Deutsch-amerikanische sozialistische Literatur 1865–1900: Anthologie [Reprint 2021 ed.] 9783112545263, 9783112545256


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German Pages 216 [215] Year 1988

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Deutsch-amerikanische sozialistische Literatur 1865–1900: Anthologie [Reprint 2021 ed.]
 9783112545263, 9783112545256

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Deutsch-amerikanische sozialistische Literatur

1865-1900

TEXTAUSGABEN ZUR FRÜHEN SOZIALISTISCHEN LITERATUR IN DEUTSCHLAND

Begründet von BRUNO KAISER und weitergeführt von URSULA MÜNCHOW Herausgegeben

vom

Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Band XXIV

Deutsch-amerikanische sozialistische Literatur 1865-1900 Anthologie Herausgegelen von

CAROL POORE

Akademie-Verlag Berlin 1987

ISBN 3-05-000202-6 I S S N 0081-3257 Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Str. 3—4, D D R - 1 0 8 6 Berlin © Akademie-Verlag Berlin 1987 Lizenznummer: 207 • 100/118/87 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6664 Lektor: J u t t a Kolesnyk LSV 7102 Bestellnummer: 7544988 (2119/XXIV) 01600

INHALT

EINLEITUNG

IX

TEXTE

1

Julius Zorn: Mein Lied! Mein Wunsch! Franz Bufe: Zwei Wege Sozialistengesetz und Emigration Ein Vagabund Julius Grunzig: Die Solidarität Friedrich Wilhelm Fritzsche: Mein Vaterland Wilhelm Rosenberg: Falsches Heimweh Wilhelm Rosenberg: Die Geisterschlacht

3 ^

. . . . . .

Das Land der begrenzten Möglichkeiten Gustav Lyser: An unsere Brüder in der alten Heimat . . Rudolph Saur: Betrachtungen über den großen Arbeiterstreik Gustav Lyser: Columbia und Germania Emil Friedrich: Wilhelm Liebknecht Wilhelm Rosenberg: 4. Juli-Paraphrase Wilhelm Rosenberg: Aus der Streikgeschichte der pennsylvanischen Kohlengräber Wilhelm Rosenberg: Hazleton (Freitag, 10. Sept. 1897) . . Eine Schwerenotsepistel Die zehn Gebote Eine neue Konstitution für die verunreinigten Staaten von Amerika [Aus dem Witzblatt] Neuester Arbeiter-Katechismus „The Song of the Ninety and Nine" Jakob Franz: Arbeiter-Wörterbuch Alexander Jonas: Die Göttin der Freiheit

6 6 7 8 9 10 18 18 19 20 22 22 24 25 26 28 28 29 30 32 33 35

V

Unorganisierte Arbeiter in Amerika Conrad Conzett: Der Reiche an seinen Sohn Gustav Lyser: Respekt vor dem menschlichen Geist In der Fron Ernst Schmidt: Das Lied vom Streik Klage eines Proletariers im Central Park Wilhelm Rosenberg: Der Weltenherrscher Martin Schupp: Titanenjagd Sergius Schewitsch: Der Brandstifter Julie Zadek-Romm: Proletarierlos Max Forker: Opfer des Systems

.

44 44 45 46 47 48 49 49 50 56 61

Das organisierte Proletariat Wilhelm Rosenberg: Dein Heil . Wilhelm Rosenberg: Proletarisches Bekenntnis Arbeiterlied . • . , Hermann Pudewa: Auf zur T a t ! Gustav Lyser: Werft eure Stimmen nicht fort! K a r l Sahm: Bannerlied K a r l Reuber: Zur Erinnerung an ein Arbeiter-Heldengrab • Carl Derossi: Erwach, o Volk, erwache! . . . Josef Schiller [Schiller Seff]: Der Sozialdemokratie von Nordamerika Emilie Hofmann: Die Frau und die Freiheit . . . . . . . Gustav L y s e r : Unsere liebe Polizei Marschlied des L e h r - u n d Wehrvereins . . . . Gustav L y s e r : Zur Fahnenweihe des Jäger Vereins von Chicago am 15. Juni 1879 . Georg Biedenkapp: Den Manen des 11. November . . . . Wilhelm Rosenberg: Das Schanddenkmal auf dem Heumarkt von Chicago, inzwischen abgerissen Leopold Jacoby: K a r l Marx' Totenfeier im Cooper-Institut zu New Y o r k . 19. März 1883 Friedrich Wilhelm Fritzsche: Prolog zur Lassalle-Feier, am 31. August 1889 Wilhelm Rosenberg: Zum Weltfest des Ersten Mai . . . . Ernst Schmidt: 1848-1898 Eine Fabel Zeit- und Streitfragen

65 65 66 67 68 69 70 72 73

Revolution und Sozialismus Jacob Franz: Der Menschheitsfrühling Carl Derossi: Der Sozialisten Siegeszug . . . . . . . . Emilie Hof mann: Illusionen und Ideale . . . - • . . . . .

97 97 98 99

VI

: . . .

74 75 76 77 78 79 82 83 84 86 88 9° 91

Sergius Schewitsch: 30. April 2882 Alexander Jonas: Der Teilungstag

101 106

Stücke für Arbeitertheater Gustav Lyser: Kongreß zur Verwirrung der Arbeiterfrage in New York Ludwig A. Geißler: Allegorisches Weihnachtsfestspiel . . Die Nihilisten

112

ANHANG

155

Anmerkungen zur Einleitung Anmerkungen zu den Texten

112 118 122

157 163

EINLEITUNG

I Als deutsche Sozialisten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in die USA einwanderten, ließen sie einen bürokratischen Staat, wohlerhaltene Überreste feudaler Hierarchie und das Sozialistengesetz hinter sich, aber sie kamen auch in eine Gesellschaft ständig an Intensität zunehmender Klassengegensätze und -konflikte. Viele Autoren der vorliegenden Sammlung deutsch-amerikanischer sozialistischer Literatur 1 wanderten während des sogenannten Goldenen Zeitalters von 1870 bis 1890 ein, in einer Zeit beispiellosen Zuwachses an Privatvermögen und industrieller Macht, aber auch zunehmender Verarmung und Arbeitskämpfe. Wenn manche dieser Autoren ihre Heimat voller Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit und Freiheit in der Neuen Welt verließen, brachte sie offensichtlich das Wiedererkennen von Klassengegensätzen dazu, ihre Hoffnungen zu widerrufen und einer oft bitteren Desillusionierung angesichts des tatsächlich Vorgefundenen Ausdruck zu geben. Über allgemeine Anklagen hinaus thematisierten sie auch spezifische Erfahrungen, wie Streiks und Beispiele von Polizeibrutalität, um auszudrücken, was sie als Realität hinter der Ideologie von Freiheit und Aufstiegsmöglichkeiten sahen. So fragte beispielsweise nach dem blutigen Eisenbahnerstreik von 1877 Gustav Lyser, wer das stolze Bild Amerikas zerstört habe, und antwortete: Columbia, was ist aus Dir geworden? Wer trat Dich Stolze schmählich in den Staub? Wer läßt die braven Arbeitsmänner morden Und schützt mit blut'ger Faust den frechen Raub? Der Geldsack ist es, der allmächt'ge König, Er unterjochte dieses reiche Land, Die letzte Spur von Recht und Freiheit schwand, Und die Gewalt nur rühmt man tausendtönig. 2 XI

Obwohl diese Autoren nicht mit Sehnsucht, mit „falschem Heimweh" auf das Deutschland zurückblickten, das sie hinter sich gelassen hatten, konnten sie sich doch nicht mit dem neuen sozialen System abfinden, in dem sie sich angesiedelt hatten (im Gegensatz zum Großteil der übrigen deutsch-amerikanischen Literaten). Ihre Werke sind konkrete Beispiele der Desillusionierung, verbunden mit spezifischen Anklagen gegen die USA als Klassengesellschaft auf der Grundlage ökonomischer Ausbeutung. Damit stellt diese Literatur fraglos eine Reaktion auf besondere Erfahrungen von Immigranten dar. Die kritische, oppositionelle Haltung, die sich hier zeigt, ist nicht allein auf jene Werke beschränkt, die sich direkt mit Amerika befassen. Vielmehr bezieht sich diese gesamte Literatur in ihrer Schilderung des unorganisierten Proletariats, der Notwendigkeit der Organisation und der sozialistischen Zukunft auch auf die Begegnung dieser Autoren mit einer schnell industrialisierten Gesellschaft und den entsprechenden Klassengegensätzen. Wenn wir die Darstellung proletarischen Lebens in Gedichten und Stücken betrachten, so finden wir, daß sie sogleich einen hohen Grad an Abstraktheit annimmt und fast immer, ausgenommen bestimmte Gelegenheitsgedichte, die Form eines stark schematisierten Gegensatzes zur Figur des Kapitalisten und seiner Verbündeten und zum Leben der Reichen bekommt. Die Darstellung des proletarischen Individuums und des proletarischen Lebens wird verflochten mit einem besonderen Bild und Verständnis der Ursachen proletarischen Leidens, der repressiven Kräfte in der Gesellschaft und des Widerstandes. Obwohl einzelne Kapitalisten wie J a y Gould oder Rockefeiler manchmal Objekte von Angriffen und Satiren sind und manche Prosastücke sich mit der Enthüllung ihres verschwenderischen Lebensstils oder vereinzelt mit abscheulichen Beispielen ihrer Ausbeutung befassen, ist in dieser Literatur die Figur des Ausbeuters oder Industriellen weitgehend verbunden mit anderen repressiven Kräften in der Gesellschaft und bekommt rasch eine allegorische oder sogar mythische Dimension, der die Figur des Arbeiters gegenübergestellt ist. Nur ein kleiner Teil dieser Literatur befaßt sich mit Erfahrungen von Arbeitern in anderen Lebensbereichen als Arbeit und unmittelbarem Klassenkampf. Es ist für diese Autoren charakteristisch, Themen wie Kulturschock, Probleme der gesellschaftlichen Eingliederung, Liebe und Familienbeziehungen oder Na-

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turerlebnis an den Rand zu verweisen.3 Betrachten wir Gedichtsammlungen dieser Dichter, finden wir zwar eine Reihe von Gedichten über Liebe, Natur usw., aber im großen und ganzen sind sie extrem konventionell und sentimental.4 Das heißt, wenn diese Sozialisten über Privatsphäre schreiben, sind sie von anderen deutsch-amerikanischen Schriftstellern kaum zu unterscheiden. Privatleben wird als „heile Welt", als Zufluchtsort für von Konflikten am Arbeitsplatz oder in der Politik Betroffene dargestellt, und letzten Endes erscheinen Konflikte des Individuums als unwesentliche Momente im Prozeß gesellschaftlicher Umwandlungen. Die Darstellung der Lage des unorganisierten Proletariats in der Gegenwart benutzt Stereotype, Allegorien und eine Geschichtsinterpretation auf der Basis moralischer Kategorien und spekuliert auf die Erwartung, der Leser, Darsteller oder Zuschauer werde sich mit dieser oppositionellen Haltung gegenüber Ungerechtigkeit identifizieren. Entsprechend ist der Teil dieser Literatur, der sich vorzugsweise mit dem Bedürfnis nach proletarischer Organisation, mit der Einheitsaktion als Antwort auf soziale Ungerechtigkeit befaßt, in seiner Wirkung davon abhängig, daß der Rezipient sich mit den im Werk ausgedrückten positiven Bildern identifiziert und seine Aktionen nach diesem Muster ausrichtet. Die Schriftsteller suchten die Solidarität ihrer Rezipienten zum einen auf der Ebene des Inhalts herzustellen, indem sie ein positives Bild des organisierten Arbeiters als Identifikationsmuster schufen, und zum anderen auf der Ebene der literarischen Technik. Mit wenigen Ausnahmen war diese Literatur von Männern geschrieben, für Männer und über Männer. Durch Organisation, so werden sie beschrieben, werden Arbeiter „männlich", „bewußte Männer". Unorganisiert sind sie „unmündige Kinder", kraftlos, preisgegeben den Interessen des Kapitals. Solidarisch organisiert gewinnen sie ihre Männlichkeit wieder und ihre kollektive Kraft. Die vorher als „feig", „dumm", „unbewußt", „Knechte" oder sogar „weibisch" charakterisiert wurden, werden nun „tapfer", „bewußt", „männlich". In erster Linie wird aus der Art der Unterscheidung zwischen unorganisierten und organisierten Arbeitern deutlich, daß in dieser Literatur Solidarität grundsätzlich als eine Sache des Willens dargestellt ist. Rhetorische Anklagen und Fragen {„Wollt ihr nicht frei sein?", „Wollt ihr ewig darben?") werden XIII

benutzt, um an ein Schuld- und Schamgefühl der Arbeiter zu appellieren, die zulassen, daß sie und ihre Familien ausgebeutet werden, und sich so nicht wie „Männer" benehmen. Umgekehrt werden diese Arbeiter beschworen, daß sie, hätten sie nur männlichen Mut und einen starken Willen, ihre Ketten brechen könnten durch die vernunftgemäße einheitliche Aktion („Was dich erlöst, ist nur der Wille, / Gezeugt aus der Erkenntnis Blick"). Bilder der Revolution nehmen einen vergleichsweise schmalen Raum ein gegenüber den Beschwörungen einer künftigen sozialistischen Gesellschaft oder des Volksstaats. Wenn gleichwohl der Prozeß des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus Gegenstand der Literatur wird, so wird er als unvermeidlich beschrieben, als ein Tag der Rache, aber auch als kurzzeitig, als ein apokalyptischer sozialer Umsturz. Sogar in Prosawerken, von denen die Entwicklung eines umfassenden Konzepts erwartet werden könnte, dominiert dieses apokalyptische, abstrakte Revolutionsbild. 5 Ein anderer auffallender Zug ist, daß Revolution, der Weg zum Sozialismus oder wie immer dieser Prozeß sonst bezeichnet wird, in diesen Werken als Naturkraft erscheint: „Es" wird „mit Sicherheit" kommen, aber dieses „Es" ist oft ohne Verbindung zu den Aktionen der menschlichen Subjekte. Der allgemeine Gebrauch der Naturallegorie verstärkt diese Abstraktheit und den Mangel an Vermittlung: Die Revolution ist ein „Sturm", sie wird so gewiß kommen, wie der Tag der Nacht folgt, so unvermeidlich, wie der Frühling dem Winter folgt. Der Gebrauch dieser Allegorien, um sozialen Wandel auszudrücken, ist ein besonders typisches Merkmal dieser Literatur.

II Im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert fand eine ununterbrochene Emigration aus allen Ländern Europas in die U S A statt. Sowohl die sogenannten alten Einwanderer aus Großbritannien, Irland und Deutschland als auch die neuen aus Südund Osteuropa um die Jahrhundertwende mußten sich der amerikanischen Gesellschaft und Lebensweise anpassen bzw. versuchen, sich ein Leben in der neuen Welt nach ihren eigenen Bedürfnissen und Zielen zu gestalten. Die größte dieser fremdsprachigen Gruppen bestand aus Deutschen. Aus politischen,

XIV

wirtschaftlichen und religiösen Gründen emigrierten fast eine Million nach der Revolution von 1848 und fast anderthalb Millionen im Jahrzehnt 1880—1890. So vielfältig wie die Gründe dieser Emigration waren auch die Reaktionen deutscher Einwanderer auf die Erfordernisse des Alltagslebens in den USA. Wie die Geschichte aller Einwanderergruppen ist die der deutsch-amerikanischen ebenfalls reich an Konflikten, Widersprüchen und Meinungsverschiedenheiten in bezug auf die eigene ethnische Gruppe wie auf die Gesamtgesellschaft. Sehr oft ist die stereotype Ansicht vertreten worden, die deutschen Einwanderer des neunzehnten Jahrhunderts hätten sich der amerikanischen Politik und Gesellschaft verhältnismäßig reibungslos assimiliert, indem sie sich zum größten Teil der gegen die Sklaverei auftretenden Republikanischen Partei anschlössen, den Städten und Gemeinden, in denen sie sich niederließen, als solide Bürger, Geschäftsleute oder Handwerker dienten und der immer noch zum strengen Puritanismus neigenden Gesellschaft einen gewissen Anstrich von Jovialität verliehen. Doch wenn man versucht, über diese einseitige Betrachtungsweise hinauszugehen und zu einem differenzierten Bild zu gelangen, stößt man auf eine andere, verschollene deutsch-amerikanische Tradition, die sozialistische, deren politische, ökonomische und kulturelle Ziele großen Anklang besonders unter eingewanderten deutschen Arbeitern fanden. Ob man Achtundvierziger wie Friedrich Sorge und Joseph Weydemeyer betrachtet, ob Sozialisten, die durch das Sozialistengesetz nach Amerika getrieben wurden, ob Einwanderer, die auf Grund ihrer Enttäuschung über Amerika zu radikaleren, kritischeren Einstellungen kamen — unter all diesen bildeten deutsche Sozialisten die zweifellos wichtigste progressive fremdsprachige Gruppe in den U S A des späten neunzehnten Jahrhunderts. In der Regel haben Historiker, die den Einfluß der deutsch-amerikanischen Sozialisten auf die amerikanische Arbeiterbewegung ausgewertet haben, sich auf die führende Rolle konzentriert, die diese Einwanderer bei der Verbreitung der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus und bei der Organisierung der amerikanischen Arbeiterbewegung nach dem Bürgerkrieg (1861—65) spielten. 6 Obwohl diese frühen Sozialisten diese zwei Bereiche selbst als ihre wichtigsten politischen Aktivitäten verstanden, versuchten sie jedoch, auch eine weiterreichende Auffassung von bisher wenig erforschten sozialen Alternativen im Alltagsleben durchzusetzen, die in verschiedenen kulXV

turellen Einrichtungen der Industriegroßstädte in Erscheinung traten. Ferner ist es immer noch vielfach unbekannt, daß diese eingewanderten Sozialisten ihre journalistische und belletristische Arbeit in der Neuen Welt fortsetzten. Als bisher vernachlässigter Teil der internationalen proletarischen Kultur ist diese deutsch-amerikanische sozialistische Literatur erst im geschichtlichen Kontext von Emigration und neuem Anfang zu begreifen. Das heißt, zum Verständnis der besonderen Entwicklung einer solchen Literatur in den U S A braucht man einen Überblick über die Versuche der Deutschen, eine sozialistische Bewegung unter den Arbeitern aus verschiedenen ethnischen Gruppen ins Leben zu rufen und zu erhalten. Dabei müssen zwei Problemstellungen im Blickfeld behalten werden. Erstens: wie haben diese Sozialisten — von einer europäischen oder deutschen Perspektive aus gesehen — ihre Theorien, Strategien und politischen Ziele unter neuen, veränderten Umständen weitergeführt? Zweitens: wie lebten und arbeiteten sie — aus amerikanischer Sicht — im neuen gesellschaftlichen Kontext, und was bedeuteten diese von Einwanderern getragenen Bewegungen für die politische Entwicklung der USA, besonders im Hinblick auf das Fehlen einer zahlenmäßig starken sozialistischen Bewegung in den USA des zwanzigsten Jahrhunderts? Obwohl radikal-demokratische, hauptsächlich auf die Abschaffung der Sklaverei zielende Achtundvierziger die wichtigste Gruppe innerhalb progressiver deutsch-amerikanischer Kreise während der Zeit von 1848 bis zum Ende des Bürgerkriegs bildeten, gab es selbst während dieses Zeitraums Versuche, Arbeiterorganisationen zu gründen und eingewanderte deutsche Arbeiter mit den Schriften von Marx und Engels bekanntzumachen. Hier verdient vor allem Joseph Weydemeyer Erwähnung, der 1853 den Allgemeinen Amerikanischen Arbeiterbund in New York gründete und mehrere Arbeiterzeitungen herausgab. 7 Nach dem Bürgerkrieg war die erste wichtige, von Deutschen geleitete sozialistische Organisation in den U S A die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA), d. h. die „Erste Internationale", die 1864 in London gegründet worden war, um ökonomische und politische Forderungen der Arbeiterklasse auf internationaler Basis zu unterstützen. 8 Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune im Jahre 1871 und nach wiederholten Versuchen von Vertretern des Anarchismus wie Bakunin, die politische Zielrichtung der Organisation zu bestimmen, wurde der XVI

Generalrat der IAA nach New York verlegt, wo der Achtundvierziger Friedrich Sorge als Generalsekretär amtierte. Fortan waren die USA das einzige Land, in dem die Erste Internationale sich eine Zeitlang als Organisation behaupten konnte, vor allem durch Gewerkschaftsarbeit — in der „National Labor Union" — wie auch durch öffentliche Veranstaltungen und Demonstrationen, bis sie schließlich im Jahre 1876 aufgelöst wurde. Jedoch war die Erste Internationale damals nicht die einzige sozialistische Organisation in den USA, denn deutsche Einwanderer hatten auch einige kleine Parteien nach dem Muster ihnen von Deutschland her bekannter Organisationen in mehreren amerikanischen Städten gegründet. Diese kleinen Gruppen erkannten bald ihre Gemeinsamkeiten und vereinigten sich 1876, dem Beispiel des 1875 in Gotha stattgefundenen Einheitskongresses zwischen Eisenachern und Lassalleanern folgend, zur Arbeiterpartei der Vereinigten Staaten, unter deren 3000 Mitgliedern Deutsche die bei weitem größte Mehrheit bildeten.9 Diese Partei erlebte ihren kurzen, aber bemerkenswerten Höhepunkt während des sich aufs ganze Land ausdehnenden Eisenbahnerstreiks im Sommer 1877, als die Stadt St. Louis einige Tage von der dortigen Sektion der Partei verwaltet wurde. Dieser kurzlebige, von Armee und Miliz niedergeschlagene Streik — die Folge einer tiefen, vier Jahre andauernden Wirtschaftskrise — führte zu weitverbreiteten Äußerungen des Fremdenhasses auf Grund der großen Anzahl fremdsprachiger Streiker aus Einwandererkreisen. Jedoch schien es kurz nach dem Aufhören der Unruhen die vorherrschende öffentliche Meinung zu sein, daß die wirtschaftliche und soziale Stabilität der USA durch solche vorübergehenden Krisen nicht gefährdet werden könnte und daß man praktische Mittel und Wege finden sollte, die Arbeiterklasse zu befrieden und in den normalen politischen Prozeß einzugliedern.10 Allgemein gesprochen gab es innerhalb deutsch-amerikanischer progressiver Kreise drei Richtungen, die sich aus den Erfahrungen des Streiks von 1877 entwickelten. Erstens trat eine kleine Gruppe von Sozialisten wie Friedrich Sorge aus der Arbeiterpartei der Vereinigten Staaten aus, um sich völlig der Gewerkschaftsarbeit in der „International Labor Union" zu widmen. Die zweite Gruppe bildete sich im Dezember 1877, als die Arbeiterpartei der Vereinigten Staaten den Namen Sozialistische ArbeiterPartei (SAP) annahm und ein Programm verabschiedete, das der Teilnahme an Wahlkampagnen große Bedeutung beimaß. Die 2

Poore, Anthologie

XVII

dritte Gruppe von deutsch-amerikanischen Radikalen waren diejenigen, die verschiedene Arten anarchistischer Taktiken bevorzugten, die die bewaffnete Selbstverteidigung der Arbeiterklasse unterstützen wollten und die sogar zum gewaltsamen Umsturz der Regierung aufriefen. Es waren diese letzten zwei Gruppen, die in den deutsch-amerikanischen radikalen Bewegungen bis zur Jahrhundertwende die vorherrschende Rolle spielten. Im Jahrzehnt nach 1877 konzentrierte sich die SAP beim Aufbau einer sozialistischen Bewegung in den USA auf verschiedene Bereiche : auf Wahlkampagnen, Gewerkschaftsarbeit, die Entwicklung einer eigenen Presse und kulturelle Einrichtungen. Andererseits versuchte diese Partei auch, die Sozialdemokratie in Deutschland soviel wie möglich durch Öffentlichkeitsarbeit und finanzielle Hilfe zu unterstützen. Der Charakter dieser Aktivitäten wurde von der deutschen Mehrheit der SAP wesentlich geprägt. So waren bis zur Jahrhundertwende im Durchschnitt ungefähr 80 % der Mitglieder der SAP in Deutschland geboren. Fünfzehn Jahre nach der Gründung der Partei waren 88 von 100 Sektionen deutschsprachig, während nur eine winzige Zahl von Mitgliedern gebürtige Amerikaner waren. 11 Aus diesem Grund sprachen Zeitgenossen und sogar einige Historiker von der SAP als einer „deutschen Kolonie" in New York, wo die Mehrheit ihrer Mitgliederlebte. Der am wenigsten erfolgreiche Versuch, eingewanderten deutschen Arbeitern Alternativen zu bieten, war die Aufstellung sozialistischer Kandidaten bei Wahlen. Von Lassalles Theorien über die Unerläßlichkeit sozialistischer Wahlteilnahme stark beeinflußt, sparten diese Sozialisten weder Zeit noch Mühe bei Kommunal-, Landes- und sogar Bundeswahlkämpfen, hatten aber nur bei einer ganz geringen Zahl von Kommunalwahlen nach dem Streik von 1877 Erfolg. 12 Bei solchen Versuchen, an Wahlen teilzunehmen, traten die negativen Auswirkungen der fast ausschließlich fremdsprachigen Zusammensetzung der sozialistischen Bewegung am klarsten zutage. Der Erfolg der deutschamerikanischen Sozialisten an der Wahlurne wurde ständig durch diese sprachliche Exklusivität und die daraus erwachsenden Schwierigkeiten, an öffentlichen Debatten teilzunehmen, verhindert. Hinzu kam die weitverbreitete Meinung in der amerikanischen Politik, eine Stimme für eine winzige dritte Partei sei eine „verlorene" Stimme. Selbst unter den deutschsprachigen Arbeitern in den großen Industriestädten kann man anhand einer Untersuchung der deutsch-amerikanischen sozialistischen XVIII

Presse feststellen, daß viele Arbeiter, die die Bestrebungen der Sozialisten in mancher Hinsicht unterstützten, lieber republikanisch oder sogar demokratisch als sozialistisch stimmten. Trotz der fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, denen Sozialisten bei der Aufstellung ihrer eigenen Kandidaten gegenüberstanden, verfolgten sie jedoch meistens nicht die Alternative, Koalitionen mit anderen progressiven Parteien zu bilden, die für englischsprachige Arbeiter attraktiver gewesen wären. Das heißt, in diesem Bereich haben deutsche Sozialisten in der Regel nicht versucht, ihre im europäischen Kontext entwickelten Theorien und Strategien den neuen amerikanischen Bedingungen anzupassen. 13 Insbesondere wollten sie auf Grund ihres theoretischen Verständnisses keine Rücksicht auf die politischen Koalitionen zwischen Agrarreformern und gewerkschaftlich organisierten Arbeitern nehmen, die unter den progressiven Bewegungen in den U S A des späten neunzehnten Jahrhunderts eine höchst wichtige Rolle spielten. 14 Erst nach der Jahrhundertwende und Gründung der auf einer breiteren Massenbasis beruhenden Sozialistischen Partei konnten Sozialisten einige nennenswerte Wahlsiege verbuchen. 1 5 1881 berichtete das National-Exekutiv-Komitee der S A P stolz, daß Gewerkschaften „in fast allen Industriestädten Amerikas" unter der Leitung von Sozialisten standen. 16 In der Tat konnten deutsch-amerikanische Sozialisten weit beträchtlichere Erfolge bei der gewerkschaftlichen Organisierung als bei den Wahlkampagnen verzeichnen. Obgleich viele Sozialisten den in politischer Hinsicht beschränkten Zielen der Gewerkschaftsbewegung etwas skeptisch gegenüberstanden, erkannten dennoch die meisten zu diesem Zeitpunkt, daß wichtige ökonomische Fortschritte sich nur durch solidarische Gewerkschaftspolitik erzielen ließen. Also schlössen sie sich schon bestehenden Gewerkschaften von Facharbeitern unterschiedlicher Berufe an oder gründeten neue, die sich auf höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, einen kürzeren Arbeitstag wie auch langfristige politische Ziele konzentrierten. Zum Beispiel wurde jede deutsche oder vorwiegend deutsche Gewerkschaft in New York City — wo die größte Zahl von gewerkschaftlich organisierten deutschen Arbeitern lebte —von Sozialisten gegründet, die ihrerseits wichtige Funktionen übernahmen, vor allem in den Gewerkschaften der Schreiner, Drucker, Bäcker, Brauerei- und Zigarrenarbeiter. Diese deutschen Gewerkschaften schlössen sich zu einem Zentralverband, den Vereinigten Deutschen Gewerkschaften, zusammen, der im 2*

XIX

Gewerkschaftsbund von New York City vertreten war — dem im Jahre 1886 größten städtischen Gewerkschaftsbund Amerikas mit 150000 Mitgliedern aus verschiedenen Sprachgruppen. 17 Dieses Muster der gewerkschaftlichen Organisation war auch für andere Industriestädte wie Chicago, Milwaukee, St. Louis, Philadelphia und Newark bezeichnend. Oft gelang es diesen von Deutschen geleiteten Gewerkschaften, einen beträchtlichen politischen Einfluß auszuüben, der die nach Klassen verlaufenden Spaltungen unter Deutschamerikanern aufzeigte. Wie war es zu diesem Zeitpunkt wohl möglich, daß eingewanderte deutsche Arbeiter solche gut organisierten, einflußreichen Gewerkschaften gründen und am Leben erhalten konnten? Am Beispiel von New York City läßt sich zeigen, daß die Antwort auf diese Frage in der Zusammensetzung der deutsch-amerikanischen Arbeiterklasse wie auch in der ständig zunehmenden, im Jahre 1882 ihren Höhepunkt erreichenden Einwanderung aus Deutschland liegt. Erstens waren die Mehrheit der deutschamerikanischen Arbeiter Fachkräfte aus den Industriegroßstädten Deutschlands und stellten deshalb — im amerikanischen Kontext einer nach ethnischer Zugehörigkeit bestimmten Arbeitsteilung — den größten Teil von Berufen wie Bäcker, Brauer, Metzger, Möbel-, Klavier- und Zigarrenarbeiter dar. Die deutsche Sprache, die unter manchen anderen Umständen ein Hindernis bildete, förderte in solchen Handwerksbetrieben die gewerkschaftliche Organisation. Zweitens hatten viele eingewanderte Arbeiter schon reiche Erfahrungen in der deutschen Arbeiterbewegung gesammelt, die sie in den U S A nutzen und erweitern wollten. Drittens brachte die Vertrautheit mit der deutschen Sozialdemokratie sie dazu, die auf ökonomische Verbesserungen am Arbeitsplatz beschränkten Ziele der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung in Frage zu stellen und manchmal sogar politisch aktivere, alternative Gewerkschaften für bestimmte Handwerke zu gründen. Diese sozialistische Umorientierung wurde nach 1878 noch stärker, d. h. nach der Ankunft von Sozialdemokraten in New York, die wegen des Sozialistengesetzes zur Emigration gezwungen worden waren. Aus diesen Gründen läßt sich behaupten, daß der hohe Prozentsatz gewerkschaftlich organisierter deutscher Arbeiter in New York auf ihren Status als Facharbeiter wie auch auf ihre mit dem Sozialismus verbundenen Vorstellungen zurückzuführen ist. Eine Untersuchung der gewerkschaftlichen Tätigkeiten der deutsch-amerikanischen Sozialisten zeigt, daß sie in XX

diesem Bereich erfolgreiche Versuche unternahmen, die Arbeitsund Lebensbedingungen eingewanderter Arbeiter zu verbessern und Verbindungen unter Arbeitern aus verschiedenen ethnischen Gruppen zu fördern, daß sie also in dieser Hinsicht einen Wirkungskreis außerhalb ihrer eigenen Sprachgruppe aufrechterhalten konnten. Die Orientierung der S A P auf politische Ereignisse in Deutschland trat 1878 nach der Verabschiedung des Sozialistengesetzes am klarsten zutage. 1 8 Trotz einiger Stimmen in der amerikanischen Presse, die diesen deutschen Sozialisten die Einwanderung in die U S A versperren wollten, blieb die Stadt New Y o r k das bevorzugte Ziel für viele, die wegen des Sozialistengesetzes ausgewiesen wurden. Im Januar 1879 fanden die ersten von der S A P organisierten Protestveranstaltungen in mehreren Städten statt, die sowohl über die deutsche Situation informieren wie auch die Gefahr einer ähnlichen Reaktion in den U S A nach dem Streik 1877 beleuchten sollten. 19 Genauso wie deutsche und französische Emigranten früher exilierten Kommunarden finanziell geholfen hatten, organisierten deutsche Sozialisten und Gewerkschafter sofort Unterstützungskomitees für die neuangekommenen Emigranten in New York. 2 0 Durch diese Komitees, die in den Jahren 1878—1882 besonders aktiv waren, versuchten deutsche Sozialisten, Geld zu sammeln und unter den Emigranten zu verteilen, die Einwanderung ihrer Familien zu ermöglichen und ihnen Arbeit zu beschaffen. Doch mußte die S A P wegen mangelnder Geldmittel die Parteigenossen in Deutschland vor einer unbedachten Auswanderung nach den U S A warnen, obwohl die Partei erkennen mußte, daß die Emigration sich oft als der einzige Ausweg für viele anbot, die auf der schwarzen Liste standen und keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz in Deutschland hatten. 2 1 Außer solcher Hilfe in vielen Einzelfällen unterstützte die S A P ihre Schwesterpartei in Deutschland durch Geldspenden für die Reichstagswahlen und die sozialdemokratische Presse 22 wie auch durch die Organisierung von Agitationsreisen einiger bekannter Sozialdemokraten durch die U S A . Die erste solche Reise fand im Frühjahr 1881 statt, als die Reichstagsabgeordneten Friedrich Wilhelm Fritzsche und Louis Viereck, die später aus Berlin bzw. Leipzig unter dem kleinen Belagerungszustand ausgewiesen wurden und nach den U S A auswanderten, Reden in New Y o r k und anderen Großstädten hielten. 23 Die zweite wichtige, von der S A P organisierte Agitationsreise europäischer Sozialdemokraten war

XXI

die von Wilhelm Liebknecht, Eleanor Marx Aveling und Edward Aveling, die zwischen dem 27. September und dem 19. Dezember 1886 in mehr als vierzig Städten Reden hielten.24 Die von einem Geheimpolizisten zusammengestellten Berichte des Berliner Polizeipräsidiums über diese Reise wie auch die deutsch-amerikanische sozialistische Presse konstatierten den finanziellen Erfolg dieser Reise und die politische Wirkung der Reden auf die Zuhörer.'25 Es gab noch ein anderes, von der SAP und anderen Emigranten eingesetztes Mittel, um die deutsche Sozialdemokratie zu unterstützen und gegen die Folgen des Sozialistengesetzes zu wirken: nämlich in den USA gedruckte Publikationen nach Deutschland zu schicken und dort zu verbreiten. Schon eine Woche nach der Verabschiedung des Sozialistengesetzes, am 25. Oktober 1878, versprach die New Yorker Volkszeitung in einem Leitartikel, Widerstand gegen die „Gewaltherrschaft" in Deutschland zu leisten: „Die Agitation wird im Geheimen fortgeführt werden; was in Deutschland nicht gedruckt werden kann, wird im Ausland erscheinen. [. . .] Heute schon rufen wir unseren Genossen zu: Alles, was vor der Knute Eurer .Liberalen' nicht sicher ist, schickt es nur zu uns herüber. Hier wird Eure Stimme frei erklingen und wir bürgen dafür, daß alles, was Ihr hier redet oder druckt, jeder Bericht, den Ihr uns einschickt, daß alles dies auf Tausenden, den Argusaugen Eurer Polizei unbekannten Wegen nach Deutschland gebracht und daselbst in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet werden soll." 26 Es läßt sich jedoch nicht mit Genauigkeit bestimmen, mit welchem Erfolg die deutsch-amerikanischen Sozialisten dieses Versprechen einhalten konnten. Einer der wenigen zeitgenössischen Berichte, der des Berliner Polizeipräsidenten von Richthofen (1889), behauptete, nur einzelne Exemplare ausländischer sozialdemokratischer Zeitungen wie der New Yorker Volkszeitung seien in Deutschland angekommen. 27 1885 berichtete Polizeipräsident von Madai, 4500 Exemplare von Johann Mösts Freiheit, einer in New York gedruckten anarchistischen Zeitung, seien alle zwei Wochen nach Deutschland geschickt worden. 28 Jedoch liest sich die Liste der in den USA gedruckten und in Deutschland verbotenen Publikationen wie ein Katalog aller wichtigen deutsch-amerikanischen sozialistischen Zeitungen, Pamphlete und Bücher. 29 Auf Grund solcher internationalen Solidarität uad Hilfsbereitschaft beurteilten also deutsche Sozialisten im Jahre 1890 in XXII

London einige unerwartete Folgen des Sozialistengesetzes wie folgt: „Wenn aber die Gewalthaber glaubten, die Ausgewiesenen und Vertriebenen dadurch unschädlich gemacht zu haben, daß sie dieselben nötigen, jenseits des Ozeans sich ein neues Heim zu suchen, so ist die Schergenrechnung auch in diesem Falle wieder zu Schanden geworden. Unsere braven Genossen, denen polizeiliche Brutalität und blinde Verfolgungswut den Aufenthalt im Vaterland unmöglich macht, haben deswegen dasselbe noch nicht vergessen, und wenn sie auch an den Kämpfen unserer Partei in Deutschland nicht mehr aktiv teilnehmen konnten, so haben sie doch in pekuniärer Hinsicht die Kämpfer auf das Kräftigste unterstützt. [. . .] Aber nicht nur pekuniäre Opfer haben diese Genossen für die Bewegung in Deutschland gebracht, sie wirken auch unermüdlich dafür, den Kreis unserer Anhänger unter dem deutschen Element Amerikas zu erweitern. Und wenn in Amerika das Verständnis für die Vorgänge in Deutschland immer klarer wird, und die Zahl derjenigen Deutsch-Amerikaner, welche des naiven Glaubens waren, daß nach den Kriegen von 1866 und 1870/71 sich .alles so herrlich erfüllt' habe, immer kleiner wird, so haben unsere Ausgewiesenen und Vertriebenen ihr redlich Teil zu diesem Umschwung beigetragen."30 Die dritte Richtung, die sich nach dem Streik von 1877 innerhalb der deutsch-amerikanischen Arbeiterklasse entwickelte, konzentrierte sich in Chicago und ist oft als „anarchistisch" bezeichnet worden, obwohl diese Gruppen sich selber „Sozialrevolutionär" nannten. Enttäuscht durch die von der SAP nach 1878 erlittenen Wahlverluste und bestürzt durch Versuche korrupter Politiker in Chicago, sogar rechtmäßig gewählten sozialistischen Kandidaten das Antreten ihrer Ämter zu verwehren, befielen immer mehr Mitglieder der SAP ernsthafte Zweifel über die offizielle Strategie der Wahlteilnahme. Der zweite wichtige Streitpunkt unter Parteimitgliedern, der zur Entwicklung einer Sozialrevolutionären Bewegung führte, waren die unterschiedlichen Meinungen über die Anwendung von Gewalt durch die Arbeiterbewegung. Schon im Jahr 1875 wurde eine Gruppe von bewaffneten Arbeitern, der „Lehr- und Wehrverein", in Chicago gegründet. Vor allem die brutale Behandlung durch Polizei und Miliz während des Streiks von 1877 war es jedoch, die als Ansporn zur Organisierung dieser überwiegend deutschen und böhmischen Gruppen in Chicago und anderen Städten diente. Als diese Vereine sich zuerst bildeten. XXIII

schienen die meisten Mitglieder der S A P der Meinung zu sein, sie wären nötig, um den Arbeitern den Schutz der von der Verfassung verbürgten Rechte zu gewährleisten. Bald aber begann dasNational-Exekutiv-Komitee der S A P , sich von den bewaffneten Gruppen wegen ihrer angeblich aggressiven, extremistischen Taktiken zu distanzieren, bis es gegen Ende des Jahres 1878 allen Parteimitgliedern verordnete, aus den Lehr- und Wehrvereinen auszutreten. Die sozialistische Presse in Chicago, die Arbeiterzeitung und der Vorbote, polemisierte gegen diese Verordnung, und bald traten einzelne Mitglieder wie auch sogar ganze Sektionen aus der S A P aus. Zum offiziellen Bruch hinsichtlich der Gewaltfrage k a m es 1880 in New Y o r k , als eine Gruppe ehemaliger Parteimitglieder einen „Sozialrevolutionären K l u b " gründete. Danach bildeten sich weitere solche K l u b s in Chicago und anderen Städten, bis die Mitgliederzahl der S A P , die 1878 10000 betragen hatte, im Jahre 1883 bis auf 1500 sank, während die Sozialrevolutionäre zur Zeit ihres größten Zulaufs im Jahre 1885 ungefähr 7000 Mitglieder verzeichnen konnten. Die ideologische Richtung der Sozialrevolutionäre wurde von in Europa formulierten Theorien wie auch von Auslegungen der amerikanischen Verhältnisse beeinflußt. 1881 wurde die anarchistische oder „schwarze" Internationale Arbeiter-Assoziation bei einem Kongreß in London wieder ins Leben gerufen, und es war diese Organisation, an die die Sozialrevolutionäre sich anschlössen. Im Jahre 1882 traf der zu dieser Zeit bekannteste deutsche Anarchist, der ehemalige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Johann Most, in New Y o r k ein. E r gab dort sofort die Zeitung Freiheit heraus und versuchte, während seiner Agitationsreisen neue Anhänger für die Sozialrevolutionäre zu gewinnen. 3 1 Im folgenden Jahr veranstalteten Sozialrevolutionäre einen Kongreß in Pittsburgh, dessen wichtigstes Ergebnis die A b fassung ihres Programms, des „Pittsburgher Manifests", war. 3 2 Geschrieben von Most, den späteren Haymarket-Märtyrern Albert Parsons und August Spies u. a. war diese Prinzipienerklärung den Programmen der Sozialisten ähnlich in bezug auf die ökonomische Analyse des Kapitalismus, aber es wurde darin auch wie bei dem Kongreß in London die Forderung nach der Bewaffnung der Arbeiter in Lehr- und Wehrvereinen erhoben. Die Delegierten lehnten einstimmig die Wahlteilnahme als reformistisch ab, jedoch wurde ein von den Chicagoer Delegierten vorgeschlagener Beschluß angenommen, der die Mitarbeit der I A A

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bei der Gewerkschaftsorganisierung fördern wollte. Dieser Vorschlag spiegelte den Tatbestand wider, daß die Sozialrevolutionäre eine führende Rolle in der Zentralorganisation der Gewerkschaften (Central Labor Union) in Chicago spielten. 33 Das Pittsburgher Manifest war also ein zum Teil widerspruchsvolles Programm, das eine gewisse Unsicherheit und Uneinigkeit über die Strategie und Ziele von Sozialismus wie auch von Anarchismus verriet und das auf Grund einer antiautoritären Grundhaltung den einzelnen Sektionen weitgehende Autonomie zugestand. Wenn man die Sozialrevolutionäre im Kontext der gesamten amerikanischen Arbeiterbewegung betrachtet, stellen sie eine der radikalsten Richtungen innerhalb der größten von den arbeitenden Massen ausgehenden Umwälzung dar, die die U S A bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatten. Das plötzliche Hochkommen der quasi-geheimen „Ritter der Arbeit" (Knights of Labor) während der Krise von 1882 bis 1886 (von 40000 bis über 700000 Mitglieder) sowie ihre Erfolge bei der Organisierung von gelernten und ungelernten Arbeitern wiesen auf steigende Unzufriedenheit wegen zwölf- bis sechzehnstündiger Arbeitstage, niedriger Löhne und ärmlicher Wohnverhältnisse hin. Diese Zeit intensiver Organisierung und sozialer Auseinandersetzungen erreichte am 1. Mai 1886 den Höhepunkt beim Generalstreik für den Achtstundentag, der in Chicago mit 80000 Streikenden ein besonders großes Interesse erweckt hatte und zugleich zur berüchtigten Haymarket-Affäre führte. 34 Da deutsche Sozialrevolutionäre immer im Vordergrund der Gewerkschaftsarbeit in Chicago gestanden hatten, wurden sie von der Stadtverwaltung und der Polizei als Sündenböcke betrachtet und besonders hart verfolgt. Von den acht Männern, die der Verschwörung und des Mordes beschuldigt wurden, waren sechs Deutsche, von denen drei zum Tode verurteilt und am 1 1 . November 1887 hingerichtet wurden. Die Reaktion der amerikanischen Presse und vieler anderer Stimmen der Öffentlichkeit war ein wahlloses, emotionales Eintreten für die Unterdrückung jeglichen progressiven Denkens. Diese Hetze richtete sich besonders gegen Ausländer, die ihre sogenannten „fremden" Lehren und einen „fremden" Klassenkrieg in die U S A tragen wollten. E s läßt sich also mit Sicherheit feststellen, daß die Haymarket-Affäre schwerwiegende Folgen nicht nur für den zeitweiligen Verfall der amerikanischen Arbeiterbewegung nach 1886 hatte, sondern auch für die Entwicklung xenophobischer XXV

