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German Pages [264] Year 1998
Formen der Erinnerung Band 14
V&R
Formen der Erinnerung Herausgegeben von Günter Oesterle in Verbindung mit Marcel Baumgartner, Helmut Bertling, Herbert Grabes, Angelika Hartmann, Klaus Heller, Helmut Krasser, Gerhard Kurz, Manfred Landfester, Claus Leggewie, Friedrich Lenger, Günther Lottes, Peter Moraw, Gabriel Motzkin, Rolf Reichardt, Jürgen Reulecke, Dietmar Rieger, Werner Rösener, Winfried Speitkamp, Friedrich Vollhardt und Moshe Zimmermann Redaktion: Almuth Hammer
Band 14
Vandenhoeck & Ruprecht
Gedächtnis und Zirkulation Der Diskurs des Kreislaufs im 18. und frühen 19. Jahrhundert
herausgegeben von Harald Schmidt und Marcus Sandl
Vandenhoeck & Ruprecht
Umschlagabbildung: Anatomisches Theater der Universität Padua. © Azienda di Promozione Turistica di Padova, Foto: Flamingo Service.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gedächtnis und Zirkulation: der Diskurs des Kreislaufs im 18. und frühen 19. Jahrhundert / hrsg. von Harald Schmidt und Marcus Sandl. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2 0 0 2 (Formen der Erinnerung; Bd. 14) ISBN 3-525-35573-4
Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 4 3 4 »Erinnerungskulturen« an der Universität Gießen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
© 2 0 0 2 , Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. - Printed in Germany. http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das W e r k einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus der B e m b o von Berthold auf PageOne Satz: Dörlemann Satz, Lemförde. Druck- und Bindearbeiten: Hubert & Co., Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
7
Vorwort HARALD SCHMIDT /
MARCUS
SANDL
Einleitung
9
I. Medizinische und ökonomische Diskurse
von der Spätaufklärung bis ins 19. Jahrhundert ROLAND
BORGARDS
Blutkreislauf und Nervenbahnen. Zum physiologischen Zusammenhang von Zirkulation und Kommunikation im 18. Jahrhundert JÖRN
25
STEIGERWALD
Ideenzirkulation und Zirkulation von Ideen. Zur empirischen Psychologie der Berliner Spätaufklärung (am Beispiel von Marcus Herz) MARCUS
39
SANDL
Zirkulationsbegriff, kameralwissenschaftliche Wissensordnung und das disziplinengeschichtliche Gedächtnis der ökonomischen Wissenschaften
63
II. Poetisches Verfahren, Autorschaft und spätaufklärerische Mediendebatte
HARALD TAUSCH /
GÜNTER
BUTZER
Zirkulationsdiskurse und narratives Verfahren in Laurence Sternes »Tristram Shandy« HARALD
83
SCHMIDT
Das Zirkulieren der Gemeinplätze und das kollektive Gedächtnis. Zitat und Widerruf der emphatischen Offentlichkeitsmetapher »Ideenzirkulation« in Johann Heinrich Mercks kunst- und kulturkritischer Essayistik
103
6 ERIC
Inhalt ACHERMANN
Ideenzirkulation, geistiges Eigentum und Autorschaft HARALD
SCHMIDT
Ein Groschen im Hut des Bettlers. Die »Zirkulation« und Thesaurierung publizistischen Wissens in der spätaufklärerischen Mediendebatte und bei den deutschen Spätphilanthropen MANFRED
127
145
KOCH
Zirkulation und wiederholte Spiegelungen. Kulturelle Gedächtnisbildung durch modernen Ideenumlauf in Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«
167
III. K u l t u r m o d e l l e , K u l t u r v e r g l e i c h u n d K u l t u r p o e t i k SVEN
TRAKULHUN
Die Zirkulation und das Fremde. Zur Topologie von »Umlauf« und »Tausch« in Reiseliteratur und Kulturanthropologie ANDREAS
HOESCHEN
Die »Zirkulation der Ideen« bei Lazarus / Steinthal: Von öffentlicher Kulturproduktion zu sozial-normativer »Wilhelm Meister«-Rezeption STEPHEN
191
207
SHAPIRO
Fictions of Circulation, Memories of Violence: New Historicism and Gramsci's »Prison Notebooks«
235
Autoren
259
Vorwort
Der vorliegende Band versammelt die Beiträge des interdisziplinären Kolloquiums »Gedächtnis und Zirkulation. Interdiskursive Prozessfiguren und Kulturmodelle im 18. und frühen 19. Jahrhundert«, das der Gießener Sonderforschungsbereich »Erinnerungskulturen« am 10. und 11. November 2000 veranstaltet hat. Der Plan, eine Tagung mit diesem thematischen Schwerpunkt durchzuführen, liegt bereits einige Zeit zurück. Er entstand im Kontext der Gießener SFB-Arbeitsgruppe »Wissensordnungen«, in der seit 1997 fachübergreifend über den Zusammenhang von Vergangenheitsbezügen mit grundlegend-epochalen Ensembles von Deutungsmustern, Sinngebungsmodellen und Selbstverständigungsformen diskutiert wurde. Einen Kernpunkt bildete dabei die Frage nach dem Wechselverhältnis von Gedächtniskonzepten und Prozessen bzw. Modellen der Wissensdiffusion. Das Kolloquium sollte dazu beitragen, diese Frage zu systematisieren und in den Kontext der aktuellen Forschungslandschaft einzuordnen. Wir bedanken uns bei allen Vortragenden, die mit ihrer Zusage und ihrem Engagement zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen haben. Unsere besondere Verpflichtung gilt dem Sprecher des Gießener Sonderforschungsbereichs, Prof. Dr. Günter Oesterle, der die Tagung nachdrücklich initiiert und mitbetreut hat. Herzlich gedankt sei schließlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige finanzielle Förderung des Bandes. Gießen und Konstanz, im Februar 2002 Harald Schmidt und Marcus Sandl
Harald Schmidt/Marcus
Sandl
Einleitung
Der Titel des vorliegenden Bandes signalisiert die Zugehörigkeit zu einer kulturwissenschaftlichen wie wissenschaftsgeschichtlichen Konjunktur. Dass die Prozessfigur »Zirkulation« eine fundamentale analytische Kategorie frühneuzeitlicher Wissenschaft liefert, hat Michel Foucaults »Archäologie« der klassischen Reichtumsanalyse im 17. und 18. Jahrhundert nachgewiesen; im Fokus stand dabei die interdiskursive Relation von Medizin und Ökonomie: 1 Die Definition von Geld und Reichtum »innerhalb des Raumes von Warentausch und Zirkulation« führt - eingeleitet durch Thomas Hobbes' »Leviathan« (1651) - im Merkantilismus zur Modelladaption des von William Harvey konzipierten Blutkreislaufs. 2 Im Anschluss an Foucaults diskursanalytische Rekonstruktion der klassischen Episteme hat man die »Zirkulation« als zentrales Element einer komplexen interdiskursive Konstellation im 18. Jahrhundert ausgemacht, die Ökonomie, Physiologie und Naturgeschichte überspanne und bis in ästhetische Konzepte und kommunikative Prozessmodelle hineinreiche. 3 Die von Joseph Vogl vorgetragene These einer »makroökonomischen« Strukturierung geht insofern beträchtlich über Foucaults »Archäologie« hinaus, als sie nicht nur den Raum interdiskursiver Konstellationen erheblich ausweitet, sondern auch andere Diskurstypen außerhalb akademisch institutionalisierter und sanktionierter Disziplinen einbezieht. Der kulturwissenschaftliche Expansionsdrang der Philologien macht sich hier unverkennbar geltend. Von Vogls »Makroökonomie« und ihrer Ausweitung der interdiskursiven Konstellationen zeigt sich u.a. die germanistische Habilitationsschrift Albrecht Koschorkes über die »Mediolo-
1 Michel Foucault, D i e Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/ M. 12 1994, S. 21 Iff., insbes. S. 2 2 6 f . 2 Ebd., S. 2 2 6 . 3 Joseph Vogl, H o m o g e n e s e . Zur Naturgeschichte des M e n s c h e n bei Buffon, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), D e r ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 8 0 - 9 5 ; ders., Ö k o n o m i e und Zirkulation u m 1800, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 43,1 (1997), S. 6 9 - 7 9 ; ders.: Für eine Poetologie des Wissens, in: Karl Richter u.a. (Hg.), D i e Literatur und die Wissenschaften 1 7 7 0 - 1 9 3 0 , Stuttgart 1997, S. 1 0 7 - 1 2 5 ; ders., Romantische Ö k o n o mie. Regierung und Regulation u m 1800, in: Etienne François u.a. (Hg.), Marianne - Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer i m europäischen Kontext - Les transferts culturels France-Allemagne et leur context européen 1789-1914, Bd.2, Leipzig 1998, S. 4 7 1 - 4 8 9 .
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H a r a l d S c h m i d t / M a r c u s Sandl
gie« des 18. Jahrhunderts inspiriert, die entsprechend der »Zirkulation« einen prominenten Ort einräumt.4 Auf der anderen Seite hat die »Zirkulation« mit dem New Historicism und seinem Projekt einer »Cultural Poetics« Karriere gemacht - nicht als Untersuchungsobjekt abgegrenzter historischer Semantiken, sondern als makroexplikativer Tropus im terminologischen Zentrum des kulturwissenschaftlichen Ansatzes selbst.5 Auf neuartige Weise schien Stephen Greenblatts Formel von der »Zirkulation sozialer Energie« geeignet, Relationen und Prozesse in komplexen kulturellen Systemen zu erfassen, Geschichte und Literatur, Text und Kontext im Konzept reziproken Austausche und Verhandeins (»exchange« und »negotiation«) miteinander zu vermitteln. Chancen und Risiken dieses kulturpoetischen Zugriffs und seines Zirkulationskonzepts hat die mittlerweile umfangreiche Debatte über den New Historicism6 ebenso aufgezeigt wie die - umfassendere - über die kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Geisteswissenschaften.7 Die gegenwärtige Forschungslage zeigt sich von dem irritierenden Aufeinandertreffen der beiden Objektsprachen geprägt: Ein kulturpoetischer Begriffsapparat unternimmt es, mit der makroexplikativen Kategorie der »Zirkulation« eine historische Semantik der Aufklärung zu erläutern, die ihrerseits Annahmen über kulturell-kommunikative Zusammenhänge mit Zirkulationstopiken abdeckt.8 »Blockierungen« von Übertragungen, weiß Greenblatt, seien für
4 Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, M ü n c h e n 1999, hier insbes. S. 15-86. 5 Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford 1987; ders., Towards a Poetics of Culture, in: H. Aram Veeser (Hg.), T h e N e w Historicism, N e w York 1989, S. 1-14. Greenblatt selbst sieht seinen Zirkulationsbegriff durch Jacques Derrida angeregt (ebd., S. 8). Vgl. z u m kulturpoetischen Zirkulationsbegriff Anette Simonis, Art. »Zirkulation«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe, Stuttgart 1998, S. 579 f. 6 Vgl. Laurenz Volkmann, Art. » N e w Historicism«, in: Nünning, Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorien, S. 401-403; Moritz Baßler (Hg.), N e w Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, F r a n k f u r t / M. 1995. 7 Vgl. Hartmut Böhme / Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaft. Positionen, Theorien, Modelle, H a m b u r g 1996, S. 161-186; Dirk Hartmann / PeterJanich (Hg.), Die kulturalistische Wende. Z u r Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses, Frankf u r t / M. 1998; Walter Haug, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?, in: Deutsche Vierteljahrsschrift f ü r Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), S. 6 8 - 9 3 ; Gerhart von Graevenitz, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift f ü r Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), S. 95-115; Otto Gerhard Oexle, Kultur, Kulturwissenschaft, Historische Kulturwissenschaft. Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Wende, in: Das Mittelalter 5 (2000), S. 13-33; Hartmut Böhme u. a., Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, H a m b u r g 2000, S. 34-103; Dirk Baecker, W o z u Kultur?, Berlin 2 2001. 8 Vgl. etwa die Habilitationsschrift von Dorothee Baxmann, Wissen, Kunst und Gesellschaft in der Theorie Condorcets, Stuttgart 1999. Z u den methodischen - nämlich metapherntheoretischen - Problemen der Arbeit Baxmanns siehe Gustav Falkes prinzipielle Kritik in der FAZ, 30. Nov. 1999, Nr. 279: »Was, m o n Dieu, zirkuliert denn hier? Dorothee
Einleitung
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den stabilen Bestand einer Kultur unabdingbar. 9 Eine »unendliche, unbeschränkte, undifferenzierte Zirkulation« führt allerdings nicht nur zum »vollständigen Zusammenbruch der kulturellen Identität«, sondern auch zum semantischen Kollaps wissenschaftsfähiger Sprache. U m nicht missverstanden zu werden: Die kulturwissenschaftliche Innovationskraft schreibt sich nicht zuletzt von jener offenen, nichtidentischen Sprache des Essays her, die Greenblatts New Historicism charakterisiert. 10 Eine »vom Spiel verlassene Wahrheit« wäre auch in der Literaturwissenschaft »nur noch Tautologie«.11 Umgekehrt tritt der Tod des Essays dort ein, wo seine mobile Sprachlichkeit die tentativen Figurationen zum Fetisch festfriert. Die hier versammelten Beiträge von Historikern und Literaturwissenschaftlern knüpfen an diesen nur umrisshaft skizzierten Forschungsstand mit einer doppelten Neuperspektivierung an. Sie suchen einerseits schärfer, als dies mit der Fokussierang auf interdiskursive Konstellationen der klassischen Episteme geschehen ist, den terminologischen Status der »Zirkulation« in umgrenzten Feldern der historischen Semantik herauszupräparieren. Ihre Situierung in jener von der Diskursanalyse wie von der Systemtheorie beschriebenen Umbruchsphase zwischen Spätaufklärung und beginnendem 19. Jahrhundert verpflichtet sie zugleich, den disziplinären Status der »Zirkulation« in der Dynamik sich vollziehender Paradigmenwechsel zu bedenken. Dem Zusammenhang von Gedächtniskonzeptionen und Zirkulationsmodellen in der »Sattelzeit« gilt zum anderen die besondere Aufmerksamkeit des Tagungsbands. Die Auflösung der ternären Konstellation von »Wissen, Ordnung und Gedächtnis« und der »Strukturwandel des kulturellen Gedächtnisses« (A. Assmann 12 ) läuft einer Neudefinition des Wissens in der Aufklärung parallel, die statt seiner zeitenthobenen Stabilität und elitären Beschränkung durch ständisch-korporative Privilegierung seine diskursive Beweglichkeit in öffentlichen, ständeübergreifenden Kommunikationszusammenhängen thematisiert. Im ökonomischen Bildfeld der Epoche ausgedrückt: In spannungsreiche Opposition zu den überkommenen RegistrierBaxmann rechnet mit Condorcet gegen Foucault.« Auf die Notwendigkeit, bei der Untersuchung solcher ökonomieanaloger Modelle metapherntheoretische Reflexionen einzubeziehen, verweist nachdrücklich die Rezension von Daniel Fulda zu Enrik Lauer, Literarischer Monetarismus. Studien zur Homologie von Sinn und Geld bei Goethe, Goux, Sohn-Rethel, Simmel und Luhmann, St. Ingbert 1994, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22,1 (1997), S. 198-201. 9 Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994, S. 185. Das folgende Zitat ebd. 10 Vgl. dazu von Graevenitz, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft, S. 114. 11 Theodor W. Adorno, Der Essay als Form. Noten zur Literatur I, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd.ll, Frankfurt/ M. 1974, S. 29. 12 Aleida Assmann, Die Wunde der Zeit. Wordsworth und die romantische Erinnerung, in: Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, S. 359-382, hier S. 364 f.
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Harald Schmidt/Marcus Sandl
und Thesaurier-Verfahren der Memoria tritt die »Zirkulation« des Wissens. In der spätaufklärerischen Mediendebatte hat die emphatische Metapher der »Ideenzirkulation« sich allerdings dem kritischen Befund einer Gefährdung des kulturellen Gedächtnisses zu stellen. Unter den Bedingungen des expandierten Buch- und Zeitschriftenmarktes und einer neuen, extensiven Lektüre konstatiert die res publica litteraria kontraproduktive Effekte gesteigerter »Zirkulation«: vernunftentkoppelte Lektüre und Vergessen. Der kritische Blick vieler Spätaufklärer erfasst das Ende der Allianz zwischen linearem und kumulativem Wissensfortschritt und der gesteigerten und beschleunigten »Ideenzirkulation«. Alternative Prozessmodelle wie die der »Mode« und ihre Rhythmik von Konjunktur und Vergessen treten an die Stelle dieser Allianz. Dennoch ist die Problemlage und die Verflechtung der auf sie antwortenden Diskurse komplex; beide bewegen sich jenseits eindeutiger Oppositionsbildungen. So trifft sich bei Joachim Heinrich Campe die emphatische Verwendung der Zirkulationsmetapher mit einem diätetischen Diskurs der Verknappung und Steuerung von Lektüre. Der Wille, Wissen zu kontrollieren, bemüht hier wieder die überkommene Thesaurierungstopik. Andererseits halten frühliberalistisch inspirierte Kulturmodelle genau an dieser Allianz von Fortschritt und intensivierter »Ideenzirkulation« fest (Georg Forster, August von Hennings), und sie entwickeln aus der modeähnlichen »Zirkulation« von Begrifflichkeiten das Gespür für neue ästhetische Valenzen (Georg Forster). Romantische Kulturtheorien knüpfen an diesen ambivalenten Problemstand an; die intensivierte »Zirkulation« von Terminologien und poetischen Mustern wird zum Anlass kritischer Gegenentwürfe ebenso (Friedrich Schlegel) wie sie kulturrevolutionäre Modelle stimuliert, die genau aus diesem Status intensivierter »Zirkulation« den qualitativen Umschlag und neue literarische Potenzen (Novalis, Adam Müller) ableiten. Das Spektrum dieser Überlegungen wird von nationalromantischen Konzepten komplettiert, die in das Gegen- und Wechselspiel von Erinnerung und »Zirkulation« das archaisch Vorreflexive traditionaler Brauchtumsformen im kollektiven Gedächtnis einbeziehen. An Achim von Arnims kulturpolitische Reflexionen ist dabei ebenso zu denken wie an Ernst Moritz Arndts Modelle zirkulierenden Nationalgeists im Kontext der antinapoleonischen Publizistik.
1. Medizinische und ö k o n o m i s c h e Diskurse von der S p ä t a u f k l ä r u n g bis ins 19. J a h r h u n d e r t Die erste Sektion des Tagungsbandes gilt dem Modell der Zirkulation in den akademisch institutionalisierten Disziplinen Medizin und Ökonomie. Zwei medizingeschichtliche Beiträge reflektieren aus unterschiedlichem Blickwinkel die spezifischen Bedingungen, die den physiologischen Zirkulationsbegriff im Kontext der spätaufklärerischen Medizin definieren. Zu
Einleitung
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nennen ist zum einen die Konjunktur jenes neuen, von »philosophischen Ärzten« repräsentierten Diskurstyps, der unter dem Begriff der »Anthropologie« die zwei Naturen des Menschen, Seele und Körper, anatomisch-physiologische und psychologisch-moralische Betrachtungen integriert und sich der Popularphilosophie wie dem Ästhetisch-Literarischen öffnet. Die »literarische Anthropologie« bei Wieland, Karl Philipp Moritz, Johann Carl Wezel und nicht zuletzt Jean Paul entwächst unmittelbar diesem diskursivem Kontext. Das zweite Phänomen, das das medizingeschichtliche Feld in der Spätaufklärung bestimmt, könnte man mit Albrecht Koschorke die diskursive Neuperspektivierung des Menschen im Zuge des Paradigmenwechsels vom humoralen Gefäßleib zum nervösen Organismus nennen. Die alte Säftelehre, die Humoralpathologie, wird in der Spätaufklärung von der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf die Einbildungskraft und auf die Nerven abgelöst. Sie wird von einer deutlichen Tendenz zur »Entsomatisierung bzw. Psychologisierung« (Koschorke) des Seelenlebens begleitet. Das gilt sowohl für die »philosophischen Ärzte« wie für das breitere disziplinare Feld, das der Beitrag von Roland Borgards berücksichtigt. Seine Überlegungen widmen sich dem diskursiven Wechselverhältnis zwischen physiologischen Zirkulationsmodellen und Kommunikationsvorstellungen in medizinischen Traktaten zwischen Spätaufklärung und frühem 19. Jahrhundert. Diese Korrelation, so weist Borgards nach, wird maßgeblich von der sich wandelnden Zuordnung des Blutkreislaufs zum Nervensystem bestimmt. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts würden beide Systeme eine Einheit bilden; vermöge des fluidalen Verständnisses neuronaler Prozesse »Nervensaft« bewegt sich in einem Röhrensystem - seien beide gemeinsam einem Prozessmodell »Zirkulation« unterzuordnen gewesen. An Krügers »Naturlehre« von 1750 zeigt Borgards, wie auf dieser Grundlage der Affektausdruck Resultat der kausal miteinander verknüpften Zirkulationsbewegung von Blut und Nervensaft sein kann. Die Beschleunigung des Kreislaufgeschehens in beiden Systemen erscheine als Ursache rhetorischer und theatraler Höchstleistungen oder aber des Wahns. Neue anatomische Entdeckungen hätten um 1800 dann zur Entkoppelung von Blutkreislauf und Nervensystem geführt, das sich nicht mehr länger als zirkulierendes Fluidum habe begreifen lassen. Das dem Nervensystem zugerechnete kommunikative Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt werde jetzt linear im Sinne einer Wechselwirkung gedacht, wie Roland Borgards insbesondere an den Arbeiten Xavier Bichats und Carl August Weinholds demonstrieren kann. Nurmehr auf einer höheren Ebene ließen sich Blutkreislauf und Nervensystem verbinden: als autonome Systeme, die sich wechselseitig als Umwelt wahrnähmen und sich intern verarbeiteten. Jörn Steigerwalds Beitrag zur empirischen Psychologie der Berliner Spätaufklärung nimmt mit Marcus Herz einen »philosophischen Arzt« in den Blick, der den alten Parallelismus von Blutkreislauf und Nervensystem im Kontext des neuen neurophysiologischen Paradigmas entwertet. Steigerwald demons-
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Harald Schmidt/Marcus Sandl
triert dies einlässlich an der Auseinandersetzung von Marcus Herz mit Ernst Platners Definition der »Gedächtnisideen« und an Herz' »Versuch über den Schwindel«. Zeigen lässt sich, dass Herz mit seinem »philosophischen« Basistheorem einer »Verknüpfung« zwischen psychischer und physischer Existenz geradezu notwendig auf die Zirkulation des »Nervensafts« und seine Interdependenz mit dem Blutkreislauf rekurrieren muss, dass seine theoretische Verlagerung der menschlichen Vorstellungstätigkeit auf die Seele diesen bei Platner eindeutig materiell gedachten Wechselbezug aber geradezu verflüchtigt. Unter der Voraussetzung dieser Spiritualisierung bleiben die Funktionsweisen von »Nervensaft« und »Lebensgeistern« dunkel und sind nur noch »unanalogisch« im Verhältnis zu den übrigen Körpersäften denkbar. Psychische Vorstellung und materielle Bewegung sind dissoziiert. Das ökonomische Virulentwerden der »Zirkulation« lässt sich relativ genau bestimmen. Physiologie und Politische Ökonomie vermittelte das alteuropäische Denken im Begriff der oeconomia ebenso wie im Bildfeld der überkommenen Staatskörpertopik. Diesen eingespielten Wechselbezug restrukturiert Thomas Hobbes 1651, als er in seinem »Leviathan« Harveys großen Blutkreislauf auf das Modell des frühneuzeitlichen zentralisierten Steuerstaats überträgt. Hobbes' Rekurs auf die Blutzirkulation ist Ausdruck jener fundamentalen epistemischen Neuordnung der Reichtumsanalyse (Foucault) und Teil jener Entwicklung, die staatliche Macht und Fürsorge zunehmend ökonomisch definiert. Von Hobbes an bleibt die hydrodynamisch gedachte »Zirkulation« einerseits bestimmend für die Staatskörpertopik, in der sie mit einer Reihe mechanistischer Bilder koalliert und so die Dominanz des cartesianischen Paradigmas dokumentiert. Andererseits wird der physiologische Begriff der »Zirkulation« im Rahmen der politischen Ökonomie, des Merkantilismus, terminologisiert. Etwa gleichzeitig mit der Lexikalisierang von »Zirkulation« für die Verbreitung von Schriften und Gerüchten setzen sich um 1700 »to circulate« und »circulation« in England als ökonomische Termini durch, die auch ohne Bezug auf den Blutkreislauf in den Texten erscheinen. 13 Für die beiden in der Hoch- und Spätaufklärung vorherrschenden ökonomischen Diskurse - die Physiokratie und den Spätkameralismus - sind Terminus und Modell einer »Zirkulation« gleichermaßen zentral. François Quesnay, die Leitfigur der älteren französischen Physiokratie, konzipiert volkswirtschaftliches Geschehen als reproduktiven Zyklus auf der Grundlage eines sich selbst, ohne staatliche Eingriffe regulierenden Marktes, für den die »libre circulation des biens« unabdingbare Voraussetzung ist. Die ökonomiehistorische Forschung hat sich auf der Suche nach der eigenen disziplinaren Vorgeschichte immer wieder mit der französischen Physiokratie 13 Harry Schmidtgall, Zur Rezeption von Harveys Blutkreislaufmodell in der englischen Wirtschaftstheorie des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum Einfluß der Naturwissenschaften auf die Ökonomie, in: Sudhoffs Archiv 57 (1973), S. 416-430, hier S. 428.
Einleitung
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und ihrem Kreislaufmodell auseinandergesetzt und von der Modellpatenschaft Harveys eine Linie bis zu modernen ökonomischen Systementwürfen gezogen. Noch die Arbeiten Vogls und Koschorkes zeigen sich von dieser Konstruktion maßgeblich geprägt. Was eine genaue Untersuchung der historischen Semantik zu leisten vermag, zeigen indes die bislang in den Literaturwissenschaften nicht zur Kenntnis genommenen Analysen des Ökonomiehistorikers Heinz Rieter. Sie demonstrieren mit akribischer Recherche, dass es sich bei der Modellpatenschaft Harveys um einen besonders hartnäckigen Irrläufer der Wissenschaftsgeschichtsschreibung handelt, der letztlich auf die organizistische Nationalökonomie des ausgehenden W.Jahrhunderts zurückgeht. Eine genaue Sichtung der physiokratischen Traktate kann den impetusmechanischen Cartesianismus und sein Leitmodell, die Uhr, als maßgebliches Hintergrundmodell ausmachen, nicht aber Harveys Blutkreislauf. 14 Der Beitrag von Marcus Sandl gilt ebenfalls einem bislang in der Forschung zu Unrecht vernachlässigten Diskurstyp und seinem Zirkulationsbegriff, der spätaufklärerischen Kameralwissenschaft. Sandls die immanenten Gesetzmäßigkeiten dieses Wissens in den Blick rückende Rekonstruktion will den systematischen und gegenstandskonstitutiven Stellenwert der »Zirkulation« für den raumwirtschaftlichen, naturgeschichtlichen Konzeptualisierungsmustern verpflichteten Entwurf der Spätkameralistik aufzeigen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die wirtschaftswissenschaftliche Dogmengeschichte, die eine enge Verbindung von Verwissenschaftlichungsprozessen und der Verwendung des Zirkulationsbegriffs konstatiert. Historisch betrachtet, so Sandl, beginnt die Verwissenschaftlichungsdebatte schon um 1800 im Kontext der deutschsprachigen Smithrezeption. Hier werde ein wirtschaftswissenschaftliches Gedächtnis begründet, das bis in unsere Gegenwart hinein die Kameralwissenschaften in den Bereich des vorwissenschaftlichen Denkens verweise. In der Tat gewinne der kameralistische Zirkulationsbegriff, so Sandl, im Kontext eines wenngleich nicht mehr »hausväterlichen«, so doch »vormodernen« Wissens des Ökonomischen seine konzeptuelle Reichweite. Orientiert an der räumlichen Ordnung von Land, Stadt und Territorium, hätten die Kameralisten einen Diskurs entfaltet, der Reichtumsbildung und Zirkulation eng aneinander band, ohne schon auf Aspekte der Produktion oder Arbeitsleistung abzuheben. Die Zirkulation von Geld und Gütern aktualisiere ein raumwirtschaftliches Tableau der Bedürfnisbefriedigung, indem sie unterschiedliche, entgegengesetzten Produktionslogiken verplichtete Wirtschaftspotenzen integriere. Wirt-
14 Heinz Rieter, Zur Rezeption der physiokratischen Kreislaufanalogie in der Wirtschaftswissenschaft, in: Harald Scherf (Hg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie III, Berlin 1983, S. 5 5 - 9 9 ; ders., Quesnays »Tableau Economique« als Uhren-Analogie, in: Harald Scherf (Hg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie IX, Berlin 1990, S. 5 7 - 9 4 .
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schaftspolitisch betrachtet ziele die Forderung nach einer ungehinderten Zirkulation auf die politisch-ökonomische Einheit des fürstlichen Territoriums, theoretisch ließe es der Rekurs auf das Zirkulationsmodell zu, Systematisierungsleistungen zu erbringen, ohne auf ein allgemeines Prinzip oder eine ökonomische Metaebene rekurrieren zu müssen. Gerade dies hätten, wie Sandl meint, jedoch auch die Smithrezipienten nicht geleistet. So erweise sich die Begründung des wirtschaftswissenschaftlichen Gedächtnisses als ein von inhaltlichen Fragen selbst losgelöster, autoreflexiver Prozess.
2. Poetisches Verfahren, A u t o r s c h a f t und spätaufklärerische M e d i e n d e b a t t e Eine mittlerweile breite literaturwissenschaftliche Forschung hat die vielfältigen stimulierenden Impulse untersucht, die das Medium »Geld« seit der frühen Neuzeit auf die Selbstbestimmung der Poesie und ihre philosophische Auslegekunst, die Hermeneutik, auszuüben vermochte. Die Entwicklung eines gesteigerten Bewusstseins literarischer Fiktionalität in der Auseinandersetzung mit dem fiktiven Medium (Papier-) Geld mag als Hinweis genügen. 15 Die zweite Sektion situiert sich in diesem breiten Forschungsfeld, setzt aber mit der Fokussierung auf den Zirkulationsaspekt des Mediums »Geld«, mit dem Blick auf die Spannung zwischen ökonomischem Diskurs und poetischer Performanz und mit der Berücksichtigung der Gedächtnisimplikationen des Themas neue Akzente. Auf die Fährte einer Poetologie des narrativen Umgangs mit zeitgenössischen Wissensformationen begeben sich Harald Tausch und Günter Butzer in ihrer Untersuchung des von Laurence Sterne zwischen 1759 und 1767 verfassten Romans »Tristram Shandy«. Zirkulationsvorstellungen würden im »Tristram Shandy«, so die Autoren, »auf verschiedenen Ebenen [...] und in bezug auf unterschiedliche Diskurse präsentiert«. Auch hier stünden zunächst ökonomische Referenzen im Mittelpunkt, ohne jedoch eine dominante Erzählstrategie zu begründen. Im Gegenteil, Sterne mache den Zirkulationsbegriff zu einem operativen Faktor eines narrativen Diskurses, der konsequent disziplinäre Einheiten durchbreche, konterkariere und in neue Bezüge auflöse. Dies geschehe unter Rekurs auf assoziationspsychologische, mediale und narrative Dimensionen der »Zirkulation«. Konsequent führe Sterne dabei das in der Ökonomie entworfene geschlossene System aufeinander bezogener Reihen mit der offenen Dialektik von stockender Zirku-
15 Stellvertretend für die breite Forschung seien genannt: Christiaan L. Hart-Nibbrig, Tausch und Täuschung: Geld, literarisch, in: Ders., Ubergänge. Versuch in sechs Anläufen, F r a n k f u r t / M . 1995, S. 87-124; Lauer, Literarischer Monetarismus; Caroline Pross, Falschnamenmünzer. Zur Figuration von Autorschaft und Textualität im Bildfeld der Ö k o n o m i e bei Jean Paul, F r a n k f u r t / M. 1997, sowie Vogl, Ö k o n o m i e und Zirkulation.
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lation und dynamischer Verausgabung von Zeichen gegeneinander. Die beiden Autoren können zeigen, dass Sterne ein Spiel von Zirkulationsdiskursen und narrativen Verfahren initiiert, mit dessen Hilfe er die klassische Episteme nicht nur offen zu legen in der Lage ist, sondern als historisches Apriori auch außer Kraft setzen kann. Der Beitrag von Eric Achermann rekonstruiert das moderne Konzept geistigen Eigentums vor dem Hintergrund eines entwickelten naturrechtlichen und politisch-ökonomischen Begründungshorizonts. Als maßgebliche argumentative Folie bestimmt Achermann dabei die autoregulative Gesellschaftskonzeption des Liberalismus, mit der die bis ins 18. Jahrhundert vorherrschende Praxis der Verlagsprivilegien konzeptuell abzulösen gewesen sei. Das moderne Konzept geistigen Eigentums sei der für den Liberalismus maßgeblichen Integration von Privatinteresse und Gemeinwohl wie der Korrelation von freier Zirkulation und Fortschritt unmittelbar einzustellen. Der Eigentumstheorie John Lockes und der in ihrem Rahmen vorgenommenen Favorisierung des Autors misst Achermann in diesem Zusammenhang eine grundlegende Bedeutung bei; der Autor bleibe nach Locke auch im fortgeschrittenen Vergesellschaftungszustand und seinen geldwirtschaftlichen Besitzgrundlagen ideeller Eigentümer. Die zwischen 1780 und 1820 für ein neues Autorenrecht plädierenden Schriften zeigten unter diesen argumentativen Voraussetzungen den Willen, die verlegerische Praxis einem neuen Verständnis von Horten und Tauschen zu unterstellen. Zugleich werde das Reich der Ideen von der Inanspruchnahme der Ökonomie befreit und einer höheren moralischen Ordnung überantwortet. In der Dialektik von frei aus seiner Einbildungskraft schöpfendem Genie und die Interessen des Besitzes vertretenden Publikum lebe schließlich die goethezeitliche Ästhetik; der ideale Künstler partizipiere an beiden Ordnungen. Harald Schmidt widmet sich in zwei Beiträgen den medienspezifischen Dimensionen, die die Rede von der publizistischen »Ideenzirkulation« im Kontext der spätaufklärerischen Mediendebatte entfaltet. Dabei werden besonders die zeitgenössischen Reflexionen über den Zusammenhang von extensiver Wissensdiffusion und kollektivem Gedächtnis berücksichtigt. Schmidts erster Beitrag untersucht die vielfältigen semantischen Dimensionen der »Ideenzirkulation« in den kulturkritischen Essays des Darmstädter Publizisten, Kunstliebhabers und Goethefreunds Johann Heinrich Merck. Schmidt interpretiert die Metapher im Schnittpunkt populärer und disziplinarer Diskurse, legt aber gerade die semantischen Potenziale frei, die sich in der Berücksichtigung textsortenspezifischer und konkreter pragmatischer Bedingungen ergeben. Mercks Rede von der »Ideenzirkulation« zeigt vielfältige, von einem aktiven Leser aus der eigenartigen Performanz und intrikaten Faktur der Essays zu erschließende Aspekte. Eine argumentative Grundfigur in diesem Spektrum an Bedeutungen bildet dabei der Widerspruch gegen die mit der Metapher verbundene Emphase der allgemeinen Zugänglichkeit von Kunstwissen. Wiederholt thematisiere die Kulturkritik
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Mercks die problematischen Folgen, die die prekäre Koalition von schichtenübergreifender »Ideenzirkulation«, Entleerung von Bedeutung und langdauernder Resistenz solch lexikographisch und journalistisch verbreiteten Wissens für das kollektive Gedächtnis zeitige. Hier gewinne Merck eine durchaus eigene Position in der spätaufklärerischen Debatte über die »Lesesucht«. Semantische Polyperspektivität, aber auch Diffusität und Kontingenz ließen die Merckschen Essays als Form widerständigen, einem genialen Habitus nahestehenden Schreibens gegen das kursierende Schlagwortwissen begreifen. Die Spaltung der literarischen Öffentlichkeit in den vom Publikumsgeschmack bestimmten Markt und in eine autonome, sakralisierte Kunst zeichnet sich hier klar ab und erlaubt direkte Verbindungslinien zu klassizistischen und romantischen Positionen. Harald Schmidts zweiter Beitrag gilt zwei publizistikapologetischen Texten der deutschen Reformpädagogik, der Spätphilanthropie, in denen die mit ein e m monetarischen Hintergrundmodell operierende Metapher der »Ideenzirkulation« gleichermaßen zentral ist. An den Texten von Joachim Heinrich Campe einerseits und von Beutler und Guths-Muths andererseits kann Schmidt indes zeigen, wie die darin kommunizierte Emphase einer schichtenübergreifenden Präsenz gebildeten Wissens mit Praktiken koalliert, das publizistisch kommunizierte Wissen in überschaubare O r d n u n g e n zu überführen. Die traditionellen Archivierungs- und Thesaurierungstopiken der Memoria kehrten unter diesen Bedingungen zurück u n d indizierten intermediale Transformationsvorgänge zwischen Publizistik und Lexikographie. Manfred Koch vertritt in seinem Beitrag die These, dass die Konzeption eines mobilen kulturellen Gedächtnisses bereits vor der Jenenser Romantik in Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« literarisch entworfen wird. Die Novellensammlung, Koch zufolge Schlüsseldokument für Goethes postrevolutionäre Entwicklung, repräsentiere das ganze Ensemble kultureller Strategien, mit denen der »Dichterfürst« auf die Tendenzen der neuen Zeit reagiert habe. Goethes »Unterhaltungen« entfalteten - dezidiert gegen Schillers literarisches Programm der »Hören« - eine Poetik, die den Verlust des traditionellen Gedächtnisses nicht durch die Abkehr vom m o dernen Zeitgeschehen und von ihrer medialen Entfesselung kompensiere. Vielmehr werde das Publikumsbedürfnis nach Interessantem aufgegriffen f ü r ein Erzählverfahren, das das Aktuelle und Traditionale, das kulturell Entlegene und gattungshierarchisch Geschiedene im Prinzip wechselseitiger und wiederholter Spiegelungen produktiv zusammenführe und so eine Sphäre besonnenen Bezügestiftens öffne. Die merkantile Autorfiguration eines Verwalters und Mischers von Traditionsbeständen stehe im Z e n t r u m einer poetischen Anagnorisis, die das m o d e r n e »Zerstreuungsgedächtnis« produktiv zu einer »memoria mobilis« wende. Hier seien schnelllebiger Markt und bewahrendes Archiv bzw. Fundierungsgedächtnis vermittelt. Goethes »Märchen« zeige, wie die inzitierende Kraft der m o d e r n e n Kommunikationskultur im R a h m e n dieses Gedächtniskonzepts legitimiert werde.
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3. Kulturmodelle, Kulturvergleieh und Kulturpoetik In die gegenwärtige Diskussion um den konzeptuellen Status, die Leistungsfähigkeit und die Vorgeschichte einer vom New Historicism geprägten Kult u r w i s s e n s c h a f t f ü h r e n die d r e i B e i t r ä g e v o n Sven Trakulhun, Andreas Hoeschen u n d Stephen Shapiro.
Unter dem Gesichtspunkt der longue durée von Zirkulationsvorstellungen in Theorien und Darstellungen des Kulturvergleichs und Kulturtransfers untersucht Sven Trakulhun die »Topologie von >Umlauf< und >Tausch< in Reiseliteratur und Kulturanthropologie«. Sein Ausgangspunkt ist der ökonomische ZirkulationsbegrifF, wie er im 18. Jahrhundert durch kameralistische und physiokratische Diskurse geprägt wurde. Dieser ZirkulationsbegrifF, so Trakulhun, habe alle Eigenschaften besessen, transkulturelle Zivilisationsvergleiche zu ermöglichen, da er für ein metahistorisches und metakulturelles Systemdenken gestanden habe. Eine Folge dieser metakulturellen Konzeption habe darin bestanden, dass kulturelle Unterschiede nicht substanziell gedeutet, sondern vielmehr die allgemeinen Voraussetzungen in den Blick genommen worden seien, einem universalen ökonomischen Bewegungsprinzip geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Dadurch sei jedem kulturtheoretisch begründeten Rassismus der Boden entzogen worden. Nichtsdestoweniger seien die Urteile über die bereisten fremden Länder (wie im übrigen auch die über die eigenen Herkunftsländer) häufig negativ ausgefallen. Ökonomische Ordnungsvorstellungen hätten Anlass zur Reflexion und zum Vergleich von Herrschaftsformen und Produktionsweisen gegeben. Parallel dazu seien Vorstellungen des Kulturtransfers aus dem Konzept ökonomischen und kulturellen Austauschs hervorgegangen, der ebenfalls im Zirkulationsbegriff intendiert worden sei. Die Positionen hätten hier von Leibniz' emphatischer Bejahung des Kulturtransfers bis zum päpstlichen Verbot der Verschmelzung christlicher und einheimischer Traditionen in der Asienmission gereicht. Dominierend sei die Ansicht gewesen, dass der Austausch von Waren und kulturellen Gütern die eigene (individuelle) Identität gefährde und negative Auswirkungen auf die landesspezifische wirtschaftliche und kulturelle Prosperität habe. Vor diesem historischen Hintergrund erscheinen die aktuellen anthropologischen und ethnologischen Anknüpfungen an den ZirkulationsbegrifF in einem neuen Licht. Trakulhun zeigt, wie Zirkulation und Tausch bei Marcel Mauss zu Fundamentalkategorien der Anthropologie wurden, in denen sowohl der wirtschaftliche Handel als auch Prozesse des Kulturtransfers grundlegende und rahmengebende Bedeutung erhielten. Die kulturwissenschaftliche Konzeptualisierungsdebatte der jüngsten Vergangenheit hat, gewissermaßen auf der Suche nach der eigenen Vorgeschichte, mit der »Völkerpsychologie« der Herbart-Schüler Moritz Lazarus und Heymann Steinthal eine Wissenschaftsform in den Blick genommen, die ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit die »Standardmetapher gegenwär-
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tiger Diskussion« (v. Graevenitz), nämlich die »Zirkulation der Ideen« gerückt hat. Andreas Hoeschens Beitrag rekonstruiert die spezifischen epistemischen Bedingungen dieses Begriffs im Rahmen der »Völkerpsychologie« und ihres nachmärz-liberalen Öffentlichkeitskonzepts. Die auf ein menschheitsgeschichtliches Fortschrittstelos ausgerichtete »Zirkulation der Ideen« bezeichne die kommunikative »Lebendigkeit des Volksgeists«, die im Gegensatz zum klassischen Öffentlichkeitskonzept umfassend, nämlich kulturalistisch, orientiert und nicht im Gegensatz zur staatlichen Sphäre gedacht sei. Hoeschens Frage nach den ökonomischen und physiologischen Modellpatenschaften der völkerpsychologischen »Ideenzirkulation« präpariert ein von David Ricardo inspiriertes Theorem intellektueller Produktivität heraus, die »Verdichtung«, die einen mit der »Zirkulation der Ideen« einhergehenden Prozess kontinuierlicher Überformung und reduktiver Transformation meine. Das ökonomische Analogon des völkerpsychologischen Öffentlichkeits- und Kommunikationsbegriffs sei, so Hoeschen, deswegen gerade nicht die Güter- und Geldzirkulation, sondern die Produktion. Dennoch impliziere der »Ökonomismus der Völkerpsychologie« keinesfalls eine »einfache Kolonisierung der Kultur durch die Ökonomie«. Dass Lazarus und Steinthal die normative Stützung ihres produktivitätsorientierten Kulturmodells in der Klassik, und zwar besonders in den paraökonomischen Gesellschaftsentwürfen der Goetheschen »Meister«-Romane gesucht hätten, sei deshalb konsequent. Allerdings sei im Entwurf der »Völkerpsychologie« die in Goethes Romanen vollzogene Trennung von Ökonomie und Humanität zugunsten einer Parallelität aufgehoben. Stephen Shapiro diskutiert schließlich die Risiken, die der New Historicism und sein Zirkulationsmodell für das gegenwärtige kollektive Gedächtnis und eine angemessene Erinnerung historischer Konflikte und Krisen bietet. Greenblatts Rede von der »Zirkulation sozialer Energie« beerbe unkritisch das terminologische Set der klassischen und neoklassischen bürgerlichen Nationalökonomie. Seine von einer sozial horizontalen und synchronen »Zirkulation« ausgehende Sicht auf Shakespeare und das elisabethanische Theater blende die widersprüchlichen Spannungen und die Dynamik der protorevolutionären Epoche zugunsten einer Betrachtungsweise aus, die wie der formalistische New Criticism allein die autoregulativen Mechanismen ihres Untersuchungsgegenstandes in den Blick nehme. Für die Analyse und Interpretation kultureller Krisen sei das kulturpoetische Instrumentarium letztlich unzulänglich. Demgegenüber böten die kulturhistorischen Reflexionen Antonio Gramscis, Ende der 1920er Jahre in den »Gefängnisheften« unsystematisch zusammengetragen, mit ihren Begriffen der »Hegemonie« und der »historischen Blöcke« ein viel größeres methodisches Potenzial, krisenhafte Umbrüche zu erfassen. Gramsci verabschiede traditionelle marxistische Deutungsmuster wie das Konzept falschen Bewusstseins oder den ökonomischen, sozialen und historischen Determinismus. Er gehe vielmehr von dem Aggregatcharakter, der Kontingenz und Widerspriichlichkeit indi-
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vidueller wie kollektiver Deutungsensembles aus. Gramscis Kulturreflexionen unterstrichen die Integrationskraft hegemonialer Macht, divergente Interessen zu »historischen Blöcken« zu vereinen und krisenhaften Wandel durch die Umbesetzung interner Hierarchien zu bewältigen. Damit komme eine weitaus fruchtbarere Theorie kultureller »Zirkulation« in den Blick, die das statische Vermittlungskonzept des New Historicism hinter sich lasse.
I.
M E D I Z I N I S C H E UND ÖKONOMISCHE D I S K U R S E
VON DER SPÄTAUFKLÄRUNG BIS INS 1 9 . JAHRHUNDERT
Roland
Borgards
Blutkreislaufund Nervenbahnen Zum physiologischen Zusammenhang von Zirkulation und Kommunikation im 18. Jahrhundert
Die Figur der Zirkularion hat in der Geschichte der Physiologie ihren prominenten Ort in der 1628 erschienenen Schrift »Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus« von William Harvey. Harvey setzt dort gegen die herrschende Vorstellung einer zentrifugalen Bewegung des Blutes die Idee einer zirkulären Bewegung, eines Blutkreislaufes.1 Nach der alten galenischen, noch von Jean Fernel in Anschlag gebrachten Deutung der Herz- und Blutfunktionen wird das Blut in der Leber unablässig neu produziert und vom Herz in die Peripherie des Körpers gepumpt, wo es versickert. An die Stelle dieses ständigen Entstehens und Vergehens tritt bei Harvey nun die ständige, weil zirkuläre Bewegung des Blutes und damit ein Integral, das die beiden Blutsysteme, das arterielle und das venöse, in einem einheitlichen Kreislaufsystem zu verbinden vermag. Doch es ist nicht nur das Blut, dass in der Folge von Harvey den Körper in zirkulierender Bewegung durchläuft; auch der spiritus animalis,2 die »Lebensgeister« werden an die Kreislaufbewegung des Blutes angekoppelt 3 und sorgen - in der durch Descartes vermittelten Weiterentwicklung von Harveys 1 Vgl. zu Harvey und dem Blutkreislauf Thomas Fuchs, Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes - Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs, Frankfurt/ M . 1992. Fuchs beschreibt Harveys Untersuchungen zum Blutkreislauf nicht als eine Entdeckungsgeschichte, sondern - mit Ludwik Fleck - als die Konstruktion einer neuen wissenschaftlichen Tatsache. Vgl. dagegen die medizinische Fortschrittseuphorie z.B. bei Roger Rullière, Die Kardiologie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Jean-Charles Sournia u.a. (Hg.), Illustrierte Geschichte der Medizin, Salzburg 1980, Bd.3, S. 1 0 7 5 - 1 1 2 3 , die sich in der entsprechenden Zwischenüberschrift unverhüllt äußert (ebd., S. 1102): »Das 17. Jahrhundert: Die Entdeckung des (wirklichen) Blutkreislaufs« (Hervorhebung von mir, RJ3.). Vgl. auch Karl E. Rothschuh, Die Entwicklung der Kreislauflehre im Anschluß an William Harvey, in: Ders., Physiologie im Werden, Stuttgart 1969, S. 6 6 - 8 6 . 2 Zur Geschichte der spiritus von der Antike bis ins späte 17. Jahrhundert vgl. Marielene Putscher, Pneuma, Spiritus, Geist. Vorstellungen vom Lebensantrieb in ihren geschichtlichen Wandlungen, Wiesbaden 1973. 3 Harvey schreibt in »De motu locali animalium« von 1627: »sanguis et spiritus una res [...].« Vgl. hierzu JörgJantzen, Physiologische Theorien, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ergänzungsband zu Werke B d . 5 - 9 . Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1 7 9 7 - 1 8 0 0 , Stuttgart 1994, S. 3 7 5 - 6 6 8 , hier S. 379.
