Deutsche Zeitschrift für Philosophie: Jahrgang 40, Heft 6 [Reprint 2021 ed.]
 9783112489765, 9783112489758

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DEUTSCHE

ZEITSCHRIFT

FÜR

PHILOSOPHIE Monatszeitschrift

der i n t e r n a t i o n a l e n

philosophischen

Forschung,

40.Jahrgang

6/1992

Volker Gerhardt Moderne Zeiten Karol Sauerland Hannah Arendt und Martin Heidegger Dieter Thomä Das gestohlene Exil - Martin Heidegger Dieter Freundlieb Philosophie, Grammatik und Rhetorik bei Paul de Man Kai Haucke Strukturierung des Sinnlosen Alex Burri Hegel über unmittelbares Wissen Elisabeth Weisser-Lohmann Das Hegel-Archiv der RuhrUniversität Bochum Katharina Bluhm Von den Schwierigkeiten der Zuspitzung

Akademie Verlag

INHALT Volker Gerhardt (Köln): Moderne Zeiten. Zur philosophischen Ortsbestimmung der Gegenwart

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*

Karol Sauerland (Warschau): Hannah Arendt und Martin Heidegger

610

Dieter Thomä (Paderborn): Das gestohlene Exil

622

Dieter Freundlieb (Brisbane): Philosophie, Grammatik und Rhetorik bei Paul de Man

627

Kai Haucke (Berlin): Strukturierung des Sinnlosen. Grundzüge einer Theorie der leeren Zeichen

643

*

Alex Burri (Bern): Hegel über unmittelbares Wissen

666

Elisabeth Weisser-Lohmann (Bochum): Das Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum

670

KORRESPONDENZ Katharina Bluhm (Berlin): Von den Schwierigkeiten der Zuspitzung. Replik auf Udo Tietz' „hilflosen Antistalinismus des Bert Brecht"

679

REZENSIONEN Dietrich Papenfuss/Otto Pöggeler (Hg.): Zur philosophischen Aktualität Martin Heideggers, Bd. 1: Philosophie und Politik; Bd. 2: Im Gespräch der Zeit (M. Potthoff)

689

Otto Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger (M. Potthoff)

692

Jacques Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage (M. Wischke)

694

Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie (W. Heuer)

696

Herbert Schweizer: Bedeutung. Grundzüge einer internalistischen Semantik (R. Wegner)

. . .

698

Detlef Thiel: Über die Genese philosophischer Texte. Studien zu Jacques Derrida (R. Jansen) . .

699

Thomas Miller: Konstruktion und Begründung. Zur Struktur und Relevanz der Philosophie Hans Drieschs (R. Wegner)

701

Gerhard Bolte: Staatsidee und Naturgeschichte: Zur Dialektik der Aufklärung im Hegeischen Staatsbegriff (J.Riedel)

702

Raimon Panikkar: Rückkehr zum Mythos (R. Kraetke)

702

Georg Lohmann: Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung mit Marx (Ch. Demmerling)

705

INFORMATIONEN

708

DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR

PHILOSOPHIE

40. Jahrgang • 1992 • Heft 6

ISSN 0012-1045

Dtsch. Z. Philos., Berlin 40 (1992) 6, 597-609

Moderne Zeiten Zur philosophischen Ortsbestimmung der Gegenwart Von VOLKER GERHARDT (Köln) Ein kluger Soziologe hat kürzlich in dieser Zeitschrift die Ansicht vertreten, von der Moderne zu reden, dazu gehöre „Mut, Ignoranz, Leichtsinnigkeit und vor allem eine gewachsene Unachtsamkeit gegenüber den Grenzen der eigenen Einbildungskraft". 1 Zum Glück hat sich der Soziologe durch sein strenges Urteil nicht davon abhalten lassen, selbst ausgiebig und sachverständig und mit beachtlicher Einbildungskraft von der Moderne zu reden. Darin mag man einen Widerspruch entdecken. Doch der wäre nur in einer grundsätzlichen Reflexion über das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt von Belang; praktisch ist er ziemlich bedeutungslos. Denn strenggenommen wissen wir natürlich nie, wovon wir reden. Ohne „Mut, Ignoranz und Leichtsinnigkeit" kämen wohl schon die ersten Worte nicht über unsere Lippen. Was besagen denn Begriffe wie „Mutter", „Vater", „Hunger", „Schlaf", „heute", „ich" oder „du" wirklich? Es ist doch offfenkundig, daß wir stets nur ungefähr und treffsicher überhaupt nur in Situationen, die wir als ganze nie vollständig begreifen, von Dingen und Sachverhalten reden können. Das gilt selbst noch für die reinen Ausgeburten unserer Phantasie (etwa für die exakt definierten mathematischen Begriffe), und es ändert sich auch mit zunehmender Erfahrung nicht. Gehört nicht eine beachtliche Portion „Mut, Ignoranz, Leichtsinnigkeit" und überschüssiger Einbildungskraft dazu, von „Erziehung", „Bildung", „Schule" oder gar von „Erziehungswissenschaft" zu sprechen? Woher hat ein Soziologe, der auch nur einigermaßen auf der Höhe seines Faches steht, die kühne Verwegenheit, heute immer noch von „Gesellschaft" zu reden, so als gäbe es „Gesellschaft", wie es Steine, Pflanzen, Tiere oder einzelne Menschen gibt? Und was berechtigt uns - quer durch alle Tätigkeitsund Erkenntnisfelder hindurch - , Begriffe wie „Menschheit", „Welt", „Wirklichkeit", „Vergangenheit" oder gar „Zukunft" zu gebrauchen? Eines steht fest: Es sind nicht die in der begriffenen Weise tatsächlich vorhandenen Sachverhalte, die uns den Grund zu ihrer Bezeichnung geben. Der Grund - dies meine ich in einem strikt terminologischen Sinn - liegt stets nur in uns selbst, und wir haben vielfältige Motive - Triebe, Bedürfnisse, Ansprüche - , die uns nötigen, mit Begriffen über uns hinauszugehen. Wer zur Dramatisierung der conditio humana neigt, kann darin allemal auch den „Mut", den „Leichtsinn" oder die habituelle „Ignoranz" unserer Spezies entdecken; ich ziehe die Feststellung vor, daß uns einfach gar nichts anderes übrigbleibt. So, wie wir nun einmal geworden sind, und wie 40

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wir offenkundig auch sein wollen, müssen wir nun einmal mit Begriffen leben, und das heißt: Wir gehen mit Begriffen auf etwas aus, das wir eben deshalb auch schon für etwas halten. So ist das auch mit der „Moderne". Wir haben das mit unserer menschlichen Konstitution eng verknüpfte Bedürfnis, uns zu orientieren. Das heißt: Es genügt uns nicht, etwas einfach nur als etwas für uns Brauchbares, Vorteilhaftes oder Gefährliches zu erkennen und es damit bereits in bestimmter Weise auf uns zu beziehen: Wir wollen auch einschätzen können, wie sich die erkannten Dinge zueinander verhalten, um eine Vorstellung von unserer Lage im Feld der erkennbaren Dinge zu gewinnen. Die aber brauchen wir, weil wir uns in diesem Feld bewegen: weil wir handeln müssen. Zur Handlung benötigen wir jedoch nicht nur eine gewisse Übersicht über die Lage der Dinge im Raum, sondern auch eine Vorstellung von unserer Stellung in der Zeit. Und so, wie wir bei der Orientierung im Raum bei unseren unmittelbaren leiblichen Gegebenheiten (etwa der Unterscheidung zwischen der rechten und der linken Hand) ansetzen müssen 2 , so benötigen wir auch für die Zeitbestimmung ein Datum in unserer physischen Verfassung. Dies kann in einem vegetativen Vorgang, also in einer irreversiblen Bewegung in und an uns selber liegen, beispielsweise in der erfolgten Sättigung, in einem nachlassenden Schmerz oder in überwundener Müdigkeit. Sinnfälliger ist aber offenbar - zumindest unter Bedingungen zunehmender Mobilität - der Vorgang unserer selbstbestimmten eigenen Bewegung. Wir schreiten im Augenblick voran, sind dabei auf etwas Kommendes ausgerichtet und lassen die Vergangenheit hinter uns. Dies gilt freilich nicht allein für die sichtlich in ein externes Geschehen eingreifende Tätigkeit; bereits die ausdrückliche, mit bewußten Erwartungen ausgestattete Beobachtung äußerer Ereignisse mißt die verfließende Zeit als Strecke zwischen einem gesetzten Anfang und einem bestimmten Ziel. Das ist die aktive Zeiterfahrung des handelnden Menschen, und zwar genauer: des auf Leistung und Erfolg setzenden und damit seine Zukunft bewußt gestaltenden Menschen. Vor ihm liegt nicht einfach der offene Horizont der Natur, in der er - als Geschöpf unter Geschöpfen - seinen Ort und Weg zu bestimmen sucht, sondern vor ihm öffnet sich das Neue, sofern er willens ist, es durch eigenen Einsatz zu erschließen. Angesichts dieser als erkannte Aufgabe vor ihm liegenden neuen Zeit erscheint ihm alles Gewesene alt. In der Dynamik des eigenen Handelns wird die Zeit wissentlich verbraucht. Das Gewesene, das ja durchaus und in jedem Fall auch mit der unerreichbaren Autorität des Ersten und Vorrangigen ausgestattet werden könnte, wird zur bloßen Hinterlassenschaft, zu einer mit dem erreichten Abstand immer mehr verfallenden Station am aufsteigenden Weg der Zeit. Zusammengehalten wird der ganze Zeitablauf durch das lückenlose Schema historischen Verstehens. Was immer auch geschieht: es gehört in das Kontinuum der geschichtlichen Entwicklung. Alles hat seine Ursachen, aus denen es erklärt werden kann, und es hat seine unvermeidlichen Folgen, die, wenn überhaupt, nur durch Wissen regulierbar sind. Aus dieser handlungsbezogenen - durch den Alterungsprozeß des Lebens allerdings sinnfällig unterstützten - Vorstellung entwickelt sich ein Geschichtsbewußtsein, das alle Ereignisse auf einer ansteigenden Zeitgeraden abträgt. Ihr nicht zu unter-

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schätzendes Hilfskriterium hat sie in der Erkennbarkeit, also in den abgestuften Graden sicheren Wissens. Das Kriterium des Wissens, insonderheit das Bewußtsein der sich im Gang kultureller Tätigkeit immer mehr ansammelnden Kenntnisse, ist im übrigen bereits in der antiken Welt das Paradigma des Fortschritts in der Geschichte. Die Idee des Fortschritts ist also keineswegs, wie immer behauptet wird, eine Erfindung der Neuzeit. 3 Allerdings wird sie erst unter dem Eindruck des überwältigenden Erfolges der Wissenschaften im 17. Jahrhundert zu einer die Gemüter beherrschenden Selbstverständlichkeit. Was aber nicht heißt, daß sich für sie nicht argumentieren ließe! Der kluge Fontenelle tut dies beispielsweise schon 1688 auf berückend einfache Weise: „Da wir [...] von den Erkenntnissen der Alten und selbst von ihren Fehlern erleuchtet werden, ist dies keine Überraschung, daß wir sie übertreffen. Wenn wir ihnen nur gleichkämen, müßten wir eine Natur haben, die der ihren weit unterlegen wäre, beinahe müßten wir dann nicht im gleichen Maße wie sie Menschen sein." 4 Ganz beiläufig wird hier ein Argument für die innere Dynamik der menschlichen Geschichte angeboten; es dürfte, auch wenn es die Philosophen bislang wenig beachtet haben, für Pädagogen von besonderem Interesse sein: Die Menschen sind von Natur aus gleich, aber sie rücken im Lauf der Zeit notwendig voneinander ab, weil sie lernfähig sind. Schon dadurch macht der Mensch Geschichte: Weil er handelt und sich dabei von seinem Wissen leiten läßt - wir könnten auch verschärfend sagen: weil er sich von der Illusion seines Wissens leiten läßt - , kommt er zwangsläufig dazu, seine Kultur im Gang der erinnerten Zeit Schritt für Schritt zu entwickeln. Gelegentliche Rückschläge sind kein Gegenargument; sie gehören vielmehr notwendig dazu, weil der Mensch als endliches Wesen notwendig Fehler macht; wäre dies anders, brauchte er nicht nur nicht zu lernen - : er könnte es noch nicht einmal! Der Irrtum gehört zum Lernen wie die Lüge zur Wahrheit. So ergibt sich auf geradezu natürliche Weise eine Vorstellung von einer sich allmählich entwickelnden Geschichte der menschlichen Kultur: An ihrem Anfang liegt die dunkle, nur schemenhaft erkennbare „Vorzeit", und an ihrem vorläufigen Ende ist die sich aufklärende „Neuzeit" zu suchen. Alles, was dazwischen liegt, ist die „alte Zeit", der man freilich Stadien des Übergangs, etwa ein folgerichtig so benanntes „Mittelalter" mit Renaissancen und Reformationen, zugesteht. Es ist nur ein konsequenter Ausdruck dieses linear-historischen Zeitbewußtseins, die eigene Gegenwart als „Moderne" auszugeben und damit als eine Epoche auszuzeichnen, der gegenüber alles Vorausliegende, sofern es überhaupt noch in Betracht kommt, als „antik" zu gelten hat. Das Alte ist, um noch einmal Fontenelle zu zitieren, die „Kindheit der Welt" 5 , und man wird doch bei der Mühe, die wir uns mit unserer eigenen Bildung, mit der wissenschaftlichen Erkenntnis, der technischen Entwicklung und nicht zuletzt mit der Erziehung unserer Kinder geben, der Menschheit die Hoffnung nicht nehmen wollen, daß sie endlich erwachsen wird. Für eine Kulturkritik, deren Protagonisten nur zu deutlich erkennen lassen, daß sie gar nicht erwachsen werden wollen, liegt hier freilich ein Problem. Doch wie dem auch sei: Nach dem skizzierten Modell einer Menschheitsgeschichte in aufsteigender Linie ergibt sich eine geradezu natürliche Opposition und wenn keine Opposition im strikten Sinn des Wortes, so doch zumindest eine 40*

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akzentuierte Distanz - zwischen den vergleichsweise noch wenig erfahrenen Alten am Anfang und den auf deren Erfahrungen aufbauenden Modemen am vorläufigen Ende der Geschichte. Daraus hat sich bekanntlich schon vor mehr als dreihundert Jahren die Selbstbezeichnung unserer Epoche entwickelt. Achten wir auf den Sprachgebrauch, so ist sie auch heute noch unverändert gültig. Ja, mehr noch: Die in den achtziger Jahren geführte, heute nur noch gespenstisch erscheinende Debatte über die sogenannte Postmoderne hat jedem - zum Glück nun inzwischen auch den Propagandisten des modisch inszenierten Epochenwechsels - gezeigt, wie unverändert modern diese Bezeichnung der Moderne ist. Bedenkt man, daß in der literarischen Querele des Anciens et des Modernes des 17. Jahrhunderts den moderen Zeitgenossen selbst schon ein geschichtlicher Vorlauf von etwa zweihundert Jahren zugestanden wurde, dann läßt sich sagen, daß man sich inzwischen seit gut fünfhundert Jahren als modern empfindet. Das ist ein Zeitraum, der für sich schon antike Dimensionen hat. Daß er auch sachlich mit der Antike einiges gemeinsam hat, wird freilich unter dem strengen methodologischen Anspruch des Historismus sowie unter der ungeheuren Last historischer Fakten nur zu leicht vergessen. Gleichwohl kommt in der Moderne jenes humane Selbstbewußtsein wieder zur Geltung, das uns an den Griechen und Römern so beeindruckt. Der Vorstellungsraum hat sich nun auch praktisch zur Geopolitik und zur Weltgeschichte erweitert; der Machbarkeit scheinen keine Grenzen gesetzt. U m so deutlicher tritt das Vertrauen in die eigenen Kräfte hervor, das von unbedachten Vertretern bis zur Maßlosigkeit gesteigert wird. Die Weisheit der Antike wußte sich hier konkreter unter der Macht des Geschicks. Doch der Moderne ist auch diese Weisheit nicht fremd, wie wir an beliebig vielen Denkern erfahren können, heißen sie nun Spinoza oder Leibniz, Voltaire oder Montesquieu, Hume oder Kant, Hegel oder Nietzsche, Weber oder Simmel, Dewey oder Wittgenstein. Die ökologische Krise hat unsere Empfänglichkeit für diese Weisheit erhöht. Sie ändert aber nichts daran, daß wir - spätestens, wenn wir vor Problemen stehen, die wir für lösbar halten - auch unsere Zeit selbstbewußt als moderne Zeit auszeichnen. Dies geschieht nach wie vor in dem Vertrauen auf unsere eigenen Kräfte und in der Erwartung, die bisherige Geschichte mit ihren Erfolgen und mit ihren Irrtümern als unsere Ausgangsbedingung anzunehmen. Sofern wir mehr tun wollen, als die Ankunft der Zukunft untätig abzuwarten, bleibt uns auch gar nichts anderes übrig. Natürlich kann man versuchen, den Zeitraum der bereits hinter uns liegenden Moderne durch nachträgliche Grenzziehungen zu verkürzen. Die politische Geschichtsschreibung erkennt mit guten Gründen in der Verselbständigung der Vereinigten Staaten von Amerika und in den dadurch angestoßenen Ereignissen der Französischen Revolution Anzeichen einer neuen Epochenschwelle. Die Philosophen können im selben Zeitraum eine „kopernikanische W e n d e " des Denkens verzeichnen, die auf eigentümliche Weise mit einer romantischen Subjektivierung der ästhetischen Erfahrung einhergeht. Aber alle diese Vorgänge beim Übergang v o m 18. z u m 19. Jahrhundert sind viel zu sehr mit den wissenschaftlichen und technischen Innovationen der vorausgehenden Dekaden verknüpft, als daß sie sich tatsächlich zu einem „Anfang" verdichten ließen.

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Entsprechendes gilt für die mit Blick auf die Kunst unternommenen Bemühungen, eine noch jüngere Datierung der Moderne durchzusetzen: Die auffällige Verselbständigung der ästhetischen Mitteilungsmittel in Musik, Literatur und bildender Kunst, die für die einen bereits bei Brahms und Wagner, für die anderen erst bei Debussy oder Schönberg (und in paralleler Entwicklung bei Rimbaud, Baudelaire, Hofmannsthal und Joyce oder bei Seurat, Cézanne und Picasso) einsetzt, weist in der Tat viele auffällige Gemeinsamkeiten auf; aber es gelingt einfach nicht, sie als Epochengrenze plausibel zu machen. Denn die Kontinuität sowohl in der geistigen wie auch in der gesellschaftlichen Dynamik ist so groß, daß wir bei jedem Versuch, einen Anfang zu setzen, unser historisches Wissen gegen uns mobilisieren. In jedem einzelnen Fall gibt es immer schon eine ausgedehnte Vorläuferschaft. Aus philosophischer Sicht ließe sich dies bis ins Einzelne an dem von den modernsten Modernen für sich beanspruchten Friedrich Nietzsche zeigen. 6 Mir ist noch in guter Erinnerung, wie ein geschätzter Fachkollege, der sich, trotz beachtlicher Bildung, zeitweilig als Postmoderner versuchte, aus Redlichkeit genötigt war, nicht nur Hamann und Goethe, sondern schließlich auch Kant und Hegel unter die Postmodernen zu rechnen. Das Beispiel läßt auch gleich das eigentliche Problem jeder Epocheneinteilung unter den Bedingungen des skizzierten Geschichtsbewußtseins hervortreten: Unser historisches Wissen nötigt uns, selbst auffällige Neuerungen als Ausdruck einer breit angelegten Entwicklung zu verstehen. Es gibt nichts, was im Prinzip nicht schon dazugehört: Fundamentale Kritik, kompromißloser Widerstand, totale Verweigerung und Extremismus in jeder Richtung - alles fügt sich bereits durch die Bedingungen seines Auftritts ins historische Schema und nötigt uns, weil wir selbst diesem Schema verpflichtet sind, zu Reaktionen, die gar nichts anderes als eben bloß eine Fortsetzung auf dem Wege der Moderne sein können. Wir müßten schon die Kraft haben, willkürlich einen Anfang festzusetzen und ihn aus einem dominierenden praktischen Interesse gegen alle gelehrten Einwände verteidigen, wenn sich ein neues Schwellenbewußtsein durchsetzen soll. Dazu aber brauchten wir genau die Energie, die bereits in der Selbstbehauptung der Moderne als der am weitesten fortgeschrittenen, ihre Zukunft tätig erschließenden Zeit am Werk ist. Mit anderen Worten: Jeder Versuch, sich von der Moderne zu lösen, setzt die fundierende Handlungs- und Verständigungsbereitschaft, setzt bereits die lineare Erklärungsund Bewältigungsintention und mit ihr das die Moderene immer wieder neu hervortreibende aktive Zeitbewußtsein voraus. Alles das ist für uns so umfassend, so ausschließlich und vor allem - trotz aller Kritik - so selbstverständlich geworden, daß wir wohl zuerst uns selbst loswerden müßten, ehe wir die Chance hätten, auch der Moderne zu entraten. Es ist dies übrigens eine Lehre, die wir keineswegs erst aus den jüngsten Konfusionen postmoderner Kulturkritik zu ziehen haben; philosophisch ist sie längst offenkundig, vielleicht schon seit Hegels Versuch, der Weltgeschichte ein implizites Ende zu setzen. Wer danach noch Zweifel hegte, hätte sich spätestens durch das Scheitern der allzu ehrgeizigen Pläne Heideggers belehren lassen können: Man muß sich schon bewußt der menschlichen Gemeinschaft und der begrifflichen Klarheit entziehen, um wenigstens den Anschein erwecken zu können, man habe die

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alte Epoche hinter sich. Karl Löwith, der bedeutendste Kritiker unseres historischen Bewußtseins, hat dies mit analytischer Schärfe und philosophischer Tiefe erkannt. Auch wenn er am Anfang etwas zu kurz greift, indem er das Fortschrittsbewußtsein als bloßes Säkularisat religiöser Heilserwartungen zu fassen sucht, so sieht er am Ende doch genau, daß wir der geschichtlichen Verfassung unseres Daseins nicht entkommen können. Wir können sie jedoch - theoretisch und praktisch - relativieren, indem wir durch Vergegenwärtigung des unvordenklichen Pulsierens der Natur in uns und außer uns die gleichermaßen leibhaftige wie kosmische Gewißheit erlangen, daß die Geschichte nicht alles ist. 7 In dem hier mit wenigen Strichen skizzierten Rahmen einer handlungsbezogenen Konzeption von Geschichte lassen sich natürlich auch nähere Kennzeichen der letzten drei bis fünf Jahrhunderte - und damit der uns nahestehenden Moderne anführen. Sie gelten freilich nicht ausschließlich für unsere Moderne, sondern bilden sich, wie die Moderne selbst, im Gang der von uns erschlossenen Kulturgeschichte allmählich aus - und zwar: von Anfang an. Wäre dies nicht für jeden, der sich auf geschichtliche Zusammenhänge wirklich einläßt, eine Selbstverständlichkeit, würde ich daraus die These machen: Die Physiognomie unseres sich selbst auf ein rationales Handlungskalkül gründenden Zeitalters tritt bereits in der Antike hervor. Ihren charakteristischen Ausdruck findet sie spätestens - wohlgemerkt, ich betone: spätestens - in dem äußerlich so häßlichen, von innen her aber selbst dem kritischen Betrachter überaus viel versprechenden Gesicht des Sokrates. Der junge Nietzsche hatte hier durchaus das richtige Gespür: Gesetzt, es gibt überhaupt einen Sinn, von dergleichen zu reden, dann verschuldet niemand anderes als Sokrates den Sündenfall des Menschen, der in der Moderne auch faktisch die Herrschaft über die Erde angetreten hat. Der „Typ des Sokrates", das hat ein zeitgenössischer Öko-Philosoph ganz richtig erfaßt, ist der Prototyp des modernen Menschen. 8 Dies ist gewiß ein großer Bogen, der aber historisch gut abgestützt ist. Denken wir nur an die zahlreichen Übergänge allein an den zeitnahen Rändern der modernen Welt: Humanismus und Renaissance bereiten den Boden für den geistigen, technischen und ökonomischen Aufschwung, der die neuzeitliche Wissenschaft ermöglicht; beide aber verdanken ihre methodologische Sicherheit dem geschärften Reflexionsniveau der scholastischen Theologie und der unter dem Einfluß Piatons entwickelten Mathematik der Calculatores aus dem Merton-College im mittelalterlichen Oxford 9 ; wesentliche Impulse verdanken sie zugleich aber auch dem wiederentdeckten Neuplatonismus, der für mindestens drei Jahrhunderte dem Einfluß des Aristoteles weichen mußte und den man in Europa gewiß nicht schon so schnell nach der Jahrhundertwende wiederentdeckt hätte, wenn ihn die islamischen und jüdischen Kommentatoren nicht nach Spanien gebracht hätten. 10 Was aber wäre die Reformation ohne den noch ganz unter dem Eindruck des antiken Denkens stehenden Augustinus? 11 Was bliebe von Erasmus ohne die antiken Autoren? Mit Humanismus und Reformation setzt aber die bewußte Aufnahme der Alten erst ein. Wir sind also, wenn wir nach Anfängen suchen, genötigt weiterzufragen: Wie läßt sich Montaigne ohne den wiederbelebten Sokrates verstehen? War es Zufall, daß Hobbes erst Thukydides übersetzte, ehe er den Leviathan verfaßte? Was hätten Descartes oder Spinoza über die Affekte sagen können, wäre nicht in ihrem

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U m f e l d der Stoizismus neu entdeckt w o r d e n ? Woher hätte Rousseau seine Sicherheit i m Protest gegen die abgewirtschaftete höfische Kultur g e n o m m e n , hätten ihm nicht Livius und Vergil zur Seite g e s t a n d e n ? Was bliebe von Hegels W i d e r s t a n d gegen den kritisch g e w e n d e t e n Piatonismus Kants o h n e seinen Rückhalt bei Aristoteles? U n d w a s hätte der „zügellose Pia t o n i k e r " Nietzsche w o h l z u sagen gehabt, w e n n die F r a g m e n t e der Vorsokratiker nicht überliefert w ä r e n ? - S o ließe sich bis in unsere jüngste G e g e n w a r t weiterfragen. D o c h m a n sieht auch so schon zur G e n ü g e , wie sehr sich Antike u n d M o d e r n e nicht nur an ihren Rändern überlagern. D e m genaueren Blick enthüllt sich der ganze Zeitraum der europäischen Schriftkultur als eine Epoche, die in den letzten Jahrhunderten der m o d e r n e n Zeit lediglich zu ihrem Selbstbewußtsein k o m m t . Wer damit etwas verbindet, k a n n m e i n e t w e g e n ruhig mit Ulrich Beck von einer „reflexiven M o d e r n e " s p r e c h e n . 1 2 In diesem weitgesteckten R a h m e n kann es d a n n auch sinnvoll sein, einige m a r kante Z ü g e der uns besonders naheliegenden Zeit hervorzuheben. Dabei ergibt sich dann ein Portrait der Moderne

im engeren Sinn, u m das sich in den letzten Jahren

viele Autoren b e m ü h t h a b e n . 1 3 Hier kann m a n a u c h den p o s t m o d e r n e n Kritikern der M o d e r n e Verdienste z u g e s t e h e n . 1 4 Sie haben deutlicher g e m a c h t , w a s wir an der M o d e r n e haben, u n d d a ß es, w e n n es d e n n ginge, ü b e r a u s fahrlässig wäre, sie hinter uns zu lassen. - Da die Debatte noch in lebhafter E r i n n e r u n g ist, genügt es, einige besonders m a r k a n t e Z ü g e hervorzuheben: Erstens: Selbst in der Verdichtung der letzten drei bis vier J a h r h u n d e r t e bildet d i e M o d e r n e keinen erratischen Block, sondern sie ist eine G e m e n g e l a g e vielfältiger A n s ä t z e u n d Einsichten. Die M o d e r n e beginnt mit einer „ Q u e r e l e " , u n d sie ist bis heute ein fortgesetzter Streit u m ihr Selbstverständnis geblieben. Sie hat k e i n e s w e g s nur die Meisterdenker Descartes, Leibniz, Kant u n d Hegel aufzubieten - v o n M a r x ganz z u schweigen - ; sie lebt vielmehr aus einer Fülle großer u n d kleiner Widersacher. Da ist der witzige Fontenelle, der nach anfänglicher B e w u n d e r u n g elegant gegen Descartes polemisiert; da ist der geistreiche Voltaire, der sich nicht scheut, gegen Leibniz auch die gröbsten G e s c h ü t z e aufzufahren. Kant hat seinen H a m a n n , Hegel seinen Schopenhauer, S c h o p e n h a u e r seinen Nietzsche u n d auf N i e t z s c h e folgt ein bis heute nicht v e r s t u m m t e s Feldgeschrei brutalster, aber auch subtilster Art. O d e r d e n k e n wir nur an den Nihilismus der deutschen R o m a n t i k , an die alles durchtränkende Skepsis der englischen Sensualisten oder a n die große Schule der Moralistik in Spanien und Frankreich. Alles das trägt wesentlich zur M o d e r n e bei, und die Vielfalt ist hier allemal größer als die Einheit. Zweitens:

A u c h die einzelnen D e n k e r stehen in ihrem eigenen Werk nicht wie

k o m p a k t e Blöcke da. Bei Wittgenstein, H e i d e g g e r u n d Nietzsche ist dies offenkundig. Es gilt aber auch für Fichte oder Schelling. P o s t m o d e r n e Kritiker h a b e n nicht n u r bei M o n t a i g n e und Pascal, sondern auch bei Kant aporetische Z ü g e ausgemacht. Ein streng systematischer Kant-Nachfolger w i e Nicolai H a r t m a n n k ö n n t e ihnen da nur z u s t i m m e n . A u c h Lyotards E n t d e c k u n g s o g e n a n n t e r „transversaler L e i s t u n g e n " i m aristotelischen Begriff der Phronesis, also v o n A k t e n des Ü b e r g a n g s z w i s c h e n H e t e r o g e n e m , k ö n n t e ihn nicht überraschen. D e n n m a n w e i ß seit längerem, d a ß auch b e d e u t e n d e D e n k e r M e n s c h e n sind; ihre Besonderheit h a b e n sie lediglich darin, d a ß sie ihren Widerspruch mit begrifflichen Mitteln auszutragen

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versuchen. Man braucht also nur seinen gesunden Menschenverstand zu bemühen, und schon erkennt man, daß nicht nur die Moderne ein Pluriversum der Ideen ist; vielmehr spiegelt jeder Denker schon in sich die Vielfalt seiner Welt. Drittens: Wenn es denn stimmt, daß unser neuzeitliches Denken nicht festgefügt unter dem Bann totalitärer Einheit steht, dann hat es selbstverständlich auch ein Sensorium für Differenzen aller Art - insbesondere auch mit Blick auf seine eigenen Bedingungen. Die Kritiker der Moderne halten ihr kurioserweise gern Pascals Lehre von den Ordnungen vor, in der die Ordnungen des Verstandes und der Vernunft durch eine „unendliche Distanz" voneinander getrennt seien. 15 Was hier jedoch für Pascal behauptet wird, ließe sich mühelos auch für Locke oder Hume, Rousseau oder Kant, Schelling oder Schopenhauer demonstrieren; auch bei ihnen gibt es gerade eben dort, wo ein enger genetischer und funktioneller Zusammenhang besteht, etwa zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Bedürfnis und Vernunft, Gefühl und Wille oder auch zwischen Urteilskraft, Verstand und Vernunft, gleichwohl größte systematische Unterschiede, die sich durch keine anderen Leistungen kompensieren lassen. Das heißt: Die Moderne denkt immer schon im Medium der Differenz; sie ist sowohl in ihren tragenden Vermögen wie auch in ihren anerkannten Leistungen ein diversifizierendes Zeitalter. Viertens: Der äußeren wie inneren Pluralität und dem versierten Umgang mit der Differenz entspricht die Methodenvielfalt des neuzeitlichen Denkens. Die Lust an den Verfahren kennt keine Grenzen: Da haben wir die induktiven und deduktiven, die analytischen und synthetischen, die experimentellen, explorativen, kompositiven, genetischen, genealogischen, dialektischen, hermeneutischen oder transzendentalen Verfahren und natürlich den essayistischen und aphoristischen Verzicht auf alles dies. Wer wollte wirklich behaupten, daß die Methoden der Dekonstruktion oder der Dechiffrierung diesen weiten Rahmen sprengen? Wer könnte leugnen, daß man sich immer schon auf die literarische Kunst der bewußten Verrätselung verstand? Erinnernn wir uns lieber an Montaignes Plädoyer für die Beachtung der lokalen Gesetzlichkeit, der „loix du lieu", womit keineswegs nur die landesherrlichen Hoheitsrechte, sondern eben auch die örtlichen Sitten und letztlich die Einsichten der eigenen Vernunft gemeint sind: „Überall und in allem", so sagt er, „ist es an meinen eignen Augen genug, mich zu meiner Pflicht anzuhalten". 1 6 Von hier bis zum ausformulierten Perspektivismus eines Leibniz, Kant oder Nietzsche bedarf es nur einiger kleiner Schritte; Epochenschwellen brauchen dabei nicht überwunden zu werden. Allerdings gerät auf diesem Wege unvermeidlich auch der Begriff der Wahrheit ins Zwielicht, wofür Moses Mendelssohns „Morgenstunden" ein schönes Beispiel geben. Zwar hält er - wie wir alle es zumindest praktisch tun - aus Redlichkeit am Begriff einer allgemeinen Wahrheit fest, aber jede Differenzierung wird von ihm auf die jeweiligen Unterschiede der Standorte und der zugehörigen Perspektiven zurückgeführt. Wenn überhaupt, dann kommt so etwas wie Wahrheit also nur in einem vermittelnden Verfahren zum Vorschein. Was wir „Wirklichkeit" nennen, wird philosophisch spätestens seit dreihundert Jahren allein aus dem Treibholz gezimmert, an das sich der konstitutionell schiffbrüchige Mensch klammert, ohne jemals Land unter die Füße zu bekommen. Mir scheint, wir haben bis heute noch nicht wirklich realisiert, wie weitgehend

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das moderne Denken die Welt als ganze und im Detail in perspektivische Aspekte und funktionale Segmente zerlegt und: nichts anderes mehr übrig läßt. Unter neuzeitlichen Bedingungen überhaupt von so etwas wie „Entfremdung" zu reden, wäre von Anfang an ein metaphysischer Anachronismus gewesen, hätten Humboldt und Hegel damit nicht die Distanz gemeint, die der Mensch zu sich selber schafft, und zwar so, wie er sich selbst in seiner Entwicklung begreift. So paradox es auch klingt: Nur in der eigenen Bewegung ergeben sich feste Anhaltspunkte; nur im Medium unserer eigenen Beweglichkeit können wir jeweilige Standorte festlegen; und nur in uns laufen die Linien zusammen, die unsere perspektivischen Ansichten in eine Ordnung bringen. Fünftens: Innere und äußere Pluralität, universell erfahrene Differenz und die Perspektivität aller Anspruchs- und Ausdrucksformen - einschließlich der Wahrheit lassen immer nur relationale Einheiten zu. Diese Einheiten präsentierten sich in der Moderne unter der ebenso formalen wie materialen Bedingung des Sinns. In den letzten drei Jahrhunderten werden sich die Philosophen - wie sich in aufsteigender Linie von Kant über Schopenhauer und Nietzsche zeigen ließe 1 7 - mit zunehmender Deutlichkeit bewußt, daß sie nach gar nichts anderem suchen als nach Sinn. Sinn - das ist der flüchtige Stoff, der sich letztlich nur verstehen läßt (und dann unter Umständen „vernünftig" heißt). Er entsteht allein aus dem Material, das uns die Sinne liefern, und er kann uns nur überzeugen, sofern er auf die sinnlichen Triebkräfte unseres Daseins bezogen bleibt. Diesen Sinn aber gibt es nicht als einmaligen metaphysischen Bestand. Die menschliche Kultur hat ihn sich stets erst zu erzeugen. Und wo er brüchig und fragwürdig wird, da hat ihn jene Instanz zu prüfen und notfalls neu zu schaffen, die mit ihren Sinnen und ihrer Sinnlichkeit einzig über das Organ für verständigen und vernünftigen Sinn verfügt, nämlich das einzelne Individuum. Damit bin ich bei meinem sechsten und letzten Punkt: Die Moderne, soweit wir sie bisher überblicken, ist die Epoche der zusichkommenden Individualität. Was uns in immer neuen Varianten als Krise des modernen Denkens angeboten wird, ist nichts anderes als eine Dramatisierung der fortschreitenden Individualisierung18, die ganz selbstverständlich mit einer Partikularisierung des Sinnverlangens einhergeht. Diese Entwicklung spiegelt sich in der in allen Kulturbereichen exzessiv betriebenen Erfahrung des Absurden ebenso wie in den unermüdlichen Anstrengungen der Juristen, Philosophen und Pädagogen, Urteils- und Handlungsnormen als universell verbindlich auszuweisen. Beides ist möglich und wohl auch nötig und wird deshalb wohl auch nie zu einem definitiven Abschluß kommen. Im Gegenteil: Nach allem, was wir in den hochtechnisierten, reichen Industrieländern soziologisch beobachten können, beschleunigt sich der Prozeß der Individualisierung in einem unerhörten Ausmaß. Den Wohlstand und die Sicherung der Lebensgrundlagen vorausgesetzt, wird er dafür sorgen, daß die Moderne in immer kürzeren Zeitabständen noch moderner wird. Darauf haben wir uns auch praktisch, insbesondere als Bürger und Erzieher, einzustellen: Wir müssen den Einzelnen individuell und institutionell fähig machen, mit seiner Eigenständigkeit fertig zu werden und als selbständiges Individuum unter seinesgleichen zu leben.

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Neu am modernen Prozeß der Individualisierung ist allein seine quantitative Dimension: Seit dem Humanismus erfaßt er die immer breiter werdende Schicht der Künstler und Gelehrten, zu der in Einzelfällen auch die in Handel und Politik tätigen „Leute von Welt" gehören; mit der Aufklärung wird auch die neue Klasse der Publizisten, Pädagogen und Parteirepräsentanten in den Sog der Verselbständigung gerissen; und unter den Bedingungen der hochindustrialisierten, liberal-demokratischen Marktgesellschaft wird die Individualisierung zu einem Massenphänomen. Von jedem, ganz gleich ob eingreifender Partizipient oder anspruchsvoller Konsument, wird unverwechselbare Eigenständigkeit erwartet. Jeder tut nur noch das, was er selbst für richtig hält. Ehe wir diesen weltweiten Vorgang jener wohlfeilen Kulturkritik unterwerfen, die einmal mehr die Endherrschaft des nur noch nach seinem Privatglück schielenden „letzten Menschen" hereinbrechen sieht 1 9 , sollten wir uns fragen, was es eigentlich ist, das hier geradezu epidemische Ausmaße erreicht? Ich behaupte, daß sich erst mit der Antwort auf diese Frage das Drama des Zivilisationsprozesses enthüllt - kein Drama von Niedergang und Nivelierung, sondern eine echte Tragödie mit Schicksal und Notwendigkeit, in der das Rettende mit der Gefahr zusammenfällt. Überdies zeigt sich erst hier, vor welches philosophische Problem die Moderne uns stellt, mehr noch: Wie sehr die Dynamik des fortschreitenden Modernisierungsprozesses nicht nur die Philosophie in ihrem Selbstverständnis, sondern jedes Individuum in seinem Begriff von sich selbst berührt. Soweit wir sehen können, tritt das Individuum historisch erstmals deutlich in der großen politisch-sozialen Krise hervor, von denen die griechischen Stadtstaaten des 5. vorchristlichen Jahrhunderts erfaßt wurden. Die tradierte Lebenspraxis wurde brüchig; die gesellschaftlichen Normen verloren ihre Selbstverständlichkeit. Was man bislang für „Natur" (physis) gehalten hatte, wurde von der sophistischen Kritik als bloße „Setzung" (thesis) entlarvt. Und wenn auch nicht gleich alle Werte ihre Geltung einbüßten, so fragte man doch nach den Gründen für die richtige menschliche Praxis. Das „gute Leben" wurde zu einem Problem - und dies eben nicht so allgemein; denn „allgemein" gibt es hier gar kein Problem. Vielmehr wurde das „gute Leben", das „richtige Tun" zum Problem für einen jeden, der sich selbst danach fragte! Wer aber in einer Krise der Normen und Konventionen genötigt ist, nach Gründen für sein Handeln zu suchen, der tut dies im Bewußtsein seiner eigenen Selbständigkeit. Und für jede mögliche Antwort, ganz gleich, woher sie faktisch stammt und aus welchen Motiven sie wirklich übernommen wird, gibt es letztlich nur ein Kriterium, und dies ist die eigene Einsicht. So fällt alles Urteilen und alles Tun letztlich in die Kompetenz des Individuums. Und die einzige Instanz, die es - fern von den nun lediglich als äußerlich angesehenen Macht- und Autoritätsverhältnissen - über sich anerkennen kann, ist seine eigene Vernunft. So kann der erste uns wirklich modern erscheinende Mensch, nämlich Sokrates, als Tugend nur anerkennen, was sich verständig beschreiben und vernünftig rechtfertigen läßt. Deshalb macht er das Wissen - und das heißt: die vernünftige Einsicht eines jeden einzelnen - zur höchsten Instanz menschlicher Praxis. Das ist, wenn man so will, das „Paradigma" eines jeden Nachdenkens des Menschen über sich selbst. Die Philosophie als ganze ist a priori an das Kriterium der eigenen Einsicht gebunden.

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Keiner der heute so zahlreich ausgegebenen

Paradigmenwechselkurse

konnte

daran etwas ändern. A u c h die Kritik an der platonischen E n g f ü h r u n g des Wissens so berechtigt sie auch i s t 2 0 - hat nichts daran geändert, d a ß als Instanz m e n s c h lichen Urteilens u n d H a n d e l n s einzig die begründete

Einsicht A n e r k e n n u n g findet.

Solche Einsicht stellt sich aber n u r ein, wo ein Individuum

ist, das sich selbst als ver-

nünftig begreift. Die sich daraufhin entwickelnde Ethik ist folglich nichts anderes als der i m m e r wieder neu u n t e r n o m m e n e Versuch, die - d e m A n s p r u c h nach - j e d e m einzelnen einsichtigen G r ü n d e für ein seinem Selbstverständnis a n g e m e s s e n e s Verhalten z u systematisieren. So ist es die Philosophie in ihrer seit Sokrates gelehrten Fassung, die von A n f a n g an eben das verteidigt hat, w a s in der M o d e r n e zur weltgeschichtlichen Verfassung des M e n s c h e n wird. Ich sage nicht, daß die Philosophie diesen vorläufigen Z u s t a n d herbeigeführt hat; m a n wird auch nicht sagen k ö n n e n , d a ß sie ihn so u n d nicht anders gewollt hat. A b e r sie hat sich mit ihrem ersten Auftritt z u m A n w a l t eben des M e n s c h e n gemacht, der unsere M o d e r n e prägt. Folglich haben die Philosophen auch w e n i g Anlaß, sich über ihn zu beschweren. Allerdings h a b e n sie allen G r u n d , sich G e d a n k e n darüber z u m a c h e n , was es heißt, d a ß dieser rationale Individualist n u n so massenhaft auftritt, und d a ß seine losgelassene Vernunft nicht schon v o n selbst das errreicht, was für alle günstig ist. A b e r auch das ist bereits eine alte Frage. U n d w e n n sie sich heute unter den B e d i n g u n g e n eines explosiven W a c h s t u m s der Weltbevölkerung u n d unter den Vorzeichen einer die menschliche Zivilisation als ganze b e d r o h e n d e n

ökologischen

Katastrophe mit einer z u v o r vielleicht nicht erlebten D r a m a t i k stellt, d a n n sollte uns klar sein, d a ß w i r sie, w e n n überhaupt, praktisch w i e theoretisch n u r mit den rationalen, d. h. nur mit den uns als Individuen einleuchtenden Mitteln b e a n t w o r t e n k ö n n e n , u n d das sind jene, die uns die M o d e r n e zur Verfügung stellt. Vielleicht gibt uns die Einsicht, d a ß diese M o d e r n e e t w a s älter und erfahrener ist, als m a n c h e denken, angesichts der großen H e r a u s f o r d e r u n g durch die Z u k u n f t auch ein w e n i g m e h r M u t u n d Selbstvertrauen. D e n n nichts paßt besser zur überlieferten geistigen Verfassung unserer M o d e r n e , als die Sorge um eine Zukunft,

in d e r

sich so leben läßt, wie wir es nach unserer eigenen Einsicht erwarten. Prof. Dr. phil. Volker Gerhardt, Deutsche Sporthochschule Postfach 450327, W - 5000 Köln 41

Köln, Philosophisches

Seminar,

Anmerkungen Geringfügig überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf dem 13. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft: „Erziehungswissenschaft zwischen Modernisierung und Modernitätskrise", der vom 16. bis 18. März 1992 an der Freien Universität Berlin stattfand. 1 Vgl. Ulrich Beck: Die Frage nach der anderen Moderne, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 3 9 , 1 2 / 1 9 9 1 , 1 2 9 7 - 1 3 0 8 , 1 2 9 8 . 2 „Sich orientiren heißt in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont eintheilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu

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finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel und weiß, daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu finden. Zu diesem Behuf bedarf ich aber durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subject, nämlich der rechten und linken Hand." (I. Kant: „Was heißt: Sich im Denken orientiren? (1787), Akad. Ausg. 8, 134) - Man beachte, daß hier bereits die Zeit zur Orientierung benötigt wird. Auf dem sich drehenden Globus finden wir die Richtung nur mit Hilfe der Zeitbestimmung. Siehe dazu vom Verf.: Politik und Fortschritt, in: V. Gerhardt/D. Kinkelbur (Hrsg.): Wie finden wir den Fortschritt? Münster 1989, 29-46. Bernard Le Bovier de Fontenelle: Exkurs über die Alten und die Modernen (aus dem: „Traité sur la nature de l'églogue", Begleittext zu den 1688 veröffentlichten „Poésies pastorales"), in: Fontenelle: Philosophische Neuigkeiten für Leute von Welt und für Gelehrte. Ausgewählte Schriften, mit einem Essay von Werner Krauss, Leipzig 1989, 243-259, 248. Ebd., 247. Siehe dazu vom Verf.: Friedrich Nietzsche, München 1992. Diese hier nur angedeutete Perspektive hat Karl Löwith vor allem in seinen bedeutenden Interpretationen zur Philosophie Friedrich Nietzsches angezeigt. Die Arbeiten sind nun in Band 6 der Ausgabe seiner Sämtlichen Schriften (Stuttgart 1987) versammelt. Löwiths Arbeiten zur Kritik der Geschichtsphilosophie sind im Band 2 (Stuttgart 1983) zusammengestellt. Ich verweise hier besonders auf die kleineren Schriften: Natur und Geschichte (1950), Mensch und Geschichte (1957/58), Das Verhängnis des Fortschritts (1962). Gernot Böhme: Der Typ Sokrates, Frankfurt a. M. 1989. Die wirkungsgeschichtliche Verzahnung zwischen dem, was man einmal polemisch und mit borniertem Stolz auf den eigenen Entwicklungsstand das „Mittelalter" nannte, und unserer modernen Welt sind längst so gut untersucht, daß man sich wundern muß, warum Zeitgenossen, die hinter jedem klaren Begriff einen „Eurozentrismus" vermuten, in ihrer politischen Kritik immer noch selbstgefällig von „Rückfällen ins finstere Mittelalter" sprechen können. Stellvertretend für die umfangreiche Literatur zur Vorgeschichte der Neuzeit sei hier nur auf die Arbeiten von Ernst Cassirer, Hans Blumenberg und Jürgen Mittelstrass verwiesen. In den Studien über „Neuzeit und Aufklärung" von Mittelstrass (Berlin/New York 1970) ist auch ein großer Teil der bis dahin bereits verfügbaren Literatur beachtet und benannt.

10 Über diese Zusammenhänge informiert vorzüglich: Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986. 11 Auch dazu: Kurt Flasch, a. a. O., 561 ff. - In der glänzenden Studie über Augustinus (Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980) tritt dessen Brückenfunktion zwischen Antike und Reformation in ganzer sachlicher Breite hervor. 12 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, 14ff.; ders.: a. a. O., 1300ff. Siehe dazu auch: Hans-Peter Krüger: Reflexive Modernisierung und der neue Status der Wissenschaften, in: Deutsche Zeitschrift für Philosohie, 39. Jg., 12/1991,1310ff. 13 Ich beschränke mich hier auf die Benennung der Namen von L. Strauss, J. Ritter, F. Martini, H. R. Jauss, H. Blumenberg, H. Lübbe, J. Habermas und L. Niethammer. 14 Zu nennen wären: J. Derrida, F. Lyotard, J. Baudrillard und W. Welsch sowie der exponierte Vertreter des „schwachen Denkens": Gianni Vattimo. 15 Dazu: Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, 2. Aufl., Weinheim 1988,285ff. 16 Michel de Montaigne: Essais, Liv. I, Chap. XXIII (De la coustume et de ne change aisément une loy receüe), Paris 1969, 157. - Montaigne entwickelt hier beiläufig eine Vernunftkonzeption, der wir nach Kant und Nietzsche stärkere Aufmerksamkeit schenken sollten. Ausgehend von der Prämisse, daß eine „private Vernunft nur private Geltung" haben kann (la

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raison privée n'a qu'une Jurisdiction privée) (ebd. 168), sucht er sie gleichwohl in den einzelnen Vorkommnissen, in den jeweiligen Sitten und persönlichen Meinungen: „Die menschliche Vernunft ist eine Farbe (teinture), die alle unsere Meinungen und Sitten durchtränkt, ganz gleich welche Gestalt sie auch haben: unbegrenzt in allen Stoffen (matière), unbegrenzt in allen Einzelheiten (diversité)." (Ebd., 158) - Weitergedacht führt diese Annahme auf eine individuelle Konzeption der Vernunft. Siehe dazu vom Verf.: Friedrich Nietzsche, a. a. O., Teil III: Nietzsches Fragen nach dem Sinn. Alles, was Louis Dumont in seinen verschiedenen Arbeiten zusammengetragen hat (gesammelt in: L. Dumont: Individualismus. Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt/New York 1991), spricht für diese These. Der moderne Individualismus wurzelt im Christentum, das ihn aus dem hellenistischen Denken übernommen hat; in der antiken Tradition aber verweist alles auf die Sophisten und auf Sokrates. Eine gleichermaßen historische wie systematische Bestätigung dieses Zusammenhangs läßt sich aus den Darlegungen von Christoph Riedel: Subjekt und Individuum. Zur Geschichte des philosophischen IchBegriffs, Darmstadt 1989, ziehen. Jüngstes, einmal mehr von Nietzsches „Zarathustra" inspiriertes Beispiel: Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München 1992. - Gleichwohl ist es heilsam, sich an Zarathustras Prophezeihung zu erinnern: „Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann. Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. ,Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?' - so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. ,Wir haben das Glück erfunden' - sagen die letzten Menschen und blinzeln." (F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Vorrede 5; KSA 4,19). Die treffende Kritik Kants berührt nur die Gegenstände des Wissens und macht mit Recht die Unterscheidung zwischen einer theoretischen und einer praktischen Vernunft geltend. Doch auch bei Kant bleibt es die sich lediglich anders begreifende Einsicht eines vernünftigen Wesens, die auf die Frage: „Was soll ich tun?" (man beachte das „ich"!) eine Antwort zu geben hat. An Nietzsche läßt sich zeigen, daß auch dieser schärfste Kritiker Piatons und Kants letztlich nichts anderes hat als das redlliche Bewußtsein des „freien Geistes", wenn er zu sagen versucht, was denn die Tugend eines jeden einzelnen sein könnte. Vgl. dazu vom Verf.: Selbstbegründung. Nietzsches Moral der Individualität, in: Nietzsche-Studien 21,1992, 28-49.

