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German Pages 328 Year 2005
Abhandlungen zur Staats- und Europawissenschaft Band 2
Europa professionalisieren Kompetenzordnung und institutionelle Reform im Rahmen der Europäischen Union
Von
Joachim Jens Hesse und Florian Grotz
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
J. J. HESSE / F. GROTZ
Europa professionalisieren
Abhandlungen zur Staats- und Europawissenschaft Herausgegeben von Joachim Jens Hesse
Band 2
Europa professionalisieren Kompetenzordnung und institutionelle Reform im Rahmen der Europäischen Union
Von
Joachim Jens Hesse und Florian Grotz
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1612-1058 ISBN 3-428-11950-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die folgende Untersuchung basiert auf einem Gutachten, dessen Ergebnisse im Europäischen Parlament vorgestellt wurden. Dabei ging es um eine gleichermaßen grundsätzliche wie aktuelle Fragestellung: die Erörterung einer den Namen verdienenden europäischen Kompetenzordnung als „Schlüssel“ zu einer gestuften Aufgabenwahrnehmung zwischen europäischer, nationalstaatlicher und regionaler Ebene. Den Hintergrund bildeten die Arbeiten des „EUVerfassungskonvents“, die im Rahmen des Internationalen Instituts für Staatsund Europawissenschaften (ISE) in Brüssel und Berlin umfassend begleitet wurden. Fragen der europäischen Kompetenzordnung jeweils kontextspezifisch zu analysieren, mit den gegebenen wie angestrebten institutionellen Voraussetzungen zu verbinden und dabei Ressourcenbezüge nicht außer Acht zu lassen, stellt eine beträchtliche Herausforderung dar. So greifen „punktuelle“ Erörterungen meist zu kurz, sind sie einzubetten in einen der Realität europäischen Handelns angemessenen Rahmen, unter Berücksichtigung laufend zu erledigender wie künftig zu erwartender Aufgaben. Im Ergebnis führt das die Autoren zu der Forderung, „Europa zu professionalisieren“, ein Postulat, das bereits für die Verhandlungen des EU-Konvents wie sein Ergebnis – den vorgelegten „Verfassungsvertrag“ – galt und heute in der Auseinandersetzung um die künftige Entwicklung der Union unverändert bedeutsam erscheint. Bei der Bearbeitung des Themas geht es weder um eine „Tiefenanalyse“ spezifischer Teilprobleme noch um eine gleichsam handbuchartige Gesamtdarstellung des Integrationsprozesses. Die folgenden Ausführungen zielen vielmehr darauf ab, jene normativen wie funktionalen Aspekte einer europäischen Kompetenzordnung herauszuarbeiten, die in den gegenwärtigen Diskussionen allenfalls peripher angesprochen werden, nicht selten sogar unberücksichtigt bleiben. Das merkwürdige „Schweigen“ der nationalstaatlichen Öffentlichkeiten, zumindest das Aufmerksamkeitsdefizit, das den Prozess der „Verfassungsgebung“ durch den Konvent umgab, stellt einen weiteren Beleg in diese Richtung dar. Auch vor diesem Hintergrund wurde die Metapher „Europa professionalisieren“ gewählt – als Aufforderung, die politisch-administrativen Ebenen im Rahmen der Europäischen Union in vertikaler wie horizontaler Sicht einer
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Vorwort
umfassenden Untersuchung zuzuführen und sie aufgabensystematisch aufeinander zu beziehen. Die Turbulenzen um die Zukunft des Verfassungsvertrages geben den nachfolgenden Ausführungen eine erweiterte Bedeutung. So wurde in den Diskussionen der vergangenen Monate erkennbar, dass das voluminöse Werk sicher kein „historisches Ereignis“ darstellt (als das es führende Politiker bezeichnen), es sich vielmehr eher um eine „Ordnungsleistung“ handeln dürfte, die dem „patchwork der Verträge“ einen Rahmen zu geben sucht. Die während der Drucklegung dieses Bandes offensichtlichen Krisenerscheinungen, die nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden eine Ratifizierung des Vertrages wenig wahrscheinlich machen, sowie die zwischenzeitlich „blockierte“ Finanzielle Vorausschau bilden weitere Argumente für den hier verfolgten Ansatz. Dabei geht es gerade nicht darum, die eher abstrakte Debatte über die Finalität des Integrationsprozesses wiederzubeleben, gefragt ist vielmehr eine die Verfassungswirklichkeit einbeziehende Analyse, bei der durch die Konzentration auf kompetenzielle Voraussetzungen und den institutionellen Rahmen, mithin durch den Einbezug der „europäischen Arbeitsebene“, positive Transparenz- und Effizienzeffekte erhofft werden. Europa auch auf diesem Weg zu „professionalisieren“, nicht nur im Sinne eines technischen oder gar technokratischen Selbstverständnisses, sondern auch aus demokratietheoretisch-legitimatorischer Sicht, erscheint dringend geboten – nicht zuletzt durch Rückgriff auf jene positiven nationalstaatlichen Traditionen, auf denen ein Erfolg versprechendes gesamteuropäisches Handeln aufzubauen hat. An der Erstellung des benannten Gutachtens wirkte bereits Dr. Florian Grotz mit, der dabei aus dem Status des Wissenschaftlichen Assistenten zum Mitarbeiter und schließlich zum Ko-Autor wurde. Es versteht sich von selbst, dass diese Veröffentlichung daher unter unser beider Namen erscheint. Schließlich sei erwähnt, dass die hier vorgestellten Überlegungen eine Reihe vertiefter Erörterungen gefunden haben, zum einen in unserer „Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften“, der ZSE, zum anderen in meinem fast zeitgleich im de Gruyter Verlag erscheinenden Buch „Vom Werden Europas – Der Europäische Verfassungsvertrag: Konventsarbeit, politische Konsensbildung, materielles Ergebnis“. Besonders interessierte Leser seien auf diese erweiterten Zugänge zum Thema verwiesen. Berlin, im Juni 2005
Joachim Jens Hesse
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ....................................................................................................................... 13
1. Kapitel Nationalstaat und Europäische Union: historische Grundlagen, rechtlich-institutionelle Entwicklung, schrittweise Professionalisierung 1.
2.
3.
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Der europäische Integrationsprozess seit 1945: supranationale Institutionenbildung und situative Entwicklungslogik ............................................ 18 1.1 Die Gründungsphase: Dominanz außen- und sicherheitspolitischer Interessen; die Herausbildung einer „Kerngemeinschaft“ ........................... 18 1.2 Erweiterung und Stagnation: erkennbare Grenzen nationalstaatlichen Souveränitätsverzichts ................................................................................. 21 1.3 Die Neuordnung Europas nach 1989: Grundlagen für eine Politische Union – die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza ..................... 23 1.4 Vom „patchwork“ der Verträge zur „Europäischen Verfassung“ ............... 27 1.5 Ansätze zu einem europäischen „Regierungssystem“.................................. 31 Europa professionalisieren: die EU zwischen aktuellen Herausforderungen und strukturellem Reformbedarf ............................................................................. 38 2.1 Territorialfrage: undefinierte Finalität – an den Grenzen der Erweiterung ................................................................................................. 39 2.2 Form und Funktion: Freihandelszone, Staatenbund, Bundesstaat?.............. 40 2.3 Horizontale und vertikale Verteilungskonflikte........................................... 42 2.4 Normative Probleme: europäische Identität, „Demokratiedefizit“, Legitimationsentzug .................................................................................... 45 Fazit: die „Professionalisierung“ Europas als systematischer und kontextbezogener Reformansatz ............................................................................. 47
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Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel Die Kompetenzordnung zwischen Union und Mitgliedstaaten: europäische Politiken im Vergleich
1. 2.
3.
4.
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Auswahl der Politikbereiche und Aufbau der Fallstudien....................................... 49 Wirtschafts- und Währungspolitik: der asymmetrische Integrationskern ............... 50 2.1 Europäische Währung ohne Wirtschaftsregierung: die historische Ausgangssituation........................................................................................ 51 2.2 Die wirtschafts- und währungspolitische Kompetenzordnung: der rechtliche Status quo.................................................................................... 54 2.2.1 Allgemeine Vertragsbestimmungen.................................................. 54 2.2.2 Vertikale Aufgabenteilung ............................................................... 56 2.2.3 Horizontale Aufgabenteilung............................................................ 59 2.2.4 Charakteristika des „Verfassungsrahmens“ ...................................... 61 2.3 Die Arbeitsebene der Wirtschafts- und Währungspolitik: strukturelle und funktionale Verwerfungen ................................................. 63 2.4 Reformoptionen und Handlungsempfehlungen ........................................... 66 Agrarpolitik: supranationaler Protektionismus und zwischenstaatliche Umverteilung .......................................................................................................... 68 3.1 Reglementierung und Subventionierung: die historische Entwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik.................................................................... 68 3.2 Die europäische Kompetenzordnung im Agrarbereich: der rechtliche Status quo.................................................................................... 73 3.2.1 Allgemeine Vertragsbestimmungen.................................................. 73 3.2.2 Vertikale Aufgabenteilung ............................................................... 74 3.2.3 Horizontale Aufgabenteilung............................................................ 75 3.2.4 Charakteristika des „Verfassungsrahmens“ ...................................... 76 3.3 Die Arbeitsebene: Modernisierungsversuche und Interessen der Bestandserhaltung........................................................................................ 77 3.4 Reformoptionen und Handlungsempfehlungen ........................................... 79 Struktur- und Regionalpolitik: adäquates „Gegenstück“ zum Binnenmarkt? ......... 81 4.1 Supranationale Fördermittel als integrationspolitische Kompensation: historische Prägungen der Struktur- und Regionalpolitik ............................ 81 4.2 Die europäische Kompetenzordnung im Rahmen der Struktur- und Regionalpolitik: der rechtliche Status quo ................................................... 86 4.2.1 Allgemeine Vertragsbestimmungen.................................................. 86 4.2.2 Vertikale Aufgabenteilung ............................................................... 88 4.2.3 Horizontale Aufgabenteilung............................................................ 88 4.2.4 Charakteristika des „Verfassungsrahmens“ ...................................... 89 4.3 Die „Arbeitsebene“: starke Zentralisierung, geringe Mittelkonzentration... 90 4.4 Reformoptionen und Handlungsempfehlungen ........................................... 95
Inhaltsverzeichnis 5.
6.
7.
9
Umweltpolitik: die Europäische Union als „regulativer Staat“............................... 98 5.1 „Europäisierung“ eines Querschnittsbereichs: die Herausbildung einer gemeinschaftlichen Unweltpolitik ............................................................... 98 5.2 Die umweltpolitische Kompetenzordnung: der rechtliche Status quo ......... 99 5.2.1 Allgemeine Vertragsbestimmungen.................................................. 99 5.2.2 Vertikale Aufgabenteilung ............................................................. 100 5.2.3 Horizontale Aufgabenteilung.......................................................... 102 5.2.4 Charakteristika des „Verfassungsrahmens“ .................................... 102 5.3. Die Arbeitsebene: Umsetzungsprobleme des ökologischen acquis ........... 103 5.4. Reformoptionen und Handlungsempfehlungen ......................................... 105 Beschäftigungspolitik: ein Arbeitsfeld für die Europäische Union? ..................... 106 6.1 Sozioökonomische Herausforderungen und beschäftigungspolitische „Europäisierung“: zur Genese einer neuen EU-Politik .............................. 107 6.2 Beschäftigungspolitische Kompetenzordnung im Rahmen der EU: der rechtliche Status quo............................................................................ 110 6.2.1 Allgemeine Vertragsbestimmungen................................................ 110 6.2.2 Vertikale Aufgabenteilung ............................................................. 112 6.2.3 Horizontale Aufgabenteilung.......................................................... 114 6.2.4 Charakteristika des „Verfassungsrahmens“ .................................... 115 6.3 Die Arbeitsebene: effektive Schranken gegen einen „europäischen Sozialstaat“? .............................................................................................. 116 6.4 Reformoptionen und Handlungsempfehlungen ......................................... 119 Fazit: kontinuierliche Überprüfung der europäischen Kompetenzordnung – die Politikbereiche im Vergleich........................................................................... 120
3. Kapitel Europäische Kompetenzordnung und nationale Staatsorganisation: der Fall des deutschen Föderalismus 1. 2.
126
Die Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung: endogener und exogener Reformbedarf ........................................................................................................ 127 Die „Europatauglichkeit“ föderalstaatlicher Aufgabenstrukturen: ausgewählte Materien der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung .............................. 132 2.1 Land- und Forstwirtschaft.......................................................................... 134 2.2 Umweltschutz ............................................................................................ 135 2.3 Wirtschafts- und Arbeitsrecht .................................................................... 138 2.4 Bildung und Forschung.............................................................................. 143 2.5 Weitere Materien mit besonderem Regionalbezug .................................... 146 2.6 Organisations- und Personalhoheit im öffentlichen Sektor........................ 149
10
3. 4.
Inhaltsverzeichnis 2.7 Zusammenfassung: Aufgabenentflechtung unter erweiterten Maßstäben.. 151 Europapolitische Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder: zwischen gliedstaatlicher Interessenwahrung und gesamtstaatlicher Handlungsfähigkeit.... 153 Fazit: Föderalismusreform unter „europäischen Vorzeichen“ .............................. 158
4. Kapitel Der institutionelle Rahmen europäischer Politik: konsequente Arbeitsund Verantwortungsteilung innerhalb und zwischen den Ebenen? 1.
2.
3.
4.
160
Das „EU-Regierungssystem“: Stand und Perspektiven institutioneller Reform ... 162 1.1 Europäisches Parlament: Abbau des „Demokratiedefizits“ durch institutionelle Reform? .............................................................................. 163 1.2 Europäischer Rat und Ministerrat: Effizienzanforderungen und nationalstaatliche Interessenwahrung ........................................................ 171 1.3 Europäische Kommission: erweiterte „Rationalisierung“ der Brüsseler Exekutive ................................................................................................... 175 1.4 Zusammenfassung: institutionelle Reform zwischen Modelldiskussion und Status quo-Orientierung ...................................................................... 180 „Flexibilisierung“ europäischer Politik: Wege aus der Krise? .............................. 182 2.1 Verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der EU: Königsweg einer differenzierten Integration?........................................................................ 184 2.2 Offene Koordinierung: autonomieschonend und effektiv? ........................ 189 2.3 Grenzüberschreitende Regionalkooperation: eine neue Form des „Regierens“? .............................................................................................. 197 2.4 Zusammenfassung: die eingeschränkte Leistungsfähigkeit flexibler Kooperation ............................................................................................... 201 Die „Europatauglichkeit“ nationalstaatlicher Regierungssysteme ........................ 203 3.1 Koordinierung auf zentralstaatlicher Ebene: europapolitisches Handeln von Regierungen und Verwaltungen.......................................................... 204 3.2 Die Beteiligung nationaler Parlamente im Europäisierungsprozess........... 208 3.3 Zusammenfassung: institutionelle und personelle „Hausaufgaben“ für eine effektive EU-Politik...................................................................... 213 Fazit: zur Notwendigkeit eines abgestimmten europäischen Institutionensystems.............................................................................................. 214
5. Kapitel Die EU-Finanzverfassung: struktureller Reformbedarf und aktuelle Entwicklungen 1.
216
Status quo: der EU-Haushalt als fragiles „patchwork“......................................... 217
Inhaltsverzeichnis 2. 3. 4.
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Einnahmenseitige Handlungsoptionen: volle Haushaltsrechte für die Europäische Union? .............................................................................................. 221 Ausgabenseitige Reformperspektiven: auf dem Weg zu einem europäischen Finanzausgleich?................................................................................................... 228 Fazit: die „Agenda 2007“ – notwendige Neuorientierung und erwartbare Entwicklung .......................................................................................................... 230 6. Kapitel Schlussfolgerungen
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Materialanhang .......................................................................................................... 237 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 287 Personen- und Sachregister ....................................................................................... 324
Einleitung Die vorliegende Untersuchung wendet sich einem Schlüsselthema der Diskussion um die Fortführung des Integrationsprozesses zu: der Erarbeitung einer normativ wie funktional tragfähigen Arbeits- und Verantwortungsteilung in Europa. Im Hintergrund stehen jene Fragestellungen, die sich mit dem Arbeitsauftrag des im Jahr 2002 konstituierten „EU-Verfassungskonvents“ verbanden und zwischenzeitlich zur Vorlage des „Vertrages über eine Verfassung für Europa“ führten. Bedenkt man darüber hinaus, dass 2004 auch jene Osterweiterung Realität wurde, der jahrelange Vorbereitungen galten, zudem die Reform der großen Politikbereiche vorangetrieben wird und schließlich die Konturen der ab 2007 geltenden neuen „Finanziellen Vorausschau“ erkennbar werden, erweist sich die europäische Agenda als höchst komplex, droht sie gelegentlich gar die Beteiligten zu überfordern. Angesichts dieser Ausgangssituation richten sich die nachfolgenden Ausführungen auf die „innere Verfasstheit“ der Europäischen Union und verweisen angesichts der benannten Herausforderungen auf eine Reihe notwendiger Handlungsvoraussetzungen. Dies gilt gleichermaßen für die Fortentwicklung der bislang geltenden Verträge bis hin zu einer „Europäischen Verfassung“, für die Wirkungsweise der EU-Organe und -Einrichtungen, eine den gegebenen Problemen angemessene Überarbeitung von Verfahren und Instrumenten sowie schließlich für das in diesen Prozessen eingesetzte Personal. Die „Kompetenzordnung“ steht dabei insofern im Mittelpunkt, als eine aufgabenkritische Analyse für die Wirksamkeit der jeweiligen institutionellen Konfiguration, die Funktionalität von Verfahren und Handlungsweisen sowie für die Ausprägung der Politikfelder von entscheidender Bedeutung ist. Hier nach dem Grad der „Professionalität“, der Handlungs- und Funktionsfähigkeit zu fragen, erscheint zentral, um einer nicht selten „diffusen“ Innovationsdiskussion entgegenzuwirken und Reformen nur dort als „unabdingbar“ auszuweisen, wo sie dem erkennbar veränderten Charakter der europäischen Politik folgen. In diesem Kontext dürfte es von besonderer Bedeutung sein, bei einer empirischen Analyse die Entwicklung der EU- wie der mitgliedstaatlichen Einrichtungen systematisch aufeinander zu beziehen und von einer wechselseitigen Durchdringung auszugehen, nicht zuletzt aufgrund der sich in zahlreichen Handlungsfeldern abzeichnenden Parallelitäten. So treten zu den Arbeiten an
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Einleitung
einer „Europäischen Verfassung“ Ansätze, die Kompetenzordnung in den Föderalstaaten einer systematischen Evaluation zu unterziehen, kommt es im Bereich dezentraler Politik, und hier vor allem bei den deutschen Ländern, zu umfassenden Reformen der Regierungs- und Verwaltungsorganisation, unterliegt schließlich das Verhältnis von staatlicher zu kommunaler Politik in zahlreichen Mitgliedstaaten der Union einer intensiven Überprüfung. Allen damit verbundenen Diskussionsprozessen ist gemein, dass man versucht, effizienz- und effektivitätsbezogenen Erwägungen größeren Raum zu geben, in jedem Fall aber normative mit funktionalen Anforderungen an das öffentliche Handeln zu verbinden. Die europäische Kompetenzordnungsdebatte wird so gleichzeitig „von oben“ wie „von unten“ geführt, kommt es zu notwendigen „Grenzüberschreitungen“, werden Analysen, die sich ausschließlich einer gebietskörperschaftlichen Ebene zuwenden, erklärungsbedürftig. Auch hier also gilt es, „Europa zu professionalisieren“, zumindest insofern, als eine ausschließlich ebenenspezifische Sichtweise den heutigen Anforderungen nicht mehr genügt, erforderliche Veränderungen und dem nachfolgende Reformprozesse immer in ihren horizontalen wie vertikalen Bezügen zu sehen sind. Die staats- und europawissenschaftliche Forschung wird diesen Herausforderungen bislang nur zum Teil gerecht. So verweisen zahlreiche Studien im Rahmen der European Governance-Debatte auf Einseitigkeiten, die angesichts des erreichten theoretischen und empirisch-analytischen Erkenntnisstandes der Überprüfung bedürfen. Dies gilt zunächst für verflochtene Regierungs- und Verwaltungssysteme, setzt sich fort in den offensichtlichen Schwierigkeiten, die „Schnittstellen“ zwischen dem öffentlichem und dem privatem Sektor durch Konstrukte wie den „Gewährleistungsstaat“ aufzulösen, und mündet schließlich in eine Erörterung von Verfahrensvereinfachungen. Es geht mithin um eine Untersuchung der gegebenen institutionellen Arrangements, der vorfindbaren, nicht selten überkomplexen Regelungssysteme, der bereichsspezifischen Akteurkonstellationen sowie Fragen instrumenteller Flexibilität. Den dadurch ausgelösten Diskussionen nachzufolgen, ihnen gelegentlich auch „voranzugehen“, sollte Aufgabe einer den „Handlungsbedarf“ nicht vernachlässigenden staats- und europawissenschaftlichen Analyse sein. Die folgenden Ausführungen richten sich an diesem Anspruch aus. So steht zunächst das Verhältnis von Nationalstaat und Europäischer Union im Vordergrund (1. Kapitel), wobei nach einer Erinnerung an historische Grundlagen und den sich herausbildenden rechtlich-institutionellen Rahmen der schrittweisen „Professionalisierung“ der europäischen Politik die Aufmerksamkeit gilt. Die alles andere als gradlinige Evolution der Union und die sich damit verbindende asymmetrische Entwicklung ihrer rechtlich-institutionellen Voraussetzungen verdeutlichen jenen Reformbedarf, der sich mit situativen Herausforderungen und strukturellen Verwerfungen verbindet.
Einleitung
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Mit der im Zentrum des 2. Kapitels stehenden Kompetenzordnung („zwischen Union und Mitgliedstaaten: europäische Politiken im Vergleich“) wendet sich die Untersuchung dann einer Reihe von Schlüsselfeldern der europäischen Politik zu und sucht die hier nicht selten „abgehobene“ Diskussion zu konkretisieren. Am Beispiel der Wirtschafts- und Währungspolitik, der Agrarpolitik, der Struktur- und Regionalpolitik, der Umweltpolitik sowie der Beschäftigungspolitik kommt es zu umfassenden Darstellungen, die nach Kennzeichnung der jeweiligen Ausgangssituation die vertikalen und horizontalen Ausprägungen der Kompetenzordnung umreißen, bevor mit Blick auf die Arbeitsebene, die operative Ausgestaltung des politisch-administrativen Prozesses also, Reformbedarf und Handlungsoptionen identifiziert werden. So sollte es möglich sein, die sehr heterogene Kompetenzordnung in einzelnen Politikfeldern einer vergleichenden aufgabenkritischen Untersuchung zuzuführen. Um zu verdeutlichen, ob und inwieweit die vertikale „Verflochtenheit“ der Kompetenzordnung ebenenspezifische Analysen wenn nicht unmöglich macht, so doch erschwert, folgt ein expliziter Blick auf das Verhältnis zwischen europäischer Kompetenzordnung und nationaler Staatsorganisation – hier unter Bezug auf den deutschen Föderalismus (3. Kapitel). Diese beispielhafte Darstellung verdankt sich weniger der Nationalität der Autoren als vielmehr der Überlegung, dass das hochgradig komplexe „Regierungssystem“ der Europäischen Union durchaus eine Entsprechung in ähnlich ausdifferenzierten föderalen Mitgliedstaaten findet. Hinzu kommt, dass in diesem Kontext erneut auf eine gewisse Parallelität von Reformprozessen verwiesen werden kann, im deutschen Fall die bundesstaatliche Ordnung zudem umfassender Überprüfung durch eine „Föderalismuskommission“ unterlag. Dies erlaubt einen expliziten Blick auf die Rolle und Funktion dezentraler Akteure im Prozess der politischen Willensbildung, eine nicht nur für die Leistungsfähigkeit europäischer Politik, sondern auch und gerade für deren Legitimation wichtige Ergänzung. Nach diesen aufgabenbezogenen, die Kompetenzordnung sowohl der EU wie der Nationalstaaten umfassenden Untersuchungsperspektiven gilt im 4. Kapitel dem institutionellen Rahmen der europäischen Politik die Aufmerksamkeit. Hier ist danach zu fragen, ob und in welchem Ausmaß heute von einer konsequenten Arbeits- und Verantwortungsteilung innerhalb wie zwischen den Ebenen ausgegangen werden kann. Das der Kapitelüberschrift beigefügte Fragezeichen macht bereits Vorbehalte deutlich, die die Ausführungen prägen. Darüber hinaus ist entscheidend, dass nicht nur das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission und weitere EU-Organe und -Einrichtungen im Zentrum der Analyse stehen, sondern auch ein Blick auf jene „Flexibilisierungsformen“ europäischer Politik geworfen wird, die sich – in Reaktion auf erkennbare Entwicklungsprobleme und eine nur eingeschränkte Handlungsfähigkeit – mit den europapolitischen Instrumenten der „Verstärkten Zusammenarbeit“, der
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Einleitung
„Offenen Koordinierung“ und der „Grenzüberschreitenden Kooperation“ verbinden. Komplementär dazu wird versucht, die „Europatauglichkeit“ der nationalstaatlichen Regierungssysteme am Beispiel der Exekutiv- wie Legislativorgane zu umreißen, um auf diesem Weg zusätzliche Hinweise auf horizontalen wie vertikalen Abstimmungsbedarf zu erhalten. Schließlich gilt nach der Kompetenzordnung und dem institutionellen Rahmen der europäischen Politik der EU-Finanzverfassung das Interesse, wobei erneut struktureller Reformbedarf und situative Anpassungen zur Diskussion stehen (5. Kapitel). Haushaltspolitische Fragen sind nicht etwa nur addendum innerhalb einer sich auf die Kompetenzordnung und institutionelle Voraussetzungen konzentrierenden Untersuchung, sie verweisen vielmehr auch auf den meist entscheidenden Ressourcenaspekt, der schon deshalb integraler Bestandteil europabezogener Analysen sein sollte. Hinzu tritt die zunehmend an Dynamik gewinnende Debatte um die Finanzielle Vorausschau, jene „Agenda 2007“, bezüglich derer Polarisierungen erkennbar sind, die nach der „Aussetzung“ des Europäischen Verfassungsvertrages immer deutlicher werden. Die systematische Zusammenführung einnahmen- wie ausgabenseitiger Reformen zielt auf einen gleichsam „frühen“ Beitrag zur Versachlichung dieser Diskussion, wobei es nicht zuletzt darum geht, den Grundsatz der „Konnexität“, der sich in binnenstaatlichen Interaktionsprozessen bewährt hat, auch in die europapolitische Auseinandersetzung einfließen zu lassen. Die Schlussfolgerungen fassen dann jene Anforderungen an eine „Professionalisierung Europas“ zusammen, die sich mit Blick auf erforderliche Modernisierungsprozesse und notwendige Erkenntnisleistungen ergeben. Die diese Veröffentlichung leitende Grundüberzeugung, nach der eine der europäischen Entwicklung angemessene Untersuchungsperspektive nur über die Verbindung normativer und funktionaler Analysekriterien zu erreichen ist, findet darin einen – hoffentlich – überzeugenden Beleg.
1. Kapitel
Nationalstaat und Europäische Union: historische Grundlagen, rechtlich-institutionelle Entwicklung, schrittweise Professionalisierung Das Verhältnis von Nationalstaat und Europäischer Union war und ist für die Entwicklung des Integrationsprozesses von entscheidender Bedeutung. Dies aufnehmend, geht es in den folgenden Ausführungen zunächst darum, die historischen Grundlagen der europäischen Einigung seit 1945 in Erinnerung zu rufen: von der durch außen- und sicherheitspolitische Interessen dominierten Gründungsphase über den Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion bis hin zur politischen Neuordnung Europas nach 1989. Die heute bestehenden rechtlich-institutionellen Grundlagen des „EU-Regierungssystems“ sind das Resultat eines Evolutionsprozesses, der zu keinem Zeitpunkt gradlinig verlief und dessen Integrationsschritte sehr unterschiedliche Ergebnisse hervorbrachten. Dies erklärt sich vor allem aus situativ geprägten Entscheidungskontexten, d.h. den jeweiligen Eigeninteressen der beteiligten Akteure, den sich bietenden Handlungsoptionen und einem nicht selten erratischen, weil primär innenpolitischen Erwägungen folgenden „Integrationskonsens“. Im Ergebnis kam es zu einem patchwork unterschiedlicher Verträge, das erst jüngst in den Versuch zur Erarbeitung einer „Europäischen Verfassung“, erneut in Vertragsform, mündete. Dem korrespondierten institutionelle Vorkehrungen, die eine asymmetrische Entwicklung von Rat, Parlament und Kommission beförderten und weit von einer den Namen verdienenden Gewaltenteilung entfernt sind. Die „Staatswerdung Europas“ stellt sich also als gleichsam „iterativer Prozess“ dar, innerhalb dessen einmal erzeugte Strukturprobleme verblieben, sich in Teilen sogar aufaddierten, so dass heute durchaus Merkmale der Überforderung und Überdehnung erkennbar sind. Ein näherer Blick auf die zur Diskussion stehenden materiellen Probleme lässt diesen Entwicklungsprozess auch als „schrittweise Professionalisierung“ kennzeichnen. Dieser Begriff verweist zum einen auf das wachsende (Selbst-) Verständnis, den Integrationsprozess als nationen- und sektorenübergreifend
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1. Kapitel: Nationalstaat und Europäische Union
anzusehen, dem durch institutionelle wie regulative Formationsprozesse zu entsprechen und schließlich gemeinschaftliche Politiken auszuweiten, so dass der EG-Ebene auch originär europäische Aufgaben zugeordnet wurden. Zum anderen blieben durch die „ungleichzeitige“ Vergemeinschaftung aber auch zentrale Fragen der „europäischen Verfassungsordnung“ ungeklärt: die territoriale wie sektorale „Finalität“ der Union, ihre Form und Funktion, die Regelung horizontaler wie vertikaler Verteilungsprobleme – bis hin zu jenen normativen Fragen, die sich mit der europäischen Identität, dem demokratischen Gehalt des Integrationsprozesses und seiner Akzeptanz wie Legitimation verbinden.