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Modell durch Henricus Regius, 4 Franciscus Sylvius5 und Cornells Bonté koe 6 - zirkulierend für den neuronalen Datentransport. Während Descartes die Funktion des Spiritus noch auf die Informationsübermittlung vom Gehirn zu den Muskeln einschränkt und die Übertragung von Sinneseindrücken aus der Körperperipherie zur zentral gelegenen Zirbeldrüse nach dem Prinzip eines Glockenseils konstruiert, überwiegen um 1700 Theorien, die sowohl afferente als auch efferente Nerventätigkeit unter Bezug auf die Spiritus erklären. U m 1700 wird der ätherartige Spiritus in den neurologischen Theorien zunehmend von einem Nervensaft ersetzt, der als äußerst dünnflüssige Materie das neuronale Röhrensystem durchfließen soll,7 sich in seiner Funktion jedoch in keiner Weise vom Nervengeist unterscheidet. 8 Dies ist grob umrissen die Situation zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Blut und Nervensaft, Blutadern und Nervenröhren sind die Elemente eines einzigen, einheitlichen und kompakten Systems humoralpathologischer Zirkulation. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wird der Blutkreislauf weder entdeckt noch zu seiner endgültigen Beschreibung und Erklärung gebracht. 9 Und dennoch ist dieser Zeitraum für die Frage der Zirkulation von physiologiegeschichtlichem Interesse. Denn die Physiologen dieser Zeit entwerfen etwa ab Mitte des Jahrhunderts - das Nervensystem als ein autonomes, vom Blutkreislauf unabhängiges System. Mit der Entkopplung des Nervensystems vom Blutkreislauf verschwindet auch die Notwendigkeit, die Nerventätigkeit als Teil eines großen Kreislaufgeschehens zu interpretieren. Gleichzeitig, d. h. vor allem in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts, verliert die Vorstellung eines neuronalen Röhrensystems aufgrund neuer morphologischer Untersuchungen an Plausibilität. Diese medizingeschichtliche Entwicklung führt auf einen kommunikationsgeschichtlichen Aspekt: Mit dem Ende der Zirkulationsbewegung in der Neurologie fallen Kreislaufbewegung und Affektausdruck auseinander. 10 4 Vgl. Fuchs, Die Mechanisierung des Herzens, S. 150: »Regius spricht aber auch von einer >circulatio< der spiritus, die nämlich über die Venen zum H e r z e n zurückkehren.« 5 Vgl. zu Sylvius ebd., S. 155: Die »spiritus [...] kehren in einem Kreislauf, nämlich als Lymphe ins Blut zurück.« 6 Vgl. zu Bontekoe ebd., S. 159: »Der Blutkreislauf dient fast nur noch der mit i h m verkoppelten Zirkulation des Nervensaftes, der seinerseits den Kreislauf antreibt.« 7 Vgl. Manfred Wenzel, Vorstellungen über Gehirn, Nerven und Seele in der Geschichte der Medizin, in: Samuel Thomas Soemmering, Werke. Bd.9: Ueber das Organ der Seele, bearbeitet und hg. von Manfred Wenzel und Sigrid Oehler-Klein, Basel 1999, S. 19-52, hier S. 25: »Waren die Spiritus ursprünglich eher göttlich-ätherische, letzten Endes nicht fassbare feine Dünste, so n a h m bereits im 17. Jahrhundert die Tendenz zu, diese zu materialisieren und als Nervensaft aufzufassen.« 8 Vgl. hierzu Karl E. Rothschuh, Vom Spiritus animalis zum Nervenaktionsstrom, in: Ders., Physiologie im Werden, S. 111-138, hier S. 118f. 9 Die heute noch gültige D e u t u n g des Herz-Kreislaufgeschehens datiert auf die Mitte des 19. Jahrhunderts. Vgl. hierzu Fuchs, Die Mechanisierung des Herzens, S. 184. 10 Dies gilt nur aus der - gewiss eng umgrenzten - Perspektive neurologischer Traktate. Z u m weiteren Z u s a m m e n h a n g physiologischer und wirtschaftlicher Zirkulation vgl. Joseph
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Diesen physiologisch begründeten (um 1750) bzw. physiologisch bestrittenen (um 1800) Zusammenhang von Zirkulation und Kommunikation möchte ich im folgenden entfalten.
1. Um 1 7 5 0 Johann Gottlob Krüger erzählt im dritten Teil seiner »Naturlehre« von 1749 unter der Überschrift »Von allzuheftigen Seelenwürckungen« 11 eine »lustige Historie I]«,12 die Blutkreislauf und Nervensaft 13 ganz ernsthaft in eine physiologische Beziehung setzt: »Ein Mensch, den zwar wohl niemand für den witzigsten Kopf der neuesten Zeiten gehalten haben würde; den man aber doch ausser dem einzigen Zustande, den ich erzehlen will, mit unter die vernünftigen Menschen rechnen konte, hatte sich öfters mit der angenehmen Vorstellung belustiget, daß er ein General wäre, welcher eine Königliche Prinzeßin heyrathen sollte. Anfänglich hatte er sich diese Freude nur auf seinen eigenen Leib gemacht: weil ihm solches nichts kostete; ob er schon wüste, daß es nicht wahr wäre. Da ihm aber diese Vorstellung durch leichtfertige Leute immer wieder beygebracht worden: so war sie endlich zu einem solchen Grade der Lebhaftigkeit gelanget, daß er das würklich zu seyn glaubte, was er sich einbildete. Er hielt in meiner Gegenwart eine Rede an seine Prinzeßin, welche flüßiger war, als er sie bey vollem Verstände hätte verfertigen können. Kurz darauf fieng er an, um sich zu schlagen; und den Holländern eine Schlacht zu liefern, von welcher man nichts in den Zeitungen gelesen hat. Bey diesem Zufalle ward er ganz roth im Gesichte: die Adern der Stime schwollen auf; und die Augen waren starr, und voller Lebhaftigkeit. [...] Diese heftige
Vogl, Homogenese. Zur Naturgeschichte des Menschen bei Buffon, in: Hans Jürgen Sellings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 8 0 - 9 5 . Ausführlich und mit viel Material zur Zirkulation bei Physiologen und Physiokraten vgl. auch Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 43-76. 11 Johann Gottlob Krüger; Naturlehre (1740-1749). Dritter Theil, welcher die Pathologie, oder die Lehre von den Kranckheiten in sich fasset, Halle 2 1755, S. 81. 12 Ebd., S. 92. 13 Krüger benutzt die Termini »Nervensaft« (z.B. Johann Gottlob Krüger, Naturlehre. Zweyter Theil, welcher die Physiologie, oder Lehre von dem Leben und der Gesundheit der Menschen in sich fasset, Halle 2 1748, S. 563) und »Lebensgeister« (z.B. ebd., S. 564) als Synonyme und liegt mit seiner neurophysiologischen Nervensafttheorie im mainstream der Jahrhundertmitte. Vgl. ebd., S. 542: »Man hält demnach das Gehirne für eine Maschine, darinnen eine ungemein subtile flüßige Materie von dem Blute abgesondert werde, welche die hohlen Nervenfäsergen beständig erfüllt. Wenn nun etwas den Cörper berührte: so würde dieser Nervensaft gegen das Gehirn getrieben, und verursachte daselbst eine Vorstellung.« Wenn sich auch über die Beschaffenheit des Nervensafts nichts genaues sagen ließe, weil er in seiner Substanz unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liege (vgl. ebd., S. 542-548), so ist es für Krüger dennoch gewiss, »[d]aß es einen Nervensaft gebe« (ebd, S. 548): »Alle Umstände zeigen, daß in dem Gehirne eine flüßige und zugleich ungemein subtile Materie von dem Blut abgesondert werde.« Vgl. Wenzel, Vorstellungen über Gehirn, Nerven und Seele, S. 26: »Auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts blieb die Vorstellung eines Nervensaftes dominierend.«
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Bewegung des Bluts nach dem Kopfe, zeiget zugleich von der Heftigkeit der Bewegung des Nervensafts, davon diese lebhafte Vorstellung ihren Ursprung genommen. Alle Vorstellungen, die ich ihm wegen seiner Thorheit that, waren, wie ich schon vorher vermuthete, ganz und gar fruchtloß. Eine starcke Aderlasse, so ich ihm rieth, that schon eine bessere Würkung.« 1 4
Krügers Geschichte hat offensichtlich zwei Seiten: zum einen eine physiologisch-medizinische, bei der es um Nervensäfte, Blutkreisläufe, Pathologien und Therapien geht; zum anderen eine affekttheoretisch-ästhetische, die mehr an Fragen der Schauspielerei, Redekunst und Rhetorik erinnert. Zunächst einige Bemerkungen zu dieser affekttheoretisch-ästhetischen Seite: Der Protagonist von Krügers Geschichte versetzt sich selber in einen Affekt, der »nicht wahr«, aber dennoch wirklich ist. Er tut damit genau das, was schauspieltheoretische Traktate der Jahrhundertmitte, insofern sie für den Empfindungsschauspieler und gegen den kalten Schauspieler argumentieren, von ihren Schauspielern fordern.15 So besteht z.B. für Rémond de Sainte-Albine in »Le Comédien« aus dem Jahr 1747, also zeitgleich mit Krügers »Naturlehre«, die Schauspielkunst in der »Kunst, sich gerade in richtiger Weise in Affekt zu setzen«.16 Wenn der Schauspieler von dem darzustellenden Affekt nur hinreichend erfüllt ist, so das Argument von Sainte-Albine, dann wird dieser Affekt auch verlustfrei auf den Zuschauer übertragen, ganz gemäß der horazschen Formel vom »si vis me fiere«. Dieser glatte Affekttransfer zwischen Schauspieler und Zuschauer - für Theoretiker des kalten wie für Theoretiker des empfindenden Schauspielers gleichermaßen der verbindliche terminus ad quem - beruht auf der rhetorischen Figur der energeia, der lebhaften Darstellung. Nach Sainte-Albine resultiert die Lebhaftigkeit der Darstellung aus der realen Leibhaftigkeit des dargestellten Gefühls. Ein entsprechendes Verhältnis von Lebhaftigkeit und Leibhaftigkeit findet sich nun auch bei Krüger. Der erfundene und zunächst nur lebhaft vorgestellte Affekt verkörpert sich im realen Leib seines Erfinders: »diese Vorstellung [...] war [...] endlich zu einem solchen Grade der Lebhaftigkeit gelanget, daß er das würklich zu seyn glaubte, was er sich einbildete.« Ablesbar wird die Leibhaftigkeit des Affekts für den Arzt Krüger an der beschleunigten Kreislauftätigkeit. Die schauspieltheoretische Anweisung, dass der Akteur sich in den Affekt versetzen soll, den er darzustellen gedenkt, hat Krügers Patient damit auf das Peinlichste befolgt. Der Qualität seiner Performance kommt dies zunächst nur zu Gute: Er extemporiert eine Rede, der es an Flüssigkeit und Uberzeugungskraft nicht mangelt. Die Bewegung der Körperflüssigkeiten Blut und
14 Krüger, Naturlehre, Bd.3, S. 92 f. 15 Zur Debatte um kalten und Empfindungsschauspieler und zum folgenden vgl. Johannes Friedrich Lehmann, Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg 2000, S. 2 2 2 - 2 2 9 . 16 Zit. nach ebd., S. 228.
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Nervensaft geht dabei zwanglos über in den Fluss der Rede. Und auch diese rhetorische Produktivkraft liegt ganz auf der Linie Sainte-Albines: »Es ist nicht hinreichend, daß er [der Schauspieler, R.B.] bloß seinem Verfasser treulich folgt; er muß ihm nachhelfen; er muß ihn unterstützen; Er muß selbst Verfasser werden.« 17 Krügers Patient spielt nicht nur nach, was andere ihm vorgesetzt haben; er spielt durch, was er selbst empfindet; er erfindet, und zwar nicht nur Reden, sondern gleich ganze Kriegsschlachten, von welchen »man nichts in den Zeitungen gelesen hat«. Jedoch reicht die von mir hier vorgeschlagene Analogie von Patient und Schauspieler nur bis zu einem gewissen Punkt. Denn Krügers Patient überschreitet die Grenze von theatralem Pathos und leib-seelischer Pathologie, indem er die beiden genannten Forderungen Sainte-Albines nicht nur erfüllt, sondern übererfüllt. Der Empfindungsschauspieler soll sich zwar selbst in den darzustellenden Affekt versetzen, aber die Kunst besteht auch darin, dies »gerade in richtiger Weise« zu tun: »L'art de ne se passioner qu'à propos, & dans le degré qu'exigent les circonstances.«18 Krügers Patient hat das bei Sainte-Albine angemahnte Maß (»le degré«) überschritten. Und der Empfindungsschauspieler soll zwar eine eigene, produktive Kreativität an den Tag legen, dabei aber immer seine Erfindungen beherrschen und sich nicht etwa von ihnen beherrschen lassen. Doch bei Krügers Patient ist aus der spielerischen Anverwandlung einer Rolle eine massive fixe Idee geworden. Mit dieser zweifachen Maßlosigkeit bleibt zugleich eine dritte Forderung Sainte-Albines missachtet: »Der Geist ist den Schauspielern ebenso notwendig wie der Steuermann dem Schiff.« 19 Bei Krügers Patient hat der Geist seine steuernde und mäßigende Kraft verloren. Der Wahn regiert. Wo das Schauspiel endet, dort beginnt - in der Geschichte Krügers - die Krankheit. Der selbstgefällige Spaß verwandelt sich unter den unüberlegtem Zureden »leichtfertigejr] Leute« in krankhaften Ernst. Entsprechend ist der Ort des Geschehens nicht die Bühne und ist Krüger kein Theaterbesucher, sondern ein Arzt. Er verweigert sich dem theatralen Affekttransfer; er assimiliert nicht Gefühle, sondern beobachtet die Symptome des Körpers und liest sie als Zeichen eines pathologischen Vorgangs. Was Krüger so sieht, ist nichts als ein intensiviertes Kreislaufgeschehen, eine »heftige Bewegung des Bluts«; der Patient wird »ganz roth im Gesichte: die Adern der Stirn schwollen auf«. Für Krüger verweist die beschleunigte Zirkulation des Bluts auf eine gleichermaßen beschleunigte Bewegung des Nervensafts: »Diese heftige Bewegung des Bluts nach dem Kopfe, zeiget zugleich von der Heftigkeit der Bewegung des Nervensafts«. Das Sichtbare ist hier Zeichen des Unsichtbaren; das eine »zeiget [...] von« dem anderen, wie es in der Formulierung Krügers heißt. Das Wissen von den Bewegungen des Nervensafts ist 17 Zit. nach ebd. 18 So lautet die entsprechende Stelle im französischen Original, zit. nach ebd. 19 Zit. nach ebd.
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dabei das Ergebnis eines Ableitungsverfahrens; man kann, so Krüger, »aus der verschiedenen Bewegung des Herzens auf die Art der Bewegung, welche bey dem Affeckte in der subtilen Materie des Gehirns vorgehet, einen vielleicht nicht unwahrscheinlichen Schluß machen. Bey dem Zorne bewegt sich das Hertz geschwinde, und mit einer grossen Gewalt; wird also auch nicht die Bewegung des Nervensaftes im Gehirne sehr schnelle geschehen müssen? und ist dieses nicht die Ursache, warum so viele Vorstellungen so geschwind auf einander folgen, daß man wegen der Undeutlichkeit, die daraus entspringt, sich seiner kaum selber recht bewußt ist?«20 Von dem, was sich dank der roten Gesichtsfarbe und der angeschwollenen Stirnadern beobachten lässt, vom Blutkreislauf, schließt Krüger auf das, was gänzlich unsichtbar bleibt, die Bewegungen des Nervensafts. Das Wissen u m den Nervensaft und seine Bewegungen entsteht aus dem Glauben an einen »nicht unwahrscheinlichen Schluß«, aus dem Glauben an die Kraft der Analogie zwischen Blut und Nerven. Krügers Formulierung markiert die Ableitung mit einem »also«: »wird also auch nicht die Bewegung des Nervensaftes im Gehirne sehr schnelle geschehen müssen?« Entsprechend heißt es zum Affekt der Traurigkeit: »Bey der Traurigkeit hingegen bewegt sich das Hertz langsam [...]; solte sich also nicht auch in diesem Falle eine subtile Materie in dem Gehirne, die wir den Nervensaft nennen, [...] ganz langsam bewegen?« 21 Damit ist beschrieben, wie das Wissen von den Bewegungen des Nervensafts zustande kommt: durch ein Schlussverfahren. Doch mit Blick auf seinen aufgewühlten Patienten verbindet Krüger Blut und Nervensaft nicht nach dem Modell einer Analogie, sondern nach dem Modell von Ursache und Wirkung. Der Nervensaft, von dem Krüger nur dank Analogieschluss weiß, rückt in die Position der Ursache, und das Blut, von dem der Analogieschluss seinen Ausgang nimmt, rückt in die Position der Wirkung. N u r dank dieser Verbindung von Nervenursache und Blutwirkung kann Krüger die Bewegungen des Blutkreislaufs als ein natürliches, genauer: als ein indexalisches Zeichen verstehen. Empfindung bzw. Vorstellung sind dabei unmittelbar mit den Bewegungen des Nervensafts verknüpft: »Wenn wir etwas empfinden, so geht allemahl in dem Nervensafte des Gehirns eine Veränderung vor. [...] Diesem zu folge, wird eine starke Einbildungskraft j e derzeit eine grosse Gewalt des Nervensafts zum Grunde haben.« 22 Im Falle von Krügers phantasierendem Patienten hat die »lebhafte Vorstellung« von »der Heftigkeit der Bewegung des Nervensafts [...] ihren Ursprung genommen.« Die Bewegungen des Nervensafts erscheinen als die unmittelbare Ursache für die Bewegungsmodalitäten des Blutes. Die fundamentalste Bewegung lokalisiert Krüger damit weder im Blutumlauf noch in der Zirkulation der Affekte, sondern im Saft der Nerven: »Die Vorstellun20 Krüger, Naturlehre, Bd.2, S. 560 f. 21 Ebd., S. 561 (Hervorhebung von mir, R.B.). 22 Krüger, Naturlehre, Bd.3, S. 90.
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gen der Einbildungskraft sind desto lebhafter, j e größer die Gewalt des Nervensafts im Gehirne ist: das ist, j e mehr Nervensaft vorhanden ist, und j e geschwinder er sich bewegt.«23 Krüger verbindet den Blutkreislauf in zwei einander widerstrebenden Hinsichten mit den Bewegungen des Nervensafts: einerseits in einem Diagnoseverfahren, das sich auf eine indexalische Verknüpfung von Nervensaft und Blutkreislauf stützt; andererseits in einem Schlussverfahren, das diese indexalische Verknüpfung überhaupt erst etabliert. Im Schlussverfahren entsteht ein Wissen, welches das Diagnoseverfahren immer schon voraussetzen muss. Blutkreislauf und Nerven sind für Krüger also aneinander gekoppelt, zwischen den »flüßigen Materien« und dem »Nervensafte« sieht er keine Trennung.24 Die Bewegungen des Nervensaftes folgen dem Modell der Blutbewegung (von der Blutbewegung wird per Analogie auf die Bewegung des Nervensafts geschlossen), die Blutbewegung folgt ihrerseits den Vorgaben des Nervensafts (Nervensaft und Blut erscheinen als Ursache und Wirkung). Im Rahmen dieser Theorie hat Krüger für seinen Patienten nicht einen Therapieweg an der Hand hat, sondern deren gleich zwei. Seine erste Therapie versucht, den rasenden Vorstellungen mit bremsenden Vorstellungen zu begegnen und so von der psychologischen, seelischen Seite auf den Fluss des Nervensafts zu wirken: »Alle Vorstellungen, die ich ihm wegen seiner Thorheit that, waren [...] ganz und gar fruchtloß.« Die zweite Therapie versucht, per Aderlass die Geschwindigkeit des Blutkreislaufs zu bremsen und so von der physiologischen, leiblichen Seite auf die Bewegungen des Nervensafts zu wirken: »Eine starcke Aderlasse, so ich ihm rieth, that schon eine bessere Würkung.« Die erste Therapie bleibt erfolglos; die zweite schlägt an. Der Nervensaft hat in beiden Therapieversuchen eine gleichermaßen ambivalente Stellung: Einerseits entzieht er sich jeder empirischen Erfassbarkeit und lässt sich genau deshalb nicht auf direktem Weg beeinflussen. Andererseits begründet er die Bewegungen der Vorstellungen und des Blutkreislaufs und gilt damit als die eigentliche Ursache des Geschehens, während die Wahnvorstellungen und der erhöhte Puls bloße Symptome abgeben. Krügers Aderlass ist dabei von grandioser Inkonsequenz. Denn die Bewegung des Nervensafts, die er in einer gewagten Volte von ihrer er-
2 3 Ebd., S. 97. Krüger - dies sei zumindest am Rande vermerkt - argumentiert nicht mit einer reinen Nervensafttheorie; eine zweite Säule findet seine Neurophysiologie in den Nervenhäuten und deren Fähigkeit zu einer »zitternden Bewegung«. Krüger, Naturlehre, Bd.2, S. 586. Vgl. hierzu ausführlicher Roland Borgards, Das Leben ein Schmerz. Die Geschichte einer Denkfigur in Literatur und Medizin, in: Maximilian Bergengruen u.a. (Hg.), Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, S. 1 3 5 - 1 5 8 , insbes. S. 138 ff. 2 4 Vgl. Krüger, Naturlehre, Bd.3, S. 64: »Jedermann siehet, daß allzuhäufige Absonderungen und Ausführungen der flüßigen Materien, den Cörper schwächen müssen. Denn es gehet doch immer von dem Nervensafte, welcher die Quelle und der Ursprung der Kräfte ist, vieles mit fort.«
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schlossenen Existenz zur alles begründenden Ursache erhoben hatte, soll nun ausgerechnet von einer ihrer Wirkungen, den Bewegungen des Blutes, beeinflusst werden. Fassen wir die Ergebnisse mit Blick auf Krüger zusammen: In Krügers Modell sind Blut und Nervenflüssigkeit unmittelbar miteinander verbunden und folgen den Gesetzen der Zirkulation. Ein Uberschuss an zirkulierender Bewegung in diesem System schlägt sich unmittelbar in Vorstellungen, Affekten und Reden nieder. Ein beschleunigtes Kreislaufgeschehen in Blut und Nerven führt zu rhetorischen und theatralen Höchstleistungen; der prinzessinnenbesessene Möchtegern-General demonstriert dies mit dem ungebrochenen Fluss seiner Liebesrede. Dem entspricht das Muster rhetorischer Kommunikation: Der Redner versetzt sich in den Affekt, von dem er redet, und überträgt ihn so zugleich auf seinen Zuhörer. Wüsste der Redner das theatrale wie physiologische Maß zu halten, dann fände er in Krüger vielleicht tatsächlich keinen Arzt, sondern einen Theaterzuschauer, und die kommunikative Situation wäre perfekt. Zirkulation und Kommunikation bilden für Krüger - in ihrem idealen Modell wie ihren pathologischen Grenzen - einen gemeinsamen Raum.
2. Um 1800 Erst nach 1750 beginnt in der Physiologie die Entkopplung des Nervensystems vom Blutkreislauf. Dies geschieht gleich von zwei Seiten. Zum einen vom Blutkreislauf her. Zunächst beweisen Albrecht von Haller und seine Schüler endgültig die Unabhängigkeit der Herzaktion vom zentralen Nervensystem. 25 Der Blutkreislauf muss damit als ein von den Nerven unabhängiges, eigengesteuertes Zirkulationsgeschehen interpretiert werden. Diese Selbstregulierung übernehmen in der Folge zwei verschiedene Instanzen: Einmal das Herz und dessen Fähigkeit zur Selbsterregung; 26 zum anderen eine Eigenbewegung des Blutes, dank derer sich der Kreislauf ohne den Antrieb einer zentralen Pumpmaschine in Gang zu halten vermag. 27 Zum einen also entkoppeln sich die beiden Systeme, weil der Blutkreislauf als ein autonomes, selbstgenügsames System gedacht wird. Zum anderen wird diese Entkopplung vom Nervensystem her vorgenommen. Denn dank neuer Sektionstechniken wird in den anatomischen Untersuchungen der 1770er und 1780er Jahre die Röhrenstruktur der Nerven zunehmend
2 5 Vgl. Fuchs, Die Mechanisierung des Herzens, S. 183. 2 6 Vgl. ebd., S. 201. 2 7 Vgl. ebd., S. 191 f. Die Selbstbewegung des Blutes übernehmen die Vitalisten der zweiten Jahrhunderthälfte von Harvey, der - im Gegensatz zu Descartes - auch von der Kraft des Blutes zur Eigenbewegung ausgeht. Vgl. hierzu Fuchs, Die Mechanisierung des Herzens, S. 69.
Blutkreislauf u n d N e r v e n b a h n e n
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fragwürdig.28 Der morphologische Befund - publiziert 1773 von Leopoldo Marc' Antonio Caldani,29 1779 von Felice Fontana30 und Alexander Monro31 - lautet: Die Nerven sind nicht hohl, sondern mit einer festen und unbeweglichen Materie gefüllt. Und ohne Kanal kein Saft,32 ohne Saft keine Verbindung der Nerven zum Blut. In einer Formulierung aus Justus Arnemanns »Versuch über die Regeneration an lebenden Thieren« von 1787: »Ein L i q u i d u m so u n s i c h t b a r u n d flüchtig w i e d e r N e r v e n s a f t , ist k e i n L i q u i d u m , sond e r n ein D u n s t [...]. W a s f ü r e i n e M a t e r i e sollte die G e f ä ß e gebildet h a b e n , die es f ü h ren, u n d w e l c h e s sind die G e s e t z e d e r Circulation? D i e L e h r e v o n d e n N e r v e n s c h l a g u n d B l u t a d e r n ist so u n w a h r s c h e i n l i c h e r s o n n e n , d a ß k a u m j e m a n d h e u t zu Tage das D a s e y n d e r s e l b e n sich zu w i e d e r h o l e n getraut.« 3 3
Mit ihrem Zweifeln kommen die Anatomen allerdings nur zu einem rein negativen Ergebnis. Was den körperinternen Datentransport zu leisten vermag, wenn der Nervensaft als Kandidat ausscheidet, bleibt völlig offen. So leitet z.B. noch 1800 Samuel Thomas Soemmerring in der zweiten Auflage seiner »Hirn- und Nervenlehre« einen Uberblick über die möglichen und seiner Ansicht nach allesamt widerlegbaren Nerventheorien mit einem knappen Paragraphen ein, dessen apodiktische Uberschrift lautet: »Die Wirkungsart der Nerven ist dunkel.«34 Entsprechend herrscht um 1800 noch einiges an Unsicherheit bezüglich der Frage, ob die Nerventätigkeit sich mit dem Begriff der Zirkulation be-
2 8 Vgl. hierzu Frank W. P. Dougherty; Nervenmorphologie und -physiologie in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts. Göttinger Beiträge zur Forschung und Theorie der Neurologie in der vorgalvanischen Ära, in: Gunter Mann / Franz Dumont (Hg.), Gehirn - Nerven - Seele. Anatomie und Physiologie im U m f e l d S. T h . Soemmerrings, Stuttgart 1988, S. 55-91. 29 Vgl. zu Caldani ebd., S. 76: »Besonders bedeutend ist der [...] Einwand, daß die N e r ven nicht hohl seien und daher keinen Saft leiten können.« 30 Vgl. zu Fontana ebd., S. 62: »In den n u n freigelegten Nervenzylindern entdeckte er eine durchsichtige, gallertartige, in Wasser unauflösliche Substanz«, deren »weitere Zerlegung wegen der Homogenität der Substanz nicht gelingen wollte.« 31 Vgl. zu M o n r o ebd., S. 68: »Bei seinen weiteren Untersuchungen stellte er darüber hinaus fest, [...] daß diese Fibern nicht hohl, sondern vielmehr solid waren.« 32 Mitunter wird bis zum Ende des Jahrhunderts an der Existenz des Nervensaftes festgehalten, so z.B. von J o h a n n Friedrich Blumenbach, der die Nerven in Analogie zum flüssigkeitsleitenden Fließpapier konzipiert. Vgl. Jantzen, Physiologische Theorien, S. 495f. 33 Justus Arnemann, Versuch über die Regeneration an lebenden Thieren. Erster Band über die Regeneration der Nerven, Göttingen 1787, S. 285. 34 Samuel Thomas Soemmerring, Vom Baue des menschlichen Körpers. Fünften Theils erste Abtheilung: Hirn- und Nervenlehre, F r a n k f u r t / M. 2 1800, S. 434. Verworfen werden von Soemmerring Schwingungstheorien (ebd., S. 435f.), Kollisionstheorien (ebd., S. 437f.), Nervengeist- und Nervensafttheorien (ebd., S. 439 ff.) und schließlich - als einzige Ergänzung der zweiten gegenüber der ersten Auflage von 1791 - Theorien der Nervenwirkung »durch einen thierisch-chemischen Prozeß« (ebd., S. 447). Eine ähnliche Negativliste - erweitert u m Stahls Seelenhypothese, Theorien einer elektrischen Nervenmaterie und eine eigene Hypothese - bietet Arnemann, Versuch über die Regeneration, S. 2 7 7 - 3 0 8 .
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schreiben lasse oder nicht. Sichtbar wird diese Unsicherheit z.B. bei Jean Baptiste François Léveillé in seiner Abhandlung zur Frage »Wird die Empfindung in dem Augenblick gänzlich vernichtet, in dem der Kopf vom Rumpfe getrennt wird?« aus dem Jahr 1795. Die Nerven, so führt Léveillé aus, leiten ein »Fluidum, das unaufhörlich in ihnen, und zwar längs jeder einzelnen Fieber eines Nerven sich fortbewegt, und für das uns die Anatomie noch keine eigentliche Circulation im Innern der Nerven (vermöge einer dafür anzunehmenden gefäßartigen Struktur) gezeigt hat.«35 Anatomisch bezweifelt Léviellé die Möglichkeit einer neuronalen Zirkulation. Und dennoch verknüpft er Blutkreislauf und Nervensystem auf das engste, und zwar vom Blutkreislauf her: Ohne die Zirkulation des Blutes, so Léveillé, könne das Gehirn nicht weiter arbeiten, weshalb die Frage nach einem fortdauernden Bewusstsein in einem abgeschlagenen Kopf negativ beantwortet werden muss: »Wenn die Blutzirkulation unterbrochen ist, hört auch die Nerventätigkeit sofort auf, jeder Herzschlag, der die Bewegungen des Hirns erregt und unterhält, ist wirksam und nothwendig, um die Bewegung des belebenden Fluidums in ihm zu erhalten.« 36 Ohne auf ein sicheres anatomisches Substrat zurückgreifen zu können, hält Léveillé an der Kopplung von Blut und Nerven fest. Ein elaboriertes Beispiel für die Entkopplung dieser beiden Systeme hingegen bieten Xavier Bichats »Physiologische Untersuchungen über Leben und Tod« aus dem Jahr 1800.37 Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die »Eintheilung des Lebens in thierisches und organisches«, 38 in ein vie animal und ein vie organique,39 Das organische Leben besteht »in einer beständig aufeinanderfolgenden Aneignung (assimilation) und Ausscheidung« 40 von Teilchen. Der Kreislaufgedanke kommt hier gleich doppelt vor. Erstens, insofern der aneignende und ausscheidende Mensch als Durchgangsstation einer großräumigen Teilchenzirkulation gedacht wird: »Die Nahrungspartikeln werden einmal aufgesaugt, ein anders mal wieder ausgestoßen, gehen vom Thier in die Pflanze über, von da in die unorganischen Körper, allmählig kommen sie wieder zum Thier zurück und werden wieder aus3 5 Jean Baptiste François Léveillé, Wird die Empfindung in dem Augenblick gänzlich vernichtet, in dem der Kopf v o m Rumpfe getrennt wird? (1795), in: Jean-Baptiste Sue, Physiologische Untersuchungen und Erfahrungen über die Vitalität. Nebst dessen Abhandlung über den Schmerz nach der Enthauptung, und den Abhandlungen der Bürger Cabanis und Léveillé über denselben Gegenstand, aus dem Französischen übersetzt, mit mehreren Anmerkungen und Zusätzen von Dr. Joh. Christian Friedrich Harleß, Nürnberg 1799, S. 136-148, hier S. 137. 3 6 Ebd., S. 141. 37 Zu Bichat vgl. Michel Foucault, D i e Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/ M. 1988, S. 137-185. 38 Xavier Bichat, Physiologische Untersuchungen über Leben und Tod. Aus dem Französischen frey übersetzt (v. D. Beizhans), Tübingen 1802, S. 3. 3 9 Vgl. hierzu auch Jantzen, Physiologische Theorien, S. 546 ff. 4 0 Bichat, Physiologische Untersuchungen, S. 5.
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geworfen. Das organische Leben paßt für diesen beständigen Kreislauf der Materie.« 41 In Hinsicht auf das organische Leben erscheint der Körper als eine passende Durchgangsstation im großen »Kreislauf der Materie«. Neben dieser großen, allgemeinen Zirkulation gibt es - zum zweiten - den Kreislauf im engeren Sinne, den Blutkreislauf. Dieser ist an der körperinternen Verarbeitung der »Nahrungspartikeln« beteiligt, insofern er sowohl die mit Nahrung angereicherten Teilchen in alle Bereiche des Körpers transportiert als auch für die Entsorgung der fertig benutzten »Partikeln«42 zuständig ist. Der Blutkreislauf ist damit ein körperinterner Kreislauf, der zugleich die Funktion hat, den Körper als ganzen in den großen Kreislauf der Materie einzugliedern.43 Dem organischen Leben übergeordnet ist für Bichat das »thierische Leben«. 44 Denn kann ein Individuum in organischer Hinsicht »nur in sich leben« und wird es »mit dem, was es umgibt, nur in Betreff der Ernährung in Verbindung stehen«,45 so ist es in tierischer Hinsicht dazu fähig, aktiv »mit der Außenwelt in Verhältnisse zu treten« 46 Die organische, durch einen doppelten Kreislauf organisierte Verbundenheit mit der Welt stellt also gerade keine kommunikative Verbindung zur Welt her. In organischer Hinsicht ist das Individuum taub und stumm. Die kommunikative Öffnung auf die Welt verdankt sich erst dem tierischen Leben: »Durch diese [die organische, R.B.] Ordnung von Verrichtungen lebt das Thier nur in sich, durch die andere [die tierische, R.B.] Ordnung hingegen lebt es außer sich, es ist dadurch Bewohner der Welt [...]. Es fühlt und empfindet das, was es umgibt, sinnt über seine Empfindungen nach, bewegt sich willkührlich, und kann in den meisten Fällen mittelst der Stimme sein Verlangen und seine Furcht, sein Vergnügen oder Mißbehagen ausdrücken.« 47
Das tierische Leben ist also definiert durch die Dreiheit von Wahrnehmen, Denken und Handeln. Das Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt wird dabei nicht nach dem Schema des Kreislaufs, sondern dem der Wechselwirkung gedacht, einer Wirkung in zwei Richtungen, nach zwei Ordnungen: »Die erste Ordnung im thierischen Leben gehet von der Außenfläche des Körpers nach dem Hirn, die zweyte vom Hirn zu den Werkzeugen der willkührlichen Bewegung und der Stimme. [...] Die Außenwelt wirkt durch die erste Ordnung der Functionen auf das Thier; durch die zweyte wirkt es
41 Ebd., S. 10. 42 Ebd., S. 12. 43 Eine entsprechende Theorie der allgemeinen Teilchenzirkulation findet sich schon bei Georg-Louis Leclerc de Buffon. Vgl. Vogl, Homogenese, S. 88 ff. 44 Bichat, Physiologische Untersuchungen, S. 6. 45 Beide Zitate ebd., S. 3. 46 Ebd., S. 4. 47 Ebd., S. 5
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auf dieselbe zurück.« 48 Dank den Werkzeugen des tierischen Lebens - Sinnesorgane, Nerven, Gehirn in der einen Richtung, Gehirn, Nerven, Muskeln und Stimme in der anderen Richtung - steht das Individuum mit seiner Umgebung in Wechselwirkung. Diese Wechselwirkung begreift Bichat seine wiederholte Betonung von Stimme und »Sprachorganen« 49 macht dies deutlich - als Kommunikation. Das tierische Leben versetzt das Individuum in ein kommunikatives Verhältnis zur Welt. Ganz wie der Blutkreislauf sowohl an der Aufnahme als auch an der Abgabe der Nahrungspartikel beteiligt ist, so ist entsprechend das Gehirn sowohl am Empfang der Empfindungen als auch an der Artikulierung eines Willens beteiligt. »Hieraus folgt«, so Bichat, »daß das Blutsystem ein Mittelsystem, - das Centrum des organischen Lebens ist, wie das Hirn der Centralpunct des thierischen Lebens ist«.50 Doch Bichat zielt bei seiner Beschreibung von Blutkreislauf und Nervensystem nicht auf deren analoge Position, sondern auf deren scharfe funktionale Trennung: großer und kleiner Kreislauf auf Seiten des organischen Lebens, eine nach innen und eine nach außen gerichtete lineare Bewegung auf Seiten des tierischen Lebens: »Wie mich dünkt, so bieten diese großen Verschiedenheiten zwischen den beyden Leben des Thieres [...] dem Physiologen den Grund zu der einzigen reellen Eintheilung dar, welche sich zwischen den Functionen festsetzen läßt.«51 Blutkreislauf und Nerventätigkeit unterscheiden sich damit erstens in anatomischer Hinsicht (hier steht eine Flüssigkeit in Röhren gegen etwas Unbekanntes in festen Leitern), sie unterscheiden sich zweitens in ihren Bewegungsmodalitäten (zirkuläre Bewegung einerseits, lineare Bewegung andererseits) und drittens in ihrer Funktion (Metabolismus für den Blutkreislauf, Kommunikation für die Nerventätigkeit). Damit fallen zwei Bereiche auseinander, die noch bei Krüger auf das engste ineinander verwoben waren. Krüger entwarf die Kategorie der Zirkulation als das gemeinsame Dach für Blut und Nerven und verstand deren beschleunigte Kreislaufbewegung als die Bedingung heftiger Affekte und flüssiger bzw. überflüssiger Reden. Bei Bichat hingegen bilden Zirkulation, Flüssigkeit und Metabolismus auf der einen Seite und Linearität, feste Leiter und Kommunikation auf der anderen Seite zwei streng voneinander geschiedene Blöcke. Zirkulation und Kommunikation haben sich damit auf zwei getrennte Räume verteilt. 52 Für die Trennung von Blutkreislauf und Nervensystem gibt es bei Bichat einen besonders evidenten Hinweis in seiner Differenzierung von drei ver4 8 Ebd., S. 7 f. 4 9 Ebd., S. 8. 5 0 Ebd., S. 11. 51 Ebd., S. 13 f. 52 Vgl. hierzu auch Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 120: »Auf allen Eben e n hört die Säftelehre auf, eine angemessene Grundlage für charakterologische, affektökonomische und kommunikative P h ä n o m e n e zu bieten.«
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schiedenen Todesarten, dem Lungentod, dem Herztod und dem Hirntod. Auch wenn nach Bichat der »allgemeine Tod« erst dann eintritt, wenn sich alle drei Todesarten vereinigen, so haben diese Todesarten doch ihre j e eigene Autonomie. 53 Beim Hirntod z.B. geht die Zirkulation des Blutes erst noch eine Zeit weiter; 54 der allgemeine Tod ist zwar eine sichere, aber nur späte Folge des Hirntods. Blutkreislauf und Nervensystem sind strikt voneinander getrennt und sterben ihren j e eigenen Tod. Diesen j e eigenen Tod und damit die strikte Trennung von Blutkreislauf und Nervensystem treibt Carl August Weinhold in seinen »Versuchen über das Leben und seine Grundkräfte, auf dem Wege der Experimental-Physiologie« aus dem Jahr 1817 auf die Spitze: »[...] das Leben des Nervensystems kann unter gewissen Bedingungen länger als 24 Stunden leben, wenn das Kreislaufsleben erloschen ist, und, so kann umgekehrt bey dem völligen Tode des Hirns, Rückenmarks und Nerven, das Kreislaufsleben 2 6 bis 28 Stunden dauern, ehe es stirbt.«55 Dem eigenen Tod, den die beiden Systeme zu sterben vermögen, entspricht ein j e eigenes Leben. So heißt es bei Weinhold in § 25 unter der Uberschrift »Kreislaufssystem und Nervensystem«: »Der rationale Physiolog muss besonders auf diese beiden Systeme im Thier sein grösstes Augenmerk richten, weil jedes ein wahres geschlossenes Ganze, ein System ausmacht, deren jedes [...] sein eigenes Leben lebt, beide zusammen aber erst das höhere physikalische Leben ausmachen.«56 Die Trennung von Blutkreislauf und Nervensystem erweist sich bei Weinhold als die Bedingung dafür, die beiden Systeme auf einer höheren Ebene wieder miteinander zu verbinden. Diese Verbindung kann nicht eine von bewegten Flüssigkeiten sein, denn auf der Ebene des physiologischen Substrats gilt die Unterscheidung von zirkulärer Blutbewegung einerseits und linearer Datenbewegung andererseits. Sie geschieht vielmehr auf der Basis autonomer Systeme, die das jeweils andere System lediglich als ihre Umwelt wahrnehmen. Und weil ein System seine Umwelt nur nach seinen eigenen Maßgaben zu beobachten vermag, lässt es sich durch eine künstlich nachgebaute Umwelt täuschen. Weinhold führt dies bei einem »Versuch mit einem künstlichen Hirn und Rückenmark« exemplarisch vor. Versuchstier ist ein »vier Wochen altejs] sehr munterfes] Kätzchen, welchem ich durch einen Oeffnung am Hinterhaupt, mittelst eines kleinen Löffels, das grosse und kleine Hirn, so wie durch die Schraubensonde das Rückenmark heraus53 Vgl. z.B. das Kapitel »Uber den Einfluß des Herztodes auf den allgemeinen Tod« gut zugängig dank der Teilübersetzung von Bichats epochemachendem Werk in der Reihe »Klassiker der Medizin«: Xavier Bichat, Physiologische Untersuchungen über den Tod. Ins Deutsche übersetzt und eingeleitet von Rudolf Boehm, Leipzig 1912, S. 2 2 - 2 7 . 54 Das macht den Hirntod mit dem Lungentod vergleichbar (ebd., S. 127): »Die Zirkulation dauert noch einige Zeit in den beiden [...] Fällen.« 55 Carl August Weinhold, Versuche über das Leben und seine Grundkräfte, auf dem Wege der Experimental-Physiologie, Magdeburg 1817, S. 9. 56 Ebd., S. 23.
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nahm, worauf das Thier alles Leben, alle Sinnesfunctionen, die Bewegungen der willkührlichen Muskeln und nach und nach die Pulsation verlor«: »Nachdem ich aber beide Holen compress mit genanntem Amalgam [einem Amalgam aus Silber und Zink, R.B.] ausgefüllt hatte, gerieth das Thier an zwanzig Minuten lang in solche Lebensspannung, dass es den Kopf erhob, die Augen öffnete, einige Zeit starr vor sich hinsähe, in einer kriechenden Stellung zu gehen versuchte, einigemal wieder zusammen sank, sich endlich doch mit sichtbarer Anstrengung erhob, herumhüpfte und dann erschöpft niedersank. Das Schlagen des Herzens und die gesammte Pulsation, so wie der Kreislauf, war hierbei bedeutend lebhaft und dauerte noch fort, als ich nach 15 Minuten die Brust und Bauchhöle öffnete.« 57
Weinholds Katze und Krügers Patient gleichen sich in einer Hinsicht: Sie befinden sich in einem künstlich hergestellten Zustand. Doch sie unterscheiden sich in drei Punkten. Erstens: Während bei Krügers Patient die Bewegungen des Nervensafts per Selbstverzückung, Einflüsterung und Aderlass nur von außen manipuliert werden, wird bei Weinholds Katze gleich der ganze Nervenapparat künstlich hergestellt. Daraus folgt zweitens: Während der Patient -wegen falscher Vorstellungen anfängt, »um sich zu schlagen«, geht das Herumhüpfen der Katze auf gar keine Vorstellungen mehr zurück. Und schließlich drittens: Während bei Krüger die Einheit des pathologischen und theatralen Geschehens aus der Figur der Zirkulation hervorgeht, erweist sich der Blutkreislauf bei Weinhold als ein autonomes System, das seine Umwelt nur intern verarbeitet. Ob diese Umwelt aus echten Nerven oder bloß aus Zink und Silber besteht, ist - zumindest »an die zwanzig Minuten« - kaum von Belang.
57 Ebd., S. 35.
Jörn Steigerwald
Ideenzirkulation und Zirkulation von Ideen Zur empirischen Psychologie der Berliner Spätaufklärung (am Beispiel von Marcus Herz)
Spricht man heute von »Zirkulation«, so liegt meist eine offene oder verdeckte Referenz auf selbigen Begriff der Greenblattschen Terminologie vor, der als Leitkonzeption für den kulturellen Austausch in einem Netz von subtilen Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen einem »Zentrum« und dessen »Peripherie« steht.1 Neben diesen »makroexplikativen« und transhistorischen Begriff kann man jedoch auch die historisch präzisere Metapher der »Ideenzirkulation« stellen, die programmatisch für die Idee der europäischen Aufklärung nach Verbreiterang, Anreicherung und öffentlicher Gewinnung von Wissen steht. 2 Dies hat für den Leser einerseits den Vorteil, dass das »Makro« der Explikation geringer dimensioniert ist, doch zugleich den Nachteil, dass dies nur durch eine schärfere Begrifflichkeit ausgeglichen werden kann, die die historische Semantik des Begriffs präzise herausarbeitet. Dazu ist letztlich noch die »Zirkulation« als medizinhistorischer Begriff zu setzen, der schon vor William Harvey gängig war, jedoch durch die Entdeckung des Blutkreislaufs und in dessen Folge verstärkt Beachtung erhielt. 3
1 Vgl. Stephen Greenblatt, Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, F r a n k f u r t / M. 1993, insbes. S. 89-123, und ders., W u n d e r b a r e Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994. 2 Vgl. dazu grundlegend Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, F r a n k f u r t / M. 1962, sowie neuerdings in unterschiedlicher Perspektivierung Joseph Vogl, Ö k o n o m i e und Zirkulation u m 1800, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift f ü r Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 43,1 (1997), S. 69-78, und Harald Schmidt, Jungdeutsche Publizistik als Ideenzirkulation, in: Günter Oesterle / Martina Lauster (Hg.), Vormärzliteratur in europäischer Perspektive II, Bielefeld 1998, S. 2 0 7 - 2 2 8 . 3 Vgl. zu Harvey die klassische Studie von Walter Pagel, William Harvey's Biological Ideas, Basel 1967, insbes. S. 89-126, S. 169-108 u. S. 251-277, sowie Thomas Fuchs, Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes - Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs, F r a n k f u r t / M. 1992. Ü b e r den Fortgang dieses Paradigmas nach dem Aufk o m m e n des Vitalismus durch Stahl und Haller informiert ausführlich Roselyne Rey, Naissance et develloppement du vitalisme en France de la deuxième moitié du 18e siècle à la fin du Premier Empire, Oxford 2000.
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J ö r n Steigerwald
Die folgenden Überlegungen zur »Ideenzirkulation« sind allerdings bescheidener angelegt, da es in ihnen nur darum geht, den anthropologischen bzw. genauer psychologischen Begriff der »Zirkulation« in einem begrenzten Zeitraum - zwischen ca. 1770 und ca. 1790 - innerhalb der empirischen Psychologie 4 zu verfolgen und einige Anmerkungen zu innewohnenden Problemkonstellationen anzufügen. Wenn eine noch weitergehende Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes dabei vorgenommen wird, nämlich auf einen philosophischen Arzt und auch nur auf einige ausgewählte Werke desselben, so ist dies einem doppelten Umstand geschuldet. 5 Denn zum einen kann man anhand der Texte von Marcus Herz den Ubergang von »analogischen Relationierungen zwischen Vorstellungen und Sachen zu nichtanalogen, in gewisser Hinsicht arbiträren Perzeptionsabläufen« 6 exemplarisch nachvollziehen, der grundlegend für die Fassung des Begriffs der »Zirkulation« um 1800 ist. So gesehen handelt es sich bei Vorliegendem um eine Fortführung der Arbeiten Albrecht Koschorkes, die den Weg vom humoralen zum neuronalen Menschen nachzeichnen. 7 Zum anderen war Herz aber auch praktizierender Arzt, der seine theoretischen Überlegungen an seinen Patienten anwandte und gegenüber seinen Fachkollegen zu behaupten hatte. Dies soll in einem abschließenden Teil, der sich mit der »Zirkulation der Ideen« beschäftigt, wenn man mir diesen durchaus problematischen
4 Zur empirischen Psychologie allgemein vgl. Gert Mattenklott, D e r Ursprung der Freiheit aus der Katastrophe des Sinnenwesens. Ein Beitrag zur Dialektik der Aufklärung, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Bd.8, Frankfurt/ M . 1980, S. 5 0 - 5 6 , und Wolfgang Riedel, Influxus physikus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei J a c o b Friedrich Abel, in: Jürgen Barkoff / Edda Sagarra (Hg.), Anthropologie und Literatur um 1800, M ü n c h e n 1992, S. 2 4 - 5 2 , sowie speziell zu Herz die Studie von Mark Boulby, Marcus Herz the Psychologist, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Bd.8, Frankfurt/ M . 1980, S. 3 2 7 - 3 3 1 . 5 Bemerkenswert ist, dass Marcus Herz nicht im Ergänzungsband der Naturphilosophischen Schriften Schellings aufgeführt wird, obwohl diese den Anspruch erheben, die maßgeblichen Positionen der Medizin, Psychologie etc. vor und um 1800 zusammenzufassen. Vgl. Manfred Durner u.a. (Hg.), Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings Naturphilosophischen Schriften 1 7 9 7 - 1 8 0 0 , Stuttgart 1994. 6 Albrecht Koschorke, Wissenschaften des Arbiträren. Die Revolutionierung der Sinnesphysiologie und die Entstehung der modernen Hermeneutik um 1800, in: Joseph Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 1 9 - 5 2 , hier S. 20. Marcus Herz fungiert bei Koschorke als permanenter Referenzpunkt, ohne dass ihm jedoch selbst eine theoretisch durchdachte Position zugewiesen wird. 7 Vgl. dazu zusammenfassend die Habilitationsschrift von Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. Hier besonders die Kapitel I. »Zirkulationen«, S. 1 5 - 8 6 , II. »Substitutionen 1«, S. 8 7 - 1 6 8 , III. »Substitutionen 2«, S. 1 6 9 - 2 6 2 , sowie ders., »Clusters« o f Ideas. Social Interdependence and Emotional Complexity in David Hartley's Observation on Man and Adam Smith's Theory o f Moral Sentiments, in: Jürgen Schlaeger / Gesa Stedman (Hg.), Representation o f Emotions, Tübingen 1999, S. 1 1 3 - 1 2 4 .
