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German Pages 154 [162] Year 1993
DEUTSCHE
ZEITSCHRIFT
FÜR
PHILOSOPHIE Monatszeitschrift
der
internationalen
philosophischen
Forschung.
40.Jahrgang
7/1992
Heinrich Niehues-Pröbsting Diogenes in der Aufklärung Thomas Leinkauf Piaton und der Piatonismus bei Marsilio Ficino Nikolaos Avgelis Wahrheit und Erkenntnisfortschritt Volker Rühle Nihilistische Erfahrung und Erfahrung des Nihilismus Uwe Czaniera Die vierte These des TRACTATUS: Sturz und Reinthronisation der Philosophie Frank Naumann Von der Interaktion zur Sprache Wolfgang Bialas Intellektuelle in der Zerstreuung - die Philosophen der DDR im Prozeß der Vereinigung
Akademie Verlag
INHALT Heinrich Niehues-Pröbsting in der Aufklärung
(Münster/Rostock):
Die Kynismus-Rezeption der Moderne: Diogenes 709
Thomas Leinkauf (Berlin): Piaton und der Piatonismus bei Marsilio Ficino
Nikolaos Avgelis (Thessaloniki):
735
Wahrheit und Erkenntnisfortschritt. Überlegungen im Anschluß
an Kant
757
Volker Rühle (Prag): Nihilistische Erfahrung und Erfahrung des Nihilismus
771
Uwe Czaniera (Bremen): Die vierte These des TRACTATUS: Sturz und Reinthronisation der Philosophie
789
Frank Naumann (Berlin): Von der Interaktion zur Sprache. Kommunikationsforschung im Lichte moderner Entwicklungstheorien
807
KORRESPONDENZ Wolfgang Bialas (Berlin/Bielefeld): im Prozeß der Vereinigung
Intellektuelle in der Zerstreuung. Die Philosophen der DDR 819
REZENSIONEN Bertram Kienzle/Helmut Pape (Hg.): Dimensionen des Selbst. Selbstbewußtsein, Reflexivität und die Bedingungen von Kommunikation (G. Katsakoulis)
833
Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? (E. Fuchs)
837
Friedrich Heiler: Die Religionen der Menschheit (H. Röfke)
840
Gernot Böhme (Hg.): Klassiker der Naturphilosophie. Von den Vorsokratikern bis zur Kopenhagener Schule (R. Wahsner)
842
Hans Ebeling: Martin Heidegger. Philosophie und Ideologie (B. Frischmann)
843
Hans-Christoph
Rauh
(Hg.):
Gefesselter
Widerspruch:
Die
Affäre
um
Peter
Rüben
(H. Velarde)
844
Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität" (R. Jansen)
848
Stephan Otto: Das Wissen des Ähnlichen. Michel Foucault und die Renaissance (N. Winkler)
850
DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR
PHILOSOPHIE
40. Jahrgang • 1992 • Heft 7
ISSN 0012-1045
Dtsch. Z. Philos., Berlin 40 (1992) 7, 709-734
Die Kynismus-Rezeption der Moderne: Diogenes in der Aufklärung Von HEINRICH NIEHUES-PRÖBSTING (Münster/Rostock) 1. Für jeden, der sich mit der Geschichte der Kynismus-Rezeption beschäftigt, stellt sich als erstes Problem die Frage der Quellen. Ich meine damit nicht den fragmentarischen Zustand, in dem uns die antiken Dokumente überliefert sind, sondern die literarische Form jener Texte, in denen kynisches Gedankengut formuliert, tradiert und aktualisiert wurde. Mit welcher Sorte von Texten haben wir es da zu tun? Wo sind die einschlägigen Belege zu suchen und zu finden? Und wie stellt sich die Lage speziell in der Neuzeit dar? Bevor ich mich den Inhalten zuwende, möchte ich diese formale Seite der Rezeption wenigstens kurz ansprechen. Philosophie produziert sich - und das gilt für die Neuzeit mehr als für die Antike - überwiegend in Theorien und theoretischen Abhandlungen. Das Fortleben einer Philosophie vollzieht.sich wesentlich in der Tradierung und Kommentierung, in der Diskussion und in der Kritik sowie im Ausbau ihrer Theorien. Diese Traditionsund Rezeptionsbasis fehlt dem Kynismus; denn er hat keine Theorien produziert. Das aus der Antike und zumal von Diogenes Laertius zum Kynismus überlieferte Material ist größtenteils anekdotisch-biographischer und gnomischer Natur. Die Anekdote und die Gnome sind die wichtigsten Medien der kynischen Überlieferung, und sie sind die dem Kynismus und seiner Darstellung am meisten gemäßen literarischen Formen. Dieses Material geht nun in großem Umfang in die frühe neuzeitliche Geschichtsschreibung der Philosophie ein. Das verdankt sich dem Umstand, daß diese Geschichtssschreibung noch weitgehend dem Muster der antiken Historiographie der Philosophie und dem Vorbild der singulären antiken Philosophiegeschichte, der Philosophenbiographien des Diogenes Laertius, verpflichtet ist. Und wie bei Diogenes Laertius, der dem Kynismus ein eigenes Buch widmete, so nimmt in den frühen Philosophiegeschichten der Neuzeit die Darstellung der kynischen Schule oder „Sekte" und zumal des Diogenes von Sinope einen breiten Raum ein, weitaus mehr Raum, als vielen Philosophen eingeräumt wird, denen die heutige Geschichtsschreibung der Philosophie aus theoretischen Gründen die größere Relevanz beimißt und denen sie sehr viel mehr Aufmerksamkeit und Platz als den Kynikern widmet. Die anekdotische und gnomische Uberlieferungsbasis des Kynismus wird in der Neuzeit gleich zweimal in Frage gestellt und erschüttert 1 : Zuerst durch die histori48
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DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR
PHILOSOPHIE
40. Jahrgang • 1992 • Heft 7
ISSN 0012-1045
Dtsch. Z. Philos., Berlin 40 (1992) 7, 709-734
Die Kynismus-Rezeption der Moderne: Diogenes in der Aufklärung Von HEINRICH NIEHUES-PRÖBSTING (Münster/Rostock) 1. Für jeden, der sich mit der Geschichte der Kynismus-Rezeption beschäftigt, stellt sich als erstes Problem die Frage der Quellen. Ich meine damit nicht den fragmentarischen Zustand, in dem uns die antiken Dokumente überliefert sind, sondern die literarische Form jener Texte, in denen kynisches Gedankengut formuliert, tradiert und aktualisiert wurde. Mit welcher Sorte von Texten haben wir es da zu tun? Wo sind die einschlägigen Belege zu suchen und zu finden? Und wie stellt sich die Lage speziell in der Neuzeit dar? Bevor ich mich den Inhalten zuwende, möchte ich diese formale Seite der Rezeption wenigstens kurz ansprechen. Philosophie produziert sich - und das gilt für die Neuzeit mehr als für die Antike - überwiegend in Theorien und theoretischen Abhandlungen. Das Fortleben einer Philosophie vollzieht.sich wesentlich in der Tradierung und Kommentierung, in der Diskussion und in der Kritik sowie im Ausbau ihrer Theorien. Diese Traditionsund Rezeptionsbasis fehlt dem Kynismus; denn er hat keine Theorien produziert. Das aus der Antike und zumal von Diogenes Laertius zum Kynismus überlieferte Material ist größtenteils anekdotisch-biographischer und gnomischer Natur. Die Anekdote und die Gnome sind die wichtigsten Medien der kynischen Überlieferung, und sie sind die dem Kynismus und seiner Darstellung am meisten gemäßen literarischen Formen. Dieses Material geht nun in großem Umfang in die frühe neuzeitliche Geschichtsschreibung der Philosophie ein. Das verdankt sich dem Umstand, daß diese Geschichtssschreibung noch weitgehend dem Muster der antiken Historiographie der Philosophie und dem Vorbild der singulären antiken Philosophiegeschichte, der Philosophenbiographien des Diogenes Laertius, verpflichtet ist. Und wie bei Diogenes Laertius, der dem Kynismus ein eigenes Buch widmete, so nimmt in den frühen Philosophiegeschichten der Neuzeit die Darstellung der kynischen Schule oder „Sekte" und zumal des Diogenes von Sinope einen breiten Raum ein, weitaus mehr Raum, als vielen Philosophen eingeräumt wird, denen die heutige Geschichtsschreibung der Philosophie aus theoretischen Gründen die größere Relevanz beimißt und denen sie sehr viel mehr Aufmerksamkeit und Platz als den Kynikern widmet. Die anekdotische und gnomische Uberlieferungsbasis des Kynismus wird in der Neuzeit gleich zweimal in Frage gestellt und erschüttert 1 : Zuerst durch die histori48
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sehe Kritik, wie sie Pierre Bayle exemplarisch und folgenreich praktizierte. Bei ihm und seinen Nachfolgern wird das reichhaltige anekdotisch-biographische Überlieferungsmaterial dem Maßstab historischer Glaubwürdigkeit unterworfen, und es wird damit auf einen immer geringer werdenden Bestand für wahr gehaltener Anekdoten reduziert. Erst im Gegenzug zur historisch-philologischen Kritik wird man später einsehen, daß der Wert einer Anekdote - ihr philosophischer oder moralischer Sinn - nicht unbedingt von ihrer historischen Wahrheit abhängt. Immerhin garantieren die Erfordernisse der historischen Kritik, daß auch die unwahren Geschichten, die „Fabeln" oder „Märchen", vorerst noch präsent sind, selbst wenn es nur darauf ankommt, sie durch den Nachweis ihrer Ungeschichtlichkeit zu entwerten und aus dem Verkehr zu ziehen. Im Gegenteil, gerade das macht es notwendig, sich eingehend mit ihnen zu beschäftigen, wie es zum Beispiel Bayle mit bestimmten Versionen der Diogenes-Alexander-Anekdote oder ein deutscher Nachfolger Bayles, Christoph August Heumann, mit der Anekdote vom Faß des Diogenes tun. Die zweite Erschütterung, die die anekdotisch-biographische Basis der Kynismus-Rezeption in der Historiographie der Philosophie erfuhr, war noch folgenreicher und verheerender als die durch die historische Kritik. Sie geschah durch jenes Verständnis von Philosophiegeschichte, das Hegel formuliert und infolgedessen er die frühere Historiographie der Philosophie als unphilosophisch abqualifiziert hat. Danach reduziert sich die Geschichte der Philosophie auf Ideengeschichte: N u r die theoretischen Produkte der Philosophen, nicht ihre Lebensläufe sind für die Geschichte der Philosophie von Bedeutung. Zuvor hatte die biographische Uberlieferung in der Philosophiegeschichtsschreibung einen großen Raum eingenommen, weil dem Leben des Philosophen exemplarischer Charakter beigemessen wurde und das Leben als Prüfstein der Lehre galt. Nun wird die biographische Uberlieferung z u m wesenlosen und überflüssigen Beiwerk: „Die Körper der Geister, welche die Helden dieser Geschichte sind, ihr zeitliches Leben ist wohl vorübergegangen, aber ihre Werke sind ihnen nicht nachgefolgt; denn der Inhalt ihrer Werke ist das Vernünftige", heißt es bei Hegel. Nur auf die Werke kommt es an, und zwar um so mehr, je mehr sie die individuelle Signatur ihrer Urheber abgestreift haben, je mehr sie „dem freien Denken, dem allgemeinen Charakter des Menschen als Menschen angehören, je mehr dieß eigenthümlichkeitslose Denken selbst das producirende Subjekt ist". 2 Für diejenigen Philosophen, die keine theoretischen Werke hinterlassen haben und die lediglich durch ihre exemplarische Individualität oder die Eigentümlichkeit ihrer Person in die Überlieferung eingegangen sind, bedeutet dies den Ausschluß aus der Philosophiegeschichte. Mit ihnen kann eine auf Theorieund Ideengeschichte reduzierte Historiographie der Philosophie nichts mehr anfangen. Das betrifft vor allem die Kyniker und ihren Protagonisten Diogenes. Auch wenn sie im 19. Jahrhundert in den Philosophiegeschichten noch mitgeschleppt werden und erst in neuester Zeit immer häufiger daraus verschwinden - faktisch sind sie durch das Hegeische Verständnis von Philosophiegeschichte in das Kuriositätenkabinett am Rande dieser Geschichte abgeschoben worden. Philosophiegeschichtliche Darstellungen sind zwar die nächstliegenden, aber nicht immer auch die interessantesten Dokumente der Kynismus-Rezeption,
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zumindest für den nicht, der den Zusammenhang von antikem Kynismus und modernem Zynismus untersucht und der Genese des modernen Begriffs nachforscht. Hier sind die historisch distanzierten und objektivierenden Darstellungen meist weniger aufschlußreich als die aktualisierenden Rezeptionen. Damit ist nicht die praktische Nachahmung der kynischen Lebensweise gemeint, obwohl auch das in der Neuzeit vereinzelt vorkommt. Die Aktualisierung kann auch in der bewußten Nachahmung einzelner kynischer Gesten, in dem Bekenntnis zu kynischen Maximen und Haltungen, in der literarischen Beziehung auf kynische Motive und die Gestalt des Kynikers, in der Verwendung dieser Gestalt als Projektions- und Identifikationsfigur und anderem mehr liegen. Solche Bezugnahmen finden sich weniger in theoretisch-philosophischen als vielmehr in literarisch-philosophischen und in rein literarischen Texten, etwa in moralistischer, satirischer und aphoristischer Literatur, und mit der Zeit gewinnt man ein Gespür dafür, bei welchem Autor aufgrund seiner Neigungen und Kenntnisse kynische Motive und Zitate vermutet werden können. Die Themen und.Zusammenhänge, in denen solche Bezugnahmen zu finden sind, sind zum Beispiel Sexualität und Satire, Misanthropie, gesellschaftliches Außenseitertum und forcierter Individualismus, Kulturkritik und die Propagierung zivilisationsfreier, natürlicher Zustände. Als dezidiert kynisch gelten in der frühen Neuzeit die schamlose sexuelle Redeweise sowie die beißende Satire und der verletzende Spott; und hier liegen denn auch die Wurzeln des modernen Zynismusbegriffs. Der moderne Zynismus ist ursprünglich der sexuelle und der komische. 3 Ich möchte nun die neuzeitliche Kynismus-Rezeption und den Zusammenhang mit dem modernen Zynismusbegriff am Leitfaden eines Themas darstellen, das aus philosophischer Perspektive das ergiebigste ist und das auch im Zentrum der jüngsten Rezeption und Aktualisierung des Kynismus steht: dem Verhältnis der Aufklärung zum Kynismus. Ich beginne mit einem Zitat, in dem die wichtigsten Aspekte dieses Themas angedeutet sind und das deswegen als Motto des Folgenden dienen mag: „Diogenes der Cyniker ist einer von denen außerordentlichen Menschen gewesen, die in allem ausschweifen, auch die Vernunft nicht ausgenommen, und welche den Grundsatz bekräftigen: daß es keinen großen Geist giebt, in dessen Charakter sich nicht ein wenig Narrheit einschleicht." Mit diesen Sätzen eröffnete Pierre Bayle, der bedeutende Wegbereiter der Aufklärung, den Artikel Diogenes in s e i n e m Dictionnaire
historique et
critiqueA
Vier Punkte dieser summarischen Einschätzung der Gestalt des Protokynikers hebe ich hervor: 1. Diogenes ist ein „außerordentlicher Mensch" und „großer Geist" - jemand, dem Bayle große Aufmerksamkeit und einen großen Artikel widmet. 2. Diogenes ist ein Repräsentant der Vernunft, jener Instanz also, die für die Aufklärung die oberste und maßgebliche ist. Das begründet die Sympathie der Aufklärer für den Kyniker und macht ihn zur geeigneten Identifikations- und Projektionsfigur aufklärerischer Motive und Ideale. Solche Ideale, die die Aufklärung im Kynismus vorgedacht und vorgelebt sah, sind z u m Beispiel die Vorurteilslosigkeit und die freimütige Kritik an weltlichen und religiösen Autoritäten, die Autonomie des Individuums und die autonome, von religiösen Zwängen freie Moral, die allgemeine Menschenliebe und das Weltbürgertum. 48*
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Heinrich Niehues-Pröbsting, Diogenes in der Aufklärung
3. Diogenes vertritt aber nicht nur die Vernunft, sondern auch ihr Gegenteil, das „Andere der Vernunft", die Narrheit. Das macht ihn bzw. den, der sich zu ihm bekennt, zur Spottfigur der Aufklärung und den Namen des Kynikers zum Schimpfwort, mit dem die Aufklärer den Außenseiter in ihren Reihen, Rousseau, belegen. Zur Geschichte der Philosophennamen und philosophischen Schulbezeichnungen gehört die rhetorische Funktion, die nicht selten mit ihnen verknüpft ist und die die reine Begriffsgeschichte und Doxographie, fixiert auf den sachlichen Gehalt und die inhaltliche Bedeutung der Begriffe, gewöhnlich außer acht lassen. „Epikureismus", „Idealismus", „Positivismus", um nur einige Beispiele zu nennen, sind ja nicht Bezeichnungen purer Sachverhalte, sondern stehen für umstrittene Positionen und Programme; sie dienen darüber hinaus als polemische Vokabeln und sogar als Beschimpfungen. Nicht selten macht man jemanden zum Epikureer, Idealisten oder Positivisten, um ihn als solchen an den Pranger zu stellen und attackieren zu können. Das gilt nun für„Kyniker" und „Kynismus" und zumal für „Zyniker" und „Zynismus" in besonderer Weise. Bei „Zyniker" und Zynismus" steht umgangssprachlich die polemische Absicht zumeist im Vordergrund und vor einer bestimmten inhaltlichen Bedeutung. Was immer es heißen mag, wenn zum Beispiel ein Politiker einem anderen Zynismus vorwirft - es ist jedenfalls etwas Schlimmes damit gemeint und signalisiert höchste Entrüstung auf Seiten dessen, der den Vorwurf erhebt. Hat man einmal den Blick geschärft für die rhetorische Potenz und polemische Virulenz, die in der Kynikergestalt und im Begriff des Kynismus in der frühen Neuzeit liegen, so wird man auf die erhebliche Rolle aufmerksam, die die DiogenesGestalt und der Kynismus in der Selbstbestimmung der Aufklärer als „Philosophen", im Streit der Aufklärer untereinander und in der Bekämpfung der Aufklärer durch ihre Gegner spielen. Solange die Aufklärung selbst noch nicht historisch erledigt ist, sind die Streitigkeiten und Auseinandersetzungen in der und um die Aufklärung von mehr als nur historischem Interesse. Die Geschichte der KynismusRezeption liefert nicht zuletzt einen wesentlichen Beitrag zum polemischen Stil der Aufklärer wie auch der Gegenaufklärer. Eine Phänomenologie der Polemik und des Ausdrucks von Verachtung findet darin reiches Anschauungsmaterial. 4. Im Kynismus ist die Narrheit nicht ein zufälliges Moment, sondern eine Konsequenz der Vernunft selbst, die Konsequenz ihres „Ausschweifens". Die kynische Narrheit ist die Nacht- und Schattenseite der Vernunft. Im Kynismus entdeckt die Aufklärung die Gefahr der Pervertierung der Vernunft, des Umschlagens der Vernunft in Unvernunft und Wahn, des Scheiterns der Vernunft an zu hoch gesteckten Zielen. In ihrer Affinität zum Kynismus wird sich die Aufklärung dieser Selbstgefährdung bewußt. In der Reflexion über den Kynismus leistet sie ein notwendiges Stück Selbsterkenntnis und Selbstkritik. Deren Ergebnis wird sein, daß das Scheitern der Aufklärung, die mißlungene, fehlgeleitete Aufklärung, in den Zynismus im modernen Sinne des Wortes führt. „Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein."5 Bayle beruft sich mit seiner Einschätzung des Diogenes auf jenes antike Diktum, demzufolge Piaton den Diogenes einen „Sokrates mainoumenos", einen „närrischen Sokrates", genannt haben soll. An dieses Diktum werden wir im folgenden
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mehrfach erinnert werden, wenn ich die drei zuletzt genannten Aspekte aufklärerischer Kynismus-Rezeption, die für das Verständnis der Aufklärung selbst von weitreichender Bedeutung sind, durch entsprechende Beispiele illustriere. Das Diktum ist so treffend, weil dadurch sowohl das Übertreibende, Karikierende, als auch das Verkehrende und Verkehrte ausgedrückt ist, das das Verhältnis des Diogenes zu Sokrates, und speziell zum Platonischen Sokrates, kennzeichnet. Sokrates ist bekanntlich eine der großen Leitfiguren der Aufklärung. Die Identifikation mit ihm ist unproblematisch. Anders verhält es sich mit dem „närrischen Sokrates". Wenn sich die Aufklärung in ihm spiegelt, sieht sie sich nicht nur ideal, nicht nur als gelingende, sondern auch als mißlingende und mißlungene.
