datentechnik als ‘least significant bit’ oder kurz als ‘LSB’ bezeichnet. Zusammenfassend läßt sich feststellen: Die Meßgenauigkeit eines A/D-Wandlers wird bestimmt durch die Anzahl der Stufen (vergleichbar der Anzahl der Vergleichsgewichte); dabei beträgt die Auflösung immer 1/2 LSB. — Abbildung 42.2 stellt der Stellenzahl (Anzahl der bits) des maximal möglichen Meßwertes die damit erreichbare Anzahl der Unterscheidungsstufen gegenüber. In der phonetischen Praxis werden meist A/D-Wandler mit 8 bis 12 Stellen (bits) eingesetzt; erfahrungsgemäß reicht die Meßgenauigkeit unter 8 bit nicht aus, wogegen oberhalb von 12 bit die Kosten signifikant steigen.
Abb. 42.2: Vergleich der Anteile des LSB bei unterschiedlicher Stellenzahl des Digitalwortes
2.
Automatisierbarkeit und Automatisierung signalphonetischer Analysen
Die Entscheidung, signalphonetische Analysen rechnergestützt durchzuführen, basiert häufig auf dem Wunsch, umfangreichere Untersuchungen bei gleichzeitig reduziertem manuellen Arbeitsaufwand durchzuführen; nicht selten tritt auch die Absicht hinzu, älteres Untersuchungsmaterial aufzuarbeiten oder nur teilweise durchgeführte Untersuchungen zu vervollständigen. Das setzt jedoch gegenüber traditionellen Arbeitsmethoden ein gründliches Umdenken voraus; hier seien nur einige Hinweise gegeben: Die manuelle Bearbeitung oder Auswertung profitiert von der Intelligenz und
ungleich höheren Flexibilität des Bearbeiters gegenüber einem auch qualitativ hochstehenden Algorithmus (= Verarbeitungsvorschrift für den Computer in Form eines Programms); die Flexibilität von Algorithmen wird nicht nur durch das angewandte Verfahren, sondern auch durch die verwendeten Programmiertechniken bestimmt und kann u. U. frappant niedrig sein. Nehmen wir als Beispiel die Grundfrequenzanalyse: Wohl keiner der bekannten Algorithmen weist so viel Flexibilität auf, daß mit ihm wirklich ‘problemlos’ die Mehrzahl der vorkommenden Anwendungsfälle abgedeckt werden können. So besitzen viele Algorithmen — unabhängig vom Verfahren — eine deutlich geringere Selektivität gegenüber höheren Grundtonbereichen; hier helfen dann oft nur noch drastische Restriktionen bei der Materialauswahl (z. B. nur bedingt Frauenstimmen, kaum Kinderstimmen usw.), oder deutlich höherer Geräteaufwand (z. B. PCMAufnahmen zur Vermeidung von Phasenverzerrungen). Tonaufnahmen, welche zur Eingabe in automatische Analyseprozesse vorgesehen sind, müssen von bester Qualität sein; Nebengeräusche — sofern sie nicht punktuell sind und durch Bandschnitt eliminiert werden können — oder zu geringe Bandgeschwindigkeit bei älteren Aufnahmen machen diese häufig für eine automatische Analyse unbrauchbar. Das hat Konsequenzen für künftige Feldaufnahmen; auch sollte aufzuarbeitendes Untersuchungsmaterial bevorzugt unter diesem Aspekt beurteilt werden. Die maschinelle Bearbeitungszeit (Rechenzeit) ist im Regelfalle hoch; sie kann — abhängig von vielen Variablen wie Maschinentyp, Verfahren etc. — beispielsweise für 1 Minute Sprechzeit durchaus in den Bereich von Stunden gelangen. Unter diesem Aspekt sollte der Umfang von Untersuchungen bedacht werden. Für die rechnergestützte signalphonetische Analyse bieten sich im wesentlichen zwei Arbeitsmethoden an: 1. Man verwendet für die Transmission Software (= Programme), die mit reduzierten Eingriffsmöglichkeiten für den Bearbeiter auf die Lösung spezieller Teilprogramme ausgerichtet ist und diese Lösungen mehr oder weniger automatisch erstellt; Voraussetzung hierfür ist ein verbindlicher Katalog von Anforderungen an das Untersuchungsmaterial und dessen diesbezügliche kompromißlose Kon-
42. Automatische Signalverarbeitung
fektionierung. 2. Man arbeitet ‘interaktiv’ mit dem Computer, d. h. dem Bearbeiter steht ein modular aufgebautes Programmp aket zur Verfügung, aus dem er sich ein ‘Menü’ der für seine Problemstellung geeigneten Algorithmen zusammenstellt. Im Verlauf der Bearbeitung bietet sich ihm die Möglichkeit, sein Konzept anhand der Resultate visuell und auditiv zu überprüfen und gegebenenfalls die Lösungsstrategie in Abhängigkeit von Datenbedingungen durch eine Revision des ‘Menüs’ zu modifizieren. Beide Methoden haben Vor- und Nachteile: Die stark vereinheitlichte listenmäßige Verarbeitung spart vor allem Arbeitszeit; nachteilig ist in jedem Falle die erforderliche strenge Konfektionierung der Datenquellen: Nur deren strikte Einhaltung garantiert einwandfreie Resultate. Gerade bei umfangreicheren Untersuchungen ist es jedoch oft problematisch, ohne unmittelbaren Bezug auf die Datenquellen stichprobenweise die Korrektheit der Resultate zu überprüfen. Demgegenüber ist diese Kontrollmöglichkeit bei einer ‘interaktiven’ Bearbeitung gewissermaßen immanent; allerdings um den Preis einer im Regelfalle deutlich höheren Bearbeitungszeit. Andererseits ermöglichen wohl die meisten interaktiven Programmsysteme auch recht diffizile Bearbeitungsschritte, die u. U. weit in die Vorbereitungsphase zurückreichen, so z. B. Segmentieren oder auch die Anfertigung von ‘Bandschnitten’, die in der so erzielbaren Präzision am Schneidetisch nur bedingt erreichbar sind; von Vorteil ist dabei, wenn der Ausschnitt unmittelbar auditiv überprüft und gegebenenfalls verengt oder erweitert werden kann. Man wird also in jedem Falle bereits im Planungsstadium kritisch den später einzuschlagenden Lösungsweg berücksichtigen müssen; läßt sich die Materialsammlung so anlegen, daß sie allen (Rand-)Bedingungen der zuvor erarbeiteten Konfektionierungsvorschriften genügt (z. B. nur Aufnahmen im selben Kontext von männlichen Sprechern in störgeräuschfreier Umgebung usw.), so wird man — hat man die Wahl — für die anschließende Signalanalyse automatische Verfahren einsetzen; sind diese Voraussetzungen nicht oder nur teilweise gegeben (z. B. weibliche und männliche Sprecher, ‘round-table’-Aufnahmen mit — allerdings nur punktuellen — Störgeräuschanteilen), so wird der Bearbeiter mit dem flexibleren interaktiven Verfahren gewiß adäquatere Resultate erzielen.
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3.
Beispiele zur Transmission
Im folgenden soll versucht werden, anhand weniger ausgewählter Beispiele Verfahren und Möglichkeiten der rechnergestützten pS rachanalyse aufzuzeigen. Diese Zusammenstellung erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit, noch soll es eine abgeschlossene Untersuchung aus dem Bereich der Dialektologie sein; dazu wären umfangreichere und spezifizierte Datenerhebungen erforderlich. 3.1. Verwendete Verfahren Die vorgestellten Analysen wurden mit einem interaktiven Programmsystem nach der Methode der Linear Prediction (Pfeiffer 1978) erarbeitet. Der methodologische Kern dieses Verfahrens ist die Annahme, daß ein Abtastwert die gewichtete Summe der ihm vorausgehenden Abtastwerte darstellt; dabei sind die Gewichte durch das Spektrum des Signals bestimmt. Umgekehrt kann man bei gegebenen Abtastwerten die Gewichte errechnen und von ihnen ausgehend auf das Spektrum schließen (Markel/Gray 1976). Die Analysen können in sehr unterschiedlichen Formen präsentiert werden; der besseren Anschaulichkeit wegen wollen wir uns an dieser Stelle jedoch in erster Linie auf grafische Darstellungen stützen, wobei implizit angenommen werden darf, daß in der praktischen Forschung die Bedeutung der Grafik zugunsten der numerischen Präsentation deutlich zurücktritt. 3.2. Verwendetes Untersuchungsmaterial Für die folgenden Darlegungen wurden insgesamt 4 Tonaufnahmen ausgewählt, davon 2 Aufnahmen des Wortes Leute (sächsisch und hochdeutsch); die letzteren wurden in erster Linie zur Darstellung von Grundton-, Intensitäts- und Formantverläufen herangezogen (vgl. Abb. 42.4—42.8). Für weitere Analysen wurden zwei Aufnahmen in alemannischer Mundart (Hoch- und Niederalemannisch) verwendet. 3.3. Weitere Überlegungen zur A/D-Wandlung Ist die Auswahl des Untersuchungsmaterials entsprechend den in 1.2. genannten Gütekriterien erfolgt, so wird man Überlegungen anstellen, wie die Tonaufnahmen nun in die Rechenanlage transferiert werden können. Dies geschieht natürlich, wie beschrieben, über einen A/D-Wandler; dieser kann
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
42. Automatische Signalverarbeitung
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Abb. 42.4: Spektrogramm des Wortes Leute: sächsischer Dialekt, männlicher Sprecher. Oberes Bildsegment: Oszillogramm mit Zeitmarken (10 msec je Teilstrich). Mittleres Bildsegment: Intensitätsverlauf. Unteres Bildsegment: Spektrale Energieschwerpunkte. Seitliche Teilstriche im Raster von 500 Hz (von unten nach oben) Abb. 42.5: Identisch mit Abbildung 42.4, ausgenommen die Darstellung der spektralen Energieschwerpunkte mit ihrer jeweiligen Bandbreite (Formantbandbreite). Diese Bandbreite ist proportional der individuellen Strichlänge Abb. 42.6: Spektrogramm des Wortes Leute: sächsischer Dialekt, männlicher Sprecher (wie Abb. 42.4 und 42.5). Oberes Bildsegment: Oszillogramm mit Zeitmarken (10 msec je Teilstrich). Mittleres Bildsegment: Verlauf der Grundtonhöhe. Unteres Bildsegment: Formantverläufe nach Kohärenz- test; sog. ‘modifizierte’ Formanten
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Als wichtige Entscheidungshilfe kann an dieser Stelle das Abtasttheorem herangezogen werden; es lautet in einer verknappten Form: „Besitzt ein Signal S(t) [t = Zeit] ein Fourierspektrum mit einer oberen Grenzfrequenz von W Hertz, so ist es durch seine Abtastwerte (Amplitudenwerte) im Abstand von 1/2 W sec. eindeutig bestimmt.„ (nach Brockhaus 1976). Ausführliche Begründungen dieses Theorems finden sich in nahezu jedem Lehr- und Handbuch zur Informationsverarbeitung (z. B. Meyer-Eppler 1969; Hamming 1977), so daß an dieser Stelle auf die weitere Diskussion verzichtet werden kann. Es läßt sich jedoch zur Faustregel verkürzen: „Die Wandlungsrate muß mindestens doppelt so hoch sein wie die höchste im Signal enthaltene Frequenz.„
Abb. 42.7: Spektrogramm des Wortes Leute: Hochdeutsch, männlicher Sprecher. Oberes Bildsegment: Oszillogramm mit Zeitmarken (10 msec je Teilstrich). Mittleres Bildsegment: Verlauf der Grundtonhöhe. Unteres Bildsegment: Formantverläufe nach Kohärenztest; aufgrund der ungenügenden Differenzierung der spektralen Energieschwerpunkte im An- und Auslaut treten fehlerhafte ‘Formantsprünge’ auf (seitliche Frequenzmarken im Abstand von 500 Hz von unten nach oben) jedoch mit unterschiedlichen Wandlungsraten (= Wandlungen pro Sekunde) betrieben werden. Man wird sich in erster Linie auf das Ziel der Untersuchung und die zu ihrer Durchführung gewählten Verfahren besinnen müssen. Will man beispielsweise eine Untersuchung des Grundtons vornehmen, so ist es wenig sinnvoll, mit hohen Wandlungsraten zu arbeiten; soll andererseits eine Formantanalyse durchgeführt werden, so muß die Wandlungsrate so hoch sein, daß auch der höchste zu analysierende Formant noch sicher extrahiert werden kann.
Abb. 42.3: Effekt der ‘Rückfaltung’ bei Nichteinhaltung des Abtasttheorems: Bei einer angenommenen Abtastrate von 3 · f (dargestellt durch die kurzen senkrechten Quantelungsmarken in B1 und B2) weisen Schwingungen der Frequenz f (vgl. B1) bzw. der Frequenz 3 · f (vgl. B2) exakt die gleichen Amplitudenwerte auf (entsprechend B3) Setzt man ohne weitere Maßnahmen eine Tonaufnahme in digitale Form um, so werden nach der anschließenden Analyse die auf diesem Wege erhaltenen Resultate aller-
42. Automatische Signalverarbeitung
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Abb. 42.8: Spektrogramm des Wortes Leute: Hochdeutsch, männlicher Sprecher. Oberes Bildsegment: Oszillogramm mit Zeitmarken (10 msec je Teilstrich). Mittleres Bildsegment: Intensitätsverlauf. Unteres Bild- segment: spektrale Energieverteilung (seitliche Frequenzmarken im Abstand von 500 Hz von unten nach oben) dings kaum einer kritischen Prüfung standhalten: Komplexe Schwingungen, wie sie im Falle von Sprachsignalen vorliegen, besitzen ein sehr breites Spektrum. Dabei werden Schwingungen, deren Frequenzen nicht dem Postulat des Abtasttheorems genügen, ‘rückgefaltet’, d. h. sie erscheinen als Differenzschwingungen zur Abtastfrequenz; Abbildung 42.3 kann zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts dienen. In B1 (vgl. Abb. 42.3 ) ist die Schwingung der Frequenz f dargestellt, in B2 eine Schwingung der Frequenz 2 · f; bei einer angenommenen Wandlungsrate von 3 · f, d. h. 3 · f Meßwerte/sec. (in Abb. 42.3 bei B1 und B2 durch kurze senkrechte Quantelungsmarken bezeichnet) weisen beide Schwingungen exakt die gleichen Amplitudenwerte auf (vgl. B3 ): Die Schwingung in B2 erscheint als Schwingung mit der Differenzfrequenz 3 · f — 2 · f = f. Eine
weitere Anhebung der Wandlungsrate von 3 · f auf 4 · f würde zwar in diesem speziellen Falle Abhilfe schaffen, ist jedoch im Bereich der Sprachsignale in Anbetracht ihrer Frequenzbandbreite, d. h. der Variationsmöglichkeit der enthaltenen Teilfrequenzen, kein Ausweg. Abhilfe ist in diesem Falle nur durch ein vor den A/D-Wandler geschaltetes Filter mit Tiefpaß- oder Bandpaß-Charakteristik möglich; ein Bandpaßfilter ist vorzuziehen, da mit ihm zugleich auch tieffrequente Störungen (etwa durch die Netzfrequenz der Stromversorgung) eliminiert werden können. Im Anwendungsfall wird man die Qualität dieses Filters, besonders auch seine Steilheit, berücksichtigen; aus diesen Gründen können hier nur Anhaltswerte gegeben werden: Gute Resultate für einen bandpaßgefilterten Frequenzbereich des Nutzsignals von ca.
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Abb. 42.9: Spektrogramm der Äußerung Ich verstehe Euch nicht, Ihr müßt etwas lauter reden. Sprecher: HA (hochalemannischer Dialekt). Bildaufbau: Oberes Segment: Oszillogramm mit Zeitmarken ober- und unter- halb des Oszillogramms (10 msec je Teilstrich). Mittleres Segment: Grundton- (obere Kurve) und Intensi- tätsverlauf (untere Kurve). Unteres Segment: Spektrale Energieverteilung (Energieschwerpunkte), seitliche Frequenzmarken im Abstand von 500 Hz von unten nach oben
Abb. 42.10: Formantkarte zum Text ich ... reden, Sprecher HA. Alle Angaben in Hz; die Abbildung ist beidseitig logarithmisch skaliert
Abb. 42.11: Korrelationsdiagramm Grundtonfrequenz/Intensität. Text ich ... reden, Sprecher HA. Beide Achsen logarithmisch skaliert
42. Automatische Signalverarbeitung
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Abb. 42.15: Spektrogramm der Äußerung ich ... reden, Sprecher NA (niederalemannischer Dialekt). Bildaufbau: Oberes Segment: Oszillogramm mit Zeitmarken ober- und unterhalb des Oszillogramms (10 msec je Teilstrich). Mittleres Segment: Grundton- (obere Kurve) und Intensitätsverlauf (untere Kurve). Unteres Seg- ment: Spektrale Energieverteilung (Energieschwerpunkte), seitliche Frequenzmarken im Abstand von 500 Hz von unten nach oben
Abb. 42.16: Formantkarte zum Text ich ... reden, Sprecher NA. Alle Angaben in Hz; beide Achsen logarithmisch skaliert
Abb. 42.17: Korrelationsdiagramm Grundtonfrequenz/Intensität, Text: ich ... reden, Sprecher NA. Beide Achsen logarithmisch skaliert
734
Abb. 42.12: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche des Grundtons. Sprecher HA. Erste Spalte: Absolute Häufigkeiten. Zweite Spalte: Frequenzbereiche in Hz
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Abb. 42.18: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche des Grundtons, Sprecher NA. Erste Spalte: Absolute Häufigkeiten. Zweite Spalte: Frequenzbereiche in Hz
Abb. 42.13 : Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche für den ersten Formanten (F1); Sprecher HA. Erste Spalte: Absolute Häufigkeiten. Zweite Spalte: Frequenzbereiche in Hz
Abb. 42.19: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche für den ersten Formanten (F1), Sprecher NA. Erste Spalte: Absolute Häufigkeiten. Zweite Spalte: Frequenzbereiche in Hz
Abb. 42.14: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche für den zweiten Formanten (F2), Sprecher HA. Erste Spalte: Absolute Häufigkeiten. Zweite Spalte: Frequenzbereiche in Hz
Abb. 42.20: Histogramm der Häufigkeiten der Frequenzbereiche für den zweiten Formanten (F2), Sprecher NA. Erste Spalte: Absolute Häufigkeiten. Zweite Spalte: Frequenzbereiche in Hz
42. Automatische Signalverarbeitung
80 Hz bis ca. 4000 Hz werden in der Praxis mit einer Wandlungsrate von 10 kHz erreicht. 3.4. Analyse von Grundton, Intensität und Formanten Das von uns eingesetzte System liefert in einem ersten Analyseschritt individuelle Grafiken vom Formant- und Intensitätsverlauf der jeweiligen Äußerung (Abb. 42.4 und 42.8). Dabei werden die Formanten zunächst nur als ‘Rohformanten’ dargestellt, d. h. die Darstellung orientiert sich nur an der spektralen Energieverteilung innerhalb des Signals, ohne deren zeitliche Kohärenz zu berücksichtigen. Weitere Aufschlüsse über die Signalstruktur mögen auch Darstellungen wie Abbildung 42.5 geben, in welcher die Strichlänge der Bandbreite der Formanten entspricht. Die zur Kohärenz p rüfung erforderliche Glättung der Formantverläufe schließt sich daran an; man erhält so eine Grafik vergleichbar mit Abbildung 42.6, bei der Formantverläufe nur noch im Bereich stimmhafter Signalabschnitte auftreten. In unserem System wird dieser Kohärenztest von dem entsprechenden Computerprogramm automatisch durchgeführt. Daß dieser Automatisierung Grenzen gesetzt sind, belegt der Vergleich der Abbildung 42.4 mit 42.8 bzw. Abbildung 42.6 mit 42.7. Die Formantstruktur ist in Abbildung 42.4 besonders für den ersten und zweiten Formanten deutlich schärfer umrissen als in Abbildung 42.8; in Abbildung 42.8 sind, besonders im An- und Auslaut, die Formantbereiche unschärfer, ‘verwaschener’, was sich in Abbildung 42.7 in Formantsprüngen an eben jenen Stellen auswirkt. Bei dieser Form der Darstellung handelt es sich um Übersichtsgrafiken; die nur schwach differenzierte Darstellung von Intensitäts- und Grundtonverlauf sind deshalb nur bedingt von Nachteil; sie reichen jedoch zur Lautsegmentation und der akustischen Vokalklassifikation aus; die Beurteilung des Intonationsverlaufs ist bei synoptischer Betrachtung der Abbildungen 42.4 und 42.6 bzw. Abbildungen 42.8 und 42.7 m. E. möglich. Den folgenden Ausführungen liegen Aufnahmen des Textes Ich kann Euch nicht verstehen, Ihr müßt etwas lauter reden gesprochen von jeweils einem Sprecher des hochalemannischen (im weiteren kurz HA; Abb.
735
42.9—42.14) sowie des niederalemannischen (im weiteren NA; Abb. 42.15—42.20) Dialektraumes. Ein visueller Vergleich der beiden Spektrogramme (Abb. 42.9 und 42.15) zeigt insbesondere im Grundtonhöhenverlauf (obere Kurve des mittleren Bildsegments) für den Sprecher NA eine deutlich höhere Variabilität, was auch in den Histogrammen der Grundtonhöhen (Abb. 42.12 und 42.18) zum Ausdruck kommt: Bei ungefähr gleicher mittlerer Stimmtonhöhe (13 2.9 Hz für HA, 127 Hz für NA) ist die Streuung für HA mit einer Standardabweichung von 16.61 doch deutlich niedriger als für NA (23 .06). Es ist zu erwarten, daß diese Unterschiede direkt in die Korrelation von Intensität und Grundfrequenz eingehen (Abb. 42.11 und 42.17): Eine durch die jeweilige Punktwolke gelegte Regressionsgerade würde für den Sprecher HA (Abb. 42.11) deutlich steiler ausfallen, d. h. die Korrelation ist geringer, als für den Sprecher NA (Abb. 42.17); es müßte in weiteren, umfangreicheren Untersuchungen abgeklärt werden, ob die in Artikel 3 7 ausgesprochene Erwartung, aufgrund der fehlenden Gauß-Verteilung der Grundton-Häufigkeiten aus den statistischen Maßen Rückschlüsse auf dialektale Eigentümlichkeiten ziehen zu können, zu verifizieren ist; zunächst kann jedenfalls eine stärkere sprecher-spezifische und weniger mundart-typische Aussagekraft nicht ausgeschlossen werden. Die in Abbildung 42.9 und 42.15 eingezeichneten Formanten lassen sich, beschränkt auf die beiden wichtigsten unteren Formanten, in einer Formantkarte — nach dem in Artikel 3 7, Abschnitt 3 .3 . Gesagten faktisch ein Korrelationsdiagramm von Öffnungsstelle (F1) und Artikulationsstelle (F2) — darstellen. Obgleich Punktkonzentrationen zu erkennen sind, ergeben sich selbstverständlich keine wohlabgegrenzten Bereiche, welche den einzelnen Vokalen zugeordnet werden können. Die Histogramme beider Formanten (Abb. 42.13 , 42.14 für HA, Abb. 42.19, 42.20 für NA) ergeben in etwa die Verhältnisse, wie sie anhand der Grundtonhöhen-Histogramme sowie der Spektren (Abb. 42.9 und 42.15) zu erwarten waren (vgl. dazu auch die jeweiligen Tabellen unter den Histogrammen). Ein letzter Vergleich der Histogramme 42.14 und 42.20 der Häufigkeiten der Frequenzbereiche für den zweiten Formanten
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
736
beider Sprecher — er korreliert mit der Lippenrundung — und der zugehörigen statistischen Tabellen weist auf eine deutlich ausgeprägte Rundung bei HA hin (Standardabweichung 424.7 gegenüber 509.5 für den Sprecher NA).
4.
Literatur (in Auswahl)
Brockhaus 1976 = Brockhaus Enzyklopädie, 17. Auflage, Wiesbaden 1976. Fant 1960 = G. C. M. Fant: Acoustic theory of speech production. ’s-Gravenhage 1960. Flanagan 1972 = J. L. Flanagan: Speech analysis, synthesis and perception. Berlin, Heidelberg 1972. Hamming 1977 = R. W. Hamming: Digital Filters. Englewood Cliffs 1977.
Markel/Gray 1976 = J. D. Markel/A. H. Gray: Linear prediction of speech. Berlin, Heidelberg 1976. Meyer-Ep p ler 1969 = W. Meyer-Eppler: Grundlagen und Anwendungen der Informationstheorie. 2. Aufl. Berlin, Heidelberg, New York 1969. Op p enheim/Schafer 1975 = Alan W. Oppenheim/ Ronald W. Schafer: Digital signal processing. Englewood Cliffs 1975. Pfeiffer 1978 = Signal Technology, Inc.: Interactive Laboratory System. User’s Guide. Santa Barbara 1978. Rabiner/Gold 1975 = Lawrence Rabiner/Bernard Gold: Theory and application of digital signal processing. Englewood Cliffs 1975.
Günter Fleischmann, Köln
43. Automatische Lexikographie 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Definitionen Nichtnumerische Datenverarbeitung Genese eines Wörterbuches Einsatz der EDV in diesem Prozeß Perspektiven Literatur (in Auswahl)
Definitionen
Lexikographie ist „the writing and compilation of dictionaries” (Ullmann 1962, 3 0) einschließlich aller „processes involved in collection and organization of lexical data” (Josselson 1966, 73 ). Das Ergebnis lexikographischer Tätigkeit ist ein Wörterbuch als Summe aller in ihm enthaltenen Wortartikel (vgl. Henne 1980). — Mit „Wörterbuch„ ist hier nur der Typ des sog. Bedeutungswörterbuches gemeint, eine durchweg alphabetisch geordnete Sammlung der systematisch erfaßten Lexik einer Sprache, in dem, ausgehend von der Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens, die an dieses gebundenen Bedeutungsstrukturen beschrieben, „semantische Mikrostrukturen„ abgebildet werden (Drosdowski 1977, 128), wobei paradigmatisch und syntagmatisch bedingte Bedeutungen
unterschieden werden (vgl. Drosdowski 1977, 13 6). Auch Dialektwörterbücher sind Bedeutungswörterbücher, in denen allerdings die Bedeutungsinterpretamente in der Regel nicht in der Objektsprache, sondern in der den Dialekt überdachenden Standardsprache gegeben werden. — Objektbereich der Dialektlexikograp hie ist die Lexik eines Ortsdialektes oder einer Gruppe oder mehrerer Gruppen verwandter Ortsdialekte; der topographische Geltungsbereich kommt im Titel des jeweiligen Wörterbuches zum Ausdruck: Wörterbuch des Dorfes Baden (Kreis Verden), Plattdeutsches Wörterbuch für das Oldenburger Land, Niedersächsisches Wörterbuch (vgl. Art. 5 und 41). — „Automatisch„ wird diese Form wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Lexik einer Sprache insofern genannt, als einzelne Arbeitsschritte der lexikographischen Tätigkeit mit Hilfe einer elektronischen Datenverarbeitungsanlage (EDV) ausgeführt werden.
2.