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Hannah Arendt und Martin Heidegger Von K A R O L S A U E R L A N D (Warschau) In den frühen Zeiten suchten sich die ehrgeizigen Studenten solche Universitäten aus, an denen berühmte oder auch interessante Persönlichkeiten lehrten. Sie wollten sie sehen und hören und von ihnen etwas lernen, um sich kurz darauf an eine andere Hochschule mit anderen Kapazitäten zu begeben. Die achtzehnjährige Hannah Arendt hatte nach ihrem externen Abitur den Entschluß gefaßt, nach Marburg zu gehen, denn einem Gerücht zufolge gab es dort einen Privatdozenten, wie sie 1969 im Rückblick schrieb, „der die Sachen, die Husserl proklamiert hatte, wirklich erreicht, der weiß, daß sie keine akademische Angelegenheit sind, sondern das Anliegen von denkenden Menschen und zwar nicht erst seit gestern und heute, sondern seit eh und je, und der, gerade weil ihm der Faden der Tradition gerissen ist, die Vergangenheit neu entdeckt. Technisch entscheidend war, daß nicht über Plato gesprochen und seine Ideenlehre dargestellt wurde, sondern daß ein Dialog durch ein ganzes Semester Schritt für Schritt verfolgt und abgefragt wurde, bis es keine tausendjährige Lehre mehr gab, sondern nur eine höchst gegenwärtige Problematik. Heute klingt das vermutlich ganz vertraut, weil so viele es jetzt so machen; vor Heidegger hat es niemand gemacht. Das Gerücht sagt es ganz einfach: Das Denken ist wieder lebendig geworden, die totgeglaubten Bildungsschätze der Vergangenheit werden zum Sprechen gebracht, wobei sich herausstellt, daß sie ganz andere Dinge vorbringen, als man mißtrauisch vermutet hat. Es gibt einen Lehrer; man kann vielleicht das Denken lernen." 1 Hannah Arendt folgte diesem Gerücht und erfuhr, „daß Denken als reine Tätigkeit, und das heißt weder vom Wissendurst noch vom Erkenntnisdrang getrieben, zu einer Leidenschaft werden kann, die alle anderen Fähigkeiten und Gaben nicht so sehr beherrscht als ordnet und durchherrscht. Wir sind so an die alten Entgegensetzungen von Vernunft und Leidenschaft, von Geist und Wesen gewöhnt, daß uns die Vorstellung von einem leidenschaftlichen Denken, in dem Denken und Lebendigsein eins werden, einigermaßen befremdet." 2 Vier Jahre nach dieser Erinnerung, anläßlich des achzigsten Geburtstages von Heidegger sollte Hannah Arendt den ersten Teil ihrer Vorlesung „The life of the m i n d " im Rahmen der Gifford Lectures an der University of Aberdeen dem „Denken" und ein Jahr später dem „Wollen" widmen, wovon noch die Rede sein wird. Die junge Studentin Hannah Arendt war von dem fünfunddreißigjährigen Privatdozenten so fasziniert, daß sie auf sein Werben vorbehaltlos einging. Es entwickelte sich zu einer intensiven Liebesbeziehung, von der sie sich wahrscheinlich ver-

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sprach, daß er sich von seiner Frau und von seinen beiden kleinen Söhnen trennen werde, um mit ihr zusammenzuleben. Das geschah aber nicht, wie wir wissen. Sie verließ wohl aus diesem Grund bereits nach zwei Semestern Marburg, um eine gewisse Distanz zu ihm zu gewinnen, wenngleich sie nicht aufhörten, sich zu treffen. Hannah Arendt ging zu Heideggers Mentor Husserl nach Freiburg, um sich schließlich 1926 zu Jaspers nach Heidelberg zu begeben, bei dem sie auf Heideggers Empfehlung hin ihre Dissertation „Uber den Liebesbegriff bei Augustin" schrieb. Wenn Jaspers in seinem Gutachten bemerkt, daß Hannah Arendts Methode „als sachliches Verstehen zugleich" gewaltsam sei, meint er wahrscheinlich auch, daß sie in ihrer Dissertation auf zu offensichtliche Weise Fragen stellte, die sich aus ihrer Kenntnis der Heideggerschen Philosophie, insbesondere der existentialen Analytik ergaben. Hannah Arendts Liebe zu Heidegger wird gern als eine schwärmerisch-romantische abgetan (als sei nicht jede Liebe schwärmerisch-romantisch oder weitabgewandt, um es in Hannah Arendts Worten aus „Vita activa" zu formulieren), in der das Geistige keinerlei Rolle gespielt hätte , was aber nicht stimmt, wie wir aus dem wenigen, das uns überliefert ist (der Briefwechsel, der in Marbach liegt, darf ja noch nicht eingesehen werden, als ob mit einem solchen Verbot ein Faktum aus der Welt geschaffen werden könnte), schließen können. Das Überlieferte sind Hannah Arendts Selbstportrait „Die Schatten", das sie 1925 im Elternhaus in Königsberg verfaßt und Heidegger zugesandt hatte, und eine Reihe von Gedichten (es gibt auch welche von Heidegger, die aber nicht zugänglich zu sein scheinen). In den „Schatten" reflektiert die Autorin in fast philosophischer Weise ihren Hang, sich von der Welt zu isolieren, ihre „Ungelöstheit und Unaufgeschlossenheit", die es ihr verwehrt, „mit Geschehnissen anders umzugehen, als in dumpfem Schmerz oder träumerischer, verwunschener Verbannt". Sie spricht von ihrer „Zerstörtheit", die sich in einem „Auf-sich-selbst-gedrückt-sein" äußerte und zur Folge hatte, „dass sie selbst sich Blick und Zugang zu sich verdeckte und verstellte". Sie beobachtet an sich Sensibilität und Verletzbarkeit, die sich in eine „Angst vor der Wirklichkeit", in eine „sinn- und gegenstandslose, leere Angst, vor deren blindem Blick alles Nichts wird" 3 , steigerte. Sie nennt sie Angst vor dem Dasein überhaupt, was, wie Elisabeth Young-Bruehl erklärt, heideggersche Manier sei, womit sie natürlich recht hat; aber man könnte den Spieß auch umdrehen und die Behauptung riskieren, daß die Analyse der Sorge und vor allem der Angst „als einer ausgezeichneten Erschlossenheit des Daseins" in „Sein und Zeit" gerade durch die Lektüre der „Schatten" so einsichtsvoll ausfallen konnte. Es ist mehr als bemerkenswert, daß solch bekannte Sätze wie „Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-sein als solches" oder „In der Angst versinkt das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende. Die ,Welt' vermag nichts mehr zu bieten, ebensowenig das Mitsein Anderer" 5 ihre spiegelbildlichen Entsprechungen in Hannah Arendts Text finden. Immerhin soll sich, wenn wir Young-Bruehl Glauben schenken dürfen, Heidegger zwanzig Jahre nach der Liebesbeziehung dazu bekannt haben, „daß sie die Inspiration für seine Arbeit in diesen Jahren, der Impuls für sein leidenschaftliches Denken war". 6 Hannah Arendt fiel es verständlicherweise schwer, sich emotional von Heidegger zu lösen, wovon ihre Gedichte aus der Freiburger Zeit zeugen. So bittet sie in einem

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der Gedichte die Nacht um „Schweigende Lindrung der Schmerzen" und ein „kühlendes Lösen", damit sie „Kraft zum steten Verrichten" bekomme. Melancholisch denkt sie an jene Monate zurück, in denen ihre Leidenschaft aufgebrochen war. Schmerzen und Leid sind geblieben, aber kein Groll. Es gibt zwar Augenblicke, in denen sie meint, daß nun schon alles der Vergangenheit angehört und in die Ferne gerückt ist, aber es ist mehr ein Wunsch als eine Tatsache. In dieser Stimmung verfaßte sie dies poetisch gelungene Gedicht: Spätsommer Der Abend hat mich zugedeckt So weich wie Samt, so schwer wie Leid Ich weiß nicht mehr wie Liebe tut, Ich weiß nicht mehr der Felder Glut, Und alles will entschweben Um nur mir Ruh zu geben. Ich denk an ihn und hab ihn lieb Doch wie aus fernen Landen Und fremd ist mir das Komm und Gieb Kaum weiß ich was mich bangt. Der Abend hat mich zugedeckt So weich wie Samt so schwer wie Leid. Und nirgends sich Empörung reckt Zu neuer Freud und Traurigkeit. Und alle Weite die mich rief Und alles Gestern klar und tief, Kann mich nicht mehr betören. Ich weiß ein Wasser groß und fremd, Und eine Blume die keiner nennt Was soll mich noch zerstören? Der Abend hat mich zugedeckt So weich wie Samt, so schwer wie Leid. 7 In so fernen Landen war er jedoch nicht, und der Abend hatte noch zu wenig zugedeckt. Es ist wohl kein Zufall, daß Hannah Arendt ihre Dissertation gerade über den Liebesbegriff bei Augustin verfaßte, d. h. über einen Autor, der für Heidegger sehr wichtig war, aber über einen Begriff, der in „Sein und Zeit" keine Rolle spielt. Nur als Fußnote findet er Erwähnung. 8 Es ist auch kein Zufall, daß Hannah Arendt der Liebe als einem transzendenten Prinzip ihre besondere Aufmerksamkeit widmet, und das nicht nur bei Augustin, sondern auch bei Rilke, über dessen „Duineser Elegien" sie 1930 zusammen mit Günther Stern - uns als Günther Anders bekannt - einen Artikel für die „Schweizer Rundschau" verfaßte. Rilkes

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„Duineser Elegien" waren für sie die höchste Form der religiösen Literatur in der modernen Zeit. Der Mensch ist bei Rilke wie bei Augustin bestrebt, die Liebe als appetitus, d. h. als Begehren nach einem durch und durch vergänglichen Gut, zugunsten einer selbstlosen und die eigene Sterblichkeit transzendierenden Liebe zu überwinden. Man kann sich vorstellen, wie wichtig in diesem Kontext für Hannah Arendt die bekannte Stelle in der ersten „Duineser Elegie" war: Ist es nicht die Zeit, daß wir liebend uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn: wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung m e h r zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends. Die eigentliche Befreiung von Heidegger erfolgte durch das Buch „Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik", an dem Hannah Arendt zu Beginn der dreißiger Jahre arbeitete. Man ist fast geneigt anzunehmen, daß sie sich durch das gescheiterte Liebesverhältnis zwischen der Rahel und dem Grafen von Finkenstein für diese Frau aus der Zeit der Romantik zu interessieren begann. Der Graf von Finkenstein hatte die Rahel zur Liebe bewegt, die sie in der Weise erwiderte, daß sie ihn ganz in ihre Welt, den Salon in der Dachstube in der Jägerstraße, der uns selbstredend an Hannah Arendts Dachkammer in Marburg erinnert, ziehen möchte, was ihr jedoch nicht gelingen konnte, denn hier war er nicht mehr der Graf, sondern einer, der sich als Einzelner, als Person bewähren mußte. Er entzog sich ihr immer mehr und wies sie schließlich zurück. Sie erlebte eine Zeit großen Leids, aber „das Leben", schreibt Hannah Arendt, „das dumme, uneinsichtige Leben geht weiter. Am Schmerz, am Unglück stirbt man nicht. Tag um Tag erwacht man, tut wie die andern, geht schlafen. In der ,albernen Regelmäßigkeit' sind schon größere Unglücke verklungen als das, daß einer eine sitzen gelassen hat." 1 0 Sie fügt sich ins Leben ein, aber als eine, die „keine Heimat in der Welt hat, in die sie sich vor dem Schicksal zurückziehen könnte; sie hat ihm nichts entgegenzusetzen. Ihr bleibt nichts übrig, als die ,Wahrheit zu sagen', Zeugnis abzulegen, die ,vortreffliche Ernte der Verzweiflung' einzusammeln. Und wie sie früher schmiegsam sein mußte, um nur überhaupt getroffen, vom Leben bemerkt zu werden, wie früher selbst jede Gabe, jedes Talent nur das Schicksal hätte hindern können, so muß sie jetzt, da alles vorbei ist, sich zur ,Wand, zu etwas Undurchdringlichem machen', um mit allem, was ihr in der Welt entgegensteht, ,mit Sachen und mit Menschen, die sich zu Sachen aufwerfen, kämpfen' zu können". 1 1 Das klingt wie ein Selbstporträt, denn so wurde in späteren Jahren Hannah Arendt, indem sie ihre Leser immer wieder mit unangenehmen Wahrheiten beunruhigte. Auch Heidegger sollte Anlaß zu unangenehmen Wahrheiten werden. 1946 veröffentlichte sie erst in Englisch und kurz darauf in Deutsch einen Essay „Was ist Existenz-Philosophie?", in dem sie auch Heideggers Denken auf einigen Seiten zu charakterisieren versuchte und in einer Anmerkung auf dessen politische Taten bzw. Untaten verwies. Die Anmerkung beanstandete Jaspers in einem Brief vom 9. 6. 1946, sie sei im „Tatsächlichen" nicht exakt, vor allem was den von Heidegger unterzeichneten Brief an Husserl betreffe. Nach seiner Meinung handelte es sich um „den Brief, den damals jeder Rektor an die vom Regime Ausgeschlossenen schrei41

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ben mußte". 1 2 H a n n a h Arendt gibt ihm in ihrer Antwort vom 9. Juli 1946 recht. Sie habe es gewußt, „ d a ß dieser Brief ein Rundbrief war", u n d wisse, „ d a ß viele Menschen ihn daher entschuldigen. Mir hat immer geschienen, daß Heidegger in d e m Moment, w o er seinen N a m e n unter dieses Schriftstück zu setzen hatte, hätte abdanken müssen. Für wie töricht m a n ihn auch halten mag, diese Geschichte konnte er verstehen. So weit konnte man ihm Verantwortung z u m u t e n . Er w u ß t e ganz genau, daß Husserl dieser Brief mehr oder minder gleichgültig gewesen wäre, w e n n ein anderer N a m e als Unterschrift unter ihm gestanden hätte. N u n können Sie natürlich sagen, daß das im Zuge der Geschäfte vor sich ging. Und ich w ü r d e wahrscheinlich antworten, daß das wirklich Irreparable oft fast - täuschend - wie ein Akzident auftritt, daß manchmal aus einer unscheinbaren Linie, die wir gelassen überschreiten, im sicheren Bewußtsein, daß es darauf nun auch nicht mehr ankommt, jener Wall sich aufrichtet, der Menschen wirklich scheidet. Mit anderen Worten, obwohl mir weder sachlich noch persönlich je an dem alten Husserl irgendetwas gelegen war, gedenke ich ihm in diesem einen Punkt die Solidarität zu halten; und da ich weiß, daß dieser Brief u n d diese Unterschrift ihn beinahe umgebracht haben, kann ich nicht anders als Heidegger f ü r einen potentiellen Mörder zu halten." 1 3 Es ist ein hartes Urteil, das Hannah Arendt in dieser Form später nicht mehr gefällt hat, aber es gibt uns heute im Osten zu denken, wo viele nicht gewillt sind, so einfach zur Tagesordnung überzugehen, als sei nichts gewesen. Ein kleiner Unglücksfall. Jaspers erwidert am 19. Oktober 1946, daß er ihre „Beurteilung Heideggers" teile. 14 1948 erschien H a n n a h Arendts „Was ist Existenz-Philosophie?" z u m zweiten Mal auf Deutsch. Sie nimmt erneut in einer A n m e r k u n g zu Heideggers politischen Sünden Stellung u n d urteilt bereits weniger hart. Eigentlich sollte m a n ihn nicht so ernst nehmen, w e n n m a n ihm auch Charakterlosigkeit vorwerfen müsse. Gleiches erklärt sie im September 1949 in einem Brief an Jaspers, der ihr mitgeteilt hatte, d a ß er mit Heidegger in letzter Zeit „gelegentlich einige Briefe gewechselt habe", obwohl er seine Seele für unrein halte u n d dieser „gedankenlos in Schmutz" fortlebe. 15 H a n n a h Arendt antwortet prompt, daß sie sich, da „ m a n doch bekanntlich nicht konsequent ist", über die Korrespondenz freue, doch w ü r d e sie nicht von „Unreinheit", sondern von Charakterlosigkeit sprechen, aber - fügt sie hinzu - „in d e m Sinne, d a ß er buchstäblich keinen hat, bestimmt auch keinen besonders schlechten. Dabei lebt er doch in einer Tiefe u n d mit einer Leidenschaftlichkeit, die m a n nicht leicht vergessen kann; das Verdrehen ist unerträglich, u n d allein die Tatsache, d a ß er jetzt alles so aufzieht, als sei es eine Interpretation von ,Sein u n d Zeit', spricht dafür, daß alles wieder verdreht herauskommen wird. Ich las den Brief gegen den H u m a n i s m u s , auch sehr fragwürdig u n d vielfach zweideutig, aber doch das erste, was wieder auf d e m alten Niveau ist." 1 6 Im Dezember 1949 f u h r H a n n a h Arendt nach Basel, w o ihr Jaspers den ganzen Briefwechsel mit Heidegger zeigte. Sie änderte ihre Ansicht nicht, obwohl sie es „recht r u e h r e n d " fand, d a ß Heidegger „verzweifelt gluecklich" über die Wiederaufn a h m e der Korrespondenz war. Bei dieser Gelegenheit erzählt sie „Jaspers offen, wie es mit H. u n d mir bestellt gewesen sei". Sie war überrascht zu hören: „Ach, aber das ist ja sehr aufregend." Sie fand ihn „ganz unnachahmlich in der Selbstverstaendlichkeit der Reaktion". 1 7

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Einige Wochen später sollte Hannah Arendt selber inkonsequent sein und Heidegger, wenn auch mit Widerständen, besuchen. Am 8. Februar 1950 berichtet sie in einem bisher unveröffentlichten Brief an ihren Mann Heinrich Blücher, daß sie sich im Hotel getroffen und „zum ersten Mal in ihrem Leben miteinander gesprochen" hätten, was wahrscheinlich eine der vielen Übertreibungen Hannah Arendts war. Heidegger nannte diesen Besuch Jaspers gegenüber „eine unverhoffte Großmut und Freude". 1 8 Ihn scheint selbst der nächste Tag nicht gestört zu haben, an dem es, wie wir von Hannah Arendt wissen, „zu einer Auseinandersetzung mit seiner Frau kam". Sie machte ihm, schreibt Arendt an Blücher, „seit 25 Jahren, oder seit sie auf irgendeine Weise die Bescherung aus ihm herausgekriegt hat, offenbar die Hoelle auf Erden. Und er, der doch notorisch immer und ueberall luegt, wo er nur kann, hat ebenso offenbar, d. h. wie sich aus einem vertrackten Gespraech zu dritt ergab, nie in allden 25 Jahren geleugnet, dass dies nun einmal die Passion seines Lebens gewesen sei. Die Frau, fuerchte ich, wird so lange ich lebe, bereit sein, alle Juden zu ersaeufen. Sie ist leider einfach mordsdaemlich. Er hat mich mit Publikationen und Manuskripten ueberschuettet; nur sprechen koennen, nur verstanden werden. Dabei ist er beruehmter als je, ohne das im mindesten zu verstehen, oder sagen wir zu realisieren." 19 Ihr Treffen mit Heidegger hatte zur Folge, daß dieser sich vor Jaspers rechtfertigte, warum er ihn seit 1933 nicht mehr besucht habe. Wie wir wissen, spricht er von einer Scham. Jaspers war über dieses „Schuldbekenntnis", wie er es Hannah Arendt gegenüber bezeichnete, keineswegs erfreut, es hemmte ihn bei der weiteren Korrespondenz. Er empfand das Bekenntnis auch nicht als ein „echtes", „wirklich verstehendes". Dazu hätte er z. B. 1937, wie wir aus einem Brief aus dem Jahre 1966, als Alexander Schwans „Politische Philosophie Heideggers" erschienen war, erfahren 20 , auf die Entlassung Jaspers aus den Amt irgendwie reagieren müssen. Er hätte wenigstens nicht privat schweigen dürfen. Hannah Arendt ist beunruhigt, denn sie möchte nicht, daß es zu einem erneuten Bruch zwischen den beiden Denkern kommt. Und vor allem möchte sie nicht die „unschuldig-schuldige Veranlassung" dazu geworden sein. Sie gibt Jaspers zwar recht, daß Heideggers Bekenntnis kein „wirklich verstehendes" sei, aber ein „echtes". „Erklärungen gerade wären nicht echt gewesen", meint sie, „weil er wirklich nicht weiß und auch kaum in einer Position ist, herauszufinden, welcher Teufel ihn da hineingeritten hat. Er selbst hätte ja nur zu gern ,versinken' lassen, daran habe ich ihn offenbar gehindert. Sie haben recht, er hat geschrieben, wie man nur einem erprobten Freund schreiben kann nach 30 Jahren ungebrochener Freundschaft; aber vergessen Sie nicht, wie vorsichtig und ausweichend er ursprünglich reagierte. Sie sehen: ich habe ein schlechtes Gewissen." 2 1 Wahrscheinlich ahnte sie, daß Jaspers zwei Jahre brauchen würde, bis er sich zu einer Antwort entschloß. Es wurde ein langer, prinzipieller Brief, der die Kluft zwischen beiden nur noch vergrößerte. Hannah Arendt versuchte, alles zu tun, um Jaspers irgendwie mit Heidegger zu versöhnen, ihm zu erklären, daß dieser trotz aller politischer Uneinsichtigkeit immer noch ein großer Philosoph sei, denn auch daran hatte er zu zweifeln begonnen. Am 11. April 1952 teilte sie z. B. Blücher aus Basel mit, daß sie Jaspers die „letzten drei Tage" nicht mehr von Heidegger losbekommen habe und sie ihm „begreiflich" 41*

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machen mußte, „dass dessen neueren Sachen kein ,Quatsch' sind, auch wenn alle ,vernuenftigen Leute' das sagen". 2 2 Aber am 1. 8. 1952 hören wir, daß alles, was sie „fuer Martin zu erreichen geglaubt hatte, eben doch nicht klappen wird. Da ist nichts mehr zu machen. Er sieht nur das ,Unheil' und nicht die andere Seite der Medaille. Oder die andere Seite nur minutenweise, solange ich da bin." 2 3 Sie hatte sich gerade im Mai mit Heidegger versöhnt, obwohl sie Elfriedes Eifersuchtsszenen mit antisemitischem Einschlag über sich ergehen lassen mußte. Sie hielt dies aber alles für „unwichtig. Denn er ist", schreibt sie am 24. Mai 1952 aus Freiburg an Blücher, „in grossartigster Form. Er hat mir die groessten Stuecke des Kollegs, auf das er sich in ruehrendster Form vorbereitet, schreibt ein Kolleg immer zweimal, viele Seiten vier- und fuenfmal vorgelesen. Das ist sehr viel akademischer als die ,Extrakte', die er im Vortraegen vorgelegt hat - wie etwa Das Ding oder einen herrlichen Vortrag ueber ,Dichterisch wohnet der Mensch', den ich mitbringe - aber doch nicht mehr akademisch. Es ist als ob er seine Mitte so sicher gefunden hat, dass er jederzeit anfangen kann, ueberall, alles haengt zusammen und nichts setzt das andere voraus. Weder Willkuer noch Notwendigkeit des Anfangs, sondern wirkliche Freiheit. Traegt mit grosser Ruhe, ganz unpathetisch, eigentlich gelassen vor; der Hoersaal zum Brechen voll, aber er hat eine Reihe mit Sitzen reserviert, so dass keine Schwierigkeit war. Die beiden anderen groessten Hoersaele der Universitaet ebenfalls fuer die Uebertragungen gefuellt." 2 4 Sie empfindet die plötzliche Nähe als ein Wagnis für sich selber, sie wollte ja die alten Leiden nicht noch einmal durchmachen, aber sie meint: „ein bisschen klueger bin ich doch geworden, denn sonst haette ich es nicht geschafft. Ich habe das Gefuehl, ich kann es mir leisten", erläutert sie Blücher, sie hat jedoch zugleich das Gefühl, daß sie sich „weiss Gott ein starkes Stueckchen leiste. Dagegen steht nur, mich vollkommen ueberzugend aber niemandem sonst ja eigentlich zugaenglich, die Gewissheit einer fundamentalen Gutartigkeit, einer mich immer wieder erschuetternden Zutraulichkeit (anders kann ich es kaum bezeichnen), die voellige Abwesenheit sobald er mit mir zusammen ist von all den Dingen, die sich sonst wohl leicht vordraengen, seine echte Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit. Solange die Produktivitaet anhaelt, ist keine Gefahr; Angst habe ich nur vor den bei ihm ja immer eintretenden Depressionen. Dagegen versuche ich jetzt vorzubeugen. Vielleicht erinnert er sich dann, wenn ich nicht mehr da bin." 2 5 Sie ist auch äußerst besorgt, was geschehen wird, wenn die Söhne das Haus verlassen werden. Seine Frau kümmere sich zu wenig um sein Werk. 50000 Seiten würden ungetippt in Meßkirch daliegen. So nah scheinen sie sich in den folgenden Jahren nicht mehr gekommen zu sein. Das Gegenteil ist eher anzunehmen. Hannah Ahrendt sieht in ihm mit zunehmendem eigenem Ruhm immer mehr einen Mann, der ihre geistige Tätigkeit als einen quasi feindlichen Akt empfindet. Sie glaubt, daß er sie nur dann anerkenne, wenn sie ihm zuhöre und auf seine eigenen Überlegungen eingehe. Leider kennen wir die Briefe an sie nicht, denn sie muß ihn in dieser Hinsicht nicht unbedingt richtig eingeschätzt haben. Heideggers Philosophie spielt für Hannah Arendt eine viel größere Rolle, als man gemeinhin annimmt. Sie ist für sie als Wissenschaftlerin immer wieder eine große Herausforderung, obwohl sie sich nur selten mit ihr direkt auseinandersetzte, wie etwa

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in ihrem Essay „Was ist Existenz-Philosophie?" von 1946. Dort führt sie aus, wie Heidegger gegen Kant, der die alte Seinsphilosophie zerstört habe, wieder eine Ontologie zu schaffen suche. Sie gibt m. E. keine Antwort darauf, ob ihm dies gelungen ist, doch darum geht es ihr auch nicht. Ihr Ziel ist es vielmehr, auf die Probleme zu verweisen, die mit Heideggers Fragestellung verbunden sind, und zu zeigen, daß in seiner Philosophie der kantische Begriff des Menschen, der auch immer zugleich die Menschheit repräsentiert, verlorengegangen ist. An seine Stelle sei das Selbst getreten, dessen „Erfahrung der schuldigen Nichtigkeit gerade darauf" beruhe, „die Anwesenheit der Menschheit in jedem Menschen zu vernichten. Das Selbst hat sich als Gewissen an die Stelle der Menschheit gesetzt und das Selbstsein an die Stelle des Menschseins". 26 Am Ende ihrer kurzen Ausführungen über Heidegger konstatiert sie, daß dieser in seinen Vorlesungen in den späten dreißiger und vierziger Jahren versucht habe, „seinen isolierten Selbsten in mythologisierenden Unbegriffen wie Volk und Erde wieder eine gemeinsame Grundlage nachträglich unterzuschieben". Es sei aber evident, derartige „Konzeptionen nur aus Philosophie heraus- und in irgend einen naturalistischen Aberglauben hineinführen zu können. Wenn es nicht zum Begriff des Menschen gehört, daß er mit anderen, die seinesgleichen sind, die Erde zusammenbewohnt, bleibt nur eine mechanische Versöhnung, in der den atomisierten Selbsten eine ihrem Begriff wesentlich heterogene Grundlage gegeben wird. Dies kann nur dazu dienen, die nur sich wollenden Selbste in einem Überselbst zu organisieren, um die in der Entschlossenheit ergriffene grundsätzliche Schuld irgendwie in die Praxis überzuleiten." 2 7 Hannah Arendt hat später, soweit ich übersehe, diese Argumente nicht mehr zumindest in dieser Form - ins Spiel gebracht, aber die kantische Idee, daß jeder einzelne Mensch die Menschheit repräsentiere und „es seit der französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte zum Begriff des Menschen gehöre, daß in jedem Einzelnen die Menschheit geschändet oder gewürdigt werden konnte" 2 8 , sollte ein Grundmotiv ihres weiteren Denkens bilden. Auf diese Weise ist es ihr möglich, die menschliche Pluralität zu einem Grundprinzip unseres Daseins zu erklären. Nach ihrer Meinung bewege sich die Jasperssche Philosophie in diese Richtung. Bei Jaspers, schreibt sie am Ende ihres Essays „Was ist ExistenzPhilosophie?", sei die Existenz selbst „wesensmäßig nie isoliert", sie sei stets „in Kommunikation und im Wissen um andere Existenzen. Die Mitmenschen sind nicht (wie bei Heidegger) ein zwar strukturell notwendiges, aber das Selbstsein notwendig störendes Element der Existenz; sondern umgekehrt nur in dem Zusammen der Menschen in der gemeinsam gegebenen Welt kann sich Existenz überhaupt entwickeln. In dem Begriff der Kommunikation steckt im Grunde ein nicht voll entwickelter, aber im Ansatz neuer Begriff der Menschheit als der Bedingung für die Existenz des Menschen. Innerhalb des umgreifenden' Seins jedenfalls bewegen sich die Menschen miteinander; und sie jagen weder dem Phantom des Selbst nach, noch leben sie in dem hybriden Wahn, das Sein überhaupt zu sein. Durch die dem Menschen wesentliche Bewegung des denkenden Transzendierens und des damit verbundenen Scheiterns des Denkens ist zumindest soviel erreicht, daß der Mensch als ,Herr seiner Gedanken' nicht nur mehr ist als alles, was er denkt - und dies wäre wahrscheinlich die Grundbedingung für eine neue Definition der Menschenwürde;

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sondern auch daß der Mensch von vornherein als ein Wesen bestimmt ist, das mehr ist als sein Selbst und mehr will als sich selbst. Damit ist die Existenz-Philosophie aus der Periode ihrer Selbstischkeit herausgetreten". 29 Mit dieser Spitze gegen Heidegger endet sie ihren Essay. Hier kündigt sich aber auch schon einiges an, was wir später in der „Vita activa" ausgeführt finden, in der das Handeln zum Grundmerkmal menschlichen Daseins erklärt wird. Es ist im Unterschied zum Arbeiten und Herstellen jene Tätigkeit, „die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt". 30 Wir handeln, wenn wir zusammenkommen, und versuchen, gemeinsam durch Diskussion und Vereinbarung unser Zusammenleben zu gestalten, d. h. ein politisches Gemeinwesen zu gründen und um dessen Fortleben Sorge zu tragen. Handeln können wir nur in der Öffentlichkeit, und zwar in einer solchen, in der alle ebenbürtig sind und keiner auf seine Individualität zu verzichten braucht. Während die Arbeit ein nie endenwollender Prozeß ist, gibt es beim Herstellen einen Anfang und einen Abschluß, nämlich wenn das Werk vollendet ist und sein Eigenleben zu existieren beginnt. Das kennzeichnende Merkmal des Handelns ist dagegen der Anfang. Wir machen z. B. einen Vorschlag in der Versammlung, dies und jenes zu tun, was - wenn er befolgt wird - zu etwas führt, dessen Konsequenzen wir nicht absehen können. Wir ergreifen eine Initiative zu etwas, d. h. beginnen etwas Neues, in das andere verstrickt werden, die entweder das Begonnene fortsetzen oder es aufzuhalten versuchen, ohne aber die ersten Schritte ungeschehen machen zu können. Handeln ist mit dem nicht Absehbaren, dem Ungewissen, dem Risiko verbunden; mehr noch, jedes Handeln birgt die Gefahr der Maßlosigkeit in sich, weswegen die Griechen nicht müde wurden, vor der Hybris zu warnen. Gegen diese stets drohende Gefahr gibt es nach Hannah Arendt nur ein Mittel: die gegenseitigen Versprechen und geschlossenen Abkommen stets einzuhalten, Verträge als heilig anzusehen und, wenn sie einmal übertreten worden sind, die Bereitschaft zum Vergeben und Sich-Vergeben-Lassen aufzubringen. Nur auf diese Weise ist ein Zusammenleben im Dialog möglich. Politisches Handeln kann dann auf jegliche Gewalt, die sich durch Sprachlosigkeit auszeichnet, verzichten. Hannah Arendt verbindet das Handeln nicht nur mit dem „Faktum der menschlichen Pluralität", mit dem Umstand, daß wir uns voneinander unterscheiden und trotzdem miteinander leben müssen, sondern auch mit der Tatsache, daß der Neuanfang ein Grundmerkmal unseres Daseins bildet. Sie stellt hier dem Heideggerschen „Sein zum Tode" eine Philosophie der Natalität entgegen. Wir werden nicht nur in eine Gesellschaft hineingeboren, sondern wollen in ihr auch etwas ausrichten. Weil jeder Mensch aufgrund seines Geborenseins ein „initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist", schreibt Hannah Arendt, „können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen". 3 1 Sein Geboren-Sein hat mit dem Anfang das gemein, daß es gewissermaßen „unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht", vor allem wenn wir in Betracht ziehen, daß jeder Mensch in seiner Art einmalig ist. Wenn wir auch den Zeitpunkt seiner Geburt berechnen können, so wissen wir doch nicht, was er Neues in die Welt bringen wird. Und er wird sich keinem Vorher verpflichtet fühlen, sondern die Welt neu einrichten wollen". In ihm, in jedem Menschen wird im Grunde genommen, wie Han-

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nah Arendt in „Vita activa" formuliert, „noch einmal der Schöpfungsakt Gottes wiederholt und bestätigt; will man den Jemand, der einzigartig in jedem neuen Menschen in die Welt kommt, bestimmen, so kann man nur sagen, daß es in bezug auf ihn vor seiner Geburt ,Niemand' gab. Handeln als Neuanfang entspricht der Geburt des Jemand . . , " 3 2 Die Natalität macht den Menschen zu einem Individuum, das der Freiheit fähig ist, d. h. imstande ist, aus der Notwendigkeit auszubrechen. Er wird nicht geboren, um zu sterben, um zum Tode zu sein, sondern um etwas Neues anzufangen, zu handeln. Im Handeln ist der Mensch nie ein Einzelner, das ist er im „Denken". Hannah Arendt begann intensiv über die Rolle des Denkens im menschlichen Leben zu reflektieren, nachdem sie erfahren mußte, daß Eichmann als Person keineswegs die Inkarnation des Bösen war, sondern ein Mensch, dem es einfach an Vorstellungskraft fehlte, der sich vor allem durch Gedankenlosigkeit auszeichnete. Es ist so, als würde das Unterlassen von Denken, Nachdenken, Anmelden von Zweifeln mit der Fähigkeit zu Untaten von riesigem Ausmaß Hand in Hand gehen. Nun waren es ja die Philosophen, begonnen mit Plato, die, wie Hannah Arendt mehrmals ausführte, das Denken dem Handeln und der Sphäre der Erscheinungen entgegensetzten. Sie trugen zur Zerstörung des Raums der Öffentlichkeit bei. Das Viele sollte dem Einen unterworfen werden, auch in politischer Hinsicht, wie uns Plato in seinem „Staat" demonstriert hat. Nach Hannah Arendt sollte man aufhören, das Denken den Philosophen zu überlassen und vor allem wäre die Relation zwischen Denken und Handeln, vita activa und vita contemplativa neu zu bestimmen. Gerade darum ging es ihr in der Vorlesungsreihe über das Leben des Geistes. Leider unterbrach der Tod ihre Arbeit, denn das Lösungsangebot sollte der dritte Teil über das Urteilen bringen. Es würde uns sicher heute noch beschäftigen, wie wir aus dem Wenigen schließen können, das wir aufgrund ihrer Kant-Vorlesung in New York kennen. Ihre Vorlesung über das „Wollen" hatte sie überraschenderweise mit Heideggers „Wollen zum Nicht-Wollen" beendet, ehe sie später noch einen zusammenfassenden Schluß hinzufügen sollte. Ihr Hauptinteresse galt dort Heideggers Kehre, die ihrer Meinung nach mit seinen Nietzsche-Vorlesungen einsetzte und in seiner Theorie der Gelassenheit ihre denkerische Kulmination fand. Heidegger war zu dem Schluß gekommen, daß Nietzsches Wille zur Macht im Wesen ein zerstörerischer ist, wogegen sich seine „ursprüngliche Kehre" wendet. „Nach dieser Deutung", schreibt Hannah Arendt, „ist das eigentliche Wesen der Technik der Wille zum Wollen, nämlich die ganze Welt seiner Herrschaft zu unterwerfen, dessen natürliches Ende nur die vollständige Zerstörung sein kann. Die Alternative zu einer solchen Herrschaft ist das ,Seinlassen', und Seinlassen als Tätigkeit ist Denken, das dem Ruf des Seins folgt. Die Stimmung, die dieses Seinlassen des Denkens durchwaltet, ist das Gegenteil der Stimmung der Zweckhaftigkeit beim Wollen; später, in seiner Neudeutung der ,Kehre', spricht Heidegger von ,Gelassenheit', die dem Seinlassen entspricht und ,bereit macht' auf ein ,Denken, das nicht ein Wollen ist'. Dieses Denken steht,jenseits des Unterschiedes zwischen Aktivität und Passivität, weil es jenseits des ,Reiches des Willens' steht.. , " 3 3 Hannah Arendt fragt sich, ob wir es hier nicht mit einem völlig verwandelten

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Heidegger zu tun haben, wohinter die insgeheime Hoffnung steht, daß ihr einstiger Lehrer durch Gedanken über das Handeln als etwas vom Denken Unterschiedenes gedacht haben könnte. Sie vermutet, daß es da noch Unveröffentlichtes gibt, das uns vielleicht überraschen wird. Das bisher Vorliegende (d. h. bis zur Mitte der siebziger Jahre) gäbe uns allerdings keine Handhabe zu dem Urteil, daß Heidegger in seinem Denken eine radikale Kehre vorgenommen haben könnte. Trotzdem endet Hannah Arendt ihre Vorlesung mit den Worten: „Doch ob wir nun darin eine Variante oder nur eine Variation desselben Themas erblicken, Heideggers Kritik des Selbsterhaltungstriebs (der allen Lebewesen gemein ist) als eines willentlichen Aufstands gegen die ,Ordnung' der Schöpfung als solcher ist in der Ideengeschichte etwas so Seltenes, daß ich hier die einzige mir bekannte ähnliche Äußerung anführen möchte, drei wenig bekannte Zeilen Goethes aus einem um 1821 entstandenen Gedicht mit dem Titel ,Eins und Alles' Das Ewige regt sich fort in allen: Denn alles muß in Nichts zerfallen, Wenn es im Sein beharren will." 34 Prof. Dr. Karol Sauerland, ul. Nowogrodska 23/6, PL - 00-511

Warszawa/Polen

Anmerkungen 1 Hannah Arendt: „Martin Heidegger ist achzig Jahre alt", in: Merkur, Heft 10/1969, S. 893-902; zitiert nach Walter Biemel: Martin Heidegger in Selbstzeugnissen und Dokumenten, Reinbeck bei Hamburg 1973, S. 12 f. 2 Ebd., S. 14. 3 Das Manuskript von „Die Schatten", ebenso wie die noch unveröffentlichten Briefe, befindet sich unter Arendts Papers, Libraray of Congress, Washington D. C.; hier zitiert nach: Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/Main 1986, S. 95f. 4 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986, S. 186. 5 Ebd., S. 187. 6 E. Young-Bruehl: Hannah Arendt, a. a. O., S. 92. 7 Ebd., S. 99. 8 M. Heidegger: Sein und Zeit, a. a. O., S. 9 R. M. Rilke: Sämtliche Werke, Bd. I, Frankfurt/Main 1987, S. 687. 10 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München/Zürich 1983, S. 59. 11 Ebd., S. 60. 12 Hannah Arendt/Karl Jaspers: Briefwechsel 1926-1969, hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München/Zürich 1985, S. 79. 13 Ebd., S. 84. 14 Ebd., S. 99. 15 Ebd., S. 176f. (Brief vom 1. 9.1949) 16 Ebd., S. 178 (Brief vom 29. 9.1949) 17 Arendt an Blücher, 18.12.1949, Library of Congress. 18 Martin Heidegger/Karl Jaspers: Briefwechsel 1920-1963, hrsg. von Walter Biemer und Hans Saner, Frankfurt/München/Zürich 1990, Heidegger an Jaspers, 7. 3. 1950, S. 196. 19 Arendt an Blücher, 8. 2.1950, Library of Congress.

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Jaspers an Arendt, a. a. O., S. 665 f. (Brief vom 9. 3.1966) Ebd., S. 204. (Arendt an Jaspers, 4. 3.1951) Arendt an Blücher, 11. 4. 1952, Library of Congress. Arendt an Blücher, 1. 8.1952, Library of Congress. Arendt an Blücher, 24. 5. 1952, Library of Congress. Ebd. Hannah Arendt: „Sechs Essays", Heidelberg 1948, S. 73. Ebd. Ebd. Ebd., S. 80. Hannah Arendt: Vita activa oder vom täglichen Leben, München 1981, S. 14. Ebd., S. 166. Ebd., S. 167. Hannah Arendt: „Vom Leben des Geistes, Band II. Das Wollen, München 1979, S. 170. Ebd., S. 185.

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Das gestohlene Exil Von DIETER THOMÄ (Paderborn) Wo hat Heidegger gelebt? „Die Hirten wohnen unsichtbar und außerhalb des Ödlandes der verwüsteten Erde", schrieb er im Jahre 1946, als Europa in Trümmern lag. Nicht als „Herr des Seienden", als „Hirt des Seins" verstand sich der „Mensch" Heidegger, aber wo war seine Weide? Sie war woanders. Als einer der „Wenigen", der „Machtlosen", die das „eigentliche (...) Denken" betrieben, lebte er - nach einem Wort aus dem Jahr 1959 - „in Reservationen"' wie „die Indianer". Die „alte Bodenständigkeit" war „verloren", doch gab es die Hoffnung, daß „ein neuer Grund und Boden den Menschen zurückgeschenkt" werde. 1 Wenn dies Heideggers Nachkriegs-Szenario war - wie war sein NachkriegsLeben? Die letzten Kriegsmonate hatte er, wie Hugo Ott 2 berichtet, noch im Donautal bei Beuron verbracht, zu Gast beim Prinzen Bernhard von Sachsen-Meiningen in dessen Schloß Werenwag. Zurück in Freiburg, bekam er sofort den Druck der französischen Besatzungsmacht zu spüren: Seine Bibliothek war bedroht, sein kleines Haus am Rötebuck wurde beschlagnahmt. Im Frühjahr 1946 weilte Heidegger nach einem Nervenzusammenbruch in einem Badenweiler Sanatorium, und noch während des ganzen Jahres 1946, als er von den „Hirten außerhalb des Ödlandes" schrieb, währte der Streit um seine künftige Stellung in der Universität. Bekanntlich wurde ihm zunächst ein Lehrverbot erteilt, das schließlich 1950, als er seinen Siegeszug in der Nachkriegsphilosophie vor allem Deutschlands und Frankreichs bereits angetreten hatte, aufgehoben wurde. Das Szenario von Ödland und Indianerreservat, von Hirt und neuem Boden ist natürlich nicht persönlich gemeint, sondern philosophisch. Das Auf und Ab der Nachkriegsjahre war für Heidegger eher ein „Ab und Auf", bürgerlich ausgedrückt: eine Erfolgsgeschichte. Auf diesen Erfolg gab er freilich nicht viel, für ihn dauerte die „Nacht" noch an, durch die wir „hindurchmüssen" 3 , die wahre „Gefahr" - die der „Technik" 4 - galt es erst noch zu bestehen. Daß Heidegger in der „Technik" die wahre Bedrohung des Zeitalters sah, ist ihm als weitsichtige Diagnose gutgeschrieben worden. Auch auf die Kehrseite dieser Lesart der Moderne hat man hingewiesen. Wenn nämlich Zerstörung und Vernichtung im seinsgeschichtlichen Weitwinkelobjektiv gesehen werden, wird das konkrete Leiden der Menschen leicht zum Detail, zur Episode herabgewürdigt. In der „Weltnacht" 5 , die Heidegger angebrochen sieht, sind alle Opfer grau. Besonders deutlich machte dies seine zum Skandal gewordene Bemerkung 6 aus

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dem Jahre 1949, der „Ackerbau" als „motorisierte Ernährungsindustrie" sei „im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern". Man kann - zu Recht - den anklagen, der die Vereinheitlichung der Zerstörung zur Kenntnis nimmt und sich nicht mal mehr den Anschein gibt, im „Seinsgeschick" um das einzelne Schicksal noch bemüht zu sein. Aber der zweite, vielleicht sogar größere Skandal in Heideggers Lesart der Epoche liegt woanders und ist noch unentdeckt. Kriminalistisch gesehen, macht er sich des Diebstahls schuldig. Im folgenden möchte ich Heidegger zunächst bei einer vorbereitenden Maßnahme beobachten, dann einem möglichen Mißverständnis vorbeugen und schließlich den Tathergang schildern. Daß Heidegger 1946 den „totalen Staat" in einem Atemzug mit der „modernen Wissenschaft" zu „notwendigen Folgen des Wesens der Technik" erklärt 7 , hilft ihm auch selbst. Er schafft sich damit philosophisch eine neue Distanz zum NS-Regime. Wenn einst die „Bewegung" und der „Staat", für die er 1933/34 als Freiburger „Führer-Rektor" gekämpft hat, dem „Ursprünglichen", dem „Erd- und Bluthaften" verpflichtet waren, so erscheinen sie damit nachträglich als etwas völlig anderes als ein Nationalsozialismus, der nun allein „technisch" zu verstehen sein soll. Als Täter meint sich Heidegger jedenfalls nicht mehr rechtfertigen zu müssen. Diese Entlastung von der Vergangenheit ist eine gute Vorbereitung für neue Wege. Doch zugleich sieht Heidegger sich nun selbst an den Rand gedrängt von denen, die nach der Rassenzüchtung auf Genforschung, nach der Raketentechnik nun auf Atomkraft setzen, die, anders gesagt, die Herren des „Ödlandes" sind. Sich in höherer Einsicht an den Rand gedrängt zu fühlen, hat unter den Deutschen schon länger zum guten Ton gehört. Wer sich dem Zeitgeist entgegenstellen wollte, sah sich mit Gleichgesinnten immer gerne in „einige wenige auserlesene Zirkel" (Schiller) geraten. In Heideggers Strategie geht es aber nicht bloß um exterritoriale Verschworenheit, er will nicht „in einem Nebenbau einen abgesonderten Aufenthalt" fristen. 9 Während die „Organisation eines gleichförmigen Glückszustandes aller Menschen" auf dem Vormarsch ist, sieht er sich vielmehr gerade als einsamer Denker „eigentlicher Not", „schärfster Gefahr" ausgesetzt. 10 Die Frage ist, wie er dies durchsteht, anders gesagt: wohin er sich rettet. Man hat viel über Heideggers Schwarz- und Hinterwäldlertum gelästert und gemeint, angesichts der „Technik" fliehe er einfach zu dem „Heilen einer Heimat" 1 1 , von dem durchaus auch bei ihm die Rede ist. Wer ihn auf diese Weise in die provinzielle Ecke abschiebt, hat freilich einen zu leichten Sieg errungen. Daß er selbst betont 1 2 , „Heimat" sei nicht mehr einfach so als intakter Raum erhalten, ist nicht nur eine Schutzbehauptung, um die Heimatvereine auf Abstand zu halten. Die „Heimatlosigkeit" gilt ihm als ein „Weltschicksal" 13 , das „Ge-Stell" der Technik geht uns nach Heidegger nicht nur in der Großstadt, sondern „überall unmittelbar an". 1 4 Zwar gibt er die „Heimat" nicht verloren, das „Land" aber, das er sucht, der „neue Grund und Boden" ist nicht schon irgendwo zugänglich, sondern erst zu entdecken oder zu „bergen". Mag auch die „Heimat", wie sie ist, nicht weiterhelfen, so könnte man im Sinne Heideggers sagen, er rette sich in das „Wesen" der Heimat, anders gesagt: ihm gehe

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es u m eine „Besinnung" auf das eigentliche „Germanien". Gegen die „planetarischen" Umtriebe der Technik setzt er in der Tat bis in seine späten Jahre auf das „Anfängliche", das allein die Deutschen zu „retten" hätten. 1 5 Mit dieser m e r k w ü r digen Fixierung auf „Germanien" schafft er gemäß der Deutung von Alexander Garcia D ü t t m a n n 1 6 eine geschichtliche Einheit, neben der nichts anderes mehr Bestand haben kann. Nach D ü t t m a n n ist es insbesondere das „Auschwitz" Adornos, das beziehungslos neben d e m „Germanien" Heideggers stehen bleiben m u ß . Darin genau liegt meines Erachtens ein Mißverständnis, das es zu meiden gilt. Zwischen jenen beiden geschichtsträchtigen „ N a m e n " herrscht nicht nur Fremdheit, Heidegger greift vielmehr bei seiner Konstruktion der zu rettenden „Heimat", des „Germaniens" auf etwas zurück, was mit „Auschwitz" zu tun hat - u n d diese Vere i n n a h m u n g ist es, die man auch Diebstahl nennen könnte. Hören wir nochmals, wie Heidegger selbst sich verortet, wohin er sich vor der „Technik" rettet. „Die Hirten", so schrieb er (s. o.), „ w o h n e n unsichtbar u n d außerhalb des Ödlandes der verwüsteten Erde", sie leben vorerst in „Reservationen" u n d suchen einen „neuen G r u n d u n d Boden". N i m m t m a n Heidegger beim Wort, so tritt er damit nicht anders auf als ein - freilich bloß gedanklicher - Nachfolger all derer, die als Flüchtlinge in der Nazizeit eben einen solchen Weg aus d e m „ Ö d l a n d " heraus gesucht haben. In seinem Nachkriegs-Szenario n i m m t er also - u n d das ist der entscheidende P u n k t - nichts anderes f ü r sich in A n s p r u c h als das Bild des Exils. Z u d e n Verfolgten gesellt sich wie ein Überläufer der Seinsdenker, der sich selbst die Ehre des Außenseiters zuerkennt, auch w e n n er nicht verfolgt ist. I n d e m der „ H i r t " Heidegger „außerhalb des Ö d l a n d e s " seinen Platz findet, reklamiert er f ü r sich in G e d a n k e n d e n Ort, der d e n D a v o n g e k o m m e n e n unter d e n O p f e r n geblieben ist. Wenn die Seele, wie er mit Trakl sagt, „ein Fremdes auf E r d e n " ist, so er läßt er dieses „ F r e m d e " doch „suchend auf d e n Ort zu(gehen), w o es als ein W a n d e r n d e s bleiben k a n n " . 1 7 - U n d w ä h r e n d J u d e n in Israel oder sonstwo „neuen G r u n d u n d Boden" suchen, betreibt Heidegger d e n Versuch philosophischer L a n d n a h m e auf d e u t s c h e m Boden. Er scheut vor d e m Versuch zurück, das d e m „Seinsgeschick" v e r d a n k t e randständig-bodenständige D e n k e n in einem Akt der Verbrüderung an die Seite der Exilierten z u stellen. Vielmehr setzt er es an deren Stelle. Das freilich ist noch schlimmer. Nicht nur, d a ß die O p f e r von Heidegger sprachlos u n d kalt übergangen w e r d e n , ist der Skandal, s o n d e r n d a ß er ihnen das Exil abspenstig macht, z u d e m sie sich vielleicht haben retten können. Er schweigt über das Ghetto u n d versetzt sich selbst ins „Indianerreservat". Die Juden, die d e m Dritten Reich entkomm e n sind, erleiden nach d e m Krieg im Reich der Philosophie d u r c h Heidegger eine zweite Vertreibung. Die Erfahrung, die zu ihrem Schicksal g e w o r d e n ist, wird ihnen gestohlen - u n d als Gedankenspiel jedem zugänglich, der sie sich w ü n s c h t . Das „Exil" wird nach „ G e r m a n i e n " eingemeindet. Damit erschließt Heidegger sich u n d d e n Deutschen scheinbar ganz unschuldig, im Pathos eigener Betroffenheit, einen Ort, der ihnen jedenfalls nach 1945 nicht zusteht. Sie d ü r f e n sich, sofern sie sich d e n n auf das Denken des „Seinsgeschicks" besinnen, als Leidtragende aufspielen.

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Heidegger hat über das Verfahren, das er hier angewandt hat, ungewollt selbst Auskunft gegeben in seiner Vorlesung „Was heißt Denken?". Im Herbst 1951 reflektiert er darin 1 8 den Unterschied zwischen „Vernichtung" und „Verwüstung" - im Anschluß an Nietzsches Wort „Die Wüste wächst". „Verwüstung", so sagt er, sei „unheimlicher als die bloße Vernichtung". Während es bei dieser in bloß destruktiver Energie darum geht, etwas zu beseitigen, damit hinterher „nichts" mehr da ist, zerstört die „Wüste" dadurch, daß sie sich über das Alte schiebt, darüber hinweggeht und dann so tut, als sei „nichts" gewesen. Sie macht etwas nebenbei zunichte. Im Heidegger-Deutsch ausgedrückt: Nichts als das „Unterbindende und Verwehrende" selbst „breitet" sich dann „aus". So gesehen ist die Wirkung von Heideggers Vereinnahmung des „Exil"-Themas „Verwüstung", nicht „Vernichtung". Man hat viel über Spuren des Antisemitismus bei Heidegger spekuliert und immerhin auch in seinem Umgang mit jüdischen Schülern und Kollegen einige wenige Belege dafür entdeckt. Neben diese persönlichen Zeugnisse tritt aber eine Haltung, die nicht als Antisemitismus, sondern vielleicht als A-semitismus gekennzeichnet werden kann: Heidegger denkt nicht gegen die Juden, sondern ohne sie. Er tut so, als wären sie nicht da. Von der Wirklichkeit eines Deutschlands nach Hitler ist dies nicht so weit entfernt. Wollte man sich empören, könnte man sagen, Heidegger würde den Völkermord nachträglich ratifizieren, indem er über die Juden schweigt und die „Hirten des Seins" an ihrer Stelle zu Außenseitern ermächtigt. Und ist das nicht eine gute Gelegenheit, empört zu sein? Dr. phil. Dieter Thomä, Universität - Gesamthochschule sophie), Postfach 1621, W - 4790

Paderborn,

Fachbereich

1 (Philo-

Paderborn Anmerkungen

1 M Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 97; ders.: Wegmarken, Frankfurt/M. 1967, S. 172; ders.: Aufzeichnungen aus der Werkstatt, Gesamtausgabe, Bd. 13, Frankfurt/M. 1983, S. 153; ders.: Gelassenheit, Pfullingen 1957, S. 23. 2 Vgl. H. Ott: Martin Heidegger, Frankfurt/M. 1988, S. 283ff. 3 So Heidegger brieflich an Stadelmann im Juli 1945, vgl. H. Ott: Martin Heidegger, a. a. O., S. 22. 4 M. Heidegger: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, S. 37f. 5 Ders.: Holzwege, Frankfurt/M. 1950, S. 246. 6 Bekannt gemacht von W. Schirmacher: Technik und Gelassenheit, Freiburg/München 1983, S. 25. Dieser Ausspruch führte zu einer z. T. gewaltigen Erschütterung bei den französischen Denkern, die sich als von Heidegger beeinflußt betrachten, so z. B. Lacoue-Labarthe, Lévinas, Blanchot, Lyotard. Vgl. zu jenem Ausspruch kritisch auch bei K. Harries: Verwahrloste Welt. Philosophie, Politik und Technik, in: Ch. Jamme/K. Harries (Hg.): Martin Heidegger. Kunst - Politik - Technik, München 1992; R. Wolin: Seinspolitik, Wien 1991; H. Ebeling: Martin Heidegger. Philosophie und Ideologie, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 149f.; D. Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, Frankfurt/M. 1990, S. 626 f. 7 M. Heidegger: Holzwege, a. a. O., S. 267. 8 Vgl. ders.: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, Frankfurt/M. 1983. 9 Ders.: Holzwege, a. a. O., S. 272.

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Dieter Thomä, Das gestohlene Exil

10 Ders.: Was heißt Denken? Tübingen 1954, S. 11; ders.: Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 162; ders.: Aus der Erfahrung des Denkens, Pfullingen 1954, S. 15. 11 Ders.: Die Kunst und der Raum, Gesamtausgabe, Bd. 13, a. a. O., S. 206. 12 Vgl. ders.: Dankansprache, Meßkirch 1969. 13 Ders.: Wegmarken, a. a. O., S. 170. 14 Ders.: Identität und Differenz, Pfullingen 1957, S. 26. 15 Ders.: Heraklit, Gesamtausgabe, Bd. 55, Frankfurt/M. 1979, S. 123. 16 A. Garcia Düttmann: Das Gedächtnis des Denkens, Frankfurt/M. 1991. 17 M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 41. 18 Ders.: Was heißt Denken?, a. a. O., S. 11.