Tendenzen, d. h. die Entwicklung des „Nativismus" als einer ausgeprägten Eigenschaft des amerikanischen Lebens. 35 Nach dem Aufstieg der „Ritter der Arbeit", dem spektakulären Ausbrechen gewalttätiger Klassenkämpfe im Streik für den Achtstundentag und in der Haymarket-Affäre, und den Erfolgen progressiver Kandidaten bei mehreren Kommunalwahlen im Jahre 1886 meinten viele Sozialisten, der Sturz des Kapitalismus in den USA stehe unmittelbar bevor. 36 Jedoch verwirklichten sich diese Hoffnungen auf den Aufbau einer großen, dauerhaften sozialistischen Bewegung in den Jahren nach 1886 nicht. Die Zahl der „Ritter der Arbeit" nahm genauso schnell ab, wie sie früher zugenommen hatte. Die Hinrichtung der HaymarketMärtyrer und der zeitweilige Zusammenbruch der Achtstundenbewegung ließen keinen Zweifel an der Entschlossenheit des amerikanischen Kapitalismus, ihm widerstrebende Bewegungen zu unterdrücken. Und gelernte Arbeiter schienen sich immer mehr der sich fast ausschließlich auf ökonomische Vorteile konzentrierenden American Federation of Labor (AFL) zuzuwenden, statt die unmittelbaren Ziele der Gewerkschaftsbewegung mit weitreichenden politischen Forderungen einer unabhängigen Arbeiterpartei zu verbinden. Nach dieser unerwarteten Wende fingen europäische und deutschamerikanische Sozialisten an, ihre Hoffnungen für die Aussichten des Sozialismus in den USA einer gründlichen Kritik zu unterziehen. 37 Mit unterschiedlicher Betonung bestimmten sie folgende Faktoren als Erklärung für die Hindernisse, die nach ihrem Verständnis dem Erfolg des Sozialismus in den USA im Wege standen: 1. die fast ausschließlich deutsche Mitgliedschaft der SAP und alle damit verbundenen Schwierigkeiten, sich den besonderen amerikanischen Bedingungen anzupassen; 2. die Zusammensetzung der amerikanischen Arbeiterklasse aus vielen verschiedenen Nationalitäten und ethnischen Gruppen; es waren nicht nur die kulturellen und sprachlichen Unterschiede unter diesen Gruppen, die die Solidarität und Kommunikation zwischen Arbeitern oft verhinderten, sondern es gab auch eine nach ethnischen Gruppen geordnete Arbeitsteilung, in deren Rahmen bestimmte Nationalitäten in einzelnen Handwerken vorherrschten. Früher eingewanderte, etablierte nordund westeuropäische Gruppen verfügten über gutbezahlte, eine hohe Ausbildung verlangende Arbeitsstellen, während später DaXXVI

zugekommene, nämlich Slawen, Südeuropäer und Einwanderer aus Asien, vornehmlich ungelernt waren und deshalb die schwerste und am schlechtesten bezahlte Arbeit ausführen mußten. 38 Diese Situation führte zu einer härteren Konkurrenz unter den verschiedenen Gruppen, erleichterte es den Unternehmern, eine Gruppe gegen die andere auszuspielen, trug zur Bildung einer fest eingesessenen „Arbeiteraristokratie" innerhalb der A F L bei und erschwerte deshalb die gewerkschaftliche und sozialistische Organisierung. 3. die Frage der Aufstiegsmöglichkeiten, die im Zusammenhang mit der Struktur der amerikanischen Arbeiterklasse und der geschichtlichen Entwicklung des Landes stand; diese weitverbreitete Überzeugung stammte aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, als es für viele Lehrlinge und Gesellen noch möglich war, den Status eines unabhängigen Handwerkers zu gewinnen. Sie erwuchs auch aus den konkreten Erfahrungen vieler Einwanderer mit den unterschiedlichen Lebensstandards in den U S A und Europa. Einige Sozialisten meinten, das Vorhandensein einer offenen Grenze („frontier") im Westen und die Siedlungsmöglichkeiten dort hätten einen Ausweg für viele aus dem Elend der Großstadt geboten, was die Bereitschaft geschwächt habe, sich in Klassenauseinandersetzungen zu verwickeln. :!9 Jedoch schrieben deutschamerikanische Sozialisten oft über die elenden Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Neuen Welt mit dem Ziel, die Illusion von den „unbegrenzten Möglichkeiten" zu entlarven. Ihrer Meinung nach hätten eingewanderte Arbeiter nach den immer zugespitzteren zyklischen Wirtschaftskrisen (wie der von 1873 bis 1878) den Glauben an die Möglichkeit von Aufstieg und höherem Lebensstandard unter kapitalistischen Bedingungen aufgeben und eine größere Offenheit sozialistischen Ideen gegenüber entwickeln sollen. Aber als eine solche Wende ausblieb, war die S A P nicht bereit, ihre Analyse der amerikanischen Verhältnisse und der Entstehung des Klassenbewußtseins zu überprüfen oder alternative Strategien zu entwickeln. 4. die Schwierigkeit, innerhalb des fest etablierten, allgemein akzeptierten Zweiparteiensystems eine neue, ernst zu nehmende dritte Partei zu schaffen. In den U S A wurde die Überzeugung, eine Stimme für eine dritte Partei sei eine „verlorene" Stimme, dadurch bestätigt, daß die demokratische bzw. republikanische Partei manchmal einige der dringendsten Vorschläge von kleineren Parteien in ihre Programme aufzunehmen bereit war und daß XXVII

die sogenannten großstädtischen „Parteimaschinen" ihren Kandidaten die erforderlichen Stimmen oft durch Wahlbetrug garantieren konnten/ 0 Diese Vorherrschaft über die Politik und die öffentlichen Angelegenheiten des Landes stellte ein großes Hindernis nicht nur für die deutsche S A P dar, sondern auch für andere, zu einem größeren Teil aus „Einheimischen" bestehende dritte Parteien, wie die eine Währungsreform anstrebende GreenbackLabor Party, die Populist Party oder die Socialist Party. Schon im Jahre 1881, als die S A P eine Zeitlang an Mitgliedern und Wahlstimmen verlor, schilderte der Achtundvierziger und sozialistische Journalist Adolf Douai die Hindernisse für sozialistische Wahlerfolge in den U S A wie folgt: „Die soziale Propaganda stößt [. . .] auf eine vorherrschende Nationalität, welche eine andere Sprache redet; [. . .] auf eine demokratische Staatsverfassung, welche ihre langjährige Parteigeschichte hat, in die man eingeweiht sein muß, um den Denkstandpunkt der hiesigen Arbeiterbevölkerung zu begreifen und zu wissen, wie man an ihn anknüpfen und ihn fortbilden soll; auf den Aberglauben an die Vorzüglichkeit dieser Verfassung gegen alle anderen und auf die Unbekanntschaft des Volkes mit der europäischen politischen Geschichte und die Unfähigkeit desselben, sich in die politischen Erkenntnisse der Europäer hineinzudenken. [. . .] Sie stößt auf ganz abgefeimte politische Parteigauner, welche [. . .] den Leuten einbilden, sie regierten sich selbst, während sie nur regiert werden. Sie stößt auf eine wahre Schafsgeduld der Stimmgeber, welche sich immer aufs Neue mit nicht ernstlich gemeinten Versprechungen hinhalten und betrügen lassen, und auf die unselige Gewohnheit der unabhängigeren Stimmgeber, von der einen der beiden alten, aber gleich nichtswürdigen Parteien zur anderen überzuspringen, wenn es die herrschende zu weit getrieben hat, weil jede neue dritte Partei beargwöhnt wird, daß sie im Dienste einer der beiden alten stehe und ausverkaufen wolle, wenn es zur Wahl geht."'* 1 Diese Äußerung, einschließlich einer gewissen, aus den Frustrationen des Exils stammenden Herablassung und Erbitterung, kann als typisch für das Urteil der Deutschen in der S A P über die amerikanische Wählerschaft gelten. 5. Diese Analyse der amerikanischen Politik schloß auch die These ein, daß große Teile der amerikanischen Arbeiterklasse die etablierten Parteien unterstützten, weil sie sich wegen der langdauernden Tradition des allgemeinen männlichen Wahlrechts

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nicht erst als Klasse in einer unabhängigen Partei konstituieren mußten, um selbst bürgerliche Freiheiten für sich in Anspruch zu nehmen. Deutsch-amerikanische Sozialisten beklagten oft den daraus resultierenden Mangel an Klassenbewußtsein unter amerikanischen Arbeitern, während sie wiederum von der großen Mehrheit der Wähler als Verschrobene oder Träumer abgelehnt wurden, wenn sie von der bloß formalen Art der Demokratie in den USA sprachen. 6. In einem ähnlichen Sinn betrachtete die SAP die nicht- sozialistischen Gewerkschaften als eines der größten Hindernisse beim Aufbau einer sozialistischen Bewegung, denn sie bestärkten die Überzeugung, Mißstände wären innerhalb des existierenden politischen und ökonomischen Systems zu beseitigen/*2 Sozialisten mußten sich in etablierte Arbeiterorganisationen hineinarbeiten, die ein nur bedingtes Verständnis für ihre gemeinsamen Interessen hatten, während die Gewerkschaften nur zu oft meinten, sie könnten sich von der Politik fernhalten. Die von Arbeitern gewiß empfundene Unzufriedenheit über ihren ökonomischen Status zeigte sich in den wachsenden Mitgliederzahlen von Gewerkschaften wie der A F L , aber Sozialisten mußten erkennen, daß gewerkschaftlich organisierte Arbeiter oft nicht bereit waren, grundsätzliche politische Änderungen zu fordern. All diese Probleme waren nicht nur für die Sozialisten des neunzehnten Jahrhunderts von Belang, sondern sie bestanden bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein. Sie reflektierten dabei die heterogene Zusammensetzung der amerikanischen Arbeiterklasse und das Eintreffen von neuen Einwanderern aus Süd- und Osteuropa, und sie stellten der Sozialistischen Partei und in den zwanziger und dreißiger Jahren der Kommunistischen Partei weiterhin auch schwerwiegende organisatorische Aufgaben. Im Jahre 1917 gehörten 32894 der 80126 Mitglieder der Sozialistischen Partei zu den verschiedenen nicht-englischen Sprachgruppen,43 und die Kommunistische Partei berichtete auf dem Parteitag 1925, die Mehrheit der 16325 Mitglieder sei im Ausland geboren, weshalb die Partei achtzehn verschiedene Sprachgruppen unterhalten mußte.44 Die von den deutsch-amerikanischen Sozialisten beschriebenen Schwierigkeiten geben Aufschlüsse darüber, wie diese Sozialisten die Entstehung von Klassenbewußtsein und Solidarität innerhalb ihrer eigenen ethnischen Gruppe wie auch in der Arbeiterklasse insgesamt betrachteten und wie diese Perspektive ihre

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Auffassung von Praxis bestimmte. Wie aus den oben genannten Problemkomplexen ersichtlich ist, nahmen diese Sozialisten sowohl ökonomische wie auch soziokulturelle Faktoren als Hindernisse für ihre Bewegung wahr. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, daß sie offensichtlich den ökonomischen Verhältnissen die bei weitem größte Bedeutung beimaßen. Das heißt, obwohl sie einige ideologische Aspekte der kapitalistischen Hegemonie zur Kenntnis nahmen, die dem Zusammenschluß eines klassenbewußten Proletariats im Wege standen, waren sie nicht in der Lage, die ganze Bedeutung dieser Faktoren zu erkennen. Dies läßt sich an zwei typischen Gedankengängen zeigen, die oft in ihren Äußerungen vorkommen. Zum einen versuchten sie zu beweisen, daß die ökonomischen Verhältnisse in den USA genauso schlecht waren oder bald werden würden wie in Europa. Zum anderen redeten sie den amerikanischen Arbeitern ins Gewissen, indem sie den Standpunkt vertraten, daß, selbst wenn die hiesigen Arbeiter einen höheren Lebensstandard und größere Aufstiegsmöglichkeiten als die europäischen genossen, sie trotzdem der Eingliederung in das scheinbar für sie sorgende politische System widerstehen und für die ihre wahren Interessen vertretenden Sozialisten stimmen sollten. Aus diesen Argumentationsweisen muß man schlußfolgern, daß das Fortbestehen einer sozialistischen Bewegung unter Deutschen in den USA sicher auf der Erfahrung von Klassenkonflikten in Amerika basierte. Das läßt aber gleichzeitig auch erkennen, daß diese Sozialisten in mancher Hinsicht die tatsächlichen Erfahrungen von eingewanderten und einheimischen Arbeitern für unwichtig erklärten. Sie tendierten eher dazu, Eigenarten des amerikanischen Lebens wie den sozialen und ökonomischen Aufstieg, einen höheren Lebensstandard und die Möglichkeit, erwünschte Änderungen mittels der etablierten Parteien und nicht-sozialistischen Gewerkschaften durchzusetzen, als bloßen Aberglauben abzutun, den man einfach für unbedeutend erklären sollte, nachdem man über seine „wahren" Interessen aufgeklärt worden war. Der Glaube der deutsch-amerikanischen Sozialisten an den nahe bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus wie auch ihre apokalyptische Vision der sozialen Revolution führten dazu, daß sie die integrierende Kraft ideologischer Faktoren unterschätzten. Das heißt, in ihrer Analyse der amerikanischen Verhältnisse zeigten die deutsch-amerikanischen sozialistischen Gruppen und Parteien sowohl ein Verständnis für echte soziale Konflikte wie auch

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einen gewissen Abstand von den wirklichen Erfahrungen der Arbeiter in Amerika. Die Dominanz Deutscher innerhalb der SAP war von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung einer Parteipresse als Bestandteil der öffentlichen, politischen Kommunikation. Trotz wiederholter Versuche gelang es der SAP nicht, ein englischsprachiges Parteiorgan aufrechtzuerhalten, bis Daniel DeLeon im Jahre 1890 anfing, The People herauszugeben. Dagegen blühte die deutsch-amerikanische sozialistische Presse besonders in den späten siebziger und den achtziger Jahren (in Einzelfällen erschienen diese Zeitungen bis zum zweiten Weltkrieg) unter der Leitung von Herausgebern, die zu den einflußreichsten Sozialisten in deutsch-amerikanischen Kreisen gehörten. 45 Die wichtigsten Zeitungen der Parteipresse im Hinblick auf Auflage, Herausgeber und Inhalt erschienen in New York: die Wochenzeitung Vorwärts (1877—1932) und die Tageszeitung New Yorker Volkszeitung (1878—1932; 1878 Auflage von 8000; 1890 Auflage von 19000; zu den Herausgebern zählten die bekannten Sozialisten Alexander Jonas, Adolf Douai, Sergius Schewitsch und Hermann Schlüter). Nach 1901 wurden beide Zeitungen zu Parteiorganen der Sozialistischen Partei. Weitere deutschsprachige Zeitungen, die zu dieser Zeit mit der SAP in Verbindung standen, waren der New Yorker Sozialist (1885—1892; Herausgeber waren der Schriftsteller Wilhelm L. Rosenberg und, im ersten Jahr des Erscheinens, der Arbeiterphilosoph Joseph Dietzgen) wie auch die Volksstimme des Westens in St. Louis (1877—1880; herausgegeben von dem Eisenacher August Otto-Walster, der viele Romane, andere Prosawerke und kurze Dramen für das sozialistische Arbeitertheater geschrieben hat). 46 In Chicago, dem Zentrum der Sozialrevolutionären Bewegung seit den frühen achtziger Jahren, gab es kein offizielles Parteiorgan der SAP, doch waren Berichte über die Partei in der unabhängigen Arbeiter Zeitung (1876—1919) zu finden. 47 Insgesamt kann man behaupten, daß diese sozialistischen Zeitungen den größten Beitrag zum Zusammenhalt der deutsch-amerikanischen Arbeiterschaft lieferten, und zwar durch Informationen, Unterstützung von Streiks und Boykotten, Förderung der Kommunikation unter Arbeitern, durch Arbeiterfeste und Demonstrationen. 48 Im Jahre 1894 z. B. fungierte die New Yorker Volkszeitung als offizielles Organ für mehr als 300 Gewerkschaften, Sektionen der SAP, Turnvereine, Arbeitergesangvereine, sozialistische Schulen und

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Arbeiterhallen, Freidenkervereine, Frauenvereine, Krankenkassen für Arbeiter u. a. 49 Also waren solche Zeitungen ein unentbehrliches Mittel, über die kleine Gruppe von Parteimitgliedern hinaus auf weitere Kreise der deutsch-amerikanischen Arbeiterschaft einzuwirken. Außer ihrer Presse richteten deutsch-amerikanische Sozialisten eine Vielzahl von Organisationen ein, die sie als Alternativen zu anderen innerhalb der ethnischen Gruppe und der Gesamtgesellschaft gestalteten, um Aufklärung und kooperative soziale Handlungsweisen zu fördern. In Verbindung mit der sozialistischen Bewegung standen — wie in Europa — von Anfang an Arbeiterturnvereine, Produktions- und Konsumgenossenschaften, Arbeiter-Kranken- und -Sterbekassen, Frauengruppen und verschiedene Vereinigungen, die Bildung und sozialistisches Denken verbreiten wollten, z. B. Arbeiterbildungsvereine, sozialistische Schulen für Kinder und Erwachsene und große Arbeiterhallen. In vielen Städten waren sozialistische Arbeitertheater gegründet worden sowie Arbeitergesangvereine, deren Konzerte Tausende von Zuhörern anzogen. Schließlich boten sozialistische Feiern und Gedenktage zur Erinnerung an wichtige Ereignisse oder bekannte Persönlichkeiten der Geschichte der Arbeiterbewegung den eingewanderten Arbeitern oft Gelegenheit, ihre Einheit zu demonstrieren und ihre Freizeit gemeinsam zu verbringen. Die Äußerungen der Sozialisten über die Ziele dieser Organisationen zeigen, daß alle, die ihnen angehörten, sie als Alternativen zu ähnlichen, nichtsozialistischen Einrichtungen auffaßten. Zum Beispiel zeigt eine nähere Betrachtung des Repertoires und der Aufführungen der Arbeitertheater, daß sie sowohl unterhaltenden wie auch didaktischen Zwecken dienen wollten. Im Hinblick auf Unterhaltung waren die meisten der aufgeführten Stücke die gleichen Boulevardfarcen und -komödien, die man in kleinbürgerlichen deutsch-amerikanischen Vereinen erleben konnte. Jedoch war eine solche Unterhaltung, die als Ausgleich für die harte Arbeitszeit gedacht war, nicht der einzige auslösende Faktor für die Gründung von sozialistischen Arbeitertheatern. Vielmehr hatten die Laientheater die Aufgabe, durch Aufführungen politischer Stücke auf öffentlichen Versammlungen und zu Festen die Grundlagen der sozialistischen Theorie in einer unterhaltsamen Art und Weise zu verbreiten, Vorbilder für eine sozialistische Lebens- und Handlungsweise zu prägen und Bilder einer besseren Zukunft anzubieten. Dabei hofften sie, ein Publikum XXXII

zu erreichen, das kaum zu politischen Vorträgen ging, das die sozialistische Presse vermutlich nicht las und auf andere Weise nicht zu erreichen war. Diese Absichten unterschieden solche Gruppen von anderen damaligen Laientheatern wie auch vom deutsch-amerikanischen Berufstheater. 50 Ähnlich wie die Arbeitertheater waren die Arbeitergesangvereine als Alternativen zu den beliebten nicht-sozialistischen Gruppen konzipiert. Obwohl solche Gesangvereine seit Anfang der sozialistischen Bewegung bestanden, vereinigten sie sich erst 1892 zu einem Zentralverband, dem „Arbeiter-Sängerbund der nordöstlichen Staaten", zu dem der 1897 in Chicago gegründete „Arbeiter* Sängerbund des Nordwestens" kam. Ungefähr alle drei Jahre, bis zum Zweiten Weltkrieg, veranstalteten diese ArbeiterSängerbünde regionale Sängerfeste, die 3000—4000 Teilnehmer und eine noch größere Zahl von Zuhörern anziehen konnten. Zu dieser Zeit waren solche Gesangvereine das außer der sozialistischen Presse wichtigste Mittel, sozialistische Lieder und Gedichte unter dem Arbeiterpublikum zu verbreiten. Die in den Vereinen Tätigen verstanden ihr Repertoire wie auch ihre engen Verbindungen zur sozialistischen Bewegung ebenfalls als notwendige Alternativen zur herrschenden bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kultur und Literatur. 51 Sie verfolgten zwei sich ergänzende Ziele: erstens, politischen Einfluß auf die Zuhörer zu gewinnen, und zweitens, die sogenannte ästhetische Erziehung des Menschen in der Arbeiterbewegung zu befördern. 52 Das heißt, einerseits konzentrierten sie sich auf die Entlarvung sozialer Mißstände und Widersprüche, auf die Stärkung der Solidarität und des Glaubens an den unaufhaltsamen Sieg des Sozialismus, während sie andererseits durch Choraufführungen klassischer Werke die ästhetische Sensibilität der Arbeitersänger und Zuhörer „verfeinern" wollten. Ein drittes Beispiel für Versuche kultureller Alternativen waren die verschiedenen Arten von Massenversammlungen, die deutschamerikanischen Sozialisten die Möglichkeit gaben, vor die Öffentlichkeit zu treten. Es gab häufig Demonstrationen, die darauf abzielten, bestimmte Forderungen — wie den Achtstundentag — durchzusetzen. Gedenkfeiern zur Erinnerung an die Pariser Kommune, Lassalles Geburts- und Todestag, Karl Marx' Tod 188353 und die Hinrichtung der Haymarket-Opfer 1887 wurden veranstaltet. Es gab auch „Gegenfeste", die religiösen und patriotischen Festen wie Weihnachten, Erntedankfest und Unabhängig3

Poore, Anthologie

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keitstag entgegenwirken sollten.54 Schließlich hielten Ortsgruppen der verschiedenen sozialistischen Organisationen in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften kleinere Veranstaltungen wie Herbst- und Frühlingsfeiern oder Messen ab. Diese Feste erfüllten Zwecke, die denen der Arbeitertheater und Arbeitergesangvereine ähnlich waren. Erstens boten sie Gelegenheiten zur Unterhaltung und bildeten Zufluchtstätten nach dem harten Arbeitstag, wo man in einer Gemeinschaft von Freunden, Familien und Genossen wieder zu Kräften kommen und erneut Mut fassen konnte. Zweitens wollten die Fest Veranstalter durch Reden und ein abwechslungsreiches Programmangebot ein oppositionelles Geschichtsbewußtsein in den Teilnehmern erwecken und Solidaritätsgefühle unter sich und für Arbeiter aus anderen ethnischen Gruppen fördern.

III Politische Ziele bestimmten auch die Art und Weise der Veröffentlichung und Verbreitung sozialistischer Literatur. Wie es für die frühe sozialistische Literatur im allgemeinen charakteristisch ist, waren einzelne Buchausgaben von Gedichten, Dramen oder Prosawerken nur von sekundärer Bedeutung. Vielmehr wurden Texte deutsch-amerikanischer sozialistischer Autoren vor allem durch die Presse verbreitet, damit sie das größtmögliche Publikum unter Arbeitern und deren Familien erreichen konnten. Deshalb ist die deutsch-amerikanische sozialistische Presse für die Erforschung dieser Literatur die wichtigste Quelle, vor allem die New Yorker und Chicagoer Zeitungen sowie der Pionier-Kalender, der jährlich von 1882 bis 1933 von der New Yorker Volkszeitung herausgegeben wurde und den Versuch darstellte, der Leserschaft nützliche Informationen, theoretische Abhandlungen und sozialistische Unterhaltungsliteratur zu bieten. Es bleibt jedoch festzustellen, daß, obwohl die Presse der Erscheinungsort für die meisten Werke dieser Autoren war, die Feuilletonseiten der deutsch-amerikanischen sozialistischen Zeitungen sich nicht auf solche Werke konzentrierten. Vorwiegend druckte man entweder dieselbe Art von Unterhaltungsliteratur, die man in der Gartenlaube lesen konnte, oder Werke von Autoren wie Keller, Raabe, Fontane oder Zola. 55 Bei aller Ähnlichkeit mit der kulturellen und literarischen Praxis

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der deutschen Sozialdemokratie in dieser Hinsicht fallen jedoch zwei Aspekte auf, die für die besondere amerikanische Situation der eingewanderten Sozialisten kennzeichnend sind. Erstens wurden wenige Werke amerikanischer Autoren in diesen Zeitungen veröffentlicht. Mit Ausnahme von Schriftstellern wie Bret Harte oder Mark Twain, deren Werke gelegentlich erschienen, gab es fast keine Versuche, die deutsche Leserschaft in die amerikanische Literatur einzuführen, sondern man verharrte lieber innerhalb der Grenzen des deutschen kulturellen Erbes. Zweitens wurden im Laufe der Zeit, nach der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, immer weniger Werke von deutsch-amerikanischen sozialistischen Autoren in den Zeitungen publiziert. Entweder druckten die Zeitungen statt dessen eine größere Anzahl von Werken deutscher Sozialdemokraten, deren relativ leichte Zugänglichkeit ohnehin als Bremse auf das Schreiben originaler Werke in Amerika gewirkt haben mußte, 56 oder sie begrenzten immer mehr den Platz für sozialistische Literatur zugunsten nicht-sozialistischer Unterhaltungsliteratur. Diese Entwicklungen zeugen von der zunehmenden Eingliederung der deutsch-amerikanischen Arbeiterklasse in die amerikanische Gesellschaft nach den späten achtziger Jahren, die in Hinblick auf solche kulturellen Alternativen auf eine Abnahme der klassenkämpferischen Stellungnahme hinauslief." Die Literatur, die deutsch-amerikanische Sozialisten im Zusammenhang mit der politischen Bewegung schrieben — während der Zeit des Sozialistengesetzes, der Konsolidierung sozialistischer Gruppen innerhalb der deutsch-amerikanischen Arbeiterklasse und des Aufschwungs der amerikanischen Arbeiterbewegung leisteten diese Autoren am meisten — , gehört im allgemeinen, wie die frühe sozialistische Literatur insgesamt, zur „operativen" Literatur. In Übereinstimmung von politischem Engagement und Verständnis von literarischer Produktion als Bestandteil der sozialistischen Bewegung waren diese Autoren ohne Ausnahme auch als Journalisten, Parteifunktionäre oder Gewerkschafter tätig. Das heißt, sie wollten mit ihren Werken bestimmte politische Wirkungen auf die Leser, Zuhörer oder Zuschauer ausüben. Deshalb waren die bevorzugten literarischen Formen diejenigen, die man am leichtesten in den Dienst des angestrebten, unmittelbar politischen Einflusses stellen konnte, oftmals im Kontext einer Versammlung, eines Festes oder einer Demonstration. Politische Gedichte waren das bei weitem häufigst vorkommende 3*

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Genre, besonders Lieder des Klassenkampfes, die manchmal auch die spezifischen Vorstellungen bestimmter Gruppen, wie der Lehr- und Wehrvereine, aussprachen. Manchmal wurden Gedichte, die Tagesereignisse in Europa und Amerika behandelten und auf das Erlebnis des Exils und der Enttäuschung über Amerika eingingen, als Leitartikel in der sozialistischen Presse benutzt. Neben Gedichten zur Erinnerung an historische Ereignisse oder erPsönlichkeiten der Arbeiterklasse findet man auch Kontrafakturen, neue Strophen zu bekannten deutschen und amerikanischen Melodien, wie „Die Wacht am Rhein" oder „The StarSpangled Banner". Schließlich gab es eine große Anzahl von Gedichten, die bestimmte Lehren aus der Geschichte des Sozialismus ausdrücken und verbreiten wollten, oftmals durch den Gebrauch von Allegorien. 58 Originale Bühnenwerke wurden von diesen Autoren nicht oft verfaßt. Eine kleine Zahl — fast ausschließlich Einakter — wurde von deutsch-amerikanischen Sozialisten geschrieben, aber meistens spielten die Arbeitertheater einfach die verhältnismäßig leicht zugänglichen Werke von deutschen Sozialdemokraten wie J. B. von Schweitzer oder Max Kegel. Jedoch verdienen zwei Autoren hier besondere Erwähnung. In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren reiste August Otto-Walster, Delegierter der deutschen Sozialdemokratie zum letzten Kongreß der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1876 in Philadelphia, nach New York, St. Louis und Cincinnati, wo er sozialistische Arbeitertheater gründete und eigens für sie kurze Stücke schrieb.59 Auch schrieb der Sekretär des National-Exekutiv-Komitees der SAP, Wilhelm Rosenberg, etwa ein Dutzend Stücke für Arbeitertheater wie auch ein längeres Drama, Crumbleton (1898), das die Korruption der amerikanischen Geschäftswelt zum Gegenstand hatte. 60 Außer diesen Stücken wurden einige Festspiele für besondere Anlässe geschrieben, wie z. B. Ludwig A. Geißlers Allegorisches Weihnachtsfestspiel (1880) und das Festspiel Die Nihilisten (1882), das zur Feier der Pariser Kommune geschrieben und von Sozialrevolutionären und Mitgliedern des Lehr- und Wehrvereins bis 1886 mehrmals in Chicago aufgeführt wurde. Von allen deutschamerikanischen Stücken für Arbeitertheater wurden Die Nihilisten am eingehendsten in der sozialistischen Presse kommentiert, wobei die Zusammenarbeit zwischen sozialistischen Autoren, Journalisten und politischen Gruppen in Hinblick auf die beabsichtigte Wirkung solcher Aufführungen besonders klar zutage trat. XXXVI

Obwohl die Autorschaft des Stückes umstritten ist, schrieben es mit Sicherheit aktive Sozialisten,61 und die Darsteller — wie z. B. die Haymarket-Märtyrer August Spies und Oskar Neebe — gehörten Sozialrevolutionären Gruppen in Chicago an. In Presseberichten über die erste, besonders erfolgreiche Aufführung wurden erhoffte Wirkungen auf die Zuschauer diskutiert. Das Stück verfolgte zuvorderst didaktische Zwecke; es sollte dem Publikum historische Informationen über die nihilistische Bewegung in Rußland vermitteln. Jedoch sollte das Publikum auch angeregt werden, über Parallelen zwischen den auf der Bühne dargestellten revolutionären Zielen und ihrer eigenen Situation nachzudenken. Diese Verbindung zwischen Inhalt und Publikum wurde konkret, indem Mitglieder des bewaffneten Chicagoer Lehr- und Wehrvereins als Retter der Nihilisten im letzten A k t auftraten. 62 Die Arbeiter-Zeitung schrieb über die Reaktion der Zuschauer wie folgt: „Die Verteidigungsreden der Gefangenen sind durchaus objektiv und tragen trotzdem ein idealisiertes Gepräge, welches den Zuschauer zur Entrüstung gegen das herrschende Unrecht und zur Begeisterung für die Sache der Menschheit unwillkürlich hinreißt."6» Schließlich wurde die Aufführung des Stückes im Kontext der gesamten deutschen ethnischen Gruppe und der amerikanischen Klassengesellschaft auch als eine bewußte politische Stellungnahme angesehen. Wie man in der Ankündigung dieser Kommunefeier lesen konnte, sei die Teilnahme aller an Fortschritt und Freiheit Interessierten besonders wichtig, „damit die herrschende Gesellschaft begreifen lerne, daß der Geist jener Märtyrer, die durch Henkershand einen leider nur zu frühzeitigen Tod fanden [ . . . ] , immer mächtiger und gewaltiger die Menschheit durchdringt" 64 . Das heißt, man betrachtete die Teilnahme an solchen Feiern als öffentliches politisches Bekenntnis zu revolutionären Zielen und als Versuch der kulturellen Selbstbestimmung. Nach der Aufführung 1882 wurden Die Nihilisten bis 1886 mehrmals von verschiedenen Gruppen der anarchistischen Internationalen Arbeiter-Assoziation aufgeführt, wobei diese immer stärker unter den Einfluß von Johann Most gerieten und das Stück als Aufforderung zur „Propaganda der Tat" auffaßten. Jedoch kann das Stück — zumindest im Kontext der Kommunefeier 1882 — als eines der besten Beispiele deutsch-amerikanischen sozialistischen Arbeitertheaters gelten, im Hinblick auf die verschiedenXXXVII

artigen Funktionen der Autoren und Darsteller in der Arbeiterbewegung, auf den Versuch, ein größeres Publikum zu erreichen, und auf die Schaffung alternativer kultureller Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb der deutschen ethnischen Gruppe. Die politischen Ziele dieser Autoren beeinflußten auch ihre Wahl von Formen der Prosa. Obwohl die sozialistische Presse regelmäßig alle Arten von Fortsetzungsromanen druckte, 65 bevorzugten diese sozialistischen Autoren kurze, argumentative, didaktische, rhetorische Formen, durch die man knappe, unmittelbar politische Aussagen machen konnte. Einige der für den heutigen Leser lebendigsten Texte deutsch-amerikanischer Literatur sind zweifellos die journalistischen Berichte und Kalendergeschichten, die das Leben von eingewanderten Arbeitern in der amerikanischen Großstadt konkret schildern, z. B. die „New Yorker Geschichten", die für die New Yorker Volkszeitung von den Herausgebern Sergius Schewitsch und Alexander Jonas in den achtziger Jahren geschrieben wurden. 66 Andere Kurzformen der Prosa waren ebenfalls beliebt, wie Essays, Manifeste und Pamphlete, Fabeln und Märchen und Parodien von traditionellen Texten wie dem Katechismus, dem ABC oder der Verfassung der USA, die man in „Arbeiter-Katechismen ", „Chicagoer Fibelverse" oder „Eine neue Konstitution für die verunreinigten Staaten von Amerika" verwandelte. Wie die Gedichte und Bühnenwerke basierten auch diese Prosaformen auf traditionellen Genres, die man im Kontext der sozialistischen Bewegung umfunktionierte, um die eigenen aufklärerischen Zwecke zu fördern. All diese Werke sollten eine Alternative zu anderen vorherrschenden Richtungen in der deutsch-amerikanischen Literatur anbieten, die oft Nostalgie, Mangel an gesellschaftlichem Engagement und konservative oder sogar reaktionäre Auffassungen aufwiesen. Im Gegensatz zu vielen idealistischen Literaturkonzepten verfolgte diese frühe sozialistische Literatur immer Ziele wie proletarische Organisation und Aufklärung sowie die Förderung kultureller Selbständigkeit unter ihren Rezipienten. 67 Diese operativen Zwecke lassen sich genauer bestimmen, wenn man methodologisch zwischen Form, Inhalt und funktionellem Kontext unterscheidet. 68 In bezug auf Form gibt es fast keine Neuerungen, vielmehr werden alte Techniken beliebig übernommen. Insbesondere durch den Gebrauch von Allegorien wird der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft als eine quasi naturhafte XXXVIII

Entwicklung dargestellt, in der der Mensch als handelndes, bewußtes Subjekt kaum vorhanden ist. (Beispiele dafür sind die Darstellungen von sozialen Konflikten als allegorische Kämpfe zwischen Winter und Frühling, Finsternis und Licht usw.) Ferner setzt der Gebrauch von rhetorischen Aufrufen, Mahnungen und Befehlen ein Rezeptionsmodell voraus, nach dem der Autor die Aufgabe hat, den Rezipienten zu belehren und positive, auf Identifikation und Nachahmung gerichtete Vorbilder zu schaffen, statt dem Rezipienten die selbständige, kritische Interpretation der literarischen Werke und seiner eigenen Erfahrungen zu ermöglichen. In bezug auf den Inhalt herrscht eine gewisse Abstraktion vor, obwohl es schon einige Werke gibt, die die Erfahrungen der eingewanderten Arbeiter in Amerika konkret behandeln. Insbesondere bei den Gedichten, dem von den Sozialisten bevorzugten Genre, begegnet man einer ständigen Wiederholung der Etappen auf dem Weg zum sozialistischen Zukunftsstaat, die bei dem gegenwärtigen Elend des Proletarierlebens und dem krassen Gegensatz zwischen Armen und Reichen ansetzen, die Notwendigkeit von gewerkschaftlicher und politischer Organisation behaupten und schließlich den Adressaten die Unvermeidlichkeit der sozialistischen Zukunft versichern. Die Wiederholung dieser dreiteiligen Entwicklung läßt diese Literatur manchmal wie etwas Rituelles, von der Wirklichkeit Entferntes erscheinen. Jedoch wirkte, im funktionellen Kontext von sozialistischer Presse und politischen Versammlungen, diese Literatur bei der Organisierung und kulturellen Identitätsbildung von eingewanderten deutschen Arbeitern mit, führte die Arbeiter zur Erkenntnis, daß sie in der Lage waren, ihre eigenen Autoren zu unterstützen, ihre eigene Literatur und ihre eigenen kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten unabhängig von nichtsozialistischen deutsch-amerikanischen Kreisen aufrechtzuerhalten. Die Anthologie beginnt mit zwei Gedichten, die die operativen Ziele (Organisierung der Arbeiter, Entlarvung von Mißständen) dieser Autoren zum Ausdruck bringen. In Teil I, „ Sozialistengesetz und Emigration", blicken sie mit Bitterkeit und dem festen Willen, den Kampf um Gerechtigkeit fortzuführen, auf ihre Heimat zurück. In der deutsch-amerikanischen sozialistischen Literatur herrschen vier zentrale Themen vor, die die weitere Gliederung der Anthologie bestimmen: Enttäuschung über Amerika, das Elend der Armen und der Arbeiter, Aufrufe zur Solidarität und Entwürfe für eine zukünftige sozialistische Ge-

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sellschaft. Die Werke in Teil II, „Das Land der begrenzten Möglichkeiten", üben Kritik an Amerika, indem sie von der Einwanderung abraten, den Widerspruch zwischen freiheitlichen Idealen und brutaler Unterdrückung betonen und bekannte Texte mancher Art parodieren. Teil III, „Unorganisierte Arbeiter in Amerika", bringt Texte über das Elend des Proletarierlebens, die die krassen Gegensätze zwischen dem Leben der Reichen und dem der Armen in der Neuen Welt betonen. Teil IV enthält Aufforderungen zur Solidarität und Aufrufe zur gewerkschaftlichen und politischen Einheit, die in der Sozialrevolutionären Bewegung von bewaffneten Arbeitern in Chicago ihren extremsten Ausdruck fanden. Teil V vereinigt Texte, die von der Gewißheit der kommenden Revolution handeln und Bilder des „Zukunftsstaates" vermitteln. Am Ende der Sammlung, im Teil VI, werden drei Stücke für Arbeitertheater vorgestellt. Es ist zu hoffen, daß diese Anthologie eine aufschlußreiche Ergänzung der Reihe „Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland" darstellt, indem sie die vielfältigen Versuche emigrierter Sozialisten aufzeigt, ihren politischen Überzeugungen treu zu bleiben und sie in der Neuen Welt durchzusetzen,

Julius Zorn Mein Lied! Mein Wunsch! Aus voller Brust will heut ein Lied ich singen. Den Arbeitssklaven soll's gewidmet sein. In jedes Armen Hütte soll es dringen, Wo Not und Elend herrscht und Hungers Pein. Dem unterdrückten Volke möcht' ich zeigen Den Weg aus Knechtschaft und aus Tyrannei; Daß nicht in Demut dürfe man sich neigen, Um sich zu machen von den Ketten frei. In jede Mine möcht' hinab ich steigen, Dort wo der Bergmann Kohlen gräbt und Gold. Mit meinem Lied möcht' ihn ich überzeugen. Daß frei sein könnte er, wenn er nur wollt'. Den Männern, welche bauen die Paläste, Will singen ich: Ihr Toren, die ihr seid! Für eure Herren bauet ihr das Beste; Die Hütten sind für euch, ihr Bettelleut! Auch jenen, die das stolze Dampfroß führen Hin durch das Land auf glatter Schienenbahn, Will mit dem Lied ich ihre Herzen rühren Und sie zum Kampf für Freiheit feuern an. Begleiten soll mein Lied auf Meereswogen Die Schiffer all' auf mancher stürm'schen Fahrt Und ihnen sagen, daß auch sie betrogen, Daß man sie ausgebeutet und genarrt. Wo Räder schwirren und Maschinen stöhnen In den Fabriken, in den Mühlen all', Dort soll mein Lied doch alles übertönen, In Sklavenherzen finden Widerhall. 3

An jeder Wiege möcht' ich leise singen Von jenen Kampfestagen einst im März. Die Freiheitssaat, die erste, möcht' ich bringen, Und pflanzen sie in jedes junge Herz. Die Kampfeslust, die möchte ein ich impfen Recht tief in jeden Proletariers Herz; Erretten möcht' das Volk ich aus den Sümpfen, Befreien es von aller Not und Schmerz. Ich möchte auch an jedem Sarge singen, Worin ein Opfer der Tyrannen ruht; Wollte auch vor Leid das Herze mir zerspringen, Säng' ich das Lied vom Haß mit Flammenglut. Aus voller Brust mir hell die Töne quellen; Ich klage an die ganze Drohnenbrut! Mein Lied soll ihnen in die Ohren gellen, Den Unterdrückten geben frischen Mut. Den Grabgesang möcht' ich so gerne singen Dem Kapital sowie der Sklaverei; Nicht traurig würden meine Worte klingen, Hell jauchzend sänge ich: Jetzt sind wir frei!

Franz Bufe Zwei Wege Schön ist's, die Liebe zu besingen, Und schön ist's, der Natur zu lauschen; Leicht ist's, bei Wein und Gläserklingen Gereimte Worte auszutauschen, Auch wird, wer da gern singt vor Thronen, Am Hungertuche selten nagen — Denn Kunst mit Schmeichelei nach oben Belohnt man gern in unsern Tagen!

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An jeder Wiege möcht' ich leise singen Von jenen Kampfestagen einst im März. Die Freiheitssaat, die erste, möcht' ich bringen, Und pflanzen sie in jedes junge Herz. Die Kampfeslust, die möchte ein ich impfen Recht tief in jeden Proletariers Herz; Erretten möcht' das Volk ich aus den Sümpfen, Befreien es von aller Not und Schmerz. Ich möchte auch an jedem Sarge singen, Worin ein Opfer der Tyrannen ruht; Wollte auch vor Leid das Herze mir zerspringen, Säng' ich das Lied vom Haß mit Flammenglut. Aus voller Brust mir hell die Töne quellen; Ich klage an die ganze Drohnenbrut! Mein Lied soll ihnen in die Ohren gellen, Den Unterdrückten geben frischen Mut. Den Grabgesang möcht' ich so gerne singen Dem Kapital sowie der Sklaverei; Nicht traurig würden meine Worte klingen, Hell jauchzend sänge ich: Jetzt sind wir frei!