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und nicht theoretisch fundierten Begriff erlaubt, vorgestellt und damit eine Ergänzung zu den meisten Studien zu Herz geleistet werden, die vor allem dessen theoretische Arbeiten untersuchen.
1. Der philosophische A r z t Marcus Herz Zunächst ein paar einleitende Worte zur Person Marcus Herz, da dieser immer noch eine weitgehend unbekannte und, neben seiner reizenderen Frau, auch verblassende Figur in der Berliner Spätaufklärung darstellt. 8 Nach einem Studium der Philosophie in Königsberg, während dessen er Immanuel Kant kennen lernt, wechselt er mit Empfehlungsschreiben desselben an M o ses Mendelssohn, Johann Georg Sulzer und andere zunächst nach Berlin, um nach einem anschließenden Medizinstudium in Halle wieder nach B e r lin zurückzukehren. Dort wird er innerhalb von kurzer Zeit Leiter des J ü dischen Krankenhauses und gehört mit zu den Beiträgern von Karl Philipp Moritz' »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«. 9 Zu seinen Briefpartnern gehört unter anderem Gotthold Ephraim Lessing, dessen Theorie und Praxis des Theaters für ihn vorbildlich ist. Seine Position im anthropologischen Feld lässt sich am besten doppelt fassen: einerseits als Komplement von M o ritz 10 und Salomon Maimón, und andererseits als Widerpart von Platner, da die beiden seit Herz' Rezension der Platnerschen »Anthropologie« in Opposition stehen. Zudem ist er einer der Förderer und Lehrer von Johann Christian Reil in dessen Berliner Zeit und bildet so eine Schnittstelle zwischen spätaufklärerischer und romantischer Medizin bzw. Psychologie. 11 Innerhalb des Vierecks Kant - Moritz - Lessing - Platner - , die Ausweitung zum Fünfeck mit Mendelssohn überschreitet leider meine Kompetenz, 12 möchte ich nun Herz positionieren und vorstellen. 8 Hervorzuheben ist die Monographie von Martin L. Davies, Identity or History? Marcus Herz and the End of the Enlightenment, Detroit 1995, sowie ders., Nachwort, in: Marcus Herz, Philosophisch-medizinische Aufsätze, hg. v. Martin L. Davies, St. Ingbert 1997, S. 102-110. 9 Vgl. zu diesem Kontext Martin L. Davies, Moritz und die aufklärerische Berliner Medizin, in: Martin Fontius / Anneliese Klingenberg (Hg.), Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, S. 2 1 5 - 2 2 6 , und allgemein Doris Kauffmann, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland 1 7 5 0 - 1 8 5 0 , Göttingen 1995, hier insbes. S. 2 5 - 1 1 0 . 10 Vgl. hierzu Lothar Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz' »Anton Reiser«, Frankfurt/ M. 1987, insbes. S. 5 0 - 7 5 . 11 Vgl. dazu Lee Ann Hansen, From Enlightenment to Naturphilosophie: Marcus Herz, Johann Christian Reil, and the Problem of Border Crossing, in: Journal for the History of Biology 2 6 (1993), S. 3 9 - 6 4 . 12 Zur Situierung von Marcus Herz im jüdisch-intellektuellen Feld der Berliner Spätaufklärung vgl. neben Davies, Identity or History, auch ders., Reason and Revulsion: Marcus Herz and the Enlightenment, in: German Life and Letters 4 9 (1996), S. 1 3 6 - 1 4 6 , sowie Liliane Weissberg, Erfahrungsseelenkunde als Akkulturation. Philosophie, Wissenschaft und
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Anfangen möchte ich mit der bereits erwähnten Rezension zu Platners »Anthropologie«, um dann, in einer partiellen Umkehrung der Chronologie, zunächst den »Versuch über den Schwindel« als weitgehendste Ausarbeitung seiner psychologischen Theorie von den »Vorstellungen« zu präsentieren, um sie anschließend mit seiner psychologischen Ästhetik, dem »Versuch über den Geschmack«, in Verbindung zu setzen.13 Abschließend soll noch anhand von zwei kleineren Texten die Verve und die Problematik der medizinischen »Haltung«, wie er sein beide »Versuche« verbindendes medizinisch-philosophisches Konzept nennt, aufgezeigt werden.
2. Herz' Rezension von Platners »Anthropologie« Doch zunächst zur Rezension von Platners »Anthropologie«.14 Angeregt, wenn nicht in Auftrag gegeben, von Kant, um die empirische Psychologie in ihre Schranken zu weisen, erschien sie 1773 in der »Allgemeinen deutschen Bibliothek«. Ihr vorausgegangen war bereits die 1771 in Königsberg erschienene Schrift »Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit« von dem der »Arzneygelahrtheit Beflissenen« Marcus Herz, in der selbiger eine, nach Meinung der Zeitgenossen, authentische Darstellung der Kantischen Position aus dessen Dissertation »De mundi sensibilis« vorlegte. So nimmt es nicht weiter Wunder, wenn Herz seine Besprechung damit beginnt, ein Bild von der Erweiterung des Wissens und der Erkenntnis auf einer allgemeinen Grundlage, der Philosophie, zu zeichnen: »[...] so ist es offenbar, dass d e r d e u t l i c h e n E r k e n n t n i s j e d e r e i n z e l n e n B e s c h a f f e n h e i t , die K e n n t n i s der a l l g e m e i n e n v o r h e r g e h e n m u ß , v o n der sie a b s t a m m t , u n d dass alle W i s s e n s c h a f t e n , w e l c h e j e n e z u m G e g e n s t a n d e h a b e n , diejenige v o r a u s s e t z e n m ü s sen, v o n w e l c h e r sie nichts als abgeleitete Folgen seyn. M a n k ö n n t e d a h e r nicht u n schicklich die Philosophie m i t e i n e m S t r o m e vergleichen, aus w e l c h e m die ü b r i g e n W i s s e n s c h a f t e n , in v e r s c h i e d e n e n E n t f e r n u n g e n v o n d e r Q u e l l e , gleichsam A r m e v o n b e y d e n Seiten ausfliessen, zu d e n e n m a n a b e r n i c h t k o m m e n k a n n , ausser w e n n m a n seine Farth, v o n d e r H a u p t q u e l l e des Stroms an d e r L ä n g e n a c h n i m m t . « 1 5
Lebensgeschichte bei Salomon Maimón, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), D e r ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 2 9 8 - 3 2 8 . 13 Zitiert wird mit Siglen nach folgenden Ausgaben: Marcus Herz, Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit, Königsberg 1771 (BsW); ders., Versuch über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit, Leipzig 1776 (VüG); ders., Versuch über den Schwindel, Berlin 2 1791 (VüS), und ders., Philosophisch-medizinische Aufsätze (PMA). 14 Z u Ernst Platners »Anthropologie für Aerzte und Weltweise« vgl. Alexander Kosenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. D e r philosophische Arzt und seine W i r k u n g auf J o h a n n Karl Wezel und Jean Paul, W ü r z b u r g 1989. 15 Marcus Herz, [Rezension zu:] Ernst Platners, der Arzeneykunst Professors in Leipzig, Anthropologie für Aerzte und Weltweise (Erster Theil, Leipzig 1772), in: Allgemeine deutsche Bibliothek 20,1 (1773), S. 25-51. Zitiert nach Herz, PMA, S. 7 - 2 3 , hier S. 7.
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Was ergibt sich aber nun durch die Erklärung der Philosophie zur Leitwissenschaft, und was bedeutet dies für die Arzneikunst, die hier besprochen werden soll? Zunächst einmal eine Privilegierung der letzteren, die ihrer Verschwisterung mit der Philosophie entstammt, da beide mit der »Natur der Seele« 16 beschäftigt sind. Nur durch eine philosophische Fundierung der Arzneigelahrtheit kann das Wechselspiel von Körper und Seele verstanden und damit die Erhaltung des menschlichen Körpers wirklich gewährleistet werden. Denn: »Jede Leidenschaft, jede Empfindung, jede Aeusserung einer Kraft, jede Idee in der Seele, hat ihre bestimmte Wirkung auf die Spannung der Fasern, auf die Erweiterung der Kanäle und auf den Umlauf der Säfte; und so auch umgekehrt, jede Veränderung in dem Körper hat ihre Folgen in den Zustand der Seele. Wie wichtig muß es also nicht für denjenigen seyn, der eins von beyden zu seinem Vorwurf macht, beyde genau zu kennen?« 17
Als surplus enthält diese Privilegierung der philosophischen Arzneygelahrtheit allerdings noch eine (Selbst)Ermächtigungsstrategie des philosophischen Arztes, der sich dadurch selbst eine hervorragende Position einräumt. Doch wie sieht ein solcher Arzt aus? Welcher Philosophie soll er anhängen? Und vor allem, wie sieht die Verbindung von Körper und Seele, die nach Herz allgemein bekannt ist, aus? Zunächst muss er ein Defizit festhalten, da eine Beschreibung eines solchen Arztes schon daran scheitert, dass es keinerlei Stellenprofil mangels universitärer Existenz für einen medizinischen Psychologen gibt. Denn im Anschluss an andere Wissenschaften werden leider allzu oft »Theile und Grenzen einer Wissenschaft mehr nach sinnlichen Aehnlichkeiten als nach wahren Verhältnissen bestimmt«.18 Das führt ihn zu folgender Differenzierung: ohne sich über die Wissenschaften als Ganzes äußern zu wollen, insistiert er darauf, dass zumindest in der Medizin Sätze noch nicht a priori aus reinen Vernunftbegriffen hergeleitet werden können, und dass »subtilere Sätze der Metaphysik, die von der anschauenden Erkenntnis so weit abstehen«,19 ebenfalls von äußerst geringem Nutzen für selbige sind. Damit löst er jedoch implizit die Medizin bzw. die Psychologie von der Metaphysik ab, der sie bis dato zugeordnet wurde. Das richtige Vorgehen eines Arztes kann allein auf der Basis der philosophischen Medizin erfolgen. Der zentrale Begriff für Herz und sein Differenzkriterium gegenüber Plainer bildet hierbei die »Verknüpfung«. D.h., dass der wissenschaftstheoretische Begriff der »Verknüpfung«, der zunächst nur die Verbindung von 16 Ebd., S. 8: »Die Arzeneygelahrtheit stehet ausser der allgemeinen Verknüpfung mit der Philosophie, mit einem Theile derselben noch in einer besondern Verschwisterung, nemlich mit demjenigen, der sich mit der Natur der Seele beschäftigt.« 17 Ebd., S. 8. 18 Ebd., S. 9. 19 Ebd.
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Philosophie und Medizin im Bereich der »Natur der Seele« beschrieb, zu einem disziplinaren der Medizin wird. Denn nur der Arzt, der die »Verknüpfung« von Seele und Körper anerkennt, d.h. versteht, dass es sich um zwei miteinander verknüpfte Dinge handelt, die aber ein Ganzes ausmachen, sieht ein, dass die Veränderung eines Teiles auch Folgen für den anderen haben muss. »[...] und endlich drittens darf der Arzt in seiner Theorie nie den Begriff der Verknüpfung ausser Acht lassen, welche zwischen der Seele und dem Körper statt findet. Zwey Dinge, die mit einander verknüpft sind, und ein Ganzes ausmachen, müssen von der Beschaffenheit seyn, dass ein jedes von ihnen den Grund von allen denjenigen enthält, was in dem andern vorhanden ist, und daher kein Zustand des einen verändert werden kann, wenn der Zustand des andern derselbe bleiben soll, dieses liegt in der Idee des Nexus, worauf bey allen Erklärungen Rücksicht genommen werden muß. Ein U m stand, der von den Psychologen sowohl als von den Arzeneygelehrten nur zu oft vernachläßigt wird, wodurch aber der Grund zu vielen falschen Hypothesen und Systemen gelegt wird.« 20
Gemäß Herz hat Platner allerdings bei seinen Überlegungen zu diesem Zusammenhang der falschen Philosophie nachgehangen, was ihn nicht selten zu einseitigen Erklärungen geführt hat, die »die wahre Verknüpfung von Körper und Seele aus den Augen setzte«.21 Man kann dies einstweilen als Opposition zwischen einer mechanistisch-materialistischen (Platner) und einer vitalistischen (Herz) Position fassen. Diese Überlegungen zur »Verknüpfung« stehen ihrerseits mit der Bewegung des Nervensafts und der » Circulation« der Lebensgeister in Verbindung, so dass eine kurze Zusammenfassung notwendig ist. So verwechselt Platner - nach Herz - Folge und Ursache in der Natur, wenn er postuliert, dass der Mensch klare (deutliche) Vorstellungen habe und somit das Vermögen haben müsse, Dinge nach Merkmalen zu erkennen und Vernunft zu besitzen. Auch negiert er den Einfluss von Empfindung und Willen auf das mechanische Leben des Körpers und kappt die Verbindung von dieser Seite. Hinzu kommt, dass Platner eine unbotmäßige, weil spekulative Trennung des Körpers in Einzelteile vornimmt, wo er eine Vernetzung hätte annehmen sollen. Nur so kann er darauf verfallen zu behaupten, dass die Seele und der Körper gelegentlich z.B. im Schlaf - ohne Verbindung sind und damit die Seele ohne »Vorstellungen« ist. Eine Behauptung, der Herz grundsätzlich widerspricht und der Seele stattdessen ein »Bewusstseyn ihrer selbst«22 zurechnet. Was das Gehirn und die Nerven betrifft, so folgen Herz und Platner dem zeitgenössisch wahrscheinlichsten System, dem des Nervensaftes. 23 Doch auch hier erfolgt
20 Ebd., S. 10. 21 Ebd., S. 11. 22 Ebd., S. 15. 23 Vgl. zum Kontext dieser Einschätzungen Platners und Herz' Michael Hagner, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin 1997.
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sofort die Differenzierung. So bedarf es für ersteren keineswegs einer Begründung des Nervensaftes durch ein mögliches Dasein von Kanälen, wie dies bei Platner der Fall ist. Das führt zur grundlegenden Kritik Herz' an der Platnerschen Semantik und Konstruktion der Verbindung von Körper und Seele. Bedeutend ist diese Kritik besonders dadurch, dass es sich hierbei um die »eigentlichen Gründe[n] der Anthropologie« handelt. 24 Sieht Platner eine Analogie zwischen »äußerer« und »innerer Impression«, die sich in einer partiellen körperlichen Ähnlichkeit der Spuren im Gehirn zeigt, so betrachtet Herz zum einen die Verortung als falsch, da die »Ideen« nicht im Gehirn, sondern in der Seele lägen. Genauer führt er dies im weiteren an den »Gedächtnisideen« aus, wobei er zu folgenden Ergebnissen kommt: Zunächst wendet er ein, dass Platner nicht blind Lockes Kritik an der cartesianischen Theorie der »idées innées« hätte folgen dürfen, sondern durchaus die Leibnizsche Reaktion auf Lockes Einwände hätte berücksichtigen müssen. Darauf aufbauend formuliert er dann seine weitere Kritik. Den Ausgangspunkt bildet der § 189 der Platnerschen »Anthropologie«, in dem dieser behauptet, dass die Seele nicht beständig denkt, da z.B. im Schlafe die »Gedächtnisideen« im Gehirne und nicht in der Seele liegen. Für Herz ist diese Aussage nicht allein unverständlich, sondern sogar grundweg falsch. Hat doch das körperliche Gehirn nichts mit den »Ideen« zu tun, und zudem hat allein die Seele das Vermögen zu träumen. Daraus folgt: »Alles was zugegeben werden kann und muß, ist, das mit jeder Idee in der Seele eine Bewegung im Gehirn verknüpft ist, und dass beym Erinnern einer Idee dieselbe Bewegung wieder rege wird, die bey ihrer Entstehung sie begleitete, aber ohne den Begriff in der Seele sind diese Eindrücke, diese Bewegungen im Gehirn, nichts als jede andere nichtsbedeutende körperliche Veränderung.«25
Es handelt sich also wiederum um eine Verknüpfung der »Ideen« in der Seele mit den Bewegungen im Gehirn, die nicht einfach gekappt werden kann. Auch Platner folgt vorderhand dieser Logik, auch wenn es im weiteren grundlegende Unterschiede zu verzeichnen gibt. Ausgangspunkt ist die Behauptung, dass jedes Objekt »vermittels einer Bewegung auf die Empfindungsnerven eines gewissen Organs eine Impression« macht, die Platner »äußere Impreßion« nennt. Die »innere Impreßion« resultiert für Herz daraus, dass eine »äußere Impreßion« »durch den Nervensaft nach dem Gehirnmark fortgepflanzt [wird], welches eine weiche Maße ist, die der Bewegung der Lebensgeister nicht widerstehen kann, und daher von derselben Spuren behalten muß«. 26 Zudem behauptet er die Möglichkeit einer körperlichen Ähnlichkeit zwischen »inneren« und »äußeren Impreßionen«. Die Fort-
24 Herz, Rezension, S. 16. 25 Ebd., S. 17. 26 Ebd.
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pflanzung der »äußeren Impreßionen« unterliegt nun verschiedenen Kriterien, die alle auch dysfunktional werden können: 1. die Berührung der »Organa« durch die Objekte, 2. die richtige Anzahl an Lebensgeister in den Nerven, 3. die freie Bahn der Lebensgeister zum Gehirnmark und 4. die geeignete Konsistenz des Gehirnmarks selbst, da eine falsche Beschaffenheit desselben die »innere(n) Impreßionen« unmöglich mache. Doch auch diese bewirken noch keine Tätigkeit der Seele, da noch eine weitere Aktivität hierfür vonnöten sei. »Allein die bloße innere Impression ist doch n o c h nicht hinreichend die Seele zur Aufmerksamkeit zu reitzen, wäre dies, so müsste die Seele sich aller Impressionen im gleichen Grade bewusst seyn. Herr P. n i m m t daher in den markichten Kanälen selbst n o c h eine Circulation der Lebensgeister an, w e l c h e die Aufmerksamkeit der Seele überhaupt belebt, und damit dieselbe auf eine gewisse Impression gerichtet werde, so m u ß in d e m Theile, w o die Impression geschieht, eine solche B e w e g u n g der Lebensgeister gemacht werden.« 2 7
Die Bewegung der Lebensgeister wie auch die »Aufmerksamkeit« können zudem verschiedene Grade erreichen, so dass die Wahrnehmung ebenfalls unterschiedlich ist. Besonders starke Eindrücke rufen demnach angenehme oder schmerzhafte bzw. neue und unerwartete hervor. Das Gedächtnis wiederum unterscheidet Platner zunächst nach drei Wirkungen, nach der Empfänglichkeit bzw. der Wirkung zu fassen, dem Behalten und der Erinnerung. Das Behalten versteht er dabei »blos als ein Geschäft des Gehirns und das Erinnern lediglich als einen geistigen Aktus der Seele«.28 Als Beispiel hierfür nimmt er die Ausdrücke »ein gutes« bzw. »schlechtes Gedächtnis haben«, die einen dreifachen Sinn haben könnten, »in so fern sie [die Ausdrücke, J.S.] sich nemlich auf die Empfänglichkeit, das Behalten oder die Erinnerung beziehen«. 29 Gerade diese Möglichkeiten kann Platner anhand seiner Theorie von der »Circulation der Lebensgeister« im Gehirnmark sinnfällig beschreiben. Herz folgt ihm in diesen Punkten, doch widerspricht er Platner in dem Punkt, dass die Gedächtnisideen nicht, wie Platner behauptet, im Gehirn, sondern in der Seele liegen. Denn auch hier, so Herz, missachtet Platner vollkommen den Begriff des Nexus. Unter Verweis auf Leibniz und Baumgarten behauptet er ein Bewusstsein der »Ideen« in der Seele, die aber möglicherweise durch die »Dunkelheit« nicht wahrgenommen werden können. 30
27 Ebd., S. 18. 28 Ebd., S. 19. 29 Ebd. 30 Herz folgt hier nicht nur den theoretischen Vorgaben der Leibniz-Wolff-Schule, sondern auch ihrer Terminologie. Erst mit dem VüS findet sich dann eine Veränderung. Zu Theorie und Terminologie der Schulphilosophie vgl. Hans Adler, fundus animae-der Grund der Seele. Zur Gnoseologie in der Aufklärung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), S. 197-220.
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» D e n n giebt es Zeiten w o wir uns keiner deutlichen Vorstellung in der Seele bewusst seyn, als im Schlafe, in O h n m ä c h t e n u.s.w., so m u ß die Seele während dieser Zeit ihr Wesen verlieren oder nicht; das erste kann nicht zugegeben werden, oder man müsste unzähliche Vernichtungen u n d Schöpfungen im menschlichen Leben annehmen; also das letzte, da nun aber das Wesen der Seele in Vorstellungen besteht, so sieht m a n offenbar, dass sie wenigstens solche haben m u ß , deren wir uns nicht deutlich bewusst sind. [...] Die Vertheydiger der dunklen Ideen k ö n n e n H e r n . Platnern mit gleicher Befugniß wider seine Ideen im Gehirn einwenden, dass sie o h n e Erfahrung a n g e n o m m e n seyn, denn noch ist es wohl nie einem Zergliederer geglückt, im Gehirne die mindeste Spuren einer Idee zu entdecken, u n d eben so gewiß es a priori ist, dass die Ideen in der Seelen mit Veränderungen in d e m Gehirn verknüpft sind, eben so ausgemacht ist es, dass alle Hypothesen, die in der Absicht erfunden sind, u m diese Art der Veränderung im Gehirn zu erklären, auf nichts als auf wahrscheinliche M u t h m a ß u n g e n sich gründen.« 3 1
Auch der Behauptung Platners in § 377, dass die Gedächtnisideen allein im Gehirn liegen, widerspricht Herz. So führt er einerseits das Argument auf dessen eigentlichen Urheber - Hume - zurück, um dessen Begründung und Auflösung des Problems gleich mitzuliefern. Andererseits erläutert er, dass immer ein »Aktus in der Seele« den Spuren der Gedächtnisideen im Gehirn vorangehen muss, um die Gedächtnisimpressionen in Bewegung zu versetzen, wenn sie an ein Objekt erinnern will, dessen Zeichen sie ist. »Dieses [Hypothesen i.e. die Erregung von Gedächtnisimpressionen, J.S.] kann sie aber nicht, ausser sie m u ß schon vorher eine Vorstellung von der Impression haben, u n d zwar als Zeichen des zu e r i n n e r n d e n Objekts, denn Wille setzt i m m e r eine Vorstellung voraus, folglich müsste sie die nemliche Idee schon haben, ehe sie sie noch gehabt hat.« 32
Letztlich kritisiert Herz auch Platners Theorie der Analogie entschieden: Die Verbindungen zwischen den Wirkungen, welche die Figuren eines Körpers auf die Empfindungen machen, und die Beschaffenheit der Gedanken sind zu heterogen, als dass eine Analogie behauptet werden könne. Denn gerade dort, wo Plainer quasi physiognomisch verfährt und das »Genie« an äußere körperliche Gegebenheiten binden möchte, widerspricht ihm die Empirie, wie Herz am Beispiel Newtons erläutert: »[...] denn, dass Menschen, wie H e r r P. sagt, die eine zärtliche Lebensart in N a h r u n g u n d B e w e g u n g führen, eine zärtliche u n d sieche Leibesbeschaffenheit, einen großen gewölbten Kopf, ein G e h i r n mit vielen Biegungen, u n d d ü n n e n Säften besitzen, Genie haben, u n d die von entgegengesetzter Beschaffenheit, die des Genies unfähig seyn, sind etwas flüchtige Beobachtungen, die hie u n d da von einzelnen Subjekten abstrahirt sind, u n d die so viele A u s n a h m e n leiden, dass sie nichtsweniger, als d e n N a m e n B e o b a c h t u n g e n verdienen. Derjenige, der von allen M e n s c h e n e i n m ü t h i g f ü r das größte Genie erkannt wird, der unsterbliche N e u t o n , war kein sieches M ä n n c h e n , sondern soll von sehr starker Leibesconstiturion gewesen seyn [,..].« 33
31 Herz, Rezension, S. 20. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 23. Die hier angesprochene Thematik bildet denn auch eine zentrale Problematik in Lavaters »Physiognomischen Fragmenten«. Im Fragment VIII. des ersten Bandes,
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So kann der Rezensent Herz abschließend noch die Hoffnung aussprechen, in einer Fortsetzung von Platner den ausstehenden Teil, eben den - vom Verfasser eigentlich negierten - Einfluss der Seele auf den Körper zu erhalten, wohl wissend, dass dieser das wohl nicht leisten mag, während er Herz - selbst schon daran arbeitet.
3. Marcus Herz' »Versuch über den Schwindel« (1786/1791) Diese einnehmende Form von self-fulfilling-prophecy findet ihre Einlösung in dem großangelegten »Versuch über den Schwindel«, der zuerst 1786 und dann stark überarbeitet und erweitert 1791 erschien. Der »Versuch« ist mittlerweile sehr gut in seinen Strategien und Kontexten untersucht worden, so dass ich mich hier auf einige zentrale Punkte unter Fokussierung auf die Zirkulation beschränken kann.34 Der Ausgangspunkt ist der bereits bekannte: die Medizin hat zwar schon »einen hohen Grad an Vollkommenheit« erreicht, doch muss sie noch durch ihre Verbindung zur Seelenlehre ergänzt werden, um »ihre sehr nöthige Kultur zu erreichen«,35 da so z.B. Nervenkrankheiten wie Krämpfe durch probate Gegenmittel, wie die neuartige Gemütserregung bzw. -besänftigung, die Konzentration der »Aufmerk-
»Von der Wahrheit der Physiognomie«, heißt es - wieder unter Bezug auf N e w t o n : »Der gesunde Menschenverstand empört sich in der That gegen einen Menschen, der behaupten kann: dass Neuton und Leibnitz allenfalls ausgesehen haben könnten, wie ein Mensch im Tollhause, der keinen festen Tritt, keinen beobachtenden Blick thun kann; und nicht vermögend ist, den gemeinsten abstracten Satz zu begreifen, oder mit Verstand auszusprechen; dass der eine von ihnen im Schädel eines Lappen die Theodizee erdacht, und der andere im Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht, als auf sechse zählen kann, und was drüber geht, unzählbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichtstrahl gespaltet hätte? [...] Er [der gesunde Menschenverstand, J.S.] verkehrt alle O r d n u n g und Verknüpfung der Dinge, wodurch sich die ewige Weisheit dem Verstände so preiswürdig macht.« Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig 1775-1778, hier Bd.l, S. 46f. (Hervorhebungen im Text). Das Lavatersche Verfahren der natürlichen Verknüpfung von Innen und Außen besteht bei N e w t o n in ein e m Modellierungsverfahren, das erst in einer antikisierenden Wiedergabe ein reales Abbild des Genies sehen will, obwohl gerade dieses reine Transformationsarbeit darstellt. Vgl. dazu ebd., Bd.2, S. 276-279. 34 Vgl. LeeAnn Hansen, From Enlightenment, u n d dies., Metaphors of Mind and Society: The Origins of German Psychiatry in the Revolutionary Era, in: Isis 89 (1998), S. 3 8 7 - 4 0 9 , sowie Michael Hagner, Psychophysiologie und Selbsterfahrung. Metamorphosen des Schwindels und der Aufmerksamkeit im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, und ders., Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand, in: Norbert Haas u. a. (Hg.), Aufmerksamkeit. Liechtensteiner Exkurse III, Eggingen 1998, S. 273-294. Z u m anthropologisch-literarischen Kontext vgl. Jörn Steigerwaid, Schwindelgefühle. Das literarische Paradigma der »Darstellung« als Anthropologikum (Klopstock, Sulzer, Herz, Hoffmann), in: Thomas Lange / Harald Neumeyer (Hg.), Kunst und Wissenschaft u m 1800, W ü r z b u r g 2000, S. 109-132. 35 Herz, VüS, S. 2.
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samkeit« 36 auf gewisse Gegenstände oder einfach die Verdunklung von »Vorstellungen« geheilt werden können. U m dies zu gewährleisten, sind zwei Schritte notwendig, die den Status der Erfahrungspsychologie betreffen. Zum einen muss sie, ihrem eigentlichen Zusammenhang entsprechend, in das Gebiet der Naturlehren überführt und damit von der Metaphysik befreit werden, da diese nur Spekulation und Schwärmerei sei. Damit ist der Schritt, der in der Rezension nur implizit verhanden war, hier explizit vollzogen. Doch muss zum anderen eine Metaebene eingezogen werden, auf der über das angewandte Verfahren philosophiert wird, d. h. nach Anleitung der Philosophie die Vernunft zum Gebrauch gebildet und so neue Erkenntnisse verschafft werden können. Folgt man dieser Vorgabe, so erkennt man, dass die Psychologie als Teil der Naturlehre neben der Wissenschaft von den Körpern steht. Denn »ihre Grundsätze sind eben so aus der Erfahrung hergenommen, wie die Grundsätze der Körperlehre, und die Eigenschaften der Seele werden eben so durch Anschauung vermittelst des innern Sinnes erkannt, wie die Eigenschaften der Körper durch Anschauung der äußern Sinne.« 37 W i e sieht aber nun die Seele aus? Nach Herz muss sie so begriffen werden: ihr ganzes Wesen besteht in Vorstellungen, 38 wobei zu differenzieren ist zwischen »vorstellen« und »sich vorstellen«. Ersteres heißt, »den nächsten Grand erhalten, dass etwas von einem belebten Wesen empfunden, gedacht etc.« 39 werden kann, während letzteres bedeutet, dass der »Grund des Gedenk· oder Empfindbaren und das Denkende oder Empfindende« zusammenfällt und es sich um »etwas Thätiges« handeln muss. 40 Diese »Thätigkeit der Seele« unterliegt nun wiederum gewissen Regularien, wie der »Aufmerksamkeit«, der »Geschwindigkeit« und der »Wiederholung«, die die »Klarheit« und die »Lebhaftigkeit« der »Vorstellungen« beeinflussen. Dabei sind alle Extreme zu vermeiden, da sie zu Kippphänomenen werden können, die eine Kollabierung des Menschen herbeiführen; so führt eine zu
3 6 Die Kategorie der »Aufmerksamkeit« hat in den letzten Jahren verstärkt das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Vgl. dazu allgemein den Sammelband von Aleida Assmann / Jan Assmann, Aufmerksamkeit, München 2001, und für den hier behandelten Zeitraum Barbara Thums, Die schwierige Kunst der Aufmerksamkeit auf dem Weg zur (körperlichen) Selbsterkenntnis - Selbstbeherrschung - Selbstbelebung, in: Dies. / Britta Herrmann (Hg.), Ästhetische Erfindung der Moderne. Perspektiven und Modelle 1 7 5 0 - 1 8 5 0 (im Druck), und Hagner, Psychophysiologie und Selbsterfahrung. 37 Herz, VüS, S. 32. 3 8 Vgl. ebd., S. 37f.: »Das ganze Wesen der menschlichen Seele besteht in Vorstellungen. Alle ihre Fähigkeiten und Aeußerungen müssen, so wie die Eigenschaften jedes andern Dinges, auf dessen Wesen, auf dieses ihr Grundvermögen, Vorstellungen zu haben, zurück gebracht werden können. Wille, Verstand, Einbildung, Gedächtnis u.s.w. sind nichts als verschiedene Modificationen dieser Haupttätigkeit, sich Dinge vorzustellen.« (Hervorhebungen im Text). 3 9 Ebd., S. 39. 4 0 Ebd., S. 4 0 .
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große Schnelligkeit der »Vorstellungen« genauso zum »Schwindel« wie das zu lange Verweilen bei einer einzigen. Was Herz hiermit leistet, ist nichts geringeres als die Übertragung der Kantschen »Anschauungsformen« von Raum und Zeit aus der »Kritik der reinen Vernunft« auf das Gebiet der empirischen Psychologie. 41 Und das, obwohl er doch antreten sollte, um die empirische Psychologie zu desavouieren. Doch das genaue Gegenteil tritt ein, was auch zu einem frostigeren Verhältnis zwischen Herz und Kant führt, das dann mit dem Erscheinen der »Kritik der Urteilskraft« fast zum Erliegen kommt. 42 Deutlich wird diese Übernahme der »Anschauungsformen« bei der Erklärung des Verhältnisses der »Vorstellungen« gegeneinander, da diese einem Ordnungssystem unterliegen, die einen ordentlichen Fortgang gewährleisten: »Zu der Ordnung überhaupt gehört n o c h ferner die Vollkommenheit, die Harmonie und Symmetrie, w e l c h e alle besondere Arten von Ordnung sind, die den Fortgang der Seele beschleunigen; indem bey allen die Regel der Uebereinstimmung der Mannichfaltigkeit zur Einheit z u m Grunde liegt. Eben so kann man die Verwandtschaft der Vorstellungen der Zeit und d e m R ä u m e nach dahin rechnen; da Raum und Zeit im Grunde nichts anders sind, als eine Art von Ordnung in der Seele, nach welcher allein es ihr möglich ist, sich die D i n g e sinnlich, d.i. neben und nach einander vorzustellen«. 4 3
Aber die »Vorstellungen« haben nicht nur ein Verhältnis zueinander, sondern auch eine Beziehung aufeinander, die Herz als »Causalbeziehung« versteht, wobei er auch pathogene Elemente festmacht, wie z.B. die nicht geglückte Auflösung von Umständen eines Vorgangs oder falsche Analogieschlüsse, die zu »ungereimtesten Vorurtheilen und gröbsten Aberglauben« 44 führen. Aus all diesem folgt für Herz eine Bestimmung der »Seele« nach folgenden Punkten: erstens ist »Vorstellung haben« kein leidender, sondern ein thätiger Zustand der »Seele«, zweitens braucht die »Seele« eine gewisse Zeit zur Verarbeitung einer »Kraftäusserung«, wobei zuviel wie zuwenig schädlich ist, drittens bedarf es einer Pause bei der Verarbeitung von »Vorstellungen« zwischen diesen, die ebenfalls normalisiert sein muss, wobei diese Pause - Herz nennt sie »Weile« - je nach »Vorstellung« verschieden ist, was vom Grad der »Einerleykeit« der »Vorstellungen« abhängt. Eine totale ermöglicht einen schnellen Übergang der »Vorstellungen«, eine partielle kann zu Stockungen führen. 41 Man könnte diese konzeptionelle Fassung der »Vorstellungen« auch unter Berufung auf Leibniz' Theorie der »petites perceptions« und deren Fortführung in der Schulphilosophie erklären und sich zudem dabei auf Herz' eigene Beziehung darauf - wie sie die Platner-Rezension ausweist - stützen. Doch würde man damit Herz' eigenen Impetus verkennen, dessen Anliegen gerade die Verbindung von Kantscher Philosophie und empirischer Psychologie bildet. 42 Vgl. dazu auch die endgültige Absage Kants an die empirische Psychologie, die sich in seinem Spätwerk, der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, findet. 43 Herz, VüS, S. 87 (Hervorhebungen im Text). 44 Ebd., S. 100.
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Doch was ist nun die Basis, auf der Herz seine psychologischen Theoreme ausbreitet? Ganz in Übereinstimmung mit seinen Zeitgenossen natürlich eine physiologische. Denn, so Herz, da wir nicht die unmittelbare Ursache der Seelenzustände sehen, müssten wir zu einer mittelbaren Zuflucht nehmen, die selber nur höchstwahrscheinlich sei: der Bewegung des »Nervensaftes«. Aufgrund der gegebenen Daten müssten wir nun einmal annehmen, dass jede Veränderung der »Seele« eine entsprechende Veränderung im Körper herbeiführe, doch allein in dem Körperteil, mit dem ihre Verbindung am nächsten sei: im Gehirn und in den Nerven. Doch wie der Begriff der »Verbindung« impliziert, ist die Bewegung des »Nervensaftes« keineswegs konstant, sondern abhängig von den »Kraftäusserungen« der »Seele«. Wichtig dafür ist noch die Berücksichtigung eines dritten Faktors, des Blutumlaufs, da sich die Absonderung und Bewegung des »Nervensaftes« nach diesem richtet. Der »Schwindel« ist dieser Argumentation nach eine zu schnelle Abfolge der »Vorstellungen« im Verhältnis zu ihrem natürlichen Ideengange. »Offenbar muß die Seele alsdann [bei einer zu schnellen Folge der Vorstellungen, J.S.] zu einer widernatürlich kleinen Weile gezwungen, und eben deswegen in einen entgegengesetzten gewaltsamen Zustand gesetzt werden. Es wird nehmlich ihre Kraft durch die Uebereilung der Vorstellungen zu sehr angestrengt, und von jeder einzelnen, ehe sie noch ihre Tätigkeit auf dieselbe vollendet hat, fort und zu der folgenden hin gerissen. Daraus entsteht in der Seele, so lange diese Abweichung von der natürlichen Weile nur gering ist, ein merklicher Grad von Lebhaftigkeit: sie fühlt sich munter und thätig, wie bey dem Anfang der Berauschung; steigt die Abweichung aber bis zu einem ansehnlichen Grade, oder hält überhaupt die ganze Reihe von Vorstellungen eine ungewöhnlich lange Zeit an: so ermüdet die Kraft; jede einzelne Vorstellung verliert ihre Klarheit und Lebhaftigkeit, und wegen ihrer zu geschwinden Folge fallen sie alle in einander: die Seele unterscheidet sie nicht mehr deutlich, sondern stellt sie sich als ein verworrenes Ganze vor, in dem weder Ordnung noch faßliche Abstechung der Theile sich findet; und endlich geräth sie selbst in den Zustand der Verwirrung: einen Zustand, der eigentlich den Schwindel ausmacht.« 45
Logischerweise hat er sowohl eine schnelle Absonderung des »Nervensaftes« und einen verstärkten Zufluss des Blutes nach dem Gehirne zur Folge, wie er auch durch diesen selbst hervorgebracht werden kann. Doch gerade an diesem Punkt wendet sich Herz gegen jede Analogie von äußerem Reiz bzw. Gegenstand und innerem Eindruck, da dies eine falsche Relationierung sei, und postuliert statt dessen eine arbiträre Beziehung, da eine analoge nicht weiter nützlich sei. Was nun den »Nervensaft« betrifft, so ist dies der Herzsche Begriff für die »Lebensgeister«, die dadurch dem Blut und dem Milchsaft gleichgestellt werden. Wie diese in den Adern, so fließt jener in den Nerven. Die Lebensgeister selbst werden nur noch als Annahme vorgestellt, die nicht durch sinnliche Anschauung, sondern durch die Gegenwart »cylindrischer Theile« im Körper für wahrscheinlich angesehen
45 Ebd., S. 173 f.
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werden. 46 Aber auch hier wendet sich Herz wieder gegen jede Analogie von »Nervensaft« und anderen Körpersäften, wie Tränenflüssigkeit etc., da diese für ihn schlichtweg nicht gegeben ist.47 Der Grund hierfür liegt für ihn in der mechanischen Erklärungsart der Seelenveränderungen, die Grundeigenschaften mit abgeleiteten Eigenschaften der »Seele« verwechselt. Denn: »Vorstellung« und Bewegung sind so heterogen, dass die Auflösung ihrer Verbindung nur die Kluft zwischen beiden anzuzeigen vermag, doch kann man dem Materialismus nicht ausweichen, da jeder bildlichen Anschauung in der Seele eine Abbildung des Angeschauten zugrunde liegen muss. Allerdings kann es hierfür keine Erklärung geben, da dies die Schranken der menschlichen Erkenntnis übersteigt. 48 Doch auch wenn eine Erklärung nicht möglich ist, so kann man doch eine Umsetzung der Erkenntnisse vornehmen, die durch das angewendete Verfahren gewonnen wurden. Denn dann liegt keine falsche Analogie mehr vor, sondern eine richtige Einschätzung der Verhältnisse bzw. der Verknüpfung. Für den »Schwindel« bedeutet dies in aller Kürze, dass er »eine sehr natürliche Folge vom Anblick einer Kreisbewegung, und eine unmittelbare von dem widernatürlichen Zustande der Seele« ist.49 Widernatürlich, weil die Seele nicht die natürliche Weile zur Verarbeitung der »Vorstellungen« hat und damit die »Aufmerksamkeit« durch die erhöhte Geschwindigkeit überfordert ist. Doch lassen diese Erkenntnisse Gegenmittel zu, die eine lebensverlängernde »Kur« ermöglichen. 50 So wirkt z.B. die Gewohnheit als perfekter Regulator, indem sie die Überzeugung von der Sicherheit, in der sich der Patient befindet, schafft. Aber es gibt noch weitere, sichere Behandlungsmethoden, die durch die Zusammenarbeit von Medizin und Philosophie gewonnen werden können. Zum einen der »Gegenreiz«, dann die »Ableitung« und letztlich die »Erschlaffung«. Allerdings handelt es sich hierbei um rationelle Mittel der Behandlung von Patienten als eigentliche Spezifika gegen den Schwindel. 51 Die philosophisch geleitete Medizin bedarf folglich bei ihrer Umsetzung der Hilfe bzw. der Unterstützung von einem ganz an-
46 Vgl. ebd., S. 204: »Viertens, das ganze Daseyn dieser Lebensgeister erkennen wir weder durch sinnliche Anschauung, noch durch sonstige Erfahrung, sondern nehmen es bloß wegen der Gegenwart gewisser cylindrischer Theile im Körper, die wir für gefäßartig halten, als höchstwahrscheinlich an.« 47 Vgl. ebd., S. 205: »Fünftens endlich, ist eine solche widernatürliche Bewegung des Nervensaftes mit dem Verhalten der meisten übrigen Säfte in unserm Körper ganz unanalogisch. Die Feuchtigkeit im Auge, die Galle in der Blase, die Milch in ihrem Behälter werden keinesweges durch die verschiedenen Drehungen und Wendungen des Körpers von ihrer bestimmten Richtung innerhalb ihrer eigenthümlichen Gefäse gebracht.« 48 Ebd., S. 249. 49 Ebd., S. 356. 50 Vgl. hierzu besonders das »Vierte Hauptstück«, in dem die verschiedenen Kurmethoden vorgestellt werden. Ebd., S. 375-448. 51 Vgl. besonders den dritten Abschnitt des »Vierten Hauptstücks«, der sich mit dem »Schwindel« als Nervenkrankheit beschäftigt. Ebd., S. 4 2 8 - 4 4 8 .
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deren Gebiete als ihrem eigenen, rein theoretischen Gebäude: nämlich von einem praktischen. Man könnte nun in einer Weiterführung diese Theoreme komplementieren im Sinne der poetischen Konterdiskursivität, wie sie jüngst Rainer Warning auf Carlos Castoriadis' Konzept des sozialen Imaginären aufbauend vorgelegt hat.52 Doch wurde die ästhetische Dignität des »Schwindels« für die ästhetische Moderne schon zu häufig hervorgehoben, als dass dies nochmals nötig wäre.53 Daher möchte ich mich eher der psychologischen Praxis zuwenden, auch wenn dies über einen erneuten Umweg der Theorie geschieht.
4. Marcus Herz' »Versuch über den Geschmack« (1776/1790) Marcus Herz ist sich der Situation durchaus bewusst, dass er eine praxisorientierte Grundlegung für seine medizinischen Anwendungen braucht. So entwickelt er in seiner psychologischen Ästhetik, dem »Versuch über den Geschmack«, eine eigene Fundierung derselben.54 Nach einer ersten Fassung, die 1776 publiziert wurde, erschien eine zweite Fassung - mit einem Anhang über die Baumgartensche Ästhetik55 - fast zeitgleich mit der zwei-
52 Vgl. Rainer Warning, Poetische Konterdiskursivität: Z u m literaturwissenschaftlichen U m g a n g mit Foucault, in: Ders., Die Phantasie der Realisten, M ü n c h e n 1999, S. 313-345. Warning stützt sich dabei auf den Klassiker der französischen Soziologie von Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, F r a n k f u r t / M. 1990. 53 Vgl. dazu die Studie von Günter Figal, Krise der Aufklärung - Freiheitsphilosophie und Nihilismus als geschichtslogische Voraussetzung der Moderne, in: Silvio Vietta / Dirk Kemper (Hg.), Ästhetische Moderne in Europa: Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, M ü n c h e n 1997, S. 57-70, der dies an Kierkegaard festmacht, sowie das Kapitel zu »Prinzessin Brambilla« in Jörn Steigerwald, Die fantastische Bildlichkeit der Stadt. Z u r Begründung der Fantastik im Werk E.T.A. Hoffmanns, W ü r z b u r g 2001. 54 Vgl. hierzu auch die Rezension der zweiten Auflage von Karl Philipp Moritz, Ü b e r des Professor H e r z Versuch über den Geschmack (An H e r r n Salomon Maimón), in: Ders., Werke in zwei Bänden, hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier, F r a n k f u r t / M. 1997, hier Bd.2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie, S. 1030-1033. Moritz opponiert einerseits gegen H e r z ästhetischen Begriff der »Haltung«, u m seinen der »Bildung« entgegenzusetzen, postuliert aber andererseits die Richtigkeit des Herzschen Gedankengangs, da er seinem Autonomiegedanken des »in sich selbst vollendeten Kunstwerks« entspricht: »Da n u n bei den schönen Künsten ebenfalls die Haltung in der verhältnismäßigen Ubereinstimm u n g der Teile zum Ganzen besteht, so fällt ja auf die Weise der Begriff der Haltung wieder in sich selbst zurück; die Haltung soll der Haltung zur Regel dienen; die Haltung soll der Endzweck der schönen Künste sein, was heißt das anders, als der Endzweck der schönen Künste liegt in ihnen selber, denn die Haltung, oder die harmonische Übereinstimmung macht j a ihr Wesen aus.« Ebd., S. 1033. 55 Auch dieser Rückgriff Herz' auf Baumgartens Fassung der Ästhetik weist auf die steigende Differenz zu Immanuel Kant. Hatte doch dieser in der »Kritik der Urteilskraft« ver-
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ten Fassung des »Versuchs über den Schwindel« von 1790. Er selbst sieht seine Schrift als psychologisch fundiertes Komplement zu Herders Preisschrift »Ursache des gesunknen Geschmacks bey den verschiedenen Völkern da er geblühet« von 1775 und bittet um die Aufmerksamkeit der Weltweisen auf seine Theorien der »Haltung« und des »Interesses«.56 Der erste Begriff, die »Haltung«, soll hier besonders interessieren. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Bestimmung, dass der »Geschmack« ein Seelenvermögen ist, das sich zur »Thätigkeit« erheben muss, um einen höheren Wert zu erhalten. Wichtig ist dies dadurch, dass der Geschmack als Richter über Schönheit und Hässlichkeit nicht nur im Gebiet der Künste seine Wirkung entfaltet, sondern auch in den Wissenschaften, letztlich sogar in jeder Seelentätigkeit, in jedem Begriff und jeder Bewegung. Versteht man nun, wie dies Herz voraussetzt, Schönheit als Mannigfaltigkeit in der Einheit, so bedarf es noch eines Zusatzes, um die Proportioniertheit der Teile zueinander wohlgefällig zu setzen. Diese Eigenschaft bezeichnet Herz eben mit dem Begriff der »Haltung«, den er sowohl Johann Georg Sulzers Schrift »Theorie der Empfindungen« als auch der Begrifflichkeit der bildenden Kunst entnimmt, wobei er auch hier Sulzers Bestimmung in dessen »Allgemeiner Theorie der schönen Künste« folgt. 57 Denn: »jede Ursache muß ihrer Wirkung nach proportioniert seyn«.58 Daraus ergibt sich ein Gesamtzusammenhang, der zur richtigen Erkenntnis der Schönheit erfordert wird: »Die Vernunft zur Erkenntnis der Einheit; die Einbildungskraft zur Vorstellung der Mannigfaltigkeit, und ein Gefühl von dem wahren Werthe der einzelnen Stücke in dem Mannigfaltigen, wodurch es geschiehet, dass die Lebhaftigkeit der Vorstellung eines jeden seiner Wirkung zum Ganzen angemessen ist.«59 Bei richtiger Anwendung wird so aus dem tiefsinnigen Messkünstler ein Kästner, aus dem unphilosophischen Naturaliensammler ein Haller und aus dem Schulmann ein Winckelmann, wobei die steigende Klimax festzuhalten bleibt. 60 Um diese Anwendung zu gewährleisten, bedürfe es wiederum einer »Oekonomie der Seele«, die dem unbändigen Gebrauch des Genies Einhalt gebiete und eine Wohlproportioniertheit schaffe. Denn das erfinderische Genie
sucht, endgültig mit Baumgartens Überlegungen zur Ästhetik aufzuräumen und diesen seine eigene Konzeption wirkmächtig entgegengestellt. 56 Herz, VüG, S. 5. Zum Begriff der »Haltung« bei Herz vgl. besonders Davies, Nachwort. 57 Zu Johann Georg Sulzer vgl. Wolfgang Riedel, Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer, in: Schings, Der ganze Mensch, S. 4 1 0 - 4 3 9 , und ders., Johann Georg Sulzer, in: Literatur-Lexikon, hg. v. Walter Killy, Bd.ll, Gütersloh 1991, S. 2 8 7 - 2 8 9 . Zur Verbindung von Sulzer und Herz vgl. Hansen, From Enlightenment, und dies., Metaphors of Mind. 58 Herz, VüG, S. 16. 59 Ebd., S. 2 5 . 6 0 Ebd., S. 32.
