Dialektik: Problemgeschichtevon der Antike bis zurGegenwart. Band I: Antike 3534711637, 9783534711635

Ohne Dialektik ist keine Philosophie denkbar. Dialektik als : ehre vom Denken9 ist sowohl ein zentrales philosophisches

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
I. Hauptstück: Voraussetzungen
1. Kapitel: Mythos, Sprache und Begriffsbildung
2. Kapitel: Die Herausbildung der personalen Individualität
3. Kapitel: Der Aufstieg der Polis
4. Kapitel: Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip
II. Hauptstück: Weltordnung und Lebensweisheit
1. Kapitel: Archaische Philosophie
2. Kapitel: Hesiod
3. Kapitel: Solon
4. Kapitel: Die sieben Weisen
III. Hauptstück: Der Weg zur Ontologie
1. Kapitel: Die milesischen Naturphilosophen
1. Chronologie und Problemgeschichte
2. Thales
3. Anaximander
4. Anaximenes
5. Schlussfolgerungen
2. Kapitel: Heraklit
3. Kapitel: Von Ionien nach Italien
1. Xenophanes
2. Pythagoras
4. Kapitel: Die Eleaten
1. Parmenides
Grundriss des Systems
Das Proömium
Die gültige doxa
2. Zenons Antinomien
3. Melissos
5. Kapitel: Der Systemschluss der Vorsokratik
1. Demokrit
2. Anaxagoras
IV. Hauptstück Philosophie auf den Marktplätzen und in den Schulen
1. Kapitel: Philosophie in der athenischen Demokratie
1. Die klassische Tragödie
2. Sophistik
3. Sokrates
4. Philosophie oder Agitation?
2. Kapitel: Platon
1. Entwicklungsstufen
2. Die sokratischen Schriften
3. Der pythagoreische Einfluss
3. Kapitel: Platons Höhle
1. Die selbstinterpretativen Schlüsselmetaphern
2. Das Sonnengleichnis
3. Schematismus
4. Das Schema der geteilten Linie
5. Höhlendasein
4. Kapitel: Der späte Platon
1. Platons sogenannte »ungeschriebene Lehre« Das Zeugnis der Briefe
2. Der Parmenides
3. Der Sophistes
4. Ausklang
V. Hauptstück: Aristoteles
1. Kapitel: Historische Einleitung zum Hellenismus
2. Kapitel: Metaphysik I
3. Kapitel: Metaphysik II
4. Kapitel: Physik
5. Kapitel: Metaphysik XII
6. Kapitel: Zur Kategorienlehre
VI. Hauptstück: Der Abschluss der Antike
1. Kapitel: Hellenistische Weltanschauungsphilosophien
1. Die Akademie
2. Epikur
3. Die Stoa
2. Kapitel: Plotin
1. Nous und Psyche
2. Materie
3. Schluss
4. Proklos
3. Kapitel: Der Durchbruch des Irrationalismus – die Gnosis
1. Voraussetzungen
2. Gnosis als Daseinshaltung
3. Mythologisierende Metaphysik
4. Kosmologie und Ontologie. Der Poimandres
5. Orientalische Religionsform
6. Philon
Namenregister
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Dialektik: Problemgeschichtevon der Antike bis zurGegenwart. Band I: Antike
 3534711637, 9783534711635

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Hans Heinz Holz

Dialektik Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart

Band I Sein und Werden. Problemgeschichte der Dialektik in der Antike

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2011

by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmirglieder der WBG ermöglicht. Einbandgesralrung: Finken

& Bumiller,

Sruttgart

Satz: Frank Hermenau, Kassel Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www. wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-23163-8

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF):

978-3-534-71163-5

Für Si/via

Inhalt

Vorwort

11

..............................................................................................

I. Hauptstück: Voraussetzungen

........................................ 15

1. Kapitel: Mythos, Sprache und Begriffsbildung

....................

2. Kapitel: Die Herausbildung der personalen Individualität 3. Kapitel: Der Aufstieg der Polis

....................

17 37

.......................... 62

4. Kapitel: Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip 90

II. Hauptstück: Weltordnung und Lebensweisheit 1. Kapitel: Archaische Philosophie

..........

..................

...............

103 105

2. Kapitel: Hesiod ...................................................................... 114 3. Kapitel: Solon

.........................................................................

4. Kapitel: Die sieben Weisen

....................................................

III. Hauptstück: Der Weg zur Ontologie 1. Kapitel: Die milesischen Naturphilosophen 1. Chronologie und Problemgeschichte 2. Thales

4. Anaximenes

......................................

........................

...............................

2. Kapitel: Heraklit

..............

..........................

1. Xenophanes

....................

....................................................................

3. Kapitel: Von lonien nach Italien

169 169 171

................................ 182

........................................................................

5. Schlussfolgerungen

154

.................... 167

..................................................................................

3. Anaximander

135

...............

..........................

...

........................................................................

193 201 206 227 227

2. Pythagoras .......................................................................... 238

8

Inhalt 4. Kapitel: Die Eleaten 1. Parmenides

...............................................................

..........................................................................

Grundriss des Systems Das Proömium

.......................................................

...................................................................

248 248 254 262

Die gültige doxa ................................................................. 269 2. Zenons Antinomien 3. Melissos

...........................................................

...............................................................................

5. Kapitel: Der Systemschluss der Vorsokratik 1. Demokrit

.......................

............................................................................

2. Anaxagoras

.........................................................................

285 289 293 293 305

IV. Hauptstück Philosophie auf den Marktplätzen

und

m

den Schulen

........................................................... 313

1. Kapitel: Philosophie in der athenischen Demokratie 1. Die klassische Tragödie 2. Sophistik 3. Sokrates

..........

......................................................

.............................................................................

...............................................................................

4. Philosophie oder Agitation? 2. Kapitel: Platon

..............................................

.......................................................................

1. Entwicklungsstufen

............................................................

2. Die sokratischen Schriften

.................................................

3. Der pythagoreische Einfluss 3. Kapitel: Platons Höhle

..............................................

..........................................................

1. Die selbstinterpretativen Schlüsselmetaphern 2. Das Sonnengleichnis 3. Schematismus

.....................................................................

4. Das Schema der geteilten Linie 5. Höhlendasein

..................

..........................................................

.........................................

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4. Kapitel: Der späte Platon

......................................................

315 315 321 331 340 348 348 352 359 363 366 369 380 382 387 395

1. Platons sogenannte >>ungeschriebene LehreKnotenlinie« zu knüpfen. Was man als Knotenpunkte auswählt, ist bei aller Bemühung um historisches Gleichmaß, ein persönlicher Entscheid. Das ist die Grenze einer Darstellung aus einer Hand, aber auch die Chance zu durchgängiger Konsistenz. Am schwersten fiel mir der Entschluss, die Probleme der Dia­ lektik auf die rein theoretische Seite der Entwicklung spekulativer Weltmodelle, also auf die Konstruktion von Totalität (samt ihrer erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Konsequenzen) zu konzentrieren. Das ist zwar mein eigenes philosophisches For­ schungsgebiet. Aber ich bin mir bewusst, dass die spekulative Phi­ losophie ohne ihr dialektisches Pendant in der Gesellschaftstheorie nur eine Seite der Sache ist. Von Solon an ließe sich eine Problem­ geschichte der T heorie von Stadt und Gesellschaft abrollen, in der von Platons Politeia über Hobbes' Leviathan und Rousseaus C a n­ trat social bis zu Hegels Rechtsphilosophie andere Schwerpunkte und Aspekte in den Vordergrund träten; Denker wie Cicero und Ma­ chiavelli, Hugo Grotius und Montesquieu würden dann ihren ge­ bührenden Platz erhalten. Doch bin ich zuversichtlich, dass ein anderer diese komplemen­ täre Aufgabe in Angriff nehmen wird - sie drängt sich ja fast un­ widerstehlich auf. Wenn ihm dann die Entwicklungsgeschichte der spekulativen Denkfiguren Hilfslinien in seiner Konstruktion zu zie-

Vorwort

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hen erlauben, dann ist der Sinn wissenschaftlicher Arbeit erfüllt, dem Weiterdenken dienlich zu sein. Ich möchte hinzufügen, dass sich dem die ungeheure Anforderung zugesellt, nicht nur die Strukturen unseres abendländischen Philosophierens zu begreifen, sondern sie durch die anderer Kulturen mit eigenen Sprach-, Begriffs- und Logik­ formen zu ergänzen, um so die Polyphonie der Welterfahrung zur Grundlage einer friedlichen Vielfalt der Menschheit zu machen - eine Vielfalt, die es um des Reichtums der Welt willen zu erhalten gilt. Spekulative Dialektik als Theorie innerweltlicher Gegensätze und ihrer Einheit ist so alt wie die Philosophie überhaupt, ja auch schon als Denkform im Mythos präsent; im engeren Sinne, als Theorie der in einem Reflexionssystem mit Subjektivität vermittelten Objekti­ vität, gibt es sie erst seit der Neuzeit - sei es in tranzendentalphilo­ sophischer, sei es in ontologischer Konstruktion. Nicht wissend, wie­ viel Zeit mir für das Gesamtprojekt bleiben würde, habe ich darum zunächst mit der Ausarbeitung der Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit begonnen und deren Ergebnis in den drei Bänden

Einheit und Widerspruch (Stuttgart und Weimar 1997 /98) vorgelegt; dort steht als Einleitung auch ein Abriss meines Dialektikverständ­ nisses, der nun eigentlich an den Anfang des ganzen Werks gehören würde; da aber doch wesentlich auf die neuzeitliche Problemlage bezogen, belasse ich ihn nun auch an dieser Stelle, zumal inzwischen eine ausgearbeitete Begründung der Dialektik in meinem Buch Welt­

entwurf und Reflexion (Stuttgart und Weimar 2005) vorliegt. Wie viel eine systematische Grundlegung der Dialektik dem Eindringen in ihre Geschichte verdankt und dass letztlich die Konfiguration dialektischen Denkens nur in Einheit mit seiner Geschichte bestehen und begriffen werden kann, mag nun aus den gesamthaft vorliegen­ den Bänden ansichtig werden. Zum Schluss bleibt mir zu danken: meinen Studenten und Mit­ arbeitern an den Universitäten in Marburg und Groningen; in den Diskussionen mit ihnen profilierten sich die Probleme und ihre Ent­ wicklung; meiner Frau Silvia, die diesen Denkweg seit vierzig Jahren begleitet und an Schwierigkeiten aller Art mit getragen hat; den Kol­ leginnen und Kollegen, die durch Widerspruch oder Zustimmung den Fortgang meiner Arbeit unterstützten; mit besonderer dankbarer Erinnerung den Lehrern meiner Schule, die mir ein heute nicht mehr selbstverständliches Ausgangswissen vermittelten und stets meine den Schulplan oft verlassenden Eigeninteressen förderten; vor allem mei­ ner Mutter, die mir eine glückliche Jugend bereitete, von der ich un-

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Vorwort

zählige Anregungen erhielt, die mir die Unerschütterlichkeit ethischer Konsequenz vorlebte und meinem Leben die geprägte Form gab, die sich entwickeln konnte. Dank gebührt der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und ihrem Lektor für Philosophie, Dr. Bernd Villhauer, für die Betreuung die­ ses Werks, dem Metzler Verlag, der der Integration der vergriffenen Bände Einheit und Widerspruch in das Grundprojekt zustimmte. Dr. Frank Hermenau, der die Manuskripte las und digitalisierte und die Indices der Bände I und II anlegte, hat sich auch in vieler anderer Hinsicht als ein wertvoller und von der Sache begeisterter Mitarbeiter erwiesen; dass das große Projekt in letztlich so kurzer Zeit druckreif gemacht werden konnte, ist wesentlich ihm zu verdanken.

I. Hauptstück:

Voraussetzungen

1. Kapitel:

Mythos, Sprache und Begriffsbildung

In der antiken mediterranen Welt ist die Entstehung der Philosophie, der sich auf den i\6yo� stützenden Weise der Welterfassung, ein sin­ guläres Ereignis. In der griechischen und nur in der griechischen Welt wurden die Fragen und Methoden rationaler Erklärung des Gegebenen ausgearbeitet, wurde der Weg des Mythos verlassen, um den der Argumentation zu beschreiten. Nirgends sonst in den alten Hochkulturen des Mittelmeeres und Vorderasiens gelang dieser Über­ gang; selbst hoch entwickelte Weltanschauungen wie die Mesopo­ tamiens und des Irans, Kleinasiens und Ägyptens blieben der mythi­ schen Denkweise verhaftet, auch wenn sie schon fortgeschrittene Kenntnisse in einzelnen Wissensgebieten - Astronomie, Mathematik, Architektur, Medizin - besaßen und durch Arbeitsteilung, Handel, Schrift und Gesetzgebung in der Alltagspraxis zu begrifflichen Ab­ straktionen genötigt wurden. (Nur noch in zwei weiteren Kulturen entstand, unter jeweils an­ deren Bedingungen, ein originäres philosophisches Denken: in China und in Indien. Chinesisches wie indisches Philosophieren, beide wie­ derum weit verschieden voneinander, sind von ganz anderem Typus als das griechische. Sie realisieren Möglichkeiten von Welterfahrung, die die abendländische Tradition ausschließt. Eine synoptische Phi­ losophiegeschichtsschreibung müsste diese Typen von Weltbegegnung und-abbildung strukturvergleichend kollationieren, um aus der He­ teromorphie der Weltmodelle eine ebenso mannigfaltige wie per­ spektivisch gebrochene Auffassung von der einen unendlich reichen und sich verschiedengestaltig präsentierenden Welt zu gewinnen.1)

Zu einer synoptischen Philosophiegeschichte vgl. Ernst Bloch, Differenzie­ rungen im Begriff Fortschritt,

Abband!. d. Deutsch. Akad. d. Wiss. zu Berlin,

1955. Zum Typus chinesischen Denkens siehe Marcel Granet, Das chinesische Denken, München 1963; Joachim Schicke!, Große Mauer- Große Methode, Stuttgart 1968. Die indische Philosophie stellte in gesellschaftlichem Bezug dar Walter Ruhen, Geschichte der indischen Philosophie, Berlin 1954; siehe auch Otto Strauss, Indische Philosophie, München 1924.

18

Voraussetzungen

Warum es das gegenüber den großen Nachbarkulturen, von denen es doch nachhaltige Einflüsse empfing, gerade das kleine, zunächst rückständige und weder ökonomisch noch kulturell begünstigte Volk der Griechen war, bei dem sich die Ablösung der Philosophie vom Mythos vollzog, muss -fernab jeder humanistischen Vorurteile und philhellenischer Begeisterung - dem Historiker zum Problem wer­ den. Welches waren die Voraussetzungen, die diese weltgeschicht­ liche Epoche ermöglichten? Die griechischen Stämme wanderten in mehreren Wellen im 13. und 12. vorchristlichen Jahrhundert in die Halbinsel ein; ja, viel­

leicht sollte man besser sagen: Sie sickerten ein, denn es waren ein­ zelne Heerzüge, die diesen oder jenen Weg einschlugen und da oder dort Fuß fassten. Zwei große Schübe sind zu unterscheiden, und die Eroberer der zweiten Wanderungsphase vertrieben ihre Vorgänger oder doch die unternehmungslustigeren Teile von ihnen; diese setz­ ten sich nach lnselionien und der kleinasiatischen Küste ab, wo es bereits aus Zeiten der kretisch-mykenischen Kultur Niederlassungen gab (Milet gehörte zu ihnen), die den Auswanderern lockender scheinen mochten als ein Hörigendasein in der, selbst erst vor we­ nigen Generationen errungenen, Heimat. Es war eine Zeit der V öl­ kerbewegung und V ölkervermischung.2 Die ins mykenische Griechenland einwandernden Hellenen -den Namen werden sie später als Ausdruck ihrer sprachlichen und kul­ turellen Gemeinsamkeit gebrauchen' - treffen auf eine hochentwi­ ckelte Adelskultur mit Stammeskönigtum, das eher die Funktion einer Heerführerschaft als einer Friedensadministration gehabt haben dürfte. Die ökonomische Basis war die Landwirtschaft, kultivierte Äcker rund um die Stadtburgen, Viehzucht auf den Weiden der um­ liegenden Gebirge; bronzezeitliches Handwerk in den Stadtgemein­ den, Metallverarbeitung und Töpferei, kamen hinzu. Die Adelsherren bewirtschafteten ihren Grundbesitz durch Sklaven und Hörige, ihre eigene Aufgabe bestand vor allem in der Abwehr räuberischer Inva­ sionen und in der Durchführung eigener Beutezüge in fremde Ge­ genden. W ährend dieser oft langen Abwesenheiten der Grundherren

2

Ortsnamen, Eigennamen, Stammesnamen, Götternamen, Götter- und Hel­ densagen geben Zeugnis von Überlagerungen, Vermischungen, Kämpfen und Ausgleich.

3

Hesiod kennt ihn schon, desgleichen Archilochos, während er im homerischen Epos noch nicht auftaucht.

Mythos, Sprache und Begriffsbildung

19

lenkten deren Ehefrauen, von Abhängigen wie Nachbarn respektiert, die Hauswirtschaft: Überseeische Handelsbeziehungen bestanden, bestimmten aber noch nicht das allgemeine Konsumniveau. Die Wirt­ schaft war weitgehend autark. Durch die hellenische Eroberung des Peloponnes veränderte sich an diesen Produktions- und Herrschaftsverhältnissen nicht viel. Die neuen Herren traten an die Stelle der alten, in den gleichen Funk­ tionen und Lebensgewohnheiten. Die Heerkönige der Eindringlinge, deren Machtausübung und Befehlsgewalt ohnehin durch die Ver­ sammlung der wehrfähigen Männer gebunden war, wurden bald und offenbar ohne Kämpfe >>verbeamtet>Stammstaat« (bzw. Gelzer als >>Gemeindestaat«) bezeichnet.5 Die gentilistischen Institutionen der wandernden Heerzüge trafen also auf einen verwandten gentilistischen Aufbau der besetzten Sied­ lungsgebiete. Das bedeutete, dass Institutionen und Weltanschauun­ gen der Eroberer und der Unterworfenen leicht amalgamiert werden konnten; an den Befunden des religiös-kultischen Syndroms können wir diesen Prozess ablesen.6 Die einfache Produktionsweise klein­ räumiger Subsistenzwirtschaften, die geographische Isolation der Poleis gegeneinander, der geringe Außeneinfluss nach dem Nieder­ gang der kretischen Seemacht hatten zur Folge, dass sich die grie­ chische Halbinsel mehrere Jahrhunderte lang in einer Art weltge­ schichtlicher Naturschutzzone befand; zur gemeinsamen Bewältigung von Naturgewalten, zum Schutz gegen äußere Feinde, zur Sicherung eines weitgespannten Handels (sei es eines großräumigen Binnen­ handels oder eines ausgreifenden Fernhandels) - Aufgaben, die in den orientalischen Großreichen anstanden - war die Entwicklung zentraler politischer Organisationsformen hier nicht nötig.

4

Die homerischen Epen geben ein anschauliches Bild der vor- und frühgrie­ chischen Gesellschaft.

5

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Der Glaube der Hellenen, Bd. 1,

6

Vgl. Wilamowitz-Moellendorf, a.a.O., Bd. 1, S. 87-310 (= S. 89-516). Walter

Darmstadt 21955, S. 58 (= S. 59 der 1. Auflage 1951).

F. Otto, Die Götter Griechenlands, Frankfurt am Main '1951, Kap. 2.

20

Voraussetzungen

Die Lebensauffassung der freien Grundherren, die neben Jagd und Krieg keine produktive Arbeit zur Reproduktion ihres Lebens zu verrichten hatten, könnte man als eine Art heroischen Hedonis­ mus charakterisieren, derb-sinnlich, auf rustikalen Genuss ausge­ richtet; ergänzend trat zu der asketischen Werteskala des Kampfes die vitale des Wohllebens, die Freude am Essen und Trinken, an der Erotik, am Spiel und an der Kunst, diese als Verherrlichung der her­ vorragenden Beispiele des eigenen Lebenstypus, als Selbstglorifizie­ rung verstanden:

Odyssee

V III, 579 f. sagt Alkinoos, das Schicksal

der Griechen und Trojaner hätten die Götter verhängt,

damit (!)

es

Gegenstand der Lieder späterer Geschlechter sein könne. Der Um­ schlag vom Religiösen ins Ästhetische in der Selbstdarstellung der Adelsgesellschaft wird hier erkennbar. Fritz Wehrli hat die drei Elemente archaischer griechischer Le­ bensauffassung als »kriegerisches Heldentum«, >>Festlichkeit und Da­ seinsfreuden>MusendienstEhrengabeTugend< und >Ehre< ist so wenig >altruistisch< bei Homer, daß es notwendig auf Kosten anderer geht. Wer sich im homerischen Sinn darum müht, >stets der Beste zu sein
>Pythagoras hat nichts mit Aufklärung zu tun. Er hat im Gegenteil die mächtigste Gegenbewegung gegen die reine gegenständliche Naturbetrachtung loniens in Gang gebracht. Er hat in die Philosophie ein Element der Religion, ja des Geheimnisses eingeführt, das seither nicht mehr verloren gegangen ist.«38 Der spätantike Neupythagoräismus (parallel zu dem philosophisch relevanten Neuplatonismus) hat mit dem

37

Carl A. Huffman, Philolaos of Croton, Cambridge 1993.

38

Gigon, a. a. 0., S. 146.