Franz Bufe Zwei Wege Schön ist's, die Liebe zu besingen, Und schön ist's, der Natur zu lauschen; Leicht ist's, bei Wein und Gläserklingen Gereimte Worte auszutauschen, Auch wird, wer da gern singt vor Thronen, Am Hungertuche selten nagen — Denn Kunst mit Schmeichelei nach oben Belohnt man gern in unsern Tagen!

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Doch steigst du zu der Menschheit Tiefen Hinab ins rauhe Alltagsleben, Um Recht und Unrecht dort zu wiegen, Dann magst du ein in acht dich nehmen! Der „Sattheit" wirst du bald mißfallen, Sobald du für der Menschheit Leiden Eintrittst mit Worten und mit Taten, Um Beßres suchend zu erreichen. Besingst Natur du, Mond und Sterne In Versen, fein gesetzt zu Reimen, Schweifst du poetisch in die Ferne, Wirst du als großer Geist erscheinen Der „Flachheit", denn sie liebt nur Worte, Gewürzt durch schöne Phantasien — Nur selten läßt durch ihre Pforte Sie Recht und Wahrheit mit einziehn. Es klebt die Menschheit gern am Alten, Doch willst du deiner Zeit recht dienen, So zeig ihr ihr verkehrtes Walten, Und lehr sie Recht und Wahrheit lieben, Dann wirst du, was da auch mag kommen, Gerecht durchs Erdenleben gehen, Wenn längst der Schmeichler Chor verklungen. Wirst vor der „Wahrheit" du bestehen!

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Sozialistengesetz

und

Emigration

Ein Vagabund Weihnachtsgruß der Ausgewiesenen an die Herrschenden Jetzt sitzen sie jubelnd im festlichen Saal, Ihres Heilands Geburtsfest zu Ehren, In lärmendem Kreise beim üppigen Mahl. Wir darben indes und entbehren. Jetzt heben sie lustig den vollen Pokal, Jetzt klingen die Gläser zusammen — Wir aber, wir wollen in Elend und Qual Verfluchen sie wild und verdammen! Sie schwelgen — wir irren landaus jetzt, landein, Aus der Heimat gewaltsam, vertrieben: Nichts blieb als der Haß uns, der Haß nur allein, Verlernt haben längst wir das Lieben. So taumelt und schwelgt! — Wir mühn uns in Not — Bis einst wir das Banner erheben, Dann springt ihr vom Sessel auf, bleich wie der Tod; Die feigen Gebeine erbeben. Das ist der Vergeltung heiliger Tag, Die Zukunft mit donnernden Wettern! Dann schwingen das Schwert wir, statt müßiger Klag', Die Tyrannei zu zerschmettern!

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Julius Grunzig Die Solidarität DER KANZLER:

Ein Brausen zieht durch alle Lande, Von Meer zu Meer, von Pol zu Pol, O sage mir, was diese Strömung Der neuen Zeit bedeutet wohl? Wer gibt uns Antwort? Wer kann's deuten Der Gottesghaden Majestät? D E R PROLETARIER:

Ich nenn's dir, Held des „Blut und Eisen": Es ist die Solidarität. Sie ist erwacht, und auf dein Rufen Mit Donnern schreitet sie herbei; Sie spottet deiner, wie sie immer Gespottet jeder Tyrannei. Gefühllos hast du uns vertrieben, Getrennt von Heimat, Haus und Herd, Weil wir nicht knechtisch wollten dienen, Nicht deines Willens Macht geehrt. Was tut's? In deinem Zorn erscheinst du, Der böse Geist, der Gutes sät: Wir strecken übers Meer die Hände Der heil'gen Solidarität. Schon dämmert sie, die Freiheitssonne, Am fernen Horizont empor. Wir grüßen sie mit Jubelklange, Der Freiheit einz'ger Heldenchor. Wohlan! Wag nur im Würfelspiele Des grausen Krieges dein Yabanque, Wir sind nicht bang, im Flug der Zeiten Noch jeglicher Tyrann versank.

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Wenn stolz auf blut'gem Schlachtgefilde Der Freiheit lichtes Banner weht, Dann reichen wir uns treu die Hände Zu ew'ger Solidarität.

Friedrich Wilhelm Fritzsche Mein Vaterland 0 Heimat, süße Heimat, oft besungen, Auch mir bot einst die Heimat reinstes Glück — Oft ist im Herzen mir der Wunsch erklungen: Zu jener Stätte kehre doch zurück, Wo deiner Kindheit Wiege einst gestanden, Wo süßer Muttermund dir sang Das Schlummerlied, das, ob auch unverstanden, Doch gar so lieb und traut ins Herz dir drang. Jetzt trennt ein Meer mich von der Heimat Boden, Doch wehret mir das Meer, die Ferne nicht. Zu folgen dem, was Sehnsucht mir geboten: „Du darfst es nicht, ob auch das Herz dir bricht!" So sprach der Bann, der mir die Heimat raubte, Mich mitleidsbar ins Elend stieß. Weil ich an Bruderlieb' und Gleichheit glaubte, Den Kampf um Gleichheit, Recht und Freiheit pries. Zerrissen ist das Band, das mich gekettet Mit treuer Liebe an das Vaterland, Hab' mir ein neues Vaterland gerettet, Die Weite Welt ist nun mein Vaterland. Kein Völkerhaß hat Raum in meinem Herzen, Kein Rassenhaß erfüllt die Brust, Verwunden habe ich des Heimwehs Schmerzen, Und neu erwacht die alte Lebenslust. Dies Vaterland kann keine Macht mir nehmen, Alldort, wo eines Menschen Wiege stand, Ist meine Heimat jetzt; kein bloßes Schemen Ist mir die Welt, mein herrlich Vaterland. 8

Und alle Menschen sind mir Schwestern, Brüder — Ihr Wohl, mein Wohl. — Mit Leidenschaft Lieb' jetzt ich Vaterland und Heimat wieder, Und meine unbegrenzte Landsmannschaft.

Wilhelm

Rosenberg

Falsches Heimweh O nein, an falschem Heimweh krank' ich nicht, Hab' eine neue Heimat längst gefunden — Der alten, was ich jetzt bin, dank' ich nicht, Sie schlug mir stündlich neue Seelenwunden. Sie stillte meines Geistes Dürsten nicht, Ließ hungern mich bei einem Meer von Wissen; Und wie Prometheus stahl ich mir das Licht Aus meines eignen Busens Finsternissen. Gedeckt ward mir des Lebens Tafel nicht, Stets lag der Paria-Fluch mir schwer im Nacken; Gebeugt, getreten, hieß die einz'ge Pflicht: Für andre mich zu schinden und zu placken. Ein eigner Herd, ein Weib, mir ward es nicht. Wie könnt' ich es auch dürftig nur ernähren. Ich, der verdammt gewesen zum Verzicht, Nur, um den Reichtum andrer zu vermehren? Als Knabe schon sog ich den bittern Haß Des Ausgebeutetseins in alle Poren, Und oft entrollte meinem Aug' es naß, Sah ich des Volkes gutes Recht verloren. Für Thron nie und Altar entbrannte ich, Noch fand des Königs Rock in mir Behagen Aufwiegler und Rebell, so nannt' man mich: Ich mochte nicht ihm Mörderwaffen tragen. 4

Poore, Anthologie

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Da zog ich endlich übers große Meer, Ein freier Mann, der Knechtschaft zu entrinnen; Ich kämpfte um mein neues Dasein schwer, Doch lernt' ich auch das neue liebgewinnen. Hier, wo den Menschen jede Arbeit ehrt, Was sie auch sei, bin ich erst Mensch geworden, Bin vollgeschätzt nach Würde und nach Wert Auch ohne Titel und auch ohne Orden. Dies Haus ist mein. Die Rosen blühen heut, Der Stolz des Mütterleins und der Geschwister, Und ich, ich tausch' vor lauter Schadenfreud' Mit keinem preuß'schen Staatsminister. Wohl weiß ich, daß auch hier den Kampf es gilt Um höhre, größre Menschheitsideale, Doch wie man auf Amerika auch schilt, Eins fehlt ihm ganz: der Zopf und das Feudale!

Wilhelm Rosenberg

Die Geisterschlacht

Zum Gedächtnis der Aufhebung des Sozialistengesetzes in Deutschland Besingen will ich mit jauchzendem Munde Die Schlacht, die soeben geschlagen ist, Die größte, die ein ins Buch der Geschichte Mit ehernem Griffel getragen ist. Die Schlacht der Finsternis mit dem Lichte Des Morgenrots einer neu dämmernden Zeit, Die Schlacht der Geister ist's, die ich berichte, Den Kindern und Enkeln der Zukunft geweiht. 10

Noch zuckt nach einem Jahrzehnt die Entrüstung Auf meiner Lippe, wie Wetterschein, fort, Als frech der frechste der Götzen vermessen Durch seine Trabanten lieh Schwingen dem Wort: Den Vaterlandsfeinden, den Umsturzgesellen, Krieg bis aufs Messer an jedem Ort, Wo sie wagen, die Ordnung, die heil'ge, zu fällen, Und des Gottesgnadentums heiligsten Hort. Noch schwirrt mir ins Ohr die verlogene Kunde, Der Philister von Ängsten beflügelter Schrei: „Sie haben's gewagt, in den obersten Bonzen Zu senken ihr meuchelmordwirkendes Blei." Noch seh' ich im Reichstag die Drescher der Phrasen, Die schwanzlosen Affen, die Rührer des Breis, Dem gestiefelten Wolf als gefällige Hasen Ihr Sanktum zu Füßen legen: So sei's. Noch seh' ich sie im Erinnerungsgeiste, Wie wohlzufrieden sie wanderten heim, Wie sie streckten sich hin auf wohlfeilen Lorbeer, Papieren, zusammengeschustert mit Leim; Wie sie glaubten gerettet, gesichert, verkettet Das Schiff mit der heil'gen Dreifaltigkeit: „Gott, Vaterland, König!" Hingegen zerschmettert Das keckkühne Riesenkind „Neue Zeit". Und ich seh' sie noch immer und werd' sie wohl sehn, Solange mir Augen im Haupte noch glühn, Die Hetze durch Deutschlands Gefilde gehn, So schmachvoll, daß keinem sie möglich erschien. So unbeschreibbar gemein, bestialisch, Daß selbst den Feind sie entsetzen gemacht, Daß der finstere Geist eines Torquemada Kein grauseres Anathema erdacht. Da wurden die Kinder den Vätern entrissen, Kein Nervchen zuckte den Richtern dabei, Sie hatten kein menschlich fühlend Gewissen, Kein Ohr für der Waisen herzbrechenden Schrei. Was schert's uns? Wir haben Befehl von oben. 4*

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Schließt eure Mäuler, verfluchtes Pack. Wer nicht will untertänig Ihn loben, Für den heißt's: Marschiere mit Sack und Pack! Ins Zuchthaus mit dir, du Hochverräter, Dieweil du den Gottgesalbten beschimpft! Wir wollen so lange dich zwicken und zwiebeln. Bis du mit Knechtssinn bist gründlich verimpft. Und sollten die Kerker sich füllen zum Bersten, Wir stecken euch alle beisammen hinein, Bis der letzte der frechen, reichsfeindlichen Bande Verröchelt wird unter der Knute sein ! Da wurde der nächtliche Friede gebrochen, Kein Schlummer war heilig der Horde mehr. Um zwölf Uhr nachts: „Auf! oder wir sprengen! Macht Schränke und Truhen, macht alles leer. Bah ! wie doch so albern, daß ihr protestet ! Wir haben das Recht — was spreizt ihr euch nur? Zu schnüffeln in euren Privatbriefschaften Und zu spähn nach verbotener Literatur. Wir sind's schon gewohnt. Wir sahen im Hemde Schon manche Genossin des Umsturz's zur Nacht, Und haben auch deren, wenn's sein mußte, Sehr ruppig und struppig zur Wache gebracht. Weh euch, ihr Hunde, falls wir was finden, Wenn euch ein Zittern der Lippe verrät, Wo die Liste der übrigen Mitgesellen, Der Verschworenen, gegen die Majestät ! Die Dielen auf! Reißt die Tapeten herunter! Ha ! Da im Mieder ist auch ein Versteck. Nur falsche Scham nicht. Die Pflicht uns gebietet's, Und es bleibt ja doch bei dem bloßen Schreck. Vergeblich gesuchet? Ha! Derowegen Schlugen die Nacht wir, die ganze, ums Ohr? ! Adjes! Nun könnet ihr praktisch erproben, Ob dem Chaos man ziehet die Ordnung vor! — Da wurde so ganz sans façon dekretieret : Wir sind deiner Gegenwart müde und satt, Drum trolle dich innerhalb zweier Tage,

Sonst jagen wir dich par force aus der Stadt. Maul halten! Der Gründe bedarf's nicht. Nur Order Parieren heißt's. Rücksicht auf Weib und Kind? Auf dein Gewerbe? Bah! Rücksicht verdienen Nicht die, die wider die Ordnung sind. Zerstören wollt ihr. Nun magst du erfahren, Höchsteigen, wie dir wohl die Praxis gefällt, Du gottvergeßner, hochmüt'ger Genosse Des Pestgelichters auf dieser Welt. Die Träne, die du im Auge zerdrückest, Ist Gift, die dein reichsfeindlich Herze greint. Bescheide dich glücklich, denn für die Deinen Die Gnadensonne im Armenhaus scheint. Und merk dir's, wenn du nicht klüglich dich duckest, Nicht einstellst die Arbeit des Maulwurfes bald, Dann hast du am längsten die deutschen Berge Geschaut und den deutschen Eichenwald; Dann wirst du gar froh sein, wenn du da drüben Jenseits des Wassers die Heimat dir wählst, Wo in Fülle die Freiheit, die blaurote Blume, Um die du dich hier so fürsorglich quälst. Da wurden von Hunden die Spuren gewittert, Von Spitzeln verraten, das Hochwild umstellt, Das zusammengekommen, um zu beraten, Wie man der Ordnung das Leben vergällt. Ob noch so unschuldig: Kein Federlesen, Ein jeder in Untersuchungshaft. Der Untersuchungsrichter mit Kreuz-Quer-Fragen Das Fehlende schon zur Belastung schafft. Und sollte Verschücht'rung und List und Lüge Nicht führen zu unserm gewünschten Zweck, Die Hermandad wird schon ausreichend sorgen, Ihr Diensteid bläst den letzten der Zweifel weg. Du? trugst ein Schneuztuch, ein rotes: Genügend! Du? eine Nelke im Knopfloch. Aha! Dein Knab' hatt' von rotem Kattun ein Kleidchen, Was braucht es Beweise noch mehrere da? 13

Beim Begräbnis neulich des Haupthahns der Roten, Da sah ich den da mitten im Spiel, Ich hätt' ihn beinah im Zorn überritten, Wie schad', daß ein Weibsbild statt seiner fiel. Und der mit der blonden, störrigen Locke Und dem Blicke, von finsterem Hasse getränkt, Ist Stammgast beim Löwenwirt, dem Verfemten, Der stets ihm, man merke, nur Rotwein verschenkt. Auf meinen Eid: 's sind alle Verschwörer, Glieder von einem geheimen Bund, Den auszurotten der Herr befohlen, Sonst stünde sein Thron nicht mehr zur Stund', Fragt sie nur nach ihrem polit'schen Bekenntnis, Seht! Wie sie heben die Stirne so stolz, Das proletarische Umsturzgesindel Glaubt sich geschnitzt aus hochedelstem Holz!" So sprachen die Schergen, so sprachen die Richter, Sie bliesen ja all' in dasselbige Horn, Denn ihm, dem Herrn und Meister droben, War alles Rote im Auge ein Dorn. — Und doch — wer hat's nicht erlebt und gelesen, Wem ward nicht die Kunde, die frohe, zuteil? Dem Sieger, der Kränze geflochten in Schlachten, In diesem Feldzug nicht blühte ihm Heil. Denn ein Feldzug war's nicht mit fremden Nationen, Ein Feldzug war's gen den deutschen Geist, Den Schiller in seinem „Teil" besungen Und Marx und Lassalle neubelebt und gespeist, Ein Feldzug für die zertretene Würde Des Volkes, in Fron geknechtet zu Tod, Für die Freiheit, die ganze: das Recht zu genießen, Das Recht auf Bildung, das Recht auf Brot. Und auf dem Panier stand: „Selbstbestimmung!" Der Feldschrei war: „Wir sind majorenn!" Fort mit dem Vormund! Wie lang soll St. Michel, Der Ausgewachsene, unmündig sein denn? Ihr habt ihn zwar mit der Peitsche erzogen 14

Und denkt euch im stillen, er sei Idiot, Ein Kasernengaul, dem die Ration zugewogen, Wie dem Zuchthausinsassen das Pfündchen Brot. Doch ihr irrt! St. Michel, des Schurigeins müde, Hat endlich die eigene Kraft entdeckt. Seht! Wie er die Brust, die gewaltige, weitet Und die Glieder, die langsam gekräfteten, reckt. Ja, ja! Dieser Michel, das ist der neue, Germanische Geist, den ihr Umsturz nennt, Der von unten empor, wie die lodernde Flamme, Aus dem Schöße der Erde, des Volkes, entbrennt. Und wenn ihr verdammt auch, mit Strafen bedrohet, Gesetze macht und die Kerker schließt auf, Ihr Toren! Mit Flinten nicht und mit Kanonen Hemmt ihr des Fortschrittes siegreichen Lauf. Und wenn ihr im Kampf nach barbarischem Muster Auch jedem Gefangenen das Haupt schlagt ab, Wißt: Jedem Gemeuchelten wachsen zehn Köpfe Und wachsen zehn Zungen aus seinem Grab! So die Umsturzgesellen, als der Kriegszug begonnen, Und wie sie gesprochen, so traf es just ein. Viermal wurde Generalmarsch geblasen, Und viermal zum Sturmlauf beordert die Reih'n. Was brauch' ich zu melden, wie's hergegangen? Ihr wißt es alle, die kleine Zahl Hat den mächtigsten Herrscher, den größten Kanzler In die Pfanne gehauen noch jedesmal. Und jedesmal hat sie an Kraft gewonnen, Sich verdoppelt und Schrecken und Furcht gesät, In den Fugen haben die Throne gezittert. Und geschlottert manch großmäulige Majestät. Manch geheime Sitzung befahl der Minister, Ein Spürnetz von Spitzeln ward organisiert, Manch Schurkenstreich wurde von oben verrichtet, Doch nichts hat zum Sturze des Umsturz's geführt. Da hat der Kaiser den Kanzler beäugelt, Und hat ihn beargwöhnt: Was führt er im Schild, Daß er mit seinen Quacksalber-Rezepten

Mein treues Volk macht aufsässig und wild? Zielt selber er nach dem Throne der Zollern? Zu mächtig ist er und dann auch — zu alt, Hat sich — überlebt. Drum nehm' Ich die Zügel, Und ist er nicht willig, so brauch' Ich Gewalt. Und als der vierte Generalmarsch geschlagen, Kopierte er schnell ein Hintzpeter-Reskript, Sirenengesang nennt es der alte Grieche, Ein Zauber, der trunken macht, der ihn genippt. Doch o weh! Er machte die Schädel nur helle Und die Faust gestählt für den großen Schlag. Es war eine ozeanidische Welle, Die den Kanzler begraben an jenem Tag. Die ihn von der Zinne, der höchsten, geschleudert, Der den deutschen Namen beschimpft und entehrt, Geächtet den besten Kern des Volkes Und dem Rest das Verraten und Heucheln gelehrt; Des Name auf ewig mit jenem Gesetze Verschlungen im Buch der Geschichte steht Und nicht verlöscht wird, bis die Geschichte Der Menschheit selber in Chaos verweht. Besingen will ich mit jauchzendem Munde Die Schlacht, die soeben geschlagen ist, Die größte, die ein ins Buch der Geschichte Mit ehernem Griffel getragen ist. Die Schlacht der Finsternis mit dem Lichte Des Morgenrots einer neu dämmernden Zeit, Die Schlacht der Geister ist's, die ich berichte, Den Kindern und Enkeln der Zukunft geweiht. Die erste Schlacht war's. Die andern folgen. Vom Waffenlärm schweigt eine Weile das Feld. Es gilt, die Truppen zum Sammeln zu blasen Und zu weitern den Schlachtplan zur ganzen Welt. Von Land zum Meer dröhnt die Kriegestrompete, Es steigt in Ost auf das Morgenrot, Die Nacht, sie wälzt ihre Nebelheere Und schwört der Sonne Verderben und Tod.

Es blitzen die Schwerter äm Horizonte, Und blutig malt sich der Wolken Saum. Es sehen's die Berge, es sehen's die Täler, Doch sehen's viel Tausende Menschen kaum. Sie werden das Schauspiel, das große, erst schauen, Wenn der Sieg errungen, die Nacht entflohn, Wenn die Sonne, den Strahlenkranz auf den Locken, Einzieht laut jauchzend auf flammendem Thron.

Das Land der begrenzten Möglichkeiten

Gustav Lyser An unsere Brüder in der alten Heimat Zieht nicht aus der Heimat fort, Drückt die Not auch schwer, Seid ihr hier am fremden Ort, Drückt sie noch viel mehr! Lug und Trug ist, was man hier Noch von Freiheit spricht, Rohe Büttel hat man wohl, Freiheit hat man nicht! Nur der Geldsack ist geschützt Hier auf seinem Thron, Seine Macht er täglich nützt, Allem Recht zum Hohn. Hast du Hunger, lacht er dir Höhnisch ins Gesicht: „Blaue Bohnen geb' ich wohl, Brot und Beefsteak nicht!" Bruder traut dem Bruder kaum, Alles ist sich feind, Und es ist für keinen Raum, Der es ehrlich meint. Selbst die Presse hat verkannt Immer ihre Pflicht, Menschenschindern dient sie wohl, Wahrheit liebt sie nicht! Regt es in der Heimat sich, Kehren wir zurück, Kämpfen mit euch brüderlich 18

Für des Volkes Glück; Denn vergeblich ist hier doch Was man schreibt und spricht, Götzendiener gibt's hier wohl, Freiheitskämpfer nicht!

Rudolph

Saur

Betrachtungen über den großen Arbeiterstreik In Hüll' und Fülle prangt das Land, Die Speicher sind gefüllt zum Rand, Kaum fassen sie die Garben; Und doch — es scheint nicht glaublich schier — Gibt es noch Menschen, die allhier Bei harter Arbeit darben. Bei harter Arbeit können sie Für ihre Lieben kaum mit Müh Das nackte Leben fristen; Kommt endlich Krankheit noch ins Haus, Dann bricht das Elend recht erst aus, In diesem „Land der Christen". Und wenn der Wurm sich einmal krümmt, Der Funke zünd't, der lang geglimmt, Das Volk, in Staub getreten. Den Drängern seine Zähne weist, Die Sklavenketten wild zerreißt, Schrein sie nach „Bajonetten!" Nach Bajonetten, Militär! Wenn Grant nur hier und Kaiser wär', Sie gäben sich zufrieden; Mit allem, selbst mit einem Thron! Um nur nicht den gerechten Lohn Dem armen Mann zu bieten.

Auf, die ihr wirket Tag und Nacht, Am Eisenhammer, tief im Schacht; Auf, die das Dampfroß füttern! Ihr Proletarier all, erwacht! Gewonnen ist schon halb die Schlacht, Und die Tyrannen zittern! Doch braucht's in einer Republik Nicht Feuer, Schwerte, Dolch und Strick, Um Recht sich zu verschaffen; „Die freie Wahl, das freie Wort" Sei eure Zuflucht, euer Hort Und starkes Wehr und Waffen. Nicht „Lawyer" und nicht „Reverend", „Den Mann, der eure Nöten kennt", Wählt, das Gesetz zu machen. Nehmt Männer aus den „eignen Reih'n", Dann wird euch bald geholfen sein, Die bessre Zukunft tagen. Dann wird dies Land nicht nur zum Schein Der „Frei'n und Braven" Heimat sein, Und „Arbeit" bringet „Fülle"; „Seid einig", wahret euer Recht, Die Fesseln der Parteien brecht! Vorwärts zum großen Ziele!

Gustav Lyser Columbia und Germania Lustige Monologe in trauriger Zeit COLUMBIA :

Danken will ich meinen Sternen, daß bei mir es noch erträglich, Und die Presse nicht geknebelt, wie im deutschen Reich, unsäglich! Konfiszieren läßt man Blätter und die Redakteure setzen, Drucker selbst und Kolporteure, schließlich aus dem Lande hetzen! GERMANIA:

Danken muß ich es dem Kaiser, daß er wütet ohne Schonen, Daß er droht selbst mit dem Säbel und mit Flinten und Kanonen, 20

Daß nicht, wie in Republiken, man den Roten Freundschaft heuchelt Und mit Knüppel und Revolver hinterher die Freiheit meuchelt! COLUMBIA:

Arme Deutsche! Wirklich übel seid ihr dran in euren Staaten, Eure Steuern frißt der Kaiser, fressen Schranzen und Soldaten! Auch die besten Arbeitsmänner oft mit Weib und Kindern hungern, Und die Wissenschaft, die wahre, muß bei euch jetzt elend lungern. GERMANIA:

Wo das Geld bei uns geblieben, wissen jedem wir zu sagen, Nicht, wie bei Amerikanern, wird bei uns stets unterschlagen. Viele tausend Ehrenmänner Thron und Kapital noch schützen, Nicht auf speziale Strolche braucht der Kaiser sich zu stützen. COLUMBIA:

Den Bedrückten ist verboten, sich — wie früher — zu versammeln, Nimmermehr von Not und Elend sollen die Enterbten stammeln. Sagt, ist das nicht eine Schande? Achtet so man die Gesetze? Wo bleibt noch die Redefreiheit bei der Sozialistenhetze? GERMANIA:

Despotie, du bist entsetzlich, doch man hat dich frei verkündigt, Nicht durch feige Überfälle sich am ganzen Volk versündigt. Manches wohl, ich muß gestehen, kommt mir vor beinahe spanisch, Aber Weiber, Kinder morden, das ist echt — amerikanisch! COLUMBIA:

Grenzenlos ist euer Elend, Hungertyphus schon gewöhnlich, Und ihr tragt das Leid geduldig, seid dem Herzen nach versöhnlich! Sollte es an Mut euch fehlen, eure Ketten zu zerbrechen? Werdet ihr in Donnertönen nie zu dem Tyrannen sprechen? GERMANIA :

Ja, mein Volk ist tief gesunken, doch es wird sich bald erheben, Und der Sieg wird seine Fahnen im Entscheidungskampf umschweben ! Aber die Amerikaner kommen nie zu ihrem Rechte, Denn sie fühlen sich als Freie und sind doch, wie wir, nur Knechte! 21

Emü Friedrich Wilhelm Liebknecht In freudiger Bewegung wir dich grüßen. Willkommen! Kämpfer für die Menschenrechte, Die einem spätem, glücklichen Geschlechte Als deiner Saaten Früchte werden sprießen. Willkommen uns hier im „gelobten Lande", Nach dem die Völker ohne Beispiel wallen — Als stünden offen hier des Glückes Hallen Fraglos für jeden, den die Heimat sandte. Und die enttäuscht nun deinen Lehren lauschen — Die du, des Volkes allertreuster Sohn, Verkündet hast ein Menschenalter schon — Und unsre Herzen hoffnungskühn durchrauschen! Laß uns dich ehren, daß wir selbst uns ehren, Laß festlich froh uns zum Empfange rüsten, Die wir gerufen dich an unsre Küsten, Dem Feind zum Trotz, der Freunde Zahl zu mehren! In Trümmer stürzen wir des Mammons Thron Und glänzend drüber unser Banner fliegen — Willkommen! Führ aus Kämpfen uns zu Siegen. Vorwärts — „Soldat der Revolution".

Wilhelm Rosenberg 4. Juli-Paraphrase Vierter Dschulei! Juchhei! Juchhei! Jetzt sind die Not und Sorgen vorbei! An allen Enden, hurra! wie knallt es! Auf allen Straßen, wie närrisch, schallt es! Dideldumdei, dideldumdei! Jetzt schießen wir uns die Glieder entzwei. Juchhei! 22

Vierter Dschulei! Juchhei! Juchhei! Einen Tag laßt uns nur fühlen frei! Morgen gehn wir gern wieder ins Joch, Lohnsklaven sind wir ja alle doch! Dideldumdei, dideldumdei! Es lebe Geldsack und Klerisei! Juchhei! Vierter Dschulei! Juchhei! Juchhei! What a great nation are we. O my! Millionäre und Trustpiraten Blühen im Bund mit den Advokaten, Dideldumdei, dideldumdei! Ziehn uns das Fell über die Ohren dabei. Juchhei! Vierter Dschulei! Juchhei! Juchhei! Unabhängig? O Narretei! Was uns durch Blut unsere Väter erwarben, Freiheit und Glück — ach! schon längst erstarben. Dideldumdei, dideldumdei! Wir sind zufrieden bei Wasser und Pie. Juchhei! Vierter Dschulei! Juchhei! Juchhei! Wann zieht das strafende Wetter herbei? Wann verliert ihr die wedelnden Schwänze? Legt St. Liberias zu Füßen ihr Kränze? Dideldumdei, dideldumdei! Einmal vielleicht, so im Monat Mai! Juchhei!

Wilhelm Rosenberg

Aus der Streikgeschichte der pennsylvanischen Kohlengräber Brot wollen wir haben! Wir wollen Brot! Und ein Obdach für unsere Glieder! Das Elend auf Erd' ist kein Weltgebot, Und alle Menschen sind Brüder! Brot wollen wir haben, wir wollen Brot! Und ein Heim für Weib und Kinder! Ihr habt kein Recht, ob unsrer Not Uns zu versklaven, ihr Schinder! Brot wollen wir haben, wir wollen Brot! Und Kleider, die Blößen zu decken, Wir wollen als Bettler und Hunde nicht Auf der Straße elend verrecken. Brot wollen wir haben, wir wollen Brot! Weil wir sind, drum wollen wir leben, Und wenn ihr uns mit dem Sheriff droht, Wird's Mord und Totschlag geben. Die Zeitungen voll von „Entrüstung und Mord", „Erschossen fünf Pinkertoner, In Erfüllung der Pflicht, als sie trieben fort Aus den Hütten die armen Bewohner. Zwölf Männer, drei Frauen, ein kleines Kind, Kalt, starr in der Totenkammer. Ihr unpatriotisches Blut war schuld Allein an dem ganzen Jammer. Denn .Hunnen' waren's, Ausländerpack, Desperates, gesetzlos' Gesindel, Die herübergebracht einen falschen Sinn Von der Freiheit in ihrem Bündel. Ein jeder kann tun hier, wie's ihm beliebt. Doch er darf nicht schüren die Flammen Des Aufruhrs, sonst schießt ihn die Bürgermiliz Ohne Schonung und Gnade zusammen." 24

Wilhelm Rosenberg

Hazleton (Freitag, 10. Sept. 1897) Schweigt mir auf immer von dem Lande Der Freien, auf Columbias Flur! Seit jener Hazletoner Schande Ist es ein Land von Mördern nur. Denn Mörder sitzen auf dem Throne, In Amt und Würden, fett und satt, Gleichgültig, ob das Volk, das arme, Ein menschenwürdig Dasein hat. Und wenn es klagt und wenn es bittet Und in Verzweiflung schreit und Nöt, Schickt man des Sheriffs feile Posse, Und tötend Blei schickt man statt Brot. Verhöhnt man die verbrieften Rechte Und krönt mit Willkür die Gewalt, Und überfällt mit Meuchlers Händen Die Unschuld aus dem Hinterhalt! Besudelt man mit blut'gen Fingern Des Landes hehrstes Monument: Der Heldenväter schwer errungnes Unsterblich Freiheitsdokument. Ruft man den Fluch aus heil'gen Gräbern, Und wach die Revolution, Die schlummernd über ein Jahrhundert Geträumt, ein Dornenröschen, schon. Schweigt mir auf immer von dem Lande Der Freien, auf Columbias Flur! Ihr Prahler, die ihr seid Piraten, Der Industrie Geschöpfe nur! Die ihr verraten und geschändet Den Geist der großen Nation, Bei jeder Wahl wie feile Dirnen Verkauft euch habt für sünd'gen Lohn — 5

Poore, Anthologie

In üppige Saat schoß dieser Schacher Im Herbstesmond bei Hazleton! Bei Hazleton! Merkt's euch! ersproßte Aus Blut der Keim der Rebellion. Noch lacht ihr blöd, verstockten Herzens, Des Geist's der Zeit, den ihr nicht seht — Weil ihr nicht glaubt, daß eines Tages Das Volk aus seiner Qual ersteht, Daß es, wie Simson, seine Locken Wild schüttelnd, eure Säulen faßt Und euren stolzen Bau der „Ordnung" Zum Sturz bringt durch der Flüche Last. Tanzt um das goldne Kalb nur weiter, Einst wird euch schrecken plötzlich schon Ein Wort aus Weltgerichtsposaunen, — Das eine Wort heißt: Hazleton!

Eine Schwerenotsepistel Ja, ja! 's ist eine böse Zeit! Geschäfte stocken weit und breit, Und dieser Krieg, ich sagt' es immer, Macht unsre Lage nur noch schlimmer. Zwar unsre Armee hatte Glück, Vollführt' ein schönes Meisterstück, Und Porto Rico, Cuba fein, Die Diebes-Inseln, zwar nur klein, Und auch ein Stück der Philippinen, Sie uns als Siegespreis erringen, Und zum Dessert, welch Glorie! Gibt's noch den „Sandwich" Hawaii! Das ist fürwahr sehr reiche Beute, Doch leider nicht für arme Leute. Die sitzen nicht beim Beuteschmaus, Mit ihrem Teil sieht's mager aus. Es wird hier auch, wie stets im Leben, Nur solchen von der Beut' gegeben, 26

Die ohnedies genug schon haben, Sich freuen an Fortunas Gaben. Da sind die großen Generäle, Die Politiker, Admiräle, Die Lieferanten, Spekulanten, Die Handelsherren, Offizianten — Die greifen alle kecklich zu, Füll'n ihre Taschen in aller Ruh', Und's Arbeitsvolk bekommt, wie immer, Nur matten, dürft'gen Glorienschimmer. Es ruft Hurra! beim Siegesfest Und freut sich noch zu guter Letzt, Daß „Onkel Sam" so über Nacht Vermehrte seines Landes Macht! Dem armen Volk will es nicht frommen, Auf einen grünen Zweig zu kommen, Und selten, daß der kleine Mann Sich eines Sieg's erfreuen kann. Die Zeiten bleiben hundeschlecht Für alle, die da schlicht und recht, Mit großem Fleiß und vielen Plagen, Sich durch das Leben müssen schlagen. Wie kommt es, daß trotz allem Fleiß, Trotz aller Müh und saurem Schweiß, Das Arbeitsvolk erlangt kein Glück Und immer weiter kommt zurück? Die Antwort ist nicht schwer zu geben, Betrachtet nur das menschlich' Leben, Dann wird man sehen, daß die Schuld Nur trägt des Volkes Schafsgeduld. Und herrschen wird die Wirtschaftsnot, Der schwere Kampf ums liebe Brot, Solange man läßt, trotz aller Pein, Den Kapitalismus Herrscher sein!

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Die zehn Gebote Aus dem Urtext ins Amerikanische übersetzt 1. Das Geld sei hier der erste Gott! Der zweite sei der Herr Zebaoth. 2. Sein Name werde stets geehrt, God dam! das sei ihm lob und wert. 3. Am Sonntag mach ein fromm Gesicht, Dann acht' man deiner Werktag nicht. 4. Die Eltern ehre, liebes Kind, Bis zwanzig Jahr' verronnen sind. 5. Schlag deinen Widersacher tot! Das ist das heil'ge fünft' Gebot. 6. Wer sein Gemahl nicht lieben kann, Brenn' durch mit einem andern Mann. 7. Die kleinen Diebe hänget mir, Die großen sind des Volkes Zier. 8. Will jemand einen Eid von dir, So zahl er fünfzig Cent dafür. 9. Erbeute deines Nächsten Gut Durch Wucher, der hier Wunder tut. 10. Der Neger hat kein Menschenrecht, Er sei und bleib' der Weißen Knecht.

Eine neue Konstitution für die verunreinigten Staaten von Amerika 1. Jeder Bürger der verunreinigten Staaten ist frei — wie der Vogel in der Luft — und hat auf der Erde nur dann etwas zu suchen, wenn er Geld genug besitzt, um sich ein Grundstück kaufen zu können. 2. Das Eigentum wie die Familie sind heilig und unverletzlich und können nur von Großindustriellen und Börsenschwindlern zerstört werden. 28

3- Die Presse ist frei, doch soll jeder große Dieb das Recht haben, auf Kosten des Staates gegen einen Redakteur klagbar zu werden, der sich herausnimmt, ihn „Halunke" zu nennen. 4. Niemand soll Volksvertreter werden, der nicht schon einmal in seinem Leben mit dem Ärmel das Zuchthaus gestreift und falsche Eide geschworen hat. 5. Alle Gesetze müssen so abgefaßt sein, daß sie für die Armen bindende Kraft haben, von den Reichen aber beliebig umgangen werden können. 6. Die Volksbildung soll gefördert werden durch Pfaffen, Nonnen und krumme, idiotische Zeitungsschreiber. 7. Stehende Heere sollen nur an der Indianergrenze in ungenügender Zahl unterhalten werden; dagegen wird jedem Polizisten ein Revolver eingehändigt, von dem er gegen die Besitzlosen beliebig Gebrauch machen kann. 8. Alle kleinen Diebe, Betrüger und Landstreicher sollen nach den in Rußland gültigen Gesetzen bestraft werden. 9. Wer über $ 100,000 stiehlt und dafür mit einigen Wochen Arrest bestraft wird, hat später Anspruch auf Heiligsprechung. 10. Jeder Fremde ist als grüner Dummkopf zu betrachten und soll demgemäß so lange mit möglichster Brutalität behandelt werden, bis er sich mit den hier üblichen Krummheiten vertraut gemacht hat. 11. Alle Laster dürfen nur heimlich oder unter dem Deckmantel der Religion getrieben werden. 12. Jedes Jahr soll ein Gaunerkongreß zusammentreten, um diese Konstitution durch Zusätze und Verböserungen zu bereichern.

[Aus dem Witzblatt] Ist Präsident Hayes ein ebenso guter Politiker wie Herr [Carl] Schurz? Nein! — Aber ein ebenso schlechter! Herr Hayes ist ein großer Gedächtniskünstler, denn er behält alles, was er vor der Wahl versprach, weshalb das Volk auch nichts bekommt. Das neue, zu octroyierende Versammlungsrecht wird, wie in San Francisco, bald überall lauten: 1. Versammlungen sind frei. 2. Nur die Frechheit, sich zu versammeln, ist aufgehoben. 29

Gespräch zwischen Müller und Schultze in San Francisco MÜLLER: J a , j a ! SCHULTZE: J a , j a !

MÜLLER: Ick hab's immer jesagt! SCHULTZE : Ick ooch! MÜLLER: Na, und wer weeß, wie's mit die Chinesen noch wird. SCHULTZE : Na, 's kann doch ville passieren! MÜLLER: Ach Jott! SCHULTZE: Ach Jott! Inzwischen hat sich ein Haufen von Menschen um Müller und Schultze versammelt. POLIZIST: Meine Herren! Es dürfen nie mehr als zwanzig Menschen zusammenstehen! SCHULTZE: Entschuldijen Sie jütigst! Wir sind unser bloß noch zwee, die andern zwanzig haben sich hier 'rinjedränjelt! Allgemeines Gelächter. Müller und Schultze werden wegen aufreizender Reden zu $ 5000 und zwei Jahren Zuchthaus verurteilt.

Neuester Arbeiter-Katechismus

Frage: Was ist ein Köhlerglaube? Antwort: Wenn ein Arbeiter jeden T a g glaubt, Arbeit zu bekommen. F . : Warum macht dieser Glaube selig? A . : Weil der Gläubige dadurch bald Hungers stirbt und so in die ewige Seligkeit eingeht. F . : Was ist falscher Glaube? A . : Wenn man glaubt, daß in Amerika die früheren hohen Löhne jemals wiederkehren werden. F . : Was ist ein Wunder? A . : Wenn man mit $ 5 die Woche eine große Familie ernähren und dabei noch Ersparnisse machen kann. F . : Was ist das größte Übel? A . : Die Dummheit, wenn sie ein ganzes Volk beherrscht. F . : Warum sind die himmlischen Güter den irdischen vorzuziehen?

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A.: Weil die ersteren umsonst zu haben sind und die letzteren bezahlt werden müssen. F.: Wie viele Feiertage hat die Bourgeoisie im Jahre? A.:365. F.: Wie heißt das fünfte Gebot? A.: Du sollst weder den Arbeitslosen noch den Arbeitenden verhungern lassen. F.: Wie das sechste? A.: Du sollst keine Maitressen halten. F.: Wie das siebente? A.: Du sollst weder den Arbeiter um seinen Arbeitsertrag noch die öffentliche Kasse um ihren Inhalt bestehlen. F.: Wie das achte? A.: Du sollst weder betrügerische Bankerotte machen noch die Kommunisten verleumden, indem du den Leuten vorlügst, dieselben seien an allem Elend schuld. F.: Was versteht man unter Erbsünde? A.: Die Besitzlosigkeit. F.: Wer war der Weiseste der Menschen? A.: Salomon. F.: Wer der Stärkste? A . : Simson. F.: Wer übertrifft sie alle beide? A.: Wer allen Arbeitern in Amerika wieder Arbeit und guten Verdienst verschaffen kann. Er ist für sie der größte Wohltäter. F.: Welche Propheten sind falsche? A.: Die fachpolitischen. F.: Warum denn? A.: Sie belehren nicht, sie weissagen immer falsch das Herannahen besserer Zeiten. Sie verlangen vom Arbeiter Wunder, denn er soll mit seinem Verdienst sparsam umgehen, und er hat doch gar keinen Verdienst. F . : W e m sind wir a l l e Untertan?

A.: Gegenwärtig dem allmächtigen Kapital. F.: Wem ist das Himmelreich am sichersten? A.: Den kommunistischen Agitatoren, weil ihnen hier auf Erden die Hölle heiß gemacht wird und somit ihnen die Vergeltung, resp. der Himmel, gewiß sein muß.

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,The Song of the Ninety and Nine" Neunundneunzig leiden und sterben In Drangsal, Hunger und Not, Um eines Einzigen Leben zu färben Mit des Luxus purpurnem Rot. Die Neunundneunzig in schmutzigen Löchern, Der Eine jedoch in prunkvollen Gemächern. Auf den Feldern und bunten Wiesen, In den Minen tief unter der Erde Arbeiten die neunundneunzig Riesen, Auf daß die Welt verbessert werde. Jedoch die Schätze, die das Volk so schafft, Der Eine stets zusammenrafft. Die Wildnis erblüht von dem Schweiße der Massen, Urwälder vor ihren Schlägen fallen, Kunst und Wissen Wurzel fassen, Städte sie bauen und prächtige Hallen. Jedoch die Länder und Städte und Hallen Stets in die Hände des Einen fallen. Doch die Beängst'gung der drückenden Nacht Bald weicht vor des Lichtes Strahlenschein, Und die Freiheit und Wohlfahrt in ihrer Prafcht Zieht zu den Neunundneunzig ein. Sodann wird aus jedem Munde gesungen Das Lied von der Arbeit, die den Sieg errungen.