2. Die reine Idealisierung des Kynikers aus der Sicht der Aufklärung finden wir in Christoph Martin Wielands literarischer Aneignung der Diogenes-Gestalt, zuerst 1770 unter dem Titel Sokrates mainomenos oder die Dialogen des Diogenes von Sinope erschienen. Das Buch hatte einen raschen und großen, aber kurzen Erfolg. Schon 1772 erschien es in französischer Übersetzung: Socrate en délire, ou Dialogues de Diogène de Synope. Diderot kannte es und schätzte deswegen den Verfasser. Der bedeutendste Literat der deutschen Aufklärung neben Lessing hat darin die antike Diogenes-Überlieferung mit fiktiven Geschichten vermengt und das Ganze im Stil des Rokoko und der Empfindsamkeit romanhaft ausgestaltet. Das Hauptanliegen, das Wieland mit seinem Diogenes verfolgt, ist die Darstellung der freien, unabhängigen Persönlichkeit. „Ich gestehe also", so Wielands Diogenes, „daß ich vor vielen Jahren ausdrücklich darauf studirt habe, ,wie ich mich so unabhängig machen könnte, als möglich wäre'. Ich fand, ,daß dies unter gewissen Bedingungen möglich sei', und ,daß diese Bedingungen in meiner Gewalt lägen'." 6 Der Unabhängigkeit dienen die Bedürfnislosigkeit und die Distanz zur Gesellschaft, und nur in bezug darauf sind sie für den Kyniker Wielands erstrebenswert. Der kynische Tugendbegriff wird von Wieland dem eigenen Ideal aufgeklärter Humanität, das seinerseits der Idealisierung des Griechentums durch Winckelmann wesentlich verpflichtet ist, angepaßt sowie der Sinnen- und Lustfeindlichkeit stoisch-christlicher Moral entgegengesetzt. Die Tugend dieses Kynikers ist nicht ungraziös. Diogenes gibt sich nicht als asketisch-finsterer Tugendfanatiker oder als rigoroser Moralapostel. Er ist - mit seinen eigenen Worten - „kein Verächter des Schönen", „kein Feind des Vergnügens", „kein Hasser der Freude". Predigt der Platoniker: „die Wollust entnervt", so hält er dagegen: „die Tugend auch". Die Lust an sich kann schon deswegen nicht des Teufels sein, weil Gutes zu tun selbst das höchste, ein „göttliches Vergnügen" ist. Wie die Tugend wesentlich der Humanität verpflichtet ist, so sind Untugend und Laster nicht Lust, sondern Vergehen gegen die Menschlichkeit und Mangel an Humanität aus Bosheit, Egoismus, Mißgunst oder Indolenz gegenüber âen Nöten anderer. Die Distanz zur Gesellschaft bedeutet also nicht Misanthropie. Der Kyniker gehört keiner bestimmten Gesellschaft und keiner einzelnen Nation an, sondern er ist ein Weltbürger. Das Weltbürgertum aber ist die vollkommene Realisierung der
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Heinrich Niehues-Pröbsting, Diogenes in der Aufklärung
Aufklärung: Wer Mitglied einer besonderen Gesellschaft ist und sich mit ihr identifiziert, unterliegt Vorurteilen und Meinungszwängen; seine Tätigkeiten sind von einseitigen Interessen bestimmt. Jede Gesellschaft hat ihre besonderen Moralvorstellungen, und was danach als Tugend gilt, „ist vor dem Richterstuhl der Natur oft nur ein glänzendes Laster". Indem der Weltbürger sich von den Vorurteilen und Parteilichkeiten freihält, die die Einbindung in einzelne Gesellschaften notwendig mit sich bringt, hat er einen ausgezeichneten Bezug zur Wahrheit. Damit ist er befähigt, den anderen „die Wahrheit zu sagen", und kann daher von größtem Nutzen sein, wenn die anderen davon nur Gebrauch machen. So ist die Existenz des Kynikers im allgemein menschlichen Sinne positiv legitimiert. Die schärfste Kritik des Kynikers trifft die Reichen, die Drohnen der Gesellschaft. Im Schutz der bürgerlichen Verfassung und ihrer Organe erwirken und vermehren sie ihren Besitz durch die Ausbeutung der Arbeitskraft anderer; und die staatliche Ordnung bewahrt den Besitz auch noch vor dem Zugriff derer, die ihn geschaffen haben. Aber die bürgerliche Verfassung ist nicht identisch mit dem Naturrecht; denn das kennt keine geborenen Sklaven. Von Natur aus ist der Arbeiter vom Herrn nicht unterschieden, sondern alle sind gleich. Und so ist der Gedanke nicht abwegig, daß sich die gesellschaftlich Benachteiligten eines Tages gegen die Bevorzugten zum Zweck einer Revolution zusammenschließen. Wie zur Beruhigung der Obrigkeit läßt Wieland seinen Diogenes diesen revolutionären Gedanken dann wieder entschärfen: Es sei damit ein Fall gesetzt, der zwar möglich, aber „aus vielen Ursachen nicht sehr zu besorgen scheint". 7 In der Kritik der ungleichen Gesellschaftsverhältnisse zeigt sich Wielands Diogenes am konkretesten der Aufklärung und ihren politischen Ideen verpflichtet. Hier ist er am radikalsten und wird mit dem Gedanken an eine mögliche Revolution zwanzig Jahre vor der Französischen - geradezu prophetisch. Hier, wo er redet, als sei er ein Staatstheoretiker der Neuzeit, mutet er am modernsten und damit zugleich am meisten anachronistisch an. Dennoch steht dabei ein für den Kynismus des Diogenes zentrales Motiv im Hintergrund, nämlich die Antithese von Gesetz und Natur, von nomos und physis, mit deren praktischer Umsetzung der antike Kyniker sich als Erbe und Vollstrecker der sophistischen Aufklärung darstellt. Beim Diogenes Wielands wird die Antithese zur Differenz von positivem bürgerlichen Recht und Naturrecht. In der Ikonographie der Französischen Revolution wird Diogenes geradezu zum Bürgerhelden, und ein deutscher Graf, Gustav von Schlabrendorf, der in philanthropischer und republikanischer Begeisterung für die Revolution 1789 nach Paris zieht, mit Mirabeau vertrauten Umgang hat, der Bedrohung durch den Terror entkommt und die Machtentfaltung Napoleons kritisiert - dieser Gustav von Schlabrendorf wird der „Diogenes von Paris". 8 Wieland hat in seinen Diogenes-Roman eine Reihe von Satiren auf Religion, Philosophie und Staatsentwürfe eingeflochten und sich privat darüber mokiert, daß die meisten Leser die zeitgenössischen Gegenstände der Satire: Kirche, Metaphysik und rousseauistische Gesellschaftsutopien, unter der antiken Verkleidung nicht erkannt haben. Die Verwendung des Diogenes als Sprachrohr der Satire, die an die satirische Seite des antiken Kynismus anknüpft, ist im 18. Jahrhundert üblich und verbreitet.
Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 7
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In dem Diogenes-Roman Wielands steckt ein gut Teil Identifikation des Autors mit seiner Hauptfigur. In einem Brief an die Freundin Sophie von la Roche bekennt er sich ausdrücklich dazu: „Vouz voyez, que la philosophie de Diogene est beaucoup plus la mienne, que Vous m'avez parü vouloir la croire." 9 Wieland, der gerade Professor der Philosophie in Erfurt geworden ist, formuliert im Ideal der kynischen Autarkie seinen Wunsch nach jenem Freiraum, der die Bedingung intellektueller Eigenständigkeit ist. Die Existenzweise des Kynikers wird zum Modell für die gesellschaftliche Position des modernen Intellektuellen. Wieland hat ab der dritten Auflage den Titel des Romans in Nachlaß des Diogenes von Sinope geändert. Sokrates mainomenos erschien ihm zu anrüchig; denn sein Diogenes sollte kein unverschämter Narr sein, wie er etwa bei Diogenes Laertius und Athenäus dargestellt werde. Glaube man diesen beiden, „so müßte Diogenes der Cyniker der verachtenswürdigste, tollste, unfläthigste und unerträglichste Kerl gewesen sein, der jemals die menschliche Gestalt verunziert hätte." Nur als geschönter, idealischer Kyniker, wie er etwa bei Epiktet und bei Lukian in der Biographie des Demonax beschrieben werde, ist Diogenes Wielands Vorbild. Der negative, schmutzige und grobe Kynismus wird von dem Urbanen Aufklärer perhorresziert und abgespalten. Wieland, so schrieb sein Biograph Gruber, schildere den Diogenes „als einen Sonderling zwar, aber mit einem große Theil Cynismus weniger und echter Weisheit mehr, als man ihm gewöhnlich zugestand." 10 Wieland selbst begründete den Rest an „Cynismus" in dem Roman mit der Notwendigkeit, bei aller Idealisierung ein Minimum an historischer Wiedererkennbarkeit seiner Titelfigur zu bewahren. Auf ein einziges anstößiges Wort dieser Figur angesprochen, rechtfertigte er sich, das Wort „würde nicht in meinem Buche seyn, wenn ich selbst spräche, allein Diogenes, der Cyniker ist's, welcher spricht, den ich so verschönt habe, daß ich wol hie und da einen Zug von Cynismus anbringen mußte, um den Mann für die Herren Gelehrten nicht ganz unkenntlich zu machen." 11 Wieland war, seiner ganzen Veranlagung nach, zum „Cynismus" nicht disponiert, wie Goethe treffend bemerkte, der als junger Mann von der Lektüre des DiogenesRomans begeistert war. Zum einen war Wieland zu moderat für die Extreme des „Cynismus". Humor, Ironie und Satire sind wesentliche Elemente seines literarischen Schaffens; dafür waren ihm vor allen Laurence Sterne und Lukian prägende Vorbilder. Aber die Verschärfung zum zynischen Witz lagen der Verbindlichkeit und der Humanität seines Charakters fern. Er war der Erotik, wie er sie in der zeitgenössischen französischen Literatur, zum Beispiel in den Romanen Diderots, antraf, ganz und gar nicht abgeneigt, was ihm den Vorwurf der Schlüpfrigkeit eintrug. Aber er vermied die krasse „cynische" Thematisierung der Sexualität. Zum anderen stand Wieland der kynischen Kultur- und Zivilisationskritik, wie sie gerade in Rousseau eine spektakuläre Renaissance erlebte, durchaus skeptisch gegenüber; bezeichnenderweise begrüßte Napoleon ihn, von seinem geisteswissenschaftlichen Beraterstab entsprechend instruiert, als den „deutschen Voltaire". Wieland selbst war zur kynischen Askese, zum Minimum und zur Krudität kynischer Bedürfnisbefriedigung nicht aufgelegt, sondern neigte eher einem maßvollen Hedonismus zu. Er war im Rokoko verwurzelt, dessen Verfeinerung der Sitten ihm eine zweite Natur war und dem kynischen Grobianismus diametral entgegenstand, wie
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Heinrich Niehues-Pröbsting, Diogenes in der Aufklärung
Goethe treffend konstatierte: „Es ist sonach kein Wunder, daß die zarte Natur von Wieland sich der aristippischen Philosophie zuneigt, sowie auf der anderen Seite seine so entschiedene Abneigung gegen Diogenes und allen Cynismus aus der nämlichen Ursache sich sehr befriedigend erklären läßt. Ein Sinn, mit dem die Zierlichkeit aller Formen, wie bei Wieland, geboren ist, kann unmöglich an einer beständigen Verletzung derselben als System Wohlgefallen finden." 12 Da Wieland in all diesen Aspekten dem Kynismus im Grunde fremd, ja ablehnend gegenüberstand, gewinnt jener eine Aspekt um so mehr Gewicht, der ihn zur Beschäftigung mit dem Thema und zur Identifikation mit dem Protokyniker verlockte: die Unabhängigkeit der Person. Das ist für ihn das Wesentliche seines Diogenesverständnisses, das er im fortgeschrittenen Alter auf diesen Punkt konzentriert. Noch im Rückblick nach fast drei Jahrzehnten bewertet er den Diogenes als eines seiner besten Produkte. „Ich weiß nicht, ob ich ein besseres in Prosa geliefert habe." - In dieser Einschätzung ist ihm die Germanistik nicht gefolgt. - „Ich habe darin den Diogenes auf meine eigene Weise idealisirt, denn von dem alten Diogenes ist nur der Hang zur Unabhängigkeit übrig geblieben." 13 Wieland hatte zu dieser Zeit, im Jahrzehnt der Französischen Revolution, noch einen historisch-politischen Grund, den Diogenes besonders zu schätzen. Er hatte darin, wie erwähnt, die Entstehung einer revolutionären Situation prophezeit. Diese Voraussage hatte er 1787, zwei Jahre vor der Französischen Revolution, in dem lukianischen Gespräch Eine Lustreise ins Elysiumu wiederholt; auch darin knüpft Wieland mit der Gestalt des Menipp, dem fiktiven Gesprächspartner des Autors, an die literarische Tradition des Kynismus an. Ein Jahr nach dem Ausbruch der Revolution eröffnete er seinen Aufsatz Unparteiische Betrachtungen über die dermalige Staatsrevolution in Frankreich mit der Erinnerung an diese Voraussage. 15 1797, im Jahr des Rückblicks auf den Diogenes, sind die hohen Erwartungen, die in die Revolution gesetzt worden waren, enttäuscht. Wieland aber sah sich durch den Verlauf, den die Revolution genommen hatte, in dem politischen Gehalt seines Diogenes bestätigt. Sein Lieblingsstück in dem Roman war, neben der Satire auf die spekulative Metaphysik, die angehängte Republik des Diogenes. Wieland wußte natürlich, daß die dem Diogenes zugeschriebene Politeia nur ein satirisch-parodistisches Gegenstück zur Platonischen Politeia gewesen sein konnte, und so läßt er auch seinen Diogenes einen dezidierten „Antiplatonismus", zumal in der Regelung der sexuellen Verhältnisse, vertreten. Aber die satirische Absicht Wielands zielt nur vordergründig auf die antike Staatsutopie. Darüber hinaus gilt sie vor allem der aktuellen Zivilisationskritik und der Verklärung eines Gesellschaftszustandes, in dem die Menschen, von den Errungenschaften der Kultur weitgehend unberührt, im Einklang mit der Natur und in glücklicher Harmonie miteinander leben. Ein solcher geschichtsloser Zustand, der jede Entwicklung ausschließt, ist mit der Bedürfnisnatur des Menschen unvereinbar. Die menschlichen Bedürfnisse sind der Motor der Perfektibilität, und nur um den Preis der künstlichen Beschneidung der Bedürfnisse ist Perfektibilität zu vermeiden. Ein gesellschaftlicher Idealzustand ist ein Selbstwiderspruch, da die Natur des Menschen die Unveränderlichkeit und Bewegungslosigkeit des Idealen ausschließt. Es kann die ideale Republik nicht geben - die Republik des Diogenes muß von ihrem Schöpfer unsichtbar gemacht werden, damit sie
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in ihrer geschichtslosen UnVeränderlichkeit erhalten bleibt: „sie werden sie in Ewigkeit nicht finden", lautet hintergründig-ironisch der Schlußsatz, mit dem alle gewarnt sein sollen, die dieses Phantasiegebilde in der Wirklichkeit suchen und realisieren möchten. Wieland bedauert, daß die Franzosen diese Warnung nicht zur Kenntnis genommen haben: „Hätten die Franzosen meine Republik des Diogenes gelesen, so wären sie auf einmal von ihrer Republikensucht geheilt gewesen. Denn da hab ich's sonnenklar bewiesen, daß die Bedingungen, unter welchen eine wahre Republik auf dieser Erde möglich wäre, gar nicht sublunarisch sind." 16 Noch einmal wird der alte Wieland, elf Jahre nach diesem Rückblick auf den Diogenes, von der Geschichte darauf zurückgeführt. Er hatte im Diogenes eine Revolution vorausgeahnt, er hatte durch den Verlauf der Revolution den Roman bestätigt gefunden - nun wird er 1808 von Napoleon, dem Vollstrecker der Revolution, auf das Werk angesprochen. Der Kaiser selbst kannte Wieland kaum, wie er im Gespräch mit Goethe gestand. Daß er ihn dennoch, neben Goethe, in Erfurt und Weimar zu sehen wünschte, bezeugt den hohen Bekanntheitsgrad Wielands in Frankreich. Dort liebe man seine Werke sehr und nenne ihn den Voltaire Deutschlands - mit diesem Kompliment eröffnete Napoleon, nach der Aufzeichnung Talleyrands, das Gespräch. Zu den Werken, die er namentlich anführt, gehört auch der Diogenes: „Sagen Sie mir, Monsieur Wieland, weshalb haben Sie Ihren Diogenes, Ihren Agathon und Ihren Peregrinus in einer so doppelsinnigen Form geschrieben, die den Roman in die Geschichte und die Geschichte in den Roman hineinspielen läßt? Ein so bedeutender Mann wie Sie, sollte doch jede Richtung allein und für sich behandeln. Eine derartige Vermischung bringt leicht Verwirrung hervor." Wieland begründet die kritisierte Darstellungsweise mit der pädagogischen Absicht und kommt auf die Lehrhaftigkeit von Geschichte und Roman zu sprechen: „Voltaires Jahrhundert Ludwigs XIV. und Fenelons Telemach, dort die Geschichte, hier der Roman enthalten beide in ihrer Art die besten Lehren, sowohl für die Könige wie für die Völker. Auch mein Diogenes ist ein reiner Mensch, wenngleich er nur in einer Tonne wohnt." 17 Der Hinweis auf den Diogenes an dieser Stelle ist nur scheinbar unvermittelt: Auch der Diogenes enthält die besten Lehren, und zwar nicht bloß für Völker - diese Ansicht Wielands kennen wir bereits - , sondern auch für Könige. Sein Diogenes ist kein Kyniker jenes - vor allem an den Höfen gehaßten - Typs, der sich durch die laute Schmähung und provokative Verachtung der Macht und der Mächtigen hervortut. „Der Cynismus, der je länger je mehr Mode zu werden scheint, und unter dessen mancherlei komischen Symptomen auch dies ist, daß wir so stolze Blicke auf die Könige werfen - wird, wie alle unsere Moden, vorübergehen", schrieb Wieland 1777 in seinem Aufsatz Über das göttliche Recht der Obrigkeit,18 Einen solchen arroganten „Cynismus" gegenüber der Macht und den Mächtigen legt Wielands Diogenes nicht an den Tag. Hätte Napoleon den Roman gelesen, so hätte er, der sich selbst gern als der neue Alexander sah, sich an das Gespräch zwischen Diogenes und Alexander erinnert. In dem Roman lehnt Diogenes zwar den Wunsch des Königs ab, dessen Berater und ständiger Begleiter zu werden; aber der Unterredung versagt er sich nicht. Er spricht dem angehenden Welteroberer seine Wertschätzung ebenso wie seine Befürchtungen vor dem Machtmißbrauch aus; er erinnert ihn an die Pflichten der Humanität und warnt ihn vor den Gefahren der Macht.