1. Der europäische Integrationsprozess seit 1945: supranationale Institutionenbildung und situative Entwicklungslogik
1.1 Die Gründungsphase: Dominanz außen- und sicherheitspolitischer Interessen; die Herausbildung einer „Kerngemeinschaft“ Nachdem die im Gefolge des Ersten Weltkrieges erkennbare Paneuropäische Bewegung mit dem Aufkommen autoritärer Regime und zunehmender nationalstaatlicher Polarisierungen ihr Ende fand, wird man den eigentlichen Beginn des europäischen Einigungsprozesses eng mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges verbinden. So ließen die Kriegszerstörungen und die Aufspaltung Europas in mehr als zwei Dutzend Nationalstaaten zahlreiche Ideen zur Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ hervortreten. Insbesondere Winston Churchills Rede in Zürich (1946), die 1948 in Den Haag gegründete „Europäische Bewegung“ und eine Reihe weiterer Initiativen deuteten an, dass grenzüberschreitend von einer gewissen Bereitschaft auszugehen war, nationalstaatliche Hoheitsrechte internationalen Organisationen zu übertragen. Erste Schritte auf diesem Weg stellten die Gründung der Organisation for European Economic Co-operation (OEEC, die Vorgängerorganisation der 1961 ins Leben gerufenen Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD) 1948 sowie des Europarates 1949 dar. Während die OEEC/OECD vor allem dem amerikanischen Wunsch nach europäischer Zusammenarbeit entsprang und primär die Aufgabe hatte, im Rahmen des sog. European Recovery Program (ERP, Marshall-Plan-Hilfe) die Verteilung und den Einsatz nordamerikanischer Wiederaufbauhilfen in Europa zu organisieren, bildete der Europarat gleichsam die „Keimzelle“ der europäischen Einigungspolitik. So waren und sind die späteren EG- bzw. EU-Staaten auch Mitglieder des Europarates, was wiederum eine enge Verklammerung der beiden Organisationen bei der He-
1. Der europäische Integrationsprozess seit 1945
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rausbildung einer europäischen Rechtsordnung zur Folge hatte (vgl. u.a. Giegerich 2003).1 Ungeachtet der vielfältigen transnationalen Kooperationsformen, die seit 1945 innerhalb Europas entstanden, wird die Europäische Gemeinschaft zu Recht als wichtigster Ausdruck des Integrationswillens angesehen. Den eigentlichen Gründungsakt markiert der Schuman-Plan vom Mai 1950 bzw. die nachfolgend 1951 in Paris begründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, auch Montanunion genannt). Spielten dabei wirtschaftliche Erwägungen für die Gründungsmitglieder (Deutschland, Frankreich, Italien und die drei Benelux-Staaten) eine wichtige Rolle, war die Einbindung der kriegswichtigen Schlüsselindustrien und die damit verbundene Kontrolle Deutschlands im Rahmen eines multilateralen Kontextes das zentrale Motiv. Primäres Interesse der Bundesregierung unter Konrad Adenauer war es demgegenüber, die Bundesrepublik angesichts des sich immer deutlicher abzeichnenden OstWest-Konflikts möglichst rasch in die westeuropäischen bzw. transatlantischen Strukturen „einzubinden“. Hinzu trat das Bestreben, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jenen verhängnisvollen Nationalismus zu überwinden, der das Verhältnis der europäischen Staaten so lange geprägt hatte (Langewiesche 2004). Die Einschätzung, nach der die Nationalstaaten im Bereich der Wirtschaftspolitik am ehesten bereit seien, Souveränitätsrechte abzugeben, erwies sich auch nach Gründung der EGKS als zutreffend. So scheiterte der vom französischen Ministerpräsidenten Pleven vorgestellte Plan zur Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 am Widerstand der französischen Nationalversammlung. Die innenpolitisch wie im europäischen Kontext ___________ 1 Der Europarat dient der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und verabschiedet neben (nicht-bindenden) Entschließungen auch Konventionen oder Abkommen, die Gesetzeskraft in jenen Ländern erlangen, die das Abkommen ratifizieren. Zu den wichtigsten bislang verabschiedeten Konventionen zählen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (1950), die Kulturkonvention (1957), die Europäische Sozialcharta (1961), das Europäische Datenschutzabkommen (1981), die Rahmenkonvention für den Schutz nationaler Minderheiten (1995) sowie die Europäische Konvention für Menschenrechte und Biomedizin (1997). Die von ursprünglich zehn Gründungsmitgliedern auf nunmehr 45 Staaten angewachsene Organisation verfügt über zwei zentrale Repräsentativgremien, das Ministerkomitee (die Außenminister der Mitgliedstaaten) und die Parlamentarische Versammlung, die sich aus Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammensetzt. In funktionaler Sicht wird man heute die Existenz des Europarates überprüfen müssen, zumal ein Teil seines raison d’être mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur EU gleichsam ein Ende fand. Die jetzt erkennbaren „Verdoppelungen“ in den Zielsetzungen von Europäischer Union wie Europarat lassen jene Stimmen verständlich werden, die darauf abzielen, den Rat mittelfristig in der EU aufgehen zu lassen.
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1. Kapitel: Nationalstaat und Europäische Union
heftig umstrittene Wiederbewaffnung Deutschlands wurde deshalb im Rahmen des Nordatlantikpaktes (NATO) und der Westeuropäischen Union (WEU) vollzogen, denen die Bundesrepublik mit den Pariser Verträgen von 1954 beitrat. Demgegenüber verständigten sich die sechs EGKS-Mitglieder 1957 in Rom auf die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom), wodurch die gemeinschaftliche Politik über die Kohle- und Stahlsektoren hinaus auf alle Wirtschaftsbereiche ausgedehnt werden sollte. Auch dabei waren die Interessen weniger von der Vorstellung eines „demokratischen Europa“ geleitet als vielmehr von der Idee, „Frieden und Freiheit zu sichern sowie den Wohlstand zu fördern“. Die Übertragung von Souveränitätsrechten auf die supranationale Ebene erwies sich erneut als höchst kontrovers. Sowohl die französische als auch die deutsche Regierung standen der Initiative des Präsidenten der Hohen Behörde der EGKS, Jean Monnet, die Gemeinschaftskompetenzen auszuweiten, aus unterschiedlichen Gründen skeptisch gegenüber. Während das Interesse Frankreichs vor allem einer Gemeinsamen Atompolitik sowie den Vorteilen einer Gemeinsamen Agrarpolitik galt, waren das exportorientierte Deutschland und die BeneluxLänder vorrangig am Gemeinsamen Markt interessiert und zielte Italien vor allem auf gesamtwirtschaftlichen Fortschritt und die Verringerung seiner hohen Arbeitslosigkeit. Die „Römischen Verträge“ stellten insofern einen Kompromiss dar, als binnen zwölf Jahren die Schaffung einer Zollunion in Übereinstimmung mit den Regeln des GATT (General Agreement on Tarifs and Trade) sowie ein gemeinsamer Markt für Brennstoffe zum Aufbau einer leistungsfähigen europäischen Kernindustrie vereinbart wurden. Auf der Grundlage des EGKS-, des EWG- und des EURATOM-Vertrags schritt der Integrationsprozess dann fort, wobei sich das deutsch-französische Verhältnis zunehmend als wichtiger „Motor“ und „Reibungspunkt“ erwies (deutsch-französischer Freundschaftsvertrag 1963; Debatte zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“; Infragestellung des Mehrheitsprinzips zur Entscheidungsfindung im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik durch Frankreich sowie „Politik des leeren Stuhls“, die 1966 durch den sog. Luxemburger Kompromiss beendet wurde; 1967 Fusion von EGKS, EWG und Euratom zu den Europäischen Gemeinschaften (EG); vgl. u.a. Ziebura 1997). In dieser Frühphase des europäischen Einigungsprozesses prägten also zunächst außen- und sicherheitspolitische Interessen, dann aber – und zunehmend dominant – ökonomische Handlungsimperative den Weg zur weiteren Integration. Die Erwartungen aller Beteiligten richteten sich dabei vor allem auf Wohlfahrtsgewinne, die man von einem „Gemeinsamen Markt“ erwartete. Dem korrespondierten zahlreiche, auch institutionelle Vorkehrungen sowie erste Formen einer „Vergemeinschaftung“ von Aufgabenbereichen, die zunächst
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nicht im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit standen. Ansätze zu einer „Professionalisierung“ basierten somit auf weithin geteilten Zielen: durch ein containment Deutschlands künftige außen- und sicherheitspolitische Gefährdungen einzugrenzen, vor allem aber das ökonomische Potential Europas durch gemeinsames Handeln zu fördern und auszubauen. Institutioneller Aufbau wie eingesetzte Verfahren der Sechsergemeinschaft folgten diesen Intentionen, begründeten aber zugleich jene asymmetrische Kompetenzordnung, die für den weiteren Integrationsprozess kennzeichnend ist. Die méthode Monnet, eine weniger an übergreifenden Zielen als vielmehr an den jeweils spezifischen Gelegenheiten ausgerichtete Einigungsstrategie, wurde zu einer treffenden Kennzeichnung dieser wie der folgenden Phasen der europäischen Integration.
1.2 Erweiterung und Stagnation: erkennbare Grenzen nationalstaatlichen Souveränitätsverzichts Nachdem 1968 die Zollunion schneller als geplant in Kraft trat, stellten weitere Staaten den Antrag, der Gemeinschaft beizutreten. Die erste Erweiterung um Dänemark, Großbritannien und Irland erfolgte 1973. Wurde die Binnenentwicklung der EG bis Mitte der 1980er Jahre stark durch die deutsch-französischen Beziehungen geprägt – so der engen Zusammenarbeit zwischen Präsident Valéry Giscard d’Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik –, suchte sich die Gemeinschaft zunehmend auch als außenpolitische Einheit zu definieren. Nach dem missglückten Versuch, die Idee der EVG in Form der Fouchet-Pläne 1958 wiederzubeleben, einigten sich die Staats- und Regierungschefs der sechs EG-Gründerstaaten 1969 schließlich darauf, im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) außenpolitisch verstärkt zusammenzuarbeiten und bis 1980 eine Europäische Union zu verwirklichen. Auf Basis des Tindemans-Berichts (1976) war vorgesehen, auch die Außenhandels-, Wirtschafts- und Währungspolitik zu „europäisieren“ sowie das Europäische Parlament in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess verstärkt einzubeziehen. Obwohl diesen Vorschlägen zunächst nicht gefolgt wurde, bildeten sie die Grundlage des weiteren Europäisierungsprozesses. Ende der 1970er Jahre geriet die europäische Integration dann in eine Phase der Stagnation. Abgesehen von den durch die beiden Ölkrisen 1973 und 1979 veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen schienen sich erstmals die Vergrößerung der Gemeinschaft – 1981 kamen Griechenland, 1986 Spanien und Portugal als Mitglieder hinzu – sowie die Tatsache eines eingeschränkten Integrationskonsenses negativ auf die Vertiefung der Gemeinschaft auszuwirken. Notwendige Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP)
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und der Finanzverfassung scheiterten ebenso wie der erneute Versuch zum Aufbau einer „europäischen Außenpolitik“. Vor diesem Hintergrund lancierten der deutsche Außenminister Genscher und sein italienischer Amtskollege Colombo 1983 eine Initiative für eine „Europäische Akte“, durch die weitere Aufgabenbereiche der Außen- und Sicherheitspolitik, der Entwicklungspolitik, der Technologie- und Energiepolitik sowie der Gesellschafts- und Kulturpolitik vergemeinschaftet werden sollten. Mit dem vom Europäischen Parlament 1984 verabschiedeten Entwurf eines „Vertrages zur Gründung der Europäischen Union“ lag erstmals ein verfassungsähnlicher Vorschlag zur Ausgestaltung der künftigen Gemeinschaft vor. 1986 kam es schließlich zur Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte, die – als Erweiterung bzw. erste substanzielle Reform der EGGründungsverträge – die rechtlichen Voraussetzungen für die Vollendung des Binnenmarktes (bis Ende 1992) schuf. Darüber hinaus wurden weitere Aufgabenbereiche in das europäische Primärrecht integriert, so die Forschungs- und Technologiepolitik, der Umweltschutz und spezifische Arbeitsschutzmaßnahmen im Bereich der Sozialpolitik. Von einer Hinwendung auch auf eine „soziale Dimension“ des Binnenmarktes konnte allerdings noch nicht gesprochen werden. Der institutionelle Kontext und die bislang praktizierten Verfahren wurden lediglich der neuen Situation angepasst und dabei in Teilen durchaus „professionalisiert“. Die vertragliche Fixierung des Europäischen Rats, die Einführung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung in allen Angelegenheiten des Binnenmarkts (mit Ausnahme der „sensiblen“ Bereiche des Steuerwesens und der Rechtsangleichung), die Übertragung der Durchführungsbefugnis auf die Kommission im Regelfall sowie die Stärkung des Europäischen Parlaments durch Mitentscheidungsrechte beim Eintritt neuer Mitglieder und der Assoziierung von Drittstaaten machten dies deutlich. Die stark zusammengefasste Darstellung zeigt gleichsam exemplarisch, wie „sprunghaft“ sich die europäische Integration auch in dieser Phase entwickelte. Während die Erweiterung der Sechsergemeinschaft auf zwölf Mitglieder eine beträchtliche Maßstabsvergrößerung darstellte, kam es mit Blick auf einzelne Aufgabenfelder zu eher „tastenden Versuchen“, den Europäisierungsprozess zunehmend aus seiner (einseitigen) ökonomischen Entwicklungsdynamik zu lösen und ihm eine Reihe ergänzender und/oder „sichernder“ Politiken an die Seite zu stellen. Dem wiederum korrespondierte eine „Professionalisierung“ des institutionellen Rahmens insofern, als die Kommission zentrale exekutive Aufgaben übernahm, das Parlament wahrnehmbar an politischer Gestaltungskraft gewann und der Europäische Rat, trotz seiner dominanten und durch nationalstaatliche Interessen geprägten Entscheidungsfunktion, Gemeinsamkeiten herauszubilden begann. Allerdings setzte sich auch die „iterative“ Dimension des Integrationsprozesses insofern fort, als weiter gehende europapolitische
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Zielsetzungen nicht selten scheiterten und situative, den jeweiligen nationalstaatlichen Interessen folgende Koppel- und Tauschgeschäfte in den Vordergrund der Willensbildung und Entscheidung traten. Erneut machte sich hier die méthode Monnet bemerkbar, die situationsspezifische Anpassungen und pragmatische Handlungsoptionen nutzte und diese an die Stelle einer normativ wie funktional ausbalancierten Vorgehensweise setzte.
1.3 Die Neuordnung Europas nach 1989: Grundlagen für eine Politische Union – die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza Das Jahr 1989 stellte mit dem Zusammenbruch des Ostblocks, der nachfolgenden Vereinigung Deutschlands und dem EG-Beitritt der DDR dann eine gewisse „Wasserscheide“ insofern dar, als zu den bisherigen, die Integration vertiefenden Schritten eine großflächige Erweiterungsperspektive trat. Der 1991 in Maastricht unterzeichnete Vertrag über eine Europäische Union, der den Binnenmarkt durch eine Wirtschafts- und Währungsunion sowie eine Politische Union ergänzen sollte, schuf eine neuartige institutionelle Basis. Durch die formale Begründung der Europäischen Union (EU) wurde eine integrierte Struktur von supranationalen Einrichtungen, entsprechend vergemeinschafteten Politiken und intergouvernemental zu regelnden Aufgabenbereichen geschaffen. Nach der seinerzeit gebräuchlichen Bezeichnung beruhte die EU auf „drei Säulen“: der EG, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZJIP). Aus deutscher Sicht wurde der EU-Vertrag als ein entscheidender Fortschritt im europäischen Einigungsprozess bewertet. Allerdings erwies sich auch, dass der historisch begründete Integrationswille der Bundesregierung, der von der Bevölkerungsmehrheit geteilt wurde, innenpolitisch erstmals an Grenzen stieß. Mit dem Bekenntnis zur Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und damit zur Aufgabe der D-Mark demonstrierte Deutschland seine Bereitschaft, in die europäische Integration zu „investieren“. Dieses Signal war in den Augen der anderen Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreichs, umso wichtiger, als der bereits zuvor größte und wirtschaftlich mächtigste Mitgliedstaat durch die Wiedervereinigung weiter an Bedeutung gewann. Allerdings machten die Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag auch die Grenzen des Integrationskonsenses in Form nationaler Interessengegensätze deutlich. Zwar waren die „Erfolge“ – Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion und deren Ergänzung um Elemente einer Politische Union – nicht in Abrede zu stellen, doch wurde das ursprünglich angestrebte „föderale Ziel“ aufgrund des Widerstands vor allem Großbritanniens nicht in den Vertrag aufgenommen, blieb es bei dem Postulat einer „immer engeren Union unter den
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Völkern Europas“, das sich in ähnlichem Wortlaut schon in den Römischen Verträgen von 1957 fand. Diese integrationspolitische Zurückhaltung der Mitgliedstaaten wurde auch mit Blick auf die „Zweite“ und „Dritte“ Säule des Vertragswerks erkennbar. So wollten einige Mitgliedstaaten – darunter Deutschland – die europäische Innen- und Justizpolitik ebenso wie die Außen- und Sicherheitspolitik ursprünglich so weit als möglich in die Gemeinschaftssäule integrieren, anstatt sie der Zusammenarbeit der nationalen Regierungen zu überlassen. Der Kompromisscharakter des Maastrichter Vertrages zeigte sich zudem dadurch, dass dieser durch eine Reihe von Ausnahmeregelungen ergänzt wurde. Hierzu zählten ein Protokoll über die Einführung einer gemeinsamen Sozialgesetzgebung, ein Protokoll, das Großbritannien das Fernbleiben von der letzten Stufe der Währungsunion erlaubte, und schließlich ein Protokoll, das höhere strukturpolitische Zuwendungen für Spanien, Portugal, Irland und Griechenland garantierte (Kohäsionsfonds). Angesichts der erkennbaren Differenzierungen und des lediglich perspektivischen Fortschritts auf dem Weg zu einer Politischen Union war den Verhandlungsdelegationen bewusst, dass es sich bei dem Vertragswerk um eine Übergangslösung handelte, die sich in der Praxis bewähren musste. In der Folgezeit richteten sich immer neue Erwartungen an die hierfür einberufene Regierungskonferenz, der sich drei miteinander verwobene politische und wirtschaftliche Herausforderungen zuordnen ließen: So wurde erkennbar, dass der Europäisierungsprozess nicht mehr auf uneingeschränkte Akzeptanz des europäischen Publikums traf, was sich unschwer aus den Ergebnissen der Referenden zum Maastrichter Vertrag in Frankreich und Dänemark ablesen ließ (vgl. Tabelle I.4 im Materialanhang). Dass Akzeptanzfragen sich nicht nur mit dem Vertragswerk verbanden, sondern auch auf den Verlauf des Erweiterungsprozesses richteten, bestätigte sich mit dem Ausgang der schwedischen Wahlen zum Parlament, ganz abgesehen vom negativen Votum der norwegischen Bevölkerung zum EU-Beitritt. Als weitere Herausforderung nach dem „Gipfel“ von Maastricht zeichnete sich die erneute Erweiterung der Union ab. Hier ging es zunächst um die Aufnahme Finnlands, Österreichs und Schwedens (1995), wobei neben den üblichen Kompensationsgeschäften (im Rahmen der europäischen Struktur- und Regionalpolitik) Forderungen nach einer weiter gehenden Reform der EU laut wurden. Eine Verzögerung des Integrationsprozesses und insbesondere des Übergangs zu einer Politischen Union stellte mit Blick auf die bevorstehende Ost- und Süderweiterung jetzt ein beträchtliches Problem dar. Insbesondere der Reformprozess in Mittel- und Osteuropa entwickelte eine – zum Zeitpunkt der Verhandlungen in Maastricht unabsehbare – Eigendynamik, die in Beitrittsgesuche von (zunächst) zwölf Staaten mündete.
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Hinzu trat eine an Intensität kaum zu übertreffende Diskussion über die Wirtschafts- und Währungsunion. Der vereinbarte Zeitplan wie die vertraglich fixierten Konvergenzkriterien wurden angesichts einer europaweiten Rezession zunächst in Frage gestellt. Die zur Erfüllung der Kriterien notwendigen Konsolidierungsanstrengungen in den öffentlichen Haushalten führten in ihrer deflationären Wirkung zu einem erneuten Akzeptanzverlust in der europäischen Bevölkerung. Gleichzeitig war nicht nur der Weg zur gemeinsamen Währung umstritten, sondern auch die fiskal- wie geldpolitische Orientierung nach deren Einführung. In diesen Auseinandersetzungen ging es um die Stabilität des Euro, um die Vermeidung möglicher „beggar thy neighbour“-Politiken sowie schließlich um Fragen des politischen Einflusses auf die neu zu schaffende Europäische Zentralbank. So ergab sich bald erneuter Reformbedarf, weshalb der EU-Vertrag bereits 1996/97 im Rahmen der Regierungskonferenz von Amsterdam einer weiteren Überprüfung unterzogen wurde (Grimm/Hesse/Jochimsen/Scharpf 1997). Im Mittelpunkt stand die institutionelle Vorbereitung der EU auf die Aufnahme von bis zu zwölf neuen Mitgliedern, wie sie 1997 in Luxemburg formal beschlossen worden war. Die Ergebnisse des Vertrags von Amsterdam wurden allerdings als ernüchternd empfunden (Hesse/Schaad 1998). Zwar brachte man die WWU mit Verabschiedung des sie begleitenden Stabilitäts- und Wachstumspaktes wieder „auf Kurs“, mit Blick auf eine Politische Union ließen sich aber nur geringfügige Fortschritte ausmachen: Justiz- und innenpolitische Fragen wurden nach dem Vertragsentwurf in Teilen in den Bereich der Gemeinschaftszuständigkeit überführt, während die Gemeinsame Außenpolitik durch die Bestellung des Generalsekretärs des Rates zum Hohen Vertreter in Fragen der GASP an Profil und durch die Bildung einer Planungs- und Analyseeinheit an Effektivität gewinnen sollte. In beiden Bereichen verblieb allerdings auch weiterhin das Einstimmigkeitsprinzip, während der Ausbau der WEU zum sicherheitspolitischen Arm der Union am Widerstand Großbritanniens und anderer Mitglieder scheiterte. Zwar gelang es den Staats- und Regierungschefs, sich auf die Schaffung eines „Gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu einigen und das Schengen-Abkommen in die Gemeinschaftssäule zu überführen, nicht ohne allerdings Ausnahmeregelungen für Dänemark, Großbritannien und Irland in Kauf nehmen zu müssen. Die demokratische Legitimation und eine damit verbundene parlamentarische Kontrolle im Wege eines erweiterten Mitentscheidungsverfahrens wurden durch den Vertrag von Amsterdam nur geringfügig gestärkt, während Initiativen zur Wiedergewinnung bürgerschaftlichen Vertrauens und ein Grundrechtekatalog zunächst aufgeschoben wurden oder sich auf Ankündigungen beschränkten. Dass weniger Anpassungsprobleme der Beitrittsländer als vielmehr die interne Reformunfähigkeit der Union zum Hindernis für die Erweiterung werden
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könnte, bestätigte sich anlässlich einer Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin im März 1999 (zur Finanziellen Vorausschau für den Zeitraum 2000– 2006). Zwar wurde letztlich eine Gesamteinigung über die sog. „Agenda 2000“ wie über die mittelfristige Finanzierung der Osterweiterung erzielt, doch erwies sich am Beispiel der ablehnenden Haltungen Frankreichs und Spaniens (die keine Abstriche an den Subventionszahlungen für die Landwirtschaft bzw. den Beihilfen aus den Struktur- und Regionalfonds zulassen wollten) einmal mehr, dass eine funktional unabdingbare Reform der EU an nationalen Egoismen zu scheitern drohte. Angesichts der nach der Vertragsrevision von Amsterdam verbliebenen Probleme (left-overs) sollte der Europäische Rat von Nizza dann im Dezember 2000 eine erneute Vertragsreform beschließen. In Anbetracht der gleichzeitigen Verfolgung von institutioneller Modernisierung, verbesserter Entscheidungsfähigkeit und konsequenter Vorbereitung der Osterweiterung musste jedoch das Ergebnis enttäuschen. So gelang es weder, die künftige Handlungsfähigkeit der Union zu sichern, noch den Anteil der vergemeinschafteten Aufgabenfelder nennenswert, d.h. auch materiell bedeutsam auszuweiten. Formelkompromisse belegten einmal mehr die Dominanz nationalstaatlicher Interessen und damit die Grenzen der Konsensfähigkeit. Da man sich in Nizza auf die für die Osterweiterung unumgänglichsten institutionellen Anpassungen beschränkte, gab es zwar keine (zumindest formalen) „Nizza-Reste“ und galt die Union offiziell als „erweiterungsreif“, doch wurden substantielle Reformen „verschoben“. So vertagte man die Entscheidung über die endgültige Größe und Zusammensetzung der Kommission, unterlagen die Entscheidungsverfahren im Rat einer nur noch Spezialisten zugänglichen „Logik“ und kam es zu keiner materiell nennenswerten Erweiterung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen (vgl. Tabelle II.6 im Materialanhang). Hinzu trat der Dissens über Aufgaben, Ziele und Organisation der Struktur- und Kohäsionsfonds. Auch über bestimmte Maßnahmen im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik konnte keine Einigung erzielt werden. Der Erfolg des Europäischen Rates von Nizza erwies sich mithin als fragwürdig, legt man mehr als ein nur formales Verständnis der Agenda zugrunde. Die Ablehnung des Vertragswerks durch die irische Bevölkerung im März 2001 war von daher nur konsequent (Tabelle I.4 im Materialanhang). Erneut machte auch diese Phase der europäischen Integration deutlich, dass und wie sehr situative Gegebenheiten die Primärrechtsentwicklung prägten, die sich zunehmend ergebenden normativen wie funktionalen Probleme hingegen ohne Lösung blieben. Für den Europäisierungsprozess verstärkte sich damit erneut die bereits angesprochene Asymmetrie, ein Strukturmerkmal, das bis heute gilt und zahlreiche Verwerfungen begründet.
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1.4 Vom „patchwork“ der Verträge zur „Europäischen Verfassung“ Der Vertrag von Nizza erbrachte mithin keine grundlegende Neuausrichtung des „Verfassungsrahmens“ der EU. Gleichzeitig dokumentierte er die Notwendigkeit einer weiter reichenden Reform, zumal die beigefügte Erklärung Nr. 23 eine breite „Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union“ im Hinblick auf konstitutionelle Schlüsselprobleme2 anregte. Dies sollte Aufgabe des „Post-Nizza-Prozesses“ sein, der von der Kommission und den nachfolgenden Ratspräsidentschaften gefördert wurde und in der Erklärung „Die Zukunft der Europäischen Union“ des Europäischen Rates von Laeken vom 14./15. Dezember 2001 seinen materiellen Gehalt fand (Europäischer Rat 2001). Dabei entschieden sich die Staats- und Regierungschefs, einen „Konvent zur Zukunft Europas“ einzuberufen und diesen mit der materiellen Vorbereitung der nächsten Regierungskonferenz zu betrauen (Hesse 2005a). In Analogie zum Grundrechtekonvent gehörten dem „Verfassungskonvent“, der unter Vorsitz des früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing im Februar 2002 formal eröffnet wurde, Vertreter der Nationalregierungen, Mitglieder der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments sowie Repräsentanten der Europäischen Kommission an. Auch die beitrittswilligen Länder Süd- und Osteuropas waren entsprechend (wenn auch ohne formales Mitentscheidungsrecht) vertreten. Hinzu kamen Repräsentanten des Wirtschafts- und Sozialausschusses, der europäischen Sozialpartner und des Ausschusses der Regionen als „Beobachter“ (ZSE-Redaktion 2003). Die Arbeitsweise des Konvents oszillierte zwischen präsidialer Dominanz und funktionaler Differenzierung. Verband sich Ersteres mit dem Steuerungsund Politikstil des eingesetzten Präsidiums als des zentralen Leitungsgremiums, verweist Letzteres auf den Versuch, durch die Einrichtung von Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen der Komplexität des Gegenstandes gerecht zu werden. Trotz zwischenzeitlicher Krisen, die sich anfangs an den autokratischen Verhaltensweisen des Präsidenten und später an materiellen Interessendivergenzen entzündeten, gelang es schließlich, innerhalb eines vertretbaren Zeitrahmens ein Dokument zu erarbeiten, das materiell einer „Verfassung“ durchaus nahe kam und im Konsens, also unter Verzicht auf den Ausweis von anderen Optionen, verabschiedet werden konnte.
___________ 2 Dazu zählten eine klarere Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten, der Status der Grundrechtecharta, die Rolle der nationalen Parlamente im europäischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess sowie eine Vereinfachung der Verträge.
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Fasst man die Ergebnisse der Konventsberatungen zusammen, sind die Form des „Verfassungsvertrages“, die Erarbeitung einer systematisierten Kompetenzordnung zwischen Union und ihren Mitgliedstaaten, die Vereinfachung des Norm- und Rechtsetzungsverfahrens, der Neuzuschnitt der Organe sowie die Konsequenzen für einzelne europäische Politikbereiche hervorzuheben. Der letztlich vom Konvent verabschiedete „Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa“ überführte die Regelungen von EUV und EGV in eine einheitliche Systematik und löste die bisherige Säulenstruktur der Union auf (wobei allerdings die Verfahrensunterschiede für die jeweiligen Politikbereiche im Wesentlichen übernommen wurden). Obwohl die Benennung anderes vermuten lässt, ist auch die „Europäische Verfassung“ damit ein Vertrag, der der EU zwar eine transparentere Grundordnung verleiht, die Letztverantwortung aber bei den Mitgliedstaaten belässt, also nicht im Sinne einer „Vollverfassung“ der Union überträgt. Die Forderung nach einer transparenten, effizienten und demokratischen Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten wurde insofern aufgenommen, als es zu einer Dreiteilung von Kompetenzen in „ausschließliche Zuständigkeiten“, „geteilte Zuständigkeiten“ und „unterstützende Maßnahmen der EU in Bereichen mitgliedstaatlicher Zuständigkeit“ kommt, ergänzt um eine „Kompetenzabrundungsklausel“ zur Gewährleistung von Flexibilität (Art. I-18 VVE). Diese letztgenannte Kategorie soll ein Tätigwerden der Union auch über die in Teil III des Verfassungsvertrags festgeschriebenen Befugnisse hinaus ermöglichen. Schließlich wurde ein neues Verfahren zur Einhaltung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips eingeführt und in einem Protokoll rechtlich verankert. Hier blieb bis zuletzt strittig, ob und inwieweit den nationalen Parlamenten das Recht zur Zurückweisung geplanter Kommissionsinitiativen eingeräumt und wem das Klagerecht zugestanden werden sollte. Zwar wurde eine generelle Blockademöglichkeit zurückgewiesen, zugleich aber die Kommission zur Überprüfung ihrer Initiativen auf Verlangen eines Drittels der mitgliedstaatlichen Parlamente verpflichtet. Darüber hinaus sieht der Verfassungsvertrag erstmals ein Klagerecht für den Ausschuss der Regionen vor, nicht hingegen für einzelne subnationale Gebietskörperschaften. Eine Vereinfachung des europäischen Norm- und Rechtsetzungsverfahrens war aufgrund der Intransparenz, Detailliertheit und Widersprüchlichkeit der Unionsgesetzgebung und der einzusetzenden Verfahren durchaus überfällig. So fanden sich innerhalb der drei Säulen des EUV/EGV 15 unterschiedliche Rechtsakte, die sich in ihrer Wirkung, zum Teil aber auch nur in ihrer Bezeichnung, unterschieden. Hinzu trat eine kaum mehr überschaubare Zahl von Entscheidungsverfahren. Die Forderung nach einer klaren Normenhierarchie, einer Verringerung und Umbenennung der Rechtsakte und einem konsequenten Übergang zum Mitentscheidungsverfahren war deshalb schnell konsensfähig.