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Jakob

Franz

Arbeiter-Wörterbuch Beiträge zu einem zeitgemäßen Diktionär, satirische und ernstgemeinte Auszüge

A Abgott : Der Abgott des „guten Christen" in der kapitalistischen Gesellschaft ist „Gott Mammon". Vergleiche: „Kalb, goldenes" und „Boodle", wirtschaftlicher und politischer. Adel (Geburts-) : Nach der landläufigen Theorie in Amerika nicht vorhanden und auch für die Zukunft nicht möglich. Praktisch oder tatsächlich aber vollzieht sich vor unseren Augen die Ausbreitung einer für sich abgeschlossenen Kaste von Geldaristokraten (Snobs), welche eifrig bestrebt ist, die Nachäffung der europäischen Geburtsaristokratie hierzulande einzubürgern. Daß die Familien „Derer" von Astor, von Vanderbilt, von Rockefeiler, von Knickerbocker usw. es auf eine lange Reihe von „Ahnen" bringen werden, ist allerdings nicht wahrscheinlich. Advokat: Siehe: Landplage. Albernheit (oder Niederträchtigkeit, oder beides) : Siehe : „New York Staatszeitung". Arbeiter-Partei, Sozialistische : In Amerika : wesentlich eine Organisation für Propagandazwecke; in Deutschland: die Organisation der Arbeiterklasse zur Eroberung der Staatsmacht ; — überall: die Repräsentation des korrekten Programms der Arbeiterbewegung, das lehrende, unterscheidende, vorwärtstreibende Element derselben.

B Befreiung, der Arbeiterklasse : Muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Fundamentalgedanke der modernen Arbeiterbewegung. Bewaffnung, der Proletarier, zur Verteidigung ihrer Bürgerrechte: Sehr empfehlenswert. Handeln in dieser Richtung, nicht diskutieren, ist, worauf es ankommt. 33

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Christus: Ein Agitator, Aufhetzer. Seine Lehre: utopischer Kommunismus. D Demut: Eine Untugend, und zwar eine recht schlimme, für Arbeiter. Speziell unter den eingebornen Amerikanern, den Söhnen dieses „freien" Landes, noch heftig grassierend. Siehe: Personen- und Autoritätenkultus; Heroenvergötterung. E Enterbte: Siehe: Proletarier. Erde, die: Unsere Heimat, die wir uns soviel als möglich zum „Paradies" gestalten wollen. Was den „Himmel" betrifft, siehe: „Spatzen" und Heine, Heinrich. F Familie: Die Grundform der menschlichen Gesellschaft. Unter der Herrschaft des kapitalistischen Systems ist für den Arbeiter in vielen Fällen das Familienleben gänzlich ausgeschlossen und in allen anderen Fällen mehr oder minder schwer beeinträchtigt. Der Sozialismus erstrebt eine Gesellschaftsordnung, in der das Familienleben erst zur vollen Entfaltung gelangen wird. G Gewerkschaft: Die Grundform der Organisation zum Klassenkampfe — zum Kampfe des Proletariats für seine Menschenrechte und Abschaffung aller Klassen. Die Gewerkschaft (Union) ist das Bataillon in der Armee des arbeitenden Volkes. Was der Sozialismus in bezug auf Organisation der Arbeit erstrebt, ist nicht „Regierungsindustrie", sondern Betrieb aller Industriebranchen, einschließlich des Ackerbaues etc. und des Produktenabsatzes durch die Organisationen der betreffenden Sachverständigenkreise, d. i. dasjenige, was wir heute „Gewerkschaft" nennen. H Habgier: Unvermeidliche Wirkung des kapitalistischen Systems gegenüber dem einzelnen Menschen; außerdem: Kardinaltugend in der Sittenlehre der herrschenden Gesellschaft. 34

Alexander Jonas

Die Göttin der Freiheit Eine Vision Die Fanfaren waren verklungen, die Reden verstummt, die Gäste, welche der Feierlichkeit beigewohnt, drückten sich die Hände und sagten sich in schlechtem Englisch-Französisch und in noch schlechterem Französisch-Englisch einige Schmeicheleien, die Stätte wurde leer, und zurück blieben nur einige Arbeiter und der Künstler, Bartholdi, der die Riesenstatue der Freiheit geschaffen und sie dem amerikanischen Volke zum Geschenk gemacht. Soeben hatte das Fest der Übergabe an die Vertreter des großen Freistaates jenseits des Ozeans stattgefunden, und es galt nun, die ehernen Glieder des Kolossus für die Überfahrt zu bereiten. Die Arbeit wurde rasch vollendet, und wenige Tage später schwamm die „Göttin der Freiheit", wohlverpackt im Bauche eines der gigantischen Dampfer, welche die letzten Jahre uns gebracht haben, dem Lande ihrer Bestimmung zu. Aber während die Wogen den erzenen Körper schaukelten, befreite die Seele sich aus dem dunklen Gefängnis, und mit gewaltigem Flügelschlag schwebte sie, den Dampfer weit hinter sich lassend, der ersehnten Küste zu. „Endlich! endlich!" erscholl die Stimme der Göttin, „endlich werde ich es schauen mit eigenen Augen, das Land der Verheißung. Seit länger als hundert Jahren höre ich die Lobgesänge, die zu seinem Ruhme erschallen, sehe ich die unabsehbaren Menschenströme, die, des alten geknechteten Europas müde, sich hinüberwälzen, vernehme ich die Klagen derjenigen, die zurückbleiben müssen. Tausend Standbilder haben sie mir in Europa errichtet, und so konnte ich überall weilen, aber ach!, ängstlich gehütet von den Schergen der Tyrannen in steinernen oder erzenen Mauern meiner Gefängnisse, die sie meine Statuen oder Denkmäler nennen. Und so führen sie mich überall im Munde, aber im Herzen haben sie mir keine Stätte bereitet, nur das Herz des armen, bedrückten, machtlosen Volkes sehnt sich nach mir — ach, vergebens! Nun sie mir aber auch unvorsichtigerweise einen gewaltigen Körper gezimmert haben für das „Land der Freiheit", 35

für mein Land, nun ich es betreten darf in eigener Person, werde ich hier mein Lager aufschlagen und meine Getreuen sammeln, und mein Schlachtruf wird durch die Welt schallen, und ich werde sie erlösen von Pol zu Pol, daß fortan nur freie und glückliche Menschen in ihr wohnen. Und endlich werde ich sie auch sehen von Angesicht, die geliebte Schwester, die mit mir geboren wurde, aber die man schon aus der Wiege von meiner Seite geraubt hat, die göttliche Gleichheit. Wie sehne ich mich nach ihr! Bin ich doch ohnmächtig ohne sie. Mir ward das schneidige Schwert verliehen, ihr aber der schirmende, undurchdringliche Schild. Wann immer ich auch in der alten Welt meine Kerkermauern durchbrach und die Völker zur Revolution führte, wie gewaltige Streiche ich auch mit meinem guten Schwerte führte, immer fehlte mir die Schwester mit dem schützenden Schilde, und ungedeckt wurde ich von tausend Geschossen getroffen, und, durch Wunden und Blutverlust erschöpft, erlahmte meine Kraft, und so wurde ich besiegt, immer und immer wieder, und sie banden mich und führten mich zurück in meinen Kerker. Aber vereint mit dir, göttliche Schwester Gleichheit, bin ich unbesieglich. Und wo kannst du wohnen, wenn nicht im .freien Amerika', wie sie es nennen. Wie könnte es frei sein, ohne dich. Heil mir, ich werde dich schauen." So ertönte die Stimme der göttlichen Freiheit, und die Wogen erhoben sich brausend zum Willkommensgruß und stürmten schäumend nach Westen, dem Fluge der Göttin folgend. Diese aber hatte rasch die Küste der Verheißung erreicht. Um unerkannt beobachten und die Schwester suchen zu können, nahm sie die äußere Form eines schlichten Arbeiters an und schlüpfte rasch auf das Deck eines der großen europäischen Dampfer, der soeben an dem Dock seiner Kompagnie anlegte. Das Deck war überfüllt mit Menschen. Schöne, reichgeputzte Damen und zierliche Herren hatten sich nach der Landseite hin aufgestellt, ließen ihre seidenen Taschentücher flattern und wurden in derselben Weise von der auf dem Dock befindlichen Menge begrüßt. Prachtvolle Equipagen harrten in langer Reihe, um die Landenden heimzuführen. Mit großem Behagen musterte die Freiheit diese Menschenmenge. „Alles wohlgenährte Gesichter, gutgekleidete Menschen", sagte sie zu sich selber. „Man sieht gleich, wo man ist." Und raschen Schrittes näherte sie sich der Landungsbrücke, ein kleines Bündel, das sie sich des Scheines wegen zugelegt, in der Hand tragend. Aber als sie sich mit einer raschen 36

Wendung ans Land schwingen wollte, wurde sie von einem uniformierten Menschen rauh zurückgestoßen. „Ihr steigt hier nicht aus ¡"polterte der Kerl mit rauher Stimme. „Hier ist der Landungsplatz für die anständigen Leute. Für euch Zwischendeckler ist Castle Garden da." Die Freiheit sah zweifelnd auf den Burschen, aber da derselbe geradeso aussah wie ein europäischer Polizist, an welche Menschensorte sie schon gewöhnt war und deren Gewalttätigkeit sie kannte, und da sie ferner in ihrer Menschengestalt machtlos war, so fügte sie sich und wartete, was weiter mit ihr geschehen würde. Sie sollte nicht lange warten. Ein kleiner, ziemlich schmutziger Dampfer legte sich an die Seite des großen und nahm die vielen hundert Zwischendeckler auf, welche von dem großen Schiffe über das Meer getragen worden waren, und fuhr mit ihnen ab nach Castle Garden. Hier mußten sie aussteigen, mit ihnen die Freiheit. Mit Mißbehagen musterte sie die ungeheuren, unheimlich aussehenden Räumlichkeiten, stellte sich dann, wieder auf Befehl, mit allen andern in eine lange Reihe, passierte, nach Angabe ihrer Personalien und der Erklärung, daß sie in New York bleiben und das Gebäude gleich verlassen wolle, das Tor und befand sich nun in Battery-Park, wo allerdings keine Equipagen zum Empfang bereitstanden, wohl aber ein Dutzend Emigranten-Runner auf sie einstürzten und sich beinahe ihretwillen prügelten. Sie entging ihnen aber glücklich und schlüpfte in einen der schattigen Wege, in Gedanken diesen Empfang der Millionen von armen Einwanderern vergleichend mit dem Empfang, der den „anständigen Leuten" wurde. „Gerade hier an den Landungsplätzen scheint sie nicht sehr bekannt zu sein, meine Schwester, die Gleichheit; hier kann sie nicht wohnen", seufzte die Freiheit etwas enttäuscht und verlor sich in dem Straßengewühl der ungeheuren Stadt. Staunend schaute sie um sich. Große, prächtige Gebäude, wahre Paläste an Glanz und Reichtum wechselten mit kleinen, unansehnlichen Holzhäusern, breite und saubere Avenuen mit übelriechenden, schmutzstarrenden Straßen. Endlich kam die Freiheit auch in die Gegend der Tenementhäuser und war ganz betroffen von dem namenlosen Elend, das sie hier antraf, von dem Leiden der Hunderttausende hier zusammengepackten Menschenmengen, während nur wenige Straßen davon große, schöne Häuser nur von wenigen Personen bewohnt waren. „Hier ist nicht die Stätte, wo sie wohnt", sprach leise vor sich hin die Göttin, „hier konnte sie nicht weilen." Und weiter wanderte sie und 37

stand endlich vor einem großen Marmorpalast still. Die Freiheit stieg die breiten Stufen hinauf, schaute sich überall um und gelangte endlich in einen hohen, prächtigen Saal, in welchem sich soeben eine Gerichtsverhandlung abspielte. E s handelte sich um eine ungeheure Betrügerei. Ein Verwalter eines großen Bankinstituts, selbst reich und im Uberfluß lebend, hatte Hunderte von Menschen um Millionen beschwindelt. Der Angeklagte saß in eleganter Kleidung, umgeben von seiner ebenfalls reich geputzten Familie und seinen Advokaten, vor dem Richter. Der letztere benahm sich dem Angeklagten gegenüber wie ein „Gentleman". Die Verhandlungen waren kurz: Der Angeklagte wurde unter eine Bürgschaft von fünftausend Dollars gestellt, welche er sofort leistete, und fuhr dann in eleganter Equipage nach seinem luxuriös eingerichteten Heim. Die Freiheit, welche aufmerksam zugehört, dachte bei sich: Man scheint in diesem Lande eine sehr milde Auffassung vom Verbrechen zu haben; nun, immerhin ein gutes Zeichen. Und sie wandte sich einem andern Saale zu, in welchem soeben ein „Schuldig" gesprochen worden war. Der Angeklagte war ein hochaufgeschossener, sehr hagerer Mann in ärmlicher Kleidung. Hunger, Not und Verzweiflung blickten aus seinem Antlitz. „Pat", sagte der gestrenge Herr Richter, „du bist jetzt zum zweiten Male ertappt worden. Du scheinst ein Liebhaber von gutem Brote zu sein —" „Ach, Ew. Ehren", unterbrach ihn der Angeklagte, „ich tat es nur aus Verzweiflung. Ich habe vier Monate lang keine Arbeit gehabt und konnte es nicht mehr ertragen, die Kinder hungern zu sehen. Machen Sie's gnädig, Ew. Ehren, sonst weiß ich nicht, was aus meiner Familie werden soll." „Warum bist du so leichtsinnig, Kinder in die Welt zu setzen, wenn du sie nicht ernähren kannst?" donnerte der Richter, „zudem, es ist, wie gesagt, das zweite Mal, und ich muß ein Beispiel statuieren." „Ich war eben auch das erste Mal lange Wochen brotlos", flüsterte der Angeklagte, „ich konnte doch nichts dafür. „Zwei Jahre Zuchthaus!" verordnete kalt der Richter. Voller Entrüstung verließ die Freiheit den Saal. „Und das ist Gerechtigkeit", rief sie zürnend, „und das ist Gleichheit vor dem Gesetz? Mit verschiedenem Maße messen sie Arm und Reich, wie überall in der Welt, ja, noch viel schlimmer. Ich fürchte, ich fürchte, ich finde meine Schwester auch nicht in diesem Lande, oder, wenn sie je in demselben wohnte, hat sie es längst wieder verlassen." Aber sie ließ den Mut nicht sinken und machte neue Anstrengungen, sie zu finden. Aber wohin sie sich auch wandte, überall 38

fand sie die Merkmale der furchtbarsten Gegensätze, der schreiendsten Ungleichheiten. Sie sah Hunderttausende von Fabrikarbeitern lange Stunden für den kärglichsten Lohn schaffen, während die Besitzer der Fabriken im Überfluß schwelgten und kaum während ein paar Stunden die Arbeit ihrer Lohnsklaven „überwachten". Sie sah Präsidenten, Schatzmeister und sonstige „hohe Beamte" von großen Eisenbahnen-, Telegraphen-, Minenund sonstigen Kompagnien fürstliche Gehälter erhalten und Zehntausende von hart und lange arbeitenden Männern und Frauen als Clerks, Schaffner, Gräber usw. ein bettelhaftes Einkommen beziehen. Sie verließ die Stadt und wandte sich hinaus aufs Land. Aber sie fand noch viel Schlimmeres. Millionen von Landarbeitern und Kleinfarmern führten ein mühseliges, aller Freude bares Dasein, während die Besitzer ungeheuerer Länderkomplexe sie allmählich und erfolgreich selbst um die kleine Scholle zu bringen suchten, auf der sie bis jetzt ihre erbärmliche Existenz fristeten. Einmal kam die Freiheit in ein großes Dorf. Das Zentrum desselben bildete eine ungeheure Fabrik. Vor einem Hause standen, in langer Reihe hintereinander aufgestellt. Hunderte von Arbeitern. Jeder hatte ein weißes Stück Papier in der Hand. Eine Anzahl von besser gekleideten Männern schien die Arbeiter zu überwachen und, wenn einer der letzteren in dem Hause verschwand, wurde er von einem der Aufseher begleitet. Die Freiheit fragte einen der Arbeiter: „Was geht hier vor?" Der Arbeiter wandte sein von Entbehrungen tief gefurchtes Gesicht der Fragerin zu: „Wir wählen hier." „Wählen?" „Ja, einen Abgeordneten." „Und wozu steht ihr da wie eine Herde Ochsen, die zur Schlachtbank geführt wird? Wer sind die Männer, die euch beaufsichtigen?" „Es sind Vorleute von der Fabrik, die zusehen, daß wir auch das richtige .Ticket' stimmen." „So habt ihr nicht Freiheit, zu wählen, wen ihr wollt?" „Freiheit? Nein, die kennen wir nicht, die mögen wir nicht. Wir müssen zu essen haben. Das Essen gibt uns die Fabrik, das ist unsere Freiheit." Die Freiheit hatte genug. „So weit ist es gekommen", rief sie entrüstet, „daß sie mich nicht einmal mehr kennen, daß sie nichts von mir wissen wollen?! Ach, ich wußte es ja, wo meine Schwester, die Gleichheit, fehlt, da bedarf es nicht einmal der Kanonen und Bajonette, um Herren und Knechte zu schaffen. Hinaus aus diesem Lande, das ich einst so heiß ersehnt. Sie haben meine Schwester verstoßen, und so ist auch für mich hier kein Platz!" 39

Und sie stürmte rasch dem Einschiffungshafen wieder zu. Aber während sie durch die Straßen der Stadt eilte, kam sie bei einem großen, schönen Gebäude vorbei, nach welchem viele junge Leute pilgerten. Unwillkürlich folgte sie dem Strome und sah sich in einen Saal hineingedrängt, in welchem soeben ein Professor Volkswirtschaft und Staatswissenschaft dozierte. Der Herr Professor, ein zierliches, elegant gekleidetes Männchen, ganz unähnlich den Professoren der alten Welt, sprach mit geschmeidiger Stimme, von Zeit zu Zeit eine Rose, die er zwischen den Fingern hielt, an die scharfgeschnittene Nase führend. „Das eben ist das große Verdienst des Systems, das in unserem Lande herrscht", so dozierte er eben beim Eintritt der Freiheit, „daß es der vollkommenste Ausdruck dessen ist, was man .Freiheit' nennt: daß nämlich der Staat keine andere Aufgabe hat, als Leben und .heiliges Eigentum' des einzelnen zu schützen, um im übrigen alles dem Kampf der Kräfte zu überlassen, daß also das Individuum die vollständigste Freiheit hat, zu tun, was ihm beliebt." Als sie diese Worte hörte, erhob sich die Freiheit in einem ungeheuren Zorn. „O, du elender Tor", donnerte sie dem erschreckten Professor zu, „welcher Wahnsinn bewegt dich, so das Wesen der Freiheit, so mich zu schmähen? Bin ich wirklich nichts weiter als ein Götze, in dessen Namen der Stärkere, der Schlauere, der Schuftigere den Schwachen, den Harmlosen, den Guten würgen darf? Ist das eure Lehre? Wißt ihr nicht, daß ich nichts bin, nichts sein kann ohne meine Schwester, die Gleichheit. Oder — um in eurer Menschensprache zu reden — wißt ihr nicht, daß die Gleichheit des Besitzes, d. h. der Macht, die Grundlage der Freiheit ist. Daß ich ohne die Grundlage keinen Platz habe, wo ich stehen kann —" „Die Gleichheit sei die Grundlage?" tönte es verwundert aus der Menge. „Jawohl, die Grundlage der Freiheit", erwiderte zürnend die Freiheit, „und diese Grundlage fehlt euch, und darum ist meines Bleibens hier nicht. Fluch euch!" Jetzt erhob sich ein Höllenspektakel. „Ein Wahnsinniger! Ein Kommunist!" tönte es von allen Seiten, und Dutzende von Händen streckten sich aus, um die Freiheit zu greifen. Sie aber entschlüpfte ihnen und eilte hinaus auf die Straße. Aber was war das? Hörte sie nicht Kanonendonner? Läuteten die Glocken nicht? Wehten nicht alle Flaggen lustig im Winde? Sie wandte sich an einen Vorübergehenden. „Der Dampfer mit der Bartholdschen Statue der Freiheit fährt soeben in den Hafen 40

ein", lautete die Antwort. Wie der Sturmwind flog die Freiheit dem Hafen zu und verschwand noch zeitig genug in den Riesengliedern, ehe die Statue gelandet wurde. Eine große Feierlichkeit fand statt. Alle Prominenten fanden sich am nächsten Tage auf dem Dock ein. Man hatte die Glieder zusammengefügt, und, alles überragend, strebt edas stolze Denkmal in den blauen Äther. Musik spielte, Reden wurden gehalten, Kanonen abgefeuert. Zum Schluß sagte einer der Festredner: „Da es uns bis jetzt leider nicht möglich gewesen ist, eine Grundlage für dieses große Kunstwerk zu schaffen, so müssen wir es sorgfältig wieder einpacken und ,wegstoren', bis die Grundlage aufgerichtet ist. Ohne diese Grundlage kann die Göttin der Freiheit nirgends stehen." Und so packten sie das gigantische Denkmal in eine Riesenkiste von länglicher Form, die das Aussehen eines Riesensarges hatte. Und da nirgends ein Platz war, groß genug, ihn zu beherbergen, so führten sie [ihn] hinaus vor die Stadt und versenkten ihn auf dem „Potters Field", dort, wo die Armen, die Elenden, die Selbstmörder, die Namenlosen begraben werden. Als die Arbeiter eben damit beschäftigt waren, die Kiste mit Erde zu bedecken, trat ein gigantisches Weib an sie heran. Das Weib war mit Lumpen bedeckt, die seine Blöße überall durchsehen ließ, aber sein Blick war groß und durchdringend. „Wen begrabt ihr hier?" fragte das Weib mit tiefer Stimme. „Die Göttin der Freiheit", war die Antwort. Da schrie das Weib laut auf, daß die Arbeiter entsetzt ihre Spaten fortwarfen und davonliefen. Aber das Weib war die Schwester der Freiheit, die Gleichheit. Überall vertrieben, hatte sie sich in diesen einsamen und furchtbaren Erdenwinkel zurückgezogen, wo der Tod alle gleichgemacht hatte. Und entsetzlich tönten die Klagen der Göttin zum Himmel. „Muß ich dich so wiederfinden", jammerte sie, „auf die ich gewartet habe Jahre und Jahrzehnte, deren scharfes Schwert ich herbeigesehnt habe, damit wir kämpfen könnten, Schulter an Schulter?! Aber getrost, der Augenblick der Rache ist nahe. Ich schwöre dir, Schwester, an deinem Sarge, daß ich dich befreien will, daß du auferstehen und Arm in Arm mit mir siegreich die Welt durchschreiten sollst." Und Jahre vergingen. Aber die Gleichheit war nicht untätig geblieben. Sie arbeitete Tag für Tag und Stunde für Stunde, um ihren Schwur zu erfüllen. Mit unheimlicher Hast durchschritt sie die Lande und machte gleich, was verschieden war. Der be6 Poore, Anthologie

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häbige Handwerker, der sich was Besseres dünkte als der Arbeiter — er wurde ruiniert durch die Fabrik. Hinab ins Elend! Dem Kleinfabrikanten schnitt der Großfabrikant die Kehle ab, diesem der Monopolist. Hinab, immer hinab auf die unterste Stufe! Mit grausamer Klugheit erfand die Gleichheit immer neue, immer bessere Maschinen und Hunderttausende von fleißigen Arbeitern, die noch gewöhnt waren, ein anständiges Leben zu führen, wurden zu Tramps. Nur immer hinab! Der Farmer konnte seine Farm nicht halten. Die Korporationen und Eisenbahnen erdrückten ihn. So wurde er Landarbeiter und hatte zuwenig zum Leben, zuviel zum Sterben. Nur immer hinab, alles gleich, alles gleich! Endlich war das Ziel erreicht. Mit dem tönenden Schilde schlug die Gleichheit an den Riesensarg der Schwester. „Wach auf! Schwester! Die Zeit ist da, die Heere stehen kampfbereit. Wach auf!" Und ein furchtbarer Krach geschah, und die Riesengestalt der Freiheit erhob sich aus ihrem Sarge und schaute um sich. Und siehe, so weit das Auge reichte, waren die Gefilde bedeckt mit einem zahllosen Menschenheer: Männer, Greise, Jünglinge, Knaben, Frauen, Mädchen, alle arm, alle elend, alle in Lumpen gehüllt, alle gleich. Aber in aller Augen der Blick des glühenden Hasses, der Vergeltung. „Führe uns!", schrie es verworren von allen Seiten, „führ uns zum Kampf, wir folgen dir. Sieh dort, die unendlichen Schätze, die wir geschaffen — und wir müssen darben. Sich dort die schimmernden Zinnen und Paläste, die wir gebaut — und wir haben kein Obdach. Zum Kampf! Zum Kampf! O Freiheit, führe uns!" Und die Freiheit zuckte das gewaltige Schwert, und da war es, als ob ein ungeheurer Blitzstrahl die Luft durchzuckte. Und die Gleichheit schüttelte ihren Schild, und ein markerschütternder Donner bewegte die Erde. Und nun erhob sich ein ungeheurer Kampfesschrei zum Himmel wie eine gewaltige Lohe, und es schien, als ob das Weltall in Flammen stände. Und die Reichen und Mächtigen, die Völkertreiber und Länderverwüster — sie sahen mit kreideweißen Gesichtern und schlotternden Knien die Stunde des Gerichts hereinbrechen. Der Kampf war furchtbar, aber kurz. Und als die Sonne aufgegangen war, beschien sie ein wunderbares Schauspiel. Millionen und aber Millionen von Menschen waren beschäftigt, die Trümmer des Kampfes fortzuschaffen und die Erde zu bereiten für eine neue, bessere Zukunft. Und alles geschah in freudiger 42

Arbeit, in brüderlicher Gemeinschaft. „Da war kein Schreien und kein Toben und keiner eitlen Rede Brunst." Jeder wußte: Was er für sich tat, tat er für andere, und was andere taten, taten sie für ihn. Und auf gewaltigem Grundstein, unerschütterlich, ruhten fortan die göttlichen Schwestern, die Welt erleuchtend und beschirmend: Freiheit und Gleichheit.

Unorganisierte Arbeiter in Amerika

Conrad Conzett

Der Reiche an seinen Sohn Üb immer Treu und Redlichkeit, Wenn es nicht anders geht; Treib keinen Schwindel gar zu weit. Wenn draus nicht Geld entsteht. Dem Armen helfe immerdar, Von — seinem Bettelgeld, Durch Schwindel nur, das liegt ganz klar, Ward stets regiert die Welt. Die Liebe ist die süß'ste Pflicht, Sie macht die Leut' oft blind. Drum liebe wohl, doch heirat' nicht, Des Armen schönstes Kind. Das Zeug, das man Gewissen nennt. Das schaffe ab sogleich; Es ist ein Ding, das heillos brennt Und dich nicht machet reich. Die Dummheit pfleg an jedem Ort, Die sichert dir's Regieren, Die Mass' plagt sich dann immerfort, Läßt sich dann leicht nasführen. Auch durch den Himmel laß dich nicht In deinen Taten stören, Denn was das schlaue Pfäffchen spricht, Soll nur die Mass' betören. 44

Und deinen Rüssel schlage tief Ein in des Volkes Säfte, Denn's Geld gibt dir den Herrenbrief Auf Volkes Schweiß und Kräfte. Befolge, Sohn, nun meinen Rat, Dann wird dein Reichtum blühen, Dann wird das Volk aus ems'ger Tat Gar keinen Nutzen ziehen. Dann bleibst du stets eiji Herr der Welt, Der Arme stets dein Sklave; Die höchste Macht ist ja das Geld, Denn es gilt nichts der Brave.

Gustav Lyser Respekt vor dem menschlichen Geist Erfunden wird bald hier und dort Jetzt ein Geschoß für Massenmord; Wer solches Zeug erfinden kann, Wird reich und ein berühmter Mann, Schafft er auch den Völkern nur Elend und Pein — Da schämt man sich, ein Mensch zu sein! Doch seh' ich, wie Tausende redlich sich mühen, Daß Früchte den Feldern und Gärten erblühen, Und jeder sich nützlich dem Ganzen erweist, Da hab' ich Respekt vor dem menschlichen Geist! Wenn einer preist die Religion, Doch, aller Sitte frech zum Hohn, Verführt, um nicht'gen Zeitvertreib, Mit arger List des Freundes Weib Und dennoch sich brüstet mit heiligem Schein, Da schämt man sich, ein Mensch zu sein! Doch seh' ich, wie andre bei all ihrem Handeln, Bemüht, auf dem Wege des Rechtes zu wandeln, Und keiner das Schlechte und Alberne preist, Da hab' ich Respekt vor dem menschlichen Geist! 45

Rühmt einer sich, daß stets sein Herz Empfunden der Enterbten Schmerz Und daß er freudig Gut und Blut Der Freiheit weiht voll Mannesmut, Tritt nur bei der Wahl stets das Volk für ihn ein, Da schämt man sich, ein Mensch zu sein! Will aber der Mann nichts als Wahrheit verkünden, Verschmähend die Würden, die Ämter und Pfründen, Zum Kampfe nur fordern die Mächtigen dreist, Da hab' ich Respekt vor dem menschlichen Geist! Herrscht rings im Lande bittre Not, Fehlt braven Arbeitsmännern Brot, Verschließt der Reiche hart sein Ohr Dem armen Mann und Tür und Tor, Um dann sich zu laben an Braten und Wein, Da schämt man sich, ein Mensch zu sein! Doch seh' ich dagegen, wie freudig die Armen Sich gleich ihrer streikenden Brüder erbarmen Und „Hülfe den Kämpfern!" die Losung nur heißt, Da hab' ich Respekt vor dem menschlichen Geist!

In der Fron In müder Qual hast' ich den Tag, In wüstem Traum die Nächte hin. Tot ist der Wunsch und tot die Klag', Kaum weiß ich, wie ich elend bin. Der Leib ist War', der Geist ist Knecht, Ist Knecht für einen fremden Herrn, Und matt nur, wie verlorenes Recht, Erglänzt der Zukunft Hoffnungsstern!

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Ernst

Schmidt

Das Lied vom Streik „Schweig, Sklave, still! Du sollst dich quälen Ein Tagwerk lang, wie's uns beliebt. Du mußt gehorchen, wir befehlen, Du hast zu nehmen, was man gibt. Es ist zu wenig? Deine Kinder Kannst du damit ernähren nicht? Lern sparen mehr, und lebe minder Verschwenderisch, du üpp'ger Wicht!" Fern rasselt die Trommel, der Massenschritt hallt Rauflustiger Söldner der rohen Gewalt. Sie kommen, genährt von der Arbeiter Schweiß, Zu morden auf ihrer Herren Geheiß. „Auf, nun zur Arbeit, nicht gezaudert, Frisch angepackt, nicht lang bedacht, Sonst wird geschwind, daß es euch schaudert, Dem Faulenzen ein End' gemacht. Meint ihr vielleicht, daß selbst wir schaffen Mühselig sollten Tag und Nacht, Statt daß wir leicht zusammenraffen, Was eurer Hände Fleiß vollbracht?" Der Trompete schmetternder Schall ertönt, Indes von Hufschlägen die Erde dröhnt, Und nahe schon strahlen zum blutigen Tanz Bajonette und Schwerter im Sonnenglanz. „Ihr wollt Bedingungen uns machen, Bedingungen der Knecht dem Herrn? Champagner her — es ist zum Lachen! Vielleicht tränkt ihr ihn selber gern Statt schalen Wassers, und ihr hättet Auch Kuchen lieber wohl als Brot? Nein, Sklaven, so ist nicht gewettet, Wir haben Blei für eure Not." Ein Kommando erschallt. Ein Donnergekrach Erschüttert die Luft, und am Boden, ach, Da zucken gar viele in wildem Schmerz, Und verblutet manch treuestes Menschenherz.

Nun wird es Ruhe — Grabesruh', Die Menge, bleich und waffenlos, Zerstiebt. Man senkt in roher Truhe Die Opfer in der Erde Schoß. Da ruhst du, Armer, dem die Erde Verweigert ihres Glückes Teil, Dir ward nur Jammer und Beschwerde, Der Tod war fast dein einzig Heil. Doch dein Blut floß der Menschheit; ins brechende Aug' Fiel ein Strahl dir der Freiheit, dein Todeshauch Wird wachsen zum Sturm, der die Welt bewegt Und die Burgen der Herren vom Erdboden fegt.

Klage eines Proletariers im Central Park Du fährst in goldner Karosse, Von Gummirädern gewiegt; Du wohnst in schimmerndem Schlosse, Von Samt und Seide umschmiegt. Du strahlst in Konzert und Theater, Demanten auf wogender Brust, Weil dein geehrter Herr Vater So schlau zu stehlen gewußt. Mein Vater — ich will es nicht loben, Es dünkt mich eben kein Ruhm — Hat auch die Hand erhoben Nach fremdem Eigentum. Doch blieben ihm Wege und Mittel Zu größerem Stehlen beschränkt: Dein Vater hat Orden und Titel — Den meinen hat man gehenkt.

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Wilhelm Rosenberg Der Weltenherrscher Ich bin der Herrscher der ganzen Welt, Der Herrgott der Menschenwesen, Mich hat die Habgier und Intelligenz Zur Allmacht auserlesen. Ich stehe auf Säcken, gefüllt mit Gold, Der Frucht der Menschenbienen, Ich schwinge die Peitsche über sie Und zwinge sie, mir zu dienen. Ich werfe die Saat der Verderbnis aus Uber alle Meere und Lande, Ich lösche die Fackel der Hoffnung aus, Füll' den Sorgenbecher zum Rande. Ich bin das verkörperte selbstische Ich, Die Bestie im Menschenkleide, Sie erwürgt wie ein unersättlicher Wolf Die Lämmer auf blühender Weide. Mich trägt die unendliche Schafsgeduld, Die Trägheit der blökenden Massen, Die mit Versprechungen, Hunger und Not Sich schinden und treten lassen. Mein Thron steht fest auf Menschengebein. Mich segnen als Herrscher die Pfaffen, Und ich bringe beim perlenden, schäumenden Wein Ein Hoch! auf die menschlichen Affen.

Martin Schupp Titanenjagd Auf Erden haust ein wildes Tier, Das alles rafft und frißt, Reißt Mark und Blut aus mir und dir, Man nennt es „Kapitalist"!

Der Erdball in der Kralle ächzt, Die Edles all zerquetscht, Sein Schlund nach allem Guten lechzt, Voll Gier die Zähne fletscht. Es schont nicht Mann, noch Weib und Kind, Sein Wanst wird niemals voll; Der Hochmut macht es taub und blind Und Gier und Habsucht toll. Die Edelsten und Besten hat sein Prankenschlag zermalmt, In jedem Dorf, in jeder Stadt sein Rachen schnaubend qualmt. Die Erd' wird öde Wüstenei, wohin das Untier kommt, Da ist's mit Ruh' und Glück vorbei, und keine Klage frommt. Drum, rote Jäger, aufgewacht! Die Büchse spannt und jagt, Es gilt ums Menschenglück die Jagd — Ein blut'ger Morgen tagt!

Sergius Schewitsch Der Brandstifter Die Geschichte eines Weihnachtsabends Trübe, grau und trostlos brach der Morgen des 24. Dezembers über dem kleinen Fabrikdorf in Concordville in einem der Weberdistrikte Neuenglands heran. Es hatte die ganze Nacht geschneit, und mit Tagesanbruch stellte sich ein feuchter Südwind ein, unter dessen weichem Hauche der Schnee zu schmelzen und die Luft sich von grauschwarzen Nebeldämpfen anzufüllen begann. Es wollte gar nicht recht Tag werden, und hätte nicht die schrille Dampf pfeife der „Standard Mills", deren Riesenbau das Häuflein Arbeiterhäuser wie ein mittelalterliches Feudalschloß beherrschte, den Anfang des Tagwerks verkündet, so hätten die in diesem weltvergessenen Tale lebenden Menschen es kaum merken können, daß noch einmal vierundzwanzig Stunden ihres ein-

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förmigen, nach der Maschine geordneten, von der Maschine beherrschten Daseins verflossen waren. Allein, was kümmerte diese Menschen der Sonne Aufgang oder Niedergang, die Jahreszeit oder das Wetter? Jene schrille Dampfpfeife war ihre Sonne, nach der sie sich zu richten hatten, und trübe und grau sah es in ihrem sorgenvollen Leben immer aus, wenn auch ein wolkenloser Himmel sich über ihnen wölbte, wenn auch die Wälder und Obstgärten, welche die Abhänge des Tales schmückten, in ihrem farbenreichsten Frühlingsornat prangten. An diesem Morgen sah es freilich im Dorfe ganz besonders trübe aus, nicht nur in der Natur, sondern auch in den Herzen der dunklen Gestalten, die im Zwielicht des Morgens, gebeugten Ganges, schweigend dem Fabriktore zueilten. In diesen von Sorge und Arbeit durchfurchten Zügen war keine Spur von jener Freude zu entdecken, die sonst an diesem Tage in das bescheidenste Heim einzukehren pflegt. Di e Zeiten waren aber auch hart für Concordville, härter als gewöhnlich. Kurz vorher hatten die Arbeiter der „Standard Mills" gestreikt, nicht etwa um ihren kaum $ 1 2 pro Woche betragenden Lohn zu erhöhen, sondern weil die Fabrikverwaltung eine Reduktion vorgenommen hatte, welche selbst diesen erbärmlichen Verdienst noch schmälern sollte. Das war selbst für die an ewiges Dulden gewohnten Leute zu viel. Sie legten die Arbeit nieder, und eine Woche lang standen die Räder der Fabrik still — aber nur eine Woche. Da machte ein Bote von der „Office" die Runde durch alle Arbeiterhäuser und ließ in jedem eine Notiz zurück, die Insassen sollten, falls sie nicht zu den vorgeschriebenen Bedingungen wieder zur Arbeit gehen wollten, die der Verwaltung gehörenden Häuser sofort räumen und außerdem noch die rückständigen Rechnungen im Fabrik-,,Store" begleichen, widrigenfalls sofortige Exmission erfolgen würde. Was war da zu tun? Entmutigt, mit verbissenem Groll im Herzen und um einen Wochenlohn ärmer, kehrten die Leute am nächsten Morgen in die Fabrik zurück. Nur einer nicht, den der Verwalter für den Anstifter des Streikes hielt und schon lange wegen seines unabhängigen Wesens haßte und verfolgte. E s war dies ein etwa fünfzig Jahre alter Weber vom Namen Rothmann, der schon seit vielen Jahren mit seinem Sohne in den „Standard-Mills" arbeitete, eine kranke Frau und drei noch kleine Kinder hatte und infolgedessen so tief im Schuldbuch des „ Stores" steckte, daß er schon lange die Hoffnung auf51

gegeben hatte, in nächster Zeit sich aus der Truck-Sklaverei zu befreien. Als die lange, hagere Gestalt Rothmanns sich am Morgen nach dem Streik an der Türe der Fabrik zeigte, wurde ihm bedeutet, der Superintendent wolle ihn sprechen. Unheil ahnend, eilte er auf die Office, wo ihn der Fabrikpascha Pachberg, auch ein eingewanderter Deutscher, mit eisiger Würde empfing. „Für Sie gibt es keine Arbeit mehr bei uns", sagte dieser. „Lohn haben Sie keinen zu fordern, da Sie letzte Woche freiwillig die Arbeit verlassen haben, im Store ist noch ein Posten von $ 4.67 gegen Sie, doch dies wollen wir Ihnen schenken. Ihre Wohnung müssen Sie binnen drei Tagen räumen, da wir bereits eine andere Familie dafür in Aussicht haben." Rothmann stand da, wie vom Donner gerührt. „Drei Tage!" stammelte er. „Aber, Herr Pachberg, wie soll ich's machen? Meine Frau ist krank, und dann — wo sollen wir denn hin?" „Geht mich nichts an. Adieu." Eine Viertelstunde später stand der Entlassene inmitten seiner Familie. Die Frau jammerte und weinte, die Kinder stimmten mit ein, ohne das Unglück zu verstehen, das sie betroffen. Nur der älteste Sohn blieb stumm und tränenlosen Auges in einer Ecke des Zimmers sitzen, bis sich der erste Schmerz etwas ausgetobt hatte. Dann stand er auf — eine schöne, hochgewachsene, jugendfrische Gestalt — und sagte, zur Mutter tretend: „Was hilft das Weinen? Die .Standard Mills' sind nicht die einzigen in dieser Gegend, ich gehe aus, Arbeit suchen und ihr werdet sehen, noch ehe die drei Tage um sind, werden der Vater und ich wieder versorgt sein." Er ging und kehrte am Abend des zweiten Tages wieder zurück, ein anderer, älterer Mensch. Ohne Rast war er gewandert, von einer Fabriktüre zur anderen, überall vergebens. Die einen brauchten keine Arbeiter, die anderen wollten nichts von Leuten wissen, die „zu den Streikern von Concordville gehörten". Verzweifelt, bleich, vor Kälte, Ermattung und Erregung zitternd, stand nun der junge Rothmann vor seiner kranken Mutter, ratund hülflos ihrem Schluchzen zuhörend. Da klopfte es an der Türe. Ins Zimmer trat die Frau eines Nachbars, eines Webers, der ebenso arm und ebenso in den Klauen der Fabrikverwaltung steckte wie die Rothmannsche Familie. Ihr Mann, sagte sie, habe von dem Unglück gehört, das sie befallen. Wenn's nicht anders ginge, sollten sie morgen zu ihnen kommen, 52

um wenigstens nicht am Weihnachtsabend reisen zu müssen. E s käme ihnen ja nicht darauf an, und arme Leute, sage ihr Mann, sollten zusammenhalten. Rothmann nahm diese Offerte nach einigem Sträuben an, aber nur für einige Stunden, wie er sagte, dann werde er schon Rat zu finden wissen. A m nächsten Morgen, an dem 24. Dezember, an dem wir unsere Erzählung begonnen, kam ein Angestellter der Fabrik in Begleitung des Konstabiers des Ortes, um die Exmission vorzunehmen. Rothmann stand vor der Tür des Hauses. „Meine Frau ist krank", rief er den Herannahenden entgegen. „Sie kann unmöglich fortgeschafft werden." „Ach was!" erwiderte einer der Diener des heiligen Eigentumsrechts in barschem Tone. „Wird nicht so krank sein, ist doch vorgestern noch auf der Straße gesehen worden. Keine Faxen! Machen Sie, daß Sie herauskommen! Wenn Sie in einer Stunde nicht draußen sind, werden wir eure Sachen hinaussetzen." Der alte Arbeiter wurde totenbleich. „Herr Wilson", wandte er sich zu dem Fabrikbesitzer in flehendem Tone, „haben Sie Erbarmen, ich habe noch niemand um Gnade gebeten, nun aber, um Himmels willen, geben Sie mir einige Tage Zeit!" Der so Angeredete zuckte nur mit der Achsel. „Was kann ich für Sie tun? Ich selbst handle auf höhern Befehl." Da sprang der junge Rothmann zwischen den Vater und Wilson. „Brauchst dich, Vater", rief er mit flammendem Blick, „nicht vor diesem Burschen zu erniedrigen. Gehen wir!" E r ging ins Schlafzimmer, wickelte seine Mutter in warme Tücher und Decken ein und trug sie ins Nachbarhaus hinüber. Dann wurden zunächst die Kinder, natürlich unter heftigem Schluchzen, fortgeschafft, dann die wenigen Habseligkeiten der Familie. Eine Stunde später war die Hütte leer, das kleine Wohnzimmer des Nachbars aber um so voller. E s wurde Abend. Die Hausfrau zündete eine kleine Petroleumlampe an, die eines jener Bilder alltäglichen Elends beleuchtete, wie es deren stündlich in aller Herren Ländern Tausende gibt, an denen aber das große Getriebe der Welt gedankenlos vorüberrauscht. In einem tiefen Lehnstuhl saß Frau Rothmann, von dem durchlebten Elend erschöpft, mit geschlossenen Augen. Um sie herum hatten sich die drei Kleinen gedrängt, die den ganzen Tag über aus dem Weinen gar nicht herausgekommen waren. Ihr gegenüber saß, gebrochen, mit hoffnungslosem Blick Weib und 53

Kinder anstarrend, Rothmann selbst. Nur sein Sohn konnte sich nicht ruhig halten. Hastigen Schrittes eilte er durchs Zimmer hin und her, etwas zwischen den Zähnen murmelnd, das wie Verwünschungen klang. Endlich blieb er vor dem Vater stehen und rief: „Vater, kann das Recht sein? Sind wir denn Sklaven? Dürfen denn diese Kerle (er zeigte nach der Fabrik hin) uns des Letzten berauben, uns zu Bettlern machen, während wir jahrelang für sie wie das liebe Vieh geschafft haben, damit sie in Saus und Braus in New York leben können? Sind denn die anderen Arbeiter Feiglinge, daß sie nicht Partei für dich ergreifen? Gibt es denn keine Männer mehr in der Welt?" Der alte Rothmann blickte zu dem Sohne auf mit einem traurigen, bitteren Lächeln. „Schweig, Junge!" rief er. „Alle Macht der Erde haben jene in der Hand, und gegen solche Macht können auch Männer nichts — außer sich ihre eigene Stirne einrennen." Der junge Mann wollte etwas erwidern — da ging die Türe auf, und der Hausherr trat verlegen herein. „Say, John", wandte er sich zum alten Rothmann. „Nichts für ungut, Ihr wißt, ich bin Euer Freund, und bin bereit, alles . . . Aber — was soll ich tun? Hab' auch Familie . . . Nun, es muß j a doch heraus: Ich kann Euch nicht hierbehalten. Eben hat der Schuft, der Pachberg, — Gott verdamm ihn! — mir sagen lassen, auch ich werde entlassen, falls Ihr hierbleibt. Also — nun, Ihr wißt j a ! . . ." „Papa, wann wird denn der Christbaum heute angezündet?" unterbrach ihn plötzlich eine helle Kinderstimme. Es war das kleinste Mädchen, das auf der Mutter Schöße eingeschlafen war und nun plötzlich mit dieser Frage erwachte. Ein wilder, unartikulierter Schrei erscholl plötzlich durchs Zimmer. Der junge Rothmann war aufgesprungen und, noch ehe die anderen zur Besinnung kommen konnten, durch die Straßentür verschwunden. „John", sagte der Hausherr, „wir müssen ihm nach. Der Junge brütet Unheil." Die Männer nahmen ihre Hüte und gingen in die Nacht hinaus. Der Wind hatte sich gegen Abend zu einem Sturm erhoben, welcher heulend und pfeifend durch die kahlen Äste und über die Dächer des schlafenden Dorfes sauste. Es war so dunkel, daß der Schnee, der noch immer den Weg bedeckte, kaum einen schwa-

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chen weißen Schimmer von sich gab. Von dem Flüchtling war keine Spur zu entdecken. „Zur Fabrik", meinte der Nachbar kurz. Er mußte den alten Rothmann förmlich mit Gewalt nach sich ziehen. Den Unglücklichen schienen seine Kräfte vollständig verlassen zu haben, eine namlose Angst vor etwas Gräßlichem, das im nächsten Augenblick geschehen müßte, beschlich ihn und lähmte seine Glieder. Sie waren noch ungefähr zweihundert Schritte von der Fabrik entfernt, da packte sein Begleiter Rothmann am Arm und rief: „O Gott, seht dorthin!" Eine schmale Feuerzunge bahnte sich gerade ihren Weg durch das Dach eines an das Hauptgebäude der Fabrik grenzenden Holzschuppens. Mit einem Verzweiflungsschrei sank Rothmann bewußtlos zu Boden. Vom Sturme gepeitscht, griff die Flamme mit rasender Schnelligkeit um sich. In fünf Minuten stand die ganze Fabrik in Flammen, und da, von der mächtigen Lohe beschienen, stand plötzlich mit verzerrten Zügen der junge Rothmann vor dem entsetzten Arbeiter. „Da!" rief er, auf den Brand zeigend, mit wildem Lachen. „Sag der Nellie, da hat sie ihren Weihnachtsbaum! . . . " Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Was später geschah, läßt sich leicht denken. Der junge Rothmann wurde bald eingefangen, vor Gericht gebracht und zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein berühmter New Yorker Advokat vertrat die abgebrannte Firma und ließ bei dieser Gelegenheit eine seiner schönsten Reden vom Stapel. Der Schaden der Fabrikanten war durch Versicherung gedeckt. Die Mutter des Brandstifters starb zwei Tage nach der Verurteilung ihres Sohnes, die kleinen Kinder kamen ins Armenhaus von Tewkesbury, wo sie sicher gut aufgehoben werden, und der Vater — der ist zu einem halbblödsinnigen Tramp geworden, der von Türe zu Türe um Brot bettelt. Vielleicht kommt er auch an deine Türe, lieber Leser, am Weihnachtsabend. Dann weise ihn ja weg, denn er ist der Vater eines — Brandstifters.