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Das Gespräch zwischen Diogenes und Alexander geht der Republik des Diogenes unmittelbar voraus; die beiden Teile korrespondieren miteinander: dort die äußerste Macht, hier, in der Republik, die Utopie reiner Herrschaftslosigkeit. Beiden Extremen stand Wieland skeptisch gegenüber. Vergleicht man die reale Szene von 1808 mit der literarischen von 1769, so stellt man fest, daß der Stil des Verhaltens, das Wieland gegenüber Napoleon an den Tag legt, dem Stil seines Diogenes entspricht. Dieser Stil ist weder von arrogantem „Cynismus" noch von Unterwürfigkeit, sondern von ruhigem Selbstbewußtsein bestimmt. Wieland verweigert sich dem Kaiser nicht, als der um die Unterredung bittet; aber er drängt sich ihm auch nicht auf und läßt sich nicht bestellen, und er beendet die Begegnung. Wieland ist gegenüber Napoleon „alles andere als ein Höfling. Schon gar nicht inmitten der Niederlage gegenüber dem Sieger. Er ist einer, der genötigt werden muß zu kommen und der darüber bestimmt zu gehen." 1 9 3. Der Diogenes-Roman bildete den Auftakt zu Wielands Auseinandersetzung mit Rousseau und dem Rousseauismus. Dazu erschienen noch im Jahr der Veröffentlichung des Diogenes, unter dem Titel Beiträge zur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens, aus den Archiven der Natur gezogen, eine Reihe kleinerer literarischer Arbeiten und theoretischer Aufsätze. Der Übergang von Diogenes zu Rousseau lag ganz nahe; schien doch Rousseau mit der Kulturkritik und der Verherrlichung der unverbildeten Natur im ersten und zweiten Discours in die Fußstapfen des Kynikers zu treten. „In der Tat reiht sich Rousseau mit seinem 1. Discours in eine Tradition, die mit Namen wie dem Kyniker Diogenes, mit Sokrates, Jesus, Seneca oder auch Franz von Assisi sich verbindet." 20 „Für ein klassisch gebildetes Gehör kann der Akzent des Diogenes in der Abhandlung über die Ungleichheit nicht unbemerkt bleiben." 21 Die Zeitgenossen haben diesen Akzent sofort wahrgenommen und Rousseau als einen neuen Diogenes apostrophiert. Umgekehrt führte bei Kant der Einfluß Rousseaus, des „feinen Diogenes", dazu, daß er den Kynismus durch und durch rousseauistisch darstellte. In seiner EthikVorlesung teilt er die antike Ethik in das kynische, epikureische und stoische Ideal ein. Das kynische Ideal ist „das Ideal der Unschuld oder vielmehr der Einfalt. Diogenes sagt: Das höchste Gut bestehe in der Einfalt, in der Genügsamkeit des Genusses der Glückseligkeit." Die Sympathie, mit der Kant das kynische Ideal bedenkt, rührt nicht zuletzt aus der rousseauistischen Einfärbung her: Kants positives Rousseau-Verständnis geht auf den Kynismus über; das notorisch Skandalöse bleibt ausgespart. Durch Rousseau wird Kant auf die elementare Wahrheit des Kynismus geführt, daß die Glückseligkeit eher durch die Verringerung als durch die Vermehrung der Bedürfnisse befördert wird. „Die kynische Sekte sagte: Das höchste Gut wäre eine Sache der Natur und nicht der Kunst. Beim Diogenes waren die Mittel der Glückseligkeit negativ. Er sagte: Der Mensch ist von Natur mit wenigem zufrieden, weil der Mensch von Natur keine Bedürfnisse hat, so empfindet er auch nicht den Mangel der Mittel und genießt unter diesem Mangel seine Glückseligkeit. Dio-
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genes hat vieles für sich, denn der Vorrat von Mitteln und Gaben der Natur vermehrt unsere Bedürfnisse. Denn je mehr Mittel wir haben, je mehr Bedürfnisse ereignen sich, und die Neigung des Menschen wächst immer nach größerer Befriedigung; das Gemüt ist also immer unruhig. Rousseau, der feine Diogenes, behauptet es auch, daß unser Wille von Natur gut wäre, nur wir würden immer korrumpiert, die Natur hätte uns mit allem versehen, nur wir machen uns mehr Bedürfnisse; er will auch, daß die Erziehung der Kinder nur negativ sein soll." 2 2 Der Vergleich mit Diogenes wird unter den Zeitgenossen Rousseaus schnell üblich und zum Topos. Rousseau selbst beruft sich allerdings selten auf den Kyniker. Die Identifikation oder der Selbstvergleich mit Diogenes spielen bei ihm, anders als etwa bei Wieland oder Diderot, kaum eine Rolle. Nur ein einziges Mal wird der Protokyniker in jenen beiden Schriften erwähnt, die Rousseau den Ruf eintrugen, ein neuer Diogenes zu sein: Im zweiten Discours wird er, zusammen mit Cato, als Beispiel eines unzeitgemäßen Menschen genannt. Diogenes und Cato gehören einem vergangenen, und das heißt: besseren Zeitalter an, und das ist der Grund, „warum Diogenes keinen Menschen gefunden hat, nämlich weil er unter seinen Zeitgenossen Menschen aus einer längst verstrichenen Zeit hat antreffen wollen" 2 3 . Die Vermeidung des Selbstvergleichs mit Diogenes bei dem, der in den Augen der Zeitgenossen der neue Diogenes war, ist erstaunlich und verlangt nach einer Erklärung. Rousseau hatte in der Tat mehrere Gründe, diesen Vergleich auszulassen: Die Tugend, die er in seinen frühen Schriften so emphatisch betont, ist spartanisch und römisch, nicht philosophisch. Die Philosophie ist, als Gelehrsamkeit, ja mitverantwortlich für den Verfall der Sitten. In der Vorrede zu Narcisse, entstanden zwischen dem ersten und zweiten Discours, zählt Rousseau Diogenes zu jenen Begründern „widersinniger" philosophischer Systeme, die mehr Übel als Gutes bewirken, weil die Motive ihrer Urheber Eitelkeit und Originalitätssucht sind. Nicht die Tugend, sondern ihr eigenes Ansehen ist der eigentliche Zweck solcher Lehrer, denen dafür jedes Mittel recht ist. „Die ersten Philosophen schufen sich ein großes Ansehen, indem sie die Menschen lehrten, ihre Pflichten und die Prinzipien ihrer Tugend auszuüben. Aber bald waren diese Lehren allgemein geworden, und man mußte sich unterscheiden, indem man entgegengesetzte Wege einschlug. Hier liegt der Ursprung der widersinnigen Systeme eines Leukipp, eines Diogenes, eines Pyrrho, eines Protagoras, eines Lukrez." 24 Das Muster der Tugend ist nicht ein Philosoph, sondern Cato; er ist der „größte Mensch". - Später wird Rousseau Jesus über Sokrates stellen. - Aus dem Umstand, daß Diogenes zusammen mit Cato genannt wird, folgt nicht, daß jener in gleicher Weise wie dieser als ein positives Vorbild anzusehen ist. Bei der Zitierung des menschensuchenden Diogenes liegt der Akzent auf dem kritischen Aspekt: es gibt die tugendhaften Menschen nicht mehr; daß Diogenes selbst ein solcher Mensch ist, ist damit nicht gesagt und wird von Rousseau auch nicht behauptet. Wohl aber sagt er es immer wieder über Cato. Mit dem Erfolg des ersten Discours änderte Rousseau in auffälliger Weise sein Auftreten und legte ein kynisches Verhalten an den Tag. „Bis dahin war er ein Mann der Komplimente, galant, geziert, honigsüß im Umgang und durch forcierte Redewendungen beinahe ermüdend. Plötzlich aber hüllte er sich in den Mantel des
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Zynikers, und, ohne Natürlichkeit des Charakters, warf er sich auf das andere Extrem. Aber, während er mit seinen Sarkasmen herumwarf, verstand er es doch, stets Ausnahmen zugunsten derjenigen zu machen, mit denen er lebte, wie auch mit seinem brüsken und zynischen Ton viel von jenem Raffinement und jener Komplimentierkunst zu vereinigen; das tat er besonders im Umgang mit Frauen." 2 5 Man sollte dieser Beschreibung nicht deshalb mißtrauen, weil sie von Diderots engstem Freund, Grimm, und zwar aus der Zeit nach dem Bruch zwischen dem Diderotschen Freundeskreis und Rousseau stammt. Rousseau selbst bestätigt die Beschreibung in dem entsprechenden Abschnitt der Bekenntnisse vollkommen. Und er erklärt dort den Kynismus des eigenen Verhaltens als den Schutzmechanismus eines schüchternen Charakters, und einer in seiner Umgebung hilflosen Person: Weil er befürchtete, in der großen Welt, in die er hineingeraten war, aus Unbeholfenheit ständig die Regeln des Anstands zu verletzen, gab er sich als Verächter der Konvention. „Aus Schüchternheit ward ich zum Zyniker und Spötter und tat so, als ob ich den Weltschliff, den ich mir nicht hatte aneignen können, von Grund auf verachtete." 25 Wenige Seiten später gibt Rousseau, in der Schilderung von der Uraufführung seines Singspiels Der Dorfwahrsager, die schönsten Beispiele für seinen persönlichen Kynismus und dessen Funktion. Der unterschwellige Sinn dieser Beschreibung liegt darin, zu zeigen, daß er im Grunde kein Kyniker ist; er selbst löst das kynische Muster, das er gestrickt hat, immer wieder auf. Zu dem Ereignis, dem auch der König beiwohnt, erscheint er im kynischen Aufzug: unrasiert und mit ungekämmter Perücke. Damit macht er sich Mut, wie er gesteht. Der Kynismus ist präventiv: Rousseau erprobt in der äußeren Erscheinung die Lächerlichkeit, die er wegen des Mißerfolgs seines Stückes befürchtet. „Man wird mich lächerlich und rücksichtslos finden", sagt er sich, „wohlan, was tut's. Ich muß Lächerlichkeit und Tadel ruhig hinzunehmen suchen, da sie ja in keiner Weise verdient sind." 2 7 Gegen den befürchteten Mißerfolg hat er sich kynisch gewappnet - nicht aber gegen den Erfolg, der tatsächlich eintrifft und den kynischen Panzer seiner empfindsamen Seele durchbricht: Rousseau ist zu Tränen gerührt. Es kommt noch schöner: Am selben Abend wird ihm ausgerichtet, der König wolle ihn am nächsten Tag empfangen; eine Pension des Königs wird in Aussicht gestellt. Rousseau erscheint nicht; die Pension verfällt. Kynikermut vor Königsthronen nach dem Muster der Diogenes-Anekdoten? Rousseau selbst durchkreuzt dieses Muster, fast möchte man sagen, erbarmungslos, mit den Gründen für sein Fernbleiben; denn die sind ganz und gar unkynisch: Die ganze Nacht hat er nicht geschlafen, weil er befürchtet, gerade in der Gegenwart des Königs von seinem Gebrechen, dem Harndrang, befallen zu werden. Ein wirklicher Kyniker hätte sich dadurch nicht beunruhigen lassen, ja er hätte gegebenenfalls aus der Notdurft eine Geste der Verachtung gemacht. Der andere Grund ist seine „verfluchte Schüchternheit". Die Vorstellung, es könnten ihm vor dem König die passenden Worte fehlen, erzeugt bei ihm Panik. „Was würde in einem solchen Augenblick und unter den Augen des gesamten Hofes aus mir werden, wenn mir in meiner Aufregung irgendeine meiner gewöhnlichen Tölpeleien entschlüpfen sollte? Diese Gefahr versetzte mich in solche Angst, solches Entsetzen, daß ich beschloß, mich ihr um keinen Preis auszusetzen, mochte daraus entstehen, was da wollte." 28
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Rousseau, das will er mit diesen Selbstenthüllungen sagen, ist im Kern kein abgebrühter Kyniker, sondern das genaue Gegenteil. Der Kynismus ist ihm wesensfremd; wo er ihn übernimmt oder nach außen vorgibt, da ist er Gebot der Not und nicht der Tugend. Die anderen machen ihn kynisch, die Öffentlichkeit, sogar die Freunde; „was Diderot anbetrifft, so weiß ich nicht, wie es kam, daß alle meine Besprechungen mit ihm stets darauf hinausliefen, mich satirischer und beißender zu machen, als es von Natur in meinem Wesen lag" 2 9 . Diesen oktroyierten Kynismus legt er in dem Moment, in dem er die Stadt verläßt und sich in die Eremitage zurückzieht, schlagartig wieder ab; der Kyniker ist ein Produkt des Stadtlebens. Die Wandlung „trat ein, sobald ich Paris verlassen hatte und meine Entrüstung über die Laster dieser großen Stadt durch ihren Anblick nicht stets aufs neue genährt wurde. Als ich die Menschen nicht mehr sah, hörte ich auf, sie zu verachten; als ich die Bösen nicht mehr sah, hörte ich auf, sie zu hassen." 3 0 Fern von den Menschen, in der Einsamkeit der Natur, findet Rousseau zu seinem Wesen, seiner Natur zurück; der Kynismus ist nicht natürlich, sondern künstlich. Rousseau wird wieder gut. Das verstanden die Freunde nicht, allen voran der gesellige Diderot; darin liegt der Bruch begründet. Sie machten sich zunächst über den Anachoreten lustig und nahmen schließlich Anstoß. „Nur der Böse ist allein", schrieb Diderot im Anhang zum Natürlichen Sohn, den er Rousseau zuschickte; der bezog diesen Satz sofort auf sich - der Bruch war da. Rousseaus Kynismus ist keine Grundüberzeugung, keine Position, sondern eine zeitweilige Reaktion - und ein Bild, das sich die anderen von ihm machten. Daß er den Selbstvergleich mit Diogenes scheute, dürfte auch dadurch begründet sein, daß - und vor allem wie - die anderen ihn damit verglichen. Er hatte die Rolle des Diogenes nicht frei gewählt, sondern er war in sie hineingedrängt und sie war ihm von den anderen zugedacht worden: So sah er selbst es in der Lebensrechtfertigung Rousseau richtet über Jean-Jacques. Mußte Jean-Jacques, so fragt Rousseau, die niedrige Arbeit des Notenkopierens verrichten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, oder war das nur Pose? Täuschte er etwa Einfachheit und Armut vor, „um, wie ihre Herren behaupten, Epiktet und Diogenes zu spielen"? 31 Rousseau verrät hier den Tenor nicht, den der Vergleich seiner Person mit Diogenes zumeist hatte, und die Zusammenstellung mit dem ehrbaren Epiktet täuscht über diesen Tenor hinweg. Zwar spricht Kant mit vollem und Wieland mit einigem Respekt von dem „Diogenes" Rousseau. Im Vorwort seines Diogenes führt Wieland Rousseau als ein aktuelles Beispiel dafür an, daß ein weiser Mann wie Diogenes von seinen Zeitgenossen manchmal „für einen närrischen Sonderling" gehalten werde. „Man müßte wenig Kenntniß der Welt haben, wenn man nicht wüßte, daß etliche wenige Züge von Sonderbarkeit und Abweichung von den gewöhnlichen Formen des sittlichen Betragens hinlänglich sind, den vortrefflichsten Mann in ein falsches Licht zu stellen. Wir haben an dem berühmten Hans Jacob Rousseau von Genf (einem Mann, der vielleicht im Grunde nicht halb so sonderbar ist, als er scheint) ein Beispiel, welches diesen Satz ungemein erläutert." 32 Diese Einsicht hat Wieland allerdings nicht davon abgehalten, in den folgenden Aufsätzen zu Rousseau dessen „Torheiten" über die frühe Menschheit „lächerlich" zu finden und zu machen. Wielands Spott ist harmlos und mild, gemessen an dem Sarkasmus, dem Hohn
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und der Verachtung, die andere in den Vergleich Rousseaus mit Diogenes legten. Ich kann hier nur einige Beispiele dazu anführen, beginnend wiederum mit einer relativ milden Variante. Friedrich der Große von Preußen gewährte 1762 Rousseau Asyl in Neuchätel. Den Brief an Lord George Keith, den Gouverneur von Neuchätel, worin er seine Unterstützung für den Asylanten ankündigt, nimmt er zum Anlaß, seine Ablehnung der Rousseauschen Kulturkritik und seine grundsätzliche philosophische Opposition zu Rousseau zu formulieren: „Offen gesagt, sind meine Ansichten den seinen so entgegengesetzt wie das Endliche dem Unendlichen." 33 Auch Friedrich lehnt übertriebenen Luxus ab, ohne aber den Genuß zu verdammen. „Man muß alles entbehren können und doch auf nichts verzichten." Diese „wahre Philosophie" findet er bei Locke, Lukrez und Marc Aurel; manche modernen Philosophen verkünden dagegen, so der König, aus Originalitätssucht nur Paradoxien und verstoßen damit gegen den gesunden Menschenverstand; zu ihnen gehört auch Rousseau. Friedrichs Vorbild ist vor allem Marc Aurel, der römische Kaiser und Stoiker. Ein Stoiker als Monarch: das ist möglich, nicht aber ein Kyniker. Wie Alexander der Große hat Friedrich sich einmal die Frage gestellt, was er hätte werden wollen, wenn er nicht König geworden wäre. Die Antwort ist: Er wäre Privatmann und Philosoph geworden - nur nicht der Philosoph, der Alexander zu sein wünschte: „Alexander der Große, der den Ruhm doch wahrhaftig kannte, war neidisch auf die Selbstlosigkeit und die Mäßigung des Diogenes, jenes frechen Zynikers, den ich mir gewiß nicht zum Muster genommen hätte." 34 Aber Rousseau hat sich diesen zum Muster genommen und sich damit lächerlich gemacht. „Ich glaube, Rousseau hat seinen Beruf verfehlt. Er hatte entschieden das Zeug zu einem berühmten Anachoreten, einem Wüstenheiligen, der sich durch seine Sittenstrenge und seine Kasteiungen hervorgetan hätte, oder zu einem Säulenheiligen. Er hätte Wunder vollbracht, wäre heilig gesprochen worden und hätte den riesigen Märtyrerkatalog noch vermehrt. Heutzutage aber wird man ihn nur als einen philosophischen Sonderling ansehen, der die Sekte des Diogenes nach zwei Jahrtausenden wieder zum Leben erweckt. Es verlohnt sich nicht, Gras zu fressen und sich mit allen zeitgenössischen Philosophen zu verfeinden." 35 Als Voltaire Friedrich den Großen Jahre später nach seiner Meinung über Rousseau fragt, wiederholt der König sowohl seine ablehnende Einschätzung des Philosophen als auch seine großzügige Liberalität gegenüber dem Menschen Rousseau: „Sie fragen mich, wie ich über Rousseau aus Genf denke. Ich meine, er ist unglücklich und zu beklagen. Ich liebe weder seine Paradoxe noch seinen zynischen Ton ( . . . ) Man muß die vom Schicksal Verfolgten respektieren; nur die verderbten Seelen fügen ihnen Leid zu." 3 6 War das auch als Mahnung an den Adressaten des Briefes gedacht, seine Attacken auf Rousseau zu mäßigen - bei allem Verständnis für die Abneigung gegen dessen „zynischen Ton"? Über den mußte Voltaire sich ärgern, zumal Rousseau ihn damit schließlich auch noch persönlich angriff; darauf hatte Voltaire, zwei Jahre vor dem zitierten Brief Friedrichs, begonnen, öffentlich zu reagieren, und zwar in aller Schärfe. In der Aversion gegen den Kynismus der Rousseauschen Kulturkritik waren der
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König und der reiche, gebildete, das Theater liebende Schloßherr sich einig: nicht unwahrscheinlich, daß Friedrichs Vergleich Rousseau-Diogenes von Voltaire inspiriert war, der in seinen Briefen diesen Vergleich unablässig wiederholte, variierte und steigerte. Rousseau hat sich „in eine Tonne gesetzt, die er für die des Diogenes hält, und denkt dort das Recht zu haben, den Zyniker zu machen: er ruft den Passanten zu: Bewundert meine Lumpen". Das ist die relativ harmlose Basisversion des Vergleichs. Schärfer und verächtlicher schon: Rousseau ist der „Affe des Diogenes" oder der „Bastard des Diogenes". Noch schärfer: Er ist der „Bastard von Diogenes' Hund". Am schärfsten: „Wenn der Hund des Diogenes und die Hündin der Erostrata ein Junges hätten, so wäre es Jean-Jacques". Durchgängig ist die Tendenz, Rousseau nicht so sehr als Diogenes selbst, sondern als einen angemaßten, falschen und depravierten Diogenes hinzustellen: Er ist ein „Diogenes ohne Laterne", also ohne das Insigne der Aufklärung! Und schließlich legt Voltaire in den Vergleich seine Verachtung für den Charakter Rousseaus hinein: Dieser ist nicht nur ein falscher Diogenes, sondern auch ein falscher Mensch, der jede Freundschaft vergiftet: Rousseau ist ein „Abkömmling in direkter Linie aus der Verbindung vom Hund des Diogenes mit einer Natter der Zwietracht". Er ist nicht nur ein „Narr" und ein „lästiger" Narr dazu, sondern auch ein „boshafter" Narr: „Er verbirgt den Geist eines Schurken unter dem Mantel des Diogenes". 37 Wie Diogenes in den Augen Piatons ein „verrückter Sokrates", so ist Rousseau in den Augen Voltaires ein verrückter und falscher Diogenes. Andererseits ist auch Voltaire - wie fast alle Aufklärer - bisweilen in die Rolle des Diogenes geschlüpft. „Sie haben geruht, gegen den verrückten Jean-Jacques mit Vernunftgründen zu kämpfen", so schrieb er an d'Alembert, „doch ich mache es wie der, der als einzige Antwort auf Argumente in entgegengesetzte Richtung zu marschieren anfing. Jean-Jacques beweist, daß das Theater in Genf unmöglich ist, ich aber baue eins." 38 Wohlweislich verschweigt Voltaire, daß der Philosoph, den er hier nachahmt, Diogenes ist, der gestisch den Zenonischen Beweis gegen die Bewegung widerlegte; hat doch Voltaire den, den er widerlegt, stets als Diogenes beschimpft. Um die Verwirrung komplett zu machen: Auch der Dritte im Bunde, d'Alembert, der Adressat Voltaires, an den zuvor Rousseau seine kynische Attacke auf das Theater adressiert hatte, weil d'Alembert in der Enzyklopädie den Genfern die Einrichtung eines Theaters angeraten hatte - auch dieser d'Alembert ist ein Diogenes; der Diogenismus ist in der Aufklärung eben allgegenwärtig. D'Alembert hatte eine bekannte Vorliebe für den Kyniker, in dem er das Muster der Unabhängigkeit sah. „Jedes Zeitalter", so schrieb er, „und unseres besonders brauchte seinen Diogenes; die Schwierigkeit liegt aber darin, Menschen zu finden, die den Mut haben, es zu sein, und solche, die den Mut haben, es zu ertragen." 39 Der Aufruf fand Resonanz in dem Buch des Pierre Le Guai de Premontval Le Diogene d'Alembert. Auch in den Augen seiner Freunde war d'Alembert ein Diogenes: Als er eine Einladung an den russischen Hof ausgeschlagen hatte, kommentierte Grimm: „Ist dieser Mann geschaffen, um neben Königen zu leben? - Es ist ein Diogenes, den man in seiner Tonne lassen muß." 4 0 Friedrich der Große überbot das Muster, indem er d'Alembert zu jenem wahren Menschen machte, den Diogenes vergeblich gesucht hatte. Als der Philosoph 1763 den Preußenkönig verließ, schrieb der ihm zum
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Abschied: „Es tut mir leid, den Augenblick Ihrer Abreise nahen zu sehen! Nie werde ich das Glück vergessen, einen wahren Philosophen gesehen zu haben. Ich war glücklicher als Diogenes, denn ich fand den Mann, den er so lange gesucht hat." 41 Für diese Auszeichnung d'Alemberts nimmt der König sogar den Selbstvergleich mit Diogenes, den er ansonsten nicht mochte, in Kauf - allerdings nur so, daß er sich besser gestellt sieht als jenen „frechen Zyniker". Um zu Voltaire zurückzukehren: Er war gewiß kein Kyniker im Sinne jenes Kynismus, der die Kultur, die Wissenschaften und die Künste verachtet und die Bedürfnisse auf das natürliche Minimum reduziert; im Gegenteil: das war für ihn lächerlich und paradox und ein Angriff auf seinen Lebensstil. Dennoch verband auch ihn etwas mit dem Kynismus: der beißende Spott, zu dem er fähig war und den er besonders gegen die Religion in ihrer unaufgeklärten Form kehrte. Indem er dieses Erbe des Kynismus antrat, das in den Zynismus moderner Prägung eingegangen ist, wurde er zum Zyniker. Als solchen hat ihn die religiöse Gegenaufklärung geschmäht. In dem Bild, das Joseph de Maistre in äußerst gehässiger Weise von ihm zeichnet, erscheint er als perverser Kyniker und Zyniker zugleich. Das Bild des schmutzigen, häßlichen, bösen Kynikers geht in das des Zynikers über. Voltaires Zynismus ist darin physiognomisch faßbar, er ist ihm ins Gesicht geschrieben. „Sehen Sie diese verworfene Stirn, welche die Schaam niemals röthete; diese beiden erloschenen Krater, in denen Schwelgerey und Haß noch zu kochen scheinen. - Diesen Mund - ich sage vielleicht etwas böses, aber das ist nicht meine Schuld - dieses schreckliche Maul, das von einem Ohr zum andern reicht; und diese Lippen, von hämischer Bosheit zusammengepreßt wie eine Stahlfeder, bereit loszuschlagen mit Hohn und Lästerung": so die Beschreibung der Totenmaske Voltaires. Dessen Zynismus erscheint als ins Böse verkehrter Kynismus. Wie Voltaire Rousseau als falschen Diogenes, so schmäht de Maistre Voltaire als pervertierten Kyniker; gemeinsam ist beiden Polemiken der auf die äußerste Spitze getriebene Grad der Verachtung und des Hasses. „Andere Cyniker setzten die Tugend in Erstaunen, Voltaire macht das Laster erstaunen. Er wirft sich in den Koth, und wälzt sich darin, um sich damit zu tränken; er treibt seine Einbildungskraft zur Begeisterung der Hölle, die ihm alle ihre Kräfte leiht, um ihn bis zu den äußersten Grenzen des Bösen zu führen."« 4. Wir haben die Rezeption des Diogenes und des Kynismus in der Moderne über drei Stationen verfolgt: von dem Selbstvergleich des Aufklärers mit Diogenes über die Beschimpfung des Narren und Renegaten der Aufklärung als Diogenes durch die Aufklärer bis zur Beschimpfung des Aufklärers als Zyniker durch die Gegenaufklärung. Mit der dritten Station: dem Blick der Reaktion auf den Aufklärer als Zyniker, habe ich vorgegriffen. Daß der Aufklärer zum Zyniker wird, verdankt sich nicht nur dem bösen Blick des Gegenaufklärers, sondern ist die Befürchtung des reflektierten Aufklärers selbst. Damit bin ich bei Diderot und bei dem dritten Aspekt aufklärerischer Kynismus-Rezeption: der kynischen Selbstgefährdung der Aufklärung und dem Ausarten der Aufklärung in den Zynismus. Diderot nimmt in