Nichtnumerische Datenverarbeitung
Die Lexikographie war nicht der erste Anwendungsbereich, in dem bei der Mani-
43. Automatische Lexikographie
pulation sprachlicher Daten die EDV mit Erfolg eingesetzt wurde. Voraus gingen vor allem — die Reihung entspricht, bei Überlappungen, einer zeitlichen Abfolge — das Bemühen um automatische Sprachübersetzung (vgl. Lehmann/Stachowitz 1972, Stachowitz 1973 , Toma 1977, Wilss 1980), die Herstellung von Indizes, Konkordanzen und Registern zu literarischen Werken oder zu Autoren (vgl. neben dem alles überragenden, seit 1973 erscheinenden Index Thomisticus von R. Busa, S. J., Wisbey 1962, 1967, Spevack 1968—1970, Lenders/Lutz/Römer 1969, Rössing-Hager 1970, Lenders 1972 a), schließlich die automatische Sprachanalyse (vgl. Schneider 1965, Eggers/Dietrich/Klein u. a. 1969, Klein 1971, Dietrich 1973 ), deren Ergebnisse die aufwendige Präedition der zu bearbeitenden Texte überflüssig machen sowie die maschinelle Herstellung deskriptiver Grammatiken natürlicher Sprachen ermöglichen sollten. Einführungen in die in Deutschland inzwischen durchweg so genannte Linguistische Datenverarbeitung (LDV) sind Lenders (1972), Bünting/ Cassiers (1972) und Dietrich/Klein (1974); den jüngsten umfassenden Überblick, in dem auch andere Objektbereiche aufgeführt werden, gibt mit ausführlicher Bibliographie Straßner (1977). Wichtige Fachzeitschriften: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung, Berlin 1947 ff.; Nachrichten für Dokumentation, Frankfurt/M. 1950 ff.; Cahiers de Lexicologie, Paris 1959 ff.; Beiträge zur Sprachkunde und Informationsverarbeitung, ab Heft 8, 1966, Beiträge zur Linguistik und Informationsverarbeitung, München 196 3 —1972; Computers and the Humanities, New York 1966 ff.; Computational Linguistics, seit 1970 Computational Linguistics and Computer Languages, Budapest 1963 ff.; Computer Studies in the Humanities and Verbal Behavior, The Hague 1968 ff.; Sprache und Datenverarbeitung, Tübingen 1977 ff.
Vor etwa 20 Jahren begann dann, am Centre d’Étude du Vocabulaire Français in Besançon, der Einsatz der EDV in der Lexikogra p hie (vgl. Quemada 1959). Er beschränkt sich hier im wesentlichen auf die Organisation der Daten, bleibt also streng genommen im Vorfeld der eigentlichen LDV. Es folgten nennenswerte Unternehmungen vor allem am Instituut voor Nederlandse Lexicologie in Leiden (vgl. de Tollenaere 1963 sowie zu den einzelnen Projekten die Informatie Nederlandse Lexicologie, zuletzt Nr. 5, 1977). Aus Deutschland sind in
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erster Linie die Überlegungen von Klappenbach (1960), Stickel/Gräfe (1966), Wahrig (1968), Krumnack/Lenders (1971) und Anderson/Goebel/Reichmann (1977) zu nennen sowie die Zusammenstellung einschlägiger Projekte bei Lenders (1971), ferner für den Bereich der Dialektlexikographie, der im folgenden allein zu berücksichtigen sein wird, Kamp (1969), Keseling (1969), Keseling/Kettner/Kramer u. a. (1970), Scheuermann (1974).
3.
Genese eines Wörterbuches
Bevor der Einsatz der EDV i n der Lexikographie am Beispiel des Niedersächsischen Wörterbuches (Nds. Wb.) beschrieben werden kann, ist der Entstehungsprozeß eines Wörterbuches zu skizzieren (vgl. Art. 5 und 79). 3.1. Materialsammlung Die Existenz einer dialektalen Lexik im jeweiligen Bearbeitungsgebiet wird bei allen Unternehmungen wie dem Nds. Wb. als gegeben vorausgesetzt. Auch sind bisher kaum explizit Überlegungen darüber angestellt worden, was diesen Objektbereich denn konstituiere, ob er in (möglichster) Vollständigkeit im Wörterbuch abzubilden sei oder welche Teile warum evtl. nicht zu berücksichtigen seien. Nur indirekt kann auf eine grundsätzlich vorhandene Tendenz geschlossen werden, vor allem die älteren, vom befürchteten Untergang bedrohten Bestandteile der dialektalen Lexik zu erfassen und sie gleichsam zu konservieren. — Auf dieser theoretisch wenig abgesicherten Basis erfolgt die Materialsammlung, die im wesentlichen auf drei Quellengruppen abstellt: Fragebogenenqueten — vorgegebene hochsprachliche Begriffe werden in den jeweiligen Ortsdialekt übertragen (vgl. Abb. 43 .1.) —, schon vorhandene, aus persönlichem Interesse an der Sache entstandene handschriftliche Aufzeichnungen und schließlich gedrucktes Material in Form von kleinen Wortschatzsammlungen, größeren Dialektwörterbüchern und Dialektliteratur. Vom Bearbeiter erkannte Lücken im zunächst vorhandenen Grundstock werden durch gezielte Ergänzungen geschlossen. — Allen Quellen ist gemeinsam, daß sie für den heutigen Bearbeiter in der Regel auf indirektem Wege entstanden. Direkte Erhebungen, wie sie in einem anderen Bereich dialektolo-
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gischer Forschung, dem der Sprachatlanten, teilweise erfolgen (vgl. etwa den Sprachatlas der Deutschen Schweiz), sind in der Dialektlexikographie selten. Indirekt erhobenes Material aber weist Schwächen auf, die vom späteren Bearbeiter nur selten ausgeglichen werden können. Sie betreffen insbesondere die phonologische Sprachebene — ist z. B. «ei» als /ai/ oder /εi/ zu interpretieren, Bieke ‘Bach’ als bi:kǝ oder als biǝkǝ? —, doch kann auch die lexikalische Ebene tangiert sein, läßt sich doch z. B. oft nicht erkennen, ob ein Lexem einen langen oder einen kurzen Stammvokal hat, was bei Doubletten wie drömeln, drömmeln ‘dösen’ oder fieseln, fisseln ‘fein regnen’ zu Fehlinformationen führen kann. 3.2. Materialaufbereitung Das Gesamtmaterial bildet zunächst eine ungeordnete Menge von Wortlisten, auf denen neben einer Ortsangabe pro Seite zahlreiche Lexeme mit ihren hochdeutschen Bedeutungen stehen, und Zetteln, die im Idealfall e i n Dialektwort, evtl. in einem kurzen Kontext, und die hochdeutsche
Abb. 43.1: Beispiel eines Fragebogens des Nds. Wb.
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Bedeutung sowie den Herkunftsort enthalten, oft aber auch mehrere solcher Lexeme nebst ihren Zusatzinformationen. Da das aus diesem Korpus zu schreibende Wörterbuch seine Einträge in alp habetischer Reihenfolge enthalten soll, ist in die Sammlung zunächst eine entsprechende Ordnung zu bringen. Voraussetzung dafür ist, daß das gesamte Material so verzettelt wird, daß auf jedem Belegzettel nur noch ein relevantes Dialektwort mit seinen Zusatzinformationen steht; dafür sind langwierige mechanische Abschreibarbeiten und die damit verbundenen Korrekturen erforderlich. Ihnen kann nun nicht etwa sofort der nächste mechanische Arbeitsgang, das alphabetische Sortieren, folgen, da zuvor, anders als bei standardsprachlichem Material, die durch das Fehlen einer verbindlichen Orthographie und die durch die systemimmanenten Eigenheiten der einzelnen Ortsdialekte im Bearbeitungsgebiet bedingten Divergenzen beseitigt, alle Wortformen auf die jeweilige Grundform zurückgeführt und Homographen geschieden werden müssen. Die Belege müssen also lemmatisiert werden, d. h. auf jeden Zettel muß die nach festen Regeln nor-
43. Automatische Lexikographie
malisierte Grundform des jeweils relevanten Dialektwortes geschrieben werden. Alle Belege zu einem als künftiges Lemma vorgesehenen Lexem werden so mit identischen Normalformen versehen, wodurch nach Abschluß der danach möglichen (und erforderlichen) alphabetischen Sortierung sichergestellt ist, daß alle im Archiv vorhandenen Belege zu jeweils einem Lexem als geschlossener Block an einer Stelle zusammenstehen. 3.3. Materialergänzung Dem Korpus, das, wie in 3 .1. beschrieben, entstanden ist, haftet in mancher Hinsicht der Charakter des Zufälligen an: Einige Regionen sind nicht (ausreichend) repräsentiert, gewisse Bereiche der Lexik fehlen (weitgehend), es sind nicht alle erreichbaren Lexeme bzw. Bedeutungen von schon vorhandenen Lexemen erfaßt, es mangelt an ausreichenden grammatischen Informationen usw. Solche Schwächen sind am sortiert vorliegenden Material im allgemeinen erkennbar und müssen durch gezielte Befragung von Gewährspersonen beseitigt werden, bevor die Manuskriptarbeiten beginnen können. Die Ergänzungen werden in das vorhandene Korpus integriert. 3.4. Materialauswertung In der Wörterbuchkanzlei sind die vorerst letzten Arbeitsschritte die Abfassung der einzelnen Wortartikel, die Anfertigung der Druckvorlage und gegebenenfalls die Herstellung von Vorlagen für Sprachkarten. 3.4.1. Herstellung des Manuskriptes Dem zu einem Lemma gehörenden Belegmaterial, das ihm komplett vorliegt, hat der Bearbeiter alle relevanten Informationen zu entnehmen, die er zu ordnen und aus denen er unter Beachtung redaktioneller Richtlinien den einzelnen Wortartikel zu verfassen hat. So muß er etwa das endgültige Lemma festlegen, die Bedeutung(en) ermitteln, grammatische Klassifizierungen vornehmen, die regionale Distribution bestimmter Lautformen und die der einzelnen Bedeutungen feststellen und beschreiben, relevante Kontexte erkennen und berücksichtigen u. a. m. Von seinen Entwürfen wird eine Reinschrift angefertigt, die als Druckvorlage an den Verlag geht.
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3.4.2. Sprachkarten Integraler Bestandteil von Dialektwörterbüchern, die ein relativ großes Bearbeitungsgebiet abdecken, sind Sprachkarten. Auf ihnen wird die geographische Distribution entweder grammatischer Phänomene (Laut-, Formenkarten) oder die der dialektalen Heteronymik eines hochsprachlichen Begriffes (Wortkarten) veranschaulicht. Die Festlegung, welche Karten aufgrund welcher Kriterien erscheinen sollen, hat der zuständige Redakteur zu treffen, der auch die Ausführung vom Entwurf bis hin zur Reinzeichnung zu überwachen hat. Karten können in den laufenden Text integriert oder zu einem Anhang zusammengefaßt werden. 3.5. Druck des Manuskriptes Außerhalb der Wörterbuchkanzlei erfolgt der Druck des fertigen Manuskriptes und der Karten. Den Mitarbeitern in der Kanzlei obliegt noch das Korrekturlesen der Druckfahnen und später des Umbruchs, ehe dann endgültig gedruckt werden kann. Mit der Auslieferung der Druckexemplare ist der Entstehungsprozeß eines Wörterbuches abgeschlossen.
4.
Einsatz der EDV in diesem Prozeß
Die in 3 . skizzierte Genese eines Dialektwörterbuches erfordert auf einigen Stufen sehr umfangreiche mechanische Arbeiten, die für diejenigen, die sie ausführen müssen, höchst unbefriedigend sind, da sie keinerlei intellektuelle Anforderungen stellen. Und auch die Aufgaben, die fachwissenschaftlich qualifizierten Dialektologen vorbehalten bleiben müssen, sind in der Frühphase lexikographischer Tätigkeit wenig attraktiv. Es liegt also nahe, gerade für die ersten Bearbeitungsstufen den Computer als „the linguist’s indispensable assistant” (Hays 1966, 2) einzusetzen. — Daß seine Einbeziehung auch in spätere Arbeitsschritte sinnvoll ist, wurde am Nds. Wb. bisher nicht erprobt, darf aber als gesichert gelten. Wood (1971) demonstriert z. B. die Möglichkeit, u. a. die regionale Distribution dialektaler Lexeme mit Hilfe der EDV zu erfassen. In Form computativ erstellter Wortlisten führt er für 8 Südstaaten der USA die Verbreitung dialektaler Heteronyme zu standardsprachlichen Begriffen an (vgl. Wood 1971, 64—296). Damit ist zwar kein Dialektwörterbuch entstanden, aber
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eine wichtige Aufgabe dialektlexikographischer Arbeit wurde erfolgreich gelöst. — Eben dieses Problem klärt, wenn auch gleichfalls nur für den über ein Fragebuch erhobenen Teil der Lexik, das Dictionary of American Regional English mit Hilfe automatisch erstellter Wortkarten (vgl. Cassidy 1977; vgl. ebenfalls 4.3 .3 .). Von allen dialektalen Heteronymen eines standardsprachlichen Begriffes können im On-Line-Betrieb in Minutenschnelle Wortkarten auf einen Bildschirm projiziert werden, denen die Bearbeiter die regionale Distribution entnehmen, die sie entweder mit Worten beschreiben — die Karte ist dann ein bloßes Arbeitsinstrument, das nicht publiziert wird — oder die sie in Kartenform dem Wörterbuch beifügen. Die Praxis der Erschließung einer vorhandenen ungeordneten Datenmenge für ein semasiologisches Wörterbuch soll im folgenden, wiederum am Beispiel des Nds. Wb., skizziert werden. Die erforderlichen elektronischen Arbeitsläufe wurden anfangs auf der Anlage des Deutschen Rechenzentrums (DRZ) in Darmstadt durchgeführt und erfolgen seit dem Sommer 1971 auf der UNIVAC 1108, seit Herbst 1979 auf der UNIVAC 1100/82 der Gesellschaft für wissenschaftliche Datenverarbeitung mbH Göttingen. 4.1. EDV und Materialaufbereitung Das Schwergewicht des Einsatzes der EDV liegt in Göttingen im Bereich der unter 3 .2. dargestellten Materialaufbereitung, da ein umfassendes Materialkorpus vorhanden ist, die Materialbeschaffung also unberücksichtigt bleiben konnte. Ansätze zur Optimierung auch dieser Arbeitsphase finden sich für das Verzetteln von größeren zusammenhängenden Texten u. a. bei Bahr (1966) und Stickel/Gräfe (1966). 4.1.1. Datenaufnahme Bevor Materialien, gleich welcher Art und Herkunft sie sein mögen, vom Computer anhand eines Programmes sinnvoll manipuliert werden können, müssen sie in maschinenlesbare Form gebracht werden. Am Nds. Wb. geschah dies durch Übertragen der rund 1,2 Mill. Fragebogenbelege, die vor einer Auswertung ohnehin erst hätten verzettelt, lemmatisiert und sortiert werden müssen, auf Lochkarten. Vor Beginn dieser Arbeit wurde die Abfolge der Informationen
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
auf jeder Lochkarte festgelegt, dabei die Nutzung der technischen Möglichkeiten eingeplant, die der Kartenlocher IBM 29 vor allem durch das programmgesteuerte automatische Duplizieren bietet. Jede Lochkarte ist in folgende Informationsabschnitte unterteilt, die jeweils mit einer Kennung, bestehend aus der Zeichenfolge Punkt — Ziffer (1—5) — Punkt, versehen sind: 1. Abschnitt: dreispaltige Grammatiksigle, 2. Abschnitt: normalisierte Grundform, 3 . Abschnitt: Beleg, 4. Abschnitt: Belegort, 5. Abschnitt (fakultativ): hochdeutsche Bedeutung des relevanten niederdeutschen Lexems. Am Anfang jeder Karte stehen die Buchstaben FR für Fragebogen sowie, durch ein Komma getrennt, eine zweistellige Fragebogen- und eine dreistellige Fragenummer. Sie ersetzen im Normalfall die hochdeutsche Bedeutung, die aber für den Output mit Hilfe eines Unterprogrammes aus einem im Kernspeicher eingerichteten Verzeichnis in Klarschrift erzeugt wird. Nur in den Fällen, da nicht ein Einzelwort, sondern ein kurzes Syntagma abgefragt ist, muß die hochdeutsche Bedeutung des relevanten niederdeutschen Lexems explizit im fünften Abschnitt angegeben werden; dieser wird dann beim Lochen vor den ersten gezogen, damit er immer automatisch dupliziert werden kann. — In der Präeditionsp hase wurden u. a. die Kodierungen für die weder im Zeicheninventar des Kartenlochers noch in dem des Computers vorhandenen Umlaute und Diakritika, für das Graphem «ß», für die Graphemkombinationen «å» bzw. «», für Diphthonge des Typs «ei, iu» u. a. m. sowie für die Kategorie „Großschreibung„ definiert, wurden ein Siglensystem für die grammatische Beschreibung relevanter Lexeme festgelegt, ein Verfahren zur Trennung von Homographen erarbeitet (zu Einzelheiten vgl. Keseling/Kettner/Kramer u. a. 1970, Scheuermann 1974, 16—20). — Das Übertragen der Fragebogenbelege auf Lochkarten erfolgte, Frage für Frage und nicht, wie auch denkbar, Ort für Ort, nach einem Schema, bei dem so weit wie möglich mit festen Positionen gearbeitet wurde. Möglichst viele Informationen, die in identischer Form wiederkehren, stehen auf jeder folgenden Karte in denselben Spalten wie auf der jeweils vorhergehenden: FR, Fragebogennummer, Komma, Fragenummer in den Spalten 1—8; Kennung des 1. Abschnittes in den Spalten 9—11; 1. Abschnitt in den Spalten 12—14; Kennung des 2. Abschnittes in den Spalten
43. Automatische Lexikographie
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Abb. 43.2: Beispiel einer Lochkarten-Erfassung zur Frage 06.302 15—17; 2. Abschnitt in den Spalten 18—n; Kennung des 3 . Abschnittes in den Spalten n + 1 — n + 3 ; gegebenenfalls das Kennzeichen für die Großschreibung in Spalte n + 4. Falls die hochdeutsche Bedeutung explizit auf die Lochkarte übertragen werden mußte, wurden ab Spalte 9 die Kennung des 5. Abschnittes (bis 11) und der 5. Abschnitt selber eingeschoben. Auf diese Weise konnte der Vorteil des automatischen Dup lizierens, den der Kartenlocher bietet, optimal genutzt werden, da durchschnittlich 60% der auf eine Lochkarte zu schreibenden Zeichen nicht einzeln getippt zu werden brauchten. Neben einer erheblichen Zeitersp arnis — ein Vergleich mit herkömmlichem Verzetteln ergab allein für diesen Arbeitsgang, der zudem das Eintragen der normalisierten Grundformen mit einschloß, etwa 50% —
brachte das Duplizieren von einer Lochkarte auf die folgende eine drastische Senkung der Fehlerquote mit sich, da in den zu duplizierenden Bereichen keine Tippfehler unterlaufen konnten. — Ein weiterer Zeitgewinn ließ sich dadurch erzielen, daß die Belegorte dank der Möglichkeiten der EDV nicht in Klarschrift auf die Lochkarten übernommen zu werden brauchten. Es genügte statt dessen eine Sigle für jeden Ort, die, analog zum System des DSA/DWA, aus einer Buchstaben-Ziffern-Kombination besteht. 4.1.2. Datenverarbeitung Die nach trum damit
so produzierten Lochkarten wurden sorgfältiger Kontrolle im Rechenzenauf Magnetband übertragen und sind einer Bearbeitung durch den Elektro-
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nenrechner unmittelbar zugänglich. Anhand der normalisierten Grundformen wurden die Daten zunächst alp habetisch sortiert, ein Arbeitsschritt, bei dem gegenüber dem herkömmlichen manuellen Verfahren der größte Zeitgewinn innerhalb der Phase der Materialaufbereitung erzielt wird, läßt sich doch nach den Erfahrungen von Kamp (1969, 73 ) „eine Anzahl von 20 000 Belegen durchaus innerhalb von 8—12 Minuten„ sortieren. Belege mit identischen Normalformen wurden gleichzeitig in eine zuvor festgelegte geographische Reihenfolge gebracht. Die für diese Manipulationen erforderlichen Verarbeitungsp rogramme stehen teilweise in Form standardisierter Hersteller-Software zur Verfügung (u. a. SORTX 8, MERGEX 8, neuerdings SORT der Firma UNIVAC), z. T. sind für die Belange des Nds. Wb. spezielle Programme entwickelt worden. — Der Outp ut des sortierten Materials enthält zu jeder normalisierten Grundform alle Informationen, die zuvor auf die jeweilige Lochkarte übertragen worden waren; in ihm sind die Ortssiglen (vgl. 4.1.1.) mit Hilfe eines Unterprogramms, das vor dem Drucken aufgerufen wurde, über ein im Kernspeicher eingerichtetes Sublexikon aufgelöst. Obwohl der Output nur für weiterführende Arbeiten in der Kanzlei gedacht ist, geht ihm eine Dekodierung der bei der Datenaufnahme und -verarbeitung verwendeten Sonderzeichen voraus. Da jede normalisierte Grundform auch eines Kompositums im Gegensatz zur Stichwortliste (vgl. 4.1.3 .) im Ausdruck des Archivmaterials nur im alphabetischen Zusammenhang des jeweils ersten Kompositionsteiles erscheint, ist volle Kompatibilität dieses Teiles des Gesamtkorpus mit dem nach denselben Prinzipien manuell aufbereiteten Zettelarchiv gewährleistet. Die Abfassung der einzelnen Wortartikel erfolgt also aus zwei zwar getrennten, aber völlig gleich strukturierten Materialsträngen. 4.1.3. Automatische Stichwortliste Mit Beginn des Lemmatisierens der ja noch ungeordneten rund 2 Mill. Fragebogen- und Zettelbelege wurde eine offene Liste angelegt (vgl. Abb. 43 .4), in die jede erstmals angesetzte normalisierte Grundform unabhängig davon, ob der zugrunde liegende Beleg aus dem Fragebogen- oder dem Zettelarchiv stammt, mit einer vorläufigen Bedeutungsangabe je einmal aufgenommen wird. Dieser Liste kann (und muß!) bei jedem späteren
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Abb. 43 .3 : Ausschnitt aus dem automatisch sortierten Belegmaterial Auftauchen eines weiteren Beleges zu einem bereits erfaßten Lexem dessen zuvor angesetzte Normalform entnommen werden. Nur so läßt sich sicherstellen, daß alle Belege zu einem Lexem, so sehr sie auch als Wortformen von einander abweichen mögen, an wirklich nur e i n e r Stelle gesammelt werden. Die Konstruktion der Normalformen geschieht auf herkömmliche Weise auf der Basis eines fiktiven nordniedersächsischen, dem Mittelniederdeutschen nahestehenden Dialektes; für ein automatisches Lemmatisieren (vgl. Dietrich 1973 , Rath 1971, 1971 a, Eggers/Luckhardt/Maas 1980) fehlten die Voraussetzungen und konnten auch nicht erst geschaffen werden. — Die Stichwortliste, deren Einträge alphabetisch sortiert sind, wird aus speziell für sie geschriebenen Datenkarten automatisch erstellt (vgl. Scheuermann 1974, 3 2—3 5) und bei Bedarf um die jeweiligen Neuzugänge erweitert. Am 3 1. 8. 1980 umfaßte sie über 150 000 Einträge, für die jedoch gilt, daß die Anzahl der unterschiedlichen Lexeme niedriger liegt, da jedes Kompositum so oft in der Liste erscheint, wie es zuvor exakt definierte und
43. Automatische Lexikographie
durch das Symbol / von einander getrennte Bestandteile hat. Über ihren eigentlichen Zweck hinaus ist diese Liste zugleich ein alle Lexeme des Korpus des Nds. Wb. enthaltendes Gesamtinventar, das schon vor der abgeschlossenen Publikation des Wörterbuches einen ersten, wenn auch in mancher Hinsicht noch sehr unvollkommenen Überblick über den erfaßten und zu bearbeitenden Wortschatz erlaubt. — Aufgrund der äußeren Organisation der in ihr enthaltenen niederdeutschen Daten (vgl. Abb. 43 .4) ermöglicht die Liste den Redakteuren jederzeit einen umfassenden Überblick über alle nicht-ersten Bestandteile von Komposita, die im Output des Fragebogenarchivs und i m Zettelarchiv nicht greifbar sind. Dies ist sehr wichtig u. a. für die Ansetzung der endgültigen Lemmata sowie für die Abfassung von Artikeln zu lexikalisierten Syntagmen wie Tramp in’n Himp en ‘Tölpel’ oder Haop
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up ’n Doud ‘jemand, der auf den Tod eines anderen hofft’; solche oder ähnliche Bildungen spielen im Bereich dialektaler Tier- und Pflanzennamen eine große Rolle (Flick de Büx ‘Wachtel’, Peerd un Waogen ‘Sturmhut’). Bei der Datenaufnahme hätten solche Syntagmen ohne die Stichwortliste unter erheblichem Zeitaufwand mehrfach erfaßt werden müssen; da diese aber auch bei der Abfassung des Manuskriptes herangezogen werden kann, genügt es, die als Beispiele genannten Verbindungen wie feste Komposita als TRAMP/IN/DE/HIMPEN, HO:P1/UP/DE/DO:D, FLICK/DE/BÖXE, PERD/UND/WA:GEN aufzunehmen, also nur je einmal. 4.2. EDV und Materialergänzung Ein fertiges Programm zur gezielten Schließung erkannter Materiallücken besteht noch
Abb. 43.4: Ausschnitt aus der automatisch zusammengestellten Stichwortliste
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aus der Zeit der Zusammenarbeit mit dem DRZ. Mit seiner Hilfe sollen, soweit im Einzelfall erforderlich, einer Normalform und ihrer vorläufigen hochdeutschen Bedeutung ein je nach Wortart spezifischer Fragenkanon automatisch hinzugefügt und der gesamte Komplex dann so oft im Format DIN A6 ausgedruckt werden, wie er an Überp rüfer im Bearbeitungsgebiet verschickt werden soll. Die Antworten, die bereits die lemmatisierten Normalformen enthalten, können ohne großen Aufwand in das geordnete Zettelarchiv integriert werden. Lexeme, die jetzt neu in das Korpus gelangen, werden lemmatisiert, in die Stichwortliste aufgenommen und zur Feststellung aller für sie relevanten Informationen automatisch erschlossen und an alle Überprüfer geschickt. 4.3. EDV und Materialauswertung Im Unterschied zu den bisher skizzierten Arbeitsschritten sind die folgenden noch nicht am Nds. Wb. in die Praxis umgesetzt worden. An ihrer grundsätzlichen Praktikabilität ist nicht zu zweifeln, doch fehlen Erfahrenswerte darüber, ob das im Prinzip zu erwartende positive Ergebnis in einer vertretbaren Relation zu dem voraussichtlichen Arbeits-, Kosten- und Zeitaufwand stände. 4.3.1. „Laut„tabellen Solange ein Dialektwörterbuch wie das Nds. Wb. nicht auf eine aus kompatiblem Material hervorgegangene Grammatik rekurrieren kann, muß es Informationen mitliefern, die nicht eigentlich in den Bereich der Lexik gehören, so u. a. Angaben zur regionalen Distribution moderner Repräsentanten historischer Laute oder Lautkombinationen. Dabei können aus Gründen, die in 3 .1. angedeutet wurden, keine phonologischen Systeme der einzelnen Ortsdialekte aufgestellt werden, die Darstellung kann sich vielmehr nur auf die belegten Laienschreibungen beziehen. Beschrieben werden kann also, gleichsam atomistisch, nur, durch welche(s) Graphem(e) ein historisch exakt festlegbares Phonem oder eine solche Phonemkombination im Korpus wiedergegeben ist. — Relevant ist für das Nds. Wb. vornehmlich der Teilbereich der Vokalp honeme. Für die Untergruppe der langen Monop hthonge etwa können anhand des per EDV erschlossenen Fragebogenmaterials automatisch „Laut„tabellen zusammengestellt werden, indem
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