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Philosophie, Grammatik und Rhetorik bei Paul de Man Von DIETER FREUNDLIEB (Brisbane/Australien) Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten, wo Paul de Man, besonders in den siebziger und frühen achtziger Jahren, einen starken Einfluß auf die Literaturwissenschaft ausübte, haben seine Arbeiten in Deutschland bisher ein weit weniger ausgeprägtes Echo gefunden. Zum einen ist dies wohl mit der in Deutschland seit einigen Jahren verbreiteten allgemeinen Theoriemüdigkeit verbunden, zum anderen läßt sich der relativ geringe Einfluß de Mans vielleicht auch aus der Tatsache erklären, daß der französische Dekonstruktionismus, den de Man zumindest seit den siebziger Jahren vertreten hatte, trotz (oder wegen?) seiner deutschen Wurzeln in Nietzsche und Heidegger, in Deutschland generell auf sehr viel mehr Ablehnung gestoßen ist als in Amerika. Auch die in Amerika heftig geführte Auseinandersetzung zwischen Dekonstruktionisten und deren Gegnern anläßlich der Aufdeckung de Mans früher kollaborationistischer Tätigkeit als Mitarbeiter der belgischen Zeitung Le Soir hat in Deutschland weit weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 1 Dennoch läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs mit Sicherheit sagen, daß de Mans Ideen zur Theorie und Interpretation literarischer Texte in Deutschland keinerlei Zukunft mehr haben. Im Jahr 1990 erschienen zum Beispiel zwei längere Aufsätze zu de Man 2 , und die vor wenigen Jahren publizierte deutsche Ubersetzung von Allegories of Reading,3 obwohl sie nur einen Teil der englischen Originalausgabe enthält, mag das ihre dazu tun, de Mans Arbeiten einem weiteren Leserkreis zu öffnen und so den Weg zu erneuten Diskussionen ebnen. Die folgenden Ausführungen zum Verhältnis von Grammatik und Rhetorik bei Paul de Man haben unter anderem das Ziel, einer solchen Diskussion einige weitere Anstöße zu geben, dabei aber gleichzeitig vor einer vorschnellen und unkritischen Übernahme von de Mans Literaturtheorie zu warnen. Paul de Mans literaturtheoretisches Werk ist von seinen Anhängern immer wieder wegen seiner angeblichen intellektuellen Strenge und Rigorosität gepriesen worden. Christopher Norris, zum Beispiel, wird nicht müde, auf de Mans „rigour" hinzuweisen. 4 Aber auch hier ist eine genauere Prüfung angebracht. Der Eindruck intellektueller Strenge beruht weitgehend darauf, daß de Man gewillt ist, gewisse Aporien, die er in der Sprache der Literatur sowie in der Sprache überhaupt entdeckt zu haben glaubt, bis in ihre letzten logischen Konsequenzen zu verfolgen. Eine eingehendere Analyse könnte allerdings zeigen, daß diese Aporien selbst die Folge bestimmter, auf Nietzsche beruhender erkenntnistheorethischer Prämissen

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sind, die keineswegs zwingend sind. Dennoch ist es notwendig, sich mit de Mans Argumenten auseinanderzusetzen. Eine Verdammung seines Werks ohne eingehende Prüfung wäre ebenso verfehlt wie dessen unkritische Übernahme. 5 Der folgende Aufsatz setzt sich im wesentlichen zum Ziel, Paul de Mans Aussagen zum Verhältnis von Grammatik und Rhetorik vor allem am Beispiel eines seiner Aufsätze, und zwar dem ersten Aufsatz in der Sammlung Allegories of Reading mit dem Titel „Semiology and Rhetoric", zu erläutern und zu kritisieren. Diese bewußte Beschränkung auf einen kleinen Teil von de Mans Schriften wird es mir erlauben, seine Argumente weitaus detaillierter zu analysieren, als dies in anderen Aufsätzen zu den Man gemeinhin geschieht. 6 Aber bevor wir uns der Diskussion des Aufsatzes „Semiology and Rhetoric" zuwenden, möchte ich einige mehr allgemeine einleitende Bemerkungen zu de Mans Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie machen, da nur auf deren Hintergrund de Mans Argumente zu verstehen sind, selbst wenn es so etwas wie eine detailliert ausgearbeitete Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie in de Mans Werk nicht gibt. De Mans Nachkriegswerk - es handelt sich dabei im wesentlichen um eine Reihe von Aufsatzsammlungen, die unter den Titeln Blindness and Insight.7 Allegories of Reading8, The Rhetoric of Romanticism,9 und The Resistance to Theoryw erschienen sind - läßt sich grob in zwei Phasen einteilen: eine existenzialistisch-phänomenologische und eine dekonstruktionistische. Während der ersten Phase, in der sich besonders der Einfluß von Sartre und Heidegger, aber auch von Hegel und Husserl feststellen läßt, geht es de Man vor allem darum zu zeigen, daß zwischen der Welt des menschlichen Geistes und der Welt der äußeren Natur ein unüberbrückbarer Zwiespalt besteht und daß alle Versuche, diesen Zwiespalt mit sprachlich-ästhetischen Mitteln zu überbrücken, zum Scheitern verurteilt sind. Die einzig authentische Einstellung des Dichters wie auch des Literaturwissenschaftlers zu diesem Sachverhalt ist für de Man die Anerkennung dieser unüberwindbaren Kluft. Verbunden mit diesem ontologischen Dualismus von Geist und materieller Welt ist bereits hier ein radikaler erkenntnistheoretischer Skeptizismus, der für de Man zur Folge hat, daß wir extenziell beständig vor einer Leere oder einem Nichts stehen und daß es die Aufgabe der Dichtung ist, uns immer wieder dieses Nichts vor Augen zu führen. Wie es scheint, geht de Man hier zumindest implizit von einer idealistisch-subjektphilosophischen Vorstellung aus, nach der die Außenwelt völlig durch subjektive Erkenntnisstrukturen bestimmt ist und daher in ihrem eigentlichen Sein für immer unerkennbar bleibt. Mit Bezug auf die Sprache behauptet de Man aber zugleich auch, daß schon die Zeichen selbst in gewisser Weise unerkennbar sind, was er gewöhnlich etwas irreführend als das „Nichtzusammenfallen" (non-coincidence) von Zeichen und Bedeutung bezeichnet. Sein Sprachgebrauch ist aber hier keineswegs einheitlich, da er nicht immer eindeutig zwischen Zeichenbedeutung und Zeichenreferent unterscheidet. De Mans radikaler erkennistheoretischer Skeptizismus führt ihn nun unter anderem zu einer Neuinterpretation der Romantik und der romantischen Ästhetik, und damit verbunden auch zu einer Neueinschätzung des Verhältnisses von Symbol und Allegorie. Während nach traditioneller Vorstellung in der Romantik der symbolischen Darstellung ein besonders hoher Wert zukommt, da sie es erlaubt, begriff-

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liehe und sinnlich-konkrete Dastellung miteinander zu vereinbaren, und das heißt die als schmerzlich empfundene Kluft zwischen Innen- und Außenwelt bis zu einem gewissen Grad zu überwinden, will de Man zeigen, daß sich vor allem die Frühromantiker über die gänzliche Unvereinbarkeit der beiden Bereiche im klaren waren und daß aus diesem Grund die Allegorie eine Aufwertung erfahren muß. Anders als das Symbol, das eine Identität von Geist und Natur oder zumindest eine Versöhnung der beiden Bereiche anstrebt, indem es sich dem darzustellenden Gegenstand ontologisch gleichzumachen sucht, ist die Allegorie, von de Mans Standpunkt aus betrachtet, gewissermaßen ehrlicher, da ihre Bedeutung nach de Man rein konventionell ist und sie somit nicht der ästhetischen Illusion einer Versöhnung von Ich und Nicht-Ich oder von Subjekt und Objekt nachjagt. Das allegorische Zeichen bezieht sich darüber hinaus laut de Man nie auf einen außersprachlichen Gegenstand, sondern immer nur auf andere Sprachzeichen. Es wird schließlich von de Man fast völlig auf eine rein temporale Beziehung zwischen Zeichen reduziert, die eigentlich gar keine eigenständige Bedeutung mehr haben. Literarische Sprache wird von de Man definiert als diejenige Sprache, die sich ihres selbstbezüglichen Charakters sowie der Tatsache bewußt ist, daß eine Versöhnung oder gar eine Identität zwischen Mensch und Natur ausgeschlossen ist. Wann immer eine solche Versöhnung angestrebt und als möglich in Aussicht gestellt wird, handelt es sich nach de Man, zumindest wenn man seine spätere Terminologie heranzieht, um ästhetische Ideologie. 11 In seinem späteren Werk, das von dem Einfluß Derridas - aber auch von Nietzsche als einem der großen dekonstruktionistischen Ahnherren - geprägt ist, radikalisiert sich de Mans Haltung noch um einige Grade. Das Subjekt hat nun nahezu alle Autonomie verloren und ist konstituiert in und durch Sprache. Die Sprache selbst gibt zwar vor, auf Wirklichkeit zu referieren, aber diese Referenz kann niemals gelingen. Wie schon im Strukturalismus, hat sprachliche Bedeutung nach de Man letztlich nichts mit einem Bezug auf außersprachliche Dinge zu tun, sondern ist allein das Resultat von differentiellen Beziehungen zwischen Zeichen. Saussure nannte das die diakritische Natur des sprachlichen Zeichens. De Man übernimmt Saussures Zeichentheorie und verläßt sich im übrigen, wie mir scheint, ganz unkritisch auf die Friedrich Nietzsche zugeschriebene Sprachauffassung, nach der grundsätzlich alle Sprache metaphorisch ist, da sie individuell und nicht-identische Gegenstände der realen Welt nach Ahnlichkeits- und Identitätsgesichtspunkten begrifflich ordnet und damit notwendig verfälscht. Um es mit Nietzsche selbst zu sagen, „jedes Wort ist ein Vorurtheil" 12 . In diesem Zusammenhang entwickelt de Man nun einen Gegensatz zwischen Metapher und Metonymie, der dem zwischen Symbol und Allegorie analog ist. Die Metapher ist durch das Prinzip der Substitution auf der Basis von Ähnlichkeit geregelt und damit immer noch bestrebt, zwischen Sprache und Realität zu vermitteln, obwohl es dort nach de Man eigentlich gar nichts Sprachunabhängiges zu vermitteln gibt. Die Metonymie hingegen beruht auf purer Kontiguität und operiert rein innersprachlich. De Man übernimmt damit weitgehend Roman Jakobsons Auffassung von Metapher und Metonymie. Während die Metapher paradigmatischen Prinzipien zugeordnet ist, ist die Metonymie eine Figur, die syntagmatischen Prin42

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zipien gehorcht. Die semantische Wirkungsweise dieser beiden rhetorischen Figuren in Texten bildet den Fokus der de Manschen Analysen, die ich nun etwas eingehender untersuchen will. De Man versteht unter Rhetorik keineswegs, wie etwa in der traditionellen Auffassung, die Kunst des Redens, sondern die semantische Funktion von figurativer und tropologischer Sprache, und zwar vor allem im Gegensatz zu solchen Satz- und Textbedeutungen, die allein aufgrund von grammatischen Regeln zustande kommen. Rhetorik wird also meistens außerhalb der Grammatik und sozusagen im Gegenzug zu ihr verstanden. Grammatik und Rhetorik - und das ist das charakteristisch dekonstruktionistische an dieser Gedankenfigur - liegen miteinander in einem unversöhnlichen Streit, und das heißt sie dekonstruieren sich gegenseitig und führen damit letztendlich zu einer unauflösbaren und damit aporetischen Unentscheidbarkeit der Textbedeutung. Da auch die Interpretation oder die „Lektüre" (reading), wie de Man lieber sagt, von dieser semantischen Unentscheidbarkeit erfaßt wird, entstehen weitere Aporien und Paradoxa, auf die de Man nicht müde wird immer wieder hinzuweisen. So sagt er zum Beispiel in einem späteren Aufsatz (Kapitel 9, Allegories fo Reading): "The paradigm for all tests consists of a figure (or a system of figures) and its deconstruction. But since this model cannot be closed off by a final reading, it engenders, in its turn, a supplementary figural superposition which narrates the unreadability of the prior narration".(205) De Man nennt solche „Erzählungen" zweiter oder dritter Ordnung "allegories of the impossibility of reading". (205) Auf diese Weise führt die rhetorisch aufmerksame Lektüre, und das heißt die Lektüre, die sich besonders dem Widerstreit zwischen Grammatik und Rhetorik zuwendet, immer wieder zu demselben Resultat, nämlich der Konstatierung einer letztendlichen „Unlesbarkeit" des Textes. Der Text selbst wird daher, wie bereits gesagt, zu einer Allegorie der Unlesbarkeit. Da manche rhetorischen Strukturen wie die Metonymie und die Allegorie von de Man auf die Seite der Grammatik geschlagen werden, entsteht gelegentlich eine gewisse Zweideutigkeit im Begriff der Rhetorik, deren man sich bewußt sein muß, wenn man de Man korrekt verstehen will. Der Gegensatz von Grammatik und Rhetorik ist nicht das einzige Phänomen in der Sprache, das dazu führt, daß Texte sich ständig selbst dekonstruieren, aber es ist für de Man ein sehr wesentliches. Die Aufgabe des Literaturwissenschaftlers, die sich der Funktion der rhetorisch relevanten Aspekte des Textes bewußt ist, ist es dann zu zeigen, auf welche Weise sich die Selbstdekonstruktion des Textes vollzieht. Wie das im einzelnen geschieht und ob es de Man gelingt, die Haltbarkeit seiner dekonstruktionistischen These zu erweisen, will ich im folgenden anhand von zwei Beispielen untersuchen, die de Man in seinem Aufsatz "Semiology and Rhetoric" behandelt. 1 3 De Man hat seinem Aufsatz über das Verhältnis von Grammatik und Rhetorik den Titel „Semiologie und Rhetorik" gegeben, weil er zunächst auf die Versuche von strukturalistischen Semiotikern zu sprechen kommt, die davon ausgehen, daß sich im Prinzip alle, also auch die durch rhetorische Figuren hervorgerufenen, Bedeutungsphänomene eines Textes innerhalb eines grammatischen Regelsystems erfassen lassen. De Man kommt es dagegen darauf an zu zeigen, daß zwischen

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Grammatik und Rhetorik keine Kontinuität, sondern ein echtes Spannungsverhältnis besteht, und daß dieses Spannungsverhältnis von Semiologen nicht gesehen oder nicht angemessen berücksichtigt wird. De Man beginnt mit der Analyse eines kurzen Dialogs zwischen dem Helden einer amerikanischen Fernsehkomödienserie, Archie Bunker, und seiner Frau Edith, in der es darum geht, wie Archie seine Kegelschuhe geschnürt haben will. De Mans Analyse des Dialogs ist in der de Man Literatur häufig kommentiert worden, und zwar oft recht unkritisch. Das folgende Zitat verdeutlicht, worum es geht. "I take the first example from the sub-literature of the mass-media: asked by his wife whether he wants to have his bowling shoes laced over or laced under, Archie Bunker answers with a question: "What's the difference?" Being a reader of sublime simplicity, his wife replies by patiently explaining the difference between lacing over and lacing under, whatever this may be, but provokes only ire. "What's the difference" did not ask for difference but means instead "I don't give a damn what the difference is." The same grammatical pattern engenders two meanings that are mutually exclusive: the literal meaning asks for the concept (difference) whose existence is denied by the figurative meaning. As Long as we are talking about bowling shoes, the consequences are relatively trivial; Archie Bunker, who is a great believer in the authority of origins (as long, of course, as they are the origins) muddles along in a world where literal and figurative meanings get in each others way, though not without discomforts. But suppose that it is a de-bunker rather than a "Bunker", and a debunker of the arche (or origin), an archie De-bunker such as Nietzsche or Jacques Derrida for instance, who asks the question "What is the Difference" - and we cannot even tell from his grammar whether he "really" wants to know "what" difference is or is just telling us that we shouldn't even try to find out. Confronted with the question of the difference between grammar and rhetoric, grammar allows us to ask the question, but the sentence by means of which we ask it may deny the very possibility of asking."(Allegories of Reading, 9 / 1 0 ) Was ist nun zu dieser Analyse zu sagen? Wie mir scheint, unterlaufen de Man hier gleich eine ganze Reihe von Fehlern. De Man versteht offensichtlich sehr genau die Bedeutung der in dem Dialog verwendeten Sätze, aber schon seine Behauptung "the literal meaning asks for the concept (difference) whose existence is denied by the figurative meaning" ist unrichtig. Auch wenn man Archies Frage wörtlich, also nicht als rheotorische Frage, verstände, wäre sie nicht eine Frage nach dem Begriff der Differenz. Der Ausdruck eines Wunsches, etwas über den Unterschied zwischen zwei verschiedenen Arten des Schnürens von Kegelschuhen zu erfahren, ist nicht eine Frage nach der Bedeutung des Begriffs der Differenz, sondern eine Frage danach, worin in diesem spezifischen Fall die Differenz besteht. Um eine solche Frage überhaupt sinnvoll stellen zu können, muß man sich über den Begriff der Differenz als solchen schon im klaren sein. Und es ist ebenfalls unrichtig, zu behaupten, daß die übertragene Bedeutung des Satzes die Existenz des Begriffs der Differenz negiert. Vielmehr setzt das Verständnis der übertragenen Bedeutung ebenfalls die Existenz eines Begriffs von Differenz voraus und geht auf dieser Basis davon aus, daß die in Frage stehende Differenz zwischen "lacing under" und "lacing over" unwesentlich ist. De Man hat aber mit seinen Ausführungen auch noch kein 42*

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Beispiel einer wirklichen Diskrepanz zwischen Grammatik und Rhetorik geliefert. Die Tatsache, daß Archies Frau hier als jemand porträtiert ist, der die korrekte rhetorische Bedeutung nicht anhand von kontextuell gegebenen Hinweisen oder intonatorischen Merkmalen zu verstehen in der Lage ist, ist im Grunde unerheblich. Was zählt, ist, daß dies unter normalen Bedingungen möglich ist - de Man selbst hat ja auch keinerlei Schwierigkeiten damit - und daß in solchen Fällen als Regel gilt, daß die eventuell entstehende Ambiguität dadurch aufgelöst wird, daß die Regeln, die die übetragene Bedeutung hervorbringen, vor anderen Regeln den Vorrang haben. Dadurch wird ein semantischer Konflikt oder gar eine Unentscheidbarkeit der Bedeutung vermieden. Natürlich kommen Mißverständnisse im realen Leben immer wieder vor; aber das hat keine prinzipiellen Folgen für die Grammatik. Da hilft auch de Mans Verallgemeinerung vom Bunker-Fall auf potentielle Äußerungen von sogenannten „Debunkern" wie Nietzsche und Derrida wenig weiter. Ohne Angabe eines situativen Kontexts ist es natürlich möglich, daß der Satz "What's the difference?" mehrdeutig bleibt. Aber daraus folgt eben noch nicht, daß zwischen Grammatik und Rhetorik eine prinzipielle Diskrepanz besteht, die zu einer semantischen Unentscheidbarkeit führt. De Mans weiterer Kommentar bringt leider auch keine wirklich überzeugenden Argumente. "The point is as follows. A perfectly clear syntactical paradigm (the question) engenders a sentence that has at least two meanings, of which the one asserts and the other denies its own illocutionary mode. It is not that there are simply two meanings, one literal and the other figural, and that we have to decide which one of these meanings is the right one in this particular situation. The confusion can only be cleared up by the intervention of an extra-textual intention, such as Archie Bunker putting his wife straight; but the very anger he displays is indicative of more than impatience; it reveals his dispair when confronted with a structure of linguistic meaning that he cannot control and that holds the discouraging prospect of an infinity of similar future confusions, all of them potentially catastrophic in their consequences."(10) Wenn De Man hier sagt, daß das syntaktische Muster der Frage "engenders a sentence that has at least two meanings, of which the one asserts and the other denies its own illocutionary mode", dann ist dies zumindest irreführend. Zunächst muß schon festgehalten werden, daß auch eine unzweideutige Frage ihren illokutionären Status nicht selbst „behauptet." Eine rhetorische Frage verneint auch, strenggenommen, nicht ihren grammatischen Status als Frage. Vielmehr muß sie als Frage zunächst einmal verstanden werden, wobei dann aber für den Hörer in einem zweiten kognitiven Schritt klar wird, daß sie nicht der Ausdruck eines Wunsches nach mehr Information ist. De Man hat in gewisser Weise recht, wenn er sagt, daß die Kenntnis einer „extra-textuellen"Absicht nötig ist, um die Bedeutung des Satzes entscheiden zu können, wenngleich nicht recht einsichtig ist, warum diese Intention außertextlich sein muß. Wie schon angedeutet, ist es oft das Intonationsmuster, das eine Frage als rhetorische kenntlich macht; und Intonation ist sicherlich kein außertextliches Phänomen. In anderen Fällen kann es natürlich für den Hörer notwendig sein, die rhetorische Intention aufgrund anderer Indizien zu rekonstruieren, und manchmal ist es für einen Hörer oder Leser einfach unmöglich, zu einem zweifelsfreien

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Ergebnis zu kommen. Das bedeutet aber nicht, daß eine Entscheidung über die Bedeutung einer Äußerung aus prinzipiellen oder strukturellen Gründen unmöglich ist, wie de Man behauptet. De Mans anschließende Interpretation von Archies Unmut ist daher außerordentlich unwahrscheinlich. Archie ist nicht, wie de Man sagt, mit einer Struktur sprachlicher Bedeutung konfrontiert, die er nicht unter Kontrolle behalten kann. Gewiß ist niemand gegen Mangel an sprachlichem Feingefühl und gegen sprachlichen Unverstand im Leben gefeit - und Archies Frau ist ein offensichtliches Beispiel dafür. Aber Archie Bunker hätte einfach den Ausdruck „Das ist mir ganz egal" ("I don't care") gebrauchen können, wenn er sich gegen Mißverständnisse hätte absichern wollen, das heißt gegen Mißverständnisse, die de Man hier etwas übertrieben und pompös „vertiginous possibilities of referential aberration" nennt. Auf keinen Fall besteht für Archie Bunker hier ein Anlaß, sich angesichts einer Aussicht auf „eine Unendlichkeit von ähnlichen künftigen Verwirrungen" entmutigen oder gar zur Verzweiflung bringen zu lassen. Um seine späteren und erheblich komplizierteren Beispiele vorzubereiten, gibt de Man nun folgende Erläuterung zum Begriff der Rhetorik: "The grammatical model of the question becomes rhetorical not when we have, on the one hand, a literal meaning and on the other hand a figural meaning, but when it is impossible to decide by grammatical or other linguistic devices which of the two meanings (which can be entirely incompatible) prevails. Rhetoric radically suspends logic and opens up vertiginous possibilities of aberration."(10) De Man setzt also hier, ohne daß dafür ein Grund angegeben wird, Grammatik mit Logik gleich und behauptet, daß die Rhetorik die Logik suspendiert. Wie wir zumindest schon implizit gesehen haben, ist dies aber keinesweg der Fall. Ganz im Gegenteil ist es, wie umfangreiche empirische Forschungen in der kognitiven Psychologie ergeben haben, bei Verstehensprozessen sehr häufig notwendig, daß der Hörer oder Leser eines Textes verschieden logische Deduktionen und andere Inferenzen durchlaufen muß, um mit Hilfe der Textpropositionen und dem zum Verständnis notwendigen Weltwissen ein angemessenes Verständnis zu erzielen. 14 Auch im vorliegenden Fall ist es ja so, daß Archies Frau aufgrund der Kenntnis des Charakters und der Launen ihres Mannes, aber auch aufgrund der Tatsache, daß ihr Mann vermutlich genau weiß, daß man Schuhe auf verschiedene Art schnüren kann, den (impliziten) Schluß hätte ziehen sollen, daß "What's the difference?" keine echte Frage sein kann. Wie schon gesagt, hat de Man sicher recht, wenn er behauptet, daß in manchen Fällen außergrammatische oder nicht-linguistische Mittel notwendig sind, um die Bedeutung eines uneindeutigen Satzes zu bestimmen. Und im übrigen hängt die Lösung dieses Problems auch von der theoriestrategischen und heuristischen Frage ab, wie weit man den Begriff der Grammatik fassen soll. Aber es folgt aus der Notwendigkeit der Anwendung anderer kognitiver Mechanismen als der eines grammatischen Regelapparates wiederum keineswegs, daß die Logik (oder auch die Grammatik als solche) suspendiert wird mit all den aporetischen Folgen, die einen Dekonstruktionisten zwar begeistern können, der rationalen Aufklärung von Verstehensprozessen aber, wie ich meine, nicht förderlich sind. Das dritte und letzte Beispiel für die vorgeblich unüberbrückbare Kluft zwischen Grammatik und Rhetorik, das de Man in seinem Aufsatz "Semiology and Rhetoric"

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sowie etwas später noch einmal im dritten Kapitel von Allegories of Reading behandelt, ist, wie ich schon sagte, erheblich komplizierter und bedarf daher einer etwas eingehenderen Analyse. Das Beispiel ist Marcel Prousts Roman A la recherche du temps perdu entnommen. Was de Man hier zeigen will, ist, daß die ausgewählte Passage aus diesem Roman die poetischen Vorzüge der Metapher verteidigt, daß der Text aber im Prozeß dieser Verteidigung auf metonymische Figuren zurückgreifen muß, und daß die Verteidigung der Metapher sogar ihre ganze Uberzeugungskraft aus der Verwendnung dieser metonymischen Figuren bezieht. "The assertion of the mastery of metaphor over metonymy," sagt de Man, "owes its persuasive power to the use of metonymic structures."(15) Dieses vorgebliche Paradoxon ist dann wieder als ein Beispiel dafür anzusehen, wie Texte sich selbst dekonstruieren, wenn man nur ihre rhetorischen Strategien genau genug analysiert. Wie eingangs schon angedeutet, ist der Gegensatz zwischen Metapher und Metonymie für de Man von besonderer Wichtigkeit, da die Metapher immer ästhetisch ideologieverdächtig, wenn nicht sogar der Ideologie verfallen ist, während die Metonymie eine innerlinguistische, rein konventionelle Sprachfigur und damit gegen Ideologie weitgehend gefeit ist, Im Unterschied zum ersten Beispiel, in dem sozusagen die Rhetorik die Grammatik neutralisiert hat, ohne sie jedoch ganz zunichte gemacht zu haben, geschieht nun bei Proust, so de Man, das umgekehrte. Die rhetorische Lobpreisung von Metaphorik wird gewissermaßen dekonstruktiv aufgehoben durch die rein grammatische Verwendung metonymischer Strukturen. Hier ist zunächst die (englischsprachige) Passage aus Proust's Roman. "I had stretched out on my bed, with a book, in my room which sheltered, tremblingly, its transparent and fragile coolness from the afternoon sun, behind the almost closed blinds through which a glimmer fo daylight had nevertheless managed to push its yellow wings, remaining motionless between the wood and the glass, in a corner, poised like a butterfly. It was hardly light enough to read, and the sensation of the light's splendor was given me only by the noise of. Camus . . . hammering dusty crates; resounding in the sonorous atmosphere that is peculiar to hot weather, they seemed to spark off scarlet stars; and also by the flies executing their little concert, the chamber music of summer: evocative not in the manner of a human tune that, heard perchance during the summer, afterwards reminds you of it but connected to summer by a more necessary link: born from beautiful days, resurrecting only when they return, containing some of their essence, it does not only awaken their image in our memory; it guaranthees their return, their actual, persistent, unmediated presence. The dark coolness of my room related to the full sunlight of the street as the shadow relates to the ray of light, that is to say it was just as luminous and it gave my imagination the total spectacle of summer, whereas my senses, if I had been on a walk, could only have enjoyed it by fragments; it matched my repose which (thanks to the adventures told by my book and stirring my tranquility) supported, like the quiet of a motionless hand in the middle of a running brook the shock and the motion of a torrent of activty." (Swanris Way. Paris: Pleijade, 1954, p. 83; zitiert in Allegories of Reading, 13/14) De Man sagt nun, daß es sich hier um eine Textstelle handelt, die die Überlegenheit der Metapher über die Metonymie „behauptet", aber zugleich metonymische

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Figuren zur Unterstützung dieser Behauptung verwendet. "A rhetorical reading of the passage reveals that the figural praxis and the metafigural theory do not converge and that the assertion of the mastery of metaphor over metonymy owes its persuasive power to the use of metonymic structures."(15) Aus diesem Ergebnis wird de Man dann später weitreichende erkenntnistheoretische Schlüsse ziehen, was die Rolle von figurativer Sprache angeht. Zunächst müssen wir uns aber zum besseren Verständnis noch ein Zitat aus de Mans Essay ansehen. "For our present purpose, the most striking aspect of this passage is the juxtaposition of figural and metafigural language. It contains seductive metaphors that bring into play a variety of irresistible objects: chamber music, butterflies, stars, books, running brooks, etc., and it inscribes these objects within dazzling fire- and waterworks of figuration. But the passage also comments normatively on the best way to achieve such effects; in this sense, it is metafigural: it writes figuratively about figures. It contrasts two ways of evoking the natural experience of summer and unambiguously states its preference for one of these ways over the other: the "necessary link" that inites the buzzing of the flies to the summer makes it a much more effective symbol than the thune heard "perchance" during the summer. The preference is expressed by means of a distinction that corresponds to the difference between metaphor and metonymy, necessity and chance being a legitimate way to distinguish between analogy and continguity [sic]. The inference of identity and totality that is constitutive of metaphor is lacking in the purely relational metonymic contact [...]. The passage is about the aesthetic superiority of metaphor over metonymy, but this aesthetic claim is made by means of categories that are the ontological ground of the metaphysical system that allows for the aesthetic to come into being as a category. The metaphor for summer (in this case, the synesthesia set off by the "chamber music" of the flies) guarantees a presence which, far from being contingent, is said to be essential, permanently recurrent and unmediated by linguistic representations or figurations. Finally, in the second part of the passage, the metaphor of presence not only appears as the ground of cognition but as the performance of an action, thus promising the reconciliation of the most disruptive contradictions. By then, the investment in the power of metaphor is such that it may seem sacrilegious to put it into question." (14/15) Eine genauere Lektüre dieser Passage führt nun wiederum, wie ich meine, zu dem Schluß, daß wir es hier mit einer ganzen Reihe von Unstimmigkeiten und Irrtümern zu tun haben. Was de Mans Behauptung angeht, bei der Romanstelle handele es sich um eine Gegenüberstellung von figurativer und metafigurativer Sprache, so ist zunächst zu bemerken, daß es so etwas wie metasprachliche Aussagen dort gar nicht gibt. Es finden sich keinerlei Aussagen des Erzähler-Charakters Marcel über sprachliche Gegenstände, seien sie figurativ oder nicht. De Man sagt fernerhin, daß die entsprechende Passage auch normativ dazu Stellung nimmt, wie man figurative Effekte erzielt, aber es wird sehr schnell klar, daß de Man ironischerweise Ausdrücke wie „behauptet", „Stellung nimmt" usw. selbst rein metaphorisch und somit in irreführender Weise verwendet. Die Romanpassage liefert durchaus keinen Kommentar in metasprachlicher Einstellung darüber, wie man figurative Effekte erzielt. Vielmehr schildert sie, in der Perspektive der ersten Per-

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son, die Eindrücke des Icherzählers, der über verschiedene, aber eindeutig nichtlinguistische Weisen nachdenkt, wie man ein inneres Bild des Sommers evozieren kann, wobei er allerdings bestimmte Weisen anderen vorzieht. Innerhalb des Romans sind die summenden Fliegen reale Erfahrungen; sie sind nicht sprachliche rhetorische Figuren, ganz gleich, ob man sie als synekdochisch oder als metaphorisch definiert. Gewiß ist zuzugeben, daß innerhalb der Fiktion des Romans Marcel glaubt, daß die „Kammermusik" der Fliegen ein effektiveres Symbol sind als ein zufällig gehörtes Lied. Und die Gründe, die er dafür anführt, sind durchaus überzeugend. Da die Fliegen, zumindest seiner Meinung nach, nur an schönen heißen Sommertagen wirklich anwesend sind, garantieren sie mit ihrer eigenen Gegenwart die Gegenwart solcher Tage. Sie erzielen die evozierende Wirkung nicht durch den vermitttelten Mechanismus einer Erinnerungsspur, wie das zufällig gehörte Lied, sondern ihre Präsenz ist, um den korrekten semiotischen Terminus zu gebrauchen, ein indexikalisches Zeichen für die Präsenz des Sommers. Wie verteidigt nun de Man sein Argument, daß der Text seine Präferenz für die Metapher nur über den Gebrauch von metonymischen Figuren zum Ausdruck bringen kann und sich damit selbst widerspricht? Die rhetorisch aufmerksame Lektüre, die den Nachweis dieser Selbstdekonstruktion des Textes erbringen soll, findet sich i m d r i t t e n K a p i t e l d e r Allegories

of Reading,

das die Uberschrift " R e a d i n g

(Proust)"

trägt. De Mans Analyse und seine ganze Argumentation sind recht kompliziert und bedürfen daher genauer Rekonstruktion. Für die Zwecke dieses Aufsatzes können wir uns aber auf diejenigen Partien beschränken, in denen sich de Man mit den vorgeblich metonymischen Elementen des Textes beschäftigt, d. h. mit denjenigen Passagen, die laut de Man insgeheim und paradoxerweise den Metaphern ihre Uberzeugungskraft verleihen. Wie in "Semiology and Rhetoric" kommt de Man auch hier sogleich auf die Funktion der „summenden Fliegen" zu sprechen, die ja im Roman als besonders wirkungsvoll für die Evokation des Sommers präsentiert werden. Da sie, in einem gewissen Sinn, Teil des Sommers sind, bezeichnet de Man sie hier als eine Synekdoche, fügt aber sogleich hinzu, daß dies Synekdoche gleichwohl nicht, wie in der klassischen Tradition, ein Spezialfall der Metonymie ist. Die Synekdoche, die als Teil ein Ganzes ersetzt oder umgekehrt, so behauptet er, "is in fact a metaphor, powerful enough ot transform a temporal continguity [sie] into an infinite duration" 15 .(63) Was immer man von der Behauptung halten mag, die Synekdoche sei in Wirklichkeit eine Metapher - de Man muß das hier sagen, weil sonst sein Argument über die Relation von Metapher und Metonymie nicht zum Zug kommt was er im zweiten Teil seines Satzes sagt, ist sicherlich inkorrekt. Wie wir bereits gesehen haben, macht es die Proust-Passage eindeutig klar, daß es zwischen der Gegenwart der Fliegen und der des Sommers eine Art kausale Beziehung gibt ("born of the sunny days, resurrected only upon their return" heißt es bei Proust) und nicht nur, wie de Man anzunehmen scheint, eine zeitliche Kontiguität, die dann, durch die verführerische Kraft der Metaphorik, in unbegrenzte Dauer transformiert wird. Aber worin besteht nun, genauer gesagt, die Gegenkraft der Metonymie? Die metonymischen Figuren, die angeblich die „Totalisierung" in Frage stellen,

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die die Metaphern in der Form einer harmonisierenden Amalgamation von innerer und äußerer Welt in Marcels Zimmer geleistet haben, kommen laut de Man in der Passage vor, die sich an die Schilderung der Lichtverhältnisse in Marcels Zimmer anschließt. Um die Welt der äußeren Handlung mit der Innenwelt des Raumes, in dem Marcel liest, miteinander zu vereinbaren, benötigt Proust eine Anzahl weiterer wirkungsvoller Metaphern. De Man drückt dies folgendermaßen aus: "The light metaphors are powerless ot achieve this: it will take the intervention of an analogical motion stemming from a different property, this time borrowed not from the warmth of the light but from the coolness of the water: "The dark coolness of my room ... matched my repose which (thanks ot the adventures narrated in my book, which stirred my tranquility) supported, like the quiet of a hand held motionless in the middle of a running brook, the shock and the animation of a flood of activity." (63/64) De Man behauptet nun, daß Proust, um den Bereich des Handelns mit der Ruhe der Leseszene verknüpfen zu können, eine im Bild der ins fließende Wasser gehaltenen Hand enthaltene Eigenschaft mit der Kette derjenigen Eigenschaften verbinden muß, die die äußere Welt charakterisieren, wie zum Beispiel Wärme. "The cool repose of the hand should be made compatible with the heat of action." (65) Und er glaubt, daß dies tatsächlich durch den Ausdruck "torrent d'activité" erreicht wird. "Torrent d'activité' properly signifies a lot of activity, the quantity of activity likely to agitate someone to the point of making him feel hot. The proper meaning converges with the connotation supplied, on the level of the signifier, by the 'torrent'." (65/66) 16 Gleichzeitig betont de Man, daß "torrent d'activité" im Französischen eine tote oder 'ruhende' Metapher ist, das heißt ein Klischee, das die ursprünglichen Konnotationen des Wortes „torrent" verloren hat. Dieser Punkt ist wichtig, wie wir gleich noch sehen werden. Zunächst möchte ich wieder zur Verdeutlichung eine Passage zitieren. "The transfer [of heat to repose] is made seductive and convincing by a double-faced play on the cliché "torrent d'activité". The neighboring image of flowing water (the hand suspended "in a running brook") reawakens, so to speak, the dozing metaphor which, in the cliché, had become the mere continguity [sic] of two words ("torrent" and "activité") syntagmatically joined by repeated usage and no longer by the constraints of meaning. "Torrent" functions in at least a double semantic register: in its reawakened literal sense, it relays and "translates" the property of coolness actually present in the water that covers the hand, whereas in its figurai meaning it designates an amplitude of action suggestive of the contrary quality of heat. The rhetorical structure of this part of the sentence ("repose ... supported ... the shock and the animation of a flood of activity") is therefore not simply metaphorical. It is at least doubly métonymie: first because the coupling of two terms, in a cliché, is not governed by the "necessary link" of a resemblance (and potential identity) rooted in a shared property, but dictated by the mere habit of proximity (of which Proust, elsewhere, has much to say), but also because the reanimation of the numbed figure takes place by means of a statement ("running brook") which happens to be close to it, without however this proximity being determined by a necessity that would exist on the level of a transcendental meaning. To the con-

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trary, the property stressed by the neighboring passage is precisely not the property that served in the coinage of the original metaphor, now degraded and become a cliché: the figure "torrent d'activité" is based on amplitude and not on coolness. This property functions in fact against the quality that the text desires." (66/67) Die Argumente, die de Man hier vorbringt, um seine Behauptung zu stützen, daß der Text sich selbst durch den Gebrauch metonymischer Strukturen dekonstruiert, welche die Wirkung der verführerischen Metaphern gewissermaßen neutralisieren, scheinen mir recht unbefriedigend zu sein, und zwar aus mehreren Gründen. Die doppelt metonymische rhetorische Struktur der Passage soll aus folgenden zwei Dingen bestehen: Erstens charakterisiert de Man das Klischee "torrent d'activité" als metonymisch und nicht metaphorisch. Es soll also keine semantische Ähnlichkeit zwischen "activité" und "torrent" bestehen, und zwar dehalb nicht, weil es sich hier laut de Man, wie wir gerade gehört haben, um eine tote Metapher handelt, so daß die ursprüngliche semantische Ähnlichkeit zwischen "torrent" und "activté" nun nicht mehr wahrgenommen wird. Da Französisch nicht meine Muttersprache ist, kann ich dieses Argument nicht abschließend beurteilen; aber ich halte es nicht für sonderlich überzeugend, zumal dann, wenn es darum gehen soll, die Wirkung von Metaphern durch Metonymie aufzuheben. Darüber hinaus scheint es mir ziemlich offensichtlich zu sein, daß die semantische Kongruenz des Ausdrucks "torrent d'activité," wenn er zur Metapher reaktiviert worden ist, nicht, wie de Man sagt, nur aus dem besteht, was de Man "muchess" oder "amplitude" nennt, sondern vor allem auch in dem gemeinsamen semantischen Merkmal "rasche Bewegung". Aber selbst wenn man de Man das Klischeeargument zugesteht, so ist es doch mehr als kühn, dem Klischee die Wichtigkeit beizumessen, die de Man ihm verleiht, angesichts der Tatsache, daß sein metonymischer Charakter ja nun in nichts anderem besteht als der Tatsache, daß die beiden Ausdrücke "torrent" und "activité" in benachbarter Stellung vorkommen. "Habit of proximity" hatte de Man das genannt. Worin also die Uberzeugungskraft der metonymischen Strukturen bestehen soll, von der de Man in "Semiology and Rhetoric" in diesem Zusammenhang gesprochen hatte, bleibt bisher unklar. Im dritten Kapitel der Allegories of Reading hat er diesen Anspruch allerdings auch etwas modifiziert. Er sagt nun mit Bezug auf die Metaphorik der Romanstelle, daß "persuasion is achieved by a figurai play in which contingent figures of chance masquerade deceptively as figures of necessity" (67). Wir haben aber schon gesehen, daß de Man unrecht hatte, als er die summenden Fliegen als eine dieser Figuren betrachtete. Zwischen dem Erscheinen der Fliegen und den Sommertagen bestand in der Tat ein notwendiger (kausaler) Zusammenhang und nicht ein bloß kontigenter. Von Maskerade kann hier also keine Rede sein. Im gegenwärtigen Kontext hat de Man meines Erachtens nun wiederum unrecht, denn die persuasive Kraft des Klischees "torrent d'activité" liegt jetzt auch laut de Man selbst in der Tatsache, daß sie durch den gegebenen Kontext zur Metapher wiedererweckt wird. Es ist daher nicht der Fall, daß der Ausdruck "torrent d'activité" sich nur fälschlich als notwendige Verbindung ausgibt. Was läßt sich nun aber zu dem zweiten Fall des Gebrauchs metonymischer Figuren sagen? De Man behauptet, daß "the reanimation of the numbed figure [i.e. 'torrent

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d'activité'] takes place by means of a statement ('running brook') which happens to be close to it, without however this proximity being determined by a necessity that would exist on the level of transcendental meaning".(66) Wie es scheint, ist es also die rein räumliche und zeitliche Nähe zwischen den Ausdrücken "running brook" und "torrent d'activité", die diese Verbindung zu einer metonymischen macht. Das ist aber alles andere als ein überzeugendes Argument. Wenn Metonymie allein in räumlicher oder zeitlicher Kontiguität bestünde, so wäre jedes Wort in einem Text metonymisch. Wenn es aber die partielle semantische Kongruenz zwischen "running brook" und "torrent" ist, die die Wiedererweckung der ruhenden Metapher bewirkt, dann ist es wiederum eine metaphorische und nicht eine metonymische Struktur, die dem Text zu seiner Uberzeugungskraft verhilft. Eine abschließende Bemerkung zu der Beobachtung, mit der de Man das vorangegangene Zitat beendet, ist angebracht. Er behauptet, daß "the property stressed by the neighboring passage [i.e. the coolness of 'eau courante'] is precisely not the property that served the coinage of the original metaphor [i.e. 'torrent d'activité]; die ursprüngliche metapher, so argumentiert er, " is based on amplitude and not on coolness".(67) Damit will er sein Argument stützen, daß metonymische Strukturen die Idee metaphorischer Einheit und Harmonie in Frage stellen. Dabei ignoriert de Man aber den Punkt, den ich zuvor schon einmal angesprochen habe und auf den ich zurückkommen wollte. Die metaphorische Qualität des Ausdrucks "torrent d'activité" basiert nämlich nicht nur auf "amplitude", was meines Erachtens ohnehin fragwürdig ist, sondern vor allem auf dem gemeinsamen semantischen Merkmal 'schnelle Bewegung'. Wenn das richtig ist, haben die beiden Ausdrücke "eau courante" und "torrent d'activité" durchaus eine Ahnlichkeitsbeziehung. Weit davon entfernt, als angeblich metonymische Struktur die Metaphorik des Textes dekonstruktiv zu untergraben, unterstützen sie diese also gerade. Es scheint daher, daß es für de Mans These von der metonymischen Dekonstruktion der Verführungskraft der Metaphern in der Proust-Passage keinerlei schlüssige Evidenz gibt. Kehren wir nun kurz zu dem Aufsatz "Semiology and Rhetoric" zurück, da wir noch einige wenige Bemerkungen zu den erkenntnistheoretischen Konklusionen machen müssen, zu denen de Man aufgrund seiner Textanalyse kommt. De Man sagt, daß seine rhetorische Lektüre der Proust-Stelle die Geltung der metaphysischen Kategorien Gegenwart, Handlung, Wahrheit und Schönheit nicht unberührt läßt, und dieser Gedanke wird in den letzten Abschnitten seines Aufsatzes noch etwas weiter entwickelt, indem der ihn unter anderem mit der dekonstruktionistischen Idee der Dezentrierung des Subjekts verbindet. Das Proust-Beispiel ist für de Man ein Beispiel für die „Grammatisierung" der Rhetorik, was er wie folgt erläutert: "By passing from a paradigmatic structure based on substitution, such as metaphor, to a syntagmatic structure based on contingent association such as metonymy, the mechanical, repetitive aspect of grammatical forms is shown to be operative in a passage that seemed at first sight to celebrate the self-willed and autonomous inventiveness of a subject. Figures are assumed to be inventions, the products of a highly particularized individual talent, whereas no one can claim credit for the programmed pattern of grammar. Yet, our

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Dieter Freundlieb, Paul de Man

reading of the Proust passage shows that precisely when the highest claims are being made for the unifying power of metaphor, these very images rely in fact on the deceptive use of semi-automatic grammatical patterns. The deconstruction of metaphor and of all rhetorical patterns such as mimesis, paranomasis, or personification that use resemblance as a way to disguise differences, takes us back to the impersonal precision of grammar and of a semiology derived from grammatical patterns. Such a reading puts into question a whole series of concepts that underlie the value judgments of our critical discourse: the metaphors of primacy, of genetic history, and, most notably, of the autonomous power to will of the self."(15/16) De Man konstruiert also hier einen Gegensatz zwischen Metapher und Metonymie, der weitreichende erkenntnistheoretische Konsequenzen haben soll. Wie an anderer Stelle die Allegorie, so steht Metonymie hier für eine Art semiotischen Idealismus, dem gemäß nur das wirklich ist, was durch eine Sprache konstituiert ist, die in keiner Weise der Repräsentation von Wirklichkeit oder dem Ausdruck eines subjektiven und kreativen Geistes dient, sondern die allein den formalen und mechanischen Regelmäßigkeiten ihrer Grammatik gehorcht. Grammatik wird von de Man daher auch immer streng strukturalistisch als abstraktes Regelsystem verstanden. Für eine Referenzsemantik ist darin prinzipiell kein Platz. Keine Grammatik sei vorstellbar, so behauptet er in einem späteren Aufsatz (Allegories of Reading, 268/9), ohne die Aufhebung referentieller Bedeutung. In dem Maß, in dem ein Text grammatisch ist, so sagt er, gleicht er einem logischen Code oder einer Maschine (ibid.). Eine solche Grammatik ist nun laut de Man auch in Prousts Roman am Werk und dekonstruiert die ästhetischen und erkenntnistheoretischen Ansprüche der Metaphorik. Die Frage, ob Proust selbst sich dessen bewußt war oder nicht, ist für de Man letztlich unerheblich. Die Aufgabe des Dekonstruktionisten ist es jedenfalls, die Wirkungsweise dieser Sprache aufzuzeigen. Erkenntnistheoretisch tritt für de Man die Sprache oder die „Rhetorizität" des Textes an die Stelle des transzendentalen Subjekts, wobei mit Rhetorizität hier vor allem diejenigen rhetorischen Figuren gemeint sind, die der angeblichen Illusion der Repräsentationsfunktion der Sprache entgegenwirken. Wie ernst es de Man mit den erkenntnistheoretischen Implikationen seiner dekonstruktionistischen Lektüre nimmt, kann man an folgendem Zitat ablesen: "It can be shown," sagt er, "that the systematic critique of the main categories of metaphysics undertaken by Nietzsche in his late work, the critique of the concepts of causality, of the subject, of identity, of referential and revealed truth, etc., occurs along the same pattern of deconstruction that was operative in Prousts text." (15) Wenn nun aber das, was ich über de Mans Analyse in den obigen Ausführungen gesagt habe, der Wahrheit auch nur einigermaßen nahe kommt, so muß man zu dem Schluß kommen, daß es de Man zumindest in dem vorliegenden Fall nicht gelungen ist, seine These von der Grammatisierung der Rethorik am paradigmatischen Fall der Proust-Passage zu unterstützen. De Man selber ist aber durchaus von der Validität seiner Aussage überzeugt und sagt, daß wir nach seiner Lektüre nicht mehr an die metaphysische Überlegenheit der Metapher über die Metonymie glauben könnten. Und er wagt sogar die Behauptung, daß die hier gewonnenen Ergebnisse sich auf die gesamte Literatur übertragen ließen. Schließlich geht er

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Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6

sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, daß seine eigene Praxis der Lektüre identisch sei mit der Aufgabe der Literaturwissenschaft in den

kommenden

Jahren. Z u m gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine Prognose über die Zukunft des Dekonstruktionismus in der Literaturwisschenschaft z w a r noch nicht mit Sicherheit zu stellen, aber es gibt durchaus Anzeichen, daß die dekonstruktionistische Konjunktur, zumindest in Amerika, ihren Höhepunkt überschritten und wieder im Abflauen begriffen ist. De Mans spezifisch literaturwissenschaftliche A u s p r ä g u n g des Dekonstruktionismus hat z w a r eine Reihe von Anhängern und N a c h a h m e r n gefunden, aber die Tatsache, daß seine Analysen eigentlich immer wieder z u m gleichen Erbgebnis kommen, sollte uns zur Vorsicht mahnen. Im übrigen hoffe ich, daß die vorangegangene Diskussion zweier Beispiele seiner Lektüremethode gezeigt hat, daß Paul de Man d a z u neigte, seine weitgehend von Nietzsche ü b e r n o m m e n e n sprach- und erkenntnistheoretischen Annahmen vorschnell den Texten, die er analysierte, aufzuzwingen. Dr. Dieter Freundlieb,

Griffith University,

Division of Humanities,

Brisbane/Australien

Anmerkungen 1 Sie fand in Deutschland eher in der Presse als in akademischen Zeitschriften statt. Eine relativ abgewogene Erörterung der Pressereaktion auf den „Fall" de Man findet sich in Hans-Thies Lehmanns Aufsatz „Paul de Man: Dekonstruktionen" (Merkur 42, 1988). Weit weniger kritisch dagegen ist Jochen Hörischs kurze Stellungnahme im gleichen Band dieser Zeitschrift. Hörisch geht sogar so weit, Derridas Charakterisierung der pragmatischen Konsensus-Theorie von Apel und Habermas als „Terrorismus" zuzustimmen. Bei aller kritischen Distanz, die man zu dieser Theorie haben kann, ist eine solche Beschreibung schlichtweg unsinnig. 2 Vgl. Thomas Böning: Literaturwissenschaft im Zeitalter des Nihilismus? Paul de Mans Nietzsche-Lektüre, (Deutsche Vierteljahrsschrift 64, 1990) sowie Lutz Ellrich und Nikolaus Wegmann: Theorie als Verteidigung der Literatur? Eine Fallgeschichte: Paul de Man, (Deutsche Vierteljahrsschrift 64,1990). 3 Paul de Man: Allegorien des Lesens (Frankfurt: Suhrkamp, 1988). Die deutsche Ausgabe enthält nur den ersten Teil der amerikanischen, angereichert durch zwei Aufsätze aus dem Buch The Rhetoric of Romanticism. Ebenfalls zu nennen wäre hier die Übersetzung von de Mans vielbeachtetem Aufsatz "The Resistance to Theory" in Volker Bohn (Hrsg.): Romantik, Literatur und Philosophie (Frankfurt: Suhrkamp, 1987). 4 Christopher Norris: Paul de Man. Deconstruction and the Critique of Aesthetic Ideology, (New York: Routledge, 1988). 5 Als Beispiel einer reichlich unkritischen Übernahme von Paul de Mans Literaturtheorie sei die Einleitung („Unlesbarkeit") zur deutschen Ausgabe des Buchs "Allegories of Reading" von Werner Hamacher genannt. Gleichwohl läßt Hamacher keinen Zwiefel daran, daß das kritische Potential von de Mans Theorie nahezu alles bisherige in den Schatten stellt. Kurios ist dabei die Tatsache, daß die von de Man theoretisch konstatierte (und von Hamacher akzeptierte) Aussage, sprachliche Texte seien prinzipiell „unlesbar", Hamacher keineswegs davon abhält, de Mans Theorie mit Wahrheitsanspruch zu paraphrasieren und zu erläutern.

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Dieter Freundlieb, Paul de Man

6 Eine sehr viel breiter angelegte Analyse findet sich in meinem in Vorbereitung befindlichen Buch: Hermeneutics, Structuralism, Post-Structuralism. Contemporary Philosophy and the Study of Literature. 7 Paul de Man: Blindness and Insight: Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, (New York: Oxford University Press, 1971); zweite, um fünf Essays erweiterte Auflage (London: Methuen, 1983). 8 Paul de Man: Allegories of Reading: Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust (New Haven: Yale University Press, 1979), 9 Paul de Man: The Rhetoric of Romanticism (New York: Columbia University Press, 1984). 10 Paul de Man: The Resistance to Theory (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1986). 11 Dieser Punkt wird energisch in Christopher Norris' Buch: „Paul de Man" herausgearbeitet. 12 Vgl. „Der Wanderer und sein Schatten", Friedrich Nietzsche: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Collo u. Mazzino Montinari, Bd. 3, (Berlin: Walter de Gruyter & Co.), S. 215. 13 Beide Beispiele sind in der Sekundärliteratur bereits kritisch behandelt worden. Stanley Ca veil zum Beispiel hat sich in seinem Buch: Themes Out of School (Chicago: The University of Chicago Press, 1988) mit de Mans erstem Beispiel auseinandergesetzt. Peter V. Zima, dessen 1991 erschienenes Buch „Literarische Ästhetik" (Tübingen: Francke Verlag) mir erst nach Abschluß dieses Manuskripts zugänglich geworden ist, hat sich kritisch zu de Mans zweitem Beispiel, der weiter unten diskutierten Proust-Passage, geäußert. Zima kommt in einigen Punkten zu ähnlichen Ergebnissen wie die vorliegende Studie, ist aber weit weniger detailliert in seinen Ausführungen und berücksichtigt nur einen kleinen Teil der Proust-Stelle. 14 Vgl. zum Beispiel die zahlreichen Arbeiten zu Problemen des Textverstehens von Walter Kintsch und Teun A. van Dijk. 15 Es ist eigentümlich und möglicherweise keineswegs ein purer Zufall oder ein reiner Druckfehler, daß de Man das Wort "contiguity" im Kontext dieser Argumentation konsistent falsch buchstabiert bzw. im Druck nicht korrigiert hat. "Continguity" erscheint hier fast als ein Portemanteau-Wort, zusammengesetzt aus "contiguity" und "contingency". Zumindest ergibt dies durchaus einen Sinn, wenn man berücksichtigt, daß de Man auf den "kontingenten", das heißt rein konventionell-grammatischen Chrakter der Metonymie im Gegensatz zur nicht-kontingenten Metapher hinweisen will. 16 Zima weist hier völlig zu Recht darauf hin, daß zwischen "torrent" und "torride" zwar eine etymologische Verbindung besteht, daraus aber keineswegs die Berechtigung folgt, eine konnotative Verbindung auf der semantischen Ebene herzustellen. Vgl. Zima, S. 355.