Von Ionien nach Italien

245

Pythagoras des 6. Jahrhunderts und seiner Schule nur noch durch dieBerufung auf legendäre Wundergeschichten etwas zu tun. Wenn Szab6 recht hat, dass die philosophischen Ursprünge der späteren griechischen Mathematik und also auch das theoretische Fundament der Zahlentheorie auf die Eleaten zurückgehen, dann bleibt von Pythagoras in der Tat nicht mehr als die Legenden, die von der Sekte verbreitet wurden. Ich möchte es für sicher halten, dass Pythagoras aus Babylonien keine exakten Grundlagen der Mathe­ matik mitbrachte, wenn auch empirisch gewonnene Einzelerkennt­ nisse, die mit astrologischen und magischen Zahlenspekulationen vermengt wurden. Daraus konnte eine mystische Kosmologie herge­ leitet werden, die eine charismatische Persönlichkeit mit einem gro­ ßen Schatz an Erfahrungswissen in Wahrsagerei, Zauberei und Wun­ dertaten einbringen und in eine Geheimlehre umsetzen konnte. Jeder politischen Parteinahme vorhergehend ist von Pythagoras eine große Gelehrsamkeit oder Vielwisserei mit dem Einschlag von Scharlata­ nerie bezeugt. Wirklich wissen wir von den Pythagoräern eigentlich nur, dass sie ein Geheimbund mit reaktionärer politischer Ausrich­ tung waren, der die Gegnerschaft der demokratischen Polisbürger auf sich zog. Eine der am Logos orientierten Philosophie (Milesier Heraklit - Xenophanes - Eleatik) entgegengesetzte irrationale Welt­ anschauung würde dazu passen. Die Zeugnisse dafür stammen aber alle, wie gesagt, aus viel späterer Zeit. Von den älteren Pythagoräern kennen wir nur Philolaos. Hundert Jahre nach Pythagoras in Kro­ ton, der Hochburg der Sekte, geboren, konnte er den Meister nicht mehr kennen. Er ist der erste und einzige, von dem eine genügende Zahl Fragmente vorliegt, um über ihn mit der gleichen Sicherheit bzw. Unsicherheit sprechen zu können wie über die anderen uns bekannten Vorsokratiker. Wie viel von seinen Gedanken der noch lebendigen Lehrtradition geschuldet ist, wie viel Eigenes er hinzu­ gebracht hat, ist nicht zu entscheiden. Fragment 1 können wir in zweifacher Weise verstehen: Einmal als eine Kritik amBegriff des apeiron, der die Paradoxie des (exten­ sionalen) Unendlichen enthält: >>Die Physis in der Welt ist aus Unbe­ grenztem undBegrenztem zusammengefügt, sowohl die ganze Welt als auch alle in ihr befindlichen Dinge«. a >Alles, was erkannt wird, hat Zahl. Ohne eine solche würde nichts Bestimmtes weder eingesehen noch erkannt werden.« Das apeiron ist die Voraussetzung, unter der es ein begrenztes Einzelnes, ausgegrenzt aus dem Ganzen, geben kann. Das Ganze ist das Eine, zu dem jedes Einzelne ein Anderes ist. Logisch ist das Ver­ hältnis von Einem und Anderem eine Triade - nämlich die Eins und ihr Anderes bilden zwar Unterschiede, zusammengenommen sind sie aber eins und zwei gleich drei. Mit mehr als drei beginnt die Viel­ heit der abzählbaren Menge von Elementen, die dem Prinzip unter­ liegen, dass sie je eines sind und je alles andere von sich ausge­ schlossen haben, also die Zweiheit eins - anderes implizieren. Die Eins und die Zwei sind also die Prinzipien der Abzählbarkeit und inhärieren als solche allen Zahlen, von deren Mischung die Drei das erste Paradigma ist. Für jedes der beiden Prinzipien gibt es viele Formen, in denen sie gemischt sind, aber je nach Mischungsverhält­ nis einen geraden oder ungeraden Stellenwert bekommen. Wird die Menge der Dinge in einer abzählbaren Reihe abgebildet, so bedeutet die Zählstelle in der Reihe die Eigenheit des Einzeldings, seinen >>Namen>nachgängig>Luft« bestimmt und den naturwissenschaftlichen Versuch unternommen, die Entstehung des Vielen aus dem Einen durch Verdichtung und Verdünnung zu erklären. Wir haben versucht, die Hypothese des Anaximenes als einen theoriegeschichtlichen Fortschritt zu verstehen. Dennoch bleibt sie im Abstraktionsgrad hinter dem Weltbegriff des Anaximander zurück und behält gegenüber der Denknotwendigkeit, mit der dieser vom Kosmos zum apeiron übergeht, den Charakter der Beliebigkeit, den

250

Der Weg zur Ontologie

eine Meinung über die Beschaffenheit des Alls nur haben kann: Sie konstatiert ein nur empirisch zu belegendes Faktum, für das es nichts­ destoweniger keinen empirischen Beleg geben kann. Die spekulative Verwendung eines Erfahrungsbegriffs bleibt theoretisch inkonsistent. An dieser Stelle setzt Parmenides ein.2 Nachdem Anaximander eine Vielheit von Welten angenommen hatte, war im Begriff der Welt selber noch nicht die Einheit des Alls verbürgt - vielmehr wurde diese im Kontinuum des apeiron begründet. Das apeiron aber ist eine negative Strukturbestimmung, die nur dann etwas über den einheit­ lichen Charakter des Alls aussagen könnte, wenn sie mit einem posi­ tiven Gehalt erfüllt würde; von daher rührt die Zweideutigkeit der Formulierungphysis apeiron bei Anaximander und die Beliebigkeit, das apeiron stofflich als Luft zu denken bei Anaximenes. Die gleichsam >>physikalische>die Meinungen der Sterblichen, in denen nicht wahre Gewissheit innewohnt>der wohlgerundeten Wahrheit unerschütterliches Herzdenken>ausdenken>ersinnen>vernehmen>Vernehmendes Denken>gegeben>Selbst­ gegebenheit des Seins>Denn es ist nichts und wird nichts anderes sein außerhalb des Seienden>So muß es also ent­ weder ganz und gar sein oder überhaupt nichts>Kennzeichen>Weltverlorenheit>unbewegten Bewegers>Weltverlorenheit>ist>ein Selbiges (Identisches) und im Zustand der Selbigkeit (Iden­ tität) bleibend ruht es an und für sich>Seiendes stößt dicht an Seiendes>SO weit -

-

wie>Die Stuten, die mich zogen, ließen mich hinfahren, soweit sie gemäß meinem Willen kommenreich an Erfahrungsgehalten>Die Mädchen zogen mich auf den Erkenntnis beherrschenden Pfad>Vielwisserei lehrt keine Vernunft>gerade aus der Fahrstraße nach« (ithys kat' amaxiton). Wie man auf die Idee kom­ men konnte, von der Straße der doxa führe es nicht weiter zur Straße der aletheia, da sei ein Knick anzunehmen und man treffe also nicht direkt auf das Tor, ist mir unverständlich. Vielmehr sagte der Text klar, dass die Straße vom Weltwissen aus geradewegs durch das Tor zu den Wissensgründen führt und dass das Tor den Durch­ gang versperrt oder öffnet. Auf beiden Seiten (amphis) hat es Tor­ bogen und steinerne Schwellen - man kann sich den Durchgang wie durch den Konstantinsbogen vorstellen, oder auch wie das Eingangs­ tor zu einer mykenischen Burg. Troja II ist das frühe Beispiel dieses Typs. >>Zwei mit Anten aus Holz an ihrer Stirn versehene Längs­ mauern schließen außer einer gedeckten Vor- und Hinterhalle eine ebenfalls gedeckte Torkammer ein, die eine äußere und eine innere T ür hat. Schon hier sei darauf hingewiesen, daß dieser Typus seine großartigste Ausgestaltung in den Propyläen des Anesikles gefunden hat. ... Hatte man das Haupttor im Südosten durchschritten, so stand man einem kleinen ganz ähnlich gestalteten Hoftor gegenüber, durch das man den Palasthof erreichte>irdischen>abwechselnd« (amoibos) zu gebrauchenden Schlüsseln pro­ blemlos: Die einen öffnen die Außen-, die anderen die lnnenfront. Durch dieses Tor gelangt Parmenides auf einen Aufweg, wie wir ihn von den alten Burgen kennen, zu der Göttin. Die zurückschla­ genden Torflügel geben Einlass zu einer >>weit geöffneten Kluft>sein«, nicht von adjektivischen Prädikationen des Seienden. Die beiden Teile des parmenideischen Gedichts beruhen auf dieser Un­ terscheidung, das heißt auf der Entdeckung, dass >>sein>Sokrates erhebt des Einwand: Wenn nun der eine das Sein des Einen, der andere das Nichtsein des Vielen behauptet und wenn je­ der von beiden so spricht, daß er bei aller tatsächlichen Überein­ stimmung des eigentlichen Sinnes doch durchaus nicht dasselbe zu sagen scheint, so habt ihr, kommt es mir vor, Dinge gesagt, für deren Verständnis uns anderen die rechte Fassungskraft fehlt- freilich, So­ krates, habe Zenon geantwortet; nur hast du die wahre Absicht der Schrift noch nicht völlig erfasst. ... In Wahrheit will die Schrift nichts anderes als dem Satz des Parmenides zu Hilfe kommen gegen die­ jenigen, welche sich über ihn lustig machen wollen, indem sie heraus­ stellen, daß, wenn eins ist, dieser Satz sich in viele Lächerlichkeiten und Widersprüche mit sich selbst verwickeln muss. Es wendet sich also diese meine Schrift gegen diejenigen, welche das Sein des Vielen behaupten und zahlt es ihnen in gleicher, ja noch höherer Münze zu­ rück, indem sie klar machen soll, daß ihre eigene Voraussetzung der Existenz des Vielen zu noch größeren Ungereimtheiten führt als die Voraussetzung des Seins des Einen, wenn man die Sache nur hinrei­ chend durchgeht>Umschlagen« (metaballein) als eine methodo­ logische Kategorie begriffen werden. Zenon war offenbar klar, dass es ontologisch dafür keinen Begriff geben kann. Um noch einmal Kirk/Raven zu zitieren: »Wir werden uns keine guten Antworten auf solche Fragen ausdenken, solange wir uns nicht über die Frage, was einen Gegenstand zu einem macht und nicht zu vielen, auf gerade die Sorte philosophischer Reflexion intensiv eingelassen haben, die Zenon in uns hervorzurufen bestimmt ist>daß wenn das Seiende keine Größe besitze, es auch nicht sei. Dann fährt er so fort: Wenn es aber ist, so muß notwen­ digerweise ein jeder Teil eine gewisse Größe und Dicke und Abstand der eine vom anderen haben. Und von dem vor jenem liegenden Teile gilt dieselbe Behauptung. Auch dieser wird nämlich Größe haben und es wird ein anderer vor ihm liegen. Die gleiche Behaup­ tung gilt nun ein für allemal. Denn kein derartiger Teil desselben (des Ganzen) wird die äußerste Grenze bilden, und nie wird der eine ohne Beziehung zum anderen sein. Wenn also viele Dinge sind, so müssen sie notwendig zugleich klein und groß sein: klein bis zur Nichtigkeit, groß bis zur Grenzenlosigkeit>Logik des Scheins« herabgestuft.9 Demokrit nimmt nun Zenon beim Wort: Gewiss ist das Seiende zugleich unendlich klein und unendlich groß, klein nämlich, weil es bis auf letzte, nicht mehr wahrnehmbare Einheiten, die Atome ge­ teilt werden kann, groß aber, weil alle diese Atome zusammen die

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Durchaus zenonisch hat Karrt seine Antinomienlehre entwickelt und daher folgerichtig auch Dialektik als >>die Logik des Scheins>Platon übernimmt das Prinzip der Teilung bis zum

von Demokritos; er überwindet

wie dieser den starren, absoluten Eleatismus durch den Widerspruch gegen die Grundlage dieser Anschauung, die Unfaßbarkeit des Nichtseienden ... Das ist das , das das trennende Prinzip dieser , das logische Anderssein, wie dort das als Leeres die materiellen Atome trennt>Ähnlich wie Leukippos setzte auch sein Schüler Demo­ krit als Prinzipien das Volle und das Leere; das eine von ihnen nannte er das Seiende, das andere das Nichtseiende. Denn sie neh­ men die Atome als Materie für die Dinge an und lassen alles andere aus deren Unterschieden entstehen. Diese aber sind drei: Gestalt, Lage, Anordnung (Gruppierung). Es liege nämlich in der Natur des Gleichen, vom Gleichen in Bewegung gesetzt zu werden, wie ja das Verwandte zueinandereile, und jedes Atom, das sich in eine andere Vereinigung (von Atomen) einordne, bewirke eine andere Verfassung derselben. Daher behaupteten sie, wo die Urkörper unzählig seien, sämtliche Veränderungen und Naturen der Dinge in überzeugender Weise erklären zu können, auch wie und warum etwas geschieht. Daher behaupten sie auch, daß allein für die Philosophen, die unzäh­ lige Elemente annehmen, alles in einer der menschlichen Vernunft be­ greiflichen Weise erfolge. Und sie erklärten, daß die Zahl der Gestalten der Atome unendlich sei, weil nichts mehr so als irgendwie anders beschaffen wäre. Denn das geben sie als Grund für die Unendlichkeit an>Demokrit hatte die Meinung, daß die seienden Dinge (die Atome) sich ewig im leeren Raum bewegen« (A 40). Und die Übertragung von Bewegung (wie auch Trennung und Verbindung) erfolgt durch den Anstoß eines Atoms an das nächste, sodass die Welt einer unaufhörlichen

15 In einer Randbemerkung zu Hegels >>Geschichte der Philosophie>Die Nuance (das >Moment>Die Vertreter der Atomlehre behaupten, daß sich die Atome im leeren Raum, so, wie es der Zufall gerade will, be­ wegen und von selber infolge eines jeder Ordnung baren Antriebes miteinander zusammenstoßen>Einige Philosophen sind sogar im Zweifel, ob der Zufall existiere oder nicht. Denn sie be­ haupten, nichts geschähe aus Zufall, sondern von allem, von dem wir behaupten, daß es von selber oder aus Zufall geschähe, gäbe es eine bestimmte Ursache« (A

68). Hier könnte ein Widerspruch gearg­

wöhnt werden, der sich jedoch leicht auflösen lässt: Jeder Anstoß erzeugt mit Notwendigkeit im Angestoßenen eine Bewegung, und sofern durch diese wieder ein Drittes angestoßen wird, eine weitere Bewegung (und so fort); so unterliegt die gesamte Weltbewegung einer kausalen, ja sogar einer multilateralen Notwendigkeit (denn schließ­ lich wirken mehrere Bewegungsanstöße auf dasselbe Atom). Jeder Anstoß für sich betrachtet, das heißt auf die Ursachlosigkeit der ersten Bewegung bezogen, ist jedoch zufällig, und die Notwendig­ keit ist nur eine Art Fortsetzung des Zufalls. So ergänzt auch Simpli­ cius die erwähnte Stelle des Aristoteles: >>Die Worte aber >gerade wie die alte Lehre, die den Zufall leugnet< scheinen auf Demokrit ge­ münzt zu sein. Denn dieser schien auch bei der Weltbildung vom Zufall Gebrauch zu machen, während er bei keiner einzigen Einzel­ heit (des Naturgeschehens) den Zufall als Ursache betrachtet, son­ dern sie auf andere Ursachen zurückführt ...« (A

68). Die Welt als

ganze wäre also nur kontigent zu denken, denn sie könnte auch nicht sein und es gibt keine Ursache, aus der sie mit Notwendigkeit entstanden wäre, da sie ja überhaupt nicht entstanden, sondern ewig ist; und die Ewigkeit unterliegt nicht den Kategorien Zufall und Notwendigkeit. Alles Einzelne in dieser kontigenten Welt ist aber durch den Nexus der Bewegungsanstöße bedingt und folglich mit

Der Weg zur Ontologie

304

Notwendigkeit; unter der aber versteht Demokrit »den Gegenstoß und die Bewegung und den Schlag der Materie« (A

66) und er führt

>>alles, das in der Natur vorkommt, auf die Notwendigkeit zurück>Anaxagoras setzte als Prinzipien des Weltganzen den Geist und die Materie, den Geist als die tätige, die Materie als das werdende Prinzip>Zwei Prinzipien>Gedanken­ dinge>Anaxagoras ist ein Dualist; sein Dualismus ist in gewissem Sinn ein Dualismus von Geist und Materiedaß die Größe der Grundeinheiten der Materie kleiner sein muß als jede endliche Größe, aber größer als die Größe eines Punktes, das heißt die Grundeinheiten mußten von infinitesi­ maler Ausdehnung sein, wenn eine unendliche Zahl von ihnen in die Zusammensetzung von allem und jedem endlichen Objekt eingehen sollte. Die Entitäten des Anaxagoras, die er unendlich klein nannte, waren in genau jenem Sinne infinitesimal, in dem das Wort seit dem 17. Jahrhundert gebraucht wird; sie waren Größen, deren Maß grö­

ßer als Null, aber kleiner als jede willkürliche kleine Zahl« war.22 Natürlich ist es ein Anachronismus, Anaxagoras einen implizier­ ten Vorgriff auf die Infinitesimalrechnung zu unterstellen. Auf dem Weg vom Unendlichen bis zu Leibniz waren noch viele Zwischen­ stationen nötig. Wohl aber ist zu bedenken, dass die Griechen die Null als Zahlgröße nicht kannten und dass auch die Eins einen an­ deren ontologischen Charakter hatte als die weiteren Einheiten der Zahlreihe, die eigentlich erst mit der Drei als der kleinsten abzähl-

21

Ebd., S. 8.

22

Ebd., S. 12: >>Daher war es klar, daß die Größe der Grundeinheiten der Ma­ terie kleiner sein mußte als jede endliche Größe, aber größer als ein Punkt, d. h. daß die Grundeinheiten von infinitesimaler Ausdehnung sein mußten, wenn eine unendliche Zahl von ihnen in die Zusammensetzung jeder von ihnen und jedes endlichen Objekts eingehen sollte>In der Theorie des Anaxagoras besitzt jedes der einfachen Moleküle einen Satz ursprünglicher diskreter absoluter Qualitäten ... Die in­ finitesimale Größe der Moleküle in seiner T heorie versetzte ihn in die Lage, ein Kontinuum diskreter Quantitäten zu konstruieren. ln­ dem er z. B. annahm, daß nur zwei Temperaturgrade existierten, das absolut Kalte und absolut Heiße, und das eine oder das andere eine unveränderbare Eigenschaft jedes Moleküls sei, konnte Anaxagoras einem Objekt Rechnung tragen, das eine mittlere Temperatur besitzt, die zwischen den zwei absoluten Endpunkten des Kontinuums liegt, indem er annahm, dieses Objekt enthalte ein angemessenes Verhält­ nis der Moleküle von jeder der beiden extremen Temperaturen>Daß Aristoteles hier in einer Aporie steckt, ist offensichtlich. Es geht um die Behauptungen, (1) daß ein Genus, das ein Relativum ist, Spezies haben kann, die keine Relativa sind, und (2) daß dasselbe Seiende zu zwei Katego­ rien gehören kann>geteilten Linie« fällt in eine klassifikationslogische Bereichsonto­ logie zurück, die am Erkenntnisprozess orientiert ist. Das General­ thema der Politeia, die paideia der Herrschenden und Beherrschten in der Parallelität von ständisch-hierarchischem Aufbau des Bil­ dungssystems und einer gestuften Gliederung des Wissens, setzt sich gegenüber der ontologischen Prinzipienerforschung durch. Indem Platon sich die Aufgabe zuspielt, das Sonnengleichnis wei­ ter zu erläutern

(509

c

5),

öffnet er sich einen Ausweg, wie er der

Begriffsverschiebung ausweichen kann, in deren Konsequenzen er sich

22 Zum Charakter eines spekulativ metaphysischen Systems, das die Konstruktion transempirischer Sachverhalte des Denkens vornimmt, vgl. Hans Heinz Holz,

Weltentwurf und Reflexion,

Stuttgart/Weimar 2005.

380

Philosophie auf den Marktplätzen und in den Schulen

gerade zu verwickeln begann. Er verschob, sozusagen, das Problem auf eine spätere Arbeitsphase, um zunächst den Ansatz der Politeia, die metaphysische Begründung der staatlichen Herrschaftsordnung und die sich daraus ergebende Bildungs- und Erziehungstheorie für die Staatslenker, auszuarbeiten. Die Frage des Glaukon, wie das Son­ nengleichnis zu verstehen sei, weil er dessen Sinn noch nicht voll erfasst habe, ist darauf angelegt, den bisherigen Gedankengang ge­ radlinig weiterzuverfolgen.

3. Schematismus Wie aber erläutert man ein Gleichnis, von dem gerade gesagt wurde, dass der damit gemeinte >>eigentliche>Schema>wie ist nun die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich, da doch niemand sagen wird: diese, z. B. die Kausalität, könne auch durch Sinne angeschaut wer­ den und sei in der Erscheinung enthalten>Erscheinen>Diese vermittelnde Vor­ stellung muss rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intel-

23

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781 1. Auflage (A), Riga Auflage (B )

1787 2.

.

Platons Höhle

381

lektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das tranzendentale Schema«(B 177). Zwischen Begriff und Anschauungsgegenstand besteht eine prinzipielle Ungleichartigkeit. Darauf zielt die Frage des Glaukon in der Politeia, der die Ähnlichkeit (homoiotes - DflOLÜ'IT]c;) der Sonne mit der Idee des Guten erläutert haben möchte. Die Antwort kann nur so lauten, dass etwas in der dianoia aufgefunden wird, worauf

noemaund pragma als Bild ihres Verhältnisses gleichermaßen bezo­ gen werden können; dieses wäre ein Schema ihrer Vergleichbarkeit. >>Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren( ...) Noch viel weniger erreicht ein Gegenstand der Erfah­ rung oder Bild desselben jemals den empirischen Begriff, sondern dieser bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema der Einbil­ dungskraft, als eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung ge­ mäß einem allgemeinen Begriffe«(B 180). Das Schema bedeutet ein Allgemeines in der Form seiner Erzeu­ gung, aber doch immer so, dass es als >>Bild«- d. h. in anschaulicher Endlichkeit - dargestellt ist. >>Das Schema ist also keineswegs das Bild selbst, sondern die >Methode< zur Einbildung des Begriffs«.24 Das Schema realisiert sich darum, wie Heidegger mit einem glücklichen Ausdruck sagt, als >>Schema-Bild«.25 Das Schema des Verhältnisses von Denken und Anschauung ist bei Platon die an der Raumvor­ stellung orientierte Zweiheit der gegeneinander abgegrenzten Genera des noeton und horaton bzw. der nooumena und horomena (509 d 2; d 8 f.). Dieses Schema wird im Bild einer geteilten Linie dargestellt. Die Ausführung dieses Schema-Bildes könnte man als den >>Schema­ tismus« der dianoia bezeichnen, durch den die Konstruktion der Ana­ logie vollzogen und nachvollziehbar gemacht wird. Solcher Schema-

24 Hermann Cohen,

Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft,

Leipzig 1907,

s. 72. 25 Martin Heidegger,

Kant und das Problem der Metaphysik, 2. Auflage,

Frank­

furt arn Main 1951 S. 94: >>Aber wie immer, das Bild hat doch das Angesicht eines Einzelnen, während das Schema die Einheit der allgerneinen Regel vielfältig möglicher Darstellungen >Zur Absicht< hat. Hieraus wird erst das Wesentliche des Scherna-Bildes deutlich: es hat seinen Anblickcharakter nicht nur und zuerst aus seinem gerade erblickten Bildgehalt, sondern daraus, daß es und wie es aus der in ihrer Regelung vorgestellten möglichen Darstellung herausspringt und so gleichsam die Regel in die Sphäre der möglichen An­ schaulichkeit hineinhält«.

382

Philosophie auf den Marktplätzen und in den Schulen

tismus erlaubt es, in metaphorischer Rede mit Exaktheit von trans­ empirischen Gegenständen zu sprechen.26

4. Das Schema der geteilten Linie Das Sonnengleichnis zielt mit dem Beispiel des Lichts, das dem Reich der Sinne (dem Sichtbaren) entnommen ist, auf dessen Ana­ logon im Reich des Denkens, die Wahrheit (homoioteta). Von dieser Entsprechung, die in 508 c 1 -509 a 5 ausgeführt wird und in 509 b 6 -

10 noch eine Erweiterung erfährt, geht Platon jetzt aus. Mit dem

Beispiel aus der Erfahrungswelt der Sinne war ein Sachverhalt aus der Welt des reinen Denkens gemeint. Die Gattungsverschiedenheit der zwei Reiche wird als gegeben gesetzt; der Übergang, die meta­ basis eis allo genos, soll erläutert werden. »Zwei Prinzipien sind es, deren eines über das Denkbare und seinen Bereich herrscht, das an­ dere über das Sichtbare« (dyo auto einai, kai basileuein to men noetOU genaus te kai topou, to d'au horatau

-

ClUO CXl)'[W ELVCXL, Kal

f3aaiAEDELV '!:0 f-LEV VOT]'[OU yEvouc; 'l:f Kai. 'l:OITOU m b' au oyamu; 509 d 1 ff.).

Beide Genera bilden das Ganze der Erkenntnis. Diese wird sche­ matisiert durch eine gerade Linie, die entsprechend den beiden Be­ reichen des Sichtbaren und des Denkbaren geteilt wird. Die Teilung geschieht jedoch so, dass ungleiche Abschnitte entstehen, denn die Menge des Denkbaren ist größer als die Menge des Sichtbaren. Dieser Klassifikation der Erkenntnis gemäß zwei Gattungen27 ent­ spricht nun innerhalb jeder Gattung eine Unterteilung in zwei wie­ derum ungleiche Gegenstandsregionen: im Sichtbaren die Region der Bilder und die Region der Dinge, die von den Bildern dargestellt 26 Martin Heidegger, a.a. 0., S. 87 f. und 92: >>Der Transzendenzhorizont kann sich nur in einer Versinnlichung bilden. (...) Die reine Versinnlichung geschieht als ein Schematismus. ( ... ) Das Einzelne hat die Beliebigkeit verabschiedet, ist jedoch dadurch ein mögliches Beispiel für das Eine, das die vielgültige Be­ liebigkeit als solche regelt. (...) Der Bildcharakter gehört notwendig zum SchemaBegriff des Begriffs>a complete classification of the contents of the sensible world« durchführt,33 sondern als eine Strukturanalogie von empirischer und intelligibler >>Welt«. In der Tat liegt diese Analogie ja in der Intention des Son­ nengleichnisses. Der in direkter Aussage nicht wiederzugebende spe­ kulative Sinn der Idee des Guten soll auf metaphorische Weise kennt­ lich gemacht werden. Die Struktur der Analogie, die die Funktion des Guten durch die Funktion des Lichts repräsentiert (oder wider­ spiegelt), soll dem fragenden Glaukon durch das Schema der ge­ teilten Linie einsichtig gemacht werden. Es geht nicht um eine Me­ taphysik von Schein und Wirklichkeit, sondern um das Verhältnis von Sinnlichkeit und Intelligibilität. Weil die Analogie auf der Licht­ Metapher beruht, ist darum für das Sonnengleichnis wie für das Schema der geteilten Linie die strikte Beschränkung auf die Sichtbarkeit ge­ fordert; anders wäre die Metapher keine exakte!34 Eins ist jedenfalls unbezweifelbar: Platon entwickelt in Buch VI der Politeia ein me­ thodologisches Instrumentarium, um über den spekulativen Gehalt des Absoluten zu sprechen, nämlich die Konstruktion der Analogie durch Gleichnis und Schematismus. Ravens Schlussfolgerung ist richtig: >>T he Divided Line analogy is explicitly introduced as a

nung geringer oder größer. Dieser Abstufung entspricht der Deutlichkeitsgrad der Erkenntnisform als eikasia, pistis, dianoia, noesis.