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der Geschichte der Kynismus-Rezeption eine besondere Stellung ein, weil bei ihm das moderne Moment des Kynismus, der Zynismus, nicht nur rezipiert und praktiziert, sondern darüber reflektiert wird. Diderots Position zu Kynismus und Zynismus ist - infolge des allgemeinen Interesses an dem Thema Kynismus-Zynismus - in jüngster Zeit mehrfach untersucht worden. 43 Dabei sind Starobinski und Groh zu dem Ergebnis gekommen, daß Diderot nicht so sehr als ein Diogenes als vielmehr als ein Menipp der Aufklärung zu sehen sei: Seine Affinität zum Kynismus sei nicht die zur kynischen Lebensweise, sondern die zur menippeischen Satire. Starobinski hat mit exakten Beobachtungen die These vertreten, daß bei Diderot hinter Diogenes und den Kynikern Rousseau stehe. Wie Starobinski versieht auch Groh den „Kyniker" oder „Diogenes" Diderot mit einem Fragezeichen. Mit ihrer Begründung kann ich mich nicht anfreunden. Diderot habe den Kynismus aus,,systematischen Gründen" verworfen, weil der Kyniker kein soziales Wesen sei, Diderot dagegen eben darauf den größten Wert lege. Aber: Diogenes ist nicht Timon; Rousseau - siehe oben - verstand es besser. Ferner sei die Rolle des Diogenes „im Diskurs der Aufklärer überdies von Rousseau besetzt" gewesen. Aber: Rousseau selbst nimmt diese Rolle weniger als andere Aufklärer in Anspruch. Der Umstand, daß er als Diogenes, und zumal als falscher, beschimpft wurde, hat andere Aufklärer nicht von dem Selbstvergleich mit Diogenes abgehalten, auch Diderot nicht. Ein solcher Selbstvergleich - das haben wir zur Genüge gesehen - muß nicht alle Aspekte des Kynismus implizieren. Gewiß war Diderot kein dogmatischer Kyniker. Er lebte nicht das kynische Minimum der Bedürfnisbefriedigung und war in dieser Hinsicht kein getreuer Schüler des Diogenes, sondern ging mit Aristipp und dem Hedonismus fremd, wie es auch Wieland tat. Diderot hat diese Untreue humorvoll bekannt und bereut: „Ach Diogenes, wenn du deinen Schüler im prunkvollen Mantel eines Aristipp sehen könntest, wie würdest du ihn auslachen! Und was dich betrifft, Aristipp, so ist dieser prunkvolle Mantel durch manche Niederträchtigkeit erkauft. Was für ein Unterschied zwischen diesem verwöhnten, liebedienerischen, schlaffen Dasein und dem freien, standhaften Leben des zerlumpten Kynikers! Und ich, ich habe die Tonne verlassen, in der ich mein eigener Herr war, um in die Dienste eines Tyrannen zu treten." 44 Auch für Diderot, wie für d'Alembert, wie für Wieland, repräsentiert Diogenes das Ideal der Autonomie, des freien und standhaften Lebens. Freilich weiß Diderot um die eigene Unzulänglichkeit und das Ungenügen des Zeitalters, gemessen an diesem Ideal. Er selbst wohnt nicht in einer Tonne, sondern allenfalls in einer Dachkammer, und er hat sich gegenüber der russischen Zarin nicht wie Diogenes gegenüber Alexander verhalten. Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, in der Moderne ein Diogenes nach antikem Zuschnitt zu sein; denn die Erziehung und die Sitten lassen solche Charakterstärke kaum noch zu: „Wer würde heute wagen, der Lächerlichkeit und der Verachtung zu trotzen? Bei uns würde Diogenes in einer Dachkammer wohnen, nicht aber in einer Tonne; er würde in keinem Land Europas eine solche Rolle spielen, wie er in Athen gespielt hat. Die unabhängige und unerschütterliche Seele, die er von der Natur empfangen hatte, hätte er sich vielleicht bewahrt; doch hätte er einem unserer kleinen Herrscher keinesfalls wie Alexander 49
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schütterliche Seele, die er von der Natur empfangen hatte, hätte er sich vielleicht bewahrt; doch hätte er einem unserer kleinen Herrscher keinesfalls wie Alexander geantwortet: Geh mir aus der Sonne!" 4 5 Auch wenn die moderne Realität eine Diogenes-Existenz in ursprünglicher Strenge nicht mehr erlaubt, bleibt doch das Ideal der autonomen, freien Persönlichkeit, für das Diogenes weiterhin als leuchtendes Beispiel dient. Noch in einem anderen Aspekt war Diogenes für Diderot beispielhaft: in der freimütigen Unverschämtheit. Auch Diderot adoptierte bisweilen gern den kynischen Gestus, auch und besonders in der anstößigen Weise der sexuellen Schamlosigkeit; manchen Zeitgenossen galt er deswegen als „Cyniker". Die Schamlosigkeit war für ihn kein prinzipielles Hindernis der Tugend. Die Kyniker, so schrieb er in dem betreffenden Artikel der Enzyklopädie, sind „anstandswidrig, aber sehr tugendhaft". Daß Verschämtheit nicht unbedingt eine philosophische Tugend ist und daß die Wahrheitsliebe auch den Mut zur Unverschämtheit verlangen kann: das hatte schon der Platonische Sokrates im Gorgias behauptet und in einer Weise demonstriert, über die selbst Kallikles, der Unverschämteste der drei Kontrahenten des Sokrates, höchst indigniert war. Die Wahrheit zu prüfen, durch die Vorurteile und Konventionen hindurch zur Wahrheit durchzudringen - das verlangt unter Umständen auch die Verletzung des Schamgefühls. Und wer daher an dem philosophischen Geschäft der Erprobung der Wahrheit teilnehmen will, der muß, Sokrates zufolge, außer Einsicht und Wohlwollen auch Freimütigkeit (parrhesia) besitzen. Eben diese Parrhesie wird eines der hervorstechenden Merkmale des Kynismus. Auf die Frage, was unter Menschen das Schönste sei antwortete Diogenes: „Das freie Wort (parrhesia)". 46 Die Parrhesie der alten Komödie und die philosophische Parrhesie des sokratischen Dialogs leben im Kynismus des Diogenes und in der kynischen Satire fort. Diesen literaturgeschichtlichen Zusammenhang hat der Kaiser Marc Aurel in einer Skizze der Entwicklung von der Tragödie zur Komödie dargestellt. „Nach der Tragödie aber wurde die Komödie eingeführt. Sie zeigte erzieherische Redefreiheit und erinnerte nicht unnütz gerade durch die offene Sprache an Bescheidenheit. Zu derartigem Zweck nahm auch Diogenes diese Dinge auf." Diderot wird diese Stellen, die von der neueren Kynismus-Forschung viel zu wenig beachtet wird, gekannt haben. Denn sie wird von seinem Lieblingsautor Shaftesbury zitiert, der zu der von Marc Aurel skizzierten Entwicklung des Schauspiels eine philosophiegeschichtliche parallele zieht: Wie in der Reaktion auf die Tragödie die Komödie entstand, so in Reaktion auf die „erhabene" Philosophie eines Sokrates und Piaton die „komische" Philosophie des Diogenes und der Kyniker. Wenig später führt Shaftesbury aus, daß ebenso, wie Homer die Quelle aller poetischen Gattungen war, aus Sokrates die verschiedenen Stile der Philosophie hervorgingen: Pia ton, von edler Geburt und hochfliegendem Geist, wählte den erhabenen Teil. "He of mean birth and poorest circumstances" - Antisthenes - , "whose Constitution as well as condition inclined him most to the way we call satiric, took the reproving part, which in his betterhumoured and more agreeable successor" - Diogenes - "turned into the comic kind, and went upon the model of that ancient comedy which was then prevalent." 47 Daß Diderot diese Ausführungen kannte, läßt sich auch deswegen vermu-
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sie macht übellaunig und beißend. Diogenes dagegen verfügt über eine natürliche Heiterkeit. 48 Der Kynismus des Diogenes repräsentierte für Diderot nicht nur ein philosophisch-moralisches Ideal, sondern auch eine humoristisch-satirische Möglichkeit, einen Stil „komischer" Philosophie, mit Shaftesbury zu reden. Diese Möglichkeit hat Diderot vor allem in seiner Zweiten Satire, Rameaus Neffe, genutzt, um ein Problem zu durchdringen, das mit dem Kynismus wie mit dem modernen Zynismus aufs engste zusammenhängt: das Problem der Verachtung und der Verächtlichkeit. Dadurch ist Rameaus Neffe „das grundlegende Werk des modernen Zynismus" 4 9 geworden. Der antike Kyniker ist ein Meister der Verachtung, und das in dem doppelten Sinne des Wortes, in seiner aktiven und passiven Bedeutung. Er ist ein Genie des Verächtlichmachens, und er ist ein Ausbund an Verächtlichkeit. „Besonders stark war er darin, anderen seine Verachtung kundzugeben", heißt es über Diogenes. 50 Das kynische Umprägen der Münze, die Umwertung der geltenden Werte, besteht vornehmlich darin, daß der Kyniker dem nomos, dem Gesetz und der geltenden Sitte, durch paradigmatische Handlungen die Achtung entzieht. Der Kyniker ist weder der Gesetzesbrecher, zu dem der wörtliche Sinn der Anekdote von der Münzfälschung ihn macht, noch untergräbt er durch theoretische Kritik die Konvention. Er macht diejenigen, die in hervorragender Weise das geltende Wertesystem repräsentieren und als Vorbilder fungieren, die Großen und Angesehenen in der Gesellschaft, lächerlich, um in ihnen die Wertschätzungen zu treffen, die sich in ihnen personifizieren. Indem er die Grundlage aller Achtung zerstört, wird er selber verächtlich, und so gehören Lächerlichkeit und Verächtlichkeit zu seinem Metier; sie werden zur Signatur seiner Unabhängigkeit von den herrschenden Meinungen und Wertschätzungen. Der Kyniker, der die Anerkennung durch die anderen bewußt zurückstößt, ist der Verachtetste der Menschen - aber kein Mann der Schmerzen; der Zusatz ist wichtig. Der Kyniker wird ob seiner Verächtlichkeit verlacht, aber er wird, wie Diogenes von sich sagt, nicht niedergelacht. 51 Kynismus wird zur Übung und schließlich zur Kunst, Verachtung wegzustecken und unempfindlich dagegen zu sein. Sich betont verächtlich zu geben, kann - psychologisch gesehen - geradezu ein Präventivmittel gegen unfreiwillige Verächtlichkeit und ein Akt der Selbstbehauptung sein. Rousseau hat den eigenen frühen Zynismus in dieser Weise, wie wir gesehen haben, als präventiven gedeutet. Konsequenterweise muß der Kyniker, ist die kynische Unabhängigkeit ihrerseits zum akzeptierten und geachteten Wert geworden, auch diesen entwerten und der Verächtlichkeit preisgeben. Im Kynismus ist eine Dialektik am Werk, die, wird ihr nicht Einhalt geboten, den Kyniker auch zur Verhöhnung des Ideals der Unabhängigkeit und damit zur Selbstpreisgabe treibt. So ist der Weg zum kynischen Parasiten vorgezeichnet, wie wir ihn aus Lukians Satiren kennen. Mit dem Typ des kynischen Parasiten sind wir nun ganz nah an der Hauptgestalt in Diderots Zweiter Satire. Der Neffe Rameaus identifiziert sich am Beginn des Dialogs ausdrücklich mit Diogenes, wie sein Gegenüber, das Erzähler-Ich, am Ende. Über diese ausdrückliche Beziehung auf den Kyniker und die Kontroverse über den 49*
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Kyniker am Ende des Gesprächs hinaus verrät sich die Nähe des Dialogs zum Kynismus in einer Reihe kynischer Ausdrucksweisen, Metaphern, Bilder und Topoi vor allem in der Diktion des Neffen. Da ist die freche und schamlose Redeweise in bezug auf Sexuelles, die den Zeitgenossen in erster Linie als „cynisch" galt; ferner das offene Bekenntnis zur animalischen Bedürfnisbefriedigung, die Tiermetaphorik, der Topos des Narren und der Verrücktheit, die Perspektive der Verkehrung und Umkehrung. Rameaus Neffe ist der „verrückte Rameau" (Rameau le fou) wie Diogenes der „verrückte Sokrates". So ist Rameaus Neffe ein Dialog über den Kynismus und im Sinne des Kynismus, wobei mit dem Neffen der verächtliche Kynismus eindeutig im Vordergrund steht. Ihm stellt das Erzähler-Ich den idealen Kynismus seines Diogenes-Verständnisses entgegen, kann sich aber damit gegen die Dominanz des Neffen kaum behaupten. Was immer Diderots Zweite Satire sonst noch ist, sie ist vor allem ein Werk der Verachtung und über die Verächtlichkeit. Die Verachtung gilt den Gegnern der Aufklärer und Philosophen sowie der Gesellschaft, in der jene verkehren. Diderot äußert diese Verachtung aber nicht direkt, von der Warte überlegener Moral und Ehrbarkeit aus. Sein literarischer Kunstgriff besteht darin, daß er sie sich aus der Perspektive der Amoral und Niedertracht, im Medium der personifizierten Verächtlichkeit, des Neffen, selbst aussprechen läßt. Der Neffe repräsentiert die Niedertracht und Verächtlichkeit dieser Gesellschaft in Reinkultur. Er unterscheidet sich jedoch von der Gesellschaft dadurch, daß er die Verächtlichkeit bewußt gewählt hat und sie offen reflektiert; eben das macht ihn philosophisch interessant. Der Neffe heuchelt nicht Anständigkeit wie die anderen, sondern er spricht die Niedertracht aus und bekennt sich zu ihr; damit klärt er über den Zustand der Gesellschaft auf; auch er ist ein Aufklärer. „Das ist denn auch der auffallendste Unterschied zwischen meinem Mann und den meisten Menschen, die uns umgeben. Er bekannte sich zu den Lastern, die er hatte, die die anderen auch haben; aber er war kein Heuchler. Er erregte weder mehr noch weniger Abscheu als sie; er war nur offener und konsequenter; und manchmal profund in seiner Verderbtheit." 52 Der Neffe hat, so paradox es klingt, ein Ethos der Verächtlichkeit. Er lebt bewußt, offen und aktiv seine verächtliche Existenz, er ist mit ihr einverstanden. Im Schatten seines berühmten Onkels stehend, kann er sich nicht damit abfinden, selbst kein Genie zu sein. Er ist kein Genie der Kunst, kein Genie der Moral, nicht einmal ein Genie des Verbrechens. Bei ihm reicht es nur zur Karikatur eines Genies beziehungsweise zu einem Genie der Karikatur und der Nachahmung - der Pantomime. Selbst seine Niedertracht ist von dem unglücklichen Willen zum Genie bestimmt: Wenn schon nicht in der Kunst oder auf einem anderen geachteten Gebiet, so will er wenigstens hierin genial sein; er ist ein Genie an Verächtlichkeit. Diese Verächtlichkeit erreicht ihren Höhepunkt darin, wie der Neffe das Verbrechen an dem Juden von Avignon kommentiert. Er selbst ist kein Verbrecher. Die Energie für die wirklich große Schandtat, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bringt er nicht auf, aber er bewundert das Verbrechen. Hier liegt die Differenz zwischen dem Verbrecher und dem Zyniker: Dieser vollzieht das Verbrechen nur in Gedanken, er betrachtet es theoretisch und goutiert es ästhetisch. Seine Haltung ist die der theoretischen und ästhetischen Distanz. Diese Einstellung zum Verbrechen,
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die Konsequenz, mit der er verdorben ist, die Offenheit und Schamlosigkeit, mit der er sich präsentiert und mit der er nicht nur seine, sondern auch die Verdorbenheit jener Kreise enthüllt, in denen er sich als Parasit bewegt - all das macht den Neffen zum Zyniker im modernen Sinne des Wortes. Goethe hat - in seinem Brief an Schiller vom 21. 12. 1804 - geschrieben, Diderots Satire sei eine „Bombe", die „gerade in der Mitte der französischen Literatur" platze. Was hätte er gesagt, wenn er die These von O'Gorman gekannt hätte, nach der die Sprengkraft dieser Bombe weniger einem zweitrangigen Literaten wie Palissot als vielmehr Rousseau gilt? Mit zahlreichen Belegen versucht O'Gorman nachzuweisen, daß der Neffe in vielen zynischen Details nach Rousseau modelliert ist, und er kommt zu dem Schluß: „Le Neveu de Rameau is the fruit of fifteen years spent with Jean-Jaques and not of an afternoon spent in the Company of Jean-François Rameau." 5 3 Ich kann diese These hier nicht weiter diskutieren; das würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Viele Belege sind in der Tat frappierend. Vergleicht man den Ton äußerster Verachtung, in dem Diderot im Seneca-Essay hypothetisch über Rousseau und die befürchteten Enthüllungen in den Bekenntnissen spricht, mit dem Tenor der Verachtung, der in Rameaus Neffe dominiert, so wird man sich der Beweisführung von O'Gorman nicht verschließen. Allerdings, das weiß auch O'Gorman: Der Neffe ist eine Kunstfigur und nicht einfach die Kopie eines realen Vorbilds, auch nicht die Rousseaus. Weniger vorsichtig ist O'Gorman in der Identifikation des Erzähler-Ichs mit Diderot. Demgegenüber scheint mir die traditionelle These einleuchtender, wonach sich Diderot mit keiner Figur des Dialogs voll identifiziert und wonach er auch dem Neffen eigene Züge leiht. Der Zynismus des Neffen bildet den Gegenpol eines einseitigen Moralisierens, das penetrant werden kann. Diderot selbst entging dieser Gefährdung nicht, und da war der Zynismus das gebotene Gegengift, wie er das Gegengift auch zu der Neigung zu Sentimentalität und Larmoyanz war. „Der ganze Diderot war dualistisch. In seiner Ausdrucksweise war er bald sentimental, bald cynisch ( . . . ) Seinen Cynismus kann man als die Reaction seines Verstandes gegen das Übermaß seiner Empfindsamkeit ansehen. Er stellte in ihm wieder den ganzen Menschen her, und bewahrte ihn davor, in Empfindelei zu versinken." 54 Gewiß erschöpft diese psychologistische Betrachtungsweise den Diderotschen Zynismus, und zumal den Zynismus in Rameaus Neffe, nicht. Aber sie beleuchtet einen beachtenswerten Aspekt. „Der Verlust unserer Vorurteile entschädigt uns für den Verlust unserer Unschuld", sagt der Neffe einmal. Das ist einer von jenen Gedanken, die ihn über den Typus des unreflektierten Parasiten hinausheben und seiner Gestalt die philosophische Dimension verleihen, die das Erzähler-Ich irritiert und fasziniert. Mit allen Vorurteilen aufzuräumen hat sich die Aufklärung zum Ziel gesetzt. Im Neffen Rameaus begegnet sie der Kehrseite ihres Ideals. In ihm träumt sie ihren Alptraum, der ihren moralischen Optimismus untergräbt. Der Traum besagt, daß der völlig Aufgeklärte, von allen Vorurteilen restlos Befreite nicht die Verkörperung des reinen Humanitätsideals sei wie Wielands schöner Diogenes, sondern ein illusionsloser, abgebrühter, schmutziger Zyniker à la Rameau. Ist das an Wahnsinn grenzende Lachen des Zynikers, mit dem der Neffe sich behauptet und mit dem der Dialog
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endet, möglicherweise die Endstation der Aufklärung? Das ist die beunruhigende Frage, die der Dialog hinterläßt. Diese Frage wird erneut von Nietzsche und seiner Parabel vom „tollen Menschen" aufgeworfen. Auch bei Nietzsche gibt es eine bedeutende Kynismus-Rezeption, und zwar sowohl in erhellenden Reflexionen über den Kyniker und den Kynismus wie in der literarischen Aneignung kynischer Bilder und Motive und wie schließlich in der emphatischen Bejahung des Zynismus. „Grosse Dinge verlangen, dass man von ihnen schweigt oder gross redet: gross, das heißt cynisch und mit Unschuld." 55 In diesem Sinne kommentierte Nietzsche seine eigenen Bücher, sie erreichten an manchen Stellen „das Höchste, was auf Erden erreicht werden kann, den Cynismus". Solche Bekenntnisse sind gewiß auch kynisch-provokativ gemeint, aber sie sind nicht bloß Koketterie. Schließlich hat Nietzsche zwei seiner zentralen Gedanken, die Umwertung der Werte und den Tod Gottes, im Rückgriff auf kynisches Metaphern- und Bildermaterial formuliert. Nur auf den letzteren Gedanken kann ich hier kurz eingehen. Eines der berühmtesten Motive der Diogenes-Tradition, die Laterne des Diogenes, wurde in der Neuzeit zur beliebten Signatur moralisch-satirischer Menschenund Sittenprüfung sowie zum Symbol praktizierter Aufklärung. In einer grandiosen Ubersteigerung hat Nietzsche das Motiv zur Formulierung seines Gedankens vom Tod Gottes verwendet und damit den moralkritischen Gestus des Kynikers in einen religionskritisch-aufklärerischen überhöht: Der tolle Mensch sucht am hellen Vormittag mit angezündeter Laterne auf dem Marktplatz Gott. Das Publikum ist atheistisch aufgeklärt und quittiert den ironischen Gestus mit Gelächter, worauf der tolle Mensch den heiligen Ernst dieser Botschaft und ihre ernsten Konsequenzen verkündet: Die Menschen selbst haben Gott getötet, und sie müssen nun selber zu Göttern werden. Diese Notwendigkeit will das aufgeklärte Publikum nicht begreifen, und über diese Borniertheit wird der tolle Mensch wahnsinnig. Er zertrümmert seine Laterne: das Licht der Aufklärung erlischt, weil die Aufgeklärten blind für die Konsequenzen der Aufklärung sind. 56 Nietzsches „Neo-Cynismus" ist eines der Vorbilder, an denen sich die spektakulärste Rezeption und literarische Aktualisierung des Kynismus in jüngerer Zeit orientiert: Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft (1983) ist der größte Verkaufserfolg eines philosophischen Buches im Nachkriegsdeutschland. Auch Sloterdijk stellt den Kynismus - wie den Begriff des Zynismus - in den Dienst der Aufklärungs- und Vernunftkritik. Der Titel des Buches weckt bewußt Assoziationen an die Vernunftkritik Kants. Aber es ist nicht so sehr diese als vielmehr die skeptischere Vernunfttheorie und Sicht der Aufklärung, wie sie - im Anschluß an Schopenhauer und Nietzsche - Horkheimer und Adorno seit den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts formulierten, von der Sloterdijk ausgeht. Die Kritische Theorie beherrschte in den späten sechziger und in den siebziger Jahren die Diskussion der Intellektuellen in Westdeutschland und hatte auf die Studentenbewegung dieser Jahre großen Einfluß. Der Erfolg Sloterdijks beruht - neben seiner leichthändigen und oft virtuosen Formulierungskunst - wesentlich darauf, daß er einerseits an die Kritische Theorie anknüpft, andererseits aber die Sackgasse vermeidet, in die diese Theorie durch ihre Verweigerung jeder Perspektive auf eine praktische Lösung des
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aber die Sackgasse vermeidet, in die diese Theorie durch ihre Verweigerung jeder Perspektive auf eine praktische Lösung des Dilemmas der Dialektik der Aufklärung und der instrumenteilen Vernunft geführt hatte. Sloterdijks Lösung ist der Kynismus, und mit diesem Angebot kommt er denjenigen Tendenzen entgegen, die sich an die Phase der - letztlich gescheiterten - politischen Umsetzung der Kritischen Theorie anschlössen: dem Rückzug aus der Öffentlichkeit, der Ökologiebewegung, der neuen Sinnlichkeit und Leiblichkeit, dem Reminismus und sogar einem Sektentum wie der Bhagwanbewegung. Sloterdijks Buch ist ein getreuer Spiegel des Bildungsganges, den die Generation der Studentenbewegung genommen hat, und das erklärt seine große Resonanz; in ihm erkannte diese Generation sich wieder. Sloterdijk sprengt den begriffsgeschichtlichen Zusammenhang von KynismusRezeption und modernem Zynismusbegriff, indem der Kynismus und Zynismus diametral entgegensetzt. „Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein. Es ist das modernisierte unglückliche Bewußtsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. Es hat seine Aufklärungslektion gelernt, aber nicht vollzogen und wohl nicht vollziehen können. Gutsituiert und miserabel zugleich fühlt sich dieses Bewußtsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen; seine Falschheit ist bereits reflexiv gefedert." 57 Die gelungensten Partien des Buches bilden die Phänomenologie der verschiedenen Arten von Zynismus und die Typologie des Zynikers. Weniger überzeugend sind dagegen der systematische Rahmen der Entgegensetzung von Zynismus und Kynismus sowie die Stilisierung des Kynismus zur einzigen Alternative zum universalen Zynismus der Gegenwart. Die Mehtode des Kynikers besteht in der Verweigerung der Argumentation. Statt auf den theoretischen Diskurs setzt der Kyniker auf nonverbale Ausdrucksmittel und auf den leiblichen Gestus. Im Kynismus revoltieren die unteren Organe gegen den Kopf und die Kopflastigkeit traditioneller Philosophie. Der wesentliche Unterschied zwischen Kynismus und Zynismus besteht, Sloterdijk zufolge, in dem Verhältnis zur Macht: Kynismus ist die Aufsässigkeit, die Frechheit und Kritik derer, die nicht an der Macht partizipieren - und folglich davon auch nicht korrumpiert sind - und als Machtkritik per se legitim. Zynismus ist dagegen in einem eminenten Sinne „Herrenzynismus", „Kritik, die das Lager gewechselt hat"; eben das macht ihn suspekt und nimmt ihm die moralische Rechtfertigung. Kynismus befreit, Zynismus unterdrückt. In dieser handlichen und eingängigen Dichotomie wird der Kynismus zu einem attraktiven Identifikationsangebot: Der Kyniker ist frech und keck - aber nicht hämisch, kritikfreudig - aber nicht verbissen, gelassen - aber nicht indolent, reflektiert - aber nicht gebrochen oder gar schizoid; kynische Äußerungen von Misanthropie oder Verachtung der Menge sind „herber Realismus". Beim Zyniker gelten durchweg die umgekehrten Bestimmungen, und so wird der Zynismus Gegenstand eindeutig ablehnender Kritik. Man fragt sich, wie in diesen Gegensatz eine Gestalt wie der Neffe aus Diderots Satire einzuordnen ist. Sloterdijk, der sich mit dieser Gestalt wie mit dem Werk Diderots leider wenig auseinandersetzt, führt ihn bedenkenlos als Kyniker. Eine intensivere Beschäftigung mit Rameaus Neffe hätte ihm diese Einschätzung - wie seine zu einfache Entgegensetzung von Kynismus und Zynismus - problematisch erscheinen lassen.