z. B. für alle belegten Grapheme, die die mittelniederdeutschen Phoneme /i:, ü:, u:/ repräsentieren, alle Belege zu jenen normalisierten Grundformen ausgedruckt werden, in deren zweitem Abschnitt auf der Lochkarte als Stammvokal ein «I:, Ü:, U:» steht; die zugehörigen Belegorte erscheinen i n einer vorher festgelegten geographischen Reihenfolge. Anhand einer solchen Liste läßt sich ermitteln, daß in einem Ort A die alten hohen Längen heute als «ie, üü, uu» vertreten sind, in B als «äi, ui, iu», in C als «ai, ui, ou» usw. Entsprechendes läßt sich — wenn auch erst nach Zwischenschaltung eines manuellen Selektionsverfahrens, da die Relationen zwischen Stammvokal der Normalform und historischem Phonem bei ihnen nicht so ein-eindeutig sind wie bei den hohen Längen — für die übrigen langen Monophthonge durchführen. Im Bereich der Kurzvokale sind vor allem die Ergebnisse der Entwicklungen in offener Tonsilbe sowie die kombinatorischer Lautentwicklungen von Interesse. Als Summe solcher zunächst nach Stammvokalen geordneter Computer-Outputs sind manuell zu erstellende, nach Belegorten umsortierte Tabellen denkbar, in denen alle relevanten Informationen zusammengestellt sind, anhand derer sich der Leser für jeden Belegort leicht einen Überblick verschaffen kann (vgl. als Entsprechung Foerste/Hofmann 1969). Der Wörterbuchtext kann dann durch Verweise auf solche Tabellen an vielen Stellen von immer wiederkehrenden identischen oder ähnlichen Angaben entlastet werden. Die Voraussetzungen für die (teil)automatische Erstellung solcher Tabellen aus dem Fragebogenmaterial sind gegeben; auf ihre Verwirklichung wird z. Zt. jedoch zugunsten einer besseren Lösung verzichtet (vgl. 4.3.3.). 4.3.2. Herstellung des Manuskriptes Zu den zu hohen Erwartungen, die während der praktischen Anwendung ursprünglicher Pläne zurückgeschraubt werden mußten, gehört auch die, selbst der abschließende Wörterbuchtext könne automatisch, im Dialog Mensch — Maschine, hergestellt werden (zu entsprechenden Überlegungen vgl. Keseling/Kettner/Scheuermann 1967, 19—2 3 ). Daß dies prinzipiell möglich ist, wird auch hier nicht bestritten, doch erscheint es fraglich, ob das Ergebnis den zu erwartenden hohen Aufwand rechtfertigen kann. — Durchführbar jedoch ist ein Verfahren, bei
43. Automatische Lexikographie
745
Abb. 43.5: Beispiel eines automatisch erstellten Fragebogens zur gezielten Materialergänzung dem der Wörterbuchtext zwar in traditioneller Weise konzipiert, bei der abschließenden Reinschrift jedoch mit Blick auf den späteren Druck die herkömmliche Schreibmaschine durch ein Datensichtgerät im OffLine-Betrieb ersetzt wird. Der Inhalt jeder auf ihm beschriebenen Kassette oder besser noch Diskette wird auf Magnetband übertragen, von wo für ein letztes Korrekturlesen zunächst ein Output erzeugt wird, bevor schließlich — nach evtl. noch erforderlichen Korrekturen — der gesamte Text auf Lochstreifen ausgegeben und in dieser Form an die Druckerei geliefert wird (vgl. 4.4.). 4.3.3. Sprachkarten In 4.3 .1. wurde die Notwendigkeit aufgezeigt, den Wörterbuchtext von immer wiederkehrenden ähnlichen oder gar gleichen Informationen zu entlasten, insbesondere von den Angaben zur regionalen Distribu-
tion heutiger Repräsentanten historischer Phoneme. Neben der Möglichkeit, dieses Problem durch (teil)automatisch hergestellte „Laut„tabellen zu lösen, besteht die der Veranschaulichung der Verhältnisse durch Karten; ihr sollte der Vorzug gegeben werden (vgl. Scheuermann 1978). Die Speicherung des Fragebogenmaterials — nur dieses bietet die für Karten nötige Belegdichte und Homogenität — auf elektronischen Datenträgern ist eine wichtige Voraussetzung für die automatische Herstellung solcher Karten (vgl. Art. 44); eine weitere erfüllt das zuständige Rechenzentrum, das leistungsfähige Plotter (Hersteller: Calcomp) und seit kurzem mit dem Softwarepaket DISSPLA (Display Integrated Software System and Plotting Language) ein vielseitiges, komfortables und leicht handhabbares Instrument für die graphische Darstellung zur Verfügung stellt; evtl. für das Nds. Wb. erforderliche spezielle Verarbeitungsprogramme lassen sich nach
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den bisherigen Erfahrungen ohne allzu große Schwierigkeiten schreiben. — Praktisch erprobt wurde die automatische Kartierung für „Laut„karten vor allem in Marburg (vgl. Putschke 1969, Veith 1970); das in Freiburg laufende Forschungsvorhaben Südwestdeutscher Sprachatlas, das sein Material allerdings nicht „ausschließlich im Hinblick auf ein Kartenwerk„ sammelt (Schelb 1973 , 42), bedient sich ebenfalls der EDV. An Vorteilen gegenüber herkömmlichen Verfahren nennt Putschke (1969) u. a. Zeit- und Kostenersparnis sowie „eine beliebige Wiederholbarkeit der gesamten Ergebnisse oder Arbeitsvorgänge„ (Putschke 1969, 103 ). — Neben „Laut„karten spielen im Dialektwörterbuch Wortkarten eine wichtige Rolle. Für sie liegen praktische Erfahrungen hinsichtlich einer automatischen Kartierung vor allem aus Münster vor (vgl. Schophaus 1969, jetzt auch Eickmans 1979). Das dort erfolgreich erprobte Verfahren ergab hinsichtlich materieller Einsparungen für das Material des Niederdeutschen Wortatlasses, daß dieses, „gemessen an der manuellen Herstellung, in etwa einem Achtel der Zeit und mit einem Viertel der Kosten„ aufgearbeitet werden kann (Schophaus 1969, 105). Dieser Aspekt schlägt noch stärker durch, wenn der Maschinenausdruck solcher Karten nicht nur als „Vorlage für die Reinzeichnung„ (Putschke 1969, 102) verwendet werden kann, sondern direkt von ihm das Klischee für den Publikationsdruck angefertigt wird. — Das ursprünglich nur für die Belange des Nds. Wb. auf elektronischen Datenträgern gespeicherte Fragebogenmaterial eröffnet dank der Möglichkeiten der automatischen Sprachkartographie als weitere Form der Auswertung die Herstellung eines Niedersächsischen Sp rachatlasses. Ein solcher Atlas müßte mit dem Blick auf das Wörterbuch als sinnvolle Ergänzung zu diesem konzipiert werden. — Zur Automatischen Sprachkartographie vgl. besonders Putschke 1977. 4.4. EDV und Druck Der Einzug der elektronischen Datenverarbeitung in die Druckindustrie läßt es geboten erscheinen, daß sich die Redakteure auch von Dialektwörterbüchern Gedanken darüber machen, ob und gegebenenfalls wie sie in ihrem Zuständigkeitsbereich Voraussetzungen für einen optimalen Einsatz der neuen Technik schaffen können. Dabei ist, wie die z. T. leidvollen Erfahrungen von van
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Sterkenburg (o. J., [1976]) beweisen, eine vorherige genaue Abstimmung mit der Drukkerei hinsichtlich deren technischer Ausstattung erforderlich. Von seiten der Wörterbuchkanzlei sind als Ergebnis des in 4.3 .2. skizzierten Verfahrens keine Lochstreifen zu erwarten, die ohne weiteres durch eine comp utergesteuerte Setzanlage verarbeitet werden könnten, da sie nicht alle für den Druck nötigen Regieanweisungen enthalten. Zwar können Schriftauszeichnungen wie „Halbfett„, „Kursiv„, „Kapitälchen„ durch zu vereinbarende Sonderzeichen vor dem auszuzeichnenden Wort kenntlich gemacht werden, aber die für die Einrichtung des Satzspiegels unerläßlichen Steuerbefehle für Silbentrennung am Zeilenende, Bildung von Absätzen u. a. m. sind i n der Kanzlei nicht zu leisten. Sie müssen — neben weiteren Druckanweisungen — in der Druckerei automatisch beigesteuert werden. Wie weit die Praxis inzwischen fortgeschritten ist, zeigt das Beispiel einer großen japanischen Tageszeitung, die trotz eines zu berücksichtigenden Inventars von über 3 000 verschiedenen Schriftzeichen computergesteuert gesetzt wird (vgl. IBM-Magazin für Datenverarbeitung, April 1973 , 3 ). Zwar scheint es trotz eines solchen Erfolges noch immer Anlaufschwierigkeiten zu geben, ist vor allem die Software solcher Anlagen noch verbesserungsbedürftig, aber das Ende herkömmlicher Setztechniken steht außer Zweifel (vgl. auch Ott 1980). — Ein großer Vorteil dieser Verfahren liegt darin, daß nach einer in der Anfangsphase durchgeführten gründlichen Korrektur von dem Moment an, da in der Druckerei ein fehlerfreier Lochstreifen vorliegt, keinerlei von Menschen auszuführende Abschriften irgendwelcher Vorlagen mehr nötig sind. Hierdurch wird, da das frühere Korrekturlesen von Druckfahnen und Umbruch entfällt, nicht nur ein neuerlicher Zeitgewinn erzielt, sondern es kann auch die Fehlerquote merklich gesenkt und somit eine Qualitätssteigerung erreicht werden. Auch das Einschießen der technischen Druckanweisungen in die von der Arbeitsstelle gelieferten Lochstreifen, das zur Folge hat, daß doch noch eine Korrektur gelesen werden muß, schmälert den insgesamt zu erzielenden Vorteil nur unwesentlich. Dieser verlöre nur dann erheblich an Gewicht, wenn in der Druckerei ein angeliefertes herkömmliches Schreibmaschinenmanuskript auf Lochstreifen übertragen, also von Menschen neuerlich abgeschrieben werden müßte.
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5.
Perspektiven
In 4. wurden nur jene Aspekte des Einsatzes der EDV in der Lexikographie angesprochen, die unmittelbare Bedeutung für die Arbeiten am Nds. Wb. haben (können). Das auf elektronischen Datenträgern gespeicherte Material kann aber auch für Projekte nutzbar gemacht werden, die über die eigentliche Wörterbucharbeit hinausgehen, hat also multiinformativen Charakter. So können aus ihm etwa für Untersuchungen zur Pluralbildung oder zum Genus bei Substantiven oder zum (teilweisen) Abfall des Präfixes ge- im Partizipium Präteriti der Verben alle einschlägigen Belege über die Grammatiksigle automatisch aussortiert und aufgelistet, über die Ortssigle dazu auch noch in jede gewünschte geographische Ordnung gebracht werden. Für Strukturuntersuchungen zur Komp ositionsfähigkeit einzelner Lexeme kann, evtl. mit Hilfe der Stichwortliste (vgl. 4.1.3 .), das einschlägige Material maschinell über die normalisierte Grundform zusammengestellt werden; zum Eintrag BO:M ‘Baum’ z. B. weist diese Liste von A:HORN/ BO:M ‘Ahorn’ bis BI:SER/BO:M ‘Bindebaum’ über das Simplex, von BO:M/BATZER1 ‘Specht’ bis BO:M/WORTEL ‘Baumwurzel’ und von BÖ:R/BO:M ‘Bindebaum’ bis WUCHT/BO:M ‘Bindebaum’ insgesamt etwa 3 3 0 Komposita auf, deren zugehörige Belege eine für die angedeutete Untersuchung ausreichende Basis liefern. Mit Hilfe der Ortssiglen ist die mühelose Herstellung von regionalen Wortverzeichnissen oder pS rachatlanten denkbar, in denen die Gegebenheiten nur eines Teiles des Bearbeitungsgebietes, beispielsweise die des westfälischen Sprachgebietes innerhalb Niedersachsens, berücksichtigt werden könnten. — Der Einsatz der EDV in der Frühphase lexikographischer Arbeitsabläufe hat sich am Nds. Wb. in Göttingen vollauf bewährt. Aus den dabei in einer umfangreichen Praxis gewonnenen Erfahrungen resultiert die Erkenntnis, daß — auch und gerade unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit — weitere Stationen im Entstehungsprozeß eines Wörterbuches durch eine Kombination manueller und maschineller Arbeitsabläufe optimiert werden können.
6.
Literatur (in Auswahl)
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747
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44. Automatische Sprachkartographie
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Ulrich Scheuermann, Göttingen
44. Automatische Sprachkartographie 1. 2. 3. 4.
Automatische Kartierungsverfahren Praktische Anwendungsversuche Wahrscheinliche Entwicklungsmöglichkeiten Literatur (in Auswahl)
Die Automatische Sprachkartographie gehört unter methodischen Gesichtspunkten zur Themakartographie und aus inhaltlicher Sicht zur Dialektologie bzw. Dialektgeographie. Um ihren gegenwärtigen Stand zu skizzieren, wird zunächst ein Überblick über die bisher möglichen automatischen Kartierungsverfahren und die damit verbundenen Anwendungsversuche gegeben; auf dieser Grundlage lassen sich abschließend die voraussichtlichen Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen.
1.
Automatische Kartierungsverfahren
Die automatische Kartierung umfaßt den gesamten Herstellungsprozeß von dem erhobe-
nen Beleg bis zur fertigen Sprachkarte. Die bisher entwickelten Kartierungsverfahren sind überwiegend Testversionen und nur in einigen Fällen wurden sie bis zum praktischen Einsatz in dialektologischen Atlasprojekten ausgearbeitet, so z. B. bei dem Atlas Linguarum Europae (= ALE, Europäischer Sprachatlas), dem „Fränkischen Sprachatlas”, dem Kleinen Deutschen Sprachatlas (= KDSA) und dem Südwestdeutschen Sprachatlas. 1.1. Grundkonzeption der automatischen Sprachkartographie Das leitende Grundprinzip bei der Konzeptionierung und Entwicklung automatischer Kartierungsverfahren ist zunächst in der Simulation der manuellen Herstellungsverfahren in einem Computer-Plotter-System zu sehen, um den Dialektologen primär von der zeitaufwendigen Zeichenarbeit zu befreien; in der apparativen Ausstattung kann der Plotter auch fehlen, wenn die graphischen
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Ausgabemöglichkeiten des Schnelldruckers oder anderer Peripheriegeräte ausreichen. Diese Zielsetzung liefert damit auch gleichzeitig einen prinzipiellen Orientierungsrahmen für eine Automatisierung, indem die einzelnen manuellen Arbeitsschritte auf ihre automatische Ausführbarkeit untersucht und soweit wie möglich computativ nachgebildet werden; damit ist eine konkrete Ausgangsbasis erreicht, die in Abbildung 44.1 zusammenfassend dargestellt wird:
Abb. 44.1: Überblick über die einzelnen Arbeitsschritte einer automatischen Sprachkartographie (1) Der erste Arbeitsschritt besteht in der maschinenlesbaren Erfassung (Verlochung) des Erhebungsmaterials, das sich im wesentlichen aus den folgenden Daten zusammensetzt: (1.1) Die Situationsdaten beschreiben die Geographie des dialektologischen Untersuchungsgebietes in einer entsprechenden Grundkarte und müssen als Koordinaten vorliegen oder mit Hilfe eines Digitizers gewonnen werden; eine computative Grundkarte bietet vor allem bei Ausschnittskartierungen oder Maßstabsveränderungen erhebliche Vorteile, aber sie ist nicht zwingend erforderlich, da die geographische Karte auch durch entsprechende Montagetechniken beim Druck hinzugefügt werden kann. (1.2)
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Die Lagedaten liefern die geographischen Positionen der Erhebungsorte in Längenund Breitenangaben oder in absoluten Abständen vom Nullpunkt der Grundkarte und werden in der dialektgeographisch üblichen Form der Signaturen repräsentiert. (1.3 ) Die Fragedaten bilden den jeweiligen Kartentitel, der sich zumeist aus der Fragenummer des Questionärs und aus dem Fragetext bzw. aus einem entsprechenden Stichwort zusammensetzt. (1.4) Die Sp rachdaten stellen als Ergebnis der dialektgeographischen Erhebung den zentralen Gegenstand der automatischen Kartierungsverfahren dar und werden unter Kennzeichnung ihrer Orts- und Fragezugehörigkeit erfaßt. (2) Der zweite Arbeitsschritt besteht im wesentlichen in der computativen Dokumentation der gesamten Erhebungsdaten, die in Form einer Datenmatrix erfolgt und die Grundlage für den weiteren Kartierungsprozeß bildet. 3( ) Der dritte Arbeitsschritt leistet die zentrale Bearbeitung der Sprachdaten und umfaßt automatische Selektions- und Analyseverfahren sowie Prozeduren zur automatischen Klassifikation und Symbolisation; hierbei eröffnet die Automatisierung ein breites Spektrum weiterer und z. T. neuer Untersuchungsmöglichkeiten, die bei einer manuellen Kartierung bisher nicht ausgenutzt wurden oder nicht durchführbar waren, wie z. B. großflächige Ähnlichkeitsberechnungen (vgl. Art. 45). (4) Der vierte Arbeitsschritt wird von der Kartenzeichnung im engeren Sinne gebildet, indem die automatischen und manuellen Bearbeitungsergebnisse entsprechend ihrer Symbolisierung als Punkt- oder Flächenkarte ausgeplottet werden. Die jeweilige Anlage und Ausführung dieser einzelnen Arbeitsschritte wird im wesentlichen durch zwei Faktoren bestimmt: einerseits von der Zielsetzung des Atlasprojektes, die bereits die Erhebungsart und in Abhängigkeit davon alle weiteren Kartierungsvorgänge dirigiert und andererseits von der sprachkartographischen Herstellungsstufe, da unterschiedliche Anforderungen in der Bearbeitungs- und der Publikationsphase zu erfüllen sind. 1.2. Erfassung Bei der Erfassung sprachgeographischer Erhebungsdaten zeigen sich im wesentlichen zwei Probleme:
44. Automatische Sprachkartographie
(1) Eine erste Schwierigkeit ergibt sich aus der hohen Arbeitsintensität dieses Abschnittes bei konkreten Atlasprojekten, denn alle benötigten Informationen müssen in einer computerlesbaren Form repräsentiert werden. Hier steht somit die Entwicklung ökonomischer Verfahren im Vordergrund, um den Verlochungsaufwand so klein wie möglich zu halten oder ihn hinsichtlich der Projektdauer zu neutralisieren. Für eine solche Optimierung der Datenerfassung gibt es jedoch im allgemeinen keinen großen Spielraum, da hierfür allein der mengenmäßige Anteil der Sprachdaten ausschlaggebend ist, der bei allen anderen Erhebungsdaten kaum ins Gewicht fällt. Eine Neutralisation des Zeitaufwandes für die Sprachdatenerfassung läßt sich lediglich durch eine weitgehende Parallelisierung dieses Arbeitsschrittes mit der eigentlichen Erhebungstätigkeit erreichen, während eine echte Reduktion der Verlochungsmenge nur durch eine Ausnutzung ihrer jeweiligen Anordnungsverhältnisse zu erzielen ist: (1.1) Wenn die Sprachdaten in einer ortsorientierten Reihenfolge vorliegen, dann kann lediglich eine explizite Verlochung der Signaturen wegfallen; nur wenn sie außerdem auch noch frageorientiert sind, kann sich die Erfassung jeweils nachfolgender identischer Belege auf ein einziges Zeichen (z. B. ein Pluszeichen) beschränken. Dieses Verfahren wurde bei dem Kleinen Deutschen Sprachatlas angewendet, jedoch ist damit eine erhöhte Fehleranfälligkeit verbunden, und darüberhinaus können sich Schwierigkeiten bei der Korrektur oder Datenergänzung ergeben. (1.2) Wenn die Sprachdaten in einer frageorientierten Reihenfolge vorliegen, dann lassen sich auf manuelle Weise Beleglisten aufstellen, in denen alle identischen Formen zusammengefaßt werden, so daß sich der Verlochungsaufwand sehr erheblich reduzieren läßt. Dieses Verfahren wird bei dem Europäischen Sprachatlas angewendet; Abb. 44.2 zeigt eine solche Belegliste. — Ein weiterer Lösungsweg für eine Reduzierung des Verlochungsaufwandes ist in einer Abbildung der Sprachdaten auf ein Nummerungssystem zu sehen, die jedoch eine bedeutende manuelle Vorarbeit und eine erhebliche Fehleranfälligkeit mit sich bringt, so daß die effektive Zeitersparnis relativ gering ist. (2) Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich bei der Datenerfassung in der Regel dadurch, daß keine Ein/ Ausgabegeräte mit p honetischen Zeichen zur Verfügung stehen,
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die bei dialektologischen Atlasprojekten aber zumeist benötigt werden. Mögliche Lösungen sind durch eine Umcodierung der phonetischen Verschriftung zu erzielen, die jedoch immer eine zusätzliche Fehlerquelle darstellt, oder durch eine technische Umrüstung der Erfassungsgeräte, die jedoch bisher noch mit relativ hohen Kosten verbunden ist; allerdings sind hier durch den Einsatz von Mikroprozessoren bald preisgünstigere Geräteangebote zu erwarten. Die Probleme der Datenerfassung sind jedoch nicht prinzipieller Natur, denn sie lassen sich durch einen ausreichenden Personaleinsatz und durch eine technische Umrüstung oder Programmierung der Ein/ Ausgabegeräte relativ leicht lösen. 1.3. Speicherung Die Speicherung als zweiter Arbeitsschritt umfaßt die computative Dokumentation aller Erhebungsdaten und schließt formale Kontroll- und Korrekturverfahren ein, so daß eine möglichst fehlerfreie Ausgangsbasis für den weiteren Kartierungsprozeß entsteht. Die Hauptaufgabe besteht hier in der Wahl einer geeigneten Dokumentationsart, um die Erhaltung aller Informationen sicherzustellen und möglichst einfach wiederaufzufinden. Als ein problemangemessenes Konzept erwies sich hierfür die Matrixform (vgl. Abb. 44.3 ), da die Sprachdaten prinzipiell durch eine zweidimensionale Zugehörigkeit nach Belegort und Frage gekennzeichnet sind: die Belegorte bilden dabei die Matrixzeilen und die Fragen die Matrixspalten, so daß in ihren jeweiligen Schnittpunkten die Sprachdaten stehen können; die Menge der Belegorte dokumentiert somit die Lagedaten und die Gesamtheit der Fragen repräsentiert die Fragedaten, während die Belege je Frage die Antwortdaten und die Belege je Belegort die Ortsdaten ergeben. Weitere Informationskategorien wie Mehrfachbelege, Sprecherdaten etc. lassen sich in diesem Modell in nachgeordneten Scheiben unterbringen. — Die informatische Realisierung dieser Matrixvorstellung kann in unterschiedlicher Weise erfolgen, doch ist das eine überwiegend programmiertechnische Frage, die hier ausgeklammert werden kann. — Schwierigkeiten ergeben sich bei dieser Dokumentation nur dann, wenn unvorhergesehene Änderungen beispielsweise in der Art der Sprachdaten oder ihrer Auswertungsziele eintreten; dies war z. B. beim Europäischen Sprachatlas der Fall, als die Belege durch or-
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Abb. 44.2: Beispiel einer Belegliste aus dem Europäischen Sprachatlas
44. Automatische Sprachkartographie
Abb. 44.3: Logische Form der Datenmatrix thographische Formen und sprachhistorische Kommentare ergänzt wurden und die länderorientierte Gliederung um eine sprachliche Ordnung zu erweitern war. Die gesamte Speicherung wird von einer Kontrolle begleitet, um formale Verlochungsfehler aufzufangen; außerdem stehen Korrekturprozeduren zur Verfügung, die eine Veränderung oder Ergänzung der Datenmatrix ermöglichen; hierfür ist eine interaktive Abwicklung zu bevorzugen, da sich dann der erforderliche Arbeitsaufwand auf das unbedingt notwendige Minimum beschränken läßt. 1.4. Bearbeitung Im dritten Arbeitsschritt wird die dialektologische Bearbeitung der Erhebungsdaten durchgeführt, die in computativer oder manueller Weise erfolgen kann und Selektions-, Analyse- und Kombinationsop erationen sowie die speziellen Klassifikations- und Symbolisationsverfahren umfaßt. Damit ist dieser Arbeitsschritt relativ klar von der vorausgehenden dokumentarischen Speicherung und der nachfolgenden Kartenplottung abgegrenzt. 1.4.1. Selektion Die Hauptaufgabe der Selektionsoperationen besteht in der Bereitstellung der Erhebungsdaten für den weiteren Bearbeitungsund Kartierungsprozeß. Die Automatisierung solcher Leistungsanforderungen führt zu unterschiedlichen Schwierigkeiten: (1) Bei der Selektion von Antwortdaten handelt es sich in der Regel um einfache Protokollauszüge aus der Datenmatrix, die nur dann kompliziert werden, wenn die Antworten nicht in normierter Form vorliegen,
753
so daß z. B. Lemmatisierungsverfahren notwendig werden; Probleme dieser Art sind jedoch häufig durch eine Änderung in der Fragetechnik oder Dokumentationsform zu lösen. — Neben der Bereitstellung ist hier vor allem die Sortierung der Antwortdaten nach unterschiedlichen Kriterien von zentraler Bedeutung, da somit eine optimale Aufbereitung und Erschließung des Belegmaterials erreicht wird, die dem Dialektologen einen wesentlich leichteren Zugang und Zugriff auf die relevanten Kartierungsaspekte ermöglicht; die Breite solcher Sortierungsmöglichkeiten ist aus den nachfolgenden Beispielen zu ersehen, die dem Kleinen Deutschen Sprachatlas und dem Europäischen Sprachatlas entnommen wurden: (1.1) Eine Häufigkeitssortierung (absolut, prozentual und kumulativ) läßt unmittelbar die Varianzbreite des Belegmaterials erkennen (vgl. Abb. 44.4) und ermöglicht Entscheidungen über experimentelle Typenkartierungen, wie beispielsweise eine Kartierung aller Belege bis kumulativ 70%, 80% oder 90% (vgl. Karte 44.1). (1.2) Eine Alp habetsortierung ist für das schnelle Aufsuchen von Belegen von Vorteil und gibt außerdem auch einen guten Einblick in die jeweilige Belegstruktur; so läßt sich z. B. aus Abbildung 44.5 sofort eine Übersicht über die inlautenden Vokale gewinnen und eine rückläufige Sortierung würde in gleicher Weise die Auslautkonsonanz erschließen. (1. 3 ) Eine Seltenheitensortierung, deren Belegungshäufigkeit frei wählbar ist, erleichtert eine Einordnung dieser Belege in größere Gruppen oder kann direkt als Seltenheitenliste fungieren, da hier auch gleichzeitig die Signaturen mitgeführt werden (vgl. Abb. 44.6). (1.4) Eine Sonderbelegsortierung listet abweichende Belegtypen auf, die in dem Beispiel der Abbildung 44.7 als Synonyme anzusehen sind, so daß hieraus unmittelbar eine Wortkarte ‘Feld’ hergestellt werden kann (vgl. Karte 44.2). (1.5) Eine Typ ensortierung bietet einen direkten Überblick über die wichtigsten Formen und gibt ihre jeweiligen geographischen Verbreitungen an; sofern ein automatisches Klassifikationsverfahren zur Verfügung steht (vgl. 1.4.4.), kann eine entsprechende Typenkartierung computativ erfolgen (vgl. Karte 44.3 ), anderenfalls ist eine manuelle Zwischenbearbeitung notwendig. — Auf dieser Grundlage ist auch die Kartierung eines ein-
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Abb. 44.4: Beispiel einer Häufigkeitssortierung mit Angabe der Nebenbelege (Abbildungsmontage) (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38)
44. Automatische Sprachkartographie
Abb. 44.5: Beispiel einer Alphabetsortierung (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38)
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Abb. 44.6: Beispiel einer Seltenheitensortierung (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38)
44. Automatische Sprachkartographie
Abb. 44.7: Beispiel einer Sonderbelegsortierung (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38)
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Karte 44.1: Beispiel einer Kumulativkartierung mit etwa 97 % des Belegmaterials; Legende vgl. in Abb. 44.4 (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 38) zelnen Typs in seiner dokumentarischen Genauigkeit möglich, so daß sein manuelles Herausfiltern aus der allgemeinen Typenkartierung mit einer nachgeführten Präzisierung nicht erforderlich ist und damit eine optimale Grundlage für Interpretationsverfahren auf areallinguistischer Basis angeboten wird (vgl. Karte 44.4). Diese kleine Auswahl von Beispielen zeigt, wie mit relativ einfachen Sortierkriterien bereits ein vielfältiger Aufschluß über das Belegmaterial zu gewinnen ist, der durch weitere formal angebbare Ordnungsaspekte noch auszubauen ist; der Effekt für die dialektologische Bearbeitung wird durch eine jeweils anschließbare automatische Kartierung (vgl. 1.5.) noch erhöht.