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geht dem großen und reifen Geschmack meist voraus, wie Horaz und Lessing, Boileau und Pope zeigten. Doch hätten sie sich, wie auch Künstler wie Hogarth und Mengs, richtig, d.h. »oekonomisch« verhalten und so dem Geschmack zum Sieg verholfen.61 Sie müssen als Vorbilder bei der Erziehung der Jugend angesehen werden, denn erst wenn diese »mahlerisch philosophieren und gar philosophisch träumen« könne, 62 wird ihr Geschmack vollkommen sein. Dies umso mehr, als die Vollkommenheit des Haltungsgefühls das schwierigste beim Geschmack ist.63 Diesem entgegen stehen jedoch zwei »Tödter« aller Ideen der Schönheit: der Ekel und der Schmerz. 64 Wie weit und wie schematisch seine Position eines zivilen Klassizisten65 geht, lässt sich gut an Herz' Gegenüberstellung von missheiliger gotischer Bauart und dem erhabenen griechischen Auge sehen, die sich liest wie Winckelmann vs. den Goethe des Münsteraufsatzes.66 Doch hat er bei seinen Forderungen nicht nur das individuelle Wohl, sondern die Glückseligkeit der Gesellschaft im Auge.67 Ist Tugend wie Schönheit auch nur ein Ideal, das nie erreicht werden kann, so bedeutet dies jedoch gerade, dass man ihnen nachstreben muss, wofür der Geschmack grundlegend ist. Denn: »[...] ist e i n m a l in d e r O e k o n o m i e d e r Seele e i n e solche O r d n u n g e i n g e f ü h r t , dass j e d e r ihrer Bestandteile diejenige K u l t u r e m p f ä n g t , die i h m als M o m e n t d e r G l ü c k seligkeit g e b ü h r t , - u n d nichts anders ist d o c h Sittlichkeit, - so w e r d e n a u c h die v e r s c h i e d e n e n E i n d r ü c k e des M a n n i g f a l t i g e n in K u n s t w e r k e n , gerade die L e b h a f t i g k e i t in d e r Seele h a b e n , die i h r e m R a n g e in d e r Glückseligkeit a m a n g e m e s s e n s t e n ist. S t i m m t n u n die H a l t u n g des W e r k s m i t d i e s e m Verhältnisse ü b e r e i n , so w i r d dessen A n s c h a u u n g Lust g e w ä h r e n , u n d seine V o l l k o m m e n h e i t in d e r E r s c h e i n u n g als Schönheit erkannt werden.«68
61 Ebd., S. 36. 62 Ebd., S. 39. 63 Ebd., S. 41. 64 Ebd., S. 47. Z u m »Ekel« vgl. besonders die Studie von Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, F r a n k f u r t / M. 1999. Menninghaus u n tersucht darin das Potenzial des »Ekels« als Herausforderung f ü r klassizistische Ästhetik (Winckelmann) und Transzendentalphilosophie (Kant). H e r z k o m m t , obwohl naheliegend, nicht bei ihm vor. 65 Z u m Konzept des »zivilen Klassizismus« vgl. Wolfgang Pross, Die Konkurrenz von ästhetischem Wert und zivilem Ethos. Ein Beitrag zur Entstehung des Neoklassizismus, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Bd.18, F r a n k f u r t / M. 1987, S. 64-126. 66 Vgl. dazu Davies, Identity or History, Kap.4 »Bamboo with sugar and spice«: Herz's philosophy of taste and the aesthetics of salon culture in the 1790s, S. 163-194. Johann Wolfgang Goethe, Von Deutscher Baukunst (1772), in: Goethes Werke XII (Hamburger Ausgabe), M ü n c h e n 7 1973, S. 7 - 1 5 . Ein anderes Bild erhält man allerdings, w e n n man Goethes zeitgenössische Überlegungen in den Blick nimmt, wie sie sich in dem - allerdings unveröffentlichten - Aufsatz »Baukunst« von 1795 spiegeln, der die Erfahrungen und Verarbeitungen der italienischen Reise deutlich werden lässt. 67 Herz, VüG, S. 64. 68 Ebd., S. 68.
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Demnach unterscheidet er zwischen dem »gesunden und richtigen Geschmack«, dem »feinen Geschmack« und dem »großen griechischen Geschmack«. 69 Dieser Geschmack ist jedoch, wie oben schon gesagt, nicht allein auf das Individuum beschränkt, sondern betrifft auch den Staat und die Nation. Denn die Blüte des Geschmacks wird gefördert durch die Freiheit des Denkens, 70 die Religion,71 natürlich die protestantische, und die Sittlichkeit,72 wobei er besonders das gesellige Vergnügen an der Schönheit hervorhebt. Hinzu kommen noch der Uberfluss 73 und das Klima,74 wobei er auch hier die Verbindung von Körper und Seele hervorhebt, und die Regierungsform, in der die griechische Polis das Ideal vor der aufgeklärten Monarchie darstellt.
5. Die psychische Kur und das Problem der »Haltung« Doch auch hier handelt es sich vor allem um ein ideales Konstrukt, das in praxi mit Problemen zu kämpfen hat, die über Querelen zwischen »anciens« und »modernes« vor und um 1800 hinausgehen und so gar nicht nach dem Geschmack von Herz sind. Ich möchte dies abschließend an zwei (Problem·) Konstellationen aufzeigen, die sich aus der »Haltung« und der Zirkulation von Haltungen ergeben. Die positive Variante besteht darin, dass sich Herz' Rückgriff auf Sulzers Terminus der »Haltung« dadurch produktiv niederschlägt, dass er in der zweiten Auflage der »Allgemeinen Theorie« selbst zum lexikalischen Eintrag wird. Die negative Variante ergibt sich daraus, dass der Begriff »Haltung« selbst polysem ist und auch den Künsten allgemein zugeordnet wird. Dann versteht man darunter jedoch die charakteristische Art von »Gebehrden« und »Stellungen«, die den Betrachter empfinden lassen können, was nur durch sie ausgedrückt werden kann. 75 Allerdings steht sie so im Zusammenhang mit der Täuschung bzw. der Illusion, die ein Schauspieler erzeugt und die kein natürlicher Ausdruck mehr ist. »In den mimischen Künsten ist sie es allein, die uns anstatt des Schauspielers oder Tänzers die Personen selbst, die sie vorstellen, vors Gesicht bringt und die 69 Ebd., S. 75. 70 Ebd., S. 78. 71 Ebd., S. 80. 72 Ebd., S. 83. 73 Herz, VüG, S. 122. 74 H e r z folgt hier der Tradition der Naturgeschichtsschreibung bzw. genauer den theoretischen Vorgaben von Montesquieus »De l'esprit des lois« und Buffons »Histoire naturelle«, die bis 1800 ihre W i r k u n g entfalteten. 75 Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste. Zweyter Theil, Leipzig 1792, S. 460: »Haltung des Körpers. (Schöne Künste.) W i r verstehen hier durch dieses W o r t das, was man gemeiniglich durch das französische Wort Maintien ausdrückt, die charakteristische Art, wie ein Mensch bey verschiedenen Stellungen und Gebehrden sich trägt oder hält.«
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höchste Täuschung bewürkt; in dem Vortrage der Rede aber könnte sie allein, wenn auch die Worte unvernehmlich wären, die Ueberzeugung bewürken.« 76 Zu solch einem Mittel greift Herz nun selbst, wenn es um die Behandlung seines berühmtesten Patienten - Karl Philipp Moritz - geht, da dieser nur durch Vortäuschung seines Todes dazu gebracht wird, die eigentlich geforderten Verhaltensmaßnahmen anzunehmen und durchzuführen. 77 Die Krankengeschichte mitsamt ihrer Kurmethode wurde bereits im »Versuch über den Schwindel« erwähnt, doch um Moritz' Integrität willen ohne jede weitere Namensnennung. Erst nach dessen Tod publiziert Herz eine ausführliche Beschreibung der Vorgänge, um die Nervenkrankheit und ihre psychische Kur zu erläutern. Die Schrift erschien erst 1798 unter dem Titel »Etwas Psychologisch-Medizinisches. Moriz Krankengeschichte«. 78 Herz begründet die Publikation mit einem doppelten Impetus: »Jener; u m die Größe ihres [der Medizin, J.S.] U m f a n g e s bis in das ferne Gebiet der Seelenkunde, der vielleicht noch nicht so allgemein anerkannt wird, durch eine Thatsache mehr zu bestätigen; diesen [den angehenden Medizinern, J.S.], u m ihre Aufmerksamkeit auf das Studium der Psychologie zu reizen und ihnen die Kenntniß der menschlichen Seele und des Ganges ihrer Leidenschaften von der wichtigsten Seite, von der therapeutischen, vor Augen zu legen. Diese wichtige therapeutische Seite ist ohnedieß diejenige, auf welche man noch i m m e r bey der medizinischen Seelenlehre die wenigste Rücksicht nimmt.« 7 9
Dabei verfolgt er das Ziel, die »Heilung körperlicher Gebrechen durch künstliche Veränderungen und Richtungen der Seelenfähigkeiten« 80 nicht allein zu bewerkstelligen, sondern auch zu systematisieren. Herz bleibt demnach nicht nur seiner Theorie der Verknüpfung von Körper und Seele bis zum Ende treu, sondern besteht weiterhin auf der dadurch möglichen Operationalität in beide Richtungen. Doch müsse man zwischen materiellen und spirituellen Medikamenten unterscheiden, da erstere bei allen Menschen gleiche Reaktionen hervorrufe, während letztere stark von der psychischen Konstitution der Menschen abhänge und dadurch sehr variabel sei. Daher ist äußerste Behutsamkeit vom Arzt verlangt, auch wenn das einzige mögliche Antidot der Gegenreiz oder die psychische Kur sei. Eine Auflösung solcher Problemfälle gebührt demnach eher dem Philosophen, doch hält Herz hier weiterhin an seinem Idealbild des »philosophischen Arztes« fest, der seiner Meinung nach die wahre Verbindung durch seine Person bie76 Ebd., S. 461. 77 Zu dieser Behandlung vgl. auch Raimund Bezold, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk Karl Philipp Moritz', Würzburg 1984, hier insbes. S. 128-130. 78 Vgl. Marcus Herz, Etwas Psychologisch-Medizinisches. Moriz Krankengeschichte, in: Journal der practischen Arzeneykunde und Wundarzeneykunst, Bd.5,2 (1798), S. 2 5 9 - 3 3 9 . Zitiert nach Herz, PMA, S. 60-84. 79 Ebd., S. 60 (Hervorhebungen im Text). 80 Ebd., S. 61.
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tet und eine richtige Behandlung gewährleistet. Der Fall Moritz darf dabei umso mehr Beachtung finden, als er einen Extremfall darstellt, in dem exaltiertes Genie und rationaler, d.h. auf das vernünftige Mittelmaß festgelegter Arzt aufeinandertreffen. Dies wird bereits an den einleitenden Worten Herz' sichtbar: »Aus der Hole zu Castleton bracht er eine, mit einem kurzen Husten verbundene Engbrüstigkeit mit, die mich vor seiner Brust fürchten ließ. Ich machte ihm Vorstellungen über Vorstellungen, dass er sich zu einer förmlichen Kur entschließen solle, aber er war nicht dazu zu bringen. Nicht einmal einen Aderlaß konnte ich von ihm erhalten, ungeachtet ich ihm die Gefahr eines hitzigen Fiebers oder Blutsturzes sehr oft und sehr lebhaft vormahlte. War ihm aller Arzneygebrauch zuwider, so hatte er vor dem Aderlassen eine wirkliche Furcht. Nächst dem Gange mit offener Brust und dem kalten Baden gehörte zu den Affektationen des damals graßirenden Geniewesens, an welchem Moritz nicht wenig litt, auch der Abscheu vor dieser blutigen Operation. Man hielt sie für naturwidrig.« 81
Selbst ein Bluthusten ändert nur kurzfristig die Sinnesart von Moritz, da er nach erfolgreicher Behandlung bereits am nächsten Tag das Bett wieder verlässt und seinen üblichen Beschäftigungen nachgeht. Erst Wochen später, nach einer neuerlichen und diesmal noch heftigeren Attacke, muss Moritz sich ins Krankenbett begeben und der Behandlung durch Herz unterziehen. Doch hat letzterer nicht allein mit Moritz' Schwindsucht zu kämpfen, sondern in gesteigertem Maße mit dessen psychischer Unruhe, seiner Todesfurcht, die keinerlei Entspannung zulässt. Dennoch stellt sich nach einigen Tagen der Erfolg ein, da Moritz sich zunächst der auferlegten Kur unterzieht. Doch genügen ihm die ersten positiven Anzeichen, um wieder zu seinem vorherigen Lebenswandel zurückzukehren, ohne auf vollständige Genesung zu warten. Das führt zu einer neuerlichen Verschlechterung, während der einerseits Moritz' Todesfurcht wieder aufkommt und andererseits Herz alle möglichen Arten der Beruhigung und Behandlung versucht. Doch gerade dies führt zu einer weiteren Verschlimmerungen des Zustandes, da sich Moritz von seinem aufrichtigen Arzt hintergangen fühlt. »Mit dieser Verschlimmerung [der Krankheit, J.S.] wuchs immer das Toben in seiner Seele. All mein freundschaftliches Zureden, all mein Versichern: dass seine Krankheit nicht tödlich sey, und er bey ruhigem Verhalten und genauer Befolgung meiner Vorschriften binnen kurzem hergestellt seyn werde, war vergebens. So wie ein Anfall von Husten kam oder er das Wegbleiben eines Pulsschlages bemerkte, lief er wild in der Stube umher, schimpfte in prächtigen Hexametern auf seinen Tod, auf die Kunst, und höhnte mich mit meinen schmeichelnden Hoffnungen, deren Eitelkeit er so deutlich fühlte.« 8 2
Moritz' Todesfurcht verstellt ihm demnach die Wahrnehmung der Wirklichkeit, da er die mögliche Genesung wahlweise als vorgespielte Illusion 81 Ebd., S. 67. 82 Ebd., S. 69.
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oder als medizinische Eitelkeit auffasst. Das führt zu einer weit bedrohlicheren Situation für den Patienten, da er keinerlei Ruhe zulässt und nur von einer Peripetie des Krankheitsverlaufes zur nächsten eilt. Doch während bei Herz sich durch dieses Verhalten Widerwillen einstellt, ist Moritz keineswegs gewillt, sich selbst aufzugeben, und setzt seine Krise fort, bis es zu einer entscheidenden Veränderung kommt. Eines Tages erscheint Herz wieder bei Moritz, der mit einer Mischung aus Gravität und Tücke, aus Schauspiel und Krankheit leidend auf dem Bett liegt. 83 Die vorhergehende Nacht war äußerst schmerzvoll für ihn, so dass er nun halb im Fieber und halb in seinen Phantasien darniederliegt. Alle vorherigen Anfälle fanden ihren Höhepunkt in dieser Situation, in der sich der Patient selbst zum Triumphator über seinen Arzt erklärt, da er seines Todes wahrlich gewiss sei. Die Reaktion Herz' ist überraschend, aber, wie die Folge zeigen wird, erfolgreich. »Einige Minuten Nachdenken brachten in mir das Resultat hervor, dass es unmöglich sey, dem heftigen Fieber zu steuern und meinen Freund zu retten, ohne ihn vorher aus dem zerrüttenden Zustand zwischen Furcht und Hoffnung mit der Gewalt zu reissen, und dass ich ihn, da das Gefühl seiner Krankheit und seine lebhafte schwärmende Phantasie allen meinen aufrichtigen Versicherungen Trotz bieten, vielmehr von der gewissen Gefahr zu überzeugen suchen müsse. Ich muß ihn in die Fesseln der Furcht schlagen, da er sich an dem sanften Bande der Hoffnung nicht leiten lassen will; ich muß durch die Verkündigung seines gewissen Todes eine vollkommene Resignation auf jeden Gedanken von Wiedergenesung in ihm erregen, und indem ich seine Furcht vom Tode ab- und nur auf die Art des Todes hinlenke, eine völlige Ergebenheit in mich und meine kunstmäßigen Verordnungen in ihm bewirken.« 8 4
Die Strategie von Herz, seinen Patienten vom Tod abzulenken, geht allerdings nur über eine radikale Form: er verkündet Moritz dessen baldigen Tod. Die Therapie soll dann dadurch anschlagen, dass Moritz eine »weise Art des Sterbens« annimmt, die philosophische Gelassenheit beherzigt und so wohlvorbereitet dem Tode entgegengeht. Die hier vorgenommene Inszenierung verlangt aber nicht nur vom Patienten einige »Weisheit« in der Handlung, sondern auch einige »Haltung« beim Arzt, wobei hier die Selbstaussage Herz' selbstredend ist: »Indessen ging mir sein Zustand durch Mark und Bein, meine Augen standen unter Wasser, und ich musste alle meine Kräfte zusammennehmen, um mich als operirenden Wundarzt zu denken. Mächtig fährt er mit dem Messer in dem Fleische eines zarten sanften Geschöpfs umher, und arbeitet immerfort mit dem göttlichen Gedanken an seinen wohltätigen Endzweck dem empörten Menschengefühl entgegen, das sein Herz zusammenschnürt, seinen Muth zu erschlaffen und seine Hand beben zu machen strebt.« 85 83 Ebd., S. 70. 84 Ebd., S. 71 f. 85 Ebd., S. 76.
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Die »Haltung« des Arztes oszilliert hier zwischen der illusionistischen Täuschung eines Schauspielers und Redners und der eines aufrichtigen Therapeuten. Sie ist beides zugleich und zeigt damit auch die Polyvalenz des Begriffs auf. Dabei sind zwei Momente festzuhalten. Zum einen kann positiv festgestellt werden, dass die von Herz angewandte Kurmethode realen Erfolg hat, wobei seine intime Kenntnis des Patienten ihm die Anwendung erleichtert. Denn tatsächlich vermag er Moritz zu überzeugen, dass er erstens sterben werde und zweitens nun die Möglichkeit hat, dies auf philosophische Weise zu tun. Dadurch verschafft er seinem Patienten für längere Zeit die ihm nötige Ruhe und sich den nötigen Gehorsam für die Auflagen des Arztes. Das Ergebnis ist denn auch die langsame Genesung des Patienten. Auch das freundschaftliche Verhältnis von Herz und Moritz bleibt davon unbeschadet; die von Herz angeratene Formel »sterben Sie weise« wird sogar nach der Gesundung zum Topos der Freunde, der bei jedem Wiedersehen ausgetauscht wird. Zum anderen müssen aber auch die Schwierigkeiten festgehalten werden, die Herz dabei selbst sieht bzw. die auf disziplinärer Ebene dabei auftreten. So ist sich Herz durchaus bewusst, dass der Arzt zwar Gegenreizungen und Scheinkuren durchführen darf, doch muss er dabei die Grenzen seines Standes und Faches berücksichtigen. Denn unerfüllbare Versprechungen bezüglich der Behandlung wären nichts als »Geckerey« gegenüber dem Kranken, gegenüber sich selbst als behandelndem Arzt und gegenüber der eigenen »Kunst«, der mehr Vermögen zugesprochen wird, als sie halten kann. 86 Den letzten Punkt fasst Herz auch als »eitele Gauckeley« 87 und berührt damit den neuralgischen Punkt dieser Kurmethode. Denn die Anwendung einer psychischen Kur bedeutet immer eine »Gauckeley«, auch wenn sie durch die »Haltung« des Arztes nach dessen Verständnis positiv abgesichert ist. Dadurch, dass aber die »Haltung« selbst zur illusionistischen Täuschung tendiert bzw. als solche verstanden wird, handelt es sich letztlich um eine Tautologie, um eine durch »Gebehrden« und Rede erzeugte Täuschung in der »Gauckeley«. Dass dieses Potenzial auch von der Literatur in Anspruch genommen wird, kann als weiterer Hinweis genommen werden für das Potenzial an Imaginärem in dieser Kurmethode. 88 Allgemeiner gesprochen handelt es sich dabei um die Interferenz von Anthropologie und Verstellungskunst, deren produktive Seite in der Schauspielkunst sichtbar wird, deren ambivalente Seite aber auf dem Gebiet der medizinischen Psychologie erkennbar ist.89 Denn das Gefahrenpotenzial solcher Behandlungsmetho86 Ebd., S. 78. 87 Ebd., S. 79. 88 Zur literarischen Aufnahme und Verarbeitung der psychischen Kur vgl. beispielhaft Gottfried Diener, Goethes »Lila«. Heilung eines »Wahnsinns« durch »psychische Kur«. Vergleichende Interpretation der drei Fassungen, Frankfurt/ M. 1971, insbes. S. 147-185. 89 Vgl. dazu Alexander Kosenina, Wie die »Kunst von der Natur überrumpelt« werden kann. Anthropologie und Verstellungskunst, in: Barkoff / Sagarra, Anthropologie, S. 53-71,
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den, das bei zuviel Willen oder Engagement des Arztes bei zu geringer Kenntnis des Patienten und der möglichen Kurverläufe zu Tage treten kann, wird gerade in romantischen Erzählungen - so z.B. in E.T.A. Hoffmanns »Die Serapionsbrüder« - thematisiert.
7. Psychische Kur und Scharlatanerie Der Arzt wird so zum Schauspieler, auch wenn Herz dies durch die Praxis der Gegenreizung rational legitimiert und durch die »Haltung« des Arztes in seinem Sinne - gerechtfertigt sieht. Doch schließt sich daran noch eine weitere und problematischere Frage an: Woran erkennt man dann einen medizinischen Schwindler? Zum Leidwesen von Herz gar nicht oder zumindest fast gar nicht, wie sein Bericht »Die Wallfahrt zum Monddoktor in Berlin« zeigt. 90 Bei dem Monddoktor handelt es sich um einen Scharlatan, wie man zeitgenössisch sagt, um einen medizinischen Dilettanten, der seinen Patienten naturmagische Verfahren - hier die Einwirkungen des Mondes - verschreibt und damit sich selbst zu bereichern versucht. Allein, der Monddoktor agiert anders. Keinerlei Blendwerk oder Verführungskünste werden von ihm aufgeboten, keinerlei Kostümierung weist auf die Inszenierung hin und, schlimmer noch, viele Adelige gehören zu seinem Patientenkreis. 91 Dies ist umso unangenehmer für Herz, als er doch von genau diesem Stande den höchsten Geschmack erwartet, wobei er sich, wie das Vorwort des »Versuchs über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit« zeigt, 92 auch praktische Unterstützung von dieser Seite erhofft. Doch keinerlei Schaupiel des Monddoktors erkennt er. Vielmehr be-
und ders., Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur »eloquentia corporis« im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. 9 0 Vgl. Marcus Herz, Die Wallfahrt zum Monddoktor in Berlin, in: Berlinische Monatsschrift 1,4 (1783), S. 3 6 8 - 3 8 5 . Hier zitiert nach Herz, PMA, S. 2 4 - 3 2 . 91 »Wie groß war aber mein Erstaunen, da ich anstatt einer erwarteten Versammlung vom niedrigsten Pöbel nicht eine einzige lederne Schürze, nicht eine einzige schmutzige Mütze vor mir sah, sondern fast nichts als reich und wohlgekleidete Herren und prächtig aufgesetzte Damen, fast nichts als Leute, deren Anzug und Miene Rang und Stand verriethen. Kurz das ganze Aeußere sah so sehr einer Assemblee von Vornehmen ähnlich, als das Innere ein Schauspiel für die Galerie war.« Ebd., S. 2 9 . 92 »Wenn der Wachsthum der Künste und Wissenschaften in einem Staate von dessen wohlthätigen Gesetzen und ihrer weisen Handhabung unzertrennlich ist, so muß j e d e r Mensch, der B e r u f zur Thätigkeit in sich verspührt, sich glücklich preisen, wenn die Vorsehung ihn unter einem Volke werden ließ, wo Regent und Minister selbst Genies, selbst Weltweise sind. - Und darum preise auch ich mich glücklich. Ich bin stolz darauf, Kind eines Vaterlandes zu seyn, in welchem keine der edeln Seelenfähigkeiten ungepflegt bleibet, in welchem das Schätzbarste einer vollkommenen Republik, die freye Entwicklung menschlicher Kräfte, mit den Vorzügen einer vollkommenen Monarchie, der allgemeinen Ruhe, Sicherheit und Duldung so meisterhaft vereinigt ist.« Herz, VüG, unpaginierte W i d mung.
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merkt er eine systematische Ordnung der Kur durch die Behandlung nach Krankheitsklassifikation. Zudem muss er zugeben, dass z . B . das Eingeständnis partieller Inkompetenz des Monddoktors - bei Gicht könne er nicht helfen - diesen eher noch ausweist als diskreditiert. 93 Die philosophische Beobachtung führt allein zu einem gewaltigen Ärger Herzens, aber zu keinerlei offizieller Gegenreaktion. So ist es nur eine Ironie des Schicksals, dass das Wirken des Monddoktors erst in Folge des Todes seiner ersten berühmten Patientin, einer Prinzessin, eingestellt wird, da erst ab diesem Zeitpunkt die »Polizey« aktiv wird. Bemerkenswert ist diese Geschichte nicht, weil sie die Inkompetenz des philosophischen Arztes beleuchtet, sondern vielmehr weil sie seine Unfähigkeit, sich gegenüber wahrhaft schauspielernden Konkurrenten zu behaupten, zeigt. Das Feld der empirischen Psychologie ist demnach nicht nur ein theoretisch äußerst umstrittenes, wie die Diskussionen zwischen Platner, Herz und Kant zeigen, sondern bei der praktischen Anwendung ein höchst instabiles Gebilde. Dabei greifen die staatlichen Regulierungsmechanismen - wie die Medizin-Polizey 9 4 - und die disziplinären, die sich in der Geburt des klinischen Blicks zeigt, 95 nur sehr bedingt im medizinischen Alltag. D e m unbeteiligten Betrachter fällt die Unterscheidung zwischen ärztlichem und scharlatanischem Schauspiel äußerst schwer, was durch die Potenzierung dieser Inszenierungen auf dem Theater nur noch verstärkt wird. Dass das Eingreifen der staatlichen Behörden eher von peripheren Aktionen, wie in diesem Fall dem Tod der Prinzessin, bewirkt wird, ist eine Pointe, die für den praktizierenden Mediziner nur schwer zu akzeptieren ist. Eine andere Pointe hält die Geschichte abschließend noch für den Philosophen unter den empirischen Psychologen bereit: da er das Phänomen bzw. die Wirkung der Kuhpockenimpfung nicht philosophisch ergründen kann bzw., wie ihm seine Zeitgenossen vorwerfen, ihm diese Möglichkeit nicht philosophisch elegant und scharfsinnig genug vorkommt, um sie zu akzeptieren, wendet er sich gegen sie und wird so von der Empirie wieder eingeholt, wenn nicht überholt. 96 Mit der Zirkulation seiner Ideen hat es dann im aktuellen Tagesgeschäft vorerst ein Ende.
93 »Endlich kam die Reihe an mich. Da ich keinen offenbaren Schaden aufzuweisen hatte, so gab ich ein gichtisches Reißen in meinem rechten Schenkel vor. Er wollte sich aber damit nicht befassen. >Das kann ich nicht kurieren, sagte er; die Leute denken auch, ich kann alles.upon its appearance, naturally introduces its correlative< - to re-quote David Hume.« Mark Loveridge, Laurence Sterne and the argument about design, London 1982, S. 154. 42 Vgl. dagegen Thomas M. Columbus, Tristram's Dance with Death. Volume 7 o f »Tristram Shandy«, in: University o f Dayton Review 8 (1971), S. 3 - 1 5 , sowie die anders akzentuierende Entgegnung von Susan Brienza, Volume 7 o f »Tristram Shandy«. A Dance o f Life, in: University o f Dayton Review 10 (1974), S. 5 9 - 6 2 , die die utopische bzw. hedonistischutopische Qualität des Tanz-Themas im VII. B u c h in den Vordergrund stellen. 4 3 Im »Supplement au Voyage de Bougainville« (1772) lässt Diderot den Tahitianischen »Wilden« Orou dem europäischen Kaplan erwidern: »Ii s'est établi parmi nous une circulation d'hommes, de femmes et d'enfants, ou de bras de tout âge et de toute fonction, qui est bien d'une autre importance que celle de vos denrées qui n'en sont que le produit.« Denis Diderot, Supplément au Voyage de Bougainville, hg. ν. Paul-Édouard Levayer, Paris 1995, S. 72 f.
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Schmidt
Das Zirkulieren der Gemeinplätze und das kollektive Gedächtnis Zitat und Widerruf der emphatischen Öffentlichkeitsmetapher »Ideenzirkulation« in Johann Heinrich Mercks kunst- und kulturkritischer Essayistik In der w o h l b e r ü h m t e s t e n literarischen Zeitschrift d e r Spätaufklärung, C h r i s t o p h M a r t i n W i e l a n d s » T e u t s c h e m M e r k u r « , veröffentlicht der D a r m s t ä d ter K r i e g s r a t u n d G o e t h e f r e u n d J o h a n n H e i n r i c h M e r c k i m S e p t e m b e r h e f t v o n 1 7 7 7 a n o n y m d e n Essay » U e b e r die L a n d s c h a f t - M a h l e r e y « . S e i n e m B e i trag stellt der A u t o r e i n e n P e r i t e x t 1 voran, d e r in d e r F i k t i o n eines o f f e n e n Briefs an d e n H e r a u s g e b e r W i e l a n d R e f l e x i o n e n ü b e r die g r u n d l e g e n d e B e d e u t u n g des z u r Veröffentlichung g e w ä h l t e n publizistischen M e d i u m s , des »Teutschen M e r k u r s « , anstellt: »Sie müssen aus langer Erfahrung wissen, daß bey dem litterarischen Handel und Wandel noch etwas mehr und bessers herauskomme, als daß man sich an Ehre und Lob, kaufmännisch zu reden, den Sack fülle. Die Freude zur Circulation des ganzen Staatsvermögens etwas beygetragen zu haben, ist doch auch zu rechnen, und dies ist eigentlich, was den Großhändler vom Krämer unterscheidet. Ihre Entreprise von Fuhrwerk, das wir den Teutschen Merkur nennen, muß Ihnen auch darum lieb bleiben, weils einmal im ganzen Reiche durchgeht; und wenns auch nicht allezeit, da es wie andre Postwägen zur bestimmten Zeit abgeht, vollkommne Fracht vorfindet, so bringt es doch zuweilen Rückfracht mit, die einigermaßen für die erste leichte Ladung entschädigt. Eine Idee erweckt die andre, und oft brauchts keiner andern Magie, als von einem Dritten gedruckt zu lesen, was wir selbst längst dunkel über eine Materie gefühlt haben, um uns zur Entwicklung dieser Ideen zu ermuntern. So gieng mirs mit dem B r i e f eines Ihrer Freunde, den Sie im Monat Julius über den Geschmack Teutschlands an der Kunst [...] einrückten.« 2
1 Zum Begriff vgl. Gérard Genette, Paratexte, Frankfurt/ M. 1989, hier S. 12 f. Peritexte sind kommentierende Mitteilungen im unmittelbaren Umfeld eines Textes: Überschriften, Anmerkungen, Vorworte. Zusammen mit den »Epitexten« bilden sie das paratextuelle Beiwerk, das eine »Transaktion« leistet, »eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Öffentlichkeit [...] im Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre«. Ebd., S. 10. 2 Johann Heinrich Merck, Ueber Landschaft-Mahlerey, an den Herausgeber des T.M., in: Ders., Werke, hg. v. Arthur Henkel, Frankfurt/ M. 1968 [im folgenden zitiert als MW], S. 3 8 0 - 3 8 5 , hier S. 380.
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Der Peritext Mercks weist die nachfolgenden Überlegungen zur Landschaftsmalerei als Resultat einer dialogisch-geselligen Inzitamentsituation aus, die Wielands Zeitschrift überregional organisiere. Der vertrauliche »Brief« eines »Freundes« vermag durch die öffentliche Präsentation unsystematischer, noch unausgegorener, aber eben verständlicher und interessanter »Ideen« andernorts weiterführende Überlegungen anzuregen, deren Veröffentlichung ihrerseits zu Anschlusskommunikationen einlädt. Den verbreiteten aufklärerischen Diskurs über die notwendige Sozialität von Wissen, seine öffentliche, im dialogischen Austausch zu leistende Prüfung und Konsensualisierung, konzeptualisiert der Peritext in dem Doppelbildfeld von Handel und Verkehr und mit der diesem Bildfeld zugehörigen Zirkulationsmetapher. Der Rekurs auf die Ökonomie ist nicht ungewöhnlich bei Johann Heinrich Merck. In auffälliger Dichte thematisieren seine Essays die Korrelation von Geld und Geist, von Kommerz, Kunst und öffentlichem Räsonnement. Der Reflexion direkter Abhängigkeitsverhältnisse künstlerischen Produzierens und dilettierenden Sammeins vom Geld gesellen sich metaphorische Reden, die Prozesse der Distribution und der Evaluierung von Kunst und Kunstwissen in einem verästelten ökonomischen Bildfeld bedenken. Diese auffällige Konjunktion von kunstkritischer Essayistik und ökonomischer Metaphorik resultiert einigermaßen plausibel aus Mercks beruflicher Zwischenstellung. Eine eigentlich erstrebte Karriere im Metier der bildenden Kunst blieb dem Darmstädter Apothekersohn, der sehr erfolgreich an Christian Ludwig Hagedorns Dresdner Zeichenakademie studiert hatte, versperrt. Sein Wechsel auf den Posten eines »Kriegszahlmeisters« und seit 1774 eines »Kriegsrats« in der hessisch-darmstädtischen Verwaltung geschieht wohl aufgrund der kameralistischen Kenntnisse, die sich Merck während seiner Studienzeit in Gießen, Erlangen und Leipzig zwischen 1759 und 1763 erworben hatte. 3 Sie fundieren seine lebenslange Auseinandersetzung mit ökonomischen Fragestellungen auch außerhalb der landgräflichen Kriegskanzlei. Merck berät den Weimarer Hof in landwirtschaftlichen Fragen und rezensierte zwischen 1776 und 1780 in Wielands »Teutschem Merkur« ein gutes Dutzend ökonomischer Publikationen. 4 In kritischer Abgrenzung vor allem gegen die physiokratische Reformökonomie vertritt der ökonomische Literat und Gutachter Merck Positionen der Spätkameralistik 5
3 Hermann Bräuning-Oktavio, Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, Tübingen 1966, S. 70, und die Anm. 4, ebd. 4 Vgl. die Übersicht bei Hermann Prang, Johann-Heinrich-Merck-Bibliographie. Sonderdruck aus der Merckschen Familien-Zeitschrift, Darmstadt 1953, S. 17 ff. 5 Vgl. dazu vor allem das briefliche Gutachten Mercks an H e r z o g Karl August über den monopolgeschützten Krappanbau. Merck an H e r z o g Carl August, Darmstadt den 3ten April 1780. Johann Heinrich Merck, Briefe, hg. v. Herbert Kraft, Frankfurt 1968, S. 2 5 6 - 2 5 9 , hier S. 258. Außerdem ist die von der Forschung bislang nicht zur Kenntnis g e n o m m e n e Mauvillon-Rezension Mercks zu beachten. [/. H. Merck, Rez.]: Physiokratische Briefe an den
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und versucht seine ökonomischen Kenntnisse als Landwirt und Fabrikant umzusetzen. 6 Direkt vermittelten sich Kunst und Kommerz für Johann Heinrich Merck in seinen unterschiedlichen verlegerischen Initiativen auf dem Buchmarkt und in dem Geschäft mit der bildenden Kunst. Als Kenner des internationalen Kunstmarkts erwirbt Merck im Auftrag des Herzogs Karl August Gemälde und Graphiken für die Sammlungen des Weimarer Hofes. 7 Doch lässt sich Mercks ökonomieanaloge Perzeption literarischer Öffentlichkeit nicht auf die schlichte Konsequenz einer spezifischen beruflichen Perspektive reduzieren. Der Einsatz des Bildfeldes reflektiert vielmehr zugleich kollektive sprachliche Usancen, und die peritextuelle Rede von der »Circulation« des - geistigen - »Staatsvermögens« liefert einen zentralen Selbstentwurf der aufgeklärten res publica litteraria: die gesellschaftlicher Selbstregulation überlassene, ökonomieanaloge »Ideenzirkulation«. Der vorliegende Beitrag gilt den komplexen Bedeutungen, die die verbreitete Metapher der »Ideenzirkulation« in ihrer spezifischen textuellen Position, in der zitierten Einleitung des Merckschen Landschaftsessays, gewinnt und die sich erst in der genauen Reflexion ihres pragmatischen Kontextes, ihres medienspezifischen Zielbereichs, ihres intertextuellen Umfelds und ihrer textsortenspezifischen Lagerung erschließen. Die pragmatischkontextuelle Situierung der Merckschen Rede über »Ideenzirkulation« vermag die Flexibilität und Diffusität der Offentlichkeitsmetapher zu entbergen, die Diskursanalyse wie kognitive Sprachwissenschaft mit ihrer Annahme stabiler epistemischer Raster bzw. metaphorischer Konzepte 8 abHerrn Professor D o h m , von J . Mauvillon [...], in: D e r Teutsche Merkur [im folgenden zitiert als T M ] III 1780, S. 75f. 6 Monika Siegel, Merck als Landwirt und Fabrikant, in: Johann Heinrich Merck (1741-1791). Ein Leben für Freiheit und Toleranz, hg. v. E. Merck. Katalog der Gedenkausstellung für Johann Heinrich Merck, Darmstadt 17. März - 5. Mai 1991, Darmstadt 1991 [im folgenden zitiert als MKat], S. 172-177. 7 Hermann Bräuning-Oktavio, Johann Heinrich Merck als Verleger, in: Philobiblon 5,1 (1932), S. 5 - 1 0 , u. 5,2 (1932), S. 4 6 - 5 2 . Zu Mercks früher Verlagstätigkeit vgl. auch Sabine Welsch, Verleger und Redakteur, in: MKat, S. 4 6 - 5 5 . 8 Zu denken ist hier vor allem an Joseph Vogls These eines disziplinübergreifenden »makroökonomischen« Zirkulationsmodells im 18. Jahrhundert. Vgl. dazu Joseph Vogl, H o m o genese. Zur Naturgeschichte des Menschen bei Buffon, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 8 0 - 9 5 ; ders., Ökonomie und Zirkulation um 1800, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 43,1 (1997), S. 6 9 - 7 9 . Zur kognitiven Metapherntheorie und ihrer Entwicklung vgl. neben dem grundlegenden Buch von George Lakoff / Mark Johnson, Metaphors we live by, Chicago 1980, auch Christa Baldauf, Metapher und Kognition. Grundlagen einer neuen Theorie der Alltagsmetapher, Frankfurt/ M . 1997. Die Kontextdeterminierung der Metapher im Sinne einer »Interaktion« von Herkunftsund Zielbereich betonen die Arbeiten Max Blacks. Vgl. u.a. Max Black, Die Metapher, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1983, S. 5 5 - 7 9 . In kritischer Auseinandersetzung mit Lakoff und Johnson und im Anschluß an Black weisen Sam Glucksberg und Matthew S. McGlone das offene semantische Potenzial von alltagssprach-
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blenden. Der »Kontext des Diskurses« - »Diskurs« im Sinne einer gegebenen literarischen Rede - »determiniert den Gebrauch eines Bildes als Metapher, so wie umgekehrt die Metapher den Kontext spezifiziert«. 9 Die folgenden Überlegungen gliedern sich in vier Schritte: Der erste Abschnitt wird den apologetischen Sinn der Metapher in einem spezifischen pragmatischen Kontext aufzuweisen suchen, der folgende interpretiert die Metapher im Zusammenspiel von einleitendem Peritext und nachfolgendem Landschaftsessay, von öffentlicher Ideenzirkulation und nichtöffentlicher genialer Produktionsästhetik. Abschnitt drei stellt den Peritext in das weitere Umfeld der kulturkritischen Essays Mercks und ihrer Öffenlichkeitsreflexionen. Der abschließende vierte Teil reflektiert die Metapher in ihrem Verhältnis zu der intrikaten Faktur und Performanz der Merckschen Essayistik.
1. Apologie: Der sozialethische Habitus des Kaufmanns,
publizistische Wissensprovisorien und »Ideenzirkulation« Die Aufklärung leistet eine fundamentale Neudefinition des Wissens. Traditionell wurde es als zeitenthobener, stabiler, akkummulierter und von Gelehrten verwalteter Bestand verstanden und mit einer Schatz- und Thesaurierungstopik 10 repräsentiert; seit der Frühaufklärung aber wird diese Vorstellung von einer Konzeption abgelöst, die auf die Sozialität und Kommunikativität des Wissens im Sinne ständeübergreifender, nicht mehr nur gelehrter Verständigungsprozesse setzt.11 Nützlichkeit, Verständlichkeit, Zugänglichkeit und konsensuelle Integration unterschiedlicher Standpunkte bezeichnen die Leitkategorien dieser Neuperspektivierung des gesellschaftlichen »Wissensvorrats«, 12 und sie werden mit einer neuen ökonomischen Metapher ins Bild gesetzt, die neben die alte Thesaurierungstopik tritt und ihr als Konzeptualisierungsmuster den Rang streitig macht: die der Güter-
lichen Metaphern nach. Vgl. Sam Glucksberg / Matthew S. McGlone, W h e n love is not a j o u r ney: W h a t metaphors mean, in: Journal of Pragmatics 31 (1999), S. 1541-1557. 9 Karlheinz Stierle, Der Maulwurf im Bildfeld, in: Jürgen Link / Wulf Wülfing (Hg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien z u m Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 121-144, hier S. 122. 10 Vgl. Aleida Assmann, Die W u n d e der Zeit. Wordsworth und die romantische Erinnerung, in: Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, M ü n c h e n 1993, S. 3 5 9 - 3 8 2 , hier S. 361; dies., Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.), Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 16-46, hier S. 18-21, zu den Gebäude-Metaphern des Gedächtnisses (Bibliothek und Magazin). 11 Hans-Erich Bödeker, Aufklärung als Kommunikationsprozeß, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Aufklärung als Prozeß, H a m b u r g 1988, S. 89-111. 12 So die soziologische Neuprägung der alten Thesaurierungstopik bei Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, F r a n k f u r t / M. 1969.
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und Geldzirkulation. 1 3 Die Redefinition von Reichtum nach den Kriterien einer intensiven u n d möglichst freien Zirkulation in den kontemporären ökonomischen Diskursen Merkantilismus, Physiokratie und Spätkameralismus 1 4 bietet für diese Metaphernkonjunktur eine wichtige Voraussetzung. Dabei kann die Ausdifferenzierung und unterschiedliche Terminologisierung der »Zirkulation« in den Systementwürfen von Physiokratie und deutscher Spätkameralistik zunächst außer Acht bleiben. 15 D e n n o c h erschließt sich das semantische Potenzial der Merckschen Metaphernrede über die Ideenzirkulation nicht primär über die Rekonstruktion des fachsprachlichen Herkunftsbereichs, auch w e n n dies Mercks Kenntnisse nahelegen und auch w e n n die kontemporären Ö k o n o m i e n in den literarischen Zeitschriften der Spätaufklärung für das gebildete Publium präsent waren. Wielands Journal stellt immerhin in der unmittelbaren textuellen U m g e b u n g des Landschaftsessays die kameralwissenschaftlichen Grundbegriffe einem breiten gebildeten Publikum vor.16 D e r Mercksche Peritext antwortet vielmehr auf einen populären Diskurs, in dem die ökonomische Redefinition des Reichtums, die »Zirkulation«, bereits zur Metapher der sozialethischen u n d k o m m u n i kativen N o r m e n der Aufklärung geworden ist. M e h r noch, der publizistische Prätext im »Teutschen Merkur«, der »Brief« eines Freundes, von d e m sich der Landschaftsessay ja nach eigener Aussage inspirieren ließ, setzt die Metapher der »Zirkulation« bereits als konsensualisierte Redeweise über die öffentliche Zugänglichkeit von Wissen voraus. »Wenn von der Literatur eines Landes die Rede ist«, heißt es hier, »so fragt man nicht, wie ansehnlich die Bibliothek eines Fürsten seye, sondern welche Masse von Kenntnissen unter den Privatleuten circulire.« Diese bereits als on dit zitierbare ökonomieanaloge Perzeption des Wissens kann auf zwei korrespondierende metapherngeschichtliche Entwicklungen zurückgeführt werden. In den frühaufklärerischen Handelstraktaten und den deutschen moralischen W o chenschriften lässt sich zunächst die Modellierung des Kaufmanns als sozial-
13 Vgl. Harald Schmidt, Art. »Ideenzirkulation«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe, Stuttgart 1998, S. 227. 14 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/ M. 12 1994, S. 2 2 0 ff.; für den Diskurs der deutschen Spätkameralistik Marcus Sandl, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft: im 18. Jahrhundert, Köln 1999, hier insbes. S. 282f., S. 290ff. 15 Zu den Differenzen zwischen physiokratischem und kameralistischem Diskurs bei einer ansonsten »breiten Basis an gemeinsamen Vorstellungen« vgl. Sandl, Ökonomie des Raumes, S. 106ff, insbes. S. 115ff. 16 Ludwig Benjamin Martin Schmid, Plan der hohen Kameralschule zu Lautern, TM II 1776, S. 209-210. D e m folgen im Jahrgang 1776 und 1777 die »Briefe über die hohe Kameralschule zu Lautern«. Der »Vierte Brief« »Über die Handlung« erschien nur zwei Hefte nach dem Essay über die Landschaftsmalerei, nämlich im TM VI 1777, S. 52-69, und expliziert u.a. die kameralwissenschaftliche Korrelation von Zirkulations- und Handelsbegriff: »Die Handlung bestehet [...] in Zirkulation. [...] und deijenige Stand, der sie bewegt und treibt, ist die Seele davon.« Ebd., S. 67.
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ethische Vorbildfigur beobachten. 17 Sie führt zu einer spezifischen Umprägung der im Lateinischen und in einigen europäischen Nationalsprachen durch die Aquivokation des »commercium«-Begriffs naheliegenden semantischen Affinität von Handel und gesellschaftskonstituierender Kommunikation. 18 Die vom rationalen Naturrecht (John Locke) und den Höflichkeits- und Konversationslehren (im Ideal des »doux commerce«) dafür bereitgestellten theoretischen Voraussetzungen, die sich gegen traditionelle Vorbehalte der Moraltheologie wie des älteren Naturrechts durchsetzen, müssen hier außer Acht bleiben. 19 Die Integration von Eigennutz und Gemeinwohl, die autonome Konsensualisierung unterschiedlicher und gegensätzlicher Interessen unter prinzipiell gleichen Vertragspartnern, die Gründung des gesellschaftlichen Zusammenhangs auf dem wechselseitigen »Credit«, dem Vertrauen, 20 formieren jedenfalls ein normatives sozialethisches Merkmalsbündel, das den seit Hobbes für die Staatsökonomie bemühten 21 physiologischen Zirkulationsbegriff einschließt und zur Metapher der gesellig-kommunikativen Kohäsion des Differenten im zwischen- und innerstaatlichen Bereich transformiert. Der »Kaufmann«, heißt es in der W o chenschrift »Der Gesellige« von 1748, »ist die Seele des allgemeinen geselligen Lebens« und zugleich die »Pulsader, welche das Geblüthe forttreibet, daß es dem ganzen Körper mitgetheilet werde. Durch den Kaufmann wird die weite und mit unwirthbaren Meeren und Gebürgen zerschnittene Welt ein Ganzes, das mit einander, nach allen seinen Theilen in einen geselligen verbindenden Wechseleinfluß stehet«. 22 17 Grundlegend dazu Lothar Schneider, Reden zwischen Engel und Vieh. Zur rationalen Reformulierung der Rhetorik im Prozeß der Aufklärung, Opladen 1994, S. 9 - 4 6 . Zur kommunikativen Vorbildhaftigkeit des kaufmännischen Habitus vgl. Henning Scheffers, Höfische Konvention und die Aufklärung. Wandlungen des honnête homme-ldeals im 17 und 18. Jahrhundert, B o n n 1980, insbes. S. 115 f. zu den deutschen Moralischen Wochenschriften; Peter France, T h e commerce o f the self, in: Comparative Criticism 12 (1990), S. 3 9 - 5 6 . Die diffizile Frage, inwiefern in diesen sozialethischen Habitus des Kaufmanns höfische Umgangsund Konversationsformen eingegangen sind, muss hier ausgeklammert werden. Verwiesen sei auf Scheffers, Höfische Konvention, der etwa am englischen Gentleman-Ideal die Integration bürgerlicher und aristokratischer Wertvorstellungen beobachtet (S. 143 ff.). 18 France, T h e commerce o f the self, S. 43. 19 Grundlegend dazu: Peter Koslowski, Haus und Geld. Zur aristotelischen Unterscheidung von Politik, Ökonomik und Chrematistik, in: Philosophisches Jahrbuch 8 6 (1979), S. 6 0 - 8 3 ; Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 66 ff. 2 0 Z u m Vertrauen als zentraler Kategorie aufgeklärten Kommunizierens vgl. insbes. Wolfram Mauser, Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750, in: Aufklärung 4,1 (1989), S. 5 - 5 3 . 21 Foucault, Ordnung der Dinge, S. 227. 2 2 D e r Gesellige. Eine Moralische Wochenschrift, hg. v. Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier, Teil 1 u. 2, Halle 1748 (Ndr. Hildesheim 1987), S. 2 2 2 f. Zur besonderen sozialethischen Profilierung der Kaufmannschaft in Meiers und Langes Zeitschriften vgl. Wolfgang Martens, Nachwort des Herausgebers, in: D e r Mensch, Teil 11 u. 12, Hildesheim 1992, S. 4 4 9 .