Dtsch. Z. Philos., Berlin 40 (1992) 6, 643-665

Strukturierung des Sinnlosen Grundzüge einer Theorie der leeren Zeichen Von KAI HAUCKE (Berlin) Die philosophischen Entwürfe der letzten hundert Jahre sind zumeist eine Form von Vergangenheitsbewältigung: Kritiken der subjektzentrierten Vernunft. Das Verständnis der Moderne, jüngst auch der Postmoderne, ist fatal an Vergangenheit geknüpft. Kritik der Subjektphilosophie wird zur Folie, auf der Sozialphilosophie betrieben werden kann. Die Kritiken der Subjektphilosophie (und so auch die Kritiken der Gesellschaft) haben sich jedoch merkwürdig verschlissen: Sie lassen sich einfangen vom Gegenstand ihrer Kritik. Die (Post-)Modernen kleben an der Tradition wie Sirup. Die Last der Tradition scheint nur von der Philosophie der sprachpragmatischen Wende abgeworfen. Die Grenzen sind offen, jedoch hat die Sprachpragmatik neue, eigene gezogen. So steht die Aufgabe zu kären, was unklar bleibt. Wie ist Sinn möglich in der Moderne? ist eine gute Frage, und die Sprachpragmatik hat wichtige Instrumente gebracht, um Sinn- und Bedeutungsproduktionen zu verstehen. Nur läßt sich die Frage nicht sinnvoll beantworten - zumindest nicht, ohne das Sinnlose einzubeziehen. Läßt sich aber das Sinnlose verstehen? Nur dann, wenn man das Sinnlose, soweit es auf Sinn bezogen wird, nicht als Unsinn begreift. Zwei ineinander verschobene Aspekte sollen betrachtet werden: Ein diskursinternes Problem der Philosophie und die Frage, inwieweit ein philosophischer Diskurs sich auf sozialtheoretische Probleme einlassen kann. Diesen Aspekten lassen sich zwei Fragen zuordnen: Wie muß eine Kritik der Subjektphilosophie aussehen, die es vermeidet, sich in den bekannten Zirkeln zu verfangen, und die ihre subjektphilosophische Vergangenheit nicht verdrängt? Und wie ist Moderne in der ihr eigenen Evolutions weise zu verstehen? Ich habe keine Antwort, aber einen Vorschlag in Form einer semiotisch orientierten Sozialphilosophie - eine Theorie leerer Zeichen. Ich schlage vor: Die menschliche Existenz ist ein Spektrum. Den sichtbaren Teil deckt die sprachpragmatische Kritik weitgehend ab. Sie beschreibt das Feld der Intersubjektivität, auf dem Sinn und Bedeutung gedeihen - das Reich der Zeichen. Eingerahmt wird es vom unsicht(sag)bar Sinnlosen, den An-Zeichen des Unbewußten einerseits, die mit den Zeichen des Sinns ein eigensinniges Spiel treiben - und andererseits den leeren Zeichen der Moderne, um die es hauptsächlich gehen soll - jenen Strukturen, die zwar Interaktion, aber nicht mehr Intersubjektivität sind - jene schwarzen Löcher, in denen die Signifikanten selbstgenügsam ihre Strahlen zurückbiegen.

644 1. Aporien der

Kai Haucke, Strukturierung des Sinnlosen

Subjektphilosophie

Intentionen der Subjektphilosophie: Es geht u m die Erklärung jenes spezifischen Vermögens, welches den Menschen erlaubt, die Welt zu erkennen u n d in diesem Erkennen ihr Gestalt zu geben. Dieses Vermögen heißt Subjektivität. Die theoretische Konstruktion der Subjektphilosophie: Sie fußt auf zwei Annahmen: 1. Die Identität eines Subjekts oder Bewußseins. 2. Die Fähigkeit dieses Subjekts zur Selbstreflexivität (die ursprüngliche Apperzeption, das Denken des Denkens etc.). Die erste Aporie der Subjektphilosophie: Sie liegt in der Kontradiktion dieser beiden Axiome begründet. Während unter 1. die Identität postuliert wird, so unter 2. eine Spaltung des Bewußtseins in ein bedachtes u n d in ein bedenkendes Denken - oder kürzer: in Bewußtsein u n d Metabewußtsein. Dies ist eine logische Pradoxie - in der Terminologie von Hofstadter eine innere Widersprüchlickeit. Das heißt: diese Gedankenkonstruktion wäre übersetzt in eine logische Welt widersprüchlich. 1 Die zweite Aporie der Subjektphilosophie: Die erste Aporie ist vermeidbar, w e n n die beiden G r u n d a n n a h m e n differenziert werden in Axiom u n d Regel (Erzeugungsregel von Sätzen). Postulat 1 über die Identität des Bewußtseins erscheint so als Axiom. Postulat 2 wird zur Regel - zu einer selbstreferentiell formulierten Regel. Ist ein als identisch gesetztes Subjekt gegeben, d a n n kann auf ein Bewußtsein u n d auf ein Metabewußtsein geschlossen werden. Selbstreferentiell formulierte Regeln haben die Eigenschaft, sich nach ihrer A n w e n d u n g w i e d e r u m selbst a n z u w e n d e n auf die Ergebnisse ihrer A n w e n d u n g usw. Es entsteht eine unendliche Hierarchie. Es gibt so ein Bewußtsein, das weiß, was es weiß; u n d eins, das weiß, daß es weiß, was es weiß etc. Die logische Interpretation dieser Konstruktion ist widerspruchsfrei durch die aus Postulat 2 gewonnene zirkuläre Regel. Ein unendlicher Regreß ist in Gang gesetzt, der zu unendlichen Ebenen führt u n d zu unendlicher formaler Redundanz, ohne das gesetzte identitätslogische Axiom zu verletzen. Diese innere oder logische Widerspruchsfreiheit wird aber erkauft durch einen äußeren oder pragmatischen Widerspruch. Äußere Widerspruchsfreiheit bezeichnet Hofstadter als Widerspruchsfreiheit in bezug auf die „äußere" Welt, jenen Bereich, der das formale System interpretiert, u n d der umgekehrt durch das formale System interpretiert w e r d e n soll. „Außere Widerspruchsfreiheit . . . macht es erforderlich, daß alle SÄTZE (des formalen Systems) sich in der wirklichen Welt als w a h r erweisen." 2 Die Termini „wirklich" u n d „ w a h r " sind eher vage u n d daher in diesem Z u s a m m e n hang zu bestimmen: „Wirkliche Welt" als das zu erklärende Phänomen, „ w a h r " als „plausibel" im Sinne der Argumentationstheorie. Der äußere oder pragmatische Widerspruch besteht n u n zwischen der formalen R e d u n d a n z der Konstruktion u n d der ursprünglichen Intention, d e m eigentlichen Interprétant dieser Konstruktion. Es sollte eine Konstruktion g e f u n d e n werden, die es gestattet, die Kreativität menschlichen Erkennens u n d die Vielfalt seiner Produkte u n d Gestaltungen zu erklären. G e f u n d e n hat m a n eine langweilige mechanische R e d u n d a n z ohne jeglichen Spielraum. Liegt aber ein derartiges Paradox vor, d a n n hat diese Konstruktion nicht ein-

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mal mehr passive Bedeutung 3 - sie ist bedeutungslos. Das sich selbst wissende Wissen weiß nicht, daß es nichts weiß. Eine Kritik der Subjektphilosophie muß daher diese Konstruktion zerstören. Die Aufhebung der Aporien der Subjektphilosophie muß das Prinzip der inneren Widerspruchsfreiheit aufgeben. Sie muß ein logisches Paradox einführen, um die ursprünglichen Intentionen einzuholen. 2. „Pragmatische

YJende" als eine Form der Kritik der

Subjektphilosophie

Die Auflösung der ersten oder statischen Aporie der Subjektphilosophie: Denken kann nie mit sich selbst identisch sein, weil es von vornherein an etwas außerhalb seiner selbst gebunden ist - die Sprache. Damit ist das erste Postulat reformuliert. Die logische Paradoxie einer Spaltung des Denkens in ein Bewußtsein und in ein Metabewußtsein ist mit der Aufhebung des Identitätspostulats hinfällig. Diese Spaltung wird durch die Auflösung des einsamen Subjektes als eine Interaktionssituation erklärbar. In der Interaktion ist jene Paradoxie Normalität: Weil man beobachtet und von anderen beobachtet wird und diese Beobachtung beobachten kann und damit die Fähigkeit erwirbt, sich selbst zu beobachten. Diese Selbstreflexion besteht dann nicht mehr als eine Bewußtseinsspaltung, sondern als die wechselnde Übernahme von verschiedenen Rollen und Positionen in einer Interaktionssituation. Das zweite Postulat wird also in das Intersubjektivitätstheorem umformuliert. Die Auflösung der zweiten oder dynamischen Aporie: Eine selbstreferentiell formulierte Regel kann offensichtlich jenes spezifisch menschliche Vermögen zur Kreativität nicht klären. Die durch sie emöglichte Dynamisierung erwies sich als inhaltsund bedeutungslos. Menschliche Kreativität zeigt sich vielmehr in der Anwendung von Regeln in bestimmten Situationen durch Individuen, nicht in der Selbstanwendung einer Regel auf sich selbst. Damit wird der unendlich und redundante Regreß in einen Interpretationsprozeß umgewandelt: Durch Anwendungen von Regeln auf spezifische Situationen entstehen neue Regeln. Die Fähigkeit zur Interpretation läßt sich jedoch nicht aus einem einsamen Subjekt ableiten. Sie ist eine Fähigkeit, die in der Interaktion mit anderen erworben werden muß - durch Perspektivenwechsel der beteiligten Akteure. Ein derartiger Perspektivenwechsel ist von vornherein logisch paradox, kann also nicht mittels einer formalisierten Sprache philosophisch reflektiert werden. Die philosophische Aufmerksamkeit richtet sich daher auf die paradigmatische Untersuchung der „natürlichen" Sprache und ihres „natürlichen" Gebrauchs durch die Individuen. „Natürliche" Sprache koordiniert Interaktionen. Sie ist paradox, besitzt das Potential zu Perspektivenwechseln und zur Selbstreflexivität - in ihr kann problemlos über Sprache gesprochen werden. Die erfolgreiche Auflösung der subjektphilosophischen Aporien durch die sprachpragmatische Kritik stellt diese jedoch vor eigene, neue Probleme. Die vorwiegend sprachliche Orientierung dieser Kritikform läßt sich erweitern durch Einbeziehung anderer Zeichenarten, wie sie in der Semiotik untersucht werden. Doch man verbleibt auch bei einer solchen Ausdehnung innerhalb des Reichs der Zeichen und reduziert die Vielheit menschlicher Gestaltungen. Es stellt sich die Frage, wie 43

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Kai Haucke, Strukturierung des Sinnlosen

man mit den Ergebnissen der pragmatischen Kritik der Subjektphilosophie zu einer Bestimmung von Nicht-Zeichen gelangen kann. Das Intersubjektivitätstheorem zeigt eine ähnliche Reduktion. Ermöglichte es, den subjektphilosophischen Zirkel zu durchbrechen, so läßt sich die Vielheit menschlicher Interaktionen nicht als ausschließlich intersubjektivistische bestimmen. Die pragmatische Kritik verfängt sich in einem intersubjektivistischen Zirkel. Versucht die pragmatische Kritik diesen zu durchbrechen, so führt dies, paradigmatisch sichtbar im Werk von Habermas 4 , unweigerlich zur Subjektphilosophie zurück. Das Problem „Gesellschaft", das hinter dem Nicht-Zeichen und hinter dem Verlassen des intersubjektivistischen Zirkels steht, kann nicht durch eine Systemtheorie gelöst werden, ohne die Ergebnisse der eigenen Kritik an der Subjektphilosophie aufzugeben. Es bedarf eines Interaktionsverständnisses, das sich nicht auf Intersubjektivität reduziert.

3. Das Objekt als Nicht-Zeichen - eine andere Kritik der

Subjektphilosophie

Mit dem Terminus „leere Zeichen" wird gewöhnlich die neuere französische Philosophie assoziiert, insbesondere Baudrillards Simulacrum. Eigentlich wäre es an dieser Stelle angebracht, ein neues Wort zu erfinden, um sich nicht in den Netzen der vorfixierten, langweilig zirkulierenden Bedeutungen zu verfangen. Ich vermeide dies und nenne die leeren oder Nicht-Zeichen Simulacra. Baudrillards „fatale Strategien" 5 und die in diesem Umkreis entstandenen Texte lassen sich als eine Form von Kritik der Subjektphilosophie begreifen. Die Identifizierung und damit Ablehnung von Sinn, Bedeutung, Subjektivität, Repräsentation etc.6 als originär subjektphilosophische Kategorien bilden einen nahezu axiomatischen Ausgangspunkt. Ein Versuch einer Neubestimmung oder Reformulierung dieser Kategorien scheidet daher aus. Der strukturalistische Einfluß in Frankreich bietet hier eine Alternative, sich dieser Begriffe zu entledigen - jenseits der Subjekte liegen die Strukturen, oder semiotisch gewendet: die Nicht-Zeichen. Dieses Konstrukt ist nicht nur für Baudrillard kennzeichnend. Es findet sich ebenso bei Lyotard in den 70er Jahren, in der Althusserschen Marxlektüre und im Pecheuxschen Projekt einer ADA (Automatische Diskursanalyse). 7 Die sprachpragmatische Kritik der Subjektphilosophie geht im Gegensatz dazu differenzierter vor: Subjektivität bleibt als Intersubjektivität erhalten, in der sich Sinn und Bedeutung konstituieren, aber die Analyse erfolgt nicht logisch, auch nicht hermeneutisch, sondern formalpragmatisch, prozedural. Die radikale Ablehnung des subjektphilosophischen Erbes dagegen bleibt immer höchst ambivalent - sie verfängt sich in den alten Zirkeln. In Baudrillards Philosophie läßt sich dieser Prozeß kurz nachvollziehen. Ausgehend von der unhaltbaren Zirkularität der subjektphilosophischen Beziehung von Subjekt und Objekt, behauptet Baudrillard eine Trennung beider: Es gibt ein Objekt, das mehr ist als ein Objekt, ein Hyperobjekt, ein „reines Objekt". 8 Diese Steigerung wird gedacht als Verdopplung9: Es gibt Dinge an sich und Dinge für uns. Letztere sind Produkte des Subjekts, sind also von uns abhängig, von unserer Logik und unseren Bedeutungen. Daher können sie sich uns entfremden. Erstere sind sinnlos, aber sie verfolgen uns wie Schatten, sie sind eine Form der Verdopplung unserer selbst, die uns auf fatale Weise berührt, uns

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mit einer objektiven Ironie verführt zu einer sinnlosen Faszination, einer Hingabe an das Objekt, die das subjektphilosophische Subjekt sich aufgeben läßt.10 Diese Konstruktion erinnert fatal an eine der größten Subjektphilosophien, an die Kants. Die Ambivalenz und doppelte Bestimmung des Dings an sich bei Kant findet sich bei Baudrillard bis in die Terminologie wieder: Einerseits ist es das Unbedingte vor aller Erfahrung, jenseits des Subjekts, andererseits ist es der objektive, notwendige transzendentale Schein, da es nicht in der sinnlichen Erfahrung gegeben ist, und dennoch ist es Gegenstand der reinen Vernunft, regulatives Prinzip, das Erkennen zum System macht; es ist letztlich der Mensch selbst, denn dieser ist als normatives Wesen ein Unbedingtes, kann selbst Ursache sein, Anfang einer Kette und sich schließlich zum Selbstzweck erklären - und der Kreis ist wieder geschlossen. Und so tritt auch das unabhängige, reine Objekt bei Baudrillard wieder zum Subjekt hinzu als ein Fatales und Verführerisches, als sinnloser Schein. Diese Verführung ist jedoch nur so lange ein Duell, eine Herausforderung, solange das Subjekt subjektphilosophisch gedacht wird: d. h. solange es unter dem Imperativ steht „Bleibe dir selbst treu und gebe dich niemals auf!". Hat es diese Ideologie abgelegt, dann erst kommt es zu einer wahrhaften Verschmelzung von Objekt und Subjekt. Die Kritik der Subjektphilosophie hat sich im subjektphilosophischen Zirkel verfangen, die Ironie11 der Subjektphilosophie hat sie eingeholt. Diese versteckte Subjektphilosophie zeigt sich ebenfalls in Baudrillards Zeichenbegriff, der nur äußerlich semiotisch ist. Bedeutung wird erfaßt als Beziehung von Wesen und Erscheinung, die Nicht-Zeichen sind Hypererscheinungen, reine Erscheinungen ohne Wesen, ohne Urbilder, Schein, also ohne Referent und Bedeutung. 12 Die reinen Objekte sind halt so, wie sie sind. Das Hyperreale als Naivität getarnt - der alltägliche Zynismus. Die fehlende Differenz von Referent und Signifikat führt zu einer schlichten Bedeutungsauffassung: Die Simulation beginnt dort, wo den Signifikanten keine Gegenstände mehr entsprechen. Diese werden zu reinen Objekten, die nur noch für sich selbst stehen, „reversibel" sind. Zwei Wege der Kritik an der Subjektphilosophie können also unterschieden werden, die jeweils spezifische Probleme und Potentiale haben: Die erste, eben behandelte Grundform der Kritik identifiziert Subjekt, Sinn, Bedeutung, Repräsentation als originär subjektphilosophisch. Ihr bleibt daher eine Reformulierung dieser subjektphilosophisch deformierten Begriffe versperrt. Der Ort dieser Kritk wird das Nicht-Zeichen. Das Nicht-Zeichen wird jedoch nicht analysiert, sondern nur der Subjektphilosophie entgegengehalten. Wie bei Baudrillard gezeigt, hat dieser Weg jedoch eine fatale und ironische Konsequenz: Er führt direkt zu dem zurück, was kritisiert werden sollte. Die fehlende Analyse von Nicht-Zeichen führt zu einem mangelnden Unterscheidungsvermögen zwischen identitätslogischen leeren Zeichen und ästhetischen leeren Zeichen, so daß sich Erfahrungen mit den Nicht-Zeichen moderner Kunst begrifflich nicht umsetzen lassen. Gerade hier liegt jedoch eine entscheidende Quelle der Faszination durch das Sinnlose. Der zweite, oben betrachtete Weg ist die pragmatische Kritik an der Subjektphilosophie. Hier liegt eine überzeugende Kritik vor, die sich nicht von ihrem Gegenstand einfangen läßt, aber in einen intersubjektiv-sprachlichen Zirkel gerät. Eine Rezeption der ersten Form von Kritik, die Wiederaufnahme des Problems des Nicht-Zeichens, könnte diesen Zirkel sprengen. 43*

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Eine dritte Form der Kritik ist die Psychoanalyse. 13 Die Entdeckung des Unbewußten zerstört die Transparenz und Identität des subjektphilosophischen Subjekts. Ich ist ein anderer, und Es macht, was es will. Das Sinnlose erscheint hier als transzendentale Bedingung von Sinn. Eine philosophische Rezeption der Psychoanalyse in Deutschland 14 könnte dem stark kognitiv ausgerichteten Persönlichkeitsbild der sprachpragmatischen Kritik Impulse geben.

4. Allgemeine semiotische Bestimmung leerer Zeichen Ein solcher Bestimmungsversuch ist zweiseitig. Eine allgemeine semiotische Bestimmung der Nicht-Zeichen bedarf einer ebensolchen der Zeichen. In gleicher Weise setzt ein Verstehen des Sinnlosen ein Verständnis der Konstitution von Bedeutung voraus. Die allgemeinste und auch simpelste Bestimmung des Zeichens ist eine Relationsbestimmung: Etwas (Signifikant), das für ein anderes (Signifikat) steht.15 Ich nenne diese paradoxe Beziehung auch Repräsentationsprinzip oder das Zeichenparadox. Die Strukturen der Signifikanten, der Signifikate und der Verknüpfung beider können vorläufig als netzartig beschrieben werden. Diese Netzwerkstruktur ist Produkt eines Interpretationsprozesses. Nach Peirce 16 ist ein Zeichen erst dann ein Zeichen, wenn zwischen die einfache Beziehung von Signifikant und Signifikat ein weiteres Zeichen tritt - der Interpretant. Der Interpretationsprozeß läßt sich als ein Übersetzungsprozeß von Zeichen durch andere Zeichen vorstellen. Als Interpretant bezeichnet man „jedes andere Zeichen oder jeden Zeichenkomplex . . . , die in entsprechender Umgebung das erste Zeichen übersetzt". 17 Diese Übersetzung ist nicht einfache Reproduktion der Signifikate mittels anderer Signifikanten. Der Interpretationsprozeß findet in bestimmten Kontexten, situativen Bedingungen und in durch Zeichen schon vorstrukturierten Bedeutungshorizonten statt, die in ihn eingehen. 18 „Er ist immer und in jedem Fall eine Weiterentwicklung des Zeichens, eine vom urspünglichen Zeichen angeregte Erkenntniszunahme."19 Dieser Interpretationsprozeß, diese Form von Zeichengenerierung (Semiose) ist unbegrenzt, da jeder Signifikant zu einem Signifikat werden kann und dieses wiederum zu einem Signifikanten. Diese unbegrenzte Semiose muß aber praktischerweise unterbrochen werden können. Peirce nennt diese Unterbrechung den endgültigen Interpretanten, in den die Semiose einmünden muß. Endgültige Interpretanten sind „Gewohnheiten des praktischen Handelns" 20 im weitesten Sinne. Durch sie werden Individuen von Interpretationsleistungen befreit. Durch die Betrachtung des Interpretationsprozesses wird die allgemeine Zeichendefinition an Kontexte gebunden. Damit stellt sich die Frage nach dem situativen, kontextgebundenen Gebrauch von Zeichen durch Individuen. Allgemein kann dieser Gebrauch mit dem Paar Aktualität und Potentialität bzw. Anwendung und Regel (Wittgenstein) beschrieben werden. Diese Unterscheidung bezieht sich allgemein auf die Verknüpfung der Signifikanten, der Signifikate und der Beziehung beider zueinander. Für die Struktur der Signifikanten, die im Zusammenhang mit der Bestimmung der Nicht-Zeichen besonders interessiert, übernehme ich das Paar type (Signifikant)/token (Signifikantenexemplar) von Peirce.21 Durch diese Unterscheidung kann allgemein die Differenz im Übersetzungsprozeß beschrieben werden, aus der neue Zeichen entstehen können.

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Die in der Semiotik weitgehend ungeklärte Frage nach dem Referenten wurde bisher ausgeklammert. 22 Ecos nicht unumstrittenes Bemühen 23 gilt der Eliminierung des Referenten aus der Semiotik. „Ein Zeichen steht niemals für einen Gegenstand oder Referenten ... Die Bezugnahme auf einen Referenten erhellt nie das Signifikat des Zeichens ... Das Signifikat eines Zeichens läßt sich nur klären durch den Verweis auf einen Interpretanten, der wieder auf einen weiteren Interpretanten verweist... " 24 Dies ist insofern sympathisch, als Eco hiermit den naiven Realismus der Zeichenverwender (den alltäglichen wie theoretischen) durchbricht. Zeichen werden von Individuen genutzt, um sich gemeinsam über etwas in der Welt zu verständigen. 25 Aber dieses etwas (der Referent) ist nur über Signifikate zugänglich, nur in ihnen ist er gegeben. Die praktisch unerläßliche Gewißheit, daß es eine Welt gibt, die unser Handeln konditioniert und die wir nicht ignorieren können, ergibt sich nicht nur aus einer empirischen Evidenz, aus einer sinnlichen Erfahrung, sondern aus unserem Vermögen, diese Erfahrungen durch Formen von Identifizierungen zu strukturieren. Semiotisch werden diese Identifizierungsleistungen durch eine bestimmte Verwendung von Signifikanten unterstützt - den Namen. Namen sind starre Bezeichnungsrelationen. 26 Sie sind bedeutungslos, d. h. sie sagen nichts aus über die Eigenschaften oder über die Existenz von etwas. Namen geben nur Bezugspunkte an, auf die in der Verständigung andere Zeichen bezogen werden können. In diesem Sinne gehören die (Eigen-)Namen zur Semiotik, nicht jedoch die Referenten. Was man über letztere zu sagen hat, wird immer ein Signifikat sein. Die Semiotik der 60er und 70er Jahre war stark geprägt von der Frage nach der geregelten Verknüpfung von Signifikanten und Signifikaten. Das in diesem Zusammenhang etablierte Codemodell führt zu einigen unannehmbaren Konsequenzen. Die wichtigste ist die Aufhebung der paradoxen Beziehung von Signifikant und Signifikat durch Rückführung beider auf einen versöhnenden Code. Ich will dies kurz an Eco erläutern. 27 Charakteristisch ist hier die Trennung von Signifikationsprozeß und Kommunikationsprozeß. 28 Diese Trennung ist nicht nur ein versteckter, sondern ein expliziter Bezug auf die „alte" Namenstheorie. 29 Unter „Namenstheorie" verstehe ich in diesem Zusammenhang jene subjektphilosophischen Positionen, die ein einzelnes Subjekt unterstellen, das den Gegenständen Namen gibt. Unklar bleibt hierbei die Entstehung von Bedeutung, d. h. sie m u ß dem Subjekt irgendwie vorab schon gegeben sein und ist unabhängig vom Zeichen existent. Das heißt aber nichts anderes, als daß die Zeichen (in diesem Fall: Signifikanten) nur Träger von Bedeutung sind, nicht selbst auch konstitutive Bedingung. Der spätere Wittgenstein bringt diese Haltung, die er selbst mit vertreten hatte, klar zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Nach der Benennung fragt nur der sinnvoll, der schon etwas mit ihr anzufangen weiß." 30 Das aus der Trennung von Signifikation u n d Kommunikation hervorgehende Kernproblem ist die Trennung von Intersubjektivität u n d Interpretationsprozeß. Der Signifikationsprozeß ist die Verknüpfung von Signifikant u n d Signifikat mittels einer Verknüpfungsregel - d e m Code. Ist dieser Prozeß unabhängig von der Kommunikation, wie bei Eco 31 , d a n n ist der Code ein Willkürakt eines einzelnen Subjektes, also nur noch metaphysisch erklärbar. Oder aber der Code m u ß d e m

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Individuum von vornherein gegeben sein, und nicht nur ihm, sondern auch anderen Individuen, denn sonst ist Kommunikation bei diesem Modell nicht vorstellbar. Bei dieser Variante gibt es also nicht das rein aus sich schöpfende Individuum, sondern nur noch ein transzendentales, über den Individuen stehendes Supersubjekt, was gleichbedeutend ist mit der Auflösung des Zeichenparadoxes. Die Individuen werden zu Regelanwendern degradiert. Wichtiger jedoch als diese metaphysischen oder subjektphilosophischen Konsequenzen ist die Unerklärbarkeit der Dynamik des oben semiotisch beschriebenen Interpretationsprozesses. Denn nach Variante a) kann eine Veränderung des Codes im Ubersetzungsprozeß nur Willkür und Laune eines Individuums sein, nach Variante b) ein durch Zufall gemachter Fehler der regelanwendenden Individuen. 3 2 Dieses die Zeichenrelation zerstörende Codemodell bleibt weit hinter den mit ihm verbundenden Intentionen zurück. Aber es hat erstmals angezeigt, wie man von Zeichen (mit denen man lügen kann), zu Nicht-Zeichen gelangt (bei denen nur noch Irrtum möglich ist). Was sind nun Nicht-Zeichen, Simulacra? Zunächst nichts weiter als sich selbst bezeichnende Zeichen. Daraus lassen sich folgende Transformationen der gegebenen allgemeinen Zeichendefinition ableiten: 1. Inhaltlich: Das Simulacrum ist ein leeres Zeichen, d. h. eine Aufhebung der Bedeutung, des Signifikats. 2. Formal: Das Verhältnis von Signifikant zum Signifikat wird transformiert in ein Verhältnis von Signifikanten. Damit erfolgt eine Aufhebung des Zeichenparadoxes. Diese kann zwei Formen annehmen: (A) Die identitätslogische Auflösung des Zeichenparadoxes: Der Referent bleibt erhalten, und dieser Referent ist der Signifikant selbst. Dieses Simulacrum ist identitätslogisch, da es nicht für anderes steht, sondern sich selbst bezeichnet - aber dies in einer starren Bezeichnungsrelation. Es ist sein eigener Name. Da es sich selbst zum Referenten macht, nenne ich diese From von Simulacra selbstreferentiell. Die Anklänge an die Systemtheorie Luhmanns sind beabsichtigt. Aus dem Kontext der Einführung wird aber deutlich, daß der Name „selbstreferentiell" nicht auf Systemtheorie reduzierbar ist. (B) Die paradoxe Auflösung des Zeichenparadoxes: Durch die Auflösung von Signifikat und Referent wird das Zeichenparadox durch ein ästhetisches substituiert. Auch ästhetische Zeichen bezeichnen sich selbst, aber nicht in einer starren Relation. Sie halten sich nicht selbst fest, sondern verfügen durch ihren Selbstbezug über eine spezifische Dynamik. Im Unterschied zur Selbstreferentialität sind sie selbst- oder autoreflexiv. 33 Ästhetische Zeichen sind sinnlos. Sie haben einen zweifachen Affront: Gegen die identitätslogische Sinnlosigkeit („Moderne") und gegen die Fixierung und Erstarrung von Bedeutung („Tradition"). 3. Zeitlich: Die zeitliche Beziehung von Aktualität und Potentialität wird aufgehoben. Anstelle der Relation von type und token, Signifikant und Signifikantenexemplar 34 , steht jetzt Simultanität. Das Simulacrum ist präsent. 4. Räumlich: Die Relation von Anwesenheit und Abwesentheit als Aspekt der Beziehung von Signifikant und Signifikat wird aufgehoben. Das Simulacrum glänzt durch Abwesenheit.

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Ein Simulacrum wurde oben sehr abstrakt als ein sich selbst bezeichnendes Zeichen gefaßt, d. h. daß durch die Auflösung der Beziehung von Signifikant und Signifikat ein leerer Signifikant entsteht. Dies zu verstehen, bereitet einige Mühe, wenn man nicht einer substanzialistischen oder naiven Realitätsauffassung anhängt. Für eine derartige Abbildtheorie ist es ein Einfaches: Dem Zeichen entspricht nichts in der Realität, insofern repräsentiert es nichts. Da mit der oben eingeführten Fassung des Referenten sich diese Haltung verbietet, gibt es ein Problem: Der Begriff des Signifikanten ist nur sinnvoll definiert mit Bezug auf ein Signifikat. Auch bei abwesender Bedeutung im konkreten Fall des Simulacrums bedarf es des Bedeutungsbegriffs oder „ontologisch": eines bedeutungsgeladenen, paradoxen Kontextes. Simulacra 35 sind Verdrängungen des Paradoxen, und Verdrängung bedeutet zwar Deformierung, Dominanz etc., aber nicht Zerstörung. Folgende Formen leerer Zeichen können unterschieden werden durch Spezifikation der allgemeinen Definition: SIMULACRA

Paradoxe Auflösung des Zeichenparadoxes

Identitätslogische Auflösung des Zeichenparadoxes

selbstreflexiv

selbstreferentiell

ästhetische Simulacra

identitätslogische Simulacra i i I

geregelt

ungeregelt

type

token

\

I

|

rationale Simulacra

formallogische Simulacra

5. Rationale Simulacra und instants - der späte

instants

comparative Simulacra

Wittgenstein

Eine erste Spezifikation der allgemeinen Definition leerer Zeichen ergibt sich aus der Auflösung der Beziehung von Aktualität und Potentialität, type/token, Signifikant und Signifikantenexemplar. Diese Aufhebung kann zwei Formen annehmen, die Konsequenzen haben für alle anderen Komponenten der Definition leerer Zeichen : Die Differenz kann aufgelöst werden zugunsten von type (Regel) oder zugunsten von token (Anwendung, aktueller Gebrauch). Das Aufheben dieser Differenz ist identisch mit der Aufhebung von Bedeutung, weil diese Differenz Bedeutung konstituiert. Wittgensteins spätere Philosophie ist eine Selbstkritik, eine Kritik jener Sprach-

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auffassung des Tractatus, die meinte, mit der Formulierung einer allgemeinen logischen Form des Satzes das Wesen von Sprache erfassen zu können. Wittgensteins Konsequenz ist radikal: Es gibt keine Sprache mehr . . . nur eine Vielzahl variierender Sprachspiele. Diese lassen sich nicht ineinander übersetzen, weil es keinen einheitlichen, allen Sprachspielen zugrunde liegenden Code gibt. Sie sind daher nicht gleichgültig, sondern verwandt. „Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen . . . Und ich werde sagen: die ,Spiele' bilden eine Familie". 36 Was sind nun Sprachspiele trivialerweise? Sie sind einfach bestimmte beobachtbare Verwendungsweisen von Sprachen und Zeichen. Mit Wittgenstein verläßt die Philosophie den Elfenbeinturm: „Das Wort,Sprachspiel' soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform". 37 Sprechen ist Handeln, und Verstehen von Sprache setzt ein Verstehen der Lebensformen der Individuen voraus. Die Frage nach der Bedeutung wird transformiert in eine sozialphilosophische: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache." 38 Dies ist der revolutionierende Neuansatz der sprachpragmatischen Philosophie. Er stellt wesentliche Momente der Semiotik nicht in Frage, sondern ermöglicht ein erklärendes integratives Sprach- und Zeichenmodell. Konnte die Semiotik durch die Trennung von Signifikation und Kommunikation nur ein starres Codemodell entwickeln, so läßt sich jetzt unter Einführung des Regelbegriffs die Frage nach der Verknüpfung von Signifikant und Signifikat neu formulieren. Der Gebrauch der Wörter (die Bedeutung) erfolgt nicht regellos. Wenn es in unseren Lebensformen und auch in unseren Gebrauchsweisen von Sprache nicht irgendwelche Regelmäßigkeiten gäbe, dann wären weder Gemeinschaft noch Kommunikation, weder eine materielle noch eine symbolische Reproduktion denkbar. Die Existenz von Regeln begründet sich aus der sozialen Existenz der Menschen. Sprachverwendungsregeln sind nur ein Spezialfall von Verhaltensregeln und Normen, wie sie sich aus der Praxis in menschlichen Gemeinschaften ergeben. Wenn der Gebrauch ein geregelter ist, ist dann die Regel die Bedeutung? „Und sollen wir sagen, daß wir mit diesem Wort (Sessel - K. H.) eigentlich keine Bedeutung verbinden, da wir nicht für alle Möglichkeiten seiner Anwendung mit Regeln ausgerüstet sind?" 3 9 Wäre die Regel mit der Bedeutung identisch, kann es dann je eine Bedeutungsveränderung geben? Und wie kann dann jemals die Entstehung von Regeln, von neuen Regeln erklärt werden? „Können wir uns nicht eine Regel denken, die die Anwendung der Regel regelt?" 4 0 Offensichtlich muß es eine Differenz geben zwischen Gebrauch (Anwendung) und Regel, eine für Bedeutung konstituierende Differenz: 1. Die Bedeutung ist der Gebrauch. 2. Dieser Gebrauch ist geregelt. 3. Aber dieser Gebrauch kann nicht die Regel selbst sein. Eine Regel, deren Anwendung unter einer anderen Regel steht, führt in einen unendlichen Regreß, da es immer wieder einer Regel bedürfte, die wiederum einer anderen Regel untersteht etc. - es sei denn, es gibt eine Regel, die ihre Anwendung selbst regelt, eine Schleife, einen Kurzschluß, einen Zirkel. Halten wir zunächst fest: Regel und Regelanwendung (Gebrauch) sind nicht identisch, sondern paradox aufeinander verwiesen.

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4. Wenn dieser Fall der Nicht-Identität vorliegt 41 , dann kann der inhaltlose Regreß von Regeln, die jeweils eine unter ihnen stehende Regel regeln und von einer über ihr stehenden Regel geregelt werden, aufgelöst werden in einen Prozeß, in dem neue Regeln entstehen. Die unendliche Vielfalt möglicher Situationen, in denen Regeln angewendet werden können, macht es unmöglich, für jede dieser Situationen eine Anwendungsregel aufzustellen. Die ungeregelte Anwendung von Regeln in Situationen führt so zur Re- und Neuprodukton von Regeln (Bedeutungen). Neuproduktion erfolgt immer dann, wenn mit den bisher reproduzierten Regeln in einer neuen Situation Probleme auftauchen, seien es Verständigungsschwierigkeiten der Kooperierenden oder fehlendes Wissen über die neuen situativen Zusammenhänge. Der intersubjektive Interpretationsprozeß erweist sich so als situative ungeregelte Anwendung von Regeln, als Konstitution neuer Bedeutung. 5. Ist damit aber nicht eine Identität von Regeln und Bedeutungen postuliert (neue Regeln gleich neue Bedeutungen)? Und ergibt sich damit nicht ein Zirkelschluß derart, daß die unter 1. postulierte Identität von Gebrauch und Bedeutung substituiert werden kann durch die Identität von Gebrauch und Regel? Offensichtlich kann der unter 1. festgelegte Satz revidiert werden, damit auch der vermeintlich so fundamentale Satz der sprachpragmatischen Philosophie, daß der Gebrauch eines Wortes seine Bedeutung sei. Der Gebrauch eines Wortes ist der Prozeß der Konstituierung von Bedeutung und die Regel deren partielle Fixierung. Gebrauch und Regel, Kontinuität und Diskontinuität sind zwei paradox aufeinander bezogene Seiten der prozessierenden Bedeutung. Die Gleichung: Gebrauch = Bedeutung = Regel führt letztlich zu einer Aufhebung von Bedeutung - eine Implikation, die für das Problem der leeren Zeichen wichtig wird. 42 Konnten die leeren Zeichen semiotisch relativ unkompliziert als sich selbstbezeichnende Zeichen erfaßt werden, so bereitet die pragmatische Formel, daß die Bedeutung der Gebrauch sei, einige Schwierigkeiten. Denn leere Zeichen werden gebraucht, benutzt, angewendet; sind Momente einer Lebenspraxis und sollen dennoch keine Bedeutung haben. Daß sie im Gebrauch existieren, ist ja überhaupt Voraussetzung dafür, daß sie beschrieben werden können. Die Frage nach den Nicht-Zeichen wird also unter pragmatischen Aspekten zu einer Frage nach spezifischen Verhaltensformen gegenüber Gegenständen, die in diesem Handeln zu Quasi-Zeichen werden. Diese Schwierigkeiten lassen sich durch die eben gegebene Interpretation Wittgensteins auflösen: Der Satz, daß der Gebrauch die Bedeutung ist, bedeutet auch, daß Bedeutung verschwindet. Und zwar auf zwei verschiedene Weisen: 1. Man interpretiert Gebrauch als selbstanwendende Regel. 43 Dann erhält man die Formel: Die Gebrauchsregel ist die Bedeutung. Damit ist jedoch Bedeutung aufgelöst, weil sie entweder (A) in irgendeiner Form vorausgesetzt werden muß, als schon immer da und gegeben. Diese nicht erklärliche Bedeutung ist, einmal gegeben, unveränderlich. Oder aber (B), man verzichtet auf diese metaphysische Annahme und muß schließen: Es gibt keine Bedeutung, da eine ihre Anwendung selbst regelnde Regel situativ und damit inhaltlich geschlossen ist. Bezogen auf Individuen wäre dann ein solches Simulacrum ein Verhalten, das konkrete situative Gegebenheiten, d. h. Inhalte, Zeitlichkeit etc., ignoriert u n d stur Handlungsanweisungen, Regeln befolgt. Dienst nach Vorschrift. Dieses Verhalten bewegt sich jen-

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seits von konventionellen oder postkonventionellen Strukturen. Selbst konventionelles Verhalten kennt die Differenz von Regel und Anwendung, type und token. Es speist sich bei aller Selbstverständlichkeit aus sinnhaften Interpretationsprozessen. Dagegen impliziert eine bedingungslose Regelbefolgung ein „Moralbewußtsein", das nicht mal mehr lügen kann, sondern neben der Regel nur noch den Irrtum kennt. Durch die Formel „Gebrauchsregel = Bedeutung" ergibt sich eine Spezifikation der allgemeinen semiotischen Bestimmungen leerer Zeichen. Die Identität von Regel und Bedeutung impliziert eine Aufhebung der Beziehung von type und token zugunsten von type, d. h. zugunsten des Signifikantenschemas. Die Aktualisierung des Schemas ist das Schema selbst - eine ihre Anwendung selbstregelnde Regel. Damit wird Zeitlichkeit verdrängt: Es gibt keine Vergangenheit, aus der die types tradiert worden sind, und auch keine Gegenwart, in der die types aktualisiert, nicht bloß reproduziert werden. Die Auflösung der Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit führt auch hier zu reiner Anwesenheit. Diese ist aber spezifiziert als ein prinzipiell globaler Raum, da das Schema (type, Regel) abgekoppelt ist von den inhaltlichen, zeitlichen und damit auch räumlichen Bestimmtheiten von Situationen. Diese spezifische Form leerer Zeichen nenne ich rationale Simulacra. Zu (B): Das philosophische Problem, das sich hinter der Frage nach den Simulacra allgemein und bei dieser speziellen Form der sich selbstanwendenden Regel (d. h. einer Regel, die ihre Anwendung regelt) verbirgt, ist die Frage nach der Möglichkeit und nach den Formen der Gewißheit. Die Frage nach der Gewißheit ist immer eine praktische Frage. Genau wie Peirce seine unbegrenzte Semiose in eine „Gewohnheit praktischen Handelns" einmünden läßt, so stellt auch für Wittgenstein die praktische Unterbrechung der Argumentation die eigentliche Gewißheit her: „Als ob die Begründung nicht einmal zu Ende käme. Aber das Ende ist nicht die unbegründete Voraussetzung, sondern die unbegründete Handlungsweise." 4 4 Aber diese Form praktischer Gewißheit ist sehr verletzbar. Sie bedarf immer eines Zusatzes: „unter nomalen Bedingungen". 45 Was geschieht, wenn diese Gewohnheit brüchig wird? Vielleicht ein rationaler Diskurs. Was aber geschieht, wenn aus den rationalen Diskursen unendlich viele Erklärungen entspringen, weil die problematisierten Themen sich nicht mehr parzellieren lassen? Kann es in dieser (post/modernen) Situation eine ausschließlich symbolische Absicherung einer neuen praktischen Gewohnheit geben? Für eine Koordinierung von Verhalten unter diesen Bedingungen reichen symbolische Formen nicht mehr aus. Das ist der Punkt, an dem Simulacra generiert werden. Der Begriff der sich selbstanwendenden Regel ist eine Beschreibung einer solchen Form leerer Zeichen. Diese führt zwar zu einem unendlichen Regreß 46 , aber dieser ist wie bei der subjektphilosophischen Konstruktion ein unendlich-redundanter Regreß von Ebenen. Dies sagt aber nichts weiter aus, als daß diese Regel unendlich oft sich selbst anweden kann, ohne sich zu verändern. Im Gegensatz zu einer Regreßform, wie sie sich aus der Regelung einer Regel durch eine andere Regel ergibt („Beweis des Beweises"), die es nie zu einer Anwendung kommen läßt, ermöglicht die zirkuläre Regel sowohl eine Anwendbarkeit, ist damit sowohl praktisch handhabbar als auch eine Gewißheit durch ihre Unveränderlichkeit. Mittels

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einer derartigen Regel ist Lügen unmöglich, d. h. es kann keine Mißverständnisse geben. Sprecherintentionen (illokutionäre Akte) sind überflüssig, genau wie Interpretationen. Aber: „Kann man aus einer Regel ersehen, unter welchen Umständen ein Irrtum in der Verwendung der Rechenregeln logisch ausgeschlossen ist? Was nützt uns so eine Regel? Könnten wir uns bei ihrer Anwendung nicht (wieder) irren?" 4 7 Ja, wir werden uns wieder irren, denn Irren ist menschlich. Das heißt, soweit es irgendwelche Regeln gibt, gibt es die Möglichkeit der Abweichung. Aber der Irrtum als eine Form dieser Abweichung ist nur ein Fehler, ein absoluter Zufall. Er ist kein Mißverständnis, weil er kein Verstehen voraussetzt. Die Lüge operiert bewußt mit der Differenz von Meinen und Sagen, von Sprecherintention und propositionalem Gehalt im Perspektivenwechsel der InterSubjektivität, in der anticipation of the other.48 Daher hat eine Lüge Bedeutung, auch wenn sie etwas „Falsches" behauptet. Das Irren ist absolut notwendig mit der sich selbstregelnden Regel verknüpft. Diese Regel ist die Ursache ihrer selbst, ist die absolute Notwendigkeit, die zugleich immer auch der absolute Zufall ist. Die sich selbstanwendende Regel ist eine Insel der Gewißheit aus reiner Zufälligkeit. Sie unterbricht die Argumentationen und schafft eine Referenz, eine Selbstreferenz, von der aus Gewohnheiten entstehen können. Zu (A): Die Identität von Gebrauchsregel und Bedeutung kann auch mit einer vorab gegebenen Bedeutung zusammenfallen. Wenn diese nicht aus einer metaphysischen Annahme entstammt, kann sie nur aus einer dogmatisierten Tradition erkärt werden. Die sich hier zeigende Verhaltensform kann als Ritual, als Zeremonie begriffen werden. Im Gegensatz zu Baudrillard 49 und Trabant 50 werden Rituale hier als semantisch, als bedeutungsvoll begriffen. Aus ihrer strukturellen Nähe zu den Simulacra und aus ihrem Status als unhinterfragte Selbstverständlichkeit läßt sich nicht eine Bedeutungslosigkeit, eine Leere ableiten. Im Ritual existiert ein symbolischer Ausdruck der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung in Form einer fixierten Bedeutung. Rituale werden nur dann leer, wenn Veränderungen in dieser Ordnung durch die fixierte Bedeutung ignoriert werden. Das Ritual wird dann zum Dogma, das die teilnehmenden Individuen als Zwang und ihren Erfahrungen widersprechend empfinden - als sinnlos. Das Ritual kennt auch eine moralische Komponente, die den Simulacra völlig fehlt. Wie die Simulacra, so stellt sich auch das Ritual als eine Fixierung einer Perspektive dar, aber diese setzt sich nicht einfach absolut, sondern als Idealisierung. Das Ritual bleibt auf eine gesellschaftliche Ordnung bezogen, die sie symbolisch nachvollzieht, aber in diesem Nachvollzug auch eine Differenz kennt zwischen Sein und Sollen. Die strukturelle Nähe zu den leeren Zeichen hat sozialphilosophische Implikationen. In einer Moderne, die von Simulacra dominiert wird, können sich die fixierten Bedeutungen heimisch fühlen. Diese sind dann keine überlieferten mehr, aber strukturell traditional. Tradition und Moderne finden hier enge Berührungspunkte. Die moderne Kunst steht in ihrem doppelten Affront zwischen diese beiden Formen. Sie wehrt sich gegen die Sinnlosigkeit einer Identitätslogik genauso, wie gegen die Fixierung von Bedeutungen. Sie unterhält daher eine subversive Beziehung zum Ritual. Sie führt eine Differenz ein zwischen Macher und Konsument, Darsteller und Zuschauer. Diese Differenz verwandelt das Ritual in eine Szene 51 , in sinnlose Akte, die zur Interpretation freigegeben werden.

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2. Oder aber man interpretiert den oben genannten Fundamentalsatz so, daß Gebrauch und Bedeutung ohne Bezugnahme auf den Regelbegriff, also bei Exklusion der Regel, identisch sind. Es ist dies nur eine andere Weise der Auflösung des Zeichenparadoxes. Eine nicht reproduzierbare Bedeutung, was ja ein regelloser Zeichengebrauch letztlich wäre, ist auch keine neuproduzierbare Bedeutung, ist gar keine Bedeutung - sie ist nicht kommunizierbar. Es ergibt sich bei der weiteren Form leerer Zeichen eine Spezifizierung der oben gegebenen allgemeinen Definition. Wenn die Bedeutung allein im aktuellen Sprechen liegt, ohne Rückgriff auf ein Schema, eine Regel, dann existiert auch kein Rückgriff auf eine Vergangenheit, auf der Situation vorangegangene Verständigungsprozesse. Es gibt keine Zeitlichkeit, sondern Präsenz. Auch dieses Simulacrum kennt unter räumlichem Aspekt nur die Anwesenheit. Aber hier verursacht die Identität von Gebrauch, token und Bedeutung die Unmöglichkeit einer die Situation übergreifenden, d. h. kontextuell reproduzierbaren Bedeutung. War das oben betrachtete Simulacrum überzeitlich präsent und global räumlich anwesend, ist dieses Simulacrum an einen Ort, d. h. an einen bestimmten Zeit- und Raumpunkt gebunden. Ich bezeichne diese Form von Simulacra als instants. 6. Formallogische

und comparative

Simulacra

Die gewonnene Unterscheidung zweier Grundformen leerer Zeichen orientiert sich an den verschiedenen Möglichkeiten einer identitätslogischen Auflösung des Zeichenparadoxes, a) zugunsten von type = rationale Simulacra, b) zugunsten von token = instants. Eine weitere Differenzierung rationaler Simulacra ergibt sich aus unterschiedlichen Formen von Regeln: 1. Formallogische Regeln, die ihre Anwendung selbst regeln und logisch wahre Sätze generieren. 2. Formallogische Regeln, die ihre Anwendung selbst regeln und auf gegebene, außeraxiomatische Sätze angewendet werden, die nicht logisch wahr, aber logisch erfüllbar sind. Zu 1. Formallogische Simulacra sind tautologische Kalküle. Sie sind gegenüber Inhalten gleichgültig, und das Umformen von Tautologie zu Tautologie ist kein Prozeß, in dem inhaltlich Neues generiert wird. „In der Logik sind Prozeß und Resultat äquivalent. (Darum keine Überraschung.)" 5 2 Tautologien und Kontradiktionen, die über die logische Negation sich spiegelbildlich zueinander verhalten, sind Auflösungen des Zeichenparadoxes: „Tautologie und Kontradiktion sind Grenzfälle der Zeichenverbindung, nämlich ihre Auflösung". 5 3 Daher sind sie für den frühen Wittgenstein unsagbar. Tautologische Kalküle sind inhaltslos, können Inhalte nicht verarbeiten, sind aber auf Inhalte beziehbar. Sie gewinnen passive Bedeutung, wenn sie von außen interpretiert werden. „In einem formalen System muß die Bedeutung passiv bleiben; wir können jede Kette gemäß der Bedeutung der sie konstituierenden Symbole lesen, haben aber nicht das Recht, neue SÄTZE lediglich auf der Grundlage der ihren Symbolen zugeschriebenen Bedeutung aufzustellen. Interpretierte formale Systeme stehen auf der Grenze zwischen Systemen ohne Bedeutung und Systemen mit Bedeutung." 5 4 Das Operieren in einem logischen Kalkül bleibt

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also bedeutungsleer: Eine geregelte Anwendung festgelegter Regeln auf gegebene Sätze. Ein klassisches formallogisches Simulacrum ist die oben skizzierte subjektphilosophische Konstruktion. Sie erwies sich als weder aktiv noch passiv bedeutungsvoll. Der Begriff der passiven Bedeutung erlaubt eine Kritik dieser Konstruktion, ohne die Konstruktion als solche paradox zu reformulieren. Sie kann von ihren Intentionen, dem äußeren Interpretanten getrennt werden und nicht reformuliert, sondern reinterpretiert werden. Zu 2. Comparative Simulacra sind den formallogischen nah verwandt. Dennoch ist es plausibler, sie nicht logisch, sondern vergleichstheoretisch einzuführen. Vergleiche sind Handlungen, in denen Individuen mindestens zwei verschiedene Objekte in eine identitätslogische Beziehung bringen. Nach der Identitätslogik ist die Gleichheit (Vergleichbarkeit) von Verschiedenem unmöglich. Die zu vergleichenden Qualitäten müssen also nur scheinbar verschiedene sein, d. h., sie müssen sich mit Bezug auf ein ihnen zugrunde liegendes Drittes als Gleiche verhalten. Diese Vergleichskonstruktion schafft einen für die zu vergleichenden Objekte einheitlichen Bezugs-(Referenz-)rahmen. Dieses Dritte ist daher kein einfacher Signifikant, sondern Name, der sich auf einen Referenten bezieht. Das für eine Theorie leerer Zeichen Interessante an dieser Vergleichsqualität ist, daß es nicht bezeichnet werden kann im Sinne des Zeichenparadoxes. Jenes Dritte, das Identische, in das der Vergleich fällt, ist allen gemein, so daß es nichts anderes geben kann, außer es selbst. Es kann nicht etwas geben, das für es steht, weil jenes etwas nur es selbst ist. Und es kann nicht für anderes stehen, weil dieses andere wiederum nur es selbst ist. Es ist ein Zeichen, das sich immer nur selbst zu bezeichnen vermag. Und da es ein Name ist, der sich auf einen Referenten bezieht, kann dieser Referent nur der Name selbst sein. Es ist selbstreferentiell. Da es hier um einfache Vergleichshandlungen geht, schließt diese Kennzeichnung nicht aus, daß jenes Dritte in einer anderen Relation, d. h. außerhalb dieser konkreten Vergleichshandlung ein Signifikat ist, Bedeutung und Sinn hat. Man m u ß auch unterscheiden zwischen der identitätslogischen Funktionsweise von Vergleichen und der situativen und kontextuellen Konstitution. Letztere ist unmittelbarer Ausdruck von Subjektivität und wesentlicher Kern menschlicher Intelligenz. Für die Struktur einfacher Vergleichshandlungen ist typisch, daß die konstituierten Referenzrahmen aufeinander bezogen sind und sich nicht ein Bezugsrahmen absolut setzen läßt. Die sinnlose Potenz der Vergleichskonstruktion zeigt sich erst voll, wenn es zur Entstehung von Vergleichssystemen kommt. Vergleichssysteme lassen sich äußerst allgemein als Metavergleiche, als Vergleich von Vergleichen bestimmen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sich gegenüber vielen einzelnen Vergleichshandlungen ein für alle gültiges, gemeinsames Drittes etabliert. Die eigentlich kreative Leistung der situationsspezifischen Konstruktion einer Vergleichsqualität entfällt dadurch. Die Individuen werden von Subjektivität und Interpretationsaufwänden entlastet. Das im Metavergleich etablierte Dritte ordnet die einzelnen Vergleichshandlungen logisch, so daß eine identitätslogische Kompatibilität der einzelnen Vergleiche entsteht und die Ergebnisse jeder einzelnen Vergleichshandlung von diesem Rahmen bestimmt sind. Diese Struktur, die sich in jeder einzelnen Vergleichshandlung nur wiederum selbst bestätigen kann, ist das

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Vergleichssystem. Vergleichssysteme sind daher selbstreferentielle Systeme. Vergleiche verarbeiten ganz allgemein Inhalte nach bestimmten Kriterien. Diese Kriterien sind bei einfachen Vergleichshandlungen durch die situative und kontextuelle Einbindung selbst inhaltliche. Bei Vergleichssystemen kommt jedoch eine formallogische Ordnung einzelner Vergleiche hinzu, so daß sie eine eigenartige Doppelstruktur aufweisen: Sie sind einerseits formallogisch bestimmt, aber sie sind keine formallogischen Simulacra, da sie andererseits Inhalte verarbeiten. Sie sind gegenüber Inhalten gleichgültig, da sie über eine Metareferez verfügen, und doch selektieren sie Inhalte. Die Kriterien, die sie formulieren, sind daher forminhaltliche und der von ihnen selbstreferentiell erfaßte Relevanzbereich ein forminhaltlicher. Die inverse Duplikation eines tautologischen Kalküls durch Negation führt zur Bildung eines logischen Raumes. In diesem kann nun keinesfalls der ausgeschlossene Dritte wieder in das System eingeführt werden, denn dieser Raum ist eindeutig logisch determiniert. In ihm gibt es nur logisch erfüllbare Sätze, Sätze also, die sich gegenüber den Regeln und Axiomen des tautologischen Kalküls logisch widerspruchsfrei verhalten, also dem Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten in keiner Weise widersprechen. 55 Logisch erfüllbare Sätze sind aber nicht logisch generierbar. Insofern sind sie zwar logisch determiniert, aber zugleich nur wahrscheinlich, nicht logisch notwendig. Sie sind also inhaltlich offen. Sie können beliebige Inhalte aufnehmen, wenn und soweit sie logisch erfüllbare Sätze bleiben. Insofern sind sie also geschlossen und die Identität des tautologischen Kalküls ist das Selektionskriterium für die Inhalte, die als Informationen verarbeitet werden können oder nicht. Daß dieses forminhaltliche System logisch und vergleichstheoretisch begründet wird, ergibt zugleich eine direkte Anschlußstelle für handelnde Individuen. In deren Vergleichshandlungen werden nämlich jene nicht ableitbaren, aber logisch erfüllbaren Sätze generiert. Daß sie nicht ableitbar sind, ermöglicht es den Individuen, Ansprüche zu formulieren, zu begründen und zu kritisieren. Sie entwickeln „Programme" und inhaltliche Selektionskriterien. Logisch erfüllbar sind diese Sätze daher, weil die Vergleichshandlungen identisch sind in bezug auf das ihnen zugrunde liegende, Vergleiche ermöglichende Dritte - sie sind konkrete Vergleiche und zugleich Meatavergleiche, sie erfolgen alle in einer einheitlichen formalisierten Sprache. Welche Inhalte selektiert werden, hängt damit aber nicht nur von den Ansprüchen der Individuen ab, sondern davon, ob diese Ansprüche dem Kriterium der logischen Erfüllbarkeit genügen. Die Einbindung des Begriffs eines forminhaltlichen Systems in einen semiotischen Begründungskontext leerer Zeichen vermeidet das unkontrollierte Rückgreifen auf irgendwelche semantischen Potentiale und liefert zugleich Schnittstellen zur Bedeutungsproduktion von Individuen. Weiterhin wird es möglich, das Grundproblem jedes inhaltlich gedachten Funktionalismus zu vermeiden: Die Konstruktion eines Ganzen, das aus sich heraus Grundfunktionen seiner Reproduktion entläßt. Dieser letzte Punkt läßt sich mit Bezug auf Gödel 56 genauer erfassen. Mit dem Aufzeigen der logischen Struktur von Vergleichssystemen erscheint es mir hinreichend begründet, metamathematische Argumentationen in die Sozialphilosophie aufzunehmen - gleichwohl nicht als „Beweis", sondern als Anregung und Phantasie . . . Gödel hat die Nichtformalisierbarkeit der Zahlentheorie nachgewie-

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sen. Es gibt kein formales System, das die Zahlentheorie vollständig erfassen kann, ohne paradox zu werden. Appliziert man dieses Ergebnis auf Vergleichssysteme als soziale forminhaltliche Systeme, dann erreicht man für die gegenwärtige soziologische und sozialphilosophische Diskussion zweierlei. Erstens: Das Funktionalismusproblem. Das, was als funktionale Differenzierung beschrieben wird, muß nicht funktionalistisch erklärt werden, d. h. durch Einbeziehen irgendwelcher vorausgesetzter Grundfunktionen gesellschaftlicher Reproduktion. Durch die Anwendung der Gödelschen Resultate wird die Differenzierung von Vergleichssystemen allein aus ihrer internen Struktur erklärbar. Sie können nämlich nur dann identitätslogisch funktionieren (und darauf beruht ihre für moderne Gesellschaften unverzichtbare Leistungsfähigkeit), wenn sie sich nicht als Gesellschaft, sondern als abgetrennter Teil von ihr etablieren. Die Annahme, daß es sich bei Vergleichssystemen um forminhaltliche Strukturen handelt, hieße weiter gegen den Funktionalismus, daß es nicht inhaltlich differenzierte Funktionen sind - denn forminhaltliche Strukturen verhalten sich gegenüber Inhalten gleichgültig (und nur so ist die Innovativität moderner Gesellschaften begreiflich). Zweitens gewinnt man einen Begründungsmodus für die Differenz von Reproduktionsprozeß der Subsysteme und individueller bzw. kultureller Reproduktion.