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Der Verfassungsvertrag reduziert die Zahl der Rechtsakte beträchtlich und unterscheidet jetzt nur noch zwischen (Europäischem) Gesetz, Rahmengesetz, Verordnung, Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme. Auch gilt das Mitentscheidungsverfahren gemäß Art. 251 EGV bis auf die im Vertrag erwähnten Ausnahmen als Regel, während das Verfahren der Zusammenarbeit gänzlich abgeschafft wurde. Mit Blick auf die immer wieder diskutierte, dabei meist streitige und entsprechend überfällige institutionelle Reform suchte man den „Kern“ des europäischen Regierungssystems handlungs- und zukunftsfähig zu machen, seine Organe und Einrichtungen den Anforderungen einer vertieften wie erweiterten Union anzupassen. Die darauf bezogenen Empfehlungen waren schließlich durch umfassende do-ut-des-Prozesse geprägt, die in Teilen lediglich Formelkompromisse erlaubten, deren Geltungsdauer abzusehen ist (vgl. zusammenfassend Tabelle II.2 im Materialanhang). Als substantiellere Veränderungen sind die Schaffung zweier neuer Ämter – das eines hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rats und das eines Europäischen Außenministers –, eine begrenzte (mittelfristig wirksame) Struktur- und Funktionalreform der Kommission, eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments sowie die Vereinfachung der Abstimmungsverfahren im Ministerrat zu nennen. Im Übrigen blieben zahlreiche Fragen offen, kam es zu einer Reihe von Vertagungen und wurden Entwicklungsperspektiven, wie die Zusammenführung von Rats- und Kommissionspräsidentschaft, lediglich angedeutet. Unter den europäischen Politikfeldern schließlich galt der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), der Justiz- und Innenpolitik („Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts“) sowie der Wirtschafts- und Sozialpolitik das besondere Interesse. So traten zur Schaffung des erwähnten Außenministers die Einrichtung eines flankierenden Europäischen Auswärtigen Dienstes und die Begründung eines Europäischen Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten. Bleibt deren Wirken abzuwarten, ist vor allem die Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips in allen wesentlichen Fragen der GASP von Bedeutung. Zwar kann es durch eine Ausstiegsklausel oder eine engere Zusammenarbeit einzelner Staaten umgangen werden, doch verändert das die Ausgangssituation kaum: Trotz der demütigenden Spaltung, ja der Impotenz der Union im Irak-Konflikt ist die Bereitschaft zu gemeinschaftlichem Handeln in diesem Schlüsselfeld der Identifikation (und der internationalen Bewährung) noch immer gering. Im Gegensatz dazu gelang es dem Konvent, für die Justiz- und Innenpolitik einen einheitlichen rechtlichen Rahmen zu entwickeln. Das „ordentliche“ Gesetzgebungsverfahren, qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Rat und Mitentscheidung des Parlaments, wurde zur Regel erhoben. Nur in Fragen des Familienrechts mit grenzüberschreitenden Bezügen, der operativen Zusammenar-
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beit der Polizeibehörden und des Tätigwerdens im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten wurde das Einstimmigkeitsprinzip beibehalten. Hinzu trat eine Reihe negativer Kompetenzabgrenzungen in Angelegenheiten, die den Kernbereich nationaler Souveränität berühren.3 Auch die Einrichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft wurde als Möglichkeit offen gelassen; hierzu bedarf es eines einstimmigen Ratsbeschlusses und der Zustimmung des Parlaments. Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik schließlich unterliegt die Währungspolitik (der Euro-Gruppe) bekanntlich der ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeit, während die Wirtschaftspolitiken der Mitgliedsländer lediglich koordiniert werden. Die Kernbereiche der Steuer-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik sind von gemeinschaftlicher Rechtsetzung ausgenommen, wenn der Union auch – zur Verwirklichung sozialer Ziele – eine unterstützende Tätigkeit zugeschrieben wurde. Im Ergebnis führt die mangelnde Kohärenz der Aufgabenteilung bei gleichzeitig bestehenden funktionalen Verflechtungen zu den häufig beklagten suboptimalen Politikergebnissen im gemeinsamen Wirtschaftsraum. Gleichwohl konnte sich der Konvent nicht auf ein gemeinsames Vorgehen in der Sozial- und Steuerpolitik verständigen. Dies galt auch für die Empfehlung, die Methode der „Offenen Koordinierung“ in einem allgemeinen Artikel vertraglich zu verankern; allerdings wurde sie für die Bereiche Industrie, Gesundheit, Forschung und Soziales eingeführt und erlaubt damit einen „Einstieg“ in die Europäisierung weiterer Fachpolitiken, die bislang aus guten Gründen weitest gehend in nationaler Verantwortung blieben (zusammenfassend ZSE-Redaktion 2003; Hesse 2004, 2005a). Die sich an die Arbeiten des Konvents anschließende Regierungskonferenz war dann ein weiterer Beleg dafür, dass und wie europäische Politik unverändert von nationalen Egoismen geprägt und in Teilen blockiert wird. So kam es über Fragen der Stimmengewichtung im Rat zu Grundsatzkonflikten, die erst in einem mehrstufigen Verfahren im Rahmen der italienischen und der irischen Ratspräsidentschaften aufgelöst werden konnten. Die dabei erzielten Kompromisse erschienen zumindest auf Ebene der politischen Eliten tragfähig. Allerdings zeigte der sich anschließende Ratifizierungsprozess in den Nationalstaaten, dass das „Verfassungsprojekt“ nur bedingt von den „Völkern Europas“ unterstützt wird (Tabelle I.4 im Materialanhang). In der Zusammenfassung wird man die verdienstvollen Arbeiten des Konvents würdigen müssen, das Ergebnis allerdings – den Verfassungsvertrag – ___________ 3
Die nachfolgende Regierungskonferenz schwächte allerdings einige der im Konventsentwurf vorgesehenen Kompetenzübertragungen ab, etwa durch Einfügung eines „Bremsmechanismus“ im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen.
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lediglich als „Schritt in die richtige Richtung“ zu werten haben. Er stellt eine in weiten Teilen überfällige Ordnungsleistung dar. Die angestrebte „Professionalisierung“ der Europäischen Union, vor allem mit Blick auf den Rechtsrahmen, den institutionellen Kontext und die eingesetzten Verfahren, ist nur partiell erkennbar.
1.5 Ansätze zu einem europäischen „Regierungssystem“ Die Rechtsordnung der Europäischen Union erweist sich insofern als „einzigartig“, als sie nicht so umfassend wie das nationale Staats- und Verfassungsrecht, gleichwohl aber wesentlich weit reichender als das Völkerrecht angelegt ist. Faktisch delegieren die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Souveränitätsrechte an eigenständige europäische Organe und Einrichtungen. Dem darin angelegten „EU-Regierungssystem“ gilt im Folgenden das Interesse, zumal die Form und Funktion der betreffenden Organe und Einrichtungen wiederum partiell den nationalstaatlichen Repräsentativsystemen entlehnt sind. In der Gesamtheit freilich entzieht sich das Institutionengeflecht der EU-Ebene einer traditionellen Klassifikation; folgt man der politischen Systemlehre, handelt es sich am ehesten um eine Art quasi-föderalen Semi-Präsidentialismus (Knelangen 2005). So gilt das seit 1979 direkt gewählte Europäische Parlament als unmittelbare Vertretung der Bürger, während die Nationalstaaten im Europäischen Rat bzw. im Rat der EG („Ministerrat“) repräsentiert sind. Der Kommission als drittem Hauptorgan kommt die Aufgabe zu, die Gemeinschaftsinteressen zu vertreten. Ergänzt wird dieses „institutionelle Dreieck“ durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), den Rechnungshof, die Europäische Zentralbank sowie fünf sog. Nebenorgane und 18 Fachagenturen (vgl. Tabelle II.8 im Materialanhang). Im Unterschied zu nationalstaatlichen Regierungsorganen sind dabei Parlament und Rat nur bedingt als Legislative, die Kommission nur bedingt als Exekutive und der Gerichtshof nur bedingt als Judikative anzusprechen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass sich die Organe der EU, vom Gerichtshof abgesehen, nur „überwiegend“ einem der genannten Bereiche zuordnen lassen. Die Konsequenzen für eine europäische Gewaltenteilung liegen auf der Hand. Sie ergeben sich zudem aus den folgenden Kurzcharakterisierungen der „Kernorgane“ und der darin handelnden Akteure. Das Europäische Parlament (EP), das diesen Namen offiziell erst seit dem Vertrag von Maastricht trägt, hat seine Ursprünge in den 1950er Jahren. Als „Gemeinsame Versammlung“ zunächst der EGKS und dann der EG setzte es sich anfänglich aus Delegierten der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten zusammen. Seit 1979 werden die Abgeordneten auf fünf Jahre direkt von den europäischen Bürgern gewählt; es tagt aus politischen Gründen in Straßburg
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(Plenarsitzungen), Luxemburg (Generalsekretariat) und Brüssel (Ausschüsse und Fraktionen). Die Zahl der Europaabgeordneten variiert je nach Bevölkerungszahl der einzelnen Mitgliedstaaten: So stellt Deutschland als bevölkerungsreichstes Mitgliedsland 99 der derzeitigen EP-Mitglieder, deren Zahl im Vorfeld der Osterweiterung durch den Europäischen Rat von Nizza auf 732 begrenzt wurde – mit einer leichten Korrektur im Verfassungsvertrag auf ein Maximum von 750 Parlamentarier. Die nationalen Mandatskontingente mussten dabei mit jeder Erweiterungsrunde angepasst werden. Wurde das Parlament anfänglich noch proportional vergrößert, rückte die relative Sitzverteilung spätestens seit dem Vertrag von Maastricht in den Mittelpunkt der kontroversen Reformdiskussion, da das EP vor allem in den 1990er Jahren eine kontinuierliche Kompetenzerweiterung erfuhr. Gemessen an „klassischen“ Parlamentsaufgaben, der Rechtsetzungs- und der Kontrollfunktion sowie des Haushaltsrechts, hat das Europäische Parlament aber immer noch einen diskussionswürdigen Stand. Immerhin wurden die Zuständigkeiten der Europaabgeordneten, die sich entsprechend ihrer Parteifamilien in länderübergreifenden Fraktionen zusammengeschlossen haben, seit Mitte der 1970er Jahre stetig ausgebaut. So erhielt das Parlament 1970 und 1975 erste Befugnisse im Bereich des Haushalts und der Regelung der Gemeinschaftsfinanzen; 1978 folgte der Beschluss zur Direktwahl der Abgeordneten, wurde durch die Einheitliche Europäische Akte das EP im Rahmen des sog. Kooperationsverfahrens erstmals am Rechtsetzungsverfahren der Gemeinschaft beteiligt und übertrugen die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza (1992, 1997, 2000) dem EP im Rahmen des sog. Mitentscheidungsverfahrens substanzielle Einflussnahmen auf die EU-Gesetzgebung (und Rechte zur erweiterten Information mit Blick auf die GASP und ZJIP). Der Verfassungsvertrag schließlich sieht eine erneute Ausweitung der parlamentarischen Mitentscheidungsrechte vor. Diese sukzessive Stärkung des EP lässt sich allerdings nicht nur anhand der Entwicklung der Legislativfunktion ablesen. Auch im Bereich des Haushaltsrechts ist das Parlament inzwischen ein zentraler Akteur. Es ist (mittelbar) an der Aufstellung, Beratung und Verabschiedung des EU-Haushalts beteiligt und entscheidet zudem über Ausgaben, die nicht durch die EU-Verträge vorgeschrieben sind. Dies gilt etwa im Rahmen der europäischen Forschungs-, Sozial- und Regionalpolitik. Überdies kann das Parlament den Haushaltsplan insgesamt ablehnen,4 ein Recht, von dem es 1979 und 1984 bereits Gebrauch machte. Schließlich ist es seit 1988 auch an der mehrjährigen Haushaltsplanung be___________ 4
Dies gilt nicht für die sog. „obligatorischen Ausgaben“ (vgl. 5. Kapitel, 1.).
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teiligt und überwacht die Haushaltsdisziplin der anderen Organe. Nach dem Verfassungsvertrag soll das Parlament künftig in allen Phasen der EU-Haushalts- und Finanzplanung – also der Ausarbeitung der allgemeinen Finanz- und Haushaltsgrundsätze, der Mittelfestlegung, der mehrjährigen Finanzplanung sowie der jährlichen Aufstellung, Beratung und Verabschiedung des EU-Haushalts – maßgeblich beteiligt sein. Von seiner anfänglichen Machtlosigkeit gegenüber der Kommission als „europäischer Exekutive“ hat sich das Parlament nach und nach zu einem den Namen verdienenden Kontrollorgan entwickelt. So kann es die Kommission aufgrund eines Misstrauensvotums stürzen und muss der Ernennung des Kommissionspräsidenten und der Kommissare zustimmen. Nach dem Verfassungsvertrag ist sogar vorgesehen, dass das EP künftig den Kommissionspräsidenten auf der Grundlage eines Vorschlags des Europäischen Rates wählt; die Diskussionen um die Zusammensetzung der Barroso-Kommission waren ein erster Indikator dafür, wie das EP den zusätzlichen Machtgewinn einzusetzen weiß. Die Ausweitung der Parlamentsbeteiligung an der Willensbildung und Entscheidung dürfte nicht nur von einer verstärkten öffentlichen Aufmerksamkeit begleitet sein, sie beinhaltet darüber hinaus auch die Notwendigkeit einer effizienten Organisationsstruktur. Mit Blick hierauf gliedert sich das EP – ähnlich den nationalen Parlamenten – in 17 ständige und sechs nichtständige Ausschüsse. Das Spektrum der Ausschussarbeit, die im Wesentlichen der inhaltlichen Vorbereitung der Plenarsitzungen dient, reicht vom Bereich Auswärtige Angelegenheiten bis hin zu Fragen der Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherpolitik. Auch wenn das EP heute angesichts seiner Kompetenzausstattung als ein Kernorgan der EU gelten kann, ist nach wie vor streitig, inwieweit es als „europäische Volksvertretung“ zu charakterisieren ist. Einer solchen Kennzeichnung widerspricht die ungleiche Repräsentation der EU-Bevölkerung – unter dem Stichwort „Demokratiedefizit“ vielfach diskutiert (grundlegend Kielmansegg 2003) – ebenso wie die zentrale Stellung des Ministerrats bzw. des Europäischen Rats, vor allem im Rahmen der Gesetzgebung und bei Grundsatzentscheidungen. Eine erweiterte „Professionalisierung Europas“ muss sich dieser Frage schon aus legitimatorischen Gründen zuwenden. Der Europäische Rat berät und beschließt über „Weichenstellungen“ der europäischen Entwicklung. Er setzt sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten der EU-Kommission zusammen. In den EG-Verträgen zunächst nicht erwähnt, tagt er ausgehend von einer Initiative des damaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing seit 1974 mindestens zweimal jährlich. Im Zuge der Einführung der GASP in Maastricht fand der Europäische Rat erstmals vertragliche Anerkennung und stellt eine eigenständige Institution dar. Seine Rolle und Funktion wandelte sich im Laufe seiner Tätigkeit. Ursprünglich als eher informelles Gremium an-
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gelegt, innerhalb dessen sich die politische Führung der EU-Staaten periodisch über wesentliche Fragen der europäischen Integration austauscht, wurde er rasch zur zentralen Entscheidungsinstanz bei der Reform des europäischen Vertragswerks. Dies gilt vor allem für die bereits angesprochenen Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza sowie für die Arbeit des EU-Konvents bzw. den Verfassungsvertrag. Angesichts der immer enger werdenden zeitlichen Abfolge der benannten Revisionen dokumentierte sich darin allerdings auch ein eher exekutives, gleichsam oligarchisches Politikmodell, das die Integration „von oben“ vorantreibt. Zwar wären zentrale Integrationsschritte ohne die enge Kooperation der Staats- und Regierungschefs so sicher nicht erfolgt, doch stellte sich der Europäische Rat mit der Häufung „geschichtsträchtiger Entscheidungen“ in seiner Funktion als Weichensteller des europäischen Einigungsprozesses bisweilen selbst in Frage. Darüber hinaus kommt der halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten rotierenden Ratspräsidentschaft eine wichtige Funktion im Bereich der GASP zu. Sie koordiniert nicht nur die EU-Außenpolitik zwischen den Mitgliedstaaten (und bereitet entsprechende Beschlüsse vor), sondern vertritt die Union auch nach außen (Art. 18 EUV). Vor dem Hintergrund wachsender außenpolitischer Anforderungen seit Mitte der 1990er Jahre sind diese Regelungen jedoch zunehmend in Kritik geraten. Zwar stellte das Rotationsprinzip im Bereich der GASP eine gleichberechtigte Verantwortungsteilung zwischen allen Mitgliedstaaten sicher, was insbesondere für kleine Mitgliedstaaten bedeutsam war, doch erwies sich der schnelle Wechsel der Ratspräsidentschaft insofern als unglücklich, als der EU in ihrer Außenwahrnehmung ein beständiger Ansprechpartner fehlte. Die Hoffnung, dieses organisatorische Defizit durch die Zusammenführung des Amtes des Generalsekretärs des Rates mit dem durch den Amsterdamer Vertrag geschaffenen Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik („Mr. GASP“) zu lösen, erwies sich als trügerisch, zumal die „verwirrende“ Situation in der Außenvertretung der EU noch dadurch verstärkt wurde, dass auch je ein EU-Kommissar für Außenbeziehungen und Außenhandelspolitik zuständig war. Der Verfassungsvertrag sucht hier insofern Abhilfe zu schaffen, als er eine auf zweieinhalb Jahre verlängerte Amtszeit des Ratspräsidenten vorschlägt, eine der schon allein „technischen“ Professionalisierung dienende Innovation. Der Ministerrat, mit Sitz in Brüssel, bildet das Vertretungsorgan der nationalstaatlichen Interessen. Als nach wie vor wichtigstes Entscheidungsgremium der Union setzt er sich aus Repräsentanten der Mitgliedstaaten auf Ministerebene zusammen. Die Formation des regelmäßig tagenden Rates wechselt themenbezogen (Rat für Auswärtige Angelegenheiten, für Finanzen, für Agrarpolitik etc.). Zu seinen Hauptaufgaben zählen die Koordinierung der (allgemeinen) Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, die Haushaltsbefugnis, die er sich
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mit dem Europäischen Parlament teilt, der Abschluss internationaler Verträge, die Entscheidungsfindung zu einzelnen politischen Fragen im Bereich der GASP anhand der vom Europäischen Rat vorgegebenen allgemeinen Orientierungen, die Koordinierung des Vorgehens der Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit sowie die Verabschiedung gemeinsamer Maßnahmen in diesem Bereich. Seine Funktion als Legislativorgan nimmt der Rat in einer Vielzahl von Gemeinschaftsbereichen, in Teilen gemeinsam mit dem Europäischen Parlament, wahr. Er kann Rechtsakte erlassen oder sie verzögern, wird aber nur dann tätig, wenn ihm ein entsprechender Entwurf der Kommission vorliegt. Dieser gelangt zunächst in den Ausschuss der Ständigen Vertreter, wo versucht wird, nationalstaatliche Interessengegensätze auszuräumen. Die Beschlüsse des Ministerrats können mit einfacher Mehrheit, mit qualifizierter Mehrheit oder einstimmig erfolgen. Während bei einstimmigen Beschlüssen oder einfachen Mehrheitsbeschlüssen jedes Land eine Stimme hat, verfügen die Länder bei Beschlüssen mit qualifizierter Mehrheit über unterschiedliche Stimmengewichte. Diese schwanken gemäß den in Nizza vereinbarten Regeln. Aufgrund der eminent politischen Bedeutung war die relative Stimmengewichtung zwischen den Mitgliedstaaten stets umstritten und wurde vor jeder Erweiterung neu diskutiert. Um im Falle qualifizierter Mehrheitsentscheidungen einer Majorisierung einzelner Mitgliedstaaten im Ministerrat vorzubeugen, sieht der Verfassungsvertrag ein „doppeltes Mehrheitskriterium“ vor. Demnach soll für jene Rechtsakte, die bislang einer qualifizierten Mehrheit bedurften, ein Zustimmungsquorum von sowohl 55% der Mitgliedstaaten (jedoch mindestens 15 Staaten) als auch von mindestens 65% der gesamten EUBevölkerung gelten. Die Europäische Kommission, die derzeit 25 Mitglieder umfasst (vgl. Tabelle II.7 im Materialanhang), vertritt als „Exekutive“ der Union nicht nur das Gemeinschaftsinteresse, sondern fungiert traditionell auch als „Motor“ der europäischen Integration. Neben der Ausführung europäischer Rechtsakte, deren Einhaltung sie als „Hüterin der Verträge“ zusammen mit dem Europäischen Gerichtshof überwacht, vertritt die Kommission die EU-Staaten in handelspolitischen Fragen auf internationaler Ebene und besitzt vor allem das ausschließliche Initiativrecht im Rahmen der Gemeinschaftsgesetzgebung. In materieller Hinsicht zählen zu den Exekutivrechten der Kommission insbesondere die Haushaltsaufstellung sowie die Verwaltung der Strukturfonds (s. hierzu 2. Kapitel, 4.). Daneben verfügt die Kommission über eine Reihe von Kontrollrechten, die Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof einschließen. Seit In-KraftTreten des Maastrichter Vertrages ist sie zudem „in vollem Umfang“ an der GASP beteiligt (Art. 18 EUV), und mit der 1997 in Amsterdam beschlossenen Überführung von Teilen der Innen- und Justizpolitik in die sog. „erste Säule“
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des Vertragswerks wird ihr seit 2004 das ausschließliche Initiativrecht in allen „vergemeinschafteten“ Bereichen der ZIJP zugestanden (Art. 67 EGV). Ähnlich wie die Mandatsverteilung im Europäischen Parlament und die Stimmengewichtung im Ministerrat spiegelt die formale Zusammensetzung der Kommission die Machtinteressen der Mitgliedstaaten wider. Infolge der bisherigen Regelung, der zufolge die großen Mitgliedstaaten je zwei und die kleineren je einen Kommissar stellen durften, vergrößerte sich die Kommission im Laufe der Erweiterungsrunden zunehmend. Da die Fortschreibung dieser Regel angesichts der Osterweiterung aus Funktionalitätsgründen nicht aufrecht zu erhalten war, versuchten sich zunächst die Staats- und Regierungschefs in Nizza (2000) an einer konsensfähigen Lösung. Demnach sollte jeder Mitgliedstaat nach der Erweiterung nur noch einen Kommissar stellen, zudem wurde eine Obergrenze von 27 Kommissaren und – für den Fall nachfolgender Erweiterungen – ein nicht näher bestimmtes Rotationsverfahren festgeschrieben. Der EU-Konvent sah in seinem Verfassungsentwurf dagegen eine stärker differenzierte Lösung vor. Demnach würde die Zahl der Kommissare mit Beginn der sechsten Amtsperiode des Europäischen Parlaments (November 2009) auf 15 begrenzt. Die dann erfolgende Neubestimmung der Kommissionsmitglieder sollte auf Basis einer „gleichberechtigten Rotation“ (Art. I-25 Abs. 3 VVEKonvent) erfolgen, wobei das „demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten“ (ebd.) zu berücksichtigen ist. Die Regierungskonferenz legte demgegenüber eine Verkleinerung der Kommission auf zwei Drittel der Mitgliederzahl fest. Mit Blick auf die Auswahl der Kommissare lässt sich im Übrigen eine gewisse „Parlamentarisierungstendenz“ erkennen. Während die Kommissionsmitglieder ursprünglich von den Regierungen der Mitgliedstaaten vorgeschlagen und eingesetzt wurden, änderte der Vertrag von Amsterdam diese Praxis insofern, als die Regierungen zwar weiterhin den Kommissionspräsidenten ernennen und im Einvernehmen mit diesem die übrigen Kommissare bestimmen, das Europäische Parlament aber der Wahl des Präsidenten zustimmen und die Kommission als Kollegium förmlich im Amt bestätigen muss. Der Vertrag von Nizza baute die Einflussmöglichkeit des EP im Rahmen eines dreistufigen Ernennungsverfahrens dann weiter aus: Demnach bestimmt zunächst der Rat mit qualifizierter Mehrheit den Kommissionspräsidenten, nach Zustimmung des EP nimmt er dann eine in Einvernehmen mit dem designierten Präsidenten erarbeitete Liste der weiteren Kommissare an, schließlich wird die gesamte Kommission zunächst vom Parlament und dann vom Rat bestätigt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) schließlich „sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ (Art. 220 EGV). Dabei stellt er aufgrund einer Klage eines Mitgliedstaates, eines EU-Organs, eines Unternehmens oder eines EU-Bürgers fest, ob in einem Einzelfall gegen gel-
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tendes Gemeinschaftsrecht verstoßen wurde; er entscheidet auch über die Auslegung des Vertragstextes. Der EuGH gestaltet somit europäisches Recht und bewahrt es zugleich. Seine Urteile sind als letztinstanzliche Rechtsprechung unanfechtbar. Allerdings war er bis zum Maastrichter Vertrag auf die Bereitwilligkeit der Mitgliedstaaten angewiesen, seinen Urteilen Folge zu leisten. Erst der modifizierte Art. 228 des EG-Vertrages erlaubt es dem EuGH seit 1993, den Anspruch übergeordneten europäischen Rechts durch die Verhängung von Zwangsgeldern zu unterstreichen. Die Bedeutung des EuGH ist in den letzten Jahren zweifellos gewachsen. Dies gilt vor allem für sog. VorabEntscheidungen, die dann ergehen, wenn ein nationales Gericht nicht zu klären vermag, ob neben nationalem auch europäisches Recht verletzt wurde, und den EuGH um entsprechende Entscheidung ersucht. Diese ist für das nationale Gericht dann bindend. Die derzeit fünfzehn Richter des EuGH werden auf sechs Jahre ernannt, ebenso die acht Generalanwälte. Während an der Zahl der Generalanwälte, die im Übrigen durch einstimmigen Beschluss des Rates erhöht werden kann, auch im Vertrag von Nizza festgehalten wurde, sieht letzterer vor, dass der Gerichtshof aus „einem Richter je Mitgliedstaat“ (Art. 221 EGV) besteht. Der faktische Stellenwert des EuGH lässt sich nicht zuletzt aus der vermehrten Inanspruchnahme des Gerichtes ablesen. So wurden zwischen 1952 und 2003 12.963 Rechtssachen anhängig und 6.090 durch Richterspruch entschieden (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften 2004). Um der drohenden Überlastung des Gerichtshofs zu entgegnen, einigte man sich im September 1989 darauf, ein Gericht erster Instanz (EuG) zu schaffen, das für Klagen von natürlichen und juristischen Personen gegen Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen zuständig ist. Bei einer Beurteilung des EuGH dürfte unstrittig sein, dass er sich in beträchtlichem Ausmaß zu einem „Motor“ des Integrationsprozesses entwickelt hat. Die verständliche, wenn auch materiell nicht immer nachvollziehbare integrationsfreundliche Haltung hat ihm dabei den Vorwurf des „Richterrechts“ eingebracht. Gleichwohl: Auch der EuGH und seine Vertreter müssten mit zunehmender „Reife“ des EU-Institutionensystems über jene Souveränität verfügen, die auch eine Einschränkung des eigenen Gestaltungsraums einbezieht. Anderenfalls ist nicht auszuschließen, dass das latent immer konfliktreiche Verhältnis zu den nationalen Verfassungsgerichten sich zugunsten der letzteren wandelt. Die Spruchpraxis des nicht zuletzt aufgrund seines Einflusses auf die mittel- und osteuropäischen Verfassungsgerichte bedeutenden Bundesverfassungsgerichts bedarf hier besonderer Beachtung. In der Zusammenfassung erweist sich das „EU-Regierungssystem“ als gleichsam schrittweise entwickelt. Einen Vergleich mit „klassischen“ Modellen der Gewaltenteilung hält es noch nicht aus, zumal zahlreiche Funktionsdefizite
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und „Schnittstellen“ seine Arbeit kennzeichnen. Andererseits ist unverkennbar, dass die einzelnen Integrationsschritte Verbesserungen erbrachten, sei es aufgrund einer leistungsfähigeren Funktions- und Arbeitsteilung, sei es im Gefolge einzelner Politiken, die auf eine Komplementarität von nationalstaatlichen und europäischen Einrichtungen zielten. Insofern hat die eingangs benannte „schrittweise Professionalisierung“ auch die institutionelle Struktur der EU geprägt. Daraus resultiert ein deutlicher Unterschied zwischen den politischadministrativen Ebenen: Während die Nationalstaaten Europas umfangreiche Reformpolitiken eingeleitet haben, die in der Regel auf umfassenden Aufgabenkritiken und dem nachfolgenden Funktionalreformen basieren, steht eine solche grundlegende Erörterung für die europäische Ebene noch immer aus. Wie jedoch gezeigt wurde, sind die normativen wie funktionalen Grenzen der „Europäisierung“ zu einem beträchtlichen Teil historisch bedingt. Waren die Integrationsziele zunächst vergleichsweise deutlich umrissen (containment Deutschlands; wechselseitige Wohlfahrtsgewinne durch einen integrierten Wirtschaftsraum und einen auszubildenden Gemeinsamen Markt), differenzierten sich die Interessen der am „europäischen Projekt“ beteiligten Staaten im Zeitverlauf immer weiter aus, so dass die friedliche Einigung Europas als eigentliche „Finalität“ aus dem Blickfeld zu geraten schien. Die dabei zutage tretenden konträren europapolitischen Ideen waren und sind von den Staats- und Verwaltungstraditionen sowie den institutionellen „Erfahrungen“ der einzelnen EU-Mitgliedstaaten geprägt (Jachtenfuchs 2002). Sie dominieren auch heute noch strategische Überlegungen in konkreten Verhandlungs- und Entscheidungssituationen, stellen mithin einen erneuten Hinweis darauf dar, dass und wie stark Traditionen und kulturelle Voraussetzungen (im weiteren Sinne) der Mitgliedstaaten das „europäische Haus“ tragen. Die immer wieder betonte „sui generis“-Natur der Union ist demgegenüber ein eher theoretisches Konstrukt, nicht selten exkulpativ, also zur Abwehr nationalstaatlicher Interessen eingesetzt.
2. Europa professionalisieren: die EU zwischen aktuellen Herausforderungen und strukturellem Reformbedarf Die Nachzeichnung des europäischen Integrationsprozesses seit 1945 sollte deutlich gemacht haben, dass die EU trotz substantieller Fortschritte in Teilbereichen noch immer weit davon entfernt sein dürfte, jene „supranationale Organisation“ darzustellen, als die sie sich den „Völkern Europas“ präsentiert. Zu ungleichgewichtig der rechtliche Rahmen, zu vorläufig die institutionellen Arrangements, zu „zeitbezogen“ die eingesetzten Verfahren und Instrumente. Dies erklärt, warum im Folgenden einer „Professionalisierung Europas“ das
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Wort geredet wird – als funktionsfähiger Handlungsrahmen, durchgängige Sicherungsleistung und legitimatorische Grundlage.