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Diesem populären sozialethischen Diskurs der Hochaufklärung - er setzt in den Zeitschriften der englischen Frühaufklärung ein 23 - über die kommunikative Modellhaftigkeit des Kaufmanns parallel läuft eine Umorientierung der traditionellen Sprache-Geld-Topik. Mit der Fokussierung auf die monetäre Zirkulation tritt die kommunikative Sozialität als entscheidender Aspekt des Wissens hervor. Seine Gültigkeit erweist sich nicht in der einsamen tiefsinnigen Spekulation des Gelehrten, sondern erst in der geselligen Prägung und Zirkulation des Goldes in der Form der akzeptierten Münze. Diese von Edward Youngs »Nachtgedanken« für die Ebene intimer, freundschaftlicher Kommunikation formulierte, aber auch für den gesellschaftlichen Umgang reklamierte Topik bleibt im spätaufklärerischen Raum eine unterschiedliche Fraktionen der literarischen Welt überspannende Verständnisfigur von Hamann und Herder bis zur Berliner Aufklärung.24 Die Differenz von thesauriertem Gold und zirkulierenden Münzen schreibt die spätaufklärerische Diskussion aber auch einem Mediengegensatz von Buch und Zeitschrift, gelehrtem Traktat und populärer Abhandlung ein, sie begreift die Zeitschriften als das prädestinierte Medium, das mit seinen spezifischen populären Textsorten bestehende Wissens-, Standes-, Berufs- und Kulturgrenzen zu überschreiten besonders geeignet ist. Die Zeitschriften, heißt es in einer Apologie des Spätphilanthropen Joachim Heinrich Campe, »sind die Münze [Münzstätte, H.S.], wo die harten Thaler und Goldstücke aus den Schatzkammern der Wissenschaften, welche nie oder selten in die Hand der Armen kamen, zu Groschen und Dreiern geprägt werden, um als solche durchs ganze Land zu roulieren und zuletzt gar in den Hut des Bettlers zu fallen«.25 Beides, die Popularisierung unterschiedlicher Wissensbestände, ihre Öffnung für ein nichtgelehrtes Publikum und die überregionale Kommunikation über bestehende Kulturgrenzen hinweg, 2 3 Eine besondere Rolle spielen dabei Daniel Defoes Zeitschriften, die »Review« und der als Gegenblatt zum whigistischen »British Merchant« 1714 publizierte »Mercator«. Erst diese Zeitschriften erreichen vor und neben den Handelstraktaten ein neues Publikum, den breiten englischen Mittelstand. Vgl. Emst Schulin, Handelsstaat England. Das politische Interesse der Nation am Außenhandel vom 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1969, S. 3 2 2 u. S. 3 3 0 f . Die in Defoes »Review« von 1713 publizierte »General History of Trade« dürfte ein wichtiger Ausgangspunkt für die sozialethische Semantisierung der durch den Handel bewirkten »Zirkulation« sein: »I shall endeavour to let the Reader see in the General, what the whole World is at this time employ'd in, as to Trade [...], how Trade, like the Blood in the Veins, Circulates thro' the whole Body of Fraternities and Societies of Mankind, and Creates, as I may say, a kind of Wealth, which was never made before [...].« Zit. ebd., S. 321 f. Die »scholastische Konzeption von der Gottgewolltheit des Handels zur Ausübung der Menschenliebe« (ebd., S. 3 2 2 ) tritt hier mit dem bürgerlichen Gewinnstreben zusammen und durchbricht die alten theologischen Restriktionen. 2 4 Dazu vor allem Eric Achermann, Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller, Tübingen 1997, S. 172 ff. 2 5 Joachim Heinrich Campe, Beantwortung dieses Einwurfs [von Chr. Garves »Einwurf wider die Nützlichkeit periodischer Schriften«, H.S.], in: Braunschweigisches Journal 1 (1788), S. 1 9 - 4 4 , hier S. 32.
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gehört zu den spezifischen I n t e n t i o n e n des W i e l a n d s c h e n N a t i o n a l j o u r nals. 26 Es versteht sich als mediales K o m p e n s a t i o n s u n t e r n e h m e n der schwierigen B e d i n g u n g e n , die das dezentrale u n d vielgliedrige Staatengebilde des Alten Reichs f ü r den geistigen Austausch der res publica litteraria bot. Diesen Aspekt fasst Mercks Peritext m i t e i n e m zweiten Bildfeld in den Blick, d e m des Verkehrs bzw. des F u h r u n t e r n e h m e n s . D i e metaphorische Verschiebung folgt einer argumentativen Strategie, die die konstitutive Z u o r d n u n g des Verkehrswesens zur »Zirkulation« in den ö k o n o m i s c h e n Diskursen Physiokratie u n d Spätkameralismus aufgreift u n d m i t einer konventionalisierten Metaphorisierung periodischen Publizierens verbindet. A u f g r u n d der e n g e n organisatorischen Verbindung der Zeitungs- u n d Zeitschriftenpublizistik m i t d e m Postwesen u n d seinen infrastrukturellen B e d i n g u n g e n f o r m i e r t sich bereits f r ü h eine publizistische Selbstbeschreibungstopik, die das M e d i u m mit den M e d i e n seiner materialen Distribution ins Bild setzt. D i e p e ritextuelle M e t a p h e r v o m »Fuhrwerk« des »Teutschen Merkurs« spielt diese konventionalisierte Topik 2 7 aber bezüglich eines spezifischen Aspekts periodischen Publizierens ein, in d e m sich die besondere C h a n c e , aber auch die besondere Problematik des M e d i u m s verdichtet: die Mannigfaltigkeit k u r zer, zwanglos reflektierender Beiträge, die oft der Exposition u n d Diskussion von Wissensprovisorien galten. D i e Zeitschrift erlaubt die Ä u ß e r u n g von Vorschlägen, A n r e g u n g e n , k u r z e n Einfällen, A n f r a g e n u n d M e i n u n g e n in gesellschaftlich n o c h nicht kodifizierten Wissensbereichen; 2 8 sie e r ö f f n e t damit Laien das F o r u m u n d schafft in der Pluralität u n d Heterogenität ihrer Beiträge ein unterschiedliche Leserinteressen übergreifendes breites Publik u m , 2 9 das d e n Absatz des M e d i u m s sichert. Auf eine p r o m i n e n t e b i n n e n publizistische Textsorte, in der sich unsystematischer Reflexionsmodus u n d geselliges Ethos durchdringen, bezieht sich Mercks Peritext: den Freundesbrief. Andererseits steht die publizistische Präsenz von Wissensprovisorien,
26 Jürgen Wilke, Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688-1789). Teil II: Repertorium, Stuttgart 1978, S. 129 f. 27 Merck und Wieland bemühen diese Topik im brieflichen Austausch über die Redaktionsgeschäfte immer wieder. Vgl. Wielands Briefwechsel, hg. von der Akademie der Wissenschaften der D D R durch Hans Werner Seiffert [im folgenden zitiert als WB], 16 Bde., Berlin 1963-1998, hier WB 5, S. 620, S. 628 u. S. 636; WB 7,1, S. 73, S. 241 u. S. 288. 28 Campe, Beantwortung, S. 123, zu der besonderen Lizenz der Zeitschrift für die »öffentliche^) Pflege und weitern Ausbildung« der »beiläufige[n] Kinder des Geistes«. Diese publizistische Lizenz zur Mitteilung ephemerer Gedanken führt in den Fachzeitschriften des 18. Jahrhunderts zur Praxis eines »pulverisierten Empirismus« (Bachelard) in einer Flut von wissensprovisorischen Texten wie »Anfragen«, »Aufgaben« oder »Nachrichten«. Vgl. Thomas Kempf, Aufklärung als Disziplinierung. Studien zum Diskurs des Wissens in Intelligenzblättern und gelehrten Beilagen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, München 1991, S. 34 f. 29 Kürze und Mannigfaltigkeit der Beiträge werden in der Tradition der Moralischen Wochenschriften als unabdingbare Voraussetzung der Wissenspopularisierung genannt und gegen die systematische Lehrart gesetzt. Vgl. Martens, Nachwort, S. 420f.
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von Miszellaneen, Entwürfen und populären Kurzbeiträgen in einem direkten Zusammenhang mit den Produktionsbedingungen des Mediums. Die Zeitschrift erscheint unter Terminzwang, und sie hat ihre Beiträge für einen knappen Raum von wenigen Seiten zu organisieren. Die Postkutschenmetapher lässt sich in autoreflexiven Texten englischer Zeitungen und Zeitschriften in dem spezifisch apologetischen Sinn nachweisen, die unter Zeitdruck und Materialmangel zustande gekommene Füllung publizistischen Raums durch Verlegenheitsbeiträge zu begründen. Ebenso wie das Institut regelmäßig verkehrender Postkutschen es mit sich bringe, dass manchmal kaum oder gar keine Passagiere einstiegen und der Wagen doch vollgepackt sein müsse, ebenso seien die »political vehicles« der Zeitungen aufgrund ihrer »absolute Necessity of Plentitude« zur Aufnahme auch geringwertiger Beiträge genötigt.30 Diese apologetische Topik dürfte dem Herausgeber des »Teutschen Merkurs«, Wieland, bekannt gewesen sein,31 sicher aber ihr fundamentum in re, die publizistischen Redaktionsnöte. Das ambitionierte Programm eines überregionalen publizistischen Forums für die deutsche res publica litteraría war Wieland in den Jahren 1776-80 nicht zu erfüllen imstande. Er und Johann Heinrich Merck lieferten oft allein die Beiträge der Hefte oder mussten auf Miszellen und schlechte Ubersetzungen rekurrieren. Die Metapher von der »leichten Ladung« im Bildfeld des Verkehrs deutet diese missliche Materialnot des »Teutschen Merkurs« an, überführt die defensive Apologie aber in eine offensive Legitimation. Die publizistischen Wissensprovisorien, die unsystematisch in der Zeitschrift präsentierten und unausgegorenen Ideen, können als Inzitament des Selbstdenkens dienen und einem teleologischen Prozess der kommunikativen Wissensoptimierung überantwortet werden.32 Der ganz medienspezifische Sinn dieser peritextuellen Rede von der »Ideenzirkulation« bestünde nicht in der makroökonomischen Prozessfigur eines Ausgleichs von Mangel und Überfluss, sondern in der von Anregung und Vollendung, von Andeutung und Ausführung. Der LandschaftsEssay begreift sich so als ordnende und weiterführende Replik auf die unsystematisch »ausgeschütteten« Ideen seines Prätextes, des Freundesbriefs.33 3 0 Vgl. dazu Jeremy Black, The English Press in the Eighteenth Century, Philadelphia 1987, S. 2 5 . Die Paraphrase bezieht sich auf einen bei Black ausführlich wiedergegebenen autoreflexiven Text aus »Berrow's Worcester Journal« vom 30. Nov. 1769. 31 Wieland bezog für die Redaktion seiner Zeitschrift englische Journale. Vgl. Hans Wahl, Geschichte des Teutschen Merkur. Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im achtzehnten Jahrhundert, Berlin 1914 (Ndr. New York 1967), S. 79, Anm.l. 3 2 Campes Zeitschriftenapologie legitimiert, auf ein pädagogisches Bildfeld rekurrierend, ausdrücklich die »beiläufigen Kinder des Geistes«, die in den Journalen »vor dem Verpoltern und Umkommen« gesichert werden und dort der »öffentlichen Pflege und weitern Ausbildung« übergeben würden. Campe, Beantwortung, S. 123. 3 3 Merck, Landschaft-Mahlerey, S. 380f: »Der Mann hat alle seine Desideria, weil er deren viele hatte, gedrungen und kurz ausgeschüttet, und es dünkt mich nicht sehr unrecht, wenn man einige davon dem lieben Publiko teutscher Nation näher zur Beherzigung vorlegte.«
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Doch verweist dieser medienspezifische Kommunikationseffekt auf ein semantisches Potenzial des von Merck bemühten ökonomischen Korrespondenzbereichs, des Zirkulationsbegriffs der Spätkameralistik. Sein spezifisch raumwirtschaftliches Rahmenkonzept implizierte einen »zyklomatischen« Aspekt, die wechselseitige, »gegenursächliche« Steigerung von integrierender »Circulation« und durch sie allererst erschlossenen regionalen Wirtschaftspotenzen im »Zusammenhang« des überregionalen Marktes.34 Die ökonomische wie die kommunikative »Circulation« weckt andernorts latente Möglichkeiten und wird von deren Entfaltung selbst zu höherer Wirksamkeit gebracht. Diese fachsprachliche Modellkorrespondenz kann man dem kameralistisch gebildeten Darmstädter Kriegsrat mit gutem Gewissen unterstellen. Der publizistikapologetische Sinn der Zirkulationsmetapher lässt sich aber noch präzisieren mit dem Blick auf die peritextuelle Differenzierung zwischen gemeinnützigem »Großhändler« und egoistischem »Krämer«. Sie lenkt zugleich auf eine entscheidende Grenze in der analogen Apperzeption von Literatur und Kommerz: die scharfe, naturrechtlich sanktionierte und weithin akzeptierte Trennung von Geld und Geist. Diese Metapherngrenze spielt der Peritext ein, dementiert sie aber zugleich. Mercks und Wielands publizistische Praxis gerät in der redaktionellen Zwangssituation von Materialnot und Terminzwang in erhebliche Spannung mit den engagierten ästhetischen und literaturkritischen Qualitätsstandards des »Teutschen Merkurs«. 35 Unter diesen Bedingungen kehrt sich der von Wieland gesetzte hohe Ansprach rasch gegen den »Teutschen Merkur« selbst. Hämische Urteile über Wielands ambitionierte Zeitschrift einen die gespaltene Gelehrtenwelt. Wie ein roter Faden durchzieht die kursierende »Merkur«-Polemik der aus der Warte des traditionellen Gelehrten- wie des sich durchsetzenden neuen Poesieverständnisses unlautere Zusammenhang von Geld und Schreiben. 36 Die Polemik nimmt Bezug auf Wielands finanzielles Movens für die Gründung der Zeitschrift, 37 nämlich den Unterhalt seiner Familie, und bringt es mit den Konzessionen des Herausgebers an den Publikumsgeschmack zusammen. Devianzfiguren unlauteren kaufmänni3 4 Z u m Begriff der zyklomatischen Geschlossenheit vgl. Helmut Reichardt, Kreislaufaspekte in der Ökonomik, Tübingen 1967, S. IX u. S. 25. Das Diktum von der »gegenursächlichen« Steigerung entstammt Ludwig Benjamin Martin Schmid, Lehre von der Staatswirthschaft, Mannheim 1780, Bd.2, S. 570. 3 5 Klagen über die Notwendigkeit, schwache Beiträge aufnehmen zu müssen, durchziehen den Briefwechsel zwischen Wieland und Merck auch im Jahrgang 1777. Das Oktoberheft von 1777 kommentiert W i e l a n d : »Der M e r k u r v o m October wird die Leser mißmuthig gemacht haben - er ist strohtrocken, und die Meisten haben den Henker von Hißmanns Untersuchungen und Schmidt's Cammeral-Collegio«. W i e l a n d an Merck, 8. Okt. 1777, W B 5, S. 6 8 0 . 3 6 Wahl, Geschichte des Teutschen Merkur, S. 81 f., hier mit bezug auf die in diese Richtung zielende Kritik Goethes, Sulzers und des Gleim-Kreises. 3 7 Vgl. Sabine Welsch, Mitarbeiter bei Nicolai und Wieland, in: MKat, S. 1 3 4 - 1 3 9 .
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sehen und gewerbetreibenden Gebarens durchziehen die kritischen Reflexionen der »Merkur«-Kritiker. Der junge Goethe charakterisiert den »Teutschen Merkur« als »Trödelkrämer«, der »seine philosophisch moralisch poetische Bijouteries, Etoffes, Dentelles pp. [...] an Weiber und Kinder verhandelte«, J . M. R. Lenz' satirische Lyrik auf Wieland benennt wiederholt die Entwürdigung der hohen Dichtkunst durch das einträgliche Bedienen des Publikumsgeschmacks, der Schweizer Aufklärer Johann Georg Sulzer lamentiert über die »merkantilische Erniedrigung der Muse Wielands«, und selbst aus dem Wieland nahestehenden Kreis des Lyrikers Johann Wilhelm Ludwig Gleim werden dem »Merkur«-Herausgeber Vorwürfe über die Kommerzialisierung seiner literarischen Arbeit gemacht.38 Angesichts dieser Urteile lässt sich der apologetische Sinn des Peritextes weiter präzisieren: der Rekurs auf die Zirkulationsmetapher in dem doppelten Bildfeld von Handel und Verkehr diente der Negation jener Wieland unterstellten niedrigen finanziellen Interessen. Gerade die peritextuelle Ausgrenzung der devianten Krämerfigur aus dem ökonomischen Bildfeld verwahrt sich gegen das semantische Feld, das Goethes abfälliges Diktum vom »Trödelkrämer« bestimmt: gegen die Konjunktion von eigennützigem Gewinnstreben und Betrug durch Ramsch. Doch zeigt der metaphorische Rahmen in Mercks Peritext eine eigentümliche Umbesetzung. Bezeichnenderweise spart Merck genau jenes egoistische Kardinalmotiv des Krämers aus, das auch die brieflich und mündlich kolportierte »Merkur«-Häme prägt: die Geldgier. Denn nicht mit Geld, so gibt der apologetische Peritext zu verstehen, füllt der literarische Krämer seinen Beutel, sondern sein Egoismus zielt genau auf die ständische »Ehre« des gelehrten literatus. Mercks sozialethische Differenzierung der beiden ökonomischen Figuren Kaufmann und Krämer unterläuft damit das zentrale Raster der ökonomisch metaphorisierenden »Merkur-Polemik: die Entgegensetzung von pekuniärem Gewinn und Geist im traditionellen Rollenverständnis literarischer-gelehrter Autorschaft wie in der neuen Definition poetischer Existenz. 39 Mit der Ausblendung des Geldes aus der ökonomisch verhandelten Opposition von Gemeinwohl und Eigennutz umgeht Merck den neuralgischen Punkt des Bildfeldes, entwickelt aber auch hier eine offensive Perspektive aus der Apologie. Die Identifikation von Eigennutz und Ehrbarkeit dekouvriert hintersinnig, in subtiler Ver-
3 8 Vgl. Lenz' satirische »Ekloge Menalk und Mopsus« (1775), in: Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Briefe. Bd.3: Briefe und Gedichte, hg. v. Sigrid Damm, Frankfurt/ M. 1992, S. 1 5 8 - 1 5 9 ; die »Eloge de feu Msieur **nd«, ebd., S. 166, mit ihrer Spitze gegen die »Abonnenten zum Merkuron«. Zu Lenz' Auseinandersetzung mit Wieland vgl. Hans-Gerd Winter, J.M.R. Lenz, Stuttgart 1987, S. 3 9 f.; Wahl, Geschichte des Teutschen Merkur, S. 81 f.; Wolfgang Ungern-Sternherg, Wieland und das Verlagswesen seiner Zeit. Studien zur Entstehung des freien Schriftstellertums in Deutschland, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1974), Sp. 1211-1534, hier Sp. 1350, Anm. 3 6 4 . 3 9 Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 1981, S. 66 ff.
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fügung über metaphorische Konventionen, die »ehrbaren« Kritiker des »Teutschen Merkurs«: In der Ruhmsucht liegt der Egoismus, nicht bloß im Schreiben ums Geld. 40
2. Peritext, Prätext und Landschafts-Essay. Ideenzirkulation versus Produktionsästhetik des »beschränkten Sinns« Mercks einleitende Öffentlichkeitsreflexionen entfalten ihr komplexes semantisches Potenzial aber erst recht in einer kontextuellen Lektüre, die den Peritext mit seiner unmittelbaren Umgebung zusammensieht, mit dem inzitierenden publizistischen Prätext aus dem Juliheft und mit dem eigentlichen Landschaftsessay. Die drei Texte konstituieren eine intrikate Lektüresituation, die die peritextuelle Öffentlichkeitsmetapher der »Ideenzirkulation« in eine polyperspektivische Kommentierung einbettet und mit kunstkritischen Positionen der Essaytexte selbst konfrontiert. Ein affirmativer Bezug der »Ideenzirkulation« auf den publizistischen Prätext war bereits mit der dort eingeführten Unterscheidung einer gemeinnützigen »Ideenzirkulation« unter »Privatleuten« von einem unzugänglichen Wissensschatz fürstlicher Residenzen gegeben. Aber die Bezüge zwischen Peritext und Prätext reichen noch weiter. Der »Brief« eines »Freundes« aus dem Juliheft des Merkurs führt die »Circulation« geistigen »Reichtums« mit einer städte typologischen Differenzierung sogar auf eine intensivierte Geldzirkulation zurück. Behauptet wird also ein unmittelbarer Sachzusammenhang zwischen der ökonomischen Metapher und ihrem Bildspender. Im Gegensatz zu den »Residenzen Teutschlands«, heißt es hier, herrsche in den »Reichsund Handelsstädte [n]« eine besondere »Kunstliebhaberey«. Denn bei dem »Handelsmann circulirt mehr Geld, und kann folglich auch mehr Geld ruhen, als in der Tasche des Herrendieners und Hofmanns«. Dieses überschüssige »tote Capital« könne dann für den Ankauf auch unbekannter Kunstwerke ausgegeben werden. 41 Wenn Mercks peritextuelle Öffentlichkeitsreflexionen sich also auf den kaufmännischen Habitus berufen und die ökonomische Metapher der »Ideenzirkulation« bemühen, so knüpfen sie bewusst und zunächst affirmativ an das im »Brief« eines »Freundes« skizzierte Wechselverhältnis von Ökonomie und öffentlich verfügbarem Kunstwissen an. Nicht nur die Ideen über die Landschaftsmalerei werden so von 40 Die künstlerische Produktion f ü r Geld, »das doch so vielen Leuten das ekelhafteste ist das man denken kann«, legitimieren Mercks kunstkritische Reflexionen prinzipiell, obwohl sie die pekuniäre »Lustseuche unter den Künstlern« in großen Städten b e n e n n e n (Johann Heinrich Merck, Briefe über Mahler u n d Mahlerey, MW, S. 403-414, hier S. 408): W e n n »große Kräfte in Bewegung gesezt werden, so mag der Endzwek profan, oder heilig seyn, so werden allzeit große Resultate davon entspringen.« Ders., An den Herausgeber des T. M e r kurs, MW, S. 4 5 0 - 4 5 5 , hier S. 452. Das oben angeführte Zitat ebd. 41 Johann Heinrich Merck, An den Herausgeber des T.M., T M III 1777, S. 4 9 - 5 9 , hier S. 51 f.
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dem publizistischen Prätext stimuliert, sondern der Peritext selbst zehrt von den hier gegebenen Anregungen. Doch wie gestalten sich die Bezüge zwischen peritextuellem Öffentlichkeitsräsonnement und Landschaftsessay? Ein mittelbarer Reflex des Peritextes ist darin zu sehen, dass auch der Landschafts-Essay selbst in apologetischer Absicht argumentiert. Er schreibt gegen die Hierarchien des alteuropäischen Gattungsgefüges an zugunsten des als unbedeutend, »willkürlich« oder »leicht« verrufenen Landschaftgenres, an das sich »mancher« wage. Aus dieser Apologie heraus entwickelt der Essay nichts weniger als eine antiklassizistische Produktionsästhetik des Genies, die den spezifisch bildkünstlerischen Geltungshorizont aufs Prinzipielle der Kunst hin transzendiert. Als »erste und distinktive Grundlage des Landschafters« benennt Mercks Text das »Hängen am Unbedeutenden, Alltäglichen«. Eingeleitet ist mit dieser Formel ein sympathetischer und formalästhetischer Diskurs, der die eigentliche Kunst gerade nicht wie der akademische Klassizismus aus der Bedeutung des Sujets herleitet, sondern im liebenden Gefühl voraussetzt und in der Darstellungsweise sieht. 42 Das »große poetische Gefühl [...] alles was unter der Sonne liegt, merkwürdig zu finden«, bietet die Voraussetzung für eine Nobilitierung des Insignifikanten und Randständigen im künstlerischen Schaffensprozess. Die »Zauberey der Behandlung«, die ihrerseits die technischen Kenntnisse in Perspektivlehre bzw. Beleuchtung ebenso voraussetzt wie das genaue Studium eines Gegenstandes, kann aus dem »Alltäglichen«, »Unbedeutenden« »Magie« hervorbringen. 43 Zweitens kennzeichne das Genie aber die Fähigkeit, lange an einem Gegenstand zu »wohnen, ihn mit Liebe [zu] umfangen, seine Hütte darunter [zu] bauen«. Merck entwickelt den emphatischen Begriff eines langwierigen, mühevollen Studiums, einer Verbindung von strikt lokalgebundenem und zugleich esoterischem, mystischem Wissen. Im Text ist die Rede von den »Geheimnissen« der Natur, von der »Magie« der Beleuchtung. 44 Dem entspricht die Entlastung genialer Schaffensprozesse von den Postulaten unmittelbarer Nützlichkeit, ihre Entfernung von einem sofort verwertenden Markt. Das Genie soll die Fähigkeit zu Ruhe und innerer Sammlung besitzen, es soll nicht gleich produzieren. Ein verinnerlichter hoher Qualitätsstandard verleiht ihm vielmehr Scheu vor der Ausführung des Werks und seiner Publikation. Nur das »Non-Genie« habe »immer das Jucken zum 42 Immer noch einschlägig zum Aufbegehren des Sturm und Drang gegen die klassizistischen decorums- Regeln: Hans Jürgen Sellings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, München 1976, S. 55-67, insbes. S. 63 ff Schings bezieht sich dabei auf Goethes Falconet-Aufsatz, einen wichtigen Referenzort auch der Merckschen Kunstkritik. Vgl .Johann Wolfgang Goethe, Nach Falconet und über Falconet (1776), in: Goethes Werke XII (Hamburger Ausgabe), München 7 1973, S. 2 3 - 2 8 . 43 Merck, Ueber die Landschaft-Mahlerey, S. 381 f. Die Formel von der »Zauberey der Behandlung« entstammt dem publizistischen Prätext aus dem Juliheft. 44 Ebd., S. 380.
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Zeugen«. 4 5 Hält m a n nun diese Produktionsästhetik eines vom literarischen Markt zurückgezogenen Schaffens mit dem emphatischen Bekenntnis zu der publizistischen Ideenzirkulation in den einleitenden Reflexionen zusammen, deutet sich ein Gegensatz an, der offensiv sogar als untergründiges Dementi des Peritextes durch den essayistischen Haupttext ausgelegt werden könnte. In der einsamen und gegenstandsfixierten »Beschränktheit des Sinnes«, im instinktartigen Arbeiten in einem »kurzgespannten Gesichtskreis«, 46 so formuliert es ein anderer Essay Mercks in Wielands Zeitschrift polemisch, liegt das Muster genialer Produktivität, nicht im Gedankeninzitament der öffentlichen »Ideenzirkulation«. Doch mag die Konstruktion eines Widerspruchs prima vista vielleicht nicht zwingend erscheinen. D e n n die Opposition im Reflexionsmodus betrifft ja differente Aktionsfelder: die Kunstkritik einerseits u n d die Kunstproduktion andererseits. Ein Blick zurück auf den publizistischen Prätext, den gedankeninzitierenden »Brief« eines »Freundes«, vermag allerdings die Bedenken zu nähren. D e n n die dort aufgetane Korrelation zwischen kunstkritischer Kompetenz, Ö k o n o m i e und öffentlicher Verfügbarkeit von Kunst und Kunstwissen, von Geldumlauf u n d Ideenzirkulation, zeigt merkwürdige Bruchlinien. Das »bloße Kauffen und Aufbewahren«, wiewohl zunächst verteidigt, mache doch nur einen »niedern Grad« der »Kunstliebhaberey« aus, heißt es hier, und ihr entspricht nicht der Habitus eines umtriebigen »Geschäftmann[es]«, sondern der des in M u ß e studierenden »Land-Edelmannjes]«, des »Domherrn«, des »Rentierer[s]« und des Garnisonsoffiziers. 47 U n d auch die intensivierte Geldzirkulation und der durch sie angekurbelte K o m m e r z förderten, so der Prätext, nicht unmittelbar Kunstsinnigkeit und Wissensfortschritt, wie zeitgenössische Kulturtheorien im Umkreis der Luxusdebatte mit der direkten Parallelisierung von Waren- und Ideenkommerz argumentieren, 4 8 sondern erst durch die Thesaurierung, durch den Aufbau eines »todten Capitals« kann die »Kunstliebhaberey« gedeihen. 4 9 Die im »Brief« eines »Freundes« anfangs vorgetragene Demontage der traditionellen Thesaurierungstopik zugunsten der Rede von der zirkulierenden »Masse an Kenntnißen« scheint damit fraglich.
45 Ebd., S. 383 f. 46 Johann Heinrich Merck, Eines Ungenannten Fragment einer Beantwortung über die Frage im Merkur: welches sind die sichersten Kennzeichen des geraden Menschenverstandes (1776), MW, S. 4 5 2 - 4 5 8 , hier S. 354 f. 47 Merck, An den Herausgeber, T M III 1777, S. 52 f. 48 Z u denken ist dabei vor allem an die von physiokratischen Ideen inspirierten Kulturtheorien des j u n g e n Georg Forster. Seine visionäre Beschreibung der Handelsmetropole Amsterdam in den »Ansichten vom Niederrhein« (1790) verbindet den weltumspannenden Warentausch mit dem »Umlauf« der Ideen. Der Wissensfortschritt erscheint hier als direkte Funktion der Umlaufgeschwindigkeit. Vgl. dazu Jörn Garber, Anthropologie und Geschichte. Spätaufklärerische Staats- und Geschichtsdeutung im Metaphernfeld von Mechanismus und Organismus, in: Claus-Volker Klenke (Hg.), Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive, Berlin 1994, S. 193-210, insbes. S. 207. 49 Merck, An den Herausgeber, T M III 1777, S. 52.
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3. Die literarische Öffentlichkeit in der kulturkritischen Essayistik Mercks: Das kollektive Gedächtnis und das Zirkulieren der Gemeinplätze Dass der genieästhetische Entwurf des beschränkten und zurückgezogenen Produktionshabitus tatsächlich gegen die idealisierenden Selbstbeschreibungsmodelle der aufgeklärten Öffentlichkeit zielt, zeigt das weitere textuelle Umfeld der in Wielands Zeitschrift veröffentlichten kulturkritischen Essays Mercks. Auf die bekannten Effekte des kommerzialisierten Buchmarktes: Parteibildung, Polemik, das Versagen ästhetischer und kritischer Standards, das Auseinanderklaffen von Markt und literarischer Qualität 50 reagieren Wieland wie Merck mit zunehmender, allerdings unterschiedlich entwickelter Enttäuschung; 51 Mercks Perspektive auf das literarische Geschäft radikalisiert sich bis zu Rückzugsphantasien, aggressiven und zynischen Äußerungen. Die privaten redaktionellen Verständigungen zwischen Wieland und Merck verdichten sich immer wieder zu einer polemischen Topik, die die öffentliche Kommunikationskultur dementiert. Frühneuzeitliche Beschämungs- und Bestrafungsrituale und eine nichtinvestitive Ökonomie verschwendeter, dysfunktionaler und degoutanter Körperflüssigkeiten fungieren als metaphorisches Raster der Wahrnehmung von Öffentlichkeit; 52 sie durchkreuzen die in der peritextuellen »Ideenzirkulation« entworfenen Vorstellungen eines auf wechselseitigem Inzitament beruhenden Wissensfortschritts. Als pathogene Entlastung von degoutanten oder schambesetzten Körperflüssigkeiten, als Onanie, Beschiss und Bespeien des Publikums thematisiert Merck, sekundiert von Wieland, sein eigenes Schreiben. Er versteht es als Abfuhr melancholisch-hypochondrischer Affekte und folgt dabei dem direkten Wortsinn humoralpathologischer Konzepte in der zeitgenössischen Medizin: Die Genese von Hypochondrie und Melancholie aus den Stockungen des Bluts und den Verstopfungen des Unterleibs impliziert ihre Uberwindung im Modus gelingender Ausscheidungsvorgänge. Doch entzieht sich die nichtinvestitive Ökonomie beschmutzender und beschämender Exkremente in der Öffentlichkeitspolemik Wielands und Mercks
5 0 Dazu Christa Bürger, Literarischer Markt und Öffentlichkeit am Ausgang des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Dies. / Peter Bürger (Hg.), Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, Frankfurt/ M. 1980, S. 162-212. 51 Wieland hält trotz allem an dem als Ideal anvisierten Ausgleich von Kommerz und Kunst, von literarischem Wert und Publikumserfolg fest. Ungem-Stemberg, Wieland, Sp. 1365. 52 Merck an Höpfner, 23. Aug. 1777, in: Ders., Briefe, hg. v. Herbert Kraft, Frankfurt/ M. 1968, S. 155 f.; Wieland an Merck, 1. März 1779, W B 7,1, S. 179. Vgl. auch die Äußerungen Wielands über Mercks Oheim-Geschichte: Wieland an Merck, 12. April und Okt. 1778, W B 7,1, S. 4 9 u. S. 125. Der Oheim sei die »bequemste Art von Seelen-Stuhlgang«. Ferner Wieland an Merck, 13. Juni 1777, mit der Fäkalientopik, aber auch der Rücknahme der harten Urteile Mercks: W B 5, S. 627.
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jener komplementären Verschränkung von hygienischer Zivilisierung resp. Verschließung des Körpers und reproduktiver Körperökonomie, die das Zirkulationsparadigma bezeichnet. 53 Die Rede vom Bespeien und Bescheißen des Publikums charakterisiert eine publizistische Praxis kulturkritischer Polemik und übellauniger Satire Mercks am Rande und jenseits des guten Geschmacks, die Wieland zugleich fördert und einzudämmen bestrebt ist.54 »[...] ich däuchte«, gibt Wieland Mitte Dezember 1779 seinem Darmstädter Hauptmitarbeiter zu verstehen, »wir sollten auf keine art noch weise die bis zum Eckel einreissende cynische mode sich dem Publico so in puribus naturalibus mit bloßem Arsch zu zeigen, vor dessen Augen zu pissen und zu kacken, ihm ins Gesicht zu nießen und zu rülpsen etc etc gut heissen, ja noch gar aufmuntern [,..]«. 55 In die kulturkritischen Essays Mercks schlägt die degoutante Offentlichkeitspolemik allerdings nicht durch; sie entwickeln aber gegen die affirmativen Metaphern der »Ideenzirkulation« eine pejorative Umkehrtopik, die bestimmte Defekte der literarischen Öffentlichkeit in den Blick fasst. Seit 1772, seit seiner kurzfristigen Leitung der »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«, fokussiert sich eine medienkritische Perspektive Mercks auf die kontraproduktiven Folgeerscheinungen einer breiten Popularisierung von Kunstwissen. In Mercks »Briefen über Mahler und Mahlerey« heißt es: »Ich glaube, die Liebe z u r K u n s t ist zu ausgebreitet, u n d die T r a d i t i o n v o n ihr h a t sich zu sehr allen S t ä n d e n m i t g e t h e i l t . E i n e encyclopädische, superficielle T h e o r i e k a n n a m E n d e j e d e r M ü ß i g g ä n g e r fassen. Allein d e r K n ä u e l aller d e r p r a k t i s c h e n E r f a h r u n g e n ist so v e r w o r r e n u n d mannichfaltig, d a ß es w o h l d e m j e n i g e n , d e r nicht a r b e i t e n will, bald d a f ü r g r a u e n soll.« 56
53 Vgl. dazu Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 72 ff., insbes. 74: »Zur wachsenden Intoleranz gegenüber den Gerüchen und den Exkreten der anderen, als Ausdruck der wachsenden Aufmerksamkeit auf die äußeren Grenzen, tritt ergänzend eine inwendige Ö k o n o m i e , die eine weitblickende Nutzenrechnung im U m g a n g mit den eigenen Säften gebietet.« 54 Vgl. Wielands Urteil über Mercks burleske, in den »Teutschen Merkur« aber nicht aufgenommene »Matinée eines Recensenten« (MW, S. 167-169): »Sie haben eine ganz eigene und einzige Gabe f ü r diese Art von Compositionen. W e n n Ihnen etwa bald wieder etwas in diesem genre eingegeben würde, das einem ehrsamen Publico vorgelegt werden dürfte, so denken Sie ja an den Merkur.« Wieland an Merck, 23. März 1776, W B 5, S. 487. Wieland an Merck, 26. Juni 1780, W B 7,1, S. 290: Mercks »kleine Ejaculation über das halbichte Wesen« habe ihm eine »gar gute Stunde gemacht«, das »gros der Leser wirds freilich nicht gar zu gut hinterkriegen können«. Mercks in »übler Laune« dem Publikum »mit einer gar zu merklichen Verachtung ins Gesicht gespiene Brocken« seien in einem »Daily Paper« besser angebracht als im »Teutschen Merkur«. 55 Wieland an Merck, Mitte D e z e m b e r 1779, W B 7,1, S. 249. 56 Johann Heinrich Merck, Briefe über Mahler und Mahlerey, MW, S. 403-414, hier S. 407 f. Als Beispiel mühseligen Studiums benennt der Briefschreiber die »trocknen Praecepta des Da Vinci«.
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Merck beobachtet die schnelle Verfügbarkeit von ästhetischen Terminologien für das breite Publikum in Wörterbüchern und in der periodischen Publizistik. Die Dominanz öffentlicher Kunstkommunikation durch die »loci communes« etwa eines populären Winckelmann-Klassizismus führt aus der Perspektive Mercks aber zu einer Grenzverwischung zwischen einem rein sozialdistinktiven Konversationswissen für »Lebensart« und »Erziehung« 57 und einem sich im Maltechnischen bewährenden, durch eigenes Studium zu erwerbenden Spezialwissen der praktizierenden Künstler. Erst es begründe den wahren Kunstgenuss und die Kunstkritik. Das wissenspopularisierende Wechselverhältnis von Oberflächlichkeit, großer sozialer Reichweite und geringem Aneignungsaufwand, das sich für Merck in den modischen ästhetischen Schlagworten verdichtet, bezeichnet den Einsatzort für eine kritische Zirkulationsmetapher: »Jedes raschgesprochene Urtheil eines Kunstrichters, oder des Partheygängers einer entgegengesezten Schule wird ausser dem Zusammenhang ausgehoben, und in ein abstraktes Axiom verwandelt, das nun bey Fürsten und Bauern Jahrhunderte gilt und cirkulirt.« 58 Mercks Kulturkritik benennt in der Formel vom zirkulierenden Axiom einen Defekt, den die spätaufklärerische Debatte über die Lesesucht rekurrent thematisiert und der ursprünglich den aufklärerischen Anspruch der Wörterbücher begründete: die Trennung von Begriff und Wort. Waren die Wörterbücher vor allem in Frankreich angetreten, das elitäre Kunstvokabular definitorisch zu umreißen und so allgemein zugänglich zu machen, 59 so weisen Mercks kulturkritische Essays die Referenzblindheit den schlagworthaft verknappenden Wörterbücher selbst zu und lokalisieren den Defekt darüber hinaus in der geselligen Kunstkonversation, für die die aufklärerischen Lexika und popularisierenden Zeitschriftenbeiträge das Laienpublikum instruieren sollten. 60 Das »raschgesprochene«, dekontextualisierte Diktum der wissenspopularisierenden Medien wiederholt sich hier, im geselligen Gespräch über Kunst, als widerstandsfreier Wortwechsel. Ohne anatomische Kenntnisse werde von den »Verkürzungen des Conegio« »ge-
57 Ebd., S. 408. 58 Ebd., S. 403 f. 59 Vgl. dazu einlässlich die Studie von Tom Holert, Künstlerwissen. Studien zur Semantik künstlerischer Kompetenz im Frankreich des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, München 1998, hier S. 152 f. 60 Genau dieses Phänomen lasten Friedrich Just Riedels »Briefe über das Publikum« bereits 1768 der journalistischen Kunstkritik an: »Nächstdem haben sie [die Journalisten, H.S.] eine besondere Gelegenheit, von den Werken der Mahlerey und der Bildhauerkunst zu sprechen, ohne etwas davon zu verstehen. Ein Paar von ihnen, sie nennen sie Hagedorn und Winkelmann, hatten sich einen großen Namen gemacht; sogleich lief ihnen jedermann nach, ohne zu wißen, wohin der Weg gehen würde [...], und alle Schulen ertönen vom Helldunkel, vom Colorit, von Compositionen, Gruppen, Skizzen und Carricaturen.« Friedrich Just Riedel, Briefe über das Publikum (1768), hg. v. Eckart Feldmeier, Wien 1973, S. 97. Zur Konversationsbezogenheit solch publizistischen Surrogatwissens vgl. ebd., S. 108 f.
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plaudert«, von der »Reinheit des Conturns« oder vom »Clairobscur«. 61 Mercks Kritik überschreitet dabei den lexikographischen Bereich hin zu einer umfassenden Demontage des wissenspopularisierenden Medienverbunds. Ins Fadenkreuz gerät so auch die periodische Publizistik mit ihren gefälligen Textsorten: etwa der - fingierte - Brief und sein konversationelles Ethos der zwanglosen, gesellig-dialogischen Wissenspräsentation. Mercks »Briefe über Mahler und Mahlerey«, ebenfalls im »Teutschen Merkur« erschienen, unterminieren den popularisierenden Gestus des publizistischen Binnenmediums im provozierenden Ton einer Strafpredigt: Das auf eigene Praxis gegründete Kunstwissen lässt sich nicht im Plauderton kommunizieren. 62 Die oben angeführte pejorative Zirkulationsmetapher Mercks hebt vor allem zwei Aspekte devianter Kunstkonversation heraus: den langdauernder Beharrlichkeit und Änderungsresistenz des Kommunizierten einerseits und den seiner ständeübergreifenden Gültigkeit andererseits. Ein zentraler kritischer Aspekt aufklärerischer Kommunikation liegt in dem Konflikt mit der Beharrungskraft traditionaler Wissensbestände, vor allem in den Vorurteilen des niederen »Volks«. Die unterschiedlichen Richtungen der Aufklärung reagieren darauf mit differenzierten kommunikativen Modellen des Wechselbezugs öffentlicher Kommunikation mit dieser Sphäre resistenter Traditionsbildungen. 63 Mercks Essays verzeichnen dagegen einen paradoxen Effekt aufgeklärter öffentlicher Kommunikation und ihres Gesprächsparadigmas: Die lexikographisch-publizistische Wissenspopularisierung schafft selbst einen sich ständig reproduzierenden Bereich aufklärungsresistenter Vorurteile, die endlose »Zirkulation« blinder Signifikanten. 64 Die gedächtniskritischen Implikationen der in der Spätaufklärung einsetzenden Debatte über Lesesucht und Bücherschwemme erfahren hier, in diesen Reflexionen Mercks über die Resistenz eines populären, öffentlich allseits verfügbaren Kunstwissens, eine quer zu den üblichen Argumentationslinien liegende Ausrichtung. Denn die spätaufklärerischen Kritiker der Lesesucht benennen
61 Merck, Briefe über Mahler, S. 407. 62 Ebd., S. 409: »Ich werde Ihnen zwar i m m e r nur negativ predigen können, und der Unterricht selber, der geradezu lehrt, ist kein Werk, das in Einem Briefe vorgetragen wird.« 63 Beispiele dafür liefert etwa das Offentlichkeitsräsonnement der späteren Physiokraten, insbes. Le Mercier und seine Auseinandersetzung mit der vorurteilsbehafteten »opinion publique«. Vgl. Heinrich Häufle, Aufklärung und Ö k o n o m i e . Z u r Position der Physiokraten im siècle des Lumières, M ü n c h e n 1977, S. 96 f. Ein anderes Diskussionsfeld bietet die spezifisch deutsche »Volksaufklärung«. 64 In diesem Sinne verwendet noch Mercks letzter publizistischer Beitrag zur kontemporären bildenden Kunst, seine Apologie der Reiterstatue Falconets im »Teutschen M e r kur« (TM III 1787, S. 70-73), die Zirkulationsmetapher. »Noch eine Anklage« gegen dieses Kunstwerk, »die in Europa circulirt«, und die »durch nichts als blossen Augenschein widerlegt werden« könne, sei die Auffassung, die Statue stelle Peter den Großen auf einem bergan galoppierenden Pferd dar. »Allein wer kann dafür, wenn Augen urtheilen, die nicht sehen können.« Ebd., S. 72.
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vor allem den problematischen Konnex von Diffusionsintensität, thematischer Heterogenität und Vergessen als Folgelast der extensiven Lektüre in den wissenspopularisierenden Medien, besonders aber der Zeitschriftenpublizistik: Der »Geist der Flüchtigkeit und Abwechslung« führe zum Vergessen »älterer gründlicher Werke«, 6 5 das selektionslose Durcheinanderlesen publizistischer Beiträge aus unterschiedlichsten Wissensbereichen verhindere das mnemotechnisch belangvolle Anknüpfen einer neuen Idee an bereits vorhandene Vorstellungen und lasse sie wie »eine Rauchwolke, im Augenblick ihres Entstehens wieder verfliegen und einer anderen Platz machen«. 66 Aus der Warte eines sich etablierenden organischen Werkverständnisses wird nachgerade die publizistische Veröffentlichung schöner Literatur zum Skandalon einer literarischen Erinnerungskultur. Merck solle seine in Fortsetzungen geplante OAeim-Gcschichte doch nicht in dem »Sau Merkur« veröffentlichen, sondern zu einem Buch vereinen, rät der Geheimrat Goethe seinem ehemaligen Darmstädter Freund: »In dem Sau Merkur ist's doch, als ob man was in eine Cloake würfe, es ist recht der Vergessenheit gewidmet und so schnitzelweis genießt kein Mensch was.« 67 In der Tradition dieser Entgegensetzung von intensiver publizistischer »Ideenzirkulation« und kollektivem Gedächtnis steht das Archivierungsunternehmen der beiden Spätphilanthropen Johann Heinrich Christoph Beutler und Johann Christoph Friedrich Guts-Muths. Sie geben 1790 ein »Allgemeines Sachregister« der wichtigsten deutschen »Zeit- und Wochenschriften« heraus, um die Auffindbarkeit publizistischer Beiträge zu garantieren. Die emphatische Zirkulationsmetapher 68 tritt hier mit der die Verfügbarkeit und Auffindbarkeit kommunizierenden Thesaurierungstopik zusammen: die Zeitschriften, heißt es, seien »die Vorratskammern des menschlichen Verstandes geworden«, in ihnen lägen die »größten Schätze des menschlichen Geistes zum allgemeinen Gebrauch«. 69 Im Gegensatz zur kritischen Konstellation von gesteigerter »Ideenzirkulation« und Vergessen thematisiert Merck an den wissenspopularisierenden
6 5 Johann Gottfried Pähl, Warum ist die deutsche Nation in unserm Zeitalter so reich an Schriftstellern und Büchern, in: Der Weltbürger, Zürich 1792, S. 625. 6 6 Wigand, Ist angehenden Studirenden das Lesen der Zeitschriften zu empfehlen?, in: Braunschweigisches Journal 3 (1790), S. 3 9 8 - 4 3 2 , hier S. 407. 67 Goethe an Merck, 5. August 1778, in: Johann Heinrich Mercks Schriften und Briefwechsel, hg. v. Kurt Wolff, Bd.2, Leipzig 1909, S. 123. 68 »Durch die Zeitschriften wurden die Kenntnisse, welche sonst nur das Eigenthum der Gelehrten waren, und in Büchern aufbewahrt wurden, die der größre Theil der Nation nicht verstand, nicht lesen konnte, und nicht lesen mochte, diese Kenntnisse der Gelehrten wurden durch die Zeitschriften allgemein in Umlauf gebracht, gereinigt, und in die allgemeine Volkssprache übergetragen, und giengen gleich einer bequemen Scheidemünze durch aller Hände.« Johann Heinrich Christoph Beutler / Johann Christoph Friedrich Guts-Muths, Allgemeines Sachregister über die wichtigsten deutschen Zeit- und Wochenschriften, Bd.l, Leipzig 1790 (Ndr. Hildesheim 1976), Vorrede, S. Ilf. 69 Ebd., S. VI.
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Medien die Fixierung falscher Urteile und den Aufbau von Vorurteilsstrukturen im kollektiven Langzeitgedächtnis aller Stände.70 Die peritextuelle Metapher öffentlicher, unterschiedliche Räume und Stände übergreifender Ideenzirkulation, ihre dialogische Prozessfigur von Gedankenanregung und Ausführung und ihr emphatischer Partizipationsgestus gerät angesichts dieses öffentlichkeitskritischen essayistischen Räsonnements in ein reichlich diffuses Zwielicht. Seit seiner Auseinandersetzung mit Johann Georg Sulzers popularphilosophischem Kunstwörterbuch, der »Allgemeinen Theorie der schönen Künste«, seit 1772 also, vertritt Merck eine Position, die gegen das »Zirkulieren« von Gemeinplätzen die kunstkritische Urteilskompetenz einzig dem selbst praktizierenden Liebhaber vorbehält. Er solle sich, so die Sulzer-Rezension Goethes und Mercks in den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« (1772), mit dem genialen Künstler im Rahmen einer »lebendigen Theorie« austauschen und sich ihm so nähern. 71 Gerade der den Landschaftsessay anregende publizistische Prätext im Juliheft des »Teutschen Merkurs« zieht diese engen Kompetenzgrenzen kunstkritischer Rede. Ohne »Erfahrung ist kein Genuß, und der Kenner sieht nur so weit als er selbst Künstler ist«, heißt es hier.72 Spätestens das Auftauchen dieser Merckschen Position im inzitierenden Prätext entbirgt den Landschaftsessay selbst als drastische Form der Kommunikationsverweigerung, die dem dialogisch-geselligen Ethos der peritextuellen Zirkulationsmetapher das Wasser abgräbt. Die beiden kunstkritischen Essays im »Merkur« von 1777 stammen beide von Johann Heinrich Merck; der angeblich auf fremde Anregung entstandene Text über die Landschaftsmalerei reformuliert eigene Ideen des früheren »Merkur«-Beitrags, des »Briefs« eines »Freundes«. Der den LandschaftsEssay einleitende Peritext liefert nichts anderes als ein publizistisches Simulakrum 73 der »Ideenzirkulation«, er simuliert die dialogische Prozessfigur von wissensprovisorischem Anregen und fremdem Zuendedenken. Solche Inszenierungen und Simulationen kollektiver Meinungsbildung sind der periodischen Publizistik seit der Frühaufklärung geläufig; sie finden ihren Einsatz aus marktstrategischem Kalkül ebenso wie aus Gründen der kom-
70 Dass mit diesem Urteil nicht die gesamte lexikographische Praxis der Hoch- und Spätaufklärung erfasst wird, belegt ein Blick auf die Artikel des praktizierenden Kenners Watelet in der »Encyclopédie« und auf den in diesen Beiträgen herrschenden hohen sprachkritischen und -theoretischen Standard. Vgl. dazu Holert, Künstlerwissen, S. 1 5 6 ff. 71 Johann Wolfgang Goethe / Johann Heinrich Merck [Rez. zu:], Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, betrachtet von J. G. Sulzer, MW, S. 5 6 6 - 5 7 1 , hier S. 571. Die Zuweisung der Rezensionsanteile bei Bräuning-Oktavio, Frankfurter Gelehrte Anzeigen, S. 712. 72 Merck, A n den Herausgeber, T M III 1777, S. 59. 73 In der neueren Medientheorie bezeichnet der Begriff eine »Kopie ohne Original«. Dazu Julika Griem, Art. »Simulakrum«, in: Nünning, Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 4 9 0 .