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Geschichte begleitenden A n s t r e n g u n g , einen echten u n d urspünglichen K y n i s m u s v o n einem falschen u n d entarteten, einen achtenswerten v o n einem verwerflichen, einen guten v o n einem schlechten u n d bösen zu unterscheiden, Der K y n i s m u s selbst, so scheint mir, gibt d e n Maßstab einer solchen U n t e r s c h e i d u n g nicht her. Eine Kritik v o n K y n i s m u s u n d Z y n i s m u s scheint an einer W e r t u n g nicht vorbeizuk o m m e n , bei der der Maßstab ein externer ist. Letztlich gerät die Zynismuskritik in die Bahnen jener allgemeinen moralischen G r u n d ü b e r z e u g u n g e n u n d ihrer Konkretionen, die den Kernbestand dessen bilden, w a s neuerdings als „hochkulturelle E t h i k " bezeichnet wird u n d w a s in erster Linie E r b g u t v o n Piatonismus, Christent u m u n d Aufklärung ist. Prof. Dr. Heinrich
Niehues-Pröbsting,
Westfälische Wilhelms-Universität
sophisches Seminar, Domplatz 2 3 , W-4400
Münster,
Philo-
Münster
Anmerkungen 1 Vgl. zum folgenden: H. Niehues-Pröbsting: Anekdote als philosophiegeschichtliches Medium, in: Nietzsche-Studien, XII, 1983, S. 255-286. 2 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke, XVII, hg. von H. Glockner, Stuttgart 1959, S. 28; vgl. S. 68. 3 Anders als die übrigen europäischen Sprachen hat das Deutsche im 19. Jahrhundert die bis dahin einheitliche Schreibweise „Cynismus" preisgegeben zugunsten der Unterscheidung in „Kynismus" - als Bezeichnung ausschließlich für die Philosophie des Antisthenes und Diogenes und ihrer antiken Nachfolger - und „Zynismus" als Bezeichnung für jene Einstellung, der „nichts heilig ist", die provokativ, mit beißendem Spott oder auch durch betonte Gleichgültigkeit, Werte, Gefühle und Anstand verletzt. Zur Entstehung des modernen Begriffs des Zynismus aus der Rezeption des Kynismus vgl. H. Niehues-Pröbsting: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, Frankfurt a. M. 2 1988. 4 Peter Baylens Historisches und critisches Wörterbuch, übersetzt von J. C. Gottsched, Leipzig 1741-1744, 2. Bd., S. 310. 5 P. Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1983, S. 37. 6 Wieland's Werke, Berlin (Gustav Hempel) o. }., XXIV, S. 22. Vgl. zum Thema: H. NiehuesPröbsting: Wielands Diogenes und der Rameau Diderots. Zur Differenz von Kyniker und Zyniker in der Sicht der Aufklärung, in: Peter Sloterdijks ,Kritik der zynischen Vernunft', Frankfurt a. M. 1987, S. 111 ff. 7 A. a. O., S. 70. 8 Reichhaltiges Material zu Diogenes in der Rezeption und Ikonographie zur Zeit der Französischen Revolution bietet K. Herding: Diogenes als Bürgerheld, in: Boreas. Münstersche Beiträge zur Archäologie, Bd. 5, Münster 1982, S. 232 ff. 9 20. 3. 1770, zitiert nach F. Martinis Nachwort zu: Christoph Martin Wieland: Werke, 2. Bd., München 1966, S. 843. 10 J. G. Gruber: C. M. Wielands Leben, Leipzig 1827, 4. Buch , S. 569. 11 Vgl. ebd., S. 571 f. 12 J. Falk: Goethe aus näherem persönlichen Umgange dargestellt, Leipzig 1832, S. 80f. 13 Aufzeichnung Böttigers nach einem Gespräch mit Wieland. 26. 2. 1797, in Th. C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk, II, 1784-1799, Sigmaringen 1987, S. 568. 14 Wieland's Werke, XXXIII, hier: S. 252f.
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15 Wieland's Werke, XXXIV, hier: S. 65 f. 16 Th. C. Starnes: Christoph Martin Wieland, a. a. O., S. 568. 17 Memoiren des Fürsten Talleyrand, hg. vom Herzog von Broglie, dt. Ausgabe von A. Ebeling, 1. Bd., Köln und Leipzig 1891, S. 326. 18 Wieland's Werke, XXXIII, S. 117. In dem Aufsatz „Gedanken über eine alte Aufschrift" hat Wieland das despotische und das „cynische" Unabhängigkeitsbewußtsein einander als zwei extreme Arten der Überheblichkeit über die Meinungen der anderen gegenübergestellt (Wieland's Werke, XXXII, S. 43-63). 19 H. Blumenberg: Das Erschrecken des Aufklärers vor dem Vollstrecker der Revolution. Z u m 250. Geburtstag von Christoph Martin Wieland, in: Neue Zürcher Zeitung v. 2. 9.1983. 20 M. Forschner: Rousseau, Freiburg/München 1977, S. 7. 21 J. Starobinski: Diderots Satire ,Rameaus Neffe', in: Das Rettende in der Gefahr. Kunstgriffe der Aufklärung, dt. von H. Günther, Frankfurt a. M. 190, S. 308. 22 Paul Menzer (Hg.): Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin 1924, S. 8f. 23 Rousseau: Schriften, I, hg. von H. Ritter, München/Wien 1978, S. 263. Die Zusammenstellung der beiden notorischen Sittenrichter Diogenes und Cato war nicht neu; im 18. Jahrhundert gab es eine anonyme Schrift „Le Caton et Diogene frangois" und einen Streit u m den Mißbrauch der Namen des Diogenes und des Cato. Vgl. dazu K. Herding: Diogenes . . . , a. a. O., S. 238, Anmerkung 22. 24 Rousseau, Schriften I, S. 154. 25 Frederic-Melchior Baron de Grimm, zitiert nach J. Popper-Lynkeus: Voltaire, Wien und Leipzig 31925, S. 296. 26 Rousseau: Bekenntnisse, dt. von E. Hardt, Frankfurt a. M. 31955, S. 468. 27 Ebd., S. 480f. 28 Ebd., S. 483. 29 Ebd., S. 516, Anmerkung. 30 Ebd., S. 532. 31 Rousseau, Schriften, II, hg. von H. Ritter, S. 450. 32 Wieland's Werke, XXIV, S. 12. 33 Briefe Friedrichs des Großen, II, hg. von M. Hein, dt. von Fr. von Oppeln-Bronikowski und E. König, Berlin 1914, S. 105. 34 Ebd., S. 169. 35 Ebd., S. 105. 36 Voltaires Briefwechsel mit Friedrich dem Großen und Katharina II., dt. von W. Mönch, Berlin 1944, S. 200 37 Die Belege bei: H. Gouhier: Rousseau et Voltaire. Portraits dans deux miroirs, Paris 1983, s. v. Diogene. S. 472; J. Starobinski: Das Rettende in der Gefahr, S. 308f.; J. Orieux: Das Leben des Voltaire, dt. von J. Kirschner, Frankfurt a. M. 1978, S. 733 f. 38 Zitiert bei J. Orieux: Das Leben des Voltaire, a. a. O., S. 654. Die Widerlegung durch die Tat nach dem Vorbild des Diogenes - Bayle hatte die Anekdote im Artikel Diogenes zitiert fand viele Nachahmer; auch Diderot und Friedrich der Große beriefen sich auf die Anekdote. Rousseau zitiert die Anekdote als Illustration für die Ausdrucksfähigkeit der Gestensprache, die kräftiger und unmittelbarer ausdrücke als die gesprochene Sprache: Essay über den Ursprung der Sprache, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird, in: Jean-Jacques Rousseau: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, hg. von P. Gülke, Leipzig 1989, hier: S. 101. 39 Zitiert bei J. Starobinski, Das Rettende in der Gefahr, a. a. O., S. 298, Anmerkung. 40 Zitiert bei J. Starobinski, Das Rettende in der Gefahr, a. a. O., S. 298. 41 Briefe Friedrichs des Großen, II, S. 131.
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42 Abendstunden zu St. Petersburg oder Gespräche über das Walten der göttlichen Vorsicht in zeitlichen Dingen, dt. von M. Lieber, Frankfurt a. M. 1824, S. 234, 236. Vgl. Flauberts Definition des Zynismus als die „Ironie des Lasters", in: Briefe, dt. von H. Scheffel, Stuttgart 1964, S. 199. 43 Außer der Arbeit von Starobinski sind mir bekannt: H. Harth: Der Aufklärer und sein Schatten: Zynismus im ,Neveu de Rameau', in: Denis Diderot 1713-1784, hg. von T. Heydenreich, Erlangen 1984, S. 95-105; R. Groh, Diderot - ein Menippeer der Aufklärung, in: Denis Diderot oder die Ambivalenz der Aufklärung, hg. von D. Harth und M. Raether, Würzburg 1987, S. 45-62. 44 Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern. Ich zitiere die Übersetzung von H. M. Enzensberger in: Die Zeit v. 1.12.1989. 45 Essay über die Herrschaft der Kaiser Claudius und Nero sowie über das Leben und die Schriften Senecas, in: Philosophische Schriften, II, dt. von Th. Lücke, Berlin 1961, S. 257. 46 Diogenes Laertius VI 69. 47 Soliloquy, or Advice to an Author. Ich zitiere die Stelle nach D. O'Gorman, der darin das Hauptmuster für die beiden Charaktere in „Rameaus Neffe" sieht: Diderot the satirist, Toronto 1971, S. 200. 48 Der Kyniker dieses Artikels, dessen Bild auf Rousseau paßt, ist eher Antisthenes als Diogenes; mit Antisthenes verbindet Diderot Cato, das Tugendmuster Rousseaus. Man muß bedenken, daß der Artikel 1754, vor dem endgültigen Bruch mit Rousseau, verfaßt wurde. 49 So das „Wörterbuch der philosophischen Begriffe", hg. von J. Hoffmeister, Hamburg 2 1955, Artikel „Zynismus". 50 Diogenes Laertius VI 24. 51 Diogenes Laertius VI 54. 52 Rameaus Neffe, dt. von R. Rütten, in: Denis Diderot: Sämtliche Romane und Erzählungen, II, München 1979, S. 84. 53 Diderot the satirist, S. 216, Anmerkung 4. 54 K. Rosenkranz: Diderots Leben und Werke, II, Leipzig 1866, S. 387. 55 So die Vorrede zu dem geplanten Werk „Der Wille zur Macht", in: F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, XIII, hg. von G. Colli und M. Montinari, München 1980, S. 189. Zu Nietzsches „Cynismus" vgl.: H. Niehues-Pröbsting: Der ,Kurze Weg': Nietzsches ,Cynismus', in: Archiv für Begriffsgeschichte, XXIV, 1980, S. 103ff. 56 F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft 125, in: ders.: Sämtliche Werke III, S. 480ff. 57 P. Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, a. a. O., S. 37f.