2.1 Territorialfrage: undefinierte Finalität – an den Grenzen der Erweiterung Blickt man auf die gegenwärtige Ausgangssituation, steht der europäische Einigungsprozess einmal mehr am „Scheideweg“. Während die Wirtschaftsund Währungsunion mit der Einführung des Euro als vollzogen gilt, der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder erfolgt ist und ein „Europäischer Verfassungsvertrag“ die Ergebnisse des skizzierten iterativen Prozesses in ein kohärentes Ganzes zu überführen sucht, unterliegen weitere zentrale Integrationsschritte einer fast simultanen Diskussion: Das reicht von einer substantiellen Reform der Organe und Einrichtungen bis hin zur Überprüfung der Einnahmen- und Ausgabenstruktur, einer Neuausrichtung der „großen Politikbereiche“ und einer transparenten wie effizienten Arbeitsteilung zwischen Union, Nationalstaaten und subnationaler Ebene. Dabei mischen sich selbst- und fremderzeugter Handlungsdruck, treten aktuelle (vor allem außen- und sicherheitspolitische) zu grundsätzlichen (wirtschafts- und sozialpolitischen) Problemen, werden Unsicherheiten deutlich, die Kritiker als Ausdruck einer sich selbst überfordernden Union interpretieren. Da eine Phase der Status-quo-Orientierung und der Besitzstandswahrung ausscheidet, rächt sich, dass grundlegende Fragen zur europäischen Entwicklung bis heute unbeantwortet blieben. Es sind vor allem die Probleme des territorialen Zuschnitts, der konstitutionellen Form, der vertikalen wie horizontalen „Lasten(ver)teilung“ sowie der politischen Identität der Union, die im Rahmen dieser Diskussion von Bedeutung sind. Zwar könnte es scheinen, als ob nach den Arbeiten des Verfassungskonvents und dem vorgelegten Vertrag die „Finalitätsfrage“ nicht mehr aktuell ist, doch verweisen der kontrovers diskutierte Türkeibeitritt, das künftige Verhältnis zur Ukraine und Weißrussland oder auch die Stellung und Funktion der EU im Rahmen der Nahostpolitik auf ungeklärte Probleme. Dass die Außengrenzen der Europäischen Union als schwer bestimmbar gelten (und Politiker dieser Frage seit Anbeginn ausweichen), ist inzwischen nur noch historisch erklärbar. Heute dürfte und sollte die territoriale Gestalt der EU als definiert gelten: durch die gegenwärtigen (25) Mitgliedstaaten, die Beitrittskandidaten in Mittel- und Osteuropa, also Rumänien, Bulgarien und ggf. Kroatien, sowie die Türkei. Mit Ausnahme der weiteren aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangenen Balkanstaaten stellen sich Territorialfragen nicht mehr wirklich, es sei denn, die Union glaubt, sich endgültig eine Überdehnung ihres Territoriums und damit eine Einschränkung ihrer Leistungsfähigkeit zu-
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muten zu können. Auch für supranationale Einrichtungen und der damit meist verbundenen Verpflichtung zum großflächigen ökonomischen wie sozialen Disparitätenabbau gelten Fragen nach der „optimalen“ – oder auch nur: noch beherrschbaren – Betriebsgröße, sie schließen besondere Kooperationsabkommen mit weiteren Nachbarn nicht aus. Gleichwohl haben sich die Vertreter der Kommission (und ihnen vorangehend oder nachfolgend des Europäischen Rates) offenbar entschlossen, eine „variable Geometrie“ der europäischen Entwicklung zuzulassen, differenzierten Integrationsvorstellungen nachzufolgen. Ob dies eine „kluge“ Entscheidung war, dürfte erst im Verlauf der kommenden Jahre erkennbar werden. Die derzeit wahrnehmbaren politischen „Manöver“, etwa in Frankreich die Zustimmung zum Verfassungsvertrag mit der Frage des Türkei-Beitritts zu verbinden (oder im Gegenteil die beiden Fragen zu „entkoppeln“), machen einmal mehr deutlich, wie stark die Weiterentwicklung der Europäischen Union von innenpolitischen Problemstellungen und Polarisierungen geprägt ist. Es hätte der gegenwärtigen Politikergeneration gut angestanden, die Finalitätsfrage im Rahmen des Europäischen Verfassungsvertrages als zumindest vorläufig beantwortet zu erklären, zu situative, zu „angepasste“ und damit die Glaubwürdigkeit aufs Spiel stellende Reaktionen, wie etwa im Fall der Ukraine, zu überdenken. Ein Europa „à plusieurs vitesses“, „variable Geometrien“ oder auch Formen differenzierter Integration stellen letztlich „Kopfgeburten“ dar, sie sind sicher keine Antwort auf die sich gegenwärtig stellenden Probleme. Auch „Drohgesten“, Versuche, zögerliche Nachbarn „mitzunehmen“, bedürfen der Überprüfung. Die Europäische Union hat hinsichtlich ihrer territorialen Ausdehnung, der Bevölkerungsdichte, des ökonomischen Potentials und der sozial-kulturellen Probleme eine Komplexität erreicht, die bereits heute die Steuerungsfähigkeit der Akteure im politischen und ökonomischen Bereich übersteigt. Eine zumindest latente Konsolidierung des Erreichten wäre mithin eine durchaus verfolgenswerte Strategie. 2.2 Form und Funktion: Freihandelszone, Staatenbund, Bundesstaat? Auch die konstitutionelle Form der Europäischen Union (von einer Freihandelszone über eine Konföderation zu einem Staatenbund und schließlich einem Bundesstaat) unterliegt ungeklärter Diskussion. Zwar weist die EU in ihrer gegenwärtigen Gestalt deutliche Züge eines Bundesstaates auf (und deuten zahlreiche der strukturellen Merkmale ihres „Regierungssystems“ in eine solche Richtung), doch verblieb dies bislang ohne Konsequenzen, auch im Rahmen der Verfassungsdebatte. Behindert durch die unterschiedlichen Staatstraditionen und die divergierenden Erfahrungen in unitarischen wie föderalstaatlichen Systemen kommt es auch weiterhin zu einer eher „induktiven Vergemeinschaf-
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tung“ – in Verbindung mit den dann erkennbaren „Konkretisierungen“ durch die Kommission und einschlägige Entscheidungen des EuGH. Zwar erwies sich dieses Vorgehen in den Anfangsjahren der Integration als durchaus probates Mittel zum schrittweisen Aufbau eines Gemeinsamen Besitzstands, doch muss die so entwickelte europäische Rechtsordnung heute – auch nach den Vereinfachungsansätzen im Verfassungsvertrag – als intransparent bezeichnet werden. Institutioneller Rahmen und Rechtsordnung bedürfen auch weiterhin der konsequenten Fortentwicklung und Zusammenführung; sie tragen noch immer „vormoderne“ Züge. Während es dabei horizontal um eine demokratische Gewaltenteilung zwischen den Organen und Einrichtungen der Europäischen Union geht, sind es vertikal Fragen des künftigen Verhältnisses der Gebietskörperschaften zueinander, und hier nicht nur zwischen der EU und den National- wie Gliedstaaten, sondern auch zwischen Groß und Klein, Alt und Neu, Ost und West oder auch Nord und Süd. Dies berücksichtigend, stellen die erkennbaren Empfehlungen zur institutionellen Reform, zur Kompetenzordnung oder zu einzelnen Verfahrensschritten zweifellos einen Fortschritt dar, nähert man sich einer „institutionellen Balance“, nicht zuletzt durch die Anerkennung der Grundsätze der begrenzten Einzelzuständigkeit, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Allerdings bleibt es bei einer „Annäherung“ insofern, als der sui-generis-Charakter der Europäischen Union – wie angesprochen – als exkulpative Chiffre für Kompromisse dient, die weder demokratietheoretisch noch funktional tragen. Immerhin könnten die Beteiligten mit den aus den Verfassungsberatungen resultierenden Empfehlungen offenbar leben: das Europäische Parlament aufgrund des benannten Bedeutungszuwachses, der Rat durch die Schaffung des Präsidentenamtes und die Zusprechung des Organstatus, die Kommission infolge der Abwehrung nachhaltigerer Restriktionen. Natürlich: Von einer deutlichen Funktionstrennung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative kann noch immer nicht die Rede sein, wird es im Verfassungsvergleich zu ernüchternden Ergebnissen kommen – und doch: Erstmals wird erkennbar, dass und wie die Union künftig funktionsfähig sein könnte, wo Aufgabenausweitung oder Selbstbescheidung angezeigt sind und welche Instrumente zur Verfügung stehen. Dass dies noch nicht „passgenau“ ist, sollte ebenso wenig verwundern wie der permanente Wunsch insbesondere kleinerer EU-Mitgliedstaaten, einen einmal gefassten Konsens beizubehalten oder aber ihre Interessenlagen gesondert zu berücksichtigen. In solchen Initiativen dokumentiert sich weniger Obstruktionspolitik, als vielmehr die Angst vor Identitätsverlust, einer die Existenz bedrohenden Integration. Die konstitutionelle Form bleibt jedoch weiterhin ungeklärt. Auch hierzu ließ der Prozess der Verfassungsgebung konkrete Aussagen vermissen. Dass die sprunghafte, in Teilen durchaus „anarchische“ Entwick-
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lung der Europäischen Union solches nahe legt, bedarf kaum der Begründung. Die dem nachfolgenden Klagen über punktuelle (und widersprüchliche) Rechtsgrundlagen, heterogene Akteursstrukturen, ungleiche Interessenberücksichtigung und defizitäre Politikergebnisse sind in der Tat Legion. Ihnen wäre man wohl nur „entkommen“, wenn man sich auch den „programmatischen“ Teilen der Verfassung deutlicher zugewandt hätte; dem aber entzog sich der Konvent in weiten Teilen. Auch hier verbleibt deshalb der Auftrag zur Konsolidierung, insbesondere zu einer „Bündelung“ im Rahmen der horizontalen und vertikalen Kompetenzordnung; die angesprochene „Aufgabenkritik“ gewinnt an Gewicht.
2.3 Horizontale und vertikale Verteilungskonflikte Sucht man den erkennbaren Mangel an „Professionalität“ weiter zu substantiieren, bildet die Intensität der horizontalen wie vertikalen Verteilungskonflikte ein Schlüsselproblem europäischer Politik. Zwar wurde deutlich, dass man sich unter Berücksichtigung von Zielen wie „Transparenz“ und „Effizienz“ einem Abbau der damit verbundenen Funktionsdefizite zuzuwenden suchte, doch blieb das Ergebnis durchaus diskussionswürdig. Mit Blick auf eine verstärkte Transparenz ging es zunächst um eine „Vereinfachung der Verträge“, die – wie aufgezeigt – auch die „Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union“ als Themenschwerpunkt des Post-Nizza-Prozesses benannte. Einen gewissen Ausgangspunkt hierfür bot ein vom Europäischen Hochschulinstitut in Florenz erarbeiteter und von den sog. „Drei Weisen“ im Wesentlichen bestätigter Entwurf (Europäisches Hochschulinstitut 2000), der vorsah, „die vorhandenen Vertragstexte in zwei Teile aufzuspalten: Der grundlegende Vertrag würde nur die Ziele, die Grundsätze und die allgemeinen politischen Leitlinien, die Bürgerrechte und den institutionellen Rahmen enthalten“, während „ein getrennter Text [...] die anderen Vorschriften der derzeitigen Verträge enthalten“ sollte (vgl. Weizsäcker/Dehaene/Simon 2001). Dass einer der benannten „Weisen“ – der ehemalige belgische Ministerpräsident Dehaene – dann in Laeken zum Vizepräsident des Verfassungskonvents ernannt wurde, gab dieser Handlungsoption zusätzliches politisches Gewicht. Allerdings reicht eine bloß formale Vertragsvereinfachung sicher nicht aus, um dem Gebot verstärkter Transparenz zu genügen. Gerade weil es um horizontale wie vertikale Verteilungskonflikte geht, ist für jeden Politikbereich gesondert zu überprüfen, inwieweit die jeweiligen Zuständigkeiten von Union und Mitgliedstaaten hinreichend präzise geregelt sind. Nur auf einer solchen Basis dürfte eine nachvollziehbare, zukunftsfähige Arbeits- und Verantwortungsteilung in Europa zu entwickeln sein. Dabei ist der auch in der europapolitischen Diskussion verwendete Begriff der
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„Kompetenzordnung“ durchaus zutreffend gewählt – in Analogie zu jenen bereits angesprochenen Bemühungen um eine „Aufgabenkritik“, wie sie sich etwa in der Bundesrepublik auf allen gebietskörperschaftlichen Ebenen, also von den Gemeinden über die Länder bis hin zum Bund, finden. Noch wichtiger freilich als die Transparenz einer funktional wie normativ tragfähigen Kompetenzordnung ist für die erkennbaren Verteilungsprobleme eine nachhaltige Effizienz. Letztlich geht es mit dieser an sich selbstverständlichen Forderung auch darum, dass die Organe und Einrichtungen der Europäischen Union offener werden gegenüber Anregungen, die in der gegenwärtigen Diskussion um die Reform des öffentlichen Sektors in den Nationalstaaten eine beträchtliche Rolle spielen und Verteilungskonflikte versachlichen könnten. Deshalb sollten Überlegungen zum Kostenbewusstsein und zur Kostenkontrolle ebenso wie eine wirksame Wahrnehmung von Aufsichtspflichten zentrale Bestandteile der europäischen Agenda sein. Wenn die Aufgaben je nach spezifischer Leistungsfähigkeit den einzelnen Ebenen und Einrichtungen klar zugewiesen würden, wären funktional unsinnige und normativ fragwürdige „Überlappungen“ und „Schnittstellen“ nicht mehr vom europäischen Primärrecht „gedeckt“. Dies gilt gleichermaßen in vertikaler wie horizontaler Sicht. In vertikaler Perspektive ist etwa an jene zahllosen Ausschüsse und Gremien in „verflochtenen“ Aufgabenfeldern zu denken, die im Zuge einer Neuordnung der Zuständigkeiten zurückzuführen wären. In horizontaler Sicht geht es nicht nur um die materiellen wie personellen Überschneidungen bei der Außenvertretung der Union (ein freilich besonders sichtbares Problem), sondern vor allem auch um Doppelzuständigkeiten, Ressourcenverschleiß und, horribile dictu, durchaus materielle Inkompetenz bei der Verfolgung einzelner Politiken. Gerade die operative Ebene der Kommission bedarf kontinuierlicher Beobachtung und Überprüfung; die zwischenzeitlich gewachsenen Kontrollrechte des Parlaments reichen hier im Alltag europäischer Politik noch nicht aus. Für eine sinnvolle Neuordnung der Zuständigkeiten in Europa ist von zentraler Bedeutung, dass das Verständnis von „Kompetenzabgrenzung“ nicht zu eng auf das Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten bezogen wird. Ausgeblendet blieben so nicht nur binnenstaatliche Prozesse, es würden vielmehr auch horizontale Fragen des Kompetenzzuschnitts vernachlässigt. So drohte sich eine punktuelle, nationalstaatliche Unterschiede kaum berücksichtigende Politik fortzusetzen, die zudem das konstitutive Zusammenwirken der EU-Organe als bestenfalls vor- oder nachgelagert begreift. Hier erscheint es angezeigt, vor allem aus jenen – insgesamt allerdings ambivalenten – Erfahrungen zu lernen, die die Föderalstaaten in den europäischen Formationsprozess einbringen können. Zwar hat sich zum einen gezeigt, dass bundesstaatlich organisierte Systeme macht- und gewaltenteilend, mithin politisch stabilisierend und durchaus auch friedensstiftend wirken, doch verbinden sich andererseits damit auch dis-
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kussionswürdige Prozesse. So gilt der deutsche („kooperative“) Föderalismus heute vor allem deshalb als schwerfällig und wenig reagibel, weil er zu viele Verflechtungstatbestände schuf, die die Ausrichtung am Status quo begünstigen, notwendige Reformen behindern und eine klare Verantwortungszuordnung verschleiern. „Politikverflechtung“ zwischen den Ebenen, so kooperativ sie auch sein mag, ist zweifellos mit kontraproduktiven Effekten verbunden: von der Besitzstandswahrung über einen erweiterten Ressourcenverschleiß bis hin zu Prozessen der Nicht-Diskriminierung und des Eingriffsverzichts. Solche Erfahrungen sind für die europäische Kompetenzordnung nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil sich in der überwiegenden Mehrzahl der Politikfelder zwischen der Union und den Mitgliedstaaten/Regionen geteilte Zuständigkeiten finden, sich über die Jahre eine europäische Politikverflechtung herausgebildet hat (vgl. Hesse 2000; siehe auch Tabelle I.1 im Materialanhang). Von daher bietet es sich an, die unbestreitbaren Vorteile bundesstaatlicher Organisation mit einer möglichst konsequenten Aufgabentrennung Vereinfachung des Regierungs- und Verwaltungshandelns zu verbinden, der Metapher „Vereinfachung wo möglich, Verflechtung wo nötig“ als Leitsatz nachzufolgen. Vereinfachung meint dabei, eine zwischen den Ebenen jeweils getrennte Aufgabenwahrnehmung dann vorzusehen, wenn sich diese als sinnvoll und machbar erweist, und verflochtene Formen der Problembewältigung nur dann zuzulassen, wenn hierfür funktional oder normativ unabweisbare Bedarfe vorliegen. So gelänge es auch, das ubiquitär geforderte, aber operativ kaum Berücksichtigung findende Subsidiaritätsprinzip wirksam werden zu lassen. Folgt man dieser Argumentation, die an zahlreiche eher theoretische Überlegungen zum (vermeintlichen) Vorteil von Trenn- gegenüber Verbundsystemen anschließt (ohne sie gleichsam dogmatisch zu überhöhen), ist allerdings sofort hinzuzufügen, dass die sozialstaatliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte in den meisten „reifen“ Demokratien Verbundprozesse und dem nachfolgende Verflechtungsformen gefördert hat. Beginnend mit großflächigen, häufig grenzüberschreitenden Infrastrukturen und bedeutsameren, die Kapazitäten einer einzelnen Gebietskörperschaft übersteigenden Investitionsvorhaben kam es zur Entwicklung „verflochtener“ Politiken als gleichsam Regelfall. Die Gemeinschaftsaufgaben und die Investitionshilfen, die mit der Finanzreform 1969 in das deutsche Grundgesetz Eingang fanden (Art. 91a und b, Art. 104a Abs. 3 und 4 GG), sind hierfür ein Beleg: der Küstenschutz, die Förderung der Agrarstruktur, der Hochschulbau, die Krankenhausförderung, der soziale Wohnungsbau, die regionale Wirtschaftspolitik oder auch die Forschungsförderung seien als Beispiele benannt. Der damit institutionalisierte Planungs- und Finanzierungsverbund fand (in unterschiedlicher Form) in zahlreichen Aufgabenfeldern und Politikbereichen eine Fortsetzung.
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Solche Erfahrungen sollten warnen, mehr freilich nicht. In einer zunehmend grenzüberschreitenden, arbeitsteiligen Welt ist die Rückführung überkomplexer Verfahren, ihre gleichsam radikale Vereinfachung immer nur begrenzt möglich. Dies gilt auch für die europäische Kompetenzordnung und damit eine Lösung horizontaler wie vertikaler Verteilungskonflikte. Allerdings ergibt sich hier der Vorteil, einer in Teilen nahezu zufällig gewachsenen Ordnung (die man im Verfassungsvertrag zu systematisieren sucht) jetzt eine umfassendere Bestandsaufnahme und im Anschluss daran stabilisierende und konsolidierende Empfehlungen folgen zu lassen. Vieles von dem, was heute europäischen Alltag ausmacht, ist normativ noch immer zweifelhaft und funktional diskussionswürdig. Hier auf Abhilfe, auf Rationalitätssteigerung zu drängen, erscheint angezeigt und durchaus Erfolg versprechend. Dies bezieht eine Überprüfung der „großen“ Politikbereiche (Agrar- und Strukturpolitik) mit ein und sollte über ein breites Verständnis von „Konnexität“ auch für die anstehende Überprüfung der europäischen Finanzverfassung („Agenda 2007“) gelten.
2.4 Normative Probleme: europäische Identität, „Demokratiedefizit“, Legitimationsentzug Die politische Identität Europas schließlich ist insofern von Bedeutung, als sich die Union durchaus wachsenden Legitimations- und Akzeptanzproblemen gegenübersieht. Folgten die „Völker Europas“ der Vertragsentwicklung bisher cum grano salis, gilt dies heute so nicht mehr. Ernüchternde Umfrageergebnisse, der zunehmend negative Ausgang von „Europareferenden“ sowie zahlreiche weitere Indikatoren sind ein Beleg dafür, dass die europäischen Teilöffentlichkeiten einem weiteren Souveränitätsverlust ihrer Nationalstaaten nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen und nach dem „europäischen Mehrwert“ zu fragen beginnen. Dies dokumentiert sich nicht zuletzt in der Haltung gegenüber bestimmten Politikfeldern: sei es in der Ablehnung einer den Namen noch immer nicht verdienenden Außen- und Sicherheitspolitik oder einer Asyl- und Einwanderungspolitik, die in einer „Rette sich, wer kann“-Haltung zwischen populistischen Grundhaltungen und restriktiven Nationalpolitiken pendelt. Dem wiederum korrespondiert eine Unternehmenspolitik, innerhalb derer national champions wieder (oder noch immer) besondere Würdigung erfahren – allen Erfolgen der europäischen Wettbewerbspolitik zum Trotz. Die bisherigen Anstrengungen, die Akzeptanz der EU zu stärken, sind als ambivalent zu beurteilen. Ein auch historisch wichtiger Anstoß verband sich mit jenem Skandal um die Kommission Santer, der im Mai 1999 zu deren Rücktritt führte, nachdem der französischen Kommissarin Edith Cresson „Vetternwirtschaft“ nachgewiesen wurde. Nach Einsetzung einer neuen Kommissi-
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1. Kapitel: Nationalstaat und Europäische Union
on regte deren Präsident Prodi nicht nur interne Reformen an, sondern initiierte auch eine Debatte zur Zukunft der Europäischen Union, in deren Rahmen die Kommission das Weißbuch zum „Europäischen Regieren“ vorlegte. Allerdings verdeutlicht bereits der Umstand, dass die Inhalte dieses Weißbuchs in der europapolitischen Diskussion bestenfalls randständig aufgegriffen wurden, die allgemeine Enttäuschung über das Dokument. In ihr kam zum Ausdruck, wie wenig Selbstkritik die Arbeit der Kommission tatsächlich prägt und als wie problematisch sich bisherige Reformansätze erwiesen haben. Auch und gerade „Binnenreformen“ und die Befähigung, diese konsequenzreich umzusetzen, bedürfen deutlicher Aufmerksamkeit. Dies umso mehr, als der Versuch, eine nachhaltige Verwaltungsreform auf europäischer Ebene zu verwirklichen, auch unter Kommissar Kinnock weitest gehend scheiterte. Auf diese Weise verstärken sich die erkennbaren Selbstführungstendenzen der Kommission, wird das Beschwören von Zielen wie „Transparenz“ und „Effizienz“ zur routinehaften Übung, finden sich erweiterte Vorbehalte, gelegentlich auch Vorurteile gegenüber „Brüsseler Routinen“. Natürlich erscheint es unbillig, den Vertretern der Union Rigidität oder gar „Blindheit“ gegenüber unabweisbaren Veränderungen zu unterstellen. Weißund Grünbücher sind zumindest ein erster Beleg für das Bemühen, die eigene Anpassungsfähigkeit zu erhöhen und auf berechtigte Kritiken zu reagieren. Verdankte sich die „Demokratieforderung“ dabei der inzwischen jahrzehntelangen Diskussion um unbestreitbare Legitimationsdefizite, sind der Ausweis von Effizienz und Transparenz neueren Datums und sicher auch modischeren Charakters. Waren es im erstbenannten Fall die (recht späte) Entdeckung der Zivilgesellschaft und der Wirkungsweise von NGOs, sind es heute der Wettbewerb, ein ideologisch überhöhtes good governance und die durch das Internet veränderten Kommunikationsprozesse, die als movens dienen. Ähnlich, es sei erneut mit Bedauern bemerkt, der Verfassungsvertrag: Auch hier ist man sich einmal mehr einig, dass die europäische Politik „demokratischer, effizienter und transparenter“ werden muss – um ihrer eigenen Überlebensfähigkeit willen. Konkreter wird es allerdings selten, es sei denn, dass einzelne Organe und Einrichtungen mit entsprechenden „Politiken“ betraut werden. Diese wiederum erinnern im Einzelfall eher an Absichtserklärungen, jene appellativen und meist unverbindlichen Aufforderungen, die aus früheren Verträgen erinnerlich sind.5 Es ist das darin (wohl ungewollt) zum Ausdruck kommende Unbehagen, sich der öffentlichen Diskussion auch wirklich zu stellen, ___________ 5 Als Beispiele seien Art. III-196, Art. III-211, Art. III-213, Art. III-250 VVE benannt.
3. „Professionalisierung“ Europas als Reformansatz
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jene immer leicht konspirativ wirkende Art, mit der vor allem die Kommission ihre Politiken entwickelt und vertritt, die die Vorbehalte des Publikums nähren. Es wäre mithin wünschenswert, den Vertrag offensiv auszulegen, weniger zur Perfektionierung administrativer Kommunikation als vielmehr mit Blick auf funktionale Minima und eine den Namen verdienende europäische Öffentlichkeit. Beides zu gewährleisten ist seit Jahrzehnten Desiderat (zusammenfassend Scharpf 1999). Auch die Verfassung muss dem den Weg ebnen, jene „Unterfütterung“ stärken, ohne die die Union angreifbar bleibt. Es gibt sie ja, die europäische Öffentlichkeit, nicht nur als abstraktes petitum, sondern auch und gerade in der Form von Teilöffentlichkeiten, die der Ermunterung und Zusammenführung bedürfen. „Professionalisierung“ Europas also auch hier, nicht im technischen oder gar technokratischen Selbstverständnis, sondern zur Gewährleistung eines vollständig demokratischen Prozesses der politischen Willensbildung und Entscheidung. Im Fazit empfiehlt sich also Vorsicht gegenüber allzu optimistischen, gelegentlich gar vollmundigen Qualifizierungen zum Stand des Integrationsprozesses. Zu häufig wurden die „Völker Europas“ enttäuscht, verwechselte man Anspruch, Absichtserklärung und Ertrag, hielt die Verfassungstheorie der Verfassungswirklichkeit nicht stand. Was zählt – und überzeugen könnte – sind nicht Pläne, sondern konkrete Politiken. Aus dieser Sicht stellt die Arbeit des Konvents und der sich anschließende Prozess der politischen Konsensbildung im Rahmen der Regierungskonferenz eine positiv zu würdigende Ordnungsleistung dar, mehr allerdings (noch) nicht (detailliert Hesse 2005a). Jetzt geht es darum, die Beschwörung des Gemeinsamen in den Alltag des Erlebten zu überführen. Dabei zählen Ergebnisse, nicht mehr nur schöne Worte und Bekenntnisse. So wie Europa in Teilen eben bereits „ist“ und nicht mehr nur „wird“, ist es auch kein Kind der Liebe, sondern letztlich der Erfahrung und des Interesses. Pragmatisch-professionelle Antworten sollten künftig das Deklamatorische ablösen.
3. Fazit: die „Professionalisierung“ Europas als systematischer und kontextbezogener Reformansatz Folgt man der bisherigen Argumentation, bietet sich für die Erarbeitung von Reformoptionen ein Vorgehen an, das vom Status quo ausgeht, normative mit funktionalen Erwägungen verbindet und eine dominant EU-spezifische Ausrichtung konsequent um den Einbezug der nationalstaatlichen Ebene ergänzt. Ein entsprechender Untersuchungsansatz wäre gleichermaßen systematisch wie kontextbezogen anzulegen: systematisch durch die „Verortung“ einzelner Handlungsempfehlungen im Rahmen der horizontalen wie vertikalen Kompe-
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1. Kapitel: Nationalstaat und Europäische Union
tenzordnung, kontextbezogen durch die Fokussierung auf den gegebenen Regelungsbestand und dessen Bewährung im politisch-administrativen „Alltag“. Dagegen sollte auf modelltheoretische Generalisierungen, die der Komplexität des Regierungs- und Verwaltungshandelns im Rahmen der Europäischen Union kaum mehr gerecht werden und deshalb als Basis realitätsbezogener Reformvorschläge ausscheiden, weitest gehend verzichtet werden. So dürfte es möglich sein, den Rahmen und das Programm europäischer Politik angesichts der benannten Herausforderungen umfassend zu überprüfen und – durch den Ausweis konkreter Handlungsempfehlungen – zur Diskussion um die „Zukunftsfähigkeit“ der EU beizutragen. Da hochaggregierte Überlegungen hierzu nur begrenzt geeignet sind, empfiehlt es sich, die Reformoptionen bereichs- wie ebenenspezifisch auszuweisen. Die Analyse des „EU-Regierungssystems“ würde so jener sachlogischen Sequenz folgen, die sich auch bei Untersuchungen der nationalen Staatsorganisation bewährt hat: zunächst auf der Basis einer umfassenden „Aufgabenkritik“ den Kompetenzrahmen abzustecken und sich erst im Anschluss daran – unter Berücksichtigung der politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse – mit der institutionellen Struktur zu befassen. Schließlich gilt mit Blick auf eine „Professionalisierung Europas“ dem Zusammenhang von europäischer und nationalstaatlicher Kompetenzordnung ein besonderes Interesse. Beide Ordnungen sind zwar insofern voneinander unabhängig, als die politischen Entscheidungsträger auf EU- bzw. nationalstaatlicher Ebene jeweils über die Reform ihrer „Teilverfassung“ (zumindest formal) autonom befinden. Allerdings ist dabei nicht nur der „interne“ Veränderungsbedarf zu diskutieren, es treten vielmehr jene auch vertikalen „Komplementaritäten“ hinzu, die zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit des gesamteuropäischen Handelns zu erhalten bzw. zu verbessern sind. Solche Abstimmungsbedarfe nicht nur allgemein zu konstatieren, sondern sie innerhalb der jeweiligen Reformkontexte zu identifizieren und handlungsorientiert aufzubereiten, bildet ebenso einen Schwerpunkt der nachfolgenden Kapitel wie der Verweis auf die schwache Legitimationsbasis allzu technischer, gelegentlich durchaus technokratischer Verhaltensweisen. Die kontinuierliche Rückkoppelung zu den „Völkern Europas“ bleibt ein unverzichtbares Desiderat.