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munikativen Modellbildung. 74 Das Frappierende des Merckschen Dialogizitäts-Simulakrums liegt allerdings darin, dass es nicht notwendig gewesen wäre. Seit dem Oktober 1776 waren Wilhelm Heinses Gemäldebriefe in Wielands Zeitschrift erschienen, und gerade Heinses Beitrag vom Maiheft 1777 berührte sich mit seinen antiklassizistischen Gedanken über die Malerausbildung in wesentlichen Punkten mit den genieästhetischen Postulaten des Landschaftsaufsatzes: 75 Nivellierung der traditionellen Gattungshierarchie zugunsten einer Kunst des produktions- wie rezeptionsästhetisch verstandenen »Gefühls« und »Lebens«, der Vorrang der Natur und des individuellen bzw. charakteristischen Schönen vor dem »geflickten« klassizistischen Idealschönen, schließlich die Abweisung eines normativen Vorbildes in der griechischen Antike zugunsten einer aufje eigene, regional und historisch sich wandelnde Lebenswelten bezogenen Kunst. Dass Mercks Überlegungen sich diesem Bezug und damit einer realen Austauschsituation verweigern, verleiht der peritextuellen Offentlichkeitsreflexion und ihrer Zirkulationsmetapher ihr vielleicht drastischstes Dementi. Sie figuriert als Maske ohne Gesicht.
4. Golderz ohne Form - Essayistische Performanz und Widerstand durch Unordnung Hinter der apologetischen Metapher der »Ideenzirkulation« entbirgt sich bei Merck ein Konzept kritischer Diskurslimitierung, das die öffentliche Rede über bildende Kunst einem engen, wenn man will: elitären Kreis von Kennern und Künstlern vorbehält. Es scheint nur konsequent, diesem Vermittlungsgebot von Künstler und Liebhaber auch das implizite Postulat einer am genieästhetischen Habitus orientierten Kunstkritik zu entnehmen und der essayistischen Performanz zuzuordnen. Die Ausführungen des Landschaftsessays über den ingeniösen Habitus weisen dem Genie ein Merkmal zu, das unverkennbar in diese Richtung deutet. Das Genie habe, heißt es, einen »Reichtum an ungeordneten Ideen«, wofür Merck bezeichnenderweise einen literarischen Beleg nennt, den rhapsodischen Prosastil Johann Georg Hamanns 76 nämlich. Die Formel vom »Reichtum« ungeord-
74 Jürgen Enkemann, Journalismus und Literatur. Zum Verhältnis von Zeitungswesen, Literatur und Entwicklung bürgerlicher Öffentlichkeit in England im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1983, S. 201, mit dem Blick auf Daniel Defoes publizistische Scheindebatten. 75 Wilhelm Heinse, Ueber einige Gemähide der Düsseldorfer Gallerie. An Herrn Canonicus Gleim, TM IV 1776, S. 3 - 4 6 u. S. 106-119; TM II 1777, S. 117-135; TM III 1777, S. 60-89. 76 Zum rhapsodischen Prosastil und zum kinetischen Sprachmodell Hammans, das die Sprache als zirkulierende, sich im Verändern als lebendig erweisende Münze konzeptualisiert, vgl. Ackermann, Worte und Werte, S. 150ff. Die rhapsodische Prosa Hammans konver-
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neter Ideen kommuniziert einen Widerstand gegen die Korrelation von Ordnung und geschwinder »Zirkulation« der Geschäfte, die Merck kritisch dem »tabellarischen Geist« einer abstrakt-kalkulatorischen und kosmopolitischen Aufklärung anlastet. 77 Diesem Widerstand durch Unordnung folgt die publizistische Kultur- und Kunstkritik Mercks. Das unsystematische, offene Reflektieren des Essays hat bereits mit der aufklärerischen Popularphilosophie Konjunktur, dient dort aber der diskursintegrativen Zusammenführung unterschiedlicher Wissensbestände und der Gemeinverständlichkeit im Rahmen eines common-sense-Ideals. 78 Mercks Essayistik nutzt dagegen die Unsystematik zu einer Verweigerung populärer Diktion, seine originale Prosa lebt von einer exoterisch-esoterischen Doppelstruktur, dem »vertrackten clair-obscur«, 79 einer Spaltung des Publikums in die »sapientes« vor allem am Weimarer H o f und der breiten literarischen Öffentlichkeit; sie schließt das Andeuten und Abbrechen ebenso ein wie das Provokante einer bewusst ungeselligen Diktion und die intrikate Reflexionsanordnung. Die Folge der beiden Landschafts-Essays aus dem Juli- und dem Septemberheft des »Teutschen Merkurs« präsentiert eine solche intrikate Reflexionsanordnung; die geniehaft-unsystematisch »ausgeschütteten« Ideen im Juliheft werden im späteren Beitrag reformuliert und auf einen höheren Grad der
giert also entgegen der Wielandschen Metapher vom ungeprägten Golderz mit der zirkulierenden Geldes: »Der Reichthum aller menschlichen Erkenntnis beruhet auf dem Wortwechsel«. Zit. ebd., S. 171. 7 7 Johann Heinrich Merck, An den Herausgeber des T. Merkurs, MW, S. 3 9 6 - 4 0 3 , hier S. 3 9 7 : »Der Geist der Ordnung, der in allen innern Einrichtungen herrscht, hat zwar einen geschwindern U m l a u f der Geschäfte hervorgebracht, und das bewürkt, das es jeder ungefehr so macht wie der andere, und das ganze Departement, so gut wie das Bataillon, sein Gewehr in einer Linie, und in einem Tempo präsentiert.« Dieser Einspruch gegen die abstrakt-kalkulatorische Episteme der Aufklärung entzündet sich bei Merck besonders an den reformökonomischen Bestrebungen der Spätaufklärung. Ins Visier geraten dabei seit Mercks Redakteurstätigkeit an den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« (1772) nicht nur die kosmopolitischen Implikationen der Physiokratie, sondern auch die spätkameralistische, von den Ideen Justis geprägte und von der physiokratischen Publizistik unterstützte Reformpolitik Friedrich Carl von Mosers in der hessen-darmstädtischen Landgrafschaft. Vgl. dazu Karl Witzel, Friedrich Carl von Moser. Ein Beitrag zur hessen-darmstädtischen Finanzund Wirtschaftsgeschichte am Ausgang des 18. Jahrhunderts, Darmstadt 1922; Stefan Niessen, Friedrich Carl von Moser und die Landkommission, in: MKat, S. 8 6 - 9 0 . Zu Mercks Physiokratiekritik vgl. Monika Siegel, Physiokraten und Kameralisten, in: MKat, S. 1 6 4 - 1 6 6 ; Norbert Haas, Spätaufklärung. Johann Heinrich Merck zwischen Sturm und Drang und Französischer Revolution, Kronberg/ Ts. 1975, S. 72 ff. 78 Nicolais »Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland« (1755) grenzen die populäre Diktion gegen das artige »metaphysisch-ästhetische Traktätgen« ab und setzen die »unordentlichen philosophischen Abhandlungen« gegen die »langsame mathematische Lehrart« Wolffs. Vgl. dazu Heinrich Küntzel, Essay und Aufklärung, München 1969, S. 126 f. 7 9 So Wieland über Mercks Dalberg-Rezension: »Es ist ein solches Meisterwerk von Feinheit, es herrscht ein so vertracktes Clair-obscur darinn, es sagt so viel und doch wieder so wenig [...].« Wieland an Merck, 13. Juni 1777, W B 5, S. 628.
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Komplexität und vielseitigen Beziehungen geführt. Zu dieser polyperspektivischen Reflexions-Unordnung zählt konstitutiv die Metapher, ihr stets zur Rücknahme bereiter Gestus des »Als-ob« und des Vorläufigen. Mercks kulturkritische Essays wiederholen auf ihre Weise den Widerstand der experimentellen, bewusst die Metapher einsetzenden aphoristischen Prosa Lichtenbergs gegen die Systemzwänge einer universellen Vernunft. 80 Die peritextuelle Metapher der »Ideenzirkulation« im Landschafts-Essay antwortet so auf eine Definition kollektiven Wissens, die der vorausgehende Julibeitrag in der allgemeinen »Zirkulation« von Kenntnissen gibt; sie entfaltet einen hintergründigen apologetischen Sinn gegen die Trennung von Geld und Geist, sie tritt zugleich in eine starke Spannung, ja in einen Widerspruch zu einer Produktionsästhetik des »beschränkten Sinns« und zu einer ingeniösen, auf den praktizierenden Kenner beschränkten Kunstkritik. Im Bildfeld des Reichtums entwickelt die Spätaufklärung eine eigene Metapher für diese unordentliche Faktur einer originalen Prosa, die des ungeprägten Goldes.81 »[•·.] alle ihre Fragmente«, schreibt Wieland seinem Darmstädter Hauptmitarbeiter Merck, »sind - ein reichhaltiges Stück Golderzt, ohne Form, oder besser [...] ohne Anfang und Ende und doch ein Ganzes für sich selbst, voll Wahrheit [...] und lebendiger Kraft«. 82 Gegen die Konventionalität und gesellschaftliche Gültigkeit zirkulierender Münzen lebt die Wahrheit dieser Prosa nicht nur aus der exoterisch-esoterischen Spannung von »Evangelium« und »Rätsel«, von »Clair-obscur«, 83 sondern auch aus der Unabschließbarkeit: sie ist ohne Anfang und Ende, permanentes Gedankeninzitament. Dass die anregende Formlosigkeit der kunstkritischen Beiträge und Rezensionen Johann Heinrich Mercks bisweilen allerdings jenseits eines emphatischen Werkbegriffs liegt, den das genieästhetische Bild ungeprägten Goldes doch impliziert, belegt ihre Kontingenz. Stellenweise gar nicht mehr nachvollziehbare Texteingriffe Wielands oder gar Goethes bestimmen die publizistische Präsenz der Merckschen Beiträge. 84 Ihre oft unordentliche Faktur resultiert daher nicht ausschließ-
80 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Erfahrung und Experiment. Studien zur Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin 1995, S. 112 f. u. S. 127 ff., zur kalkulierten Bildlichkeit der Prosa Lichtenbergs. 81 Kiintzel, Essay, S. 167 f. Goethe charakterisiert Justus Mosers unpublizierte Essays mit dieser Metapher: »Und wären es nur Fragmente, so verdienen sie aufbewahrt zu werden, indem die Äußerungen eines solchen Geistes und Charakters gleich Goldkörnern und Goldstaub denselben Wert haben wie reine Goldbarren und noch einen höheren als das Ausgemünzte selbst.« Johann Wolfgang Goethe, Justus Moser, in: Goethes Werke XII, S. 320. 82 Wieland an Merck, 26. Okt. 1777, WB 5, S. 671. Vgl. auch Wieland an Merck, 29. September 1777, WB 5, S. 661: »Ihr Aufsaz über die Landschaft Malerey ist ein Kleinod, lautres feines Gold in Körnern.« 83 Wieland an Merck, 26. Okt. 1777, WB 5, S. 671. 84 Merck erteilte Wieland wiederholt die Lizenz, die oft rasch zusammengeschriebenen Beiträge mit einem Titel auszustatten oder sie gar frei zu verwerten. Vgl. Merck an Wieland, 25. März 1779, WB 7,1, S. 189. Beispiele für Eingriffe Wielands bietet die Stollberg-
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lieh aus e i n e m r a f f i n i e r t e n ästhetischen K a l k ü l , s o n d e r n o f t aus d e m p u b l i zistischen, a u ß e r h a l b eines ästhetischen W e r k - u n d e m p h a t i s c h e n A u t o r v e r ständnisses angesiedelten Status d e r Texte. Ihre auch v o n M e r c k geteilte p r o v i s o r i s c h e D e f i n i t i o n e r l a u b t n i c h t n u r e i n e flüchtige P r o d u k t i o n d e r B e i t r ä g e » i m Rabsch«, 8 5 s o n d e r n als k o m p l e m e n t ä r e s P h ä n o m e n e b e n auch ihre U m f o r m u n g d u r c h d e n Herausgeber. 8 6 S o sehr W i e l a n d die u n k o n v e n t i o n e l l e u n d p r o v o k a n t e S c h r e i b e M e r c k s f ö r d e r t e u n d n u t z t e : essayistisches R o h m a t e r i a l , z u m a l aus g e d i e g e n e m Edelmetall, d ü r f t e n u r selten u n b e r ü h r t v o m K o n v e n t i o n s f u ß d e r » M e r k u r « - R e d a k t i o n u n t e r die L e u t e g e k o m m e n sein.
Rezension Mercks (MW, S. 623 f., vgl. dazu den brieflichen Kommentar Wielands im Schreiben an Merck vom Dez. 1779, W B 7,1, S. 249). Dass Wieland die Arbeiten nach seiner »weise umgeschmolzen« hat (ebd.), ist dem redaktionellen Briefwechsel zwischen Herausgeber und Mitarbeiter mehrfach zu entnehmen. An die von Merck unwillig abgebrochene »Ohngefähre Bilanz der Litteratur des vergangenen Jahres« (TM I 1779, S. 193-220) hängt Wieland einen eigenen, aber in Mercks Manier verfassten »Zusatz und Beschluß vom H. [Herausgeber, H.S.]«. Vgl. ebd., S. 215 ff., und Wielands Brief an Merck, 20. März 1779, W B 7,1, S. 188. Einen mildernden Texteingriff belegt auch der Brief an Merck vom 26. Juni 1780, W B 7,1, S. 290. Dass auch Goethe massive Veränderungen an den Einsendungen Mercks vornehmen konnte, zeigt das Schreiben Wielands von 8. Januar 1781. Goethe hatte, wie Wieland berichtet, die ganze Einleitung aus dem Manuskript eines Merck-Beitrags (Johann Heinrich Merck, Über einige Merkwürdigkeiten von Cassel, T M IV 1780, S. 216-229) gestrichen. W B 7,1, S. 327 f. 85 Darmstädtisch »Rabsch« bedeutet im Hochdeutschen »Eile«. Im »Rabsch« hat Merck nach eigenem Bekenntnis mehrere Beiträge verfasst. Vgl. Merck an Wieland, 20. Juli 1778, W B 7,1, S. 103; Merck an Wieland, 25. März 1779, W B 7,1, S. 189f. 86 Wieland solle auf »Drukfehler u. Stylfehler« achten, schreibt Merck bei der Übersendung seiner »Mahlerischen Reise nach Cöln, Bensberg und Düsseldorf« (TM III 1778, S. 113-128). Dass damit dem Herausgeber die Lizenz zur Glättung gerade provokanter oder auch innovativer Ausdrucksformen eingeräumt war, dürfte auf der Hand liegen. Seine »Rhapsodie« »An den Herausgeber des T. Merkurs« (TM II 1779, in der Ausgabe Herbert Krafts unter dem Titel: »Ueber den engherzigen Geist der Deutschen im letzten Jahrzehent«), MW, S. 396-403, hatte Merck im Zorn »an einem Morgen zusammengefegt« und Wieland ohne Titel zu freier Verfügung übersandt: »[...] wenn ein paar Ideen drinn sind, die dich auf 5 Minuten freuen, so wirfs nachher ins Feuer, oder trags anderswo hin. Einige hätte ich mögen fein ausspinnen, [...] Gieb dem Ding einen Titel wie du willst.« Merck an Wieland, 25. März 1779, W B 7,1, S. 189 f.
Eric Achermann
Ideenzirkulation, geistiges Eigentum und Autorschaft
Die Grundsätze, dass jedem das Recht auf eine eigene Meinung zustehe und dass diese Meinung frei sei, sind gleichermaßen Teil des unantastbaren Gedankenguts der Moderne. 1 Das Verhältnis beider Prinzipien zueinander ist jedoch ein problematisches. Der Grund hierfür ist ganz allgemeiner Art: Weder scheint es praktisch möglich, den Forderungen von Besitz und Freiheit für jedermann in gleichem Maße nachzukommen, noch vermag das Denken ohne eine Reihe einschränkender Präzisierungen, komplizierter Differenzierungen oder gar weitreichender Konzessionen dieser Aufgabe theoretisch zu entsprechen. Die wohl bedeutendste dieser Konzessionen stipuliert, dass die Freiheit, ein Eigentum zu besitzen, über der Freiheit eines Anderen stehe, sich diesen Besitz seinerseits anzueignen. Nach gängiger Vorstellung wird eine Sache durch Aneignung (Erzeugung, Erwerb, Erhalt etc.) zu Eigentum und dies wiederum hat zur Folge, dass diese Sache in mancherlei Hinsicht der Öffentlichkeit entzogen und einem, durch den Akt der Aneignung ausgezeichneten, Einzelnen überantwortet wird. Die Aneignung geht zwar dem Eigentum kausal voraus, der Erhalt des Besitzes steht anschließend jedoch in rechtlicher Hinsicht über den Ansprüchen eines anderen auf Aneignung. Was nun die Meinungsfreiheit betrifft, so lässt sich hier aber eine gegenteilige Bewegung feststellen: »Meinungsfreiheit« bezeichnet nicht in erster Linie das Recht, eine eigene Meinung zu haben, sondern vielmehr die Freiheit, diese Habe zu äußern. Ja, genau betrachtet ist es erst die Äußerung, welche die Meinung zu einer eigenen macht. Wer eine Meinung veräußert und sie gleichsam in Umlauf setzt, der kann nach moderner Gesetzgebung unter genau bestimmten Umständen Anspruch darauf erheben, diese Meinung als die seine betrachtet zu sehen und am Ertrag aus ihrer Veröffentlichung zu partizipieren. Es ist also nicht die Privatisierung oder Verpersonalisierung eines Gegenstandes, sondern dessen Veröffentlichung, die Eigentum und Nutznießung begründet. Die Veräußerung einer »geistigen Ware« ist aber ein heikles Geschäft: Einerseits wird ein - schwer fassbarer »ideeller Gehalt« zu Eigentum erklärt, andererseits dessen allgemeine Nütz-
1 Für wichtige Hinweise danke ich Ellinor Landmann und Michael Baumgartner.
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lichkeit, gar verbindliche Werthaftigkeit durch den Akt der Veröffentlichung zumindest implizit angestrebt. Kein Wunder also, dass die Abwicklung einer so intrikaten Transaktion durch komplizierte ökonomische und juristische Überlegungen und Satzungen geprägt wird, deren Ziel die Festigung des öffentlichen Status des Autors ist. Der Entstehung des modernen Konzepts vom geistigen Eigentum gelten die folgenden Überlegungen. Es geht dabei zuerst um die Frage, welche Bedingungen eine Meinung 2 erfüllen muss, damit sie rechtlich ein Eigentum genannt werden kann, anschließend um die Beziehung dieser Eigentumsvorstellungen zu Fragen der Ästhetik. Dabei beschränke ich mich auf die literarische Produktion. Wir haben es gesehen: Nach gängiger Ansicht macht der Eintritt einer verschriftlichten Äußerung in einen, den einzelnen Adressaten überschreitenden, öffentlichen Raum aus dem Privatier einen Autor, einen Ideenproduzenten, der am Ideenhandel beteiligt ist und sich nach Beendigung seiner schriftstellerischen und veröffentlichenden Aktivität als mehr oder minder glücklichen Kapitalisten wähnen darf. Kurz, der Akt der Veröffentlichung garantiert dem Autor eine Reihe von Rechten, die ihm die Nutznießung am Produkt seiner Erfindungskraft sichern. U m als Autor zu gelten, muss der genannte Produzent jedoch den Anforderungen von Originalität und Authentizität genügen. Erfüllt der Verfasser diese Anforderungen nicht, so ist er ein Plagiator bzw. Fälscher - beide haben keinerlei Anspruch auf die Rechte eines Autors. Plagiator und Fälscher bestimmen durch ihre diametral entgegengesetzte Position die Mitte des modernen Autorkonzepts. Während der Plagiator ein fremdes Werk unter eigenem Namen publiziert, gibt der Fälscher ein eigenes Werk als ein fremdes aus. Der Plagiator versucht seinem Werk den Anstrich größtmöglicher Originalität zu verleihen, während er die Authentizität durch die eigene Person stillschweigend garantiert; umgekehrt versucht der Fälscher, sein Werk als typisch hinsichtlich feststehender Vorstellungen von Originalwerken erscheinen zu lassen, damit die Authentizität nicht in Frage gestellt werde. Der Plagiator setzt somit sein marktorientiertes Vertrauen in die Einzigartigkeit des Werkes und richtet sein kriminelles Ansinnen auf die Vortäuschung von Originalität, der Fälscher hingegen erkennt den Wert eines Kunstwerks im Renommee des Autors,
2 Der Ausdruck »Meinung« wird hier - wie bereits eingangs - ganz unspezifisch verwendet und subsumiert so verschiedene Dinge wie Ideen, Aussagen, Ansichten, gesichertes Wissen u.a.m. Die juristische Vorstellung, dass es nicht der Inhalt, sondern die Form sei, die es zu schützen gelte, kommt im folgenden nicht zur Sprache. Der Grund für diese Vernachlässigung ist denkbar einfach: Auch wenn das Primat der Form in der Autonomieästhetik der Goethezeit seine wirkungsmächtigste Formulierung findet, so spielt es nichtsdestoweniger bei der Diskussion um das geistige Eigentum in dem hier gewählten Zeitrahmen eine geringe Rolle. Es müsste vielmehr der Begriff der Originalität respektiv zur Aufwertung der Form betrachtet werden, um den Zusammenhang zwischen Ästhetik und Werkbegriff aufzuzeigen.
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dessen Namen er zu usurpieren trachtet. 3 Die Verbindungen jedoch, die Originalität und Authentizität in unserer Kunstideologie eingehen, sind so eng, dass wir die beiden Seiten oft nicht auseinanderhalten, das heißt wir tendieren dazu, dem plagiierten und dem gefälschten Werk sowohl Originalität als auch Authentizität gleichermaßen abzusprechen. Der Nexus moderner Vorstellungen von Autorschaft liegt im authentifizierbaren Bezug von Verfassername 4 und originalem Werkschöpfer begründet. Die Vorstellung vom schöpferisch tätigen Künstler, vom »créateur«, ist mit der rhetorischen Lehre der »inventio«, der Findung von Ideen und Wendungen gemäß den Präzepten der Regelpoetik in einem handwerklichen Sinne, nicht mehr kompatibel. An ihre Stelle tritt eine genieästhetische Begründung. Bekanntlich wird im Zuge der Herausbildung der Genieästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das »ingenium« als Zentralvermögen der Dichtung durch die Einbildungskraft oder Phantasie verdrängt. 5 Die Einbildungskraft ist frei und sie ist produktiv. Indem der Rechtsschutz für die Originalität eines Werkes eingefordert wird, wird der zentralen Stellung der Einbildungskraft in der Seelenarchitektur Rechnung getragen und das Werk in einem Maße subjektiviert, wie es unter Rekurs auf die Vermögen der »memoria« oder des »iudiciums« mit deren objektivierenden Implikationen wohl nicht zu leisten wäre. So ist denn die Entwicklung des modernen Autorenkonzepts von Anfang an mit den Vorstellungen von Subjekt und Individuum sowie mit jenen Diskussionen im Bereich der Erkenntnisphilosophie, Psychologie, Spiritualität, Naturrechtslehre, Politik, Ökonomik, Ethik und schließlich Ästhetik korreliert, die Subjekt und Individuum zu unübersehbaren Zentralkonzepten der intellektuellen Diskussion seit den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts machen.
3 Der Wert eines Kunstwerkes, das es zu fälschen lohnt, hängt nicht in jedem Fall vom Prestige des zu fälschenden Künstlers ab. Gerade bei der Fälschung von Antiken spielt vielmehr das supponierte Alter, die Seltenheit und die Kunstfertigkeit eine entscheidendere Rolle als die Identität des Künstlers. Bei literarischen Fälschungen trifft dies jedoch nicht im gleichen Maße zu. Gerade die in jeglicher Hinsicht gängigste Fälschung, nämlich diejenige von Dokumenten, zielt ganz klar auf die Autorität des gefälschten Autors. Besondere Beachtung verdienen jedoch diejenigen Fälle, wo nicht ein Werk gefälscht, sondern ein Autor hinzuerfunden wird, so etwa die fingierten Autoren Ossian (der gälische Barde James Macphersons) und der mittelalterliche Bristoler Mönch Thomas Rowley (Produkt der Phantasie des minderjährigen Thomas Chatterton). In diesen Fällen resultiert die Wertschätzung aus behaupteten oder supponierten Eigenschaften, die den fingierten Autoren (in nationalhistorischer oder ästhetischer Hinsicht z.B.) attribuiert werden. 4 Auf das Problem anonymer und pseudonymer Verfasserschaft möchte ich hier nicht eingehen, da ein im strengen Sinne unbekannter Verfasser keine Rechtsansprüche geltend machen kann und sich somit bis zur Preisgabe seiner Identität der juristischen Autorkonzeption geradezu entzieht. 5 Vgl. hierzu die - in den großen Linien - nach wie vor mustergültige Darstellung bei Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923), Darmstadt 2 1967 (Ndr. Darmstadt 1981), S. 141-166.
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Betrachten wir die Entwicklung des Autorenrechts genauer, so begegnen wir - wen mag es erstaunen? - einer Reihe von Argumenten wieder, die uns auch in der zeitgenössischen Literatur zu Naturrecht und politischer Ökonomie entgegen treten. Es ist ein wohlbestücktes Arsenal an juristischen und ökonomischen Mitteln, das aufgeboten wird, um einen klaren Trennstrich zwischen die Praxis der Verlagsprivilegien, die bis ins 18. Jahrhundert vorherrscht,6 und einer deklariert freiheitlicheren und gerechteren Rechtsvorstellung zu ziehen, die eine direkte Beteiligung der Autoren am Absatz ihrer Werke vorsieht.7 Bekanntlich sind es gerade die Privilegien, die im Zuge der französischen Revolution als Instanzen partikulärer und willkürlicher Gewaltausübung perhorresziert werden. Es geht dabei aus der hier gewählten Perspektive nicht so sehr um die Frage, ob es vorher bereits Satzungen gegeben habe, die »de facto« der Praxis folgender Autorenrechte entsprochen hätten, sondern um die bewusste Forderung, dass den Produkten der Erfindungskraft und deren Subjekt »per se« der unveräußerliche, da naturrechtlich begründete Anspruch auf Schutz gebühre. Natürlich bleiben die Forderungen der Neuerer nicht unwidersprochen. Und ebensowenig mag es erstaunen, dass hier wie anderswo die Argumentation uneinheitlich verläuft und keine Einigkeit bezüglich der konkreten Maßnahmen besteht. Trotz der
6 Diese Praxis lässt sich bis zu den berühmten venezianischen Druckereiverlagen des späten 15. Jahrhunderts zurückverfolgen, wobei es jedoch vorerst vor allem die Typensätze und die Ausstattung sind, die geschützt werden. Vgl. Martin Lowry, T h e World of Aldus Manutius, Oxford 1979, S. 111 u. 155f. Ein erstes autorenbezogenes Privileg geht bereits im Jahre 1486 an Sabellico, ebd., S. 219. Eine anschauliche Darstellung der verschiedenen Typen von Verlagsprivilegien und deren konkreten Auswirkungen liefert Robert L. Dawson, T h e French booktrade and the »permission simple« of 1777. Copyright and public domain with an edition of the permit registers, Oxford 1992, S. 1-87. Z u r Privilegienpraxis aus rechtshistorischer Sicht vgl .Jean Cavalli, La genèse de la Convention de Berne pour la protection des oeuvres littéraires et artistique du 9 septembre 1886, Lausanne 1986, S. 14-21, sowie Normand Tamaro, Le droit d'auteur. Fondements et principes, Montreal 1994, S. 14 f. Einen Uberblick zur Forschung und eine Darstellung der Debatte u m Verlagsprivilegien bzw. Autorenprivilegien liefert Elmar Wadle, N e u e r e Forschungen zur Geschichte des Urheberund Verlagsrechts, in: Ders., Geistiges Eigentum. Bausteine zur Rechtsgeschichte, Weinheim 1996, S. 99-118, sowie ders., Vor- oder Frühgeschichte des Urheberrechts? Z u r Diskussion über die Privilegien gegen den Nachdruck, in: ebd., S. 119-128. 7 Was den Ubergang vom Privilegienwesen zur Gesetzgebung betrifft, gilt es, die Aussagen Elmar Wadles zu beherzigen: »Privileg und Gesetz sind beide Emanationen derselben potestas legislatoria des Hoheitsträgers; sie unterliegen beide der territorial beschränkten Geltung des herrscherlichen Befehls. Gesetzliche Verbote generalisieren lediglich die Verbote, die im Privilegienwesen nur f ü r Einzelfälle erlassen werden. Die Generalisierung betrifft aber nicht die Ebene der Befehlsadressaten, sondern die Ebene der Begünstigten. Gesetz und Privileg richten ihren Befehl an denselben Personenkreis; verändert ist nur der Kreis der Geschützten, da nicht m e h r ein einzelner Verleger oder Autor begünstigt wird, sondern im Prinzip alle.« Elmar Wadle, Zur Geschichte des Urheberrechts in Europa, in: Georg Ress (Hg.), Entwicklung des Europäischen Urheberrecht, Intellectual Property Rights and EC-Law, Droits intellectuels et droit communautaire, Baden-Baden 1989, S. 9 - 2 0 , hier S. 12.
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schwankenden Positionen und widersprüchlichen Äußerungen, denen wir in dem bedeutenden Schrifttum zur Frage des Autorenrechts zwischen 1780 und 1820 begegnen, lässt sich bei den Befürwortern einer neuen Praxis j e doch eine grundlegende Absicht ausmachen: Den Autoren, Juristen und politischen Publizisten geht es darum, die verlegerische Praxis einem neuen Verständnis des Verhältnisses von Horten und Tauschen, von Thesaurus und Zirkulation zu unterstellen bzw. das Reich der Ideen von einer Inanspruchnahme der Ökonomie zu befreien und einer höheren moralischen Ordnung zu überantworten. Die politische Ökonomie des Merkantilismus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geht primär davon aus, dass der Reichtum - sprich: Das Geld - im eigenen Lande zu halten und zu mehren sei. Gelingt dies, so folgt daraus eine Zunahme der Population sowie eine Vergrößerung der Macht. Bereits im Titel seines ökonomischen Hauptwerks aus dem Jahre 1668 gibt Johann Joachim Becher, einer der bedeutendsten Kameralisten und Volkswirte, sein Programm fürs Gemeinwohl kund: »Politische Diseurs, Von den eigentlichen Ursachen/ des Auf= und Abnehmens der Stadt/ Länder und Republicken/ In specie, Wie ein Land Volckreich und Nahrhafft zu machen/ und in eine rechte Societatem civilem zu bringen«. Bechers Schwager Philipp Wilhelm Hörnigk seinerseits formuliert apodiktisch neun Regeln, wie dies zu bewerkstelligen sei. Darunter finden sich etwa die Forderungen, dass Gold und Silber weder müßig gehortet noch ausgeführt, keine fremden Waren gekauft, eigene überflüssige Waren aber möglichst gegen Geld ins Ausland verkauft werden sollen, schließlich dass Import nur dann zuzulassen sei, wo dieselben Waren im eigenen Land nicht hergestellt werden können. 8 Das Denksystem des Merkantilismus zu fassen, erscheint schwierig, da es durch ein grundlegendes Paradox bestimmt wird. Die Modernität des Merkantilismus besteht zum einen darin, dass das ganze Land als Bezugspunkt des ökonomischen Kalküls genommen wird und nicht mehr bloß die Truhe des Fürsten, zum anderen in einer gezielten Förderung des Handels und der Manufakturen bei einer relativen Abwertung der Agrarproduktion. Der Förderung der Güter- und Geldzirkulation9 gilt nun zwar das Hauptaugenmerk des Merkantilisten, gleichzeitig sind sie ihm jedoch suspekt, da sie gleichsam zentrifugale Kräfte darstellen, die über die Grenzen zu stoßen und den Staatskörper aufzuzehren drohen. Der Merkantilist misstraut dem 8 Philipp Wilhelm Hörnigk, Österreich über alles/ Wann es nur will (1684/21708), hg. v. Horst Knapp, Wien 1983, S. 4 5 - 4 7 . Eine verkürzte Darstellung dieser Grundregeln findet sich bei Wilhelm Roscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland, München 1874, S. 2 9 2 . Vgl. hierzu auch Eric Achermann, Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller, Tübingen 1997, S. 79 f. 9 Für Eli F. Heckscher ist Zirkulation gar das leitende Konzept des Merkantilismus. Dies entgegen der irrigen, aber häufig geäußerten Meinung, den Merkantilisten sei es um das Horten von Gold zu tun gewesen. Vgl. Eli E Heckscher, Mercantilism (1931), Bd.2, London 2 1955, S. 217.
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Handel, den er zu befördern trachtet, weil er eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der angeblichen Parität von Tauschgeschäften hegt.10 Ihm ist es, in internationaler Hinsicht, ja ausdrücklich nicht um fairen Tausch, sondern um einseitigen, eigenen Vorteil zu tun; sein Ziel ist es, das eigene Land zu bereichern und mächtiger als dasjenige des Nachbarn zu machen. Wenden wir die ökonomischen Maximen, die aus dieser polemischen Sicht der Zirkulation resultieren, auf den Buchdruck an, so folgt daraus: Selber machen, das heißt nachdrucken, und nicht gegen bares Geld bereits gedruckte Bücher importieren. Bekanntlich wird dieses »mercantile system« - um hier einen Ausdruck Adam Smiths zu verwenden - zur Hauptangriffsfläche des Liberalismus. Der Liberalismus erkennt im staatlichen Dirigismus und seiner Privilegienund Monopolwirtschaft das Produkt eines deregulierten Egoismus, der nicht auf geregelter Selbstliebe (amour de nous-mêmes), sondern auf asozialer Eigenliebe (amour-propre) beruht und die freie Entfaltung der dem Menschen angeborenen Sympathie behindert. Diese entspringt einer nach außen gerichteten gesunden Selbstliebe, welche die Naturgesetzlichkeit der ökonomischen Mechanismen erst ermöglicht.11 Wenn man seinen Nächsten liebt wie sich selbst, dann erhält dieser auch dasjenige, was man sich selbst gibt, und somit steht denn der Befolgung des Prinzips distributiver Gerechtigkeit,12 des »suum cuique tribuere«, nichts mehr im Wege. Privatinteresse und Gemeinwohl halten sich die Waage durch Sympathie, da diese eine Art Stimme des Anderen in unserem Inneren darstellt.13 Erst die seelische Re10 Die Sicht merkantilistischer Publizisten ist, und dies erscheint durchaus als typisch für das 17. Jahrhundert, von einer kriegerischen, polemischen Einstellung zu allen Formen der Kommunikation geprägt. 11 Dieser Vorstellung begegnen wir sowohl bei H u m e als auch bei Smith. Sie erklärt auch den inneren Z u s a m m e n h a n g zwischen den beiden Hauptwerken Smiths, der »Theory of Moral Sentiments« aus den Jahren 1759f. und der »Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« von 1776. Die Unterscheidung dieser zwei Formen »reflexiver Liebe« dürfte auf die moral-theologischen Überlegungen des französischen Spiritualismus des 17. Jahrhunderts zurückgehen, insbesondere aufJean-Pierre Camus' »La Défense du pur amour« (1640). Für eine Darstellung dieser Unterscheidung in theologischer Hinsicht insbesondere bei Camus vgl. Michel Terestchenko, A m o u r et désespoir de François de Sales à Fénelon, Paris 2000, S. 72 f. Bezeichnenderweise begegnen wir dieser Unterscheidung bei Rousseau in Verbund mit ökonomischen und gesellschaftstheoretischen Überlegungen, welche explizit auch die Sympathie (pitié) betreffen. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine et les fondemens de l'inégalité parmi les h o m m e s (1755), in: Ders., Œuvres complètes. Bd.3: D u contrat social, Ecrits politiques, hg. v . J e a n Starobinski, Paris 1964, S. 109-236, hier S. 154-156 u. 219. 12 Vgl. hierzu etwa Hans-Peter Schneider, Justitia Universalis. Quellenstudien zur Geschichte des »christlichen Naturrechts« bei Gottfried Wilhelm Leibniz, F r a n k f u r t / M. 1967, S. 369. 13 Bei Smith erhält diese Instanz die Bezeichnung »impartial spectator«, ein Konzept, das ihn - namentlich in Frankreich - berühmt gemacht hat. Adam Smith, Theory of Moral Sentiments (1759), hg. ν. D.D. Raphael u. Alee Lawrence Macfie (=Adam Smith, Works and Correspondence, Bd.l), Oxford 1976, S. 14 (III, 3).
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Präsentation fremder Gesichtspunkte und Interessen ermöglicht Kommunikation - Rede und Tausch - in einem eigentlichen und wahren Sinne. Befreit man Handel und Zirkulation von den Ketten merkantilistischer Vorurteile und »ergo« staatlicher Beschränkung, dann führt dies auf der Basis natürlicher Sympathie zu selbstregulierender Konkurrenz, zu harmonischem Kräfteausgleich und allgemeiner Wohlfahrt. 14 Das gesunde egoistische Gewinnstreben eines jeden Einzelnen erscheint den Vordenkern des Liberalismus als Motor für Zirkulation, Zirkulation wiederum als Antrieb für Produktion und diese wiederum als Quell einer Steigerung von Konsum- und Produktionskräften. Der Tausch, der als Zentralhandlung der Warenzirkulation betrachtet wird, hat eine belebende Funktion: Im Tausch k o m m t es zu einer Kraftübertragung, ja zu einem Anwachs der Produktivkräfte und schließlich gar zu einem andauernden Fortschritt, der exponentielle Züge trägt. Smiths Konzept eines »obvious and simple system of natural liberty« 15 beruht auf einer dialektischen Reflexion des Einzelnen in der Gesellschaft und eines gesellschaftlichen Prinzips im Einzelnen. Diese Dialektik ist zirkulär und notwendig aporetisch: Das individuelle und das gesellschaftliche Moment setzen sich gegenseitig voraus. Insbesondere gälte es die Frage zu beantworten, wie etwas gleichzeitig systematisch, natürlich und frei sein könne. Für die Autoren einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie besteht die Aufgabe darin, den kontra-intuitiven Glaubensgrundsatz, dass der frei waltende Mensch ein System begründe, das wiederum die Freiheit eines jeden garantiere, möglichst plausibel erscheinen zu lassen. Darüber hinaus muss der Nachweis erbracht werden, dass diese Freiheit einer stetigen Verbesserung des Menschen und der Gesellschaft diene. Es sind genau diese Aufgaben, deren sich zahlreiche Beiträge zum Autorenrecht im ausgehenden 18. Jahrhundert annehmen. 1 6 Wie kann gezeigt werden, dass die freie Zirkulation der Meinungen ganz natürlich zu einer Meliorierung von Kultur, Politik und Sitte beiträgt? Für viele Zeitgenossen besteht die Antwort hierauf in der Uberzeugung, dass es das Publikum sei, das darüber entscheide, was ihm diene, und dass der Autor aufgrund seiner sympathetischen Veranlagung den Nutzen des Publikums zu antizipieren verstehe. Dieses mitfühlende und wohlwollende Interesse des Menschen am Menschen gilt es zu wecken und am Leben zu erhalten. Es muss ein passender Antrieb gefunden werden, der auf natürlicher Grundlage den Austausch geistiger und 14 Vgl. hierzu die hervorragende Darstellung der Kritik Vanderlints und Humes am Merkantilismus in Johannes Rohbeck, Egoismus und Sympathie. David Humes Gesellschaftsund Erkenntnistheorie, Frankfurt/ M. 1978, S. 50-58. 15 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), hg. v. Roy Hutcheson Campbell u. William Burton Todd (=Adam Smith, Works and Correspondence, Bd.2,2), Oxford 1976, S. 687 (IV, 9). 16 Zu den einschlägigen Stellen aus der Debatte um das Autorenrecht vgl. Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft, Paderborn 1981, S. 50-64.
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ästhetischer Werte befördert und so zur Realisierung des sozial-ökonomischen »perpetuum mobile« eines steten Fortschritts beiträgt. Dieser Motor muss nach Maßgabe des oben skizzierten freiheitlichen Systems individueller Natur sein und im Privatinteresse gründen. Derjenige nämlich dient am eifrigsten dem Gemeinwohl, dem daraus Nutzen erwächst. Das Konzept, das zu diesem Behufe für das »royaume des lettres« entwickelt wird, heißt »geistiges Eigentum«. Bekanntlich ist es seit Locke ein hehres Credo der liberalen Tradition, dass die persönliche Arbeit und das daraus resultierende Werk dem Menschen gehöre : »The labour o f his body, and the work o f his hands, we may say, are properly his.« 17 Auf den Autor literarischer Werke bezogen stellt diese als Naturgesetz behauptete Maxime vorerst überhaupt kein Problem dar. Niemand, so weit ich dies erkennen kann, hat j e behauptet, dass das Manuskript, das der Autor verfasst hat, ihm nicht gehöre; nein, es gehört ihm so sehr und unbestritten, dass er es einem Verleger oder irgendeinem x-beliebigen Menschen jederzeit verkaufen oder zur freien Verfügung überlassen kann und zwar auf unbeschränkte Zeit. Die Probleme ergeben sich für Autor, Verleger oder x-beliebigen Manuskriptbesitzer erst im Anschluss an die Veröffentlichung. Das Werk, nun in gedruckter Form, erhält nämlich neue Besitzer. Damit verliert das Original nach der Vervielfältigung seinen kommerziellen Reiz, da der Besitz eines solchen Manuskripts nur in den allerwenigsten Fällen Gewinn verspricht. Diesen Wertverlust zu kompensieren, nehmen sich die Verfechter des »copyrights« zum Ziel, indem sie die Rechte und Pflichten »idealiter« unbeschränkt vervielfachbarer Besitzer gedruckter Kopien zu bestimmen versuchen. Diese Absicht verfolgt bereits die ältere Privilegienwirtschaft. Die Regelung, wie sie in Europa im großen und ganzen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gilt,18 soll hier am Beispiel der englischen Verlagspraxis kurz skizziert werden, die durch den englischen »Printing« oder »Li-
17 John Locke, Second Treatise, O f Civil Government (1690) (=John Locke, The Works, Bd.4), London 1794 (Ndr. London 1997), S. 3 5 3 f . (V, 27). 18 Zu welchem Zeitpunkt die verlagsrechtliche Regelung einer urheberrechtlichen weicht, gehört zu den umstrittenen und vielfach diskutierten Fragen der Rechtsgeschichte. Markante Einschnitte in der Gesetzgebung und der öffentlichen Diskussion lassen sich in England um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ausmachen, in Frankreich in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts und ganz entschieden in den Revolutionsjahren, im deutschsprachigen Raum mit der Basler Dissertation von Johann Rudolf Thurneysen aus dem Jahre 1738 oder mit Johann Stephan Pütters Göttinger Arbeit aus dem Jahre 1774, die auf die Initiative des Verlegers Erasmus Reich zurückgeht. Zu Thurneysen vgl. Manfred Rehbinder, Die geschichtliche Entwicklung des schweizerischen Urheberrechts bis zum ersten Bundesgesetz vom Jahre 1883, in: Elmar Wadle (Hg.), Historische Studien zum Urheberrecht in Europa. Entwicklungslinien und Grundfragen, Berlin 1993, S. 6 7 - 8 0 , hier S. 6 8 - 7 0 ; zu Pütter vgl. Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft, S. 41, 51 f. u. 136, sowie Martin Vogel, Der literarische Markt und die Entstehung des Verlags- und Urheberrechts bis zum Jahre 1800, in: Rhetorik, Ästhetik, Ideologie. Aspekte einer kritischen Kulturwissenschaft, Stuttgart 1973, S. 117-136, hier S. 128f.
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censing Act« aus dem Jahre 1662 geregelt wird: Die einzelnen Titel werden von den Verfassern den befugten und registrierten Londoner Druckern auf ewig zediert, anschließend ist es an der Zensurbehörde, die Druckerlaubnis zu erteilen, bevor dann der Verleger den Titel als sein Prärogativ in das Register der Buchmachergilde, der »Stationers Company«, einträgt und so das Verlagsmonopol begründet. Es obliegt eben dieser Buchhandelszunft, die Befolgung der erteilten Rechte zu wahren. 19 Diese Ordnung tritt zwar 1679 außer Kraft, wird jedoch 1685 auf Parlamentsbeschluss hin erneuert, bevor es 1693 zu einer neuen Krise kommt, in der bezeichnenderweise Locke eine maßgebliche Rolle spielt.20 Sein Einfluss auf die Konstitution des englischen Autoren- und Verlagsrechts ist über die parlamentarischen Interventionen seines Klubs, des »College«, ein durchaus direkter und bedeutender. Lockes Bemühen geht auf die Beseitigung der Monopole, da sie die Bücher verteuerten und die Meinungsfreiheit empfindlich beeinträchtigten. In einem Entwurf aus dem Jahre 1695 fordert Locke, dass das Eigentums- und Vervielfältigungsrecht des Manuskripts dem Autor oder demjenigen zukomme, dem er es zediert hat,21 aber auch und darüber hinaus, dass der Autor ein moralisches Recht auf sein Werk mit jeder Neuveröffentlichung wieder geltend machen könne: »noe printer shall print the name of any person as Author or publisher of any book pamphlet pourtraiture or paper without authority given in writeing for soe doeing [,..].«22 Lockes Absicht besteht zum einen darin, die Besitz- und Rechtsansprüche von Autor und Verleger zu regeln, andererseits der »Stationers Company« die Zensurbefugnis zu entziehen und den Autor bzw. den Verleger oder Drucker direkt dem gängigen Recht zu unterstellen: »I know not why a man should not have liberty to print what ever he would speake. and to be answerable for the one just as he is for the other if he transgresses the law in either.«23 Die Verantwortung für den inkriminierten Inhalt hat derjenige zu 19 John Feather, Publishing, Piracy and Politics. An Historical Study of Copyright in Britain, London 1994, S. 4 3 - 4 9 ; ders., From Rights in Copy to Copyright. The Recognition of Authors' Rights in English Law and Practice in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Martha Woodmansee / Peter Jaszi (Hg.), The Construction of Authorship. Textual Appropriation in Law and Literature, Durham 1994, S. 191-209, sowie vor allem Alfred W. Pollard, Some Notes on the History of Copyright in England, 1662-1774, in: The Library, 4th series, III (1923), S. 97-114. Hier (S. 101 f.) finden sich auch die zentralen Stellen des »licensing act«. 20 Feather, Publishing, Piracy and Politics, S. 50, sowie vor allem Raymond Astbury, The Renewal of the Licensing Act in 1693 and its Lapse in 1695, in: The Library, 5th series, XXXIII/4 (1978), S. 2 9 6 - 3 2 3 , insbes. S. 3 0 4 - 3 2 2 . 21 »To secure the Author's property in his copy, or his to whom he has transferd it [...].« John Locke, Appendix No. 3 (wahrscheinlich der Entwurf zu seinem verlorengegangenen Schreiben an das »College« vom 18. März 1695), in: Ders., The Correspondence, hg. v. Esmond Samuel De Beer, Bd.5, Oxford 1979, S. 795-796, hier S. 795. 22 Ebd. 23 John Locke, Appendix No.l (Entwurf zum »Licensing Act«, wahrscheinlich Januar 1695), in: Ders., The Correspondence, Bd.5, S. 785-791, hier S. 785.