7. Instants oder Der starre Blick Die Auflösung von Sinn und Bedeutung ist zugleich die Aufhebung von Kontexten, weil Bedeutung nur kontextgebunden existiert. Verschiedene Zeichenformen ermöglichen verschiedene Strukturierungen von Kontexten. Betrachtet man diese Unterschiede, kann damit auch eine Differenzierung der Auflösungsformen von Kontexten gewonnen werden. Zwei Zeichenformen sollen kurz betrachtet werden: 1. Sprachliche Zeichen, 2. Ikons. Zu 1. Die für Sprache typische Signifikantenstruktur wird im allgemeinen als doppelte Gliederung beschrieben. 57 Die erste Gliederung von sprachlichen Zeichen besteht in der Existenz elementarer Einheiten mit selbständiger Bedeutung (Morpheme). Die zweite Gliederung besteht in elementaren für sich bedeutungslosen Einheiten (Phoneme), deren Kombination erst zu bedeutungstragenden Einheiten führt (Moneme). In dieser Gliederung liegt der entscheidende Unterschied sprachlicher Zeichen gegenüber allen anderen Zeichenarten begründet. Die hohe Kombinierbarkeit der Signifikantenstrukturen (ca. 25-60 Phoneme) ermöglicht es, in allen möglichen Kontexten Mitteilungen über die Welt zu machen. 58 Weil Zeichenarten mit einfacher Gliederung immer an bestimmte Kontexte gebunden bleiben, können sie mittels sprachlicher Zeichen interpretiert werden. 59 Das heißt aber auch, daß sprachliche Zeichen die Fähigkeit zur Metasprachenbildung besitzen. Da sie in vielen Kontexten anwendbar sind, gibt es prinzipiell immer ein innerweltliches Außen, von dem aus der Sprachgebrauch in einem bestimmen Kontext sprachlich interpretierbar ist. Diese Rückbezüglichkeit ist keine identitätslogische Selbstreferenz, sondern die Fähigkeit zur paradoxen Selbstreflexivität. Diese Leistungen können durch die Einführung von Schriftsprachen potenziert werden. Diese tragen allgemein „Marken"-Charakter 60 , d. h. sie ermöglichen eine sinnlich-gegenständliche

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Fixierung, die die Gebundenheit an eine konkrete Kooperationssituation, wie sie durch die Lautsprache gegeben ist, überwinden kann. Damit dehnt sich der zeitliche und räumliche Anwendungsbereich von Sprache aus. Bilden sich nun in einem Transformationsprozeß auf der Grundlage sprachlicher Zeichen Simulacra, dann hat dies in bezug auf den Kontext folgende Konsequenz: Kann die Sprache aufgrund der doppelten Gliederung in allen Kontexten zur symbolischen, d. h. bedeutungsvollen Koordination von Kooperation gebraucht werden, so können jene aus ihr hervorgehenden Simulacra über alle Kontexte hinweg Kooperation koordinieren, ohne Bedeutungen zu produzieren. Diese sinnlose Potenz ist den formallogischen und comparativen Simulacra eigen. Zu 2. Nicht-sprachliche Zeichenarten sollen hier grob mit dem Begriff Ikon erfaßt werden. Eng verbunden mit Ecos Versuch einer Eliminierung des Referenten aus der Semiotik ist sein Bemühen um eine Reformulierung des Peirceschen IkonBegriffs. 61 Ikons werden naiv als Ähnlichkeit zwischen Gegenstand und Signifikanten bestimmt. Diese Auffassung verbietet sich jedoch, wenn der Referent problematisiert wurde. Das Phämonen der Ähnlichkeit läßt sich nur als im Subjekt selbst Liegendes klären. Es handelt sich hierbei um erlernte Wahrnehmungsmuster von reproduzierbaren Formen der konkreten Identität sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände, die ein wesentliches Charakteristikum von Sinnstrukturen darstellen. Ähnlichkeit zwischen einem als Referent betrachteten Gegenstand und einem als Signifikant betrachteten Gegenstand liegt dann in dem gleichen Wahrnehmungsmuster, das auf beide angewandt wird. 62 Das Erfassen der Bedeutung vollzieht sich nicht als hermeneu tische Vergeistung des Signifikanten: Die sinnvolle Aufmerksamkeit bleibt an die sinnliche Materialität von Gestalten gebunden. Es handelt sich um Ähnlichkeit und nicht Identität, weil es auch hier eine Differenz von Wahrnehmungsmusfer und Aktualisierung gibt. Ikonische Zeichen besitzen eine einfache Gliederung, d. h. soweit eine Zergliederung in elementare „Bild-"Einheiten überhaupt möglich ist 63 , sind diese immer bedeutungsvoll. Da die Wahrnehmungsmuster, in denen die konkreten Identitäten von sinnlich-erfahrbaren Gegenständen festgehalten werden, immer an sehr konkrete Kontexte gebunden sind, sind die Koordinationsleistungen ikonischer Zeichen gegenüber Sprache an spezifische, inhaltliche Kontexte verwiesen. Selbstreflexivität ist daher kaum möglich, oder wenn, dann meist durch eine Verbindung mit sprachlichen Zeichen (z. B. Übersetzung sprachlich gewonnenen Wissens in Piktogramme etc.). Werden ikonische Zeichen in Simulacra transformiert, dann kommt es zu einer Aufhebung der Wahrnehmungsmuster. Es entstehen Bilder, die nicht mehr reproduzierbar, nicht kommunizierbar sind, weil sie an eine einzelne Situation gebunden bleiben. Diese Auflösung von Kontexten durch Fragmentierung in Situationen ist die sinnlose Potenz von instants. Ist diese Fragmentierung gleichbedeutend mit dem Verschwinden von Kontexten? Nein, aber doch. Ein Kontext besteht immer aus Situationen. Ein Kontext beinhaltet immer Regeln, Muster, Bedeutungen, die neue Situationen einbinden. Ein derartiger Kontext bestimmt daher Situationen, auch wenn sie Ereignisse, also einzigarig sind. Er gibt ihnen Zusammenhang - zeitlich, räumlich, thematisch. Er ist re- und neuproduzierbar. Instants dagegen sind Situationen, die zusammenhanglos

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sind, was ihre kommunikative Struktur betrifft. Um wiederholt werden zu können, bedürfen sie zwar einer kontextuellen Organisation, aber dieser Kontext ist ein inverser: Die einzele Situation definiert den Kontext, die Unordnung stiftet Zusammenhang, das Asoziale sozialisiert, das Sinnlose schafft Sinn. Die Regellosigkeit und situative Flüchtigkeit von instants macht eine Selbstreferentialität über Namen unmöglich. Diese bedürfen einer gewissen kommunikativen und gegenständlichen Fixierung, die aber mit den instants verschwindet. Die starre Bezeichnungsrelation kann nur als veränderte Wahrnehmungsweise begriffen werden. Instants sind Revolutionierungen unserer Wahrnehmung. Das bewegte Sehen der Augen wird unterbrochen, und die Bedeutung löst sich auf im starren Blick. Starrende Menschen wirken abwesend. Sie sind nicht ansprechbar. Sie lösen sich nur langsam aus ihrer Erstarrung. Sie sind in einem Jenseits der Kommunikation. Aber die Abwesenheit täuscht. Der starre Blick hält sich nur an das Anwesende in seiner sinnlichen Präsenz. Er fragt nicht. Er ist fasziniert von der Oberflächlichkeit der Dinge, ohne Bedeutungen hinter ihnen zu vermuten. Der starre Blick ist unbeweglich. Er strukturiert die Dinge nicht. Er läßt sie auf sich zukommen. Er hält sich selbst fest in der Faszination der Selbsthypnose. Er ist selbstrefrentiell, denn egal, was er anstarrt, er starrt. Inhalte sind ihm gleichgültig, und er kennt nur den Zustand der Unbeweglickeit. Er selektiert nicht, er stellt keine Ansprüche, er ist tot, aber nicht gebrochen. Sehen ist Augenbewegung. Der starre Blick ist fasziniert von dem, was er nicht kann: Bewegungen. Er braucht bewegte Bilder, oder aber er hat Bewegungsprothesen, die seine Starrheit beschleunigen. Filmleinwände sind zu groß, um den Blick zu arretieren. Erst der Bildschirm gibt dem starren Blick die Chance, und erst die planierte Autobahn ermöglicht die Beschleunigung der Starrheit. Der starre Blick macht sich kein Bildnis. Er ist unfähig, Bilder zu sehen. Was er aufnimmt, sind Sequenzen, Abfolgen, fixierte Bildreste, die einen Moment das Starren unterbrechen: Das schnelle Wenden des Kopfes, und die Gleisschwellen stehen still, werden dem Blick entrissen und das Schienenband rollt weiter ab. Schnappschüsse auf Polaroid, mit denen die Erinnerung nichts anfangen kann. Von der Zeit bleibt nur Datum und Uhrzeit, digitalisiert am unteren Bildrand. Der starre Blick wird ergänzt durch den erstarrten Augenblick. Starrer Blick und erstarrter Augenblick sind zugleich das Grundprinzip aller derzeitigen technischen Medien. Sie speichern Augenblicke, bewegen Bilder und verfestigen mit ihrer Sendeleistung fragmentierte Kontexte. Instants mangelt es an der Konsistenz formallogischer Simulacra, und sie verarbeiten auch keine Inhalte nach fixierten Kriterien. In ihrer regellosen Beliebigkeit sind sie offen für alles. Sie sind die universalisierte Sinnlosigkeit. Schluß Wie ist heute Kritik der Subjektphilosophie möglich? Und: Wie sind moderne Gesellschaften zu verstehen? - diese Fragen wurden eingangs gestellt. Eine Theorie leerer Zeichen hat eine Distanz zur subjektphilosophischen Konstruktion, ohne sich von dieser zu distanzieren. Sie nimmt die Sinnlosigkeiten der Subjektphilosophie und löst sie von ihren sinnvollen Intentionen. Diese Trennung ermöglicht es, die 44

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sprachpragmatischen Reformulierungen aufzunehmen und die subjektphilosophische Konstruktion unverändert sozialphilosophisch zu reinterpretieren. Damit eröffnet sich ein Verständnis von Moderne als sinnloser Strukturierung, das es erst noch auszuholen gilt. Ulrich Beck hat in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie" von zwei sozialwissenschaftlichen Legenden gesprochen 64 : Die erste Geschichte erzählt von der Moderne als Zerstörung der Tradition, der Sinnressourcen, auf denen zugleich ihre Existenz beruht. 65 Der zweite Mythos denkt Moderne im industriegesellschaftlichen Rahmen: Sie ist Wandel ohne Wandel. 66 Angenommen: In jeder Uberlieferung findet sich ein stückweit Wahres . . . , dann müßte sich Moderne als permanente Sinnkrise darstellen, als fortlaufende Verflüssigung von Normen, die zunehmend kein funktionales Äquivalent findet. Normen sind Regeln, die prinzipiell mehrdeutig sind - „Wegweiser", wie Wittgenstein sagt, die orientieren, ohne alle Risiken und Pannen der Reise vorwegzunehmen. In ihnen selbst liegt das Potential des Mißverständnisses, und sie bedürfen der Erklärung, wenn man sich verfahren hat. Diese Erklärungen können zu rationalen Diskursen ausdifferenziert werden. In ihnen erfolgt eine thematische Isolation des Problems und eine Distanzierung der streitenden Parteien. Die Dynamik und Leistungsfähigkeit solcher Diskurse besteht nun darin, daß es nicht nur zu einem Perspektivenwechsel zwischen den Parteien kommen, sondern der thematisch abgesteckte Referenzrahmen selbst verschoben werden kann - eine Perspektivierung der Perspektiven aller Beteiligten - der Wegweiser wird etwas verrückt, die Landkarten verbessert, das Reisen optimiert. Dieser Erfolg ist jedoch an eine entscheidende Bedingung geknüpft: Das thematisierte Problem m u ß partiell sein, d. h. in einen funktionierenden Sinnzusammenhang eingebettet bleiben, aus dem der Diskurs seine Erfolgsressourcen beziehen kann. Was aber geschieht, wenn diese Partialität unmöglich wird, wenn aus den Diskursen unendliche Erklärungen entspringen, deren Mehrdeutigkeit Handeln unmöglich macht? Bleibt man hier stehen, kommt man zur ersten Legende: Durch die Dynamisierung von Kontexten rationalisiert die Moderne die Tradition und zerstört sich dabei selbst. Ulrich Beck wagt an diesem Punkt eine Gegenbehauptung: Gott ist zwar tot, aber es gibt auch ein „nachtraditionales Vertrauen" 67 , das uns ganz gut in der Moderne leben läßt. Eine Theorie leerer Zeichen findet hier Schnittstellen, denn leeren Zeichen ist eines gemeinsam: Sie sind Unterbrechungen der unbegrenzten Semiose, die hinter jedem Signifikant eine Bedeutung sieht und hinter dieser ein neues Zeichen vermutet ... Und sie unterbrechen den rationalen Diskurs, der sich kontextgelöst über jedes neue Argument freut. Leere Zeichen reduzieren die potentielle Mehrdeutigkeit radikal, aber nicht mehr sinnvoll-normativ, sondern auf sinnlose Weise. Sie sind der Urgrund nachtraditionalen Vertrauens. Aber leere Zeichen sind mehr: Sie ermöglichen Dynamisierung bei Stabilität und daher Komplexität und zwar in verschiedenen Formen. Formallogische Simulacra ermöglichen über rekursiv formulierte Regeln eine unendliche Dynamisierung, bei der die auf die Ergebnisse ihrer Anwendung sich geregelt anwendende Regel unverändert bleibt. Der so generierte unendliche Regreß ist endlich, weil er einen Anfang, eine Spitze hat. Das macht ihn praktisch relevant,

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und er kann in einer sozialtheoretischen Interpretation zur Beschreibung von Organisationshierarchien genutzt werden. Comparative Simulacra gestatten eine Dynamisierung, weil sie offen sind für beliebige Inhalte und für die Artikulation von Geltungsansprüchen; stabil, weil sie forminhaltlich Inhalte und Ansprüche selektieren. In ihnen wird die eigentliche Dynamik rationaler Diskurse unterbrochen, weil die Ansprüche und Begründungen nur als logisch erfüllbare Sätze formuliert werden können und damit ein Hinterfragen der Begründungssprache und eine Verschiebung des Referenzrahmens unmöglich ist. In einer sozialtheoretischen Interpretation können comparative Simulacra zur Beschreibung von Vergleichssystemen und ihrer forminhaltlichen Relevanzbereiche genutzt werden (Geld/Wirtschaft, politische Macht/Politik). Diese Vergleichssysteme sind Variations-, Selektions- und Distributionsprozesse. Sie erzeugen als solche wesentliche Momente sozialer Ungleichheit, womit ein erklärender Zugang zur Sozialstruktur moderner Gesellschaften möglich wird. Instants: Ihre Flüchtigkeit trainiert den Umgang mit sich überstürzenden sinnlichen Eindrücken und macht fit gegenüber Mobilitätsansprüchen. Den beliebigen Inhalten gewinnt der starre Blick Vertrautheit ab - alles schon mal gesehen und dennoch so spannend. In einer sozialtheoretischen Interpretation läßt sich über sie ein Zugang zu mehreren Problemen gewinnen: Zu den Selbstverständnissen, die mit dem Verlust „des lebensweltlichen Klassencharakters der Gesellschaft" 68 verkoppelt sind, und die sich den alten Indikatoren der Sozialstrukturanalyse entziehen; zu den Wahrnehmungsformen, die den lebensweltlichen Erfolg der neuen Medien bestimmen. Bleibt man bei diesem Punkt stehen, zeigt sich der zweite Mythos in rationalisierter Form: Wandel ohne Wandel. Aber ohne die Aufarbeitung dieser Mythen ist die entscheidende Frage nach dem Wandel des Wandels nicht zu klären. Leere Zeichen verdrängen Zeitlichkeit, aber dennoch unterliegen sie einer Evolution mit Eigenzeiten und sind zeitlich. Eine „Theorie reflexiver Modernisierung" 69 stünde dann vor der Frage, wie in die Selbstreferentialität leerer Zeichen Reflexivität aufgenommen wird/werden kann, ohne auf die für moderne Gesellschaften unabdingbaren Potentiale zu verzichten. Kai Haucke, Max-Beer-Str. 12, O -1054 Berlin

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7

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Vgl. D. R. Hofstadter: Godei, Escher, Bach, München 1991, S. 105. Ebd., S. 109. Ebd., S. 56. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1988. J. Baudrillard: Die fatalen Strategien, München 1985. Ebd., S. 116. Vgl. J. F. Lyotard: Intensitäten, Berlin 1978; L. Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg/Berlin 1977; M. Pecheux/F. Gadet: Sprachtheorie und Diskursanalyse in Frankreich, Berlin 1982, in: Argument 133, S. 386-399. J. Baudrillard: Die fatalen Strategien, S. 138. Ebd., S. 12. Ebd., S. 47, S. 141 f. und S. 171 f. Vgl. ebd., S. 220.

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12 Vgl. ebd., S. 61. 13 A. Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt/Main 1990, vgl. S. 70ff. 14 Vgl. J. Heise: Traumdiskurse. Die Träume der Philosophie und die Psychologie des Traums, Frankf u r t / M a i n 1989. 15 U. Eco: Im Labyrinth der Vernunft, Leipzig 1989, vgl. S. 15; J. Trabant: Zeichen des Menschen. Elemente der Semiotik, Frankfurt/Main 1989, vgl. S. 45f. 16 Vgl. Trabant: Zeichen des Menschen, a. a. O., S. 35. 17 U. Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt/Main 1977, vgl. S. 171. 18 J. Habermas: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/Main 1988, vgl. S. 89f. 19 U. Eco: Zeichen, a. a. O., S. 172. 20 Ebd., S. 164. 21 Vgl. Trabant: Zeichen des Menschen, a. a. O., S. 35. 22 Vgl. Eco: Zeichen, a. a. O., S. 29. 23 Vgl. Trabant: Zeichen des Menschen, a. a. O., S. 46 24 Eco: Zeichen, a. a. O:, S. 172f. 25 Vgl. Trabant: Zeichen des Menschen, a. a. O., S. 88. 26 S. A. Kripke: Name und Notwendigkeit, Frankfurt/Main 1981, S. 8. Kripke selbst hält jedoch an einer „naiven", d. h. semantischen Auffassung des Referenten fest. Vgl. S. 34. 27 Eco: Im Labyrinth der Vernunft, a. a. O., S. 13-44. 28 Ebd., S. 16f. 29 Vgl. ebd., S. 36f. 30 L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus/Philosophische Untersuchungen, Leipzig 1990, S. 116, §31. 31 Unabhängig meint hier nicht, daß es keine Kommunikation gibt, sondern daß das kybernetische SenderEmpfänger-Modell auf den Signifikationsprozeß keinen konstitutiven Einfluß hat. 32 Das heißt ein Irrtum, keine Lüge - d . h . auch, daß man mit diesen Zeichen nicht mehr lügen kann, daß sie also keine Zeichen mehr sind. Vgl. Eco: Im Labyrinth, a. a. O., S. 15. 33 Vgl. U. Eco: Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 145ff. Und: Trabant: Zeichen des Menschen, a. a. O., S. 132. 34 Vgl. Trabant: Zeichen des Menschen, a. a. O., S. 43. 35 im folgenden sind ästhetische Nicht-Zeichen, wenn nicht ausdrücklich bemerkt, immer ausgenommen. Aus Verständnisgründen bezieht sich das Wort „Simulacrum" auf die identitätslogischen Auflösungsformen des Zeichenparadoxes. 36 Wittgenstein: Tractatus .. ./Philosophische Untersuchungen, a. a. O., S. 138f., § 66/67. 37 Ebd., S. 110, § 23. 38 Ebd., S. 123, §43. 39 Ebd., S. 147. 40 Ebd., S. 149. Wittgenstein ist ein Fragender, der nach Antworten sucht. Eine Lektüre seiner Philosophie ist daher ein Befragen von Fragen, nicht eine Umformung von Fragen in präsente Antworten, wie etwa bei Manfred Frank. Vgl. M. Frank: Subjekt, Person, Individuum, in: Die Frage nach dem Subjekt, hg. von M. Frank/G. Raulet/W. v. Reijen, Frankfurt/Main 1988, S. 24 und ders.: Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt/Main 1989, S. 594. 41 Weil Wittgenstein fragt, bestreitet er nicht die mögliche Existenz von anderen Fällen - die Möglichkeit von Identität z. B., die für das Verständnis leerer Zeichen wichtig ist. 42 Die starke Betonung von „kann" ist unerläßlich. Die Gleichung „Gebrauch = Bedeutung = Regel" setzt selbst eine paradoxe Interpretation der verwendeten Kopula „ist" voraus. „Ist" wird einerseits als zweistelliges Prädikat gebraucht in der Aussage „Die Bedeutung ist der Gebrauch". Andererseits als ein Prädikationsoperator in der Aussage „Der Gebrauch ist geregelt". Daher ist der Schluß, daß der Gebrauch nicht die Regel sein kann, ein (sprach-)logisch korrekter, weil er zwischen diesen beiden Formen unterscheidet. Das Schließen vom „geregelten Gebrauch" auf die Identität „Gebrauch gleich Regel" ist dagegen unzulässig, also logisch paradox. Es ist logisch diskontinuierlich und verdrängt zugleich dieses Paradox. In dem die absolute Identität die verschiedenen Gebrauchsweisen von Wörtern in der Sprache ignoriert, ignoriert sie deren Bedeutung. Zurück bleibt sie selbst als ein inhaltloses Prinzip - als leeres Zeichen. Indem die moderne Logik versucht, diese Unterscheidungen formal zu formulieren (Subjektund Prädikattermini, ein- und zweistellige Prädikate etc.), hat sie passive Bedeutung, d. h. einen Interprétant. Aber: Auch sie ist keine prozessierende Bedeutung, da sie versucht, die sprachlichen Verwendungsweisen zu fixieren und tautologisch widerspruchsfrei zu regeln. Bedeutung kommt ihr nur durch den nachträglichen Bezug auf „natürlich" Sprache zu. Für sich genommen ist auch sie inhaltsleer, ohne Bedeutung. Vgl. H. Wessel: Logik u n d Philosophie, Berlin 1976, S. 90ff. 43 Man geht also von einer Identität von Gebrauch und Regel aus. Dabei m u ß es sich u m eine ihre Anwendung selbst regelnde Regel handeln, weil der unendliche Regreß von durch andere Regeln geregelte Regeln aufgrund seiner Unendlichkeit praktisch irrelevant ist. In diesem Falle w ü r d e es praktisch nie zu

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einer Regelanwendung kommen können, weil nie eine oberste Regel gefunden werden kann, die die Anwendung aller ihr untergegbenen Regeln regelt. Es gibt keine Spitze in dieser Hierarchie. L. Wittgenstein: Über Gewißheit, Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt/Main 1984, S. 143, § 110. Ebd., S. 125, § 27. Vgl. M. Frank: Das Sagbare und das Unsagbare, a. a. O., S. 594. Wittgenstein: Über Gewißheit, a. a. O., S. 124f., § 26. Vgl. O. Wiener: Über das Ziel der Erkenntnistheorie, Maschinen zu bauen die lügen können, d. h. eigentlich nur über einige Schwierigkeiten auf dem weg dahin, in: J. Baudrillard: Die fatalen Strategien, München 1985, S. 235-250. Baudrillard: Die fatalen Strategien, a. a. O., S. 204. Trabant: Zeichen des Menschen, a. a. O., S. 126f. Baudrillard: Die fatalen Strategien, a. a. O., S.- 209. Wittgenstein: Tractatus .../Philosophische Untersuchungen, a. a. O., S. 77, 6.1261. Ebd., S. 44, 4,466. D. R. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach, a. a. O., S. 56 f. H. Wessel: Logik, Berlin 1984, S. 58. Siehe: Hofstadter: Gödel, Escher, Bach, a. a. O.; R. Smullyan: Forever undecided, a puzzle guide to Gödel, Oxford 1987. Vgl. Eco: Zeichen, a. a. O., S. 78f.; Trabant: Zeichen des Menschen, a. a. O., S. 100. Trabant: Zeichen des Menschen, a. a. O., S. 101. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 107. Vgl. Eco: Zeichen, a. a. O., S. 66f. Vgl. Eco: Im Labyrinth, a. a. O., S. 57. Ebd., S. 83. U. Beck: Die Frage nach der anderen Moderne, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 12/1991, S. 1297-1308. Ebd., S. 1303. Ebd., S. 1300. Ebd. Ebd., S. 1301. Ebd.

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Hegel über unmittelbares Wissen Von ALEX BURRI (Bern) Im ersten Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes legt Hegel unter anderem ein Argument vor, wonach das Erkenntnisobjekt des unmittelbaren Wissens (oder der sinnlichen Gewißheit, wie er es auch nennt) nicht einfacher, sondern allgemeiner Art sei. Im folgenden Beitrag möchte ich zu zeigen versuchen, wie sich dieses Argument aius sprachphilosophischer Sicht rekonstruieren läßt und wo seine Schwäche liegt. Selbstverständlich kommt eine solche Rekonstruktion nicht ohne interpretatorische Freiheiten aus. So werde ich zum Beispiel einige objektsprachliche Äußerungen Hegels als metasprachliche deuten. Die sinnliche Gewißheit bestimmt Hegel wie folgt: „Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: es istUnmittelbares Wissen besteht demzufolge aus Aussagen, die dem jeweiligen Erkenntnisobjekt lediglich Existenz, aber keine Eigenschaften zusprechen. Die logische Form dieser Aussagen läßt sich somit durch (1)

(3x) x = a,

symbolisieren, wobei „a" für eine Individuenkonstante, für einen singulären Terminus steht. Nach heutiger Auffassung zerfallen die singulären Termini in drei Klassen: Eigennamen, Kennzeichnungen und Pronomina. Da Hegel zur Bezeichnung der Erkenntnisobjekte aber nur letztere verwendet, steht „a" hier für Demonstrativa wie „dieser", „diese" oder „dieses". (1) bedeutet also dasselbe wie „Es gibt ein x, das mit diesem (Ding) identisch ist" oder, einfacher gesagt, „Dieses existiert". Im Gegensatz zu Aussagen wie „Dies Salz [...] ist weiß, und auch scharf, auch kubisch gestaltet, auch von bestimmter Schwere" 2 , die dem Erkenntnisobjekt Eigenschaften zusprechen und es somit implizit in eine Relation zu anderen, qualitativ gleichartigen Objekten setzen 3 , scheinen Aussagen des Typs (1) völlig singulär zu sein: Sie behaupten lediglich die Existenz eines ganz bestimmten Einzeldings, ohne auf allgemeine (d. h. mehreren Objekten zukommende) Qualitäten Bezug zu nehmen. Von dieser Annahme geht Hegel aus, wenn er vom Erkenntnisobjekt des unmittelbaren Wissens sagt, es sei „reines Dieses, oder das Einzelne".4 In einem ausgesprochen komprimiert dargestellten Argument versucht er nun nachzuweisen, daß den Aussagen, die unmittelbares Wissen repräsentieren, diese Singularität nur scheinbar - sozusagen nur auf syntaktischer Ebene - zukommt. Hegels erster Argumentationsschritt besteht darin, die Demonstrativpronomina durch ein gleichwertiges Substitut zu ersetzen, nämlich durch das Terminuspaar

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„hier"/„jetzt". 5 Denn anstatt ein Objekt mit Hilfe des Pronomens „dieses" ostensiv zu bestimmen 6 , können wir auch eine das Objekt eindeutig festlegende Orts- und Zeitangabe machen, indem wir uns der beiden singulären Termini „hier" und „jetzt" bedienen. 7 In seinen Beispielen verzichtet Hegel allerdings auf die gemeinsame Verwendung von „hier" und „jetzt" 8 , operiert also lediglich mit Aussagen der Formen (2)

(3x) x = h

und (3)

O x ) x = j,

wobei „h" und „j" für „hier" bzw. „jetzt" stehen. In einem zweiten Schritt nimmt Hegel auf den Kontext Bezug, in dem die Sätze des Typs (2) oder (3) von einem Erkenntnissubjekt geäußert werden. Der argumentative Angelpunkt beruht darauf, daß sich die singulären Termini je nach Äußerungssituation auf unterschiedliche Erkenntnisobjekte beziehen. Hegel illustriert das unter anderem am Beispiel eines Satzes des Typs (3), der einmal während der Nacht (zum Zeitpunkt t,) und einmal während des darauffolgenden Tages (zum Zeitpunkt t 2 ) geäußert wird. Im ersten Fall gilt (4)

ö x ) ( x = jAx = t,),

im zweiten hingegen (5)

(3x) (x = j A x = t 2 ).

Unter der Annahme, so Hegels dritter Schritt, daß eine Wahrheit ihren Wahrheitswert nicht ändert 9 , tritt aber zwischen (4) und (5) ein logischer Widerspruch auf, da Wie Hegel im vierten und letzten Argumentationsschritt ausführt, kann diese widersprüchliche Konklusion nur durch die Revision der Annahme behoben werden, wonach die Aussagen der Typen (1), (2) und (3) singular seien. Das bedeutet, daß Ausdrücke wie „a", „h" und „j" nicht - wie ursprünglich angenommen - singuläre Termini (im eigentlichen Sinne des Wortes) sein können. 11 Die Frage nach der Gültigkeit des Hegeischen Argumentes hängt eng damit zusammen, worum es sich, wenn nicht um singuläre Termini, bei „a", „h" und „j" denn eigentlich handelt. Die ursprünglich von Keith Donnellan eingeführte Unterscheidung zwischen referenziellen und attributiven Kennzeichnungen, die später von Saul Kripke 12 und Robert Stalnaker 13 auf Namen und Pronomina ausgeweitet worden ist, vermag dies zu erklären. Ein referenziell verwendeter singulärer Terminus trifft auf ein einziges, von vornherein bestimmtes Objekt zu, während ein attributiv verwendeter singulärer Terminus ein einzelnes, aber unbestimmtes Objekt bezeichnet. So wird der Eigenname „Saul Kripke" in der Aussage „Saul Kripke hat Arbeiten zur Modallogik veröffentlicht" referentiell, in der Frage „Wer in diesem Saal ist Saul Kripke?" hingegen attributiv verwendet. Im zweiten Fall wird der Name - grammatikalisch-logisch gesprochen - nicht wie ein singulärer Terminus (im eigentlichen Sinne des Wortes) gebraucht, sondern wie eine Variable.

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Alex Burri, Hegel über unmittelbares Wissen

Wenn Hegel nun davon spricht, daß „das Itzt [...] eine Vielheit von Itzt" oder „eine einfache Vielheit der Itzt" 14 sei, so verwendet er den Terminus „jetzt" attributiv. Die von ihm im Anschluß an den vierten Argumentationsschritt vertretene These, wonach wir zwar mit einer Aussage des Typs (2) oder (3) ein von vornherein bestimmtes Einzelobjekt meinen, aber diese Intention nicht auszusprechen vermögen, weil die Sprache stets das Allgemeine (in unserem Wortgebrauch: das Attributive) bezeichnet, verneint also die Möglichkeit eines referenziellen Gebrauchs singulärer Termini. Die Konklusion des Hegeischen Argumentes fällt also doppelt aus. Zum einen verneint Hegel die ursprüngliche Annahme, derzufolge die Aussagen des Typs (1), (2) oder (3) singulär seien; zum andern bestreitet er darüber hinaus die Möglichkeit, daß die Sprache über Mechanismen zum referenziellen Gebrauch singulärer Termini verfügt - daß sie, mit anderen Worten, so etwas wie singulare Termini im eigentlichen Sinne des Wortes überhaupt enthält. Wie plausibel ist diese Konklusion? Ihr zweiter Teil kann meines Erachtens nicht aufrechterhalten werden, weil er kontrafaktisch ist: Der weitaus größte Teil der alltagssprachlichen und wissenschaftlichen Verwendung von Eigennamen, Kennzeichnungen und Pronomina ist referentiell, und nicht attributiv. Hegel trägt einer wichtigen Funktion der Sprache (der eindeutigen Bezugnahme auf bestimmte Einzeldinge) also nicht Rechnung. Der erste Teil der Konklusion steht und fällt mit der Überzeugungskraft des oben skizzierten Arguments. Dessen Schwachpunkt liegt nun im dritten und vierten Schritt, wo Hegel zu wenig genau zwischen Äußerungen (Sätzen) einerseits und Aussagen (Propositionen) andererseits unterscheidet: Derselbe Satz (z. B. „Ich habe Hunger" oder „Jetzt ist Nacht") kann in unterschiedlichen Äußerungskontexten nämlich verschiedene Propositionen ausdrücken. (4) und (5) sind zwei unterschiedliche Tiefenstrukturen (Propositionen) eines einzigen oberflächengrammatischen Satzes. Wenn nur sie - und nicht der Satz selbst - einen Wahrheitswert besitzen, tritt auch kein Widerspruch auf. Selbstverständlich ist die Frage nach den Wahrheitswertträgern nur legislativ zu beantworten. Sätze als Wahrheitswertträger zu postulieren, darf deshalb nicht von vornherein als unsinnig abgelehnt werden. Aber wenn dieses Postulat - wie im Fall Hegels - zur Folge hat, daß die Existenz singulärer Termini (im eigentlichen Sinne des Wortes) abgelehnt werden muß, sollten wir es zugunsten eines weniger folgenschweren Postulats (wonach Propositionen als Wahrheitswertträger zu gelten haben) aufgeben. Dementsprechend sollten auch bestimmte Einzeldinge als Erkenntnisobjekte des unmittelbaren Wissens anerkannt werden. Dr. phil. Alex Burri, Universität Bern, Philosophisches Institut, Falkenplatz 16, CH - 3012 Bern Anmerkungen 1 G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. von H.-F. Wessels und H. Clairmont, Hamburg 1988, S. 69, Z. 20f. Seine Hervorhebung. Vgl. auch S. 69, Z. 36f.: „die Sache ist; [...] dies ist dem sinnlichen Wissen das Wesentliche". Seine Hervorhebung. 2 Phänomenologie des Geistes, S. 81, Z. 1 - 4 . 3 „Der Gegenstand, den ich aufnehme, bietet sich als rein Einer dar; auch werde ich die

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Eigenschaft an ihm gewahr, die allgemein ist, dadurch aber über die Einzelnheit hinausgeht." Phänomenologie des Geistes, S. 83, Z. 10-13. Seine Hervorhebungen. Phänomenologie des Geistes, S. 70, Z. 4f. Seine Hervorhebung. Vgl. Phänomenologie des Geistes, S. 71, Z. 3 - 5 . An einer anderen Stelle spricht Hegel ausdrücklich vom Zeigen des Erkenntnisobjektes. Vgl. Phänomenologie des Geistes, S. 74, Z. 30 f. Genaugenommen wird durch ein raum-zeitliches Koordinatenquadrupel < Xj, x 2 , x 3 , t > nicht ein Objekt, sondern ein Ereignis bestimmt. Dem Text ist dafür keine Begründung zu entnehmen. Hegel sagt lediglich: „Ich [...] vergleiche auch nicht das Hier und Itzt selbst miteinander, sondern halte an Einer unmittelbaren Beziehung fest: das Itzt ist Tag." Phänomenologie des Geistes, S. 74, Z. 23-26. Seine Hervorhebung. ,,[E]ine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; eben so wenig dadurch, daß wir sie aufbewahren." Phänomenologie des Geistes, S. 71, Z. 10-12. Hegel spricht nicht von einem logischen Widerspruch, sondern davon, daß die zum Zeitpunkt t] geäußerte Wahrheit zum Zeitpunkt t 2 „schal geworden ist". Vgl. Phänomenologie des Geistes, S. 71, Z. 14.

11 Hegel drückt diesen Sachverhalt wie folgt aus: „Ein solches Einfaches, das durch Negation ist, weder dieses noch jenes, ein nicht dieses, und ebenso gleichgültig, auch dieses wie jenes zu sein, nennen wir ein Allgemeines". Phänomenologie des Geistes, S. 71, Z. 29-32. Seine Hervorhebungen. 12 Vgl. „Naming and Necessity", in: D. Davidson und G. Harman (Hg.): Semantics of Natural Language, Dordrecht 1972, S. 343, Anm. 3. Kripkes Unterscheidung zwischen starren und akzidentellen Designatoren entspricht derjenigen Donnellans nicht genau; zwar werden alle starren Designatoren referenziell verwendet, aber nicht alle akzidentellen Designatoren attributiv. 13 Vgl. „Pragmatics", in: D. Davidson und G. Harman (Hg.): Semantics of Natural Language, a. a. O., S. 389-394. 14 Phänomenologie des Geistes, S. 75, Z. 34f. und S. 76, Z. 12f.

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Das Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum Von ELISABETH WEISSER-LOHMANN (Bochum) Spätestens seit der Mitte dieses Jahrhunderts hat sich innerhalb der HegelForschung die Einsicht durchgesetzt, daß für die künftige Auseinandersetzung mit Hegel eine neue textkritische Ausgabe seiner Werke unverzichtbar sein wird. Als 1958 das Hegel-Archiv mit dem Ziel eingerichtet wurde, eine historisch-kritische Ausgabe der Hegeischen Werke zu erarbeiten, war die Einsicht in die Unzulänglichkeit der vorliegenden Editionen bestimmend; weder genügte die „Freundesvereinsausgabe" den gewandelten Ansprüchen noch hielt die „kritische" bzw. „neue kritische Ausgabe" der Philosophischen Bibliothek den gewandelten Ansprüchen stand. Darüber hinaus war die Sicherung der erhaltenen Hegel-Texte, wollte man nicht weitere Verluste riskieren, unverzichtbar geworden. Viele Texte, die Rosenkranz noch vorlagen und von späteren Herausgebern noch vergleichend herangezogen werden konnten, sind heute nicht mehr verfügbar. Erste - 1963 für die „Frühen Schriften" 1 und 1967 für die Arbeiten aus der Jenaer Zeit 2 durchgeführte Zusammenstellungen und Datierungen der bekanntgewordenen Hegel-Manuskripte und Notizen machten überdeutlich, wie viel inzwischen als verschollen gelten muß. Stark dezimiert wurde der Hegel-Nachlaß nicht nur durch die Erben; deren Unkenntnis, falsche Rücksichtnahme und Sorglosigkeit im Umgang mit den Materialen wurden erst in jüngster Zeit offenkundig. 3 Die beiden Weltkriege taten durch Teilung, Verlagerungen und Zerstörung das Ihre. Um so dringlicher wurde die Sicherung der heute noch verfügbaren Materialien. 1958 hatte das Land Nordrhein-Westfalen über die Arbeitsgemeinschaft für Forschung das Hegel-Archiv zur Unterstützung der Hegel-Edition eingerichtet. Der Gründung selbst folgte eine zehnjährige Entwicklungsphase, die für die verschiedensten editorischen und philologischen Arbeiten, die Anlage einer Sammlung von Hegel-Texten sowie den Aufbau einer Spezialbibliothek genutzt wurde. Als dann 1968 der Zeitpunkt gekommen war, durch Institutionalisierung des Archivs die langfristige Arbeit an dem Projekt „Hegel-Edition" zu sichern, mußten hierfür erst noch die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden. Das geltende Recht gestattete es der Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht, langfristige Arbeitsverträge, wie sie für ein solches Unternehmen notwendig sind, abzuschließen. Verschiedene Wege schienen möglich 4 . Erst eine Erweiterung des Grundgesetzes machte das Hegel-Archiv als Institution möglich. Der Artikel 91 des Grundgesetzes, der das Zusammenwirken von Bund und Ländern im Falle des Notstandes regelt, wurde

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erweitert. Gemeinschaftsaufgaben waren nicht länger ausschließlich auf den Notstand begrenzt, sondern der neue Zusatz b machte es möglich, daß künftig Aufgaben und Programme der Akademien durch das Zusammenwirken von Bund und Ländern getragen werden konnten. Als ein solches Gemeinschaftsprojekt w u r d e das Hegel-Archiv eingerichtet. Betreut wird die Hegel-Edition durch die HegelKommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Zur Stärkung der Gleichgewichtigkeit der Universitäten des Landes w u r d e das HegelArchiv 1968 dem Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum angegliedert. 5 Aufgabe des Archivs ist es, die historisch-kritische Gesamtausgabe von Hegels Werken zu erarbeiten. Dieser Auftrag fordert die konsequente Sammlung sämtlicher Hegelscher Schriften, der Manuskripte und der Nachschriften der Vorlesungen. Für die Arbeit an der Edition ist darüber hinaus die dem Archiv eigene Bibliothek - mit der von Hegel benutzten Literatur sowie der Forschungsliteratur über Hegel - eine wesentliche Stütze. Die Ubersetzungen der Hegeischen Werke bilden einen weiteren Sammelschwerpunkt der Bibliothek des Hegel-Archivs. Als Präsenzbibliothek steht diese Spezialbibliothek auch anderen Hegel-Forschern zur Verfügung und wird von zahlreichen in- und ausländischen Gästen benutzt. Neben der Schaffung dieser Rahmenbedingungen waren bis z u m Erscheinen des ersten Bandes der neuen Edition eine Vielzahl von Problemen zu überwinden: Weder lag eine für die Edition philosophischer Werke ausgearbeitete Methode vor, noch gab es eine Forschungstradition, an deren Prinzipien die Hegel-Edition unmittelbar anknüpfen konnte. So mußten die Prinzipien der Edition erst in verschiedenen Experimenten erarbeitet werden. Es zeigte sich, daß eine „Normalisierung" der Texte, d. h. eine Angleichung an die heutige Schreibweise, der gestellten Aufgabe wenig dienlich ist. Abweichend etwa von der Kant-Akademie-Ausgabe wurde auch darauf verzichtet, die Druckwerke getrennt von den handschriftlichen Überlieferungen in einer gesonderten Abteilung zu edieren. Zugunsten einer chronologischen Anordnung der Texte werden in den einzelnen Bänden Manuskripte und Drucktexte mit dem Ziel zusammengefaßt, größere Komplexe jeweils im Zusammenhang bearbeiten zu können. 6 Durch diese neue Zusammenstellung ergeben sich größere Sachgruppen, die erstmals einen genaueren Einblick in die Entwicklung der Hegeischen Philosophie gewähren. Der Vorteil dieser Neuordnung der Texte erwies sich bald. Der eingeschlagene Weg lehrte z. B., Hegels Jenaer Systementwicklung in einem neuen Licht sehen. Hatte noch Theodor Haering die Jenaer Systementwürfe am späteren System Hegels gemessen; so zeigte Heinz Kimmerle, daß die frühen Jenaer Texte eine Systemkonzeption entwickeln, die vom späteren System der Wissenschaften und auch von den Jugendschriften zu trennen ist. 7 Kimmeries neue Chronologie legte den Grund für die umfassende Neubewertung des Jenaer Hegel. Erstmals wurden diese Texte von der Forschung als eine eigenständige Periode in Hegels Denken behandelt. Die einander rasch ablösenden systematischen Entwürfe verdeutlichen aber nicht nur eine spezifische Entwicklung des Hegeischen Denkens, die erörterten grundsätzlichen Positionen und Argumentationen erhellen darüber hinaus das Spektrum idealistischen Philosophierens. Kimmeries Neubewertung blieb nicht unwidersprochen 8 - die Diskussionen der folgenden

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Elisabeth Weisser-Lohmann, Hegel-Archiv

Jahre lehrten eine Differenzierung in der Beurteilung des Jenaer Hegel, insbesondere was das Verhältnis zu Schelling, die Logik-Konzeption und Fichte-Kritik betrifft. 9 Die Jenaer Entwürfe zur Philosophie des Geistes machen die Eigenständigkeit dieser Entwicklungsphase auch hinsichtlich der politischen Philosophie Hegels deutlich: Hegels Ansatz in den Entwürfen zur ,Kritik des Naturrechts' folgt der in einem Volk realisierten Sittlichkeit und kann nicht in der späteren Konzeption der„Grundlinien" aufgelöst werden. 10 Nicht nur durch die Zusammenfassung der Drucktexte und Manuskripte einer Periode weicht die neue Hegel-Ausgabe von früheren Ausgaben ab, mit dem Abdruck der Vorlesungsnachschriften der Schüler in der zweiten Abteilung der „Gesammelten Werke" beschreitet diese Edition ganz neue Wege. Das sekundär Überlieferte wird erstmals getrennt von den direkt überlieferten Materialien in einer zweiten Abteilung der Ausgabe erscheinen. Diese separate Wiedergabe der Schüler-Nachschriften schafft erstmals für den Leser die Möglichkeit, das direkt Überlieferte von den Nach- und Mitschriften zu scheiden; eine neue Weise des Hegel-Studiums ist damit möglich geworden. Den Abschluß dieser historisch-kritischen Gesamtausgabe wird die dritte Abteilung mit den Hegeischen Briefen und Dokumenten bilden. Von den 22 Bänden der ersten Abteilung sind bisher 13 erschienen. Zuletzt sind die Bände 1, „Frühe Schriften Teil I" (von Friedhelm Nicolin und Gisela Schüler), 15, „Schriften und Entwürfe" (von Friedrich Hogemann und Christoph Jamme), und 3, „Frühe Exzerpte" (von Friedhelm Nicolin), herausgegeben worden. Bei der Vorbereitung der Texte für die einzelnen Bände bestätigte sich die Einsicht, daß eine historisch-kritische Ausgabe neben der philologischen Rekonstruktion der Texte auf eine philosophische Erarbeitung der Kontexte angewiesen ist. Vielfältige Forschungsbeiträge sind unmittelbar aus der Erarbeitung und Vorbereitung der Edition hervorgegangen. Neue Quellen, neue Datierungsvorschläge haben in den vergangenen Jahren immer wieder entscheidende Impulse zu kontroversen Fragen zu geben vermocht. Mit den seit 1961 jährlich erscheinenden Hegel-Studien wurde ein Forum geschaffen, das die Koordination und Förderung der Hegel-Forschung leistet. Neben den Beiträgen zur Hegel-Forschung enthalten die Bände der HegelStudien jeweils einen Editionsteil für neueste Quellen, Literaturberichte über Neuerscheinungen, Kritiken sowie eine Bibliographie der jüngst erschienenen Aufsätze. Mit einer ganzen Serie von Tagungen hat das Hegel-Archiv in den vergangenen Jahren, - begleitend zu der Edition einzelner Bände - Problemfelder der Hegeischen Philosophie aufzuarbeiten gesucht. Immer wieder war es die zentrale Frage nach den äußeren und inneren Entstehungsbedingungen, die Hegels Werk in einem neuen Licht sehen lehrte. Entgegen der Reduzierung auf theologische oder gesellschaftliche Gehalte führte die Auseinandersetzung mit den „Frühen Schriften" zu einer völligen Neubewertung des jungen Hegel. Die Frage nach dem Werdegang des jungen Hegel ist nicht abzulösen von der Frage nach den Entstehungsbedingungen des deutschen Idealismus insgesamt; untrennbar ist die Hegel-Forschung hier mit der Erforschung Fichtes, Schellings und Hölderlins verbunden. Im Zentrum dieser Aufklärung steht ein kleiner Text, das sogenannte „älteste Systempro-

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gramm des Deutschen Idealismus". Seit dieser handschriftlich überlieferte Text 1917 von Franz Rosenzweig ediert wurde, ist der Streit um die Autorschaft nicht mehr zur Ruhe gekommen. Der in Hegels Handschrift überlieferte Text - von Rosenzweig auf das Jahr 1796 datiert - war für Rosenzweig nicht mit Hegels Entwicklung vereinbar. Seine These lautete, der überlieferte Text sei eine Abschrift von einer fremden Vorlage. Der Autor der Vorlage aber sei Schelling. Rosenzweigs These eröffnete eine Diskussion, die deutlich machte, wie gering die Kenntnisse über die Entstehung der idealistischen Philosophie waren und sind. W. Böhm begründet seine These, Hölderlin sei der Verfasser des Systemprogramms, mit der Schelling gegenüber eigenständigen systematischen Position Hölderlins: Bei Schelling stünden praktische Vernunft und Ästhetik in keinerlei Zusammenhang, Schelling sei zu sehr Fichteaner, als daß er für das Systemprogramm als Autor in Frage käme. 1965 in seinem Beitrag zu den Hegel-Tagen in Urbino hat O. Pöggeler vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Hegeischen Denkens Hegel als Verfasser in die Diskussion gebracht. Gegen die These von der Autorenschaft Schellings hat Pöggeler später auf die Notwendigkeit verwiesen, die Frage zu klären, ob das „Programm die Schellingschen Formulierungen streng im Sinne Schellings gebraucht" und ob zur Zeit der Entstehung des Programms alle „Themata, die im Systemprogramm angeschlagen werden", in der Weise von Schelling gedacht werden, wie sie das Systemprogramm entfaltet. 1969 anläßlich der Hegel-Tage in Villigst veranschaulichte Pöggeler seine These, daß Hegel nicht nur Abschreiber, sondern Verfasser des Programms ist, anhand zentraler Themata, dem Philosophie-Begriff und der Mythos-Konzeption. Der Begriff des Mythos, wie ihn das Systemprogramm entfaltet, lasse sich keinem anderen als dem jungen Hegel zuordnen. 11 In Villigst unterstützte diese These Klaus Düsing, der in seinem Vortrag die Vereinbarkeit der Hegeischen Kritik an der Kantischen Postulatenlehre mit der Postulatenmetaphysik des Systemprogramms nachwies 12 . Die Frage nach dem Autor des Systemprogramms zwang die Forschung in differenzierter Weise die Entstehungsgeschichte idealistischen Philosophierens als ein Geflecht von Motiven und Anstößen zu entwirren. Immer wieder zeigten die einzelnen Beiträge, wie sehr die Argumente für oder wider einen bestimmten Verfasser von der richtigen Datierung des Dokuments abhängt. Nachdem Friedhelm Nicolin 1960 eine Photographie der Nachschrift, die sich im Besitz von Martin Buber befand, aufgefunden hatte, wurde 1979 das Original erstmals wieder zugänglich. 13 Neben der Schriftstatistik war nun auch eine Datierung mit Hilfe des Wasserzeichens möglich geworden. Das aus der Memminger Papiermühle stammende Papier ist dem verwendeten Wasserzeichen gemäß im Zeitraum zwischen 1796/97 hergestellt worden. Gegen Rosenzweig weisen diese neuen Forschungen am Original auf eine spätere Entstehungszeit des Programms hin: „Weihnachten 1796 bis Februar 1797" 14 ; Hegels Verfasserschaft im Ubergang nach Frankfurt findet mit dieser Wasserzeichendatierung nochmals eine Bestätigung. Gänzlich ignoriert werden die Argumente für die Neudatierung von Frank-Peter Hansen, der die 70jährige Rezeptions- und Interpretationsgeschichte zum „ältesten Systemprogramm" rekonstruiert und den bereits formulierten Positionen eine weitere hinzufügt: Inhaltliche Kriterien führen bei Hansen zu einer Datierung des Programms in die Berner Zeit Hegels;