2. Kapitel
Die Kompetenzordnung zwischen Union und Mitgliedstaaten: europäische Politiken im Vergleich 1. Auswahl der Politikbereiche und Aufbau der Fallstudien Will man die bislang weitgehend abstrakte Debatte um eine europäische Kompetenzordnung materiell grundieren, empfiehlt sich eine aufgaben- oder politikbereichsspezifische Vorgehensweise. Dies zum einen, um unangebrachte Verallgemeinerungen zu vermeiden, zum anderen aber auch, um durch Konkretisierungen die „Umsetzbarkeit“ von Handlungsoptionen zu gewährleisten. Allerdings müssen bei einer derartigen Vorgehensweise insofern Abstriche gemacht werden, als nicht jedes Aufgabenfeld einer detaillierten Untersuchung unterzogen werden kann. Mit Blick auf eine Auswahl gilt es dann, die Kriterien offen zu legen: So geht es im Folgenden vor allem um finanzpolitisch bedeutsame Politikbereiche, darüber hinaus um Aufgaben, die exemplarisch für ihren „Verbundcharakter“ stehen, schließlich um die Möglichkeit, innerhalb langjährig verfestigter Routinen Reformpotentiale zu identifizieren. Unter Nutzung dieser Kriterien sollen die Wirtschafts- und Währungspolitik, die Agrarpolitik, die Struktur- und Regionalpolitik, die Umweltpolitik und schließlich die Beschäftigungspolitik eine eingehende Würdigung erfahren. Während die Wirtschafts- und Währungspolitik dabei zum „Kernbereich“ der Europäischen Union und ihrer Entwicklungslogik gehört, treten mit der Agrar- und Strukturpolitik die volumenmäßig entscheidenden Aufgabenfelder hinzu, die zugleich durch die Osterweiterung in besonderer Weise „betroffen“ oder besser: gefordert sind. Mit der Umweltpolitik wurde dagegen ein besonders „sensibler“ Bereich ausgewählt, der zudem die Schwierigkeiten einer nachhaltigen Kompetenzabgrenzung dokumentiert. Schließlich tritt mit der Beschäftigungspolitik ein noch „junges“ europäisches Aufgabenfeld hinzu, anhand dessen supranationale Handlungsmöglichkeiten wie Handlungsgrenzen gleichsam exemplarisch deutlicht gemacht werden können. Dass bei dieser Auswahl die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Innen- und Justizpolitik keine nähere Berücksichtigung erfahren, mag zunächst erstaunen. Beide Politikfelder sind allerdings insofern
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2. Kapitel: Die Kompetenzordnung zwischen Union und Mitgliedstaaten
„Sonderfälle“, als sie trotz ihrer unbestreitbaren Fortentwicklung generell in intergouvernementaler Logik verbleiben und aufgrund der ihnen zukommenden öffentlichen Aufmerksamkeit eher „untypische“ europäische Politikbereiche darstellen. Der Alltag des Regierungs- und Verwaltungshandelns im „EUMehrebenensystem“ wird eher von den benannten fünf Aufgabenfeldern geprägt; in ihnen muss sich erweisen, inwieweit die Kompetenzordnung einer künftigen Europäischen Verfassung der Politik in Europa einen normativ wie funktional adäquaten – und damit legitimen – Rahmen bietet. Um die Vergleichbarkeit zwischen den einbezogenen Politikbereichen zu ermöglichen, sind die folgenden Fallstudien gleichförmig gegliedert: Zunächst bemüht sich ein kurzer historischer Abriss um die jeweilige „Verortung“ des zur Diskussion stehenden Aufgabenfeldes. Ihm folgt eine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen primärrechtlichen Rahmens, der als Ausgangs- und Ansatzpunkt für normativ wie funktional überzeugende Reformen dient; hierbei wird – im Unterschied zu den meisten vorliegenden Publikationen – systematisch zwischen den Bestimmungen zur vertikalen und zur horizontalen Kompetenzverteilung unterschieden.1 Die sich anschließende Analyse der Funktionsweise und der Funktionsprobleme in dem jeweils diskutierten Aufgabenfeld bietet dann die Grundlage für die Erörterung von Reformoptionen, wobei ggf. zwischen einer kurz- und einer mittel- bzw. langfristigen Perspektive unterschieden wird.
2. Wirtschafts- und Währungspolitik: der asymmetrische Integrationskern Neben dem Binnenmarkt bildet die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) den zweiten „Kern“ der europäischen Integration. Während die Währungsunion mit der Einführung des Euro im Januar 2002 zumindest formal abgeschlossen wurde, birgt die derzeitige Kompetenzordnung in diesem Aufgabenbereich noch beträchtliche Probleme für die weitere ökonomische wie politische Entwicklung Europas.2 ___________ 1 Die Darstellung der formal-rechtlichen Kompetenzordnung basiert auf den primärrechtlichen Bestimmungen in der Fassung des Vertrages von Nizza. Gleichzeitig werden auch die entsprechenden Bestimmungen des „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ (VVE) einbezogen, der von den Staats- und Regierungschefs am 29.10.2004 in Rom unterzeichnet wurde. Sekundärrechtliche Quellen sind jeweils gesondert ausgewiesen. 2 Zur staats- und europawissenschaftlichen Diskussion der WWU vgl. u.a. Belke/Baumgärtner (2004); Crouch (2000); Dyson (2000; 2002); Enderlein (2004); Endler (1998); Hillenbrand (2002); Hodson/Maher (2001); Jochimsen (1998); Navarro (2001); Paraskewopoulos (2001); Renne (2001); Seidel (2000); Tsoukalis (2000).
2. Wirtschafts- und Währungspolitik
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2.1 Europäische Währung ohne Wirtschaftsregierung: die historische Ausgangssituation Wie aufgeführt, kam der wirtschafts- und währungspolitischen Kooperation in den ersten beiden Jahrzehnten des europäischen Integrationsprozesses allenfalls geringe Bedeutung zu. So sahen die Römischen Verträge (1957) lediglich die Einsetzung eines „Monetären Ausschusses“ vor, der die geldpolitische und finanzielle Situation in den Mitgliedstaaten zu prüfen hatte. Da in dieser Phase mit dem Wechselkurssystem von Bretton Woods ein international stabiler Währungsrahmen etabliert und zudem staatliche Souveränität in der Geld- und Fiskalpolitik zentrale Voraussetzung der vorherrschenden keynesianischen Globalsteuerung war, bestand kein Anlass zu einer substantiellen „Europäisierung“ dieses Aufgabenfeldes. Erst angesichts erkennbar werdender Instabilitäten im Bretton-Woods-System sowie der anstehenden ersten Erweiterung der EG beschlossen die Staatsund Regierungschefs anlässlich der Haager Gipfelkonferenz im Dezember 1969 die sukzessive Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Ende 1970 legte ein Expertenkomitee unter Vorsitz des luxemburgischen Premierministers Werner einen dreistufigen „Fahrplan“ vor, an dessen Ende eine gemeinschaftliche Wirtschaftspolitik, feste Wechselkurse sowie ein supranationales Zentralbanksystem stehen sollten. Die Umsetzung des WernerPlans scheiterte jedoch nicht nur an divergierenden wirtschaftspolitischen Grundpositionen,3 sondern auch an makroökonomischen Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten, die sich nach dem Zusammenbruch des Bretton-WoodsSystems 1971 weiter verschärften. Nachdem die gemeinschaftsinternen Wechselkursschwankungen durch eine sog. „Währungsschlange“ (Festlegung von Schwankungsbreiten, Vereinbarung wechselseitiger Stützungskäufe seitens der Zentralbanken) nicht wirksam eingedämmt werden konnten, beschloss der Europäische Rat die Errichtung eines Europäischen Währungssystems (EWS), das im Januar 1979 in Kraft trat. In Ergänzung zu den Instrumenten der Währungsschlange wurde hierdurch eine eigene Europäische Währungseinheit (European Currency Unit, ECU) geschaffen, die auf einem Korb anteilig vertretener nationaler Währungen basierte. Aufgrund der starken Stellung der Deutschen Mark und des strikten Preisstabilitätskurses der Bundesbank trug das EWS zu einer „indirekten Inflations___________ 3 Während die „Monetaristen“ der Fixierung der Wechselkurse eindeutige Priorität vor einer koordinierten Wirtschaftspolitik zuerkannten, sahen die „Ökonomisten“ in der makroökonomischen Konvergenz der beteiligten Volkswirtschaften die unabdingbare Voraussetzung für eine stabile Gemeinschaftswährung.
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2. Kapitel: Die Kompetenzordnung zwischen Union und Mitgliedstaaten
bekämpfung“ bzw. zu konvergent niedrigeren Inflationsraten in den beteiligten Staaten bei, insbesondere seitdem die sozialistische Regierung Frankreichs ab 1983 eine Politik des franc fort verfolgte. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte wurde das EWS, das sich bis dahin nur auf sekundärrechtliche Akte gemäß Art. 235 EGV gründete, Bestandteil der Europäischen Verträge. Bis Anfang der 1990er Jahre traten alle EG-Staaten (mit Ausnahme Griechenlands) dem gemeinschaftlichen Währungssystem bei. Nachdem sich das EWS weitgehend bewährte, wurde Mitte der 1980er Jahre das Projekt einer WWU wieder aufgegriffen. So setzte der Europäische Rat von Hannover 1988 eine Sachverständigengruppe unter Kommissionspräsident Delors ein, die – ähnlich dem Werner-Plan – einen Übergang zur WWU in drei Stufen empfahl. Demnach wurden zunächst die formale Vollendung des Binnenmarktes und der Beitritt aller EG-Staaten zum EWS angestrebt (1. Stufe), dann die Schaffung eines Europäischen Zentralbankensystems (2. Stufe) und schließlich die Einführung einer einheitlichen Währung bei vollständiger „Europäisierung“ der geldpolitischen Kompetenzen (3. Stufe). Dieser Stufenplan sowie die Institutionalisierung eines politisch unabhängigen Währungsorgans auf europäischer Ebene4 wurde im Vertrag von Maastricht verankert, die „schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik“ des Art. 2 EGV durch „Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion“ ersetzt. Die Ausgestaltung der WWU blieb allerdings in mehrfacher Hinsicht „asymmetrisch“, vor allem mit Blick auf die Akteure bzw. Akteursgruppen wie auf die materiellen Bestimmungen. Zwar band der Vertrag den Beitritt zur dritten Stufe der Währungsunion explizit an vier – überwiegend monetäre – Konvergenzkriterien (ex-Art. 109j bzw. Art. 121 EGV, s. unten); die gemeinschaftliche Abstimmung der Wirtschaftspolitik blieb aber weit hinter den Vorschlägen des Delors-Berichts zurück. Darüber hinaus bestanden auf Seiten Großbritanniens und Dänemarks starke Vorbehalte gegen eine vollständige Vergemeinschaftung der Währungspolitik; dementsprechend sicherten sich beide Staaten in einem Zusatzprotokoll die Möglichkeit, an der WWU trotz vorhandener ökonomischer Voraussetzungen nicht teilzunehmen, und machten von diesem „opting out“ auch Gebrauch. Zudem trat Schweden, das über kein Austrittsrecht verfügte, der dritten Stufe der WWU nicht bei, wobei die von der EU-Kommission festgestellte Nicht___________ 4 Als Interimseinrichtung wurde zum 01.01.1994 das Europäische Währungsinstitut zur engeren Koordinierung der Geldpolitik der Mitgliedstaaten geschaffen, das dann durch die Europäische Zentralbank (EZB) bzw. das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) abgelöst wurde (s. unten).
2. Wirtschafts- und Währungspolitik
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Erfüllung der Konvergenzkriterien wohl nur einen Vorwand bildete, in Wirklichkeit auch hier politische Gründe den Ausschlag gaben.5 Infolge konjunktureller Schwierigkeiten sowie beträchtlicher Turbulenzen auf den Währungsmärkten ab 1992/93 drohte sich der Zeitplan zur Vollendung der WWU zu verzögern, da bis 1996 nur ein Mitgliedstaat die Konvergenzkriterien vollständig erfüllte. In dieser Situation verabschiedete der Europäische Rat von Amsterdam im Juni 1997 einen „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ (SWP), in dem sich die EU-Staaten auch über den WWU-Beitritt hinaus auf die Gewährleistung solider Staatsfinanzen verpflichteten und einen multilateralen Kontrollmechanismus über Nationale Stabilitätsprogramme6 einrichteten. Durch verstärkte nationale Anstrengungen bei der Rückführung von Budgetdefiziten und eine „weichere“ Auslegung der Konvergenzkriterien – insbesondere im Fall Italiens und Belgiens – trat die dritte Stufe der WWU am 01.01.1999 mit elf Teilnehmern in Kraft, Griechenland trat ein Jahr später bei. Seitdem sind Struktur und Funktionsweise der WWU durch zwei unterschiedliche Entwicklungen gekennzeichnet. Zum einen hat die Europäische Währungspolitik im engeren Sinn ihre ersten Bewährungsproben erfolgreich bestanden. Dies gilt sowohl für die reibungslose Bargeldumstellung auf den Euro Anfang 2002 als auch für die Geldpolitik, die trotz kontroverser Diskussionen weitgehend konsequent blieb. So wurde zunächst die alleinige Ausrichtung der EZB an der internen Währungsstabilität, d.h. einer mittelfristigen Preissteigerungsrate von knapp 2%,7 in Frage gestellt, als der Euro unmittelbar nach seiner Einführung gegenüber dem US-Dollar erheblich an Wert verlor. Zwar verstummte dann die Kritik mit der Erholung des Wechselkurses im Laufe der Jahre 2002/03, doch kam es bald zu der Befürchtung, der „teure“ Euro schade der europäischen Exportwirtschaft. In beiden Situationen zeigte sich die EZB-Führung relativ unbeeindruckt.
___________ 5
Die EU-Kommission sprach keine Empfehlung zur Teilnahme Schwedens aus, da das Land dem EWS nicht angehöre und die Schwedische Reichsbank sich nicht an die entsprechenden EU-Vorgaben angepasst habe. Zugleich äußerte die Kommission Kritik daran, dass Schweden nicht alle Anstrengungen zur Erfüllung der Konvergenzkriterien unternommen habe und damit seinen rechtlichen Verpflichtungen nicht in vollem Umfang nachgekommen sei. Da die politischen Vorbehalte Schwedens gegenüber der Gemeinschaftswährung den Beteiligten bekannt waren, bot sich über dieses formal korrekte, faktisch jedoch gegen Gemeinschaftsrecht verstoßende Verfahren ein „eleganter Ausweg“ (vgl. Häde 1998; Bernitz 2000; Giegerich 2003: 570ff.). 6 7
Für Nicht-Euro-Mitglieder: Nationale Konvergenzprogramme.
Beschluss des EZB-Rates vom 13.10.1998, bestätigt durch den Beschluss des EZBRates vom 08.05.2003.
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2. Kapitel: Die Kompetenzordnung zwischen Union und Mitgliedstaaten
Zum anderen wurden die Funktionsprobleme der die Währungspolitik „flankierenden“ Maßnahmen im Rahmen der WWU zunehmend offenkundig. So eröffnete die EU-Kommission im Herbst 2002 erstmals das im Rahmen des SWP vorgesehene Defizitverfahren gegen Deutschland und Portugal sowie (im Frühjahr 2003) gegen Frankreich. Als der Rat der Euro-Finanzminister im November 2003 die Aussetzung der Verfahren gegen Deutschland und Frankreich beschloss, ohne den von der Kommission empfohlenen Sparauflagen zu folgen, belebte sich nicht nur die staats- und europawissenschaftliche Debatte um eine Reform des Pakts erneut.8 Auch die politischen Reaktionen fielen deutlich aus: Während die Kommission gegen die Ratsentscheidung Klage vor dem EuGH erhob, sahen sich die traditionell Euro-skeptischen Mitgliedstaaten in ihrem Verhalten wesentlich bestätigt. So hatte die britische Labour-Regierung bereits zuvor ihre Initiative eines WWU-Beitritts unter Verweis auf die mangelnde Reformbereitschaft auf dem „Kontinent“ für beendet erklärt; zudem sprach sich im September 2003 eine klare Mehrheit der schwedischen Bürger in einem Referendum gegen eine Euro-Einführung aus (Odendahl 2004). Daher erschien der normative Rahmen der Wirtschafts- und Währungspolitik bereits vor dem Euro-Beitritt der mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder, dem nach Ansicht der EZB noch beträchtliche Schwierigkeiten entgegenstanden, grundsätzlich überprüfungsbedürftig.
2.2 Die wirtschafts- und währungspolitische Kompetenzordnung: der rechtliche Status quo 2.2.1 Allgemeine Vertragsbestimmungen9 Die „Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion“ (WWU) wird zu Beginn der Europäischen Verträge nicht nur als zentrale Aufgabe der Gemein___________ 8 Die zentralen Argumente für und wider die Beibehaltung des SWP, auf die zum Teil bereits bei dessen Entstehung verwiesen wurde, finden sich bei Peffekoven (2003) und Zimmermann (2003). 9 Neben dem Primärrecht wurden für die Darstellung des Kompetenzrahmens insbesondere die folgenden Quellen hinzugezogen: Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17.06.1997; VO 1466/97/EG des Rates vom 07.07.1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken; VO 1467/97/EG des Rates vom 07.07.1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit; VO 2866/98/EG des Rates vom 31.12.1998 über die Umrechnungskurse zwischen dem Euro und den Währungen der Mitgliedstaaten, die den Euro einführen (geändert durch VO 1478/2000/EG des Rates vom 19.06.2000).
2. Wirtschafts- und Währungspolitik
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schaft herausgestellt (Art. 2 EUV bzw. EGV). Im Unterschied zu allen anderen Politikbereichen findet sich in Art. 4 EGV vielmehr auch eine „Kurzfassung“ des hier gegebenen europäischen Aufgabenprofils. Dabei wird bereits die strukturelle Asymmetrie zwischen den beiden „Säulen“ der WWU deutlich: Während die europäische Wirtschaftspolitik lediglich „auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten [...] beruht“ (Abs. 1), ist die Währungspolitik als „einheitliche Geld- und Wechselkurspolitik“, die „vorrangig das Ziel der Preisstabilität“ verfolgt (Abs. 2), substantiell europäisiert. Art. 4 Abs. 3 EGV benennt schließlich als „richtungweisende Grundsätze“ der gemeinschaftlichen Wirtschafts- und Währungspolitik: x stabile Preise, x gesunde öffentliche Finanzen und x monetäre Rahmenbedingungen sowie x eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz. Die näheren primärrechtlichen Bestimmungen zur Wirtschafts- und Währungspolitik sind im gleichlautenden Titel VII (Art. 98–124 EGV) zusammengestellt,10 der wiederum in vier Kapitel unterteilt ist: (1) Das Kapitel „Wirtschaftspolitik“ (Art. 98–104 EGV) konkretisiert die wirtschaftspolitischen Koordinierungs- bzw. Kontrollmechanismen zwischen den Mitgliedstaaten unter Beteiligung der EU-Organe. (2) Der Abschnitt „Währungspolitik“ (Art. 105–111 EGV) definiert den näheren Zuständigkeitsbereich der Europäischen Zentralbank (EZB) bzw. des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB)11 sowie die Beteiligung anderer EU-Organe an währungspolitischen Entscheidungsverfahren. (3) Die unter der Überschrift „Institutionelle Bestimmungen“ (Art. 112–115 EGV) zusammengestellten Regelungen betreffen die Zusammensetzung des EZB-Rates sowie die Einrichtung eines Beratenden Währungsausschusses und eines Wirtschafts- und Finanzausschusses.12 ___________ 10 Siehe zudem die Protokolle zum Maastrichter Vertrag über das Verfahren bei übermäßigem Defizit bzw. die Konvergenzkriterien nach Art. 121 EGV, die die materiellen WWU-Auflagen konkretisieren, sowie das Protokoll über die Satzung des ESZB und der EZB zu Aufgaben und Binnenorganisation der währungspolitischen Organe. 11 Die Einrichtung der EZB und des ESZB ist in Art. 8 EGV festgeschrieben. 12 Da beiden Ausschüssen nur konsultative Funktionen zukommen, werden sie im Folgenden nicht weiter berücksichtigt.
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2. Kapitel: Die Kompetenzordnung zwischen Union und Mitgliedstaaten
(4) Das abschließende Kapitel „Übergangsbestimmungen“ (Art. 116–124 EGV) enthält insofern „historisches Material“, als hier der dreistufige Übergang zur WWU mit entsprechenden Verfahren, konkreten „Startdaten“ und Interimsorganen (Europäisches Währungsinstitut) durch den Maastrichter Vertrag festgeschrieben wurden und seitdem unverändert blieben. Allerdings sind nicht alle Regelungen dieses Abschnitts obsolet, solange weitere Beitritte zur WWU anstehen und die betreffenden Mitgliedstaaten die hierfür festgelegten Bedingungen zu erfüllen haben. Dies gilt insbesondere für die vier Konvergenzkriterien des Art. 121 Abs. 1 EGV (im Protokoll Nr. 21 zum Maastrichter Vertrag weiter präzisiert): x „hoher Grad an Preisstabilität“ (im Jahr vor der Prüfung nicht mehr als 1,5% über der Inflationsrate der [höchstens] drei Mitgliedstaaten mit dem besten Preisstabilitätsergebnis), x „öffentliche Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit“, x „Einhaltung der normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus seit mindestens zwei Jahren ohne Abwertung gegenüber dem Euro“ sowie x ein „[dauerhaft niedriges] Niveau der langfristigen Zinssätze“ (im Jahr vor der Prüfung langfristige Zinssätze von höchstens 2% über dem Wert der drei Mitgliedstaaten mit dem besten Preisstabilitätsergebnis). Der Verfassungsentwurf ließ diese Struktur unverändert. Allerdings erscheint nun die Kompetenzordnung insofern transparenter, als die Währungspolitik explizit unter der „ausschließlichen Zuständigkeit“ der Union geführt wird (Art. I-13 VVE), während die Wirtschaftspolitik zu den „koordinierten“ Aufgabenbereichen zählt (Art. I-15 VVE). Neben einer unwesentlichen Vereinfachung der EZB-Satzung (Art. III-187 VVE) sind zudem die Modalitäten der verstärkten Abstimmung der Haushalts- und Wirtschaftspolitiken innerhalb der Euro-Gruppe gesondert festgehalten (Art. III-194–196 VVE sowie Protokoll betreffend die Euro-Gruppe).
2.2.2 Vertikale Aufgabenteilung Die Zuständigkeiten von Union und Mitgliedstaaten sind im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik grundlegend unterschiedlich verteilt. So gilt die Wirtschaftspolitik gemäß Art. 99 Abs. 1 EGV lediglich als „Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“, die entsprechenden Zuständigkeiten verbleiben
2. Wirtschafts- und Währungspolitik
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mithin schwerpunktmäßig bei den Mitgliedstaaten (so grundsätzlich auch der VVE).13 Dieser allgemeinen Feststellung sind jedoch zwei Einschränkungen hinzuzufügen. Zum einen werden den Nationalstaaten keine „Residualbereiche“ über negative Kompetenzabgrenzungen ausdrücklich vorbehalten.14 Zum anderen weisen EGV wie VVE der Gemeinschaft durchaus nennenswerte Kompetenzen zu, die je nach Aufgabenfeld unterschiedlich „tief“ greifen. Hierzu zählen insbesondere die folgenden Tätigkeitsfelder: (a) Koordinierung der Wirtschaftspolitik: Nach Art. 99 Abs. 1 EGV haben die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik unter expliziter Befolgung des Marktwirtschaftsprinzips (Art. 98 EGV) aufeinander abzustimmen. Ähnlich wie im Bereich der Beschäftigungspolitik findet hier das Verfahren „Offener Koordinierung“ Anwendung, nach dem bestimmte Leitlinien („Grundzüge der Wirtschaftspolitik“) auf europäischer Ebene vorgegeben werden, die die Mitgliedstaaten zu erfüllen haben. Bei mangelhafter Umsetzung stehen dem Rat nur „weiche“ Sanktionsmechanismen15 zur Verfügung; ein weiter gehendes „Zwangsinstrumentarium“ ist hingegen nicht vorgesehen. (b) Finanzieller Beistand: Im Fall von „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich [der] Kontrolle [des betreffenden Mitgliedstaates] entziehen“, kann die Gemeinschaft letzterem „finanziellen Beistand“ gewähren (Art. 100 Abs. 2 EGV). Diese europäische Zuständigkeit ist klar auf Ausnahmesituationen bezogen; die vage Formulierung des Anwendungsbereichs („außergewöhnliche Ereignisse“) belässt jedoch einen relativ breiten politischen Handlungsspielraum. (c) Überwachung der Haushaltsdisziplin: Unter den benannten Aufgabenbereichen verfügt die EU hinsichtlich der Kontrolle der mitgliedstaatlichen Haushaltsdisziplin über die umfangreichsten Kompetenzen. Dies erklärt sich daraus, dass die Vermeidung „übermäßiger öffentlicher Defizite“ (Art. 104 Abs. 1 EGV) funktional eng mit der Währungspolitik, die auf europäischer Ebene geregelt wird, verbunden ist. Daher etabliert Art. 104 EGV zur „Einhaltung der Haushaltsdisziplin“ ein Monitoring-Verfahren, das sich von „Offener Koordinierung“ in zweifacher Hinsicht kategorial unterscheidet. Zum einen ist die ma___________ 13
In diesem Zusammenhang geht es ausschließlich um die Binnenwirtschaftspolitik; die Außenwirtschaftspolitik stellt hingegen ein vollständig „vergemeinschaftetes“ Aufgabenfeld dar. 14
Dies ist etwa bei den analogen Bestimmungen im Rahmen der europäischen Beschäftigungspolitik der Fall (vgl. hierzu unten 3.6). 15
In einem solchen Fall kann der Rat „die erforderlichen Empfehlungen an den betreffenden Mitgliedstaat richten“ oder aber – als gleichsam Steigerung des „kollektiven Drucks“ – diese veröffentlichen (Art. 99 Abs. 4 EGV).
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terielle Aufgabe („Einhaltung der Haushaltsdisziplin“) durch zwei Kriterien vertraglich definiert. Gemäß Abs. 2 bemessen sich „übermäßige öffentliche Defizite“ nach dem „Verhältnis des geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizits zum Bruttoinlandsprodukt“ sowie dem „Verhältnis des öffentlichen Schuldenstandes zum Bruttoinlandsprodukt“. Die konkreten Referenzwerte finden sich in dem bereits angesprochenen Protokoll zum Maastrichter Vertrag.16 Dadurch gewinnt das Prüfverfahren zweifellos an „Strenge“. Allerdings enthält der EGV mit Blick auf das erstbenannte Kriterium auch Ausnahmebestimmungen, die dessen ursprüngliche Präzision wieder „verwässern“.17 Zum Zweiten kann die Nichterfüllung der benannten Kriterien von der Gemeinschaft auch mit der Verhängung von Sanktionen geahndet werden. Falls „weiche“ Mechanismen (Empfehlungen bzw. deren Veröffentlichung) nicht greifen, darf der Rat von dem betreffenden Mitgliedstaat „eine unverzinsliche Einlage [...] bei der Gemeinschaft“ verlangen oder sogar „Geldbußen in angemessener Höhe verhängen“ (Abs. 11). Durch Sekundärrechtsetzung wurde dieses Sanktionsverfahren konkretisiert und verschärft.18 Diese Bestimmungen (wie auch die folgenden Regelungen zur Währungspolitik) gelten indes nur für die Länder der Euro-Gruppe in vollem Umfang (Art. 116 Abs. 3 und 4 EGV); Dänemark, Großbritannien und Schweden sind derzeit davon ausgenommen (Art. 122 Abs. 3 EGV). Im Unterschied zur Wirtschaftspolitik ist die Währungspolitik nahezu vollständig „europäisiert“. Im Wesentlichen vom Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) getragen, besteht ihr vorrangiges Ziel in der Gewährleistung von Preisstabilität (Art. 105 Abs. 1 EGV). Zu den Kernaufgaben des ESZB zählen gemäß Art. 105 Abs. 2 EGV: x die Festlegung der gemeinschaftlichen Geldpolitik, x die Durchführung von Devisengeschäften, ___________ 16
Nach dem „Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“ ist für Kriterium (a) ein Schwellenwert von 3%, für Kriterium (b) von 60% ausgewiesen. 17 Das Neuverschuldungskriterium gilt demnach auch als erfüllt, wenn „entweder das Verhältnis [des öffentlichen Defizits zum Bruttoinlandsprodukt] erheblich und laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nähe des Referenzwerts erreicht hat“ oder „der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird und das Verhältnis in der Nähe des Referenzwerts bleibt“ (Art. 104 Abs. 2 EGV). 18 Gemäß VO 1467/97/EG, auf die man sich infolge des Stabilitäts- und Wachstumspakts einigte, wird die „unverzinsliche Einlage“, die bis zu 0,5% des jeweiligen BIP betragen kann, automatisch in eine Geldbuße umgewandelt, wenn innerhalb von zwei Jahren keine Verminderung des übermäßigen Defizits festzustellen ist (Art. 11–13).
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x die Verwaltung der offiziellen Währungsreserven der Mitgliedstaaten sowie x die Förderung einer reibungslosen Funktionsfähigkeit der Zahlungssysteme. Zudem finden sich weitere währungspolitische Kompetenzen auf Unionsebene. So hat die Europäische Zentralbank (EZB) als Teilorgan des ESZB „das ausschließliche Recht, die Ausgabe von Banknoten innerhalb der Gemeinschaft zu genehmigen“ (Art. 106 Abs. 1 EGV). Über die Festlegung des Wechselkurssystems gegenüber Drittlandwährungen wird vom Ministerrat entschieden (Art. 111 Abs. 1 EGV). Ferner kann der Rat auf internationaler Ebene bei Fragen mit besonderem Bezug zur WWU „über den Standpunkt der Gemeinschaft“ befinden (Art. 111 Abs. 4 EGV). Den Mitgliedstaaten verbleiben demgegenüber nur wenige materielle Kompetenzen.19 Unterstrichen wird die definitive Vergemeinschaftung der Währungspolitik durch die Weisungsunabhängigkeit des ESZB, der EZB sowie der nationalen Zentralbanken von „Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen“ (Art. 108 EGV). Nur über das Recht des Ministerrats, die ESZB-Satzung festzulegen, behalten die Mitgliedstaaten indirekten Einfluss auf die Währungspolitik, wobei sie weitgehend auf die Zustimmung des Europäischen Parlaments angewiesen sind (vgl. Art. III-187 Abs. 3 und 4 VVE).20 Schließlich sei nochmals vermerkt, dass die benannten Regelungen im Bereich der Währungspolitik nur für jene Staaten gelten, die der Dritten Stufe der WWU beigetreten sind.
2.2.3 Horizontale Aufgabenteilung Auch mit Blick auf die horizontale Kompetenzverteilung auf europäischer Ebene ist nach den „Säulen“ der WWU zu unterscheiden. Im Bereich der Wirtschaftspolitik (Art. 99, 100 und 104 EGV) fungiert der Rat als zentrale Entscheidungsinstanz. Abstimmungsregel ist dabei durchgängig die qualifizierte Mehrheit, nachdem im Vertrag von Nizza auch bezüglich des „finanziellen Beistands“ (Art. 100 EGV) die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip vollzogen wurde. Insgesamt fällt auf, dass das Europäische Parlament von den differenziert beschriebenen Verfahren nahezu vollständig ausgeschlossen ist. Nur im Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung wird es ___________ 19
Dazu zählen das Recht zur Ausgabe von Münzen nach Genehmigung durch die EZB (Art. 106 Abs. 2 EGV) sowie das Recht, „unbeschadet der Gemeinschaftszuständigkeit [...] in internationalen Gremien Verhandlungen zu führen und internationale Vereinbarungen zu treffen“ (Art. 111 Abs. 5). 20 Für Verordnungen und Beschlüsse nach Abs. 4 muss das EP nur angehört werden.