(2) Bei der Selektion von Mustern handelt es sich in der Regel um relativ aufwendige Suchoperationen innerhalb der gesamten Datenmatrix. Die Wirksamkeit dieses Verfahrens ist von den Möglichkeiten der Musterangabe abhängig: lassen sich beispielsweise lediglich komplette Belegwörter als Suchmuster formulieren, so ergeben sich bei dem Auffinden identischer Belege in unterschiedlichen Antwortdaten bereits Bedeutungskarten, die in der Dialektologie durchaus noch ein Desiderat darstellen; die Aufstellung komplexerer oder abstrakterer Muster erfordert entsprechende automatische Analysemöglichkeiten (vgl. 1.4.2.), die gegenwärtig nur in Einzelfällen zur Verfügung stehen und häufig auch nur durch manuelle
44. Automatische Sprachkartographie
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Karte 44.2: Beispiel einer Sonderbelegkartierung (KDSA, Morph 48, Wenker-Satz 3 8); Legende vgl. in Abb. 44.7 Eingriffe erbracht werden können, so daß der intendierte Effekt relativ gering ist. Eine relevante Weiterentwicklung solcher Selektionsoperationen ist zunächst wohl hauptsächlich durch den Einsatz brauchbarer Ähnlichkeitsverfahren (vgl. 1.4.4.) zu erzielen, da hierdurch das Suchfeld eines Musters auf seinen gesamten Similaritätsbereich ausgeweitet wird. 1.4.2. Analyse Für die Automatisierung von Analyseoperationen, die über eine Selektion und differenzierte Sortierung der Erhebungsdaten hinausgeht, liegen bisher nur wenige Beispiele vor; dies hat seinen Grund darin, daß einerseits die Dialektologen bisher die Ant-
wortdaten zumeist direkt kartiert haben und von solchen weiterführenden Möglichkeiten wenig Gebrauch gemacht haben und andererseits die Entwicklung von Analysealgorithmen relativ hohe Anforderungen an eine formale Objektivierung dialektologischer Untersuchungstätigkeit stellt. Unter systematischen Gesichtspunkten wäre hier auch die Klassifikation von Kartendaten zu subsumieren, die jedoch wegen ihrer zentralen Bedeutung für die Automatische Sprachkartographie gesondert behandelt wird (vgl. 1.4.4.). Die zur Zeit sichtbaren Ansätze lassen sich auf Grund ihrer unterschiedlichen Objektbereiche in zwei Kategorien einteilen: (1) Wenn sich die Analyse auf Antwortdaten bezieht, dann handelt es sich im wesentlichen um Zerlegungsoperationen in phoneti-
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sche oder morphologische Elemente. Zu den hier gängigen Verfahren in der Dialektologie gehört die sogen. Taxenzerlegung (Clusterzerlegung), die auch im Rahmen des Kleinen Deutschen Sprachatlas von zwei verschiedenen Grundlagen ausgehend automatisiert wurde, und zwar mit Hilfe eines Regelverfahrens (vgl. Naumann 1976, 83 —91) und unter Anwendung eines Mustervergleichs, der die Zerlegung aller Belegdaten durch Bezugnahme auf ein vorgegebenes Leitmorph durchführt. Die Sicherheit beider Verfahren ist relativ hoch, so daß sich die Tätigkeit des Dialektologen auf eine Kontrolle und eine ggf. erforderliche Korrektur beschränken kann. (2) Wenn sich die Analyse auf Ortsdaten erstrecken soll, dann sind zumeist mehrdimensionale Vergleichsoperationen mit relativ komplizierten Zusatzbedingungen erforderlich; konkrete Beispiele hierfür scheinen bisher noch nicht vorzuliegen. In diese Kategorie würde beispielsweise die automatische Feststellung phonologischer (Teil)Systeme gehören, die durch eine algorithmische Formulierung entsprechender Analyseoperationen zu erreichen wäre; in diesem Zusammenhang ist ebenfalls an eine automatische Erarbeitung von Diasystemen zu denken, da sie in etwa gleiche Anforderungen stellt. Darüberhinaus kommen weitere Analyseoperationen in Betracht, wie z. B. die Überprüfung der Dialektfestigkeit der Informanten, Gewinnung eines Dialektalitätsgrades pro Belegort oder die Untersuchung grammatischer Erscheinungen wie Partikel- und Zeitgebrauch, die bisher in der Dialektologie kaum angewandt wurden. Die Anlage und Entwicklung praktischer Analyseoperationen wird weitgehend von der Art der Sprachdaten und der dialektologischen Zielsetzung bestimmt; die weitgehend ungeklärte Forschungslage erfordert in jedem Einzelfall eine genaue Prüfung der Automatisierungsmöglichkeiten und wird wohl gegenwärtig zumeist auf ein gemischtes Verfahren manueller und computativer Analysetätigkeit hinauslaufen, um die angestrebten Ergebnisse für die weiteren Kartierungsprozesse verfügbar zu haben. 1.4.3. Kombination Die Kombination verschiedener Informationen stellt einen ersten Schritt in Richtung auf synthetische Kartierungen dar, die in der Dialektologie bisher fast ausschließlich in der eingeschränkten Form der „Kombina-
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
tionskarte” (vgl. Art. 25 sowie Karte 25.1 und 25.2) verwendet wurden. Bei einer Kombination von Daten sind hauptsächlich die folgenden Fallunterscheidungen möglich: (1) Die Kombination von Kartendaten läßt sich relativ leicht automatisieren, indem neue Kartierungsobjekte durch entsprechende Vergleiche gebildet werden, die entweder einen synoptischen Überblick über die unterschiedliche Verbreitung des gleichen Phänomens geben (vgl. Karte 44.5) oder eine Übersicht über die dialektale Raumgliederung vermitteln. I m ersten Fall können die Ergebnisse sowohl in Punkt- wie auch in Flächendarstellung (vgl. 1.5.) kartiert werden, während für die dialektgeographische „Kombinationskarte” bisher ausschließlich die Liniendarstellung benutzt wurde. (2) Die Kombination von Kartendaten mit nichtdialektalen Daten wie politische und konfessionelle Grenzverläufe, Einwohnerdichte, Pendlerwege, Telefonnetze, Hausformen etc. erfordert eine computative Präsentation dieser weiteren Informationen, die unter systematischen Gesichtspunkten der Grundkarte zuzuordnen sind. Die dialektologische Relevanz dieser Kombinationsart liegt in einer auswertenden Interpretation sprachgeographischer Kartenbilder, die bei einem weitgehenden Zusammenfall solcher Linien die außersprachliche Erscheinung als Grund für die dialektale Ausbreitungsbegrenzung ansieht (vgl. Art. 24). Der Vergleich solcher Linienführungen ist wohl bisher noch nicht automatisiert worden, jedoch sind die Voraussetzungen hierfür durch die Verfahren zur Isolinienfindung (vgl. 1.5.) gegeben. Obwohl der informatische Aufwand für solche Vergleichsprozeduren sehr erheblich sein kann, ist ihre computative Ausführung doch von großem Interesse, weil nur auf diesem Wege quantitative Ergebnisse erzielt werden, die zur Objektivierung dieser dialektgeographischen Auswertungsmethode dringend erforderlich sind. Die automatische Kombination vielfältiger Informationen ermöglicht erst ein permutatives Durchprobieren mit unterschiedlichsten Daten und bietet damit die Voraussetzung, um bisher unbekannte Zusammenhänge aufzudecken und genauere Einblicke in die Mechanismen raumstruktureller Veränderungen zu gewinnen. 1.4.4. Klassifikation Die Aufgabe der Klassifikation besteht im wesentlichen darin, die erarbeiteten Karten-
44. Automatische Sprachkartographie
Abb. 44.8: Übersicht über die Lautdistanzen des Klassifikationsverfahrens (aus Naumann 1977, 201—202) daten nach vorgegebenen Prinzipien zu ordnen, um somit eine fundierte Ausgangsbasis für ihre Umsetzung in Symbole zu schaffen. Die Notwendigkeit für eine klassifizierende Zusammenfassung ergibt sich aus der Typenvielfalt der dokumentarischen Kartierung, die in ihrer extremen Genauigkeit zumeist schwierig zu überschauen ist, so daß
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durch eine kontrollierte Reduktion auf die wesentlichsten Erscheinungen die dialektgeographisch erwünschte Übersichtlichkeit zu erreichen versucht wird. Diese Typenbildung erfolgt prinzipiell in zwei Schritten: (1) Die sprachlichen Kartendaten werden zunächst zu Identitätsty p en zusammengefaßt, um die jeweilige Materialmenge zu reduzieren und übersichtlicher zu machen: eine Automatisierung dieses Vorgangs ist auf der Grundlage des Identitätsprinzips in relativ leichter Weise zu erreichen. (2) Da mit der Bildung solcher Identitätstypen zumeist keine angemessene Ordnung erzielt wird, muß der Reduktionsprozeß in Richtung auf Similaritätsty p en fortgesetzt werden, die nur auf der Grundlage dialektologischer Ähnlichkeitsvorstellungen zu gewinnen sind. Hier erst treten die eigentlichen Schwierigkeiten der Klassifikation auf, da die Ausarbeitung automatischer Verfahren von der genauen und vollständigen Formulierung dieser Ähnlichkeitskriterien abhängig ist. Da aber auch bei der manuellen Kartierung eine Explizierung der angewendeten Kriterien zumeist nicht erfolgt, kann eine Algorithmisierung z. B. der etymologischen Ähnlichkeit, der morphologischen, grammatischen oder semantischen Ähnlichkeit auf kein bereits vorhandenes Verfahren zurückgreifen, sondern muß bei einer gründlichen Problemanalyse beginnen. So wurden beispielsweise im Rahmen des Europäischen Sprachatlas erste Versuche zur Automatisierung der etymologischen Klassifikation unternommen (vgl. Naumann 1976, 92—167; Naumann 1977, 181—210): auf der Grund-
Abb. 44.9: Beispiel einer Wortdistanzberechnung in Matrixform (aus Naumann 1977, 165)
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Abb. 44.10: Beispiel einer Wortdistanzberechnung in Dendrogrammform (aus Naumann 1977, 166) lage vorgegebener Lautdistanzen (vgl. Abb. 44.8) und unter Ausnutzung der semantischen Identität, die durch die wortgeographische Fragetechnik gewährleistet ist, wurde mit Hilfe taxometrischer Verfahren die Ähnlichkeit der Belegtypen berechnet. Einen Einblick in die Ergebnisse der ersten Testläufe geben die Abbildungen 44.9 und 44.10: Die eingetragene Schnittlinie knapp über 2.0 im Dendrogramm führt zu einer durchaus akzeptablen Ordnung; hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß dieser Schnittwert bisher manuell und im Rückgriff auf etymologische Kenntnisse bestimmt wird; auf Grund von weiteren Erfahrungen läßt sich vielleicht ein allgemein gültiger Wertebereich finden, in dem jeweils die Dendrogrammlinien zu trennen sind, d. h. das taxometrische Berechnungsverfahren abzubrechen ist. Allerdings zeigte die praktische Anwendung dieses Verfahrens, daß schon bei 50 bis 80 Belegtypen eine sehr hohe Rechenzeit zustande kommt, so daß weitere Optimierungen der informatischen Umsetzung nötig sind. Parallel dazu wurden andere Lösungswege gesucht und ausprobiert: eine Rekonstruktion mit Hilfe einzelsprachlicher Lautgesetze schied dabei ebenso aus wie die Verwendung eines idg.etymologischen Wörterbuchs, weil in beiden Fällen die Effizienz zu gering und der Auf-
wand zu hoch erschien; in Anbetracht dieser Schwierigkeiten wurde ein Reduktionsverfahren entwickelt, das die jeweiligen Identitätstypen schrittweise vereinfacht und auf diesem Wege — ggf. unter Einbezug sprachhistorischer „Lautgesetze” — zu neuen abstraktiven Similaritätstypen führt, deren Zusammenhang im wesentlichen als eine etymologische Klassifikation zu deuten ist. Erste Testläufe werden zur Zeit an Kartendaten des Europäischen Sprachatlas durchgeführt, und die bisher vorliegenden Ergebnisse sind immerhin so ermutigend, daß eine experimentelle Weiterentwicklung durchaus lohnenswert erscheint (vgl. Abb. 44.11). — Ein weiterer Ansatz wird in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung unternommen, wo ausgehend von Datenbankproblemen Konzepte zur computativen Ermittlung von Wortähnlichkeit entwickelt wurden (Vorwerk 1977). Dieser gegenwärtige Forschungsstand zeigt deutlich, daß eine automatische Klassifikation noch in den allerersten Anfängen steht; die vorhandenen Verfahren können die manuelle Klassifikation vorerst lediglich erfolgreich unterstützen, um auf diesem Wege vielleicht zu einer Explizierung der benutzten Kriterien und ihrer automatischen Anwendung zu gelangen.
44. Automatische Sprachkartographie
763
1.4.5. Symbolisation Die Leistung der Symbolisation besteht in einer automatischen Umsetzung der manuell oder computativ hergestellten Belegordnung (vgl. 1.4.4.) in Einzelsymbole (= Punktdarstellung) oder Gebiete (= Flächendarstellung); beide Formen sind als Grundtypen anzusehen, aus denen sich alle anderen Kartierungsarten logisch ableiten und praktisch herstellen lassen. Im Rahmen einer automatischen Symbolisation wird das Verhältnis dieser beiden Typen dadurch bestimmt, daß die Punktdarstellung die notwendige Ausgangsbasis für die Flächendarstellung bildet. (1) Die Punktdarstellung setzt sich aus zwei systematisch zu trennenden Kartierungstypen zusammen:
Abb. 44.11: Beispiel einer computativen Klassifikation mit Hilfe des Reduktionsverfahrens (ALE QI, 32: ‘Kupfer’)
Abb. 44.12: Vorschlag einer systematischen Symbolkonstruktion im Rahmen des Europäischen Sprachatlas (1.1) Die Direktkartierung der Sprachdaten besteht in der Eintragung der sprachlichen Originalformen an ihrem zugehörigen Belegort und stellt im Prinzip den einfachsten Fall von Symbolisation dar. Bei ihrer computativen Ausführung ist lediglich sicherzustellen, daß der erforderliche phonetische Schriftzeichensatz vorhanden ist und bei der kartographischen Fixierung keine Überschneidungen der Schriftzüge vorkommen; beide Anforderungen sind mit relativ einfachen informatischen Mitteln zu lösen, so daß einer Automatisierung der Direktkartierung keine besonderen Schwierigkeiten entgegenstehen — allerdings wird dieser Kartierungstyp innerhalb der deutschen Dialektgeographie sehr selten verwendet. (1.2) Die Symbolkartierung stellt in der Regel wesentlich höhere Ansprüche, da ihre Aufgabe darin besteht, eine Konfiguration von Einzelzeichen zu finden, die die Sprachstruktur in analoger Weise zu repräsentieren in der Lage ist, d. h. die Ähnlichkeitsbeziehungen der Belegdaten in angemessener Form zu visualisieren und außerdem die optische Übersichtlichkeit des Kartenbildes sicherzustellen. Eine Automatisierung dieser Symbolzuordnung kann nur auf wenige problemanalytische Überlegungen zurückgreifen, da die meisten dialektgeographischen Projekte in diesem Bereich singulär und intuitiv verfahren sind. Entsprechende Ansätze zu einer Systematik lassen sich bestenfalls bei Lautkarten oder einigen komplexen Kartierungen (Phonemsystemkarte, Abstammungsund Distributionskarte) finden. Da es sich hierbei stets um ein kleines und von vornherein bekanntes Inventar handelt, lassen sich
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entsprechende Zuordnungsverfahren relativ leicht entwickeln; als Beispiel für eine solche Systematik können die Strichsymbole des Schlesischen Sprachatlas (Band 1: Laut- und Formenatlas, 1967) genannt werden. Demgegenüber scheinen im Bereich der lexikalischen Kartierung solche systematischen Ansätze bisher weitgehend zu fehlen, obwohl gerade die Wortgeographie eines der relevantesten Forschungsgebiete der Dialektologie darstellt. Erst im Zusammenhang mit dem Europäischen Sprachatlas ist der in Abbildung 44.12 dargestellte Versuch zu einem systematischen Lösungsansatz unternommen worden: ausgehend von einer gestaffelten Ähnlichkeitsordnung, die je nach Zielsetzung des Atlasprojektes festgelegt werden kann, wird eine dreistufige Konstruktion von Einzelsymbolen vorgeschlagen, indem z. B. dem etymologischen Ähnlichkeitskriterium als dem wichtigsten Kartierungsprinzip des Europäischen Sprachatlas ein flächiges Grundsymbol zugeordnet wird, während die nachrangigen morphologischen und phonetischen Ähnlichkeitskriterien durch ein kleineres flächiges Innensymbol bzw. ein strichartiges Innen/Randsymbol repräsentiert werden; ein Beispiel für eine solche Symbolkonstruktion gibt Abbildung 44.13 . Dieses Darstellungsprinzip ist außerdem in der Lage, einen systematischen Zusammenhang zwischen dokumentarischer und interpretativer Kartierung herzustellen, indem jede Klassifikationsstufe zum alleinigen Kartierungsinhalt genommen wird; Möglichkeiten dieser Art verdeutlichen beispeilsweise die Karten 44.3 und 44.4. Der automatische Ablauf dieses Konstruktionsverfahrens realisiert die Symbolbildung über eine dreistellige Dezimalklassifikation, indem jeder Position (= Klassifikationsebene) ein spezielles Symbolinventar zugeordnet wird und jeder Wert innerhalb einer Position auf ein bestimmtes Symbolelement des zugehörigen Inventars verweist, so daß das gesamte Symbolzeichen aus solchen einzelnen Elementen zusammengesetzt wird. Das Konstruktionsergebnis kann direkt kontrolliert und ggf. korrigiert werden, denn der Erfolg dieses Verfahrens ist von einer geschickten Bestückung der einzelnen Inventare abhängig, weil eine Überprüfung des Zusammenspiels der Einzelsymbole zu einem kartographischen Gesamteindruck bisher noch nicht durchgeführt wird. Eine computative Realisierung dieser Leistung müßte die räumliche Situierung der konstruierten Ein-
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Abb. 44.13 : Beispiel einer systematischen Symbolkonstruktion (ALE QI, 496: ‘Papier’ [Ausschnitt]) zelsymbole in ihrer Nachbarschaft untersuchen und bei einer zu geringen Differenzierung weitreichende Manipulationen in den betroffenen Symbolinventaren vornehmen; gegen eine automatische Ausführung solcher Beurteilungsprozesse scheinen keine grundsätzlichen Einwände zu bestehen, jedoch ist der informatische Aufwand bei der Simulation visueller Leistungen sehr hoch, so daß derartige Programme bisher wohl noch nicht entwickelt wurden. (2) Die Flächendarstellung leistet im wesentlichen eine Zusammenfassung gleicher oder ähnlicher Einzelsymbole zu Gebietsflächen, wobei jedoch Bedingungen der übergeordneten dialektologischen Theorie zu berücksichtigen sind, wie z. B. der Homogenitätsgrad und die Randbehandlung der Gebiete sowie die Entscheidung zwischen einer exhaustiven oder nichtexhaustiven Flächenaufteilung. Zur Automatisierung der Gebietsbildung sind bereits verschiedene Verfahren vorgeschlagen worden, die jeweils auf unterschiedlichen mathematischen Methoden aufbauen (Janssen 1974, Pudlatz 1976, Händler/Naumann 1976, Pudlatz 1977, Händler
Karte 44.5:
44. Automatische Sprachkartographie
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Karte 44.6: Beispiel einer Flächendarstellung nach dem Maskenverfahren (KDSA, Morph 27, WenkerSatz 39) 1977 a). Von diesen Vorschlägen werden gegenwärtig zwei Verfahren im praktischen Einsatz erprobt: (2.1) Die von Händler entwickelte Isoglossenfindung basiert auf einem Wachstumsmodell (vgl. Art. 25) und kann vom Dialektologen mit Hilfe von vier Variablen gesteuert werden, indem er die Minimalgröße der Gebiete, den maximalen Fremdpunktanteil, den kritischen Parallelrandwert und den Grad der Randglättung angeben kann. Einen Einblick in die Möglichkeiten einer unterschiedlichen Flächenbildung geben die Karten in Artikel 25 (vgl. Karte 25.3 ), die das angewandte Randglättungsverfahren und das Aufteilungsprinzip in Kern- und Saumzonen deutlich erkennen lassen.
(2.2) Im Rahmen des Kleinen Deutschen Sprachatlas wurde ein variables Maskenverfahren zur Erzeugung von Isotaxen-Linien erarbeitet, das alle relevanten Koordinatenwerte ermittelt. Mit dem von Hahn/Radloff 1972 entwickelten Verfahren zum Berechnen und Zeichnen von Niveaukurven werden aus diesen Angaben die entsprechenden Linienzüge extrapoliert. Die Genauigkeit der Gebietsbildung wird hier hauptsächlich über die Rahmengröße des Musters und verschiedene Glättungsparameter gesteuert; ein Ergebnis der bisherigen Versuche zeigt Karte 44.6, auf der die Flächen mit Einzelsymbolen für Fremdpunkte eingetragen wurden. Kennzeichnend für beide Verfahren ist die nichtexhaustive Flächenaufteilung, die
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
766
auf Grund ihrer quantitativen Bildungsprinzipien eine klare Herausarbeitung von Zentral- und Übergangsgebieten ermöglicht und damit im Gegensatz zu der sonst üblichen exhaustiven Kartierungsmethode steht. In einer abschließenden Beurteilung ist festzuhalten, daß der gegenwärtig erreichte Stand der computativen Bearbeitung im wesentlichen durch die erfolgreiche Automatisierung einfacher Verfahren und durch das Experimentalstadium komplexerer Algorithmisierungen gekennzeichnet ist, wobei insgesamt die automatische Ähnlichkeitsklassifikation als das schwierigste Problem anzusehen ist, während die weiteren Bearbeitungsmöglichkeiten wohl prinzipiell lösbar scheinen und auch bereits auf beachtliche Ergebnisse verweisen können. 1.5. Plottung Im vierten Arbeitsschritt wird der eigentliche Kartenplot durchgeführt, indem die erarbeiteten Sprachdaten in die computative Grundkarte oder eine ihr entsprechende Rasterung eingebracht und entsprechend ihrer Symbolisierung in Punkt- oder Flächendarstellung ausgezeichnet werden. Die hierbei anwendbaren Möglichkeiten werden ausschließlich durch die technischen Leistungen der Ausgabegeräte bestimmt. Die Wahl der jeweiligen Qualität ist wohl grundsätzlich von der Produktionsstufe abhängig zu machen: (1) In der Bearbeitungsp hase reichen prinzipiell geringere Zeichenqualitäten aus, da die Ausgabezeiten und der Kostenfaktor möglichst klein gehalten werden müssen, so daß vor allem der Schnelldrucker (vgl. beispielsweise die Printerkarte 44.2) und der Inkrementalplotter als Ausgabegerät zu benutzen sind; bei interaktiven Arbeitsverfahren kann darüber hinaus auch das Display verwendet werden. (2) In der Publikationsp hase ist die beste der erreichbaren Zeichenqualitäten anzustreben, so daß als Ausgabegerät eigentlich nur der Analogplotter in Betracht kommt und als Zeichentechnik Schichtgravur oder Lichtzeichnung auf Folie oder Film einzusetzen sind (vgl. hierzu die Karten 44.3 —44.6, 44.12). Die vorgelegten Kartenmuster lassen wohl deutlich erkennen, daß die Qualität der automatischen Zeichengeräte bereits einen sehr hohen Standard erreicht hat und fast immer die manuelle Zeichenarbeit bei weitem übertrifft; mit der laufenden Verbesse-
rung des Displays eröffnen sich darüber hinaus ganz neue dialektgeographische Arbeitsmöglichkeiten, die im Abschnitt 3 . noch etwas eingehender dargelegt werden. Bei der Planung und Durchführung eines dialektgeographischen Projekts ist in Hinsicht auf die übergeordneten Zielsetzungen eine möglichst optimale Auswahl aus der zur Verfügung stehenden Breite der automatischen Kartierungsverfahren zu treffen und eine frühzeitige Integration in das Gesamtvorhaben anzustreben. Da die insgesamt auftretenden Schwierigkeiten häufig nur organisatorischer Art sind, stellen sie auch in der Regel keine grundsätzlichen Probleme dar und sind zumeist durch ein relativ einfaches Abstimmen und Anpassen zu lösen. Die Anlage dialektgeographischer Projekte hat insbesondere die folgenden Grundsätze zu berücksichtigen: beim Questionär und der Erhebung ist auf Eindeutigkeit der Information zu achten, bei der Datenerfassung ist eine Verkürzung der Ablocharbeiten anzustreben, bei der Belegspeicherung sind möglichst flexible Formen zu bevorzugen und für die Belegbearbeitung und Kartierung sind eindeutige Arbeitsprinzipien und Entscheidungskriterien erforderlich.
2.