31 Nikolai Hartmann hat das Schichtenmodell systematisch ausgearbeitet: Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin 1935; ders., Neue Wege der Ontologie, Stuttgart o.J.

32

J. E. Raven, Plato's thought in the making, Cambridge 1965.

33 Ebd., S. 149. 34

Inhaltlich deckt sich diese Begründung des analogischen und nicht metaphy­ sischen Gebrauchs von Gleichnis und Schema mit der Auffassung Ravens, der Weg der Argumentation ist indessen ein anderer.

Platons Höhle

385

continuation of the analogy of the Sun. (...) I believe that the purpose of the Divided Line, as a continuation of the analogy of the SUN, is to use sight and the two classes of visible things to illustrate intelligence and the two classes of intelligible things. Both Sun and Divided Line are illustrative rather than classificatory>Bilder - Vorstellungen - Begriffe - Ideen« läge eine aufstei­ gende Linie der Deutlichkeit der Erkenntnis von >>obskur>klar>Aufbau der realen Welt«,38 sondern die Stufung der Erkenntnisgewissheit ist es, worauf sich Platons theoretisches Interesse richtet, das der Paideia des Phi­ losophen als Staatslenker gilt. So schließt das sechste Buch der Po­ liteia mit einer Strukturbeschreibung des Erkenntnisaufbaus, nicht mit einer Metaphysik des Seiend-seins.

5. Höhlendasein Jetzt erst, vorbereitet durch die Lichtmetapher und das Erkenntnis­ schema, erzählt Platon die Fabel vom Höhlendasein der Menschen und dem Aufstieg ins Sonnenlicht. Er sagt ausdrücklich, dass das Bild (eik6n), das er hier entwirft, ganz und gar (hapasan) auf das zuvor Gesagte bezogen bzw. angewendet werden soll (prosapteon)­ also auf das Sonnengleichnis mit der Lichtmetapher, dergemäß die Wahrheit durch das Gute offenbar wird; und das Schema der geteil­ ten Linie, demgemäß der Aufstieg zur Wahrheit über Stufen der Klarheit von der Bildwahrnehmung bis zur Ideenschau erfolgt

(517 a

8

-

b 1). Zu allem Überfluss expliziert Platon den allegori­

schen Sinn der Höhlensituation: Tal.'rr11v m(vvv, ijv b' i:yw, U]v dK6va,

w cplAc: fAauKwv,

1lQOaan'I:EOV anaaav 'I:Ol� Efl7lQOG8cv AEYOflEVOL�, 'I:TJV flEV bL'

37 Nun wird auch einsichtig, dass Platon die Analogie nicht zwischen beliebigen sinnlichen Wahrnehmungsgehalten und den Noumena konstruieren konnte. Das Verhältnis Ding - Abbildung zeigt sich nur im Feld des Sichtbaren und die entbergende Funktion des Lichtes kommt nur da zur Wirkung.

38 So der Titel des dritten Bandes der Ontologie von Nikolai Hartmann:

Aufbau der realen Welt, Berlin

1940.

Der

388

Philosophie auf den Marktplätzen und in den Schulen

Ot!n:w� cpatVOflEVT]V EÖQaV vJ 'I:OU ClWflW'IT]QlOU OlKTJOTL acpüflOL­ OUV'W, '[(J bt 'WV 1LVQO� EV au'DJ cpw� TrJ 'WU T]Alou ÖUVcXflEL" TTJV bt avw avaßaatv Kai. Brav 'I:WV avw TTJV d� 'I:OV VOT]TOV '!:071:0V TTJ� t\JUXTJ� llVOClOV n8E� »Dieses Gleichnis, mein lieber Glaukon, musst du nun ganz und gar auf das zuvor Gesagte beziehen: die Erscheinungen des Ge­ sichtssinnes nimm als Analogie für das, was aus dem Wohnsitz der Gefesselten hervorgegangen ist, das Licht des Feuers darin aber für das Vermögen der Sonne. Den Anstieg nach oben und die Betrach­ tung des Oben setze als den Aufweg der Seele zum Ort des Denk­ baren« (517 b 2 ff.). Das Höhlengleichnis -als »Bild« einer niederen Erkenntnisstufe zugehörig und auf das Verstehen eines in der unteren Welt der Vor­ stellungen Befangenen zugeschnitten - ist die Illustration eines spe­ kulativen Begriffs von Erkenntnis, der in analogischer Reinheit durch die Lichtmetapher (und nicht anders) ausgesagt und durch den Sche­ matismus der geteilten Linie dargestellt und erläutert wird, derge­ stalt dass Erkenntnis und Seiendes in einer gemeinsamen ontologi­ schen Struktur verbunden werden. Nur in diesem Rückbezug gibt das Höhlengleichnis seinen Sinn her; jede isolierte Betrachtung gerät in die Gefahr beliebiger und fehlerhafter Deutungen. Daraus folgt erstens, dass der Weg des von seinen Fesseln Gelös­ ten ins Sonnenlicht nicht ein Weg aus der Welt heraus in eine Tran­ szendenz ist, sondern eine Bewusstseinsveränderung, die sich in der Welt vollzieht-ein Verfahren der Umkehrung (techne tes periag8ges518 d 3), nicht eine Entrückung. Der Wortlaut 518 d 3 ff. schließt jede mystifizierende Deutung aus. »Es wäre dies eine Technik der Umkehrung des Sehorgans, eine gewisse Art der am leichtesten und förderlichsten zu vollziehenden Umwälzung, nicht aber ein Tun, ihm diese Sehkraft erst einzupflanzen, denn diese besitzt er schon>spirituell>Erweckung>außer der Weltcon­ dition humaine>Denn das Nichtsein kannst du weder erkennen noch aussagen>Weg>Die spekulative oder logische Philosophie hieß bei den Alten Dialektik. (...) Es ist dies eine Dialektik, ... welche sich in reinen Begriffen bewegt, - die Bewegung des Logischen>in Wahrheit>Er schrieb den bei­ den Elementen (sei!: Einheit und unbestimmte Zweiheit) dem einen die Er­ zeugung des Guten, dem anderen die Erzeugung des Schlechten zu.>nicht so beschaffen sein, wie

Platons Höhle

391

taphysik« in die spekulative Dialektik bei Hegel.44 Hegel vollendete damit das platonische Programm von 518 d 3 ff. und gab ihm eine methodisch strenge Gestalt. Kunstvoll verschränkt Platon die Gleichnisse. Der erste Teil der Höhlenfabel, der die Situation der Menschen in der Welt beschreibt, entspricht dem Sonnengleichnis. Die Höhle bedeutet unsere Welt, das Feuer die Sonne. Das Verbum aphomoiein (asokrati­ schen« Dialoge Platons. Der Nachdenkende muss einfach von den Fesseln des Vorurteils, der Gewohnheit, des »mainstreamDiese Idee, die allein >das Gute< heißen kann, bleibt idea teleuteia, weil in ihr sich das Wesen der Idee vollendet und d. h. zu wesen anfängt, sodass aus ihr erst auch die Möglichkeit aller anderen Ideen entspringt>das Seiendste des SeiendenZweistufigen>Wertvollstes>Spiel>Ernsthafteste>Wenn wir glauben, Platon habe bewußt davon Abstand

V gl. Hans Joachim Krämer, Arete bei Platon und Arete bei Platon und Aristoteles, Beideiberg 1959, S. 380 ff.- Ders., Platons Ungeschriebene Lehre in: Kobusch/Mojsisch (Hg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuerer For­ schungen, Darmstadt 1996, S. 249 ff. 2

Thomas Alexander Slezak, Mündliche Dialektik und schriftliches Spiel, in: ebd., S. 115 ff.

3

Harold Cherniss, The Riddle of the Early Academy, Los Angeles/Berkeley 1945. - Kurt von Fritz,

Schriften zur griechischen Logik

I, Stuttgart/Bad

Cannstatt 1978, Beiträge X und XI, S. 175 ff und 215 ff. 4

Cornelia J. de Vogel, Probleme der späteren Philosophie Platons, in: Jürgen Wippern (Hg.), 1972, s. 41 ff.

Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons,

Darmstadt

Der späte Platon

397

genommen, die innerste Bedeutung seiner Philosophie in seine Dia­ loge einzuschließen und sie nur einem sorgfältig ausgewählten Kreis von Eingeweihten zugänglich zu machen, dann muß es so scheinen, als ob die wenigen, zumeist sehr dunklen und sehr schwer zu ver­ stehenden Anspielungen auf Platons Vorlesung peri tou agathou- von der übrigens angenommen wird, sie sei eine öffentliche Vorlesung gewesen, nicht eine Vorlesung für die ausgewählten wenigen - das bedeutendste Zeugnis seien, das wir von Platons Philosophie besit­ zen ... Offenkundig wird jedoch dies vorausgesetzt: daß Krämer und seine Freunde die intellektuellen Fähigkeiten der ausgewählten We­ nigen von Platons Akademie besitzen und damit die vorgängigen Er­ fordernisse für ein wahres Verständnis in einem solchen Grade, daß sie Platons mündlichen Vortrags nicht bedürfen, sondern die innerste Bedeutung seiner Philosophie sogar auf der Grundlage einiger weni­ ger Zeilen seiner mündlichen Lehre, die uns durch indirekte Tradi­ tion vermittelt sind>eingreifendes Denken>Wenn nämlich die Leute meinen, durch den Erlaß von Gesetzen, welcher auch immer. werde jemals ein Staatswesen gut eingerichtet, ohne daß einHerrscherturn da ist, welches im Staate für die alltägliche Lebensführung sorgt, daß sie besonnen und mannhaft sei bei Sklaven und Freien - so denken sie nicht recht.(...)Denn auch die früheren Staatswesen wurden im allgemei­ nen so eingerichtet und kamen dann zur rechten Ordnung, unter demDruck großer Ereignisse, die im Kriege oder unter anderen Umständen eintraten, wenn in solcher Weltstunde ein vollkommener Mann mit großer Macht ein­ geboren wurde>Handelsobjekt>Dion war eine strenge, herrische Natur, die es nicht verstand, die Menschen richtig zu nehmen und an sich zu fesseln. Allerdings war er ohne Zweifel von idealen Gedanken erfüllt; die volle Bürgschaft, die Plato wieder und wieder für die Reinheit seiner Absichten übernimmt, muss auch für uns gelten>Zustand>Affektion>Disposition>ZustandZustand>in der Kategorienschrift zum erstenmal unüber­ sehbar die ontologische Dimension dieser Lehre zum Vorschein kommt>Zum erstenmal>Daß die Lehre von den Kategorien während der

a. a. 0., S.

darf Oehler sagen, weil er die

Jahre des Aristoteles in der Akademie ausgearbeitet worden ist, scheint mir sicher zu sein>passive Qualitäten und Eigenschaften«, RoHes >>passive Qualitäten und Affektionen«; Cooke hat >>passive qualities« für >>natural capacity>Nämlich in beinahe allen diesen Fällen werden die Gattungen relativ verwendet, das einzelne aber nie ... Kein einzelnes wird hinsichtlich dessen, was es genau ist, auf ein anderes bezogen>weder in einem

Zugrundeliegenden, noch werden sie von einem Zugrundeliegenden ausgesagt« (1 b

3 f.), sie sind einfach sie selbst

(KaB' au'r6).

Was aber ein Selbstsein, ein ens a se, ist, wird nun zur ontologi­ schen Grundfrage. Die Primärdefinition des Relativen - >>Relativa werden solche Dinge genannt, von denen gesagt wird, dass sie das, was sie gerrau sind, bezüglich anderer Dinge oder in irgendeinem sonstigen Verhältnis zu anderem sind«

(6 a 36 f.)- geht jedenfalls weit

über das hinaus, was zunächst in den folgenden Sätzen als Beispiel angegeben wird: Aussagen in Vergleichsform. Auch die dann fol­ gende Erweiterung des Kategorialbereichs - >>Es gehören aber auch Dinge wie diese zu den Relativa: Haltung, Zustand, Wahrnehmung, Wissen, Lage. Denn alles Genannte wird als das, was es eigentlich ist, und als nichts anderes, bezüglich anderem bezeichnet«

(6 b 2-4)- ist

noch nicht ausreichend. Denn im Sinne der Primärdefinition wäre ja auch jedes Bedingte relativ auf das Bedingende und jedes Verur-

59

>>Die Dinge werden teils von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, ohne in einem Zugrundeliegenden zu sein ... Teils sind sie in einem Zugrundeliegenden, ohne von einem Zugrundeliegenden ausgesagt zu werden. Mit >in einem Zugrun­ deliegenden< meine ich, was in etwas ist, nicht als ein Teil, und nicht getrennt von dem existieren kann, worin es ist>unteilbar und der Zahl nach eins>Dieses-da>ersten Substanz>Substanz« oder vielmehr als das >>Zugrundeliegende«

(im:oKELflEVov), gefasst und auf­

gefasst.65 Die Sprachform gibt zunächst keine Unterscheidungsmerk­ male an, ob etwas ein Einzelnes oder ein Allgemeines ist. Aristoteles hat die logische Verschiedenheit von Einzelgegen­ stand, Gattungsallgemeinem und Verdinglichung durchaus bemerkt, wie wir schon an vielen Stellen gesehen haben. Aber im Hinblick auf das Kategorialsystem passt er sich der grammatischen Formbestimmt­ heit an, das heißt, er orientiert die Kategorien als

Aussageformen an (ovaia) bzw. dessen, was ist ('ro 'rt ranv), und dessen, was in bestimmter Weise ist ('Co 'rt �v dvcu) fasst alle jene sprachlichen Ausdrücke zusammen, die durch der Sprachform. Die Kategorie der Substanz

Substantivierung gebildet werden können und mithin Eigenschaftli­ ches, Verbales (als nomina actionis), ja komplex Syntaktisches, Sub­ ordiniertes als

einen Gegenstand, als an sich seienden identischen

Sachverhalt darstellen. Julius Stenze! hat auf diese Besonderheit des Griechischen als den philosophischen Charakter der Sprache hinge­ wiesen: >>Die griechische Sprache kann mit einer ganz ausnehmen­ den Leichtigkeit substantivieren. Sie kann mit Hilfe der einfachen Vorsetzung des Artikels die verwickeltsten Bedeutungszusammen­ hänge, die durch grammatische Form, adverbielle Zusätze und Sub­ jekt-Objekt-Beziehungen determiniert sind, zu einer Bedeutungs­ einheit stempeln und diese wieder in neue Zusammenhänge stellen. Diese Kraft artikulierender Vereinheitlichung ist die wesentlichste Vorbedingung philosophischer BegriffsbildungDer Artikel vermag ein Adjektiv oder ein Verbum zum Dingwort zu machen; solche >Substantivierungen< setzen in wissen­ schaftlich-philosophischer Sprache dem Denken feste >Gegenstände< . Aber die Substantiva, die damit entstehen, bezeichnen etwas anderes als die gewöhnlichen Ding- und Gegenstandsworte, und die eigentli­ chen Dinge und Gegenstände sind verschieden von den durch Sub­ stantivierungen bezeichneten >Gegenstände des Denkens< ... Wichtig ist die Bedeutung des bestimmten Artikels in diesen Abstraktionen ...

65

Das zeigen nicht nur die Unterscheidungen in Kat. 2, 1 a 20- lb 9, sondern ebenso die Schlusssätze von Met. V, 8, 1017 b 13 und 1017 b 21-26. Hierzu wäre auch Met. VII , 13, 1038 b 2-6 zu vergleichen.

66 Julius Stenze!, Über den Einfluss der griechischen Sprache auf die philosophi­

sche Begriffsbildung, in: Kleine Schriften zur griechischen Philosophie, Darrn­ stadt 1956, S. 22 ff., hier S. 83.

Kategorienlehre

523

Die allgemeine Bedeutung des substantivierten Adjektivs und Ver­ bums, gerrau wie die des allgemeinen Begriffs ist in der Sprache nur mit Hilfe dieses generellen bestimmten Artikels formulierbar, sodaß die Existenz des bestimmten Artikels die Voraussetzung ist für die philosophische Begriffsbildung>Vergegenständlichung>Abstrakta«- bezeichnet. Die nominativische Konstruktion des Sub­ jekts ist den indogermanischen Sprachen eigen (anders etwa im Karth­ welischen, wo das Subjekt in einem Casus ergativus steht, oder in Eskimosprachen, die dafür den Possessivus gebrauchen), und gerrau diese Gemeinsamkeit von Bedeutungen in allen drei kategorialen Grundgenera, zu Satzsubjekten hypostasiert werden können und dann eine grammatische Form zu besitzen, wird in der Kategorie des >>etwas überhaupt«

('Co 'CL i:anv) erfasst.

Es sind im Wesentlichen diese grammatischen Aspekte, die in der Erörterung der Substanzkategorie in der Kategorienschrift zur Spra­ che kommen. Im Verhältnis zu der elaborierten Substanz-T heorie, wie sie in der Metaphysik vorliegt, sind die Ausführungen in Kapitel 5 der Kategorien mager. Der Schwerpunkt liegt auf der Unterschei­ dung der >>ersten« und >>Zweiten« Substanzen, also der Einzeldinge, denen sprachlich ein Nomen proprium entspricht, und der Allge-

67 Snell, Die Entdeckung des Geistes, a. a. 0., 2. Auf!. 1948, S. 219. 68 Hugo-Schuchardt-Brevier, hg. von Leo Spitzer, Halle 1928, S. 254 ff.

524

Aristoteles

meinbegriffe, die Arten und Gattungen bezeichnen und die aus dem Übergang von der Benennung eines einzelnen Gegenstandes zum Be­ griff, als dem verallgemeinerungsfähigen Namen für diesen Gegen­ stand als einen Gegenstand dieser Art hervorgegangen sind. 69 Es ist der logische Unterschied im Gebrauch des Substantivs als Einzel­ namen oder als Allgemeinbegriff, der Aristoteles die Klassifikation in >>erste« und >>zweite>erste« und >>zweite« Substanzen keine Rolle. Erst eine Bevorzugung des Organon in der Aristoteles­ lnterpretation aus analytischer Denkweise führte dazu, dieser Zwei­ teilung des Substanzbegriffs eine zu große, ja grundlegende Bedeu­ tung für das aristotelische Seinsverständnis beizumessen. (Die Un­ tersuchung des Verhältnisses von Einzelnem und Allgemeinem kann darum auch nur im Zusammenhang einer Explikation der metaphy­ sischen Kategorienkonzeption erfolgen, nicht hier, wo wir uns auf das Verständnis des Textes der Kategorien beschränken).70 Die Kategorienlehre der Kategorienschrift wird nicht dominiert von der Substanzen-Lehre, obwohl diese (sicher noch unausgearbei­ tet, wahrscheinlich sogar unausgereift) immer im Hintergrund steht und - wie wir an der Relationskategorie sehen konnten - den onto­ logischen Horizont definiert, in dem die Lehre von der Apophansis steht. Den Kern der Kategorienlehre bildet vielmehr die Darstellung der KCX'l:YJYOQODf-lEVa, also der Formbestimmtheit der Prädikation; >>Primärschema möglicher Prädikation« heißt es in Ritters Wörter­ buch," was sicher nicht den ganzen Sinn der aristotelische Kate­ gorienlehre trifft, wohl aber ihren hauptsächlichen Akzent in der Kategorienschrift; richtiger ist also wohl Oehlers Deutung, die Ka-

69 Josef König hat diesen logischen Unterschied von Dieses und Etwas dieser Art von Aristoteles aufgenommen und weitergedacht. Vgl. Hans Heinz Holz,

Form­ bestimmtheiten von Sein und Denken, Köln 1982, S. 13 ff, hier S. 26 ff. -Zu Eigennamen und Begriff vgl. Snell, Der Aufbau der Sprache, a.a. 0., S. 151 ff.

Josef Königs Beitrag zu einer spekulativen Logik, in: H. H. Holz (Hg.),

70 Dieser Denklinie folgt die Darstellung in Ritters Wörterbuch, Basel/Darm­ stadt 1976, Bd. 4, Spalte 717, wo es heißt: >>Daher sind die Kategorien nicht Konstitutionsformen im Aufbau von vorliegenden Seienden, sondern vonei­ nander unabhängige Aussageklassen>logischen>Logos«) der Wirk­ lichkeit - jene Ausarbeitungen, von denen her erst der Status der Kategorien, die in ihnen sich manifestierende Beziehung von gram­ matisch-sprachlicher, noematischer und ontologischer Ebene durch­ sichtig gemacht werden kann. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass der formale grammati­ sche Sinn von ovaia, nominativisch gebrauchtes Subjekt eines Satzes zu sein, von Aristoteles durch das an einem formalen Kriterium orientierte Wort urroKELf..LEVOV ausgedrückt wird. Das kategorial ge­ brauchte mediale Verbum KEiaBm ist als Stamm darin zu erkennen­ also die >>Lage« des Subjekts in Bezug auf seine Prädikate -, samt dem Präfix urro, >>darunter«, >>Unter etwas«. Werden also die Aus­ sagebestimmungeil als die Erscheinungsweisen von etwas

('ro

'l:L ranv)

aufgefasst, so ist dasjenige, von dem etwas ausgesagt wird, das diesen Erscheinungsweisen (die wechseln können) Zugrundeliegende, das ihnen gegenüber dasselbe bleibt. Also sind, so müsste man dann sagen, alle prädikativen Bestim­ mungen von dem Zugrundeliegenden ausgesagt (KlX'UJYOQOVf..LEVlX KlXB' urroKELf..LEVou) - und KlX'l:tX mit dem Genitiv bezeichnet den

Gegenstand, der von einem Zustand betroffen ist. Mitnichten! Denn wir hören, dass ein gewisses Weiß (z. B. das des Taj Mahal) in dem Zugrundeliegenden, wie überhaupt jede Farbe in einem Körper ist

(1 a 27)- aber sie wird nicht von ihm ausgesagt als etwas, wozu er in einer logischen oder räumlichen Beziehung steht: Das Weiß-sein des Taj Mahal ist nicht eine Art (so als ob es auch noch ein rotes oder blaues Taj Mahal gäbe), es ist nicht neben noch vor dem Körper, son­ dern in Einheit mit ihm. Wir sehen nun deutlicher, warum Aristo-

72 Oehler, a.a.O., S. 38.

526

Aristoteles

teles die Kategorien Qualität und Quantität anders behandelt als die übrige Gruppe der (Relations-)Kategorien. Qualität und Quantität sind- wenn auch logisch unterscheidbar als >>hinzukommend« (Ka'ra UUflßcßcx6c;) und grammatisch als Adjektive aussagbar - mit dem

Subjekt verschmolzen. Darum kann Aristoteles in der schon er­ wähnten Metaphysik-Stelle 1089 b 23 ff. auch nur drei Grundkate­ gorien nennen: die Wesenheit (oua(a), zu der Qualität (nm6v) und Quantität (noa66v) gehören, die Zustände, in die etwas gerät (mxBTJ), und die Relation (nq6c;

) die jedes Einzelne zu anderem hat. Das

n ,

sind die Gattungen des Seins, und das So-sein, die inhaltlich be­ stimmte Wesenheit, ist eine davon.73 Diese nun ganz und gar in ontologischer Hinsicht getroffene Ein­ teilung brauchte uns hier nicht zu beschäftigen, würde sie nicht schon in der Unterscheidung von EV {moKElflEVCfJ und KaB' {moKELflEVO stillschweigend vorweggenommen; sie bleibt dann allerdings bei der Behandlung der Kategorien nm6v und noa6v in Kat. 6 und 8 völlig außer Betracht, obwohl sie bei den Explikationen in Kapitel 8 gera­ dezu gefordert war.74 Das ist wiederum ein Hinweis darauf, dass sich die Isolierung der aussagetheoretischen Klärung des Kategoriensche­ mas von seiner ontologischen Bedeutung nicht vollständig durchhal­ ten lässt und der volle Sinn der Kategorienschrift erst in der Meta­

physik zutage tritt. Um dem vieldeutigen Sprachgebrauch etwas näher zu kommen, müssen wir nun auf die Metaphysik eingehen, in der die oua(a als U710KELflEVOV, aber begrifflich davon unterschieden, behandelt wird.