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vom Rat (ex ante) über die Aufstellung der gemeinsamen Leitlinien bzw. (ex post) über deren Einhaltung „unterrichtet“ (Art. 99 Abs. 2 und 4 EGV). Im Bereich der Währungspolitik stellen sich die Entscheidungsstrukturen deutlich komplexer dar. Mit dem ESZB bzw. der EZB wurden für diesen Aufgabenbereich eigene Institutionen auf europäischer Ebene eingerichtet (Art. 8 EGV), wobei sich das ESZB aus der EZB und den nationalen Zentralbanken zusammensetzt (Art. 107 EGV). Da allein die EZB „Rechtspersönlichkeit“ besitzt (Art. 107 Abs. 2), ist sie mit der Durchführung „der dem ESZB übertragenen Aufgaben“ betraut (Art. 110 EGV).21 Geleitet wird das gesamte ESZB vom EZB-Direktorium und dem EZB-Rat (Governing Council). Das Direktorium, das die währungspolitischen „Tagesgeschäfte“ gemäß den Leitlinien des EZB-Rats führt, besteht aus sechs Mitgliedern (Präsident, Vizepräsident sowie vier weiteren Mitgliedern), die von den Staats- und Regierungschefs für eine einmalige Amtsperiode von acht Jahren ernannt werden (Art. 112 Abs. 2 EGV). Im EZB-Rat, dem eigentlichen Beschlussorgan des ESZB, treten zu den sechs Direktoriumsmitgliedern die (derzeit zwölf) Nationalbankpräsidenten der Euro-Gruppe.22 Aufgrund der „gemischten Zusammensetzung“ ihres zentralen Entscheidungsgremiums erweist sich die EZB – entgegen landläufiger Meinung – nicht als vollständig „supranationale“ Einrichtung, sondern als ein „quasi-föderales“ Organ. Zwar sind die Nationalbankpräsidenten als Mitglieder des Governing Council nach Art. 108 EGV unabhängig von jeglicher Weisung Dritter; zugleich aber bleiben sie als Repräsentanten eines Staatsorgans den jeweiligen nationalen Verfassungsbestimmungen unterworfen. Die Dominanz des „Staatenprinzips“ zeigt sich auch daran, dass bei Beschlüssen des EZB-Rats grundsätzlich keine Stimmengewichtung (nach Einlagekapital, Bevölkerung oder BIP) vorgesehen ist,23 sondern nach einfacher Mehrheit der Mitglieder entschieden wird; die „supranationalen“ Direktoriumsmitglieder verfügen dabei über kein Vetorecht (Art. 10.2 ESZB-Satzung). ___________ 21 Dazu gehören vor allem das Erlassen einschlägiger Verordnungen, die Emission von Banknoten und die Abwicklung anfallender Zentralbankgeschäfte. Die nationalen Zentralbanken sind an Leitlinien und Weisungen der EZB rechtlich gebunden (Art. 14.3 ESZB-Satzung). 22 Daneben existiert ein sog. „Erweiterter EZB-Rat“, in dem auch die Nationalbankpräsidenten der Nicht-Euro-Länder vertreten sind, der allerdings über keine substantiellen währungspolitischen Kompetenzen verfügt (Art. 45ff. ESZB-Satzung). 23 Nur bei wenigen speziellen EZB-Ratsentscheidungen (Übertragung der Währungsreserven, Verteilung der Gewinne und Verluste) werden die nationalen Stimmenanteile entsprechend den jeweiligen Kapitalanteilen „gewogen“; die Direktoriumsmitglieder haben hierbei kein Stimmrecht (Art. 10.3 ESZB-Satzung).
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Vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung wurden die Regelungen zur Zusammensetzung des EZB-Rats dahingehend angepasst, dass die Anzahl der im Rat abstimmungsberechtigten Zentralbankpräsidenten auf höchstens 15 begrenzt ist.24 Übersteigt die Anzahl der Euro-Mitgliedstaaten die 15er-Marke, üben die zugehörigen Nationalbankpräsidenten ihr Stimmrecht fortan nach einem Rotationsverfahren aus, das die unterschiedlichen Beiträge der Mitgliedstaaten zum Bruttoinlandsprodukt und zur aggregierten Bilanz der monetären Finanzinstitute einbeziehen und zugleich sicherstellen soll, dass auch die wirtschaftlich schwächeren Staaten im EZB-Rat angemessen vertreten sind. Die konkreten Regelungen erweisen sich jedoch nicht nur als überkomplex, sondern stellen die größeren Mitgliedstaaten sogar zunächst auch schlechter als bei der gegenwärtigen Stimmenverteilung; erst mit dem WWU-Beitritt weiterer (kleinerer) Mitgliedstaaten findet das erstbenannte Kriterium zunehmend Berücksichtigung.25 Von einer wirklichen Stimmendifferenzierung kann allerdings auch dann nicht die Rede sein (Belke/Baumgärtner 2004). Trotz umfassender Befugnisse des ESZB verbleiben dem Rat auch im Bereich der Währungspolitik einige bedeutsame Kompetenzen. Abgesehen davon, dass er über Änderungen bestimmter Teile der ESZB-Satzung entscheiden (Art. 107 Abs. 5 und 6 EGV) und WWU-bezogene Standpunkte auf internationaler Ebene beziehen kann (s. oben), bestimmt der Rat (mit qualifizierter Mehrheit) auch über das „Wechselkurssystem [...] gegenüber Drittlandswährungen“ (Art. 111 Abs. 1 EGV). Die EZB hat in diesem Fall nur ein Anhörungsrecht, das Europäische Parlament ist lediglich zu „unterrichten“.
2.2.4 Charakteristika des „Verfassungsrahmens“ Insgesamt ist der primärrechtliche Rahmen der europäischen Wirtschaftsund Währungspolitik durch folgende Merkmale gekennzeichnet: ___________ 24 Beschluss des Rates in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs über die Änderung des Artikels 10.2 der Satzung des ESZB und der EZB (2003/223/EG vom 21.03.2003). Vgl. auch Empfehlung des ESZB und der EZB für einen Beschluss des Rates EZB/2003/1 vom 03.02.2003. 25
Nach dem benannten Ratsbeschluss werden die Zentralbankpräsidenten der WWU-Staaten in zwei Gruppen eingeteilt, innerhalb derer das (nicht näher ausgeführte) Rotationsverfahren greift: Die erste Gruppe mit den fünf wirtschafts- und finanzstärksten Ländern erhält vier Stimmen, die zweite Gruppe (mit zunächst elf Mitgliedern) elf. Mithin müssen die größeren Staaten von Beginn einer WWU-16 an untereinander „rotieren“, während die kleineren erst mit dem Beitritt von bis zu sieben weiteren Staaten periodisch häufiger mit ihrem Stimmrecht „aussetzen“ müssen. Ab einer WWU-23 soll die zweite Gruppe nochmals unterteilt werden.
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Die formale Struktur des Titels VII weist starke Ungleichgewichtigkeiten auf. Während die großenteils veralteten „Übergangsbestimmungen“ zur WWU äußerst detailliert formuliert sind und fast die Hälfte des gesamten Titels ausmachen, sind die „Routineverfahren“ der Wirtschafts- und Währungspolitik nicht derart ausführlich, in Teilen auch weniger präzise dargestellt. Dadurch wird die grundlegende Funktion des EGV, einen transparenten und effizienzfördernden Rahmen für die europäische Politik vorzugeben, beeinträchtigt. Der vertikalen Kompetenzordnung nach sind die beiden „Säulen“ der WWU gleichfalls asymmetrisch verfasst. Die Wirtschaftspolitik fällt nach wie vor größtenteils in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, während die Währungspolitik nahezu vollständig „europäisiert“ ist. Aus dieser Asymmetrie könnten sich nicht nur funktionale Abstimmungsprobleme ergeben, es sind mit Blick auf die Wirtschaftspolitik vielmehr auch „schleichende Ausdehnungen“ der Gemeinschaftszuständigkeiten möglich, da hier, anders als im Bereich der Beschäftigungspolitik, keine „negativen Eingrenzungen“ nationalstaatlicher Residualkompetenzen bestehen. Hinsichtlich der europäischen Zuständigkeiten im Bereich der Wirtschaftspolitik fällt insbesondere auf, dass der Anwendungsbereich des „finanziellen Beistands“ (Art. 100 Abs. 2 EGV) äußerst unpräzise gefasst ist („außergewöhnliche Ereignisse“). Der in Nizza beschlossene Übergang zur qualifizierten Mehrheitsentscheidung im Rat erweist sich für diesen Aufgabenbereich weniger als Effizienzgewinn, er eröffnet entsprechenden „Allianzpartnerschaften“ eher die Möglichkeit, die „Beistandszuständigkeit“ der EU breiter auszulegen als ursprünglich intendiert. In der gegebenen Form ist Art. 100 Abs. 2 EGV mithin ein mögliches „Einfallstor für die Ausweitung innergemeinschaftlicher Finanztransfers“ (Häde 2001: 100), obwohl durch den wechselseitigen Haftungsausschluss (Art. 103 EGV) einem europäischen Finanzausgleich ein (zunächst) grundsätzlicher „Riegel“ vorgeschoben bleibt. Bezüglich der institutionellen Struktur der europäischen Währungspolitik ist entgegen weitverbreiteter Ansicht festzustellen, dass geldpolitische Grundentscheidungen nicht vom „supranationalen“ EZB-Direktorium getroffen werden, sondern vom „quasi-föderalen“ EZB-Rat, in dem neben den Direktoriumsmitgliedern die jeweiligen Nationalbankpräsidenten der Euro-Gruppe vertreten sind. Dass die Stimmen im EZB-Rat nicht „gewogen“ werden, die EuroStaaten mithin unabhängig von Größe und Finanzkraft gleichgestellt sind, erscheint sowohl aus demokratietheoretischer als auch aus funktionaler Sicht bedenklich. Die jüngste „Reform“ der Entscheidungsstrukturen im EZB-Rat, durch die nach dem WWU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen EU-Staaten ein Rotationssystem eingeführt wird, hat diese Problematik nicht beseitigt, sondern eher verschärft.
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Die währungspolitischen Entscheidungsverfahren weisen insofern eine funktionale Inkohärenz auf, als die EZB zwar für die gemeinschaftsinterne Geldpolitik, für das „Wechselkurssystem [...] gegenüber Drittlandswährungen“ aber der Rat zuständig ist (Art. 111 Abs. 1 EGV). Da die letztbenannten Entscheidungen des Rates für alle Gemeinschaftsorgane – auch für die EZB – verbindlich sind (Art. 111 Abs. 3 EGV), ergibt sich für die externe Währungspolitik zusätzlicher Abstimmungsbedarf zwischen den EU-Institutionen. Zudem ist zu erwarten, dass die entsprechenden Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse stärker von nationalen Sonderinteressen geprägt sind.
2.3 Die Arbeitsebene der Wirtschafts- und Währungspolitik: strukturelle und funktionale Verwerfungen Wie aufgezeigt, ist die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion durch eine spezifische Verbindung von soft coordination (in der Wirtschaftspolitik) und hard law (in der Währungspolitik) gekennzeichnet. Da diese asymmetrische Struktur erst seit relativ kurzer Zeit besteht und im historischen wie internationalen Vergleich ohne Vorbild ist (Chown 2003), lassen sich Chancen und Risiken der WWU bislang nicht exakt umreißen. Unstrittig dürfte sein, dass die gemeinsame Währung intensivere Formen wechselseitiger Abhängigkeit zwischen den beteiligten Staaten erzeugt und somit wesentlich zur Integration Europas beiträgt. Umgekehrt birgt der gegenwärtige wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Kontext der WWU eine Reihe struktureller Herausforderungen. Hierzu zählen insbesondere: Sozioökonomische Disparitäten: Folgt man dem Stand der vor allem wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion, kann der Euroraum nicht als „optimale Währungszone“ (Optimal Currency Area, OCA) bezeichnet werden.26 Demnach ist die EU als Ganzes von den idealtypischen Charakteristika einer in sich stabilen OCA (synchrone Wirtschaftszyklen, hohe Arbeitskräftemobilität, flexible Löhne und Gehälter) noch weit entfernt. Der Hauptgrund hierfür wird – jenseits politisch-institutioneller Asymmetrien und konfligierender Akteursinteressen – in grundlegenden sozioökonomischen Unterschieden zwischen den EU-Staaten gesehen, so etwa in der differierenden Arbeitsproduktivität, divergierenden Lohnpolitiken oder Differenzen in Höhe und Ausprägung der Arbeitslosigkeit. Diese innergemeinschaftlichen Disparitäten werden in der erweiterten Union erheblich an Bedeutung gewinnen. Eine „eindimensionale Euro___________ 26 Zum Konzept der „optimalen Währungszone“ vgl. ursprünglich Mundell (1961), zu dessen Anwendung auf die WWU siehe de Grauwe (1997).
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päisierung“ wirtschaftspolitischer Kompetenzen scheint von daher nicht nur normativ inakzeptabel, sondern auch funktional problematisch. Die „Preisfrage“ lautet, wie unter den gegebenen Bedingungen ein Höchstmaß an effektiv koordinierter Wirtschaftspolitik unter den Euro-Staaten erreicht werden kann. Territoriale Inkongruenzen: Mit Blick auf Transparenz wie Effizienz währungspolitischer Entscheidungsprozesse besteht zusätzlich das Problem, dass „Euroland“ und Europäische Union – selbst innerhalb der „alten“ EU-15 – nicht deckungsgleich sind. Die Nicht-Teilnahme Dänemarks, das sich an die Bindung des EWS hält, sowie Großbritanniens und Schwedens, deren nationale Währungen frei floaten, hat zur Institutionalisierung eines „Euro-12-Rats“ geführt, in dem sich die Wirtschafts- und Finanzminister der Eurostaaten abstimmen. Dieses Gremium verfügt derzeit allerdings über keine vertragsrechtlichen Grundlagen und kann somit auch keine verbindlichen Beschlüsse fassen.27 Politisch-kulturelle Divergenzen: Nicht zuletzt wird eine effektive Konvergenz im Bereich der europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik auch durch unterschiedliche Staats- und Verwaltungstraditionen erschwert. Anders als die Bundesrepublik Deutschland können die meisten EU-Staaten auf keine währungspolitische „Stabilitätskultur“ zurückblicken, die in der Unabhängigkeit der Zentralbank ihren institutionellen Ausdruck findet. Hinzu treten national unterschiedliche Regelungstraditionen, die nicht „über Nacht“ zu homogenisieren sind, mithin auch künftig wirtschafts- und währungspolitische Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene (mit-)prägen werden (vgl. Hall/Soskice 2001; Dyson 2002). Diese strukturellen Kontextbedingungen sind großenteils für die bereits benannten Funktionsprobleme innerhalb der WWU verantwortlich: Im Rahmen der europäischen Wirtschaftspolitik erweist sich die Methode der „Offenen Koordinierung“ zwar als autonomieschonendes Verfahren, das unterschiedliche nationalstaatliche Kontexte adäquat berücksichtigen kann. Problematisch wird die mangelnde Bindungswirkung der Nationalen Stabilitätsprogramme im Rahmen des SWP jedoch dann, wenn eine Regierung aufgrund ihrer Wirtschaftspolitik das Gemeinschaftsinteresse gefährden sollte. Die begrenzte Wirkung des peer reviewing wurde bereits im Frühjahr 2001 offenkundig, als Rat und Kommission der Republik Irland angesichts eines „überhitzten“ Wirtschaftswachstums zu anti-zyklischer Haushaltspolitik rieten; dies ___________ 27 Vgl. Deubner (2001). Der Verfassungsvertrag bringt auch in diesem Kontext keine wirklichen Neuerungen. Zwar wird die Eurogruppe im entsprechenden Protokoll erwähnt und ein „Präsident“ mit zweieinhalbjähriger Amtszeit eingeführt, die Eurogruppe selbst jedoch bleibt – dem Wortlaut nach – „informell“ (dazu auch Deubner 2004: 281).
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jedoch lehnten die irische Regierung sowie weite Teile der Öffentlichkeit ab. In ähnlicher Weise setzte sich die französische Regierung im selben Jahr mit der Ankündigung von Steuersenkungen über das kurz zuvor verabschiedete Nationale Stabilitätsprogramm hinweg, dem zufolge Haushaltsüberschüsse für den Abbau der Staatsverschuldung verwendet werden sollten. Das „weiche“ Sanktionsinstrument einer Rüge erwies sich mithin als ineffektiv. Auch das Verfahren zur Überwachung der nationalstaatlichen Haushaltsdisziplin hat sich bislang nicht wirklich bewährt. Zwar wurden bis 2001 beachtliche Erfolge bei der Eindämmung der Haushaltsdefizite und dem Abbau der Staatsverschuldung im Euroraum erzielt.28 Dieses Ergebnis war jedoch, wie sich ex post deutlich zeigt, weniger dem „Drohgesteneffekt“ des Stabilitätspakts als vielmehr günstigen ökonomischen und finanzpolitischen Rahmenbedingungen geschuldet. Mit der Verschlechterung der Wirtschaftskonjunktur in der Folgezeit verschärfte sich die Situation der öffentlichen Haushalte in den Euro-Staaten beträchtlich.29 Unter diesen Kontextbedingungen konnte der SWP seine „disziplinierende Wirkung“ nicht aufrecht erhalten: Trotz der präzisen Kriterien und harten Maßnahmen, die für den Fall eines übermäßigen öffentlichen Defizits vorgesehen sind, sah der Rat im November 2003 – wie erwähnt – von Sanktionen gegen Deutschland und Frankreich ab, obwohl beide Staaten zum dritten Mal in Folge den im SWP festgelegten Referenzwert für die Neuverschuldung überschritten. Damit nutzten die Euro-Finanzminister den politischen Spielraum, der – entgegen der ursprünglich von Bundesfinanzminister Waigel geforderten „Automatik“ des Sanktionsverfahrens – im SWP verankert wurde (Eichengreen/Wyplosz 1998; Feldmann 2002). Obwohl diese Schlussfolgerungen des Rates vom EuGH (nach Klage der Kommission) im Juli 2004 für nichtig erklärt wurden, beschloss wiederum die Kommission im Dezember 2004, im Verfahren gegen Deutschland und Frankreich keine weiteren Maßnahmen zu ergreifen. Mithin bleibt festzuhalten, dass die Kommission kaum mehr als „Hüter“ des SWP gelten kann; vielmehr weicht sich der Unterschied zwischen hard und soft law im Bereich der Europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik zunehmend auf (Maher 2004). Mit Blick auf die Währungspolitik lässt sich der an Preisstabilität orientierte Kurs der Europäischen Zentralbank bislang insgesamt positiv bewerten. Zwar legte die EZB nach einer Studie der US-Notenbank mit ihrer Leitzinspolitik ___________ 28 So verbesserte sich die Haushaltsbilanz der gesamten Eurozone von 1998 bis 2000 zunächst von –2,2% auf +0,1% des BIP. 29
2003 lag die Haushaltsbilanz der Eurozone bei –2,7%. Vier der 13 Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich, Griechenland und die Niederlande) überschritten dabei die 3%-Marke. Vgl. auch Tabelle III.2 im Materialanhang.
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weniger Wert auf Preisstabilität, als es die Deutsche Bundesbank unter ähnlichen makroökonomischen Rahmenbedingungen getan hätte (Meade/Sheets 2002). Dies mag als Indiz dafür gelten, dass die EZB im europäischen Kontext wesentlich stärkerem politischen Druck ausgesetzt ist als vormals die Bundesbank, die als Modell für die Europäische Zentralbank diente. Andererseits lässt sich auch zeigen, dass die EZB periodisch wiederkehrenden Versuchen der Einflussnahme nationaler Regierungen erfolgreich zu widerstehen vermag (vgl. SZ vom 05.03.2004). Unbenommen davon bleibt die Festlegung einheitlicher Leitzinsen in einem heterogenen Wirtschaftsraum im Rahmen eines quasiföderalen Zentralbankrats ein politischer wie ökonomischer Balanceakt (Favero/Freixas/Persson/Wyplosz 2000).
2.4 Reformoptionen und Handlungsempfehlungen Die in Wissenschaft und Politik diskutierten Optionen für eine normativ wie funktional tragfähige Reform der WWU bezogen sich bislang vor allem auf die ausgewiesenen Institutionen und die vereinbarten Verfahren im Bereich der Währungspolitik. In diesem Kontext unterliegen die folgenden Handlungsperspektiven einer näheren Erörterung: Mit Blick auf eine größere Transparenz der währungspolitischen Grundentscheidungen wurde angeregt, die Protokolle des EZB-Rats bzw. dessen Abstimmungsergebnisse zu veröffentlichen. Dieser Vorschlag ist ohne Abstriche unterstützenswert, wobei die begrenzte Reichweite einer solchen eher formalen Anpassung zu bedenken ist. Ein weiteres institutionelles Defizit wird in der fehlenden Vertretung der Währungsunion auf internationaler Ebene gesehen. Vorgeschlagen wurde etwa die „personelle Bündelung“ der WWU durch einen gewählten „Sprecher“ der Euro-Gruppe im Ecofin-Rat, was zu mehr Transparenz, aber auch zu einer effektiveren Interessenwahrnehmung nach innen und außen führen sollte (Friedrich 2001). Der Verfassungsvertrag sieht dazu zwar die Möglichkeit vor, „eine einheitliche Vertretung bei internationalen Einrichtungen und Konferenzen im Finanzbereich“ zu schaffen (Art. III-196 Abs. 2 VVE), äußert sich aber weder zur institutionellen Ausgestaltung noch zu den Zuständigkeiten einer solchen Vertretung. Nach dem „Protokoll betreffend die Euro-Gruppe“ (Nr. 12 zum VVE) wählen sich die beteiligten Minister einen Präsidenten mit zweieinhalbjähriger Amtszeit; dessen Kompetenzen bleiben jedoch unklar. Von erheblicher Bedeutung ist das Abstimmungsverfahren im EZB-Rat, das derzeit noch unverändert nach dem nationalen Souveränitätsprinzip (eine Stimme pro Mitgliedstaat) erfolgt und somit normative wie funktionale Schwächen
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aufweist. Das 2003 geschaffene Rotationssystem, das nach der Erweiterung der Euro-Gruppe auf mehr als 15 Staaten zur Anwendung kommt, stellt einen politischen Kompromiss zwischen größeren und kleineren Staaten dar. Dieses berücksichtigt zwar formal die unterschiedliche Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten, etabliert aber keine den Namen verdienende „Gewichtung“ der Stimmen. Darüber hinaus empfiehlt es sich, auch den primärrechtlichen Rahmen für WWU-„Routinepolitiken“ an einigen Stellen zu präzisieren. Dies gilt insbesondere für den Anwendungsbereich des „finanziellen Beistands“ (Art. 100 Abs. 2 EGV), der mit „außergewöhnlichen Ereignissen“ unzureichend umschrieben ist. Angesichts der Versuche mehrerer Mitgliedstaaten, die Leitzinspolitik der EZB zu beeinflussen, erscheint zudem von zentraler Bedeutung, dass die „Preisstabilität“ als „Verfassungsprinzip“ und damit als zentrale Arbeitsgrundlage der EZB im Primärrecht verankert bleibt.30 Mit Blick auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt hat vor allem der Verstoß Deutschlands und Frankreichs gegen die vereinbarten Kriterien eine entsprechende Reformdiskussion befördert. Dabei stehen sich zwei Grundpositionen gegenüber (exemplarisch erneut Peffekoven und Zimmermann, jeweils 2003): Während einerseits die gegenwärtige konjunkturelle Situation als Begründung für eine unabdingbare Flexibilisierung des SWP dient, wird andererseits eine konsequentere Anwendung der bestehenden Regelungen gefordert. Allerdings scheint weitgehender Konsens darüber zu bestehen, dass bei einer Reform vor allem die pro-zyklische Struktur des Pakts zu verändern wäre, d.h. die materiellen Sanktionen unter wirtschafts- und finanzpolitischen Krisenbedingungen durch verbindliche Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung in „guten Zeiten“ ersetzt bzw. ergänzt werden sollten. Da jedoch in naher Zukunft mit der Einleitung weiterer Defizitverfahren – etwa für die Niederlande und seit neuestem auch für Griechenland – zu rechnen ist, erscheint eine solche funktionale Verbesserung derzeit kaum realisierbar. Mithin ist offensichtlich, dass bei einer Änderung der Rechtsgrundlagen der Pakt „aufgeweicht“ würde. Freilich gibt es hierzu erste Anzeichen, die sich im Gefolge der lang andauernden Wachstumsschwäche erkennen lassen. So gewinnen Überlegungen an Raum, die Kriterien ___________ 30
Die Relegation der Preisstabilität vom Status eines „Unionsziels“ im EGV (Art. 2) zum (nur) „vorrangigen Ziel“ der Währungspolitik im Konventsentwurf (Art. III-77 VVE-Konvent, III-185 VVE) stieß auf vehementen Protest seitens der EZB und der Bundesbank (vgl. FAZ vom 18.11.2003; SZ vom 09.12.2003). Am 17.05.2004 einigten sich allerdings die Außenminister auf ihrem Brüsseler Treffen darauf, die Preisstabilität zum „offiziellen Ziel der EU-Politik“ zu machen. Im Verfassungsvertrag wurde sie schließlich in den Zielkatalog in Art. I-3 VVE aufgenommen, der an das „magische Viereck“ des bundesdeutschen Stabilitätsgesetzes erinnert.
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„flexibler“ auszulegen, insbesondere auch „Sonderlasten“ (wie die durch die deutsche Vereinigung gegebenen) anzuerkennen. Die letztbenannte Haltung mag zwar politisch „opportun“ erscheinen, dürfte aber angesichts der gewachsenen sozioökonomischen Heterogenität innerhalb der Union neue „Begehrlichkeiten“ wecken, denen mit einer verlässlichen Regelung eher zu begegnen wäre. Angesichts der Abstimmungsschwierigkeiten zwischen supranationaler Währungs- und mitgliedstaatlicher Haushaltspolitik kommt grundsätzlich auch eine erweiterte Anwendung der Methode der Offenen Koordinierung in Betracht (vgl. dazu auch 4. Kapitel, 2.2). So wurde zeitweise diskutiert, einen intergouvernementalen Kooperationsmechanismus auch für den finanzpolitischen Bereich einzuführen. Zudem schlug die Kommission vor, dass der Rat Kommissionsinitiativen im Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung künftig nur einstimmig zurückweisen sollte. Allerdings steht den beträchtlichen politischen wie administrativen Kosten, die mit der Umsetzung beider Reformoptionen verbunden wären, ein nur relativ geringer Nutzen gegenüber. Ein substantieller Beitrag zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Euro-Raums ist von der „offenen Koordinierung“ derzeit wohl nicht zu erwarten (zusammenfassend Bundesministerium der Finanzen 2002).
3. Agrarpolitik: supranationaler Protektionismus und zwischenstaatliche Umverteilung Im Gegensatz zur WWU nimmt die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) unter den europäischen Aufgabenfeldern in wenigstens zweifacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Nicht nur ist die „Regelungsdichte“ im Bereich der GAP größer als in allen anderen Politikfeldern; auch finanziell stellt sie den nach wie vor gewichtigsten Posten des EU-Haushalts dar.31
3.1 Reglementierung und Subventionierung: die historische Entwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik Die heute gültigen Rechtsgrundlagen der GAP wurden bereits in den Römischen Verträgen (1957) festgeschrieben (Art. 38–46 EWGV). Ihrer Logik nach ___________ 31
Unter den europawissenschaftlichen Analysen zur GAP vgl. Ackrill (2000); Daugbjerg/Swinbank (2004); Grant (1995); Lippert/Bode (2001); Mögele (2000); Pouliquin (2001); Piccinini/Loseby (2001); Rieger (1999, 2000); Urff (2002); Webber (1999).
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waren diese Bestimmungen insofern einzigartig, als dadurch ein auf europäischer Ebene regulierter und subventionierter Agrarsektor entstand, während für die anderen Wirtschaftsbereiche sukzessiv ein interventionsfreier Binnenmarkt geschaffen wurde. Der Entscheidung der sechs Gründerstaaten, ihre (hochgradig protektionistischen) Agrarpolitiken zu vergemeinschaften, lag eine doppelte Intention zugrunde: Zum einen sollte die Selbstversorgung Westeuropas mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und damit die Unabhängigkeit von (USamerikanischen) Nahrungsmittelimporten erreicht werden; zum anderen zielte die GAP auf eine mittel- und langfristige Einkommenssicherung für die im Agrarbereich Beschäftigten ab. Aufgrund struktureller Divergenzen zwischen ihren Landwirtschaftssektoren konnten sich die EWG-Staaten zunächst nicht auf ein klares Profil der GAP verständigen. Entsprechend unscharf blieben die primärrechtlichen Regelungen: So sollten die „Grundlinien für eine gemeinsame Agrarpolitik“ – wie Art. 43 EWGV (heute Art. 37 Abs. 1 EGV) explizit ausführte – auf einer „Konferenz der Mitgliedstaaten“ erarbeitet werden, die im Juli 1958 in Stresa stattfand und die Kommission mit der Erarbeitung entsprechender Vorschläge beauftragte. Nach diesem sog. Ersten Mansholt-Plan wurden die folgenden, bis heute fortbestehenden Prinzipien der GAP festgelegt: Gemeinsame Marktordnungen: Als regulativer Rahmen für den Agrarbinnenmarkt fungieren Gemeinsame Marktordnungen (GMO), die inzwischen knapp 95% der landwirtschaftlichen Erzeugnisse umfassen. Trotz produktspezifischer Unterschiede enthält jede GMO protektionistische Maßnahmen externer und/oder interner Art. So sind nahezu alle in der EG produzierten landwirtschaftlichen Produkte durch ein „Abschöpfungssystem“ mehr oder minder stark vom Weltmarkt abgeschirmt. Zudem enthalten die GMO für wichtige Agrargüter (Getreide, Milch, Reis, Zucker, etc.) staatliche Abnahmegarantien von Überschusserträgen zu festgelegten Mindestpreisen.32 Gemeinsame Finanzierung: Nach dem Willen der politischen Entscheidungsträger sind die Maßnahmen der GAP nicht von den jeweiligen Mitglied-
___________ 32 Bezugspunkt einer GMO ist der „Richtpreis“, der jährlich vor der Erntezeit festgelegt wird. Daran orientiert sich der „Schwellenpreis“, d.h. der Mindestpreis für entsprechende Güter, die aus Drittstaaten eingeführt werden. Tiefere Preise von Importprodukten wurden bis 1995 durch „Abschöpfungen“ künstlich angehoben, ehe an deren Stelle ein System fester Außenzölle trat. Bei GMO „mit Marktsicherung“ (Oppermann 1999: Rn. 1376) dient der Richtpreis auch zur Festsetzung des (niedrigeren) „Interventionspreises“, zu dem die entsprechenden Produkte von staatlicher Seite aufgekauft werden.
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staaten, sondern aus einem gemeinsamen Haushalt zu finanzieren.33 Hierzu dient hauptsächlich der 1962 geschaffene Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL).34 Mit Blick auf den Finanzrahmen der GAP ging man ursprünglich von einem kostenneutralen Eigenmittelsystem aus, da man aufgrund der starken Importabhängigkeit der EWG-Staaten im Nahrungsmittelsektor meinte, die Ausgaben für Preisstützungsmaßnahmen würden vollständig über Zolleinnahmen gedeckt. Gemeinsame Agrarstrukturpolitik: In Ergänzung zur gemeinsamen Marktbzw. Preispolitik wurde mit dem Zweiten Mansholt-Plan (1968) eine europäische Agrarstrukturpolitik in der Absicht eingeführt, durch gezielte Investitionen in wettbewerbsfähige Betriebe die Landwirtschaft der Mitgliedstaaten zu modernisieren. Dieses Konzept einer an ökonomischer Effizienz orientierten Ausrichtung der GAP konnte jedoch politisch nur zum Teil durchgesetzt werden, da mit steigender Arbeitslosigkeit in ländlichen Räumen, der sukzessiven Erweiterung der Gemeinschaft sowie dem Auf- und Ausbau der europäischen Regionalpolitik auch ineffiziente Kleinbetriebe nicht von Fördergeldern ausgeschlossen blieben. Dieses agrarpolitische System erbrachte insofern die gewünschten Erfolge, als die EG innerhalb weniger Jahre ihre Selbstversorgung mit wichtigen Grundnahrungsmitteln sicherstellen konnte. Bis Anfang der 1980er Jahre wurde die 100%-Marke bei zahlreichen Produkten (Butter, Fleisch, Getreide und Zucker) sogar deutlich überschritten. Mit der enormen Produktivitätssteigerung veränderte sich indes auch die Funktionsweise der GAP; sie zeitigte nun zunehmend problematische Effekte: x Die Überproduktion an landwirtschaftlichen Produkten führte zu einem exponentiellen Wachstum des EAGFL und mithin zu einer Kostenexplosion (vgl. Tabellen III.2 und III.3 im Materialanhang). Dass die EG inzwischen selbst Nettoexporteur von Agrarerzeugnissen war, zog auch eine Erhöhung der Ausfuhrsubventionen nach sich. Hinzu kam, dass Ankauf und Lagerung von Überschusserzeugnissen („Butterberge“, „Milchseen“) – die staatlich abgenommen wurden, aber nicht auf den Markt gebracht werden konnten – enorme Kosten verursachten.