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Piaton und der Piatonismus bei Marsilio Ficino Von T H O M A S L E I N K A U F (Berlin) Für Christian-Georg Marsilio Ficino ist neben Cusanus der bedeutendste philosophische Vertreter des Piatonismus im 15. Jahrhundert. 1 Wie dieser löste er den auf die ethisch-politischen Schriften und Themen konzentrierten Dialog, den die Humanisten mit Piaton führten 2 , ab durch eine die metaphysisch-theologischen und kosmologischen Aspekte des platonischen Denkens im Sinne der vor-humanistischen Tradition des Platonismus aufgreifende und neu bewertende Auseinandersetzung. Diese von der Spätantike bis ins Spätmittelalter in vieler Hinsicht thematisch konstante Tradition des Piatonismus ist der Horizont für Ficinos spezifische Platon-Rezeption und nur in der Auseinandersetzung mit und Absetzung von diesem Horizont zeigen sich deren eigentümliche Positionen. Piatonismus als Vorgabe eines philosophischen Autors in der Mitte des 15. Jahrhunderts bedeutete nicht die Präsenz einer gediegenen, in sich ausformulierten und differenzierten Schule, wie sie etwa im Aristotelismus der Scholastik vorlag, sondern dieser Titel bedeutete die Präsenz eines komplexen Bündels platonischer und neuplatonischer Elemente, die gefiltert waren durch eine selbst schon jahrhundertealte, seit der Patristik bestehende christliche Rezeptionsanstrengung. 3 Das Gravitationsfeld platonischen Denkens, das auf Ficino sowohl vor als auch während seiner eigenen Auseinandersetzung mit den Texten Piatons und der Platoniker einwirkte, stellt sich in folgenden wirkungsgeschichtlichen Hauptsträngen dar, die zugleich auch die Präsenz der zentralen Dialoge und Lehrstücke Piatons in der lateinischen Tradition anzeigen: 1. Die in der Auseinandersetzung mit den späten Schriften Piatons, insbesondere mit dem Parmenides, entfaltete Dialektik von Einem und Vielem und die dadurch erreichte spekulative Bestimmung der Transzendenz des absoluten Einen. Die Präsenz dessen also, was man die ,Theologie des Piaton' aus neuplatonischer Sicht genannt hat. Hier sind vor allem der Parmenides-Kommentar des Proklos, verstärkt durch die mittelalterliche Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke, und das Werk des Ps. Dionysius Areopagita wichtig geworden. 4 2. Die in den mittleren Dialogen Piatons (Phaidon, Politeia) diskutierte Ideenlehre, die von den Piatonikern eine Synthese einerseits mit dem Denken Gottes (Mittelplatonismus) und andererseits mit der Geist-Hypostase (Plotin) erfuhr und die im christlichen Denken in der Zuordnung der Ideen zum verbum Dei weiterwirkte. Für Ficino zentral war hierbei die Position des Augustinus. 5
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Piaton und der Piatonismus bei Marsilio Ficino Von T H O M A S L E I N K A U F (Berlin) Für Christian-Georg Marsilio Ficino ist neben Cusanus der bedeutendste philosophische Vertreter des Piatonismus im 15. Jahrhundert. 1 Wie dieser löste er den auf die ethisch-politischen Schriften und Themen konzentrierten Dialog, den die Humanisten mit Piaton führten 2 , ab durch eine die metaphysisch-theologischen und kosmologischen Aspekte des platonischen Denkens im Sinne der vor-humanistischen Tradition des Platonismus aufgreifende und neu bewertende Auseinandersetzung. Diese von der Spätantike bis ins Spätmittelalter in vieler Hinsicht thematisch konstante Tradition des Piatonismus ist der Horizont für Ficinos spezifische Platon-Rezeption und nur in der Auseinandersetzung mit und Absetzung von diesem Horizont zeigen sich deren eigentümliche Positionen. Piatonismus als Vorgabe eines philosophischen Autors in der Mitte des 15. Jahrhunderts bedeutete nicht die Präsenz einer gediegenen, in sich ausformulierten und differenzierten Schule, wie sie etwa im Aristotelismus der Scholastik vorlag, sondern dieser Titel bedeutete die Präsenz eines komplexen Bündels platonischer und neuplatonischer Elemente, die gefiltert waren durch eine selbst schon jahrhundertealte, seit der Patristik bestehende christliche Rezeptionsanstrengung. 3 Das Gravitationsfeld platonischen Denkens, das auf Ficino sowohl vor als auch während seiner eigenen Auseinandersetzung mit den Texten Piatons und der Platoniker einwirkte, stellt sich in folgenden wirkungsgeschichtlichen Hauptsträngen dar, die zugleich auch die Präsenz der zentralen Dialoge und Lehrstücke Piatons in der lateinischen Tradition anzeigen: 1. Die in der Auseinandersetzung mit den späten Schriften Piatons, insbesondere mit dem Parmenides, entfaltete Dialektik von Einem und Vielem und die dadurch erreichte spekulative Bestimmung der Transzendenz des absoluten Einen. Die Präsenz dessen also, was man die ,Theologie des Piaton' aus neuplatonischer Sicht genannt hat. Hier sind vor allem der Parmenides-Kommentar des Proklos, verstärkt durch die mittelalterliche Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke, und das Werk des Ps. Dionysius Areopagita wichtig geworden. 4 2. Die in den mittleren Dialogen Piatons (Phaidon, Politeia) diskutierte Ideenlehre, die von den Piatonikern eine Synthese einerseits mit dem Denken Gottes (Mittelplatonismus) und andererseits mit der Geist-Hypostase (Plotin) erfuhr und die im christlichen Denken in der Zuordnung der Ideen zum verbum Dei weiterwirkte. Für Ficino zentral war hierbei die Position des Augustinus. 5
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3. Die in Phaidon und Phaidros grundgelegte Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Diese wurde, nach der Kanonisierung des Phaidon bei Albinos (Isag. 5), durch die neuplatonische Theorie einer transzendenten, immateriellen und unvergänglichen Seelenhypostase (Porphyrios, sent. 17; Plotin IV 7-8), durch den spätantiken Phaidon-Kommentar des Olympiodorus, durch die Absetzung eines spezifisch christlichen Seelen- und Unsterblichkeitsbegriffes hiervon durch Augustinus (imm. an.; conf. VII 13; civ. Dei XI 4) und Boethius (cons. phil.), sowie durch die mittelalterliche Phaidon-Übersetzung des Henricus Aristippus in die Zeit Ficinos vermittelt. 6 4. Eine in der Lektüre, Kommentierung und Interpretation des Timaios entwickelte wissenschaftliche Kosmologie, deren mittel- und neuplatonische Vorgaben weitergegeben und -entfaltet wurden durch Calcidius' Timaios-Kommentar und Boethius' poetische Kondensation in der Consolatio philosophiae (III metrum 9). Diese Kosmologie erfuhr ihre Blüte im 12. Jahrhundert in der Schule von Chartres (Bernhard v. Chartres, Thierry v. Chartres, Wilhelm v. Conches etc.). 7 5. Die spezifisch frühchristliche, patristische Transformation des platonischen Denkens durch Augustinus mit seiner ausgeprägten Psychologie auf der einen Seite und durch den Areopagiten mit seiner negativen Theologie und seiner hierarchisierenden Kosmologie auf der anderen Seite, (die patristische Aufnahme und Transformation des Platonischen betrifft in der Regel alle unter 1.-4. genannten Aspekte) sowie die allgemein über das Mittelalter bei verschiedenen Autoren und Schulen tradierten Platonica. 8 Neuplatonismus und darauf aufbauender christlicher Piatonismus also geben den für Ficinos Denken verbindlichen metaphysisch-theologischen Rahmen vor. Seine eigentümliche Leistung liegt dabei eher meiner Vertiefung und insistierenden Durchdringung bestimmter Grundsätze^ des (christlichen) Piatonismus und einer dadurch erreichten Neuformulierung durch Prädominanz einiger Grundsätze als in einer spekulativen Erweiterung und Überschreitung seiner Vorgabe. Dies unterscheidet ihn deutlich von Cusanus und dieser Unterschied spiegelt sich auch in den jeweiligen Wirkungsgeschichten beider Autoren, die je für sich einen bedeutenden und nur zum Teil erst rekonstruierten Umfang haben. 9 Ebenfalls im Unterschied zu Cusanus kann man den Rückgriff Ficinos auf Platonisches immer als einen Rückgriff auf den dahinter als Autorität stehenden Piaton selbst, auf dessen Dialoge und auf ein ganzes, über einzelnen Theoremen stehendes Programm ,platonische Philosophie' verstehen. 10 Ficino erschien der desolate Zustand des zeitgenössischen Christentums, markiert durch einen immer größeren Gegensatz von effektiver Religiosität und intellektueller Subtilität, nur durch eine umfassende Erneuerung und gleichsam ,Reformation' auch des philosophischen Diskurses überwindbar. Daher erhält sein Piatonismus einen durchgehend programmatischen Charakter und wird mit zum bedeutenden Initialfaktor der für die frühe Neuzeit zentralen Vorstellung von einer philosophia perennis, prisca theologia oder prisca sapientia, die einen (mystischen) Kern christlicher Offenbarung und eine philosophische Erscheinungsform besitzt. 11 Ficino bringt diese Erscheinungsform mit seinem Verständnis von platonischer Philosophie zur Deckung und stilisiert dadurch Piatonismus zur pia philosophia und zum notwendigen Ausgangspunkt eines differenzierten intellektuellen Verständnisses der religio christiana,'2 Platonisches Denken wird für Ficino so zu
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einem von göttlicher Providenz bereitgestellten Antidot gegen den inneren Zerfall christlicher Intellektualität. Eine Rückwendung zu Piaton bedeutete also keinesfalls eine Abwendung vom genuin christlichen Ansatz, sondern vielmehr eine legitime, erneute und erneuernde Auseinandersetzung mit einem Autor, der in abschließender Weise in seinem Werk die zentralen Gehalte dessen versammelt hatte, was Ficino als weltgeschichtliche und heilsgeschichtliche Periode der Inspiration galt. 13 Das in Piaton, aber auch in Moses, den alttestamentarischen Propheten und den heidnischen Autoren wie Zoroaster, Hermes Trismegistos, Orpheus oft in kryptischer, fragmentarischer und in Bildern verkleideter Form bewahrte Wissen ist inspiriertes Wissen und ,Theologie', die erst in der mit Christus und den christlichen Platonikern beginnenden Periode der Interpretation in das manifeste Verstehen ihres eigentlichen Gehaltes gebracht wird: „Divino enim Christianorum lumine usi sunt Platonici ad divinum Platonem interpretandum." 14 Daß einerseits die Christen auf Piaton zurückgreifen können und müssen, um die in seinen Schriften verwahrten protochristlichen Wahrheiten ins rechte Licht des christlichen Verständnisses zu rücken, und daß die Platoniker andererseits auf frühe christliche Interpreten sowohl der platonischen als auch der christlich-neutestamentarischen ,Botschaft' zurückgreifen können und müssen (insbesondere auf Ps. Dionysius Areopagita), um die dort vorgegebenen Interpretationen dazu zu benützen, Piaton ins rechte Licht des platonischen Verständnisses zu rücken (das, contre coeur, eben ein christliches Verstehen von Piatons Inspiriertsein ist), zeigt, wie eng, ja fast bis zur UnUnterscheidbarkeit, Ficino im Grunde Platonisches und Christliches zusammensehen will. Es zeigt aber auch, wie entschieden diese größtmöglich gesteigerte Nähe von Platonischem und Christlichem in ein sich durchhaltendes Zuordnungs- und Abhängigkeitsverhältnis gestellt ist, das das Platonische nie als solches, sondern immer nur als in providentieller Hinordnung auf das Christliche begriffen in den Blick kommen läßt. Das Verhältnis Ficinos zur griechischen Tradition unterscheidet sich in dieser Hinsicht der Rechtfertigung einerseits und Relativierung andererseits nicht wesentlich von dem der Patristik: Piatons Denken verhält sich zur christlichen, durch die mosaischen und neutestamentarischen Texte verbürgten Wahrheit wie das nur reflektierte Mondlicht zum ursprünglichen Licht der Sonne. 15 In diesem Zusammenhang geht die ursprüngliche philosophische Formierung Ficinos durch Aristoteles und die Schulphilosophie des Mittelalters, insbesondere des Thomas von Aquin, der Sache nach vollständig in der Restitution des Platonischen auf, bis auf wenige formale Relikte wie etwa die Quaestionenform. 16 Die intensive Lektüre des Thomas und die durchgehende Präsenz der Summa contra gentiles bestätigen diese Feststellung nur, denn die Art und Weise wie Thomas bei Ficino präsent bleibt, zeigt einen platonischen Thomas, einen christlichen Hauptautor, der zumindest der Intention nach mit Piaton kompatibel gemacht wird. 17 Um Piaton die Bedeutung de facto zu verschaffen, die ihm dem Programm zufolge gebührte, mußten vor allem zwei Dinge zugleich geleistet werden: 1. Er mußte zuallererst überhaupt präsent gemacht werden, d. h. aus dem Zustand der Zerrissenheit und Verstreutheit der Glieder seines Werkes in die Integrität eines Werkganzen restituiert werden und aus der Esoterik des griechischen Urtextes in die öffentlich wirksame Gestalt der Latinität gewendet werden. 18 2. Das Denken
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Piatons mußte immanent rekonstruiert und strukturiert werden, d. h. die im Denken bewegte Sache mußte auf der Basis des hergestellten Textes und der Übersetzung, aber nicht in sklavischer Gefolgschaft zum bloßen ,Wort', in Kommentaren und Argumenten herausgearbeitet werden. 19 Dabei wurden auf den paganen Text im Grunde die gleichen Kriterien einer pia interpretatio angewandt, wie ansonsten bei den verbindlichen christlichen Texten, einer pia interpretatio, die ja selbst schon in der Spätantike ihr paganes Gegenstück in der Art und Weise hatte, wie etwa neuplatonische Autoren die ipsissima verba Piatons oder neupythagoreische Autoren das avtoc, ec) und bezeichnet ein universales Strukturmuster der Wirklichkeit. Zuerst die in der absoluten Einheit noch verborgene, ursprünglich selbstreflexive und selbstbestimmende Tätigkeit und Kraft der „ersten göttlichen Triade": Existenz - Vermögen - Wissen (Proklos, Theol. Plat. I 17; 80,20ff Saffrey-Westerink) sowie die entfaltete Triade der zweiten Hypostase Sein Leben - Intellekt (Elem. theol. prop. 101) und dann die zunehmend komplexe, anderes reflektierende und bestimmende Bewegung des Geistigen ,nach außen' in den Bereich zeit-räumlicher Vielheit. 35 Ficino kennt diese kontextuellen Ternare und er setzt sie wie die Neuplatoniker als universale dynamische Konstanten der Ordnung der Welt an. 36 Jede Tätigkeit oder Aktivität hat ihr Fundament in einem einvielheitlichen Gefüge, das auf der Basis einer sich gleichbleibenden Substanz oder Wesensform eine Entfaltung von deren internen Vermögen in eine externe oder zumindest ad extra gerichtete Tätigkeit ermöglicht. Die Zunahme an Konkretion, Bestimmtheit und Einschränkung des Allgemeinen in der der Veränderung unterworfenen Tätigkeit bleibt dabei immer bezogen auf den unveränderlich identischen Horizont des Wesens. Der von Ficino bevorzugte Ternar essentia - virtus - operatio unterscheidet sich von dem anderen wirkungsgeschichtlich bedeutenden neuplatonischen Ternar essentia - vita - intelligentia darin, daß er ein universales Muster der Form von Entfaltung oder Tätigsein einer Substanz gibt. Er ist gleichsam eine triadische Vermittlung von essentia und vita selbst, in der der operationale Aspekt indifferent gegenüber einer ontologischen Entfaltung oder noetischen Reflexion ist. Die operatio kann hier sowohl Leben im Sinne von Bewegung, qualitativem Prozeß oder vorrationaler Seelentätigkeit als auch Denken im Sinne der begrifflichen Rückbindung des Seienden an seinen Ursprung bedeuten (Theol. Plat. V 13; 1,206: operatio ad extra = calefactio, operatio ad intra = voluntas, cognitio). Entscheidend ist, daß zwischen einheitlicher Substanz oder Wesensform und der vielheitlichen, aus ihr herausgetretenen Tätigkeit ein neuplatonisch gedachtes Moment der Vermittlung tritt, das einerseits durch Teilhabe dem substantiellen Ursprung (essentia) verbunden ist und andererseits durch Verursächlichung sich der Tätigkeit verbindet. 37 Dieses ,Mittlere' wird grundsätzlich als Leben bzw. als dynamisches Bewegungsprinzip gedacht, als Entfaltungsinstanz, die überall das sich gleichbleibende, maßgebende Prinzip (oder Wesen oder Substanz) mit seinen je faktischen veränderlichen, vergänglichen oder partikulären Äußerungen vermittelt. In der denkenden Selbstvermittlung liegt auch für Ficino das Paradigma der triadischen Form, in der alle Momente sich gegenseitig implizieren und auslegen und nur dadurch die Einheit des Ganzen sich in der Einheit der Teile selbst noch einmal unter je anderem Index herstellt. Seine Übernahme des neuplatonisch-augustinischen Ternars essentia - vita intellectus/intelligentia (bei Ficino auch mens) erscheint so zwar als Spezifizierung des allgemeineren ersten Ternares, denn die operatio ist eindeutig festgelegt, andererseits ist dieser
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Ternar Ausdruck intensiverer Einheit und daher ontologisch höherrangig. Die „unendliche Reflexion" (reflexio infinita) des Geistes ist in ihrer ternarischen Form Abbild der absoluten ternarischen Einheit Gottes, sie vermittelt in Ficinos Augen auf absolute Weise die zentralen ontologischen Kategorien Piatons Ruhe (Selbigkeit) und Bewegung (Andersheit)-. „mens sistit vitalem essentiae motum in semetipso, reflectit ipsum in essentiam quadam sui ipsius animadversione" (Theol. Plat. VIII15; 1,325. XVII 2; 3,152f). Ficinos Ontologie wie auch seine Intellekttheorie ist wesentlich durch dieses ternarische Strukturmuster geprägt (ebd. X 9; 2,89-90). 4): Der neuplatonische Grundzug von Ficinos Denken zeigt sich insbesondere auch in seiner Intellekt-Theorie, die allerdings, wie Kristeller und kürzlich Michael J. B. Allen gezeigt haben 38 , die durch Marius Victorinus und Augustinus inaugurierte christliche Transformation der Nus-Hyposthase beerbt: einerseits verlangt das Trinitätsdogma die spekulative Ableitung eines (vielheitlichen) Selbstaufschlusses des absoluten göttlichen Einen in drei gleichwesentliche Personen, und zwar durch die Auflösung der ontologisch und axiologisch zum Einen subordinierten Position des absoluten Intellekts und die Tansformation von dessen innerem lebendigen Vollzug der Selbstvermittlung in die göttliche Einheit selbst; andererseits kehrt die hypostatisch-ontologische, nachgeordnete Position des plotinischen Intellektes in der Natur der mens angelica wieder 39 . Der Intellekt wird damit zur gleichrangigen Entfaltungsform der göttlichen Einheit und, als Intellekt Gottes, zum absoluten Urbild und zur Norm aller anderen intellektuellen Substanzen. Neben dem göttlichen Intellekt gibt es nur noch dem Sein nach kontingente, da aus Gottes Schaffensakt willentlich entspringende, und allenfalls der Struktur nach notwendige, da den göttlichen Intellekt abbildende Einzelintellekte: die mens angelica ist, als höchste Annäherung an den göttlichen Intellekt, keine Hypostase mehr, sondern gleichsam der in die Vielheit idealer gattungshafter Einzelintellekte zersprungene einheitliche k o g | o . ö < ; v o t | t ö < ; Plotins 40 , und die mens humana ist die zeitliche, an sein körperliches Substrat gebundene diskursive Vollzugsform der in den höheren Intellektstufen vorgegebenen noetischen Bewegung. Es gehört zur christlichen Transformation des neuplatonischen Intellektbegriffes durch Ficino, daß dessen Struktur einvielheitlicher, ternarischer und absoluter Selbstvermittlung und Selbstdurchdringung jetzt als solche auf alle intellektuellen Seinsformen projiziert wird - Gott, Engel, Rationalseelen - und daß nicht diese Grundstruktur selbst, sondern nur die Intensität von Einheit und Luzidität der Erkenntnis je nach Kapazität der spezifischen Substanz variiert (Theol. Plat. XV 2; 3,25; XVI 7; 3,135; XVIII 1; 3,179-180; vgl. Plotin V 5,9,29-33; III 4,3,22f). In allen drei intelligibel-intellektuellen Substanzen reflektiert sich so die von Plotin selber aus Vermittlung von Piaton (Sophistes 248 E) und Aristoteles (Metaph. XII 7 u. 9) entwickelte Struktur des Nus: Sein und Denken sind in dem ternarischen, kreishaften und lebendigen Selbstbezug des Intellektes, also in der Einheit von Einheit und Vielheit der Momente species (= vor|TÖv), intellectio (= voeiv, vör)cn.q) und intellectus (= votiq)41 identisch darin, daß Sein grundsätzlich intelligibel und Denken grundsätzlich intelligierendes Sein ist (Theol. Plat. XVIII 8; 3,215-217: für den Intellekt ist das Sein das Intelligible).42 Gott ist dabei die notio exactissima sui ipsius, in ihm sind Sein und Denken schlechthin dasselbe (Theol. Plat. II 10; 1,104: in Deo esse 50
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atque intelligere idem est omnino; XI 4; 2,119; XII 7; 2,190-191), und zwar als wesentlich neuplatonisch gedachte Einheit des absoluten Selbstbezuges. Ficinos Bestimmungen des göttlichen Wesens changieren bezeichnend zwischen der Betonung der strikten Einheit vor und über Sein und Denken, wie er sie von den Platonici, also Plotin, Proklos, Dionysius Areopagita, kannte 43 und der Betonung der Intellektnatur Gottes, also Gottes als reiner dreifältiger Selbstreflexion und absolutem Sich-selbst-Erfassen. 44 Dieser letztere Aspekt schließt das Wesen Gottes als in konstitutivem und kreativem Bezug zur Welt stehend auf: omnia naturae opera a divina intelligentia perfici (X 4; 2,68, vgl. Piaton, Phileb. 28 E). Durch die in Gott absolut und maß-geblich (Gott ist mensura prima, XI 4; 2,124) vorgegebene Identität von esse und intelligere stellt sich in der von Gott geschaffenen Welt ein durchgehendes Abbild dieser absoluten Identität in der ontologischen Identität von ens und intelligible einerseits und der epistemologischen Identifizierbarkeit bzw. vollzogenen Identifikation von ens intelligibile und intellectus intelligens andererseits dar. Jede intellektuelle Wesenheit steht daher für Ficino in einem notwendigen Bezug zu der über und durch die einzelnen Intellektionsakte abbildhaft aufscheinenden schlechthinnigen Einheit von Denken und Sein in Gott. Indem der Intellekt tätig ist - und Ficino beschreibt dies sowohl in platonischen als auch aristotelischscholastischen Wendungen - koinzidieren auf jeweils verschiedene, aber der Struktur nach identische Weise Seins- bzw. Sachbezug45 und Selbstbezug 46 In Gott koinzidieren sie absolut, d. h. sie koinzidieren nicht eigentlich, sondern sind immer schon ein in sich vielheitlicher und dennoch strikt einheitlicher Bezug; in den nachgeordneten Intellekten koinzidieren sie relativ, begrenzt und punkthaft. 47 Jedes Denken bezieht sich, im Unterschied zum Leben und Handeln ad extra, auf das absolute Wissen Gottes von allen Dingen, auf die rationes aeternae rerum (Theol. Plat. XI 4; 2,116.118: in ipso (sc. Deo) sunt omnium species, per quas cuncta cognoscat et faciat. De mente c. 9; 3,337: rationes sempiternae). Um den grundlegenden und sachgemäßen Seinsbezug des Denkens ableiten zu können, muß Ficino mit Piaton und dessen Nachfolgern ein apriorisches Einwohnen der intelligiblen Wesensformen der Dinge im Intellekt annehmen (dazu insbes. Theol. Plat. XI 1; 2,91 ff): sequitur ut super formas, et quae in corporibus, et quae in nostris mentibus sunt, quaerendum sunt formae aliae in mente divina omnium conditrice, quae universales omnium causae sint, quarum formulas humana mens habet, ut per has tamquam causarum similitudines ad illas tamquam effectuum causas conclusiones referat demonstrando (XI 3; 2,115,4; 2,125; siehe oben Punkt 2). 48 Die Superiorität des menschlichen Intellektes und des reinen engelischen Intellektes gegenüber den zeithaften und vergänglichen Dingen, die sich im wesentlichen darin äußert, daß diese Dinge, indem sie als Repräsentanten der jeweiligen Idee ,erkannt' werden, von ihrem idealen unvergänglichen Formbegriff unterschieden werden, beruht auf der zu diesem Identifikations- und Unterscheidungsakt notwendigen Maßstäblichkeit des Intellekts in bezug auf die konkreten raumzeitlichen Dinge (XI 4; 2,122). Diese Maßstäblichkeit ist dem Intellekt durch die Inhärenz oder das Eingeborensein der formulae idearum (ebd. 123; vgl. Anm. 32) gegeben. Im Rückgriff auf die in Piatons 7. Brief (342 B) formulierte Verbindung von scientia (£JtiGTn|iT|) und idea (XII 1; 2,150) ist für Ficino ein Wissen um das Wesen der Dinge ausschließlich dann gege-