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Julie

Zadek-Romm

Proletarierlos Die Untersuchung war beendet. Der Arzt, ein noch junger Mann mit schlichtem Blondhaar und milden grauen Augen, erhob sich und strich sanft über das Haar der Kranken, die blaß und matt auf ihrem ärmlichen Lager ruhte. Sie schlug die Augen auf und sah ihm voll ins Gesicht, mit einem Blicke, so voll hilfloser Angst und stummer eindringlicher Frage, daß es ihm ins Herz schnitt.„Sie dürfen den Mut nicht verlieren, liebe Frau", sagte er mit ernstem Lächeln, während er ihre heiße, trockene Hand in der seinen hielt und ihren Puls fühlte. — „Es kann noch alles gut werden. Trinken Sie von dem Wein, sooft Sie können, und nehmen Sie regelmäßig die Tropfen. Und nun versuchen Sie, ein wenig zu schlafen. Heut abend bin ich wieder bei Ihnen." Sie folgte ihm mit den Augen, bis er in der anstoßenden Küche verschwunden war. Seine Nähe tat ihr wohl. Sie flößte ihr Mut und Hoffnung ein. Aber nun, da er gegangen, kam es wieder über sie, das Fürchterliche, das ihr das Herz zusammenschnürte, die Furcht vor dem Tode. Und sie wollte nicht sterben. Sie war noch so jung. Und gerade jetzt, wo ihr Leben sich aufzuhellen begann, wo sie nicht mehr zu kämpfen brauchten um das tägliche Brot und ein wenig freier aufatmen konnten. Nun, da das Kind da war, nach dem sie so sehnlich verlangt! Es war zwar nur ein armseliges kleines Ding mit welkem, greisenhaftem Gesichtchen und dünnen Gliedern, aber doch ihr Kind. Sie wollte leben, genießen, nachholen, was sie versäumt hatte in all den trüben Jahren, die nun hinter ihr lagen. Nein, nicht sterben, nicht sterben. Der junge Ehemann war dem Arzt in die Küche gefolgt und stand nun vor ihm mit zusammengekrampften Händen, in einer Bewegung, die er mühsam zu beherrschen suchte. „Wenn es uns gelingt, die Herzschwäche zu besiegen, so kann Ihre Frau Ihnen erhalten bleiben", sagte der Arzt, „aber ich fürchte, es ist bereits zu spät!" — Er drückte dem jungen Manne teilnehmend die Hand und ging, nachdem er noch einen Blick auf den Säugling geworfen, der mit zusammengeballten Händchen und rotem, faltigem Gesichtchen in einem Winkel der Küche ruhig in seinem Bettchen schlief. 56

Der junge Vater war auf einen Stuhl gesunken und starrte tränenlos, mit brennenden Augen, vor sich hin. Das also war das Ende. Eine unsägliche Bitterkeit stieg in ihm empör, heiß und überquellend. Wie ein Fluch lag es auf ihnen. Warum durften nicht auch sie einmal glücklich sein? Hatten sie das Glück nicht sauer genug verdient durch Jahre der Not und Entbehrungen, in denen sie treulich zusammenhielten? Vor acht Jahren war er herübergekommen aus der fernen Heimat, um in der vielgepriesenen neuen Welt sein Glück zu versuchen wie so viele andere. Was hinter ihm lag, eine harte, entbehrungsreiche Jugend, die freud- und reizlos, aber reich an Demütigungen aller Art in den engen, finsteren Gäßchen einer russisch-jüdischen Provinzialstadt verlaufen war — daran wollte er nicht mehr denken. Ein neues Leben wollte er beginnen, hier, wo er sich frei bewegen durfte, ein Mensch unter Menschen, nicht ein Ausgestoßener, Geächteter, der sich das Recht zu leben, zu atmen, täglich von neuem erkämpfen muß und täglich fürchten muß, es wieder zu verlieren. Auf dem Schiffe hatte er sie kennengelernt, die gleich ihm, fast ein Kind noch, mit Vater und Geschwister, hinauszog in die Fremde. Während der langen Überfahrt waren sie einander nähergetreten, hatten sie einander liebgewonnen. Sie war nicht schön. Aber ihre braunen Augen blickten treu und gut, und auf ihrem jungen Gesicht lag die blühende Farbe der Gesundheit, trotzdem auch ihre Kindheit nicht heiter gewesen. Dann hatten sie, in New York angelangt, Arbeit gesucht und endlich auch gefunden. E r bald in der einen, bald in der anderen Fabrik, wie es der Zufall grade fügte. Denn die Arbeit, die er ursprünglich erlernt und in der er es daheim zu beträchtlicher Fertigkeit gebracht, wurde hier anders gehandhabt als in der Heimat. Und um die hier gebräuchliche Arbeitsmethode zu erlernen, fehlte es ihm an Mitteln, um unterdes sein Leben zu fristen. Auch war seine Körperkonstitution nicht eben die stärkste, so daß er nicht jede Arbeit ergreifen konnte, die sich ihm vielleicht darbot. So lebte er lange Zeit von der Hand in den Mund und mußte froh sein, das nackte Leben zu fristen. Daran, etwas beiseite zu legen, um einen eigenen Hausstand begründen zu können, durfte er nun gar nicht denken. Sie hatte bald nach ihrer Ankunft in einem wohlhabenden Hause eine Stelle als Dienstmädchen gefunden. Es wurde ihr anfangs recht schwer, das harte Brot der Dienstbarkeit zu essen; von früh bis spät abhängig zu sein von den Launen der Hausfrau; 7

Poore, Anthologie

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die Ungezogenheiten und'Rücksichtslosigkeiten der Kinder geduldig hinzunehmen und nicht einen Augenblick sich selbst anzugehören. Aber man gewöhnt sich mit der Zeit an alles, zumal, wenn man jung ist und das Gespenst des Hungers einem im Nakken sitzt und jede Aufwallung trotzigen Selbstgefühls mit eiserner Faust niederhält. In den ersten Monaten hatte sie jeden Cent, den sie verdiente, dem Vater gegeben, der einen harten Kampf mit der Not zu kämpfen hatte, er und die Geschwister. Dann, als jene, so gut oder so schlecht es eben gehen wollte, mit sich allein fertig wurden und ihrer Hilfe entraten konnten, hatte sie Cent um Cent beiseite gelegt für den künftigen Hausstand. Aber es war zum Verzweifeln, wie langsam dies ging, obschon auch er sich an diesem Zukunftsbau beteiligte und, was er sich vom Munde absparen konnte, ihr getreulich zutrug. Darüber ging Jahr um Jahr dahin. Und unversehens, ohne daß sie sich darüber Rechenschaft gaben oder hätten geben können, hatte sich in diesen langen Jahren des Wartens der warme Glückshauch verflüchtigt, mit welchem Jugend und Liebe auch ihrem armseligen Leben einen Schimmer von Poesie verliehen. „Blumen in Eis" — wie der Dichter singt. Sie hatten sich noch ebenso lieb wie zuvor. Aber sie waren müde geworden. Die blühende Farbe war von ihren Wangen gewichen; sie war abgemagert, vorzeitig gealtert; die hübschen braunen Augen hatten ihren Glanz verloren und sahen traurig drein. Endlich, nach sechs Jahren des Hoffens und Harrens hatten sie so viel beisammen, daß sie es wagen konnten, im Vertrauen auf ihren lieben Gott, den so viel treue, ausdauernde Liebe doch nicht ganz ungerührt lassen konnte. Sie richteten sich ihren kleinen Haushalt ein, so gut es eben ging. Selbstverständlich mußten sie sich auf das Notdürftigste beschränken. Und es kostete die beiden genug Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte, um nur eben dieses Notdürftigste mit ihren geringen Hilfsmitteln zu beschaffen. Aber es war doch ein stolzer Augenblick, eine echte, rechte Freude, als die beiden nach dem bescheidenen Hochzeitsmahl, das sie im Kreise ihrer Familie eingenommen, den Kopf schwer von dem ungewohnten Genuß einiger Gläser Wein, der ihr Blut erhitzte und ihre Zungen löste, ihr Heim betraten. Es war häßlich genug, finster und unsauber, im dritten Stockwerk einer jener Mietskasernen gelegen, in welchen, dicht zusammengedrängt, zahlreiche, meist kindergesegnete Familien leben, 58

in die jahraus, jahrein kein Sonnenstrahl dringt und die, zumal in Zeiten einer Epidemie, zu wahren Brutstätten mörderischer Krankheiten werden. Anfangs ging es auch ganz gut. Sie machten keine großen Ansprüche an das Leben, das sie wahrlich nicht verwöhnt hatte. Er hatte gute, lohnende Arbeit gefunden. Zwar mußte er sich dabei tüchtig abrackern. Wenn er abends nach Hause kam, war er oft so müde, daß ihm am wohlsten war, wenn er nach hastig eingenommenem Mahl zu Bett gehen konnte. Aber es war doch schön, zu Hause zu sein. Sie arbeitete und schaffte im Hause, und in der freien Zeit, die ihr blieb, wusch sie für fremde Leute, um einen kleinen Sparpfennig zu haben für außergewöhnliche Ausgaben. Und die standen bald genug bevor. Im Frühjahr erwartete sie ihre Niederkunft. Sie hatte alles aufs beste eingerichtet, so gut sie es verstand und es sich unter den gegebenen Umständen tun ließ. Aber noch ehe es soweit kam, brach ein Unglück über sie herein — das erste, dem bald andere folgen sollten. Er verlor seine Arbeit. Und trotz aller Anstrengungen wollte es ihm nicht glücken, anderweitig Beschäftigung zu finden. Es war wirklich nicht seine Schuld. Eine allgemeine Arbeitslosigkeit war hereingebrochen, eine jener Krisen, die mit unheimlicher Regelmäßigkeit innerhalb gewisser Zeiträume wiederkehren als notwendige Folgeerscheinung unserer plan- und ziellosen Produktion. Sie warf ihn zusammen mit zahllosen anderen auf das Pflaster. Und dies gerade zur Zeit, als sie niederkam. Sie gab einem Kinde das Leben, das wenige Stunden nach der Geburt starb. Sie selbst schwebte wochenlang zwischen Leben und Tod. Und es dauerte Monate, ehe sie das Bett verlassen durfte. Ihre geringen Ersparnisse waren bald aufgezehrt. Und da er noch immer ohne Arbeit war, wanderte ein Stück ihres Haushalts nach dem andern zum Trödler. Was er von seiner Kleidung entbehren konnte, ging denselben Weg. Und dabei hätten sie verhungern müssen, wenn nicht mitleidige Nachbarn sich ihrer angenommen hätten. Eine alte Frau, die Tür an Tür mit ihnen wohnte, ging herum von Haus zu Haus, um für die kranke Frau zu erbetteln, was diese brauchte, um in dem langen Siechtum nicht zugrunde zu gehen. Bald war es ein Hühnchen, das sie freudestrahlend heimbrachte, bald eine Flasche Wein oder eine Handvoll Früchte. Endlich war die Kranke soweit hergestellt, daß sie das Bett verlassen und ihre gewohnte Beschäftigung wieder aufnehmen 59

konnte. Was sie an Jugendreiz noch besessen, hatte sie in ihrer langen Krankheit eingebüßt. Sie sah mit ihrer gebückten Haltung, ihrem spärlichen Haar, ihren blassen, eingefallenen Wangen wie eine alte Frau aus, trotz der fünfundzwanzig Jahre, die sie zählte. Auch seinem Antlitz hatten Kummer und Sorge ihren Stempel aufgedrückt. E r hatte endlich wieder Arbeit gefunden. Wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm, hatte er in der Not nach dem ersten besten Erwerb gegriffen, der sich ihm bot. Und diesmal glückte es ihm. Mit wenigen Dollars, die ihm ein Bekannter geliehen, hatte er einen kleinen Handel mit allerlei Dingen angefangen, von denen er nichts verstand. Und im Laufe weniger Monate hatte sich zu aller Verwunderung aus diesen allerbescheidensten Anfängen ein kleines, blühendes Geschäft entwikkelt, das ihnen nicht nur gab, was sie zum Leben brauchten, sondern ihnen auch gestattete, ihre Wirtschaft allmählich wieder einigermaßen instand zu setzen und, eingedenk der Vergangenheit, etwas beiseite zu legen, um der Geburt des Kindes, das sie unter dem Herzen trug, ohne Sorge entgegensehen zu können. Mit welcher Freude sie dieses Ereignis erwarteten! An nichts sollte es ihr fehlen; das Beste und Teuerste sollte sie haben, wenn es not tat. Und doch — als der Tag kam und die arme, gequälte Frau, umgeben von der gesamten weiblichen Einwohnerschaft des Hauses, auf ihrem Schmerzenslager ruhte, ließ er sich, gegen seine bessere Einsicht, bereden von den unwissenden alten Weibern, die dem Unerfahrenen aus dem Schatze ihrer Erfahrungen heraus in der besten Absicht ihren Rat aufdrängten, seine Frau der zweifelhaften Kunst der schmutzigen alten Hebamme anzuvertrauen. Und nun? — Gewiß, das Kind lebte, aber seine Frau würde sterben. Seine Frau, die er liebte, obschon sie anderen wohl kaum begehrenswert erscheinen mochte. Eine Blutvergiftung — hatte der Arzt gesagt, als er in später Nachtstunde zu der Wöchnerin gerufen wurde. Und seitdem waren kaum zwei Tage vergangen. Er hatte es gelesen in den Augen des Arztes, das Todesurteil seiner Frau. Ein leiser Seufzer, der aus dem Krankenzimmer an sein Ohr drang, ließ ihn auffahren. Er ging hinein. Sie lag mit weitgeöffneten Augen da und winkte ihm, näher zu treten. „Vergiß nicht, den Arzt zu bezahlen", sagte sie mit leiser, schwacher Stimme. Sie lag einige'Augenblicke still, ohne sich zu rühren. Dann sah sie auf und ihm ins Gesicht. Sie sah, wie seine Mundwinkel zuck60

ten und die Muskeln seines Gesichtes arbeiteten, um das Schluchzen zu unterdrücken, das ihn schüttelte wie im Krampf. Sie wußte genug. Sie streichelte seine Hand und küßte ihn stumm auf den Mund. Dann schloß sie mit einem tiefen Seufzer die Augen. Es ging zu Ende — sie hatten nun einmal kein Glück im Leben.

Max Forker Opfer des Systems Es war an einem bitterkalten Februarabend, als ich in 0 . , einer Stadt im östlichen Nebraska, ankam. Auf einer Agitationsreise begriffen, war ich hierhergekommen, um Jünger für das Evangelium der neuen Zeit zu werben, um Kämpfer zu suchen, die auch hier das rote Banner unserer Partei erheben sollten. Ich war im Besitz der Adresse eines Mannes, der in der alten Heimat schon für unsere Sache gekämpft hatte, und machte mich sofort auf den Weg, denselben aufzusuchen. Einem schneidenden Nordwinde, der von den Prärien Dakotas herunterwehte, entgegengehend, war ich froh, als ich endlich in einem schmucken Häuschen, in der Nähe der Stadtgrenze, das Ziel meiner Wanderung erkannte. Ich hatte meinen Mann gefunden, wurde freundlich von ihm bewillkommnet und in ein behagliches, sauber eingerichtetes Zimmer geführt, wo wir, vor der wohltuenden Wärme des knisternden Kaminfeuers sitzend, bald in eifrigem Gespräch begriffen waren. Mein neuer Bekannter hörte mit sichtlichem Interesse meinen Ausführungen über den Stand unserer Bewegung zu, und auch seine Frau folgte der Unterhaltung mit gespannter Aufmerksamkeit. Da es mir darum zu tun war, meinen Wirt zu veranlassen, wieder tätig für unsere Sache einzutreten, so drehte sich das Gespräch bald um meine Absicht, eine Sektion in 0 . zu organisieren. E r war leicht dafür gewonnen. „Ich freue mich darauf", so sprach er, „wieder regelmäßig mit Gesinnungsgenossen zusammenkommen und mich mit ihnen unterhalten zu können über unser Prinzip, an

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das ich geglaubt habe seit meinen Jugendtagen bis jetzt, da mein Haar grau geworden ist." „ J a , " fuhr er fort, von seinem Stuhl aufstehend und mich mit leuchtenden Augen ansehend, „man sehnt sich nach seinesgleichen, wenn man verdammt ist, zu leben ohne jede geistige Anregung, außer der Lektüre unserer Zeitung; wenn man, von stupider Frömmigkeit und kriechender Heuchelei umgeben, selbst fühlt, wie man in dieser Umgebung Pessimist wird und seine Energie verliert." Die Frau jedoch hatte mit sichtbarem Unbehagen diese Wendung des Gespräches gehört, und, sich in dasselbe mischend, tat sie ihr möglichstes, ihren Mann von seinem Vorhaben abzubringen. Sie erinnerte ihn an alle die Schikanen, die er infolge seiner Agitation zu erdulden hatte. Sie machte ihn auf die Schwierigkeiten aufmerksam, mit welchen sie kämpfen müßten, um die Zinsen für die Schulden aufzubringen, die sie noch auf ihrem bescheidenen Häuschen hätten. „Und wenn der Boß erfährt, daß du Sozialist bist, verlierst du deinen Platz, und wie sollen wir dann unsern Verpflichtungen nachkommen?" Er suchte ihr diese Befürchtungen auszureden mit der Versicherung, daß, solange er seine Arbeit gewissenhaft verrichte und er sich entsprechend verhalte, für ihn keine Gefahr in der Zugehörigkeit zu einer sozialistischen Organisation liege. Doch seine Argumente blieben erfolglos. Die Frau beharrte auf ihrem Standpunkte. „Du hast in jungen Jahren deinen Teil der Arbeit getan, jetzt lasse andere eintreten. Wir haben ein einziges Kind, eine Tochter von sechzehn Jahren, für die sich dereinst wohl auch ein Unterkommen finden wird; wir haben ein kleines Haus, welches nach einigen Jahren schuldenfrei sein wird, und können so mit unserer Lage zufrieden sein." So schloß sie ihre Auseinandersetzungen, bei denen ich die Energie meines Wirtes erlahmen sah. E r gab nach, um, wie er sagte, in seinen alten Tagen keinen Streit in der Familie zu haben. Ich verabschiedete mich mit dem Wunsch, daß die Zuversicht der Frau sich erfüllen möge, und drückte dem Manne noch herzlich die Hand, hatte er doch früher in den Reihen unserer Kämpfer gestanden. So ging ich wieder hinaus in den kalten Winterabend, und hatte nur eine kurze Strecke zurückgelegt, als ich leichte Schritte hinter mir hörte und mein Name gerufen wurde. Ich wandte mich 62

um und erkannte die Tochter des Gesinnungsgenossen, den ich soeben verlassen hatte. „Mein Vater läßt Sie bitten, Herrn A. aufzusuchen, der hier in der Nachbarschaft wohnt und der Ihnen jedenfalls dienlich sein kann. Ich gehe die kurze Strecke mit und zeige Ihnen den Weg", setzte sie freundlich hinzu. Und so schritt sie neben mir hin, munter plaudernd, bis wir nach kurzer Zeit am Ziele waren, worauf sie mit freundlichem Gruße von mir Abschied nahm. Ich trat in das bezeichnete Haus und fand einen Gesinnungsgenossen, durch dessen Hülfe es bald möglich wurde, eine Sektion zu organisieren, die heute noch als ein Vorposten im fernen Westen zu unserer Fahne steht. Ein Jahr war seitdem vergangen. Wieder befand ich mich auf einer Agitationsreise durch den Westen. Eines Nachmittags ging ich durch die Straßen Chicagos, als ich aus einem Kellerlokal ein Mädchen kommen sah, dessen Gesicht mir bekannt schien. Unwillkürlich verlangsamte ich meine Schritte, als sie mich erblickte und erstaunt und verlegen grüßte. Kein Zweifel, es war die Tochter jenes Genossen von O. Wie kam sie hierher? — Bald erhielt ich Aufklärung von ihr. Während sie anfangs meinen Fragen auszuweichen suchte, schien sie bald Zutrauen zu mir zu fasssen und erzählte mir ihre Geschichte: Kurz nachdem ich O. verlassen hatte, war ihrem Vater in der Fabrik die Hand verletzt worden, infolgedessen er lange Zeit gar nichts und später nur sehr wenig verdienen konnte. Zu gleicher Zeit waren wegen der Neupflasterung der Straßen die Steuern auf sein Haus dermaßen erhöht worden, daß er nicht mehr imstande war, dieselben mit den Zinsen aufzubringen. Er sah den unvermeidlichen Verkauf seines Heims durch den Sheriff mit Sicherheit voraus, sah die Frucht der Arbeit und Sparsamkeit langer Jahre zerrinnen und seine Zukunft hoffnungslos vor sich liegen. Er wurde tiefsinnig, und eines Tages fand man ihn erhängt unter dem Dache seines Hauses. Sie zog mit ihrer Mutter nach Wisconsin, wo ferne Verwandte von ihr wohnten. Da wurde ihr durch eine Freundin eine Stelle in einem Hotel Chicagos vermittelt. Um ihre Mutter unterstützen zu können, nahm sie dieselbe mit Freuden an, wurde jedoch bald gewahr, welche „Gefälligkeiten" man dort von ihr verlangte. Eines Tages wurde sie entlasssen, weil sie gegen die Gäste „nicht freundlich genug" gewesen war. Jetzt begann eine Zeit des Elends 63

und der Not. Zu ihrer Mutter, die in bitterster Entbehrung lebte, konnte und wollte sie nicht zurückkehren. Stellung fand sie keine, trotz aller Bemühungen. „Ich habe", so schloß sie ihre Geschichte, „oft daran gedacht, mir das Leben zu nehmen, aber was soll dann meine arme Mutter anfangen? — So mußte ich denn seit kurzem den einzigen Weg betreten, der mir noch übrigblieb, um nicht zu verhungern." „Und weiß Ihre Mutter, wie es Ihnen hier geht?" frug ich. „Nein. Hoffentlich wendet sich mein Schicksal bald, und durch mich soll sie es nie erfahren, wie ich das Geld verdiente, das ich ihr geschickt habe." Tränen entströmten bei diesen Worten den Augen, die vor einem Jahre noch so ahnungslos und unschuldig in die Welt geblickt hatten . . .

Das organisierte

Proletariat

Wilhelm Rosenberg

Dein Heil Willst du dich deiner Fesseln wehren, Die du dahinschleppst mit Geduld, So laß dich, träges Volk, belehren, Du trägst allein dafür die Schuld. Du hast dir aufgehalst die Ketten Und wähltest selbst die Peiniger dir; Drum kann ein Herrgott selbst nicht retten Dich aus des Daseins Elend hier. Selbst deines Zornes wildes Wüten Fällt nur auf dich als Grund zurück; Was dich erlöst, ist nur der Wille, Gezeugt aus der Erkenntnis Blick. Du trägst dein Heil in deinen Händen, Der Freiheit Wachen und den Schlaf, Verstehst du nicht den Blitz zu senden, So bleibst du, was du jetzt bist: Sklav'. Versuch's! Und laß nicht andre denken Für dich. Und einmal, Volk, o sprich: „Ich will mit meinem Willen senken Die Schale des Geschicks für mich!" Wenn aber trotz des Zornes Stimme Nicht Antwort wird auf deine Pein, Dann schlag als letztes mit dem Grimme Des Löwen, der gereizt wird, drein.

Wilhelm Rosenberg

Proletarisches Bekenntnis Was ich bin, bin ich geworden Nur durch dich allein, Partei; Du hast mich emporgehoben Aus dem grauen Einerlei; Aus des Geistes Nacht an deine Jugendfrische Mutterbrust, Unter deinem Kuß erglühen Fühlt' ich neue Lebenslust. Nahmst von meinem Aug' die Binde, Gössest Licht in mich hinein, Und die Zukunft sah ich breiten Sich vor mir voll Sonnenschein. Und du löstest meine Ketten Stück um Stück von meinem Leib, Und du sprachst: „Nur ich erretten Kann von Fluch euch, Mann und Weib. Von dem Fluch, daß ihr getreten Werden müßt und unterjocht, Ihr, die ihr so lang zu Füßen Eurer Herrn geduldig krocht." Und du legtest mir des Wissens Schwert in meine schwielige Hand, Und du sprachst: „Mit ihm bezwingen Wirst du jeden Widerstand. Wirst wie Siegfried in dem Kampfe Mit dem Lindwurm siegreich stehn, Und voll Stolz und Selbstvertrauen Durch der Freiheit Pforte gehn." Und du drücktest mir den Adel Auf die Stirn und gabst dem Wort Flügel, die es pfeilschnell tragen Uber Land und Meere fort. 66

W a s ich bin, bin ich geworden Nur durch dich allein, Partei; Ohne dich wär' ich versunken Tiefer in die Sklaverei. Du allein gabst meinem Leben Inhalt, Würde, K r a f t und Ziel, Daß ich spotten kann Verfolgung, Hohn und Kerker und Exil. Gibst allein dem Mann der Arbeit Seine hohe Mission: Die Befreiung seiner Klasse Durch sich selber von der Fron. Nur, wenn sich die Dulder zählen, Schwillt die Not an zum Orkan, Und der einzelne dann im Ganzen Wächst empor als ein Titan.

Arbeiterlied Z u singen auf dem Arbeiterfest in Williamsburg a m 1 5 . S e p tember 1 8 7 3 Mel.: Und hörst du das mächtige K l i n g e n . . . Europa, das mächt'ge, erzittert, Amerika, das stolze, erbebt, Mit Kräften, so lange zersplittert, Ein neues Geschlecht sich erhebt; Wir sehen es wachsen und ringen, Voll Liebe sich innig umschlingen: Z u leben für der Arbeit heil'ges Recht! W o tief in dem Schachte der Erde Der Mann in der Bluse sich müht, Dort, wo vor dem flammenden Herde Das Herz wie das Antlitz erglüht; Allüberall schallen die Schwüre, Daß jeder den Wahlspruch erküre: Zu kämpfen für der Arbeit heil'ges Recht!

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Und wo an der Spindel in Sorgen Sich härmen, ach!, Mutter und Kind, Da tagt jetzt ein hellerer Morgen, Da flüstert es leise und lind: Mach, Vater, der Not doch ein Ende — Wozu denn noch falten die Hände, Zu beten für der Arbeit heil'ges Recht? Im Zeichen des Dampfs, der Fabriken, Der Not, die die Geister empört, Ein neues Geschlecht wir erblicken, Hurra, dem die Zukunft gehört, Die Zukunft, vernehmt es, ihr Massen, Die kühn mit dem Ruf wir erfassen: Zu siegen für der Arbeit heil'ges Recht!

Hermann Pudewa

Auf zur Tat! Mahnruf an die Nichtverbändler So manchen Kampf, nebst Stürmen und Gefahren, Hat unser Bund in Zeit von wenig Jahren, Seit er ins Dasein trat, erlebt: Bald hier, bald dort, wo man sein Recht verletzte, Er unerschrocken sich zur Wehre setzte — Und manchen Sieg hat er erstrebt. Es trafen freilich ihn auch Unglücksschläge, Und viele meinten, daß er unterläge Der gegnerischen Übermacht; Doch konnten all die heft'gen Sturmeswellen Das kampferprobte Schifflein nicht zerschellen: Der Geist der Freiheit hat's bewacht. Und dieser Geist, mög' er auch ferner walten Und über allen Brüdern sich entfalten, Die jetzt noch zweifelnd müßig stehn. Die ihre heil'ge Pflicht noch nicht erkannten Und blindlings sich auf Feindes Seite wandten, Statt mannhaft ihm zu widerstehn.

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Daß wir im Kampfe schließlich untergehen, Kann nur durch Feigheit und Verrat geschehen; Durch Mut und Eintracht wahrlich nicht. Drum auf, Kollegen im West' und Osten, Im Nord' und Süden — seid auf dem Posten! Uns beizustehn ist eure Pflicht. Laßt ringen uns um unsre Menschenrechte, Wie tapfre Männer handeln, nicht wie Knechte, Die feig sich beugen vor der Macht. Seht die Kollegen dort in Deutschlands Gauen, Wie sie mit Stolz ihr schönes Werk beschauen, Das, uns beschämend, sie vollbracht! Als Knecht nur stets auf Gnad' und Mitleid bauen, Auf Humanität der „großen Herrn" vertrauen, Anstatt zu kämpfen um sein Recht: Der Willkür einzelner sich überlassen, Geduldig darben, während jene prassen, O dies kann nur ein jämmerlich Geschlecht! Drum auf zur Tat, auf zum gerechten Werke! Bedenket: Einigkeit ist unsre Stärke! Vernehmt's, Kollegen fern und nah! Entsagt für immer dem seither'gen Wahne, Schart alle euch um unsre Bundesfahne Und rufet: Vivat Typographia!

Gustav Lyser

Werft eure Stimmen nicht fort! Sie sprachen in den letzten Tagen Ein großes Wort gelassen aus, Und wir, wir wollen's weitertragen Von Ort zu Ort, von Haus zu Haus! Befolgt getreu, was sie empfahlen, Und Wunder wirken wird das Wort, Erschallt es laut am Tag der Wahlen: „Werft eure Stimmen ja nicht fort!" 69

Zu lange drückt uns auf dem Nacken Der Feinde übermütig Joch, Jetzt gilt es, den Moment zu packen, Wie schwer der Kampf — wir siegen doch! Ob stürmisch auch die Wogen branden, Wir steuern kühn jetzt zu dem Port, Der Feinde List wird bald zuschanden, Werft ihr nicht eure Stimmen fort! Ob sie euch demokratisch schinden, Republikanisch beuten aus, Ihr werdet nach der Wahl stets finden: Für euch kommt nichts dabei heraus! Ihr selber nur könnt euch befreien, Gerechtigkeit sei euer Hort: Ihr muß sich jeder Brave weihen, Sonst wirft er seine Stimme fort! Nun vorwärts! Laß die Banner wehen Und brecht der Freiheit kühn die Bahn, Schlagfertig soll der Feind uns sehen, Tritt er gewappnet auf den Plan! Und ob wir siegen, ob wir fallen, Soll unsern Feinden doch zum Tort Im vollen Kampf der Ruf erschallen : „Werft nur nicht eure Stimmen fort!"

Karl Sahm Bannerlied Rot schaut das Banner auf uns nieder. Wir grüßen's mit erhobner Hand, Und heller schmettern unsere Lieder, Die Welt ist unser Vaterland. Rot ist der Zorn, der in uns glutet, Rot ist der Haß, der uns durchdringt, Und rot das Blut, das durch uns flutet, Um uns ein Band, ein festes, schlingt! 70

Wir wollen männiglich verfechten Der Menschheit Recht, des Armen Heil, Entlarven wollen wir die Schlechten, Bekämpfen, was gemein und feil. Der Knecht erfahre, daß der Reiche So nackt wie er das Licht erblickt, Daß er vom Anfang ganz der gleiche, So hilflos und so ungeschickt! Des Herdes Reinheit sei uns teuer, Sie, die des Lebens Würze beut, Erhaltet das vestal'sche Feuer, Und eure Schwelle ist gefeit! Die alte Welt ist am Verwesen, Im Volk liegt der gesunde Kern, Zum Aufbau sind wir auserlesen, Der Tag des Sieges ist nicht fern. Dann werden unsre Kinder nimmer Des Siechtums rasche Beute sein, Nein, angehaucht von ros'gem Schimmer, Sich ihres jungen Daseins freun. Im Kohlenstaube der Fabriken Weilt keine Mutter mehr, kein Kind, Sie mögen froh zum Himmel blicken, Indes die Spule läuft und spinnt. Reicht euch die Hände, die ihr Glauben In eure hohe Sendung spürt, O laßt ihn euch von niemand rauben, Dann ist das Werk schon halb vollführt. Hinaus nun brause Sang der Freude, Du Banner, flattre uns voran! Wir alle schwören laut dir heute, Der Freiheit brechen wir die Bahn!

Karl Reuber

Zur Erinnerung an ein Arbeiter-Heldengrab Schwarz war der Himmel und schwül die Luft, Hell zuckten die Blitze, und der Donner ruft; Wild rauschten die Wasser vom Gebirge ins Tal, Weil die Wälder zerstört, weil die Berge kahl. Dort lag ein blanker Schienenstrang, Hinziehend sich am Berge entlang, Vom Wasser unterwühlt er war, Es drohte dem nächsten Zuge Gefahr. Doch standen am Abgrund zwei Brüder zur Zeit, Das Geleise zu ordnen pflichtbereit. Als Männer der Arbeit mit wackerem Sinn Strebten mutig sie vorwärts zum Ziele hin. Sie dachten, daß viele geweiht dem Tod, Wenn sie verließen den Platz in der Not. Nur kurze Zeit noch, wenn's Werk nicht gelingt, Gewiß Verderben den Bahnzug verschlingt — Da tönt schon die Pfeife, der Zug braust heran, Noch ist nicht fertig, nicht sicher die Bahn — Sie konnten sich retten, doch der Zug wär' zerschellt, Die Pflichttreue allein auf dem Platz sie hält; Sie blieben und wuchten und stemmen mit Kraft, Bis glücklich die Schiene in Ordnung gebracht. Vorbei braust der Schnellzug in rasender Hast, Doch hat er auch leider die Helden erfaßt. Er schleudert, zermalmt sie den Abgrund hinab, Dort fanden die Braven ein stilles Grab. Wer denkt solcher Menschen, die opfern ihr Leben, Um anderen Leben und Freiheit zu geben? Sie wären vergessen, wenn das Volk sie nicht ehrt Als Helden der Arbeit, die Ruhmes wert. In mancher Werkstatt, an Maschinen, im Schacht Werden ähnliche Großtaten oftmals vollbracht; Gar viele sinken jährlich als Opfer dahin, Der Ausbeuterbande zu höhrem Gewinn! Die Mehrzahl der Armen ereilt früh der Tod Im Kampf ums Dasein, ums tägliche Brot. 72

Drum Fluch dem System, das die Armut schafft, Das dem Ausbeuter verleihet Ehre und Macht, Das den Unwürdigen lobt und den Würdigen tadelt, Die Ehrlichkeit verhöhnt und die Schurkerei adelt. Verachte, Volk, endlich die Millionendiebe Und gedenke der Helden der Arbeit in Liebe!

Carl Derossi Erwach, o Volk, erwache! Tief in der Erde dunklem Schoß Wühlst hastig du nach ihren Schätzen. Zum Dank ist Elend nur dein Los, Dank derer, die hinab dich hetzen. Du darbst und hungerst mit Weib und Kind, Indessen sie am Prassen sind. Erwach, o Volk, erwache! Beim ohrbetäubenden Gebraus Der dampfgetriebenen Maschinen Mußt rastlos du jahrein, jahraus Das kümmerliche Brot verdienen. Und sind die Knochen alt und steif, Dann bist du für die Straße reif. Erwach, o Volk, erwache! Halbnackt im gluterfüllten Raum, Bis deine Augen schier erblinden, Quälst du dich ab, daß einst du kaum Den Weg zum Armenhaus kannst finden, Wogegen der, der dich ausgepreßt, Den Seinen Reichtum hinterläßt. Erwach, o Volk, erwache! Ins sturmgepeitschte Meer hinaus, Aufs morsche Sargschiff mußt du steigen. Von all dem Reichtum, den nach Haus Du emsig führst, ist nichts dein eigen. Ein schlechtes Futter, ein magerer Lohn Ist alles, was du bringst davon. Erwach, o Volk, erwache! 8

Poore, Anthologie

Bei Regen und im Sonnenbrand Muß du das Feld des Herrn bebauen. Wo einst der schwarze Sklave stand, Bist du als „freier" Mann zu schauen: Frei, wo du dich schinden lassen willst, Frei, wo du deinen Hunger stillst. Erwach, o Volk, erwache! Ihr alle, deren saurer Schweiß Für andere rinnt zu jeder Stunde, Schließt euch zusammen eng und heiß, Stellt euch dem Feind in festem Bunde, Dem Feind, der euch das Mark auspreßt Und wie Hunde verknüppeln läßt. Erwach, o Volk, erwache!

Josef Schiller [Schiller

SeffJ

Der Sozialdemokratie von Nordamerika Ihr Brüder, Freunde und Genossen, Den Bund, dem ihr euch habt geweiht, Dem ihr euch freudig angeschlossen, Erhalte Treu und Einigkeit. Nicht habt ihr in Utopiens Fernen Den Plan der beßren Welt gesehn; Ihr seht ihn bei den Landessternen Als hellen Punkt im Banner stehn. Das ist ein großes, männlich Wollen. Steht fest zusammen, Weib und Mann. — Die bangen „Wenn" und „Aber" sollen Ganz hinten gehn, der Mut voran. Gebt acht nur, daß die schwarzen Schäfer Verdunkeln nicht das Morgenrot. — Ich schlag' die Koloradokäfer In meinem Garten alle tot. 74

Man kann die Viecher zwar verbrennen Und Öl gewinnen aus dem Fett. Doch Bauern, die die Sachen kennen, Die sagen: „'s stinkt und ist nicht nett." Der Geldsack sitzt auf hohem Rosse Und füttert seine Preßlakei'n, Und die gedruckten Giftgeschosse Umschwirren täglich eure Reih'n. Die Lüge, dieser Judas-Jünger, Weckt Widerstand und spornet an, So wird die Hetze guter Dünger Für eure Saat und euren Plan. Der Industrialismus, Brüder! Das Roß, auf dem der Geldsack sitzt, Tritt Kunst und Wissenschaft darnieder; Die Arbeit wird mit Kot bespritzt. Es bricht sich Bahn durch Blut und Leichen, Es rast dahin wie taub und blind. Der Geldsack spornt es in die Weichen, Denn er verschont nicht Weib noch Kind. Ihr ruft nun: Halt! — ihr wackren Streiter, Damit zu aller Menschen Glück In kurzer Zeit der freche Reiter Bricht niederstürzend sein Genick. Drum mutig vorwärts voll Vertrauen, Nehmt meinen Brudergruß zuteil, Den Männern: Hoch! Ein Hoch den Frauen, Und eurem Bunde Glück und Heil!

Emilie

Hofmann

Die Frau und die Freiheit Alles sehnt sich nach der Freiheit, Mancher drum den Tod erlitt — Alles schreitet vorwärts heute — Auch die Frau, die möcht' gern mit. 8*

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Doch da gibt's so viele Aber: „Wenn die Frau das gleiche Recht Mit dem Manne teilt, dann wehe!" Schreit er, dann werd' ich zum Knecht. Und ein andrer läßt sich hören Mit dem alten Sprüchwort kühn: Mann und Hund gehörn nach außen, Frau und Katz' zu Haus solin stehn. Ein Dritter, der hätt' nichts dagegen, Doch seine Selbstsucht duldet's nicht; Wo bliebe wohl denn seine Würde? O Himmel! Das ertrüg' er nicht! Und ob die Frau auch denkt und schreibet, Ob sie schon manches Schöne schuf, Macht sie jedoch den kleinsten Fehler, So heiße es: Hat keinen Beruf. Nun ja, man läßt es wohl noch gelten, Wenn sie recht reich und prominent; Ist ihre Leistung dann auch fade, So hat sie ja Beruf, Talent! Man will es nimmer eingestehen, Daß auch die Frau hat Mut und Geist, Obschon die Weltgeschicht' uns lehret, Wie sie Genie und Mut beweist. Doch halt, bald hätte ich vergessen Die Männer, die da treu und hehr Für Frauenrecht' und Freiheit streiten, Sind brav und lobenswert — auf Ehr'!

Gustav Lyser

Unsere liebe Polizei Es hat Chicagos Polizei Jetzt etwas auf dem Strich, Das ist der Lehr- und Wehrverein, Der dünkt ihr fürchterlich.