___________ 33 Ursprünglich wurde die Kostenverteilung des EAGFL mit Veränderung der Richtbzw. Schwellenpreise jeweils neu festgesetzt. Erst 1971 erfolgte die Eingliederung der GAP in den EG-Haushalt. 34 Aus der „Abteilung Garantie“ wird die Markt- bzw. Preispolitik finanziert, während sich die „Abteilung Ausrichtung“ auf die Agrarstrukturpolitik richtet.
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x Das Preisstützungssystem, das hauptsächlich zur Einkommenssicherung von nur eingeschränkt wettbewerbsfähigen Landwirten eingerichtet worden war, führte im Ergebnis zu einer negativen Umverteilung. So profitierten von den (praktisch unbeschränkten) Abnahmegarantien insbesondere Großbetriebe, die ohnehin effizient wirtschafteten und ihre Überschüsse an den Staat verkaufen konnten (noch Ende der 1980er Jahre entfielen 80% der GAP-Ausgaben auf 20% der landwirtschaftlichen Betriebe). x Die protektionistische Abschottung des Agrarbinnenmarktes gegenüber dem Weltmarkt führte zu wachsenden Konflikten zwischen der EG und anderen Staaten innerhalb des Welthandelsregimes (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT; seit 1995: World Trade Organization, WTO). Mit Abschluss der Uruguay-Runde des GATT (1993) verpflichtete sich die EG schließlich darauf, interne Preisstützungsmaßnahmen wie Exportbeihilfen für Agrarerzeugnisse zu einem gewissen Grad abzubauen. Angesichts des wachsenden externen wie internen Reformdrucks wurden seit Mitte der 1980er Jahre mehrere Versuche unternommen, die GAP umzustrukturieren – allerdings mit nur begrenztem Erfolg. Nach zahlreichen kleineren Veränderungen (Einschränkungen der Abnahmegarantien, Einführung einer Obergrenze für Agrarausgaben, Auflage diverser Strukturanpassungsprogramme) markierte die sog. Mac Sharrey-Reform (1992) eine gewisse „Trendwende“: Durch Einführung von Direktbeihilfen an die Landwirte sollten deren Einkommen von dem Preisstützungssystem für Agrarprodukte abgekoppelt werden. Die entsprechenden Interventionspreise wurden allerdings nicht abgeschafft, sondern lediglich gesenkt. Auch im Rahmen der Agenda 2000 erfolgte keine grundsätzliche Abkehr vom bisherigen GAP-System. Erneut beschloss der Europäische Rat nur punktuelle Anpassungen (s. unten 3.3), obwohl in mehreren Hinsichten struktureller Reformbedarf bestand. Erstens zeichnete sich im Zuge der WTO-Verhandlungen 1999 eine weitere Öffnung bzw. Liberalisierung der landwirtschaftlichen Weltmärkte ab. Zweitens war mit Blick auf die bevorstehende EU-Osterweiterung abzusehen, dass eine Übertragung des bestehenden Fördersystems auf die großen und modernisierungsbedürftigen Landwirtschaftssektoren der neuen Mitgliedstaaten den finanziellen Rahmen der Agrarausgaben sprengen würde (Pfennig 1997; Stark 1996). Drittens bewirkte die BSE-Krise, die ab Anfang der 1990er Jahre zunächst in Großbritannien, später auch in anderen Staaten Europas zu einem Vertrauensverlust der Verbraucher führte, ein erhöhtes Bewusstsein für Nahrungsmittelsicherheit und damit eine höhere Wertschätzung umweltfreundlicher Landwirtschaft. Vor diesem Hintergrund versuchte die EU-Kommission – darunter insbesondere der zuständige Kommissar Franz Fischler – die ökonomische wie öko-
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logische Modernisierung der GAP fortzuführen, etwa durch Einführung gemeinsamer Standards für den sog. „Öko-Landbau“ und die Ausrichtung am Konzept einer „Multifunktionalen Landwirtschaft“.35 Im Juni 2003 einigten sich dann die EU-Landwirtschaftsminister in Luxemburg auf ein weiteres „Reformpaket“ mit den folgenden Kernelementen: x produktionsunabhängige einheitliche Betriebsprämien für Landwirte,36 x eine Verknüpfung dieser Zahlungen mit Auflagen in den Bereichen Umweltschutz, Lebensmittelsicherheit, Gesundheit von Tieren und Tierschutz sowie ökologischer Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Nutzflächen (sog. cross compliance), x eine Intensivierung der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums, x eine Kürzung der Direktzahlungen („Modulation“) für größere Betriebe, x eine „Deckelung“ der Agrarausgaben bis 2013 sowie x erneute Kürzungen der Interventionspreise.37 Die entsprechenden Verordnungen bzw. Sektorverordnungen wurden vom Rat im September 2003 verabschiedet.38 ___________ 35
Vgl. Europäische Kommission (2002) und Mahé/Ortalo-Magné (2001); darüber hinaus VO 2092/91/EWG des Rates vom 24.06.1991 über den ökologischen Landbau und die entsprechende Kennzeichnung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und Lebensmittel (Konsolidierte Fassung: CONSLEG: 1991R2092 vom 01.05.2004). 36
In begrenztem Umfang können weiterhin an die Erzeugung gekoppelte Zahlungen gewährt werden, um eine Aufgabe der Produktion zu verhindern. 37
Rat der Europäischen Union: Pressemitteilung zur 2516. Tagung des Rates Landwirtschaft und Fischerei vom 27.06.2003. 38 VO 1782/2003/EG des Rates vom 29.09.2003 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der VO’en 2019/93/EWG, 1452/2001/EG, 1453/2001/EG, 1454/2001/EG, 1868/94/EG, Nr. 1251/ 1999/EG, 1254/1999/EG, 1673/2000/EG, 2358/71/EWG und 2529/2001/EG; VO 1783/ 2003/EG des Rates vom 29.09.2003 zur Änderung der VO 1257/1999/EG über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Ausrichtungsund Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL); VO 1784/2003/EG des Rates vom 29.09.2003 über die gemeinsame Marktorganisation für Getreide; VO 1785/2003/EG des Rates vom 29.09.2003 über die gemeinsame Marktorganisation für Reis; VO 1786/ 2003/EG des Rates vom 29.09.2003 über die gemeinsame Marktorganisation für Trockenfutter; VO 1787/2003/EG des Rates vom 29.09.2003 zur Änderung der VO 1255/ 1999/EG über die gemeinsame Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse; VO 1788/2003/EG des Rates vom 29.09.2003 über die Erhebung einer Abgabe im Milchsektor.
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3.2 Die europäische Kompetenzordnung im Agrarbereich: der rechtliche Status quo 3.2.1 Allgemeine Vertragsbestimmungen Gemäß Art. 3 Abs. 1 EGV zählt zum Aufgabenbereich der EG auch „eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft und der Fischerei“ (Buchstabe e). Die primärrechtlichen Bestimmungen zur Gemeinsamen Agrarpolitik sind im Titel II „Landwirtschaft“ zusammengefasst (Art. 32–38 EGV). Dabei fällt zunächst auf, dass die GAP in ein ambivalentes Verhältnis zum Binnenmarkt gerückt ist. So konstatiert Art. 32 Abs. 1 EGV, dass der „Gemeinsame Markt [..] auch die Landwirtschaft und den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen“39 umfasst. Im nachfolgenden Absatz 2 wird allerdings die Anwendung der „Vorschriften für die Errichtung des Gemeinsamen Marktes [..] auf die landwirtschaftlichen Erzeugnisse“ wiederum den Bestimmungen des Titels II explizit untergeordnet und somit eingeschränkt. Auch die primärrechtlichen Wettbewerbsregeln gelten für den landwirtschaftlichen Bereich nicht automatisch, sondern finden darauf „nur insoweit Anwendung, als der Rat dies unter Berücksichtigung der Ziele [der GAP..] bestimmt“ (Art. 36 Abs. 1 EGV). Art. 33 Abs. 1 EGV weist der Gemeinsamen Agrarpolitik einen äußerst weitgesteckten Aufgabenbereich zu. So umfassen die fünf Ziele sowohl ökonomische als auch soziale Aspekte: x Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität, x Gewährleistung einer „angemessenen Lebenshaltung“ der in der Landwirtschaft Beschäftigten, x Stabilisierung der Märkte bzw. x Sicherstellung der Versorgung (mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen) und x angemessene Preise für die Verbraucher. Zur Erreichung dieser Ziele dient in erster Linie der Gemeinsame Agrarmarkt, der nach Art. 34 Abs. 1 EGV obligatorisch einzurichten ist. Für dessen Organisationsform belässt der EGV hingegen mehrere Möglichkeiten mit je unterschiedlicher Regelungsintensität (ebd.): ___________ 39
Nach Art. 32 EGV zählen zu „landwirtschaftlichen Erzeugnissen“ sowohl die landwirtschaftlichen Urprodukte aus Agraranbau, Viehzucht und Fischerei sowie die „Erzeugnisse erster Verarbeitungsstufe“ (z.B. Milchprodukte). Konkret aufgeführt sind die einzelnen Güter in Anhang I EGV. Der forstwirtschaftliche Bereich gehört nicht zum Anwendungsbereich der GAP.
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x Einführung „gemeinsame[r] Wettbewerbsregeln“ (d.h. Fortbestehen nationaler Marktordnungen bei gleichzeitiger Beseitigung jeglicher Wettbewerbsverzerrungen); x „bindende Koordinierung der verschiedenen einzelstaatlichen Marktordnungen“ (d.h. EG-induzierte Anpassungsprozesse der mitgliedstaatlichen Agrarmarktordnungen, zugleich jedoch Fortbestehen nationaler Preissysteme); x „eine europäische Marktordnung“ (d.h. Preisregulierung, Abnahme von und Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen als EG-Zuständigkeit). Faktisch wurde vor allem von der letztbenannten Option einer umfassenden Regulierung auf europäischer Ebene Gebrauch gemacht. Die Sekundärrechtssetzung verstärkte die „Zentralisierung“ der GAP noch insofern, als die GMO für die einzelnen landwirtschaftlichen Erzeugnisse meist in der unmittelbar rechtswirksamen Form der Verordnung verabschiedet wurden. Ein weiteres Instrument der GAP ist die Agrarstrukturpolitik. Im Unterschied zur Gemeinsamen Marktorganisation wird diese weder als expliziter Begriff in Titel II erwähnt noch als obligatorischer Bestandteil der GAP gekennzeichnet. Allerdings verweist der EGV auf mögliche strukturpolitische Maßnahmen für die Landwirtschaft: So geht es in Art. 35 EGV um die gemeinschaftliche Förderung landwirtschaftsbezogener Bildung und Forschung, während Art. 36 EGV die Gewährung von Beihilfen für „durch strukturelle oder naturgegebene Bedingungen benachteiligt[e]“ Betriebe sowie „im Rahmen wirtschaftlicher Entwicklungsprogramme“ als europäische Handlungsoptionen benennt. Die eher nachgeordnete Bedeutung, die das Primärrecht der Agrarstrukturpolitik zuerkennt, wird dadurch unterstrichen, dass die (fakultative) Einrichtung „ein[es] oder mehrere[r] Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft“ (Art. 34 Abs. 3 EGV) in funktionalem Bezug zur Gemeinsamen Marktordnung, nicht aber zu strukturpolitischen Maßnahmen steht. Hervorzuheben ist schließlich, dass sich auch außerhalb des Landwirtschaftstitels für die GAP einschlägige Bestimmungen im EGV finden. Dies gilt insbesondere für die „Querschnittsklauseln“ des Art. 3 EGV (Umweltschutz; vgl. dazu unten 5.) sowie des Art. 153 Abs. 2 EGV (Verbraucherschutz), die bei allen agrarpolitischen Maßnahmen prinzipiell zu berücksichtigen sind.
3.2.2 Vertikale Aufgabenteilung Innerhalb der europäischen Kompetenzordnung gehört die Gemeinsame Agrarpolitik grundsätzlich zu den „konkurrierenden“ Aufgabenbereichen, d.h. die Mitgliedstaaten sind nur dann in ihren Zuständigkeiten eingeschränkt, wenn die EG bereits in dem entsprechenden Teilbereich rechtsetzend tätig wurde. Der
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primärrechtliche Handlungsspielraum in Verbindung mit „zentralisierenden“ Präferenzen der politischen Entscheidungsträger hat jedoch zu einer nahezu vollständigen „Europäisierung“ der Agrarpolitik geführt. Faktisch ist daher eher von einer „nachträglich exklusiven Zuständigkeit der Gemeinschaft“ (Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil 2001: 607) zu sprechen. Zu Möglichkeiten der Rückübertragung agrarpolitischer Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten finden sich keine expliziten Bestimmungen im EGV. Dies besagt freilich nicht, dass eine entsprechende Neuordnung der Zuständigkeiten ausgeschlossen wäre; vielmehr bleibt diese zum größten Teil der Sekundärrechtsetzung – mit anderen Worten: der „EU-Routinepolitik“ – vorbehalten.
3.2.3 Horizontale Aufgabenteilung Das alleinige Entscheidungszentrum der GAP bildet der Rat der EU. Nach Art. 37 Abs. 2 EGV erlässt er zu allen agrarpolitischen Regelungsmaterien „mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments Verordnungen, Richtlinien oder Entscheidungen, unbeschadet seiner etwaigen Empfehlungen“. An diesem materiell undifferenzierten Verfahren fällt zum einen auf, dass das Europäische Parlament über keine echten Kontrollkompetenzen verfügt. Zum anderen zeigt ein Blick auf die Arbeitsebene, dass die qualifizierte Mehrheitsregel – entgegen theoretischen Annahmen – in diesem Fall keine Steigerung der Entscheidungseffizienz bewirkte. So herrschte spätestens seit dem „Luxemburger Kompromiss“ ein konsensuales Verhalten im Agrarministerrat vor, zu einer Majorisierung durch die großen Mitgliedstaaten kam es nicht. Faktisch muss daher von „versteckter Einstimmigkeit“ gesprochen werden. Die umfassende Berücksichtigung nationalstaatlicher Eigeninteressen spiegelt auch die „Kompensationsklausel“ in Art. 37 Abs. 3 Buchstabe a wider, der zufolge der Rat die einzelstaatlichen Marktordnungen nur dann durch eine „gemeinsame Organisation“ ersetzen kann, „wenn sie den Mitgliedstaaten, die sich gegen diese Maßnahme ausgesprochen haben und eine eigene Marktordnung für die in Betracht kommende Erzeugung besitzen, gleichwertige Sicherheiten für Beschäftigung und Lebenshaltung der betreffenden Erzeuger bietet“. Im Übrigen sieht der Europäische Verfassungsvertrag mit Blick auf die Organisation der gemeinsamen Agrarmärkte einen Übergang vom Anhörungszum Mitentscheidungsverfahren vor (Art. III-231 VVE). Zwar werden die Kontrollmöglichkeiten des Parlaments dadurch erweitert; ob es allerdings auch zu konsequenten Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit kommt, erscheint zweifelhaft, zumal die „Kompensationsklausel“ im VVE unverändert übernom-
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men wurde und die in diesem Kontext zu berücksichtigenden „nationalstaatlichen Interessen“ in der erweiterten Union an Bedeutung gewinnen dürften. Im Unterschied zu den Agrarmärkten sieht der VVE weiterhin keine Mitentscheidung im Bereich der Fischereipolitik (Festsetzung der Preise, Abschöpfungen und Beihilfen) vor.
3.2.4 Charakteristika des „Verfassungsrahmens“ Insgesamt ist der primärrechtliche Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik durch folgende Charakteristika gekennzeichnet: Die benannten Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik – zutreffend als „magisches Fünfeck“ (Oppermann 1999: Rn. 1364) beschrieben – markieren nicht nur einen weitgesteckten Handlungsrahmen der EG, sie stehen vielmehr auch in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis. Vor diesem Hintergrund erscheint das inhaltliche Profil der GAP zu unbestimmt, da der EGV weder etwaige Schwerpunkte der europäischen Zuständigkeiten innerhalb des umfassenden Aufgabenkatalogs erkennen lässt noch sich zu dessen Umsetzungsbedingungen äußert. Insbesondere fällt auf, dass die materiell anspruchvollen Ziele in keinerlei Bezug zu Effizienzkriterien (etwa: Verhältnismäßigkeit des finanziellen Aufwandes) gestellt sind. Auch auf instrumenteller Ebene sind die primärrechtlichen Bestimmungen zur GAP ein zu unpräziser Rahmen für die „EU-Tagespolitik“. Sowohl die konkrete Ausgestaltung der Agrarmarktordnung – darunter die Abgrenzung der GAP zum Wettbewerbskodex (Art. 36 EGV) – als auch Umfang und Tiefenwirkung europäischer Agrarstrukturpolitik fallen nahezu vollständig in die Entscheidungsbefugnis des Ministerrats. Zudem benennt der EGV keine Teilbereiche, die den Mitgliedstaaten explizit vorbehalten blieben. So ist selbst die grundlegende Kompetenzverteilung innerhalb der GAP nicht den primärrechtlichen Regelungen, sondern nur der politischen Praxis zu entnehmen. Der Agrarministerrat verfügt über einen nahezu unbeschränkten Handlungsspielraum – nicht nur in vertikaler, sondern auch in horizontaler Sicht. Da das Anhörungsverfahren für alle einschlägigen Entscheidungsmaterien gilt, kommt dem Europäischen Parlament keine echte Kontrollfunktion zu. Darüber hinaus ist die „versteckte Einstimmigkeit“ bei Ratsabstimmungen nicht mit einer Wahrung nationalstaatlicher Interessen oder gar einer „autonomieschonenden Politik“ gleichzusetzen, weil daraus häufig genug Anreize zu „kumulierten“ Kompensationsmaßnahmen geschaffen werden, die nicht an der Gesamteffizienz des Politikbereichs ausgerichtet sind. An der zuletzt benannten Konstellation ändert auch der im VVE vorgesehene Übergang vom Anhörungs- zum Mitentscheidungsverfahren bei den Agrarmarktordnungen wenig.
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3.3 Die Arbeitsebene: Modernisierungsversuche und Interessen der Bestandserhaltung Wie ausgeführt, basiert die europäische Agrarpolitik noch heute auf jenen „unitarischen Prinzipien“ (gemeinsame Marktordnungen, gemeinsame Finanzierung, gemeinsame Strukturpolitik), die in den 1960er Jahren vereinbart wurden. Angesichts der Produktionssteigerungen entstand so ein europäischer „Agrarfinanzausgleich“ beträchtlichen Ausmaßes, von dem die einzelnen Mitgliedstaaten – je nach Beitragszahlungen und landwirtschaftlichen Erzeugungsraten – in unterschiedlicher Weise profitieren oder betroffen sind (vgl. Tabellen III.3–5 im Materialanhang). Als besonders problematisch erwies und erweist sich dieses Umverteilungssystem für Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland, die sowohl über eine bedeutsame Agrarstruktur verfügen als auch zu den Nettozahlern innerhalb der Gemeinschaft gehören. Da Art und Umfang agrarpolitischer Beihilfen auf europäischer Ebene entschieden werden, stellt sich für die Bundesregierung das grundsätzliche Dilemma, die „Anbindung“ der landwirtschaftlichen Einkommen an die allgemeine Lohnentwicklung im Inland aufrecht zu erhalten, ohne zugleich die Beiträge zum EU-Haushalt zu erhöhen. Dies bildet auch den Hintergrund für die wiederholt vorgetragenen Forderungen einzelner Bundes- wie Landespolitiker nach einer „Renationalisierung“ agrarpolitischer Zuständigkeiten (vgl. SZ vom 03.07.2002). Die Gemeinsame Agrarpolitik erscheint jedoch nicht nur aus deutscher Sicht, sondern vielmehr auch aus funktionalen wie normativen Gründen dringend reformbedürftig. Die in Teilen bereits angesprochenen Argumente liegen auf der Hand: x Aufgrund der hochkomplexen Struktur der Gemeinsamen Agrarpolitik sind deren Wohlfahrtskosten nur schwer nachzuvollziehen und nicht hinreichend kontrollierbar. x Trotz steigender Ausgaben wurde das selbstgesetzte Ziel der „Einkommenssicherung“ für Landwirte nur unzureichend erfüllt. x Im Rahmen einer EU-25/27 droht bei einer modifikationslosen Übertragung der GAP auf die in Teilen stark agrarisch geprägten Staaten Mittel- und Osteuropas40 eine deutliche finanzielle wie funktionale Überforderung. ___________ 40
Nach Aufnahme aller zehn mittel- und osteuropäischen Beitrittstaaten stieg die landwirtschaftliche Gesamtnutzfläche der EU um 28%, die Zahl der im Agrarsektor Beschäftigten nahm um fast 60% zu (Directorate-General for Agriculture 2004: 2.0.1.2).
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x Seitens der Welthandelsorganisation (WTO) wird auf eine weitere Liberalisierung der europäischen Agrarmärkte gedrängt.41 Angesichts dieser schwerwiegenden Probleme war bereits im Vorfeld der Verhandlungen über die Agenda 2000 ersichtlich, dass die GAP grundlegenden Veränderungen unterzogen werden müsste. Folgt man der offiziellen Einschätzung der Europäischen Kommission, markierte die Agenda 2000 zwar die radikalste Reform der GAP seit ihrer Etablierung. Blickt man allerdings auf die konkreten Vereinbarungen, so ließ auch diese „Reform“ die Prinzipien des Agrarsystems unberührt. Die Veränderungen, die vom Europäischen Rat in Berlin 1999 beschlossen wurden, waren wiederum nur punktueller Natur: Neben einer weiteren Senkung einzelner Interventionspreise wurde den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, die Direktbeihilfen an Landwirte innerhalb bestimmter Grenzen zu modularisieren.42 „Sensiblere“ Entscheidungen – wie die Übertragung des GAP-Systems auf die Beitrittsländer Mittel- und Osteuropas – wurden dagegen erneut vertagt. Ähnliches gilt auch für den entsprechenden Beschluss des Europäischen Rats vom 24./25. Oktober 2002 in Brüssel.43 Danach werden die Direktzahlungen an die mittel- und osteuropäischen Landwirte ab Mai 2004 stufenweise eingeführt und erst ab 2013 das in den „alten“ Mitgliedstaaten übliche Niveau erreichen. Während diese Entscheidung bei den Regierungen der Beitrittsländer auf teils vehemente Ablehnung stieß, bedauerten einige EU-Staaten, so Großbritannien, dass die „Verlegenheitslösung“ des Brüsseler Gipfels die unabweisbare Strukturreform der GAP weiter verzögern werde (The Economist vom 25.10.2002). Dabei erscheint eine substantielle Veränderung des gegenwärtigen Beihilfensystems als einzige Lösung, einen mittelfristigen Konsens über die GAP in der erweiterten Union sicherzustellen: So sprechen zum einen finanzielle wie funk___________ 41
Seit dem Scheitern der Welthandelskonferenz in Cancún (September 2003) konnte keine Einigung über die weitere Liberalisierung des EU-Agrarmarktes erzielt werden. Hiervon unbenommen gilt jedoch Art. 20 des GATT-Abkommens über die Landwirtschaft (1994), der den Abbau protektionistischer Maßnahmen in den Landwirtschaften der Unterzeichnerstaaten vorsieht. Eine ausführliche Dokumentation der Verhandlungsziele, -prozesse und -inhalte findet sich auf der WTO-Internetseite. 42 Gemäß der sog. „Horizontalen Verordnung“ (VO 1259/99/EG des Rates vom 17.05.1999 zur Festlegung von Gemeinschaftsregeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik) können die Staaten die Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebe um bis zu 20% kürzen, wenn diese bestimmte Kriterien (Anzahl der Arbeitskräfte, Umfang des Gesamterträge, Gesamthöhe der Stützungszahlungen, Einhaltung von Umweltauflagen) nicht erfüllen. Dadurch freiwerdende Beträge sind zur nationalen Ko-Finanzierung von „flankierenden Maßnahmen“ einzusetzen (vgl. Urff 2002: 431). 43
Europäischer Rat von Brüssel, 24.–25.10.2002: Schlussfolgerungen des Vorsitzes.
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tionale Gründe dagegen, das System produktionsunabhängiger Subventionen auf die Beitrittsländer zu übertragen, da dies die bestehenden (meist höchst unrentablen) Agrarstrukturen im östlichen Europa konservieren würde; zum anderen dürfte sich eine „Asymmetrie“ der Beihilfen nicht über 2013 hinaus aufrecht erhalten lassen, zumal den neuen Mitgliedstaaten auch bei den Beitragszahlungen zum EU-Haushalt keine Sonderkonditionen eingeräumt wurden.
3.4 Reformoptionen und Handlungsempfehlungen Auch wenn eine völlige Renationalisierung der GAP ausgeschlossen sein dürfte (sie widerspräche zudem dem Binnenmarktprinzip), scheint es aus funktionalen Gründen unabdingbar, die europäische Agrarpolitik in Teilen zu dezentralisieren und/oder zu deregulieren. Eine solche Reform könnte u.a. folgende Maßnahmen beinhalten:44 x So ist es vorstellbar, die Preispolitik für landwirtschaftliche Erzeugnisse (schrittweise) zu liberalisieren, wobei insbesondere die Mindestpreisgarantien weiter „zurückzufahren“ sind. Zugleich sollten auch Direktzahlungen aus dem EU-Haushalt langsam reduziert und ggf. durch nationale Einkommensbeihilfen ersetzt werden, deren Umverteilungseffekt auf nationaler bzw. regionaler Ebene politisch zu rechtfertigen wäre. x Die regulativen Zuständigkeiten der EU sollten langfristig auf die Kontrolle landwirtschaftlicher Qualitätsstandards (v.a. im Bereich des Umwelt- und Verbraucherschutzes) beschränkt werden. x Zudem wären die materiellen Zuständigkeiten der EU auf eine „echte“ Strukturpolitik hin auszurichten, d.h. gemeinschaftliche Fördermaßnahmen hauptsächlich auf die Herstellung bzw. Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit landwirtschaftlicher Betriebe zu konzentrieren. ___________ 44 Eine ähnliche Position vertritt auch der im Juli 2003 vorgelegte Bericht, der von einer Gruppe von Wirtschafts- und Politikwissenschaftlern unter Vorsitz des belgischen Ökonomen André Sapir auf Initiative von Kommissionspräsident Prodi erstellt wurde (Sapir u.a. 2003). Zur Frage, wie Europa ein höheres Wirtschaftswachstum erreichen könne, empfahl der Bericht, das EU-Budget stärker auf Bildung und Zukunftsinvestitionen zu konzentrieren und weniger in umverteilende Maßnahmen zu investieren. Gleichzeitig plädierten die Verfasser für eine „Dynamisierung“ des Binnenmarktes, eine Umorientierung bei der Strukturpolitik sowie eine effektivere Nutzung der existierenden Entscheidungs- und Regulierungsmechanismen. Während der Bericht in den Medien allgemein als positiver Anstoß für haushalts- sowie agrar- und strukturpolitische Reformen bewertet wurde (Le Monde vom 19.07.2003), kam es innerhalb der Kommission zu überwiegend kritischen Reaktionen (NZZ vom 18.07.2003).
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Eine derart umfassende Reform stieße freilich in einzelnen Mitgliedstaaten auf erhebliche politische Widerstände. Vor allem Frankreich, das von dem gegenwärtigen Agrarsystem am stärksten profitiert, stellte sich in der Vergangenheit gegen jedwede substantielle Veränderung der GAP. Dies gilt nicht nur für „Radikallösungen“ wie den 1999 von der deutschen Bundesregierung eingebrachten Vorschlag, nach dem die Verteilungsregeln für Agrardirektbeihilfen unverändert auf europäischer Ebene beschlossen, jedoch aus den nationalen Haushalten finanziert werden sollten. Da allzu offensichtlich war, dass Deutschland hierdurch seine Nettozahlerposition wesentlich verbessert hätte, war diese Handlungsoption nicht mehrheitsfähig. Gemessen an einem solchen „strukturellen Veto-Potential“ erscheint die im Juni 2003 beschlossene „Reform“ der GAP durchaus bemerkenswert. In den Detailregelungen ergeben sich jedoch auch hier vielfältige Probleme, so über die Verordnung zur Regelung der Betriebsprämien, die erheblichen Spielraum für die Fortführung produktionsbezogener Zahlungen belässt.45 Unabhängig von den politischen Interessenkonstellationen gilt, dass für die Umsetzung einer möglichst weitgehenden Reform der GAP deren primärrechtlicher Rahmen präziser zu fassen ist. In diesem Zusammenhang lassen sich aus der vorgetragenen Analyse folgende Empfehlungen ableiten: x Das Zielprofil der Gemeinsamen Agrarpolitik sollte „geschärft“ werden. Wenn auch aus politischen Gründen keines der fünf Ziele entbehrlich sein dürfte, müsste zumindest ein Passus eingefügt werden, der den effizienten Einsatz öffentlicher Mittel als zentrale Rahmenbedingung bei der Verfolgung agrarpolitischer Ziele benennt. Dadurch würden nicht zuletzt diejenigen politischen Kräfte gestärkt, die für eine funktionale „Eindämmung“ der gemeinschaftlichen Agrarpolitik eintreten. x In ähnlicher Weise wäre auch der materielle Spielraum der GAP klarer zu definieren. Sowohl die Bestimmungen zur Agrarmarktordnungs- als auch zur Agrarstrukturpolitik sollten enger mit dem Wettbewerbsprinzip verknüpft werden. Darüber hinaus böten sich negative Kompetenzabgrenzungen an, die den Mitgliedstaaten bestimmte Befugnisse (insbesondere im strukturpolitischen Bereich) explizit vorbehalten. x Mit Blick auf die horizontale Kompetenzverteilung ist die im VVE für die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte vorgesehene Einführung des Mitentscheidungsverfahrens zu begrüßen. Dieses sollte jedoch auch auf die Fischereipolitik übertragen werden. Zudem wäre die im VVE übernommene ___________ 45
VO 1782/2003/EG.
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„Kompensationsklausel“ möglichst bald zu streichen, um eine Verfestigung der bestehenden Agrarstrukturen in der EU-25/27 zu vermeiden. Auch hier gilt mithin das „Professionalisierungsgebot“, sei es mit Blick auf die eingesetzten Verfahren oder auch die Zurücknahme allzu einseitiger – um nicht zu sagen: egoistischer – Interessen der Bestandserhaltung.