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ben, wenn der Intellekt die in Gott subsistierenden Wesensformen der Dinge intelligiert. Gott selbst ist in seinem Sich-selbst-Denken die scientia prima, absolutes Wissen der Wesensformen. Die endlichen Einzelintellekte imitieren dieses Wissen je nach Fähigkeit (capacitas) und sie können dies nur, weil in ihnen, gleichsam als apriorischer Besitz, die formulae rerum als Abbilder der rationes rerum ,eingeboren' oder eingegeben' sind. Die Aktualisierung dieser eingeborenen Formen/Ideen entspricht der Aktualisierung des autarken Selbstbezuges des Intellektes - also seiner eigentlichen Imago-Natur in bezug auf den höchsten Intellekt - , die Angleichung (assimilatio) dieser an ihre absoluten Prototypen entspricht der Anschauung (contemplatio) und dem Erfassen (apprehensio) der Dinge, wie sie in Gott selbst sind (transitus in divinae mentis ideas, XI 1; 2,151; ebd. 153: quodammodo apprehendit (sc. mens/intellectus) Deum; XV 16; 3,81ff). 5): Ficinos Denken ist in allen seinen einzelnen Aspekten durchgehend vom Gedanken der Vermittlung bestimmt. Der „Grundsatz der Vermittlung" 49 : quod ab extremo ad extremum sine medio non est eundum (Comm. in Phileb. c. 27; Op. 1233) 50 , ist universalontologisch und bezieht sich auf schlechthin alle vielheitlichen Konfigurationen im Bereich des in sich hierarchisch geordneten Seins. Er ist ein Satz über die geordnete Einheit des Vielen und somit dem Primat des Einen nachgeordnet und aus diesem abgeleitet. Seine ontologisch-kosmologischen und epistemologischen Implikationen kulminieren in der Seele, die im vielheitlich gefügten und durch durchgehende Vermittlung bestimmten Kosmos selbst die Mitte aller Mitten und das Paradigma vermittelnder Tätigkeiten und Funktionen ist.51 Ficino leitet sein Vermittlungstheorem mit der Tradition aus der Autorität von Piatons Timaios (31 Bff) ab und er stützt sich sachlich insbesondere auf die implikationsreiche Diskussion dieses Aspektes des Timaios durch Plotin, Proklos und Augustinus. 52 Die Seele, als in sich vielheitliches Wesen und als ontologisch vielgestaltig existierende Form 53 , ist in ihrer die Extreme von Geist und Materie verbindenden Funktion überall im Universum als Gegensatz-temperierendes Prinzip gegenwärtig. 54 Wie die Einzelseele eine Ubiquität im einzelnen von ihr beseelten Körper behauptet, so die Seelen-Hypostase allgemein in bezug auf das All des Seienden. Ficino verbindet nun den platonischen und insbesondere plotinischen Gedanken von der vermittelnden Mittelstellung der Seele mit einem kosmologischen Modell, in welchem sich die Seele als Mitte absolut und in bezug auf alle Dimensionen verorten läßt und ihre Tätigkeit vollständig mit ihrem ontologischen Status koinzidiert. 55 Ficino charakterisiert diesen Status mit Plotin und Augustinus als prekäres und ambivalentes Tätigsein der Rationalseele auf der „Grenzscheide" (in confinio) von Sensiblem und Intelligiblem, von Zeit und Ewigkeit (Theol. Plat. X 3; 2,66). Der philosophisch bewußte Vollzug der Mittelstellung der Seele hat zur Konsequenz, daß Erkenntnisse, die die Seele von ihren eigenen Möglichkeiten und Realisierungen hat, unmittelbare Valenz für ihr Wissen um die Dinge im ganzen Universum hat: „sicut autem in nobis, ita et in universo considera" (Theol. Plat. I 3; 1,52. XIII 3; 2,229: tot concipit mens in seipsa intelligendo, quot Deus intelligendo facit in mundo). Ficinos (neu)platonischer Begriff von der medialen Dignität der vernünftigen Seele sieht in der spirituellen und intellektuellen Potenz des Seelischen den einzigen Ort, an welchem die für das materiale, raum-zeitliche Sein der Dinge bestimmenden Dissonanzen 50*
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und Differenzen in einen konsistenten Zusammenhang restituiert werden können. Einzig in der Seele, „da sie unmittelbar (proxime) den reinen Intelligenzen (Engeln) nachfolgt und ebenso unmittelbar den irdischen Körpern vorangeht" (Theol. Plat. X V I 1 ; 3,113), kann die Synthese von Einheit und Vielheit als durchgehaltenes Auseinander- und Zusammenhalten ineins dieser Momente, als wirkliche Vermittlung des Heterogenen gelingen (ebd. III 2; 1,142. IV 1; 1,161). Bedingung ist die Rückwendung der Seele auf sich selbst (Phaidon 79 AB) und ihren intelligiblen, geistigen Ursprung. Resultat ist das Dominium der Seele über den sichtbaren Kosmos (regere, disponere, conciliare, conspirare, connectere) durch Wirken in der Vielheit und die Wiederherstellung des mundus spiritualis durch rationale Reflexion und Kontemplation der Einheit (ebd. XVI 3; 3,118). 6): Das Hauptwerk Ficinos, die Theologia Platónica (insbesondere Bücher V u. VHIff.), handelt von der Unsterblichkeit der Seele im wirkungsgeschichtichen Horizont der Dialoge Phaidon (79 Äff., 106 D), Phaidros (245 C) und des Timaios (41 C, 42 D, 69 C, 73 D) sowie der daran anschließenden neuplatonischen Hypostasierung der Seele zu einer eigenständigen Wesenheit (Plotin IV 7). Es handelt hiervon aber mit beständigem Blick auf das, was Ficino als ,platonische Theologie' ansah, also auf Plotins und Proklos' Parmenides-Verständnis, und auf die christliche Transformation dieser paganen Seelenlehre in den Kontext eines personal-schöpfungstheologischen Ansatzes. Die platonisch-christlichen Bestimmungen der rationalen oder vernunftbegabten Seele als autark oder aus und durch sich selbst bestehend (Theol. Plat. I 3; 1,55), als Prinzip der (Selbst-)Bewegung (ebd. V 1; l,174f zu Phaidros 245 Cf und Nomoi 894 Cf), als unkörperlich (ebd. u. VI 2; 1,231), als frei (ebd. XIII 2; 2,209ff) und als individuelle Substanz (ebd. I 3; 1,55. III 2; 1,140. VI 7; 1,244) 56 bündeln sich in der Grundbestimmung der Seele als einer Einheit, die sich grundsätzlich in Affinität (similitudo) zur göttlichen Einheit befindet (ebd. V 10; l,194f. VIII 5; 1,312 zu Plotin IV 3,3; Op. 626). Diesem letztlich auf den Phaidon (78 Bff, 79 BC, 80 B) zurückführbaren und von Augustinus maßgeblich entfalteten Affinitätsgedanken, der eine „metaphysische Gleichartigkeit" (Kristeller 57 ) von Seele und transzendenter intelligibler Substanz zum Ausdruck bringt (GvyYÉvveia), zementiert Ficino durch seine differenzierte Theorie vom genuinen natürlichen Streben der Geistseele zu ihrem göttlichen Ursprung: per se refertur ad Deum (Theol. Plat. II 6; 1,90. V 10; 1.194f. XIV 2; 2,251. XIV 10; 2,290. De mente c. 7; 3,332f.)58. Unsterblichkeit der Seele ist bei Ficino immer im Zusammenhang zu sehen mit ihrer Gleichartigkeit zu Gott und mit der Überzeugung, daß ihr genuines Streben nach unmittelbarer und ungetrübter Anschauung Gottes sich notwendig erfüllen können müsse (ebd. XIV 1; 2,248 u. 10; 2,290: perpetuo frui; Op. 753) 59 . Die im status terrestris notwendig unvollkommen bleibende contemplatio Dei muß also eine die Individualseele betreffende Erfüllungsdimension post mortem erhalten. Hier liegt das Fundament für die emphatische Betonung der Unsterblichkeit einer Seele, die einen platonisch gedachten metaphysischen Kern und eine aristotelisch gedachte innige Verknüpfung mit einem durch sie individualisierten physischen Substrat besitzt (Theol. Plat. V 2; 1,175). Die metaphysische Affinität der Geistseele zu Gott und d. h. zu Einheit und kreishafter Reflexivität hat zur epistemologischen Konsequenz, daß Selbsterkenntnis zur conditio sine qua non von Gotteserkenntnis wird. Nicht ohne Grund
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stellt Ficino an den Anfang seiner Theologia Platonica den Hinweis: „ut quicumque Deum optat agnoscere, seipsum ante cognoscat" (Prooem.; 1,35-36). 7): Ficinos Kosmologie steht im wesentlichen in der Tradition Plotins, des Areopagiten und des mittelalterlichen ordo-Konzeptes. 60 Durchgehend bestimmend blieb jedoch der hypostatische Aufbau des plotinischen Kosmos, in dem drei Hypostasen - Eines, Geist, Seele - als von einander ontologisch abhängende, je für sich jedoch Eigenständigkeit und Selbständigkeit besitzende Formen von Einheit das Ganze der Wirklichkeit ausmachen. Alle anderen durch Vielheit bestimmten Dimensionen des Wirklichen - Natur, Qualität, Form, Körper, Materie - sind dagegen als Entfaltungen der untersten Seelen-Hypostase zu denken und haben an sich selbst keinen Bestand. 61 Ficinos Interesse jedoch, die Seele als absolute Mitte aller Formen und Dimensionen der Wirklichkeit anzusetzen (siehe oben zu 5), sowie seine gleichzeitige Orientierung an einem hierarchischen Modell christlicher Provenienz, in dem alle Seinsstufen ihr Sein und Sosein in gleicher Weise unmittelbar dem höchsten göttlichen Ursprung verdanken (Op. 757ff.; Theol. Plat. II 11; 1,108. V 13; l,203f mit Bezug auf Dionysius Areopagita und Augustinus), führen zu einer spürbaren Modifikation des plotinischen Ansatzes. Schon in De amore II 3 (147 M) gibt er den neuplatonischen Ordo als durch die geometrische Figur des Kreises bestimmte Entfaltung der Einheit Gottes (deus omnium centrum, ebd. 148) in konzentrische, durch Zunahme an Vielheit und Distanz bestimmte Explikate wieder: „circuli quatuor circa deum, mens, anima, natura, materia" (ebd. 147; Theol. Plat. II 3; 1,80; vgl. Plotin VI 8,18; VI 9,8). Die Konzentrizität und Homogeneität suggeriert, daß hier, neben der göttlichen Einheit, vier hypostatische Seinsdimensionen den Kosmos konstituieren. Ahnliches gilt etwa für einen Passus des Philebos-Kommentares, der die homerische ,catena aurea rerum' anführt (c. 27, Op. 1234: unum, mens, anima, natura, qualitas, materia). Die mittelalterliche, von Ps. Dionysius Areopagita maßgeblich beeinflußte Vorstellung eines nach Dignität gestuften und in sich vertikal vernetzten Kosmos, einer series rerum oder catena rerum (Theol. Plat. 15; 1,61 f; X 2; 2,54f mit Dionys. Areop. div. nom. VII 3; Thomas ScG II 68 u. 91), und das neuplatonische, hypostatische Kontinuitätsmodell werden auf immer wieder modifizierte Weise ineinander geschoben. Die sich durchhaltende Modellvorstellung des ficianischen Kosmos ist dabei eine symmetrisch um die Seele als Mitte aufgebaute Reihe (quinque rerum gradus): Gott - Engel (Geist) - Seele - Qualität Körper. Sie läßt sich nachweisen seit De amore 62 und findet sich in immer wieder variierter Form bis in die Spätzeit (Theol. Plat. I 1; l,38f; III 2; 1,137; XII 3; 2,164; XVII 2; 3,153). 63 Es bleibt aber dennoch zu überlegen, ob angesichts der Ausführungen Ficinos zu Wesen und Tätigkeit der Seele nicht im Sinne Plotins der ontologische Charakter der unterhalb der Seele angesetzten Seinsformen aufgeht in der dynamisch-operationalen Entfaltung des Seelischen (regere, dominari; Theol. Plat. V 14; l,178f.) und keinen eigenen Selbststand im Sinne von Einheit, Unteilbarkeit und Unveränderlichkeit hat. 64 Jede den unteren Seinsbereich dynamisch bestimmende virtus agens (ebd. I 2; 1,40) läßt sich als Funktion der virtus der seelischen Hypostase darstellen, dies hängt mit dem bei Ficino noch lebendigen Konzept der Weltseele und deren neuplatonischer Interpretation zusammen. 65 Bestimmend für den inneren Aufbau des Kosmos sind ebenfalls (neu)platonische Kategorien wie
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Einheit - Vielheit und Ruhe - Bewegung (Sophistes 249 Bff, 254 Dff. Plotin VI 6,1; Theol. Plat. I 6; 1,68; 3,103. Prima platonicae sapientiae clavis ebd. 3,292; De amore II 3; 147f; VI 15; 231f). In der höchsten Einheit (Gott) ist die Gesamtheit der anderen Einheiten in ihren Vollkommenheiten und selbst als Reihe eingeschlossen (Theol. Plat. I 6; 1,70; X I I 1 ; 2,157; XV 2; 3,19; XVIII 8; 3,216), in der Welt ist sie als Totalität entfaltet (ebd. XI 4; 2,115: cunctarum complexio specierum). 8): Die platonische Theorie der Liebe und des Schönen bildet den Schlußstein von Ficinos Denkgebäude. In ihr erreicht er eine überzeugende theoretische Darstellung der das Gesamt geschöpflichen Seins integrierenden metaphysischen Kräfte 66 und mit ihr gibt er zugleich seinen unmitelbarsten und stärksten wirkungsgeschichtlichen Impuls weiter.67 Alle zentralen Aspekte des ficinianischen Piatonismus (Einheit, Ideenbegriff, Natur der Seele) wirken hier zusammen in dem Bestreben nach einer „Anähnlichung an Gott" (Theaitetos 176 D), einer Gottwerdung der Seele, die ihre unsterbliche Natur dokumentiert. Die hierzu grundlegende Abhandlung De amore, ein differenzierter und durch kongeniale Verfremdung beeindruckender Kommentar zum platonischen Symposion, ist der Text Ficinos, der im Europa des 16. Jahrhunderts neben De vita libri tres am eingehendsten rezipiert und - dichterisch wie philosophisch - kommentiert wurde. Schönheit wird von Ficino gedacht als anziehender, sensibler oder intelligibler Vorschein der Vollkommenheit des höchsten Ursprungs, Liebe als korrespondierende Rückbewegung des aus diesem Ursprung Entstandenen in ihn zurück bzw. als bewahrende, Seiendes in der jeweiligen Einheit seiner Formbestimmung erhaltende Tätigkeit des Seelischen in der Welt. 68 Hervorgang und Rückkehr bilden einen komplementären, der Sache nach untrennbaren Zusammenhang, der in sich nichts anderes ist als ein Bild (similitudo) der absoluten Selbstreflexion Gottes selbst, ein Bild der absoluten Tätigkeit (operatio) Gottes: „perpetua quaedam in seipsa conversio, per quam seipsum fruatur et gaudeat" (Theol. Plat. IX 6; 2,44). Selbstbezug als Selbstliebe, Reflexivität und Innerlichkeit werden so, in neuplatonisch-augustinischer Tradition, zu Grundkonstanten des Wirklichen. 69 Leben als Selbsterhaltung durch Selbstbezug ist ein Bild der inneren Reflexion der göttlichen Einheit in der Welt. Dahinter steckt die ontologische Überzeugung, daß das, was gut für etwas ist, grundsätzlich natürlicher Gegenstand der Liebe dieses Seienden ist. Geliebt wird das Gut-Sein bzw. dessen ontologischer Grund, die Einheit (Theol. Plat. XII 3; 2,164): "in ordine rerum bene esse in unione consistit". Der theophanische und ästhetische Vorschein dieser Identität des Einen und Guten ist Schönheit (Theol. Plat. XII 3; 2,163-165, bes. 164): „super ordinem universi idem est unum ipsum atque bonum, cuius splendor est pulchritudo, quae nihil est aliud quam multarum rationalis ordo formarum in mente, anima, natura, materia inde refulgens". Liebe ist immer auf diese metaphysisch begründete Schönheit bezogen, da Gott ineins Quelle des Schönen und der Liebe ist (De amore VI 17; 234). Dieser Bezug hat seinen zentralen kosmologischen Vollzugsort im Bereich des Seelischen und äußert sich dort als in sich vielfältig gestuftes Leben. 70 Die höchste Form des Lebens und damit der Wirklichkeit ist für Ficino die Philosophie. Sie ist Vollzug intelligiblen Lebens. Ihr Ziel ist es, in Anlehnung an Phaidon 67 D, das Leben zu transformieren in die unkörperliche Dynamik und Agilität des Geistigen: „seipsum incorporeum reddere" (ebd. VI 2; 1,230), die es nur in der Sinnliches
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transzendendierenden R ü c k w e n d u n g zu Gott erreichen kann (ebd. XIV 1; 2,2470. Die unterste Form des Lebens ist, als spezifische Tätigkeit des Seelischen (actus animae), die in den körperlich-materiellen Bereich eingreifende u n d diesen f o r m e n d e u n d b e w a h r e n d e Lebenskraft (vis vivifica; XIII 4; 2,230, Ficino verweist auf Pia ton, vmtl. Symposion 186 B). Beide Formen und Kräfte des Lebens sind f ü r Ficino jedoch Ausdruck eines Zentralvermögens der Seele, der Rationalität, u n d sie w e r d e n durch eine universale Kraft stimuliert, die in ihnen das Streben nach Einheit u n d Reflexion z u m Austrag bringt, durch amor: „ascendit autem (sc. facultas ratiocinandi) in mentem s u p e r n o r u m capiendorum amore, descendit in potentiam infimam amore inferiorum g u b e r n a n d o r u m " (Theol. Plat. XIII 4; 2,231). Amor ist einerseits ein Bündelungsbegriff f ü r alle unitiven und konverionsorientierten innerweltlichen Tätigkeiten u n d Prozesse, andererseits, in enger A n l e h n u n g an Piatons philosophische Deutung des mythischen Daimon, ein Eigenname eines zwischen Geistigem u n d Sinnlichem vermittelnd tätigen Wesens, das z u m Träger u n d Autor dieser Aktivitäten stilisiert wird. Diese platonisch-mythologische Ableitung amors geht später in der Theologia Platonica vollständig in die Theorie der Seele auf. 71 Der Zusamm e n h a n g von Gott u n d Schöpfung im allgemeinen u n d von Gott u n d Rationalseele im besonderen wird dabei von Ficino als ein gleichsam natürlicher u n d z u m Wesen des Seienden selbst gehörender Z u s a m m e n h a n g gedacht. Liebe als spezifische Form dieses Z u s a m m e n h a n g e s ist d a n n selbst ein natürlicher Nexus. 7 2 Dies ist ganz im Horizont der platonischen auyyeveia gedacht, die bei Ficino auch terminologisch (cognatio) u n d sachlich (similitudo, affinitas) durchschlägt (z. B. De amore V 2,181). Die Theorie der Liebe orientiert sich am Gedanken der universalen Affinität alles Seienden zu seinem U r s p r u n g und bestimmt im G r u n d e die ambivalente Natur des Ähnlichen oder Affinen (mit Piaton) als einerseits Fülle bzw. Identität u n d andererseits Mangel bzw. Differenz. Liebe ist in u n d durch diese Ambivalenz gesteigertes u n d dynamisiertes Leben, dem aus d e m Mangel der Impuls z u seiner A u f h e b u n g u n d aus der Fülle die unitive Kraft zukommt. 7 3 Symbol des durch amor im Seienden gestifteten Z u s a m m e n h a n g e s von Gott u n d Geschöpf ist das Licht bzw. die (lichthafte) Schönheit. Licht steht in langer, auf Piaton zurückgehender Tradition f ü r Bestimmtheit, Definiertsein, Klarheit u n d Intelligibilität des in ursprünglichem Bezug z u m Denken stehenden Seins (s. o. zu 1). So kann Licht bei Ficino zu einem universalen Index von Sein selbst werden (Theol. Plat. XIII 4; 2,239). Schönheit ist einerseits identisch mit Licht - höchstes Licht u n d höchste Schönheit koinzidieren in Gott 7 4 - , andererseits Ausdruck der jeweils im Einzelseienden bzw. in Konfigurationen von Einzelseiendem in dieses eingegangenen Lichthaftigkeit oder Bestimmtheit oder O r d n u n g . Schönheit ist wesentlich lichthaft, Vor-Schein oder Hervorstrahlen (splendor, nitor) des höchsten, in sich luziden Seinsgrundes selbst. Im Sinne des platonischen Ideenbegriffes u n d der christlichen U m d e u t u n g der Ideen z u Gottesprädikaten stellt Ficino die Schönheit selbst (ipsa pulchritudo) als transzendentes Prinzip alles Schönen an die Spitze einer hierarchisch gestuften Welt des Schönen. Diese partizipiert, durch die Koinzidenz des höchsten Schönen u n d Guten in Gott 7 5 , an ontologischen Qualitäten wie O r d n u n g u n d Stabilität, die die Wirkung Gottes in der Welt deutlich machen. Der ganze Kosmos ist so interpretierbar als Theophanie 7 6 , deren je verschiedene intensive Präsenz je verschieden intensive Reaktio-
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n e n d e r H a u p t a d r e s s a t e n S e e l e u n d Intellekt p r o v o z i e r e n . D i e a u s der P r ä s e n z d e s S c h ö n e n / G u t e n e n t s p r i n g e n d e n W i r k u n g e n / T ä t i g k e i t e n s i n d i d e n t i s c h m i t Funkt i o n e n amors: vocare, allicere, concitare, rapere, c o g e r e (Theol. Plat. XI 4; 2,112; XIV 1 2,248. D e a m o r e II 2, 146; V 2, 181). D i e R e a k t i o n e n v o n S e e l e u n d Intellekt s i n d V e r w i r k l i c h u n g e n d e r a l l g e m e i n e n R ü c k b e w e g u n g d e s S e i e n d e n h i n z u m für es selbst G u t e n u n d d. h. in s e i n e n U r s p r u n g , s o w i e Ziel d e r I n t e n t i o n e n a m o r s b z w . Gottes. D e r Bereich d i e s e r R e a k t i o n e n auf d i e s t i m u l i e r e n d e P r ä s e n z d e s S c h ö n e n u n d d i e Tätigkeit a m o r s u m f a ß t prinzipiell alle a f f e k t i v e n u n d i n t e l l e k t i v e n Verm ö g e n d e r Seele, k u l m i n i e r t aber äußerlich i m H o r i z o n t d e r k ü n s t l e r i s c h e n P r o d u k t i o n u n d innerlich in d e m d e r p h i o l o s o p h i s c h e n K o n t e m p l a t i o n . D i e s e operationes
beiden
s i n d a u c h d e r e n t s c h e i d e n d e Indikator für d e n a n t h r o p o l o g i s c h e n Bei-
trag Ficinos in d e r D i s k u s s i o n d e r R e n a i s s a n c e , in i h n e n f i n d e t d a s g e n u i n m e n s c h liche Potential (virtus)
d e n H o r i z o n t , in d e m e s d a s W e s e n (essentia)
des Mensch-
l i c h e n a m a d ä q u a t e s t e n u n d d i f f e r e n z i e r t e s t e n z u m A u s d r u c k b r i n g e n k a n n (siehe P u n k t 3). Dr. phil. Thomas Leinkauf, Institut W-1000
für Geschichte
der Philosophie,
Königin-Luise-Str.