Zunächst werden wir da auf die Erörterungen in Met. 7, cap. 3 und 4 stoßen, wo vom »Zugrundeliegenden« auch in logischer Hinsicht, mit Bezug auf die Kategorien, die Rede ist - aber eben im Zusam­ menhang mit der Frage, was denn bei der Bestimmung des »Was­ seins>Logos>Denn man muß nun zwar auch untersuchen, wie man über jegliches zu sprechen habe, doch gewiß nicht mehr, als wie es sich tatsächlich verhält>Erstes>Einesrelativ>Relation>relative terms>konverse Relationen>Platoniker«, was sich ja mindestens mit seinem an­ fänglichen Selbstverständnis deckt und seinen Grund darin hat, dass die Platonrezeption des Mittel- und Neuplatonismus an die Spätwerke Platons anknüpfte, deren Probleme Aristoteles fortentwickelt hatte. Aus den Überschneidungen beider Systematiken ergeben sich dialek-

Erst im Mittelalter bildet sich der Antagonismus zwischen Platonismus und Aristotelismus aus, als in der über die islamische Philosophie vermittelten Rezeption von Physik und Metaphysik die Glaubenswahrheiten ins Zwie­ licht gerieten. Zwei Jahrhunderte später wurde die kritische Intention des Aristotelismus nicht mehr wahrgenommen und in der Renaissance des Dog­ matismus beschuldigt, während der Neuplatonismus eine Wiederauferste­ hung erlebte. Der Umschlag derselben theoretischen Inhalte in entgegen­ gesetzte ideologische Rollen ist bemerkenswert.

Hellenistische Weltanschauungsphilosophien

537

tische Problemkonstellationen, die aber über lange Zeit zu keinem wirklichen Neuansatz führen, sondern mit der Absicht der Treue zu den Meistern behandelt wurden. Erst mit Plotirr beginnt dann noch einmal eine letzte große Phase griechischer Philosophie, die dann nahtlos in die frühchristliche hineinwächst. Unter den Philosophen der Übergangsjahrhunderte ragt in pro­ blemgeschichtlicher Hinsicht Albinos hervor, der zeitlich sicher nahe an Plotirr heranrückt; und neben ihm in ungefährer Zeitgenossen­ schaft Numesios, den man einen Vorläufer Plotins genannt hat oder dem man jedenfalls Einfluss auf ihn zuschreibt. In ihrem Neben­ einander sind die beiden, über ihre bescheidene Originalität hinaus, von Bedeutung, weil in ihnen sich ein tendenzieller Antagonismus ausdrückt, der seit dem Ausgang der Antike die ganze abendländi­ sche Philosophie durchzieht. Bis auf Aristoteles und seine Schule war das Streben der Philosophen einhellig- wenn auch durchaus auf ver­ schiedene Weise - darauf gerichtet, ein Weltverständnis gemäß den Strukturen der Vernunft zu erarbeiten. Gewiss, es gab auch mysti­ sche Strömungen - die Orphik, Teile des frühen, undurchsichtigen Pythagoräismus; aber sie gehören doch eher in die Religions- als in die Philosophiegeschichte. Heraklit hat mit harten Worten die Schwärmer in den Sektenkulten aus der Philosophie verwiesen. Diese Grund­ haltung blieb doch immer den Philosophen gemeinsam erhalten. Er, der die platte Rationalität des Alltagsverstands verachtete und sein Denken ganz der Widersprüchlichkeit in der Welt zuwandte, insis­ tierte doch auf der Strenge der Logik, die die Gegensätze als ein Ver­ hältnis begreift. Dieses rationale Erbe ist als unverzichtbar der Philosophie ge­ blieben. Doch in den Jahrhunderten der Zeitenwende kommt etwas Neues hinzu. Hatte sich im Hellenismus der ganze Orient gräzisiert, so waren umgekehrt auch zahlreiche Elemente religiöser Weltanschau­ ungen in das griechisch-römische Denken eingedrungen. Aus Anlass der Gnosis wird darüber noch zu sprechen sein. Ich neige nicht dazu, wie manche Gelehrte, von einer orientalischen Überfremdung zu sprechen. Es gab auch frühe autochthone mystische Kulte in Grie­ chenland, wie die Eleusinien,2 der Dionysos-Kult kam aus Kleinasien und wurde schnell in Griechenland assimiliert. Jede irrationalistische Weltanschauung findet im Volksaberglauben einen Nährboden vor.

2

Vgl. Eric Robertson Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970; siehe Stichwort Eleusis.

538

Abschluss der Antike

Dass sich in der Philosophie ein mystischer Irrationalismus sozusa­ gen gleichberechtigt durchsetzen konnte, hat nicht allgemein kultur­ anthropologische, sondern gesellschaftliche Gründe. In der griechi­ schen Polis, in Rom waren es die gesellschaftlichen Lebensformen und Institutionen, die Individuum, Geschichte und Naturwelt zu einem Kosmos, einer Welt-Ordnung zusammenbanden. Das ergab einen ob­ jektiven, den Individuen übergeordneten Sinn. Der Logos als Begriff eines Ordnungsverhältnisses, als Vernunft und Sinn, spiegelt das. Bei Heraklit wurde es thematisiert. Jeder Bürger war als Bürger, als Polite, Träger und Moment dieses Sinns. Mit dem Zerfall der gesellschaft­ lich organisierenden Bürgergemeinden zerfiel auch diese Sinneinheit. Man kann sagen, Alexander der Große gab ihr den Todesstoß. Die Restaurationsversuche einiger bedeutender römischer Kaiser waren schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie sich sinngemäß eigentlich nur auf das stadtrömische Zentrum des Reichs, auf den Geist der Quiriten beziehen konnten. Die Oikumene erforderte eine andere Ideologie. Ihr war rational das Weltbürgertum der Stoa, irrational die individuelle Heilssuche der Sekten in den gnostischen Strömungen angemessen - bis schließlich das konstantinische Chris­ tentum die Verwirrung ablöste. Dahin ist noch ein weiter Weg. Dass auf ihm die Philosophie sich im Sektenturn nicht zersetzte, ist der fortwirkenden vereinheitlichen­ den Kraft des Platonismus zu verdanken, in den der Aristotelismus mit eingegangen ist. Träger dieser Platonismus-Kontinuität waren im engeren Sinn die platonische Akademie, im weiteren alle jene Philo­ sophen, die sich der Akademie zugehörig fühlten und aufgrund ihrer Auffassungen von der Mitwelt und Späteren so eingeschätzt wurden. Das war allerdings längst keine reine Lehre Platons mehr, vielmehr mit skeptischen und kynischen Motiven durchsetzt und vor allem mit neupythagoräischen Einflüssen kombiniert, sodass es schon im Altertum und erst recht danach schwer fiel, einen Denker den Neu­ pythagoräern oder den Neuplatonikern zuzuordnen; Numenios ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Mit Gewissheit vom Pythagoräismus unterscheidet sich Albinos, der unzweideutig und unnachgiebig auf der Rationalität von Argu­ mentation und Systematik bestand. Ich möchte darin ein Indiz für eine starke Bindung an eine aristotelische Denkweise sehen, wie sie in der Frage nach der ersten Ursache aufscheint, wovon Proklos zitiert, Albinos sei der Meinung gewesen, >>daß laut Platon der Kos­ mos, obwohl nicht geschaffen, einen Urgrund des Werdens gehabt

Hellenistische Weltanschauungsphilosophien

539

habe, sodaß er gleichzeitig ewig und geschaffen sei, in dem Sinne, daß er nicht im Laufe der Zeit geschaffen wurde, sondern daß eine Er­ klärung für seine Erschaffung - da er eine Zusammensetzung vieler ungleichartiger Teile war - nötig sei« (in Tim. 219,2). Das ist der Gedankengang des Aristoteles in Met. XII, gerrau mit der Pointe, dass die erste Ursache nicht substantiell-personal (»unbewegter Be­ weger«), sondern strukturell (>> erstes Bewegendes>Es ist aber klar, daß wenn Albinos die Ausdrücke protes ouranou geneseos bzw.

aei en genesei estin benutzt, diese für ihn bedeuten, sofern es von der ersten Ursache metaphysisch unabhängig ist bzw. sofern es von der ersten Ursache ewig abhängig ist«.4 Für Albinos ist Gott ein Ord­ nungsprinzip, nicht Schöpfer, sondern Regulator der Mannigfaltig­ keit, das heißt der vielen Ideen, die im nous, in der Weltseele ver­ knüpft sind. Der himmlische nous (ouranios nous) ist der Kosmos in seiner Geordnetheit, als unstrukturiertes Chaos gäbe es überhaupt nichts.5 Der enge Zusammenhang des Aristoteles mit dem späten Platon wird bei diesem Epigonen sichtbar, der beide so zusammen­ bringt, dass sie in eine Konzeption einmünden: die Transzendenzbe­ ziehung in einer immanent strukturellen Dialektik aufzulösen. Die Formulierung mit Hilfe des doppelten Dativs ist bemerkenswert.6

Hypo tou patros darf nicht theistisch interpretiert werden. Vater ist die metaphorische Bezeichnung der Einheit des Ursprungs- unde­ finierbar, weil jede Definition die Zweiheit von definiendum und definiens impliziert. >>Nur in diesem Sinne kann Albinos, wie Platon, Gott Vater nennen, weil er die Ursache aller Dinge ist, und weil er den himmlischen nous und die Weltseele ordnet und zu sich zieht. Folglich ist dieser kosmische Nous als unmittelbare (wenn auch ver­ mittelnde) Ursache der Ordnung und Finalität in der Welt zu interpreueren«. •

3

7

Man muss daran erinnern, dass Xenokrates ja zeitweilig zum Kreis von Aristo­ teles gehörte.

4

J. H. Loenen, die Metaphysik des Albinos, in: Clemens Zintzen (Hg.), Der Mittelplatonismus, Darmstadt 1981, S. 98 ff, hier S. 103.

5

Ebd., S. 119 ff.

6

Ebd., S. 113.

7

Ebd.

540

Abschluss der Antike

Noch einmal die, wie mir scheint, vortreffliche Zusammenfassung von Loenen: >>Diese Form von Platonismus wäre natürlich historisch unmöglich gewesen, wenn sie nicht von Aristoteles beeinflußt worden wäre. Dies gilt aber auch für Plotin, der den Nous in dieser Weise nie als eine Hypostase hätte betrachten können, wenn er die Lehre von Akt und Potenz nicht gekannt hätte. Wenn dies die Originalität Plotins gar nicht beeinträchtigt, so ist das auch bei Albinos nicht der Fall. - Die Originalität des Albinos besteht in der konsequenten Verbindung dreier Vorstellungen: a) der unabhängigen, ewigen Exis­ tenz der Materie und der Weltseele; b) der nicht zeitlich aufzufassen­ den Erschaffung des Kosmos als solchen durch Gott; c) des Begriffes des letztursächlichen Charakters der Ursächlichkeit Gottes«.8 Der metaphysische Dualismus von Materie und Form (d. i. Seele), der die aristotelische Aspektivität beider Momente substantialisiert und damit ihre Einheit zerreißt, ist Gemeingut des vorplotinischen Pla­ tonismus. Es kommt darauf an, wie man in der dritten These Gott auffasst. Albinos versteht darunter das kinein akineton. Ob das nun aristotelisch ist oder nur eine radikale Auslegung des Timaios, kön­ nen wir dahingestellt sein lassen. Jedenfalls ist auch eine entgegenge­ setzte Auffassung der dritten T hese möglich: Gott ist das nur in mystischer Erfahrung fassbare absolut Transzendente. Das ist die pythagoräische Interpretation Platons statt der aristotelischen. Sie finden wir prononciert bei Numesios. Er hat die Grundlage für den späteren christlichen Platonismus gelegt. Die Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotirr immerhin fünf Jahrhunderte übergreifend - ist ein personenreiches Stück mit vielen philosophischen Facetten. Ich stelle den Numesios dem Albinos entgegen, weil sie antithetische Positionen einnehmen, weil sie in zeitlicher Nähe zueinander stehen und daher vergleich­ bare Umstände hatten, weil beide in ihrer Zeit hoch geschätzt wur­ den und Einfluss ausübten.9 Die für den ganzen Mittelplatonismus geltenden Merkmale sind jedenfalls in dieser Zeit mit großer Präg­ nanz entwickelt worden und waren in der intellektuellen Welt weit verbreitet: >>Das entscheidende Merkmal liegt ohne Zweifel in der Konzentration auf die Lehre von der gestuften Transzendenz ... Das zweite wichtige Merkmal ist darin zu finden, daß der Schöpfungs-

8

Ebd., S. 116.

9

Zu Numesios vgl. Henri-Charles Puech, Numenos von Apameia und die orien­ talischen Theologien, ebd., S. 451 ff., hier S. 452.

Hellenistische Weltanschauungsphilosophien

541

mythus des Timaios so gedeutet wird, daß nach Platon die dort be­ schriebene Schöpfung nicht wirklich in der Zeit stattgefunden und daß die Materie von Ewigkeit bestanden haben soll ... Die Ausbil­ dung dieser Lehrstücke in einer für den Außenseiter leicht erreich­ baren Form hat, wie es scheint, gerade um die Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts stattgefunden: In dieser Periode muß Albinos durch seine beiden Handbücher für den mittleren Platonis­ mus die wohl am meisten repräsentative Lehre der Gaiosschule fest­ gelegt haben und nach den Untersuchungen Rudolf Beutlers dürfen wir annehmen, daß damals auch die Hauptschriften des doch überwie­ gend als Platoniker zu betrachtenden Numesios erreichbar wareneinfachen Sittlichkeiteinfache Sittlichkeit>Welt ist ein umschlossener Teil Himmel, der Sterne, Erde und alle Erscheinungen umfaßt; er hat einen Ausschnitt von dem Unbegrenzten inne ... und endet in einer lockeren oder dich­ ten Grenze, die sich in Umdrehung oder Stillstand befindet, bei de­ ren Auflösung alles darin zusammenstürzen wird>Nicht nach leeren Grundsätzen und Festlegungen muß man die Natur er­ forschen, sondern wie es die Erscheinungen erfordern.«16 Marx Hochschätzung des Epikur steht noch ganz unter hegeli­ schen Vorzeichen. In seiner Dissertation und mehr noch in den vor­ angehenden Notizheften bevorzugt er Epikurs naturphilosophischen Materialismus gegenüber dem demokritischen, weil er darin die kon­ sequentere Reflexionsform des subjektiven Bewusstseins sieht, wäh­ rend Demokrit sich von der Objektivität des Materiellen bestimmen lasse. Das ist der Standpunkt von Hegels Phänomenologie des Geis­

tes, die ja die Reflexion auch in der Subjektstellung zur Objektivität begründet.17 Es ist symptomatisch, dass die Epikur-Rezeption weit-

15

Epikur, Brief an

16

Ebd., S. 86.

17

Pythokles, hg. von Emilie Bör, Berlin

1954, S. 88.

Dem entspricht in Hegels Rechtsphilosophie die Ableitung des Rechts aus dem Willen. Dass Marx' Hegel-Kritik in den

Ökonomisch-Philosophischen Manu-

Hellenistische Weltanschauungsphilosophien

547

gehend seinen naturphilosophischen Materialismus in den Mittel­ punkt rückt, die für ihn doch gerade kein philosophischer Selbst­ zweck, sondern ein Korollar seines Hedonismus war, damit wir >>ohne Unruhe leben«.18

3. Die Stoa Wie den Epikuräern ist auch den Stoikern die eudaimonia des ein­ zelnen das Lebensziel, auf das die Philosophie hinleiten soll; und für die einen wie die anderen ist die Erkenntnis des Richtigen durch die Vernunft, den Logos, der einzige Weg, der zu diesem Ziel führt. So >>war es auch für Zenon von vornherein selbstverständlich, daß das Ziel alles Lebens in der Glückseligkeit zu sehen ist. Er bestimmte sie als das Leben in Übereinstimmung. Er verstand darunter ein von einem und in sich einheitlichen Prinzip geleitetes und darum auch in ungetrübter Freudigkeit ablaufendes Leben ... Die Überzeugung, daß es für den Menschen nichts Unerträglicheres gibt als innere Zer­ rissenheit, ist der Ansatzpunkt seiner ganzen auf Glückseligkeit ge­ richteten Überlegungen«.19 Wir könnten geneigt sein, das im Sinne moderner psychotherapeutischer Auffassungen zu sehen. So ist es jedoch mit Gewissheit nicht gemeint. Was bei Zenon hypologou­

menos zen und dann bei Chrysipp homologoumenos te physei zen bedeutet,20 bedarf angesichts auseinanderführender Interpretationen einer kritischen Prüfung. Barths Formulierungen sind in ihrer Allge­ meinheit sicher richtig, besagen aber noch wenig, solange unklar bleibt, was eigentlich das Prinzip sei. Darüber bestanden aber schon in der stoischen Tradition Meinungsverschiedenheiten, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen. Der Sinn der seit Chrysipp feststehenden, zum Grunddogma der stoischen Schule gehörende und die ethische Kernformel ergänzende

skripten

von der

Phänomenologie des Geistes

ausgeht und in der Kritik von

Begeis Rechtsphilosophie. Einleitung vom politischen Bewusstsein - während Lenin mit Begeis

Wissenschaft der Logik

beginnt - ist von systematischer

Bedeutung. Später orientiert Marx sich in der Struktur des der Struktur der

Wissenschaft der Logik;

Kapital

scheiden.

Brief an Pythokles,

18

Epikur,

19

Paul Barth, Albert Goedeckemeyer,

S. 87.

20

Max Pohlenz,

Kleine Schriften,

auch an

der junge Marx ist davon zu unter­

Die Stoa,

Stuttgart 1946, S. 85.

Bd. I, Bildesheim 1965, S. 28 ff.

548

Abschluss der Antike

Zusatz te physei ist grammatisch wie semantisch mehrdeutig. »Mit Natur (natura, physis) kann nun in stoischen Texten die Universal­ natur (koine physis) im Sinne eines organisch strukturierten Welt­ ganzen gemeint sein, das identisch ist mit Gott. Natur in diesem Sinne ist die Begründungsbasis von allem, was der Schätzung wert ist. Natur kann aber auch bedeuten die spezifische natürliche Struktur und Verfassung einzelner Dinge (he kata meros physis). Und in die­ sem Sinne hat alles, was mit dieser Verfassung (dem Wesen) zusam­ menstimmt, einen bestimmten Wert für das Ding ... Nun erreichen viele einzelne Organismen nicht jene Gestalt und Lebensform, die ihre besondere Natur ihnen vorgibt. Im Blick auf diese spezifische Natur können defiziente Zustände, Verhaltensweisen wie nachteilige Umstände als naturwidrig und schlecht bezeichnet werden; dies aller­ dings nur aus einer Perspektive, die das Einzelne ohne Rücksicht auf seine Beziehung zum Weltganzen (he ton holon physis) betrachtet. Aus einer Sicht des Ganzen - so die stoische T hese - sind alle na­ türlichen Dinge und Ereignisse naturgemäß, d. h. Elemente eines har­ monischen Zusammenhangs. Das Universum als Ganzes ist voll­ kommen und seine Vollkommenheit ist vereinbar mit dem Umstand, daß eine Anzahl einzelner Dinge nicht die ihnen eigene Vollendung 1 erreicht«.2 Einzusetzen ist beim Begriff der physis. Hier wirkt natürlich Aris­ toteles nach. Physis ist nicht die platonische des Timaios, sondern jene, die Aristoteles in der Physik beschrieben hat: die universelle Welt des materiellen Seienden. Außerhalb ihrer ist nichts, und wenn überhaupt Gott gedacht wird, dann eben pantheistisch als diese All­ natur. Den Materialismus Zenons hat Barth scharf herausgearbei­ tet.22 Dieser metaphysische Naturbegriff ist zweifellos prioritär, der Begriff einer individuellen Wesensnatur davon abkünftig. Die All­ natur ist Ursprung der Notwendigkeit (heimarmene), ihre Ordnung ist der universelle Logos, an dem der menschliche wesensgleich, aber endlich-begrenzt teilhat. Die Natur im ganzen, als Kosmos, ist voll­ kommen, auch wenn sie partikulär Unvollkommenes einschließt. So ist der Dativ in homologoumenos te physei zen zu lesen, als ein Dativ der Richtung, auf die hin sich das vernünftige, tugendhafte Leben bewegt. Das Telos ist der Einklang mit der Natur, was erst sekundär die Übereinstimmung mit sich in seiner Wesensnatur (als Dat. Com-

21

Maximilian Forschner, Die stoische Ethik, Darmstadt 1995, S. 160 f.

22

Barth, Goedeckemeyer, a. a. 0.

Hellenistische Wel tanschauungsphil osophien

549

mutationis) meint. Das metaphysische Telos der kosmischen Harmo­ nie ist der Leitgedanke, der in das ethische Postulat des tugendhaften Verhaltens umschlägt. Beide sind im logos verknüpft.23 Das Adverb homologoumenos muss über seine formale Bedeu­ tung hinaus auch daraufhin abgehört werden, was mitklingt. Die grammatische Form verweist auf einen abgeschlossenen Vorgang des in-Einklang-Gebrachtseins. Der Träger des Vorgangs ist der Logos: Mit ihm oder in ihm wird etwas gleichgesetzt. Stobaios hatte nicht unrecht, wenn er sagte, der Kernformel homologoumenos zen fehle das Bezugsglied, darum sei te physei hinzugefügt worden. In der Tat bekommt die Formel so erst die ontologische Dimension, in der das ethische Postulat begründet ist. »War bisher gezeigt, daß die Natur selbst den Menschen auf ein bestimmtes Leben hinführt, so wird ihm jetzt ein Ziel als eigene Aufgabe gesteckt, und die Natur wird aus der Kraft, die sein Wesen konstituiert, zu der normierenden Macht, an die er Anschluß suchen muß, um von sich aus den Weg zu finden«.24 Die Stelle bei Diog. Laert., die diesen kosmischen Hori­ zont des Lebensziels ausdrücklich Zenon zuschreibt, unterläuft die anthropologische Auslegung, es gehe um die Selbstverwirklichung des eigenen Wesens. Erst im Status, Teil des kosmischen Naturgan­ zen zu sein, gewinnt das Selbst eine teleologische Bedeutung; der Kontext ist die Selbsterhaltung, die ein allgemeines Naturprinzip ist; für seine Selbsterhaltung Sorge tragend, verhält sich der Mensch als Naturwesen und steht im Einklang mit dem Prinzip der Natur. >>Der erste Trieb, der sich bei einem lebenden Wesen regt, so sagen sie, sei der der Selbsterhaltung; dies sei eine Mitgabe der Natur von Anfang an ... Denn es war doch nicht zu erwarten, daß die Natur das lebende Wesen sich selbst entfremde ... Es bleibt also nur übrig zu sagen, daß sie es nach vollzogener Schöpfung mit sich selbst befreundet habe. Denn so wehrt es alles Schädliche ab und verschafft allem, was seiner Eigenart dienlich ist, freien Zutritt>weltanschaulichen Gebrauchswert>machtgeschützten Innerlichkeit« des wilhelminischen Bürgertums könnte auch hier zutreffen. Ernst Howald hat mit Bissigkeit diese Lebenseinstellung charakterisiert: >>Die Weltanschauung des Durch­ schnitts goß sich in die Form des Durchschnitts. In der Stoa wurde das ungeheure Erbe des Aristoteles, das noch ein bis zwei Men­ schenalter lang nach des Meisters Tod in seinen direkten Schülern das Wertvollste der ganzen alten Wissenschaft gezeitigt hatte, popu­ larisiert ... Es handelte sich überhaupt nicht, wie doch in aller wah­ ren Ethik, um die Widersprüche zwischen der Gattung und dem In­ dividuum, das gerne Herr sein möchte in sich und doch nur Teil der Gattung ist; das Objekt der stoischen Ethik war vielmehr der Mensch (nicht das Individuum, sondern die Gattung in ihren einzelnen Ver­ tretern), der gegen widrige Schicksale ankämpft - also ausgespro­ chen eine Ethik gegen außen«.26 Auch schon in ihren griechischen Ursprüngen hatte die Stoa neben dem enzyklopädischen Erbe des Aristoteles (von Chrysipp bis Po­ seidonios) den sokratischen Moralismus übernommen, mit einer der Zeit entsprechenden Diminuierung der staatsbürgerlichen Aspekte auf private kleinbürgerliche (was bei Sokrates immer angelegt war). Die Möglichkeit, eine politische Haltungsethik in eine Tugendlehre umzuformen, erlaubten der Stoa in der Kaiserzeit, an den Werte­ kanon der römischen Republik anzuschließen und eine ideologische Kontinuität herzustellen, die dem cives Romanus als Weltanschau­ ungsgrundlage dienen konnte. Die altrömischen Wertbegriffe pietas,

virtus, labor, moderatio, constantia etc.27 waren schon in den Bürger­ kriegen verkommen. Für die Wiederherstellung der res publica konnte der Wertkonservativismus des Augustus sich auf die stoische Tugend­ lehre stützen, die von Seneca publikumswirksam auf die altrömischen

26

Ernst Howald, Die Weltanschauung Senecas, in: Gregor Maurach,

Philosophie, Darmstadt 1976, S. 190 ff, hier: 190 f. 27 Hans Oppermann (Hg.), Römertum, Darmstadt 1962. sche Wertbegriffe, Darmstadt 1967.