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nur bis 1795 war Hegel ein Vertreter jenes „Vollblutkantianismus", den das Programm zum Ausdruck bringt. 15 Die Diskussion um die Autorschaft scheint unabschließbar! 16 Zum weiteren Umfeld der Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen des deutschen Idealismus gehört auch die Symposienreihe zu Nebenzentren des deutschen Idealismus. Homburg vor der Höhe, Frankfurt am Main, Mainz und Stuttgart 17 wurden in diesem Zusammenhang zum Gegenstand interdisziplinärer Tagungen. Aus historischer, politischer, gesellschaftlicher, stadtgeschichtlicher, künstlerischer und philosophischer Perspektive sollte das Leben und Wirken in der Umbruchszeit gedeutet werden. In welcher Weise findet u m 1800 die Auseinandersetzung des einzelnen oder einer Gruppe mit der sich wandelnden Gegenwart statt und in welcher Weise konnte die Vergangenheit aufgenommen und angeeignet werden? Diese Fragen durften nicht ignoriert werden, wollte man Hegels philosophische Entwicklung wirklich erfassen und die Entstehung der idealistischen Philosophie begreifen. Unter den Bänden der ersten Abteilung der „Gesammelten Werke" sind es vor allem die Nürnberger Schriften Hegels, die noch einmal die Frage nach der Entwicklungsgeschichte des Hegeischen Denkens aufwerfen werden. Weisen diese Arbeiten doch noch einmal zurück nach Jena und auf die „Phänomenologie des Geistes". Der Wandel hin zu den Entstehungsbedingungen der Heidelberger Arbeiten wird von den „Nürnberger Schriften" aus nachvollziehbar und rekonstruierbar werden. Neben der Entwicklungsgeschichte des Hegeischen Denkens bestimmen vor allem systematische Gesichtspunkte die weiteren Forschungsschwerpunkte des Hegel-Archivs. Fragen, wie die nach dem Verhältnis von „Logik und Geschichte in Hegels System" 18 , der Stellung der Hegeischen Ästhetik im Rahmen der preußischen Kulturpolitik 19 und die Position der Rechtsphilosophie Hegels im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte 20 standen in der Vergangenheit im Vordergrund. Die Ergebnisse können hier nicht im einzelnen referiert werden. Am Beispiel der Hegeischen Rechtsphilosophie soll daher im folgenden ein Einblick in die jüngsten Entwicklungen gegeben werden. In der Vergangenheit wurden wie für die anderen Systemteile so auch für die rechtsphilosophischen Vorlesungen Hegels Nachschriften der Schüler neu entdeckt und zugänglich gemacht. 21 Es wurde allerdings gewarnt, die von Schülern verfaßten Nach- oder Mitschriften der Vorlesungen nicht überzubewerten. Nicht außer acht bleiben darf in diesem Zusammenhang, daß diese Materialien oft die Hauptstütze für die Herausgeber der Freundesvereinsausgabe bildeten: Die Geschichtsphilosophie, die Ästhetik und die Philosophie der Religion sind in der Fassung der Freundesvereinsausgabe ohne diese Materialien undenkbar und auch künftige Ausgaben können auf diese Quellen nicht verzichten. Mit seinen Berliner Vorlesungen hat Hegel darüber hinaus entscheidend auf die Zeitgenossen gewirkt. Die Vorlesungsnachschriften kursierten unter den Schülern, zahlreiche Kopien entstanden und bestimmten die Rezeptionsgeschichte der Hegeischen Philosophie. Für die Rechtsphilosophie liegt mit den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" eine autorisierte Fassung dieses Systemteils vor; der Rückgriff auf Nachschriften scheint hier nicht notwendig. Allerdings waren die „Grundlinien" von

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Hegel als Leitfaden zum Gebrauch in den Vorlesungen bestimmt; insofern lieferten sie nur einen Grundriß, der der lebendigen Gestaltung und Ausschmückung durch Erläuterungen und Beispiele durchaus noch bedurfte. 22 Eduard Gans trägt in der zweiten Auflage der „Grundlinien" dieser Situation Rechnung. Er bereichert das Hegeische Kompendium um „Zusätze" aus den Nachschriften von Hotho und Griesheim. Wie hilfreich diese „Zusätze" sind, zeigt die Tatsache, daß fast alle der nachfolgenden Ausgaben die Gansschen Zusätze übernommen haben. Die Vorlesungen sind durch ihre freiere Ausdrucksweise auch heute für den Leser auf lebendige Weise erhellend und gehören - gerade in der Form der Gansschen Zusätze - unverzichtbar zur Wirkungsgeschichte der Hegeischen Rechtsphilosophie. Für eine historisch-kritische Ausgabe müssen die überlieferten Nachschriften allerdings differenziert betrachtet werden. Für die rechtsphilosophischen Vorlesungen ist zu den insgesamt sieben Vorlesungsjahrgängen jeweils eine Nachschrift erhalten. Die ungewöhnlich gute Überlieferungssituation vermag in besonderer Weise, die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieses Systemteils zu erhellen. Innerhalb der Nachschriften muß zwischen Paragraphentext und Erläuterungen unterschieden werden. Die Paragraphen, die Hegel vor dem Erscheinen der „Grundlinien" seinen Schülern diktierte, müssen als authentische Zeugnisse gelten. Die erst in den achtziger Jahren publizierte Nachschrift aus dem Wintersemester 1817/18 zeigt gegenüber der Encyclopädie von 1817 eine Umgestaltung der Systematik in Richtung auf den endgültigen Aufbau der Hegeischen Rechtsphilosophie. Mit den neuen Quellen konnte deutlich gemacht werden, in welchem Maße die Auseinandersetzung mit den Württembergischen Verfassungsfragen für Hegels Verfassungskonzeption bestimmend wurde. 23 Auf andere Impulse konnte in diesem Zusammenhang verwiesen werden: die Einwirkungen aus Frankreich und England, die Auseinandersetzung mit Spinoza. Diese Problemkreise sind nicht ohne Auswirkungen auf die Naturrechtsvorlesung des Wintersemesters 1817/18 geblieben und wirken in der Konzeption der Rechtsphilosophie von 1820 fort. Den seit dem Erscheinen der „Grundlinien" vorgetragenen Vorwürfen, Hegel sei mit diesem Buch zum preußischen Staatsphilosophen, zum Vertreter der Restauration geworden, hat Karl-Heinz Ilting die Vorlesungsnachschriften (Homeyer, Hotho und Griesheim) zu den rechtsphilosophischen Vorlesungen Hegels entgegengehalten. Dem eindeutigen Votum für die Monarchie, wie es der „royalistische Philosoph" in den „Grundlinien" vortrage, stehe die „liberale Auffassung von der Monarchie", wie sie die Vorlesungen dokumentieren, entgegen. Die Edition der Nachschriften sollte die These von der „Akkomodation" Hegels belegen: Durch Umarbeitungen und Korrekturen des bereits abgeschlossenen Textes seines Kompendiums zur Rechtsphilosophie soll Hegel den Text an die neue politische Situation angepaßt haben. Die Frage, ob der politische Standort Hegels und seine politische Philosophie eher liberal oder konservativ-restaurativ einzuschätzen ist, wird nach wie vor kontrovers beantwortet. Die These allerdings, Hegel habe den Text der Rechtsphilosophie während der Entstehungszeit an die politischen Verhältnisse angepaßt, ist durch die Dokumentenlage nicht zu stützen. 24 Die Unterscheidung zwischen liberaler Grundkonzeption und politischer Option für den restaurativen preußischen Staat, wie sie Ilting einführte, kann nur dann zur

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Klärung der Frage beitragen, wenn diese Differenzierung sich an den konkreten historischen Verhältnissen bewährt: In welchem Sinne kann überhaupt im Preußen Hegels von Liberalismus gesprochen werden und auf welche gesellschaftlichen Fundamente konnte sich dieser Liberalismus stützen? Bereits die frühen Stellungnahmen Hegels zu aktuellen politischen Fragen machen deutlich, wie eng die Grundkonzeption seiner politischen Philosophie mit seiner politischen Option zusammensteht. 2 5 Auch in seiner letzten Schrift, dem Aufsatz zur Englischen Reformbill nimmt Hegel Stellung zu den aktuellen Problemen in Europa. Wie sich diese Stellungnahme Hegels innerhalb der Positionen der Zeitgenossen verorten läßt - liberal, konservativ oder reaktionär - wird eine Tagung in Bochum im Herbst 1992 zu diskutieren haben. Für die Arbeit des Archivs sind in jüngster Zeit Hegels Berliner Arbeiten und die Vorlesungsnachschriften der Schüler zum Schwerpunkt geworden. Die noch ausstehenden Bände der ersten Abteilung sind für die Gesamtplanung der Ausgabe bereits erschlossen und konzipiert. Die Edition der zweiten Abteilung, die das sekundär Uberlieferte enthält, steht in dieser Hinsicht erst am Anfang. Erstmals wurden jüngst die fast achtzig überlieferten Nachschriften zusammengestellt und erste Vorschläge für die Aufteilung der einzelnen Bände sowie die methodischen Prinzipien der Edition erarbeitet. 26 Mit der Edition der Vorlesungsnachschriften rücken jene Probleme ins Zentrum, die die Wirkungsgeschichte der Hegeischen Philosophie entscheidend prägten. Für die dritte Abteilung (Briefe und Dokumente) gibt es bereits gute Voreditionen: Alle neu entdeckten Briefe und Dokumente Hegels wurden in der Vergangenheit in den Hegel-Studien bekanntgemacht. Diese Vorleistung wird die rasche Vollendung der dritten Abteilung erheblich erleichtern und den endgültigen Abschluß der Ausgabe „Gesammelte Werke" in nicht allzu ferner Zukunft möglich machen. Dr. phil. Elisabeth Weisser-Lohmann, Ruhr-Universität fach 102 148, W - 4630 Bochum 1

Bochum,

Hegel-Archiv,

Post-

Anmerkungen 1 G. Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften, in: Hegel-Studien, Bonn 2 (1963), 111-159. 2 H. Kimmerle: Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften, in: Hegel-Studien, Bonn 4 (1967), 125-176. 3 Der Geschichte des Hegeischen Nachlasses geht der Bericht von D. Henrich und W. F. Becker: „Fragen und Quellen zur Geschichte von Hegels Nachlaß" nach. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Meisenheim/Gl. 35 (1981), 585-610. 4 Otto Pöggeler: Die Förderung der Editionen durch die DFG. Entwicklungen und Möglichkeiten, in: Philosophisches Jahrbuch 80 (1973) 11 ff.; Günther Brenner: Akademienprogramm - Die Lage der Editionen nach der Überleitung, in: Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte, hrsg. von Walter Jaeschke u. a., Hamburg 1987, 27ff. 5 Hermann Krings: Wohin mit den Editionen? Zur Lage der langfristigen Forschungsvorhaben im Bereich der Geisteswissenschaften, in: Geisteswissenschaften als Aufgabe, hrsg. v. H. Flashar, N. Lobkowicz, O. Pöggeler, Berlin/New York 1978, 54ff.; Wolfgang Kluxen: Der Geist lebt vom Buchstaben. Über Texte und Texteditionen als Träger geschichtlicher

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Kontinuität der Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Stuttgart 3 (1980), 7-19; Hermann Lübbe: Philosophische Editionen - kulturpolitisch von hohem Rang, wissenschaftspolitisch ohne Präferenz, in: Wirtschaft und Wissenschaft, 2 (1976), 2ff. 6 H. Heimsoeth: Die Hegel-Ausgabe der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in: Kant-Studien 51 (1959/60), 506-511; K. Düsing: Bericht des Hegel-Archivs der Ruhr-Universität Bochum über den Stand der Edition von Hegels Gesammelten Werken (am 30.5.1975), in: Ist Systematische Philosophie möglich?, hrsg. von D. Henrich, Red. K. Cramer, Bonn 1977, HegelStudien Beiheft 17, 705-716; A. Gethmann-Siefert: Hegel-Archiv und Hegel-Ausgabe, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, 30 (1976), 609-618. 7 Vgl. Heinz Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels ,System der Philosophie' in den Jahren 1800-1804, Bonn 1970, Hegel-Studien, Beiheft 8. 8 Vgl. die Kritik von R. P. Horstmann: Probleme der Wandlung in Hegels Jenaer Systemkonzeption, in: Philosophische Rundschau 19 (1972), 87-118; O. Pöggeler: Hegels Jenaer Systemkonzeption, in: Hegels Idee einer Philosophie des Geistes, Freiburg 1973, 110-169. Zu den Einwänden nimmt Kimmerle Stellung in der zweiten Auflage seines in Anmerkung 7 genannten Buches, vgl. S. 313ff., Bonn 19822. 9 Eine Ubersicht über die Forschungslage und die einzelnen Positionen gibt Klaus Düsing: Hegel in Jena, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, 32 (1978), 3, 405-416. 10 K.-H. Ilting: Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik, in: Philosophisches Jahrbuch 71 (1963/64), 38-58; M. Riedel: Hegels Kritik des Naturrechts, in: Hegel-Studien, Bonn 4 (1967), 177-204. Fortgeführt wurde diese Auseinandersetzung von G. Göhler: Dialektik und Politik in Hegels frühen politischen Systemen, in: G. W. F. Hegel: Frühe politische Systeme, hrsg. und kommentiert von G. Göhler, Frankfurt a. M. 1974, 337-610; W. Bonsiepen: Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, in: HegelStudien, Beiheft 16, Bonn 1977, 21-126 und L. Siep: Der Kampf u m Anerkennung, in: Hegel-Studien 9 (1974), 155-207, um nur einige Beiträge zu nennen. l l O . Pöggeler: Hölderlin, Hegel und das älteste Systemprogramm, in: Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus, hrsg. v. R. Bubner, HegelStudien Beiheft 9, Bonn 1973,239. 12 K. Düsing: Die Rezeption der kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels, in: Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus, hrsg. v. R. Bubner, Hegel-Studien Beiheft 9, Bonn 1973, 53-90. 13 Vgl. dazu F. Nicolin: Aus der Uberlieferungs- und Diskussionsgeschichte des Altesten Systemprogramms, in: Hegel-Studien 12 (1977), 31 f. D. Henrich konnte den Weg, den das verschollene Manuskript während der Um- und Zwischenlagerungen in den Kriegswirren machte, verfolgen. Das Original lagert heute in der Biblioteka Jagielloriska in Krakow. 14 Vgl. die Einleitung der Herausgeber, in: Mythologie der Vernunft. Hegels ,ältestes Systemprogramm' des deutschen Idealismus, hrsg. v. Ch. Jamme und H. Schneider,Frankfurt a. M. 1984, 21-76. 15 F.-P. Hansen: „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus", Berlin/New York 1989. Vgl. auch die Rezension von H.-J. Gawoll: Das Verschwinden des Originals - Apropos neuerer Forschungen zum sogenannten „ältesten Systemprogramm" des deutschen Idealismus. Erscheint im nächsten Band der „Zeitschrift für Philosophische Forschung". 16 Zur Entwicklungsgeschichte des Hegeischen Denkens vgl. auch den Sammelband: Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel, hrsg. von Ch. Jamme und H. Schneider, Frankfurt a. M. 1990. 17 Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis 45

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Elisabeth Weisser-Lohmann, Hegel-Archiv

um Hegel und Hölderlin, hrsg. v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart 1981; ,Frankfurt aber ist der Nabel dieser Welt.' Das Schicksal einer Generation der Goethezeit, hrsg. v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart 1983; Mainz. Centraiort des Reiches. Politik, Literatur und Philosophie im Umbruch der Revolutionszeit, hrsg. v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart 1986; „O Fürstin der Heimath! Glückliches Stutgard" - Politik, Kultur und Gesellschaft im deutschen Südwesten um 1800, hrsg. v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart 1988; Jenseits des Idealismus, hrsg. v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Bonn 1988. Hrsg. v. H.-C. Lucas und G. Planty-Bonjour, Stuttgart 1989. Hegel in Berlin. Preußische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik. Zum 150. Todestag des Philosophen, hrsg. v. O. Pöggeler in Zusammenarbeit mit Wolfgang Bonsiepen u. a., Berlin 1981; Kunsterfahrung und Kunstpolitik im Berlin Hegels, hrsg. v. O. Pöggeler und A. Gethmann-Siefert, Hegel-Studien Beiheft 22, Bonn 1983; Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik, Hegel-Studien Beiheft 27, Bonn 1986, hrsg. von Fr. Nicolin und O. Pöggeler. Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, hrsg. von H.-C. Lucas und O. Pöggeler, Stuttgart 1986. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft, Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19, hrsg. v. C. Becker u. a., Hamburg 1983; G. F. W. Hegel: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hrsg. von D. Henrich, Frankfurt 1983; G. W. F. Hegel: Die Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-31. Edition und Kommentar in vier Bänden von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart 1973, 74. Hegel flocht solche Ausführungen in seinen Vortrag ein, dies zeigen nicht nur die Nachschriften. Hegels Handexemplar der „Grundlinien" enthält handschriftliche Eintragungen, die als Gedankenstützen während des Vortrages, die einzelnen Paragraphen illustrieren. Vgl. den Beitrag von C. Jamme: Die Erziehung der Stände durch sich selbst - Hegels Konzeption der neuständisch-bürgerlichen Repräsentation in Heidelberg 1817/18 - in dem in Anmerkung 20 zitierten Sammelband. Für das folgende vgl. auch die Beiträge von G. PlantyBonjour, J. D'Hondt, E. Fleischmann, Z. A. Pelczynski, H.-C. Lucas und N. Waszek in dem oben genannten Sammelband. Vgl. H.-C. Lucas und U. Rameil: Furcht vor der Zensur?, in: Hegel-Studien, Bonn 15 (1990), 63-93. O. Pöggeler: Hegels Option für Österreich, in: Hegel-Studien, Bonn 12 (1977), 83-128. Die Ergebnisse werden mitgeteilt in: Hegel-Studien, Bonn 26 (1992).

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KORRESPONDENZ

Von den Schwierigkeiten der Zuspitzung Replik auf Udo Tietz' „hilfslosen Antistalinismus des Bert Brecht" Von KATHARINA BLUHM (Berlin) Beim Umräumen der Bücherregale nach der „friedlichen Revolution" werden wohl Brecht-Bände nicht zu jenen gehört haben, die sich vor den Türen des abgeschafften Altstoffhandels der Noch-DDR stapelten. Indes macht die Zeit der Revisionen, des Umdeutens und -stellens, die meist gesellschaftliche Erschütterungen und Einstürze begleitet, auch um sie keinen Bogen.1 Brecht ist in dieser Hinsicht sogar von speziellem Reiz. Denn sein über Kunst vermitteltes politisches Denken prägte, wie kaum ein anderes, das Welt- und Selbstverständnis vieler der künstlerischen und in einigen Fällen der akademischen Nachkriegsgeneration, d. h. jener, die sich als kritischer Teil der neuen, sozialistischen Intelligenz verstanden. Besonders trifft das auf die Jüngeren zu, deren Chancen zur eigenständigen Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Faschismus ihrer Elterngeneration den politisch-strategischen Kalkülen zwischen Einheit und Teilung Deutschlands geopfert wurden und die sonst keine kulturelle Ausdrucksform ihrer Lebenslage fanden. Selbst hochpolitisiert, bot ihnen das dezidiert politische Theater „des Alten" eine Alternative, und zwar auf der „richtigen Seite der Weltgeschichte". Über Brechts Tod hinaus blieb sein Theaterkonzept lange Zeit Antipode des verlogenen Umgangs mit dem „klassischen Erbe" und des „sozialistischen Realismus". Es kommt daher nicht von ungefähr, daß es in einer Analyse des ZK der SED von 1951 heißt: „Brecht ist gut, doch darf er keine Schule machen" 2 , was auch praktisch und nicht ohne Erfolg versucht wurde zu verhindern. Brechts Wirkungen beschränken sich jedoch keineswegs auf die des Künstlers; schon sein ausgeprägtes Interesse an Philosophie, Wissenschaft und Politik spricht dagegen. Hinzu kommt die Stellvertreterrolle von Literatur, die sie bekanntlich in der DDR durch das Fehlen einer öffentlich ausgetragenen analytischen Gesellschaftskritik einnahm. Brechts eigenwillige Dialektik, sein Umgang mit Marxens Theorie waren erfrischende Reibungspunkte und Medium für Diskurse gegen die offiziellen Doktrinen; sein Haus blieb selbst noch als Museum Ort für Debatten - gerade auch für philosophische - , die anderswo nicht geführt werden durften, von Leuten, die anderswo nicht gehört wurden. 3 Unausgesprochen steht Udo Tietz in dieser Tradition. Indirekt geht die Polemik nicht zuletzt gegen deren Axiome und vermeintliche oder reale Grenzen, wenn er den Dichter neben Lukäcs und Bloch in den geistigen Kehraus einbezieht. Im Gestus, eine überfällige und radikale Kritik zu beginnen, formuliert Tietz ein anspruchsvolles Vorhaben, nämlich den engen, strukturellen Zusammenhang von 45*

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geschichtsphilosophischen Traditionen, politischem Denken und Ästhetik bei Brecht aufzuzeigen. Die These lautet: Brecht hat sich mit der Fortschrittsphilosophie von Hegel und Marx, fundamentalisiert durch Lenins Epochenkonzept, einen geistigen Kokon gewoben, der ihn der Realitäten enthob und zum unauflöslichen „Schulterschluß" mit der „stalinistischen Kaderpartei", zur Legitimierung von Terror führte. Diese These schränkt die tatsächlich für Brecht charakteristische Symbiose von Philosophie, Politik und Kunst sogleich wieder ein. Einmal die ideologische Zweckbestimmtheit seiner Kunst ausgemacht, fallen die Arbeiten ab den 30er Jahren unter das Verdikt „apologetischer Anästhetik", werden zur Gesinnungsästhetik mit fehlender Wahrhaftigkeit. Für einen Künstler ein tödlicher Befund. Eigentümlich wirkt von vornherein jedes Ausblenden der nicht gerade geringen Literatur über Brechts Verhältnis z u m Stalinismus 4 , ebenso wie die Unterstellung, seine Schriften seien bisher kaum als „Schriften von Verdächtigen" gelesen worden. 5 Kritik ohne Denunziation scheint bei geringer historischer Distanz ein schwieriges Geschäft zu sein. Zweifelsohne m u ß sich auch Brechts Werk ex-post Maßstäbe gefallen lassen, die mit d e m Wissen u m das Gescheitertsein des „anderen Deutschlands" und sozialistischen Staatsprojekts operieren. Aber zur alleinigen Perspektive erhoben, wird verwischt, daß es sich einmal u m Denken u n d Verhalten im Kontext, in einer für die Betroffenen offenen geschichtlichen Situation gehandelt hat. Die historischen Bezugspunkte also, unter denen Brecht selbst gelebt u n d gearbeitet hat, die Fragen auf gefundene Antworten gehen dabei unter. Ohne ein wenig M ü h e der Rekonstruktion erscheinen aber gerade die Irrtümer nur noch als rein individuelles Versagen verbohrter Zeitgenossen, die es eigentlich „hätten wissen müssen", als „falsches Bewußtsein" im plattesten Sinne. Hier liegt diese „Nachschrift" ganz im Trend vieler öffentlicher Debatten. Und ihr Autor fällt einen klaren Schuldspruch: Brecht sei z u m „Komplizen der Richter u n d Henker" geworden. 6 Freilich, es wird betont, daß Brechts „Stellung zum Marxismus-Leninismus" aus dem historischen Kontext der 20er und 30er Jahre verstanden werden muß. 7 Im Bestreben, einen ideologischen „Verblendungszusammenhang" aufzudecken, verlor sich jedoch dieser Anspruch rasch. Lediglich das Ausbreiten der stalinistischen Gewaltherrschaft und die Moskauer Prozesse zieht Tietz zur Argumentation heran. Die Relevanz von Brechts eigener Erfahrung in Deutschland für seine Rezeption der „Klassiker" läßt sich aber kaum aus dem lapidaren Satz vom relativ stabilisierten Kapitalismus zwischen den beiden Weltkriegen erhellen. Durch diese politische Schieflage in bezug auf den historischen Kontext reduziert sich die Frage nach Brechts Interpretationsfolie auf eine intellektuelle Wahlverwandtschaft zwischen dem rationalistisch-sezierenden „Mediziner" und dem dogmatischen Marxismus, an dem der Dichter, wenn schon nicht wider besseres Wissen, dann aus „Realitätsferne" bis zum Lebensende festhält. Die Kritik bleibt so selbst im innerideologischen Zirkel stecken, ganz zu schweigen von dem Umstand, daß über den Antistalinismus, wie der Titel verspricht, und sei es ein „hilfloser", kein Wort fällt. Da bei Tietz der sozialhistorische Kontext, in dem sich Brechts ästhetisches und politisches Denken formte, weitgehend fehlt, werde ich diesen verstärkt in meine Argumentation einbeziehen.

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In ihrem Essay über Brecht von 1949 zeigte Hannah Arendt, als eine Schöpferin der Totalitarismustheorie wohl kaum großer Sympathien für die kommunistische Bewegung verdächtig, daß ein historisierend-hermeneutischer Blick der Kritik keineswegs an Schärfe nimmt. Sie bezeichnete den Dichter als zu einer „verlorenen Generation" gehörig, die in den „Schützengräben und Materialschlachten des Ersten Weltkrieges" erwachsen geworden ist und der sich im Krieg „die Welt zuerst zeigte". 8 Die wiedereinsetzende Normalität danach blieb für diese Generation ein prekärer Bruch. Brecht war bei Beginn des Ersten Weltkrieges 16 Jahre alt und am Ende des Zweiten 47. Was dazwischen lag, muß nicht aufgezählt werden. Für seine Rezeption von Marx und Lenin erscheinen mir jedoch zwei Erfahrungen zentral: der Gegensatz von Reichtum und Mangel bzw. die krasse soziale Ungleichheit, die ihn zur Solidarität mit den Unterschichten führte, sowie der aufkommende übermächtige Faschismus. Zwar veranlaßten den Dichter Recherchen zu einem später nicht geschriebenen Stück, sich mit Marxens „Kapital" zu beschäftigen, was er kokett einen „Betriebsunfall" nannte. Jedoch wurden Marx und später auch Lenin zu Schlüsselfiguren für eine Lebensumwelt, in der sukzessive der Faschismus aus der fragilen Demokratie der Weimarer Republik hervorkroch. Das bestimmte sein Epochen- und Kapitalismusverständnis. Für Brecht war dieser Weg die „nackteste", „frechste", „erdrückendste" Reduktion bürgerlicher Verhältnisse auf ihren Klassenkern, welche notwendig aus dem Kapitalismus hervorwächst, um die proletarische Revolution zu verhindern.9 Folglich sei für das „Bürgertum" der Faschismus die beste kapitalistische Staatsform dieser Epoche". 10 Realismus und Täuschung liegen hier nah beieinander. Denn eine solche Prognose erlaubte Brecht, früher als andere zu sehen, daß Hitlers Regime nicht rasch kollabieren würde. Gleichzeitig irrte er sich in der Perspektive gründlich. Da ist nicht nur die enge Verknüpfung von Kapitalismus und Faschismus, die ihn zu der Schlußfolgerung führt: „Den Faschismus bekämpfen und den Kapitalismus beibehalten ist unmöglich". 11 Diese Sicht erklärt, wenn auch nur zu einem Teil, seine Unversöhnlichkeit gegenüber vielen deutschen Intellektuellen noch im gemeinsamen Exil. Hinzu kommt, daß er Not und Elend, den Mangel der Armen als eine generelle Existenzbedingung von Kapitalismus ansieht, die in dessen radikalisierter, plumper Form eher noch deutlicher hervortritt. Mit dem Niedergang des „liberalistischen" Staates, so Brecht, könnten nämlich auch die „Erpressungen" seines Proletariats zurückgenommen werden. „Allgemeine Wohlfahrt" würde demnach den Kapitalismus zerstören.12 Daß sich im faschistischen Vorkriegsdeutschland die Lebensverhältnisse der arbeitenden Bevölkerung erst einmal nicht verschlechterten, sondern sogar stabilisierten, erschien dem Exilanten nicht als prinzipielle Infragestellung dieser Auffassung, denn dies erfolgte unter den Sonderbedingungen der Kriegsvorbereitungen und wurde bald durch neues Elend der Kriegsjahre überdeckt. In enger Verknüpfung mit seiner Faschismusauffassung steht die Kanonisierung des Proletariats. Brechts Annahme, daß der Faschismus zur Vereinfachung der Klassenverhältnisse führt, gestattete ihm, von allen Differenzierungen und sozialökonomischen Wandlungen der Lohnarbeit abzusehen, quasi auf einem Archetypus der

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Arbeiterklasse als dem revolutionären Subjekt dieser Epoche zu beharren. Beides, das Faschismusverständnis und die emphatische Haltung gegenüber dem Proletariat, bilden die entscheidenden Achsen, um die sich Brechts politisches Denken drehte und die seine Erfahrungen strukturierten. Sein immer schwieriges Verhältnis zu kommunistischen Parteien, nicht zuletzt zu ihren deutschen kulturpolitischen Repräsentanten, ließen ihn dabei wohl kaum den Unterschied zwischen Klasse und Organisation vergessen. Im Gegensatz etwa zum nachexpressionistischen Becher war für ihn die Partei als Organisator dieses Subjekts eine abgeleitete Größe, keine primäre, der seine Loyalität, wie Tietz annimmt, als solcher galt. Aus sicherem historischen Abstand ist erkennbar, daß die 20er und 30er Jahre Übergangsjahre im Gestaltwandel der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Kapitalismus waren, für den Roosevelts Antikrisenmaßnahmen ein entscheidendes Datum sind. Im amerikanischen „New Deal" vollzog sich nämlich der Schritt zu einer staatlich legitimierten, zumeist tarifrechtlich ausgehandelten und regelmäßigen Beteiligung der Lohnarbeiter am Produktivitätszuwachs. Damit wurde ein politisch stabilisierender Interessenkompromiß eingegangen und ein neuartiger Nachfrageimpuls nach industriellen Gütern erzeugt. Das Zeitalter des (keynesianischen) Wohlfahrtsstaates, der standardisierten, mechanisierten Massenproduktion und der Massenkonsumtion begann. Zu den Folgen gehört ein sukzessives Aufweichen traditioneller Arbeitermilieus in sich vervielfältigende und wandelnde Lebensstile. Betroffen sind genau jene sozialen und kulturellen Milieus, für die Brecht sein politisches, eingreifendes Theater konzipierte und die im Deutschland der 20er und 30er Jahre noch relativ homogen bestanden. 13 Obwohl man also Brechts Kunst und politiches Denken, das ungefähr Anfang der 30er Jahre ausgeprägt war, deutlich historisieren kann, ist doch der angenommene Zusammenhang zwischen der relativ starken Arbeiterbewegung in Deutschland und dem Faschismus als präferierter Krisenlösung keineswegs grundlos. Allerdings wurde der „New Deal" und nicht der Faschismus zum neuen Muster für den Umgang mit der sozialen Frage. Seinen Siegeszug trat es in Europa jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg an und erreichte seinen Höhepunkt nach Brechts Tod, in den späten 50er und den 60er Jahren. Noch nach dem Krieg wähnte Brecht seine Grundpositionen gegenüber Faschismus und Arbeiterklasse analytisch voll intakt. Besonders deutlich wird das an seiner ambivalenten Bewertung des 17. Juni 1953. Endlich vermeint Brecht wieder die „aufsteigende Klasse" zu sehen, die, wenn auch orientierungslos und hilflos, das handelnde Subjekt der Gesellschaftsveränderung ist. Emphatisch heißt es im „Arbeitsjournal": „im augenblick, wo ich das Proletariat ... wiederum ausgeliefert dem klassenfeind sah, dem wieder erstarkenden kapitalismus der faschistischen ära, sah ich die einzige kraft, die mit ihm fertig werden konnte." (Hvg. - K. B.) 1 4 So sehr Brecht einerseits die Forderungen der Arbeiter für berechtigt hielt und nun durch den Druck von unten auf entscheidende Veränderungen in der bereits erstarrenden Parteiherrschaft, auf die „große Volksaussprache mit den Massen" 1 5 hoffte, glaubt er doch andererseits die Partei gegen das „faschistische und kriegstreiberische Gesindel" verteidigen zu müssen. „Im Kampf gegen Krieg und Faschismus stand und stehe ich auf ihrer Seite" erläutert Brecht selbst gegenüber Suhrkamp sei-

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nen Zwiespalt. 16 Ohne dieses Spannungsfeld zwischen Faschismus und Stalinismus, aber auch ohne sein Vertrauen in die Korrekturfähigkeit des Sozialismus von unten ist der „hilflose Antistalinismus" bei ihm nicht zu verstehen. *

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In der Auseinandersetzung um Brechts Verhältnis zum Stalinismus kommt meist dem 1930 geschriebenen Lehrstück „Die Maßnahme" eine wichtige Rolle zu. Die verbitterte Ruth Fischer nannte es „eine Vorwegnahme der Moskauer Prozesse" mit „genialer Einfühlungsfähigkeit in die stalinistischen Methoden", ähnlich argumentiert Tietz. 17 Es lohnt sich daher, die Grundkonflikte etwas genauer zu betrachten. Den Dramatiker beschäftigen, soweit ich sehe, zwei Fragen: Eine Frage bildet der Widerspruch zwischen individueller Moralität und den Verhältnissen, Bedingungen, Erfordernissen, in denen diese nicht lebbar ist, ja sogar Schaden anrichtet, d. h. in denen sich ihre Intention selbst aufhebt. Der „junge Genosse" verfehlt gerade durch Mitleid, unmittelbares Eingreifen wider den politischen Auftrag und durch persönliche Integrität das Ziel seines Verhaltens, nämlich zu helfen. (Am deutlichsten ist dieser Konflikt in der Urfassung formuliert) 18 Das Grundthema findet sich aber auch in vielen anderen arbeiten und ist in Stücken wie „Die heilige Johanna der Schlachthöfe" oder dem „Guten Menschen von Sezuan" nicht zu übersehen. Schon in seinem ersten dramatischen Werk „Die Bibel", das sich zum Teil wie ein Gegenentwurf zur „Maßnahme" liest, ist es deutlich vorhanden. Hier kommt es nämlich zur Katastrophe, gerade weil im Konflikt zwischen moralischen Geboten und der Chance, durch ihr Übertreten sich und andere zu retten, den Imperativen der Schrift gefolgt wird, während der „junge Genosse" sein Leben verwirkt, indem er auf die „Lehre" pfeift. Hannah Arendt formulierte „die Versuchung, gut zu sein in einer Welt und unter Umständen, die Güte unmöglich machen" als „Leitmotiv in Brechts Werk" 1 9 , dessen wesentliche Wurzeln in der „Leidenschaft des Mitleids", in der moralischen Empörung über die Übelstände, Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit der bürgerlichen Gesellschaft liege. Nimmt man dieses Motiv und die dramatischen Stoffe ernst, so läßt sich Brechts Verhältnis zur Moralität wohl kaum als Abstinenz und zynische Gleichgültigkeit deuten, wie dies Tietz tut. Interessant ist gerade,warum Brecht dennoch Ethik bewußt ausschließt und seine moralische Empörung zurückdrängt. Hier denkt Brecht tatsächlich in Marxscher Tradition der Ersetzung einer selbständigen Ethik durch die wissenschaftliche Analyse der Bedingungen und Ursachen menschenunwürdiger Verhältnisse und deren revolutionäre Veränderung. Die von Tietz herausgestellte Bindung ethischer Probleme an Klasseninteressen, ihre deterministische Ableitung aus sozial-ökonomischen Bedingungen, die moralische Legitimierung revolutionärer Gewalt ist dabei eine wichtige Seite. Und „Die Maßnahme" gehört sicher zu den dramatischen Werken Brechts, in denen eine solche Reduktion radikal durchgespielt wird. Zugleich aber - und diese Dimension bleibt ausgeblendet - sah Brecht (wie auch Marx) in der proletarischen Revolution einen Prozeß zur universellen Aufhebung der Dichotomie zwischen Sein und Sollen, praktischen Lebenszwängen und abstrakten Moralgeboten. Beides bildet beim Dichter ein widersprüchliches Spannungsfeld, das er implizit in ein gene-

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tisches Stufenmodell auflöst. In der Konsequenz führt dieses Stufenmodell zu einer weitgehenden Trennung der Macht von ethischen Fragen. Brechts Leitmotiv wird dann zu einem regelrechten Dilemma, wenn es um Stalins Herrschaft geht. So heißt es in „Me-ti": „Die segenreichsten Einrichtungen werden von Schurken geschaffen und nicht wenige tugendhafte Leute stehen dem Fortschritt im Wege." 20 Die Idee der Aufhebung jener, für die moderne Gesellschaft charakteristischen Differenzierung von Macht und Moral hat so unter der Hand zum paradoxen Resultat, daß Macht und Moral nahezu entkoppelt werden. Eng damit verbunden ist eine andere Frage, die sich Brecht in der Periode der Lehrstücke neu stellt, nämlich wie kollektives Interessenhandeln bei extremer struktureller Asymmetrie der Handlungsressourcen und -chancen erzeugt werden kann. Organisation hat für die Unterschichten ein besonderes, gruppenspezifisches Gewicht, da sie über wenig andere Ressourcen verfügen. Diese Frage beschäftigte den am Konflikt interessierten Dramatiker immer wieder; nicht das Dogma des höheren Prinzips in einem objektivistischen Geschichts- und Fortschrittskonzept, sondern kollektives Handeln unter Bedingungen, in denen Chancen zur Interessenrealisation strukturell ungleich verteilt sind, bildet einen wesentlichen Hintergrund für Brechts radikalisierte klassentheoretische Ethikauffassung. Das im Lehrstück präferierte Organisationsmodell freilich ist das von Lenins illegal arbeitender Avantgardepartei, ein Modell der Machteroberung und Machterhaltung, das zum perpetuum mobile der Stalinschen Gewaltherrschaft wurde. Insofern trifft Brecht die Kritik, wie sie Lenin trifft. „Die Maßnahme" gibt Tietz Grund genug, u m den Umschlag der „pädagogischen Ästhetik" in Apologetik zu konstatieren. Mehr erfährt man leider nicht. Keiner Erwähnung wert scheint die Kunstform bzw. die „nichtaristotelische" Ästhetik zu sein, die auf die Inszenierung eines kollektiven Lernprozesses durch Theaterproduktion und -genuß setzt. Optimistisch gegenüber der Mobilisierbarkeit kollektiven Handelns durch Einsicht stellte Brecht sich bewußt und mit plebejischsokratischem Gestus in die europäische Aufklärungstradition, ein Projekt, das er mit dem Proletariat als neuer „aufsteigender Klasse" im Grunde für wiederholbar hielt. Daraus resultiert wohl auch sein Mut, in der „Maßnahme" die „Lehre der Klassiker" apriorisch im Sinne eines unantastbaren Kollektivguts zu behandeln, um einen Begriff der Organisationssoziologie zu verwenden, mit dem für jede Organisation notwendige integrative Interessen und Nutzen erfaßt werden. Ein Greuel waren dem Theatermann sowohl die distanzlose Identifikation mit dem Helden als auch die Deklamation von Ideen auf der Bühne. Er sah im Theater eine demokratische Institution, in welcher der Lernende als kritikfähiges Subjekt eines öffentlichen Diskurses verstanden wird. So verkörpert das Prinzip der Verfremdung im epischen Theater vor allem die Idee der Kritik im Kunsterlebnis, das den Zuschauer zur Kritik des Dargestellten befähigen soll. Damit lag Brecht immer quer zu den Vorlieben der neuen Partei- u n d Machteliten, was die Kunstdebatten seit den 30er Jahren, die Unterdrückung von Aufführungen des Berliner Ensembles oder des epischen Theaters an den Ausbildungseinrichtungen der 50er Jahre dokumentieren. Im Gegensatz zur stalinistischen „Wandlungsdramatik", die den Zuschauer nach vorgegebenen Maßstäben erziehen wollte („den Menschen", nicht die Ver-

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hältnisse ändern), war das epische Theater unfähig, totalitäre Ideologie zu transportieren. Gleichwohl besteht eine strukturelle Affinität zwischen Brechts Ästhetik und dem Marxismus. Der Dichter gehört zur künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die mit der Revolte gegen den Ästhetizismus die Trennung der professionalisierten und verselbständigten Kunst von der Lebenspraxis in der Moderne zurücknehmen wollte. Unter Kritik stehen sowohl die gesellschaftliche Folgenlosigkeit der Kunst als auch ihr Distributionsapparat in der bürgerlichen Gesellschaft. 21 Brecht wendet dies ins unmittelbar Politische, definiert seine Kunst als Teil der Produktion neuer gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Arbeiterklasse als Makrosubjekt. Der avantgardistische Anspruch, die Verselbständigung von Kunst gegenüber dem praktischen Leben aufzuheben, trifft sich strukturell mit Marxens Klassenkampfmodell, in dem die revolutionäre Zurücknahme ausdifferenzierter Teilsysteme, vor allem von Ökonomie und Politik, gedacht wird. Diese Idee lebt nicht nur von hohen Erwartungen an die Gestaltbarkeit eines Gesellschaftsganzen, sondern auch, in der Theorie, von der Annahme eines dauerhaft demokratischen, korrektiven Impulses von unten, sobald die Massen von ihren Fesseln befreit seien. Damit wird indirekt vorausgesetzt, daß fast alle gesellschaftlichen Interessen politisierbar sind, d. h. sich zu kollektivem Handeln organisieren und in massenhaftes schöpferisches Interessenhandeln von unten umsetzen lassen. Geschichtlich hat sich erwiesen, daß dies eher die Ausnahme denn die Regel ist. Brecht gab „Die Maßnahme" nach den ersten Aufführungen nicht mehr für die Bühne frei und beendete mit ihr die Lehrstückperiode. Es kann daher kaum bedenkenlos von diesem Stück auf das gesamte spätere Werk geschlossen werden. Die skizzierten Fragen blieben jedoch für ihn zentral, und vor allem die Lehrstückform nannte er noch kurz vor seinem Tode die Theaterform der Zukunft. 22 Insofern bleibt „Die Maßnahme" tatsächlich ein Schlüsselstück. Ihm die Exekution „rational argumentativen Kadavergehorsams", „die kontinuierliche Subsumtion der Individuen unter den Apparat" zu unterstellen 23 , ist ein zu kurzschlüssiger und oberflächlicher Befund, in dem sich der Zusammenhang von Kunst und Ideologie auf die Illustration weltanschaulicher Positionen reduziert. Die Kritik verfängt sich in simplifizierender Zuspitzung, wird stumpf und geht nicht nur an Brechts Intentionen gründlich vorbei, sondern auch an den eigenständigen Innovationen in der Kunstform. Zum Konzept des politisch eingreifenden Theaters gehört dabei, daß die avantgardistische Verkoppelung von Kunst und Lebenspraxis eine semantische Verkümmerung der künstlerischen Produktion auf wenige Dimensionen in Kauf nimmt. Es riskiert, besonders dort, wo nicht in Allegorien gespielt wird, daß diese Dimension durch die Veränderung der Lebenspraxis rasch eingeholt wird. *

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Wenn sich auch und gerade bei Brecht theoretische Positionen, ästhetische Form und dramatischer Stoff nicht trennen lassen, ist dieser Zusammenhang gleichzeitig spannungsreich. Das unterschätzt Tietz in seiner Kritik, wenn er die objektivistische geschichtsphilosophische Tradition von Hegel bis Marx beim Dichter betont, während das künstlerische und intellektuelle Interesse am sozialen Handeln der

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Menschen untergeht. Solche Spannungen zeigen sich aber auch in Brechts analytischem Denken. Walter Benjamin kennzeichnete diese treffend als „plumpes Denken" 2 4 , in dem Brecht seine plebejische Manier mit stereoskopischem Blick auf die Kehrseite der Ideale der bürgerlichen Gesellschaft, auf die Kosten des Fortschritts verband. Nicht um ein Herabsenken des intellektuellen Niveaus fürs Volk ging es ihm dabei. Für Brecht war „plumpes Denken" vielmehr das „Denken der Großen", das, indem es die Gegensätze festhält und auf ihren einfachen Kern bringt, zur Dialektik gehört und zugleich ein Bestandteil der zur Aufhebung drängenden Prozesse ist. Im „plumpen Denken" findet sich daher nicht nur der sezierende, rational argumentierende Brecht, sondern auch ein starker handlungsorientierter Impuls des politischen Theatermanns und avantgardistischen Künstlers. Brecht wollte mit seiner Sprache den schönen Schein ebenso demontieren wie die Verhüllungen und Ideologeme der offiziellen Sprache. Zur Natur des „plumpen Denkens" gehört jedoch ebenfalls, daß es mit einfachen Denkmodellen auskommen muß. Gerade hier bietet sich die ökonomistische Dechiffierungsmethode sozialer und politischer Phänomene von Marx an. Macht um der Macht willen, ohne auf dahinterstehende „harte" (ökonomische) Interessen zu verweisen, war für Brecht ein intellektuelles Unding. Damit verschlossen sich ihm wesentliche Zugänge zu politischer Herrschaft im faschistischen Deutschland und in der Sowjetunion sowie die spezifischen Rollen Hitlers und Stalins. Waren Brechts bewußt vereinfachende Zuspitzungen schon beim Faschismus problematisch, behielten sie dort dennoch ihren starken gesellschaftskritischen Impuls. In bezug auf den Sozialismus und Stalinismus zeigte das „plumpe Denken" seine ganze Schwäche. Denn es bleibt ein Denken in der Dimension der Negation des Alten, seine Koordinaten sind die auf ihr Prinzip reduzierten Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft und des Privateigentums. Es schließt nicht nur einen Gestaltwandel des Kapitalismus aus, wie am Beispiel des „New Deal" gezeigt, auch positive Vorstellungen, auf welche Weise demokratische Machtstrukturen jenseits des damals diskreditierten Parlamentarismus funktionieren könnten, fehlen. Charakteristisch dabei ist der kreativistische Ersatz dieses Mankos. Brecht verstand den Sozialismus als andauernden innovativen Akt, als Negation der Negation und demokratisch-schöpferischen Impuls von unten. 1941 heißt es explizit: „der große Irrtum ... bestand in meiner definition des Sozialismus als einer großen Ordnung, er ist hingegen viel praktischer als große produktion zu definieren, produktion muß natürlich im weitesten sinn genommen werden, und der kämpf gilt der befreiung der Produktivkräfte aller menschen von allen fesseln, die produkte können sein brot, lampen, hüte, musikstücke, schachzüge, Wässerung, teint, Charakter, spiele usw. usw." 2 5 Aber auch schon 1938 formulierte Brecht gegenüber Benjamin in bezug auf Lukäcs, Kurella u. a.: „Es sind Feinde der Produktion. Die Produktion ist ihnen nicht geheuer. Man kann ihr nicht trauen. ... Man weiß nie, was dabei herauskommt. Und sie selber wollen nicht produzieren. Sie wollen den Apparatschik spielen und die Kontrolle der anderen haben. Jede ihrer Kritiken enthält eine Drohung." 2 6 Es gehört schon eine erhebliche Voreingenommenheit dazu, diese spontandemokratische Idee der Produktion als „sprachlichen Horst totalitärer Anordnun-

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gen" 2 7 , als Kommandotrick zur Unterordnung der Individuen unter eine monströse, hegelianisierte Fortschrittsmacht umzudeuten. Brecht war jedoch überzeugt, daß die Verselbständigung des Parteiapparates gegenüber Parteibasis und Volk, daß Stalins Gewaltherrschaft vorübergehende Phänomene sind, welche mit der Rückständigkeit des russischen Bauernlands und der von ihm nachzuholenden ursprünglichen Akkumulation, mit der Gewalttätigkeit seiner Feinde, die zum Zweiten Weltkrieg rüsten, aber auch mit der Natur von Revolutionen selbst zu tun hat, in der „wunderbare Tugend und anachronistische Laster zugleich" „entfesselt" 28 werden. Daß mit dem Stalinismus Strukturen geschaffen wurden, die sich durch die innovative Negation der Negation, durch die schöpferischen Impulse des kollektiven Handelns nicht mehr einholen ließen, blieb ihm verschlossen. Noch nach Stalins Tod notierte Brecht für sich: „Die Liquidierung des Stalinismus kann nur durch eine gigantische Mobilisierung der Weisheit der Massen durch die Partei gelingen. Sie liegt auf der geraden Linie zum Kommunismus." 2 9 (Hvg. - K. B.) Brecht war für Obrigkeiten unbequem, und das gilt auch für die kurze Zeit in der DDR, vor allem nach dem 17. Juni 1953 30 , obwohl die neue gesellschaftliche Problemlage des sich etablierenden Staatssozialismus nicht mehr - trotz unternommener Versuche - Thema seines Theaters wurde. Das „Philosophieren im Windschatten von Herrschaft" 31 , wie Tietz unterstellt, war wohl eher Zugluft. Daß der Dichter dennoch an seinen Grundpositionen festhielt, sein zwiespältiges Urteil über Stalin nicht revidieren konnte, verdient die ideologiekritische Analyse und Kritik. Eine Lesart Brechts, welche die von ihm so gefeierten Widersprüche in seinem Werk selbst ignoriert, das Spannungsfeld zwischen theoretischen Positionen, dramatischem Stoff und ästhetischer Form ausblendet und den historischen Kontext verzerrt, eignet sich jedoch bestenfalls zur Stigmatisierung. Dr. phil. Katharina Bluhm, Schliemannstr. 33, O -1058 Berlin Anmerkungen 1 Vgl. auch M. Rohrwasser: „Ist also Schweigen das beste? Brechts Schreibtisch-Schublade und das Messer des Chirurgen", in: Text + Kritik, 1990, H. 108; J. Manthey: Staatsdichter im Kinderland, in: Die Zeit, Nr. 11 vom 6. März 1992, S. 77-78. 2 ZK-Analyse der Akademiearbeit vom 18. Juni 1951, Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung Berlin, Zentrales Parteiarchiv. NL 90/536. 3 Dokumentiert ist dies in den Bänden zu den Brecht-Tagen 1983, 1985, 1988, hrsg. v. BrechtZentrum der DDR. 4 Vgl. H. Arendt: Bertolt Brecht, München/Zürich 1971; P. Bormans: Brecht und der Stalinismus, in: Brecht-Jahrbuch, Fft. a. M. 1975; I. Fetscher: Brecht und der Kommunismus, in: Merkur 17,1973, H. 9; D. Pike: Lukäcs und Brecht, Tübingen 1986. 5 So widmete Ruth Fischer 1948 Brecht als „Sänger der GPU" ein ganzes Kapitel ihres Buches: Stalin and German Communism; siehe R. Fischer: Stalin und der Deutsche Kommunismus, Fft. a. M. 1950, S. 749. 6 U. Tietz: Kurze Nachschrift zur „Großen Ordnung" oder: Der hilflose Antistalinismus des Bert Brecht, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 40. Jg., H. 1 / 2 1992, S. 155. 7 Ebenda, S. 145. 8 H. Arendt: Bertolt Brecht, S. 74.

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9 B. Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, in: ders.: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1, Berlin/Weimar 1966, S. 224. 10 B. Brecht: Über Kunst und Politik, Leipzig 1977, S. 103. 11 Ebenda. 12 Ebenda. 13 Vgl. Th. Geiger: Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln 1949. 14 B. Brecht: Arbeitsjournal, Berlin/Weimar 1977, S. 515. 15 B. Brecht: Brief an Walter Ulbricht vom 17. 6. 1953, in: ders.: Briefe 1913-1956, Berlin/Weimar 1982, Bd. 1, S. 655. Bekanntlich wurde 1953 nur die Loyalitätsbekundung Brechts zur Partei veröffentlicht. 16 B. Brecht: Brief an Peter Suhrkamp vom 1. 7. 1953, in: ders.: Briefe 1913-1956, a. a. O., Bd. 1, S. 659. 17 R. Fischer: Stalin und der Deutsche Kommunismus, a. a. O., S. 753. 18 Brechts spätere Änderungen aufgrund der kommunistischen Kritik am „Idealismus" der „Maßnahme", an der Abstraktheit und Abgehobenheit der Partei gegenüber der wirklichen Bewegung, verwässerten es eher, da nun „richtige" Fehler das Scheitern des „jungen Genosse" plausibler machen sollten. Vgl. B. Brecht: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von R. Steinweg, Fft. a. M. 1972. 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

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H. Arendt: Bertolt Brecht, a. a. O., S. 92f. B. Brecht: Me-ti, in: ders.: Gesammelte Werke, Prosa Bd. 4, Berlin/Weimar 1975, S. 169. Vgl. P. Bürger: Theorie der Avantgarde, Fft. a. M. 1974, S. 29. Vgl. W. Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder: Der Umgang mit den Welträtseln, Bd. 2, Berlin 1986, S. 591. U. Tietz, Nachschrift ..., a. a. O., S. 150. W. Benjamin: Acht Jahre, in: B. Brecht: Dreigroschenroman, Leipzig 1967. B. Brecht: Notiz vom 7. 3.1941, in: ders., Arbeitsjournal, S. 156. W. Benjamin: (Notizen über Brecht), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VI, hrsg. v. R. Tiedemann/H. Schneppenhäuser, Fft. a. M. 1985, S. 537. U. Tietz: Kurze Nachschrift ..., a. a. O., S. 158. B. Brecht: (Uber die Kritik an Stalin), in: ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Werkausgabe edition Suhrkamp, Bd. 20, Fft. a, M. 1967, S. 325f. B. Brecht: (Über die Kritik an Stalin), a. a. O., S. 372. Brecht hat sich vor allem nach dem 17. Juni 1953 in der Akademie der Künste für freie Kunst und Medien engagiert. Ein Großteil der Dokumente sind jedoch noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. U. Tietz: Nachschrift..., a. a. O., S. 160.