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übernehmen, der in der Kette der Veräußerungen des Manuskripts dem Ursprung am nächsten kommt, das heißt, dass die volle Verantwortung letztlich dem Autor zukommt, falls dessen Name bekannt ist.24 Meinungsfreiheit und geistiges Eigentum rekurrieren also beide auf den Autor, wobei er sich, was seine Außerungsfreiheit betrifft, an geltendes Recht zu halten hat, wie es für jeden sprechenden Bürger gilt, während er bezüglich des finanziellen Gewinns aus dieser Äußerung spezielle Rechte geltend machen kann. Die Waage der Rechte und Pflichten liegt hier also schief: Der Autor verfügt über spezielle Rechte, was aber keine speziellen Pflichten voraussetzt. 25 Diese Privilegierung des Autors lässt sich nur aus seinen speziellen Verdiensten für das Gemeinwohl heraus verteidigen. 26 Im Gegensatz zum normalen Bürger verfügt der Autor über ein hohes Maß an Erfindungskraft; er gilt als ausgesprochen produktiv und bereichert wie wenig andere die Gesellschaft. Diese Erfindungsgabe gilt es zu schützen, damit der gesamte Gewinn nicht an den Reproduzenten - oder den Reproduzenten des Reproduzenten - gehe, da sonst der ursprünglichste der Produzenten, der Autor, sich des Ansporns zu seiner Tätigkeit beraubt sähe. Dadurch würde der Gesellschaft Schaden erwachsen; falls sie den Kopisten den Ertrag an fremder Arbeit überlässt, läuft sie Gefahr, dem bloßen Erhalt des Alten und der Stagnation den Vorzug über Produktion und Fortschritt zu geben. 27 Somit gilt es,
24 »And then let the printer or bookseller whose name is to be answerable for whatever is against law in it as if he were the author unlesse he can produce the person he had it from which is all the restraint ought to be upon printing.« Ebd., S. 786. 25 Dass der Vergleich einer schriftlichen Äußerung mit einer mündlichen gegen das Konzept des »geistigen Eigentums« sprechen kann, erkennt etwa Christian Sigmund Krause in dem Artikel »Uber den Büchernachdruck« im »Deutschen Museum« (erstes Halbjahr 1783, S. 417): »Mit welchem Rechte will ein Mensch mehr Eigenthum an seinen geschriebenen, als an seinen gesprochenen Gedanken haben? [...] Nein, nein, es ist zu auffallend, daß der Begriff des geistigen Eigenthums unbrauchbar ist. Mein Eigenthum m u ß abschliessend mein sein; ich m u ß es ganz weggeben, ganz zurücknehmen können. Man beschreibe mir, wie das in unserm Falle möglich ist. Man n e h m e einmal die Ideen, die man erfunden hat, sobald sie einmal mitgetheilt sind, wieder zurück, so daß sie, wie vorher, nirgends gef u n d e n werden!« Zit. n. Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft, S. 53. 2 6 Der erste Artikel der Menschenrechtserklärung besagt, dass die soziale Ungleichheit nur durch den gemeinen N u t z e n begründet sein dürfe: »les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l'utilité commune.« Déclaration des droits de l'homme et du citoyen, in: ChristineFauré (Hg.), Les déclarations des droits de l'homme de 1789, Paris 1988, S. 11-13, hier S. 11. 27 Bekanntlich sieht Locke, man denke an sein Konzept der »uneasiness«, jegliches Handeln und auch schon die Bereitschaft zur Tat in der Begierde (desire) begründet. Vgl. John Locke, An Essay concerning H u m a n Understanding (1690/ 2 1694), hg. v. Alexander Campbell Fraser, Bd.l, Oxford 1894 (Ndr. N e w York 1959), S. 304 (II, xx.6; II, xxi.31-39). Dies gilt natürlich auch und deutlich ausgeprägt für ökonomisches Handeln: »In the economic sphere, the >desire of having more than M e n needed< is equivalent to the basic principle of mneasiness< that account for all forms of action. It is conceived of as an innate characteristic responsible for all economic activity beyond what is needed for bare subsistence, an impulse that is directed to the >Conveniencies< and >delight< of life, as opposed to the mere >NecessariesPantheons< ans andere Ufer des Tiber geschieht als Verwandlung in >St. PeterIn this case< (beim Produktenaustausch), ... they licked it' (the thing represented to them) >twice to their tongues, after which they seemed to consider the bargain satisfactorily.< Ebenso beleckte bei den östlichen Eskimos der Eintauscher jedesmal den Artikel beim Empfang desselben. Wenn die Zunge so im Norden als Organ der Aneignung, ist es kein Wunder, daß der Bauch im Süden als Organ des akkumulierten Eigentums gilt und der KafFer den Reichtum eines Mannes nach seinem Fettwanst schätzt. Die Kaffern sind grundgescheute Kerle, denn während der offizielle britische Gesundheitsbericht von 1864 den Mangel eines großen Teils der Arbeiterklasse an fettbildenden Substanzen beklagt, machte ein Dr. Harvey, der jedoch nicht die Blutzirkulation erfunden hat, in demselben Jahre sein Glück durch Puff-Rezepte, die der Bourgeoisie und Aristokratie Fettüberflusseslast abzutreiben versprachen.« 46
Diese Abschweifung, in der Marx einen falschen Harvey inmitten einer paradoxen Körperökonomie mit Zirkulationsriten, die aufjeden Fall nichts mit dem »Stoffwechsel der Waren« in der kapitalistischen Produktionsweise zu tun haben, eher karnevalistisch als dialektisch verknüpft, lässt sich als ein metaphorologisches Indiz lesen. Offensichtlich hat sich zumindest für Marx die figurative Besetzung des Zirkulationsparadigmas soweit sprachlich automatisiert, dass sich der in der Sphäre des Bildspenders angesiedelte propositionale Gehalt veralbern lässt, ohne dass die konzeptuelle Plausibilität der begrifflichen Bestimmtheit politökonomischer Zirkulation in Gefahr gerät Allgemeiner ausgedrückt: Figurai hat sich der metaphorische H o f des Zirkulationsbegriffs derart verfestigt, dass er zwar überall mitbedeutet wird, epistemologisch aber nur noch ein totes Gut bezeichnet. Dadurch erhält sein logisch-diskursiver Gebrauch alle Freiheiten, mit ihm umzugehen. 44 In welcher Weise sich Marx in der Explikation seiner Ökonomie- oder gesellschaftstheoretischen Modellbildungen auf naturwissenschaftliche Analoga als methodische Analogien bezieht, wird in der neueren Forschung freilich breit diskutiert. Im Hinblick auf die Organismusmetapher steht dabei der Ubergang vom philosophischen Begriff Hegels zur Orientierung am analytischen Begriff der zeitgenössischen Chemie im Vordergrund. Vgl. dazu Seungwan Han, Marx in epistemischen Kontexten, Frankfurt/ M. 1995, S. 185 ff. 45 Vgl. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Ders. / Engels, Werke (MEW), Bd.42, S. 47-770, hier S. 420f. 46 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd.l, Frankfurt/ M. 1981, S. 72.
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D e n Fragen nachzugehen, ob bei der »Ideenzirkulation« der »Völkerpsychologie« ein ökonomisches oder physiologisches Hintergrundwissen zur A n w e n d u n g k o m m t u n d wieweit es sich ideengeschichtlich eingrenzen lässt, erfordert deshalb, das konzeptuelle Gerüst, in das Lazarus u n d Steinthal intellektuelle Austauschprozesse einpassen, in seiner begrifflichen Gestalt zu rekonstruieren. Zunächst ist dafür auf die Basistheorie der Völkerpsychologie zurückzuk o m m e n . Steinthal und Lazarus beziehen sich zur Grundlegung ihres Projekts auf die Psychologie Herbarts, d e m sie auch in philosophischer Hinsicht weitgehend verpflichtet bleiben. J o h a n n Friedrich Herbart, der Zeitgenosse Hegels, aber »äußerster Gegenfüßler der idealistischen Metaphysik«, 47 entwickelt innerhalb des Wissenssystems seines philosophischen »Realismus« eine Psychologie, die sich von den zu dieser Zeit vorherrschenden anthropologischen wie transzendentalistischen Thematisierungen des Psychischen deutlich abhebt. 4 8 Seine auf Mathematisierbarkeit abgestellte Psychologie akzeptiert weder die A n n a h m e von ursprünglichen Vermögen noch eine physiologische Tieferlegung, sondern entwirft ein einfaches begriffliches Schema der Vorstellungsmechanik. Das individuelle Bewusstsein erscheint dabei eher als der Schauplatz des intellektuellen Treibens, denn als sein souveräner Erzeuger. Es reproduziert sich durch das Auftauchen von semantisch überindividuellen Vorstellungen, welche die Bewusstseinsschwelle überschreiten und sich stetig neu konfigurieren. Dabei wirkt als M o t o r des psychischen Treibens eine Mechanik von H e m m u n g e n , Komplikationen u n d Verschmelzungen der Vorstellungen, j e nachdem ob sie einander gleichartig, disparat oder entgegengesetzt sind. Die Enge des menschlichen Bewusstseins führt zudem zu ein e m p e r m a n e n t e n Abdrängen von g e h e m m t e n Vorstellungen hinter die Schwelle z u m Unbewussten. Die Konsequenz der Herbartschen Psychologie ist ein methodischer Subjektbegriff, der als Korrelat von empirischen Vorstellungskonstellationen fungiert, die sich nach allgemeinen Bewegungsgesetzen konstituieren. Indem die Sphäre des irreduzibel Individuellen auf den unzugänglichen, metaphysisch lediglich vorauszusetzenden Bereich der »Seele« beschränkt wird, die Vorstellungen hingegen intersubjektiv gegeben und sprachlich vermittelbar begriffen sind, ist dieses Subjekt zugleich notwendig als ein öffentliches Wesen gefasst, das sich in Kommunikation u n d sozialer Interaktion erst reali47 Wilhelm Windelband, Die Geschichte der Philosophie. Bd.2: Von Kant bis Hegel und Herbart, Leipzig 1880, S. 367. 48 Zum philosophischen Standort Herbarts vgl. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd.3, N e w Haven 2 1923 (Ndr. Darmstadt 1994), S. 378-410. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Rolle seiner Psychologie vgl. Dario F. Romano, Der Beitrag Herbarts zur Entwicklung der modernen Psychologie, in: Friedrich W. Busch / Hans-Dieter Raapke (Hg.), Johann Friedrich Herbart. Leben und Werk in den Widersprüchen seiner Zeit, Oldenburg 1976, S. 89-103.
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siert. Herbart spricht diese Folgerung sehr deutlich in seiner Psychologie an und rückbezieht sie noch einmal auf die Reichweite seiner Wissenschaft: »Der M e n s c h ist N i c h t s ausser der Gesellschaft. D e n völlig einzelnen k e n n e n wir gar nicht; wir wissen nur soviel mit Bestimmtheit, dass die Humanität i h m fehlen würde. N o c h mehr: wir k e n n e n eigentlich nur den M e n s c h e n in gebildeter Gesellschaft. D e r W i l d e ist uns nicht viel klärer als das Tier. W i r hören und lesen v o n ihm; aber wir fangen sogleich unwillkürlich an, unser eigenes Bild in ihm, als e i n e m Spiegel, w i e d e r aufzusuchen.« 4 9
An diesen »seinem Wesen nach gesellschaftlichen Menschen« 50 setzt auch die Völkerpsychologie an. Allerdings geht es ihr nicht mehr nur um die Vorstellungskonfigurationen im Einzelbewusstsein, sondern um die in intellektuellen Kollektiva. Lazarus und Steinthal berufen sich dabei in der Erwartung, für diese Formierungsmuster analog passende individualpsychologische Struktur- und Bewegungsformen zu finden, weiterhin auf die Herbartsche Psychologie. Denn während Herbart eine organologische Ansicht des gesellschaftlichen Lebens, die sich aus der Selbstdarstellung des Staats als eines politischen Körpers plausibilisiere, aus philosophischer Sicht aber nur aus der Übertragung eines physiologischen Vorurteils beruhe, nachdrücklich verwirft, 51 bemerkt er zugleich, dass sich »in dem Ganzen jeder Gesellschaft die einzelnen Personen fast so, wie die Vorstellungen in der Seele des Einzelnen« 52 verhielten. Hieraus scheint Herbart ein »psychologischer Ursprung« der in der »Gesellschaft wirksamen Kräfte«, die symbolisch vermittelt durch Sprache und Handlungen aufeinandertreffen, offensichtlich.53 Allerdings hat Herbart an anderer Stelle den zunächst nur heuristischen Wert dieser Analogie klar hervorgehoben. Die augenfällige Ähnlichkeit zwischen den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und der Psychomechanik von Hemmungen und Verschmelzungen hätte - überträgt man das konzeptuelle Schema von der Psychologie auf die Politik - folgenden Nutzen: »Man lernt dadurch wenigstens beobachten« und gewinnt eine Grundlage, »wenn es darauf ankommt, das Gleichgewicht in der Gesellschaft zu bestimmen.« 54 Es scheint ihm dabei in erster Linie um eine - modern gesprochen - pragmatisch motivierte Konfliktforschung zu gehen, die sich auf die einigermaßen passende Analogie individualpsychischer Mechanismen beziehen solle anstatt sich durch die Naturphilosophie zu organolo49 Johann Friedrich Herbart, Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik, und Mathematik. Zweiter analytischer Theil (=Johann Friedrich Herbart's sämmtliche Werke, hg. v. Gustav Hartenstein, Bd.6), Leipzig 1850, S. 20. 50 Lazarus / Steinthal, Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, S. 3. 51 Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, S. 349, und Herbart, Psychologie als Wissenschaft, S. 22. 52 Johann Friedrich Habart, Lehrbuch der Psychologie (=Johann Friedrich Herbart's sämmtliche Werke, hg. v. Gustav Hartenstein, Bd.5), Leipzig 1850, S. 166. 53 Herbart, Psychologie als Wissenschaft, S. 31. 54 Ebd., S. 32.
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gischen Verkleisterungen gesellschaftlicher Zustände verführen zu lassen.55 Eine in ihrem Wissenschaftsstatus der Psychologie vergleichbare Sozialtheorie ist aber offensichtlich nicht intendiert. Dafür sind - wie Herbart erkennt - die faktischen Zustände im Europa der Gegenwart durch »gesellschaftliche Verknüpfungen« viel zu überformt, als dass sie sich systematisch durch eine Übertragung des psychologischen Mechanismus erklären ließen. Genau dieses Ziel streben aber die Gründer der Völkerpsychologie an und gerade den kulturellen Uberformungen, die sich im »Volksgeist« sedimentieren, gilt ihr besonderes Interesse. Was den ersten Punkt anbetrifft - die systematisch-kategoriale Grundlegung - scheint das Ergebnis nicht überaus beeindruckend. Trotz volltönender Ankündigungen bleibt es letztlich bei Herbarts Ausgangsthese, die mit eher vermindertem Problembewusstsein stets paraphrasiert wird: »Im Gesamtgeist also, kann man sagen, verhalten sich die Einzelgeister so, wie sich im Individuum die einzelnen Vorstellungen oder überhaupt die geistigen Elemente verhalten.«56 Für den zweiten Punkt jedoch - die kulturellen Überformungen in den wissenschaftlichen Blick zu bekommen - gelingt ihnen ein konzeptuell innovativer Ansatz. Die Rede ist hier von dem Theorem der »Verdichtung des Denkens in der Geschichte«, - so der gleichnamige Aufsatz von Moritz Lazarus, der den Begriff expliziert.57 In der apperzeptiven und verobjektivierten »Verdichtung« wird nichts weniger als das intellektuelle Triebrad des Kulturprozesses geortet. In ihr vollzieht sich die »Umwandlung des Volksgeistes«. Sie ist damit die Antwort auf das, wonach in der Völkerpsychologie mit Blick auf die »Zirkulation der Ideen« gefragt wird, was aber - wie hier abschließend gezeigt werden soll - im Hinblick auf das belehnte ökonomische Hintergrundmodell keinem Paradigma der Zirkulation, sondern einem der Produktion entspringt. Das Grundmodell der Verdichtung ist die apperzeptive »Verdichtung« des Gedachten in der herbartianischen Individualpsychologie. Sie erklärt das Phänomen, dass komplexe Vorstellungsinhalte in der reduzierten Form einfacher Gegebenheiten zu vergegenwärtigen sind. Herbart, der die Vorstellung eines seinen Bewusstseinsinhalt souverän produzierenden Ichs destruiert hatte, stieß hier wieder auf Lockes Problem der Enge des menschlichen Geistes, auf die Frage, »wie viele Gedanken und Begehrungen im Menschen zugleich lebendig sein und einander bestimmen können«.58 Um zu verhin-
5 5 Z u Herbarts Kritik der romantischen Naturphilosophie vgl. Johann Friedrich Herbart, Ü b e r m e i n e n Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit (1814), in: Ders., Sämtliche Werke, hg. von Karl Kehrbach u. O t t o Flügel, Bd.3, Langensalza 1888, S. 3 1 7 - 3 5 2 , sowie seine p o lemische Rezension der Anthropologie v o n Heinrich Steffens (1823) in: Ders., Sämtliche Werke, Bd.12, Langensalza 1907, S. 189-211. 5 6 Lazarus, Ü b e r das Verhältnis, S. 9. 57 Moritz Lazarus, Verdichtung des D e n k e n s in der Geschichte, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 2 (1862), S. 5 4 - 6 2 . 58 Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, S. 315.
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dern, dass dem als Mechanik der Vorstellungen psychologisch objektivierten Bewusstsein nur dann ein neuer Vorstellungsinhalt zurechenbar wäre, wenn ein bereits vorhandener ins Unbewusste verschwände - die intellektuelle Gesamtsumme also immer gleich bliebe - , war in der Apperzeption selbst ein Prinzip intellektueller Produktivität zu verankern. Genau dies bezeichnet die »Verdichtung« im Sinne eines Prozesses kontinuierlicher Überformung der gegeneinander wirkenden Vorstellungen, eine intellektuelle Akkumulation, welche die Vorstellungsmassen nicht etwa in immer kleinere Speicher zwängt, sondern strukturell reduktiv transformiert und als eigentliche Denkleistung - so sollte es sein - nach ihrem jeweiligen Wertaspekt kritisch richtig stellt. Die völkerpsychologische Adaptation dieses Theorems ist leicht einzusehen: Der fortschrittsgerichtete Kulturprozess selbst stellt sich nicht nur als kollektiver intellektueller Verdichtungsprozess dar, sondern besitzt in der Verdichtung des Denkens sogar die psychologische Bedingung seiner Möglichkeit. Die eigentliche Aufgabe der »Völkerpsychologie« besteht aber nicht nur in der Erkenntnis dieses Sachverhalts - dies ist nur ihr synthetischer Teil - , sondern wächst ihr aus dem Umstand zu, dass zwischen der »öffentlichen Cultur des Zeitalters« und der »Cultur des Individuums« keine notwendige Korrespondenz besteht. Auf der einen Seite existiert ein objektiver Gedankenreichtum: »Da, wo die Wissenschaft und die ethische und ästhetische Gestaltungskraft sich mit dem alltäglichen Leben verbindet, wo sie immer tiefer in die Breite des Lebens hinabsteigen, da durchflechten sie das Gewebe auch der einfachsten Verhältnisse mit idealen Gestalten; fern von seinem Beginn und unerwartet schlingt sich der Faden höchster Geistescultur in die Formen der alltäglichsten Dinge.« 59
Auf der anderen Seite droht zwar nicht die Gefahr, von der verdichteten Bedeutungsmacht des Alltäglichen erdrückt zu werden - es kann gerade aufgrund seiner verdichteten Form als plumpe Faktizität hingenommen werden - , wohl aber steigert sich der Anspruch an die subjektive Kritik, das Gegebene in allen Bereichen weiterzuentwickeln, ihm eine höhere Form symbolischer Dichtigkeit zu geben: »Ist doch namentlich aller Fortschritt dadurch bedingt, daß das Individuum sich nicht mit dem unverstandenen Resultat begnüge, ohne die Breite des Inhalts und die Länge des Erforschungsweges zu kennen, daß es vielmehr zu einer bewußten Verdichtung des Inhalts, daß heißt zu einer Auflösung und eigenen, erneuten Zusammensetzung derselben gelange. Wer oberflächlich vom >Austausch der Bedürfnisse< redet, oder gedankenlos an einem Wochenmarkt vorübergeht, wer gedankenlos den Postboten kommen und gehen sieht, der wird niemals eine nationalökonomische Wahrheit entdecken oder eine Verbesserung im Postwesen einführen.« 60
59 Ebd., S. 58. 60 Ebd., S. 61.
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In diesem Zusammenhang hebt Lazarus die »culturhistorische« Richtung in der zeitgenössischen realistischen Literatur lobend hervor. Das Hauptorgan dieser breiten Verdichtungsarbeit am Kulturprozess soll aber zweifellos seine eigene Disziplin sein. Indem sie mit ihren analytischen Anstrengungen zwischen der »öffentlichen« und der »individuellen Cultur« vermittelt, befördert sie an erster Stelle selbst die »Zirkulation der Ideen«. Als modellgebende Leitwissenschaft für die Erforschung des »öffentlichen Geisteslebens« benennt Lazarus ausdrücklich die Nationalökonomie: »Wann wird die Zeit kommen, da man diese Verhältnisse in Bezug auf das geistige Leben eben so genau erkennen wird, wie die Nationalökonomie sie in Bezug auf materielle Kräfte uns klar vor Augen stellt?«61 Das ökonomische Analogon zu dem Begriff, den die Völkerpsychologie in das Zentrum ihres Kultur- und Wissenschaftskonzepts stellt, bezeichnet jedoch deshalb gerade nicht die Zirkulation. Wenn es heißt, dass die »Verdichtung« »psychologisch [...] die frühere Arbeit in der gegenwärtigen verwertet, d.h. verdichtet«, 62 dann ist es vielmehr die Produktion, welche den systematischen Angelpunkt bildet. Wie Lazarus im zuvor Zitiertem deutlich hervorhebt, bringt ein bloßer Austausch von unverarbeitetem Ideenmaterial die »öffentliche Cultur« oder den »objektiven Geist« kein Stück weiter. Vor allem organologische Analogisierungen haben deshalb - wie Lazarus und Steinthal in der gemeinsamen Vorstellung ihres Projekts mehrfach klarstellen - keinen modellexplikativen Wert: »Die Natur lebt in einem streng mechanischen Ablauf und einem organischen Kreislauf ihrer gesetzmäßigen Processe. [...] Der Geist hingegen lebt in einer zusammenhängenden Reihe von Schöpfungen, deren jede die frühere voraussetzt, aber, gegen sie gehalten, etwas Neues bietet: er zeigt einen Fortschritt.« 63 So sieht sich auch die Völkerpsychologie nicht als Agentur eines bloßen Kreislaufs von Wissen, sondern will die »Auflösung und erneute Zusammensetzung« des kulturellen Materials modellhaft vorführen und erwartet von der realistischen Literatur, sich in zwar verschiedener Weise, aber mit dem gleichen Ziel am Reproduktionsprozess der Kultur zu beteiligen. Die Zirkulation intellektueller Güter basiert darauf, dass die Einzelproduzenten in der Verdichtungsarbeit und damit gleichsam im Stoffwechsel mit dem »objektiven Geist« den kulturellen Wert erst schaffen, den auf den Markt zu bringen von öffentlichem Interesse ist. Im konzeptuellen Hintergrund sind hier also nicht Quesnay mit seinem Tableau oder gar Harvey mit dem pulsierendem Herzen, sondern die »Principles« von David Ricardo auszumachen. Seine Reformulierung der klassischen Ökonomie auf der Grundlage der Produktion, die über den Drehund Angelpunkt der Arbeitswertlehre nun die Funktion der Zirkulation 61 Lazarus, U b e r das Verhältnis, S. 443. 62 Lazarus, Verdichtung, S. 62. 63 Lazarus / Steinthal, Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, S. 15.
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bestimmt und insofern systematisch herabstuft, bildet um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Diskussionsgrundlage nicht allein für Marx und Rodbertus, sondern ebenso für die »historische Schule« der Nationalökonomie in Deutschland. 64 Über deren Mitbegründer Bruno Hildebrand ergibt sich eine direkte Verbindung zu Lazarus. Bereits seit den vierziger Jahren versuchte Hildebrand in direkter Auseinandersetzung mit der sozialistischen Ökonomietheorie 65 den »materialistischen« Gesetzen des Wirtschaftslebens ein kulturalistisches Fundament zu unterbauen, dessen subjektiv-motivationale Seite mit Hilfe der Herbartschen Psychologie entfaltet wird und dessen optimistische Fortschrittsorientierung sich aus Herbarts Sozialethik speist.66 Schon aus diesen Gründen, aber auch angesichts der öffentlichkeitspolitischen Orientierung der »Völkerpsychologie« verwundert es nicht, dass Hildebrand, der wegen seines Engagement in der liberalen Bewegung im Nachmärz in die Schweiz emigrieren musste und zum Rektor der Berner Universität avancierte, mit Interesse auf das Projekt von Lazarus reagierte. Schließlich besuchte er Lazarus 1859 in Berlin und bot ihm eine Professur in Bern an, die dieser unter der neuen Denomination »Völkerpsychologie« bis 1866 innehatte. 67 Die »einfachsten Grundsätze der Nationalökonomie des Geistes«,68 die Lazarus als Grundlage der »Ideenzirkulation« ohne nähere Referenz anführt, sind mit einem ins Kulturell-Motivationale übergreifenden Produktionsparadigma, wie es die eklektische Ricardo-Rezeption der »historische Schule« entwickelt, kompatibel und mit großer Wahrscheinlichkeit über diesen Zusammenhang vermittelt. Dies gilt auch für den Fortschrittsoptimismus, den die »Völkerpsychologie« aus dem wirtschaftlichen Sektor auf den gesamten Kulturbereich ausdehnt. 6 4 »Ricardo remained to the end of the century the great theorist for most of those German economists who had any theoretical ambitions at all.« Schumpeter, History of Economic Analysis, S. 478. Zur »historischen Schule« vgl. ebd., S. 507ff. 6 5 Vgl. Bruno Hildebrand, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft (1848) und andere gesammelte Schriften, hg. v. Hans Gehrig, Jena 1922, S. 78 ff., sowie Carl Grünberg, Bruno Hildebrand über den kommunistischen Arbeiterbildungsverein in London. Zugleich ein Beitrag zu Hildebrands Biographie, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 11 (1925), S. 4 4 5 - 4 5 9 . 6 6 Vgl. Gottfried Eisermann, Die Grundlagen des Historismus in der deutschen Nationalökonomie, Stuttgart 1956, S. 180. Die Bedeutung der Herbartschen Psychologie schon bei Roscher hebt Max Weber hervor. Vgl. Max Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 1 - 1 4 5 , hier S. 10. 67 Vgl. dazu Alfred Leicht, Lazarus der Begründer der Völkerpsychologie, Leipzig 1904, S. 39. Einen nicht nur herbartianischen, sondern deutlich »völkerpsychologischen« Standpunkt lässt Hildebrand selbst in den 1860er Jahren anklingen. Vgl. dazu Bruno Hildebrand, Die gegenwärtige Aufgabe der Wissenschaft der Nationalökonomie (1863), in: Ders., Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft und andere gesammelte Schriften, Jena 1922, S. 2 6 8 - 3 0 9 , vgl. insbes. S. 3 0 4 ff. 68 Lazarus, Uber das Verhältnis, S. 411.
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Sie teilt beispielsweise die bejahende Einstellung Hildebrands gegenüber der Maschinisierung der Produktion und kann dabei sogar den wirtschaftlichen Optimismus des Ökonomen, der die technisierungsbedingte Verminderung der Nachfrage nach Arbeitskräften als eine transitorische Phase in einem Gesamtprozess einer allgemeinen Expansion des Bedarfs zu begründen versucht, 69 kulturell einordnen und überbieten. Der Kulturwert, den die Maschine als Bildungsapparat besitzt - »der Umgang mit dem Erzeugniß eines höheren Geistes [erhebt] den Geist des Arbeiters selbst«70 - verhält sich nicht nur homolog zum Arbeitswert, was den Wertschöpfungsprozess angeht, sondern übergreift diesen zugleich in sachlicher Hinsicht: »Der völlig bestimmte Maßstab für den Wert eines jeden Werkzeugs liegt nun offenbar in dem Maße, als der objektive Gedanke, der in ihm ausgeprägt und wirksam ist, die subjective geistige Arbeit des Handhabenden, verringert, ersetzt und sichert.«71 Die Ökonomie liefert das Modell der gesamtkulturellen »Verdichtung«, bezeichnet zugleich aber auch nur einen ihrer Teilbereiche. Aus diesem Grund impliziert der Ökonomismus der Völkerpsychologie keineswegs eine einfache Kolonisierung der Kultur durch die Ökonomie. Die ideelle Produktion sinkt nicht zum Begleitphänomen der materiellen herab, sondern kann sogar dort moralisch Werte erzeugen, wo wirtschaftlich Verluste bilanziert werden müssen: »Man bezeichnet den M e n s c h e n nur etwa erst von seinem 13. oder 14. Jahre bis zu seinem 55. oder 60. als einen produktiven. Das ist die Zeit, in welcher er Arbeiten zu leisten im Stande ist. In der Kindheit ist der Mensch ja bloß konsumtives W e s e n und ebenso i m h o h e n Alter. Dies ist die Betrachtung der Statistiker und der Nationalöcon o m e n , eine Betrachtung, w e l c h e in vielfacher B e z i e h u n g sehr werthvoll ist; aber w e l c h e an d e m tiefen Mangel leidet, dass sie den M e n s c h e n bloss als ein materielles W e s e n ansieht; würde sie auch auf die psychischen, würde sie auch auf die moralischen Kräfte achten, sie würde finden, dass der Unterschied kein solcher ist, w i e er hier ausgesprochen wird. D e n k e n Sie sich das Kind, den Säugling an der Mutterbrust; in den A u g e n des N a t i o n a l ö c o n o m e n ein reiner Konsument! Er zehrt von der Kraft der Mutter, vielleicht mehr als sie bei dürftiger Nahrung wieder zu ersetzen im Stande ist; er zehrt und leistet ö c o n o m i s c h nichts. Aber in moralischer B e z i e h u n g eine gewaltig produktive Kraft! D e r Säugling schlägt die A u g e n auf und blickt die Mutter an mit Lächeln; w e l c h eine Süssigkeit des Werthes, w e l c h eine Reinheit und H o h e i t der Befriedigung in der blossen Empfindung erfüllt das Mutterherz! - ja sogar w e l c h e physische Kraft wächst ihr aus solchem Wohlbehagen, das aus der Liebe v o n ihrem Kinde und zu ihrem Kinde ihr zufliesst!« 72
Das Mutter-Kind-Idyll bedeutet allerdings nur die Vorstufe zu einer radikaleren Illustration des ideellen Wertschöpfungsprozesses, der ungehindert von materieller Resourcenlimitierung sich zu vollziehen versteht. Die kate-
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Vgl. Hüdebrand, Die Nationalökonomie, S. 190. Lazarus, Einige synthetische Gedanken, S. 48 f. Ebd., S. 50. Lazarus, Ein psychologischer Blick in unsere Zeit, S. 22.
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goriale Universalität des Produktionsprinzips wird bis jenseits der Pietätsgrenze ausgedehnt, u m die Pietät selbst als Faktor der kulturellen Wertbildung einzuholen: » U n d selbst w e n n das Kind (was die N a t i o n a l ö c o n o m e n als einen reinen baaren Verlust betrachten) etwa mit drei Jahren stirbt. W o c h e n , Monate lang hat vielleicht die Mutter sorgenvolle Tage, durchwachte Nächte am Bette des Kindes zugebracht - ein reiner öconomischer Verlust. Es ist wahr, es ist ein beklagenswerther Verlust; wieviel aber an sittlicher Tiefe der Mutter vielleicht zugewachsen, w e l c h eine Art von sittlicher Kraft ihr erzeugt worden ist, da sie z u m ersten Male in so erschütternder Weise aus d e m gaukelnden Spiel des Lebens e m p o r g e h o b e n und an die Pforten der Endlichkeit gestellt worden ist, das zählt kein Statistiker. Aus d e m Tode sogar entsteht n o c h Leben für die sittlichen Kräfte.« 73
Aufschlussreich sind diese Ausführungen vor allem deshalb, weil Lazarus hier die epistemologische Dimension seines Problems kennzeichnet, indem er es - wie überzeugend auch immer - zu bewältigen vorgibt. Es ist genau jene »Anthropologie der Endlichkeit«, die - folgt man Foucaults Analyse sich zwangsläufig mit Ricardos Perspektivenwechsel verknüpft. Jener homo oeconomicus, »der sein Leben, verbringt, verbraucht und verliert, indem er versucht der Drohung des Todes zu entgehen« und als Korrelat zur Ö k o n o mie der Produktivität erscheint, 74 wird dank des »kulturwissenschaftlichen« Ansatzes der Völkerpsychologie, in einen kollektiven Wertschöpfungsprozess integriert, der auch seinen individuell nur als reine Negation denkbaren anthropologischen Rest - seinen unausweichlichen Tod - miteinbegreift. Allerdings verlangt der Ökonomismus der »Völkerpsychologie«, der im Hinblick auf die friktionslose Funktionalität des kulturellen Verwertungsprozesses seinen Optimismus aus der wirtschaftlichen Dynamik des »Great Boom« beziehen mag, 75 nach einer normativen Ergänzung. U m den intellektuellen und moralischen Fortschritt mit der apparativen Modernisierung, wie sie sich in der Medien-, Geräte- und Institutionenwelt des »objektiven Geistes« abspielt, im Gleichschritt zu halten, darf der subjektive Verdichtungsprozess kultureller Erfahrung nicht innehalten: »Die Geschichte arbeitet für das Individuum; aber sie kann es seiner eigenen Arbeit nicht überheben.« 76 Zur Verfügung steht den Herbartianern Lazarus und Steinthal eine ausgearbeitete Theorie der Normativität - Herbarts »practische Philosophie«.
73 Ebd. 74 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/ M. 1974, S. 315. 75 Die programmatischen Texte der »Völkerpsychologie« erscheinen zwischen 1850-57 sowie 1860-66 und fallen damit in eine bisher beispiellose weltwirtschaftliche Hochkonjunkturphase, die von nur episodischen Abkühlungen unterbrochen war und 1873 abrupt endete. Vgl. dazu Eric Hobsbawm, The Age of Capital, London 1997, S. 43 ff. 76 Lazarus, Verdichtung, S. 61.
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Diese bietet einen urteilstheoretischen Formalismus u n d im sozialphilosophischen Ansatz des »Kultursystems« eine ausbaufähige k o m m u n i k a tions- und interaktionstheoretische Grundorientierung, 7 7 an die Lazarus u n d Steinthal auch anknüpfen. Herbarts moralische »Idee der Vollkommenheit« begründet das Kultursystem, indem sie - abgestimmt mit der obersten Rechtsidee, die eine »Vermeidung des Streites« fordert - qua sprachlich vermittelter gesellschaftlicher Interaktion zu einer »Harmonisierung des Wollens« 78 führt. Steinthal akzentuiert diesen Aspekt der Herbartschen Ethik und verweist darauf, dass die kommunikative Funktion im Kultursystem - »der hohe sittliche Wert der Sprache« - sich umstandslos medienspezifisch aktualisieren lässt: »Eisenbahn, Post u n d Télégraphié sind nur Erweiterung der Sprache.« 79 D e n n o c h bleibt für Steinthal eine empfindliche Leerstelle in Herbarts Ethik, die es mit sich bringt, dass »wir n u n auch die Cultur etwas anders ansehen müssen, als [es] Herbart prinzipiell tun konnte«, und er illustriert dies mit einer rhetorischen Fragestellung. Sie folgt auf ein Gedankenbild, über das mit untrüglicher Evidenz ein gewisses moralisches Urteil ergehen soll: »Man vergegenwärtige sich eine Straße von Lazzaronis und lungernden Bettlern belagert, und dagegen eine Straße in London, wo alles in tätigster Bewegung ist, und selbst der Bettler, dem du ein Halfpenny gibst, dir dafür einen reinen W e g fegt: welcher Anblick mag schöner sein? u n d welcher wird ethisch vorgezogen?« 8 0 Solange die untätigen Bettler nicht in Streit geraten, gibt jedoch Herbarts Ethik der »Vollkommenheit« in dieser Frage keine Auskunft u n d gerät in ihrem kontemplativen Formalismus für Steinthals Geschmack doch zu »mönchisch und schönseelig«. 81 Eine inhaltlich wertsetzende Absicherung des Produktionsparadigmas der »Völkerpsychologie« - welches als normatives Kulturfundament freilich nicht schlechthin gilt, sondern im R a h m e n einer durch Rechtssicherheit u n d öffentliche Partizipation liberalisierten Gesellschaft - muss deshalb an anderer Stelle gesucht werden. Steinthal findet sie, indem er die produktiv unfreie Sklavencultur des orientalischen Altertums mit seiner Gegenwart kontrastiert: »Eine andere Antwort bieten unsere Arbeiter an den Wällen einer Eisenbahn, oder an den Canälen zur Herstellung von Wasserstraßen, unser H e e r von Post-, Telegraphenund Eisenbahn-Beamten: freie Arbeiter z u m Besten eines freien Volkes. Faust-Goethe sagt: Solch ein G e w i m m e l m ö c h t e ich sehn, auf freiem Frund mit freiem Volke stehen.« 8 2
77 Vgl. dazu Orth, Kultur und Vorstellungsmassen, S. 32 ff. 78 Ebd., S. 32. 79 Heymann Steinthal, Die ethische Idee der Vollkommenheit, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 11 (1880), S. 161-223, hier S. 209. 80 Ebd., S. 211. 81 Ebd., S. 210. 82 Ebd., S. 212.
Die »Zirkulation der Ideen« bei Lazarus / Steinthal
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Das k u r z e Anzitieren der b e r ü h m t e n Passage aus »Der Tragödie zweiter Teil«, in welcher der erblindete Faust vor seinem inneren Auge ein ganzes Panorama tüchtiger Tätigkeit erstehen lässt, bevor d a n n die L e m u r e n nach i h m greifen, f u n g i e r t hier offensichtlich - durch »Faust-Goethe« klar als autoritativ-monologisches D i c h t e r w o r t u n d nicht als deutungsbedürftiges W e r k s e g m e n t ausgewiesen - als m e t o n y m i s c h angelegter Versuch, d e n in der kulturellen Realität erfahrbaren K o n n e x von H u m a n i t ä t u n d Tätigkeit klassisch zu beglaubigen. Dies ist kein Gelegenheitsfund. F ü r Lazarus u n d Steinthal, die sich ansonsten auch in literarästhetischen D i n g e positiv zur f o r m a l e n u n d technischen M o d e r n i s i e r u n g stellen, 8 3 scheint tatsächlich überall dort, w o es u m eine normative Stützung ihres produktionsorientierten Kulturmodells der »Verdichtung« geht, die »Deutsche Klassik« in i h r e m weiteren Verständnis, d . h . bis z u m E n d e der »Kunstperiode«, diese Aufgabe zu ü b e r n e h m e n . Lazarus versucht bereits in seiner Dissertation »De Educatione Aesthetica«, m i t der er sich 1849 in Halle promoviert, das Bildungskonzept aus Schillers B r i e f e n »Über die ästhetische E r z i e h u n g des M e n s c h e n « in seiner universalen Gültigkeit zu bestätigen, i n d e m er es i m Hinblick auf den geschichtlichen A n teil, d e n die Völker zu seiner Verwirklichung beitragen, perspektiviert. 8 4 1851 verfasst er einen »Entwurf zur G r ü n d u n g einer Humanitätsgesellschaft o h n e G r e n z e n des Staates, der N a t i o n u n d der Religion«. Seinem Biog r a p h e n Alfred Leicht zufolge postuliert Lazarus auch hier das klassische Humanitätsideal als allgemeines teleologisches Handlungsziel, das sich in historisch u n d sozial k o n k r e t e n - e b e n völkerpsychologischen - H a n d l u n g s sphären geschichtlich verwirklicht. 8 5 Steinthal studiert 1852 den Briefwechsel von Schiller u n d G o e t h e u n d referiert darauf in genau d e m Brief, in w e l c h e m er Lazarus das Projekt einer völkerpsychologischen Zeitschrift vorschlägt. Das R e s ü m e e seiner begeisterten Lektüre schließt mit der Einschätzung, die beiden Klassiker b ö t e n »eine empirische Ästhetik, welche in der Totalität der E m p i r i e u n d gelegentlichen B e m e r k u n g e n eine totale T h e o r i e enthält«, 8 6 u n d hält sich d a m i t e n g an das f ü r die Kanonisierung der beiden W e i m a r e r entscheidende Synthesemodell, wie es z e h n J a h r e zuvor Gervinus in seiner Literaturgeschichte vor-
83 Wie Günter Oesterle gezeigt hat, verweist Lazarus' »Verdichtungs«-Aufsatz, der als zentralen Belegtext Adolf Bernsteins »Alltägliches Gespräch« anführt, auf die mediengeschichtliche Komplementarität des publizistischen Konzepts der »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« mit dem Feuilleton. Vgl. Günter Oesterle, »Unter dem Strich«. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im 19. Jahrhundert, in: Jürgen BarkhojJ (Hg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra, Tübingen 2000, S. 2 2 9 - 2 5 0 . 84 Vgl. Belke, Bd.l, S. XXlf. 85 Alfred Leicht referiert die Kernaussagen des unveröffentlichten Manuskripts in: Leicht, Lazarus, S. 12-16. 86 Vgl. Belke, Bd.l, S. 254f.
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gestellt hat.87 Lazaras berichtet bereits als Berliner Philosophiestudent 1846 von seinem Goethe-Studium und hebt noch in einem Brief aus seinen späteren Jahren die moraltheoretische Bedeutung der »Erziehungsprovinz« aus »Wilhelm Meisters Wanderjahren« heraus.88 Dieser Hinweis deutet zugleich auf das Textkorpus, welches für die beiden Völkerpsychologen in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse gewesen sein dürfte: Goethes »Meister«-Romane. Goethes Altersroman, die »Wanderjahre«, wurde zwar das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch in formaler Hinsicht eher als sperrig denn als klassisch beurteilt. Dies hat aber gerade eine Rezeption privilegiert, die schon im Todesjahr Goethes mit Karl August Varnhagen von Enses Aufsatz »Im Sinne der Wanderer« einsetzend - als »soziale« oder in den 40er Jahren auch »sozialistische« den gesellschaftsideellen Gehalt in den Vordergrund rückt.89 Lazarus pflegte in den fünfziger Jahren persönlichen Umgang nicht nur mit Varnhagen, sondern auch mit Hermann Hettner, der 1852 eine Art Fazit dieser Rezeptionslinie zieht. 90 Der Literaturhistoriker verwertet dabei die vorangegangenen Diskussionen um einen »sozialistischen Goethe« für ein postrevolutionär abgeklärtes - in Anlehnung an den politischen Kontext »nationalliberales«91 - Verständnis der Wanderjahre als Gesellschaftsroman. Das in der »sozialistischen« Rezeption diskutierte Verhältnis von praxisrelevantem Gehalt und utopischer Darstellung wird dabei aufgehoben in einer vorbildlichen Normativität des sozialpolitischen Bildungsziels. Hierin sieht Hettner die Bedeutung des Gesellschaftsentwurfs des »wandernden Bundes« und stellt dabei in den Mittelpunkt das Modell einer harmonischen Arbeitsteilung, die nur auf den »Adel der Arbeit« gegründet ist.92 Die kulturelle Produktionsethik von Lazarus und Steinthal erhält in diesem Rezeptionskontext der »Wanderjahre«, der in enger personeller wie intellektueller Nachbarschaft zur programmatischen Orientierungs- und Gründungsphase des »Völkerpsychologie«-Projekts zu beobachten ist, zweifellos eine willkommene normative Rückbindung. Auch für den eigentlich klassischen Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« begann sich die Einsicht, dass die - wie es bei Novalis ablehnend 87 Mandelkow spricht mit Blick auf das Synthesemodell von Gervinus vom »Gründungsmanifest eines wirkungsgeschichtlichen Klassikbegriffs«. Vgl. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd.l, München 1980, S. 123. 8 8 Vgl. Belke, Bd.l, S. 2 4 u. S. 221. 8 9 Vgl. Mandelkow, Bd.l, S. 137 ff. 9 0 Vgl. dazu Belke, Bd.l, S. X X X I I I u. S. 73. 91 Vgl. Beate Pinkerneil, Klassische Literatur und politisches Engagement. Zur nationalliberalen Literaturwissenschaft, in: Klaus L. Berghahn / Beate Pinkerneil (Hg.), Am Beispiel Wilhelm Meister. Einführung in die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Bd.l: Darstellung, Königstein/ Ts. 1980, S. 2 7 - 4 1 . 92 Hermann Hettner, Goethe und der Sozialismus, in: Klaus L. Berghahn / Beate Pinkemeil (Hg.), Am Beispiel Wilhelm Meister. Einführung in die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Bd.2: Dokumente, Königstein/ Ts. 1980, S. 2 5 - 3 8 .
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heißt - »poetisierte bürgerliche und häusliche Geschichte« 93 ihren spezifischen Wert gerade als eine »ästhetische Formulierung von Gesellschaft« 94 erhält, bereits in der ambivalenten Meister-Rezeption der Jungdeutschen von Börne bis Wienbarg durchzusetzen. 95 Soziologische Lektüren, die vom Lazarus-Schüler Georg Simmel 96 bis zu Jürgen Habermas reichen, haben im Anschluss daran das Werk zur Illustration ihrer paradigmatischen Setzungen genutzt, zur epochaltypischen Dichotomisierung einer Welt, in welcher »der Edelmann ist, was er repräsentiert, der Bürger, was er produziert«. 97 Die Möglichkeit einer solchen Lesart ist mit großer Wahrscheinlichkeit Lazarus nicht unbekannt gewesen. Sein enger Freund Bertold Auerbach stellt den Roman in den Mittelpunkt seines 1861 publizierten Vortrages »Goethe und die Erzählkunst« 98 und drängt Lazarus brieflich zur Lektüre seiner Schrift, da sie »Dir auch in Deiner Tätigkeit leicht zu Handhabendes bieten [wird]«.99 Er verspricht demnach eine Art völkerpsychologischen Ertrag, der seiner Goethe-Studie zu entnehmen sei. Tatsächlich führt seine technisch orientierte Kritik, bei der als Messlatte die zeitgenössische realistische Romanpoetik anliegt, zu einer relativ unproblematischen Sichtung der »Lehrjahre«. Auerbach schiebt die ironischen Brechungen der narrativen Fügung - vor allem durch und um die Turmgesellschaft - auf eine poetische Uberflktionalisierung, um durch das Eingeständnis der partiellen Formmängel den Kerngehalt des »pädagogischen Romans« sicher zu bergen. So erscheint Wilhelm Meister »als der moderne Odysseus, der die Heimath der Bildung sucht, [...] auf den Wogen der unsteten Gesellschaft umher[treibt] und mancher Circe zu entrinnen [hat]«.100 Die Lehrjahre zeigten »die Einwirkung der Welt auf ein freies Individuum«, indem »Wilhelm Meister beständig auf andere zu wirken [sucht] und offen ist für deren Nachwirkung auf ihn. So erhält und vervollkommnet er sich in der Gegenseitigkeit des Lebens«, lautet das Resümee. 101 Bezieht man dies auf die »Völkerpsychologie«, wie es Auerbach selbst vorschlägt, erkennt man darin die idealische Fassung ihres Interaktionsmodells, einer »Ideenzirkulation«, wie sie Lazarus zur genau gleichen Zeit in einem 93 Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd.2, Stuttgart 1960, S. 638. 94 Rolf Peter Janz, Zum sozialen Gehalt der »Lehrjahre«, in: Helmut Amtzen u.a. (Hg.), Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich, Berlin 1975, S. 3 2 0 - 3 4 0 , hier S. 320f. 95 Vgl. dazu Hartmut Steinecke, Romantheorie und Romankritik in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 78-85. 96 Vgl. Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie, in: Gesamtausgabe Georg Simmel, Bd.16, Frankfurt/ M. 1999, S. 59-150, hier S. 144 f. 97 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 68. 98 Vgl. Berthold Auerbach, Goethe und die Erzählkunst, Stuttgart 1861. 99 Belke, Bd.l, S. 353. 100 Auerbach, Goethe und die Erzählkunst, S. 24. 101 Ebd., S. 22.
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seiner Beiträge zur Hauszeitschrift, der 1862 publizierten Arbeit über den »Einzelnen und die Gesammtheit«, expliziert.102 Eine entscheidende Differenz zum Roman auch in dieser Lesart ist dabei freilich nicht zu übersehen: Die ökonomische Zirkulation - hier wohl in Anlehnung an spätkameralistische Vorstellungen - wird zwar von Wilhelms Antipoden Werner in den Vordergrund gerückt und sogar zum Erfahrungsmodell erhoben: »Die geringste Ware siehst du im Zusammenhange mit dem ganzen Handel, und eben darum hältst du nichts für gering, weil alles die Zirkulation vermehrt, von welcher dein Leben seine Nahrung zieht.« 103 Eine späte Erwiderung Wilhelms, der mittlerweile von der Turmgesellschaft aus der Welt des Theatralischen in die der Tätigkeit geführt worden ist, kontert aber mit der entwicklungsunfähigen Beschränktheit der aus der Warenzirkulation gewonnenen Perspektive: »Du wirst doch [...] deinen Charakter nicht verleugnen! Kaum findest du nach langer Zeit deinen Freund wieder, so siehst du ihn schon als eine Ware, als einen Gegenstand deiner Spekulation an, mit dem sich etwas gewinnen läßt.«104 Das paraökonomische Tätigkeitsprinzip dagegen lässt sich nur zum Humanitätsideal erheben, wenn es außerhalb und oberhalb der ökonomischen Sphäre angesiedelt wird. Dem entspricht nicht nur die feudalaristokratische Situierung der Turmgesellschaft, sondern auch ihr Selbstverständnis: »[...] gewissermaßen ward unser Gespräch zuletzt immer ökonomisch, wenn auch nur im uneigentlichen Sinne. Was der Mensch durch konsequente Anwendung seiner Kräfte, seiner Zeit, seines Geldes, selbst durch gering scheinende Mittel für ungeheure Wirkungen hervorbringen könne, darüber ward viel gesprochen.« 105 Für die Gegenwart der »Völkerpsychologie« scheint dagegen - wie gezeigt worden ist - dieser kulturelle Rückstand beseitigt. In dem durch die Verdichtungsarbeit garantierten Fortschritt hat die Ökonomie die Humanität eingeholt und Maschinen sind beider Symbole. Doch es schleicht sich schon bald eine Ahnung ein, dass es nicht immer so bleiben wird. Vielleicht ausgelöst durch den Arger, dass Herbart die Produktionsethik der »Völkerpsychologie« im Stich lässt, erlaubt sich Steinthal eine Bemerkung, die Zweifel am notwendigen Konnex von Verdichtung und Fortschritt provoziert
102 Vgl. Lazarus, U b e r das Verhältnis des Einzelnen zur Gesammtheit. 103 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Goethes Werke, Bd.VII, H a m b u r g 1950, S. 9-610, hier S. 38. 104 Ebd., S. 499. 105 Ebd., S. 455 f. Dies gilt freilich alles nur f ü r den skizzierten Rezeptionshorizont der »Völkerpsychologie«. Eine andere Frage ist, ob nicht die ironische Erzählweise die explizite Bildungsideologie der »Lehrjahre« gänzlich unterminiert und - unterzieht man dies einer sozialgeschichtlichen Interpretation, wie sie Blessin vorgeschlagen hat - ein »radikalliberales Marktprinzip« sich bestätigt, mit anderen Worten der mobile Wilhelm zwar der Held bleibt, W e r n e r allein aber u m das Prinzip der Sujetfügung weiß. Vgl. Stefan Blessin, Die Romane Goethes, Königstein/ Ts. 1979, S. 11-58.