-

Römische

Ders. (Hg.),

Römi­

552

Abschluss der Antike

Staatstugenden bezogen wurde. Von daher verbinden sich in der hu­ manistischen Sittlichkeit des frühen Bürgertums freiheitlicher Bür­ gersinn, Ehrenhaftigkeit, Rechtlichkeit, Treue mit der Tradition der Stoa,28 die noch für die Jakobiner in der französischen Revolution eine Orientierung bildete: die Tugend bei Robespierre und St. Just ist stoischer Provenienz; schon bei Augustus wurden Tugendpostu­ late zum Motiv staatlicher Gewalt. Die Ambivalenz des Tugendbe­ griffs in seiner abstrakten Allgemeinheit zeigt sich darin, dass er gleichermaßen zur Legitimation revolutionären und konterrevolu­ tionären Terrors gebraucht werden kann.29 Philosophisch war die römische Stoa unergiebig. Sie gab Lebens­ hilfe und stellte mit ihrem Schicksalsbegriff einen vordergründig ra­ tionalen Religionsersatz dar. In beiden Funktionen blieb sie aber über alle gesellschaftlichen Formationsveränderungen hinaus wirk­ sam (was gegen ihre Authentizitiät in der Rezeptionsgeschichte miss­ trauisch machen sollte). In der Spätantike wurden die Problemper­ spektiven der spekulativen Dialektik in zwei Blickrichtungen gelenkt, die von ihrer eigentlichen Intention abführen: Neuplatonismus, Gno­ sis und Christentum auf eine nur irrational zugänglich zu machende Transzendenz, durch die die Stoa auf eine resignative Einpassung in die diesseitige Wirklichkeit und Utopieverzicht hier, schwärmenden Utopismus dort gelenkt wurde und beiderseits kein begriffliches Zentrum für eine Integration von Dasein und Welt im ln-der-Welt­ sein abgeben konnte. Dass die römische Stoa der Metaphysik ihrer griechischen Her­ kunft entsagte, entsprach der Weltanschauung, deren gesellschafts­ stabilisierende Funktion sie übernahm. Erstaunlich ist, dass es ein kulturbildendes Volk ohne Metaphysik gibt. Ja sogar ohne eine My­ thologie außer jener, die sich auf die Ordnung der civitas bezog. Vielleicht war in späterer Zeit das Eindringen orientalischer Sekten und Okkultismen das Komplement, durch das dann im Zerfall der civitas das Vakuum gefüllt wurde. Die Reichseinheit erforderte die

Beschränkung der Religion auf die politische Bindung an die Staats-

28

Iustus Lipsius, Opera Annaei Senecae, Antwerpen 1632 (3 §. Auflage letzter Hand). Dieterich Tiedernann, System der stoischen Philosophie, Leipzig 1776.

29

G. W. F. Hege!, Phänomenologie des Geistes, Gesammelte Werke, Bd. 9, S . 316 ff. (Die absolute Freiheit und der Schrecken).- Hans Heinz Holz, Tu­

gend und Terror, in: Revolutionstheorie heute, Marxistische Studien 14, Frank­ furt arn Main 1988, S. 181 ff.

Hellenistische Weltanschauungsphilosophien

553

idee. Sie gestattete im Rahmen ritueller Formalien größte Toleranz und eine abstrakte, alle kulturellen Verschiedenheiten überspannende Ethisierung des gesellschaftlichen Lebens. Gerade die Ahistorizität der stoischen Normen machte sie für diese politische Rolle geeignet. Sie garantierte eine allgemeine Rationalität des Lebenseinstellung. Als Philosophie ist die römische Stoa eklektisch und epigonal. Ihr Eklektizismus hat allerdings dazu beigetragen, dass die platonische und die aristotelische Traditionslinie in verschiedenartigen Mischun­ gen durch das ganze Mittelalter bis in die Neuzeit hinein weiterge­ führt wurden. Reinen Platonismus gab es eigentlich nur da, wo Dionysios Areopagita zur dominanten Autorität wurde. Der epigo­ nale Charakter der römischen Stoa prägt sogar das weitaus bedeu­ tendste philosophische Werk der Kaiserzeit, das in der Tendenz epi­ kuräische Lehrgedicht des Lukrez über die Natur. Wüssten wir mehr von Epikur und vielleicht auch von Leukipp, so würde die Abkunft des Lukrez von griechischen Vorgängern deutlicher erkennbar; so gibt uns nur der Duktus seiner Darstellung, die Leichtigkeit, mit der er schwierige Probleme glättet, die geringe Widerständigkeit beim Konstruieren von Zusammenhängen einen Hinweis darauf, dass ihm die Originalität der Denkbewegung abgeht. Um diese Einschätzung nicht abwertend klingen zu lassen, sei er mit Ovid verglichen: Was dessen Metamorphosen für die Mythologie sind, ist De natura von Lukrez für die Philosophie; die Adaptation des griechischen Erbes von einer spätzeitliehen Höhe aus, auf der man die vielfachen Motive wie einen >>rühmlichen Teppich« (Rilke) ausgebreitet sieht. Die weltanschauliche Leistung der Stoa ist, wie gesagt, größer als ihre philosophische. Über Jahrhunderte hinweg, in denen altrömische Lebensführung und ethische Codices längst in hoffnungslosem Zer­ fall verkommen waren, die obschon illusionäre Kontinuierung dieser Erhaltung als Element hellenistischer Kultur aufrecht erhalten und in Verschmelzung mit dem griechischen Individualismus zur unbe­ stritten herrschenden Ideologie gemacht zu haben, ist ein beacht­ liches Phänomen. Bis zum Philhellenismus des 19. Jahrhunderts hat die stoisch vermittelte Welt der Roma aeterna unser Bild von der Antike geprägt. Darin liegt eine ideelle Kraft, die einer eigenen Un­ tersuchung und Erklärung bedürftig wäre; in einer Geschichte der Dialektik gesellschaftlicher Ideologien kommt der Stoa gewiss ein hervorragender Platz zu. Epikuräismus und Stoizismus gelten seit alters als die entgegen­ gesetzten Weltanschauungen der Spätantike. Das ist in gewissem Sinne

554

Abschluss der Antike

auch richtig. Die Epikuräer finden das Lebensglück in maßvoller Lust, die Stoiker in der Herrschaft des logos über die Triebempfindungen. Für die einen sind die Sinne die Quelle aller Erkenntnis und auch das Maß des Verstandes, für die anderen beruhen Einsicht und rich­ tiges Verhalten auf einer vernunftkontrollierten Sinnlichkeit. Die Epi­ kuräer verbannen die Götter aus der Welt und halten Aberglaube und Zauberkunst fern; die Stoiker schließen die Verehrung der Göt­ ter ein und lehnen auch okkulte Praktiken nicht prinzipiell ab. Natürlich gibt es Varianten und Überschneidungen, aber im gro­ ßen und ganzen stimmt dieses Bild (wenn man die römische Stoa herausnimmt, die durch den Einfluss altrömischer Staatsgesinnung und pietas eine besondere Färbung bekommt). Aber der Gegensatz ist nur ein solcher innerhalb einer gemeinsamen spätantiken Lebens­ einstellung. Beide richteten ihr Interesse und ihre Lehre auf die Be­ dingungen und Verwirklichung des privaten Wohlbefindens, der Wohlgeordnetheit des Gemüts, für beide war die res publica nicht mehr Ort, Gegenstand und Leitfaden des individuellen Verhaltens. Der vornehme Abstand vom Volksglauben machte den Epikuräismus attraktiver für die Gebildeten, Intellektuellen; er blieb die Weltan­ schauung einer Minderheit. Die populistischen Ziele der Stoa, bis hin zur Verwässerung ihrer theoretischen Prinzipien, erlaubte ihr, in einem weitherzigen Sinne zur Weltanschauung der breiten Massen zu werden, obwohl wir uns deren weltanschauliche Homogenität nicht zu groß denken dürfen. Im Alltagsbewusstsein ging vieles durcheinander. Mit dem von den beiden Philosophien erhobenen Lebensideal der Ataraxie dürfte es bei den meisten nicht weit her gewesen sem. Die Betonung des logos als Kontrollorgan brachte es mit sich, dass im Schulzusammenhang der Stoa die formale Logik und Logik­ theorie eine differenzierte Ausbildung erfuhr, die hauptsächlich von der Basis des aristotelischen Organon ausging und zum erstenmal be­ wusst die Sprache als Medium der logischen Ordnung des Denkens in die Betrachtung einbezog. Neben der ausgearbeiteten Ethik be­ steht auf dieser Seite des stoischen Schulbetriebs dessen großes Ver­ dienst in der Geschichte der Philosophie. Es wurde begriffliche Dis­ ziplin verlangt. Ungeachtet der starken Bindung vieler Stoiker an die ältere Akademie, schlägt hier der aristotelische Einfluss durch, umso leichter, als Aristoteles in die Nachfolge Platons und die Geschichte des Platonismus eingereiht wurde. Zur theoretischen Weiterbildung der Dialektik tragen diese Strömungen kaum etwas bei, zumal die

Hellenistische Weltanschauungsphilosophien

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Konzentration auf die logischen Schriften des Aristoteles dessen me­ taphysische Dialektik beiseite ließ und die Metaphysik der Stoiker sich an der Naturphilosophie des platonischen Timaios orientierte. Einen Sonderfall stellt das Philosophenpaar Panaitios-Poseidonios dar; ich sage Paar, weil die Grundeinstellung von Lehrer und Schüler sie nahe zusammenrückt und oft strittig ist, welche überlieferte Auf­ fassung dem einen oder dem anderen zugeschrieben werden darf. Ich werde auch auf die Entwirrung dieser Verflechtungen keinen Wert legen, sondern das für die Dialektik Bedeutsame in Einheit behandeln, das sie beide aus dem Strom stoischen Philosophierens heraushebt. Zweifellos war es schon Panaitios, der die Beschränkung der stoi­ schen Schule auf die Moralphilosophie, auf die Tugend- und Glück­ seligkeitslehre durchbrach und die Natur nicht nur als begründend für menschliches Verhalten, sondern als eigenständigen Gegenstand kosmologischen und biologischen Wissens betrachtete. Bei ihm schlägt die aristotelische Tradition wieder durch, auch der spätplatonische

Timaios. Aber jede Mystik und jeder Irrationalismus werden durch die Insistenz auf der Dominanz und Kontrollfunktion des logos fern­ gehalten. Der Schritt, den die mittlere Stoa über ihre Vorgänger hi­ naus geht, ist der naturwissenschaftliche Materialismus. »Selbst Ver­ nunft, Denken und Werteinstellung sind körperlich, es ist evident, daß die Physik im Mittelpunkt steht. Alles übrige dreht sich um sie«.30 Wenn alle Stoiker sich mit der Natur beschäftigten, dann war Naturphilosophie jeweils ein Derivat einer allgemeinen handlungs­ theoretisch angelegten Anthropologie. Das ändert sich nun. »Wenn die anderen Stoiker bis zur Naturwissenschaft gelangen, so vor allem, indem sie von der Metaphysik herkommen; dagegen geben uns Pa­ naitios und Poseidonios eher den Eindruck, daß sie von der Physik zur Metaphysik übergehen ... Fast das ganze Denken des Panaitios stützt sich auf Innovationen, die er im Bereich der Physik sich ange­ eignet hat>Die Ewigkeit der Welt ist eine Reihe von Evolutionen und Revolutionen, von Rückschritten und Fortschrit­ ten. Diese Ereignisse werden, wohl verstanden, von Gesetzen gere­ gelt. Wir sind nicht mehr in der epikuräischen Welt des Zufalls. Im Universum des Panaitios folgt alles der Entwicklung seiner eigenen Natur«.33 Wenn in der Tat schon Panaitios so dachte, dann war es doch Poseidonios, der diesen Gedanken in enzyklopädischer Breite aus- und durchgeführt hat. Panaitios hat, zum Kreise des jüngeren Scipio gehörend, wohl we­ sentlich dazu beigetragen, dass der Stoizismus von der römischen Elite rezipiert, mit der altrömischen Staatsgesinnung verschmolzen und so in seiner dritten Phase auch markant umgeformt wurde. Von Seneca bis Mare Aurel hat sich eine spezifisch römisch-stoische Ethik und Lebenshaltung entwickelt, die das Bild des Stoizismus in späte­ ren Zeiten nachhaltig prägte, zumal sie auch auf das frühe Christen­ tum einwirkte. Panaitios, selbst aus hoch vermögendem rhodisehern Patriziergeschlecht stammend, hat offenbar schnell an die konserva­ tive Adelsschicht des republikanischen Rom Anschluss gefunden.34 Die politische Ambivalenz der stoischen Gesellschaftslehre und Ethik zeigt sich daran, dass der Kollege von Panaitios, Boethius, als Bera­ ter die Führer der Reformpartei, die Gracchen, unterstützte. Der Stoi­ zismus durchdrang als eine Ideologie, die man mit den altrömischen Werten in Einklang bringen konnte, beide Parteien der herrschenden Klasse im republikanischen Rom gleichermaßen. >>Die wesentlichsten Fragen nun, die der Römer von der Philosophie beantwortet sehen wollte, betrafen die Physik oder, besser gesagt, die Religion und die Ethik. Die römische Religion war von Hause aus eine Religion der Begriffe. Jeder Vorgang im äußeren Geschehen der Natur sowohl wie im Gebiete der menschlichen T ätigkeit, ja jeder einzelne Akt der­ selben wurde als Gott angesehen ... Als die höchste und unbedingte Autorität im praktischen Leben galt dem echten alten Römer das Staatswohl. Dieses bestimmte das öffentliche wie das Privatleben, ja selbst die Religion stand mit ihm in naher Verbindung>Je widerlicher dieses Treiben war ... umso mehr mußte namentlich bei den edel Gesinnten das Bedürfnis nach einer allgemein ethischen Norm hervortreten. Auch diese bot die Stoa des Panaitios und zwar in einer Form, welche der altrömischen Sittenstrenge vollständig ebenbürtig war und zugleich der römischen Weltherrschaft entsprach ... In zeitgemäßer Form er­ wies sie die Richtigkeit der strengen römischen Rechtsauffassung durch ihre Zurückführung auf das Naturrecht«.37 Der Sinn der Rö­ mer fürs Praktische setzte sich dabei durch. Die Stoa wurde nun ganz und gar zu einer Philosophie der Haltung, der Lebensführung, der gesellschaftlichen Ordnung und individuellen Seelenstärke - eine Orientierung, die in ihr von Anfang an seit Zenon angelegt war und gegenüber der die Wissenschaftsphilosophie und ihr metaphysischer Horizont bei Poseidonios eine neue Wendung gebracht hatte. Die römische Stoa blieb vordergründig diesseitig, sie hatte weder an der Immanenz der Selbstbegründung der Welt noch an der Beziehung zur Transzendenz ein Interesse und überließ dieses Feld den irratio­ nalistischen Weltanschauungen, was für anderthalb Jahrtausende eine Weichenstellung im Lauf der Philosophie zur Folge hatte. So hatte die Philosophie der Kaiserzeit auch keine Kraft mehr, sich dem An­ sturm des Christentums zu widersetzen. Immerhin fand sich in Poseidonios noch einmal ein Gelehrter, der in enzyklopädischem Zugriff ein wissenschaftliches Weltbild ent­ warf. Es ist unverkennbar, dass Poseidonios eine spontane Neugier auf die unmittelbaren empirischen Fakten hatte, die ihm Naturbeob­ achtung und geografische Eindrücke vor Augen stellten. Er war weit­ gereist und resumierte sein gesammeltes Wissen in deskriptiven Schrif­ ten. Aber die Beschreibung des Wahrgenommenen genügt ihm nicht. In der nacharistotelischen Zeit sehe ich in ihm den einzigen, der die aristotelische Enzyklopädistik der Natur mit der aristotelischen Be­ sessenheit von der Ursachenforschung verband, der also eigentlich methodologischer Aristoteliker war. Dabei musste er notwendiger­ weise auf Probleme stoßen, die dialektische Lösungen erforderten, wenn er solche auch in der akademisch-stoischen Tradition, in der er stand, nicht finden konnte. Das mag erklären, dass der einerseits »po-

Römische Wertbegriffe, a.a.O.

36

Hans Oppermann,

37

A. Schmekel, a. a. 0., S. 442 und 456.

558

Abschluss der Antike

sitivistische>Der Begriff der Spannung also ent­ springt nicht einer im eigentlichen Sinne dynamischen Weltanschau­ ung, sondern ist zuletzt nichts anderes als eine Verstofflichung der aristotelischen Begriffe oder Formen. Ja, die Stoiker haben nicht ge­ zögert, auch die aristotelischen Kategorien des Seins oder der Ein­ heit, der Größe und der Qualität zu materialisieren ... Bei Poseido­ nios ist jede Spur davon, daß einst die Lehre von der Spannung die Verstofflichung der Qualitäten war, verschwunden. Stattdessen beruht

42

Ebd., S. 88. Zu beachten ist auch der Hinweis auf Philo.

43

Ebd.

560

Abschluss der Antike

die Lehre von der Spannung jetzt auf der Intuition einer Elementar­ kraft«.44 Der Terminus ist nicht neu, stammt von Chrysipp, aber bekommt bei Poseidonios nun eine neue Funktion. Er wird zur kosmologi­ schen Bezeichnung der Kraft, die die Ordnung der Welt begründet und erhält. Poseidonios denkt dabei ganz vorsokratisch weiter. Wel­ ches ist das einfachste Element, bei dem der Anfang gemacht werden muss, wenn aus Spannungsverhältnissen die Materieteilchen in Be­ wegung versetzt werden sollen? Das ist, wie bei Anaximenes und aus den gleichen Denkmotiven wie bei ihm, die Luft. »Ursache aller Span­ nung ist die Luft oder das Pneuma ... Zuerst erscheint die Span­ nungskraft als Widerstand, Tragkraft und Übertragung, im Verhält­ nis also noch als passiv ... Auf der dritten Stufe wird die Luft im Reiche des Organischen als eine selbst organische vitale Kraft be­ trachtet«.45 Dasspneuma eben auch als Atem die materielle Manifes­ tation der Lebenskraft sein kann, hat schon die Analogstrukur des Anaximenes getragen. Man sagt jetzt nicht mehr arche, und die Luft als Medium einer Energie, die der wirkliche Unterschied der Einzelnen ist, erzeugt komplexere Formen des Zusammenhaltens, als im Satz des Anaxi­ menes ausgesagt wird. Aber letzten Endes setzt sich hier derselbe Denktypus fort, den wir seit den Milesiern kennen. Die Welt wird immanent aus einer sich antithetisch entfaltenden Bewegung verstan­ den. Der transzendente Schöpfer, das Denkmodell der vorderorien­ talisch-jüdisch-christlichen Religion, kommt hier nicht vor. Plotirr steht schon auf der Scheide, an der sich die Wende zum neuen, nach­ griechischen Paradigma vollzieht. Posidonios ist sozusagen der Ab­ gesang der säkularen antiken Philosophie.

44

Ebd., S. 142.

45

Ebd., S. 143 und 141.

2. Kapitel:

Plotin

Der enigmatische Schluss des platonischen Parmenides schien ins Leere zu führen. Die mehrfach in einander verschränkten »Sowohl­ als-auch« zerbrachen die einfache Einheit des Sein-Denkens, dem der Eleate die Indices hen, pan, syneches apodiktisch verschrieben hatte. Wohl hatte Aristoteles das logisch und ontisch Erste als die Einheit der Vielen und die Welt oder das Ganze als einheitsstiftende Struktur zu deuten versucht; aber er räumte die Zweideutigkeit nicht aus, dass diese einheitsstiftende Struktur doch wieder als eine erste Substanz, als arche, verstanden werden konnte. Die Umdeutung des grammatisch neutralen pr8ton kinoun und theion in einen ersten Be­ weger und theos, durch die Substanzenlehre des Aristoteles begüns­ tigt, folgte daraus und verdeckte das im platonischen Parmenides aufgerissene Problem. Der Rückfall in die vorsokratische Substan­ zenmetaphysik implizierte aber die Herausforderung, den Hervor­ gang der Vielen aus der Einheit deduktiv zu entwickeln, wenn anders nicht die Welt wieder zu einem bloßen Schein herabgesetzt werden sollte. Die Metaphysik stand vor der Aufgabe, den auf die Ursachen­ kette gegründeten Wissenschaftsbegriff des Aristoteles, der dem Fort­ gang der Einzelwissenschaften gerecht wurde, mit der dazu quer verlaufenden Denkbewegung des späten Platon zusammenzuführen, was - wie wir sehen werden - zur Wiederaufnahme der von Platon selbst verworfenen Ideenlehre führte. Im sogenannten Neuplato­ nismus (der in gewisser Hinsicht auch unter aristotelischem Einfluss steht) findet diese verzwickte Lage ihre theoretische Formulierung. Zu Plotirr haben wir die für die Antike ausführliche Biografie des Porphyrius, die durch die Beigabe des Textes von Longinus beson­ deren dokumentarischen Wert bekommt. Die Lebensdaten und Um­ stände scheinen korrekt zu sein. Die Selbstgefälligkeit, mit der sich der Autor als Musterschüler des Meisters präsentiert, macht die Stellen, an denen er über Philosophie spricht, etwas fragwürdig; er spielt sich zu sehr als Sachwalter von Plotins Gedanken auf. Jeden­ falls geht aus allen Zeugnissen die menschenfreundliche, hilfsbereite

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Abschluss der Antike

Art Plotins im Umgang mit seinen Mitmenschen hervor, seine Zu­ verlässigkeit, seine Zurückhaltung in der Öffentlichkeit. Er hat nie ein Amt angestrebt, nie eine politische Rolle zu spielen versucht. Ob es ihm mit dem Vorschlag an Kaiser Gallienus ernst war, eine Stadt zu gründen, die nach den Prinzipien Platons verwaltet werden sollte und in der er sich mit seinen Schülern angesiedelt hätte, ist schwer zu sagen; es ist nicht dazu gekommen. Plotins Wirken fällt in eine Zeit, in der die klassische griechische Philosophie bereits im Zerfall begriffen, eine neue - die christliche aber erst im Entstehen war. Er ist, darf man wohl sagen, ein letzter großer Stern, der noch einmal am Himmel der antiken Philosophie aufging. Aber er lebte auch in einer Zeit, in der die vorderorienta­ lische Transzendenz-Religiosität tief in die herrschende Weltanschau­ ung des Westens, also der griechischen und römischen Tradition, eingedrungen war und im Synkretismus der Staatsreligion des Rö­ mischen Reichs ihren Platz gefunden hatte. Mythik, Mystik und Magie bildeten ein unsauberes Gemisch, das auf der Grundlage des gesell­ schaftlichen Individualismus in vielerlei Gestalten der alltäglichen

Jedermannsphilosophie, esoterischer Kultur und allegorisierenden In­ tellektualismus eingehen konnte. Einer der Haupttypen dieses Welt­ anschauungsirrationalismus war es - anders als später das Christen­ tum- nicht ein neues Weltverhältnis im Glauben zu suchen, sondern ein höheres Wissen, das der Logizität der Verstandeserkenntnis ent­ gegengesetzt wird. Das ist ein gemeinsamer Zug aller dieser Sekten­ bildungen, von denen viele Strömungen unter dem Sammelnamen Gnosis verrechnet werden, der nur eine sehr pauschale Gattungs­ bezeichnung für Verschiedenartiges abgibt. Für die Philosophie sind die gnostischen Richtungen interessant, da sie sich der Grenzen, an die die empirischen und logischen Erkenntnismethoden angesichts des unzureichenden Wissensstands stoßen mussten, auf Schritt und Tritt bewusst waren. Plotin, bei dem Rationalisten Panaitios in die Schule gegangen, aber von der empiristischen Enzyklopädistik des Poseidonios unbe­ friedigt gelassen, stieß bei Platon auf den Pythagoräismus, der in seiner neupythagoräischen Gestalt gerade zu seiner Zeit in höchster Blüte stand. Wie schon bei Platon überkreuzen sich bei ihm die Denk­ motive vorderorientalischer Mystik mit der strengen dialektisch­ logischen Denkweise vorsokratischer Herkunft. Ich sage überkreu­ zen, denn in der Tat vermengen sich beide Tendenzen nicht, sondern treten jede für sich deutlich dominant je in den verschiedenen Schrif-

Plotin

563

ten hervor. Für eine Gesamtwürdigung Plotins müssten beide Ströme in ihrer Besonderheit und in ihrem Verhältnis zueinander untersucht werden. Für eine Geschichte der Dialektik kommt nur die eine Seite, der streng ontologische Deduktivismus in Betracht. Die meisten die­ ser Schriften sind knapp, syntaktisch konzentriert abgekürzt, wie Stichworte, die man für sich selbst oder einen Vertrauten nieder­ schreibt; aber von äußerst präziser Begrifflichkeit. Nach der von Bar­ der zugrundegelegten Chronologie1 ist die ontologische Konzeption schon in recht frühen Schriften klar ausgearbeitet. Hiervon ist aus­ zugehen, wenn die systematische Strenge Plotins, abgesehen von den geistesgeschichtlichen Zusammenhängen, in den Mittelpunkt gerückt werden soll. Für die Weiterführung der antiken Dialektik ins Mittelalter und ihre Vermittlung in die frühe Neuzeit kommt Plotin eine Schlüssel­ funktion zu; seine Bedeutung reicht indessen weit über diesen Aspekt hinaus. Er ist der letzte heidnische Philosoph der Antike, der die Weltanschauungstendenz seiner Zeit, des späten Hellenismus, zu einem großen, gedanklich konsistenten System zusammenfasste und es fertigbrachte, dem Irrationalismus einer von religiösen Subkultu­ ren durchdrungenen Popularweltanschauung eine Philosophie ent­ gegenzustellen, die in diesen Rahmen eingepasst war und sich des­ ungeachtet ontologisch am strengen aristotelischen Rationalismus orientierte. Plotins CEuvre unter diesem Gesichtspunkt zu ordnen, ist eine noch zu leistende Aufgabe, die bisher von der Neigung der philosophischen und philologischen Interpreten zu den irrationalen Elementen, die in der Epoche vorherrschen, verdeckt wurde. Auch lenkt der Schulname Neuplatonismus von den aristotelischen Denk­ mustern bei Plotin ab; für dieses Verhältnis müsste die islamische Rezeption, vor allem Avicenna, fruchtbar gemacht werden. Es ist mehr über die griechischen und orientalischen Einflüsse auf Plotin nachgedacht worden als über das eigenständige System, das er daraus gemacht hat. Die innere Struktur und Begriffsbewegung des von ihm angelegten Weltmodells gibt ein hervorragendes Muster ab, wie aus einem Postulat spekulativen Denkens die Konsequenzen einer umfassenden Weltinterpretation herausgesponnen werden können.