4. Struktur- und Regionalpolitik: adäquates Gegenstück zum Binnenmarkt? „Europäische Struktur- und Regionalpolitik“ umfasst alle Maßnahmen, die die EU mit Blick auf den Erhalt und die Verbesserung des „wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts“ (Titel XVIII EGV) unter ihren Mitgliedstaaten durchführt. Finanziert werden diese strukturpolitischen Aktivitäten mit regionaler, sektoraler und/oder horizontaler Orientierung durch unterschiedliche Strukturfonds. Deren Mittelausstattung macht sie nach der Agrarpolitik zum zweitgrößten Politikbereich im Rahmen des EU-Haushalts.46
4.1 Supranationale Fördermittel als integrationspolitische Kompensation: historische Prägungen der Struktur- und Regionalpolitik Bereits die Präambel der Römischen Verträge (1957) formulierte als Ziel der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten „zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie [i.e. die Mitgliedstaaten] den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern“. Die Benennung strukturpolitischer Instrumente auf europäischer Ebene erschien den politischen Entscheidungsträgern zum damaligen Zeitpunkt jedoch nicht erforderlich. Es herrschte vielmehr die Überzeugung vor, dass sich die Volkswirtschaften der sechs Gründerstaaten, die in sozioökonomischer Hinsicht relativ homogen waren, durch die „unsichtbare Hand“ des Gemeinsamen Marktes von selbst angleichen würden. ___________ 46 Unter den zahlreichen Untersuchungen zur europäischen Struktur und Regionalpolitik vgl. vor allem Allen (2000); Auel (2003); Axt (2000, 2000a); Caesar (1997); Conzelmann (2004); DIW (2001); Döring (1996); Evans (1999); Fischer/Schley (1999); Grant (1995); Heinze/Voelzkow (1990); Hilligweg (1994); Holzwart (2003); Hoppe (2001); Lippert/Bode (2001); Malek (2002), Rolle (2000); Scott/Mansell (1993); Tömmel (1992).
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In der Folgezeit wurden europäische Einrichtungen und Instrumente mit regionalpolitischem Bezug geschaffen. Neben der Europäischen Investitionsbank (EIB), die u.a. zinsgünstige Darlehen für Infrastrukturinvestitionen vergibt, und dem bereits angesprochenen Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) zählt hierzu vor allem der 1960 eingerichtete Europäische Sozialfonds (ESF), durch den die Mobilität der Arbeitskräfte im Gemeinsamen Markt verbessert werden sollte. In dieser ersten Phase der Entwicklung kannte man keine feste Vorabverteilung der ESF-Mittel: Allen Mitgliedstaaten wurde die Hälfte ihrer jeweiligen Beihilfen – sofern diese unter die Förderkriterien fielen – von der Kommission erstattet. Ein System fester Länderquoten wurde erst 1971 eingeführt. Mit dieser Reform erhielt der ESF einen umverteilenden Charakter, d.h. es kam erstmals zu einem systematischen Ressourcentransfer von reicheren zu weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten. Nach der ersten EG-Erweiterung wurde 1975 mit dem „Europäischen Fonds für regionale Entwicklung“ (EFRE) ein weiteres strukturpolitisches Instrument geschaffen. Das offizielle Ziel des EFRE, für dessen Errichtung sich insbesondere die beiden Neumitglieder Großbritannien und Irland eingesetzt hatten, bestand darin, die nationalen Maßnahmen zum Abbau sozioökonomischer Disparitäten zu unterstützen (Schwerpunkte waren dabei Regionen mit landwirtschaftlicher Struktur, industriellen Konversionsproblemen und/oder hoher struktureller Arbeitslosigkeit). Analog zum ESF wurde für den EFRE ein fester Verteilungsschlüssel nach Mitgliedstaaten etabliert, wovon zunächst Italien, Großbritannien und Irland am meisten profitierten. Die weitere Entwicklung der europäischen Struktur- und Regionalpolitik war bis Ende der 1990er Jahre durch zwei Merkmale gekennzeichnet: den zunehmenden Einfluss der Europäischen Kommission bei der Mittelvergabe und im Rahmen der Programmplanung sowie ein kontinuierliches Aufstocken der Strukturfonds im Zuge der gemeinschaftlichen Erweiterungsrunden und „Vertiefungsschritte“ (vgl. auch Tabelle III.5 im Materialanhang). „Marksteine“ innerhalb dieses Prozesses waren: x die Schaffung eines „quotenfreien“ EFRE-Kontingents (5% der Mittel) für EG-spezifische Maßnahmen, die von der Kommission initiiert werden konnten (1979); x die Einführung „Integrierter Mittelmeerprogramme“ (1985), die primär als „Kompensation“ für die Zustimmung Griechenlands zum EG-Beitritt Spaniens und Portugals eingerichtet wurden und zur Förderung von Infrastruktur- und Weiterbildungsmaßnahmen in den Mittelmeerregionen Frankreichs, Italiens und (ganz) Griechenlands dienten;
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x die Aufnahme eines eigenen Titels „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt“ (ex-Art. 130a-e) in den EGV mit Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (1985; heute Titel XVII/Art. 158ff. EGV); x eine weitreichende Neuordnung der Strukturfonds durch den Europäischen Rat (1988) im Kontext der bevorstehenden Vollendung des Binnenmarktes.47 Diese Beschlüsse sahen u.a. vor: – eine finanzielle Verdoppelung der Strukturfonds bis 1992 (wobei es primär um einen „Ausgleich“ an Spanien, Portugal und Griechenland für jene „Belastungen“ ging, die diese Staaten infolge der Vollendung des Binnenmarktes erwarteten), – eine „Konzentration“ der Fördermittel durch fünf primäre Förderziele (Ziel 1: „Regionen mit Entwicklungsrückstand“; Ziel 2: „Regionen mit rückläufiger industrieller Entwicklung“; Ziel 3: „Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit“; Ziel 4: „Eingliederung von Jugendlichen in das Erwerbsleben“; Ziel 5a bzw. 5b: „Anpassung der Agrarstrukturen“ bzw. „Förderung des ländlichen Raums“), – die Festsetzung von quantitativen Kriterien zur Bestimmung von Ziel 1und Ziel 2-Regionen,48 – die Definition von Obergrenzen der EG-Beteiligung bei kofinanzierten Maßnahmen49 sowie – die Einführung von „Gemeinschaftsinitiativen“ (GI), d.h. Förderprogrammen, die von der EG-Kommission eigenverantwortlich beschlossen werden konnten (insgesamt 13 verschiedene GI bis 1991); x die Einrichtung des benannten „Kohäsionsfonds“ durch den Vertrag von Maastricht (1991) bis Ende 1993, der „zu Vorhaben in den Bereichen Um___________ 47 Rechtliche Grundlage für die Strukturfonds in der ersten Programmperiode waren VO 2052/88/EWG des Rates vom 24.06.1988 über Aufgaben und Effizienz der Strukturfonds und über die Koordinierung ihrer Interventionen untereinander sowie mit denen der Europäischen Entwicklungsbank und der anderen vorhandenen Finanzinstrumente sowie VO 4253/88/EWG des Rates vom 19.12.1988 zur Durchführung der VO 2052/88/EWG hinsichtlich der Koordinierung der Interventionen der verschiedenen Strukturfonds einerseits und zwischen diesen und den Interventionen der Europäischen Investitionsbank und der sonstigen vorhandenen Finanzinstrumente andererseits. 48 Für Ziel 1 muss das BIP pro Kopf einer Region unter 75% des EG-Durchschnitts liegen; Ziel 2 bezieht sich auf Regionen, deren durchschnittliche Arbeitslosenquote während der vorausgegangenen drei Jahre über dem Gemeinschaftsdurchschnitt lag. 49 Bei Ziel 1-Maßnahmen sollte die EG-Beteiligung zwischen 50% und 75%, bei anderen zwischen 25% und 50% der öffentlichen Ausgaben betragen.
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2. Kapitel: Die Kompetenzordnung zwischen Union und Mitgliedstaaten
welt und transeuropäische Netze auf dem Gebiet der Infrastruktur beitragen wird“ (ex-Art. 130e EGV).50 Primärer Anlass für diese Maßnahme war die finanzielle Kompensation strukturschwächerer Länder (insbesondere Spaniens) für deren Zustimmung zur „Vertiefung“ der Gemeinschaft (hier: Wirtschafts- und Währungsunion). Damit einher ging erneut eine Erhöhung der Fondsmittel für die Jahre 1992–1999; x schließlich die Schaffung eines weiteren Förderziels (Nr. 6) zur „strukturelle[n] Anpassung von Gebieten mit extrem niedriger Bevölkerungsdichte“ (1995). Erneut war der Anlass hierzu weniger ökonomischer denn politischer Natur, bot diese Kategorie doch eine „elegante“ Möglichkeit, die (relativ wohlhabenden) Neumitglieder Finnland und Schweden in die Vergabe der europäischen Strukturfördermittel einzubeziehen. Nach Vorlage des Ersten Kohäsionsberichts durch die Kommission (1997) erfolgte im März 1999 eine „Neuordnung“ der EU-Strukturpolitik im Rahmen der Agenda 2000. Trotz einer Verringerung der Zielkategorien und einer Einschränkung des Finanzrahmens blieben auch dabei substantielle Reformen aus (s. unten 4.3).51 Fasst man die historische Entwicklung der EU-Strukturpolitik zusammen, wird – stärker als in vielen anderen Aufgabenfeldern – eine Überlagerung funktionaler Anforderungen durch politische Interessenlagen deutlich. Immer wieder wurden die Strukturfonds von den Regierungen der Mitgliedstaaten als „Kompensationsmasse“ in Paketlösungen zahlreicher Erweiterungsrunden und Vertragsreformen einbezogen.52 Nur vor diesem Hintergrund erklären sich die folgenden Charakteristika der EU-Struktur- und Regionalpolitik, die mit Blick auf die Transparenz wie Effizienz europäischer Politik beträchtliche Probleme bergen: x Umfang des Finanzrahmens: Vor dem „doppelten“ Problemhorizont der WWU (Erfüllung der Maastricht-Kriterien) und der Osterweiterung beste___________ 50 Für Kohäsionsmaßnahmen gelten folgende Kriterien: (a) Der EG-Beteiligungssatz sollte zwischen 80% und 85% der öffentlichen Ausgaben liegen. (b) Förderberechtigt sind Staaten mit einem BIP/Kopf von unter 90% des EG-Durchschnitts. (c) Empfängerländer müssen ein nationales „Konvergenzprogramm“ (zur Erfüllung der MaastrichtKriterien) vorweisen (vgl. VO 1164/94/EG des Rates vom 16.05.1994 zur Errichtung des Kohäsionsfonds, die bis 1999 die rechtliche Basis der Kohäsionsfonds darstellte). 51 Die sekundärrechtlichen Grundlagen sind seitdem VO 1260/99/EG des Rates vom 21.06.1999 mit allgemeinen Bestimmungen über die Strukturfonds; VO 1264/99/EG des Rates vom 21.06.1999 zur Änderung der VO 1164/94/EG; VO 1265/99/EG des Rates vom 21.06.1999 zur Änderung von Anhang II der VO 1164/94/EG. 52 Zur Entwicklung der Strukturfondsmittel seit 1975 vgl. Tabelle III.5 im Materialanhang.
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hen keine finanziellen Spielräume für politisch motivierte „do-ut-des“Lösungen mehr. x Breite des Zielkatalogs: Die benannten Förderziele beschränken sich keineswegs auf struktur- bzw. regionalpolitische Maßnahmen im engeren Sinne, sondern reichen in eine Vielzahl anderer Politikbereiche hinein, für die (noch) überwiegend die Nationalstaaten zuständig sind, wie Soziales, Bildung und Beschäftigung. x Vielfalt der Förderinstrumente: Das Nebeneinander mehrerer Strukturfonds, des Kohäsionsfonds und der Gemeinschaftsinitiativen, die sich auch den Förderzielen nicht eindeutig zuordnen lassen, ist nur schwer durchschaubar. x Parallelität der Verteilungslogiken: Die Vergabe der Strukturfondsmittel erfolgt nicht nur nach redistributiven, sondern auch nach distributiven Gesichtspunkten, d.h. ein beträchtlicher Teil der supranationalen Fördermittel fließt wieder in die Nettozahlerstaaten zurück (Prinzip des „juste retour“), mithin eine Politik, für die sich die Frage nach dem „europäischen Mehrwert“ stellt. Mit dem Zweiten Kohäsionsbericht (Europäische Kommission 2001a), der eine Auswertung bisheriger Maßnahmen einbezog,53 suchte die Kommission eine Debatte zur Zukunft der Struktur- und Regionalpolitik zu initiieren. Entsprechenden Reformbedarf mahnte auch der Sapir-Bericht an (Sapir u.a. 2003). Im Rahmen des Dritten Kohäsionsberichts, der im Februar 2004 vorlegt wurde und den vorläufigen Abschluss der Debatte bildete, präsentierte die Kommission dann eine Reihe von Änderungsvorschlägen, die vor allem auf die anstehenden Verhandlungen um die erste Finanzielle Vorausschau in der EU25 abzielten (Europäische Kommission 2004). Trotz einer grundsätzlichen Reformulierung der Förderkriterien handelt es sich dabei überwiegend um „alten Wein in neuen Schläuchen“ (Tömmel 2004; s. auch unten 4.3). Im Unterschied zur Agrarpolitik gelang es mithin nicht, eine den Namen verdienende Reform der Struktur- und Regionalpolitik noch vor der Osterweiterung „auf den Weg zu bringen“.
___________ 53 Eine umfangreiche Dokumentation diesbezüglicher Stellungnahmen und Analysen findet sich auf der Internetseite der Generaldirektion Regionalpolitik.
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4.2 Die europäische Kompetenzordnung im Rahmen der Struktur- und Regionalpolitik: der rechtliche Status quo 4.2.1 Allgemeine Vertragsbestimmungen Gemäß Art. 2 EUV ist die „Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts“ ein Kernziel der Europäischen Union.54 Der Verfassungsentwurf übernimmt diese Zielformulierung in der Form des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt[s]“ (Art. I-3, Abs. 3 VVE). Innerhalb des gemeinschaftlichen Aufgabenkatalogs von Art. 3 EGV berührt die europäische Struktur- und Regionalpolitik insbesondere die folgenden Bereiche: x eine Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds (lit. j), x die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (lit. k) sowie x die Förderung des Auf- und Ausbaus transeuropäischer Netze (lit. o). Den primärrechtlichen Rahmen der EU-Strukturpolitik im engeren Sinne bildet Titel XVII des EG-Vertrags „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammen___________ 54
Neben primärrechtlichen Bestimmungen sind dabei insbesondere die folgenden Sekundärrechtsakte und Quellen zu berücksichtigen: VO 724/75/EWG des Rates vom 18.03.1975 zur Errichtung eines Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung; VO 2088/85/EWG des Rates vom 23.07.1985 über die Integrierten Mittelmeerprogramme; VO 4254/88/EWG des Rates vom 19.12.1988 zur Durchführung der VO 2088/85/EWG in Bezug auf den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung; VO 4255/88/EWG des Rates vom 19.12.1988 zur Durchführung der VO 2088/85/EWG hinsichtlich des Europäischen Sozialfonds; VO 2081/93/EWG des Rates vom 20.07.1993 zur Änderung der VO 2052/88/EWG über Aufgaben und Effizienz der Strukturfonds und über die Koordinierung ihrer Interventionen untereinander sowie mit denen der Europäischen Investitionsbank und anderen vorhandenen Finanzinstrumenten; VO 1257/99/EG des Rates vom 17.05.1999 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) und zur Änderung bzw. Aufhebung bestimmter VO’en; VO 1260/99/EG; VO 1261/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.06.1999 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung; VO 1264/99/EG; VO 1265/99/EG; VO 1266/99/EG des Rates vom 21.06.1999 zur Koordinierung der Hilfe für die beitrittswilligen Länder im Rahmen der Heranführungsstrategie und zur Änderung der VO 3906/89/EWG; VO 1267/99/EG des Rates vom 21.06.1999 über ein strukturpolitisches Instrument zur Vorbereitung auf den Beitritt; Mitteilung der Kommission: EU-Strukturfonds: Kommission entscheidet über Mittelzuweisungen, IP/99/442 vom 01.07.1999; VO 1783/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.07.1999 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung; VO 1784/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.07.1999 betreffend den Europäischen Sozialfonds; VO (EG) Nr. 2355/2002 der Kommission vom 27.12.2002 zur Änderung der VO 438/2001/EG der Kommission mit Durchführungsvorschriften zur VO 1260/99/EG des Rates in Bezug auf die Verwaltungs- und Kontrollsysteme bei Strukturfondsinterventionen.
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halt“ (Art. 158–162 EGV). Art. 158 Abs. 1 benennt nochmals die generelle Zielsetzung europäischer Strukturpolitik: „Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts“ zur Förderung einer „harmonische[n] Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes“. Eine gewisse Schwerpunktsetzung enthält Absatz 2, der es zum vorrangigen Ziel der Gemeinschaft erklärt, „die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete oder Inseln, einschließlich der ländlichen Gebiete, zu verringern“. Die Mittel der gemeinschaftlichen Strukturpolitik, die von allgemeinen Maßnahmen bis hin zu konkreten (Finanzierungs-)Instrumenten reichen, sind in Art. 159 Abs. 1 EGV aufgeführt: x die Koordination der Wirtschaftspolitik, x der Einsatz von Strukturfondsmitteln (Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft – Abteilung Ausrichtung, Europäischer Sozialfonds, Europäischer Fonds für regionale Entwicklung), x Maßnahmen der Europäischen Investitionsbank und x sonstige vorhandene Finanzierungsinstrumente.55 Zudem ist in Art. 161 Abs. 2 EGV die Existenz eines Kohäsionsfonds vertraglich verankert, der „zu Vorhaben in den Bereichen Umwelt und transeuropäische Netze auf dem Gebiet der Verkehrsinfrastruktur“ beiträgt. Mit Blick auf die Finanzierungsinstrumente ist insbesondere hervorzuheben, dass die Aufgabenprofile der drei in Art. 159 EGV erwähnten Strukturfonds an verschiedenen Stellen des Vertrags explizit definiert werden. Allein die Bestimmung des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) findet sich innerhalb des Titel XVII; demnach soll der EFRE zur „Entwicklung und [...] strukturellen Anpassung der rückständigen Gebiete und [zur] Umstellung der Industriegebiete mit rückläufiger Entwicklung“ (Art. 160 EGV) beitragen. Die entsprechenden Ausführungen zum EAGFL hingegen sind im Titel II „Landwirtschaft“ (Art. 34 EGV), diejenigen zum ESF im Titel XI „Sozialpolitik, allgemeine und berufliche Bildung und Jugend“ (Art. 146 EGV) integriert.
___________ 55 Hierzu zählt etwa das „Finanzierungsinstrument für die Ausrichtung der Fischerei“ (FIAF), das in Titel XVII nicht explizit erwähnt wird.
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4.2.2 Vertikale Aufgabenteilung Innerhalb des beschriebenen Rahmens werden die EG-Organe struktur- und regionalpolitisch tätig, wobei der Rat als Entscheidungsinstanz fungiert und der Kommission vor allem eine Kontrollfunktion (Berichtspflicht) zukommt (vgl. unter 4.2.3.). Die Rolle der Mitgliedstaaten lässt das europäische Primärrecht hingegen im Unbestimmten. So finden sich weder nähere Ausführungen zur vertikalen Zuständigkeitsverteilung noch negative Kompetenzabgrenzungen, durch die bestimmte Materien den Nationalstaaten explizit vorbehalten werden. Dass die Struktur- und Regionalpolitik grundsätzlich zu den „konkurrierenden Zuständigkeiten“ zählt, kann den entsprechenden Formulierungen des Titels XVII nur indirekt entnommen werden: So ist jeweils nicht von ausschließlichen Kompetenzen der Gemeinschaft, sondern lediglich von „Beteiligung“ oder „Beitrag“ der europäischen Ebene zur Erreichung der struktur- und regionalpolitischen Ziele die Rede.
4.2.3 Horizontale Aufgabenteilung Der finanzielle Gesamtumfang der europäischen Struktur- und Regionalpolitik wird durch den Europäischen Rat in einer mehrjährigen „Finanziellen Vorausschau“ festgelegt (zuletzt 1999 für die Periode 2000–2006; vgl. auch 5. Kapitel). Innerhalb dieses Rahmens bestimmt grundsätzlich der Ministerrat zusammen mit dem Europäischen Parlament über Organisation und Verwendung der Strukturfördermittel. Je nach Entscheidungsmaterie finden unterschiedliche Verfahren Anwendung: x Durchführungsbeschlüsse, die den EFRE betreffen, werden seit dem Vertrag von Amsterdam im Miteinscheidungsverfahren (mit qualifizierter Ratsmehrheit) gefasst (Art. 162 EGV). x Nach demselben Verfahren kann der Rat zusätzlich zu den Strukturfonds „spezifische Aktionen“ beschließen, sofern sich diese zur Erreichung des Kohäsionszieles „als erforderlich erweisen“ (Art. 159 Abs. 3 EGV).56 x Bezüglich der relevanten Grundsatzentscheidungen gilt dagegen nach wie vor das Einstimmigkeitsprinzip. Dies betrifft Beschlüsse über „die Aufgaben, die vorrangigen Ziele und die Organisation der Strukturfonds [..], was ___________ 56
Bei Einführung dieses Passus (Vertrag von Maastricht) galt noch das Einstimmigkeitsprinzip; erst durch den Vertrag von Nizza wurde es in das Mitentscheidungsverfahren bzw. die qualifizierte Mehrheitsregel überführt.
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ihre Neuordnung einschließen kann“, sowie die „Regeln [...] zur Gewährleistung einer wirksamen Arbeitsweise und zur Koordinierung der Fonds“ (Art. 161 Abs. 1 EGV). Der Vertrag von Nizza brachte hier insofern eine Neuerung, als der Rat ab 01.01.2007 in den benannten Angelegenheiten mit qualifizierter Mehrheit entscheiden soll. Diese Übergangsfrist steht freilich unter dem Vorbehalt, dass bis dahin die neue Finanzielle Vorausschau sowie die entsprechenden Interinstitutionellen Vereinbarungen angenommen sind.57 Demgegenüber hat die Kommission – abgesehen von ihrem „klassischen“ Initiativrecht (Art. 161f. EGV) – die Aufgabe, den anderen EU-Organen alle drei Jahre „über die Fortschritte bei der Verwirklichung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und über die Art und Weise, in der die [Strukturfonds-]Mittel hierzu beigetragen haben, zu berichten“ (Art. 159 Abs. 2 EGV).58 Darüber hinaus ist sie maßgeblich an der Gestaltung, Koordinierung und Überprüfung strukturpolitischer Maßnahmen beteiligt.59
4.2.4 Charakteristika des „Verfassungsrahmens“ Der primärrechtliche Rahmen der europäischen Struktur- und Regionalpolitik ist mithin durch folgende Charakteristika gekennzeichnet: Mit „Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts“ bzw. der „Förderung einer harmonischen Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes“ ist das Kernziel der EU-Strukturpolitik sehr allgemein formuliert. Auch wenn der Vertragstext eine gewisse Priorität für die Unterstützung „rückständiger“ Regionen erkennen lässt, schließt er doch weitere Förderziele nicht aus und kann daher kaum als Grundlage einer konzentrierten Mittelvergabe dienen. Größere Überschneidungen mit anderen Aufgabenfeldern sind so gleichsam vorprogrammiert, was nicht zuletzt die Komplexität europäischer Politik erhöht und so deren Nachvollzug erschwert.
___________ 57
Entscheidungen über das „Strukturpolitische Instrument zur Vorbereitung auf den Beitritt“ (SIVB), das durch die Agenda 2000 eingeführt wurde, basieren auf der „Generalklausel“ (Art. 308 EGV) und unterliegen daher gleichfalls dem Einstimmigkeitsprinzip. Da das SIVB jedoch eine nur temporäre Materie darstellt, wird es in dieser Aufzählung nicht eigens berücksichtigt. 58
Vgl. hierzu die drei „Kohäsionsberichte“ (Europäische Kommission 1997; 2001; 2004). 59
Die derzeit gültige Rechtsgrundlage hierfür stellt die VO 1260/99/EG dar.
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Im Gegensatz dazu ist das strukturpolitische Instrumentarium des Primärrechts insofern überdeterminiert, als die einzelnen Strukturfonds (EAGFL, ESF, EFRE) namentlich genannt und ihre jeweiligen Hauptaufgaben beschrieben werden. Was zunächst als Transparenzgewinn erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als potentielles Effizienzproblem: Zwar kann der Ministerrat über die „Neuordnung“ der Strukturfonds entscheiden, gänzlich abschaffen kann er jedoch keinen von ihnen, da deren Existenz im EGV „verbrieft“ ist (vgl. Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil 2001: Rn. 1119). Die Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips bei strukturpolitischen Grundsatzentscheidungen (Art. 161 EGV; ähnlich Art. III-223 VVE) bzw. die Verschiebung des Übergangs zur qualifizierten Mehrheitsregel lässt nicht nur weitere „Kompensationsgeschäfte“ bei den anstehenden Verhandlungen um die Finanzielle Vorausschau (2007–2013) erwarten, sondern erschwert zugleich notwendige Anpassungen der Strukturpolitik.
4.3 Die Arbeitsebene: starke Zentralisierung, geringe Mittelkonzentration Strukturpolitische Maßnahmen stehen in einem Spannungsverhältnis zum „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“, wie ihn etwa Art. 4 EGV benennt. Mit dem Auf- und Ausbau der europäischen Struktur- und Regionalpolitik nahm insbesondere die EU-Kommission die zunehmend schwierigere Doppelrolle ein, einerseits „Wettbewerbshüterin“ zu sein und andererseits aktive Förderpolitik zu betreiben, die den Mitgliedstaaten entweder gänzlich untersagt oder zumindest genehmigungspflichtig ist.60 Aus funktionaler Perspektive spricht dies nicht prinzipiell gegen strukturpolitische Maßnahmen auf europäischer Ebene, solange sie etwa zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit „rückständiger“ Regionen oder zur Verstärkung grenzüberschreitender regionaler Zusammenarbeit dienen. Die Logik politischer Kompensationsgeschäfte, der Anspruch der „zahlenden“ Mitgliedstaaten auf finanzielle Rückerstattung sowie das Eigeninteresse der EU-Kommission an „flächendeckendem“ Einfluss haben jedoch zu einem derartigen Wachstum der europäischen Struktur- und Regionalpolitik geführt, dass deren Umfang inzwischen das funktional wie normativ vertretbare Maß bei weitem übersteigt. Entsprechend ist die politische und wissenschaftliche Diskussion zur EU-Strukturpolitik von einhelliger Kritik bestimmt. Die wichtigsten Argumente für eine grundlegende Reform lassen sich wie folgt zusammenfassen: ___________ 60
Siehe hierzu insbesondere die Beihilfe(verbots)regelungen in Art. 87ff. EGV.
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Die Struktur- und Regionalpolitik der EU ist nach wie vor hochgradig intransparent: x Mit dem Nebeneinander von unterschiedlichen Förderzielen und Handlungsinstrumenten (Strukturfonds, Kohäsionsfonds, Gemeinschaftsinitiativen) besteht ein für Nicht-Spezialisten kaum zu durchdringender Aufgabenbereich. x Die „Gemengelage“ der Fördermöglichkeiten erzeugt für potentielle Nutznießer (Kommunen bzw. Regionen) unverhältnismäßig hohe Informations(und Verwaltungs-)kosten, wenn sie ein Optimum an europäischen Fördermitteln für sich in Anspruch nehmen wollen. x Nicht zuletzt macht auch jene „Überverflechtung“, die durch die Beteiligung regionaler, nationaler und europäischer Akteure an der Ausarbeitung der „Gemeinsamen Förderkonzepte“ und der „Operationellen Programme“ entsteht, den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess intransparent (Auel 2003). Darüber hinaus weist die Struktur- und Regionalpolitik der EU auch beträchtliche Effizienzprobleme auf: x Die Kombination redistributiver und distributiver Verteilungslogiken, die politischen Formelkompromissen entsprang, bewirkt eine Förderung nach dem „Gießkannenprinzip“: Mehr als die Hälfte der gesamten EU-Bevölkerung ist von entsprechenden Maßnahmen unmittelbar „betroffen“, von einer „Schwerpunktsetzung“ kann mithin nicht die Rede sein. x Steter Ausbau der Strukturfonds, kontinuierliche Förderung weiträumiger Gebiete und „weiche“ Kriterienhandhabung haben Politiken der Besitzstandswahrung zu Lasten des Kostenbewusstseins gestärkt. Der enorme Anstieg der Strukturfondsmittel ist mit einem effizienten Einsatz öffentlicher Ressourcen nur schwer zu vereinbaren.61 x Schließlich verweisen zahlreiche Evaluationsstudien auf Probleme, die sich mit der dominanten Rolle der EU-Kommission bei der Planung regionaler Fördermaßnahmen verbinden. Danach ist mehr als fraglich, ob der bislang Anwendung findende top-down-Ansatz zu vertretbaren Ergebnissen führt oder nicht doch durch stärker kontextbezogene Verfahren ersetzt werden sollte. ___________ 61 Die Strukturfondsausgaben stiegen in den vergangenen beiden Jahrzehnten erheblich an, sowohl in absoluten Zahlen (von 3,7 Mrd. € 1985 auf 27,4 Mrd. € 2002) als auch in relativen (von 12,8% auf 30,6% des Gesamthaushalts; vgl. Tabellen III.5–6 sowie IV.2 im Materialanhang).
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Vor diesem Hintergrund war es erklärtes Ziel der von der Kommission ausgearbeiteten Agenda 2000, die Struktur- und Regionalpolitik zu konzentrieren, zu vereinfachen und die Zuständigkeitsverteilung zu optimieren. In diesem Kontext wurden für die laufende Finanzierungsperiode (2000–2006) einige Anpassungen im Hinblick auf eine transparentere und effizientere Struktur- und Regionalpolitik vorgenommen (vgl. Übersicht II-1): x Der Zielkatalog wurde von sechs auf drei Kategorien verringert. x Reduziert wurde auch die Zahl der Gemeinschaftsinitiativen von 13 auf vier.62 x Zudem wurde eine sog. „Effizienzreserve“ (4% der Mittel) geschaffen – als Leistungsbonus für erfolgreiche Programme (Ausschüttung in der Mitte der Förderperiode). x Schließlich führte der Europäische Rat eine Förderhöchstgrenze ein: Demnach „soll“ (sic!) der nationale Gesamtanteil an den EU-Strukturfördermitteln 4% des BIP des Empfängerlandes nicht übersteigen.63
Übersicht II-1 Zielprofile der europäischen Struktur- und Regionalpolitik nach der Agenda 2000
___________ 62 Dies sind: INTERREG (Förderung grenzüberschreitender, interregionaler Zusammenarbeit), LEADER (Förderung ländlicher Entwicklung über lokale Aktionsgruppen), EQUAL (Unterstützung transnationaler Zusammenarbeit bei der Erhöhung der Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt) sowie URBAN (Förderung von nachhaltiger städtischer Entwicklung vor dem Hintergrund sozioökonomischen Wandels). 63 Darüber hinaus wurden Übergangsfinanzierungen für die von der Neuordnung negativ betroffenen Regionen (phasing out) vereinbart (Lösungen, die von besonderer Bedeutung für die neuen Bundesländer in Deutschland sind) sowie ein dem Kohäsionsfonds ähnliches „Strukturpolitisches Instrument zur Vorbereitung auf den Beitritt“ (SIVB) für die mittel- und osteuropäischen Bewerberstaaten eingerichtet.
4. Struktur- und Regionalpolitik Primäre Vergabekriterien
- PKE