Praktische Anwendungsversuche
Die Übersicht über die praktischen Anwendungsversuche zielt nicht primär auf eine Entwicklungsgeschichte der Automatischen Sprachkartographie, sondern beabsichtigt hauptsächlich einen Einblick in Breite und Umfang der bisher realisierten Einsatzmöglichkeiten. Die jeweiligen Ansatzpunkte liegen überwiegend in laufenden oder geplanten Atlasprojekten und ergeben sich erst in zweiter Linie aus den allgemeinen Zusammenhängen mit einer computativen Dialektologie. Diese Anwendungsversuche lassen sich wohl generell durch zwei Merkmale beschreiben: (1) durch ihre Nutzung, die sich auf eine experimentelle bzw. testmäßige Anwendung beschränken oder bis zu einem umfangreichen Produktionseinsatz reichen kann; (2) durch ihre Leistung, die hauptsächlich in einem Plottverfahren ohne Einbezug automatischer Aufbereitungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten besteht oder in Richtung auf ein dialektologisches Dokumentationsund Informationssystem zielen kann. Die praktischen Anwendungsversuche begannen im Zeitraum von 1967 bis 1969 fast gleichzeitig und unabhängig voneinan-
44. Automatische Sprachkartographie
Karte 44.7: Kartenbeispiel: Japan (aus Ogino/Sibata 1977, 65)
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768
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Karte 44.8: Kartenbeispiel: USA (aus Francis/Svartvik/Rubin 1969, 15 und 24) der in drei Forschungseinrichtungen: dem Language Research Institute in Tokio, dem Linguistics Department an der Brown University in Providence (Rhode Island) und dem Forschungsinstitut für deutsche Sprache — Deutscher Sprachatlas in Marburg, wobei den japanischen und deutschen Pilotstudien (1967) eine deutliche zeitliche Priorität gegenüber dem amerikanischen Versuch (1969) zukommt. Da der weitere Ausbau und die Entwicklung der automatischen Sprachkar-
tographie im wesentlichen in diesen Ländern erfolgte und lediglich Italien mit einem Projekt noch hinzugekommen ist, wird die nachfolgende kurze Übersicht in dieser regionalen Gliederung gegeben. 2.1. Japan Der Einsatz der automatischen Sprachkartographie stand in Japan in engem Zusammenhang mit dem Linguistic Atlas of Japan (vgl. Tokugawa/Yamamoto 1967 und Grootaers
44. Automatische Sprachkartographie
769
Karte 44.9: Kartenbeispiel: USA (aus Francis 1970, 154) 1970) und zielte in erster Linie auf ein relativ einfaches Plottverfahren, dessen Leistungsfähigkeit zumindest in dieser Phase sehr kritisch beurteilt wurde, da mit dem Schnelldrucker kein ausreichendes Zeicheninventar
vorlag und keine genaue Positionierung der Symbole zu erreichen war. Dennoch wurden diese Ansätze weiterentwickelt und führten im Zeitraum von 1976 bis 1977 zu dem von Ogino entwickelten Programmsystem (vgl.
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
770
Ogino/Sibata 1977), das als ein umfassendes Dokumentationssystem anzusehen ist und bereits bei der Herstellung einiger regionaler Atlaskarten eingesetzt wurde; einen Einblick in die Möglichkeiten dieses Kartierungssystems gibt die Printerkarte 44.7. 2.2. USA Die ersten Versuche zu einer automatischen Sprachkartographie wurden von Weinreich bereits Mitte der 60er Jahre unternommen (vgl. Weinreich 1964); da jedoch darüber keine ausführliche Publikation vorzuliegen scheint, ist eine nähere Beschreibung und Beurteilung nicht möglich. Offensichtlich unabhängig davon sind die experimentellen Ansätze von Francis, Svartvik und Rubin erfolgt (vgl. Francis u. a. 1969, Francis 1970, Rubin 1970), die durch die Verwendung eines Plotters bereits sehr gute kartographische Darstellungsformen erreichten, wie aus den Kartenbeispielen 44.8 und 44.9 zu ersehen ist, und die bereits Ansätze zu einer mehrdimensionalen Kartierung von Ortsdaten durch Auszählen einzelner Lautmerkmale erreichten (vgl. die untere Karte in 44.8). Im Zusammenhang mit dem Dictionary of American Regional English stehen die Kar-
tierungsversuche von Cassidy (1977) und Lance (1977 und Lance/Slemons 1976), die eine dialektgeographische Auswertung des Wörterbuchmaterials in einem relativ einfachen Plottverfahren anstreben, um somit zu genaueren Kenntnissen über die regionale und sozial bedingte Gliederung zu gelangen; als Beispiele sind die Karten 44.10 und 44.11 zu vergleichen. — Demgegenüber sind die Arbeiten von Wood (1969, 1972) und Uskup/Al-Azzawi (1972) überwiegend als problemanalytische Beiträge zu sehen. 2.3. Italien Die Entwicklung des sprachkartographischen Programmsystems von Grassi (1977) ergab sich aus den Aufgaben des Italienischen Sprachatlas und zielt in erster Linie auf ein Plottverfahren, das die Herstellung von Originalformkarten leistet; kartographische Beispiele sind bisher offensichtlich noch nicht publiziert worden. 2.4. Bundesrepublik Deutschland Die Ansätze zu einer automatischen Sprachkartographie gehen in der Bundesrepublik von dem Forschungsinstitut für deutsche Sprache — Deutscher Sprachatlas aus und
Karte 44.10: Kartenbeispiel: USA (aus Cassidy 1977, 115)
44. Automatische Sprachkartographie
771
Karte 44.11: Kartenbeispiel: USA (aus Lance 1977, 295) streben ein modulares Standardverfahren mit Ausbaustufen in Hinsicht auf ein dialektologisches Informationssystem an; die ersten Versionen werden bereits als voll integrierter Verfahrensteil bei der automatischen Kartierung des Europäischen Sprachatlas und des Kleinen Deutschen Sprachatlas eingesetzt; ein Beispiel aus der laufenden Produktion gibt die Karte 44.12. Im Zusammenhang mit diesen Bemühungen stehen die automatischen Kartierungsversuche im Rahmen des Niederdeutschen Wortatlas (vgl. Schophaus 1969) und des „Fränkischen
Sprachatlas” (= Sprachatlas des nördlichen Rheinlands und des südöstlichen Niederlands; vgl. Westerhoff 1977, 1979; Eickmans 1979, 1981 und Goossens 1981), die in erster Linie ein komfortables Plottprogramm unter Einbeziehung von automatischen Verfahren zur Flächendarstellung mit Hilfe von Isolinien anstreben: als ein Beispiel für diese Kartierungsverfahren ist die Karte 44.13 heranzuziehen. Ein weiteres Zentrum innerhalb der Bundesrepublik stellt Freiburg mit seinem automatischen Kartierungsansatz im Rahmen des Vorarlberger und des Südwest-
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Karte 44.13: Kartenbeispiel: Bundesrepublik Deutschland (aus Westerhoff 1977, 221) deutschen Sprachatlas dar (vgl. Hirth 1972, Kelle 1976, 1977); die hier laufenden Arbeiten streben ein Plott- und Dokumentationssystem an. Allerdings wurden Kartenbeispiele bisher noch nicht veröffentlicht. 2.5. Niederlande In einem problemorientierten Zusammenhang stehen die Versuche von Cox in Utrecht (1972, 1973 und Cox/Griffioen 1977), der in mehreren Entwicklungsstufen eine Übertragung der dialektgeographischen Kartierungstechnik auf ethnologische Daten
im Rahmen des Atlas der deutschen Volkskunde experimentell erprobte; die ausgezeichnete Qualität der Punktdarstellung ist unmittelbar aus der Karte 44.14 zu ersehen. In den Bereich der Automatischen Sprachkartographie sind auch die mehr auswertungsorientierten Zielvorstellungen der Dialektometrie (vgl. Art. 45) einzubeziehen, da diese Ansätze eine prinzipielle Erweiterung in Hinsicht auf eine komprimierte und komplexe Datendarstellung bieten und insbesondere zur dialektgeographischen Gliederungsproblematik einen relevanten Beitrag leisten können. Ausgehend von Séguy
Karte 44.13: Kartenbeispiel: Bundesrepublik (KDSA, Morph 171, Wenker-Satz 13)
44. Automatische Sprachkartographie
Karte 44.14: Kartenbeispiel: Bundesrepublik Deutschland/Niederlande (aus Cox 1972, 124)
773
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
774
werden diese Ansätze in theoretischen und praktischen Untersuchungen vor allem von Fossat (1976, 1977) und Philips (1978) in Toulouse und von Goebl (1971, 1975, 1977, 1977 a) in Regensburg weiterentwickelt.
3.
Wahrscheinliche Entwicklungsmöglichkeiten
Auf der Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstandes und der praktischen Erfahrungen ist eine Prognose über die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten der Automatischen Sprachkartographie mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich. Im Zentrum der weiterführenden Arbeiten werden voraussichtlich die folgenden Entwicklungen stehen: (1) Die gegenwärtigen Einsatzmöglichkeiten der Automatischen Sprachkartographie sind durch den Abschluß der experimentellen Phase gekennzeichnet; die Erfolge der bisherigen Arbeiten haben zu einem umfassenden Härtetest mit Realdaten und ersten Anwendungsversuchen geführt. Daraus ergibt sich als konsequente Entwicklung der direkte Übergang in die eigentliche Anwendungs- und Produktionsphase; dafür sprechen beispielsweise die in der Bundesrepublik mit computativer Unterstützung durchgeführten dialektgeographischen Projekte (vgl. 2.4.). (2) Die gegenwärtige Problemlage der Automatischen Sprachkartographie ist durch unterschiedlich weit ausgearbeitete Lösungsvorschläge im Bereich der sprachlichen Beleganalyse gekennzeichnet, die in der Regel jedoch den problemanalytischen Status noch nicht überschritten haben, so daß sich ihre programmtechnische Realisierung und insbesondere ihre Erprobung im Zusammenhang mit der automatischen Kartierung konkreter Atlasprojekte als eine weitere Entwicklungsmöglichkeit deutlich erkennen läßt; Ansätze hierfür zeigen sich beispielsweise bei der automatischen Klassifikation und Gebietsbildung. (3 ) Die gegenwärtige Konzep tion der Automatischen Sprachkartographie orientiert sich noch weitgehend an einem sprachkartographischen Plottsystem (vgl. Abb. 44.14), das die zumeist kartenorientiert erfaßten Erhebungsdaten in dieser Anordnung speichert und die manuell bearbeiteten und klassifizierten Kartendaten in einer ebenfalls manuell symbolisierten Form ausplottet. Auf dieser Grundlage zeichnet sich deutlich eine Entwicklung zu einem enquete-bezogenen
Abb. 44.14: Überblick über die konzeptionelle Weiterentwicklung der Automatischen Sprachkartographie Dokumentationssystem ab, das seine verlochten Erhebungsdaten zumeist in Matrixform speichert und damit eine Befragbarkeit ermöglicht, die eine differenziertere und umfassendere automatische Datenselektion sowie erste Ansätze zu einer computativen Datenanalyse und Belegbearbeitung prinzipiell zuläßt. Für eine solche Entwicklungsrichtung spricht vor allem der fortschreitende Ausbau der Programmsubstanz und die ständige Erweiterung der dialektalen Datenbasis durch die laufenden und computerunterstützten Atlasprojekte. Eine durchaus mögliche Fortsetzung dieser Tendenz scheint zwingend zu einem sprachgeographischen oder dialektologischen Informationssystem zu führen, das eine prinzipiell beliebige Befragbarkeit eröffnet und über eine wesentlich breitere Basis an automatischen Bearbeitungsmöglichkeiten verfügt; in einem solchen Systemzusammenhang stellt die automatische Kartenherstellung dann nur noch eine Teilkomponente des gesamt möglichen Leistungsspektrums dar; die hierfür erforderlichen Voraussetzungen deuten sich im Bereich der Linguistischen Informatik und
44. Automatische Sprachkartographie
der Artificial Intelligence bereits an, doch sind sie von realen Einsatzmöglichkeiten heute noch weit entfernt. (4) Die gegenwärtige Arbeitsweise des Dialektologen wird noch weitgehend durch die manuellen Traditionen bestimmt, die zum zeitaufwendigen Heraussuchen und Bearbeiten der Kartendaten sowie zum eigenhändigen Kartenzeichnen zwangen. Mit der konzeptionellen Weiterentwicklung der Automatischen Sprachkartographie wird sich auch gleichzeitig eine prinzipiell neue Organisationsform herausbilden und durchsetzen, die auf einem interaktiven Arbeits- und Forschungsverfahren zwischen dem Dialektologen und dem zugehörigen Dokumentations- oder Informationssystem basiert, so daß sich die Aufgabe des Wissenschaftlers auf eine Initiierungs- und Kontrollfunktion reduziert und ihm somit die erforderliche Zeit für kreatives Fragen und Suchen wieder zurückgibt.
4.
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
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Wolfgang Putschke, Robert Neumann, Marburg
45. Ansätze zu einer computativen Dialektometrie 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Problemstellung Meßansatz Q-analytische Meßmomente R-analytische Meßmomente Literatur (in Auswahl)
Problemstellung
Wort und Sache sind überaus rezent und gehen auf den Tolosaner Romanisten J. Séguy (1973 a, 1) zurück. Demnach ist die Dialektometrie im vollsten Wortsinn in statu nascendi und vorderhand mehr Programm als etablierte Realität. Die in der Folge gezeigten Ansätze (Séguy verwendet noch keine EDV) weisen die Dialektometrie als eine quantifizierend arbeitende Sprachgeographie aus (vgl. Art. 3 8), wobei es methodologisch zu starken Anlehnungen an die numerische Taxonomie (Taxometrie) (Sneath/Sokal 197 3 , Sodeur 1974, Vogel 1975), an allgemeine
Probleme der empirischen Sozialforschung (vgl. dazu etwa König 1974), an andere -metrien wie etwa die Biometrie (Cavalli-Sforza/Lorenz 1972), die Statistik im weitesten Sinn (Schaich 1977) und die quantitativ arbeitende Geographie (Bahrenberg/Giese 1975, Cole/King 1968, Haggett 1973 , Hammond/McCullagh 1974) kommt. In diesem Sinn als ‘dialektometrisch’ anzusprechende Arbeiten liegen vor von Goebl (1976, 1977, 1978 a, b; 1979 a, 1980) und von Séguy (1971, 1973 a, 1973 b). Es darf wohl mit Recht behauptet werden, daß sämtliche bislang in allen Teilphilologien vorliegenden Sprachatlanten, die ausgezeichnete empirische Datenbasen darstellen, in bezug auf die ihnen innewohnende Datenstruktur noch unzulänglich bekannt sind (‘Datenfriedhöfe’). Dies deshalb, weil es erst seit der verallgemeinerten Verwendung der EDV möglich geworden ist, die Sprach-
45. Ansätze zu einer computativen Dialektometrie
atlasdaten in kumulativer Synopse zu betrachten. Allerdings ist diese neu eröffnete Möglichkeit zur Synthese ein überaus arbeitsund methodenaufwendiger Forschungskomplex.
2.
Meßansatz
Sprachatlanten lassen sich ihrem Aufbau nach als zweidimensionale Matrizen darstellen: Atlaspunkte mal Atlaskarten (vgl. Abb. 45.1 und 45.2). Üblicherweise müssen die zur Vermessung anstehenden empirischen Rohdaten in eine derartige Matrix ‘eingefüllt’ werden, um so in der für die Verrechnung notwendigen Ordnung zur Verfügung zu stehen. Zu diesem Vorgang einige terminologische und sachliche Klarstellungen. 2.1. Taxandum vs. Taxat 2.1.1. Taxandum Die erste Überlegung des Dialektometers zu Arbeitsbeginn hat den zu klassifizierenden (data taxanda) empirischen Rohdaten zu gelten. Welchen Objektbereich, welchen Sprachatlas vermessen? Das gesamte Punktenetz über alle Atlaskarten hinweg oder nur über jeweils Teilbereiche davon? Notgedrungenermaßen werden derartige Überlegungen weniger objektbezogen (mit Blick auf die Qualität der Rohdaten) als vielmehr methoden- und arbeitsaufwandbezogen erfolgen. Dies muß man unbedingt bedenken, um bei der Interpretation der dialektometrischen Resultate nicht in zu weitgehende Generalisierungen zu verfallen. Man sollte einen praktikablen Kompromiß aus möglichst viel Atlaspunkten (mehr als 100) und Atlaskarten (mehr als 200) schließen, dabei aber nie vergessen, daß die Bedingungen des Zustandekommens dieses Kompromisses keineswegs als aleatorisch gesteuerte Auswahlverfahren interpretiert werden können, wie sie etwa aus der empirischen Sozialforschung bekannt sind (vgl. Scheuch 1974). Die Wahl des Taxandums befrachtet den zu vermessenden Objektbereich unweigerlich mit einer aus dem Wissensstand des Dialektometers einfließenden Information, die zudem selbst kaum meßbar ist (Problem der Reliabilität und der Repräsentativität; vgl. dazu Altmann/Lehfeldt 1973, 71 f.). 2.1.2. Taxat Aus dem Taxandum muß unter Fortführung des Taxierungsprozesses vonseiten des Dia-
779
lektometers jene Datenmenge herausgeschält werden, die aus disjunkten Einheiten besteht, die ihrerseits sich direkt in die Zellen der Meßmatrix einfüllen lassen (datum taxatum > Taxat). Dieser vom Taxandum zum Taxat fortgeführte Taxierungsprozeß erfordert noch viel tiefgreifendere datenreduktionistische Eingriffe vonseiten des Dialektometers, als dies bei der Auswahl des Taxandums der Fall war. Beispiel: Gegeben sei eine ‘Sprachatlaskarte’ mit 3 Atlaspunkten zum Konzept ‘Bruder’ (frei nach AIS I 13 ): Punkt 1: fradęl, Punkt 2: frar, Punkt 3 : fratęllo. Soweit das Taxandum. Wie daraus die für die Matrizenbeschickung geeigneten Taxate ableiten? Der Dialektometer kann dabei auf die grammatischen Kategorien Phonetik, Morphologie, Syntax und Lexikon zurückgreifen und die Taxanda wahlweise als Träger phonetischer, morphologischer, etc. Eigenschaften auffassen. Fradęl, fratęllo (< lat. FRATĚLLU) und frar (< lat. FRǍTRE) zeigen als gemeinsame phonetische Eigenschaft die Erhaltung von lateinisch FRA-, stellen also insofern identische Taxate dar, wenn man dabei von der verschiedenen Akzentstruktur absieht. Aber derartige autoritativ gesetzte, also nach eigenem Dafürhalten vorzunehmende Analyseeinschränkungen sind einfach unvermeidbar. Ein entsprechender Matrizeneintrag (vgl. Abb. 45.1) würde eine identisch besetzte Zeile ergeben. Alle drei Atlaspunkte tragen das gleiche nominale Taxat, etwa a. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, unter Ausnützung der allgemeinen Kenntnisse der diachronen Entwicklung der romanischen Sprachen die Taxanda fradęl und fratęllo als Nachfolgeformen von FRATĚLLU einerseits und das Taxandum frar als Nachfolgeform von FRǍTRE andererseits als je ein Taxat zu betrachten und somit zu einem Matrizeneintrag mit zwei nominalen Taxaten (etwa a und b) pro Zeile zu gelangen. Der Dialektometer kann derartige Analysen kategoriell getrennt vornehmen (also etwa nur phonetische Analysen durchführen), aber auch seine Meßmatrix mit Taxaten verschiedener grammatischer Kategorien beschicken. — Die beiden Beispielsanalysen zeigen zudem deutlich, daß man aus einer Sprachatlaskarte durch entsprechende Taxierung mehrere Arbeitskarten ziehen kann. Dabei wird klar, daß der Taxierungsprozeß von forschungsautoritativen Direktiven gesteuert wird, die als Zusatzinformation mit dem ursprünglichen Informationsgehalt des Taxandums additiv und subtraktiv interferieren. Hier werden
780
kommende Dialektometer genauso, wie dies in anderen empirischen Sozialwissenschaften geschehen ist (Cartwright 1953 ), im intersubjektiven Dialog versuchen müssen, wenigstens innerhalb des Rahmens ihrer jeweiligen Teilphilologie zu einer möglichst grossen ‘Objektivität’ bei der Taxierung zu gelangen: „Perhaps the foremost challenge is the development of a generally acceptable system for coding and scaling characters.” (Sneath/Sokal 1973 , 427). Die Terminologie Taxandum-Taxat wurde nach einem bei Engelien (1971, 12) referierten Vorschlag geprägt. 2.2. Gleichgewichtung oder Ungleichgewichtung der Taxate: zum Problem des Adansonismus Bei der Erstellung biologischer Klassifikationen wurde vom französischen Botaniker Michel Adanson (1727—1806) erstmals explizit das Prinzip aufgestellt, daß alle an den zu klassifizierenden Objekten beobachtbaren Merkmale gleich zu gewichten seien (vgl. Sneath/Sokal 1973 , 5; Sodeur 1974, 42 f.; Vogel 1975, 57 f.). Dieses Prinzip wurde und wird zwar bis heute mehrheitlich befolgt (vor allem bei den numerischen Taxonomen), ist aber im Grunde doch kontrovers geblieben. So könnte man sich rechtens fragen, ob im Falle der Dialektometrie nicht phonetisch relevante Taxate innerhalb der Meßmatrix höher zu gewichten seien als etwa lexikale Taxate. Innerhalb der Sprachwissenschaft fehlt es diesbezüglich ja nicht an z. T. höchst divergierenden Meinungen, denen zufolge etwa „Wörter leicht wandern„ (= geringes typologisches Gewicht des Lexikons), die „Dialektsyntax kaum landschaftliche Varianten zeige„ (= geringe Bedeutung der Syntax für typlogische Abgrenzungen), aber die „Phonetik überaus stabile Raumkammerungen ergebe„ (= hohes typologisches Gewicht der Phonetik). Der hier verwendete dialektometrische Ansatz arbeitet mit dem Prinzip der Gleichgewichtung, ist also adansonistisch und folgt damit dem in Taxometrie und Biologie mehrheitlich etablierten Brauch. Im übrigen sind mit gleichgewichteten Taxaten besetzte Meßmatrizen statistisch einfacher zu behandeln und daher für eine Neudisziplin vorzuziehen. Inwieweit aber verschiedene grammatische Kategorien typologisch (unter ansonsten gleichen Meßbedingungen) unterschiedliche Meßerträge liefern, müßte durch entsprechende dialektometrische Untersuchungen geklärt werden.
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
2.3. Meßmatrix Diese besteht aus einem durch die Atlaspunkte (= zeilenweise) und die Atlaskarten (= spaltenweise) aufgespannten Merkmalsraum. Taxometrischer Terminologie zufolge (Sodeur 1974, 9) spricht man auch von Elementen oder Objekten (= Atlaspunkte) und von Merkmalen oder Variablen (= Atlas-/ Arbeitskarten). Wenn man qualitativ beurteilte Daten zum Zweck der taxometrischen Verdichtung in eine Matrix einsortiert, erfolgt damit der erste quantifizierende Schritt. Es erhebt sich dabei das meßtheoretische Problem, ob die Relationen der qualitativ aussortierten Taxate zueinander (empirisches Relativ) adäquat durch Relationen von Zahlen (numerisches Relativ) wiedergegeben werden, die diesen Taxaten zugeordnet werden. Es geht um die „homomorphe Abbildung eines empirischen Relativs in ein numerisches„ (Orth 1974, 17). Dabei ist zu entscheiden, welche numerischen Eigenschaften den Taxaten zuerkannt werden können. Es entsteht das Problem der Wahl der Meßskala (vgl. Cicourel 1970, Orth 1974, 26 f.; Schaich 1977, 4; Scheuch/Zehnpfennig 1974). Von den vier meistgenannten Meßskalen (Nominal-, Ordinal-, Intervall-, Verhältnisskala) kommen hierfür die Nominal- und die Intervallskala in Frage. 2.3.1. Meßmatrix auf Nominalskalenniveau
Abb. 45.1: Meßmatrix auf Nominalskalenniveau (erfundener Datensatz) Die Taxate werden als Träger einer Eigenschaft mit der Ausprägung ‘voneinander verschieden’ betrachtet. Sie sind sozusagen Träger verschiedener Namen (nomina), hier repräsentiert durch verschiedene Buchstaben. Aber auch Zahlen/Ziffern wären dafür verwendbar. Es handelt sich bei der Nominalskala um die am wenigsten eindeutige und zugleich meßtheoretisch niedrigste Skala. — Zu beachten ist noch der Eintrag eines feh-
45. Ansätze zu einer computativen Dialektometrie
lenden Datums, womit schematisch auf einen für die Dialektometrie zwar unangenehmen, aber praktisch kaum vermeidbaren Sachverhalt hingewiesen wird, nämlich jenen fehlender Daten in Sprachatlanten (vgl. 3.1., 3.1.2. und Vogel 1975, 77 f.). 2.3.2. Meßmatrix auf Intervallskalenniveau
781
98). Gemäß den allgemeinen Postulaten der Sprachgeographie, die die Verteilung sprachlicher Phänomene im Raum, also über verschiedene Sprachatlaspunkte hinweg, untersucht, betreibt die Dialektometrie überwiegend Q-Analyse.
3.
Q-analytische Meßmomente
3.1. Identitätstest (Berechnung des Relativen Identitätswerts — RIW; vgl. die Karten 45.1 und 45.2)
Abb. 45.2: Meßmatrix auf Intervallskalenniveau (abgeleitet aus Abb. 45.1). Jedes Taxat wird als Träger der Eigenschaft ‘Raumanteil’ (meßbar in Atlaspunkten) betrachtet, wobei dieser Raumanteil numerisch verschieden stark ausgeprägt sein kann. Unter dieser Voraussetzung kann die Nominalmatrix (vgl. Abb. 45.1) in eine metrische Matrix (auf Intervallskalenniveau) transformiert werden (vgl. Abb. 45.2). Man beachte, daß dabei die Raumanteilswerte (in Atlaskarte 1: 1; in Atlaskarte 2: 2 bzw. 1; in Atlaskarte 3 : 5) zeilenweise relativiert werden, um solcherart den Nullstelleneffekt wenigstens teilweise aufzufangen. Intervallskalen sind definiert durch eine klar erkennbare Rangordnung von Meßwerten (hier: 1/5, 1/4, 2/4, 5/5) und durch Invarianz der Intervalle zwischen den Meßwerten (hier: natürliche Zahlen). Diese Transformation hat zur Voraussetzung, daß wir aus sprachgeographischer Sicht und Vorkenntnis bereit sind, den Atlaspunkten die meßbare Größe ‘Raumanteil’ als sprachwissenschaftlich relevantes Merkmal zuzuerkennen. 2.4. Q-Analyse vs. R-Analyse Man spricht im Fall der Analyse von Zusammenhängen zwischen Elementen (hier von Atlaspunkten) üblicherweise von einer QAnalyse, im Falle der Analyse von Zusammenhängen zwischen Merkmalen (hier von Atlas-/Arbeitskarten) von einer R-Analyse (Sneath/Sokal 1973 , 114 f.; Sodeur 1974,
Auszugehen ist von der Nominalmatrix (vgl. Abb. 45.1). Ein Atlaspunkt wird als Prüfbezugspunkt vorgewählt. Von diesem sind zu den restlichen Atlaspunkten Paarvergleiche durchzuführen, wobei jedesmal ein vorher festzulegender Ähnlichkeitskoeffizient zur Verrechnung kommt. Bei n Atlaspunkten können also n—l Paarvergleiche durchgeführt werden. Der hier vorgestellte Ähnlichkeitskoeffizient ist der einfachst mögliche (entspricht dem „simple matching coefficient”; vgl. Vogel 1975, 95 f.) und beruht auf der Division der Anzahl der taxatgleichen (Ix, y) durch die Anzahl der insgesamt verglichenen (Ux, y) Matrizenzellen mit anschliessender Prozentuierung:
Einsetzbeispiel nach Abb. 45.1: RIW1, 2: (a, f, i/b, f, i): 2/3 .100 = 66,6%; RIW1, 3 : (a, f, i/ c, g, i): 1/3 .100 = 3 3 ,3 %. Die Anwendung anderer Ähnlichkeitskoeffizienten ist möglich und ist bei hybriden und/oder kleineren Datensätzen (Cowan 1964, Ellegård 1959, Houck 1967, Reed/Spicer 1952) oder bei sprachtypologischen Versuchen (Kroeber/ Chrétien 193 7, Muljačić 1967) schon mehrfach versucht worden. Neu ist allerdings die hier gezeigte Zusammenstellung aller durch paarweise Anwendung eines Ähnlichkeitskoeffizienten ermittelten Ähnlichkeitswerte zu einer empirischen Häufigkeitsverteilung, deren Weiterverarbeitung in Form einer statistischen Wertkarte (vgl. Karte 45.2) und die anschließende kartographische Behandlung nach dem Choroplethenprinzip (vgl. Karte 45.1). In weiterer Zukunft müßten nun die verschiedensten Ähnlichkeitskoeffizienten an verschiedenen Datensätzen ausprobiert werden, um deren Tauglichkeit für dialektometrische Untersuchungen zu prüfen (vgl. etwa Altmann 1978).