Plotin wird zitiert nach der zweisprachigen Ausgabe von Richard Harder,

Plotins Schriften, 1956 ff. Die Nachweise folgen der üblichen Ausgabe der Enneaden und nicht der von Harder vorgeschlagenen chronologischen Rei­ henfolge.

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Abschluss der Antike

Unsere Fragestellung muss sich auf die Dialektik im Werk Plotins beschränken. Bei keinem anderen griechischen Philosophen habe ich es so deut­ lich empfunden wie bei Plotin, welch andere Bedeutungsspielräume griechische Vokabeln haben, als sie sich in der Übersetzung einholen lassen, und wie sehr sich das bei der Deutung gerade der zentralen philosophischen Termini auswirkt. Physis ist modern unübersetzbar, gerade wo Sein, on, oder Wesen, ousia, mitklingt; wobei ousia zwi­ schen Seiendheit, Wesenheit, Substantialität oszilliert. Nehmen wir einen Satz wie VI, 5, 12, 8: »Physin akamaton kai atuzton kai oudame elleipousan, en haute hoion hyperzeousan zoe.« Istphysis die unendliche Natur, das All (hapanta), ist sie die allem vorangehende wirkende Möglichkeit (dynamis), ist sie die einheit­ liche (ideelle) Substanz (ousia) der Welt? All dies klingt in VI, 5, 10-12 an. Denkt Plotirr all diese Aspekte in einem zusammen? Dann aber nicht nur unter dem Titel physis, sondern auch unter anderen ver­ wandten Begriffen. Oder müssen wir physis hier in einer kontext­ spezifischen Bedeutungsschattierung verstehen? Überhaupt: Plotirr gibt sich Mühe, schwierigste begriffliche Sachverhalte dem Leser­ Hörer nahezubringen. Seine Sprache ist nicht schwierig, mit zuge­ spitzten Termini überladen, aber gerade auch darum gleitend und nicht immer eindeutig in unserer durch zweieinhalb Jahrtausende terminologisch vorgeprägten Sprache zu präzisieren. VI, 5 muss wohl durchgehend interpretiert werden vom Anfangswort her: To hen kai tauton -das Eine und Selbige. Oft wird vom Subjekt der Aussagen dann nur noch als >>Jenes« oder »Dieses« (to) gesprochen, dann wie­ der als to ti estin, als kosmos, als ousia und eben als physis. Ist im anderen Ausdruck wohl immer dasselbe gemeint? Wohl kaum. Eher mögen es Aspekte sein, die als Erscheinungen des unbenennbaren Einen aufgefasst werden müssen. Diese Vorsicht der Benennung lässt dann auch die Grenzüberschreitung zum Mystischen zu, ja provo­ ziert sie. So wird zum Beispiel an VI, 5, 12, 16 ff. der Übergang von einer argumentativen zu einer verkündigenden Sprache ganz deut­ lich. Plotirr bedient sich der homiletischen Lehrweise der religiösen, vor allem gnostischen Sekten seiner Zeit, aber es geht ihm, meine ich, um anderes - die von Platon in seinem Spätwerk ins Offene geführten Fragen wieder in einer geschlossenen Systematik zu be­ antworten. Und da er den ganzen Platon noch als eine Einheit auf­ nahm, kehrte auch die von ihrem Schöpfer verworfene Ideenlehre in die Systematik zurück.

Plotin

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Plotins Werk im ganzen wird vieldeutig bleiben und keine Deu­ tung für sich den Alleinvertretungsanspruch behaupten wollen. Nicht vieldeutig hingegen ist sein Beitrag zur Entwicklung der Dialektik, für deren Konstruktion er Begriffskonstellationen entwickelte, die auch unabhängig vom Kontext seiner philosophischen Systematik den Mechanismus dialektischer Beziehungen erhellen. Davon ging ein Wirkungsstrom aus, den man von Cusanus bis zu Schelling und Hegel und in die Neuzeit verfolgen kann. Es ist hier nicht der Ort, den Gründen und der Entwicklung nach­ zugehen, warum und wie sich in der Spätantike eine Gottesvorstel­ lung ausgebildet hat, die - personal oder impersonal - einen Schöp­ fer und Ordner der Welt umfasste. Der alte Mythos, der mit Gründungssagen und Heroengeschichten sich der Polis verband, war längst zur poetischen Mythologie verblasst. Zweifellos hat die Frage nach den Ursachen, die Aristoteles an den Anfang der Meta­

physik gesetzt hatte, dazu beigetragen, eine erste Ursache in einer transzendenten Instanz zu suchen, zumal das aristotelische Prinzip des pr8ton kinoun missverständlich war und im Sinne einer Gottheit ausgelegt werden konnte. Platons Timaios, ein Basistext der spätan­ tiken Philosophie, wirkte in der gleichen Richtung. Jedenfalls ist Gott seit der mittleren Akademie ein fester Bestandteil philosophi­ schen Systemdenkens - und in theoretischem Zusammenhang natür­ lich nicht mehr ein Gott, der noch zu dem polytheistischen Pan­ theon in einer Beziehung steht, sondern der transzendente Gott, den schon Xenophanes postuliert hatte und dessen Paradigma in der jüdischen Religion aufzufinden war, die ja durch die weit verstreuten jüdischen Gemeinden bekannt wurde. Die jüdisch beeinflusste Gnosis wird dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Da­ bei ist an Philo und sein Umfeld zu denken. Friedrich Zucker hat plausibel dargestellt, dass Plotin wohl der graekoägyptischen Oberschicht seiner Heimatstadt Lykopolis ent­ stammte und dort in einer kulturellen Umwelt aufwuchs, in der sich griechische, frühchristliche und gnostische Einflüsse begegneten und mischten. Das erklärt seinen Entschluss, mit 21 Jahren nach Alexan­ drien zu gehen, um Philosophie zu studieren. Dazu und zu elf Stu­ dienjahren bei Ammonios gehörte wohl ein riesiges Vermögen.2

2

Friedrich Zucker, Plotin und Lykopolis, in: Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1950.

566

Abschluss der Antike

Die Aufgipfelung der Frage nach Grund, Einheit und Ordnung der Welt zu einer göttlichen Ursprungsgestalt in der Philosophie der Zeitenwende hatte zur Folge, dass der beim späten Platon und bei Aristoteles angelegte Ansatz zu einer Strukturkonzeption statt der Orientierung auf eine erste Substanz nicht weiter verfolgt wurde. Stattdessen wurde die alte Substanzkonzeption, die ja noch nicht wirklich überwunden worden war, wieder aufgenommen. Das Eine und Erste galt als ein substantielles Prinzip, nicht als formgebende Einheit stiftende Bewegung der Vielen. Das muss man sehen, wenn man Plotins Modell für die Konstruktion der Einheit des Vielen in seiner Originalität einschätzt. >>Blickt man auf das Ganze der euro­ päischen Philosophiegeschichte, so überragt die einheitsmetaphysische oder herralogische Tradition die ontologische oder seinsmetaphysi­ sche an Umfang, Dauerhaftigkeit und sachlichem Gewicht so deut­ lich, daß man in der Frage nach dem Einen und nicht in der Frage nach dem Sein oder dem Seienden, die Grundfrage der europäischen Metaphysik zu sehen hat«.3 Halfwassen nennt drei Grundannahmen, die für Plotins Pro­ gramm einer Einheitsmetaphysik definierend sind: >> 1. Jedes Seiende existiert als dasjenige, was es ist, gerrau aus dem Grunde, weil es Eines ist. 2. Die Gesamtheit aller einzelnen Seienden bildet die Einheit

eines Ganzen. Einheit charakterisiert also nicht nur jedes Einzelne, sondern ebenso die Totalität des Seins. 3. Das Prinzip der Einheit des Ganzen und zugleich der Einheit

jedes einzelnen Seienden ist das Eine selbst«.4 Die Sätze 1 und 2 scheinen Einheit als ein Formprinzip zu be­ greifen. Dass auch dieser Aspekt bei Plotirr immer wieder hervor­ kommt, ist zu berücksichtigen. Die Aussage 3 aber führt auf ein anderes Feld. Das Eine selbst, abgelöst von allem Seienden, das für sich eine Einheit bildet, ist eine substantielle Macht, die Einheit ist und verleiht, die allem vorangeht, die obzwar impersonal die Funk­ tion Gottes ausübt. Es macht die Bedeutung Plotins aus, dass er die konstitutiven Begriffe mit äußerster Radikalität auf ihre Konsequenz hin durchdenkt.' Es ist die Besonderheit seines Entwurfs, wie er die

3

Jens Halfwassen, Platons Metaphysik des Einen, in: Marcel van Ackeren (Hg.),

Platon verstehen, Darmstadt 2004, S. 263 ff. Hier: S. 263. 4

Ebd.

5

Fritz Heinernann, Platin, Leipzig 1921, S. 243 f.

Plotin

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Aspekte Formbestimmtheit und Wirkungsmacht zusammendenkt. Er ist der einzige in der Spätantike, der das Problem aufnimmt, wo Platon und Aristoteles es offen gelassen haben. Fritz Beinemann hat die deduktiv-reduktive Methode als den Kern der plotinischen Sys­ temkonstruktion erkannt. »Man pflegt die Emanation als die Methode des plotinischen Systems zu verstehen, dergemäß einer Quelle eine Reihe von Emanationen entströmen. Aber dafür sprechen nur einige Bilder ... Die sachliche Methode ist in der Tat eine andere ... Zwei Pole stehen einander gegenüber, diese sind dialektische Begriffe, d. h. sie spalten sich in zwei entgegengesetzte Begriffe, und es wird nun zwischen je einem Momente des einen und einem des anderen eine Verbindung hergestellt. So entstehen zwei gegeneinander laufende Richtungen ... Bei Plotirr entwickelt sich die Methode aus der Dia­ lektik des Einen und der Materiein einer Umkehr und einem Auf-den-Kopf-stellen jener natürlichen Reihe>TranszendentalienImmer ist bei Hierokles, also bei Ammonios, die einfache Gotteslehre aufgefallen. Plotirr baut auf Numenios fußend das Hypostasengerüst aus; es folgen bei ihm hen (agathon)- nous (kalon und Summe der Ideen)­ psyche. Ammonios, der doch Numenios kannte, hat hier dessen gnos­ tizierende Auffassung von einem ersten und zweiten Gott (Geist) und die ähnliche der chaldäischen Orakel, die einen ersten Vater von einem zweiten Geist unterscheiden, abgelehnt ... Ammonios kennt keine mit Gott gleiche ewige Materie; sie ist von Gott geschaffen. Dem Plotirr liegt der Gedanke fern, aber Porphyrios nimmt ihn auf«.10 In das Hypostasenschema passt aber die Materie nicht. Hypostasen sind Reflexionsebene des Einen, von denen verschiedene Reflexions­ formen entstehen: nous und psyche. Das Eine ist zwar jenseits des Seienden, aber es ist nur, wenn es sich in der Welt reflektiert. Mit dem einsamen Schöpfer- und Richtergott der frühen lateinischen Kirchen­ väter konnte Plotirr nichts anfangen. Für die Realisation der Hypo­ stasen aber brauchte er einen Träger, eine Subsistenzgrundlage, die dem Einen gleichursprünglich und entgegengesetzt sein musste. Plotirr macht deutlich: Er sucht ein unhintergehbares Apriori des Denkens. Da das Denken nur als Gedanke wirklich ist, kann es sich, wo auch immer es angelegt ist, sich selbst hintergehen; denn jeder Gedanke ist noch weiter befragbar, es gibt immer den Gedanken des Gedankens, das Denken des Denkens. Das erste Apriori muss also auch noch das Denken hinter sich lassen, wenn es das Erste, das Un­ vordenkliche sein soll. Das ist kein Mystizismus (obwohl eine solche Einstellung dahin führen kann), sondern die äußerste Konsequenz

10

Willy Theiler, Forschungen zum Neuplatonismus, Berlin 1966, S. 41 f.

570

Abschluss der Antike

der Rationalität, die darauf besteht, dass der letzte Grund selbstbe­ gründend sein muss, und erkennen muss, dass ein je bestimmtes Ver­ hältnis nie selbstbegründende einzelne Instanz, die letzte einer Kette sein kann. Platon hatte, Parmenides folgend, das erste Apriori im Sein zu finden geglaubt und sich vom Fremden aus Elea belehren lassen müssen, Parmenides sei zu berichtigen, weil das Sein ohne das Nicht-Sein nicht Sein wäre. Auch das Eine bedarf, wie der Parme­

nides zeigt, ein Anderes, um das Eine zu sein. Die Dialektik des Einen und Vielen in einer Struktur war, wie wir gesehen haben, nicht weitergeführt worden. Überhaupt war mit Aristoteles die funda­ mentalontologische Untersuchung abgebrochen. Plotin, der sie von Platon nach einem halben Jahrtausend wiederaufnahm, fiel hinter Platon zurück. Aber nicht auf die einfache Architektur der Ideen­ lehre. Wohin also? Der Traktat VI, 9 der Enneaden, der wohl programmatisch auf den späten Platon ausgreifend den Titel Über das Gute oder das Eine

(Peri tagathou e tau henos) trägt, beginnt mit dem Satz >>Alle Seien­ den sind in bezug auf das Eine seiend« (Panta ta onta to heni estin

onta)

-

ein Satz, in dem noch die Monumentalität frühgriechischer

Sprachweisheit anklingt.11 Im Folgenden erläutert Plotin klar: Was wäre seiend, wenn es nicht eins wäre (ti gar an kai eie, ei me hen eie)? Die Beispiele werden aus verschiedenen Bereichen genommen: Weder wäre das Heer, wenn es nicht eins wäre, noch der Reigen, noch die Herde - dann aber auch das Haus und das Schiff, kurz alles, was aus Bestandteilen zusammengesetzt ist (ta syneche megathe). Schon hier deutet sich an, dass das Eine die Einheit einer Struktur ist, in der die Mehrzahl der zugehörigen Elemente zusammengefasst ist und etwas Neues dabei entsteht. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Leibniz macht später den Unterschied von sub­ stantieller und aggregativer Einheit (substantia und aggregatum). Ein­ heit zeigt sich, indem wir etwas unter dem Gesichtspunkt der Ein­ heit betrachten (pros to hen bleposan). So gibt es auch Grade des

11

Ich kann der Übersetzung von Barder nicht folgen. Der Plural festzuhalten, er macht gerade den Gegensatz zu

ta onta ist to hen aus. Die eine Welt im

ganzen ist der Seinsgrund, alle

(panta) Vielen sind als Momente der Welt exis­ to heni ist auch nicht instrumental und schon gar nicht kau­ sal, sondern relational wie das lateinische pro uno im Hinblick auf das Eine, tent. Der Dativ

,

in Bezug auf das Eine, für das Eine einstehend.

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571

Einsseins, je nach der Einordnung der Teile in das Ganze. Einzel­ seiendes ist eine Vielheit, obzwar es Eins ist. Einheit und Vielheit müssen aber an ihm begrifflich unterschieden werden. >>Wenn das Sein des Einzeldings Vielheit ist, das Eine aber unmöglich Vielheit sein kann, so muss beides voneinander verschieden sein>Gedanken-Dinge>Somit kann also das Eine weder Alles sein, denn dann wäre es nicht mehr Eines, noch der Geist, denn dann wäre es wieder alles, da der Geist alles ist, noch

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573

auch das Seiende, denn das Seiende ist alles>Jenem>Diese Welt des Begrifflichen

(kasmas naetas) bezieht sich auf das

Erste, aber sie ist nicht das Erste; in Wahrheit kommt ihm kein Name zu, aber wenn man es benennen muss, wird man es allgemein angemessen das Eine nennen>Wenn du Jenes dir denkst nach Art von Geist oder Gott, so ist es mehrWir haben schon mehrfach die besondere Schwie­ rigkeit festgestellt, Äquivalente für die bedeutendsten Termini der Plotinsehen Philosophie zu finden ... Ausnehmend schwierig ist es, ein zufriedenstellendes Äquivalent für nous zu finden. Moderne Interpreten des Neuplatonismus haben dafür Intellekt, Intelligenz, Gedanken, Vernunft, Geist, das Denken gewählt. All das führt in die Irre. ... Wir werden Plotirr nicht verstehen, wenn wir nicht zuerst er­ kennen, dass ousia ungefähr dem entspricht, was in Bradles Philo­ sophie Realität im Gegensatz zu Erscheinung bedeutet, und zwei­ tens daß diese Realität weder Gedanke noch Ding ist, sondern die unauflösliche Einheit von Gedanke und Ding, die einander wechsel­ seitig implizieren ... Obwohl Geist und geistige Welt voneinander

Plotin

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unterscheidbar sind, sind sie nicht voneinander getrennt oder abtrenn­ bar ... Das noeton ist nous ... Ihn bedenkend, wird es ihm gleich und ist sein nous, weil es ihn auffasst. In einer Hinsicht ist es nous, in anderer noeton ... Der Geist setzt durch seine Macht zu begreifen das Sein, und das Sein, indem es begriffen wird, verleiht dem Geist das Begreifen und die Existenz ... Ihre Beziehung ist die einer we­ senhaften Identität, die in der Form wesentlicher Wechselseitigkeit aktualisiert wird«.13 Unter dem Terminus Wechselseitigkeit (Rezi­ prozität) finden wir den gleichen Gedanken, der bei Beinemann im Zuordnungsverhältnis der beiden Reihen des Aufstiegs und Abstiegs ausgedrückt ist. Der nous ist die Instanz, in der die Einheit von Be­ griff und Gegenstand, von idealer und realer Welt hergestellt wird. Er ist daher dem Einen am nächsten; in der reflektierenden Aktivität des nous ereignet sich die Einheit. Das hen ist eigentlich ein Konstrukt, eine Extrapolation aus der aufsteigenden Reihe, ein Postulat für den Anfang der absteigenden Reihe. Die erste Manifestation der Einheitsstruktur, die durch das hen bezeichnet wird, ist der nous. Was das hen eigentlich ist, zeigt sich erst im nous. Man muss allerdings den plotinischen Text von allem philosophischen und mythologischen Ballast freischaufeln, der sich in den Jahrhunderten seiner Auslegung und in der philologischen Erforschung seiner Vorläufer14 angesammelt hat. Die Enneaden sind für sich allein ein aufragender Gebirgsstock im Flachland und be­ dürfen keiner geistesgeschichtlichen Epik, um in der Strenge ihrer Begrifflichkeit und Konsistenz ihrer Systematik in Erscheinung zu treten. Die beiden Formbenennungen von Beinemann und Ingespiegelbildlich aufeinander zugeordnete Reihen und Reziprozität von Gegenstand und Begriff- sind Instrumente des Verstehens, die das Konzept Plotins transparent machen. Das Eine als das reine Eine steht jenseits der Seiendheit. Wenn denn es doch ist, kann es nur es selbst sein, in absoluter Identität. Darin aber geschieht der Übergang zur Zweiheit, denn Identität ist die Be­ ziehung auf sich selbst- das Eine in der Entzweiung als es selbst: A gleich A. Ohne ein Anderes, das A mit sich selbst vermittelt, bleibt das Verhältnis rein gedachte Reflexion. Es ist der nous als Sein-Denken und nichts als >>sein« denken. Nichts als >>sein« denken, ist nicht

13 William Ralph Inge,

The philosophy of Plotinus, London 1948, Bd. II, S. 39 ff. Die Vorbereitung des Neuplatonismus, Berlin/

14 Willy Theiler, a. a. 0. Ders, Zürich 1964.

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Abschluss der Antike

Denken. >>SeinPflichten«

(duties), die sie haben. Der nous ist die noeta, während >>die

oberste Instanz des Auffassens der Einheit der

Seele für die Organisation des abhängigen Seienden verantwortlich ist. In dieser Eigenschaft manifestiert sie sich gewöhnlich als Welt­ Seele oder als die individuellen Seelen; bisweilen aber scheint es, als mache Plotirr keinen Unterschied zwischen der Hypostase Seele und der Welt-Seele oder, um es anders zu sagen, mag er von den Hy­ postasen in der Weise ihrer organisierten Pflichten denken wie sie erscheinen, wenn sie das psychische Element in den Kosmos ein­ bringt«.17 Die innerweltlichen Einheiten bilden als Ganzes die Welt, die als solche vom

nous erfasst wird, über dem dann das Eine als

einigende Kraft steht. >>W ährend also Jenes als das Gedachte ver­ harrt, wird das Entstehende zum Denken; und da es denken ist und nun das denkt, aus dem es geworden (denn etwas anderes hat es nicht), so wird es Geist, gleichsam ein zweites Gedachtes, ein zwei­ tes Es, Nachahmung und Abbild von Ihm« (V, 4,

2). Entscheidend noeton, also in sich passiv und wird erst wirklich, nämlich aktiv als energeia seiner selbst, in der noesis, also im Geist. Das ist die einheitstiftende Funktion der ist im ersten Satz

menei noeton

-

es bleibt ein

Struktur, die immer Struktur von mehr als dem unterschiedslosen passiven Einen ist. Der

nous ist dann alles als noein der noeta, wobei jedes bestimmte noein, in dem ein bestimmtes noeton erscheint, eine Selbstbegrenzung des nous ist. Plotirr fasst das als Reflexionsvorgang: panta en hauto kai syn hauto ... he katanoesis autou auto alles ist in -

ihm und bei ihm ... ein Sichgewahrwerden als sich selbst durch sich selbst (V, 4,

2).18 Die Reflexionsvorgänge stiften >>ein konkretes Gan­

zes, eine Gesamtheit reiner Beziehungen ... ein System, in dem das Ganze implizit in jedem Teil gegenwärtig und jeder Teil potentiell das Ganze ist ... Ein solches System stellt der lebendige Organismus

17 Ebd., S. 210. 18

Zu Enn. V, 4,2. Im Gegensatz zu Slezak verstehe ich den darauf folgenden Hinweis aus Platons Ideen- und Zahlenlehre nicht als Selbstinterpretation Platins, sondern als Verweis auf eine parallele Auffassung. Th. A. Szlezak,

Platon und Aristoteles in der Nuslehre Platins, Basel!Stuttgart 1979.