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und weit voraus in die soziologische Nachgeschichte der »Völkerpsychologie« weist: » M a n m ö c h t e m e i n e n , H e r b a r t h a b e nicht an d e m stille Musen-Sitze einer kleind e u t s c h e n Universität gelebt, s o n d e r n mindestens u n t e r d e m G e d r ä n g e einer nordamerikanischen Industrie: so eindringlich wird gepredigt, dass m a n n u r nicht zu viel tue, dass m a n n u r nicht zu viel am T u n hänge! D e r Herbartische M e n s c h ist h a u p t sächlich ein sensitives W e s e n : n e u n Z e h n t e l Gefühls-Fasern u n d ein Z e h n t e l m o t o r i scher Nerv.« 1 0 6
Ausgerechnet in dem Land des Fortschritts schlechthin, letztes Ziel der Wanderungen auch in Goethes beiden Meister-Romanen, beginnt offensichtlich - anders ist Steinthal hier nicht zu verstehen - die Produktivkraftentfaltung ihr kulturelles Subjekt zu konsumieren.
106 Steinthal, Die ethische Idee der Vollkommenheit, S. 210.
Stephen
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Fictions of Circulation, Memories of Violence New Historicism and Gramsci's »Prison Notebooks«
To compare money with blood - the term circulation gave occasion for this - is about as correct as Menenius Agrippa's comparison between the patricians and the stomach. To compare money with language is not less erroneous. Language does not transform ideas, so that the peculiarity of ideas is dissolved and their social characteristic runs alongside them as a separate entity, like prices alongside commodities. Ideas do not exist separately from language. Ideas which have first to be translated out of their mother tongue into a foreign language in order to circulate, in order to become exchangeable, offer a somewhat better analogy; but the analogy then lies not in language, but in the foreignness of language.1
1. As a category for the analysis of cultural history, circulation offers o p p o r t u n ities and pitfalls. O n the one hand, circulation foregrounds the dynamic process of social encounters, or confrontations, as constitutive in the materialization of cultural values as artifacts. O n the other, the n o t i o n of circulation may simply shift the reification of culture to the next level of abstraction, w h e r e the mobile system becomes treated as a self-contained, self-structuring, object, j u s t as a whirling fan's blades appears as visible solid rather t h a n the rapid replacement of forms. T h e risk of f o r e g r o u n d i n g circulation, as M a r x explains in the epigram above, is that the flow of cultural significations may appear as natural and thus absent of social violence. For instance, the m o d e r n circulation of m o n e y arises f r o m a history of brutal domination. O n c e this bloody appropriation is equated w i t h hemotolysis, the m a t t e r of force vanishes because it would be silly to speak analogously of the heart »exploiting« the other organs. Agrippa's a r g u m e n t deceives; while the head has n o imperial designs on the rest of the body, R o m a n senators do c o m p e l plebeian d i s e m p o w e r m e n t . Similarly, as a c o m m o d i t y ' s price dissociates itself (»runs alongside«) f r o m the value invested in it t h r o u g h the exploitation of h u m a n labor-power, m o n e y
1 Karl Marx, Grundrisse, London 1973, S. 162-163.
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promotes the fiction that its passage through different hands is fair because the process pretends to be tautological (»money just equals money«). Likewise, Marx has no interest in analyzing linguistic structure (ilangue) apart from the practical exchange of intentions (parole). Language's articulation of thought cannot function as an adequate model for cultural history because there is no such thing as pre-modern thought that has yet to be »exploited« by language in the same way that we can speak of pre-modern laborers who have not yet been coerced into commodifying their laborpower for a system dedicated to producing surplus-value. Poststructuralist slogans about language's immanent violence are little more than idealist fallacies. More interesting for Marx is translation as a model because the difficulty in reducing the mismatches of meaning between two languages gives a better sense of how a human subject is force-fitted through the social act of circulation. The paradox of recent »circulation« criticism, like the New Historicism most closely associated with the journal »Representations«, is that it might offer a more comprehensive perspective, or framing context, to the analysis of culture, while simultaneously succumbing to misguiding abstractions that undermine the very motive for this analysis in the first instance. Or, was the latter option the actual agenda, after all? The stakes of the question are, perhaps, most salient in recent debates about Holocaust museums. 2 As the individual is directed through the museum's space and textual apparatus, what relation does this micro-circulation of the viewing subject have to the ultimate realization of past crimes and present calls for social justice? Nowhere does the generational transmission of awareness about traumatic history appear more vexed than in the recent mass market films like James Cameron's »Titanic«. »Titanic« begins by denouncing visual-oral modes of representation in order to confirm (and fetishize) tangible objects as the prerequisite for narrative. The salvage crew believes in the power of de-materialized representations (computer simulations and other mediating optics, like the opening sequence's self-conscious gaze through the lens of an underwater camera) to illuminate the past. But they fail to grasp the mysteries of the deep. The bearer of memory, the old Rose, arrives laden with suitcases of souvenirs and memorabilia; she will only speak after handling the pencil sketch of her past body. Unlike the crew's attempt at explanation, Rose's narrative technique, based on manual appropriation, succeeds as she »brings« the viewer into the »Titanic«'s past world through the diegetic dissolve into color images. The past can only be remembered, Cameron seems to argue, if one can touch it. Because this insistence on tactility (Cameron's mania for a real-life set and costumes) is contradicted by the film's own reliance on virtual special effects, 2 For more on museumology and historical memory, see Andreas Huyssen, Twilight Memories: Marking Time in a Culture of Amnesia, London 1995.
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one w o n d e r s if the movie's formal obsession w i t h the force of circulation (the incessant scenes of hydraulic energy, of water's m o v e m e n t t h r o u g h the ship's c o m p a r t m e n t s ) actually m e a n s to investigate h o w capitalist circulation (the f r e q u e n t exchanges of the g e m and p a p e r money) and ethnic class struggle (the u n d e r d e c k transportation of i m m i g r a n t reserve labor) inescapably structure s o m e t h i n g as seemingly i n n o c e n t and spontaneous as »true love«, or are the monetary-historical elements n o t h i n g m o r e than an elaborate masquerade that shows c o n t e m p o r a r y H o l l y w o o d can surpass, and thus forget, its o w n historical costume-dramas, like » G o n e W i t h the W i n d « (alluded to in the poster image of Kate Winslett's outstretched arms at the ship's airy bow). T h e question of historical m e m o r y goes beyond the film studies question a b o u t the H M S Titanic's supercession of the plantation house Tara. Since it fills the ship's Middle Passage w i t h >whites< only, »Titanic« appears u n i n t e r ested in addressing the legacy of slavery. Instead, the film's visual sub-text appears to be the Holocaust and its c o n t e m p o r a r y treatments. As the film begins w i t h a d o c u m e n t a r y camera solemnly p a n n i n g over the ship's rust-carbuncled railings, it seemingly quotes the death-camp's knots of barbed-wire. Similarly, the >Prussian< efficiency of the smartly u n i f o r m e d ship's officers directing the m a d d e n i n g chaos amidst deck-side musicians recalls Auschwitz's o w n entry-way orchestra, j u s t as the rescue boat's flashlight search for survivors echoes the silent gaze of c a m p liberation films over the h u m a n flotsam and j e t s a m left in the w a k e of Hitler's sinking Germania. Any potential for C a m e r o n ' s film to forge a n e w m e a n s of relieving the b u r d e n of the past disappears as Rose tosses the jewel back to the i n h u m a n deep. This gesture, as if to say she »could n o t give a toss«, seems to be C a m e ron's rebuttal to Steven Spielberg's Schindler rescuing J e w s by t h r o w i n g gems over the C o m m a n d a n t ' s desk. C o n t r a r y to expectations, the heroic victim in C a m e r o n ' s vision is the athletic b l o n d boy; m e a n w h i l e , it is the >selfishofficial< history about w h o really suffered in the past? T h e above is surely provocative, since C a m e r o n is n o Haider. If »Titanic« relishes in scenes of water pipes backing up, it is not to delight in spewing f o r t h b r o w n matter. Conversely, Spielberg's schmaltzy approach is, by n o means, any m o r e desirable a m e t h o d of representing the Holocaust. M y p o i n t here is that circulation in the abstract has n o a priori advantage in recovering historical culture or interpreting texts. Some limits of this approach may be assessed w i t h Stephen Greenblatt's »Shakespearian Negotiations: T h e Circulation of Social Energy«. By focusing on this collection, I do n o t intend to hold Greenblatt's erudite and wide-ranging scholarship in j u d g e m e n t , b u t to focus on this collection of essays as e m b l e m a t i c of an influential set of critical m a n e u v e r s and attitudes, o n e most o f t e n n o m i n a t e d as N e w
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Historicism. My larger argument will be that New Historicism does not provide a wholly satisfying means of resolving the double-edged nature of approaching cultural history through the lens of circulation. In contrast, Antonio Gramsci's explanation of culture as a result of power coalitions suggests an alternative means of responding to and teaching the question of cultural circulation.
2. Greenblatt begins the collection's subtitling essay, »The Circulation of Social Energy«, with the profession of literature. The essay both declares Greenblatt's intense interest in consuming literature, that cultural object designated by the institutional process wherein writing becomes enshrined as bearing cultural value, and Greenblatt's attempt to reestablish the discipline of literature, the field that makes it possible to be a professor of English. He self-admittedly finds it necessary to declare this faith because the object of literary studies's research no longer seems tenable. This crisis results from the exhaustion of a formalism that the Anglophone academy calls New Criticism. New Critical idioms celebrate the >disinterested< encounter between a desocialized reader and an organic text sealed from contaminating social pressures and masterfully engineered by an authorial will that rationalizes its form and limits its range of possible connotations. After the intervention of various de-centering modes of criticism, like Foucauldian-inspired approaches and the linguistic turn, where language's systematicity undermines individual intention, Greenblatt admits that literary authority can neither be seen as a monolithic, central force nor can the author have freedom from contingency. Instead, he proposes a new rubric for considering literary artifacts, the circulation of social energy. Social energy will cover »the collective production of literary pleasure and interest« by unveiling »the half-hidden cultural transactions through which great works are empowered«. 3 This project holds certain axioms as self-evident. First, energy can not be directly apprehended; it is realizable only in as »certain verbal, aural, and visual traces [...] produce, shape, and organize collective physical and mental experiences«. 4 These experiences are the ones of »power, charisma, sexual excitement, wonder, desire, anxiety, religious awe, free-floating intensities of experience«. 5 While a generic predictability of form allows a cultural producer to target somewhat the effects of social energy, its diffuseness also re-
3 Stephen Greenblatt, Shakespearian Negotiations: T h e Circulation of Social Energy, C a m bridge 1988, S. 4. 4 Ebd., S. 6. 5 Ebd., S. 19.
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tains a »minimal adaptability« that enables artifacts to survive changes in the time and place of their transmission. Secondly, energy is not invested in objects at the moment of their production; Greenblatt refuses a text's predetermination by solitary, primal moments of beatific inscription or psychological trauma. Thirdly, energy arises, instead, from the realm of collective exchange, the sphere of »complex, ceaseless borrowings and lendings«.6 The critic's reading of texts now seeks to register a »subtle, elusive set of exchanges, a network of trades and trade-offs, a jostling of competing representations, a negotiation between joint-stock companies«. 7 By exploring how »collective beliefs were shaped, moved from one medium to another, concentrated in manageable aesthetic form, offered for consumption«, Greenblatt argues that we can explore the boundaries of discourse that separates »art forms« from »other, contiguous forms of expression« to appreciate how these border-lines »were invested with the power to confer pleasure or excite interest of generate anxiety«.8 This »poetics of culture« will have at its heart a therapeutic rescue mission as it means to recover the bright jewel of literary studies from its current malaise, caused by the delegitimation of its founding New Critical principles. Yet, is there a spectral return to formalism's immanence as cultural poetics moves the autonomous zone from center to margin, where the border has its own aura of fascination? The turn from the conditions of production to those of circulation is carried out in the campaign against origins, but there is also a marked lack of interest in using theatre's »noisy sphere, where everything takes place on the surface and in full view of everyone« as a potential opening to »the hidden abode of production on whose threshold there hangs the notice >No admittance except on businessgood< money for mimetic fakes, rather than arms against the State. Were it from another, less skilled, critic, Greenblatt's claim for the orchestration of anxiety might simply be taken for an uncomplicated version of ideology and false consciousness, where the arts gain notice because they police the viewer for the benefit of an authoritarian establishment. Whatever liberation of pleasure the audience receives is overdetermined by its disempowerment and complicity with the brutal chicanery of the Jacobean / Elizabethan State. Yet, Greenblatt's efforts to fix the politics of viewing pleasure as reactionary are fraught with some basic contradictions. As he relies on Foucault's historical periodization between the pre-modern, absolutist State, which uses spectacle to reinforce the stature of awe-ful, terror-ific elites, and a modern, disciplinary one, which uses surveillance to normalize its subjects, Greenblatt jumbles this historiography with his own reading methodology. 15 The essays rely on a category fault as they leverage Foucauldian axioms about reading texts as de-centered, dispersions of power
15 Michel Foucault, Discipline and Punish: T h e Birth of the Prison, L o n d o n 1977.
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while simultaneously insisting that Shakespearian dramatic spectacle succeeds because it exists in a historical phase where publicity and power were centered. Conversely, »Shakespearian Negotiations« seems to mediate Frankfurt School-inspired critiques about culture as a tool of domination. But the Frankfurt School developed these critiques in response to the historical appearance of a m o d e r n »culture industry« that structurally differs from the production of Renaissance »high art«. T h e intrinsic contradiction of making an argument about »classical« art's functionality by using critical devices that were designed to c o m m e n t on mass, popular art produces weak links in Greenblatt's larger theoretical argument. These inconsistencies might be resolved if Greenblatt's larger argument examined the Renaissance stage as capturing a variety of contradictory energies because it helped situate the transition f r o m one historical m o d e of power to another. Doing so, however, would distress other parts of Greenblatt's argument, which mainly imagines circulation in a horizontal, synchronic fashion and unilateralizes its effects. For instance, the »circulation of social energy« remains limited to certain social strata. T h e primary m o d e of social energy is the »appropriation« of plebeian / alien voices, but since these marginal subjects receive nothing in return f r o m their representation on the stage, they do not actually participate in the social circuits of exchange. Because the circulation of energy does not substantially engage the plebeian strata, Greenblatt homogenizes the >audience< by discounting the mixed social character of Renaissance theater's crowds. Surely, though, different (class, gender, etc.) components of a play's audience respond differently to the performance, and not always so succinctly with the response of »enchantment«. Subversion and containment work as a social strategy only if we reify the audience so that we can assume its standard response of pleasure. Yet, what does it mean to have »pleasure« in the Renaissance, a period that has little historical conceptualization about the relation between subjectivity and interior desire? For the period mainly spoke about corporeal sensations as suspect evidence of luxurious passion, not bourgeois pleasure. T h e transhistorical use of audience and pleasure (literary target and effect) means that »Shakespearian Negotiations« readily signs onto what is often said about Bakhtinian carnival: its transgressions are m o m e n t a r y and always already co-opted. Subversion never succeeds in »Shakespearian Negotiations« because to entertain that possibility would be to allow for the period's construction of alternative, counter-cultural spheres (more on this later). Hence Greenblatt has no mechanism for interrogating Renaissance texts for what they might intimate about the vortex of energies leading to the incipient English civil war. Stuart England, for Greenblatt, is constantly bubbling, but it never reaches a boiling point. T h e »circulation of social energy« has thus little to speak about the dynamics of a proto-revolutionary society because it is finally dedicated to liberal formalist propositions about an object's self-regulation, which does not countenance the process of systemic
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crisis. Rather than reference, for instance, Christopher Hill's work on the relation between the period's literature and civil unrest, New Historicism protests against, but ultimately reinstates the rules of its New Critical forefathers. 16 New Historicism differs from New Criticism mainly in that the latter displays organicism at the level of the literary narrative, while the former shifts it to the level of the homeostatic State. The formalist return, seen in the instrumentalizing of circulation, audience, and (readerly) pleasure, speaks then to New Historicism's own activity as the product of »salaried, middle-class shamans«.17 In »Shakespeare and the Exorcists«, Greenblatt describes how the Protestant theatre represented Catholic rituals in order to devalue them. 18 By having actors wear priest's gear and mime Catholic liturgy, the stage helped speed the political disempowerment of dissident Catholic elites, like those forces huddled around Mary, Queen of the Scots. For its service to the crown, drama was allowed to keep the coin of charismatic aura that the priest formerly hoarded: Catholic »magic« becomes transubstantiated as the theatre's power of performance. After the theater drains vitality from its topics, »the social energy encoded in certain works of art continues to generate the illusion of life for centuries«.19 Yet, like so many a vampire, the undead text is under constant threat of turning to moldy dust when brought forward to the light of contemporary moment. Renaissance texts cannot succeed today in the ways Greenblatt describes because current audiences exist in a different historical period of contested power relations. Within a post-terror, post-regal society, we do not fear, or are fascinated by, what the seventeenth century feared and was fascinated by. Like a coin that has been so long out of circulation that the monetary institutions that notarized its value are no longer around to certify its price, the subversive machinery of older texts becomes obsolete. If Shakespeare is more likely today to generate an audience member's anxious examination of her or his wrist-watch, rather than nervousness about the incursions of Catholic liturgy, the question remains, why profess literature? Why investigate the circulation of seventeenth-century social tensions, if these tensions are redundant to contemporary readers? One answer arrives from Greenblatt's own argument. If the stage primarily gained power by appropriating it from already disempowered sources, like Catholic nobility, then discourse about Shakespearian circulation, the contemporary profession of literature, operates the same way. The power of Renaissance theater gets emptied as the professor's repetition of the 16 For an alternative approach that does ground itself on Hill, see Peter Linebaugh /Marcus Rediker, T h e Many-headed Hydra: T h e Hidden History of the Revolutionary Atlantic, London 2000. For an illustration of Hill's work, see Christopher Hill, T h e World T u r n e d Upside D o w n : Radical Ideas During the English Revolution, London 1972. 17 Greenblatt, Shakespearian, S. 1. 18 Ebd., S. 94-128. 19 Ebd., S. 7.
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playbook, in the act of skillfully mediating its passages, transfers the locus of attention from the stage to the lecturer's podium. For the anecdotes that N e w Historicism so often favors, as techniques of enlivening the »boring stuff« of pre-contemporary culture, use the transfer of social energy over time, from South Bank theatre to the campus lecture hall, to revalorize the status of literary studies. To recapitulate my initial claim, N e w Historicism opens the door to the social, but only to weaken socially informed criticism and deliver its authority to the charismatic master critic's performance. The Prospero critic prospers through the same techniques of teasing the audience with a language of subversion, while simultaneously containing it. If »one of the ideological functions of theater was precisely to create in its audience the sense that what seemed spontaneous or accidental was in fact fully plotted ahead of time by a playwright carefully calculating his effects, that behind experienced uncertainty there was design, whether the design of the human patriarchs [...] or the overreaching design of the divine patriarch«, this also seems the case for the critic's stylized essays, which wonderfully summon a finely tuned meaning out of the seeming chaos of historical marginalia. 20 Subversive theater encourages the audience »to embrace an alternative that seems to confirm the official line, and thereby to take its place in the central system of values, yet at the same time to unsettle all official lines«. 21 Or, the reverse. About »Henry IV«, Greenblatt argues: »We are tantalized by the possibility of an escape from theatricality and hence f r o m the constant pressure o f improvisational power, but, w e are, after all, in the theater, and our pleasure depends on there being no escape, and our applause ratifies the triumph o f our confinement. T h e play operates in the manner o f its central character, charming us, with its visions o f breadth and solidarity >redeeming< itself in the end by betraying our hopes, and earning with this betrayal our slightly anxious admiration. H e n c e the o d d balance in this play of spaciousness - the constant multiplication o f separate, vividly realized realms - an militant claustrophobia: the absorption of all o f these realms by a power at once vital and impoverished.« 2 2
Is this not, too, how N e w Historicism operates, with its breathless range of historical reference that is all at once squeezed into the tight space of the scholarly essay. In Greenblatt's description of theatrical operations, we are ultimately left with an argument about institutionality and the construction of an elite audience's power. Following the same procedures, the Shakespeare critic, likewise, enacts the consolidation of elite universities that record, but do not erase social difference. In the larger perspective, intellectual historians may well look at these highly influential essays, and the
20 Ebd., S. 17. 21 Ebd., S. 120. 22 Ebd., S. 46-47.
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critical trends that they epitomize, and index them less by their interpretive techniques, then as cultural productions of the last phases of the Cold War. This was the period when the binary opposition of the Free West and Evil East was decaying, but few were willing to denounce these Cold War tensions as politically and morally bankrupt. The model of oscillating movement between subversion and containment, so resonant among academic readers in the period, seems, in retrospect, as parcel to the ways in which New Left demands for radical change were deflected during the new liberal 1980s. If subversive language was allowed to circulate in the academy, than what better place than within a movement that reconfirms the old canon's insistence that students really do only need to read Shakespeare, rather than other texts that might more immediately call institutional frameworks into question. As self-consciously historically situated critics, however, we need to learn from New Historicism's insights, but only to reconsider the issue of the problem of circulation from another perspective. One such outlook might come from Gramsci's writings on the political economy of culture in »The Prison Notebooks«.
3. Because Gramsci took Marx's explanation of political economy as axiomatic, his own cultural writing grounds itself on Marx's propositions. But, as David Harvey admits, it is hard to read »Capital«.23 Marx's reader must acclimatize her or himself to a dialectical mode of presentation, which attempts to map a multi-dimensional circuit of social relations onto the two-dimensional format of the printed book. Renaissance painting responds to the problem of illustrating deep space on a flat canvass with the technique of vanishingpoint perspective. Although perspectivist representation requires the gaze of an external (bourgeois) viewer, whom Marx is not particularly concerned to appease, he, nonetheless, labors under the Renaissance's influence as he treats cognition as a matter of optics. »Capital« proposes three modes of visualizing social process: reflection/ inversion, externalization/alienation, and circumspection. The first approach describes social relations in bourgeois society as mystified; everything seems upside down, just as nineteenth-century German idealism places the dialectic »standing on its head«. 24 As Engels describes: »Economic, political and other reflections are like those reflections in the human eye they pass through a convex lens and appear inverted, o n their heads. O n l y the nerve apparatus to put the image on its feet again is missing. T h e money-market man will
23 David Harvey, The Limits to Capital, London 1982. 24 Marx, Capital, S. 103.
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see the m o v e m e n t o f industry and o f the world market only in its inverted reflection o f the m o n e y and stock markets, and so, for him, effect b e c o m e s cause.« 25
Despite its elegant simplicity in explaining ideology, this concept of inversion or reflection has proved limiting in several ways. It reinforces the notion of the pre-eminence of an economic »base« that grounds and determines social and philosophical »superstructures« (like the law or civil society), and »inversion« suggests that one only needs the right prosthetic tools, like proper spectacles, to achieve unimpaired vision and then realize scientific truth. T h e second m o d e of social optics speaks to the psycho-social result of capitalist commodification as it internally and externally sunders the h u m a n subject. As the laborer is forced to commodify her or himself as labor-power, h u m a n activity is split into use and exchange-value. Making goods for profit, the h u m a n creator becomes internally divided and alienated from the endresult of her or his effort. T h e produced commodity, which ought to be nothing more than an object, n o w seems to be a living alien presence, a weird subject that has escaped f r o m the laborer's conception and control. As the market treats the created object as the retainer of surplus-value, the fetishism of commodities liberates things to walk the earth without regard for its creator. This gothic sight produces a fantasmic vision about a nightmarish world of vitalized commodities; Walter Benjamin's neologism for this condition was phantasmagoria - the h u m a n agora becomes the city of fetishized gazes. T h e metaphor of externalization, however, misguides as m u c h as the one of inversion/reflection. T h e concept of alienation looks to the idea of false consciousness that could disappear once the subject recognized its presence, as though one needs only to awake and rub your eyes to see that the flying ghouls were nothing more than the tree's branches rustling in the wind. T h e problem here is that even if cultural concepts did operate this way, there is no guarantee that recognition leads to a successful removal of the mystifying system. Marx's third, and arguably most useful, visual metaphor appears w h e n he claims that capitalist relations occur »as it were behind the backs of the actors«. 26 T h e laborer's inability to see the panorama of the market's transformation of social practices is not myopia or a blindness that can be fixed with technical solutions. Because we do not have eyes, as it were, in the back of our heads, we cannot keep a steady eye on value as its runs through its circulation. O u r vision is incomplete because it is not possible for the eye (the »I«) to track the dis-placements of the entire system because we exist within a conceptual system and can never achieve the neutral position of an outside observer that perspectivism demands. In this case, the subject's inability to
25 Karl Marx / Frederick Engels, Letters on »Capital«, London 1983, S. 246. 26 Marx, Capital, S. 465.
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survey the system is innocent and not the result of gaps caused by repression. There is no false consciousness, or misrecognition, here, simply the structural difficulties o f peripheral horizons. Because »seeing capital« is a systemic, not symptomatic (Althusser) problem, then we need some means of cognitive mapping (Jameson) that allows the subject to comprehend the social spaces and processes that cannot immediately be seen and yet still inform and define subjectivity. How can one recognize what can not be seen because it occurs behind our backs? The problem o f second sight, the subject's consciousness o f the circuit o f value, stands as an under-developed problematic in Marx's writing. It suggests a third option that disengages the question of subjectivity from the optics of inversion and externalization towards the flows of value through the network o f production and circulation. Though not initially posed as the problem of circuitous vision, Antonio Gramsci's »Prison Notebooks« nearly always addresses this concern. Deposited within a fascist prison cell, Gramsci took the occasion o f the left's defeat in the late 1920s to reject notions of false consciousness, economic and historical determinism, and a static, depth model of domination. The concept most closely associated with Gramsci's writing is that o f hegemony, but there is no uncomplicated means of defining the term as Gramsci uses it variously to cover cultural, political, and social aspects.27 The complexity, or expansiveness, o f hegemony will never be wholly resolved partly because Gramsci uses it as a linking term for different aspects of his project, and partly because he never survived to revise the »Notebooks« into their final shape. In what follows, I will outline Gramsci's use o f hegemony at some of these levels to argue for the rudiments of a theory of cultural circulation that may prove fruitful for socio-historical analyses. As frequently quoted, Gramsci categorically refused the notion that any one can be considered »outside« the practice o f culture: »[...] although one can speak of intellectuals, one cannot speak of non-intellectuals, because non-intellectuals do not exist. [...] Each man, finally, outside his professional activity, carries on some form of intellectual activity, that is, he is a >philosopherintellectual< and a >lay< one is that the former has been institutionally credentialized, trained to distinguish the historical forms of her or his disciplinary field's development, and located within an institutional and discursive field that gives distinction to the pro-
27 For classic description of this problem, see Perry Anderson, The Antinomies of Antonio Gramsci, in: New Left Review 100 (1977), S. 5-78. 28 Antonio Gramsci, Selections from the Prison Notebooks, New York 1971, S. 9.
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fession. Lacking this education in differentiating categories, the lay philosopher (i.e. everyone) interacts with the world according to what Gramsci calls common sense. H e differentiates c o m m o n sense f r o m amateur pragmatism, what he calls »good sense«. C o m m o n sense is »the conception of the world which is uncritically absorbed by the various social and cultural environments in which the moral individuality of the average m a n is developed«. C o m m o n sense is »disjointed and episodic« because it is »not a single unique conception, identical in time and space [...] Its most fundamental characteristic is that it is a conception which, even in the brain of one individual, is fragmentary, incoherent, and inconsequential«. 29 A »chaotic aggregate of disparate conceptions«, c o m m o n sense is the sum total of a person's »ambiguous, contradictory, and multiform« attitudes. 30 It »contains Stone Age elements and principles of a more advanced science, prejudices from all past phases of history at the local level and intuitions of a future philosophy which will be that of a h u m a n race united the world over«. 31 Full of residual cultural elements from the history of humanity, as well as Utopian intimations of the future, c o m m o n sense »is a collective n o u n like religion: there is not just one c o m m o n sense, for that too is a product of history and a part of the historical process«. 32 Because Gramsci asks that we understand c o m m o n sense as a variable resulting from multiple cultural and institutional histories, he escapes the need to sacrifice subjective particularity by insisting that every individual can be schematized simply according to their class (or race, gender, etc.) identification. Individuals will have different c o m m o n senses as they interact with different social contexts (a bourgeois Italian Catholic will have a different world view than a bourgeois Italian Protestant). Furthermore, the turn to c o m m o n sense allows Gramsci to elude notions of false consciousness because the wide spectrum of influences an individual might operate within does not have to be collapsed to a ratio of more or less true perceptions of the universe. At the level of social classes, Gramsci refuses to consider the lack of class radicalism as a matter of false ideology or »a product of self-deception. Selfdeception can be an adequate explanation for a few individuals taken separately, or even for groups of a certain size, but it is not adequate w h e n the contrast (between thought and action) occurs in the life of great masses«. 33 Gramsci bemoans how »ideology has assumed in Marxist philosophy [...] a negative value judgment« and thus appears as an aberration that is useless,
29 30 31 32 33
Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.
419. 422, 423. 324. 326. 326-327.
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at best, or repressive, at worst. 3 4 T h e r e are ideologies for Gramsci; these are the intellectual agendas or explanatory rubrics that e m e r g e f r o m various institutional modes, some progressive, some reactionary. T h e individual/collective subject's c o m m o n sense is f o r m e d by the ensemble of these ideologies, w h i c h m i g h t include elements ranging f r o m organized religion to cultures of sexual preference. It is illusory to desire p u r e or correct t h o u g h t because to do so w o u l d vitiate historical diversity. T h e »philosophy of an epoch cannot be any systematic tendency or individual system. It is the ensemble of all individual philosophies and philosophical tendencies, plus scientific opinions, religion, and c o m m o n sense«. 35 A b a n d o n i n g the notion of ideology as false consciousness, Gramsci also invokes the late Engels to reject e c o n o m i c determinism, w h i c h argues that the e c o n o m y absolutely and u n i f o r m l y determines the shape of social and cultural activity. In a letter to Schmidt, Engels discusses h o w the m o d e r n segm e n t a t i o n of society creates divisions of intellectual labor so that disciplinary fields like law achieve relative autonomy, j u s t as the division of labor produces n e w arrays of single-purpose tools in the factory. For Engels, various fields have a degree of self-defining authority and a degree of being ultimately f o r m e d by the d o m i n a n t conditions of »production and trade«. 3 6 »In a m o d e r n State, law m u s t n o t only correspond to the general economic situation and express it, b u t m u s t also be an expression w h i c h is coherent in itself, and w h i c h does n o t offend itself by inner contradictions. A n d in order to achieve this, the reflection of e c o n o m i c relations b e c o m e s m o r e and m o r e distorted.« 3 7 O n the one hand, lawyers' belief that j u r i s p r u d e n c e has complete a u t o n o m y f r o m e c o n o m i c matters is, for Engels, simply an »ideological viewpoint«, w h e r e ideology has, in this usage, the negative connotation of falsehood. This view is ideological because the law at times really does carry o u t the prerogatives of society's paymasters and power-brokers. O n the other hand, there is n o p r e d e t e r m i n e d equation b e t w e e n the global e c o n o m y and legal decisions because internal competition a m o n g the bourgeoisie creates different configurations of » c o m m o n sense«. »The basis of law of inheritance, assuming an equal stage of d e v e l o p m e n t of the family, is an e c o n o m i c one. In spite of this, it will be difficult to prove that in England, for example, the absolute f r e e d o m to draw up a will, or in France its severe restriction, only has e c o n o m i c causes in every detail.« 38 Engels argues that cultural variation (between England and France, for instance) exists because each local >moment< has its o w n history that can n o t
34 35 36 37 38
Ebd., Ebd., Marx Ebd., Ebd.,
S. 376. S. 4 5 5 . / Engels, Letters on »Capital«, S. 2 5 0 - 2 5 1 . S. 2 5 0 . S. 251.
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simply be subordinated into capitalism's because capitalism operates through the dialectic of difference and homogenization. Furthermore, because capitalism has its own history of emergence, there are socio-cultural fields that predate capitalism and have been colonized by its logic to different degrees. »As for the even more airy-fairy ideological spheres religion and philosophy, etc. these come from a prehistoric stock, existing in and a legacy of the historical period, of what we would today call idiocy. At the basis of these various false pictures of nature, of the qualities of Man himself, of spirits, magic forces, etc., there is usually only a negative economic factor; the low economic development of the prehistoric period has as its extension, and partially as its precondition or even as its cause, the false images of nature. And even if economic necessity were the mainspring of a progressive recognition of nature and became so to an increasing degree, it would still be pedantic to attempt to find economic causes for all these prehistoric idiocies. The history of the sciences is the history of the gradual displacement of this idiocy, or rather of its replacement by new, but always less absurd, idiocy. The people who attend to this again belong to particular spheres of the division of labor and imagine themselves to be occupied with a totally independent area. And insofar as they form an independent group within the social division of labor, so also their productions, and their errors, have repercussions on the whole social development, even on the economic aspect. But in all this, they themselves also live under the governing influence of economic development.« 39
For Gramsci, Engels' description about the dynamic relation between economic considerations and a field's relative autonomy, based on the history of its own internal development, suggests that common sense precipitates from the mixture of these fields' struggle for authority. 40 The sum of these multiple vectors is subjectivity. The subject's social construction is external, in the sense that civil law and Church doctrine, for instance, each have power to shape individual behavior, as the individual receives and uses (consumes and produces) various knowledges to form, often half-consciously, a philosophy of the everyday that interprets and interacts with the »outside« world. By conceptualizing subjectivity as the congealed product of multiple historical formations, Gramsci can propose a theory of desire (he calls it passion) that radically differs from Freud's (Lacan's) notion of desire as the response to primal (linguistic) trauma. Like psycho-analysis, Gramsci also understands violence to predetermine subjectivity. But for Gramsci, violence recurs in experience because of a systemic logic that structures ongoing acts of brutal appropriation, which are not only the reiteration of an originary event. The sources of violence are varied and variable and range (ranging from capitalist exploitation to sexism and racism, etc.). These violences intersect, converge, and contradict each other in unpredictable ways. The particular sum of the overlayering pressures on the subject differs at various points in the subject's life-span because different fields have their own cycles 39 Ebd., S. 250. 40 For a similar discussion of culture as precipitant, see Raymond Williams, Marxism and Literature, New York 1977, S. 121-135.
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and temporalities. Attempting to provide a terminology for the overlayering of these influences, Althusser and his circle flirted with Freudo-Lacanian language. Althusser's error was not to guard more carefully against the simplifying model from which psycho-analysis can never escape because to do so would create a crisis of disciplinary consistency. It is true that the unconscious has no history, as the Lacanian bromide goes, but not because the u n conscious is transhistorical. T h e unconscious has a specific history and thus does not belong to History itself. W e believe that we have an unconscious because the conceptualization of an unconscious appears as the result of a particular intertwining of various philosophical, medical, and political histories. In the future, or right now, we might say that we used the concept of an u n conscious as part of a particular c o m m o n sense at a particular time. T h e idea of an unconscious is not its reality. By conceiving the subject as the motley stew of various influences, Gramsci assumes that the individual subject can influence her or his own subjectivity by learning to recognize and then influence the interaction of these institutional forces. So, for instance, by learning about the construction of gender or race, we can distinguish and thus modify our own tacit relay of patriarchy or racism. T h e constitution of the individual's c o m m o n sense and potential for »self-knowledge« acts, in turn, as a larger model for society. T h e zone of c o m m o n sense is »the ensemble of relations which each of us enters to take part in. If one's own individuality is the ensemble of relations, to create one's personality means to acquire consciousness of t h e m and to m o d ify one's own personality means the modify the ensemble of these relations«. 41 Discussing the stages of a class group's development, Gramsci describes three »moments of collective political consciousness«. T h e first level is »economic-corporate« w h e n »a tradesman feels obliged to stand by another tradesman, a manufacturer by another manufacturer, etc., but the tradesman does not feel solidarity with the manufacturer; in other words, the members of the professional group are conscious of its unity and homogeneity, and of the need to organize it, but in the case of the wider group this is not yet so. A second m o m e n t is that in which consciousness is reached of the solidarity of interests among all the m e m b e r s of a social class-but still in the purely economic field [...] a third m o m e n t is that in which one becomes aware that one's o w n corporate interests, in their present and future development, transcend the corporate limits of the purely economic class, and can and must become the interest of other subordinate groups, too. This is the most purely political phase, and marks the decisive passage f r o m the structure to the sphere of the complex superstructures«. 42
41 Gramsci, Selections, S. 352. Gramsci follows here Marx's »Theses on Feuerbach«: »The human essence is no abstraction inherent in each single individual. In its reality is the ensemble of social relations [...].« Ebd., Anm. 37. 42 Ebd., S. 181.
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The first corporate moment is one of professional collegiality. The second »economic-corporate« moment consists of trans-class solidarity. The third moment is »ethico-political« because a class realizes that power arises through the ability to organize other classes in ways that transcends rough coercion. One class does dominate another, but only as part of a ratio between »force and consent; coercion and persuasion; State and Church; political society and civil society; politics and morality [...] violence and fraud«. 43 Like hoarding, rule by force alone is inefficient, since it must be continually and uniformly applied. In contrast to simple domination, hegemony acts as one group's ability to garner tacit consent for its authority. Gramsci sees hegemony as the moment when one group is able to shape and disseminate its own common sense throughout society. Another group is hegemonized when it, »for reasons of submission and intellectual subordination, adopted a conception which is not its own, but is borrowed from another group«. 44 Hegemonic power is different than coercive force because hegemony uses power to construct social alliances, networks, and congeries of interests. Political authority comes not only from being able to safeguard one's autonomy, but to also have the power of allonomy, the ability to intertwine different interests. Gramsci calls these coalitions of interests a historic bloc, which results from hegemony and is necessarily greater than a class (fraction). Power resides in the ability to make blocs, prevent them from fragmenting over time, and disrupt the blocs of other antagonistic groups. »The fundamental problem facing any conception of the world, any philosophy that has become a cultural moment [...] is that of preserving the ideological unity of the entire social bloc which that ideology serves to cement and to unify. The strength of the Catholic Church in particular has lain, and still lies, in the fact that they feel very strongly the need for doctrinal unity of the whole mass of the faithful and strive to ensure that the higher intellectual stratum does not get separated from the lower. The Roman church has always been the most vigorous in the struggle to prevent the >official< formation of two religions, one for the >intellectuals< and the other for the >simple< souls [...] The Jesuits have undoubtedly been the major architects of this equilibrium, and in order to preserve it they have given the church a progressive movement forward which has tended to allow the demands of science and philosophy to be a certain extent satisfied.« 45
Conversely, »the rapid collapse of the Renaissance and to a certain extent of the Reformation faced with the Roman church« was its refusal to »create an ideological unity between the bottom and the top, between the >simple< and the intellectuals«. 46 The Jesuits walk the tightrope between elites and pleb-
43 44 45 46
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
170, Anm. 71. 327. 328-329. 329.
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eians to keep the Church afloat, which is itself nothing more than an assemblage of various interests and ideologies. Once hegemony is achieved, it is a far stronger force than violent domination because it creates its own means of adapting to social transformations in ways that simple coercion can not. Historic blocs endure because they unify complex and contradictory groups in order to respond to crises by shifting its internal hierarchies. In times of crisis, a historic bloc's benefit appears, »since the various strata of the population are not all capable of orienting themselves equally swiftly, or of reorganizing with the same rhythm. The traditional ruling class, which has numerous trained cadres, changes men and programmes, and, with greater speed than is achieved by the subordinate classes, reabsorbs the control that was slipping from its grasp«.47 Like a football team with reserve benches, the bloc deals with crisis by reprioritizing its elements. The success of a historic bloc lies, then, not in reducing the number of its affiliates, but in multiplying them to the extent that the contradictions of yoking various interest do not fracture the bloc. The implication here is that within each bloc there is also competition for hierarchy and the power to determine the location of other groups within the bloc, which ones may get demoted in times of crisis. Conversely, the bloc's members can band together for mutual support. Unlike Bourdieu, who assumes that every field gains power to the extent that it can separate itself from the influence of others or simply dictate to them, Gramsci argues that a field gains power to the degree that it has the ability to integrate itself with others to create protective alliances.48 One example here is Foucault's description of the rise of modern discipline. Foucault argues that one aspect of modernity was the shift from ancien regime rule by spectacular terror, epitomized by the public scaffold, to modern discipline, epitomized by the creation of subjective interiority, a »soul«. Older methods of punishment focused the viewer's eye on the masterexecutioner, a dreadful artisan, who stood metonymically for the king. Modern society »becomes ashamed«, according to Foucault, of displaying force, and punishment is now delivered through the »swarming of disciplines«, where various professionals (doctors, jurists, sociologists, etc.) huddle together and co-operate to deliver the sentence so that no one group need take responsibility for determining guilt. The move from external to internal discipline is the shift from an economic-corporate attitude of caste war to the more subtle ethico-political moment of creating hegemony through the rise of a collection of interests. If modern punishment is a collective bourgeois project, what motivates various pre-bourgeois fields, like medicine and law, to share authority and 47 Ebd., S. 210. 48 See Pierre Bourdieu, The Logic of Practice, Berkeley 1992.
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convene a new bloc? The answer comes as each discipline had to respond to various internal crises that could only be resolved through an alliance with other disciplines. The problem for jurists at the onset of the nineteenth century was that law's empowering fiction of objectivity and neutrality had been undermined as the courts had, in recent memory, sequentially alternated to support the contradictory agendas of the ancien regime, Convention, Assembly, Terror, Thermidor, Directorate, Consulate, and Empire. By the nineteenth century, the law needed to find something that would make its judgments once more appear neutral and scientific, so that juridical authority would seem to be more than just the pageantry of force. Similarly, medicine had risked the cultural capital of its professional expertise by relying on principles of sentiment and sensation. For sentimental pathology, with its reliance on non-rational, hence untrained, clinical care left the door open to a variety of other »pseudo «-sciences, ranging from magnetism to phrenology. As one faction of physicians sought to re-establish themselves as something other than quacks, they holed up in institutions, like hospitals, as a base from which to seek alliances and negotiate their inclusion within the new bloc. A contract of mutual convenience occurred as two weakened disciplines converged to establish a new bloc of medico-juridical authority. In this way, both groups testified to each other's skill, while saving themselves from the risk of having to display force, like the old royalty. Similarly, the Renaissance State embraces the theater within its construction of a viable historic bloc. Gramsci's concepts of hegemony and historic blocs (ensembles) creates several theoretical advances. First, because Gramsci sees the collective and individual subject as resulting from the co-operation of and competition among multiple interests, he can maintain intentionality and contingency as factors of subjectivity. Secondly, because the collective and the individual subjects share similar mechanisms of construction (the ensemble of personal common sense, the ensemble of a historic bloc), these two levels easily interact with one another so that there is no unambiguous determination of either the individual on the social environment or vice-versa. If the historic bloc produces a world-view that individuals use for their common sense, then any crisis of collective hegemony also becomes the conditions for a personal crisis as the world-view that individuals rely on disintegrates. Social crisis produces intrapsychic turbulence. Gramsci explains the specific rise of 1920s fascism and the general rise of charismatic agents (Caesar, Cromwell, Louis Bonaparte, etc.) as the temporary solution to moments when no hegemonic forces are dominant. Moments of power vacuums occur because the ruling elites have suffered a crisis of legitimation, but the oppositional forces are not yet strong enough to replace that older authority. Gramsci's social argument here also functions as a theory of the individual's assent to (proto)-fascism. The failure of an historic bloc's unity results in a molecular psychic crisis that may take various forms (hysteria, paranoia, desire for revanchist genocide). Conversely, a progressive politics of the
Fictions of Circulation, Memories of Violence
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personal considers the individual's re-arrangement of behavior as a viable site for the creation of alternative blocs of interests. Gramsci's implicit axiom here is that psychic crisis does not emerge from an essential subconscious and its circulation of i m m a n e n t desires; psychic crisis is an outlet and compensatory response to social (class) instability. By insisting on the co-implication of the aggregated personal and the social, Gramsci reformulates the older debate about economic and historical determinism by having the notion of the dynamic bloc equally cover economic (»structural«) and broadly cultural (»superstructural«) affairs. »Structures and superstructures f o r m an >historic blocconjunctural< (and which appear as occasional, immediate, almost accidental). Conjunctural phenomena too depend on organic movements to be sure, but they do not have any very far-reaching historical significance; they give rise to political criticism of a minor, day-to-day character [,..].« 50
If Gramsci seems, at this m o m e n t , to discount the conjunctural m o m e n t s as dissociated from organic (i.e. basic economic) considerations, then he dialectically bends the stick backwards by rejecting historical determinism in a radically new fashion: »The ensemble of the material forces of production is the least variable element in historical development: it is the one which at any given time can be ascertained and measured with mathematical exactitude and can therefore give rise to observations and criteria of an experimental character and thus to the reconstruction of a solid skeleton of the historical process.« 51 T h e implicit allusion here is to Marx's analysis of the components of capital, which consists of constant capital (machinery, etc.), variable capital (labor-power) and surplus-value (unpaid labor-power). 5 2 In determining the rate of surplus-value (the rate of exploitation), Marx decides that constant capital can be factored out of the equation (functionally nullified) because the costs of fixed capital can be predictably scheduled and amortized. If constant capital is functionally nullified and surplus value is the dependent factor, then variable capital, i.e. h u m a n labor-power, is the mutable and critical 49 50 51 52
Ebd., S. 366. Ebd., S. 177. Ebd., S. 466. Marx, Capital, S. 320.
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factor in the capitalist process. Gramsci's comparative example is that organic, hence epochal, contestations between classes can also, more or less, be factored out of cultural matters, not because they do not matter, but that they matter so clearly that their invariability is not that which will charge and change conjunctural affairs. If the stuff of politics is not the economic, simply because epochal changes, like that from medieval to modernity, are just that - epochal, hence slow developing, then the nature of immediate and occasional political changes mainly occur in the m e d i u m of the superstructures. Furthermore, since the ensemble of conjunctural events intertwines with the ensemble of the economic, organic structure, then the superstructure, at times, can act as a surrogate for, and even momentarily replace the influence of economic-corporate interests. Here Engels: »Political, legal, philosophical, religious, literary, artistic etc. d e v e l o p m e n t is based o n e c o n o m i c d e v e l o p m e n t . B u t they all react u p o n each o t h e r a n d also u p o n t h e econ o m i c basis. It is n o t t h e case t h a t t h e e c o n o m i c basis is cause, is solely active a n d everyt h i n g else is o n l y a passive effect. Rather, t h e r e is an interaction w h i c h takes place u p o n t h e basis of t h e e c o n o m i c necessity w h i c h ultimately asserts itself.« 53
Elsewhere Engels reminds us that to believe this point, we »should just look at Marx's Eighteenth Brumaire, where the discussion is almost exclusively about the particular role which is played by political struggles and events, naturally, within their general dependence on economic movements. O r at Capital, in the section, for example, on the working day, where legislation-which is indeed a political act-has such drastic effect [...]. O r why do we struggle for the political dictatorship of the proletariat if the political power is economically impotent? Power (i.e. State power) is also an economic force!«. 54 W h i l e this is not the place to debate revolutionary tactics, Engels' implication here is that dictatorship of the proletariat, or rule by force, may be an effective short-term strategy that allows time for a plebeian counter-hegemony to develop and replace bourgeois civil society. For Gramsci's purpose, the use of historic blocs as a way of understanding the construction of subjectivity means that each sphere can be analyzed for how its internal crises act out through the constellation of forces. By comparing the discussion of cultural realms to the construction of capital flows, Gramsci implies that if we speak of cultural capital, then while the topic might structure a different object (»culture«), its dynamic remains capitalist. If the capitalist system produces an intrinsic crisis of the tendency for the rate of profit to fall, then cultural capital similarly evokes an intrinsic crisis in what we might call, after Bourdieu, the falling rate of distinction, the power of a field's relative ability
53 Marx / Engels, Letters on »Capital«, S. 282. 54 Ebd., S. 252. See also: »[State] force is the midwife of every old society which is pregnant with a new one. It is itself an economic power.« Marx, Capital, S. 916.
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to influence and remain within historic blocs. To r e t u r n to Foucault's example, the degree that medicine gains authority as law invites it within the c o u r t - r o o m is also the degree that law begins to structure the limits of m e d i cal declarations so that physicians m u s t gain legal acceptance (State licenses to practice, etc.). In time, medicine needs to re-position itself so as to regain its distinctiveness. By approaching the matter of society t h r o u g h the p r o d u c t i o n of circulation networks, Gramsci allows for institutional critiques to b e c o m e the f o u n d a t i o n for larger analyses of society. In this study, the concept of m e d i ation is unable to address the concatenation of fields, institutions, practitioners. Mediation involves the existence of a primal crisis that move t h r o u g h different cultural f o r m s in ways that every m e d i u m contains a trace, or index, of the basic conflict. Gramsci assumes a multiplicity of conflicts ranging f r o m class struggle to a field's a t t e m p t to remain self-coherent. If various social c o m p a r t m e n t s have a variety of internal and external crosses, t h e n mediation's stationary gaze remains too static a m e t h o d . Since every field's conflicts are f r a m e d by the activity of other manifold, converging dynamics, the matrix of intersecting crisis calls on the viewer to shift position in order to witness h o w contiguous conflicts shape the m a t t e r at hand. This cognitive m o v e m e n t , w h i c h forces the subject to t u r n around, is the circumspection that leads viewers to revolve and see w h a t has taken placed b e h i n d their backs. T h e revolving subject does n o t de-mystify relations, b u t brings t h e m within the h o r i z o n of critical observation. Critical m o v e m e n t , n o t reflection, acts to bring the subject into active e n g a g e m e n t w i t h social change. In »The Prison Notebooks«, Gramsci asks w h y Machiavelli published an account about power, if these dynamics have always b e e n k n o w n by those in power. »Machiavelli himself remarks that what he is writing about is in fact practised, and has always b e e n practised, by the greatest m e n through history. So it does not s e e m that he was writing for those w h o are already in the know; nor is his style that o f disinterested scientific activity [...] O n e may therefore suppose that Machiavelli had in mind >those w h o are not in the knownot in the know