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Er lehrt, daß die Verfassung sagt Für alle klar und scharf, Daß niemand das Versammlungsrecht Mit Füßen treten darf! Er lehrt, daß groß geschrieben steht Für alle, die nicht blind, Daß wir auch zu Genuß und Glück Hier vollberechtigt sind! Dann lehrt er, wie man wehren muß Tyrannen-Ubermut Und, wo es Recht und Freiheit gilt, Selbst opfern Gut und Blut! Drum hat die liebe Polizei Ihn ernstlich auf dem Strich, Denn so ein Lehr- und Wehrverein Erscheint ihr fürchterlich.

Marschlied des Lehr- und Wehrvereins Frisch auf, ihr Arbeitsmänner, zu den Waffen! Laßt jeden Tropfen Herzblut heiß erglühn! Laßt Glück und Frieden für die Welt uns schaffen, Frisch auf, frisch auf, ihr Helden stark und kühn! Hurra! In Reih und Glied! Hurra! Es zuckt kein Augenlid! Der freien Arbeit brecht die Bahn, Hurra! Bald ist das Werk getan! Hurra! Hurra! Ob uns auch finstre Mächte noch umwüten, Die Bosheit, Niedertracht, ihr Haupt hebt, Ob auch zerstört der Freiheit erste Blüten, Die Wahrheit fort im armen Volke lebt! Hurra! etc. Weckt uns mit Trommelschlag der Freiheit Morgen Und rufet der Vergeltung großer Tag, Verscheuchet kühn das Zagen und die Sorgen Mit donnerndem Geschütz und Schwerterschlag! Hurra! etc. 77

Es schwebt in dieser hohen Feierstunde Ein Geisterbild hoch über Land und Meer, Lassalle segnet laut mit Geistermunde Das tapfre Heer, das todesmut'ge Heer! Hurra! etc.

Gustav Lyser Zur Fahnenweihe des Jägervereins von Chicago am 15. Juni 1879 Gestürzt ward hier die Monarchie, Das Sternenbanner frei erhoben, Es gab von seinem Heldenmut Das Volk in jenen Tagen Proben, Als freies Volk auf freiem Grund, So wollte es im Lande stehen, Drum ließ es kühn im Pulverdampf Das schmucke Sternenbanner wehen! Besiegt ward auch der alte Feind, Ein neuer jetzt dem Lande dräuet, Der nie Verrat und nie Gewalt Für seine schnöden Zwecke scheuet; Vor diesem Feind seid auf der Hut Und haltet treu zur Freiheitsfahne, Wo immer er zum Kampf sich stellt, Jagt mit den Waffen ihn vom Plane! Steht fest und treu zur Republik, Laßt euch die Waffen nicht entwinden, Denn wer sich selber wehrlos macht, Wird sich auch bald in Ketten finden! Die Arbeit nur schafft allen Wert, Und nur die Arbeit soll genießen, Nicht länger soll dem faulen Wicht Der Born des Uberflusses fließen, Nicht länger soll der Arbeit Sohn Sich reichen Unterdrückern beugen, 78

Nicht länger soll von seiner Schmach Die Herrschaft fauler Protzen zeugen! So hebt das Banner nun und schwört, Mit starken Armen es zu schützen, Und jede Stunde, jeden Tag, Im Dienst der Freiheit wohl zu nützen! Dem Volke wird an einem Tag Die Binde von den Augen fallen, An einem Tage überall Wird es sodann zum Kampfe wallen! „Mehr Muße!" heißt es, „besser Brot!" Vorwärts zum Tode oder Siege! Geschlagen wird die letzte Schlacht Im heiligen Befreiungskriege. Dann, brave Jäger, werdet ihr Mit andern durch die Tat beweisen: Gebrochen wird die alte Not Allein durch Mannesmut und Eisen! Steht allezeit zur Fahne treu, Kühn wird mit euch der Wehrmann streben, Ein Hurra, wer noch kämpfen kann, Laßt hoch das Volk in Waffen leben!

Georg Biedenkapp Den Manen des 11. November Der Vorhang fällt — das Stück ist aus — Entblößt das Haupt, ihr freien Männer, Auch du mein Weib, mein Kind zu Haus, Der Freiheit Erben und Bekenner, Steht andachtsvoll und hört das Wort, Das bis zum Tode uns betrübt: Der Weltgeschichte feigsten Mord, Den hat das „freiste Land" verübt! Wem noch ein Herz im Busen schlägt, Wem heilig noch der Menschheit Rechte, Wer noch was Edles in sich trägt

Und nicht versank im Pfuhl der Knechte, Wer treu noch kämpft in Tat und Wort Für Menschenwohlfahrt, herzbeglückt, Der fluch' dem allerschnödsten Mord, Mit dem das „freiste Land" sich schmückt! „Gesetz und Ordnung" nennen sie Die grause Tat, die unheilvolle, Die Weltgeschichte zeigte nie Noch solches Antlitz, solches tolle; Versiert und einer Furie gleich Sprach man von „Ordnung" und von „Recht", Und in des Abgrunds finstres Reich Stürzt man der Armut biedren Knecht. Was war es denn, was sie verübt, Die Männer, die wie Helden starben? Wen haben sie beraubt, betrügt, Erwürgt, bedeckt mit blut'gen Narben? War's ein Verbrechen? Diebstahl? Mord? Ein Schandfleck, strafbar bis zum Tod? Nichts weiter als ein freies Wort, Das man dem Wohl des Volkes bot! Ja, gegen Unrecht, Völkerschmach Aufstanden sie als freie Sprecher — Da wurde die Erneute wach Und schrie: „Ans Kreuz schlagt die Verbrecher „Ans Kreuz!" so schrie der Buben Troß, Der Preßkosaken ekler Schund, Der geile Pfäff warf sein Geschoß: „Zur Hölle mit dem Arbeitshund!" „Zur Hölle!" schrie die ganze Brut Des Geldsacks und der Menschenschinder; „Zum Galgen, ha! wir wollen Blut!" So heulte Schurke, Heuchler, Sünder. Und ach, bei allem Herzeleid, Wo schmerzlich manche Träne rann: Einstimmte in die Scheußlichkeit Betört auch mancher Arbeitsmann. Sahst du mit aufgelöstem Haar Das arme Weib in Angst und Wehen?

Sahst du der kleinen Kinder Schar Um den geliebten Vater flehen? Sahst du des Weibes Antlitz nicht Von Schmerz durchfurcht, dem Wahnsinn nah? Der Kinder bleiches Angesicht, Des Jammers Bild, Justitia?! Du sahst es nicht. Der harte Spruch, Er ward gefällt von feigen Schergen, Das blutgetränkte Leichentuch Ward aufgepflanzt den Totensärgen; Kein Schmerzenslaut, kein Weheschrei Erweichte die verschworne Brut: „Den Galgen auf! Den Strick herbei! Wir wollen Blut, ha! Menschenblut!" O freies Land, o schnöde Welt, Du Tusculum der reichen Leute, Wo Recht und Freiheit liegt zerschellt, Zerstampft vom Fußtritt der Erneute; Wo Ehrlichkeit und Biedersinn Gespensterhaft die Wege kreuzt; Wo freche Sucht nach Goldgewinn Sich unterm Sternenbanner spreizt. Seht um euch — in des Abgrunds Nacht —, Seht Raub und Mord auf offnen Gassen, Und das habt ihr, ihr habt's vollbracht, Ins Elend tief gestürzt die Massen; Seht eure Jugend, roh, gemein, Vertiert schon in der Kindheit Glanz, Da ist nichts groß, nichts schön, nichts rein, Da herrscht Versumpfung voll und ganz. Doch wie sich heut in Nacht und Graus Des armen Volkes Gräber feuchten, So hört von fern das Sturmgebraus, Und seht von fern das Wetterleuchten — Es steigt herauf, es bricht herein Mit wucht'gem Schlag, mit Donnerton, Zertrümmert stürzt das Bollwerk ein, Das zweite, neue Babylon!

Wilhelm Rosenberg

Das Schanddenkmal auf dem Heumarkt von Chicago, inzwischen abgerissen Da steht er auf dem Postament In seiner ganzen Würde, Ein Büttel, frech und insolent, Der großen „Ordnungs"-Hürde. Auf seiner Stirne brütet dumpf Ein Freiheit wütig Hassen, Stierköpfig blickt er dumm und stumpf Hinaus in alle Gassen. Auf seiner Lippe schwebt's wie Hohn: „Wie groß bin ich hienieden; Anstatt der Revolution Bring' ich der Welt den Frieden. Ich bring' ihn euch auf Staatsbefehl Und auch im Namen Gottes, Damit er schütze ein System, Ein längst schon bankerottes. Ich bin der Retter dieser Welt Von Dieben und Piraten; Sie hat mich hier hinaufgestellt Als Schutz vor Attentaten. Und schützend steh' ich hier, solang Ihr aufblickt, wenn auch trotzig. Ich lach', ob eurer Wut nicht bang, Brutal, gemein und klotzig. Ich bin das Herz des Kapitals, Das Instrument der Rache, Das jeden trifft, der sich erwärmt Für eine heilige Sache. Der, rüttelnd an der „Ordnung" Bau, Will stürzen seine Pfosten. Weh ihm! Auf Staatsbefehl muß er Die Kapitalswut kosten!" 82

So tönt's herab vom Postament Und tönt's in alle Lande, Und wie es tönt, so lodernd brennt In Tausenden die Schande. Die Schande der Nation, daß man Verewigt einen Knüttel Und neben Lincoln, Washington Verherrlicht einen Büttel.

Leopold

Jacoby

Karl Marx' Totenfeier im Cooper-Institut zu New York. ig. März 1883 Im Arbeitskittel viel Tausend, Sie sitzen, stehn zumal, Und ihr Gemurmel füllet brausend Den Riesensaal. In all den Sprachen, in den Zungen Der Weltnationen dort Dem toten Kämpfer ist erklungen Ein Abschiedswort. Der Brite sprach: „Geliebt in Hütten, Gefürchtet im Palast, Hat er gelebt, gewirkt, gestritten, Ohn' Hast und Rast. Sein Name, wo Maschinen schwirren, Bei uns in Stadt und Land Die Fenster der Fabrik erklirren, Wird heut genannt!" — Der Russe: „Wo Despoten thronen, Bei uns durch Graus und Nacht An ihrer Kette zerrn Millionen, Wird sein gedacht!" —

Der Franke: „Wie ein Weltbefreier Von Völkerhaß und Krieg Focht er, und diese Totenfeier Bürgt uns den Sieg!" — Der Deutsche sprach: „In Liebe wollen Wir vor den andern heut Dem Denker wie dem Kämpfer zollen Ein Grabgeläut. Denn wie einst neu die Himmelskunde Kopernikus erschuf, Dem Wissen scholl aus seinem Munde Ein Werderuf. Dem Wissen von des Volkes Leiden Ünd von der Arbeit Qual. Der Götze schon liegt im Verscheiden, Das Kapital! Er hat für unsern Kampf auf Erden Ein scharfes Schwert verliehn, Daß eine neue Welt soll werden; Drum ehret ihn! Noch gab uns ein Geschenk kein Spender Dem Donnerworte gleich: Ihr Proletarier aller Länder, Vereinigt euch!"

Friedrich Wilhelm Fritzsche Prolog zur Lassalle-Feier, am 31. August 1889 Der Jahre viele sind dahingeschwunden, Seitdem der Geistesheros durch den Tod Entrissen uns, zu dessen Angedenken Versammelt wir zu würd'ger Feier sind. Prometheus gleich, drang er ins Reich des Wissens, Ergriff mit kühnem Sinn und fester Hand Das heil'ge Feuer, bracht' es uns Enterbten, Daß es erleuchte uns zu der Erlösung Werk. 84

Hell strahlet es zurück in weite Fernen, Jahrtausende erschloß es unserm Blick. Mit Blitzesschnelle scheuchte es die Nebel, Die unser geistig Aug' bislang umflort, So daß wir nicht das Elend zu erkennen Vermochten, das uns aufgebürdet ist. Und klar erschauten wir in künft'gen Zeiten Das Reich der Liebe, das die Wissenschaft, Im Geiste, für der Menschheit Glück und Frieden, Durch ihre treusten Jünger aufgebaut. Doch was die Niedertracht nur je ersonnen An Lug und Trug, zu derer Untergang, Die sich erkühnt, den Sklaven zu verkünden, Daß ihnen auch gebühret gleiches Recht Am Leben und der Mutter Erde Gütern Wie denen, die der blinde Zufall hob Empor zu jenen glanzumstrahlten Höhen Des Lebens, die gezimmert nur aus Raub, Das hat die Tyrannei auf ihn geschleudert, Bis endlich in den Tod sie ihn gehetzt. Sein Beispiel gab uns Mut und Kraft, zu trotzen All den Gefahren, die uns auf dem Weg Zum Ziel, das er uns gesteckt, bedrohten; Es macht uns opferfreudig für und für. Wenn die Enterbten einst das Reich der Liebe, Wie es die Wissenschaft im Geiste schuf, In Wirklichkeit erbaut, zum Heile aller. Zunächst dem großen Toten danken sie's. Und nun, ihr Freunde, senkt das Haupt in Trauer, In eure Herzen kehrt voll Andacht ein; Es gilt, zu feiern diesen großen Toten, Der Unterdrückten treugesinnten Freund. Mit jeder Faser seines edlen Herzens War es verknüpft mit seinem Ideal, Sein Dichten war ein Sonnenstrahl der Liebe Zur Menschheit, die in eh'rner Brust er trug, Sein Trachten all galt Recht und guter Sitte, Sein Wirken stand in reinster Harmonie Mit einem Wort, mit seinem Dichten, Trachten. Mit einem Wort: Er war ein ganzer Mensch!

Sein Angedenken lebt in unsern Herzen Als leuchtend Beispiel, wenn es Taten gilt. Und unsern Kindern, unsern Enkeln wollen Wir künden, wie er lebte, stritt und litt. Das aber sei der Dank, den wir ihm zollen, Daß wirken wir in seinem Geiste fort.

Wilhelm Rosenberg

Zum Weltfest des Ersten Mai Das ist die neue Frühlingssonne, Das ist das neue Frühlingsgrün, Empor ans Licht mit Lust und Wonne Treibt es die Erd' zu neuem Blühn. Sie rüstet sich zu hohem Feste Für ihren Bräut'gam Sommer schon, Sie lädt die Menschheit ein als Gäste, Nun da dem Kerker sie entflohn! Befreit hinjauchzt sie Veilchendüfte; Als Herold dient der Vögel Schar; Es tun sich auf die tiefsten Grüfte, Sie schmückt sich Brust und Haupt und Haar. O Wonnemond, du Mond der Maien! Du bist Erlösung nicht sowohl Der Erde Braut, als auch den Reihen Des Proletariats Symbol. Der Ärmsten, die im Frone schmachten, So Mann wie Frau, so Greis wie Kind, Millionen, deren einzig' Trachten Ist, wie der Sorge man entrinnt. Der gräßlichen, die von der Wiege Bis an das Grab den Faden spinnt Und deren grauenhafte Züge Beredter noch als Worte sind. 86

Für die im Bann des Kapitales Bist du des Strebens höchstes Bild, Ein übergrausam, infernales System zu stürzen, wenn es gilt. Wenn müd jahrhundertlanger Qualen Das Aschenbrödel „Volk" ermannt, Ablegt die staubigen Sandalen Und antut königlich Gewand. Wenn es die Throne der Tyrannen, Die Fronen-Vesten jäh zerbricht, Wenn alle, die auf Knechtschaft sannen, Stehn, Rechnung legend, vor Gericht. Wenn würdevoll die weh'nden Locken Die Königin Arbeit sich bekränzt Und ihren Söhnen mit Frohlocken Den Trank des Lebensglücks kredenzt. O Wonnemond, du Mond des Maien, O erster Tag des jungen Mai, Ich seh' in dir das Bild der Freien, Der ganzen Menschheit, froh und frei. Ich seh' sie kommen, seh' sie wallen Von Nord und Süd, von Ost und West In deine lichten, grünen Hallen, Zum großen Welt-Verbrüderungsfest. Voran das Banner hoch, das hehre, Gefärbt im Blut der Völker rot, Von Land zu Land, von Meer zu Meere, Ein einz'ger Ruf, wie ein Gebot: „Vereinigt euch, ihr Proletare Der ganzen Welt, zur Weltaktion, Und bei dem Schall der Siegsfanfare Vollzieht die große Revolution." O Wonnemond, du Mond des Maien, O erster Tag des jungen Mai, Wir feiern heut das Fest der Freien, Der Zukunftsmenschheit, froh und frei. 87

Ernst Schmidt 1848-1898 Traumversunken und verwundert, Fragend, ob es denn ein Glück, Schauen wir ein halb Jahrhundert, Tief ergriffen, heut zurück. Grau das Haupt zwar, doch im Herzen Noch den alten, treuen Schlag, Wie in jenem Sturmes-Märzen, Der der Völker Fesseln brach. Und im Geiste nochmals leben Wir den kurzen Siegestraum, Dann erst, feuchten Auges, geben Wir der herben Wehmut Raum. Oh, daß unsre Fahnen sanken, Daß erlosch der Freiheit Licht, Oh, der Kämpen ohne Wanken In der Schlacht, am Hochgericht! Sie, die Helden, die ihr Leben Opferten mit stolzem Mut Einem Ziele, einem Streben: „Nieder der Tyrannen Brut!" Und die andern, knapp entronnen Dem Geschick, verfolgt, verbannt, Die sich nimmer traulich sonnen Durften in dem Vaterland. Ach wie viele ihrer schlafen Schon den langen, ew'gen Schlaf! Fremde Erde deckt die Braven, Die der Fluch der Heimat traf. Enger wird der Kreis, und immer Kleiner wird der Freunde Zahl, Die nie gegen falschen Schimmer Gaben hin ihr Ideal. 88

Die sich nie in Knechtssinn schmiegten, Der da gleißend Unkraut sät, Sie, die ehrenvoll Besiegten, Huld'gend keiner Majestät. Was sie wollten, auferstanden, Sagt Ihr, strahlend weit und breit Sei's in allen deutschen Landen Nun zur vollen Herrlichkeit. Nein, und nochmals nein! Sie wollten Deutscher Einheit, Macht und Kraft Und darüber strahlend golden „Freiheit, Gleichheit, Brüderschaft!" Junker nicht, noch Fürstengröße Wollten sie, nicht Pfaffentrug, Protzen nicht, noch Armutsblöße, Arbeit ohne Brot genug. Nicht von Bütteln frech geübte Red'- und Presseknebelung, Durch ein freies Wort verübte „Majestätsbeleidigung". Nicht der Freiheitstotengräber Um der Fürsten Gunst Gebuhl, Keine schmutzig-feilen Streber Bis hinauf zum Richterstuhl. Spitzel nicht, noch Denunzianten, Säbelrohheit jeden Tag, Schlimmer heut, als beim bekannten, Sel'gen Deutschen Bundestag. Deutsches Volk, du „Volk der Denker", Eingelullt vom Kaisertum, Werde nicht zum Freiheitshenker, Schwer umstrickt von Waffenruhm! Sieh, ein neu Jahrhundert dämmert, Eine neue Zeit bricht an, Ihres Geistes Allmacht hämmert Bald in Stücke deinen Wahn. Poore, Anthologie

Sei du selbst von Gottes Gnaden, Selbst nimm dein Geschick zur Hand, Schaff mit eignen freien Taten Dir ein wahres Vaterland! Nicht allein als starre Kette Sei der Einheit Band dir da, Auch der Freiheit eine Stätte Gib, o gib, Germania!

Eine Fabel „Ich weiß noch die Zeit", sagte ein sehr alter Ochse in einer Versammlung pflanzenfressender Tiere, „ich weiß noch die Zeit, da kein Löwe, Tiger, Bär, Wolf oder anderes Raubtier uns etwas anhaben konnte. Wir hielten immer fest zusammen, und wenn so ein Schmarotzer kam, bildeten wir Ochsen einen Kreis, mit den Hörnern nach außen — die Kühe und Kälber in der Mitte —, und verhöhnten den Räuber mit der Aufforderung: .Komm her, wenn du Herze hast!' Ach, es war eine schöne Zeit!" „Und ich weiß noch die Zeit", sagte ein alter Gemsbock, „da wir keine Furcht vor Räubern zu haben brauchten. Wir stellten Wachen aus, und die Böcke waren in der Mitte der grasenden Herde, und ehe ein Adler oder Wolf uns auf den Pelz kommen konnte, waren wir auf und davon an einem sichern Platz." „Ja, und ich weiß auch", sagte ein alter Gaul, „wie es kam, daß wir so unglücklich wurden, wie wir jetzt sind. Es kamen alte Füchse zu uns und hielten schön gesetzt Reden und sagten: ,Ihr seid doch alle recht dumm, daß ihr immer ängstlich beisammen hockt. Ihr tretet durch eure Menge das beste Futter nieder, ihr macht den reinsten Bach beim Saufen trübe, ihr verderbt einander die Luft. Warum zerstreut ihr euch nicht und weidet jeder mit seiner Familie da, wo er die beste Weide, das reinste Wasser und die schönste Gegend findet und jeder seinen freien Kontrakt mit der Mutter Natur um den Lebensunterhalt abschließen kann. Der brave Kerl traut auf sich selber allein und bindet sich nicht an Gesellen, die er schützen helfen muß. Es lebe die Freiheit, welche für alle Entbehrungen entschädigt!'" „Jawohl", sagte der Edelhirsch, „ich erinnere mich dieser niederträchtigen List der Füchse. Jetzt kann uns ein armseliger Luchs 90

oder eine schwache wilde Katze vom Baume herunter auf den Nacken springen, weil wir nicht zusammenhalten, und kann uns langsam das Lebensblut aussaugen." Und die versammelten Tiere beschlossen, künftig ihre wahre Freiheit wieder im Zusammenhalten gegen die Räuber zu suchen, vor allen Dingen aber alle Füchse aufzujagen und zu prellen und ihren Reden nicht mehr zu lauschen. Nutzanwendung. Diese Fabel hat keine Nutzanwendung; denn die Arbeiter sind meist viel klüger als obige Ochsen und Schafböcke und brauchen nichts von diesen zu lernen.

Zeit- und Streitfragen I. Der „freie" Arbeiter D o e f e Arbeiter, „Staatszeitungs"-Leser, Arbeit heimgekehrt, zu seinem Nachbar „ Volkszeitungs"-Leser:

soeben ermattet von der Helle, ebenfalls Arbeiter,

Nun, wie schaut's bei euch aus? Habt ihr die Lohnerhöhung durchgesetzt? Helle: Durchgesetzt, alter Junge! Fünfzehn Prozent und Samstag Zahltag statt Montag. Der Boß besann sich nur eine halbe Stunde, dann wurde alles bewilligt. Doefe: Na also! Ich hab's ja immer gesagt. Wenn die Bosse nur können, zahlen sie's ja gern. Da braucht man keine Shop-Organisation und keine Streiks! Helle : I der Tausend! Das ist das Neueste, was ich höre. Ich war immer der Meinung, daß uns gar nichts auf dem Präsentierteller entgegengetragen wird und daß wir uns alles hart erkämpfen müssen. Ich will ja ganz gern zugeben, daß unser Boß jetzt bessere Geschäfte macht als früher, daß eine Menge Ordres in der Office liegen, die ausgeführt werden müssen. Aber warum hat er uns denn nicht freiwillig die Lohnerhöhung offeriert? Warum hat er nicht zu sich selbst gesagt: „Meine Arbeiter haben in den letzten fünf bis sechs Jahren mit wahren Hungerlöhnen zufrieden sein müssen, nun, da ich selbst wieder ordentlich verdiene, will ich ihnen auch etwas zukommen lassen." Ja, prosit die Mahlzeit! 9*

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Lange hat er sich nicht besonnen, das ist wahr. Nur eine halbe Stunde. Aber warum nur so kurze Zeit? Weil er gewußt hat, daß wir stramm organisiert sind und daß alle seine schönen Ordres zum Teufel gehen würden, wenn er's zum Streiken kommen ließe! DOEFE :

Wartet's nur ab. Wenn er seine tote Saison hat, wird er's euch schon wieder abziehen oder schickt euch ganz nach Hause. HELLE :

O du gottserbärmlicher Nachtwächter! Hat's euch denn euer Boß anders gemacht, obgleich ihr nie muckst und ihm vorletztes Frühjahr, als er für euer Geld großartig in Europa herumkutschierte, noch ein Abschiedsfest mit Pauken und Trompeten gegeben habt. Wie lange bist du im letzten Winter spazieren gegangen. He? DOEFE :

So'ner Wochen vierzehn. HELLE :

Aha! Und wie steht's denn jetzt bei euch mit der Lohnerhöhung? Was? Wieviel habt ihr denn bekommen? DOEFE

verlegen:

Bis jetzt noch nicht — der Vormann meinte — HELLE

unterbrechend:

Na ja, ich seh' schon wieder, wie's steht. Na meinetwegen. Warum du eigentlich ausgewandert bist, weiß ich wirklich nicht. Einer, der so mit jedem Knochen zufrieden ist, den man ihm zuwirft, wie du, der paßte doch herrlich für ein Land, in dem es heißt: 's Maul halten, Steuer zahlen, Soldat werden! DOEFE :

Warum ich ausgewandert bin? Weil ich ein freier Mann sein wollte, weil ich reden und tun will, was ich Lust habe, ohne daß mir ein Polizist das Maul verbietet. Und wenn's mir auch in der letzten Zeit hundeschlecht gegangen ist, ein freier Mann bin ich darum doch geblieben! HELLE :

Nun schau mir einer den großen Helden an! Ja freilich, über den Hayes oder über den Tilden kannst du schimpfen nach Herzenslust. Das billige Vergnügen wehrt dir niemand. Aber, da fällt mir gerade was ein. Erinnerst du dich nicht, was du mir neulich erzählt hast? DOEFE :

Was meinst du denn? 92

HELLE :

Na, von wegen der Zeitung, weißt nicht? DOEFE :

Welche Zeitung? HELLE :

Frisch nur dein Gedächtnis auf. Hast du mir nicht erzählt, wie dein Kamerad Herz die „Volkszeitung" mit in den Shop gebracht hat und wie sie dir so gut gefallen, und du hättest sie schon beim Zeitungsträger bestellen wollen, und da ist dein lieber, guter, trefflicher Boß in den Shop gekommen und hat die „Volkszeitung" liegen sehen, und was hat er da gesagt, he? DOEFE

stotternd:

Well — das war — so — HELLE:

Ja, versteht sich, das war so: „Wer mir den Schandwisch in den Shop bringt", hat dein Herr und Meister gesagt, „oder von wem ich erfahre, daß er ihn überhaupt liest, der kann nur gleich sein Bündel schnüren!" He, war's nicht so? DOEFE :

Freilich — wohl — HELLE :

Oh, du freier Mann! Dem man befiehlt, was er nicht lesen soll. Befiehlt, bei Strafe des Hungers! Und nun, du „freier" Mann, bist du verdammt, die „Staatszeitung" zu lesen, bis du an Gehirn Verhärtung zugrunde gehst. D O E F E schweigt

verlegen.

HELLE :

Und wie war's denn neulich mit dem Meeting? DOEFE :

Was für ein Meeting? HELLE :

Aha, leidest schon wieder an Gedächtnisschwäche? Ich meine das Sozialisten-Meeting — DOEFE :

Nun ja, was soll ich denn auch bei den Kommunisten? HELLE :

Was Mensch, willst dich noch ausreden? Hast du mir nicht gesagt, du brennst vor Begierde, mal hinzugehen, um zu hören, was die Leute so zu sagen haben, aber du fürchtest, euer Vormann könnte dich sehen und dann jagte der dich zum Tempel hinaus? Ist's so, oder ist's nicht so? Heraus mit der Sprache, du „freier Mann"!

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DOEFE:

's ist schon so, wie du sagst. Daran habe ich nicht gedacht. HELLE :

Und denk nur nicht, daß du der einzige bist. Kennst du den Jahelka? DOEFE:

Den Schreiner? HELLE :

Jawohl, John W. Jahelka. Grad' ging er weg. Na, du weißt, ein tüchtiger Arbeiter ist er. Seit anderthalb Jahren war er bei Brewi Sc Co. in Essex Str. DOEFE:

Nun, was ist denn geschehen? HELLE :

Was wird denn geschehen sein. Die Arbeiter bei Brewi haben eine tüchtige Shop-Organisation. Gut. Sie haben gesehen, daß das Geschäft einen großen Aufschwung nimmt und viele Ordres einlaufen. Natürlich fordern die Lohnerhöhung. DOEFE:

Wurde natürlich bewilligt. HELLE:

I bewahre, wurde abgeschlagen. DOEFE:

Und nun? HELLE :

Nun gingen die Leute in Streik. Nicht lange. Denn die Firma brauchte Hände. Am letzten Montag wurde die Arbeit wieder aufgenommen und die zehn Prozent bewilligt. DOEFE :

Das ist j a all right. HELLE :

Soweit, ja. Als aber Jahelkas Woche um war (er arbeitet nämlich auf Wochenlohn), wurde er ohne weiteres entlassen. DOEFE :

J a aber weshalb denn? HELLE :

Das wußte er zuerst auch nicht. Man brauchte erst alle möglichen Vorwände, bis man ihm endlich geradeheraus sagte, daß er einer Versammlung der Shop-Organisation präsidiert und überhaupt die Arbeiter zum Ausharren ermahnt habe. Also mußte er fort. Bleibt aber dabei immer ein „freier" Arbeiter.

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DOEFE:

Höre, Helle, von der Seite habe ich mir die Geschichte noch gar nicht überlegt.sa tadej eine reine Schande! HELLE:

Wirklich? KomQoiis udulich zur Erkenntnis? Siehst du endlich ein, daß es keine Freiheit gibt, weder in der Politik noch selbst im gewöhnlichen Leben, solange man mit seiner ganzen Existenz auf Gnade und Ungnade von einem „Herrn" oder „Boß" abhängt? DOEFE:

Wie aber das ändern? HELLE :

Zusammenhalten! Das ist die Hauptsache. Organisieren, trotz Tod und Teufel. Einzeln sind wir ohnmächtig, vereinigt können wir schon viel ausrichten. DOEFE:

Sage mir, Helle, du hast für alles so gute Gründe und weißt alles so geschickt auszulegen. Woher hast du das nur? HELLE :

Ja, du „freier" Mann, da kommst du nie hin, das ist dir verboten! DOEFE :

Wie meinst du denn? HELLE:

Na, du darfst ja doch nichts Vernünftiges lesen. — DOEFE :

Ach so! Höre mal, Helle, weißt du, was morgen früh meine erste Arbeit ist? HELLE :

Na, und? DOEFE :

Die „N. Y . Volkszeitung" zu bestellen. HELLE :

Ist das ein Wort? DOEFE :

Gewiß. HELLE :

Trotz Boß und Vormann? DOEFE:

Trotz Boß und Vormann! HELLE :

Doefe, braver Junge, wenn du das tust, kannst du noch auf deine 95

alten Tage denken lernen und dann das werden, was du dir bisher einbildetest zu sein. DOEFE :

Nämlich? HELLE:

Ein freier Mannl

Revolution und Sozialismus

Jakob Franz Der Menschheitsfrühling Text zu einem Massenchor SOLO u n d HALBCHOR :

Es bricht des Winters starre Macht, Der Frühling, er sieget im Lande, Vertreibt des Stillstands kalte Nacht, Entledigt Natur ihrer Bande. G A N Z E R CHOR :

Hurra! Der Lenz, er kommt und siegt, Der Winter muß fort, unser Feind unterliegt! HALBCHOR:

O Menschheitsfrühling, du durchdringst So ganz unser Sinnen und Denken, Und unsere Herzen du umschlingst. Du wirst auch zum Kampfe uns lenken! Wacht auf! Es ruft der Freiheit Wort, Schon hallt allgewaltig es wider, Der Sozialismus schreitet fort, Ihm singet begeisterte Lieder! GANZER CHOR:

Hurra! Der Freiheit Ruf so hell In feurigen Klängen ertönt zum Appell! HALBCHOR:

Das Licht durchbricht der Knechtschaft Wahn, Es kündet uns bessere Zeiten, Dem Fortschritt öffnet sich die Bahn, Der Menschheit ein Heim zu bereiten — Ein Heim, wo jeder Mensch darf sein, Geschützt durch der Gleichheit Obwalten, Und Liebeszauber allgemein Wird edelste Triebe entfalten.

GANZER CHOR :

Hurra! Des Lichtes wonn'ger Quell, In jubelnden Tönen, er ruft zum Appell! HALBCHOR:

Ja, Menschheitsfrühling, sei gegrüßt, Du kommst! Ja, wir hören dein Wehen Im Wettersturm, o sei gegrüßt, Du kommst und es wird geschehen: Du brichst des Winters starre Nacht, Du kommst und zerstörst unsre Bande, Es weicht des Stillstands kalte Nacht, Es tagt, ja es tagt jedem Lande. GANZER CHOR:

Hurra! Im Sturm dein Aufgebot, Wir hören es, sei es zu Kampf und Tod! SOLO u n d HALBCHOR:

Der Selbstsucht Eis allmählich bricht, Schon murmelt die Quelle im Hain, O Rosenduft, o Sonnenlicht, O Frühling, o kehr bei uns ein! GANZER CHOR:

Hurra! Du Menschheitsfrühling schnell Zum Kampf für die Freiheit, o ruf zum Appell!

Carl Derossi Der Sozialisten Siegeszug Zusammengeschmiedet mit geistigem Band, Nicht wankend und beugend, gleich eherner Wand, So stehet im Kampfe das kernige Heer. Wohl stark ist der Feind und stark seine Wehr, Wohl stehen die Massen ihm noch zu Gebot, Trotz aller Misere, trotz Elend und Not: Doch schrecket das jene vom Streit nicht zurück, Sie schreiten ins Feld mit erhobenem Blick. Sie wissen das End' ja des heiligen Kriegs, Sie sind sich bewußt ja des endlichen Siegs, Den der Geschichte gebietendes Muß Verkündet als unbedingt geltenden Schluß. 98

Der Menschheit Streben Geht dahin seit alter Zeit, Das ganze Erdenleben Zu befrein von allem Leid. All das, was je das Volk bewegt. Ihm in der Brust gehallt, Es stets gehegt, sein Herz erregt: Dem schönen Ziel es galt. Die großen Geister aller Zeit, Aus aller Völker Reih'n, Sie standen stets im hehren Streit Für dieses Streben ein! So schritt die Menschheit stets voran, Obwohl es scheinen mag, Daß dann und wann ein dunkler Bann Auf ihrem langen Wege lag. So streben sie weiter für Wahrheit und Recht, Die mutigen Kämpfer fürs Menschengeschlecht. Möge der Sieg auch erscheinen noch weit, Und möge noch mancher erliegen im Streit, Doch sicher wird kommen der herrliche Tag, Der endet das Leiden, die Sorge, die Plag'! Das stärkt sie im Kampfe, das hält sie zuhauf, Das spornet sie stetig im siegenden Lauf. Und wie einst verschwunden der Sklaverei Schmach, So folget die heutige Knechtschaft ihr nach!

Emilie Hofmann

Illusionen und Ideale Hätt' ich die Macht, da wollte ich Gar schnell kommunisieren: Das erste was ich tät', das wär'. Die Freiheit einzuführen! Denn „Freiheit", ach, wie süß bist du, Das höchste Gut auf Erden! Und nur durch Freiheit wird der Mensch Erst recht veredelt werden.

Die Dummheit und die Finsternis, Die würd' ich unterdrücken, Doch Kunst und Wissenschaft sollt' dann Das ganze Volk beglücken! Die schwere Arbeit sollte nur, Wer stark genug, verrichten, Den Schwachen, Alten würde ich Ein trautes Heim einrichten. Der Reichtum in und auf der Erd' Wird allen dann gehören, Das Monopol, die Wucherei Sollt' sich zum Kuckuck scheren! Auch Zwangsgesetz' und Kriegsarmeen, Die würden aufgehoben, Erzeugen stets nur Schein und Trug, Kriegsmörder tut man loben! Wer jetzt die Wahrheit lehrt, der wird Verhöhnt, sogar verachtet! J a , Neid und» Rachsucht oftmals gar Ihm nach dem Leben trachtet! Man faselt von Prosperität In diesem frommen Lande, Doch mancher darbt und siecht dahin, Stirbt Hungers, 's ist 'ne Schande! Auch rühmt man dieses freie Land Ob seiner freien Presse, Doch schießt man arme Streiker tot, Was nützt da „freie" Presse! Auch existiert ein Zwangsgesetz Scharf gegen „wilde" Ehe: Doch wie steht's mit der „zahmen" oft? Gar mancher ruft da: „Wehe"! Doch wo im Eh'stand Liebe wohnt Und Treu' auf beiden Seiten, Da herrscht die schönste Harmonie, Teilt gern man Freud und Leiden!

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Drum merke dir's, du kleinlich Herz, Man nennt das „freie Liebe", Wenn Mann und Frau sich zwanglos liebt, Sind das nicht edle Triebe?! O süße Freiheit, wann wirst du Das arme Volk begrüßen? Doch nicht verzagt! Nicht lang mehr währt's. Die Saat beginnt zu sprießen!

Sergius Schewitsch 30. April 2882 Den Gründern des ersten „Heimes der Arbeit" gewidmet Heute bin ich früher aufgewacht wie sonst, weil ich das InlandTelefon klingeln hörte, ein Zeichen, daß eine besonders interessante Nachricht eingetroffen sei. Ich ergriff das neben meinem Bette hängende Hörrohr, welches mit dem Zentralbüro der Inland-Nachrichten in Verbindung steht, und vernahm folgendes : „Die Vereinigten Altertumsforscher haben auf dem Ausgrabungsplatz der alten Williamsburg-Kommune einen hochwichtigen Fund gemacht: Das Fundament eines Gebäudes, das wohl tausend Jahre alt sein mag, ist bloßgelegt und unter demselben wohlerhaltene Reliquien aus der Zeit der ersten Anfänge unserer Kultur gefunden worden. Dieselben werden heute nachmittag in der Wissenschaftshalle der Kommune Williamsburg ausgestellt und den Besuchern von Mitgliedern der Forschungsassoziation erklärt werden." Diese Nachricht interessierte mich lebhaft. Jene Zeiten, auf die wir heute mit solchem Grauen zurückblicken, da die ganze Menschheit, in einer Art Wahnsinn befangen, in gegenseitiger Zerstörung und Vernichtung ihren Lebenszweck erblickte, beschäftigten immer lebhaft meine Phantasie. Ich beschloß also, nachmittags mich in die Wissenschaftshalle zu begeben. Viele der Freunde, mit denen ich im Laufe des Tages in unserem Arbeitspalast e zusammentraf, schlössen sich mir an, und so war es dann eine recht stattliche Gesellschaft von Männern und Frauen, 101

die nachmittags in unserem großen, elektrischen Luftschiffe zusammentraf. Es war ein prachtvoller Tag, und wir ließen unser Fahrzeug hoch aufsteigen, um die wunderbare Aussicht auf die Umgebung und den Hafen zu genießen. In zart grünem Frühlingsschmucke lag die Manhattan-Insel tief unter uns. Aus dem jungen Laube erhoben sich die leicht und duftig emporstrebenden oder gewaltig, majestätisch sich auftürmenden Arbeitspaläste und Wohnstätten, weiterhin dehnte sich in ungetrübter Pracht der Ozean aus. Indem ich dieses herrliche Schauspiel genoß, versetzte ich mich unwillkürlich in jene dunklen Zeiten, deren Erforschung unser heutiger Ausflug gewidmet war. Wie verunstaltet, wie abstoßend muß diese selbe Landschaft ausgesehen haben, als da unten sich eine jener primitiven Ansiedlungen befand, welche man dazumal „Stadt" nannte! Eine formlose, schwarze Masse von übereinandergeschichteten, dunklen, schlechtventilierten Zellen, in welche die Menschen in unbegreiflichem Wahne sich selbst einsperrten, um ihr ganzes Leben an den verrücktesten Arbeiten, die weder ihnen noch der Mehrzahl anderer zugute kamen, aufzureiben und zu verschwenden! Bald waren wir an Ort und Stelle. Die Wissenschaftshalle war schon recht wohl gefüllt. Das Orchester der „Tonfreunde" ergötzte die Wartenden mit herrlichen Vorträgen. Da der Tag dem Altertum geweiht war, so wurde auch das einzige Werk aus jenen Zeiten vorgetragen, das sich bis heute in der Überlieferung erhalten: das als „Neunte Symphonie" von Beethoven bekannte Tongemälde. Es war in der Tat ein unsterblicher Geist, der dieses herrliche Werk geschaffen! Wäre es ihm doch vergönnt gewesen, seine Schöpfung so zu hören, wie wir jetzt mit unseren musikalischen Mitteln imstande sind, sie aufzuführen. Nach Schluß des Konzertes erschien unser Freund Meyer von den „Vereinigten Altertumsforschern" auf der Rednerbühne und sprach wie folgendes: „Meine Freunde! Der Fund, den wir heute gemacht, ist für unsere Geschichtsforschung von der höchsten Wichtigkeit, vor allem deshalb, weil er die ersten Anfänge jener Kulturperiode betrifft, in der wir heute leben. Die Gegenstände, die wir heute ausgegraben, stammen aus jenen dunklen Zeiten, da die Menschheit noch in Völker- und Sprachgruppen, die sich gegenseitig befeindeten, geteilt war. Die Mittel der Bildung und des Gedankenaustausches befanden sich noch in ihrer Kindheit und beschränkten sich auf 102

die Erzeugnisse jener schwerfälligen Maschinen, die man Dampfdruckerpressen nannte. Die große Masse der Völker versank in eine so bodenlose Barbarei, daß sie sich ruhig gefallen ließ, für ein paar Nichtstuer ihr und ihrer Familien Leben zu opfern. Sooft eine Gruppe von Arbeitern einen nützlichen Gegenstand geschaffen, kam einer jener faulenzenden Räuber und sagte: ,Das Ding ist mein!' Das nannte man dazumal — Eigentumsrecht. (Allgemeines Gelächter.) Noch schwerer wird es für Sie sein, sich vorzustellen, daß auch das Land, die Gebäude und jene primitiven Verkehrsmittel, die, mit Dampf getrieben, Eisenbahnen genannt wurden, auch sogenanntes „Privateigentum", d. h. der Gesamtheit gestohlen waren. Endlich kam es so weit, daß unser ganzer Kontinent mit allem, was auf demselben produziert wurde, einigen wenigen Räubern gehörte. Einige Namen dieser großen Räuber sind Ihnen gewiß bekannt; ich erwähne nur J a y Gould, Tom Scott, Jesse James, Wm. Vanderbilt, Villard usw. Aus dieser dunklen Zeit ist es uns nun gelungen, einige authentische Dokumente zu bekommen. Während der Ausgrabungen, die wir auf dem Platze betreiben, wo das alte Dorf Williamsburg, das unserer Kommune ihren Namen gegeben, einst gestanden, sind wir auf das Fundament eines Gebäudes gestoßen, das ich sofort als eine aus der Zeit vor der großen Wiedergeburt stammende Ruine identifizierte. Unter einem der Steine, den unsere elektrische Schaufel aus seinem Platze gehoben hatte, fanden wir einen hermetisch verschlossenen, wohlerhaltenen Bleikasten und in demselben ein Bündel vergilbter, verwitterter Papiere, die, sobald sie mit der Luft in Berührung kamen, in Staub zerfallen wären, wenn wir nicht sofort Fixierungsmittel angewandt hätten. So ist es uns'gelungen, die meisten der aufgefundenen Dokumente zu entziffern. Fast alle sind in jener eigentümlichen Hakenschrift abgefaßt, deren sich damals die Deutschen oder Germanen bedienten — derselbe Völkerstamm, der eben zu der Zeit drüben auf dem europäischen Kontinente unter dem Joche der beiden Ihnen gewiß aus der Geschichte bekannten großen Verbrecher Wilhelm Hohenzollern und Otto Bismarck schmachtete. Dieses Joch war so schwer, daß selbst die Deutschen, die ja in der Weltgeschichte als die geduldigste Nation, die je gelebt, bekannt sind, es nicht aushalten konnten und die Masse nach Amerika auswanderten. Für sie waren selbst die barbarischen Räuberzustände, die dazumal hier herrschten, im Vergleich zu dem, was sie unter der Herrschaft ihrer Nationalverbrecher zu erdulden hatten, ein Paradies.