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REZENSIONEN

DIETRICH PAPENFUSS/OTTO PÖGGELER (Hg.): ZUR PHILOSOPHISCHEN AKTUALITÄT MARTIN HEIDEGGERS, Bd. 1: Philosophie und Politik; Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt/M. 1991,1990; 458 S., 338 S. Die bislang vorliegenden zwei Bände der Dokumentation des im April 1989 von der Alexander von Humboldt-Stiftung durchgeführten Symposiums „Über die philosophische Aktualität Martin Heideggers" sind ein eindrucksvolles Zeugnis der weltweiten Wirkung des Heideggerschen Denkens. Die Beiträge des ersten Bandes dokumentieren die letzte Phase der im Anschluß an das Buch von Farias 1987 zunächst in Frankreich und dann - aufgrund des besseren Sachverstandes zur Biographie Heideggers mit anderen Akzenten - in Deutschland geführten „ Heidegger-Kontroverse". In der Einleitung konstatiert O. Pöggeler als sachlichen Ertrag neuerer Forschungen, daß Heidegger sich 1933 „durchaus von philosophischen und pseudophilosophischen Absichten leiten ließ". (3) Heute gehe es darum, Heideggers Denken im Blick auf eine Verhältnisbestimmung von Politik und Philosophie mit Positionen der philosophischen Tradition zu konfrontieren. Den Beiträgen vorangestellt sind erstmals veröffentlichte Auszüge aus den Notizen Heideggers zu einem Vortrag über „Die Bedrohung der Wissenschaften" (Nov. 1937) in einem gleichnamigen Arbeitskreis von Dozenten der naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultät. Der Text enthält

bemerkenswerte Aussagen Heideggers über seine Einschätzung der Lage von Wissenschaft („Die Industrie übernimmt die Wissenschaft"; 9) und Universität. In Erinnerung an die Zeit des Rektorats spricht Heidegger von seiner Fehleinschätzung der Zeitlage („Unkenntnis des wirklichen Getriebes und der Machenschaften andrängender Gruppen"; 23) und hält trotz der ausbleibenden „Selbstbehauptung der Universität" am Programm der Rektoratsrede fest, wenngleich der „Anlauf" von 1933 „ein Irrtum nach allen nur möglichen Richtungen" war. (Ebd.) Im erstem der vier Abschnitte, nach denen die Beiträge geordnet sind, geht es um „Die Bestimmung der Aufgabe des Denkens". K. Held entdeckt in Heideggers Analyse der Grundbestimmungen den Mangel einer adäquaten Besinnung auf das schon für die Griechen zentrale Staunen (thaumazein), die „Grundbefindlichkeit des Anfangenkönnens" (51), die als wechselseitige Anerkennung der Anfangenkönnenden in der Demokratie ihren Ort habe. Die gebürtige Grundstimmung des Staunens (55) verkennend, konnte Heidegger so auch kein rechtes Verhältns der Polis als „Zwischenraum zwischen Anfangenkönnenden" (52) entwickeln. H. G. Gadamer weist in seinem Beitrag „Heidegger und die Griechen" auf die erschließende Kraft der meist gewaltsamen Etymologien Heideggerscher Sprachphantasie hin. M. Riedel bestimmt in seinem überzeugenden Ausführungen Heideggers „Naturhermeneutik und Ethik" als Grundidee einer Hermeneutik der Faktizität, die unter dem Einfluß Husserlschen transzendentalen

690 Konstitutionsdenkens in eine naturvergessene Fundamentalontologie transformiert wird. Erst im ,Schritt zurück' hinter die Metaphysik der Natur wird die Zusammengehörigkeit von Physis (Spielraum des Seienden) und Ethos (Aufenthalt des Menschen inmitten des Seienden im Ganzen) denkerisch wiedergewonnen. Die Auffassung vom Ende der Philosophie bei Heidegger wird von T. Bougas mit Marx' Vision der Verwirklichung der Philosophie als deren Ende konfrontiert. Entgegen der „ideologische Träumerei" beider Positionen sei die utopische Funktion der Philosophie als „Projekt menschlicher Selbstverständigung und Selbstbehauptung" (117) fortzuentwickeln. In subtilen Textanalysen untersucht A. Rosales „Heidegger Kehre im Lichte ihrer Interpretationen" und findet in der Grenze des transzendentalen Ansatzes im Umfeld von „Sein und Zeit" das Motiv der Kehre. Nach J. Stambaughs nicht überzeugendem Beitrag besteht „Die Aufgabe des Denkens" im Anschluß an Heidegger darin, den Primat vorstellenden Denkens zugunsten des „Andenkens" zu brechen. Im zweiten Abschnitt („Das Problem des Ethischen") wird in Kontrast zu der - nach Riedel - „ursprünglichen Ethik" Heideggers das ethische Defizit in dessen Denken analysiert, ohne die unerläßliche Einordnung in den Zusammenhang Heideggerschen Philosophierens vorzunehmen. K. Arifuku weist auf Strukturähnlichkeiten in Heideggers und Kants Gewissensanalyse hin. O. Dahlström charakterisiert „Heideggers Interpretation der praktischen Philosophie Kants" als moralphilosophische Naivität, insofern Heideggers Betonung der Entschiedenheit des Willens mit einer Ausklammerung des Inhalts der sittlichen Tat verbunden ist. R. J. Dostal thematisiert Heideggers Stellungnahmen zum Thema Eros und Freundschaft vor 1930. Politisches Denken und Irrweg Heideggers gründen nach seiner Überzeugung nach im fehlenden erotischen Verständnis der menschlichen Daseinsverfassung. A. Rigobello referiert Heideggers Kritik des Wertbegriffs und setzt diese in Beziehung zur

Rezensionen Eigentlichkeit der Existenz, die nur „bezeugt" (204) werden könne. B. A. Cullen weist Heideggers Begrenzung des Anspruchs der Fundamentalontologie auf dem Wege existentialer Analyse zurück, denn diese impliziere immer auch schon ethische Fragen. Im dritten Teil folgen Untersuchungen zu „Philosophie und Sozialphilosophie". Mit D. Carr sind die Autoren sich weitgehend einig über die „sozialphilosophische Indifferenz"(246) Heideggerschen Denkens. Ansätze zu einer Philosophie des Sozialen bleiben nach M. Benedikt wegen der Verkürzung fundamentaler gesellschaftlicher Relationsstrukturen in der Explikation einer „Halbwelt" stecken. Die Absicht des Beitrages von J. L. Vieillard-Baron ist so unklar wie die Herkunft seiner Uberzeugung, Heidegger habe an die Macht der Vernunft geglaubt. (232) Z. Posavec wiederholt die schon von v. Krockow (Die Entscheidung, 1958) bekannte Zusammenschau des Denkens Heideggers und Carl Schmitts („wahre Vertreter deutscher Kultur"; 251) und verbindet diese mit fragwürdigen Urteilen über den unpolitischen Charakter deutscher Kultur. (248) Der vierte Teil des Bandes, „Die politische Verstrickung", spiegelt den Stand der „Heidegger-Kontroverse" 1989 wider. Die Veröffentlichung der Auszüge aus Heideggers Notizen zeigt, daß man vorläufig noch „Unterwegs zu seiner Biographie" (H. Ott) ist. J. Aler dekuvriert in seinem sorgfältigen Beitrag „Autodafé. Victor Farias schichtet einen Scheiterhaufen" das die Debatte u m Heideggers Leben und Denken initiierende Werk als Pamphlet. O. Pöggeler zeichnet in seinem Beitrag „Heidegger und die politische Philosophie", wie Nietzsches Geschichtsdiagnose für Heideggers Einschätzung der Zeitlage und die ab 1936 formulierte Kritik am Nationalsozialismus wichtig wurde. A. O. Pugliese stellt am Beispiel Heideggers überzeugend die Grenzen der „biographischhistorischen Methode" für das Verständnis philosophischen Denkens heraus. Ahnliche Überlegungen stellt I. M. Fehér auf dem Hintergrund einer fragwürdigen Parallelisierung von Heideggers und Lukäcs' politischem

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 Engagement an. Die weitgehend konjunktivisch formulierten Überlegungen von T. Rockmore zu Heideggers Stellung zum Nationalsozialismus sind nicht überzeugend. Die Abhängigkeit der Nietzsche-Deutungen Heideggers von denen A. Baeumlers im Blick auf deren Legitimationsfunktion für die NSIdeologie analysiert E. Kiss; die These, daß Heideggers Denken im von Kiss konstruierten Paradigma der Nietzsche-Deutung Baeumlers verhaftet bleibt, ist allerdings geeignet, Heideggers Kritik des Nationalsozialismus in den Nietzsche-Vorlesungen unterzubewerten. Der zweite Band der Dokumentation, „Im Gespräch der Zeit", umfaßt 19 - in drei Teilen angeordnete - Beiträge; sie präsentieren - so O. Pöggeler in der Einleitung - allerdings nur eine „exemplarische Auswahl" davon, „wie Heideggers Denken im Gespräch unserer Zeit stand und steht". (25) Den Beiträgen vorangestellt sind „Drei Briefe Martin Heideggers an Karl Löwith". Der erste Brief von 1921 und der zweite von 1927 geben Aufschluß über Heideggers Selbstverständnis in Abgrenzung zu den Positionen von O. Becker und K. Löwith (1921: „Ich arbeite konkret faktisch aus meinem ,ich bin' ... Zu meiner Faktizität gehört, daß ich ein christlicher Theologe bin."; 29). Der kurze dritte Brief von 1937 zeigt, daß auch nach dem Gespräch über Heideggers politisches Engagement Anfang April 1936 in Rom der Kontakt zwischen Heidegger und Löwith weiterbestand. Der erste Teil des Bandes mit dem Titel „Lehrer-Freunde-Schüler" setzt mit zwei Beiträgen über die Auseinandersetzung Heideggers mit dem Denken Husserls ein. Während Y. Nitta Heidegger nach der Kehre und dem ,Bruch' mit Husserl auf dem Wege zu einer „Phänomenologie des Unscheinbaren" sieht, macht G. v. Kerckhoven an der Grenze der Husserlschen Bewußtseinsphänomenologie bereits „ihre Gegen-möglichkeit" (67), das Seinsdenken aus. W. Biemel kommentiert ausgewählte Passagen des von ihm mit H. Saner herausgegebenen Briefwechsels zwischen Jaspers und Heidegger, der unter

691 das Leitwort ,von der frühen Kampfgemeinschaft bis zur wechselseitigen Entfremdung' gestellt werden kann. J. Chytry referiert in einem interessanten Beitrag über Löwith dessen Abgrenzung von Heideggers Denken als wesentlich für die Gewinnung seines Programms „Zur Wiedergewinnung des Kosmos". D. Sinha thematisiert die Frage nach der Stellung des Menschen entlang „Heideggers Wendungen der anthropologischen Frage", ohne daraus die erwarteten weiterführenden Perspektiven für die Anthropologie zu gewinnen. In den beiden folgenden Beiträgen wird die Heidegger-Deutung Hannah Arendts untersucht. J. A. Barash stellt das Spezifische des an das Existential des Inder-Welt-sein anknüpfende Konzept der „öffentlichen Welt" als Fundament des Politischen bei Arendt heraus. In seiner gegenüber Barash weniger eng geknüpften Argumentation analysiert S. Belardinelli Arendts politische Wiedergewinnung der Welt lediglich in einer „anspielenden Gegenüberstellung" (129) zu Heideggers Weltbegriff. Uberzeugend referiert R. C. Bruzina den um Uberwindung der antithetischen Positionen von Husserl und Heidegger bemühten Versuch einer Interpretation Heideggerscher Husserlkritik in die Phänomenologie bei E. Fink und dessen Wirkung auf die weitere Entwicklung der Phänomenologie bei M. Merleu-Ponty. Im zweiten Teil des Bandes beschäftigen sich sechs Beiträge mit Heideggers Stellung in der „Hermeneutischen Philosophie". J. Grondin deutet Heideggers frühe „Hermeneutik und Faktizität" (Vorlesung vom SS 1923) als Einheit einer „ursprünglichen Form der Ideologiekritik" und der „Destruktion" der Tradition. (174) Die übersehene Aktualität des Denkens Heideggers erweise sich darin, daß die Gegensätze der Strömungen neuerer philosophischer Hermeneutik (Habermas, Derrida) angesichts der Einheit der genannten Momente in der Frühhermeneutik Heideggers als weitgehend „künstlich" anzusehen seien. R. A. Makkreel markiert in Heideggers Kritik von Diltheys Deutung und Erfassung des Lebens den Ubergang von einem „anschauenden Haben" zum „Voll-

692 zugsinn als einer Auslegung des Seinssinns der Lebensvollzüge". (188) E. Paczkowska-Lagowska stellt „Georg Mischs Vermittlungsversuch in der Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Dilthey" dar, der Mischs späterem Programm einer „hermeneutischen Logik" präludiert. F. Biancos Beitrag weist im Horizont der Fragestellungen heutiger Hermeneutik auf die Grenzen der Tragfähigkeit von Heideggers Begriff des Verstehens im Umfeld von „Sein und Zeit" hin. A. Bronk will im Kontext einer erkenntnisrealistischen Position (Seiendes als außer uns Existierendes) im Gegenzug zu Gadamers Kritik des Objektivismus einen „hermeneutischen Objektivismusbegriff" einführen. Es folgen zwei Beiträge über P. Ricoeur: M. A. Presas, der in Ricoeur, als „Erben" Heideggers und Gadamers sieht ein Bezug zu Heideggers Denken wird nicht hergestellt - , trägt sehr unsystematische Überlegungen zu Ricoeurs Theorie des Textverstehens vor. M. Buzzoni sieht eine Verwandtschaft in den Ansätzen zu einer „Ontologie der Person" bei Ricoeur und Heidegger. Mit der interessanten These, die Existentialien seien eine „Hypostasierung des Apriori" (243) des als Transzendenz gefaßten Personseins, weist Buzzoni zu Recht auf den problematischen Status dieser transzendentalen Strukturen hin. In diesem Zusammenhang müßte genauer geklärt werden, wie Heidegger Kants Transzendentalphilosophie ontologisch transformiert. Im dritten Teil des Bandes wird Heideggers Bedeutung „Im Gespräch der Zeit" unter dem Titel „Dekonstruktion und Postmodernismus" im Zusammenhang gegenwärtiger Diskussionszusammenhänge dargestellt. Mit der ,dekonstruktiven' Heidegger-Deutung J. Derridas („Vom Geist. Heidegger und die Frage") beschäftigen sich drei Beiträge. J. Sallis bietet ein gutes Referat von Derridas Dekonstruktion des „Dramas des Geistes" in den Texten Heideggers. Ö. Sözer fragt in seinem Beitrag über Derridas Heidegger-Deutung „Kommt der Geist fragend zurück?" nach der inneren Grenze der Dekonstruktion. H. Hrachovec erläutert seine

Rezensionen Präferenz der sprachanalytischen Heideggerinterpretationen, die E. Tugendhat vorgelegt hat, gegenüber Derridas Dekonstruktion, die er als „einmalig, intuitiv, ohne verläßlichen Horizont" (287) einstuft. Der letzte, wenig erhellende Beitrag von S. K. White sieht in Heideggers Werk den „Schlüssel" (297) zu den leidigen Debatten über die sog. Postmoderne. White sieht „starke Affinitäten" zwischen Heideggers Denken und Analysen der sog. „Differenzfeministinnen" über die Verantwortung gegenüber der „Andersheit". (324) Insgesamt gilt für die ersten beiden Bände der Dokumentation, daß sie zahlreiche gelungene Untersuchungen bieten, ohne jedoch überzeugend an gegenwärtigen Diskussionslagen heranzuführen, um so die Aktualität Heideggerschen Denkens zu erweisen. Man darf gespannt sein, ob die Beiträge des dritten Bandes „Im Spiegel der Welt" dies leisten. Markus Potthoff,

Bochum

OTTO PÖGGELER: NEUE WEGE MIT HEIDEGGER, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1992, 494 S. Unter dem vielversprechenden Titel „Neue Wege mit Heidegger" legt Otto Pöggeler einen Sammelband mit zwölf teils in Zeitschriften und Sammelbänden gedruckten, teils bisher ungedruckten Aufsätzen aus den Jahren von 1979 bis 1990 vor. Es ist begrüßenswert, daß die lesenswerten Texte des Bochumer Philosophen zu Heidegger jetzt gesammelt in einer Publikation zugänglich gemacht wurden. Eine Bibliographie der zahlreichen anderen Beiträge des Autors zu Heidegger wäre eine wünschenswerte Beigabe gewesen. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Kompilation der von Pöggeler im internationalen Gespräch über Heidegger verfaßten Beiträge durch zahlreiche Redundanzen gekennzeichnet ist. Die unterlassene Überarbeitung der Texte, die einen erheblichen Aufwand

692 zugsinn als einer Auslegung des Seinssinns der Lebensvollzüge". (188) E. Paczkowska-Lagowska stellt „Georg Mischs Vermittlungsversuch in der Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Dilthey" dar, der Mischs späterem Programm einer „hermeneutischen Logik" präludiert. F. Biancos Beitrag weist im Horizont der Fragestellungen heutiger Hermeneutik auf die Grenzen der Tragfähigkeit von Heideggers Begriff des Verstehens im Umfeld von „Sein und Zeit" hin. A. Bronk will im Kontext einer erkenntnisrealistischen Position (Seiendes als außer uns Existierendes) im Gegenzug zu Gadamers Kritik des Objektivismus einen „hermeneutischen Objektivismusbegriff" einführen. Es folgen zwei Beiträge über P. Ricoeur: M. A. Presas, der in Ricoeur, als „Erben" Heideggers und Gadamers sieht ein Bezug zu Heideggers Denken wird nicht hergestellt - , trägt sehr unsystematische Überlegungen zu Ricoeurs Theorie des Textverstehens vor. M. Buzzoni sieht eine Verwandtschaft in den Ansätzen zu einer „Ontologie der Person" bei Ricoeur und Heidegger. Mit der interessanten These, die Existentialien seien eine „Hypostasierung des Apriori" (243) des als Transzendenz gefaßten Personseins, weist Buzzoni zu Recht auf den problematischen Status dieser transzendentalen Strukturen hin. In diesem Zusammenhang müßte genauer geklärt werden, wie Heidegger Kants Transzendentalphilosophie ontologisch transformiert. Im dritten Teil des Bandes wird Heideggers Bedeutung „Im Gespräch der Zeit" unter dem Titel „Dekonstruktion und Postmodernismus" im Zusammenhang gegenwärtiger Diskussionszusammenhänge dargestellt. Mit der ,dekonstruktiven' Heidegger-Deutung J. Derridas („Vom Geist. Heidegger und die Frage") beschäftigen sich drei Beiträge. J. Sallis bietet ein gutes Referat von Derridas Dekonstruktion des „Dramas des Geistes" in den Texten Heideggers. Ö. Sözer fragt in seinem Beitrag über Derridas Heidegger-Deutung „Kommt der Geist fragend zurück?" nach der inneren Grenze der Dekonstruktion. H. Hrachovec erläutert seine

Rezensionen Präferenz der sprachanalytischen Heideggerinterpretationen, die E. Tugendhat vorgelegt hat, gegenüber Derridas Dekonstruktion, die er als „einmalig, intuitiv, ohne verläßlichen Horizont" (287) einstuft. Der letzte, wenig erhellende Beitrag von S. K. White sieht in Heideggers Werk den „Schlüssel" (297) zu den leidigen Debatten über die sog. Postmoderne. White sieht „starke Affinitäten" zwischen Heideggers Denken und Analysen der sog. „Differenzfeministinnen" über die Verantwortung gegenüber der „Andersheit". (324) Insgesamt gilt für die ersten beiden Bände der Dokumentation, daß sie zahlreiche gelungene Untersuchungen bieten, ohne jedoch überzeugend an gegenwärtigen Diskussionslagen heranzuführen, um so die Aktualität Heideggerschen Denkens zu erweisen. Man darf gespannt sein, ob die Beiträge des dritten Bandes „Im Spiegel der Welt" dies leisten. Markus Potthoff,

Bochum

OTTO PÖGGELER: NEUE WEGE MIT HEIDEGGER, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1992, 494 S. Unter dem vielversprechenden Titel „Neue Wege mit Heidegger" legt Otto Pöggeler einen Sammelband mit zwölf teils in Zeitschriften und Sammelbänden gedruckten, teils bisher ungedruckten Aufsätzen aus den Jahren von 1979 bis 1990 vor. Es ist begrüßenswert, daß die lesenswerten Texte des Bochumer Philosophen zu Heidegger jetzt gesammelt in einer Publikation zugänglich gemacht wurden. Eine Bibliographie der zahlreichen anderen Beiträge des Autors zu Heidegger wäre eine wünschenswerte Beigabe gewesen. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Kompilation der von Pöggeler im internationalen Gespräch über Heidegger verfaßten Beiträge durch zahlreiche Redundanzen gekennzeichnet ist. Die unterlassene Überarbeitung der Texte, die einen erheblichen Aufwand

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 bedeutet hätte, wird damit legitimiert, daß „im politischen Streit u m Heidegger" häufig gefragt werde, „wer was wann gesagt habe". (15) Die ausführliche Einleitung (11-114) gibt eine Übersicht über die Aufsätze, die nach vier thematischen Blöcken mit den Titeln „Wegzeichen der Zeit", „Erfahrung über Politik", „Kunst, Mythos und Sprache" und „Die großen Traditionen" geordnet sind. Pöggeler erweist sich - mit „Der Denkweg Martin Heideggers" (19631; 19903 mit informativem Nachwort) eigener Tradition verpflichtet - als kritischer Chronist und Interpret des Heideggerschen Opus. In eigentümlichem Erzählton gelingt es Pöggeler, die geschichtlichen Konstellationen zu skizzieren, in denen Heideggers Denken steht. Er ordnet zentrale Aussagen des Werkes der Vielzahl der Wege Heideggers zu, die sich entgegen der gelegentlichen Selbstinterpretation Heideggers nicht auf den einen Weg reduzieren lassen. (165 ff) Die thematische Bandbreite der kenntnisreichen Aufsätze ist groß. Sie reicht von Berichten und Interpretationen über Heideggers Frage nach der Zeit, sein politisches Engagement, seine Überlegungen zur Kunst bis zu dichtungstheoretischen Reflexionen zur Modifikation der Heideggerschen Rede von der Spur bei Lévinas und Derrida und zur „Lyrik der Spur" bei Celan. Instruktiv ist das Referat über Heideggers Begegnung mit dem Taoismus und seine Wirkungen auf das japanische Denken (besonders der Kyoto-Schule). Den Abschluß bilden Überlegungen zu Heideggers Kritik der Theologie in Zusammenarbeit mit Bultmann (467) und zur späteren Rede vom „Vorbeigang des letzten Gottes" in den Beiträgen zur Philosophie. In allen Aufsätzen formuliert der Autor eine - meist vorsichtig in Frageform vorgetragene - Kritik am Denken Heidegger. Es wird durchgängig festgestellt, daß Heideggers Denken hinter die Differenzierungen der Tradition zurückfalle. (Vgl. z. B. 67; 69; 198 ff; 308; 460) Grund ton der Kritik ist die „Phänomenblindheit" (72) Heideggerschen Denkens. Nach Pöggeler wird Heidegger - trotz zu verzeichnender wichtiger und wirksamer 46

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6

693 Denkanstöße - weder der Realgeschichte (58) noch der Geschichte der Philosophie (184), weder Technik (88) und Wissenschaft (69) noch der Kunst (172 ff) gerecht. Im Bereich politischer Philosophie sind Heideggers „Irrwege" allenfalls Mahnung, andere Wege zu suchen. (294) Insgesamt müsse „gefragt werden, ob Heideggers philosophische Logik differenziert und antagonistisch genug ist, u m der Andersheit im intersubjektiven Geist, aber auch den Unterschieden zwischen Natur, idealem Sein und Geschichte gerecht werden zu können." (72) Das späte Denken Heideggers aus dem Ereignis der Wahrheit des Seins, das die Nähe zum Dichten sucht, gibt den Anspruch, als kritische Philosophie zu gelten, auf. (54) Diesen Weg, so Pöggeler, könne die Philosophie nicht mitgehen. Der Autor weist darauf hin, daß Heideggers Denken oft gegen dessen Intentionen zahlreiche Wirkungen, so etwa in Richtung einer Wiederentdeckung der Tradition (z. B. der Vorsokratiker, 178 ff.) und der Geschichte der Philosophie sowie einer „Rehabilitierung der praktischen Philosophie" entfaltet. Enttäuschend ist, daß das im Titel des Sammelbandes angezeigte Nachdenken über „Neue Wege mit Heidegger" (164-201) sehr begrenzt bleibt und zudem kaum Neues bietet. Im Resümee des so überschriebenen Abschnitts wird lakonisch festgestellt, daß eine „Eckermann-Perspektive" in der Heidegger-Rezeption nicht ausreiche, sondern daß „Heideggers einzelne Beiträge in die Konstellation der heutigen übergreifenden philosophischen Fragen gestellt" werden müssen. (201) Welche Anstöße das Denken Heideggers im Kontext zeitgenössischen Philosophierens bieten kann (Auskunft darüber zu erhalten, war die beim Rezensenten durch den Titel des Bandes geweckte Erwartung), wird - abgesehen von Hinweisen auf die kritische Anknüpfung an Heidegger etwa bei Becker (z. B. 309), Gadamer (z. B. 369). Lévinas (z. B. 329) und Derrida (336) - nicht einmal im Ansatz entfaltet. Ist dies ein Indiz dafür, daß die Impulse Heideggerschen Denkens heute

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Rezensionen

erschöpft sind? Inmitten seiner Auseinandersetzung mit Heidegger erinnert Pöggeler gegenüber den aktuellen Versuchen einer „Orientierung durch Philosophie" (vgl. etwa den gleichnamigen von Peter Koslowski 1991 herausgegebenen Sammelband) auch den erwartungsvollen Leser des Sammelbandes „Neue Wege mit Heidegger" an im Grunde Selbstverständliches (73): „Die Erwartung einer Möglichkeit zur Orientierung, die sich auf die Philosophie richtet, kann durchaus enttäuscht werden." Markus Potthoff, Bochum

JACQUES DERRIDA: VOM GEIST. Heidegger und die Frage, Suhrkamp Verlag, stw 995, Frankfurt/M. 1992,159 S. Derrida verhält sich zu Heidegger wie Heidegger zu Nietzsche. Beide sind die intelligentesten Leser und vernichtendsten Kritiker ihres jeweiligen Vorgängers. Richard Rorty Welche von den Fragen, die Heidegger aufgeworfen hat, sind heute noch offen? Derrida hat im vorliegenden Text - im Kern ein Vortrag am Collège International de Philosophie in Paris aus dem Jahre 1987 - zwei Denkmotive Heideggers aufgegriffen: den Begriff des Geistes und die Problematik der Frage. Die Eigentümlichkeit des Geistbegriffs ist es, daß Heidegger in „Sein und Zeit" vor ihm warnte, um dann in der „Rektoratsrede" und in der „Einführung in die Metaphysik" wie auch, in anderer Weise, in den Vorlesungen zu Nietzsche von der „Sprache des Geistes" (S. 12) Gebrauch zu machen - obwohl er beinahe fünfundzwanzig Jahre zuvor offensichtlich darum bemüht war, diesen Begriff zu vermeiden. Versperrte der Begriff des Geistes in „Sein und Zeit" allem Anschein nach jeden Zugang zu einer Befragung des Seins, das das Dasein auszeichnet, wird er mit der „Rektoratsrede" zu etwas, was im „Zuge

einer einzigen Prägung" seine „Signatur dem deutschen Sein des Volkes und seiner Welt" eingraviert. (S. 47) Um diesen offensichtlichen Bruch im Text prospektiv in ihrer genetischen Bewegung zu erhellen, geht Derrida von der Annahme aus, es gehe Heidegger zunächst begriffsstrategisch um die „Modalitäten des Vermeidens"; sie „zeichnen sich dadurch aus, daß etwas gesagt wird, ohne daß etwas gesagt wird, daß etwas geschrieben wird, ohne daß etwas geschrieben wird, daß Wörter gebraucht werden, ohne das Wörter gebraucht werden". (S. 8) Das philologische Dunkel, in das die Modalität des Vermeidens gehüllt ist, sucht Derrida durch Hinzuziehen eines weiteren Themenstrangs aufzuhellen: die Schwierigkeiten der Frage; mit ihr habe Heidegger das Denken gleichgesetzt. So wird am Anfang der existenzialen Analytik das „Da-sein" einzig aufgrund der „Erfahrung der Frage zu einem für die Seinsfrage exemplarischen Seienden; also einzig aufgrund der Möglichkeit des Fragens". (S. 25) Dieser Punkt markiert das Erkenntnisinteresse des Autors: „Ich werde versuchen, aufzuzeigen, daß vielleicht der Geist jener Name ist, den Heidegger, alle anderen Namen hinter sich lassend, der nicht befragten Möglichkeit der Frage gibt." (S. 17) Denn die Frage ist das „Ereignis", dessen Erfahrung Heidegger dazu führt, das Problem aufzuwerfen, wie der Begriff des Geistes, ohne daß er benannt wird, zu denken ist; sie ist der Ort, von dem das Denken Heideggers in immer neuen Bahnen seinen Anfang nimmt. Denn sie greift dem Denken an dessen Wurzeln, weil sie der Ursprung des Denkens ist. Derrida geht es somit nicht um eine verstehende Rekonstruktion der Texte Heideggers; sein Hauptaugenmerk richtet sich vielmehr darauf, die „narrative Ordnung" in den Texten (S. 290) freizulegen, in der sich der Denkweg Heideggers niederschlägt. Dies ist zugleich Kern der Methode der Dekonstruktion, wie sie Derrida im Gegensatz zu der von Paul de Man vertritt. 1 Strukturiert wird jene „narrative Ordnung" durch das Fragen: dem, was auf das Denken selbst und auf die Art und Weise, wie es sich auswirkt, zurück-

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erschöpft sind? Inmitten seiner Auseinandersetzung mit Heidegger erinnert Pöggeler gegenüber den aktuellen Versuchen einer „Orientierung durch Philosophie" (vgl. etwa den gleichnamigen von Peter Koslowski 1991 herausgegebenen Sammelband) auch den erwartungsvollen Leser des Sammelbandes „Neue Wege mit Heidegger" an im Grunde Selbstverständliches (73): „Die Erwartung einer Möglichkeit zur Orientierung, die sich auf die Philosophie richtet, kann durchaus enttäuscht werden." Markus Potthoff, Bochum

JACQUES DERRIDA: VOM GEIST. Heidegger und die Frage, Suhrkamp Verlag, stw 995, Frankfurt/M. 1992,159 S. Derrida verhält sich zu Heidegger wie Heidegger zu Nietzsche. Beide sind die intelligentesten Leser und vernichtendsten Kritiker ihres jeweiligen Vorgängers. Richard Rorty Welche von den Fragen, die Heidegger aufgeworfen hat, sind heute noch offen? Derrida hat im vorliegenden Text - im Kern ein Vortrag am Collège International de Philosophie in Paris aus dem Jahre 1987 - zwei Denkmotive Heideggers aufgegriffen: den Begriff des Geistes und die Problematik der Frage. Die Eigentümlichkeit des Geistbegriffs ist es, daß Heidegger in „Sein und Zeit" vor ihm warnte, um dann in der „Rektoratsrede" und in der „Einführung in die Metaphysik" wie auch, in anderer Weise, in den Vorlesungen zu Nietzsche von der „Sprache des Geistes" (S. 12) Gebrauch zu machen - obwohl er beinahe fünfundzwanzig Jahre zuvor offensichtlich darum bemüht war, diesen Begriff zu vermeiden. Versperrte der Begriff des Geistes in „Sein und Zeit" allem Anschein nach jeden Zugang zu einer Befragung des Seins, das das Dasein auszeichnet, wird er mit der „Rektoratsrede" zu etwas, was im „Zuge

einer einzigen Prägung" seine „Signatur dem deutschen Sein des Volkes und seiner Welt" eingraviert. (S. 47) Um diesen offensichtlichen Bruch im Text prospektiv in ihrer genetischen Bewegung zu erhellen, geht Derrida von der Annahme aus, es gehe Heidegger zunächst begriffsstrategisch um die „Modalitäten des Vermeidens"; sie „zeichnen sich dadurch aus, daß etwas gesagt wird, ohne daß etwas gesagt wird, daß etwas geschrieben wird, ohne daß etwas geschrieben wird, daß Wörter gebraucht werden, ohne das Wörter gebraucht werden". (S. 8) Das philologische Dunkel, in das die Modalität des Vermeidens gehüllt ist, sucht Derrida durch Hinzuziehen eines weiteren Themenstrangs aufzuhellen: die Schwierigkeiten der Frage; mit ihr habe Heidegger das Denken gleichgesetzt. So wird am Anfang der existenzialen Analytik das „Da-sein" einzig aufgrund der „Erfahrung der Frage zu einem für die Seinsfrage exemplarischen Seienden; also einzig aufgrund der Möglichkeit des Fragens". (S. 25) Dieser Punkt markiert das Erkenntnisinteresse des Autors: „Ich werde versuchen, aufzuzeigen, daß vielleicht der Geist jener Name ist, den Heidegger, alle anderen Namen hinter sich lassend, der nicht befragten Möglichkeit der Frage gibt." (S. 17) Denn die Frage ist das „Ereignis", dessen Erfahrung Heidegger dazu führt, das Problem aufzuwerfen, wie der Begriff des Geistes, ohne daß er benannt wird, zu denken ist; sie ist der Ort, von dem das Denken Heideggers in immer neuen Bahnen seinen Anfang nimmt. Denn sie greift dem Denken an dessen Wurzeln, weil sie der Ursprung des Denkens ist. Derrida geht es somit nicht um eine verstehende Rekonstruktion der Texte Heideggers; sein Hauptaugenmerk richtet sich vielmehr darauf, die „narrative Ordnung" in den Texten (S. 290) freizulegen, in der sich der Denkweg Heideggers niederschlägt. Dies ist zugleich Kern der Methode der Dekonstruktion, wie sie Derrida im Gegensatz zu der von Paul de Man vertritt. 1 Strukturiert wird jene „narrative Ordnung" durch das Fragen: dem, was auf das Denken selbst und auf die Art und Weise, wie es sich auswirkt, zurück-

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 geht. Somit ist der implizite Gegenstand der vorliegenden Untersuchung benannt: der Zusammenhang, der zwischen dem Denken der Frage und dem Namen des Geistes besteht - ein Zusammenhang, der das ist, was „in Heideggers Texten in der Schwebe, unbestimmt, also noch in der Bewegung ist". (S. 15) Die Sprache bildet bekanntlich für Heidegger das Medium der Seinsgeschichte; die Grammatik der sprachlichen Weltbilder dirigiert das jeweils waltende vorontologische Seinsverständnis. Trotz der ihr zugewiesenen privilegierten Stellung hat Heidegger die Sprache freilich niemals zum Gegenstand einer eigenständigen systematischen Untersuchung gewählt; er begnügt sich mit deren Auszeichnung als Haus des Seins. Nicht nur, daß Derrida diesen Punkt, wie seine früheren Schriften zeigen 2 , als ungenügend empfindet. Er verfolgt im vorliegenden Text zugleich das Ziel zu zeigen, das Motiv des Geistes ist einem Kontext eingeschrieben, der im hohen Grade politisch bestimmt ist; ein Problem, das immer dann auftauchte, wenn sich das Denken von der „Geschichte" oder der „Nation" in Anspruch nehmen läßt. Erst in dieser Konstellation lasse sich der Grund dafür benennen, warum Heidegger mit der „Rektoratsrede" die Nennung des Geistbegriffs wiederholt in den Mittelpunkt seines Denkens stellt: Das Geschichtliche - und somit auch das Politische - wird unmittelbar als geistig bestimmt. Die Verbindung zwischen Geist und Geschichte, die Heidegger hier sieht, ist nun aber interessanterweise gerade in jenem Abschnitt der „Rektoratsrede" zu finden, in dem das Fragen als Bestimmung des Geistes ausgegeben wird. „Die Frage ist Geist, sie gehört zum Geist, sie kommt vom Geist - sonst ist die keine Frage." (S. 47) Somit ist das Schema des Textes nicht mehr von einer „Modalität des Vermeidens" gekennzeichnet, sondern durch die Metapher des Geistes; ihr Sprachgestus stellt den Text in die „logozentrische" Tradition der abendländischen Metaphysik: das Geschichtliche als die Ontologie des Geistes. Daß sich mit ihr, wie die Tradition der großen 46»

695 abendländischen Denker zeigt, der Anspruch verbindet, über das Schicksal Europas nachzudenken, werde im Text insbesondere an den Stellen deutlich, wo Heidegger im „christlich-metaphysischen Diskurs" zwischen einem eingeschränkten Gebrauch des „Geistigen" und einem weiten des „Geistlichen" unterscheidet; dies „bewirkt, daß sich plötzlich seine eigene frühere Strategie (...), die der eingeschränkte Gebrauch des Wortes geistig bestimmt, in ein Angriffsziel verwandelt." (S. 119) Nun ist der Versuch, in der Debatte um das Verhältnis Heideggers und seiner Philosophie zum Nationalsozialismus mit dem Aufweis interner Zusammenhänge zu intervenieren, nicht neu. Die Analyse der „narrativen Ordnung", die Derrida anwendet, vermag jedoch einen Aspekt in das Blickfeld des theoretischen Interesses an den Schriften Heideggers zu rücken, der bislang in den Untersuchungen dieses Verhältnisses, wie ich meine, weitgehend unbeachtet geblieben ist: den Text nicht primär als Explikation von Denkmotiven zu nehmen, sondern als Sprachform, d. h. den Text als Text zu lesen, worin die Sprache nicht transparentes Medium einer Mitteilung ist, sondern der Ort, an dem dieses Denken sich entfaltet. Hierin ist begründet, daß die ersten Irritationen, wie sie zunächst von der Methode jener von Derrida vorgeschlagenen Dekonstruktion ausging, inzwischen einem verstärkten Interesse gewichen ist. 4 Ohne auf die minutiösen Akte der Dekonstruktion an dieser Stelle näher eingehen zu können, die Derrida in seiner ausgedehnten Heidegger-Lektüre unternimmt, um die narrative Ordnung der Texte zu untersuchen, die durch die Neuakzentuierung des Geistbegriffs strukturell verändert wird, lassen die am Ende gegebenen Hinweise darauf schließen, daß es ein Wesensmerkmal der dekonstruktivistischen Methode ist, an Stelle des abschließenden Gestus einer systematischen Lektüre die weitertreibende Unruhe des Fragens zu setzen. Wenn Derrida daher den Geist als Name der nicht „befragten Möglichkeit der Frage" (S. 17) damit defi-

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niert, daß er der „denkende Zugang" zu dem ist, was „ganz anders" ist, „zu dem Ursprung nach/gegenüber Ungleichartigen (hétérogéne á Vorigine)" (S. 132), dann trifft auf ihn das gleiche zu, was Heidegger allem Anschein nach als Vermächtnis seines Denkens angesehen hat: „Das Ungedachte ist das höchste Geschenk, das ein Denken zu geben hat." (S. 21) Mirko Wischke, Berlin Anmerkungen 1 Exemplarisch für diesen Unterscheid: P. de Man: Genese und Genealogie (Nietzsche), in: ders.: Allegorien des Lebens, Frankfurt/M. 1988, S. 118ff.; dazu: P. de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/M. 1991. 2 Vgl. J. Derrida: Heideggers Hand (Geschlecht II), in: P. Engelmann (Hg.), Stuttgart 1990, S. 165 ff. 3 So benutzt Ch. Menke Derridasche Argumente, um der Ästhetik Adornos Lesart zu geben, in deren Licht Derrida als „umgekehrter Romantiker" kritisiert werden kann, in: ders.: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M. 1991.

HANNAH ARENDT: DAS URTEILEN. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hg. u. m. einem Essay v. Ronald Beiner, Piper Verlag, München/Zürich 1992, 224 S. Arendts Spätwerk, „Vom Leben des Geistes", blieb unvollendet. Es sollte die ihrer Ansicht nach drei zentralen geistigen Tätigkeiten des Denkens, Wollens und Urteilens hinsichtlich ihres grundlegenden Orientierungsvermögens in einer Zeit untersuchen, in der moralische Normen ihre Funktion als selbstverständliche Leitlinien verloren haben. „Denken ohne Geländer" - so lautet die Hinterlassenschaft der katastrophalen Umbrüche dieses Jahrhunderts in Europa; so lautet aber

auch die Chance, die Arendt für eine Neubestimmung der Grundlagen des philosophischen Denkens und des politischen Handelns ergreifen wollte. Deshalb schloß sie an ihre Analyse des Totalitarismus aus existenzphilosophischer Sicht ihre Untersuchungen zur Tradition und Neubestimmung der vita activa und der vita contemplativa an; ersteres in „Vita activa oder Vom täglichen Leben", woran sie die Beschreibung politischer Phänomene wie Macht und Gewalt, Handeln und republikanische Institutionen, Konsens und Dissens anknüpfte, letzteres in „Vom Leben des Geistes". Unmittelbarer Anlaß zu ihrer Beschäftigung mit den geistigen Fähigkeiten war ihre Erkenntnis während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem, daß das Böse nicht radikal, wie Kant meinte, sondern banal ist und nicht als Dummheit, sondern aus Gedankenlosigkeit verübt wird. Ihre Untersuchungen des Denkens, Wollens und Urteilens dienten also dem Zweck, die grundsätzlichen geistigen Fähigkeiten zu untersuchen, die den einzelnen selbst bei vollkommen ungeahnten und unbekannten neuen Sachverhalten zu einem menschlichen Urteil befähigen. Daraus folgt, daß die ersten beiden Teile, „Das Denken" und „Das Wollen", ihren entscheidenden Abschluß in „Das Urteilen" finden sollten, gerade demjenigen Teil, den aber Arendt nicht mehr schreiben konnte. Ronald Beiner hat wenige Jahre nach Arendts Tod 1975 aus dem aufschlußreichen Nachlaß eine, wie er vorsichtig meint, „spekulative", nichtsdestoweniger sehr gelungene Rekonstruktion dieses dritten Teils vorgenommen. Er hat dazu einen dreizehnteiligen Vorlesungstext Arendts „Über Kants Politische Philosophie" von 1970 und Aufzeichnungen über „Die Einbildungskraft" ebenfalls von 1970 veröffentlicht, die Arendt für ein Seminar über die Kritik der Urteilskraft Kants verwandte. In einem sehr ausführlichen Essay geht Beiner den verschiedenen Anlässen nach, bei denen sich Arendt über das Urteilen äußerte, u n d interpretiert schließlich die nachgelassenen Texte hinsichtlich der ungeschriebenen

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niert, daß er der „denkende Zugang" zu dem ist, was „ganz anders" ist, „zu dem Ursprung nach/gegenüber Ungleichartigen (hétérogéne á Vorigine)" (S. 132), dann trifft auf ihn das gleiche zu, was Heidegger allem Anschein nach als Vermächtnis seines Denkens angesehen hat: „Das Ungedachte ist das höchste Geschenk, das ein Denken zu geben hat." (S. 21) Mirko Wischke, Berlin Anmerkungen 1 Exemplarisch für diesen Unterscheid: P. de Man: Genese und Genealogie (Nietzsche), in: ders.: Allegorien des Lebens, Frankfurt/M. 1988, S. 118ff.; dazu: P. de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/M. 1991. 2 Vgl. J. Derrida: Heideggers Hand (Geschlecht II), in: P. Engelmann (Hg.), Stuttgart 1990, S. 165 ff. 3 So benutzt Ch. Menke Derridasche Argumente, um der Ästhetik Adornos Lesart zu geben, in deren Licht Derrida als „umgekehrter Romantiker" kritisiert werden kann, in: ders.: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M. 1991.

HANNAH ARENDT: DAS URTEILEN. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hg. u. m. einem Essay v. Ronald Beiner, Piper Verlag, München/Zürich 1992, 224 S. Arendts Spätwerk, „Vom Leben des Geistes", blieb unvollendet. Es sollte die ihrer Ansicht nach drei zentralen geistigen Tätigkeiten des Denkens, Wollens und Urteilens hinsichtlich ihres grundlegenden Orientierungsvermögens in einer Zeit untersuchen, in der moralische Normen ihre Funktion als selbstverständliche Leitlinien verloren haben. „Denken ohne Geländer" - so lautet die Hinterlassenschaft der katastrophalen Umbrüche dieses Jahrhunderts in Europa; so lautet aber

auch die Chance, die Arendt für eine Neubestimmung der Grundlagen des philosophischen Denkens und des politischen Handelns ergreifen wollte. Deshalb schloß sie an ihre Analyse des Totalitarismus aus existenzphilosophischer Sicht ihre Untersuchungen zur Tradition und Neubestimmung der vita activa und der vita contemplativa an; ersteres in „Vita activa oder Vom täglichen Leben", woran sie die Beschreibung politischer Phänomene wie Macht und Gewalt, Handeln und republikanische Institutionen, Konsens und Dissens anknüpfte, letzteres in „Vom Leben des Geistes". Unmittelbarer Anlaß zu ihrer Beschäftigung mit den geistigen Fähigkeiten war ihre Erkenntnis während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem, daß das Böse nicht radikal, wie Kant meinte, sondern banal ist und nicht als Dummheit, sondern aus Gedankenlosigkeit verübt wird. Ihre Untersuchungen des Denkens, Wollens und Urteilens dienten also dem Zweck, die grundsätzlichen geistigen Fähigkeiten zu untersuchen, die den einzelnen selbst bei vollkommen ungeahnten und unbekannten neuen Sachverhalten zu einem menschlichen Urteil befähigen. Daraus folgt, daß die ersten beiden Teile, „Das Denken" und „Das Wollen", ihren entscheidenden Abschluß in „Das Urteilen" finden sollten, gerade demjenigen Teil, den aber Arendt nicht mehr schreiben konnte. Ronald Beiner hat wenige Jahre nach Arendts Tod 1975 aus dem aufschlußreichen Nachlaß eine, wie er vorsichtig meint, „spekulative", nichtsdestoweniger sehr gelungene Rekonstruktion dieses dritten Teils vorgenommen. Er hat dazu einen dreizehnteiligen Vorlesungstext Arendts „Über Kants Politische Philosophie" von 1970 und Aufzeichnungen über „Die Einbildungskraft" ebenfalls von 1970 veröffentlicht, die Arendt für ein Seminar über die Kritik der Urteilskraft Kants verwandte. In einem sehr ausführlichen Essay geht Beiner den verschiedenen Anlässen nach, bei denen sich Arendt über das Urteilen äußerte, u n d interpretiert schließlich die nachgelassenen Texte hinsichtlich der ungeschriebenen

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 Abhandlungen auf eine sehr plausible Weise. In den nachgelassenen Texten geht es Arendt u m die Antwort auf eine Frage, wie das Besondere als Besonderes beurteilt werden kann, ohne dabei in subjektive Beliebigkeit zu verfallen, aber auch ohne es einem bekannten Allgemeinen unterzuordnen, etwa einem Geschichtsderminismus, der Arendt als Angehöriger der jüdischen Minderheit neben den Rassentheorien immer als besonders bedrohlich erschien. Im ersten Teil von Kants Kritik der Urteilskraft, der von der ästhetischen Urteilskraft handelt, glaubt sie die Grundlagen für das politische Urteilen zu finden: einen Urteilssinn, der als ein besonderes Talent nicht erst erworben, sondern nur eingeübt werden muß, und der nicht logisch deduktiv oder induktiv, sondern intersubjektiv arbeitet. Urteilen beruht auf dem Geschmackssinn. Hinzu kommen die Einbildungskraft, d. h. die Repräsentation des Abwesenden, die Vergegenwärtigung der Meinungen anderer sowie die Reflexion und darüber hinaus der Gemeinsinn, der auf dem Selbstdenken, dem An-Stelle-jedes-anderenDenken und der Ubereinstimmung mit sich selber beruht. Die Einbildungskraft erscheint als die gemeinsame Wurzel von Sinnlichkeit und Vestand und schafft auf einer gewissen Stufe zwischen Sinnlichkeit und Denken ein vorläufiges Schema, eine Art Bild, an dem dann das reflektierende im Unterschied zum bestimmenden Urteilen ansetzen und aus dem Besonderen eine eigene Regel gewinnen kann. Diese Regel ist nicht im abstrakten Sinne allgemein, sondern im intersubjektiven Sinn universal; sie bezieht bei der Urteilsfind u n g alle anderen Standpunkte ein und bleibt dem Besonderen durch den Bezug auf die Beispiele verbunden. Sie sind der „Gängelwagen der Urteilskraft" (Kant), das Urteil ist somit von exemplarischer Gültigkeit. Die Beurteilung politischen Handelns läßt sich von der Beispielhaftigkeit leiten: Mut wurde deshalb in der Antike durch das Beispiel des Achilles verdeutlicht und Güte durch das des heiligen Franziskus oder des Jesus von Nazareth. Diese Art des Urteilens wird nicht nur

697 der jeweiligen Besonderheit politischer und historischer Ereignisse gerecht, sondern respektiert auch die grundsätzliche Pluralität und Unterschiedlichkeit der Menschen. Arendts Kant-Vorstellung geht aber noch erheblich über den unmittelbaren Urteilsvorgang hinaus und bezieht Kants Stellung zur Frage nach dem Sinn oder Wert des menschlichen Lebens mit ein, die Feindseligkeit der denkenden Menschen gegenüber der Welt der menschlichen Angelegenheiten, die Notwendigkeit des kritischen Denkens angesichts der Nicht-Verfügbarkeit der metaphysischen Wahrheiten, die Würde des Menschen gegenüber dem Fortschrittsdenken und die zwieschlächtige Haltung Kants gegenüber der Französischen Revolution, die er vom Standpunkt der praktischen Vernunft ablehnte, aber als Zuschauer enthusiastisch begrüßte. In seinem Essay beschreibt Beiner sehr präzise die Grundlagen, auf denen Arendt im Laufe der Zeit die Fähigkeiten des Urteilens stellt: die Verantwortung für den Erhalt einer humanen Welt, die cultura animi als Grundlage des ästhetischen und politischen Geschmackssinns, der gesunde Menschenverstand im Sinne einer Phronesis und die Tatsache, daß im Unterschied zur zwingenden und daher undialogischen und stummen Wahrheit das Urteil auf Meinung, Dialog und Überredung beruht. Dazu gehören auch die bemerkenswerten Feststellungen Arendts, daß der Wert einer Freundschaft mehr zählt als der einer Wahrheit, daß der Geschmackssinn auch darüber entscheidet, mit w e m wir uns zusammentun und mit wem nicht, und daß „letzten Endes ... unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von unserer Wahl des Umgangs abhängen, davon, mit w e m wir unser Leben verbringen wollen. Und dieser Umgang wird durch das Denken-in-Beispielen gewählt - in beispielhaften toten und lebenden Persönlichkeiten und in beispielhaften vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen." (S. 144) Es verwundert deshalb auch nicht, daß Arendt schrittweise den Ort verändert hat, an dem sie das Urteilen ansiedelte: zunächst

698 und besonders in ihrem Werk „Vita activa Oder vom tätigen Leben" beim politisch Handelnden, später aber, nach dem Eichmann-Prozeß - man könnte auch sagen: in vorgerücktem Alter - beim Zuschauer. Arendt ging es ja keineswegs um eine Technik des politischen Urteilens oder auch nur um die konkreten Urteilsmöglichkeiten eines gedankenlosen Eichmann oder weltfremden Heidegger. Urteilen bedeutete ihr immer mehr als das: Es diente der Sinnsuche und damit auch dem nachträglichen Verstehen des Geschehenen. Das ist der Grund, warum sich Arendt etwas unvermittelt mit der Melancholie Kants über das „triste Ungefähr" der menschlichen Angelegenheiten befaßte, dem er durch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft entfliehen wollte. Für Arendt wurde das Problem in dem Jahrhundert der gescheiterten Utopien noch umfangreicher: Für sie gab es keine Hoffnung mehr auf eine bessere Zukunft, sondern die Frage, wie sie, ganz gegenwärtig, mit der Last der Freiheit, nämlich der Freiheit von den Geländern der Vergangenheit und der Freiheit der menschlichen Hybris fertig wird. Wenn sie nicht die „furchterregende Verantwortung" der Freiheit an eine Doktrin abgeben wollte, dann blieb ihr nur das eigene Urteilen als Sprung aus der Zeit, um ihre Würde auf einem eigenen Platz gegen den Strom der Geschichte zu bewahren und sich mit Menschen und Traditionen ihrer Wahl zu umgeben. Daher auch das geplante Motto für „Das Urteilen": „Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, die besiegte jedoch gefällt Cato." Für Beiner ergibt sich dabei eine verblüffende Nähe Arendts zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der ewigen Wiederkehr. Urteilen wird so zu einer Versöhnung mit einer im Kern tragischen Existenz. Aus diesem doppelten Vorgehen Arendts, zum einen die politische Urteilskraft im engeren Sinne aus Kants ästhetischer Urteilskraft zu gewinnen und zum anderen durch das Urteilen den eigenen existentiellen Standort zu bestimmen, ergeben sich eine Reihe von offenen Fragen, wie es immer wieder in Arendts Schriften aufgrund der

Rezensionen Mehrschichtigkeit ihrer Ausführungen der Fall ist. Deshalb weist Beiner im Anschluß an seine Interpretation noch auf eine Reihe solcher Fragen hin, auf die Arendt nicht eingeht: Welche Rolle Erfahrung und Gewöhnung, Rhetorik und Leidenschaften, praktische Ziele und Kognition spielen. Solche Fragen entkräften nicht Arendts Thesen, sondern führen dort weiter, wo sie sich ganz bewußt immer wieder auf die Auseinandersetzung mit den Grundlagen politischer und philosophischer Phänomene und die Beschreibung der eigenen existentiellen Position beschränkt. „Das Urteilen" bleibt trotz der gelungenen Rekonstruktion Arendts schwierigstes und offenstes Unterfangen. Beiners Essay aber ermöglicht über die Interpretation hinaus einen Zugang zu Arendt, der ihr doppeltes Anliegen offenbart: ihre Suche nach einem eigenen Raum, der ihre Würde wahrt, und nach den allgemeinen Bedingungen dafür, daß dieser Raum von der Gemeinschaft wie selbstverständlich geschützt wird. Dr. phil. Wolfgang Heuer,

Berlin

HERBERT SCHWEIZER: BEDEUTUNG. Grundzüge einer internalistischen Semantik, Verlag Paul Haupt, Bern/Stuttgart 1991, 201 S. Dieses Büchlein ist vor allem dem Leser zu empfehlen, der sich umfassend mit den semantischen Konzeptionen von G. Frege, R. Carnap und W. v. O. Quine vertraut machen will. H. Schweizer charakterisiert die semantische Theorie Freges als eine Namenstheorie der Bedeutung und so lernt der Leser die verschiedenen Akzentuierungen des Bedeutungsbegriffs bei Frege kennen, geht mit dem Verfasser der Frage der Vereinbarkeit von dessen Kontextprinzip und Funktionalitätsprinzip nach und weiß am Ende des 1. Kapitels, was Frege unter WAHR und dem WAHRHEITSWERT versteht. Den Übergang zum zweiten Kapitel liefert

698 und besonders in ihrem Werk „Vita activa Oder vom tätigen Leben" beim politisch Handelnden, später aber, nach dem Eichmann-Prozeß - man könnte auch sagen: in vorgerücktem Alter - beim Zuschauer. Arendt ging es ja keineswegs um eine Technik des politischen Urteilens oder auch nur um die konkreten Urteilsmöglichkeiten eines gedankenlosen Eichmann oder weltfremden Heidegger. Urteilen bedeutete ihr immer mehr als das: Es diente der Sinnsuche und damit auch dem nachträglichen Verstehen des Geschehenen. Das ist der Grund, warum sich Arendt etwas unvermittelt mit der Melancholie Kants über das „triste Ungefähr" der menschlichen Angelegenheiten befaßte, dem er durch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft entfliehen wollte. Für Arendt wurde das Problem in dem Jahrhundert der gescheiterten Utopien noch umfangreicher: Für sie gab es keine Hoffnung mehr auf eine bessere Zukunft, sondern die Frage, wie sie, ganz gegenwärtig, mit der Last der Freiheit, nämlich der Freiheit von den Geländern der Vergangenheit und der Freiheit der menschlichen Hybris fertig wird. Wenn sie nicht die „furchterregende Verantwortung" der Freiheit an eine Doktrin abgeben wollte, dann blieb ihr nur das eigene Urteilen als Sprung aus der Zeit, um ihre Würde auf einem eigenen Platz gegen den Strom der Geschichte zu bewahren und sich mit Menschen und Traditionen ihrer Wahl zu umgeben. Daher auch das geplante Motto für „Das Urteilen": „Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, die besiegte jedoch gefällt Cato." Für Beiner ergibt sich dabei eine verblüffende Nähe Arendts zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der ewigen Wiederkehr. Urteilen wird so zu einer Versöhnung mit einer im Kern tragischen Existenz. Aus diesem doppelten Vorgehen Arendts, zum einen die politische Urteilskraft im engeren Sinne aus Kants ästhetischer Urteilskraft zu gewinnen und zum anderen durch das Urteilen den eigenen existentiellen Standort zu bestimmen, ergeben sich eine Reihe von offenen Fragen, wie es immer wieder in Arendts Schriften aufgrund der

Rezensionen Mehrschichtigkeit ihrer Ausführungen der Fall ist. Deshalb weist Beiner im Anschluß an seine Interpretation noch auf eine Reihe solcher Fragen hin, auf die Arendt nicht eingeht: Welche Rolle Erfahrung und Gewöhnung, Rhetorik und Leidenschaften, praktische Ziele und Kognition spielen. Solche Fragen entkräften nicht Arendts Thesen, sondern führen dort weiter, wo sie sich ganz bewußt immer wieder auf die Auseinandersetzung mit den Grundlagen politischer und philosophischer Phänomene und die Beschreibung der eigenen existentiellen Position beschränkt. „Das Urteilen" bleibt trotz der gelungenen Rekonstruktion Arendts schwierigstes und offenstes Unterfangen. Beiners Essay aber ermöglicht über die Interpretation hinaus einen Zugang zu Arendt, der ihr doppeltes Anliegen offenbart: ihre Suche nach einem eigenen Raum, der ihre Würde wahrt, und nach den allgemeinen Bedingungen dafür, daß dieser Raum von der Gemeinschaft wie selbstverständlich geschützt wird. Dr. phil. Wolfgang Heuer,