34,
Berlin 33
Anmerkungen Dieser Artikel ist die umfänglichere Grundlage des Einleitungskapitels zu einer demnächst im Akademie-Verlag (Berlin) erscheinenden Auswahl aus d e m Brief-Konvolut des Marsilio Ficino: Traktate zur Platonischen Theologie, hg., übersetzt, kommentiert u n d eingeleitet von Elisabeth u n d Paul-Richard Blum u n d Thomas Leinkauf, Reihe Collegia. Die Werke Ficinos w e r d e n wie folgt zitiert: Op. = Marsilii Ficini Opera omnia, Basileae 1576 (ND Torino 1962), 2 Bde. Theol. Plat. = Theologia Platónica d e immortalitate a n i m o r u m / T h é o l o g i e Platonicienne d e l'immortalité des ames, ed. R. Marcel, Paris 1964-70, 3 Bde., jeweils mit Angabe von Buch, Kapitel u n d in Klammern die Band- u n d Seitenzahl bei Marcel. De amore = Commentaire sur le Banquet de Piaton, ed. R. Marcel, Paris 1956, mit Buch- u n d Kapitel-Einteilung sowie der Paginierung von Marcel. De mente = Quinta platonicae Sapientiae Clavis: quaestiones quinqué d e mente, in: Théologie platonicienne, ed. Marcel Bd. 3, 325ff. 1 Vgl. P. O. Kristeller: Eight philosophers in the Italian Renaissance, Stanford UP 1966, 51 f. E. Panofsky: Renaissance and Renaissances in Western Art (Stockholm 1966), N e w York 1972, 187. Michael J. B. Allen: Marsilio Ficino and the Phaedran Charioteer, University of California Press 1981, 5. J. Hankins, Plato in the Italian Renaissance, Leiden 1991, 2 Vols., 1311. 2 Vgl. hierzu insbesondere Hankins (a. a. O., A n m . 1). Ficino setzte sich vor allem mit L. Brunis Übersetzungen auseinander, Hankins ebd. II 465ff. mit weiterer Literatur. 3 Von der Schwierigkeit einer a u f , L e h r e ' u n d pädagogische Systematik abzielenden Behandlung des platonischen Denkens zeugen schon Mittel- u n d N e u p l a t o n i s m u s (vgl. J. Dillon: The Middle Platonists. A study of Platonism, Oxford 1977), aber auch die neueren Versuche der Tübinger Schule, einen systematischen Piaton aus einigen Stellen u n d hauptsächlich doxographischem Material zu (re)konstruieren. 4 Vgl. zu Proklos R. Klibansky: The continuity of the Piatonic tradition d u r i n g the middle ages, London 1939; W. Beierwaltes: Proklos. G r u n d z ü g e seiner Metaphysik, F r a n k f u r t / M .
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1979. Zu Dionysius R. Roque: L'univers dionysien. Structure hiérarchique du monde selon le Pseudo-Denys, Paris 1954; P. Moffitt Watts: Pseudo-Dionysius the Areopagite and three Renaissance Neoplatonists: Cusanus, Ficino and Pico on Mind and Cosmos, in: Supplementum Festivum. Studies in Honour of P. O. Kristeller, Binghamton, N.Y. 1987, 279ff. Letzterer war Ficino in der wichtigen Kommentierung durch Thomas von Aquin zugänglich und bekannt. Die neuplatonische Theorie des Einen, die sich zentral als Auslegung von Piatons Prinzip des Guten verstand, beeinflußte durch den latinisierten Parmenides-Kommentar des Proklos die philosophische Diskussion des 14. und 15. Jahrhunderts (Meister Eckhart, Nicolaus Cusanus, Marsilio Ficino).
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5 Vgl. insbes. De div. quaest. LXXXIII q. 46: Has autem rationes, ubi arbitrandum est esse, nisi in ipsa mente creatoris? Vgl. aber auch Thomas, De veritate q. 3, a. 1 resp.: in mente divina tantum. 6 Vgl.: The Greek commentaries on Plato's Phaedo, Vol. I, Olympiodorus, ed. L. G. Westerink, Amsterdam/Oxford/New York 1976; H. Aristippus: Piatonis Fedon sive de anima, ed. L. Minio-Paluello (= Plato Latinus II) Londonii 1950 (ND Liechtenstein 1973). Vgl. zur Tradition der Kommentare Westerinks Einleitung zu Olympiodorus und allgemein den instruktiven Sammelband: Die Seele, hg. von K. Kremer, Köln/Leiden 1984. 7 Vgl. Vgl. Timaeum a Calcidio translatus commentarioque instructus, ed. J. H. Waszink, Leiden/London 1962 (= Plato latinus IV). Vgl. zum Piatonismus von Chartres Nikolaus M. Häring: Commentaries on Boethius by Thierry of Chartres and his school, Toronto 1971 mit weiterführender Literatur. 8 Vgl. allgemein E. v. Ivânka: Plato Latinus, Einsiedeln 1964; W. Beierwaltes (Hg.): Platonismus in der Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1969. Vgl. Johannes Cursius (Giovanni Corsi): Vita Marsilii Ficini, in: Marcel 1958, Appendix I 681 ff., der die von Ficino selbst in einem späten Brief (1486) an Martin Uranius (Opera 899) gemachten Angaben betreffs der zentralen lateinischen Vermittlungsinstanzen des Piatonismus für Ficino bestätigt. Es handelt sich um Cicero, Macrobius, Apuleius, Calcidius und dann vor allem Augustinus. Hierzu P. O. Kristeller: Augustine in the early Renaissance (1941), in: Studies in Renaissance thought and letters (1954), repr. Rom 1969,368f. 9 Zur Wirkungsgeschichte des Cusanus vgl. jetzt S. Meier-Oeser: Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Münster 1989. Eine solche Untersuchung steht für Ficino noch aus, seine Wirkungsgeschichte ist nur für einzelne Werke und dort auch nur für das 16. Jahrhundert erarbeitet worden. J. Sears, John Colet and Marsilio Ficino, Oxford 1963. Zu De amore vgl. A. J. Festugière: La philosophie de l'amour de Marsile Ficin et son influence sur la littérature française au XVI e siècle, Paris 1941 ; J. C. Nelson: Renaissance theory of love: the context of Giordano Brunos' Eroici furori, New York 1958; W. Beierwaltes: Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Piatonismus, Heidelberg 1980; Th. Leinkauf: Amor in supremi opificis mente residens: Athanasius Kirchers Auseinandersetzung mit der Schrift ,De amore' des Marsilius Ficinus, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989) 265ff. Zu De vita libri très vgl. D. Benesch: Marsilio Ficinos De triplici vita (Florenz 1489) in deutschen Bearbeitungen und Ubersetzungen, Frankfurt/M. - Bern - Las Vegas 1977, 111 ff.; B. P. Copenhaver: Scholastic philosophy and renaissance magic in the De vita of Marsilio Ficino, in: Renaissance Quarterly 37 (1984). Zu Ficino-Patrizi vgl. M. Muccillo in: Marsilio Ficino e il ritorno di Platone, studi e documenti a cura di Gian Carlo Garfagnini, Firenze 1986, 615ff. und die Hinweise bei Th. Leinkauf: Il neoplatonismo di Francesco Patrizi come presupposto della sua critica ad Aristotele, Firenze 1990,42f. 46, 57, 65f., 85. Die weit verbreitete Präsenz des Ficino im 17. Jahrhundert (Yves de Paris, Athanasius Kircher) steht erst noch zur Untersuchung an. Hinweise zu Yves de Paris bei C. Vasoli: Il ,Digestum sapientiae' di Yves
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di Parigi, in: Rivista di filosofia neo-scolastica 70 (1978), zu Kircher vgl. Leinkauf: Amor in supremi opficis mente residens (a. a. O.). Dies entsprach der Art und Weise, wie auch der Neuplatonismus sich zu Piaton stellte, vgl. Anm. 12 und Th. A. Szlezâk: Piaton und Aristoteles in der Nuslehre Plotins, Basel/Stuttgart 1979,18ff. Vgl. Hankins (a. a. O., Anm. 1) II 460ff. Vgl. Michael J. B. Allen: Marsilio Ficino on Plato, the Neoplatonists and the Christian Doctrine of the Trinity, in: Renaissance Quarterly 37 (1984) 555ff. Vgl. Theol. Plat. XVII1 (3,148): in rebus his, quae ad theologiam pertinent, sex olim summi theologi consenserunt, quorum primus fuisse traditur Zoroaster, Magorum caput, secundus Mercurius Trismegistus, princeps sacerdotum Aegyptiorum. Mercurius successit Orpheus. Orphei sacris initiatus, fuit Aglaophemus. Aglaophemo successit in theologia Pythagoras, Pythagorae Plato, qui universam eorum sapientiam suis litteris comprehendit, auxit, illustravit. Dazu Hankins (a. a. O., Anm. 1) I, 283ff., 339. Ficino rekurrierte hier vermutlich auf Proklos: Theologia Platonica I 5 (l,25f. Saffrey-Westerink). Dazu H. D. Saffrey: Notes platoniciennes de Marsile Ficin dans un manuscrit de Proclus, in: Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance 21 (1959) 161 ff. Hankins (a. a. O., Anm. 1) 463. Unsere Stelle aus Theol. Plat. XVII 1, entspricht der endgültigen Fassung dieser Genealogie, vgl. The Philebus commentary, ed. M. J. B. Allen, Berkeley 1975,180,246. De christiana religione, c. 22; Opera 25. Dort geht es weiter: Hinc est quod magnus Basilius et Augustinus probant, Platonicos loannis Evangelistae mysteria sibi usurpavisse. Ego certe reperi praecipua Numenii, Philonis, Plotini, lamblichi, Proculi mysteria ab loanne, Paulo, Hierotheo, Dionysio Areopagita accepta fuisse. Quicquid enim de mente divina angelisque et ceteris ad theologiam spectantibus magnificum dixere, manifeste ab illis usurpaverunt. Zum theologischen Grund Verständnis Pia tons bei Ficino vgl. P. O. Kristeller: Die Philosophie des Marsilio Ficino, Frankfurt/M. 1972,12ff. Vgl. Op. 855. Dies Bild wird auch für das Verhältnis Gott (= soi) - Geist (= luna) in Anschlag gebracht, Theol. Plat. X 2 (2,58-59). Zum dominanten Einfluß Augustinus hierin vgl. auch etwa Op. 769, wo Ficino ebenfalls das signifikante Diktum aus De vera religione IV 7,23 anführt: Platonici paucis mutatis Christiani fierent. Hierzu H. Blumenberg: Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik, in: Studium Generale 12 (1959). Vgl. Kristeller (a. a. O., Anm. 14) 19f.; P. R. Blum (Hrsg.): Marsilio Ficino. Über die Liebe oder Piatons Gastmahl, Hamburg 1984, Einleitung S. XXIV. Zur Beziehung zur Scholastik Hankins (a. a. O., Anm. 1) I 271 ff. Sichtbar ist die Tendenz zur Integration des Thomas in Platonisches z. B. daran, daß Ficino immer wieder ganze Textpassagen aus der Summa contra gentiles paraphrastisch oder ad litteram in Kommentare zu Platon-Dialogen einlagert, und zwar ohne dies kenntlich zu machen. Vgl. z. B. Comm. in Phileb. c. 2 (Opera 1208) ab „ultra quod agens nihil exigit ... in infinitum procedere, quod impossibile est" mit ScG III 2 oder c. 3 (Opera 1209): „sibique conveniens ... nisi in ea, cui deest actus, potentia" mit ScG III 3. Zum Piatonismus bei Thomas vgl. R. J. Henle: Saint Thomas and Platonism, Den Haag 1956. K. Kremer: Die neuplatonische Seinsphilosophie und ihre Wirkung auf Thomas v. Aquin, Leiden 1966, 2 1971. So wurde Ficino denn von seinen Zeitgenossen durchaus im wesentlichen als Erneuerer und Restitutor Piatons begriffen und gefeiert: Marsilio Ficino Florentino cuius longe felicior quam Thracensis Orphei cithara veram ni fallor Eurydicem hoc est amplissimi iudicii Platonicam sapientiam revocavit ab inferis (A. Poliziano: Opera 1533, p. 310). Eine kurze Begründung und Darstellung dieses Programms gibt Ficino in einem Brief an Giovanni Nicholino Op. 855. Als specimina dieses Unternehmens können die demnächst von E. u. P. R. Blum sowie vom Vf. herausgegebenen Briefe des Ficino gelten, vgl. oben die
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einleitende Anmerkung. Zu den Commentarla und Argumenta vgl. am Beispiel des Phaidros-Kommentares Allen (a. a. O., Anm. 1) Preface u. Blum (a. a. O., Anm. 16) XVIIf. Beispiele für die kritische Auseinandesetzung Ficinos mit den schon vorliegenden Übertragungen der Chalcidius, Moerbeke, Bruni, Trapezuntios, Chrysoloras und Decembrio gibt Hankins (a. a. O., Anm. 1) I 341 ff., II 465ff. Vgl. als Beispiele, die Ficino ohne Zweifel kannte, die überhöhende Kanonisierung Piatons durch Plotin (IV 8, 1,23; III 5, 1,4-5 u. ö.) oder etwa den Beginn des proklischen Parmenides-Kommentares in der Übersetzung des Wilhelm v. Moerbeke: Expositio Prodi in Parmenidem Piatonis (hrsg. C. Steel, Proclus. Commentaire sur le Parménide de Platon, Leiden 1982, T. I, S. 3): oro deos deasque omnes (...) aperire anime mee portas ad susceptionem divine narrationis Piatonis. Es ist typisch für den Neuplatonismus, daß er den Topos von der Dignität des Alteren, in dem die zeit-logische und ontologische Dimension der Theorie eines absoluten Grundes oder Prinzips zusammenfallen, auf die Entwicklung des platonischen Denkens selbst anwendet. Vgl. hierzu Szlezäk (a. a. O., Anm. 10). Die Zusammenstellungen in der Literatur sind, sofern überhaupt versucht, nicht einheitlich und setzen die Schwerpunkte sehr unterschiedlich an. Vgl. etwa E. Garin: Der italienische Humanismus, Bern 1947, 112f.; Kristeller (a. a. O., Anm. 14) passim; H.-B. Gerì: Einführung in die Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1985, 58f.; K. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 1986, 554f. S. Otto: Renaissance und frühe Neuzeit, Stuttgart 1986, 260ff. Comm. in Parm. c. 42, Op. 1158: Unum ergo communiter inest omnibus, quo sublato perditur unumquodque. Dies kann auch vom bonum gesagt werden, etwa Theol. Plat. II 6 (1,86). Z u m Vorhergehenden vgl. Comm. in Parm. c. 43, Op. 1159: Super hoc (sc. dem dem Seienden zugeordneten Einen) igitur extat unum imparticipabile, absolutum, purum. Quod omnis multitudinis est principium, perque u n u m multitudini infusum ordinat ipsam, & connectit, revocat ad seipsum (.. ). Theol. Plat. II 2 (1,76): In quolibet rerum genere illud quod est generis illius summum, u n u m est dumtaxat. II 3 (1,82): Sicut in summa dispersione est imbecillitas infinita, sic in unitate summa infinita potestas. Zur Gleichwertigkeit vgl. Comm. in Parm. c. 49, Op. 1164; c. 78, Op. 1187-1188 u. nächste Anm. Ficino rekurriert öfter auf diese Politeia-Stelle und ihre Interpretation im Platonismus, so auch De amore VI 15 (232); Theol. Plat. XI4 (2,113) und in De mente c. 7 (3,332). Hierzu vgl. Comm. in Parm. c. 44, Op. 1160: Ideo Deum ex hoc statu nominamus ut u n u m penitus atque bonum, d u m vero u n u m bonumque dicimus, non d u o quaedam, sed item prorsus vaticinamur. (...) sua cuique bonitas unio quaedam est atque vicissim. Propterea ipsum unum, bonumque idem prorsus esse conjicimus, praesertim quia natura boni est, quasi diffundere se per omnia per processum, vicissimque per insitum singulis appetitum ad se unum omnia revocare. Ideoque universum summopere reddit unitum. Theol. Plat. II 6 (1,86). Comm. in Plot, librum de bono c. 1 (Op. 1579). Vgl. Theol. Plat. V 13 (1,204); XII 3 (2,162f.); XV 2 (3,23f.). Die Nähe zu Pico betont zu Recht W. Beierwaltes: Denken des Einen (s. Anm. 28) 221. Vgl. etwa Theol. Plat. VIII 4 (1,310); XI 4 (2,Ulf.); XII 6 (2,191): für die Platonici ist das ipsum esse ein „esse super esse" (vmtl. unter Einfluß des Plotin oder Dionysius Areopagita s. nächste Anm.). Der genuin platonische, einheitsmetaphysische Ansatz wird in der Theologia Platonica meist als Referat (dicunt Platonici) gegeben. De amore II 3 (148): unitas simplicissima; VI 15 (232). Theol. Plat. II 2 - 3 (l,74ff.); ebd. XI 4 (2,111): unitas universi princeps; ebd. XVII 2 (3,152f.): primum, u n u m und super omnem essentiam; ebd. XVIII 3 (3,190. 191): unus, simplex, stabilis. Zur plotinisch-areopagitischen Vorgabe vgl. etwa Plotin V 5, 13,33f. VI 7, 37,30. Dionysius Areopagita: Div. nom. I 5 (593 BC). Hierzu W. Beierwaltes: Denken des Einen, Frankfurt/M. 1985, 219ff.
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T h o m a s Leinkauf, Platon u n d Piatonismus bei Ficino
29 Theol. Plat. X I 3 (2,105,108); X I 4 (2,110ff.); XVIII 8 (3,201). 30 Z u p r i m u m im aliquo genere u n d seinen vielschichtigen historischen Vorgaben vgl. Kristeller a . a . O . A n m . 14) 135ff. 31 Ebd. V 15 (1,217): intelligibilia, e o d e m m o d o Semper sese habent, immutabilia. XI 4 (2,110-111) im Sinne des mittleren Piaton: p u l c h r i t u d o ipsa, bonitas ipsa. XI 3 (2,105); X V I 1 (3,109) als causae o d e r rationes r e r u m c r e a n d a r u m . 32 D e a m o r e VII 13 (257): m e n s angelica als m u l t i t u d o i d e a m r n ; Theol. Plat. XI 3 (2,97ff., 105-107), 4 (2,122 u. 125): innatae menti, inhaerere menti. XV 16 (3,80-84): referant universalia, m e n s possidet veras rationes. 33 Vgl. P. H a d o t : P o r p h y r e et Victorinus, Paris 1968 I 268f. Beierwaltes (a. a. O., A n m . 4) 24ff., 48f. Proklos: In Parm. 1106,28-31 Cousin. Elem. Theol. prop. 121. In Tim. I 17,23; II 215,10 Diehl. Theol. Plat. I 17 (80,18-23 Saffrey-Westerink). Dionysios Aceopagita: coel. hier. XI 2 (284 D); Eringena: dio. nat. I (1,136 Sheldon-Witiams); C u s a n u s : ven. s u p . co 30 u. 93. 34 Z u m chaldäischen H i n t e r g r u n d vgl. D o d d s (s. A n m . 36) 253. P. H a d o t (a. a. O., A n m . 33) I 268ff. Orac. Chald. p. 13 Kroll. Daß Ficino die Sache als pythagoreisch einschätzte, belegt Theol. Plat. V 13 (1,206). 35 Vgl. E. R. D o d d s : Proclus. The elements of theology, Oxford 1963, 253, 264. Z u Sein Leben - Geist vgl. Beierwaltes (a. a. O., A n m . 4) 93ff. 36 Theol. Plat. I 4 (1,56-58); V 13 (l,206f.); VIII 15 (1,324-327); X 9 (2,89ff.). Kristeller (a. a. O., A n m . 14) 28 spricht v o n e i n e m „festen ontologischen S c h e m a " bei Ficino. Die terminologische Entsprechung z u d e n neuplatonischen Texten ist f r a p p a n t . Ficino hat essentia-virtus-operatio, essentia-virtus-actio, substantia-virtus-operatio, substantia-vita-intellectio u n d essentia-vita-mens. Z u allen diesen Varianten lassen sich griechische E n t s p r e c h u n g e n leicht a u f w e i s e n . 37 Theol. Plat. I 5 (1,58): die seelische virtus als Mitte ist d a h e r z. B. in sich ambivalent - mit Blick auf die konstante Wesensform ist sie selbst konstant als z u g e h ö r i g e virtus naturalis (manet), mit Blick auf die veränderliche Tätigkeit ist sie virtus acquisita u n d veränderlich (mutatur). 38 Kristeller (a. a. O., A n m . 14), Allen (a. a. O., A n m . 12) 561-563. Z u Plotins Geist-Begriff vgl. W. Beierwaltes: Einleitung in: Plotin. Uber Ewigkeit u n d Zeit, F r a n k f u r t / M . 3 1981, 11 ff.; z u Proklos ders. (a. a. O., A n m . 4). 39 Vgl. C o m m . in Phileb. c. 26 (Op. 1232): m e n t e m i p s a m d i v i n a m q u a m S e r a p h i m Hebraei n u n c u p a n t . C o m m . in Parm. c. 94 (Op. 1194); C o m m . in Tim. c. 9 (Op. 1442) z u m a u s d e m platonischen G u t e n h e r v o r g e h e n d e n m u n d u s intelligiblis u n d z u m intellectus divinus. Ficino bleibt hierbei i m m e r die grundsätzliche Inkompatibilität der hypostatischen, subo r d i n i e r e n d e n Ontologie g e g e n ü b e r d e n B e d i n g u n g e n des Trinitätsdogmas b e w u ß t . Vgl. Allen (a. a. O., A n m . 12) 563f., 566. 40 VI 7, 14,11 ff.; V 9, 8,1-4 f ü r Plotin ist die Nus-Hypostase ein einvielheitlicher Kosmos von Geist u n d Ideen, die selbst w i e d e r u m Geister sind. Allerdings bleibt der N u s die dialektische, lebendige Einheit der Ideen als seiner i h m gleich seiender Gedanken. Dazu ist V 5 mit d e r These, d a ß die G e d a n k e n / I d e e n nicht außerhalb des N u s sind, zu vergleichen. Für Ficino sind die Engel in der christlichen Tradition, insbesondere auch der T h o m a s v. Aquin, ideale Spezienindividuen, ihr Sein ist, da eingeschränkt auf eine bestimmte universale Artgestalt die sie vollkommen repräsentieren, zugleich unendlich u n d endlich (Theol. Plat. XV 2, 3,23). 41 Z u d i e s e m Ternar vgl. Theol. Plat. XI 2 (2,96); XIV 3 (2,258) u n d Plotin V 3,5,42-48: ev ot|ia m v x a e a x a i , vo-ö«;, vör|Gi