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
782
3.1.1. Oberitalienischer Datensatz (vgl. die Karten 45.1 und 45.2) Maximale Matrixmaße: 251 Meßpunkte mal 696 Arbeitskarten (gezogen aus AIS Bd. I, II, IV). Von den 251 Meßpunkten entsprechen 247 originalen AIS-Atlaspunkten (zugleich die Nordhälfte des gesamten AISPunktfeldes von insgesamt 405 Atlaspunkten); 4 Stück sind als ‘Kunstpunkte’ zusätzlich eingesteuert worden (neben Punkt 999 = Hochitalienisch die Punkte 154, 262, 524). Die Meßmatrix ist mit 483 6 nach lexikalen, morphologischen und syntaktischen Kriterien isolierten Taxaten besetzt. Vom Prüfbezugspunkt 172 aus (im südlichen Piemont gelegen; vgl. Jaberg/Jud 1928, 59) können nulleintragsbedingt nur 693 (von insgesamt 696 verkodeten) Arbeitskarten verrechnet werden. 3.1.2. Kartographisches Beispiel (Karte 45.2, links unten) Paarvergleich
172
172 693 100.000 7—, G—, 7—
→
176.
176 691 80.029 5+, F+, 6+
Der Ausdruckblock bei Punkt 176 ist wie folgt zu interpretieren: „Von 693 vergleichbaren Arbeitskarten (bei Punkt 172 und am Kopf von Karte 45.2 vermerkt) sind 691 auch im Meßpunkt 176 nulleintragsfrei. Davon sind 80,029% (= 553 Stück) in der Prüfgabel zwischen dem Prüfbezugspunkt 172 und dem verglichenen Punkt 176 nominal identisch.„ Die letzte Zeile des Ausdruckblocks gibt die Intervallzugehörigkeit (vgl. 3 .1.3 .) an. Punkt 176 gehört gemäß Intervallalgorithmus MINMWMAX zum Intervall 5+. 3.1.3. Intervallalgorithmus Eine statistische Wertkarte und die darin enthaltene empirische Häufigkeitsverteilung führen allein noch nicht zu jener erwünschten Informationsverdichtung, bzw. Raumtypisierung. Das kann erst durch Erstellung einer Choroplethenkarte (oder einer anderen anschaulichen Darstellungsform; vgl. Arnberger 1977) geschehen. Damit wird eine visuelle Typ isierung durchgeführt und man gelangt — je nach Art des dabei verwendeten Typisierungsverfahrens — zu einem abgestuften empirischen Typusbegriff (bezogen auf ‘Dialekte, Sprachlandschaften’, etc.) im Sinne von Hempel/Oppenheim (193 6). —
Konkret geschieht dies so, daß charakteristische Kennwerte der Häufigkeitsverteilung bestimmt werden: Minimalwert, Mittelwert, Maximalwert (daneben auch Standardabweichung und Median). Dann wird die gewünschte Intervallanzahl festgelegt. Unter Berücksichtigung sehpsychologischer, arbeitspraktischer und numerischer Gründe fiel die Entscheidung hier auf 6 (bzw. 12) Intervalle. Es folgt die Festlegung der anzuwendenden Intervallalgorithmen. Es sind dies in dem Beispiel 3 Stück (MINMWMAX, MEDMW, MED), wobei im Fall des Intervallalgorithmus MINMWMAX (vgl. den Kopf der Karte 45.2) die Spannen zwischen Mittelwert und Minimalwert und zwischen Maximalwert und Mittelwert jeweils gedrittelt (für Sechsfachintervallisierung), bzw. gesechstelt (für Zwölffachintervallisierung) werden. Im Falle einer Sechsfachintervalleinteilung ergeben sich 7 Intervalleckwerte, die am Kopf der Karte 45.2, Zeile MINMWMAX, vermerkt sind. Der eingerückt darunterliegende, nur ganze Zahlen enthaltende dreizeilige Ausdruckblock gibt an, wieviele Meßpunkte die einzelnen Intervalle enthalten. Im Falle von MINMWMAX (sechsfach) sind das bei Intervall 1 11 + 3 = 14 Meßpunkte, bei Intervall 2 7 + 1 = 8 Meßpunkte, etc. Anhand dieser Angaben läßt sich (etwa nach dem bei Schaich 1977, 17—19 vermerkten Vorgang) das dieser Häufigkeitsverteilung entsprechende Säulendiagramm (Histogramm) erstellen. — Die Entscheidung zwischen mehreren Intervallalgorithmen muß autoritativ getroffen werden und ist somit Teil des gesamten taxonomischen Prozesses. Doch wird man dabei so verfahren, daß die algorithmisch ermittelten Raumtypen den aus der klassischen Sprachgeographie bekannten Dialekträumen möglichst angenähert werden. (Zur Technik der statistischen Intervalleinteilung siehe Dickinson 1973 , 82 f.; Jenks/Caspall 1971, Jenks/Coulson 1963 , Kishimoto 1972; Pudlatz 1976, 16 f. Zur Erklärung der in Karte 45.2 neben MINMWMAX verwendeten Intervallalgorithmen MEDMW und MED vgl. Goebl 1978 a, 346 f.) 3.1.4. Romanistische Interpretation von Karte 45.1 Die Intervalle 6 und 5 geben das nähere piemontesische Umfeld von Punkt 172 wieder. Intervall 4 zeigt die Hauptvernetzungsrichtung der Dialektizität von Punkt 172 in das Nordwest- und Südostlombardische, sowie — gegen Westen — in das Gebiet des Alpin-
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Karte 45.1: Identitätsprofil zum Prüfbezugspunkt 172 (Villafalletto, Provinz Cuneo) anhand von 693 Arbeitskarten nach AIS; zum numerischen Ertrag vgl. Karte 45.2 und 3.1. — Erstellung der Graurasterkarte (Choroplethenkarte MINMWMAX 6fach): anhand Intervallalgorithmus MINMWMAX 6fach (vgl. 3.1.2.) — Erstellung des Stabdiagramms (Häufigkeitsverteilung MINMWMAX 12fach): anhand Intervallalgorithmus MINMWMAX 12fach, entspricht Halbierung von MINMWMAX 6fach; Rechen- und Darstellungsmodus nach Schaich 1977, 17—19. Elektronische Kartographie: W.-D. Rase, Bonn provenzalischen (Meßpunkte 170, 160, 152, 150). Vereinzelte Meßpunkte in Intervall 4 (v. a. im venezianischen Raum) verdanken ihren atypisch hohen RI-Wert den in ihren Merkmalsvektoren allzu häufigen Nulleinträgen. Unterdurchschnittliche Ähnlichkeiten (Intervalle 3 ,2,1) existieren gegenüber dem Frankoprovenzalischen des Aostatals, gegenüber gewissen Teilen des Alpinprovenzalischen (Punkt 140), dem Rätoromani-
schen Graubündens (wobei sich das Engadin als typologisch ‘weicheres’ Gebiet gegenüber West- und Mittelbünden abhebt) und Südtirols (Punkt 3 05), dem Friaulischen, dem Venezianischen und dem Toskanischen. Derartige punktbezogene Identitätskarten erlauben es, gewisse traditionelle Fragestellungen der Sprachgeographie („Die Stellung des Dialekts von X zwischen Y und Z„) in neuem Licht zu sehen.
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
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3.1.5. Heuristik der Identitätskarten Prinzipiell sollen ebenso viele Identitätskarten errechnet werden, wie die Meßmatrix Atlaspunkte enthält. Wenn die vom Dialektometer unterhaltene kartographische Infrastruktur es erlaubt, können durch sukzessive Vorführung (mittels Trickfilmtechnik, Überblendprojektion, etc.; vgl. Goebl 1978 a, 3 3 5 f.) einander eng benachbarter Identitätsprofile sehr anschauliche Fließbildeffekte erzielt werden, die für den akademischen Unterricht und die wissenschaftliche Hypothesenbildung überaus ertragreich sind. 3.1.6. Fortführung des Identitätstests Da gen de (der
bei n Meßpunkten n Identitätsverteilunermittelt werden können, von denen jespezifische charakteristische Parameter Lage: Extremwerte, arithmetisches Mit-
tel, Median; der Streuung: Standardabweichung, Quantilabstände, etc.; der Symmetrie: Schiefe) besitzt, liegt es nahe, Synopsen dieser jeweils n Parameter zu erstellen. Besonders anschauliche Resultate liefern die Synopsen der Maximalwerte (zeigt Dialektkerne), der Standardabweichungen (zeigt überaus deutlich den identitätsspezifischen Durchmischungsgrad eines Untersuchungsgebiets, wobei sich zentrale und periphere Dialektstände graduell entflechten), der Schiefe und eines Quotienten aus Maximalwert und arithmetischem Mittel (MAX/) (ergibt eine in beiden Fällen ‘automatische’ Dialektgruppierung: systemzentrale Zonen haben niedere, systemperiphere Rand- und Einschlußgebiete hohe Meßwerte. Die taxometrische Wertigkeit der Schiefe ist dabei durch das Zusammenwirken von Vorzeichenvariation — positive vs. negative Schiefewerte — und Meßwertausprägung besonders hoch.). Aus Karte 45.3 ist die gute Ver-
Karte 45.3: Digitales Geländemodell einer numerischen Synopse von 251 Schiefewerten (Korpus wie bei Karte 45.1; vgl. 3 .1.6. und 3 .1.7.). Zu den 251 Identitätsverteilungen (zu je 250 Ähnlichkeitswerten -RIW) der (aus der Meß- oder Datenmatrix mittels Ähnlichkeitsmessung abgeleiteten; vgl. 3 .1.) Ähnlichkeitsmatrix (vgl. 3 .1.7.) wurden 251 Schiefen (Formel nach Bahrenberg/Giese 1975, 54) errechnet und computerkarto- graphisch zu einer geglätteten statistischen Oberfläche synthetisiert (Betrachtung aus Südwesten unter einem Winkel von 45°). Elektronische Kartographie: W.-D. Rase, Bonn
Karte 45.2: Relative Identitätswerte (RIW) zum Prüfbezugspunkt 172 (Villafalletto, Provintz Cuneo) anhand von 693 Arbeitskarten nach AIS (vgl. 3.3. und Karte 45.1)
45. Ansätze zu einer computativen Dialektometrie
785
wendbarkeit dieser Klassifikation mittels Schiefe für die jetzt ein gutes Jahrhundert alte Frage ersichtlich, ob das Frankoprovenzalische, Alpinokzitanische, Bündnerromanische, Ladinische und Friaulische ‘italienische Dialekte’ seien oder nicht. Die höchsten Gebirgserhebungen (positive Schiefe) in diesem Geländemodell entsprechen (im Uhrzeigersinn) dem Alpinprovenzalischen, dem Frankoprovenzalischen des Aostatales (und diesem südlich vorgelagerter Täler) und dem Rätoromanischen Graubündens, Ladiniens sowie (weniger deutlich ausgeprägt) Friauls. Damit sind jene Bereiche des AIS erfaßt, in denen aus der Sicht der klassischen romanischen Sprachgeographie schon immer nichtitalienische Sprachstände angenommen worden waren. Demgegenüber sind die Meßwertminima (kleinste negative Schiefen) im Verlauf des Apennins einerseits und parallel zur Etsch andererseits anzutreffen, woraus sich eine eigenartige scherenförmige Gliederung des Zentrums dieses Untersuchungsgebietes ergibt. Auf der Karte 45.3 sind die fraglichen Depressionen aus Gründen der Bildsyntax weniger deutlich als die peripheren Elevationensichtbar. Die genannten Ergebnisse (vgl. dazu Goebl 1979 a, 163 f.) wurden rein empirisch gefunden, woraus mit Popper (1973 , 3 89) einmal mehr deutlich wird, daß der „Gang der Wissenschaft (...) im Probieren, Irrtum und Weiterprobieren„ besteht. 3.1.7. Symmetrische Ähnlichkeitsmatrix Man kann eine symmetrische (i. e. quadratische) Matrix erstellen, deren Seiten jeweils aus den n Elementen (Meßpunkten) des Untersuchungsgebietes bestehen, so daß darin alle n Identitätskarten (vgl. 3 .1.) enthalten sind und daher die RI-Werte aller Meßpunkte zu allen anderen abgelesen werden können. Die Diagonale dieser quadratischen Ähnlichkeitsmatrix enthält den RI-Wert 100%. Eine derartige Ähnlichkeitsmatrix kann unter Verwendung verschiedenster Ähnlichkeits-, Abstands- und Korrelationsmaße gebildet werden. Einzige Voraussetzung: das gewählte Maß sollte die Bedingungen einer Metrik erfüllen (Späth 1975, 11). Im Falle des RI-Werts trifft dies zu (vgl. Späth 1975, 15; Sodeur 1974, 77 f.). Diese symmetrische Ähnlichkeitsmatrix ist Grundlage der Clusteranalyse. 3.2. Clusteranalyse Dieses
sich
heute
großer
Beliebtheit
er-
freuende multivariate Analyseverfahren versucht, Elemente (hier: Atlaspunkte), die sich untereinander bezüglich eines Ähnlichkeitsoder Distanzmaßes (hier: RI-Wert) unterscheiden, in Klassen (Cluster, Gruppen, Haufen) so einzuteilen, daß die einer Klasse zugeteilten Elemente voneinander weniger differieren als gegenüber ‘außen’ (d. h. gegenüber Elementen, die außerhalb der Klasse liegen oder gegenüber anderen Klassen). Aus der großen Vielfalt der derzeit verwendeten clusteranalytischen Verfahren (vgl. Anderberg 1973 , Bock 1974, Späth 1975, Vogel 1975) eignen sich die hierarchisch-agglomerativen Verfahren (Anderberg 197 3 , 13 2 f.; Bock 1974, 3 83 f.; Späth 1975, 162 f.; Vogel 1975, 249 f.) besonders gut für dialektometrische Klassifikationsaufgaben (Karten 45.4 und 45.5). Üblicherweise starten diese Verfahren den Prozeß der Klassenbildung mit n zunächst unverbunden dastehenden Elementen (hier mit 71 Atlaspunkten). Dann folgt der erste Klassifizierungsschritt, dessen Ziel und Ergebnis die Verschmelzung jener beiden Elemente zu einem Elementenpaar (Cluster Nr. 1) ist, die einander in bezug auf das verwendete Ähnlichkeitsmaß am ähnlichsten sind. Als Resultat dieser Fusion wird die Anzahl der für den zweiten Klassifizierungsschritt verbleibenden Elemente zunächst um 2 verringert, dann aber nach erfolgter Verschmelzung dieser zwei Elemente zu einem Cluster um den einen neugebildeten Cluster vermehrt, so daß de facto für den zweiten Klassifikationsschritt n — 2 + 1 = n — 1 Elemente und/oder Cluster verbleiben. Es sind insgesamt n — 1 Klassifikationsschritte möglich (hier 70), deren Resultat eine in Dendrogrammform ausgegebene Clusterhierarchie ist. Jeder Cluster liegt auf einem genau festgelegten Wertniveau. — Auf Karte 45.4 sind von den 70 berechneten Wertniveaus platzbedingt nur 2 auf drei Kommastellen genau und 4 auf ganze Zahlen gerundet angeführt. Die quantitativen Modalitäten der n — 1 Fusionen werden durch bestimmte vorgegebene numerische Kriterien gesteuert (hier: complete linkage; vgl. Anderson 1973 , 13 8 f.; Bock 1974, 3 92 f.; Vogel 1975, 3 00 f.). Der Taxometer kommt dabei aber nicht um die Aufgabe herum, bei der Verclusterung eines Datensatzes diese numerischen Kriterien — die ja stets die Ergebnisse in eine bestimmte Richtung lenken — experimentell an seine persönl ichen klassifikatorischen Erwartungen anzupassen. — Das errechnete Dendrogramm (vgl. Karte 45.4) zeigt deutlich, daß sich die
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
Karte 45.4: Dendrogramm einer hierarchisch-agglomerativen Clusteranalyse (71 Atlaspunkte nach ALF) anhand RIW und 1468 Arbeitskarten nach ALF (vgl. 3.2.) 70 Cluster zwanglos und de visu in hierar3.2.3. Romanistische Interpretation der Karchisch verschiedenrangige Großklassen zuten 45.4 und 45.5 sammenfassen lassen. Das hier vorliegende Der durch unser Prüffenster sichtbare Teil Dendrogramm entspricht weitgehend der in Nordwestfrankreichs umfaßt herrschender der galloromanischen Dialektologie übliLehre zufolge das Westpikardische (Départechen Dialektklassifikation dieses Gebiets. ments Pas-de-Calais, Somme, Oise), das Normandische (wozu die dialektal oft ex3.2.1. Nordwestfranzösischer Datensatz (vgl. trem liegenden anglonormandischen Inseln die Karten 45.4—45.7) gezählt werden), Anteile des Westfranzösischen (Départements Ille-et-Vilaine, MayenMaximale Matrixmaße: 71 Meßpunkte mal ne, Sarthe) und zentralfranzösische Varietä1468 Arbeitskarten (gezogen aus ALF ten (vor allem im SO). Diesem Vorwissen Bd. I—IX). Von den 71 Meßpunkten ententspricht der clusteranalytische Befund weisprechen 70 originalen ALF-Atlaspunkten testgehend. — Der höchstrangige Cluster (zugleich ein kleiner Ausschnitt im NW des umfaßt (und trennt) die jeweils wohlsepagesamten ALF-Punktefeldes von 63 9 Atlasrierten Einzugsgebiete des Westpikardischen punkten); Punkt 999 gibt das Hochfranzösi(Fläche 1) und des Westfranzösisch-Norsche wieder. Die Meßmatrix ist mit 3 959 mandischen (Clusterast 2 auf Karte 45.4). In nach lexikalen, morphologischen und synweiterer Folge fallen die anglonormanditaktischen Kriterien isolierten Taxaten beschen Inseln (Fläche 3 ) und das Westfranzösetzt. sische (Fläche 5) aus. Als wohlseparierte Gruppen erscheinen ferner das Westnor3.2.2. Symmetrische Ähnlichkeitsmatrix mandische (Flächen 11 und 12) und das OstDiese wurde nach den Prinzipien des Identinormandische (Flächen 9 und 10), womit tätstests (vgl. 3.1.) erstellt.
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Karte 45.5: Kartographische Darstellung des clusteranalytischen Dendrogramms (vgl. Karte 45.4 und 3.2.) durchaus plausible und grosso modo in die3.3.2. Intervallalgorithmus (Karte 45.6) ser Form akzeptable Ergebnisse geliefert Wie in 3.1.3. beschrieben (MINMWMAX). werden. 3.3. Kohärenztest (Berechnung des Relativen Kohärenzmittels — RKM; vgl. die Karten 45.6 und 45.7) Auszugehen ist von der Meßmatrix auf Intervallskalenniveau (vgl. Abb. 45.2). Ein Atlaspunkt wird vorgewählt, das arithmetische Mittel der über ihm in der entsprechenden Matrizenspalte enthaltenen Meßwertserie ermittelt und auf Prozente gebracht. Der Vorgang wird für alle anderen Atlaspunkte wiederholt und das Resultat in kartographische Synopse gebracht. Beispiel: RKM1 = 100/3 . (1/5 + 2/4 + 5/5) = 56,6%; RKM4 = 100/2. (5/5 + 1/5) = 60%. Eine derartige Synopse liegt in den Karten 45.6 und 45.7 vor. 3.3.1. Datensatz (vgl. die Karten 45.6 und 45.7) Wie in 3.2.1. beschrieben.
3.3.3. Romanistische Interpretation von Karte 45.6 Wiederum sind die dialektometrischen Meßergebnisse unter Rückgriff auf dialektologisches Vorwissen plausibel zu interpretieren. Man erkennt sofort, daß das Epizentrum des durch den RKM erfaßten raumgreifenden Dynamismus im SO, also um Paris liegt. Die von dort ausgehende Kohärenztendenz verflacht gegen NW und bricht sich deutlich an den schon auf den Karten 45.4 und 45.5 als extrem ausgewiesenen Dialektgebieten der anglonormandischen Inseln, des Westfranzösischen und des Westpikardischen. Damit ist ein innerhalb der nordfranzösischen Sprachgeschichtsschreibung immer wieder aufgegriffener Vorgang (Homogenisierung der galloromanischen Sprachlandschaften ab Paris) deutlich sichtbar gemacht worden.
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Karte 45.6: Kohärenzprofil der Normandie anhand von 1468 Arbeitskarten nach ALF; zum numerischen Ertrag vgl. Karte 45.7 und 3 .3 . — Erstellung der Graurasterkarte (Choroplethenkarte MINMWMAX 6fach): anhand Intervallalgorithmus MINMWMAX 6fach (vgl. 3 .1.2.) — Erstellung des Stabdiagramms (Häufigkeitsverteilung MINMWMAX 12fach): anhand Intervallalgorithmus MINMWMAX 12fach, entspricht Halbierung von MINMWMAX 6fach; Rechen- und Darstellungsmodus nach Schaich 1977, 17—19. Elektronische Kartographie: W.-D. Rase, Bonn 3.4. Q-analytische Meßmomente anhand beschrieben) unter Einsatz korrelations- und regressionsanalytischer Verfahren (Schaich der Meßmatrix auf Intervallskalenniveau 1977, 255 f.). Konkret bedeutet dies, daß (vgl. dazu die Abb. 45.1 und 45.2) im PaarDer eigentliche Mehrwert der metrischen vergleich z. B. der Atlaspunkte 2 und 3 nicht Meßmatrix gegenüber der nominalen besteht die nominalen Meßwertserien (b, f, i) und in der Möglichkeit der Durchführung paar(c, g, i), sondern die metrischen Meßwertseweiser Atlaspunktvergleiche (wie unter 3 .1. rien (1/5, 2/4, 5/5) und (1/5, 1/4, 5/5) ver-
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789
Karte 45.7: Relative Kohärenzmittel (RKM) anhand von 1468 Arbeitskarten nach ALF (vgl. 3.3.) glichen werden und deren numerischer Zusammenhang durch einen entsprechenden Koeffizienten ausgedrückt wird. Noch liegen dazu keine genuin ‘dialektometrisch’ durchgeführten Arbeiten vor, doch dürfte hier eine der Hauptentwicklungsrichtungen dieser jungen Disziplin vorliegen (vgl. Bock 1974, 35 f.). 3.5. Zwischenpunkttest Man kann ein Atlaspunktfeld dreiecksartig vernetzen und jede solcherart gezogene Verbindungslinie in der Mitte mit einem Zwischenp unkt besetzen. Wenn das von diesem Zwischenpunkt aus ‘überwachte’ Atlaspunktepaar sprachlich als verschieden einzustufende Taxate trägt, vermerkt der Zwischenpunkt pro Arbeitskarte den Wert 1, im anderen Fall 0 (d. h.: das Atlaspunktepaar ist
sprachlich gleich besetzt). Solcherart kann das Isoglossenp roblem computativ behandelt werden. Zwar ist die rein rechentechnische Seite dieses Problems einfach lösbar, doch ergaben sich früher kartographische Schwierigkeiten bei der optisch ansprechenden Gestaltung der Ergebnisse (vgl. dazu Guiter 1973 , Goebl 1979 b sowie neuerdings Goebl 1981).
4.
R-analytische Meßmomente
Darunter sind Klassifikationsprozeduren zu verstehen, die Ordnungsstrukturen entlang der von den Atlaskarten (Merkmalen) — vgl. die Abb. 45.1 und 45.2 und 2.4. — besetzten Matrizenseite entdecken sollen. Dazu bestehen vorderhand erst rudimentäre dialektometrische Erfahrungen.
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
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4.1. Das Problem der ‘semantischen Kategorien’ Sprachatlanten enthalten die Sprachkarten entweder in alphabetischer (Fall von ALF) oder in sachgruppenbezogener Ordnung (Fall von AIS). Man kann nun — eine entsprechende Indizierung vorausgesetzt — gewisse Q-analytische Meßmomente getrennt nach einzelnen Sachgruppen („semantischen Kategorien„: z. B. Wortschatz des Familienlebens, der Körperteile, von Handwerk und Handel, von Zahlen, Zeit und Raum, etc.) durchführen und die Resultate miteinander de visu oder korrelations- bzw. regressionsanalytisch vergleichen. In letzterem Fall ergibt sich wiederum die Möglichkeit, eine symmetrische Korrelationsmatrix (n Sachgruppen mal n Sachgruppen; jeweils auf der Basis eines Q-analytischen Meßmoments) zu erstellen und diese clusteranalytisch weiterzuverarbeiten. — Bislang angestellte de visuVergleiche haben eine relative Invarianz innerhalb der verglichenen Sachgruppenkorpora ergeben (Goebl 1976). Sollte man allerdings das in 2.2. angesprochene Problem der typologischen Valenz verschiedener grammatischer Kategorien hypothesengestützt untersuchen wollen, muß man darauf achten, pro Subkorpus eine gewisse Mindestanzahl von Arbeitskarten zur Verfügung zu haben und andererseits auch die Mächtigkeit der verschiedenen Subkorpora einander möglichst anzugleichen. 4.2. Das Problem der Korpusmächtigkeit Alle taxometrischen Handbücher enthalten Angaben darüber, wieviele Merkmale man im Falle einer Q-Analyse mindestens berücksichtigen sollte, um zu verläßlichen Resultaten zu gelangen (Sneath/Sokal 1973 , 106 f.). Seltener jedoch wird darauf hingewiesen (Vogel 1975, 50 f.), daß dieses Problem am ehesten dadurch untersucht werden kann, daß man die Meßmatrix ausgehend vom Vollstand teilweise reduziert (Zufallsprinzip beachten!) und dabei stets erneut das gewählte Meßmoment anwendet. — Im Falle des oberitalienischen Datensatzes wurden aus dem vollen Korpus (696 Arbeitskarten) nach dem Prinzip eines Urnenmodells mit Zurücklegung (Schaich 1977, 76) und unter Wahrung strenger Zufälligkeit bei der Auswahl Teilkorpora von 25, 50, 75, 100, 150, 200, 3 00 und 450 Arbeitskarten gezogen und jeweils mit mehreren Meßmomenten verrechnet. Dabei zeigt sich, daß sich die Grundzüge des Raumgliederungstypus bereits bei 25 Arbeitskarten einstellen, wäh-
rend eine weitgehende Stabilisierung in den Gliederungsdetails bei ca. 200 bis 3 00 Arbeitskarten erfolgt. Diese Versuche wurden anhand des nordwestfranzösischen Datensatzes wiederholt und dabei bestätigt. — Gegebenenfalls kann auch — wie in 4.1. beschrieben — eine korrelations- und anschließend clusteranalytische Untersuchung hierzu durchgeführt werden.
5.