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Von diesen Ausgewanderten stammen nun auch die von uns heute aufgefundenen Schriftstücke. Aus dem Inhalte derselben geht hervor, daß sie in den Grundstein eines Gebäudes eingemauert worden, welches von den Arbeitern Williamsburgs für Zwecke der Aufklärung erbaut wurde und ihnen selbst gehörte. Das war dazumal etwas Unerhörtes. Lachen Sie nicht, meine Freunde! Jetzt freilich können Sie mich fragen, wem sollte denn ein solches Gebäude gehören? Und was heißt denn überhaupt — Arbeiter? Ist denn nicht jeder Mensch ein Arbeiter und jeder Arbeiter ein Mensch? — Aber damals standen die Dinge anders. Vergessen Sie nicht, daß angesichts dieser vergilbten, blassen Papiergespenster aus längst vergangenen Zeiten eine Periode der Weltgeschichte vor uns tritt, in der all die einfachen sittlichen, politischen und ökonomischen Wahrheiten, die für uns längst selbstverständlich sind, im wirklichen Leben so gut wir gar nicht anerkannt wurden. Die Macht lag in Händen der Eigentumsräuber, welche es verstanden, die Masse entweder mit Gewalt oder durch hinterlistige Vorspiegelung sich dienstbar zu machen. Zu der Zeit gab es nur wenige unter den Ausgebeuteten, in deren Köpfen wenigstens ein schwacher Abglanz der Zustände, die wir jetzt genießen, dämmerte, in deren Herzen ein edles Feuer der Liebe zur Menschheit brannte. Was jetzt vor uns liegt — sind Reliquien von jener kleinen Schar Vorkämpfer unserer Weltordnung. Was ist aus ihnen geworden? Wir wissen es nicht! Wahrscheinlich untergegangen sind sie, entweder im blutigen Kampfe mit ihren Unterdrückern oder im langwierigen, aufreibenden Streite mit Verleumdung und Haß der Mächtigen, mit dem Unverstand ihrer eigenen Leidensgenossen, mit dem Elend — jenem Ungeheuer, von dem wir heute kaum den blassen Schatten noch unter uns haben. Sie sind untergegangen, ihre Namen sind vergessen; aber wie aus ihren unbekannten Gräbern unter den Strahlen der Frühlingssonne frisches, üppiges Gras, duftreiche Blumen emporschießen, so sind auch die Samen einer lichteren Zukunft, die sie und ihre Genossen damals ausgestreut, nicht auf dürren Boden gefallen. Seht euch um in dieser unserer prächtigen Wissenschaftshalle, seht euch einander an: Kräftige, von Gesundheit und Glück leuchtende Gestalten! Nun, in diesem Häufchen bestaubter, kaum noch zu entziffernder Dokumente birgt sich ein Teil von jener Kraft, die damals, noch in ihrem ersten Entstehen begriffen, kaum hier und da wie ein Irrlicht, wie ein elektrischer Funken aufleuchtete, die jetzt aber allge104

waltig und allbeglückend herrscht über unsere ganze, schöne, herrliche Welt, die Kraft der vereinten Arbeit!" „Ich werde dafür Sorge tragen", fuhr der Vortragende fort, „daß diese Dokumente von unserer Genossenschaft sofort in die Weltsprache übertragen werden, um dieselben Ihnen allen zugänglich zu machen." Bei diesen Worten nahm er eines der Blätter in die Hand und betrachtete es genau. „Was sehe ich!" rief er plötzlich verwundert aus. „Da steht das Datum des Tages, an dem der Grundstein zu dem Gebäude, dessen Reste wir heute ausgegraben, gelegt wurde: der 30. April 1882. Also heute sind es genau tausend Jahre her! Seltsame Fügung des Schicksals! Nun, diesen Zufall wollen wir nicht unberücksichtigt lassen. Da uns heute Kunde geworden von einer kleinen Schar jener Männer, die damals schon aus geistigem Dunkel und materiellem Elend durch Blut und Leiden emporstrebten zu einer menschenwürdigen Zukunft, so wollen wir denn, ihrer gedenkend, alle jene Vorkämpfer ehren, die mit ihrem Untergang den Grundstein zu unserem Glücke gelegt!" „Brüder! Ich grüße euch durch alle Zeiten!" Tief erschüttert, schweigend, erhob sich unsere Versammlung. Das Orchester stimmte das „Bundeslied" an, unser mächtiger Chor fiel dröhnend ein, und majestätisch stiegen die gewaltigen Töne empor zur Kuppel und strömten durch die offenen Fenster in die lachende, den Abendsonnenschein erglänzende Frühlingslandschaft hinaus. Hier bricht das Fragment aus dem Tagebuche des Weltbürgers von 2882 plötzlich ab. Ich habe es aus der Weltsprache, so gut es ging, „in unser geliebtes Deutsch" übertragen. Möge der Leser nicht überlegen lächeln ob dieser „verrückten Phantasie", wohl eingedenk, daß es nichts Wahrscheinlicheres gibt als das Unmögliche.

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Poore, Anthologie

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Alexander Jonas

Der Teilungstag Eine Idylle aus dem Zukunftsstaat, wie Philisterlein ihn sich ausmalt. Zur Warnung für Kommunisten und solche, die es werden wollen. „Juchhe! Heute ist Teilungstag!" rief Serie V I I I , No. 1 0 1 5 , jubelnd aus, indem er Serie X I V , No. 23, welcher eben damit beschäftigt war, sich die Sonne ins offene Maul scheinen zu lassen, auf die schmutzigen Schultern schlug. In dem von den Kommunisten erstrebten Zukunftsstaat tragen nämlich die Menschen keine Namen mehr, sondern werden der besseren Ubersicht halber in Serien eingeteilt und numeriert. „Es ist aber auch Zeit", gähnte Serie X I V , No. 23, „ich habe schon seit Donnerstag keinen Fetzen Anweisung auf Arbeitsprodukte mehr in der Tasche. Der Teilungstag sollte zweimal wöchentlich stattfinden. Denn, wie es heute ist, da ist die Ungleichheit schon in der Mitte der Woche zu groß. Wo bleibt da das Prinzip der absoluten Gleichheit?" „Hast recht, Mitmensch!" erwiderte Serie VIII, No. 1015, „wir können ja auf dem nächsten Menschheits-Kongreß einen darauf bezüglichen Antrag stellen." Unter diesen und ähnlichen Redensarten streichten beide einem großen, von Kolonnaden umgebenen Platz zu, an dessen einer Seite sich eine gewaltige Granit-Tribüne erhob, auf welcher wohl an fünfzig Personen Platz hatten. Von allen Seiten strömten die Menschen herbei, Männer und Frauen. Die einen sahen von der Arbeit erschöpft aus, während man den anderen das Nichtstun und Schlemmen auf dem Gesicht ansah. Aber diese letzteren waren gerade die Lautesten, sie jubelten und schrien und sangen sogenannte Gleichheits-Lieder. Die Schlemmer und Nichtstuer waren offenbar in der Mehrzahl; daher auch ihr übermütiges Betragen, weil sie sich bewußt waren, alles was sie wünschten, durchsetzen zu können. Als der gewaltige Platz fast gefüllt war, wurde ein Zeichen mit einer Glocke gegeben, und tiefe Stille trat ein. Darauf bestiegen etwa fünfzehn Männer und ebenso viele Frauen, alle ganz gleich106

mäßig gekleidet, die Tribüne. Diese Frauen und Männer repräsentierten den Zentral-Weisheits-Rat, welcher alle Information über alle irgendwie denkbaren Gegenstände und Zustände erhielt, die er dann dem Volke vorzulegen hatte, welches seinerseits die Entscheidung darüber traf, was in dieser oder jener Angelegenheit zu tun und wie dieser oder jener Fall zu behandeln sei. Heute, am allgemeinen Teilungstag, welcher wöchentlich einmal stattfand, handelte es sich um Angabe der Quantität und Qualität der Produkte, welche in der abgelaufenen Woche fabriziert waren und wofür nun Anweisungen unter die Anwesenden zur Verteilung kommen sollten. Denn bei den Kommunisten ist es Grundsatz, daß von den produzierten Gütern jeder oder jede einen gleichmäßigen Anteil erhalten, ohne Rücksicht darauf, ob er oder sie gut oder schlecht, lange oder kurze Zeit gearbeitet haben. Nur müssen die , welche gar nicht oder nur sehr kurze Zeit oder schlecht gearbeitet haben, dafür einen Grund angeben, welcher, sozusagen, die mangelhafte oder ganz fehlende Arbeit ersetzt; wie wir das später an einzelnen Beispielen sehen werden. Die dreißig weiblichen und männlichen Mitglieder des ZentralWeisheits-Rates begannen nun die Verkündigung des Arbeitsresultates. Die Kommunisten haben die Einrichtung getroffen, daß in öffentlichen Versammlungen niemals einer allein sprechen darf ¡ vielmehr muß er mindestens noch vier Mitmenschen finden, welche mit ihm in allen oder doch in den weitaus meisten Punkten übereinstimmen. Diese fünf bilden dann eine Gruppe, welche alles, was sie sagen will, sich vorher besprechen und dann gemeinsam aussagen muß. Allerdings macht das einige Schwierigkeiten und Umstände. Aber die Kommunisten wollen dadurch verhindern, daß ein einzelner, z. B. ein sehr guter Redner, über die anderen ein Übergewicht und allmählich ungehörigen Einfluß gewinne und damit und durch seinen persönlichen Ehrgeiz, der dadurch notwendigerweise aufgestachelt werden muß, dem kommunistischen Gemeinwesen gefährlich werden könne. Was nun gar den Zentral-Weisheits-Rat betrifft, der ohnedies schon viel zu prominent ist, um nicht das allgemeine Mißtrauen hervorzurufen, so müssen von demselben stets mindestens zehn Personen zusammen sprechen; außerdem ist übrigens die Einrichtung getroffen, daß niemand länger als ein Jahr Mitglied desselben sein darf. Heute nun also wurde der Bericht über die in der soeben abgelaufenen Woche stattgehabte Produktion von den Zentral-Weisheits-Räten in drei gleichen Abteilungen von je zehn 107

Mitgliedern, die sich abwechselten, laut verlesen, was etwa den Eindruck machte wie das Sprechen der Chöre in der altgriechischen Tragödie, wovon uns auch Schiller in seiner „Braut von Messina" ein Beispiel gibt. Nachdem der Bericht vollständig verlesen worden war, stellte sich heraus, daß von den zehntausend Menschen etwa dreitausend je acht Stunden täglich gearbeitet hatten, zweitausend nur sechs Stunden und von den übrigen fünftausend jeder nur vier Stunden und noch weniger, etwa tausend überhaupt gar nicht. Um nun einen Ausgleich hervorzubringen, mußten die verschiedenen Wenig- oder Nicht-Arbeiter angeben, wodurch sie die mangelnde oder schlechte Arbeit ersetzt resp. welche Entschuldigung sie dafür beizubringen hatten. Da war nun eine ganze Anzahl von Gruppen, welche sich als mehr oder minder krank meldeten, andere wieder, welche erklärten, daß sie sich zur Arbeit nicht aufgelegt gefühlt hätten und daß es unnatürlich, der individuellen Freiheit entgegen und der kommunistischen Gesellschaft, welche sich nach so vielen Kämpfen endlich konstituiert habe, unwürdig gewesen wäre, wenn sie sich einen Zwang hätten auferlegen wollen. Die meisten Gruppen aber erklärten, daß sie über eine große Idee nachgedacht hätten, wie der Menschheit die Arbeit fast ganz erspart werden könnte, und mit diesem Nachdenken hätte sich eine weitere körperliche Arbeit nicht vertragen; sie würden dadurch in ihrer geistigen Tätigkeit für das Heil der Menschheit gestört worden sein. Alle diese Erklärungen und Entschuldigungen wurden als stichhaltig entgegengenommen und alle Einwendungen dagegen, welche von den Gruppen, die acht oder sechs Stunden gearbeitet hatten, gemacht wurden, mit großer Majorität zurückgewiesen. Was nun die fehlerhafte oder ganz verpfuschte Arbeit betraf, so wurde diese, wie schon seit Bestehen der kommunistischen Gesellschaft geschehen, der mangelnden Geschicklichkeit oder sonstigen Naturfehlern, für welche niemand verantwortlich gehalten werden könne, zugeschrieben, was also keinen Grund abgeben könne, an dem allgemeinen Arbeitsresultat in gleichmäßiger Weise teilzunehmen. Und so wurde denn in feierlicherWeise verkündet, daß auch diesmal eine allgemeine gleichmäßige Verteilung stattfinden werde, was denn auch sogleich unter großem Jubel der nichtstuerischen Majorität in Szene gesetzt wurde. Nunmehr waren etwaige Klagen an der Tagesordnung. Da meldeten sich zunächst mehrere Lehrergruppen, welche er-

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klärten, daß es ihnen trotz aller Anstrengung nicht gelungen sei, den Kindern von gleichem Alter eine gleichmäßige Quantität von Wissen und Erkennen beizubringen. Immer noch gäbe es eine ganze Anzahl, welche über das Maß hinausstrebte und wirklich nach einiger Zeit die übrigen in jeder Richtung hin weit überragte. Es sei dies offenbar noch ein Überbleibsel der ehemaligen individualistischen Gesellschaft, welches aber in irgendeiner Weise ausgerottet werden müßte, wenn nicht die Grundlage der kommunistischen Gesellschaft aufs höchste gefährdet werden solle. Darauf erhob sich eine Sektion des Zentral-Weisheits-Rates und erklärte folgendes: Es sei mit Bezug auf diesen Punkt eine große Zahl von Vorschlägen eingehend geprüft worden, und man sei schließlich zu der Überzeugung gekommen, daß nur ein Verfahren, welches direkt die geistigen Kräfte der Zöglinge beeinflusse, von Wirkung sein könne. Und da wollten sie denn das Folgende als das empfehlenswerteste vorschlagen: Es sollten diejenigen Kinder, welche durch ihre Fähigkeiten oder durch ihren antikommunistischen Fleiß die anderen überragten und so eine allzugroße und gefährliche Ungleichheit hervorzurufen geeignet seien, täglich ein bis zwei Stunden weniger Unterricht in den Lehrfächern nehmen, mit welchen sämtliche Kinder beschäftigt wurden; dagegen sollte ihnen in diesen ein bis zwei Stunden solche geistige Nahrung beigebracht werden, welche geeignet sei, den Überwuchs ihrer geistigen Fähigkeiten zu ertöten. Dazu eigne sich am besten das Studium von Schriften aus der alten, kapitalistischen Zeit, und zwar empfehle der Zentral-Weisheits-Rat in dieser Beziehung ganz besonders das fleißige Lesen und laute Hersagen von Stellen aus der „Offenbarung Johannes'", dem „Alten Dresdner Gesangbuch", den „Prophezeiungen des alten Schäfers Thomas" und den Leitartikeln der ehemaligen „New Yorker Staatszeitung". Doch müsse der Zentral-Weisheits-Rat vor einem Übermaß der Anwendung dieser Mittel warnen, da dieselben so drastisch seien, daß bei zu starkem Gebrauch derselben vollständiger Blödsinn eintreten könne. Diese Vorschläge des Zentral-Weisheits-Rates wurden mit Beifall begrüßt und allgemein gutgeheißen. [...] Das nächste Geschäft, welches auf der Tagesordnung stand, betraf den Austausch der Männer und Frauen für die kommende Woche. Ein solcher Austausch fand wöchentlich einmal am Teilungstage statt. Diejenigen Frauen und Männer, welche erklärten, 109

auch weiterhin zusammenleben zu wollen, konnten sofort zurücktreten, vorausgesetzt, daß sie noch nicht länger als ein Jahr zusammengelebt hatten. War dies jedoch der Fall, so durften sie nur dann noch weiter zusammenleben, falls weder die Frau noch der Mann von anderer Seite begehrt wurden. Denn es wird erstens bei den Kommunisten als unnatürlich und krankhaft betrachtet, wenn Mann und Frau länger als ein Jahr zusammenleben, und zweitens ist ein noch engeres Zusammenleben eine offenbare Beeinträchtigung derjenigen, welche an einem Teile der so lange Vereinten — sei es nun an dem Mann oder an der Frau — Gefallen finden und ihre Vereinigung mit denselben anstreben. Diejenigen Paare, welche sich am Teilungstage freiwillig trennten, um sich — ebenso freiwillig — mit andren zu vereinigen, ohne daß mehrere auf sie Anspruch machten, konnten das natürlich ohne weiteres tun. Dagegen mußten diejenigen Männer und Frauen, welche von mehreren zugleich verlangt wurden, sowie diejenigen, welche schon länger als ein Jahr vereinigt lebten, sich folgendem Verfahren unterwerfen. Der Mann oder die Frau, welche vielfache Neigung erregt hatten, wurden unter einen großen Korb gestellt, während alle Bewerber der Reihe nach, mit verbundenen Augen, auf den Korb losmarschierten. Derjenige Bewerber oder diejenige Bewerberin, welche zuerst auf den Korb traf und denselben mit den Armen umfaßte, hatte den Preis gewonnen und konnte, für die kommende Woche wenigstens, mit dem Gegenstand seiner Wünsche zusammenleben. In dieser Weise wurden nun die ehelichen Verhältnisse — wenn man es so nennen kann — für die kommende Woche geregelt, was allerdings eine geraume Zeit in Anspruch nahm, aber doch allgemeines Vergnügen machte, wie denn dieser Teil des Teilungstages stets das allergrößte Interesse in Anspruch nahm. Eine Sektion des Zentral-Weisheits-Rates verkündete jetzt das Resultat der Enquête über das Lager vorrätiger Kinder der verschiedenen Altersklassen, nach Abzug derjenigen Neugeborenen, welche wegen mangelhafter körperlicher Qualität durch einen angenehmen Betäubungsprozeß für immer eingeschlummert und dann, nach entsprechender Präparierung, als Guano A No. l für die Felder, auf denen feine Gemüse und edle Obstarten gezogen werden, verbraucht wurden. Aus der gemachten Enquête ging hervor, daß eine Überproduktion an Kindern stattzufinden drohe, infolgedessen die von der Wissenschaft längst als probat anerkannten Mittel zur einstweiligen 110

Verhinderung der Kinderproduktion anzuwenden empfohlen wurden. Nach Abwicklung dieses letzten Geschäftes schloß der Teilungstag. Unter Absingung ihrer Gleichheitslieder zogen die Massen von Mitmenschen heimwärts oder in die großen öffentlichen Vergnügungsplätze, wo sie Orgien feierten bis in die sinkende Nacht. Dies, mein lieber Sohn, ist eine getreue Schilderung der Zustände, wie sie die Kommunisten mittelst Mord und Brand einzuführen streben. Darum hüte Dich vor ihrer Gemeinschaft und vor dem Gift ihrer Lehren. Vielleicht erzähle ich Dir später mehr davon. Inzwischen bleibe eingedenk der Warnung Deines Vaters und Freundes Philisterlein

Stücke für

Arbeitertheater

Gustav Lyser Kongreß zur Verwirrung der Arbeiterfrage in New York Eine Komödie auf Kosten des Proletariats Personen: Hewitt, Vorsitzender des Untersuchungskomitees, welches die Aufgabe hat, sich blödsinnig zu stellen Greenbackler, die es wirklich sind Kapitalistische Gurgelabschneider Proletarier, welche noch nicht merken, daß sie nur zum Narren gehalten werden Reporter, Geheimpolizisten, Ferkelstecher, prominente Tagediebe, verkafferte Spießer und verspießerte Kaffern, Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten und andere Christen Ort der Handlung: Is nich, da nicht gehandelt, sondern nur geschwätzt wird. Zeit: die kritische Regisseur: Herr Schwindel Theatermeister: sein Bruder

Prolog gesprochen

von HEWITT

Die Herren grüß' ich und die Damen, So alle hier zusammenkamen, Zu hören und sehn, wie wir uns mühen, Daß wieder alle Geschäfte blühen Und jedermann zufrieden ist. Ob Proletar, ob Kapitalist. Schwer liegt uns im Magen heutzutage — Das geb' ich zu — die Arbeiterfrage. Und wer die Frage weiß zu lösen, Erlöset uns von allem Bösen. 112

Bedenklich ist des Knotens Schürzung, Drum heißt es: Keine Überstürzung! Nach Beifall nicht gilts hier zu haschen Und vorschnell gleich den Pelz zu waschen; Zu Ehren komme jede Meinung, Dann tritt auch bald in die Erscheinung Für alle Welt in schöner Klarheit, Was noch verhüllt, das ist die — Wahrheit! Kein falscher Schein uns ferner trüge, Entlarven wollen wir die Lüge Und also fragen laut und klar, Ob folgende Beschwerden wahr: Ob's Menschen gibt, die niemals schaffen Und Schätze doch zusammenraffen? Ob hier im Lande Menschenschinder, Die selbst nicht schonen Weib und Kinder? Ob fleiß'ge Arbeitsmänner darben Und manche schon vor Hunger starben? Ob neben Kirchenheuchelei Prostitution und Gaunerei? Ob durch die Bank die Tagespresse Nur wahrt das Bourgeois-Interesse? Ob, wer hier arm, des Reichen Knecht Und die Gewalt oft geht vor Recht ? Ob Freiheit hier und eitel Wind, In allen Ämtern Schurken sind? Es gilt hier vieles aufzuhellen, Was irgend schädlich, abzustellen, Mit kühnem Geiste gilt's, mit reger Hand Die wahre Freiheit schaffen Volk und Land. Drum nochmals grüß' ich euch, ihr Herrn und Damen, Grüß' euch von Herzen in der Wahrheit Namen! Beifall der Proletarier,

welche mit dieser Rede eingeseift

sind.

PRÄSIDENT :

Wer bittet hier zunächst ums Wort? Ein Arbeiterführer

tritt vor.

ARBEITERFÜHRER :

Wenn niemand sich vor mir gemeldet, So bitte ich, gewährt es mir. PRÄSIDENT :

Dein Name? 113

ARBEITERFÜHRER:

Leuthold Wahr. PRÄSIDENT:

Daß dir die Leute hold, sprich wahr! ARBEITERFÜHRER:

Steigst du auf eines Berges Gipfel Und überschaust die Fluren und die Auen, Wird ob des Anblicks, den du dann genießest, Das Herz dir laut in Himmelswonne schlagen; Und mit dem deutschen Riesengeiste Faust, Den Bayard Taylor herrlich euch erschlossen, Rufst vom Gefühl du überwältigt aus: „Ein Paradies liegt mir zu Füßen!" Ja, ja ein Paradies! — Wie selig könnten sein Die Ebenbilder Gottes, die's bewohnen, Wenn von der Habsucht nicht, wenn nicht von Neid und Zorn Vergiftet würden schon der Kinder Herzen! Doch ach, zu einer Hölle haben Dämonen dieses Paradies gestaltet, Daß von Zehntausenden oft einer kaum Vermag des Lebens wirklich froh zu werden! Der Nachbar trachtet nach des Nachbars Gut, Der Stärkere macht dienstbar sich den Schwachen, Und beide sucht der Schlaue zu betrügen; Was heilig sonst dem Menschenherzen war, Ist alles, alles längst geschwunden. Ja, Spott trifft jeden, der jetzt noch ein Herz Voll heißer Liebe zeigt und kindlichem Vertrauen! — Der faule Bauch ruht auf dem Lotterbett, Verschlemmend, was die fleiß'gen Hände schufen, Die Tugend wird vom Laster rings bedroht, Den Mangel drängt die Not bald zum Verbrechen, Und so schleppt endlich auch die bittre Schuld Den Armen in des Kerkers grause Nacht, Führt ihn aufs Hochgericht, zum Tod der Schande! PRÄSIDENT:

Mein Freund, malt nicht so grell, Nehmt etwas Rücksicht auf die zarten Nerven Der prominenten Damen hier und Herren! ARBEITERFÜHRER :

Schönfärberei kann hier nichts nützen! 114

Wollt von dem Übel Ihr das Land befreien, Dürft nichts verschweigen Ihr und nichts verbergen. PRÄSIDENT:

Nun ja, doch nicht so gradezu Braucht Ihr zu reden vor dem Komitee. Sagt mir, mein Freund, wodurch, glaubt Ihr, Ist diese Krisis wohl gekommen? ARBEITERFÜHRER:

Durch Uberproduktion und durch die Sucht, Mit Börsenspiel sich über Nacht Millionen und Millionen zu ergaunern, Scheinwerte gegen Werte umzusetzen — P R Ä S I D E N T ihn

unterbrechend:

Schein werte! Ei, was pflegt Ihr so zu nennen? ARBEITERFÜHRER:

Hast du von Erz- und Kohlengruben nicht, Von Eisenbahnen nicht und Länderei'n gehört, Auf die man Aktien, weit über ihren Wert, Ausstellen ließ, womit sodann das Volk Die Börsengauner schlau zu prellen wußten, Zu prellen, bis der große Krach erschien? PRÄSIDENT:

Ei freilich, doch Ihr spracht, Irr' ich mich nicht, von Überproduktion? ARBEITERFÜHRER:

Ganz recht, Ihr aber unterbracht Mich in der Rede, als ich just Daran war, klar und deutlich zu beweisen, Daß eine solche jetzt vorhanden ist! PRÄSIDENT:

So, so; fahrt damit fort. ARBEITERFÜHRER :

Man sollte glauben, wenn der Menschengeist Sich dienstbar macht die Kräfte der Natur, Ihm auch mehr Freiheit und Bequemlichkeit Und mehr Annehmlichkeit des Lebens wird zuteil. Doch leider wird durch die Maschinen nicht Bei dem System, das jetzt noch herrschend ist, Die Arbeitszeit zu unserm Wohl verkürzt. Wer löst, fragt Ihr, dies „Rätsel der Natur"? Gesetzt den Fall, es hätten hundert Mann

Vereinigt sich, um irgendein Geschäft Zu gleichem Vorteil und bei gleicher Müh' Nach altem Handwerksbrauche zu betreiben; doch Einer hätte von den hundert Mann das Glück, Daß er erfände, wie die hundert Mann Zustande brächten leicht in einem Tag, Wofür sie sonst sechs Tage wohl gebraucht. Die Folge davon würde sicher sein — Vorausgesetzt, daß die Genossenschaft In unserm Sinne redlich würd' geführt — , Daß jene hundert Mann, die sonst zwölf Stunden lang Im Schweiße täglich sich wohl abgemüht, Jetzt nur des Tags — und zwar bei gleichem Lohn — Zwei Stunden ihre Kräfte setzen ein. Doch anders ist es heut! Je mehr Maschinen wir Bekommen und je mehr die Industrie Den Markt erweitert, desto mehr wird auch Die Arbeitszeit verlängert, nur der Lohn Wird überall dem Armen so verkürzt, Daß er ein förmlich Hundeleben führt. Der Mann vermag nicht, wie in beß'rer Zeit, Ein menschlich Heim zu gründen, Weib und Kind Von seinem Lohn zu nähren und zu kleiden. Nein, Das Weib auch schafft für andere um Geld, Das Kind muß, gleich den Eltern, schaffen gehn, Um sich das karge Brot nur zu erwerben. Tritt, Wie das oft in letzter Zeit geschehen, Noch eine Krisis ein, dann können Weib und Kind, Dann kann der Mann am trocknen Brote kauen, bis Auch dieses fehlt und Hunger nur ihr Teil. Das kommt — PRÄSIDENT ihn unterbrechend:

Mein Freund, nicht länger dulden kann ich, daß Ihr mir Nur grau in grau hier malt! Wer sollte jetzt im freien Lande wohl Durch ein Gesetz besonders strenger Art Bestimmen jedermann die Arbeitszeit? Schnellfertig sagt vielleicht Ihr: „Der Kongreß!" Doch der Kongreß, mein Freund, hat nicht die Macht, Dies zu bewirken, darum sag' ich Euch: Sinnt auf ein ander Mittel, um die Zeit, 116

Die unerträglich Euch erscheinen mag, Erträglicher für alle zu gestalten. ARBEITERFÜHRER :

So seid ihr Herrn! Beständig wohl verdammt ihr die Gewalt, Verweisend uns auf des Gesetzes Wege; Doch zeigen wir, wie durch Gesetz Die Not, das Elend aus der Welt zu schaffen, Dann jammert ihr: „Wir haben keine Macht!" Nun sagt: Habt ihr denn nicht die Macht, Wenn euer Geldsack jemals scheint bedroht, Die Hungernden wie Hunde zu erschießen? Habt ihr nicht oft schon das Versammlungsrecht, Das uns durch die Verfassung längst gewährt, Mißachtet und das Volk, Das unbewaffnet auf dem Platz erschien, Mit blut'gen Köpfen wieder heimgeschickt? Werft ihr den Armen, der aus Hunger stiehlt, Ins Zuchthaus nicht und laßt den reichen Schuft, Der um Millionen Tausende betrügt. Als Volksvertreter im Kongreß sich brüsten? Geht, geht, nur eitel Heuchelei Sind eure Reden hier — und nur zum Schein Und in der Hoffnung, uns vor aller Welt Als Schwindler an den Pranger leicht zu stellen, Habt dieses Possenspiel ihr arrangiert. Doch nur Geduld! Der Posse wird, glaubt mir, ein Drama folgen, Ein Drama mit Gefechten, Blut und Leichen, Wie unser Welttheater es Seit hundert Jahren nicht gesehn! Gar kläglich, glaubt mir, wird die Rolle sein, Die ihr dann spielen müßt; es wird Bei eurem Abgang überall Im Publikum gepfiffen werden! Gar treffend schon ein deutscher Dichter sagt: „Es lebt ein Gott, zu strafen und zu rächen!" Euch trifft die Rache, sicher trifft sie euch. Denn wißt: Im Leben ist und wird noch lange bleiben Die Dummheit das strafwürdigste Verbrechen! Der Kongreß

wird schleunigst

vertagt. PRÄSIDENT Hewitt guckt

so

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dumm in einen Spiegel, daß derselbe blau anläuft. Verschiedene Fachpolitiker und Ferkelstecher melden sich für die Wiedereröffnung der Sitzung zum Worte. Eine Kapital-Hyäne, welche für das Zustandekommen der Komödie tätig war, seufzt: „O unglückseliges Flötenspiel, das mir nie hätte einfallen sollen!"

Ludwig A. Geißler Allegorisches Weihnachtsfestspiel Aufgeführt bei der Weihnachtsfeier der Sozialisten von New Orleans Personen: Labor, ein kümmerlich aussehender Arbeiter Misera, ein elend aussehendes Weib Sapiens, der für das Volk wirkende Gelehrte Volksgeist, mit roter phrygischer Mütze, roter Schärpe, usw. Im Hintergrund der Weihnachtsbaum. Verschiebbares Gebüsch. musik und Schlürfen der Tanzenden hinter der Szene. LABOR tritt erschöpft links:

aus dem Gebüsch,

wirft sich

auf

Tanz-

den Sitz

Das Tagwerk ist vollbracht, die matten Hände sinken, Schon längst verglomm des Abendrotes Schein. Vom Himmel liebeleer die kalten Sterne blinken, Und kalte Luft dringt schneidend durchs Gebein. Indes des Vaters harrt mit heißem Sehnen Mein Weib und Kind im kalten Kämmerlein. Für hartes Brot, gewürzt mit salz'gen Tränen, Ist all dies Mühen nur, jahraus, jahrein. Mein Lohn im Alter ist der Bettelstab, Die einz'ge Hoffnung — Ruhe einst im Grab. MISERA tritt aus dem Gebüsch, rechts:

wirft sich

ermattet auf

Ich klopf an jede Tür, und niemand zeigt Erbarmen, Kein Herz, das liebevoll mir Labung bot! 118

den

Sitz

Mein Mann, der Brot erwarb mit kräft'gen Armen, Mein Mann — und ach! — mein armes Kind ist tot. Erfleh' vergebens Lindrung meiner Not. Man beut mir reichlich Hohn und schnöde Worte, Doch kärglich nur ein Stückchen trocknes Brot. LABOR ihr ein Stück Brot reichend:

Nimm, armes Weib, was ich entbehren kann! MLSERA das Brot gierig

entgegennehmend:

Habt Dank! Der Arme nur nimmt sich des Armen an. SAPIENS tritt aus dem Gebüsch, geht sprechend an Misera vorüber und stellt sich etwas weiter nach rechts und nach vorne auf:

Da seid ihr ja, da sitzt ihr ja! In aller Nacktheit seid ihr da! Die Arbeit und die Not, fürwahr, Ein stets vereint' Geschwisterpaar! Auch der Gelehrte stellt sich ein, Denn will er euch zu Diensten sein, Holt er herab das Himmelslicht, Zeigt er den Weg, der Ketten bricht, Muß er in euren Reihen stehn, Muß hungern gehn, muß betteln gehn. Sein Los ist Kampf und Müh und Not, Haß und Verfolgung, Kerker, Tod. Doch beugt er vor Gott Mammon sich, Ist ihm zu Dienst demütiglich, Beweist dem armen Manne fein, Mühen und Not, das müßt' so sein, Wär' sein ihm auferlegtes Teil, Entbehrung wär' sein größtes Heil, Dann ist er üb'rall gern gesehn Und kann in Samt und Seide gehn, Man wirft ihm Gaben in den Schoß, Und heiter ist sein Erdenlos. Hört ihr dort in des Reichen Haus Den Jubel und den Saus und Braus? Sie feiern dort das Weihnachtsfest Mit Schweiß, den Armen abgepreßt. Dort strömt der Wein und dringt ins Blut Und treibt zu tollem Übermut. Es fliegt der Puls, das Herz wird warm, Wie wohlig ist's in Liebchens Arm! 119

Für sie des Lebens Glanz und Pracht, Für uns des Elends düstre Nacht. LABOR

düster

Für sie das Glück, für uns die Not. MISERA:

Für sie die Freude, uns der Tod. Die Tanzmusik

hört auf.

Chorgesang hinter der Szene:

O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! Welt ging verloren, Christ ward geboren, freue dich, o Christenheit! MISERA:

O süßer Klang, der meine Kindheitsträume Mir wieder vor die düstre Seele bringt! Berauscht vom Lichterglanz der Weihnachtsbäume Ein fromm Gebet sich auf zum Himmel ringt. Erinnerung steigt lächelnd auf mich nieder. Und Hoffnung naht beim Klange dieser Lieder. LABOR:

Ja, Hoffnung naht. Ein Kindlein ward geboren In dieser Nacht, zum Heiland ward's der Welt. In Not und Mühen sind wir nicht verloren. Solang das Herz nur fest am Glauben hält. Noch bleibt uns ja die tröstliche Verheißung; Drum töne laut des Christuskinds Lobpreisung! SAPIENS:

Betörtes Volk! Seit achtzehnhundert Jahren Entschädigt's ein Phantom für Müh und Pein. Der Arbeitssöhne ungezählte Scharen, Sie schrien um Brot, die Gabe war ein Stein. Falsch und erlogen war die Prophezeiung. Vergebens harrt das Volk noch auf Befreiung. Der euch vertröstet auf ein künftig Leben, Kann der Erlöser dieser Welt nicht sein. Hier leiden wir; drum laßt mit ernstem Streben All unsre Kräfte dieser Welt uns weihn! Wo ist der Held, zum Retter uns erkoren? Wann wird der wahre Heiland uns geboren? Rotes, bengalisches

Feuer.

VOLKSGEIST tritt aus dem Gebüsch Misera 120

stehen:

und

bleibt zwischen

Labor

und

Freunde, hört die frohe Kunde, Die ihr dünktet euch verloren! Jubelnd tön's von Mund zu Munde: Der Messias ist geboren! Nicht aus einer Jungfrau Schöße, Nein, dem Ehebett entsprossen, Und dem düstren Menschenlose Ist das Paradies erschlossen. Wer ich bin? Schon seit Äonen Ring' ich auf zu höhrem Lichte; „Geist des Volks", in allen Zonen Bilde ich die Weltgeschichte. Mein war Arbeit und Kasteiung, Ward geknechtet und gequälet; Darum hab' ich zur Befreiung Dem „Gedanken" mich vermählet. Und der Sprößling dieser Ehe Schwur Vernichtung allem Bösen, Schwur, zu wandeln alles Wehe Und die Menschheit zu erlösen. „Sozialismus" heißt der Knabe; Lobt ihn, preist ihn mit Entzücken! Er besitzt die hohe Gabe, Alle Menschen zu beglücken. Klein zwar noch, doch seine Stimme Tönt, der Feinde Furcht und Schrecken; Bald wird sie in heil'gem Grimme Rings umher das Echo wecken. Jubelnd kommt er angefahren, Phöbus mit den Sonnenrossen. Hört den Ruf der wackern Scharen, Die sich ihm schon angeschlossen! Chorgesang, der letzte Vers der Arbeiter-Marseillaise, Misera:

hinter der Szene.

Aus diesen Tönen strömt mir Hoffnungsmut entgegen. Labor:

Sprich, Weib! Wo ist er, der Befreier-Held? xi

Poore, Anthologie

121

SAPIENS :

Nun mag ich mich getrost zur Ruhe legen. Laß mich ihn sehn, den Heiland dieser Welt! VOLKSGEIST:

Ihr seid bereit? Wohlan, so tretet ein! Ihr werdet meines Sohnes Jünger sein. MISERA, SAPIENS, LABOR ab ins

Gebüsch:

Und alle ihr, die ihr mit Heroismus Den Kampf gen Lug und Finsternis besteht! — Und alle ihr, die ihr im Sozialismus Den ewig wahren Volksmessias seht! — Euch ladet er zu heitrer Freude ein, Und spricht: Ich war, ich bin, ich werde sein. Die mittlere Buschwand besteckte Christbaum

weicht zur Seite, der mit brennenden

Lichtern

wird sichtbar.

Chorgesang:

O Tannenbaum usw.

Die Nihilisten Festspiel in vier Aufzügen Nach historischen Quellen für die Bühne bearbeitet von * * * Für die Kommune-Feier in der Nordseite Turnhalle, Chicago, am 18. März 1882 verfaßt und bei dieser Gelegenheit zum ersten Male aufgeführt Personen: Petrowitsch, Dr. der Philosophie Alexewitsch, Bauern-Agitator Michaelow Sophia v. Suvanoff Olga v. Kosowsky Feodor Michael Jetzkewin, ein Altrusse General Ignatieff General Tscherevin General Melikoff 122

Nihilisten

Staatsrat Murajeff Staatsrat Schuwaloff Bobkin, Kosakenoffizier Schnapskowsky 1 Kosaken Knutenow J Kosaken Kosaken, Verbannte, Volk Ort der Handlung: die drei ersten Aufzüge in St. Petersburg, der letzte in der sibirischen Steppe Zeit: Gegenwart Erster Aufzug Einjaches Zimmer. Tür in der Mitte. Eine andere rechts. Ein Fenster zur Linken. Eine Druckerpresse. Zwei Setzkästen. In der Mitte ein Tisch. Petrowitsch, Alexewitsch an den Setzkästen beschäftigt. SOPHIA am Tische schreibend:

Ist die Proklamation fertig? ALEXEWITSCH :

Sogleich! — Hier die letzten Zeilen. OLGA:

Das Papier ist angefeuchtet. Der Druck kann beginnen. ALEXEWITSCH:

Die Form ist geschlossen. MLCHAELOW lesend:

An die Unterdrückten und EnterbtenJ — Das Maß dieses fluchwürdigen Zarentums ist voll. Die Totenglocke seines Begräbnisses ist am Läuten. Die elenden und unerträglichen Zustände schreien so gewaltig, daß ihre Stimmen bis in die entferntesten Winkel des Weltalls die Menschheit erschrecken machen. Wir sprechen nicht zum ersten Male zu Euch, Brüder, wir rufen Euch nicht zum ersten Male auf, Eure Ketten zu brechen und Eure Henker daran aufzuhängen. Ihr wißt alle, was wir leiden, und die es nicht wissen, denen hat die Natur kein Gefühl gegeben, die Grenze zu erkennen, wo der Mensch sich von der Bestie scheidet. Ihr wißt alle, daß dieses viehische Zaren-Ungeheuer seiner unersättlichen Gier nach fremden Länderstrecken unzählbare Mengen der Edelsten des Volkes zum Opfer bringt, daß es den Boden, auf dem es mit der Phrase der Zivilisation vorwärts schreitet, mit Strömen des kräftigsten und kostbarsten Blutes tränkt. Ihr wißt das, und wenn Ihr Väter, Mütter oder Bräute seid, werdet Ihr wissen, warum unsere Hand sich ballt und die Adern an unseren Stirnen ii'

123

sich krampfen. — Doch nicht in die Ferne blickt! Die Tyrannei sitzt wie eine Natter an der Brust des Vaterlandes und saugt ihm die Lebenskraft fort. Ihre rohe Faust hat den Mund bedeckt, daß das Wort des Hasses und der Wahrheit und der Notschrei der geängsteten Brust nicht laut wird. Wie ein Dieb stiehlt sie Euch den kargen Bissen vom Munde und das Brot aus Euren Händen, und wie unter der Last von Bergen stöhnt Ihr unter der Frone der Steuern. — Was hat Euch die Emanzipation gegeben? Ein leeres Papier! Die Ketten der Sklaverei rasseln noch immer an Eurem Leibe. Die Welt ist mit der Phrase der Emanzipation in Schlaf gesungen. Armes Volk! Neben dem Sklaven schreitet der Wucherer. Ihr seid dem Satan Wucherer und dem Satan Zaren mit Leib und Seele verschrieben. Auf dem heiligen Boden des Vaterlandes wandelt Ihr wie in der Hölle! — Den Wagen des Volksgeschicks lenkt die Willkür. Vom Throne herab bis zu den Sbirren schwingt jeder die Peitsche und treibt Euch dem Rachen des Todes entgegen; ein jeder reißt Euch die Glieder einzeln vom Leibe. Euer Leben ist ein beständiges Sterben, ein beständiger Todeskampf. Eine unendliche Todeswüste, ein unendliches Schlachtfeld ist das weite Land ringsum. Die Mörder schreiten am hellen Tage umher und prahlen mit ihrem Handwerk wie mit Heldentaten. Das Auge wird blind vor Weh und das Ohr taub vor dem Röcheln der Hingeschlachteten. — Ihr wißt das, Brüder — wir wollen nicht weiter an den wunden Nerven des Vaterlandes und Eurer Herzen zerren. Wir haben die Stimme erhoben, um Euch zu sagen, was uns die eiserne Notwendigkeit diktiert. Unzählige Male haben wir den Tyrannen dieses Landes, auf das der Gebildete mit Abscheu und Wehmut blickt, angefleht, dieses Leid zu wenden und uns zu geben, was zu verlangen wir ein Recht besitzen. Aber Bitten und Drohungen verhallten vergebens an dem Ohr dieses Ungeheuers. Mit bestialischem Vergnügen kann er das Volk im Todeskampf röcheln sehen! Keine Faser des Mitleids zuckt an ihm. Anstelle des Herzens hat er einen Stein. E r ist wie das Marmorbildnis eines verabscheuten Nero. Und da wir von dieser Mißgeburt der Natur und seinen Henkern, die sich in den Eisfeldern und Gruben Sibiriens aus den Gebeinen unserer Väter, Mütter, Brüder und Schwestern ein fluchwürdiges Denkmal errichten, nichts Menschliches und nichts von Freiheit, nach der unsere Seele mit dem Durst von verschmachtenden Löwen lechzt, zu erwarten brauchen, haben wir als Vollstrecker des Willens des Volkes und der Gerechtigkeit,

124

die jeder von uns in seiner Brust wie eine Feuerglocke trägt, seine Vernichtung beschlossen. Dieser Appell ist der Totenschein, den wir ihm ausstellen. Mit der Vernichtung unseres Henkers und mit dem Regiment des Schreckens werden wir das geschändete Menschentum wieder auf seinen Thron erheben. Dieser Appell ist der erste Hornruf zur Revolution. Wir rufen Euch auf, alle, die Ihr einen Arm habt, zu kämpfen, mit uns die Sache des Vaterlandes gegen eine Bestie und Bestien zu verteidigen. Eure Pflicht drückt Euch gebieterisch den Dolch des Brutus in die Hand. Zeigt, daß Ihr des Brutus nicht unwürdig seid. Und wenn Ihr die verhaltene Wut in dem Blut dieses Cäsaren kühlt, wird, wie die Erde einst den Wellen der Sündflut, die Welt aus den Gluten der Revolution mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum ersten Male geboren! Das Exekutiv-Komitee. Ist noch etwas hinzuzufügen? A L E X E WITSCH:

Kein Wort zuviel und keines zuwenig. SOPHIA:

Dann fahren wir fort mit der gestrigen Verhandlung. PETROWITSCH :

Wir sind bei der Frage stehengeblieben, was geschehen solle, wenn der große Wurf gelungen, das Zarentum beseitigt, wenn das Volk entflammend sich erhebt und seine Unterdrücker in Kutte, Uniform und Frack zu Paaren treibt . . . ALEXEWITSCH :

Wann das Banner der sozialen Revolution unangefochten beim Morgenrot des neuen Tages auf den eroberten Vesten flattert und dem staunenden Europa die Ära der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkündet. OLGA:

Wenn das geschehen, dann zeigen wir, daß Europa vom russischen Volke nicht mehr die schamlosen Attentate dieser zarischen Despotie zu erwarten habe, zeigen wir, daß unsere Devise die Worte enthält: Für uns und für euch! MICHAELOW:

Dann verkünden wir Frieden allen Völkern und werfen damit die Fackel der Revolution gegen die Tyrannei in die Massen der Geknechteten aller Lande. SOPHIA

schreibend:

Frieden allen Völkern! — 125

OLGA:

Die Fürsten und die Herren, die uns gerne vernichten möchten, werden dann alle Kraft zu sammeln haben, um sich ihrer eigenen Völker zu erwehren. ALEXEWITSCH:

Indes gewinnen wir Zeit, das Gebäude der neuen Ordnung gegen jeden Anprall eines Sturmes zu sichern. SOPHIA

aufstehend:

Bisher war unser Vaterland das Land der Knechtschaft, das Bollwerk der tyrannischen Gewalt. In unserem Vaterlande, dem Schöße der tiefsten Schmach, wird auch die Freiheit nun zuerst geboren werden. Und siegreich fortpflanzen wird sie sich von Land zu Land, wie ein Orkan und die verhaltne Glut des Aufruhrs hell entfachen, bis selbst die letzten Mauern der Tyrannen sie in Schutt gestürzt und friedlich sie zurück zum heiligen Herd, dem sie entstammt, kann kehren. PETROWITSCH :

Wenn so die äußern Feinde beschäftigt sind und uns die Zeit des Handelns ist geworden, geben wir dem Volke all jene Güter wieder, die ihm durch das historische Unrecht geraubt und vorenthalten waren. ALEXEWITSCH :

Alles Land und alle Arbeitsmittel und alle angehäuften Güter, die Werke unseres Schweißes, werden gemeinsam und unteilbares Eigentum. MICHAELOW:

Und proklamiert muß werden die Pflicht zur Arbeit. OLGA :

Und dafür proklamiert das Recht auf Bildung und Genuß. PETROWITSCH :

Und da nicht mehr Privatvermögen existiert, sei proklamiert die Lastentbindung aller Schuldner und Steuerfreiheit. So haben wir die Herzen derer für uns, die bisher bedrückt gewesen durch der Steuern Last. ALEXEWITSCH:

Das Kircheneigentum wird konfisziert; das faule Heer der Popen, die Volksverdummer zur Arbeit angehalten. OLGA :

Fürwahr, die schwerste Strafe, je verhängt ob solchen elenden Gesindels. 126

PETROWITSCH :

Strafe? — Wer spricht von Strafe hier? Gerechtigkeit, nichts anderes kann ich darin erblicken. ALEXEWITSCH:

Das Heer wird aufgelöst, das ganze Volk bewaffnet, auf daß es seine Freiheit gegen Feinde des Landes selbst und fremder Länder zu verteidigen Kraft besitzt. PETROWITSCH :

Von Polizei ist keine Rede mehr, das Volk ist selbst sich Polizei genug. MICHAELOW:

Getan wird alles, was das Volk belehrt. Unter Fittichen der Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit soll die neue Weltanschauung Bahn brechen sich, daß dem Verrat des Rückschritts das ihm gebühr'nde Brandmal auf der Stirne brenne. SOPHIA :

Es sollen die Pforten der Kerker sich öffnen, frei wandeln im langentbehrten Licht die Märtyrer der Freiheit. PETROWITSCH:

Und den Gefall'nen der Gesellschaft sei die Möglichkeit, den Weg der Tugend zu betreten, neu gewährt. SOPHIA :

O schöner Tag, an dem das Recht Trotz Niedertracht zum Siege wird gelangen ; Kein Mensch, wie jetzt, des anderen Menschen Knecht, Wo Lieb' und Eintracht alle Welt umfangen. Zurückgekehrt das Weib an ihren Herd. Die Kindheit darf sich ihrer Spiele freuen, Dem Manne wird nunmehr die Heimat wert, Und keinen Kampf braucht er dafür zu scheuen. Das Laster flieht, die Kerker werden leer, Die Tugend naht, das neue Werk zu krönen, 127

Gewaltig wird ein Lied von Fels zu Meer, Von freien Menschen dann der Freiheit tönen. Es pocht mehrere A lle

Male.

zusammenschreckend.