Berlin

HERBERT SCHWEIZER: BEDEUTUNG. Grundzüge einer internalistischen Semantik, Verlag Paul Haupt, Bern/Stuttgart 1991, 201 S. Dieses Büchlein ist vor allem dem Leser zu empfehlen, der sich umfassend mit den semantischen Konzeptionen von G. Frege, R. Carnap und W. v. O. Quine vertraut machen will. H. Schweizer charakterisiert die semantische Theorie Freges als eine Namenstheorie der Bedeutung und so lernt der Leser die verschiedenen Akzentuierungen des Bedeutungsbegriffs bei Frege kennen, geht mit dem Verfasser der Frage der Vereinbarkeit von dessen Kontextprinzip und Funktionalitätsprinzip nach und weiß am Ende des 1. Kapitels, was Frege unter WAHR und dem WAHRHEITSWERT versteht. Den Übergang zum zweiten Kapitel liefert

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 Carnap, dessen zwei Kritiken an der Fregeschen Konzeption vom Verfasser vorgestellt werden. Im Kapitel zu R. Carnap geht es vor allem um die Beziehung zwischen den dessen Konzeption tragenden Begriffen Extension und Intension, wobei H. Schweizer zu dem Schluß kommt, daß es Carnap nicht gelungen ist, „überzeugend darzulegen, wie Extensionen auf Intensionen oder beide auf neutrale Wesenheiten zurückgeführt werden können" (S. 72). Das dritte Kapitel stellt die zentralen Problempunkte der Quineschen Konzeption vor: die Thesen von der Indeterminiertheit der Übersetzung, der Unerforschlichkeit der Referenz, der Unterdeterminiertheit der Theorie und der Untrennbarkeit von Sprache und Theorie. Der Untertitel des Buches läßt bereits ahnen, daß der Autor keinen BedeutungsBEGRIFF liefern will, sondern mehr an der Klärung der Frage interessiert ist, ob es Bedeutungen gibt und welche Rolle sie innerhalb einer Semantik spielen könnten. Um sich der Beantwortung dieser Frage nähern zu können, macht H. Schweizer zunächst mit den grundlegenden Kritiken Quines an Carnap bekannt, um dann den eigenen Ansatz mit dem Begriff „Internalismus" zu kennzeichnen. Die Charakterisierung dieser internalistischen Semantik erfolgt in solchen Formulierungen wie: - Internalismus ist „methodisch einem Pragmatismus verpflichtet, der zur Begründung philosophischer Positionen und Konventionen auf die praktischen Konsequenzen gefällter Entscheidungen und ihrer verworfenen Alternativen verfällt" (S. 132f). - Semantik im internalistischen Sinne setzt das „Vorhandensein einer Sprache, deren Regelsatz dem Benutzer vollständig zugänglich ist", voraus. (S. 166) - Für den Internalisten „ist Semantik mit dem konventionellen und damit eben normativen Unternehmen der Konstruktion und Befolgung eines linguistischen Regelsystems verwoben" (S. 168). Diese internalistische Semantik stützt sich

699 im übrigen auf die philosophischen Positionen von Henri Lauener und seiner Auffassung der Philosophie als normativer Tätigkeit. Schade, daß der Autor seinem Anliegen konsequent gerecht wird: er skizziert lediglich die Grundzüge einer internalistischen Semantik. Man kann - die fundierte Auseinandersetzung mit den und die Diskussion der Konzeptionen von Carnap und Quine in diesem Buch voraussetzend - auf eine detaillierte Ausarbeitung einer solchen Konzeption durch den Autor gespannt sein. Dr. phil. Regina Wegner, Berlin

DETLEF THIEL: ÜBER DIE GENESE PHILOSOPHISCHER TEXTE. Studien zu Jacques Derrida, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1990, 423 S. Der eher verhaltenen und wenn, dann oft undifferenzierten Lektüre sogenannter poststrukturalistischer Denkweisen gesellt sich mit Detlef Thiels „Studien zu Jacques Derrida" ein wichtiger und eigenständiger Beitrag hinzu, der zeigt, wie Dekonstruktion in vielfältigen Kontexten fruchtbar gemacht werden kann. Thiel verteidigt Derrida gegen den Habermasschen Vorwurf der Ursprungsphilosophie und wendet diesen gegen den Urheber selbst. Sein Hauptanliegen ist es jedoch, eine Theorie des konkreten philosophischen Schreibens zu entwickeln. Er geht von den Derridaschen Texten aus, die um die Problematik der Unterdrückung der Schrift durch die Stimme kreisen, von der Forderung einer Grammatologie, die Thiel als einen Rahmen auffaßt, der ausgefüllt werden muß, und ebendiesen versucht Thiel mit seinem Notizbegriff. Die Notiz bestimmt er als ursprüngliche graphische Konkretion, sie steht so am Anfang kohärenter Texte und kennzeichnet deren Genese: Skizze, Entwurf, Parergon, ... - sie bestimmt präliterarisches Schreiben. Mit seinem Notizbegriff versucht Thiel, den Derridaschen Schriftbegriff in

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 Carnap, dessen zwei Kritiken an der Fregeschen Konzeption vom Verfasser vorgestellt werden. Im Kapitel zu R. Carnap geht es vor allem um die Beziehung zwischen den dessen Konzeption tragenden Begriffen Extension und Intension, wobei H. Schweizer zu dem Schluß kommt, daß es Carnap nicht gelungen ist, „überzeugend darzulegen, wie Extensionen auf Intensionen oder beide auf neutrale Wesenheiten zurückgeführt werden können" (S. 72). Das dritte Kapitel stellt die zentralen Problempunkte der Quineschen Konzeption vor: die Thesen von der Indeterminiertheit der Übersetzung, der Unerforschlichkeit der Referenz, der Unterdeterminiertheit der Theorie und der Untrennbarkeit von Sprache und Theorie. Der Untertitel des Buches läßt bereits ahnen, daß der Autor keinen BedeutungsBEGRIFF liefern will, sondern mehr an der Klärung der Frage interessiert ist, ob es Bedeutungen gibt und welche Rolle sie innerhalb einer Semantik spielen könnten. Um sich der Beantwortung dieser Frage nähern zu können, macht H. Schweizer zunächst mit den grundlegenden Kritiken Quines an Carnap bekannt, um dann den eigenen Ansatz mit dem Begriff „Internalismus" zu kennzeichnen. Die Charakterisierung dieser internalistischen Semantik erfolgt in solchen Formulierungen wie: - Internalismus ist „methodisch einem Pragmatismus verpflichtet, der zur Begründung philosophischer Positionen und Konventionen auf die praktischen Konsequenzen gefällter Entscheidungen und ihrer verworfenen Alternativen verfällt" (S. 132f). - Semantik im internalistischen Sinne setzt das „Vorhandensein einer Sprache, deren Regelsatz dem Benutzer vollständig zugänglich ist", voraus. (S. 166) - Für den Internalisten „ist Semantik mit dem konventionellen und damit eben normativen Unternehmen der Konstruktion und Befolgung eines linguistischen Regelsystems verwoben" (S. 168). Diese internalistische Semantik stützt sich

699 im übrigen auf die philosophischen Positionen von Henri Lauener und seiner Auffassung der Philosophie als normativer Tätigkeit. Schade, daß der Autor seinem Anliegen konsequent gerecht wird: er skizziert lediglich die Grundzüge einer internalistischen Semantik. Man kann - die fundierte Auseinandersetzung mit den und die Diskussion der Konzeptionen von Carnap und Quine in diesem Buch voraussetzend - auf eine detaillierte Ausarbeitung einer solchen Konzeption durch den Autor gespannt sein. Dr. phil. Regina Wegner, Berlin

DETLEF THIEL: ÜBER DIE GENESE PHILOSOPHISCHER TEXTE. Studien zu Jacques Derrida, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1990, 423 S. Der eher verhaltenen und wenn, dann oft undifferenzierten Lektüre sogenannter poststrukturalistischer Denkweisen gesellt sich mit Detlef Thiels „Studien zu Jacques Derrida" ein wichtiger und eigenständiger Beitrag hinzu, der zeigt, wie Dekonstruktion in vielfältigen Kontexten fruchtbar gemacht werden kann. Thiel verteidigt Derrida gegen den Habermasschen Vorwurf der Ursprungsphilosophie und wendet diesen gegen den Urheber selbst. Sein Hauptanliegen ist es jedoch, eine Theorie des konkreten philosophischen Schreibens zu entwickeln. Er geht von den Derridaschen Texten aus, die um die Problematik der Unterdrückung der Schrift durch die Stimme kreisen, von der Forderung einer Grammatologie, die Thiel als einen Rahmen auffaßt, der ausgefüllt werden muß, und ebendiesen versucht Thiel mit seinem Notizbegriff. Die Notiz bestimmt er als ursprüngliche graphische Konkretion, sie steht so am Anfang kohärenter Texte und kennzeichnet deren Genese: Skizze, Entwurf, Parergon, ... - sie bestimmt präliterarisches Schreiben. Mit seinem Notizbegriff versucht Thiel, den Derridaschen Schriftbegriff in

700 Frage zu stellen. Seine Privatheit - im Gegensatz zum Zeichen nichtkommunikativ, titellos, unpubliziert - soll seine Iterabilität einschränken. Doch kann sich seine Notiz nicht nur aus Zeichen zusammensetzen, unterliegt sie nicht bestimmten Vorurteilen, und bleibt sie nicht deshalb kommunikabel und iterabel? Bekannt sind Derridas Wortspiele, Unentwirrbarkeiten, Worterzeugungen, die immer wieder unerwartete Beziehungen aufdecken, die versuchen, die Sprache zu entlinearisieren, indem sie die unaufhaltsame Vertextung und Verwobenheit der Sprache, Wörter und Dinge, der Zeichen in ihrer unvorhersehbaren Multidimensionalität verdeutlichen. Dieser Aspekt führt oft zum Vorwurf der Methodenlosigkeit und Beliebigkeit, den auch Thiel aufgreift. Doch gilt es, sich von solchen Vorurteilen zu lösen, die den experimentellen Charakter dieses Denkens zähmen. Das Problem liegt wohl in einem Verkennen dessen, was Derrida die „supplementäre Logik" nennt. Indem Thiel die sogenannte „Urschrift" in eins setzt mit der „generalisierten Schrift", „allgemeinem Text" und „differance", vernachlässigt er gerade die Beziehungen dieser Quasi-Begriffe untereinander. Ich schließe mich eher Rodolphe Gasche an, der von Infrastrukturen spricht, die aufeinander unreduzierbar bleiben, die gegeneinander nicht klar abgrenzbar sind, die sich gegenseitig erzeugen und in der Lage sind, einzeln alle anderen zu repräsentieren. Es scheint mir deshalb ratsam, der supplementären Logik auf diesem Weg zu folgen. Des weiteren möchte ich Methodenlosigkeit als eine Konsequenz diesen Denkens aufzeichnen, denn der Quasi-Begriff des „allgemeinen Texts" läßt keinen äußeren Standpunkt zu: „II n'y a pas dehors texte." Derridas Lektüren und das Wort Dekonstruktion oder Grammatologie bleiben gemäß der supplementären Logik unfeststellbar und können nicht zu einer einheitlichen, wiederholbaren Methode ausgebaut werden. Methode setzt ja gerade auch Wiederholbarkeit voraus, die laut Derrida

Rezensionen stets von Abweichung bedroht ist und damit in reiner Form unmöglich bleibt. Derridas Texte selbst bleiben deshalb stets Texte ohne Grenzen, die sich durch Lektüreperspektiven erweitern oder verengen und stets aufgrund ihrer autonomen Existenz als Schrift uneinholbar bleiben. So ist es zumindest problematisch, wenn Thiel von einer Kohärenz Derridascher Texte ausgeht. Es wäre zu fragen, wozu diese Texte, die mit sich selbst und dem textuellen Grenzen spielen, „überreden" wollen, warum sie offen bleiben für erneute Dekonstruktion und sich solchen Begriffen wie Kohärenz entziehen? So ist es zu beobachten, wie Thiels Studien zwischen einer kreativen Auseinandersetzung und dem Rückfall in Vor-urteile schwanken, die Bestandteile seines Instrumentariums sind. Weitere Passagen bleiben nachvollziehend, so die Betrachtungen zur Dissemination und zum Textbegriff, wobei gerade bei diesem die radikalen Konsequenzen zu kurz kommen: Wahrheitsbegriff, Textgrenzen, Kohärenz/Inkohärenz, ... Interessant sind jedoch Thiels Bemerkungen zum Mythogramm, das er Leroi-Gourhan entlehnt. Hier entfaltet sich das nicht-lineare, nichtphonetische Potential der Schrift. Diese Multidimensionalität, Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit, der jeder Text unterliegt, insofern er Schrift ist, öffnet Texte, die nun zu Grenzgängen zwischen Philosophie, Phänomenologie, Psychoanalyse, Literatur, ... werden. So entsteht eine neue Situation für den Leser eines philosophischen Textes, denn er liest scheinbar heterogenste Spuren zusammen, die eine eindeutige Textsortenordnung unmöglich machen. Thiel betont hier besonders das Zusammenspiel von Schreibakt und Denken und er macht graphologische Aspekte relevant. Der Schreibakt als Forschungsaufgabe, die Vernachlässigung der Textgenese in der Philosophie: Dieses Thema der Thielschen Arbeit verdient Beachtung und kündigt vielleicht ein neues Philosophieverständnis an, das Gattungsunterschiede in Frage stellt und nicht davor zurückschreckt, diese Grenzen zu denken und zu überschreiten. Es ist eine

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 bestimmte Art, die komplexen Texte Derridas zu lesen, man kann ihnen auch radikaler folgen. Roger Jansen, Berlin

THOMAS MILLER: KONSTRUKTION UND BEGRÜNDUNG. Zur Struktur und Relevanz der Philosophie Hans Drieschs, Georg Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 1991, 367 S. Der Wissenschaftshistoriker bzw. -philosoph (und noch mehr der, der es werden will) wird dieses Buch aus zwei inhaltlichen und informellen Gründen zu schätzen wissen: 1. Der Autor gibt ein umfassendes Bild der Entwicklung sowohl der biologischen und philosophischen Positionen von Hans Driesch in der Auseinandersetzung mit den für das jeweilige Problem repräsentativen Denkern. 2. Der Anfang des Buches enthält erstmalig - eine vollständige Liste der Publikationen von und der Rezensionen zu Driesch, ein Verzeichnis der Briefe und sonstigen Handschriften, eine Liste der von Driesch betreuten Dissertationen, den Briefwechsel mit Reichenbach und schließlich erfährt der Leser, in welchen Archiven der Autor gearbeitet hat. Die Millersche These lautet, daß die „eigentliche Leistung Drieschs ... in der Erfüllung einer Verbindungsfunktion zwischen den nachkantischen idealistischen Systemen, gewisser Tendenzen der analytischen Philosophie und dem Operationalismus (besteht)." (S. 15f.) Im Gegensatz zu anderen Gesamtdarstellungen, die mehr auf die Beschreibung der vitalistischen Biologie und ihrer systematischen Folgen zielen (die u. a. von Reinhard Mocek 1965 vorgelegte Dissertation wird von Th. Miller als ein „Standardwerk" charakterisiert), ist es das Anliegen des Autors, eine schrittweise Konstruktion der wesentlichen Begriffe bei Driesch nachzuzeichnen. Zunächst stellt Th. Miller die grundlegenden Auffassungen

701 Drieschs zur theoretischen Biologie (Driesch verwendet vorzugsweise den Begriff „Autonomie des Organischen" anstelle von „Vitalismus") und die dazu kritischen Ansätze u. a. von Philipp Frank, dem frühen L. v. Bertalanffy und E. May vor. Über die Vorstellung der Auseinandersetzung von Driesch mit Kant und der Kritik von Fichte an Kant kommt der Autor zur Drieschschen Theorie der Subjektivität, die sich auf die Erkenntnis der „Eingebundenheit allen Wissens in die Erlebniswelt" gründet. In einem weiteren Kapitel bereitet Th. Miller sozusagen das philosophische Feld durch die Darstellung des Konstruktionsbegriffs bei Kant, Fichte, Hoyer, Schelling, Hegel, Carnap, Dingler, um dann Drieschs Auseinandersetzung mit diesen Strömungen und dessen eigener Beurteilung der Systeme wiederzugeben. Darauf aufbauend kann nun die Konstruktionsmethode Drieschs entwickelt werden, wobei der Autor wiederum bemüht ist, alle dieses Problem tangierenden Bereiche zu diskutieren: z. B. die Rekonstruktion der reinen Naturwissenschaft (Syllogistik, Arithmetik, Geometrie), die Entwicklung der Realwissenschaften (Physik, Chemie und Biologie), die Relativitätstheorie und die Psychologie. Die im Titel des Buches angesprochene Beziehung von Konstruktion und Begündung findet nach Auffassung von Th. Miller - und eben auch Driesch - ihre Lösung in folgender Aufgabenstellung: „Die Begründungsfunktion der Konstruktion liegt darin zu zeigen, welche Begriffsbildungen möglich sind aus der Kombination der jeweils zur Verfügung stehenden Mittel." (S. 263) In einem kleinen Abschnitt des Buches möchte Th. Miller die Beziehung zwischen Driesch und Wittgenstein herausarbeiten, die - so gesteht er zu - oberflächlich betrachtet, gewagt zu sein scheint. Diesen Schein kann er aber nicht überwinden, denn viele der dort getroffenen Aussagen beruhen überwiegend auf spekulativen Vermutungen. Dr. phil. Regina Wegner, Berlin

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 bestimmte Art, die komplexen Texte Derridas zu lesen, man kann ihnen auch radikaler folgen. Roger Jansen, Berlin

THOMAS MILLER: KONSTRUKTION UND BEGRÜNDUNG. Zur Struktur und Relevanz der Philosophie Hans Drieschs, Georg Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 1991, 367 S. Der Wissenschaftshistoriker bzw. -philosoph (und noch mehr der, der es werden will) wird dieses Buch aus zwei inhaltlichen und informellen Gründen zu schätzen wissen: 1. Der Autor gibt ein umfassendes Bild der Entwicklung sowohl der biologischen und philosophischen Positionen von Hans Driesch in der Auseinandersetzung mit den für das jeweilige Problem repräsentativen Denkern. 2. Der Anfang des Buches enthält erstmalig - eine vollständige Liste der Publikationen von und der Rezensionen zu Driesch, ein Verzeichnis der Briefe und sonstigen Handschriften, eine Liste der von Driesch betreuten Dissertationen, den Briefwechsel mit Reichenbach und schließlich erfährt der Leser, in welchen Archiven der Autor gearbeitet hat. Die Millersche These lautet, daß die „eigentliche Leistung Drieschs ... in der Erfüllung einer Verbindungsfunktion zwischen den nachkantischen idealistischen Systemen, gewisser Tendenzen der analytischen Philosophie und dem Operationalismus (besteht)." (S. 15f.) Im Gegensatz zu anderen Gesamtdarstellungen, die mehr auf die Beschreibung der vitalistischen Biologie und ihrer systematischen Folgen zielen (die u. a. von Reinhard Mocek 1965 vorgelegte Dissertation wird von Th. Miller als ein „Standardwerk" charakterisiert), ist es das Anliegen des Autors, eine schrittweise Konstruktion der wesentlichen Begriffe bei Driesch nachzuzeichnen. Zunächst stellt Th. Miller die grundlegenden Auffassungen

701 Drieschs zur theoretischen Biologie (Driesch verwendet vorzugsweise den Begriff „Autonomie des Organischen" anstelle von „Vitalismus") und die dazu kritischen Ansätze u. a. von Philipp Frank, dem frühen L. v. Bertalanffy und E. May vor. Über die Vorstellung der Auseinandersetzung von Driesch mit Kant und der Kritik von Fichte an Kant kommt der Autor zur Drieschschen Theorie der Subjektivität, die sich auf die Erkenntnis der „Eingebundenheit allen Wissens in die Erlebniswelt" gründet. In einem weiteren Kapitel bereitet Th. Miller sozusagen das philosophische Feld durch die Darstellung des Konstruktionsbegriffs bei Kant, Fichte, Hoyer, Schelling, Hegel, Carnap, Dingler, um dann Drieschs Auseinandersetzung mit diesen Strömungen und dessen eigener Beurteilung der Systeme wiederzugeben. Darauf aufbauend kann nun die Konstruktionsmethode Drieschs entwickelt werden, wobei der Autor wiederum bemüht ist, alle dieses Problem tangierenden Bereiche zu diskutieren: z. B. die Rekonstruktion der reinen Naturwissenschaft (Syllogistik, Arithmetik, Geometrie), die Entwicklung der Realwissenschaften (Physik, Chemie und Biologie), die Relativitätstheorie und die Psychologie. Die im Titel des Buches angesprochene Beziehung von Konstruktion und Begündung findet nach Auffassung von Th. Miller - und eben auch Driesch - ihre Lösung in folgender Aufgabenstellung: „Die Begründungsfunktion der Konstruktion liegt darin zu zeigen, welche Begriffsbildungen möglich sind aus der Kombination der jeweils zur Verfügung stehenden Mittel." (S. 263) In einem kleinen Abschnitt des Buches möchte Th. Miller die Beziehung zwischen Driesch und Wittgenstein herausarbeiten, die - so gesteht er zu - oberflächlich betrachtet, gewagt zu sein scheint. Diesen Schein kann er aber nicht überwinden, denn viele der dort getroffenen Aussagen beruhen überwiegend auf spekulativen Vermutungen. Dr. phil. Regina Wegner, Berlin

702 GERHARD BOLTE: STAATSIDEE UND NATURGESCHICHTE: ZUR DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG IM HEGELSCHEN STAATSBEGRIFF, Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1991. In den letzten Jahren sind in Deutschland die Diskussionen um die Hegeische Philosophie leiser geworden. Die Auseinandersetzung um Kommunikation, Systemtheorie, modernes und postmodemes Wissen hat die philosophischen Arenen mit Streitbegriffen erfüllt. Auf Nebenplätzen aber wird immer noch um scheinbar abgeschlossene Fragen gerungen, ist die Traditionslinie Marx-AdornoHorkheimer weiterhin Thema philosophischer Anstrengungen. So auch die vorliegende Arbeit von Gerhard Bolte, in der es ihm darum geht, „diese Traditionlinie von einigen ihrer Schlüsselstellen her auszuleuchten ..." (S. 8) Einen solchen Anspruch zu realisieren ist freilich nicht einfach, selbst wenn man sich, wie Bolte dies tut, den Ursprüngen und das heißt in diesem Falle der Philosophie Hegels zuwendet. Mit seinem Anknüpfen an die Kritik moderner Rationalität durch die Frankfurter Schule will der Autor gegen die affirmativen Tendenzen in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion Position beziehen. Eine der Voraussetzungen, die in diesem Zusammenhang gegenwärtig kaum hinterfragt werden, ist ohne Zweifel die moderne kapitalistische Gesellschaft. Deren Erfolg wie auch deren Probleme entspringen einem bestimmten Typus von Rationalität und diese wurde von Hegel als einem der ersten einer kritischen Darstellung und Prüfung unterzogen. Bolte untersucht mit großer Genauigkeit und sehr an den Texten von Hegel orientiert, inwieweit bei ihm schon Illusionen und Irrtümer in bezug auf die Möglichkeiten der Aufklärung angelegt waren. Die Frage, die der Autor dabei zu beantworten sucht, lautet: Warum ist die „List der Vernunft" in eine „Selbstüberlistung" umgeschlagen und welche Folgen hatte dies für die Hegeische Philosophie (und nicht nur für sie)? In den drei Kapiteln des Buches geht es speziell um

Rezensionen Hegels Geschichtsphilosophie, um seine Anthropologie und Staatstheorie. Interessant ist vor allem die Sichtweise auf das Verhältnis von Natur und Gesellschaft sowie die in diesem Zusammenhang entwickelte Hegelkritk im zweiten und dritten Kapitel. Bolte zeigt hier sehr detailliert, wie Hegel, obgleich er Natur als „das-Andere-der-Vernunft" betrachtet, als den Zustand in dem die Vernunft "außer-sich" ist, indirekt und geradezu verschämt diese immer wieder durch die philosophische Hintertür in sein System hineinholt. (Siehe S. 44 f.) Auf solche Weise gelingt es dem Autor, Verbindungen zwischen dem Werk des Philosophen und dem Objekt der Hegeischen Kritik - die bürgerliche Gesellschaft - nachzuweisen, die zeigen, daß seine Philosophie immer noch ein zeitgemäßer Gegenstand der Auseinandersetzung ist. Die Bezüge zur Hegelrezeption des 19. und 20. Jahrhunderts sind im wesentlichen nicht neu, dennoch wichtig, da sie eine bestimmte Entwicklung der Hegelkritik dokumentieren. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Autor sich auch zu den Auseinandersetzungen, die gegenwärtig um das Erbe der Moderne geführt werden, direkt geäußert hatte. Hier scheinen mir einige Probleme, welche die Frage nach den Möglichkeiten von Vernunft betreffen, unterbelichtet. Dennoch ist diese Arbeit ein gelungener Beitrag in der Diskussion um die Hegeische Philosophie, und sie bietet viele Ansatzpunkte für neue Fragestellungen. Jörg Riedel,

Berlin

RAIMON PANIKKAR: RÜCKKEHR ZUM MYTHOS, Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1992,251 S. Heut wird nicht mehr häufig danach gefragt, was der Mensch eigentlich sei. Es wird nicht gefragt, wo er hineingeboren wird und wie er sich in der Gebundenheit durch

702 GERHARD BOLTE: STAATSIDEE UND NATURGESCHICHTE: ZUR DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG IM HEGELSCHEN STAATSBEGRIFF, Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1991. In den letzten Jahren sind in Deutschland die Diskussionen um die Hegeische Philosophie leiser geworden. Die Auseinandersetzung um Kommunikation, Systemtheorie, modernes und postmodemes Wissen hat die philosophischen Arenen mit Streitbegriffen erfüllt. Auf Nebenplätzen aber wird immer noch um scheinbar abgeschlossene Fragen gerungen, ist die Traditionslinie Marx-AdornoHorkheimer weiterhin Thema philosophischer Anstrengungen. So auch die vorliegende Arbeit von Gerhard Bolte, in der es ihm darum geht, „diese Traditionlinie von einigen ihrer Schlüsselstellen her auszuleuchten ..." (S. 8) Einen solchen Anspruch zu realisieren ist freilich nicht einfach, selbst wenn man sich, wie Bolte dies tut, den Ursprüngen und das heißt in diesem Falle der Philosophie Hegels zuwendet. Mit seinem Anknüpfen an die Kritik moderner Rationalität durch die Frankfurter Schule will der Autor gegen die affirmativen Tendenzen in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion Position beziehen. Eine der Voraussetzungen, die in diesem Zusammenhang gegenwärtig kaum hinterfragt werden, ist ohne Zweifel die moderne kapitalistische Gesellschaft. Deren Erfolg wie auch deren Probleme entspringen einem bestimmten Typus von Rationalität und diese wurde von Hegel als einem der ersten einer kritischen Darstellung und Prüfung unterzogen. Bolte untersucht mit großer Genauigkeit und sehr an den Texten von Hegel orientiert, inwieweit bei ihm schon Illusionen und Irrtümer in bezug auf die Möglichkeiten der Aufklärung angelegt waren. Die Frage, die der Autor dabei zu beantworten sucht, lautet: Warum ist die „List der Vernunft" in eine „Selbstüberlistung" umgeschlagen und welche Folgen hatte dies für die Hegeische Philosophie (und nicht nur für sie)? In den drei Kapiteln des Buches geht es speziell um

Rezensionen Hegels Geschichtsphilosophie, um seine Anthropologie und Staatstheorie. Interessant ist vor allem die Sichtweise auf das Verhältnis von Natur und Gesellschaft sowie die in diesem Zusammenhang entwickelte Hegelkritk im zweiten und dritten Kapitel. Bolte zeigt hier sehr detailliert, wie Hegel, obgleich er Natur als „das-Andere-der-Vernunft" betrachtet, als den Zustand in dem die Vernunft "außer-sich" ist, indirekt und geradezu verschämt diese immer wieder durch die philosophische Hintertür in sein System hineinholt. (Siehe S. 44 f.) Auf solche Weise gelingt es dem Autor, Verbindungen zwischen dem Werk des Philosophen und dem Objekt der Hegeischen Kritik - die bürgerliche Gesellschaft - nachzuweisen, die zeigen, daß seine Philosophie immer noch ein zeitgemäßer Gegenstand der Auseinandersetzung ist. Die Bezüge zur Hegelrezeption des 19. und 20. Jahrhunderts sind im wesentlichen nicht neu, dennoch wichtig, da sie eine bestimmte Entwicklung der Hegelkritik dokumentieren. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Autor sich auch zu den Auseinandersetzungen, die gegenwärtig um das Erbe der Moderne geführt werden, direkt geäußert hatte. Hier scheinen mir einige Probleme, welche die Frage nach den Möglichkeiten von Vernunft betreffen, unterbelichtet. Dennoch ist diese Arbeit ein gelungener Beitrag in der Diskussion um die Hegeische Philosophie, und sie bietet viele Ansatzpunkte für neue Fragestellungen. Jörg Riedel,

Berlin

RAIMON PANIKKAR: RÜCKKEHR ZUM MYTHOS, Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1992,251 S. Heut wird nicht mehr häufig danach gefragt, was der Mensch eigentlich sei. Es wird nicht gefragt, wo er hineingeboren wird und wie er sich in der Gebundenheit durch

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 Gesellschaft, Technik und Zivilisation zurechtfindet. Dies scheint ja alles schon festzustehen, Regeln werden angeboten und haben die Tradition auf ihrer Seite. Der Mensch wird in das Regelwerk von Kultur hineingeworden und er lernt es seinerseits leben. Die Beziehungen, die er eingeht, haben schon immer Geschichte auf ihrer Seite. Da, wo wir einige Bedürfnisse erfahren, spüren wir das Vorgegebene, gesellschaftlich Mögliche mitunter als Fessel. Früher konnte man diese menschliche Situation Schicksal nennen. Schicksal ist der Moment im Leben, wo die Freiheit der Wahl genommen ist. Der Augenblick, in den man geworfen ist, der kaum anzunehmen war, erscheint gegen das Wollen und Wünschen des einzelnen. Panikkar schreibt: „Das Schicksal trifft uns wie ein Blitz, es drängt uns in eine Ecke und läßt keine Tür offen, keine Alternative . . ( S . 177) Situationen, in denen dem Menschen die Hoffnung genommen wird, liegen in den Händen der Götter. Oder - was dasselbe ist in den gesellschaftlichen Umständen. Herzlich wenig liegt in den Händen der Menschen: die Wirklichkeit, deren Teil der Mensch ist, erhält sich selbst oder sinkt auch ins Nichts zurück. Dieses Geschehen ist grundlos. Der Mensch aber fragt nach dem Warum. Er denkt darüber nach, was sein soll. Selbstbewußt denkt er nach, was wirklich ist und was machbar wäre. Was steht in seiner Macht zu verändern? Ohne all die Probleme aufzulisten, mit denen wir heute leben und deren globales Ausmaß zum Teil schon emotionslos akzeptiert wird, spricht Panikkar von einem „menschlichen Notstand", der es nicht erlaubt, über Bagatellen zu reden. Ihm geht es um nichts weniger als um eine Gelassenheit und Kontemplation, die es ermöglicht, den Problemen an die Wurzel zu gehen. Um die Haltung zu charakterisieren, um die es geht, spricht er auch von einer „Perspektive", die nur durch Gelassenheit zu erreichen ist. Damit rührt der Autor an den ursprünglichen und eigentlichen Sinn von Weisheit, welche die Verbindung vieler Farben in

703 einem Universum voller Polaritäten umfaßt. Ihr entspricht ein Fragen von der menschlichen Existenz her. Und ihr gemäß ist eine Schau, in der die kosmische, göttliche und mesnschliche Dimension als wirklich erfahren werden. Panikkar spricht von einer radikalen Metanoia. Ihr zugehörig ist die Überwindung einer Schizophrenie, an welche sich der moderne Mensch mittlerweile gewöhnt haben mag. Gemeint ist die das Leben tötende Spaltung von Mythos und Logos, Herz und Geist, Aktion und Kontemplation. Kritisch merkt der Autor an, daß der Mentalität unserer heutigen panökonomischen Zivilisation ein Denken entspricht, welches an den status quo gewöhnt ist. Die Armut an Alternativen geht einher mit starkem Konformitätsdruck. In technologisch hochentwickelten Gesellschaften wird wenig toleriert, daß Werte jenseits von Konsum und Markt lebensbestimmend werden. Dieser zivilisatorische Entwurf ist intolerant gegenüber der Kontemplation, weil sie keinen Profit bringt. (S. 34) Die menschlichen Beziehungen, das gesellschaftliche Leben sind ideologisch bestimmt. Ein jeder ordnet ganz bewußt seine Ideen in ein mehr oder weniger offenes oder eben auch doktrinäres System. Dieses ideologische System, der Rahmen ermöglicht es, sich über die besondere Situation an einem Ort zu bestimmter Zeit klar zu werden und Beziehungen anzuknüpfen. Die Ideologie, die man teilt und lebt, ist um so stärker, je intoleranter sie sich zeigt. Vom Standpunkt einer allumfassenden Erkenntnis des objektiv Gegebenen wird die Welt beurteilt. Das nicht Erklärbare erscheint als Irrtum oder nur noch nicht Gewußtes. Perfekt ist eine Ideologie, wenn sie es nicht mehr nötig hat, Intoleranz offen zu zeigen. Am Beispiel der Ideologie moderner Demokratien zeigt Panikkar, daß die Spanne des Tolerierbaren von der Akzeptanz der demokratischen Grundregeln abhängt. Toleranz wird zur klugen politischen Strategie in den Händen der jeweiligen Mehrheit. Vom Standpunkt der Ideologie erscheint

704 es, als bedeute für die ärmeren Länder der Erde Modernisierung immer auch Verwestlichung. Ist es wirklich notwendig für einen Afrikaner, einen Inder, einen Chinesen, die Verwurzelung in seinen Mythen, seinem Denken und seiner Kultur aufzugeben, um Anschluß an die Kommunikation der „Weltgemeinschaft" zu bekommen? Panikkar bezeichnet es mit Recht als Provinzialismus, daß die Ideologien moderner Industrienationen den eigenen Horizont nicht mehr übersteigen oder in Frage stellen und ihr Denken, ihre Kultur exportieren möchten. Panikkar setzt sich statt dessen für eine Symbiose der Kulturen ein, die den Dialog und so auch die Toleranz der Mythen im Herzen ihrer Tradition ermöglicht. Er greift als Mittler zwischen den Kulturen zur Feder. Panikkar schreibt, um der wesentlichen Welt den Mythos des Prajäpati oder den des Sunahsepa mitzuteilen. Was er dann erzählt, bewegt sich um wesentliche und auch heutige Fragen der menschlichen Existenz. Auf dieser Ebene öffnet der Autor nicht nur Verständnis für die indische Tradition. Es gelingt ihm vielmehr, sie im Feld des abendländischen Mythos zum Sprechen zu bringen. Mythos ist für Panikkar eine Weise der Kommunikation, deren Besonderheit darin besteht, daß sie nicht sichtbar wird und neben dem reflektierenden Denken unmittelbar lebt. „Mythos steht für den unsichtbaren Horizont, auf den wir unsere Begriffe des Wirklichen projizieren." (S.29) Der Mythos als unbewußter, vorausgesetzter Horizont macht den Menschen einzigartig und unverwechselbar. Ohne daß der einzelne ein kritisches Bewußtsein darüber haben könnte, ist sein Mythos dem eignen Denken und der Sprache, den Gesten vorausgesetzt. Mythos als Bewußtseinsform, die man lebt und Toleranz als positives Annehmen und Er-tragen eines ganz anderen (und ebenso eines anderen Ganzen) stehen in direktem Zusammenhang. Für Panikkar bietet der Mythos ein Zwischenreich, in dem Toleranz erst möglich wird. Um einen anderen voll annehmen und, so wie er ist, ertragen zu kön-

Rezensionen nen, muß man bei sich selbst beginnen. Sich so, wie man selbst ist, anzunehmen, gilt dem Autor als wesentliche Voraussetzung. Der Mensch muß sich selbst ertragen können, ohne daß er bereits ist, was er sein möchte oder sein zu müssen glaubt. In der Achtung vor dem noch nicht Erkannten und den Voraussetzungen, um die wir nicht wissen, zeigt sich Toleranz. Damit wird nicht der Indifferenz gegen alles und jenes das Wort geredet. Es geht dem Autor vielmehr darum anzuerkennen, daß menschliche Äußerungen einen Wert haben, der sich nicht völlig objektieren läßt. Die Einsicht in die Relativität der menschlichen Werte gestattet es, mit einer Vielfalt von Wegen zu leben. Der Mensch ist ein Experiment, dem nicht ein einziger Weg vorgeschrieben werden kann. Und damit ist auch gesagt, daß der Mensch im Weltganzen nie eine Endlösung sein wird. Panikkars „Rückkehr zum Mythos" bietet wesentlich mehr Anregungen, als hier angesprochen werden konnten. Es liest sich als ein Buch möglicher Selbst-Erkenntnis. Auch als ein Buch des Dialoges zwischen den Mythen verschiedener Kulturen möchte es zur Kenntnis genommen werden. Der Autor schreibt von einer menschlichen Haltung, die zu Ganzheitlichkeit gelangt und damit dem zerrissenen Geist der Zeit widersteht. Logos und Mythos leben in einem, sind nicht voneinander zu trennen, ohne daß Beziehungen und Verhalten das menschliche Antlitz verlieren. Allein auf sich gestellt wird Vernunft instrumentalisiert im Un-sinn eines ökonomisch vereinseitigten Fortschritts. Der Mensch beurteilt das Gegebene und was er nicht reflexiv ergründen kann, wird er nicht annehmen. Er verliert den Sinn, sich mitzuteilen, ja den Sinn zu teilen überhaupt. Im Mythos zu leben, ermöglicht Gelassenheit zu den Zwängen der Konformität und Toleranz in menschlichen, dialogischen Beziehungen. Der Mythos als Begleiter des Logos vermag von Zwängen und Gebundenheit zu befreien und das Schicksal des einzelnen zu selbstbestimmter Freiheit in diesem Leben zu wenden.

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 Man kann Panikkars Buch auch als eine Studie über ein Existenzial lesen: das tief menschliche Bedürfnis nach Transzendenz. Dr. phil. Ramona Kraetke, Leipzig

GEORG LOHMANN: INDIFFERENZ UND GESELLSCHAFT. Eine kritische Auseinandersetzung mit Marx, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1991,380 S. „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien, oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung und Kritik desselben." (MEW 29, 550) Mit diesen Worten charakterisierte Marx im Februar 1858 in einem Brief an F. Lassalle ein groß angelegtes Theorieprojekt, das im Fragment gebliebenen „Kapital" seine endgültige Gestalt erhalten sollte. Marx intendierte eine umfassende Kritik der politischen Ökonomie, wobei er Grundkategorien vor allem aus den Werken der Nationalökonomen aufgriff und gegen diese selbst wandte. Ihm ging es dabei nicht nur um eine Kritik der theoretischen Ökonomie; das der Textinterpretation geschuldete Verfahren immanenter Kritik hat er vielmehr - darin besteht der methodische Witz seiner Ökonomiekritik auf eben jenen Gesellschaftszustand angewandt, der sich in seiner Selbstdeutung die Grundbegrifflichkeit der politischen Ökonomie zu eigen gemacht hatte: den Kapitalismus. Eine Interpretation des Kapitalbuches auf dem Hintergrund der Idee einer Einheit von Kritik und Darstellung hatte der Berliner Philosoph M. Theunissen bereits Ende der siebziger Jahre im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Hegels „Wissenschaft der Logik" in Aussicht gestellt. Die „Logik", so Theunissen, sei Einheit von Kritik und Darstellung der Metaphysik. Dieses von Hegel praktizierte Verfahren habe sich Marx bei seiner Kritik der bürgerlichen Ökonomie zunutze gemacht. Mit Theunissens Hegel-

705 interpretation rückte eine Neubeantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Hegels „Logik" und dem „Kapital", die seit Lenins Bemerkung, niemand könne das „Kapital" ohne gründliches Studium der „Logik" verstehen, so manchen an der Hegellektüre gescheiterten Kopf dazu geführt hat, in Sachen Hegel dem Geklapper der Gebetsmühlen materialistischer Orthodoxie zu folgen, in greifbare Nähe. G. Lohmann hat die Überlegungen Theunissens in einer detaillierten Interpretation des „Kapital" fortgeschrieben. Lohmanns Werk gehört zwar zu jenen Büchern, die P. Kondylis einmal liebevoll als „Dinosaurier der textscholastischen Gelehrsamkeit" bezeichnet hat, enthält aber in den systematisch argumentierenden Passagen die Skizze zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, die die Defizite der kapitalistischen Vergesellschaftung schärfer und angemessener vor Augen führt als andere derzeit kursierende Theorieangebote. Sie macht zudem mit einem Marx bekannt, dessen Methodenreflexion subtiler ist, als jene vermuten, die seine Kritik des Kapitalismus auf ihr romantisches Erbe reduzieren. Im übrigen ist der Marx Lohmanns ein Marx, der theoretische Geltung unabhängig vom Bestehen einer realsozialistischen Alternative zum Kapitalismus beanspruchen kann. Damit korrigiert er ein seit 1989 durch Feuilletons und philosophische Seminare geisterndes Vorurteil. In zeitdiagnostischer Absicht führt Lohmann die Begriffe der „Indifferenz" und „Gleichgültigkeit" ein. (Kapitel I) Mit ihrer Hilfe möchte er Marxens Entfremdungs- und Verdinglichungstheorie reformulieren. So ist eine menschliche Handlung „gleichgültig", wenn sie als bloße Aktualisierung eines Naturvermögens interpretiert wird. Im Zusammenhang einer textnahen Interpretation der berühmten ersten Abschnitte des „Kapital" über Ware, Wert und Fetischismus in den Kapiteln IV und V seines Buches zeigt Lohmann, daß Marx diese kategoriale Fehldeutung menschlicher Handlungen für kapitalismuskonstitutiv hält. „Gleichgültig" oder „indifferent" kann man die Objektivation

Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 Man kann Panikkars Buch auch als eine Studie über ein Existenzial lesen: das tief menschliche Bedürfnis nach Transzendenz. Dr. phil. Ramona Kraetke, Leipzig

GEORG LOHMANN: INDIFFERENZ UND GESELLSCHAFT. Eine kritische Auseinandersetzung mit Marx, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1991,380 S. „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien, oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung und Kritik desselben." (MEW 29, 550) Mit diesen Worten charakterisierte Marx im Februar 1858 in einem Brief an F. Lassalle ein groß angelegtes Theorieprojekt, das im Fragment gebliebenen „Kapital" seine endgültige Gestalt erhalten sollte. Marx intendierte eine umfassende Kritik der politischen Ökonomie, wobei er Grundkategorien vor allem aus den Werken der Nationalökonomen aufgriff und gegen diese selbst wandte. Ihm ging es dabei nicht nur um eine Kritik der theoretischen Ökonomie; das der Textinterpretation geschuldete Verfahren immanenter Kritik hat er vielmehr - darin besteht der methodische Witz seiner Ökonomiekritik auf eben jenen Gesellschaftszustand angewandt, der sich in seiner Selbstdeutung die Grundbegrifflichkeit der politischen Ökonomie zu eigen gemacht hatte: den Kapitalismus. Eine Interpretation des Kapitalbuches auf dem Hintergrund der Idee einer Einheit von Kritik und Darstellung hatte der Berliner Philosoph M. Theunissen bereits Ende der siebziger Jahre im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Hegels „Wissenschaft der Logik" in Aussicht gestellt. Die „Logik", so Theunissen, sei Einheit von Kritik und Darstellung der Metaphysik. Dieses von Hegel praktizierte Verfahren habe sich Marx bei seiner Kritik der bürgerlichen Ökonomie zunutze gemacht. Mit Theunissens Hegel-

705 interpretation rückte eine Neubeantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Hegels „Logik" und dem „Kapital", die seit Lenins Bemerkung, niemand könne das „Kapital" ohne gründliches Studium der „Logik" verstehen, so manchen an der Hegellektüre gescheiterten Kopf dazu geführt hat, in Sachen Hegel dem Geklapper der Gebetsmühlen materialistischer Orthodoxie zu folgen, in greifbare Nähe. G. Lohmann hat die Überlegungen Theunissens in einer detaillierten Interpretation des „Kapital" fortgeschrieben. Lohmanns Werk gehört zwar zu jenen Büchern, die P. Kondylis einmal liebevoll als „Dinosaurier der textscholastischen Gelehrsamkeit" bezeichnet hat, enthält aber in den systematisch argumentierenden Passagen die Skizze zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, die die Defizite der kapitalistischen Vergesellschaftung schärfer und angemessener vor Augen führt als andere derzeit kursierende Theorieangebote. Sie macht zudem mit einem Marx bekannt, dessen Methodenreflexion subtiler ist, als jene vermuten, die seine Kritik des Kapitalismus auf ihr romantisches Erbe reduzieren. Im übrigen ist der Marx Lohmanns ein Marx, der theoretische Geltung unabhängig vom Bestehen einer realsozialistischen Alternative zum Kapitalismus beanspruchen kann. Damit korrigiert er ein seit 1989 durch Feuilletons und philosophische Seminare geisterndes Vorurteil. In zeitdiagnostischer Absicht führt Lohmann die Begriffe der „Indifferenz" und „Gleichgültigkeit" ein. (Kapitel I) Mit ihrer Hilfe möchte er Marxens Entfremdungs- und Verdinglichungstheorie reformulieren. So ist eine menschliche Handlung „gleichgültig", wenn sie als bloße Aktualisierung eines Naturvermögens interpretiert wird. Im Zusammenhang einer textnahen Interpretation der berühmten ersten Abschnitte des „Kapital" über Ware, Wert und Fetischismus in den Kapiteln IV und V seines Buches zeigt Lohmann, daß Marx diese kategoriale Fehldeutung menschlicher Handlungen für kapitalismuskonstitutiv hält. „Gleichgültig" oder „indifferent" kann man die Objektivation

706 leiblicher Fähigkeiten zu Körpereigenschaften nennen, die der Lohnarbeiter im Kapitalismus durchführen muß. Er betrachtet seinen Leib als zweckrational einsetzbare Naturressource, als Arbeitsmittel, wobei die Dimensionen ästhetischer oder erotischer Leiberfahrung ausgeklammert bzw. allenfalls in Form von wahrnehmungsbedingten oder sexuellen Impulsen konzeptualisiert werden. Solche kapitaltypischen Konstitutionen von Selbstverhältnissen und Probleme der Selbstverdinglichung diskutiert Lohmann in den phänomenologisch reichhaltigen Kapiteln VII und VIII seines Buches. Während eine Theorie der Entfremdung voraussetzen müsse, „was dem Menschen zu eigen ist und was er sich zu eigen machen und aneignen könnte" (17), könne die Reflexion auf Indifferenzrelationen in der Moderne auf anthropologisch gelagerte Prämissen verzichten und zudem der Dialektik gesellschaftlicher Rationalisierung gerecht werden. Viele Phänomene des modernen Kapitalismus seien auf diese Weise einer differenzierten Betrachtung zuzuführen und weder neokonservativ als u m jeden Preis zu sichernde Fortschrittsbestände zu feiern, noch auch altmarxistischen als deformierende Effekte der Gesellschaftsmaschine anzuprangern. Marx selbst, so lautet eine entwicklungsgeschichtliche These von Lohmann, formulierte mit der Verdinglichungskritik im „Kapital" eine die emphatischen Konnotationen der in den Frühschriften entwickelten Theorie der Entfremdung preisgebende Kapitalismuskritik und mache damit bereits den entscheidenden Schritt in Richtung einer Analyse von Indifferenzphänomenen. Lohmann reagiert mit seiner Rekonstruktion der Kapitaltheorie auf den Vorwurf einer konzeptuell bedingten Einseitigkeit der Marxschen Theorie, in der vor allem J. Habermas und seine Schüler deren größtes Defizit erblicken. Anders aber als die Kommunikationstheorie von Habermas, der Lohmann zu Recht vorwirft, daß es in ihr „zu einer Entschärfung des Problems der Ambivalenz von Indifferenzphänomenen kommt und daß damit unterbestimmt wird, was ein-

Rezensionen mal bei Marx mit der Kritik an dem vergleichgültigenden und verdinglichenden Prozessen des Kapitalsystems intendiert w a r " (29), möchte er die kritischen Intentionen der Kapitalanalyse bewahren. Mit den Mitteln einer neben Theunissens Hegelinterpretation, Simmeis Modernitätsdiagnose und der Systemstheorie Luhmanns entfliehenden Begrifflichkeit unternimmt Lohmann den Versuch, den kritischen Anspruch der Gesellschaftstheorie - schwächer zwar als Marx, aber weitaus stärker als Habermas - zu akzentuieren. Von besonderem Gewicht sind seine methodologischen Bemerkungen zum Begriff der Kritik. (Kapitel II) Eine immanent ansetzende Kritik, so Lohmann, „mißt die kapitalistische Gesellschaft an ihrem eigenen normativen Selbstverständnis und urteilt, inwieweit dies eingelöst wird." (56) In diesem Sinne arbeitet Marx die Widersprüche, die sich aus der von der politischen Ökonomie mit Hilfe von der Naturrechtstradition entlehnten moralischen Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Privateigentum ausgeführten Deutung des Kapitalismus ergeben, heraus. Das Geschäft der Kritik besteht darin, die kapitalistische Wirklichkeit mit eben jenen Ansprüchen zu konfrontieren, die mit den genannten Prinzipien verbunden sind. Es bedarf eines externen Maßstabes, der es ermöglicht, die Differenz zwischen Anspruch und Realität aufzuweisen. Lohmann unterscheidet vier Versionen einer „transzendierenden" Kritik des Kapitalismus, welche der immanenten Kritik an die Seite gestellt werden können. Vertreter des Historischen Materialismus seien an der Einordnung des normativen Maßstabs in eine geschichtsphilosophische Rahmentheorie gescheitert, andere, wie die an Heidegger geschulten Praxisphilosophen, an der produktivistischen Deutung des Maßstabs. Marx selbst formuliere den gesuchten Maßstab im „Kapital" direkt mit Hilfe des rousseauistisch eingefärbten Bildes vom „Verein freier Menschen" und übernehme damit ein problematisches Erbe. Lohmann tritt für die vierte Variante einer „historisch situierten, transzendierten Kritik"

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Dtsch. Z. Philos. 40 (1992) 6 ein. Er interpretiert die historiographischen Passagen in d e n ökonomischen Schriften von Marx auf diesem Hintergrund. Sie n e h m e n methodisch einen zentralen Stellenwert ein, insofern Marx mit ihnen d e m Kapitalismus seine eigenen Verhältnisse vorführt. Er zeigt, welche Kosten die Durchkapitalisierung traditionaler Lebensformen u n d -weiten verursacht. Im Anschluß an die Marxsche Argumentationsstrategie schlägt Lohmann vor, Kritik als „argumentativ-erzählende Geschichtsschreibung aus wechselnden Perspektiven" (78) zu konzipieren, die auch die „Perspektive der Selbstinterpretation der Beteiligten" (79) darstellt u n d so der „Entwicklung von Kapitalkonstitutionsprozessen die Geschichte ihrer historisch-sozialen Folg e n " (72) vorrechnet. Neben der aufschlußreichen Explikation der Kapitalkritik als „Reichtumskritik" (Kapitel III), die sich L o h m a n n zufolge v o m

Ideal eines a m Selbstgenuß menschlicher Vermögen orientierten emphatischen Reichtumsbegriff leiten läßt, gibt er eine differenzierte Darstellung der im Rahmen d e r Kapitaltheorie möglichen Rechtsauffassung. (Kapitel VI) Er wirft Marx einen „ökonomischen Rechtsfunktionalismus" vor und meint, ein folgenreiches Selbstmißverständnis diagnostizieren z u können: die Kritik der über das Geld vermittelten Indifferenzen setzte, richtig verstanden, eine moralische Rechtsauffassung als konstitutiv für d e n Austauschprozeß voraus. „Mit Marx gegen Marx denken", diese der Heideggerinterpretation des f r ü h e n Habermas entlehnte u n d von L o h m a n n abgewandelte Formel bildet das G r u n d m o t i v eines Buches, das die linke Theoriediskussion wird beleben können. Christoph Demmerling,

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INFORMATIONEN Im Juni 1991 wurde die Berliner Renaissance-Gesellschaft e. V. gegründet. Indem sie sich vorrangig der Verbreitung von Kenntnissen über die Renaissancekulturen der romanischen Länder widmet, will sie zwischen überlieferter und gegenwärtiger Kultur vermitteln und stellt sich die Aufgabe, den geistigen Umkreis der Pflege klassischen Erbes zu erweitern. An erster Stelle stehen dabei die Geschichte sowie das Fortwirken von Philosophie, Kunst, Literatur, Religion, Recht, Staatswesen, Ökonomie usw. Erklärtes Ziel der Gesellschaft ist es, nicht nur Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen in gemeinsamer Bemühung zu vereinen, sondern auch andere Interessenten anzusprechen. In diesem Sinne stellte sich die Gesellschaft der Öffentlichkeit bereits durch eine Reihe von Vorträgen, Konzerten und Lesungen vor. Die wissenschaftliche Arbeit der Gesellschaft findet vornehmlich in Arbeitskreisen statt, die zu Themen wie Wirkungsgeschichte der Renaissancekultur in Berlin und Brandenburg sowie Frauen in Kunst und Literatur und in der Lebenswelt des Renaissancezeitalters arbeiten. Anläßlich des 500. Todestages des italienischen Dichters, Staatsmannes und Mäzens Lorenzo de' Medici wird die Berliner Renaissance-Gesellschaft in der Zeit vom 20. bis 22. Oktober 1992 eine internationale wissenschaftliche Konferenz durchführen. Sie wird sich insbesondere den literarischen Werken sowie der historischen Bedeutung des Magnifico widmen, soll aber auch Philosophie und Kunst der Zeit in gebührendem Maße berücksichtigen. Ohne die Kunst eines Botticelli und eines Ghirlandaio, ohne die neoplatonische pia philosophia eines Marsilio Ficino und eines Giovanni Pico della Mirandola hätte der Medici nicht zu jener schillernden Persönlichkeit werden können, die uns in seinen literarischen Werken entgegentritt. Neu- bzw. Erstübersetzungen derselben sind uns ein besonderes Anliegen. Die Veröffentlichung der Konferenzmaterialien ist vorgesehen. Seit kurzem gibt die Berliner Renaissance-Gesellschaft eine zweimonatlich erscheinende Zeitschrift mit interdisziplinärem Profil heraus. Die RenaissanceHefte können von Interessenten kostenlos bezogen werden.

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