Plotin

579

dar, bei dem jeder Teil das Ganze erkennen läßt und jeder Teil das Ganze beeinflußt«.19 Die noeta sind jedenfalls keine platonischen Ideen. Sie sind die geordneten Repräsentationen der gegenständlichen Welt und sie sind von dieser verschieden, wie in der Spiegelung Bespiegeltes und Ge­ spiegeltes zwar dasselbe, aber verschiedene sind. Da im nous nur das Reich der noeta repräsentiert ist, können wir nur dieses in seiner Wirklichkeit, das heißt Wirksamkeit (energeia) auffassen - die ge­ genständliche Welt erscheint dann als perspektivische Verzerrung der noetischen Welt. Wir stoßen hier wieder, wie durchgängig in der Geschichte des Eleatismus-Platonismus, auf den systematischen Ur­ sprung dessen, was man in der Neuzeit als »objektiven Idealismus« charakterisierte. Dazu trägt bei - und wird bei Plotin zum erstenmal ganz deut­ lich -, dass das dianoetische Verfahren nicht zur Konstituierung eines Begriffs des Ganzen führt. Weder das summative Abgreifen von Da­ ten noch eine klassifikatorische Aufteilung der Diairesis liefern ein Bild von Sachverhalten, wie wir ein Bild mit einem Blick als Einheit und Ganzes betrachten. Dieses Motiv für die Unzufriedenheit mit der gegenständlichen Empirie hält sich seit der Kritik des Parmeni­ des am bloßen Namengeben durch. Die Gegeninstanz ist das noein, das ganzheitliche Sehen und Einsehen. Diese parmenideisch-plato­ nische Bedeutung haben auch noein und nous bei Plotin, nicht die eines intuitiven Sehens. Daraus ist auch der Gedanke an die plato­ nische Idee fernzuhalten. Noein ist nicht Ideenschau. Wenn in der mittelplatonischen Tradition, bei Antiochos von Askalon und bei Albinos, die Ideen als die Gedanken Gottes und Archetypen der Dinge aufgefasst werden, so ist das von Plotin nicht übernommen worden. »Jede einzelne Idee ist der Geist, und der Geist ist die Ge­ samtheit aller Ideen>einströmen«. Er kann auch als die erste aus der Einheit entspringende formelle Zweiheit gelten, das principium individuationis. Jedenfalls wäre in der Triade hen - nous - psyche damit eine Gattungsdifferenz statuiert; das hen wäre nicht ein anderes Drittes, sondern ein dem Wesen nach von den beiden innerweltlichen Prinzipien Unterschiedenes, ein über­ greifend Allgemeines. Eine solche Deutung würde, wie ich meine, am ehesten die auseinanderlaufenden Textstellen bei Plotirr zusam­ menfassen.

2. Materie Es bleibt der Grund, von dem aus der Aufstieg zum Einen beginnt und in den hinein der Abstieg des Einen erfolgt: die Materie. Sie hat im System der Triade keinen Platz, steht außerhalb, aber, wie Hei­ nemann scharfsinnig bemerkt, in Analogie zu dem Außerhalb des

epekeina tes ousias. Die Einschätzung der Sonderstellung der Materie wird erschwert durch die weltanschauliche Zeitstimmung der Spät­ antike, die in Gnosis und Christentum gleichermaßen Ausdruck fin­ det und eine Abwertung bis zur Verteufelung der Materie allgemein macht. Plotirr ist nicht frei davon. Umso wichtiger ist es, sein Ma­ terie-Verständnis von den Stellen her zu rekonstruieren, wo er ihm eine systematische Untersuchung widmet.

Plotin

581

Die bedeutendste ist die Enneade II, 4 >>Über die beiden Materien«. In der Knappheit der Formulierungen, die oft Ergänzungen beim Mitdenken erfordern, ist sie streckenweise auch rätselvolL Die Über­ setzungen leiden darunter, dass die Übersetzer durch knappe Hinzu­ fügungen das Gemeinte präzisieren wollen, aber eher das, was sie davon meinen. Zum Beispiel: Wenn die Welt aus einem Strom von Emanationen besteht, die aus dem obersten Einen hervorgehen, das seine erste Konkretion in der Entzweiung des nous als dyas aoriston von noema und noeton findet, dann ist es naheliegend, die beiden Materien als sensible und intelligible zu bezeichnen, obwohl das nicht die gegensätzliche Zweiheit ist, von der Plotin spricht und dies auch nicht die Termini sind, die er gebraucht; auch noeton wird dann als intelligible Materie aufgefasst.20 Prüfen wir aber den Text, von dem Brehier mit Recht sagt, er sei >>eine technische Diskussion philosophischer Begriffe«,21 denn gerade in der Präzisierung des methodischen Gebrauchs der zentralen Ter­ mini zeigt sich, was die Probleme sind, mit denen Plotin ringt. Wenn

hen und hyle die zwei Extreme sind, zwischen denen nous und psyche die mittlere Strecke eines Kontinuums ausfüllen, dann müs­ sen sie diaphora sein, deren eins das andere übergreift22 - ob einsei­ tig, ob wechselseitig, ist zu klären. Gehen wir davon aus, dass das Eine durchwaltende Strukturbestimmung des Seins und mithin von allem Seienden ist, dann ist die Weise des Übergriffenwerdens kon­ stitutiv für das Sein der Materie. Plotin spricht von zwei Materien. Das sind aber nicht zwei verschiedene Seinsschichten oder Substan­ zen, die Substantialität der Materie, die sie sind, wird gerade bestrit­ ten. Nur über sich hinaus in der noesis als ein Ganzes in der Form des Begriffs seiend, ist das hypokeimenon ousia (IV, 44, 5). Zu fragen ist, ob wir ousia vorbehaltlos mit Substanz übersetzen dürfen; zu­ mindest muss der Unterschied von ousia- Seiendheit und hypokei­

menon- Grundlage festgehalten werden; erst zusammen erfüllen sie den Begriff der Substanz. Die zwei Materien indessen sind Modi ein und derselben Materie, die, an Aristoteles anknüpfend, als das Zu­ grundeliegende (hypokeimenon) bezeichnet wird. >>Wenn nun die Ideen

20

Harder macht exzessiv, Brehier determinierend von dem Attribut intelligibel

21

Emile Brehier,

22

Zur logischen Figur des Übergreifens vgl. Hans Heinz Holz,

Gebrauch.

Platin, Enneades, Paris

1924, hier Bd. II, S. 47.

und Reflexion, Stuttgart/Weimar 2005, S. 186 ff.

Weltentwurf

582

Abschluss der Antike

viele sind, so muß es notwendig ein Gemeinsames in ihnen geben, und auch ein Eigenes, wodurch sich die eine von der anderen unter­ scheidet. Dieses Eigene also, dieser absondernde Unterschied, ist die individuelle Gestalt der Idee. Ist aber eine Gestalt da, so gibt es etwas, das gestaltet wird, an dem der spezifische Unterschied ist; es gibt dort also auch eine Materie, welche die Form aufnimmt und für jede das Substrat ist ... Wie kann man den intellegiblen Kosmos nennen außer im Hinblick auf seine Gestalt, und wie kann er Gestalt haben, wenn er nichts hat, an dem die Gestalt ist?>Die sogenannte Materie denkt man sich als eine Art Unterlage und als Aufnahmeort für die Formen>Zuerst ist zu sagen, daß insgesamt das Unbestimmte nicht gering zu achten ist ...>Hass>böse>das Böse>nicht so beschaffen,

Plotin

583

taphysik in Plotirr hineingetragen: Das Fleisch ist das Böse, das die Reinheit der Seele verdirbt und ihren Aufstieg zum Göttlichen ver­ hindert - das ist Paulus, nicht Plotin. Kapitel 15 und 16 von II, 4 darf man wohl als die Zusammen­ fassung und Schlussfolgerung aus den Erörterungen der Abhandlung auffassen. Die zwei Materien werden abschließend unterschieden als das unbestimmte apeiron, die erste Materie (prote hyle 6,7) und das bestimmte tetegmenon, das Geordnete, zu dem die begrifflich auf­ gefasste Materie (hyle noete) und die sinnlich aufgefasste (hyle pan­ ton ton aistheton 8, 4) gehören. Die Entgegensetzung einer materia intellegibilis und einer materia sensibilis entspricht nicht dem plo­ tinischen Modell, sondern gehört zu einer späteren Umdeutung, die das Eine als Gott und die Ideen als Gedanken Gottes verstehen möchte - eine Deutung, die ja seit dem Mittelplatonismus aufgekom­ men und der christlichen Adaptation förderlich war. Plotinisch ist sie nicht. Brehier ist von der langen Geschichte der Fehlinterpretationen missgeleitet, wenn er statuiert: >>Die Materie ist das Schlechte- das ist gerrau der Mittelpunkt der plotinischen Idee der Materie«.24 und folg­ lich ist auch seine Einteilung der Abhandlung irrig: >>Bis zu Kapitel 7 geht es um die Frage nach der intellegiblen Materie, ab Kapitel 7 bis zum Schluss um die Materie in der sensiblen Welt.« Vielmehr entwirft Plotirr ein höchst dialektisches, nicht ein dua­ listisches Schema. Die Materie ist nicht unbegrenzt und außerdem noch etwas, dem Unbegrenztheit als Prädikat zukommt; sie ist an sich das Unbegrenzte (aute toinyn to apeiron II, 4, 15) auch im Be­ reich der noesis (en tois noetois - ebd). Erst die Form, die als Be­ grenzung und Ordnung (horos und taxis) aus dem Unbegrenzten ein Bestimmtes herausschneidet, macht das Materielle zum Seienden. Als das diesem Seienden Zugrundeliegende ist auch die unbestimmte Materie etwas: Kai me on houto ti on (II, 4, 16). Zwischen den beiden Polen des Unbestimmten, hen und hyle, ausgespannt ist die Welt, Sein und Prozessualität, ausgedrückt in den Perzeptionsweisen von nous und psyche, die die Einheit des Einzelnen wahrnehmen

wie etwas seiner Natur nach beschaffen sein könnte... Daraus entwickelt sich die Bedeutung sittlich schlecht, böse... In den Zusammensetzungen drückt es, wie das lateinische male, zuweilen einen Fehler in dem Zuviel einer Eigen­ schaft aus... oft bedeutet es aber auch nur, daß eine Sache in zu geringem Masse vorhanden sei>Gegen die Gnostiker« bekommen hat, macht Plotirr ganz klar, dass er die materielle Welt nicht als diese diskreditiert sehen will und dass er die Ontologisierung, Mythologisierung eines Abfalls vom Guten ins Böse, einer Verderbnis des Einen leidenschaftlich ablehnt- mit einem Ton, der an den Stil frühchristlicher Apologeten gemahnt. Er will die Polarität Eins - Anderes, hen - hyle streng dialektisch verstan­ den wissen, als die extremen Eckpunkte der kategorialen Bestim­ mung des Kontinuums, das zwischen diesen Endpunkten die seiende Welt in ihren verschiedenen Organisationsstufen und -formen bil­ det. Logos und eidos sind es, die die Bestimmungsallgemeinheiten dieses Kontinuums ausmachen. Sie sind Verhältnisbegriffe, die die Proportion und Konfiguration der Einheitlichkeit eines Mannigfal­ tigen im größeren oder geringeren Maße ihrer Strukturiertheit be­ zeichnen. Der nackten Materie ohne jede Einheitsbeziehung - eine reine Gedankenabstraktion - ermangelt es der Struktur. Das macht sie, im Unterschied zur geformten Materie, zwar ganz und gar schlecht (pante kakon). Man muss den Text von II, 4, 16 aber gerrau lesen: >>Ist denn die Materie noch ein Schlechtes, da sie so Teil am Guten erhält? Ja, deshalb, weil sie des Guten bedurfte, denn sie hatte es ja nicht ... Was aber nichts hat, das muß, weil es in Armut ist, vielmehr weil es Armut ist, notwendig schlecht sein. Denn dies ist nicht Armut an Hab und Gut, sondern Armut an Einsicht, Armut

Abschluss der Antike

586

an

arete, an Schönheit, an Kraft, an Form, an Gestalt, an Beschaf­ (poion). Wie also sollte sie nicht gestaltlos, durchaus häßlich,

fenheit

durchaus schlecht sein?« Da wird von einer Seinsweise gesprochen, nicht von Wertung. Gegen jeden manichäischen Dualismus stehen Plotins Worte, die ihn als echten Griechen gegen orientalische Gnosis und Christentum ausweisen: >>Wer also über die Beschaffenheit dieser Welt schilt, der weiß nicht, was er tut ..., daß man die Dinge, welche niedriger stehen als das erste, nicht schelten darf, sondern man muß einem jeden verständnisvoll seine Beschaffenheit zugestehen ... Leute, die uner­ fahren sind im Denken und nichts gehört haben von der auf Bildung gegründeten, dem harmonisch ausgeglichenen Wissen« Das bestätigt

II,

4,

(II, 9, 13).

16 und spitzt die Akzentuierung des Seins als

Erscheinung des Einen zu; mit den Erscheinungsformen der Seien­ den, die mehr oder weniger gelungen sind, mehr oder weniger Schön­ heit der Struktur aufweisen, aber allemal an der Schönheit und am Guten teilhaben. Auch Schönheit ist ein ontologischer Begriff und erst nachgeordnet und abgeleitet ein ästhetischer, wie das Gute erst nachgeordnet und abgeleitet ein werttheoretischer. Die ontologische Bestimmung des Schönen hat allerdings die Richtung gewiesen, in der eine objektive ästhetische Wertlehre entwickelt werden kann. Mit dem Strukturentwurf,

hen und hyle als eine polare Einheit

zu fassen, stellt Plotin zum letzten Mal in der Antike ein großes rationales metaphysisches Modell auf, das die Welt als Sinneinheit zu begreifen suchte. Es hatte keinen Bestand gegen die zahllosen irra­ tionalistischen Sekten und Privatmeinungen, die sich ausbreiteten und als deren Resultante und Überwindung die christliche Philo­ sophie mit dem unaufhebbaren Antagonismus von Glauben und Denken weltanschauungsprägend wurde. Bestand im sozusagen sub­ versiven Sinn hatte der Neuplatonismus, wo innerchristlicher Glaube

fides quaerens intellectum, die Denkbewegung, die das ganze Mittelalter

sich im Denken seiner Begründung zu vergewissern suchte durchzog.

3. Schluss Natürlich hat Plotin eine andere Seite als die hier ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungsgeschichte der Dialektik un­ tersuchte. Er war - wie sollte es anders sein - ein Kind seiner Zeit

Plotin

587

und in seinem CEuvre findet sich viel, was nur aus der geistigen Gestimmtheit seiner Zeit und den Einflüssen zeitgenössischer intel­ lektueller Strömungen verstanden werden kann. Eine Platin-Mono­ grafie, die nicht unsere Aufgabe ist, müsste zeigen, wie er aus diesen Elementen die Einheit eines Systems konstruiert, das an sich strenge Ansprüche von Logizität stellt. Vielleicht hängt das ungeheuere Einheitspathos seines Denkens gerade mit der breiten und verwor­ renen Vielfalt der Denkangebote zusammen, die im Umlauf waren. Dabei ist es geboten, Plotirr von der nachfolgenden Schule des Neu­ platonismus abzuheben. Denn >>die Geschichte des Neuplatonismus wird uns zeigen, daß bis hin zu Jamblich in das philosophische Denken fortschreitend die Religiosität und der Aberglaube des Orients eindrangen ... Man täte Plotirr unrecht, wenn man ihn mit diesem maßlosen und unkritischen Geist auf eine Stufe stellte>die Meinung vertrat, Platon sei Schüler des Pythagoras gewesen ... Er machte sich zum Verkünder eines Glaubens mit chaldäisch-persischem Ursprung, wonach die Seelen zur Erde herabsteigen und von hier unten wieder aufsteigen, wobei sie die astralen Sphären durchqueren«.27 Die langen Studienjahre in Alexandrien nähren die Vermutung, orientalische Ideenmixturen seien in das Denken der Graeco-Ägypter eingedrungen. Nach >>unserer Meinung dürfte es unwahrscheinlich sein, daß Plotirr während seines Aufenthalts in der Weltstadtatmo­ sphäre von Alexandria nicht eine gewisse Kenntnis der brahmani­ schen Spekulation gewonnen hat. Eine grundlegende Lehre seines Systems scheint ziemlich sicher hinduistischen Ursprungs zu sein, nämlich die der Identität unseres Einzelseins mit dem Allgemeinen Sein und die der Vereinigung unseres individuellen Bewußtseins mit diesem Sein, das die Seele in sich aufnimmt, nicht weil es sie retten will, sondern irrfolge einer Naturnotwendigkeit, ferner der Gedanke, dass wir diesen Zustand der Glückseligkeit ohne das Eingreifen eines Vermittlers durch eine direkte Verbindung mit dem Einen er­ reichen. W ährend sie der griechischen Philosophie vor Plotirr fremd sind, zeigen sie eine überraschenden Übereinstimmung mit den in

26

Franz Cumont, Plotin, in Clemens Zintzen

27

Ebd., S. 15.

(Hg.), a.a.O., S. 14 ff.

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Abschluss der Antike

den Upanishaden entwickelten LehrenPlotins All zeigt die Struktur einer Steigerung von Potential zu Potential ... Das All ist eine Ganzheit - die einzige all-enthaltende Ganzheit. Alles Seiende ist eins ... Die Ganzheit aller Realität, die Welt gesteigerter Gestalten, ist das einzig wahre Objekt der Philo­ sophie. Wahre Erkenntnis besteht in der Reintegration eines begrenz­ ten Objektes, seiner Rückbeziehung auf die Integrität alles Seins ... Jede wachsende Einsicht in die Struktur oder formgebende Gesetz­ lichkeit begrenzter Dinge führt uns näher an die Einsicht in die Struktur der Gesamtrealität heran>Proklos systematisierte den Neuplatonismus und domi­ nierte die folgenden Entwicklungen. W ährend seiner fünfzigjährigen T ätigkeit brachte er ihn auf den Höhepunkt seines Einflusses. So dürfen wir Proklos als den Sprecher des reifen Neuplatonismus be­ trachten ... Seine Philosophie, die wir nun als Neupatonismus be­ zeichnen, die aber Aristoteles und den Stoizismus in sich aufnahm, breitete sich über ein weites Feld aus. Der Neuplatonismus ist nicht nur die letzte Blüte des griechischen Denkens, sondern auch die

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Abschluss der Antike

Weise, in der es nach Byzanz vermittelt wurde>Die Neuplatoniker suchten die Antwort auf metaphysische Fragen im Kontext des T hemas Einheit-Verschieden­ heit zu finden ... Wahres Wissen hat seinen Gegenstand in einer als Einheit bestehenden Wirklichkeit>Die Seelen müssen zu allererst durch Wissen und aufmerksame Zuwendung mit den Gegenständen verbunden sein, und die Kenntnis des Namens gibt ein Bild der Sache, denn Namen sind das Produkt des Erkennt­ nisvermögens der Seele>Die Neuplatonisten waren überzeugt, daß wahre Er­ kenntnis zum Gegenstand eine mit Einheit ausgestattete Wirklichkeit habe . .. Das Wirkliche und das Anekdotische sind jedoch nicht zwei voneinander un­ abhängige Dinge. Das letztere ist eine vorübergehende Erscheinung, ein >>Phä­ nomen>Kopie>wirklich Wirklichen>Metaphysik«). Seine Ontologie ist eine subtil differen­ zierte Rekonstruktion des Verhältnisses von spekulativem Begriff und materieller Realität. Sie ist in ihrer systematisch durchgebildeten Form überzeugungskräftiger als die Plotins, obwohl Plotirr ihm Pro­ bleme und Problemlösungsansätze sozusagen auf dem Tablett ser­ viert hat. Das gilt in hohem Maße für die Identifikation des Einen mit dem Guten, einem Topos, der seit der Politeia, insonderheit aber seit den platonischen Spätdialogen, seit des Aristoteles und anderer Bericht über die Vorlesung Peri ton agathon und seit Plotins einschlägigen Schriften zu einem Kernstück der Metaphysik der Akademie gewor­ den war. Bei Proklos wird völlig klar, dass das Eine ein Formprinzip ist, das jedem Seienden zukommt, insofern es nicht anders als ge­ staltet sein kann, also ein eidos hat. Das Gute ist der Effekt, den die Gestalthaftigkeit kata physin, gemäß der eigenen Natur, hervor­ bringt. Es ist graduell, das heißt es kann in höherem oder geringerem Maß die Natur zur Ausprägung bringen, also zweckmäßig sein. Das sind Konnotationen, die sich seit je mit dem Begriff agathon ver­ banden. Keineswegs ist damit ein hierarchisches System einer mate­ rialen Wertethik gemeint, so wenig wie mit dem Einen ein seinslen­ kender Schöpfer oder sonst eine transzendente Steuerungsinstanz. Die Transzendenz liegt darin, dass das oberste Eine eine transem­ pirische Form, die Einheit der Welt im ganzen, bezeichnet und als solche eine spekulative Idee ist. Ich zitiere die unübertrefflich konzise Darstellung von Carlos Steele; besser kann es nicht gesagt werden: >>Wenn immer neuplatonische Philosophen für den Vorrang des Einheitskonzepts argumentieren, beziehen sie dieses auf zwei seiner Wirkungen: es vervollkommnet und es erhält alle Dinge. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, daß die soteria aller Seienden der Einheit zugeschrieben wird. Man sollte jedoch diesen Ausdruck nicht im religiösen Sinn von Erlösung verstehen. Wenn der Terminus so­ zein auf das Eine angewandt wird, so meint er wörtlich sicher, am Leben, intakt erhalten und so im Sein zu bewahren. Aus dem glei­ chen Grunde wird das Eine perfeeturn genannt. Das griechische Wort teleios steht oft im Gegensatz zu apeiron (unbegrenzt), was un­ vollkommen ist, weil man immer etwas hinzufügen kann. Das Per­ fekte dagegen ist das Ganze oder Vollkommene, dem nichts fehlt. Noch einmal, ein Seiendes ist perfekt dank seiner Einheit, weil Ein-

592

Abschluss der Antike

heit das Seiende zu einem Ganzen macht, indem es seine Teile zu­ sammenhält und seine Identität sichert«.36 Es ist klar: Wie aus dem Wortsinn folgt, ist das Eine ein Struk­ turbegriff, das Gute ein Qualitätsbegriff, die Extrapolation ins Un­ endliche, in die Welt im ganzen, lässt beide zusammenfallen. Die aristotelische Kritik am Einheitsbegriff der platonischen Politeia zielt auf eine andere, empirische Ebene des Verhältnisses von Einheit und Mannigfaltigkeit und trifft darum nicht das metaphysische Kon­ zept der Neuplatoniker; wohl aber müsste mit Aristoteles über die Vermittlung zwischen spekulativer Idee und realen Strukturen nach­ gedacht werden. Das neuplatonische Bild einer zirkulären Bewegung vom Einen durch die Vielen zum Guten und zurück zum Einen lässt zwar erkennen, wie ein dialektischer Prozess in Gang gesetzt wird, stellt ihn dann aber im Rücklauf wieder still. So auch noch Hegel. Jede Philosophie, die deduktiv vom Ganzen ausgeht und sich nicht in der Zerstreutheit verlaufen will, kehrt in die Totalität zurück. Das ist die Aporie der totalisierenden Systematik. Sie trägt immer die Möglichkeit in sich, den Anfang, der dann auch wieder das Ende der Bewegung wird, zu substantialisieren oder gar zu personalisieren. Alle Varianten vom Weltgeist bis Gottvater haben hier ihren Platz. Platon und Plotin bleiben in einer Ambiguität stecken, die weniger ein Offenhalten als eine Unentschiedenheit ist. Proklos erkennt das Problem, aber indem er die eine Seite, die strukturelle, entfaltet, kippt er auf die andere, die substantiale um. Das Eine und das Gute sind, schreibt er, keine Prädikationen, son­ dern Modi der Bewegung, das Hervorgehen von einem aus dem an­ deren, der Formanreicherung; sie sind Namen für Verhältnisse. Dann aber heißt es: »Wir übertragen diese Namen auf das Erste, wenn wir die Dinge betrachten, die danach kommen, das heißt den Ausgang von ihm und die Rückkehr zu ihm in zirkulärer Bewegung>jenes«, von dem die Bewegung ausgeht und wohin sie zurück­ kehrt. Dialektik verfängt sich hier in sich selbst. Die Bewegung als Einheit wieder in Einem als etwas gerinnen zu lassen, mag begünstigt worden sein durch die begriffliche Abbildung der strukturellen Einheit auf die mathematisch aufgefasste nume-

36

Ebd.