Literatur (in Auswahl)
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45. Ansätze zu einer computativen Dialektometrie
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
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Hans Goebl, Regensburg
46. Entwürfe zu dialektalen Informationssystemen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Einleitung Der Begriff des Informationssystems Datenaspekte dialektologischer Materialbearbeitung Zur Systematisierung des DV-Einsatzes in der Dialektologie Perspektiven dialektaler Informationssysteme Literatur (in Auswahl)
Einleitung
Die explosive Entwicklung, die sich in der elektronischen Datenverarbeitung vor allem auch im nichtnumerischen Bereich vollzieht, hat dazu geführt, daß comp utergestützte Forschungsmethoden immer stärker auch in geisteswissenschaftliche Disziplinen eindringen. Dies gilt nicht zuletzt für die Dialektologie, die es, soweit sie sich als empirische Wissenschaft versteht, mit beträchlichten Materialmengen zu tun hat und deswegen für einen weitreichenden DV-Einsatz geradezu prädestiniert ist. Der vorliegende Beitrag will versuchen, eine Skizze der sich gegenwärtig abzeichnenden Möglichkeiten eines Rechnereinsatzes bei dialektologischen Materialbearbeitungen nachzuziehen und Perspektiven aufzuzeigen. Ausgegangen wird dabei von einer ansatzweisen Klärung des Informationssystembegriffs, von einer Analyse der Struktur und Bearbeitung dialektaler Ausgangsdaten und einem kursorischen Überblick über rechnergestützte Aktivitäten in der Dialektologie. Bei allen diesen Punkten sind starke inhaltliche Verkürzungen und Beschränkungen auf exemplarische Einzelphänomene unvermeidlich. Dies liegt zum einen an der hier gebotenen Kürze, zum anderen und ent-
scheidend aber an dem Umstand, daß die Thematik im Schnittfeld zweier sich fremder Disziplinen liegt, der Dialektologie und der Informatik. Gerade bei letzterer ist in jüngster Zeit eine dynamische Entwicklung zu beobachten, in Verlaufe derer selbst Grundbegriffe wie z. B. der des Informationssystems neue Konturen anzunehmen beginnen. Dies bedeutet für das hier zu behandelnde Thema, daß der Prozeß, mit dem die Informatik die empirischen Wissenschaften durchdringt, nicht problemlos zu fassen ist. Hinzu kommt, daß Computeranwendungen innerhalb der Dialektologie, aufs Ganze gesehen, bisher eher sporadisch und punktuell erfolgten; eine durchgängige Systematik läßt sich hier gegenwärtig noch nicht erkennen. Für die weitergehende Behandlung des Themas hat dies zur Folge, daß sie sich nicht ausschließlich auf dem Boden erprobter und anerkannter Tatbestände bewegen kann, sondern auch über sie hinaus extrapolieren muß. Es wird versucht, aufgrund der erwähnten Erörterungen — besonders zur dialektalen Datenstruktur —, die Umrisse eines Systemrahmens zu entwickeln, in den sich die wichtigsten Arbeiten einordnen lassen, aus dem heraus aber auch weitergehende Perspektiven sichtbar werden. Zielpunkt dabei ist die Definition eines dialektalen Informationssystems im Rahmen einer dafür zu entwickelnden Terminologie und deren Anwendung auf sich abzeichnende Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Dieses Vorgehen hängt mit der Spezifik dialektologischer Forschungsinteressen zusammen, die, soweit sie den empirischen Aspekt betreffen, durch Arealität und ausdrucksseitige Orientierung geprägt sind. Eine systematische Standortbestimmung im
46. Entwürfe zu dialektalen Informationssystemen
Rahmen der Linguistischen Datenverarbeitung allgemein, bei der Syntaxprobleme, Sprachverstehen und andere Fragen der künstlichen Intelligenz im Vordergrund stehen, scheint deswegen vom Inhaltlichen her konstruiert. Auch zur Philologie hin, einem Gebiet mit erfolgreicher DV-Erfahrung, lassen sich nur geringe methodische Gemeinsamkeiten bezüglich rechnergestützter Verfahren ausmachen, und lediglich im Bereich der Lexikographie gibt es einige tragfähige Berührungsflächen. So nimmt es nicht wunder, daß in Übersichten über linguistische DV-Aktivitäten die Dialektologie eine extreme Randposition einnimmt (vgl. Lenders 1980, Krenn 1972). In der gegenwärtigen Situation muß die dialektologische Forschung bei der Entwicklung zeitgemäßer Methoden eigene Wege gehen und kann zunächst auch vom Fortschritt der Informatik nur am Rande profitieren. In der Bezeichnung „dialektale Informationssysteme„ drückt sich eine gewisse Zurückhaltung aus, die dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung angemessen scheint, denn sie setzt den Akzent auf den Datenaspekt, auf die Haltung und gezielte Herausgabe dialektalen Datenmaterials. Wenn künftig die hier mehr ausblickend skizzierten Systemteile, die in einem engeren Sinn dialektologische Arbeitsabläufe simulieren, in den Vordergrund rücken werden, was bei einem zügigen Fortschritt der gegenwärtigen Forschungsaktivitäten zu erwarten ist, wird die Berechtigung wachsen, von „dialektologischen Informationssystemen„ zu sprechen.
2.
Der Begriff des Informationssystems
Eine Präzisierung des Informationssystembegriffs trifft auf einige Schwierigkeiten. Ein bloß definitorisches Vorgehen ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen wird „Information„ umgangssprachlich in verschiedenen, meist unscharfen Bedeutungen verwendet und in der Informatik oft als nicht weiter definierbarer Grundbegriff eingeführt (vgl. Bauer/Goos 1973 , 1). Zum anderen bezieht sich der Terminus auf eine derartige Fülle von realen Gegenständen, daß eine einheitliche Bestimmung äußerst schwer fällt (vgl. Reusch 1980, 19). In der — vor allem kommerziellen — Praxis werden Informationssysteme aufgebaut und betrieben, ohne daß die fehlende exakte Standortbestimmung als Mangel empfunden wird:
793
sie stellen sich dar als Ensemble strukturierter, dynamisch veränderbarer Datenmengen und auf sie zugeschnittene, im Rechner realisierte Datenmanipulationswerkzeuge, mit denen sich definierte Benutzerwünsche erfüllen lassen. Ein Beispiel hierfür ist das von der Firma Siemens entwickelte System GOLEM, das von seinen Herstellern ohne problematisierendes Eingehen auf den Informationssystembegriff funktional beschrieben wird (vgl. Grosholz/Urbach 1972, Hahn 1972). Ein stärker wissenschaftlich-systematisches Vorgehen ist bei einer Reihe amerikanischer Forschungsarbeiten zu beobachten, die in die sechziger Jahre zurückreichen (vgl. Feigenbaum/Feldman 196 3 , Minsky 1968, Simmons 1970, Schank/Colby 197 3 und dort weitere Literatur). Aufbauend auf diesen Arbeiten kommt die unter der Leitung von Ungeheuer arbeitende Projektgruppe LDV zu einer Einteilung in Referenzsysteme, die „Wissen„ speichern und auf mannigfache Art wiedergeben können, Inferenzsysteme, die unter Verwendung von Regelsystemen in der Lage sind, Schlußfolgerungen zu ziehen, und Dialogsysteme, die kommunikatives Verhalten simulieren. Im Zusammenhang mit diesen Forschungen entstehen die Systeme ISLIB (Informationssystem auf linguistischer Basis, vgl. Krallmann/Lange/ Soeffner 1973 , Kolb/Wulz 1975) und PLIDIS (Problemlösendes Informationssystem mit Deutsch als Interaktionssprache, vgl. Kolvenbach/Lötscher/Lutz 1979), in denen theoretische Grundlagen aus den Bereichen Linguistik und artificial intelligence (AI) angewendet sind, und die Aspekte aller drei Systemtypen realisieren. Ein weiteres Beispiel für diese Richtung ist das System HAM-RPM (Hamburger Redepartnermodell), bei dem natürlichsprachliches Verstehen im Vordergrund steht (vgl. v. Hahn 1978). Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Explizitheit des Systemmodells, die zentrale Rolle linguistischer Konzepte und die Bedeutung der AI. Eine Reihe von Arbeiten besonders jüngeren Datums nähert sich dem Begriff des Informationssystems stärker „von außen her„. Ein theoretisch weit ausholender Ansatz, der besonders von der Gruppe um Carl Adam Petri betrieben wird, stellt das Informationssystem in den allgemeinen Zusammenhang einer Organisationstheorie und entwickelt mathematische Werkzeuge zur analytischen und applikativen Behandlung die-
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
794
ses Komplexes (vgl. Grochla 1979, Shapiro 1979). Mehr aus dem Bereich der Kommunikationswissenschaft kommend, sieht MeyerUhlenried (1977) das Informationssystem, das zunächst funktional begriffen wird, als Teil eines umfassenden Kommunikationssystems, ein Ansatz, der sich — mit anderer Schwerpunktsetzung — bereits bei Lutz (1973 ) findet. Reusch (1980) geht ebenfalls von einer funktionalen Sichtweise aus und entwickelt von hier aus eine formale Beschreibungsebene für das Informationssystem und seine Komponenten. Ein stark formalisierter Ansatz, der das Informationssystem im Zusammenhang allgemeiner Modellierungssysteme sieht, wird von Lockemann/ Mayr (1978) vorgestellt. Für eine direkte Anwendung auf den Bereich der Dialektologie scheint der Forschungsstand auf dem Gebiet der Informationssysteme zu heterogen; sie sind zu explizit einerseits, zu global andererseits: Die zentrale Bedeutung der Ausdrucksseite und die konstitutive Rolle, die die (diatopische) Varianz in der dialektologischen Forschung spielt, machen semantische oder an syntaktischen Regelsystemen der Normsprache orientierte Systemansätze für den Dialektologen relativ uninteressant. Zum anderen aber können die umfassenderen Systemkonzepte nur den begrifflichen Rahmen fachspezifischer Informationssysteme liefern und zu deren optimaler Planung und Realisierung beitragen; das eigentlich Inhaltliche muß sich an den besonderen Forschungsinteressen, der Struktur der zu bearbeitenden Daten und den Möglichkeiten der DV-Technik ausrichten. Für die definitorische Ebene bietet der Zugang „von außen„, d. h. hier der Verzicht auf wissenschaftlich-methodische Inhalte bei der Definition, den Vorteil der begrifflichen Geschlossenheit ohne Beschränkung des applikativen Aspekts; die im folgenden zu entwickelnden Ansätze folgen daher in diesem Punkt der „globalen„ Richtung. Demgegenüber braucht die Einbettung der rechnergestützten Wissenserschließung in den Gesamtprozeß dialektologischer Theoriebildung nicht besonders betont zu werden; der klareren Terminologie wegen wird deshalb ein im wesentlichen informatisches Konzep t eines dialektalen Informationssystems zu umreißen versucht. Dieses selbst kann auf der allgemeinen Stufe zunächst nur funktional bestimmt werden: es sind aussagekräftige, interpretationsbedürftige Datenkorpora mit Datenmanipulationswerkzeugen zu bearbeiten, die dialektologi-
sche Arbeitsabläufe simulieren oder approximieren. Die Realisierung solcher Werkzeuge, mithin der operationale Teil des Informationssystems, setzt die Formalisierbarkeit der Methoden voraus, was in wichtigen Teilbereichen der empirischen Dialektforschung weitgehend gegeben ist.
3.
Datenaspekte dialektologischer Materialbearbeitung
3.1. Datenstruktur und Datenfluß Das Sp ektrum der Daten, mit denen sich die dialektologische Forschung zu beschäftigen hat, ist sehr umfangreich. Es reicht von historischen Sprachdokumenten, deren Entstehung meist in einem eher indirekten Verhältnis zum Forschungsziel steht, bis hin zu flächendeckenden Sprachenquêten, die bezüglich Erhebungs- und Auswertungsmethoden am neuesten technischen und fachwissenschaftlichen Stand orientiert sind. Ihrer Struktur nach sind Dialektaldaten eine sehr „spröde„, schwer handhabbare Datenform. Bereits die dokumentarische Fixierung gesprochener Sprache in schriftlicher Form, die die wissenschaftliche Bearbeitung normalerweise voraussetzt, enthält Momente eingeschränkter Objektivität, nämlich in der Interpretation des Gehörten und der Wahl des Transkriptionsmodus. Hinzu kommt häufig Lückenhaftigkeit, Unzulänglichkeit und Inhomogenität der Daten, was besonders bei historischem Material der Fall ist, aber auch bei rezenten Daten aufgrund fehlender finanzieller und personeller Mittel, organisatorischer Probleme u. ä. eine Rolle spielt. Alle diese Faktoren machen die gesprochene Sprache als wissenschaftlichen Gegenstand schwer zugänglich. Zur positiven Bestimmung von Dialektdaten gehört aus der Sicht des Dialektologen zuerst deren Arealität; Forschungsobjekt der Dialektologie ist auf allgemeiner Stufe die diatopische Varianz der gesprochenen Sprache, was sich angesichts des schwierigen Zugangs zu diesem Gegenstand in einer stark ausdrucksseitigen Orientierung niedergeschlagen hat. Um dieses Ziel verfolgen zu können, muß von dialektologischer Seite eine weitere Forderung an das Material gestellt werden, die der räumlichen (oder auch zeitlichen) Vergleichbarkeit: erst durch die Möglichkeit der synoptischen Sicht wird die Varianz faßbar. Diese Eigenschaft dialektalen Materials, räumlich oder zeitlich verteilter Beleg für ei-
46. Entwürfe zu dialektalen Informationssystemen
ne wissenschaftliche Fragestellung zu sein, soll im folgenden Thematizität der Daten genannt werden. Der Begriff entstammt in assoziativer Hinsicht dem Bereich der Themakartographie. Er bezeichnet einen Aspekt dialektalen Materials, der diesem nicht von selbst, sondern erst aus dem Blickwinkel dialektologischer Forschungsinteressen zukommt. Arealität und Thematizität bilden den begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen sich ein in der Struktur dialektaler Daten begründbarer Systemansatz entwickeln läßt. Eine Lokalisation möglicher Einsatzstellen DV-gestützter Verfahren wird erleichtert, wenn man die Bearbeitung dialektalen Materials etwas konkreter betrachtet. Auf der allgemeinsten Stufe läßt sich der dialektologische Datenfluß so charakterisieren, daß durch Erschließung einer Dialektquelle (Befragung, Aufnahme, eigenständige Produktion etc.) dialektale Dokumente entstehen, aus denen die wissenschaftliche Bearbeitung ihre Ergebnisse schöpft.
Abb. 46.1: Dialektologischer Datenfluß Das Ablaufschema in Abbildung 46.1 ist in einem logisch-begrifflichen Sinne zu verstehen; im konkreten Einzelfall kommen weitere Parameter ins Spiel, die die Komponenten der Skizze auf mannigfache Art in Beziehung setzen. So kann der Bearbeitungsschritt in den Hintergrund treten, wenn eine besonders explizite Befragungstechnik den Dialektdokumenten bereits weitgehend Ergebnischarakter verleiht. Im Falle der historischen Dialektologie ist der direkte Zugang zur Dialektquelle verschlossen; die dialekta-
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len Dokumente sind hier i. a. nicht Ergebnis dialektologischer Forschungsplanung und gestatten dementsprechend nur eingeschränkte wissenschaftliche Aussagen. Für die Erforschung der rezenten Dialekte existieren zwar brauchbare wissenschaftliche und technische Mittel, aber der Datenweg bis zur dialektologischen Interpretation umfangreichen Materials weist weiterhin gravierende Engpässe auf. Mit der Möglichkeit der Tonaufzeichnung ist das Problem der Dialekterfassung auf der ersten Stufe zwar zeitgemäß gelöst, aber bereits beim folgenden Arbeitsschritt, der Transkription, treten größere Probleme auf. Diese liegen zum einen in den hohen Qualifikationsanforderungen an den Transkribenten und zum anderen in der Struktur der von ihm produzierten Daten, deren Weiterverarbeitung ebenfalls speziell ausgebildete Kräfte erfordert. Ein Vergleich mit der Erhebungsarbeit Wenkers macht diesen Zusammenhang deutlich. Ihm war es möglich, mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln die bislang wohl umfassendste Dialekterhebung durchzuführen und zu einem bedeutenden Teil auch kartographisch zu erfassen. Dies lag entscheidend daran, daß Wenker mit den Schullehrern genügend zahlreiche und für den wissenschaftlichen Stand seiner Zeit auch ausreichend ausgebildete Hilfskräfte besaß, die seine Beispielsätze zwar nur laienschriftlich aufzeichnen konnten, damit aber dialektale Dokumente schufen, mit denen sich relativ zügig arbeiten ließ. Daß in diesem Aspekt der dialektologischen Materialbearbeitung vonseiten der DV-Technik noch keine nachhaltige Hilfe in Sicht ist, liegt vor allem am Fehlen effektiver automatischer pS racherkennungsmethoden auf lautlicher Basis. Zwar lassen sich auf diesem Gebiet in jüngster Zeit einige Fortschritte erkennen, inwieweit sie aber zur Lösung des dialektologischen Datenproblems beitragen können, läßt sich im Augenblick schwer abschätzen (vgl. Niemann 1980, 25 f.). Was die schriftlich fixierten Dokumente betrifft, liegen die Dinge ähnlich. Die gängigen, in der Praxis erprobten Belegleser können nur besondere Normschriften von Spezialgeräten verarbeiten; ob und wann es Analyseverfahren geben wird, mit denen sich handschriftlich aufgezeichnete phonetische Texte entschlüsseln lassen, ist derzeit ungewiß (vgl. Niemann 1980, 19 f.). Für den Einsatz rechnergestützter Methoden bedeutet diese Situation die manuelle
796
Erfassung des Dialektmaterials i. a. durch speziell ausgebildete Kräfte auf einen computerlesbaren Datenträger (Lochkarten, Lochstreifen, Disketten, Magnetbänder etc.). Damit aber verlängert sich der Datenweg um weitere Schritte. Diese „Urdaten„, wie sie aus der Sicht des Informatikers zu nennen sind, weil sie die erste Datenstufe bilden, von der aus eine DV-Bearbeitung möglich ist, können nämlich vom Dialektologen selbst i. a. nicht mehr kontrolliert werden. Sie müssen von DV-kundigen Kräften am Rechner bearbeitet und auf verschiedenen Stufen in Schriftdaten zurückverwandelt werden; nur so läßt sich sicherstellen, daß sie mit dem Ausgangsmaterial übereinstimmen. Die korrigierten Urdaten werden, meist nach einem Aufbereitungsschritt, bei dem sie auf bestimmte Formate gebracht werden, im Computersystem akkumuliert. Erst jetzt befinden sie sich in einem Zustand, der eine zügige computative Bearbeitung gestattet.
Abb. 46.2: Datenfluß bei Computerunterstüt- zung Die in Abbildung 46.2 skizzierten Arbeitsabläufe bedingen eine intensive Zusammenarbeit zwischen Dialektologen und Informatikern. Bereits die Schritte vor der eigentlichen computativen Bearbeitung — Herstellung von Korrekturunterlagen, Datenaufbereitung und Akkumulation im Rechner — setzen umfangreiche Softwarearbeiten voraus, die durch die besondere Spezifik dialektologischer Aufgaben noch erschwert werden. Dies beginnt mit dem Problem einer geeigneten Programmiersprache, von denen sich die meisten, soweit sie genügend verbreitet und betriebssicher sind, für eine effektive Lösung komplexer nichtnumerischer Fragestellungen nur bedingt eignen, und reicht bis zur Peripherie der DV-Anlagen. So
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
besitzen die gängigen Ein- und Ausgabegeräte nicht die für dialektologische Anwendungen wünschenswerten Zeicheninventare. Damit ist bereits eine ganze Palette von Schwierigkeiten angesprochen: Geräteneuanschaffungen bzw. -umrüstungen, Hardwareadaptionen, Implementierung von Spezialsoftware, Codierungsfragen etc. Ein Blick auf die Anwendungspraxis zeigt indessen, daß eine Reihe der angeschnittenen Fragen bereits in befriedigender Weise zu lösen sind. 3.2. Computative Bearbeitung an Beispielen Der folgende Abriß der Entwicklung von DV-Methoden in der Dialektologie soll eine Übersicht an typischen Beispielsfällen vermitteln. Der Akzent liegt dabei auf dem Datenaspekt, was aber gewissen Überschneidungen mit anderen Artikeln (besonders Art. 44) nicht ganz ausschließt. Erste Versuche, den Rechner systematisch in die dialektologische Forschungsarbeit einzubeziehen, gibt es schon in den sechziger Jahren. Sie erstrecken sich schwergewichtig auf die Sp rachkartograp hie, der auch heute noch die meisten der größeren Anwendungsfälle zugehören. Das 1967 in Marburg entwickelte Programm zur Herstellung von Sprachkarten (vgl. Putschke 1969), das den Schnelldrucker als Ausgabemedium verwendet, entsteht bereits auf der Basis einer weitgehenden theoretischen Erörterung des Gegenstandes und gibt Impulse für andere Arbeiten (vgl. Schophaus 1969). Unabhängig hiervon werden an verschiedenen Stellen Anstrengungen in dieser Richtung unternommen, so in Japan zur Unterstützung des Jap anischen Sp rachatlas (vgl. Grootaers 1967). Bei der kartographischen Bearbeitung des Survey of English Dialects wird ein automatisches Zeichengerät eingesetzt (vgl. Francis/Svartvik/Rubin 1969), und in den USA diskutiert Wood den Einsatz des Rechners über das Kartographische hinaus bis hin zu syntaktischen Fragestellungen (Wood 1969). Auch in der Dialektlexikographie zeigen sich Ansätze zu computativen Verfahren (vgl. Kamp 1969, Keseling 1969 und besonders Scheuermann 1974); zu diesem methodisch komplexen Bereich, dessen Datenprobleme denen verwandter Disziplinen wie Sprachkartographie, allgemeiner Lexikographie u. a. ähneln, sei auf Artikel 43 verwiesen. Gekennzeichnet ist diese erste Welle computergestützter Dialektologie
46. Entwürfe zu dialektalen Informationssystemen
durch die Dominanz des Linguistischen, mithin das Fehlen einer systematischen Hilfe vonseiten der Informatik, und die — gemessen an den Erfordernissen des Gegenstands — mangelhafte DV-Technik. Im Laufe der siebziger Jahre nimmt die Bedeutung des Rechners, dessen Möglichkeiten sich rasch entwickeln, klarere Konturen an. Der DV-Einsatz spielt bei einigen größeren Forschungsprojekten schon in der Planungsphase eine wichtige Rolle, so beim Kleinen Deutschen Sp rachatlas (Veith 1977), für dessen Materialbearbeitung bereits komplexere automatische Verfahren wie die Taxenzerlegung der erfaßten Morphe vorgesehen werden (vgl. Naumann 1976, 83 ff.) und dem Südwestdeutschen Sp rachatlas (vgl. Kelle 1977). Einen weitgehend projektunabhängigen Ansatz stellt das in Japan entwickelte System GLAPS (Generalized Linguistic Atlas Printing System) dar (Ogino/Sibata 1977, Ogino 1980), das Vorstellungen realisiert, wie sie bereits bei Putschke (1969) entwickelt sind, darüber hinaus aber in starkem Maße Sozialdaten einbezieht. Es verarbeitet Lochkartenstapel, die als bereinigte Datenbasis eines Kartierungsvorhabens angesehen werden, mithilfe von Steuerparametern zu Karten und Statistiken, die auf einem Schnelldrucker ausgegeben werden. Schwergewichtig ist hier die Sozialdatenkomponente, die als Steuerungselement eine Fülle von Kartenvarianten gestattet. Der Datenweg bei GLAPS ist gegenüber der hier skizzierten Form verkürzt: Korrektur und Aufbereitung sind aus dem eigentlichen System herausgenommen, Akkumulation und Bearbeitung fallen weitgehend zusammen. Dies impliziert eine einfache Systemarchitektur, bedeutet aber verstärkte manuelle Arbeit auf der Eingabeseite. Die Beschränkungen des Ausgabemediums bedingen, daß den Ergebnissen von GLAPS zunächst eher der Charakter von Arbeitsunterlagen für den Dialektologen zukommt. — Eines der gegenwärtig umfangreichsten Einzelprojekte mit DV-Unterstützung ist der Atlas Linguarum Europ ae (ALE, Weijnen 1975), dessen Datenprobleme den Stand einsetzbarer DV-Mittel deutlich machen. Die dialektalen Dokumente haben hier die Form handschriftlich ausgefüllter Formulare mit phonetisch notierter Beleginformation. Kompliziert wird die Datenstruktur durch beigegebene Zahlenaggregate, in denen sich eine Klassifikation der Belege ausdrückt. An apparativer Ausrüstung steht dem Projekt ein Kartenlocher zur Verfü-
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gung, mit dem der umfangreiche numerische Teil der Daten erfaßt wird, ferner ein on-line betreibbarer, auf phonetische Schrift umgerüsteter Fernschreiber mit Lochstreifenausgabe, der der Erfassung der Beleginformation und der Ausgabe von Korrekturunterlagen dient, sowie eine Großrechenanlage, zu deren Peripherie Bildschirmkonsolen und zwei automatische Zeichengeräte gehören. Die Endausgabe der reingezeichneten Karten ist befriedigend gelöst, da einer der beiden Plotter i n der Lage ist, druckreife Zeichnungen mit — cum grano salis — beliebigen Symbolen auf Folie zu gravieren. Dagegen kann die Arbeit mit Fernschreiber und Lochstreifen inbezug auf Sicherheit, Korrekturfreundlichkeit, Druckgeschwindigkeit und -qualität noch nicht restlos zufrieden stellen. Wunschziel ist hier eine Gerätekonfiguration aus on-line betriebener Konsoleingabe mit frei programmierbarer Bildschirmfläche und integriertem Drucker mit variablem Zeicheninventar; die Realisierung eines solchen Konzepts ist nicht allein eine technische und finanzielle Frage, sie wirft in starkem Maße auch projektspezifische Adaptionsprobleme auf. Die Datenverarbeitungsschritte der Korrekturvorbereitung, Aufbereitung und Akkumulation im Rechner übernimmt das Computersystem DOSTA (vgl. Händler 1977), das in seiner Grundanlage zwar allgemein konzipiert ist, dessen Realisation aber eine Reihe projekt- und maschinenspezifischer Elemente enthält, die eine Übertragung auf andere Anwendungsfälle erschweren. Die Wichtigkeit allgemeiner, weitreichender Systemkonzepte wird deutlich an den Datenproblemen rechnergestützter Methoden, die über den kartographischen Bereich hinausgehen. So beziehen sich die dialektometrischen Ansätze Goebls auf die Datenmenge eines Sprachatlas als Ganzes (vgl. Goebl 1977 und besonders Artikel 45). Die Schwierigkeiten beim Aufbau einer ausreichenden Materialbasis liegen hier vor allem darin, daß die benötigten Daten aus existierenden Materialbeständen i. a. manuell exzerpiert werden müssen. Selbst bei Computerlesbarkeit der Ausgangsdaten entstünde ein vergleichbares Problem auf der Softwareseite; eine nachhaltige Lösung erfordert Computersysteme, die das Gesamtmaterial eines Atlaswerkes über die kartographische Ausgabe hinaus einer rechnergestützten Weiterbearbeitung effektiv zugänglich machen. Was den Datenaspekt betrifft, liegen die Dinge bei anderen interpretativen dialekto-
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
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logischen Verfahren ähnlich. Ein Beispiel hierfür sind die statistischen Ansätze des Artikels 3 8. Mit Klassifikationsmethoden, wie sie z. B. Naumann (1976, 92 ff.) vorschlägt, läßt sich Information in einen geeignet strukturierten Datenbestand sogar „hineinrechnen„ und für kartographische Ausgaben nutzen. Auch die regionalisierende Karteninterpretation durch Isoglossenbildung mit automatisierten Verfahren (vgl. Händler/ Naumann 1976, Pudlatz 1977, Händler 1977 a und Art. 44 sowie Art. 25) ist ohne einen hochgradig flexiblen Zugang zu strukturierten Dialektdatenbeständen kaum denkbar.
4.