37

Carlos Steele, The One and the Good, in: A. Vonderjagt, D. Paetzold (Hg.), The Neoplatonic Tradition, Köln 1991, S. 9 ff., hier: S. 12.

Plotin

593

rische Einheit. Auch da hat Proklos systematische Klarheit geschaf­ fen. Die Vorrede zu seinem Euklid-Kommentar38 im Umfang eines Buches ist eine von Platon ausgehende und an ihm orientierte, aber ihn durchaus übertreffende Philosophie der Mathematik. Wie von hier aus eine Theorie des dialektischen Denkens in der Mathematik und ihrer Geschichte bis in die Moderne entwickelt werden könnte, kann leider nicht unser Thema sein, ist aber eine überfällige Auf­ gabe.39 Wir müssen uns auf die ontologische Problematik beschrän­ ken, die darin aufscheint.

Hen bezeichnet die Einheit oder die eine Sache. Aber auch im letzten Sinne mit dem Nebenton, dass die Sache eben eins ist, weil sie das eine Ganze eines Zusammengesetzten ist. Als Zähleinheit kommt die Eins erst in der Zahlenreihe ab drei zum Zuge: drei plus eins sind vier; vier plus eins sind fünf ... Platon hat daraus ein on­ tologisches Fundierungsverhältnis gemacht: das Eine ist nur, indem es sich in die unbestimmte Zweiheit

(dyas aoristos) auseinanderlegt

und wird so im Selbstunterschied zur Triade. Ab Drei ist die Vielheit eine solche von bestimmten abzählbaren Einheiten. Jede Zahl ist an sich selbst wieder eine Einheit, die bestimmt ist durch ihre Vorgän­ gerirr in der Reihe der ganzen Zahlen plus eins. Zugrunde liegt der Gedanke, dass die eine Welt sich manifestiert in der Ordnung der Vielen, dass die Einheit sich spiegelt in der Ordnung der Vielheit und dass also Eins und Vieles, die Zweiheit sind;

hen und polla, hen das noch nicht inhaltlich bestimmte Viele,

denn das wäre dann schon die Mehrzahl; sondern unbestimmt das Viele im Gegensatz zum Einen, die Zweiheit vor jeder Gegenständ­ lichkeit. Das ist eine Begriffsstruktur, keine Rechenweise; gerechnet wird erst ab drei. Diesen platonischen Überlegungen schließt Proklos sich an. >>Da wir nun aber die Prinzipien des gesamten Bereichs des mathemati­ schen Seins erforschen, so steigen wir unmittelbar hinauf zu den Prinzipien, die den ganzen Seinsbereich durchwalten und alle Dinge aus sich erzeugen, ich meine die Grenze und das Unbegrenzte

(to peras kai to apeiron). Denn von diesen, den beiden ersten Prinzipien nach der unergründbaren und allen unfaßbaren Wirkursache des Einen

38

Ebd., S. 18.

39

Proclus Diadochus, Euklid-Kommentar, besorgt von Max Staeck, Halle/Saale 1945.

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gewann alles andere Bestand>Das vermittelnde (diskursive) Denken ... entwickelt nämlich und zergliedert die Unermesslichkeit des nous und entfaltet, was im intellektuellen Denkprozess zusam­ mengefaltet war ... W ürde aber die Grenze aufgehoben, dann würde man in der Mathematik nichts gewahren von Kommensurabilität, Gemeinsamkeit der Verhältnisse, Unwandelbarkeit (Identität) der Seinsformen, von Gleichheit und von dem, was sonst zur besseren Ordnung gehört; auch gäbe es kein Wissen um diese Dinge, noch unveränderliche und exakte Begriffe>Selbst«, was immer dieses Selbst, herausgelöst aus ob­ jektiven, überindividuellen Beziehungen, auch bedeuten mochte. Re­ flexion verstand sich nicht mehr als Rückbeziehung auf sich selbst in der Betroffenheit durch das Andere, sondern als Selbstbespiegelung. Die Formbestimmtheit der Dialektik löste sich auf oder ging über in eine ganz andere Form der Selbstbezüglichkeit. Wo dieser Prozess als Weltanschauungswandel noch an die Ra­ tionalität der klassischen Philosophie anknüpfte, bildeten sich Le­ benslehren aus, die auf Vernunftbegründungen ausgerichtet waren: die Stoa, der Epikuräismus, als Rückzugslinie resignierender Intel­ lektualität die Skepsis. Wir haben einen Blick auf sie geworfen. Wie prägend sie auch für einen Aspekt abendländischen Lebensgefühls gewesen und geblieben sind, zur Entwicklung der Dialektik haben sie nichts Wesentliches beigetragen. Rationale Dialektik ist immer die des Allgemeinen und Besonderen, des Selbstunterschieds; als bloße Form der Vielheit oder als Gegensätze von Einzelnen bleibt es Plu­ ralismus, und in der Tat sind ja in verschiedenen Perioden Formen des sog. >>kritischen Rationalismus>DaseinshaltungDer Gnostiker fühlt sich auf dieser niedem Erde von allen Seiten erdrückt durch das tyrannische Gewicht des Geschicks (heimarmene), unterworfen den Grenzen von Zeit, Körper, Materie und ihren Versuchungen

15

Jonas, a.a.O., S. 141,143,145.

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und Erniedrigungen ausgeliefert. Dies Gefühl der Versklavung und Minderwertigkeit kann nur durch einen Fall erklärt werden. Allein die Tatsache, daß er dieses Gefühl hat, beweist, daß der Mensch an sich etwas anderes ist, etwas anderes hat gewesen sein müssen als das, was er in dieser niedem Welt ist, in der er sich fremd und aus­ gestoßen fühlt. Daher Revolte gegen die Welt, Weigerung, sie anzu­ nehmen, Weigerung sich selbst anzunehmen. Daher aber auch das Streben nach einem Jenseits, ein Heimweh nach einer früheren Exis­ tenz, wo seine Substanz rein und seine Macht unendlich frei war; Heimweh nach einem verlorenen Paradies, das er durch die Gnosis wiedergewinnen wird«.16 Das wahrhaft Gute musste jenseits gesucht werden, die Transzendenz wurde sozusagen als eine ethische Rück­ zugslinie aufgebaut, die Widerstand gegen die Verzweiflung ermög­ lichte. Denn schließlich hatten die Menschen auch in Weltangst und Weltflucht noch das Bedürfnis nach Glück, das man selbst hier noch finden möchte, wenn sich ihnen auch der Horizont der Hoffnung auf eine zukünftige Erlösung öffnete. Sein Glück suchte jeder für sich, und die Erlösung erwartete er für sich. Darum wurde das jeweilige individuelle Selbst zum Gegen­ stand und Träger der religiösen Heilserwartung. Hatten die Grie­ chen und Römer das Schicksal, die heimarmene, als die Einbettung in die Weltordnung verstanden (auch wenn das Schicksal im Ein­ zelfall widrig und die Weltordnung vielleicht von Willkür und Un­ gerechtigkeit durchsetzt war) -so ging die weltflüchtige Religiosität nun darauf aus, der finsteren Macht des Schicksals zu entrinnen und sich über die Weltordnung in ein Reich der unverletzten Ich-Selig­ keit zu erheben, ja besser noch sogar frei vom Ich in ein schwebend Ungewisses, das nur in der Ahnung von einem heimatlich-gebor­ genen Selbstgefühl aufschien. Jeder musste für sich den Weg selbst erkennen (gnösis gleich Er­ kenntnis), aber es gab Weg-Geleiter, auf deren Anruf man hören konnte, und um die sich zu scharen den Drang nach Gemeinsamkeit befriedigte, der aus dem Erlebnis von Verlorenheit und Verlassenheit in der Seele aufkam. Gnosis verband sich paradox mit dem glauben­ den Hören auf den Ruf, der in erweckender Bildsprache daherkam. Das ist die strukturelle Gegebenheit, die Sekten entstehen lässt. So ist Gnosis auch nicht viel mehr als ein Sammelbegriff für vielfältige

16

Henri-Charles Puech, Der Begriff der Erlösung im Manichäismus, in:

Jahrbuch IV, S. 183 ff, hier S. 190.

Eranos

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Sekten, als deren eine ursprünglich auch die Anhängerschaft Jesu Christi erschienen sein muss.17 Doch unterscheidet sich die christliche Verkündigung wesentlich dadurch, dass sie Gott nicht in eine un­ bestimmte Ferne rückt, sondern ihn, obschon transzendent, doch gegenwärtig und Weltschöpfer sein lässt, also keine Demiurgen zwi­ schen ihn und die Welt einschiebt. Dass sich im Urchristentum die soteriologische Verheißung Jesu mit der historisch-messianischen Er­ wartung der Errichtung des jüdischen Gottesreichs auf Erden ver­ mischt, ist ein weiteres klares Unterscheidungsmerkmal von Gnosis und Urchristentum. Die Gnosis ist durchaus ahistorisch. Die in der Gnosis sich verdichtende Daseinshaltung ist jedoch der Boden, auf dem sich der Übergang von der philosophisch-weltanschaulichen Pro­ blemlage der Antike zu der des Mittelalters vollzieht.

3. Mythologisierende Metaphysik Auch in der religiösen Form einer transzendierenden Erlösungslehre stellen sich den gnostischen Verkündigungen systematische meta­ physische Fragen: Wie kam es angesichts der immanenten Ruhe des guten Urgotts überhaupt zur Erschaffung einer Welt (oder auch vie­ ler Welten) und zu dem Fall ins Böse? Schöpfung und Theodizee verknüpfen sich zu einem Komplex. Was muss im Absturz der Welt erhalten geblieben sein, damit Erlösung möglich ist und der Ruf da­ zu ergehen kann? Die Lehre hat nur ein Fundament, wenn in ihr eine Selbstrechtfertigung des Gnostikers als Gnostiker eingeschlos­ sen ist. Wie kann man sich als weltliches Wesen in der schlechten Welt verhalten, um den Weg zum Guten zu beschreiten, wenn er doch in der Welt gar nicht aufgezeigt werden kann? Der Gnostiker hat sich mit Aporien auseinanderzusetzen, die er im rational-diskursiven Den­ ken gar nicht aufzulösen vermag.

17

Die starken gnostischen Einflüsse, die Rudolf Bultmann im Urchristentum sieht, kann ich in den Herrenworten der Evangelien, in den Gleichnissen und Wundergeschichten nicht finden; diese passen sich in das allgemeine religiöse Klima der Zeit ein, vor allem im syrisch-palästinensischen Raum. In jedem Falle wären diese Elemente dann aus vorchristlichem gnostischem Bestand. Das gilt gewiss für Paulus, dessen Perhorreszierung des >>Fleischs>Danach gibt die Allegorie an jeweiliger Einzelheit eine ChiHer auf einen gleichfalls noch in Einzelheit (Vielheit, Alteritas) ausgebreiteten, in Vergänglichkeit, ja Zerbro­ chenheit befindlichen Sinn. Das Symbol dagegen gibt an jeweiliger Einzelheit

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Denker, denen eine entfernte Nähe zum Gnostizismus nicht abzu­ sprechen ist. Allegorien sind frei konstruierbar, allerdings können sie auch, vor allem in bestimmten geistesgeschichtlichen Perioden, auf fixe Formeln gebracht werden und zu Topoi der Sinngebung ausgebildet werden." Bloch spricht dann von Archetypen in einem anderen Sinne als C. G. Jung.24 Der Gehalt an solch archetypischen Bildgestalten hat

die Gnosis durch Jahrhunderte immer wieder als Steinbruch nutzbar werden lassen, dem andere Weltanschauungskonstruktionen Material entnahmen. So taten es auch urchristliche Rebellen gegen die lnstitu­ tionalisierung der Reichskirche seit Konstantin - ein Prozess, der schon lange vor der Konzilsperiode begann. Die leidenschaftliche Polemik der Kirchenväter gegen diese christlichen Gnostiker findet in der Abwehr dieser >>basisdemokratischen>Als mir einmal eine Einsicht über das, was ist, zuteil wurde und mein Sinn gar sehr emporgehoben wurde, während meine körperlichen Empfindungen zurückgehalten wurden wie bei denen, die aus Übersättigung oder aus schwerer körperlicher Arbeit in tiefem Schlaf sind, da glaubte ich, ein Riesengroßer von unend­ lichen Massen riefe mich beim Namen>Eines Tages reflektierte ich (dachte ich nach) über die Seienden. Mein Denken schwebte in der Höhe und alle meine körperlichen

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Wahrnehmungen waren verschluckt wie in einem tiefen Schlaf, der auf die Sattheit, die Ausschweifung oder die Ermüdung folgt. Mir schien, daß ein ungeheures Wesen, ohne bestimmte Begrenzung, mich beim Namen riefe«.29 Gehen wir von der französischen Fassung aus, so ist es ein Zustand philosophischer Reflexion, in dem die Vision geboren wird. Die Metaphorik der Vision ist dann eigentlich die Erklärung dessen, was in der Reflexion zweifelhaft geblieben ist: >>Was willst du verstehen und sehen, was willst du lernen und wis­ sen?>untere Welt« koexistent war, und daran schießt ja auch die Feststellung an, der

logos sei mit dem Demiurgen wesensgleich (homoousios). Wenn die Satzfolge so gelesen werden kann, dann hat sich das Erste Prinzip, die oberste Region des unbegrenzten Seins, selbst gespalten und die untere Region als ihren Gegensatz aus sich abgeschieden. Diese Deu­ tung würde den Poimandres systematisch in die Nähe der viel spä­ teren Exzerpte des Theodot rücken, wo es in Exz. 7 heißt: >>Da der Vater unbekannt war, wollte er den Aeonen bekannt werden. Und durch seine Reflexion, als der, der sich selbst erkannt hat, brachte er den Geist der Erkenntnis hervor, den Eingeborenen, der in Er­ kenntnis ist ... Das Bild des Eingeborenen nennen sie den Demiur­ gen«. Damit ist eigentlich die Schöpfungsgeschichte abgeschlossen. Aber es geht weiter. Ich zitierte nun so wörtlich wie möglich: >>Aber der nous, der Vater aller Dinge, der das Leben und das Licht ist, schuf den ihm gleichen (ähnlichen) Menschen und liebte ihn wie sein eigenes Kind. Durch seine Schönheit reproduzierte es das Bild des Vaters; Gott liebt also in Wahrheit seine eigene Form. Und er übereignete ihm all seine Geschöpfe« (Par. 12). Dies Kind des Vaters eignete sich nun die Rolle des Demiurgen an, als dessen Bruder es bezeichnet wird (auch als Bruder des logos, was dasselbe sein mag oder zwei Manifestatio­ nen meinen kann). Dies Kind Gottes ist der Mensch, mit Sicherheit der Erste Mensch, der selbst gleich Gott war, wie die adamitischen Lehren behaupten. Mensch ist der Name des erscheinenden Gottes und Jesus ist darum der Menschensohn (in der späteren Gnosis wie

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in den Evangelien). Man sieht, die Vorstellungen der Gnostiker gehen oft abenteuerliche Verbindungen ein und wirken bis ins Christentum, zum mindesten in dessen Sprachgestus. Hier beginnt offenkundig ein neuer Mythos, der die Geschichte des Menschengeschlechts mit der Schöpfungsgeschichte verklammern soll. Das Kind Gottes, der gottgleiche Mensch, zeigt der unteren Welt die Herrlichkeit des Ersten nous, der der oberste eigentliche Gott ist, in seinem Spiegelbild im

Wasser. Die in der unteren Welt leben und teilhaben am nous, kön­ nen das Bild der oberen Welt wahrnehmen und erkennen, dass sie vom nous verlassen sind. Lassen wir die mythologische Einkleidung Par. 15 ff. beiseite und kommen zum heilsgeschichtlich Wesentlichen: >>Der Gott und der Vater, von dem der Mensch geboren ist, ist das Licht und das Leben. Wenn du also erkennst, daß du aus dem Leben und dem Licht hervorgegangen bist, und daß du nach ihm geformt bist, so wirst du ins Leben gehen ... Der Mensch, in dem die Intel­ ligenz ist, erkennt sich selbst>Die Auflösung des materiellen Körpers befreit seine Elemente zur Verwandlung; die sichtbare Form verschwindet, der Charakter, der seine Kraft verliert, wird dem Dämon überlassen, die Sinne kehren zu ihren Quellen zu­ rück und verschmelzen mit den Energien der Welt. Die Leidenschaf­ ten und Begierden gehen ins Irrationale ein. Was übrig bleibt, erhebt sich so durch die Harmonie hindurch>Endlich wird er in Gott geboren. Das ist das höchste Gut derer, die die Gnosis besitzen, Gott zu werden>Die Substantialisierung der Begriffe, die Gleichordnung von Physischem und Geistig-Sittlichem (die sich nicht etwa als Symbolisierung des letzteren durch das ers­ tere verstehen läßt) ist für Mani offenbar nicht nur ein die Darstel­ lung erleichterndes Stilmittel, sondern eine das Denken erst ermög­ lichende Notwendigkeit. Es steht fest, daß er keinen Wert darauf gelegt hat, seine T heorie begrifflich-dialektisch zu entwickeln; alles spricht dafür, daß er dazu auch beim besten Willen nicht imstande gewesen wäre«.33 Dies dürfte mit der sozialen Basis der Anhänger­ schaft zusammenhängen, für die Abstraktionen nicht zum alltäglichen Lebensverständnis gehörten, wohl aber Erzählungen, Legenden, Gleichnisse. Der Typus orientalischer Religionen (und übrigens auch Historiographien) ist vom griechisch-römischen streng zu scheiden. So müssen wir auch für die östlichen Kulturen eine andere Ge­ schichte der Dialektik schreiben, die wesentlich eine Dialektik der Bilder zu entwickeln hätte.34 Obwohl in dem Drama von Gut und Böse eine spezifische Dia­ lektik steckt, gewinnt der Manichäismus in unserem Zusammenhang keine eigenständige Bedeutung. Auch die kirchlichen Kontrahenten bleiben an der Oberfläche und dringen in das Wesen dieser Bilder­ sprache nicht ein.35 So bleibt der Manichäismus immer auf die ein-

33

Hans Jakob Polotskz, Manichäismus, in: Geo Widengren (Hg.)

Der Mani­

chäismus, Darmstadt 1977, S. 101 ff., hier S. 108. 34

Zur Dialektik der Bilder vgl. Walter Benjamin. - Siehe Ansgar Hillach, Dia­ lektisches Bild, in: Opitz-Wizisla (Hg.),

Benjamins Begriffe, Frankfurt am

Main 2000, S. 186 ff. 35

F. Ch. Baur, a.a.O., S. 19. Während wir beim Poimandres die mythologisierende

Bildsprache durchweg auf eine platonisierende Begriffssprache übertragen

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fache Gefahr eines Unterlaufens der monotheistischen Grundset­ zung reduziert. Die schon von Baur richtig erkannte Wesenseigen­ tümlichkeit des Manichäismus gerät damit gar nicht in den Blick. >>Das Religionssystem [scil. Des Manichäismus] ... ist, wenn wir das Wesentliche vom minder Wesentlichen scheiden und auf diese allge­ meinen Prinzipien zurückgehen, das heidnische, sofern wir ihm den Charakter einer Naturreligion beilegen müssen, welcher der ethische Charakter des Christentums noch fremd ist«.36 Die aus dem Irani­ schen, vielleicht auch Indischen (wohin der junge Mani gekommen ist) stammende Gleichursprünglichkeit von Gut und Böse schließt die den christlichen T heologen eh und je beunruhigende Frage unde malum? aus. Dass Mani das Böse auch als hyle bezeichnet, klingt platonisch, kann aber, gerade wegen der daraus gefolgerten Notwen­ digkeit der Überwindung oder Nichtung der Welt, durchaus indische Quellen haben. Es bleibt bei einem Antagonismus, der nur mit Sieg oder Niederlage enden kann, die dialektische Kategorie der Aufhe­ bung (wie sie zum Beispiel bei Plotin gedacht wird) fehlt ganz. Der Fixierung auf den Manichäismus als Gegner ist geschuldet, dass lange Zeit dialektische Konfigurationen unter dem Gesichtspunkt des Dua­ lismus aufgefasst und beiseite geschoben wurden. Eigentlich hat erst das wieder auflebende Interesse am späten Platon und seinen neu­ platonischen Nachfolgern in der Renaissance den Weg für die wei­ tere Entwicklung der Dialektik in der Moderne freigemacht.37

6. Phifon Die theoretisch unterlegte wie die im Glaubensakt unmittelbar ergrif­ fene Gnosis haben beide das Transzendente und das in die Tran­ szendenz einbezogene Selbst zum Gegenstand der Erkenntnis. Ja,

können, gilt für die manichäischen Texte, dass es darauf ankommt, >>das Kon­ krete und das Abstrakte, das Mythische und das Logische, das Bild und den Begriff stets so aufeinander zu beziehen, daß das Eine in dem Andern sich ausgleicht und beide Formen der Darstellung neben einander bestehen kön­ nen>im Ganzen

divergierende Geistesrichtungen>Auch das scharfäugigste Sehen ist unvermö­ gend, den Ungeschaffenen zu erblicken, sodaß es eher erblinden würde als zu schauen«.38 Für Philon ist >>das Auge der Seele« ... >>das klarste und von allen scharfsinnigste, dem allein es verstattet ist, Gott zu schauenwir haben keinerlei Organ in uns, womit wir jenes vorstellen

38

(phantasiothenai) könnten, weder Sinneswahrneh-

HansJonas , a.a.O., Bd. II, S. 70-71.

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mung noch Vernunft (nous)«.39 Jonas merkt nicht, dass er die Auf­ lösung des Widerspruchs selbst in der Hand hält, wenn er im Folgen­ den zitiert: >>Erkenntnis und Wissen vom Seienden empfängt selbst der lauterste und prophetischste nous nicht vom Seienden selbst denn er würde seine Größe nicht fassen - sondern von seinen ersten und ihm nächsten Kräften; und schon damit muss man zufrieden sein, daß von dorther die Strahlen in die Seele gelangen, damit sie vermittels eines zweiten Lichts das ursprünglichere und strahlendere schauen kann ... Gleichsam wie durch einen Spiegel sieht der Geist Gott in seinem Wirken, in seiner welterschaffenden und welterhal­ tenden T ätigkeit>Auge der Seele« als Gedan­ ken Gottes, als Hervorbringungen aus Gott selbst, als seine Manifes­ tationen anschaut und begreift. Das ist das zweite Licht, das Licht, das der Spiegel reflektiert. Das ist spekulative Erkenntnis, nicht sinn­ lich-dianoetische, auch nicht mystische. Sie ist eine noesis, deren

noeton Gott ist. Das Spiegelbild aber, in dem Gott am reinsten und klarsten zur Erscheinung kommt, ist der Mensch, den Gott nach seinem Bilde, als imago Dei, geschaffen hat. Nicht der Mensch in seiner leiblichen Materialität, sondern das spirituelle Selbst, in dem Gott als Geist, als

Iogos, sich abbildet und das unsterblich ist wie Gott selbst. Darum muss das Selbst sich von seinem weltlichen Schlechten reinigen, seine leiblichen Eigenschaften abstreifen, um zu seiner göttlichen Natur in

39

Ebd., S. 71, Anm. 3

40

Ebd., S. 72.

u

nd 4.

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Reinheit aufzusteigen. Gnostische Lehren sagen, das Selbst wird dann zu Gott, vereinigt sich mit ihm. Das wäre für den Juden Phiion Blas­ phemie. Die imago-Dei-Lehre, für die er das Alte Testament in An­ spruch nehmen kann, wahrt die Distanz zwischen Urbild und Abbild. Auch entsteht ja Erkenntnis nur aus der Distanz. Für den Menschen ist es die Erkenntnis der Selbigkeit (nicht Identität) mit einer kleinen Minderung: Der Ur-Adam war Gott, wie er sich selbst darstellte, wir, die Nachkommen Adams, sind dessen getreue Spiegelbilder. In Gott erkennen wir uns selbst, in uns selbst erkennen wir Gott. Da­ rum erwidert Gott dem Moses, der ihn bittet, sich ihm zu eröffnen: >>Was du verlangst, ist keinem geschaffenen Wesen gemäß ... Daher erkenne dich selbst, laß dich nicht von einem Streben und Begehren fortreißen, das deine Kräfte übersteigt, und nicht durch eine Sehn­ sucht nach Unerreichbarem in schwindelnde Höhen entrücken, denn von dem, was du erreichen kannst, soll dir nichts versagt bleiben (spec. leg., I, 43 f.)