Zur Systematisierung des DV-Einsatzes in der Dialektologie
4.1. Spezifische Probleme Nach den bisherigen Ausführungen lassen sich die Schwierigkeiten, mit denen sich die computergestützte Dialektologie auseinanderzusetzen hat, in zwei Bereiche gliedern, die beide einem effektiven Einsatz „fertiger„, auf dem Markt befindlicher Informationssysteme wie des erwähnten Systems GOLEM im Wege stehen. Der erste Problembereich betrifft die Struktur dialektaler Daten, deren Erfassung und Ausgabe Fachkräfte und Spezialgeräte mit fallspezifischer Hard- und Software erfordern. Computersysteme mit festgeschriebenem Leistungsumfang, mit denen sich strukturierte Datenbestände befragen lassen, verfügen i. a. nur über die gängigen Ausgabemedien, was für die meisten kommerziellen und wissenschaftlichen Anwendungen ausreichend ist. Weder können sie das für den Fall der Dialektologie besonders prekäre Erfassungsproblem mindern, noch sind sie in der Lage, die komplexen Ausgabewünsche des Dialektologen zu erfüllen, die zumeist den Einbezug spezieller Gerätekonfigurationen notwendig machen; einer Systemadaption stehen i. a. technisch-informatische und urheberrechtliche Schwierigkeiten sowie das geringe „Marktgewicht„ der Dialektologie entgegen. Der zweite problematische Bereich steht mit der eigentlichen Bearbeitung der dialektalen Daten in Zusammenhang. Sind mit einem leistungsmäßig festgeschriebenen System, das dem Betreiber als black box gegenübersteht, schon z. B. flexible kartographische Ausgabeformen kaum möglich, so gilt dies erst recht für die Weiterbearbeitbarkeit der erzeugten Ergebnisdaten. Will die rech-
nergestützte Dialektologie nicht bei einer lexikographischen oder kartographischen Transformation der Ausgangsdaten stehenbleiben, sondern wie etwa im Falle der Dialektometrie in interpretative Bereiche vorstoßen, so benötigt sie offene Systeme, die sich operational erweitern lassen. Diese Ausbaufähigkeit, die einen variablen Zugriff auf das Gesamtmaterial impliziert, muß eine sehr flexible sein, denn die Struktur der für die Weiterbearbeitung benötigten Daten bestimmt sich nicht zuletzt am jeweiligen Stand der Forschungsergebnisse. Hier liegt die eigentliche Motivation für den im folgenden zu erörternden Systemansatz. 4.2. Ordnungsaspekte, Datenmatrix Die in 3 .1. angesprochenen Struktureigenschaften dialektaler Daten lassen sich auch unter einem operationalen Aspekt interpretieren. So liefert die Arealität der Sprachdaten ein erstes Ordnungskriterium: numeriert man die Orte aus denen das zu betrachtende Material stammt, von 1 bis n durch, so ist auf diesem eine Funktion definiert, das es auf das Zahlenintervall (1,n) abbildet. Der areale Charakter dieser Funktion kann bei entsprechender Bestimmbarkeit des Materials durch andere außersprachliche Vorgaben wie Periodisierung, Sozialdaten der Sprecher, situative Daten etc. modifiziert werden; wichtig für das Weitere ist hier, daß die Sprachdatenmenge mithilfe einer Abbildung auf eine endliche Menge natürlicher Zahlen außersprachlich fixiert werden kann. Ein zweites Ordnungskriterium bildet die Thematizität: durch die Themenstellung wird das Ausgangsmaterial in Klassen aufgeteilt, die Grundlage jeder weiteren Bearbeitung sind. Die Erzeugung thematisierter Daten aus „rohen„ Erhebungsdaten ist u. U. ein arbeitsaufwendiger Prozeß, dessen mögliche Unterstützung durch DV-Methoden an dieser Stelle nicht näher untersucht werden soll. Festgestellt sei nur, daß jede dialektologische Befragung eines Materials diesen Prozeß impliziert, und im folgenden soll die Thematizität als reales, d. h. konkret anwendbares Ordnungskriterium angenommen werden. Die beiden Kriterien gestatten eine zweidimensionale Anordnung eines Sprachdatenkorpus, die man als Datenmatrix bezeichnen kann (vgl. Putschke 1977, Naumann 1976). In diesem Schema bedeutet die Indizierung einer Größe bij daß diese im i-ten Ort
46. Entwürfe zu dialektalen Informationssystemen
Abb. 46.3: Datenmatrix des Belegraums das j-te Thema belegt. Die Analogie zum mathematischen Begriff der Matrix ist nicht sehr weitgehend; weder lassen sich auf dieses Konstrukt in naheliegender Weise mathematische Theoreme anwenden, noch sind die Matrixwerte genügend eindeutig definiert. So ist es in der Praxis nicht ungewöhnlich, daß ein Thema in einigen Punkten mehrfach, in anderen nicht belegt ist. Formal ließe sich dies durch die Einführung einer dritten Achse beheben, wie auch weitere Achsen, z. B. eine Zeitachse, denkbar wären. Da es sich bei dem Schema ohnedies nur um einen Vorstellungsrahmen handelt, sei diesen Gedanken hier nicht weiter nachgegangen. 4.3. Datenhaltung Die Datenmatrix eignet sich als operationale Basis für die dialektologische Datenhaltung in einem allgemeinen System. Räumt man dem thematischen Aspekt den Vorrang ein — und die areale Verteilung des thematisierten Phänomens ist meist das Untersuchungsziel —, so wird eine Buchhaltung über alle zu den einzelnen Themen vorkommenden Belege erforderlich. Die Liste der zu einem Thema existierenden verschiedenen Belege, die in dieser Funktion Belegtypen genannt werden sollen, ist in einer Weise zu führen, die ein effektives Bearbeiten ermöglicht; es bietet sich ein sortierter Aufbau an. Ordnet man den Belegtypen einen numerischen Wert zu — dies kann die Position in der Sortierung, die Ordnungsnummer in der Bearbeitungsfolge oder auch ein bedeutungstragendes Zahlenaggregat sein —, so wird deren Handhabung weiter vereinfacht. Die Sortierung der Belegtypen, die für ein schnelles Auffinden eines Beleges unerläßlich ist, braucht in diesem Falle nicht faktisch durchgeführt zu werden; es genügt, die
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informatisch „schwerfälligen„ Belegtypen dauerhaft abzulegen, und die Liste der problemlos zu manipulierenden Belegtypnummern, wie die zugeordneten numerischen Werte genannt werden sollen, in der Reihenfolge zu halten, in der die Belegtypen sortiert wären. Für dieses Konstrukt, das das Belegmaterial ordnet und das neben dem Repräsentanten für den Belegtyp auch Information über dessen Ablage führt, hat sich im Verlaufe der Marburger Systemarbeiten die Bezeichnung Sortierleiste durchgesetzt. Hierin drückt sich stärker als in dem unspezifischen Listenbegriff die Linearität, die Transportabilität und die Funktion des Aggregats aus. Mit dieser Zweiteilung des Materials in einen nichtnumerischen der Belegtypkörper und einen numerischen der Belegtypnummern läßt sich auch die Ortsbelegung effektiv handhaben. Die n Orte des Untersuchungsraums bekommen auf der analogen Ortsleiste gemäß der arealen Abbildungsfunktion je ein Element zugeordnet, das die Belegtypnummer, die dem Ortsbeleg zukommt, aufnimmt. Auch die Mehrfachbelegung ist in diesem Modell rein numerisch zu behandeln. Es werden hierzu Zahlenaggregate gebildet, die neben der Ortsnummer, d. h. der Position auf der Ortsleiste die jeweiligen Belegtypnummern enthalten. Die Ablage dieser Elemente kann in einer fortlaufenden Liste erfolgen; jedes Aggregat führt alle für die areale Zuordnung benötigte Information mit sich. Es sind noch weitere Arten von Information denkbar, die in diesem Systemmodell Platz haben, ohne die übrigen Teile zu belasten oder informatisch schwerfälliger zu machen, so z. B. Kommentare zu einzelnen Belegtypen, Orten oder Gruppen aus diesen. Darauf kann hier aber nicht näher eingegangen werden. Das vorgestellte Modell ist gekennzeichnet durch Reduktion der Datenhaltung mithilfe numerischer Repräsentanten und damit erforderliche Vernetzung der Systemteile. Der zentrale Vernetzungsteil ist die Sortierleiste, über die die übrigen Teile erst interpretierbar werden. Es liegt auf der Hand, daß Aufbau und Maintainierung derart vernetzter Datenaggregate nicht unproblematisch sind. Dem steht jedoch gegenüber, daß es sich um einen allgemeinen Systementwurf handelt, mithin die Lösung der zum Teil schwierigen informatischen Probleme nur einmal erfolgen muß. Zum anderen sind die entstehenden Systemteile für eine dialektologische Weiterverarbeitung geradezu präde-
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Abb. 46.4: Vernetzte Datenhaltung: Sortierleiste stiniert. So stellt z. B. die Menge der Belegtypen zusammen mit ihren numerischen Repräsentanten in der Reihenfolge der Sortierleiste eine sortierte „Legende„ der „Symbolkarte„ dar, die in linearer und numerischer Form von der Ortsleiste gebildet wird; der Kartenbildungsprozeß ist in der ersten und rohesten Form bereits beim Systemaufbau vollzogen. Auch für andere Auswertungsformen bieten sich günstige Voraussetzungen. So eignet sich die Struktur der Ortsleiste in besonderem Maße für die Behandlung dialektometrischer Fragestellungen. Da nämlich gleich positionierte Elemente denselben Ort repräsentieren, ist ein Vergleich eines Ortspunktes mit den übrigen rückführbar auf einfache Indexrechnung. Die Darstellung der Ortsbelegung als numerisches Aggregat macht darüber hinaus die Anwendung der in den meisten Programmiersprachen effektiven Zahlenvergleiche möglich. Im Falle der naheliegenden informatischen Realisation, daß jede Ortsleiste als einheitliches Aggregat in einem Datensatz abgelegt ist, bedeutet die dialektometrische Analyse eines „Sprachat-
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
las„ soviele Lesevorgänge, wie das Datencorpus „Karten„, also Ortsleisten hat, bei akkumulativer Durchführung des gewählten numerischen Verfahrens. — Das gleiche gilt sinngemäß für statistische Analysen. — Der durch die Datenreduktion bewirkte vergleichsweise geringe Speicherplatzbedarf wird es i. a. ermöglichen, die gesamte Ortsleiste in den schnellen Speicher des Rechners zu bringen. Dies bildet eine gute Voraussetzung für computative Verfahren zur Karteninterpretation, z. B. Isoglossenfindung, denn insofern solche Methoden, zumal, wenn sie umgebungsorientiert sind, i. a. sehr rechenintensiv sind und in vorher nicht bestimmbarer Weise verschiedene Kartenteile benötigen, kann sie die Vielzahl der benötigten Lese- und Schreibvorgänge bis zur Nichtdurchführbarkeit belasten. — Der leichte Zugang zu den Belegtypen über die Sortierleisten, oder gar über eine einzige „Supersortierleiste„, die das gesamte Beleginventar erschließt, bietet auch für die Dialektlexikographie brauchbare Arbeitsmöglichkeiten. Die reduktiv-vernetzten Daten des vorgestellten Systementwurfs sollen im folgenden Systemdaten genannt werden. Sie bilden nach den Urdaten die nächsthöhere Datenstufe, die gemäß allgemeiner Struktureigenschaften der niederen Datenstufe organisiert ist. 4.4. Datenkörper, Operatoren Um nun zu einem geschlosseneren Systemkonzept zu kommen, das auch nachfolgende Bearbeitungsstufen einbezieht, sind noch einige weitere terminologische Klärungen vorzunehmen. Zunächst sei der Terminus Datenkörper eingeführt: ein Datenkörper ist eine vollständige Menge von zusammengehörigen computerverarbeitbaren Daten mit explizit definierter Struktur. „Vollständig„ ist hier in einem operationalen Sinne zu verstehen: nicht Teil von einem Umfassenderen und ausreichend für alle zugelassenen Operationen. Die Forderung nach explizit definierter Datenstruktur spricht die „Verständlichkeit„ der Daten an: was sie für die informatische Betrachtungsebene an Information transportieren, ist allein „syntaktisch„, durch Aufschlüsselung ihres strukturellen Aufbaus erschließbar. So mag ein Datenkörper, der z. B. das Material zu einer Lexemkarte enthält, für den Linguisten auch phonologische Aussagen gestatten; informatisch ist diese Information erst dann existent,
46. Entwürfe zu dialektalen Informationssystemen
wenn in die Daten eine Segmentierung eingearbeitet ist. Der Begriff des Datenkörpers, wie er hier verstanden wird, ist streng von dem informatisch-technischen Begriff der Datei zu unterscheiden: er bezieht sich auf die Datenmenge, die ihn ausmacht, in einem problemorientierten, operational-syntaktischen Sinne. Auch unter dem Aspekt der Datenhaltung sind die Begriffe verschieden: ein Datenkörper kann mehrere Dateien umfassen, wie auch in einer Datei mehrere Datenkörper abgelegt sein können. Unter einem Operator soll im folgenden ein autonomes, parametrisch steuerbares Softwarekonstrukt verstanden werden, das Datenkörper bestimmter Struktur bearbeiten kann und dabei Ergebnisdaten definierter Struktur erzeugt. Es kann hier nicht auf die komplexe Natur von Computerabläufen eingegangen werden, und es sei deshalb nur eine grobe Einordnung dieser Definition gegeben. Ein Operator im hier verstandenen Sinn ist mehr als ein Programm; er besteht aus einem i. a. hochorganisierten Ensemble geordneter Computerleistungen, das als Ganzes „von außen„ angestoßen und gesteuert werden kann. Es verhält sich zum Datenkörper wie das Werkzeug zum Material; die beiden Definitionen stehen in einer komplementären Beziehung zueinander. Mit der gewonnenen Terminologie läßt sich der bisherige Stand eines allgemeinen Systementwurfs als zweistufiges Modell charakterisieren: aus einem Urdatenkörp er erzeugt ein Aufbauoperator, der sich aus Teiloperatoren zusammensetzen kann, einen Systemdatenkörper, aus dem die dialektologischen Ergebnisdaten ermittelt werden. Über diesen letzten Punkt sind bisher nur Andeutungen gemacht worden. Was die Auslage des Entwurfs betrifft, kommen als Ergebnis-
Abb. 46.5: Dialektales Informationssystem
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daten eine ganze Palette von Möglichkeiten in Betracht, wobei die dialektkartographische Seite insofern eine besondere Rolle spielt, als der Wunsch, sie zu automatisieren, die wichtigsten Impulse für den Systemgedanken gab. Da nun aber auch die automatisierte Kartenproduktion aus Systemdaten ein komplexerer Prozeß ist, der seinen Ort in einem Gesamtzusammenhang hat, und andere Ergebnisformen, zumindest perspektivisch, einen gleichberechtigten Stellenwert besitzen, sollen im folgenden die Möglichkeiten, die ein Arbeiten mit dem Systemdatenkörper bietet, noch einmal aufgegriffen und im Rahmen eines geschlossenen Systemkonzepts gesehen werden.
5.
Perspektiven dialektaler Informationssysteme
5.1. Definition Nach den Ausführungen des vorigen Abschnitts kann nun der Versuch der Definition eines allgemeinen dialektalen Informationssystems gemacht werden: Ein dialektales Informationssystem ist ein Ensemble von Datenkörpern und Operatoren, das aus computerlesbaren dialektalen Dokumenten, den Urdaten, parametrisch gesteuert, dialektologische Ergebnisdaten erzeugt. Der Datenteil des Systems umfaßt drei Typen von Datenkörpern: Die Urdatenkörper, den Systemdatenkörper und die peripheren Datenkörper. Der Operatorenteil besteht aus Kernoperatoren und Zieloperatoren. Die Kernoperatoren bereiten die Urdaten auf, erzeugen den Systemdatenkörper und maintainieren diesen zentralen Systemteil; sie bilden gleichsam den Kern eines projektübergreifenden Sy-
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stemrahmens. Die Zieloperatoren ermitteln aus den Systemdaten, gegebenenfalls unter Verwendung peripherer Datenkörper, die Ergebnisdaten. Sie sind als der „intelligente„ Systemteil anzusprechen, der durch Realisation spezieller Leistungen gewissermaßen die Befragbarkeit des Systems gewährleistet. Der Status der Ergebnisdaten ist komplexerer Natur. Als Ausgabedaten wie Karten, Listen, Statistiken u. ä. gehören sie dem System selbst nicht mehr an, sondern sind dessen Ziel. Wenn sie von interpretativen peripheren Operatoren wie Klassifikations- oder Isoglossenoperatoren, die Information in das System gleichsam ‘hineinrechnen’, erzeugt werden, kommt ihnen ein systemnaher Status zu; in der Form von peripheren Datenkörpern organisiert, dienen sie in diesem Fall u. a. der Ausgabemodifikation und der Erstellung von dialektologischen Arbeitsunterlagen. Es ist auch die Möglichkeit denkbar, daß mithilfe von Zieloperatoren Urdaten für andere Systeme erzeugt werden; man kann dann von einem Systemverbund sprechen. Ein besonders wichtiges Beispiel hierfür zeichnet sich für den Fall ab, daß im Bereich der Dialektologie eine automatische Spracherkennung einsetzbar wird: ein solches Erkennungssystem würde als Urdaten Schallaufzeichnungen verarbeiten und als Ergebnisdaten Urdaten für dialektale Informationssysteme der hier skizzierten Art produzieren. Näher liegt allerdings die Konstellation, daß ein computergestütztes dialektologisches Forschungsprojekt die Systemdatenbestände anderer Institute einbeziehen will. Das Zusammenwirken von Zieloperatoren mit Systemdaten und peripheren Datenkörpern soll im folgenden an zwei wichtigen Anwendungsfällen demonstriert werden. Dabei zeigt sich, daß auch komplexere Prozesse in dem hier entworfenen Konzept ihren systematischen Ort haben. 5.2. Kartographische Ausgabe Ein Softwarekonstrukt, das in der Lage sein soll, Daten eines dialektalen Informationssystems in Sprachkarten zu transformieren, im folgenden Plotop erator genannt, ist von verschiedenen Vorgaben abhängig, die seine Allgemeinheit einschränken. So muß er in jedem Falle ein automatisches Zeichengerät „fahren„, was ihn auf maschinennahe, „fremde„ Software angewiesen macht. Dieser unvermeidliche Verlust an Allgemeinheit läßt sich programmtechnisch dadurch klein
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
halten, daß man die nur über fremde Software ansprechbaren Leistungen auf wenige Elementaroperationen reduziert und in der Programmsubstanz separiert. Weitere Einschränkungen sind durch Projekt- und Themenspezifik bedingt. Der Zeichenprozeß selbst wird natürlich durch den Kartentyp, der erzeugt werden soll, bestimmt; beschränkt man sich auf Symbolkarten in Punkt- und Flächendarstellung, so läßt er sich aus vier Grundleistungen zusammensetzen: Es sind in den geographischen Koordinaten der belegten Ortspunkte (bei Flächendarstellung u. U. selektiv) Symbolzeichen einzutragen, eine Legende ist zu zeichnen, gegebenenfalls sind Grenzlinien zu ziehen und schließlich Kartenzonen zu beschriften. Legt man den Plotoperator so aus, daß er all e benötigten Informationen „von außen„ erhält, so ist eine weitgehende projektübergreifende Anwendbarkeit gewährleistet. Die Kompatibilitätsfrage verlagert sich dann nämlich auf die peripheren Datenkörper, mit denen der Plotoperator arbeitet, und auf die — minimal gehaltene — Maschinenspezifik. Hier aber läßt sich auch nachträglich und ohne wesentliche Softwareeingriffe eine Strukturadaption erzielen. Um die skizzierten Leistungen zu erbringen, benötigt der Plotoperator Zugang zum Systemdatenkörper und zu fünf peripheren Datenkörpern. Aus dem Systemdatenkörper erhält er die Ortsleiste und ihre Vernetzung zu den Belegtypen als Grundinformation. Um das im System gehaltene „Symbol„, die Belegtypnummer, in den vom Dialektologen vorgesehenen Symbolwert umdeuten zu können, braucht der Operator eine entsprechende Angabe aus dem Zuordnungsdatenkörper. Dieser ordnet den Belegtypnummern einfache oder komplexe Symbole zu; die Zuweisung beinhaltet Art, Größe und relative Lage einzelner oder mehrerer Elementarsymbole, deren zeichentechnische Realisierung im Inventardatenkörper fixiert ist. In diesem Aggregat ist das gesamte Zeichenpotential des Plotters, Symbolzeichen, Schriftalphabete und Sonderzeichen, zusammengefaßt. Den Ort schließlich, in dem das nunmehr entschlüsselte Symbol zu zeichnen ist, entnimmt der Operator dem Geodatenkörper, einem projektspezifischen Aggregat, das für jeden Punkt der Ortsleiste eine konkrete Lokalisierung bereitstellt. Sollen selektive Karten hergestellt werden, so finden sich die auswählenden Kriterien im Filterdatenkörper. Hierbei kann es sich um absolute Einschränkun-
46. Entwürfe zu dialektalen Informationssystemen
gen (fixe Punktgruppen), aber auch um fallweise Restriktionen handeln, die aufgrund von z. B. Sozialdaten jeweils zu bestimmen sind. Im Falle der Flächendarstellung sind die Informationen über zu zeichnende Linienzüge und Ortspunkte dem Isoglossendatenkörp er zu entnehmen, der von einem anderen Zieloperator, dem Isoglossenoperator, erzeugt wird. Von den fünf p erip heren Datenkörp ern, die dem Plotoperator die benötigten Inforformationen liefern, ist einer, der Inventardatenkörper, projektunabhängig; lediglich, wenn von dialektologischer Seite der Wunsch nach neuen Symbolzeichen geäußert wird, besteht Anlaß, ihn zu erweitern. Der Geodatenkörper und im Normalfall auch der Filterdatenkörper sind Projektkonstanten, die als Vorgabe für die Bearbeitung eines geschlossenen Materials ein für alle Mal aufgebaut werden. Die Herstellung einer Karte in Punktdarstellung reduziert sich damit für den Dialektologen auf die Zeichenwahl, also den Aufbau eines entsprechenden Aggregats im Zuordnungsdatenkörper. Um dies optimal möglich zu machen, ist eine Softwareauslage angezeigt, die ein interaktives Arbeiten mithilfe von Manuskriptkarten, d. h. Ausgabe über Drucker, Datensichtgeräte und schnelle Zeichengeräte gestattet. Wird die Flächendarstellung gewählt, ist diesem Prozeß ein Arbeitsschritt mit dem Isoglossenoperator vorgeschaltet, bei dem ein — u. U. interaktiv zu kontrollierendes — Datenaggregat im Isoglossendatenkörper abgelegt wird. Das Zusammenspiel dieser beiden Operatoren, des Plotund des Isoglossenoperators, beides autonome Softwarekonstrukte, die vermöge der einheitlichen Datenstruktur einander zuarbeiten können, eröffnet eine Vielfalt kartographischer Darstellungsmöglichkeiten.
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vom Datenaspekt her als „materialsensitiver„ zu bezeichnen. Ihre effektive Anwendung setzt einen felxiblen Zugang zu großen Datenbeständen voraus, und es liegt auf der Hand, daß sich im Rahmen der Arbeit mit dialektalen Informationssystemen hier weite Perspektiven öffnen. Der Ort solcher Verfahren im Systemganzen ist leicht bestimmbar: Sie sind zu realisieren als Zieloperatoren, die unter Verwendung spezifischer und allgemeiner Datenkörper Systemdaten direkt oder nach Vorbehandlung durch andere Operatoren bearbeiten und die Ergebnisse autonom oder unter Einbezug von Ausgabeoperatoren präsentieren. Um dies etwas konkreter zu verdeutlichen, sei ein dialektometrischer Ansatz umrissen, der den Datenbestand eines dialektalen Informationssystems voll ausschöpft und die Arbeitsweise an der Systemperipherie illustriert. Es handelt sich um ein Verfahren zur Ermittlung und Interpretation dialektaler Schwerpunkte, das inhaltlich zum Themenbereich der Artikel 45 und 3 8 gehört; sein Beispielcharakter macht es aber auch im hier diskutierten Zusammenhang interessant. Man kann jedem Belegtyp bij (i-ter Belegtyp des j-ten Themas) einen Schwerpunkt Sij = (ij, ȳij) auf folgende Weise zuordnen:
wobei k über die Ortsleiste läuft und die Funktion f angibt, wie stark die Koordinaten (xkj, ykj) des k-ten Ortsleistenpunkts zum Schwerpunkt beitragen. Im Falle einer reinen Identitätsanalyse ist
5.3. Interpretative Verfahren Die kartographische Arbeit nutzt die Möglichkeiten des Systems nur zu einem Teil aus; man bearbeitet hier die Daten zu den einzelnen Themen getrennt voneinander und macht keinen Gebrauch von der Tatsache, daß man das Gesamtmaterial „im Griff„ hat. Auch ist die Kartenausgabe schwergewichtig reproduzierend; erst ein stärkerer Einsatz effektiver Isoglossenoperatoren kann hier ein bedeutenderes interpretatives Moment in die Arbeit bringen. Themenübergreifende interpretative Verfahren, wie sie z. B. in den Artikeln 45 und 3 8 angesprochen werden, sind
Arbeitet man auf einem Similaritätsniveau, so ist ein Analyseschritt mit einem Klassifikationsoperator vorzuschalten, der die Einträge in der Ortsleiste in bezug auf die Ähnlichkeit der ihnen entsprechenden Belegtypen interpretierbar macht. Dann ist f (bij, bkj) ∈ [0, 1], und zwar wird f umso größer je stärker die Ähnlichkeit. Zur Ermittlung der Schwerpunkte benötigt man demnach außer den Systemdaten und gegebenenfalls der Klassifikationsinformation lediglich den Geodatenkörper. Umfaßt nun das Informationssystem
VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
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m Themen und betrachtet man die damit jedem Ortsleistenpunkt zugehörenden m Schwerpunkte seiner Belegungen (von Fehlund Mehrfachbelegen der Einfachheit halber einmal abgesehen), so ist mit
dem k-ten Punkt ein Gesamtschwerpunkt (k,ȳk) zugeordnet. Damit sind zwei Datenarten entstanden, die verschiedene auf das Gesamtmaterial bezogene — mithin die Dialekte selbst betreffende — Interpretationsmöglichkeiten gestatten. Die jedem Ortspunkt zukommende Schwerpunktwolke, deren Streuung um den Gesamtschwerpunkt mit den üblichen statistischen Verfahren zu ermitteln ist, erlaubt eine kritische Materialbeurteilung: Stark abweichende Schwerpunkte lassen u. U. Rückschlüsse auf Erhebungsmängel zu; besonders, wenn sich solche Fälle von „Auswanderung„ bei einzelnen Themen häufen, ist es sinnvoll, die Berechnung mit bereinigten Daten zu wiederholen. Von großem Interesse ist die areale Verteilung der Gesamtschwerpunkte, die strukturelle Aspekte der Datenbasis eines Sprachatlaswerks in einem einheitlichen Aggregat repräsentiert. Die Interpretation dieses Datenkörpers, der informatisch die Form einer Ortsleistenkopie hat und damit vergleichsweise einfach zu handhaben ist, zielt schwergewichtig auf die dialektale Kammerung des Belegraums, die sich durch Häufungen von Gesamtschwerpunkten ausdrückt. Die areale Darstellung der Gesamtschwerpunktkarte ist ein Problem, dem man sich von mehreren Seiten nähern kann; von den zur Zeit verfügbaren Möglichkeiten bietet sich die Choroplethenkarte und die Strahlenkarte an, auf der jeder Ortspunkt mit seinem Gesamtschwerpunkt verbunden ist. Der sich hier abzeichnende Schwerpunktoperator ist in mancherlei Hinsicht ausbaufähig, vor allem, was das Zusammenwirken mit anderen Operatoren und die Darstellungsfrage betrifft. Arbeiten in dieser Richtung eröffnen dem Dialektologen auch über den Bereich der reproduzierenden Materialbehandlung hinaus neue Perspektiven.
6.
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VII. Computative Arbeitsverfahren in der Dialektologie
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Harald Händler, Marburg