— Horcht! Feodor klopft. FEODOR erregt:

Macht auf! Aber schnell! — innen: Rettet euch! Sie kommen! ALLE:

Wer? FEODOR :

Die Häscher der dritten Abteilung. Flüchtet! Ich werde suchen, sie aufzuhalten. Ab. PETROWITSCH :

Halt! Besonnenheit! Laßt schnell uns überlegen! — Um Aufseh'n zu vermeiden, müssen wir uns nach verschiedenen Richtungen entfernen. Du bist am schwersten zu entbehren, Michaelow. Nimm du die Proklamationen, und hier durchs Fenster, schnell! Bestimmt:

S c h n e l l ! Alle drängen ihn hinaus.

Die D u n k e l h e i t geleite

sicher euch. Michaelow ab. Ich bleibe hier. Ihr andern flieht. Flieht! Hier, dieser Weg ist frei. SOPHIA :

Nicht ohne dich! Ich bleibe mit dir. Dein Schicksal sei das meine. PETROWITSCH:

Ich bitte dich, Sophia, füg zum allgemeinen Schmerz nicht den besondern. Ich bitt' dich, flieh! SOPHIA :

Zögere nicht, eile, flieh. Du bist der Stärkere, die Hoffnung der Nation, der Häupter einer der Bewegung. Denk deiner Pflicht und spar zu größeren Taten dein so kostbar Leben. PETROWITSCH :

Das Leben ist der Güter höchstes nicht, viel höher gilt mir meine Ehre. Was soll die Welt wohl sagen, wenn Männer fliehen und Weiber kämpfend bleiben. SOPHIA :

Was? Welt? Schäm dich! Aus dir spricht noch das Vorurteil, das ihr bekämpft. Wollt ihr des Weibes Schwäche uns zum Vorwurf machen? Hat Schwäche uns in diesen Kreis geführt? Sind wir zum Kämpfen denn nicht hier? Wir haben keine Kräfte zu vergeuden, flieht! flieht!

128

FEODOR

hineinstürzend:

Ihr seid verloren, wenn ihr länger säumt. An der Minute hängt jetzt euer Leben. Ab. SOPHIA :

Ich bleibe hier, den Rückzug euch zu decken. OLGA:

Und ich mit dir, Sophia! SOPHIA stolz:

Ein Leben ist dem Henker grad' genug. Fort! Olga und, Alexewitsch ab. PETROWITSCH :

Was ich in diesem Augenblick erleide! Nur der Notwendigkeit gehorch' ich! Sophia! Ab. SOPHIA den Tisch vor die Türe rückend, die Form zerstörend,

überhaupt

sehr lebhaft:

O wie ohnmächtig bin ich doch! O wär' ich doch ein Mann! Es rüttelt an der

Türe.

STIMMEN : A u f g e m a c h t ! — Die Tür wird gesprengt. KOSAKEN

einstürmend:

Im Namen des Zaren, du bist unsre Gefangene. E I N KOSAKE trinkt aus der Flasche

auf dem

Tische:

Bassa manelka! Der Teufel steckt in dem Gesöff! OFFIZIER BOBKIN

eintretend:

Wo sind die Verschwörer? SOPHIA :

Sucht sie! OFFIZIER:

Schnapskowsky! Zum Hauptquartier! Es ist sogleich der Bahnhof zu besetzen! Knutenow! Du sagst dem Posten unten, daß kein Ausgang unbesetzt bleibt. Seht zu, daß alles sicher ausgeführt wird! Ich warte eurer! Vorwärts! KOSAKEN:

Ganz zu Befehl, Herr Hauptmann! Ab. OFFIZIER auf Sophia

zutretend:

Kennst du mich noch, Sophia von Suvanoff? Nicht wahr, du ahntest nicht, als du vor Jahresfrist zurück mich wiesest und dem verdammten, spindeldürren Federfuchser Petrowitsch deine Gunst verliehst, jemals in meine Macht zu fallen?! — Weich nicht zurück! Ich liebe glühend dich. Dich zu besitzen, bin ich hergekommen ! 129

SOPHIA :

Hinweg von mir! OFFIZIER :

Willst du die Meine werden, so bleibt er frei, und du bist schuldlos! SOPHIA:

Den Tod zieh' ich der feigen Schande vor. OFFIZIER:

Mein Arm ist stark, und meine Leidenschaft ist unbezähmbar. Mein Haß hat ihn auf das Medaillon am Halse Sophiens weisend gefunden, mein Haß bringt ihn zum Galgen, wenn du willst. — Kannst du noch wählen? Schnell, eh' die Kosaken kommen. SOPHIA:

Verachtung schleudre ich Euch ins Antlitz! OFFIZIER:

Nur auf ein Jahr verbinde dich zu mir. Nach dieser Frist . . . SOPHIA

einfallend:

Ehrloser Wicht, was wagst du mir zu bieten?! Du sprichst von Liebe und ersinnst Entehrung, schamloser Bube! Kosaken treten ein. OFFIZIER:

Fesselt die Kanaille! — Wo sind die andern, sprich! SOPHIA :

Ich weiß nicht, wen du suchst. OFFIZIER:

Du kennst die Schurken, du verlogne Dirne! SOPHIA :

Nein! O F F I Z I E R droht:

Die Knute wird dir deinen stolzen Mund schon öffnen. SOPHIA:

Fürwahr! Ein großer Mut, ein wehrlos Weib zu peitschen! Wär' ich ein Mann und frei, ich gäb' dir die verdiente Antwort m i t . . . OFFIZIER

auffahrend:

Mir das? — Ha! — Kosaken, führt sie ab, die freche Dirne, und spart die Knute nicht, bis sie gesteht. Die Knute, Dirne, soll dich anerkennen lehren die Macht des Zaren und die Herrlichkeit des Reiches! Der Vorhang fällt.

130

Zweiter Aufzug Personen: Graf Ignatieff, Minister des Innern General Tscherevin, Chef der dritten Abteilung Graf Schuwaloff, Staatsrat Graf Murajeff, Staatsrat General Loris Melikoff, Militärischer Beisitzender Kosakenoffizier Bobkin Zimmer im Justizpalaste.

In der Mitte ein

Tisch.

IGNATIEFF :

Ich habe Sie hieher berufen, um auf Befehl des Zaren mit mir über die nächste Politik des Reiches Rat zu pflegen. — Gewitterschwer hängt der Himmel über uns. Am fernen Horizont zuckt es in drohenden Blitzen. Das nihilistische Gespenst will unsere Vernichtung. Es schreitet im Verborgenen einher und schreit die ruhigen Bürger aus dem Schlaf. Unsre Fortexistenz bedingt daher seine Ausrottung; wir müssen es mit kühnem Handstreich aus der Welt schaffen, müssen den Blick des Volkes von den Wunden ablenken, die es schmerzen. Dies zu vollbringen, scheint als bestes mir ein Krieg nach außen. MELIKOFF:

Das ist gefährlich, sehr gefährlich. Ihr unterschätzt den inneren Feind. Er wird uns mit seinem heimtückischen Dolch im Rücken anfallen. Wenn wir das Heer teilen müßten, einen Teil gegen den feindlichen Gegner und den anderen gegen das eigne, rebellische Land, wahrhaftig!, ich fürchte, wir würden, statt zu siegen, selbst besiegt. — SCHUWALOFF:

Das wäre der Untergang des Reiches, der Untergang des vom Großen Peter so stolz aufgerichteten Zarentumes! — MURAJEFF:

Melikoff liebt es, uns wie Kinder glauben zu machen, der Galgen in einem Bilderbuch wäre ein wirklicher Galgen und wir, die an ihm aufgeknüpft wären. IGNATIEFF:

Das könnte wohl wahr werden, wenn wir die Hände noch lange in den Schoß legten. Melikoff hat recht. Wir dürfen nicht warten, bis der Funke zur Flamme geworden und das Haus uns brennend über das Haupt zusammenfällt. Wir werden zuerst die Köpfe des

131

Nihilismus zertreten, und dann durch einen äußeren Krieg den lenkbaren und schwankenden Pöbel die Rebellion vergessen machen. TSCHEREVIN :

Es bleibt uns keine andere Wahl. Nachgeben heißt aufgegeben. Zögern heißt die Gefahr ins ungeheure steigern. Schnelle, gewaltsame, unerbittliche Vernichtung ist das einzige Mittel. Wer den Frieden des Landes stört, ist ein Rebell, wer sich erdreistet, die Regierung Frevels anzuklagen, ist Rebell und dem ein Feind, in dessen Hand die Zügel des Landes sind. Läßt man einen Schurken, der mit der Mordwaffe hinter uns her schleicht und uns verräterisch aus dem Hinterhalt überfällt, ruhig seinem verbrecherischen Handwerk nachgehen? — Haben wir Gewalt, warum brauchen wir sie nicht? Sind wir weichherzige Weiberseelen, die sich ein Gewissen daraus machen, eine Fliege totzuschlagen, die uns belästigt? — Ich bin für gewaltsame Unterdrückung. — SCHU WALOFF

So denk' auch ich. Ich seh' keinen anderen Ausgang aus diesem Labyrinth. MURAJEFF:

Wir müssen das Leben des Zaren und unser Leben gegen Mörder verteidigen. Es ist die erste Pflicht gegen uns selbst. MELIKOFF:

Ihr habt jahrelang diese traditionellen Mittel angewandt! Was haben sie genützt? Haben sie den kranken Körper des Reiches um etwas gesünder gemacht? Ächzt er nicht noch immer wie ein chronischer Leidender? — Jeder Rebell, den wir mit dem Hanfband um den Hals in den Himmel spedierten, hat mit seinem letzten Atemhauch die Seelen vieler anderer verpestet. Die Menge der Rebellen steigt in geometrischer Progression mit der Zahl der Gehängten. Ich schlage Reformen vor. TSCHEREVIN :

Reformen sind Beschränkungen der Macht des Zaren. Habt Ihr den Mut, dem Zaren selbst von solchen zu sprechen, so tut es. Ich möchte nicht mit meiner Stellung das Spiel um eine Niete tun. Der Zar wird die Reformen verwerfen. MELIKOFF:

Ich begreife den Begriff beraten nicht. Ist Tscherevin oder Ignatieff nicht mehr als der erste beste seiner Diener, der seinen Befehl widerspruchslos erfüllt? — Und ist das Zarentum nicht wichtiger als ein Zar? — Wir sind hier, zu beraten, wie das Zarentum 132

zu schützen. Ich stelle mich auf einen höheren Standpunkt. Das Individuum verschwindet vor meinem Blick, und wenn es dem Zeitgeist in die Speichen seines Wagens fällt, . . . je nun!, so wird es zermalmt. An dem einzelnen liegt wenig. Nicht so ein Volk! — Ich denke, wir spielen hier nicht die Rollen von Pagoden! IGNATIEFF :

Sprecht deutlicher, Melikoff! TSCHEREVIN :

Ihr habt etwas von einem Kanzelredner, man weiß nicht, ob er seinen eigenen Worten glaubt oder hohnlacht! — MELIKOFF: .

Ich stimme dafür, daß man dem Volke Gelegenheit gebe, uns persönlich durch Vertreter von seinen Wünschen und Beschwerden zu sprechen. Ich stimme für Provinzialvertretungen und einen Nationalrat, der aus Mitgliedern dieser Vertretungen besteht. Die Stimme des Volkes muß zu den Füßen des Thrones erschallen. Der Zar muß aus dem Munde des Volkes den Zustand des Reichs erfahren. Bei ihm ist's dann, zu gewähren oder zu verwerfen. Ich stimme für . . . IGNATIEFF

einfallend:

Das sind Brocken, mit denen wir ein hungriges Volk nicht satt machen. Zeigt dem Tiger Blut, wird er nicht losspringen und dann . . . Kurz, die Reformen sind nicht groß genug, um das Elend zu beseitigen, und doch zu groß, um nicht das Zarentum zu gefährden. Mit solchen Reformen laden wir uns einen lästigen und gefährlichen Bettler auf den Hals, der aus der ersten gewährten Gnade durch Gewohnheit ein Recht macht. Das sind westländische Ideen! — Ich stimme dagegen! Ich hasse die Schwäche. TSCHEREVIN :

Ich verabscheue sie. SCHUWALOFF: 1 „ . .

MURAJEFF •

J

..

r stlmmen



,

gegen Reformen.

MELIKOFF:

Ich kann mich den Konsequenzen der Geschichte nicht entschlagen. Die Schreckensherrschaft wird uns den Boden unter den eigenen Füßen fortreißen. Wir werden uns an unserer eigenen Torheit den Schädel zerschmettern. TSCHEREVIN :

Das ist eine höchst persönliche Angelegenheit, mein Teurer. Die Kopfschmerzen darüber überlaß ich Euch sehr gern. 133

Offizier

eintretend.

OFFIZIER gibt Depeschen

ab:

An Seine Exzellenz, den Minister des Innern. IGNATIEFF die Depeschen

entfaltend:

Lest, Melikoff! Da habt Ihr den Beweis! Ein neuer Anschlag ist entdeckt, der Zar von neuem und schmählich verunglimpft und bedroht. MELIKOFF:

Wahrhaftig! Das ist frech! IGNATIEFF zum

Offizier:

Ihr werdet meinen Befehlen bereit sein, wenn ich Euch rufe. Offizier

ab.

TSCHEREVIN:

Nun meine Herren, wollen Sie sich noch länger die Größe der Gefahr verhehlen? Wollen Sie warten, bis der verbrecherische Wahnsinn dieser Empörer uns allen vernichtend auf dem Nacken sitzt? Und wer sind sie, die uns Bedingungen vorschreiben, die Krone vom Haupt des Zaren in den Kot schleudern, uns an den Galgen schleifen und von neuer Zeit und neuen Ideen predigen? Wer sind die Häupter dieser Verschwörung? MURAJEFF:

Söhne und Töchter des Adels, die mit uns dieselbe Luft geatmet, mit uns an derselben Tafel gespeist. IGNATIEFF:

Übermütige, wahnwitzige, verbildete Köpfe, die nach Utopien in die Ordnung Gottes hineinpfuschen wollen, ein verbrecherisches Gesindel. TSCHEREVIN:

Indem wir diese Krankheit an ihren Urhebern und Trägern vernichten, reißen wir vom Antlitz dieser mißarteten Kreaturen den ihnen anhaftenden Nimbus; indem wir ihre Leiber in Blut ersticken, vernichten wir mit ihnen den Geist, der unser Volk des angestammten Gehorsams seiner Väter beraubt. SCHUWALOFF:

Der Mißmut des Volkes, abgelenkt durch den Mangel von geistigen Häuptern, wird einen anderen Gegenstand suchen, sich Luft zu machen. IGNATIEFF:

Er wird auf die Juden fallen und den Vernichtungskrieg gegen dieses schmutzige Gesindel eröffnen. 134

TSCHEREVIN :

Wir werden ohne Verzug dem Zaren unsere Beschlüsse zur Kenntnis bringen. Wir wollen ihm die Gründe darstellen, weshalb die Rebellen nicht der geringsten Schonung bedürfen. MURAJEFF:

Wir machen sie verantwortlich für die Irreleitung unseres braven und treuen Volkes. SCHUWALOFF :

Wir zeihen sie des Hochverrates und geben sie dem Henker zur ärztlichen Behandlung. TSCHEREVIN :

Dieser Anschlag ist wie eine Fügung des Himmels. Europa soll vor Rußland in stumme Verwunderung geraten. Ein Prozeß soll in Szene gesetzt werden, vor dem hier und in allen Landen jede revolutionäre Regung zerstäuben soll. Kühn und unerhört soll der Richterspruch sein. Die prahlerischen Teutonen sollen in den Slawen ihre Lehrmeister sehen. Diktiert: „Jeder, der im Verdacht steht, Führer der Rebellion zu sein, daran teilgenommen zu haben oder mit ihr auch nur zu sympathisieren, wird des Hochverrats bezichtigt, und, daß der Schrecken die Lust zu künftiger Staatsumstürzung vernichte, soll jeder dieser Angeklagten nach vorbedachtem Plan den Tod erleiden." MURAJEFF:

Thiers' Schreckensherrschaft nach Niederwerfung der Pariser Kommune soll verblassen gegen das Bild, welches wir vor den Augen der Welt mit blutigem Griffel entwerfen werden. Stehen

auf. Schuwaloff

nimmt

die Depeschen

und liest

darin.

SCHUWALOFF:

Was? Olga von Kosowsky? Auch sie unter den Verschwörern? — Höchst sonderbar, höchst eigentümlich! MURAJEFF:

Eine neue Phase in der Geschichte der modernen Frauen. Diese Emanzipationssucht des schönen Geschlechtes ist eine gefährliche Krankheit. Wenn das Weib dem Manne als ein Herold mit der Fackel der Empörung voranschreitet, wenn die Schönheit mit dem Lockruf der Zerstörung auf den Lippen in den Pfaden des Mannes wandelt, wird ihr tollkühnes Beispiel wahnsinnige Helden gebären. Gegen unsere aristokratischen Frauen müssen wir vor allem erbarmungslos den Vernichtungskrieg führen. Sie sind unsere größten Feinde. 135

IGNATIEFF:

Ist Olga von Kosowsky nicht fromm und demütig im Kloster erzogen? Aus welcher Quelle schöpft sie den Haß? SCHUWALOFF:

Denkt an Plewna! Denkt der dreißigtausend gen Plewnas steilen Felsen kommandierten Soldaten! Ward nicht dreimal der todesmutige Angriff von Osman Paschas löwenherzigen Kriegern zurückgeschlagen? Gab nicht der Zar Befehl, unsere Truppen mit Revolvern gegen die Felsenmauern Plewnas wie eine Herde Vieh zu treiben? Die Artillerie im Rücken, die türkischen Feuerschlünde vor sich, füllten sie die Laufgräben mit ihren Leibern. Uber sie fort, wie über Brücken, stürzten die Kameraden. Wie Eisschollen türmten sich die Leichen! Da sah als Samariterin ich Olga von Kosowsky zum erstenmal. Aus dem Schlachthaufen trug sie einen verletzten Offizier . . . ihren . . . IGNATIEFF :

Ah! Ich begreife. Die Liebe . . . das alte Lied . . . MURAJEFF:

Es war ein unglückseliger Tag. TSCHEREVIN:

Darüber jetzt zu philosophieren ist's zu spät. Doch was die Kosowsky betrifft, so muß sie sterben. IGNATIEFF :

Gewiß! Sie müssen sterben, und wären's — unsere eignen Töchter. TSCHEREVIN :

Mit ihnen sinken die umgehenden Gespenster derer, die zu Ehren des Namenstags des Zaren gefallen, in ihre Gräber zurück, verhallt das Echo ihrer ersterbenden Stimmen, die vor Plewna nach Rache geschrien. Wir wollen barmherzig sein und ihnen die Grabesruhe durch ein energisches Handeln zurückgeben, uns aber von ihren Rächern befrein. Offizier rasch eintretend. OFFIZIER :

Auch die übrigen Verschwörer wurden gefangen. Sie sind in der Peter-Pauls-Festung in Ketten gelegt. IGNATIEFF:

Begeben wir uns sogleich zum Zaren, meine Herren. Die Zeit ist kostbar. TSCHEREVIN :

Er soll unsere Beschlüsse bestätigen und mit dem Mantel seiner 136

Souveränität uns vor dem Verdacht unserer Feinde beschützen. Ihm sei die Verantwortung. A lle schnell ab.

Dritter Aufzug Gerichtssaal. In der Mitte des Hintergrundes der Tisch der Richter. Ein Kruzifix auf demselben. Bücher und Papiere. Links Sessel für Zuhörer. Rechts Bänke für die Angeklagten. Seitwärts die Druckpresse und die Setzkästen. Wenn der Vorhang sich hebt, treten die Richter ein. Tscherevin, Präsident; Murajeff, Staatsanwalt; Schuwaloff und andere Staatsräte als beisitzende Richter. TSCHEREVIN :

Die Angeklagten sollen vorgeführt werden. Die Angeklagten: Petrowitsch, Alexewitsch, Jetzkewin, Olga von Kosowsky und Sophia von Suvanoff werden gefesselt eingeführt. Die Kosaken Schnapskowsky und Knutenow bleiben im Hintergrunde stehen. TSCHEREVIN nach kurzer Beratung mit den Richtern:

Ich verkünde, daß der Gerichtshof beschlossen, die Verhandlung unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen. BOBKIN

eintretend:

Der Fürst Perrin, Graf Laroff und Staatsrat Orloffsky bitten um die Erlaubnis, der Sitzung mit ihren Damen beiwohnen zu dürfen. TSCHEREVIN sich beratend:

In Anbetracht, daß die Genannten sämtlich Standespersonen sind, hat der Gerichtshof nichts gegen deren Eintreten. STAATSANWALT:

Und nichts die Staatsanwaltschaft. MURAJEFF auf ein Zeichen des

Präsidenten:

Im Namen des Zaren, des Beherrschers aller Russen, erhebe ich vor dem hohen Staatsgerichtshofe gegen die Anwesenden: Dr. der Philosophie Alexis Petrowitsch, Peter Alexejeff, Michael Jetzkewin, Sophia von Suvanoff und Olga von Kosowsky die Anklage des Verbrechens des Hochverrats. Sie sind verdächtig, die den Akten beigefügte Proklamation, welche zum Aufruhr und zur Ermordung des Zaren auffordert, verfaßt zu haben. Von Beamten der dritten Abteilung wurde mir die Nachricht, daß seit längerer Zeit in dem Hause Tripanga auf dem Newsky Peruluck Zusammenkünfte verdächtiger Personen stattfinden. Das Haus wurde unter besondere Aufsicht gestellt und am 7. Februar infolge derselben die Verhaftung der Sophia von Suvanoff ermöglicht. Die angeklagten Mitverschworenen hatten offenbar 12

Poore, Aothologie

137

durch geheime Ausgänge kurz vorher die Flucht ergriffen. Es gelang der Behörde jedoch, sie später in Haft zu bringen. Auf das Verbrechen des Hochverrates, dessen ich die Angeklagten beziehte, steht der Tod durch den Strang. Ich beantrage, nunmehr zur Beweisaufnahme des Tatbestandes überzugehen. Als Zeugen vorgeladen sind der Kosakenoffizier Bobkin und die Kosaken Schnapskowsky und Knutenow. TSCHEREVIN :

Kosakenoffizier Bobkin! B O B K I N vor das Kruzifix

tretend.

TSCHEREVIN:

Sie sind Offizier der kaiserlichen Armee und als solcher vereidet! ? BOBKIN :

Zu Befehl, Herr Präsident. TSCHEREVIN :

Sie nehmen Ihre Aussagen auf den Diensteid? Bobkin nickend. Sie fanden am 7. Februar im Hause Tripanga auf dem Newsky Peruluck, nach gewaltsamer Öffnung der Türe, die verhaftete und hier anwesende Sophia von Suvanoff. Erkennen Sie dieselbe wieder? BOBKIN :

Zu Befehl, Herr Präsident. TSCHEREVIN :

Erkennt ihr dieselbe wieder, Kosaken? SCHNAPSKOWSKY:

Die infamigte Kanaille, die unsern Herrn Offizier . . . B O B K I N gibt ihm einen

Rippenstoß.

KOSAKEN :

Ganz zu Befehl, Herr General! TSCHEREVIN :

Sie fanden weiter in der Wohnung der Verschworenen jene Druckerpresse, diese Papiere und jene Setzutensilien? Erkennen Sie die Gegenstände wieder? BOBKIN :

Zu Befehl, Herr Präsident. SCHNAPSKOWSKY :

Und eine Pulle, Herr General; die infamigte Kanaille . . . BEIDE KOSAKEN:

Zu Befehl, Herr General! TSCHEREVIN :

Sie fanden ferner auf dem Boden des Zimmers dieses Blatt 138

Papier, auf welchem die Namen der Hochverräter verzeichnet stehen. Erkennen Sie es als das gefundene wieder? BOBKIN :

Z u Befehl, Herr Präsident. SCHNAPSKOWSKY:

Das Papier hat die infamigte Kanaille . . . BEIDE KOSAKEN:

Z u Befehl, Herr General! TSCHEREVIN :

Auf Grund dieser unschätzbaren Aufzeichnung war es Ihnen möglich, bald darauf die Verhaftung der übrigen Angeklagten an verschiedenen Orten der Stadt vorzunehmen. Erkennen Sie die Angeklagten wieder? BOBKIN:

^

KOSAKEN: ) Z u Befehl, Herr Präsident! PETROWITSCH

aufstehend:

Ich bitte um Einsicht des gravierenden Schriftstückes. TSCHEREVIN :

Der Inhalt wird verlesen werden. PETROWITSCH :

Ich bestehe darauf, daß mir gestattet werde, die Echtheit dieses Schriftstückes, welches die Grundlage der Anklage bildet, persönlich zu prüfen. TSCHEREVIN nach kurzer Beratung: Der Gerichtshof hält diese Forderung für unerheblich. W i r schreiten daher in der Verhandlung weiter. Setzen Sie sich, Alexewitsch! Der Wortlaut dieses Blattes ist: liest „ S i t z u n g des Exekutiv-Komitees v o m 7. Februar. Gegenstand der Tagesordnung: Mittel und Wege zur gewaltsamen Beseitigung des Zaren, Prüfung der Pläne zur Sprengung des Winterpalastes, der Nikolai-Brücke, des Arsenals und des Justizpalastes, Beraubung des kaiserlichen Schatzamtes und Errichtung einer neuen Niederlage von Dynamit und W a f f e n und Errichtung von Druckereien in Moskau, Kiew, Charkow und Odessa. Anwesend die Mitglieder: Leo Hartmann, Alexander Michaelow, Alexis Petrowitsch, Nicolai Frolenko, Peter Alexewitsch, Alexander Slatowsky, Olga von Kosowsky, T a t j a n a Lebdona, Ossip Emelianow, Sophia von Suvanoff und Grigory Issajew." Sechs der hier genannten Verschworenen konnten leider noch nicht in H a f t gebracht werden, die Identität der Anwesenden aber 12»

139

ist durch das Zeugnis des Offiziers Bobkin und der Kosaken Schnapskowsky und Knutenow unzweifelhaft festgestellt. PETRO WITSCH:

Ich fordere nochmals, dieses Blatt zu sehen. TSCHEREVIN:

Unterbrechen Sie nicht die Verhandlung. Es muß Ihnen die Verlesung genügen. PETROWITSCH :

Wenn das Schriftstück kein gefälschtes ist, sehe ich keinen vernünftigen Grund, es vorzuenthalten. Die Verhandlung findet leider unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Ich für meinen Teil erkläre es für eine nichtswürdige Fälschung. TSCHEREVIN :

Schweigen Sie! PETROWITSCH :

Wenn es schon kein Verteidiger wagen darf, hier die Wahrheit zu sagen, sollen wir selbst nicht einmal unsere Verteidiger sein? Will man selbst uns des freien Wortes entäußern? JETZKEWIN:

Mein Gott! Ich weiß nichts von einem Schriftstück, nichts von den genannten Personen, nichts von Dynamit und Sprengungen — ich bin unschuldig, Herr Präsident — ich bin unschuldig. — Lassen Sie mich das Schriftstück sehen, vielleicht, Gott!, vielleicht läßt sich der traurige Irrtum aufklären. TSCHEREVIN:

Auf Ihren Sitz, lügnerischer Feigling. PETROWITSCH:

Irrtum? Hier gibt's keine Irrtümer. Hier wird nach vorgedachtem Plan gerichtet. TSCHEREVIN :

Ich verbiete Ihnen bei der Heiligkeit dieses Ortes und der Gerechtigkeit, welche hier waltet, diese schmähende Sprache. ALEXEJEW:

Ist es gerecht, uns den Prozeß zu machen und durch Vorenthalt des Anklagematerials die Widerlegung der Anklage] unmöglich zu machen? Ich will das Schriftstück sehen. Ich habe ein Recht darauf. TSCHEREVIN nach kurzer

Beratung:

Der Gerichtshof beharrt bei seiner Verweigerung. SOPHIA SUVANOFF

aufspringend:

Ich erhebe Protest gegen dieses gewaltsame, ungerechte, unerhörte Verfahren. Ich erkläre dieses Schriftstück für eine boshafte 140

Erfindung, für ein niederträchtiges, gefälschtes Machwerk, für ein Teufelsstück der dritten Abteilung, welche eine frivole Lust daran findet, die gerechte Opposition zu zerschmettern und ihre eigene [n] Verbrechen mit dem heiligen Blute ihrer mißhandelten Opfer reinzuwaschen. Ich erhebe Protest gegen dieses fluchwürdige . . . K O S A K E N reißen

die Sprecherin

gewaltsam

auf den Sitz

nieder:

Willst du glatte Schlange deinen gottlosen Mund halten . . . Sollen wir dich das Schweigen mit der Knute lehren? . . . TSCHEREVIN :

Diese Worte entheben uns des Nachweises der Verschwörung. Diese Sprache ist bereits der Beweis des angeklagten Verbrechens. Sie haben sich angesichts des Gerichtshofes des Hochverrates schuldig gemacht. Ich sehe dem Antrag des Staatsanwaltes entgegen. JETZKEWIN:

Ich bitte, Herr Präsident — Ich — ich — Gott — ich bin ja unschuldig . . . TSCHEREVIN:

Schweigen Sie! Setzen Sie sich! MURAJEFF:

Ich kann mich kurz fassen. Die minutiöse Begründung meines Strafantrages wäre eine Bezweiflung der Intelligenz und der hohen Gerechtigkeitsliebe dieses unbestechlichen Gerichtshofes. Die Angeklagten, deren unleugbare, greifbare Schuldbeweise hier zur Stelle gebracht sind, gehören als Häupter jener verbrecherischen Gesellschaft an, die wie eine pestartige Krankheit das Lebensmark des Staatskörpers zu vernichten sucht; sie gehören dem Exekutiv-Komitee jener Rotte an, die mit dem Heergeschrei Zivilisation die glorreiche und staunenswerte Zivilisation dieses Reiches in den Abgrund zu stürzen trachtet. Ihrer Vandalismuswut ist selbst das Heiligste nicht mehr heilig. Nichts gibt es in dem Bereich unsrer heiligen Institutionen, nach dem sie nicht ihre Zerstörungshand ausstrecken, auf das sie nicht die Lauge ihres satanischen Spottes ergießen. Sie leugnen den allmächtigen Gott und den frommen Glauben unserer Väter. Sie leugnen die Majestät unseres Zaren und möchten über seine verstümmelte Leiche hinweg auf den Trümmern des Thrones ihre bacchanalischen Orgien feiern. Ich brauche die infernalischen Pläne dieser entarteten Rotte nicht aufzuzählen. Der bloße Gedanke, daß sie verwirklicht werden könnten, genügt, um uns 141

mit Entsetzen zu erfüllen. Ich sage: Wer seinen Gott spottet und des Glaubens seiner Väter; wer sich erkühnt, den mühsam aufgetürmten Bau des Reiches in einen Schutthaufen zu verwandeln; wer im Kriege gegen die Kultur die Mörderhand selbst auf das Leben des gottgeheiligten Monarchen legt und diesen Krieg offen und aufrührerisch treibt, ist keines Mitleids und keines Erbarmens würdig. Das einzige Mitleid ist der Tod, und die einzige Milde, ihn schleunigst auszuführen. Für die Mitbürger ist es eine Genugtuung, von dem Richter aber eine zivilisatorische Handlung. Ich beantrage die Todesstrafe. JETZKEWIN:

Todesstrafe? Schleunigst? Oh! Oh! TSCHEREVIN :

Sie haben die Anklage gehört, Sophia Suvanoff. In ihr erhebt sich Ihre geschmähte Familie und Klasse wie ein drohendes Gespenst. Was haben Sie zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen? SOPHIA:

Wenn es schmachvoll, für die höchsten Güter der Menschheit, für Recht und Freiheit, für Gesittung und Bildung mutig und selbstlos zu kämpfen, dann freilich hab' ich mich an meiner Familie und meiner Klasse versündigt. Doch, wenn es Recht und Pflicht, das Vaterland vor Schande und Verderben zu bewahren; wenn Ordnung und Gesittung kein leerer Wahn; wenn für die Freiheit aller zu kämpfen ein Verdienst; wenn die in Not und Elend schmachtenden Massen unseres Volkes zu heben, das Brandmal planmäßiger Verrohung von deren Stirn zu wischen und sie zum Licht des reinen Menschentumes zu führen, Verdienst und Tugend ist, dann, dann fühl' ich mich frei von Vorwurf und werde gerechtfertigt stehen vor dem Antlitz der Geschichte, indes die Schmach, von der man hier spricht, wie Kainszeichen auf der Stirne derer brennen wird, welche herzlos genug jene Not erzeugten, die wir beseitigen wollen. TSCHEREVIN :

Das geht zu weit. Sie mißachten den bedingten Respekt. Sie schmähen den Zaren und den Gerichtshof, Sie machen sich von neuem des Todes schuldig. SOPHIA :

Soll ich lügen, wenn ich sprechen darf? Soll ich heucheln? Der Richter muß den Verklagten hören, wenn er nicht das Urteil schon beschlossen. Und wenn es auch schon beschlossen, fürchtet er, als Lebender, wenn ein Sterbender mit ihm redet? Wir wollen 142

unsere letzten Atemzüge nicht an Ihre Bekehrung verschwenden— TSCHEREVIN :

Was haben Sie noch zu Ihrer Entschuldigung zu sagen? SOPHIA :

Mich entschuldigen hieße Gnade erflehen, und Gnade suche ich nicht. Ich hasse die Demut. Der Widerwille vor ihr führte mich zum Nihilismus. Ich sah im väterlichen Palast die Diener und Beamten unwürdig beugen sich und sah dieselben, abgewendet, doppelzüngig, nach oben kriechend und nach unten bestialisch, diebisch und gesetzlos. Ich ging ins Kloster. Doch selbst im Kloster herrschte dieser Geist. Geldgierig, Grausamkeit und Herrschsucht allüberall, und dort auf das Kruzifix deutend, in dessen Namen werden die unaussprechlichsten Verbrechen ausgeführt. — Ich habe nach dem Umsturz dieser verrotteten Zustände gestrebt und zögere nicht, es hier öffentlich zu bekennen. Ich fürchte den Tod nicht. Über die Mörder meines Leibes wird das rächende Schwert des Volkes triumphieren. Mein Tod wird den Zeiger ihrer Totenuhr beschleunigen. TSCHEREVIN:

E s ist gut. Schreiten wir weiter. Was haben Sie zu sagen, Petrowitsch? PETROWITSCH :

Ich bewundere die Kühnheit des Herrn Staatsanwaltes. Aus der Meineidigkeit der Finder und Erfinder jenes Schriftstückes dreht er unseren Strick und macht uns glauben, wir sähen das nicht. Wahrlich! die Hypothese seiner Beweisführung ist meisterhaft. Sie gibt uns einen weiten Blick in die Perspektive der Korruption und eine schöne Gelegenheit, über die Identität von Intelligenz und Rebellion nachzusinnen. U m aber von meinem vermeintlichen Verbrechen zu reden, so sage ich nur: Rußlands edelste Söhne starben bisher in Sibirien und am Galgen. Das ist so traditionell seinen Henkern geworden, daß ihrer grenzenlosen Brutalität die Ironie entgeht, welche sich in dem alten Spiel der Geschichte wiederholt. Der Staatsanwalt hat von der Heiligkeit des Christentums gesprochen. Ich frage ihn: Starb Christus nicht als Aufrührer am Kreuz? Mußte Sokrates nicht den Giftbecher leeren? Giordano Bruno nicht den Scheiterhaufen besteigen? Galilei nicht im Kerker verschmachten? Wie jenen nun die Nachwelt Kränze des Ruhmes windet, ihre Henker aber mit Schmach bedeckt, so wird man auch einst Rußlands Märtyrer 143

verehren und ihren Mördern fluchen. Das ist meine Antwort. — Ich habe damit meine Henker gerichtet und sie für alle Zeiten der Verachtung der Menschheit preisgegeben. TSCHEREVIN:

Ich habe Sie aussprechen lassen, um ganz die Tiefe Ihrer Verworfenheit zu ermessen. Schauder durchzuckt uns bei dem Gedanken, Verbrecher wie Sie lebend zu wissen. Sie kennen Ihr Schicksal. Zu Jetzkewin: Und sie? Was haben Sie zu Ihrer Rechtfertigung anzuführen? JETZKEWIN :

Hoher Gerichtshof, Sie werden so grausam nicht sein, einen Unschuldigen zu hängen. Meine ganze Seele liegt vor Ihnen. Ich lüge nicht. Gott! Ich kenne die Angeklagten neben mir nicht. Zu den Angeklagten: Sprecht für mich! Sagt, ob ich euch je gesehen! Ich bin ja kein Nihilist! OLGA:

Er spricht die Wahrheit! — Sein feiges Betragen ist der unzweifelhafte Beweis seiner Unschuld. JETZKEWIN :

Hören Sie, hoher Gerichtshof? O Gott, es muß ein Irrtum obwalten, eine schlimme Verwechselung. Ich bin ein frommer Christ. Mein guter Name ist ruiniert und mein Geschäft. Und mein Weib ist gewiß um mich in Verzweiflung . . . TSCHEREVIN:

Hören Sie auf! Die Komödie ist widerlich! Beweise! JETZKEWIN :

Gott! Ich kann ja nichts beweisen. Ich bin ja unschuldig. Denken Sie an meine Kinder, Herr Präsident! Oh, es ist schrecklich, gehenkt zu werden! TSCHEREVIN :

Ihr Name steht auf jenem Papier. Ihr feiges, erbärmliches Leugnen hilft nichts. Bringen Sie unumstößliche Beweise. Zu Olga: Und Sie? Was führte Sie in die Reihen der Hochverräter? OLGA:

Zwei gleich mächtige Beweggründe, die um den Vorrang streiten. Das allgemeine Unrecht und das besondere. Wer die Geschichte meines Hauses kennt, kann nicht mehr fragen, was mich zur Nihilistin gemacht. Hört, Ihr Vertreter des Zarentums, und errötet! Mein Vater war General und doch geliebt beim Volk und beim Heer. Als Polens Söhne 1862 sich erhoben, um für Freiheit und Unabhängigkeit zu kämpfen, ward er durch mächtiger Feinde

144

Einfluß gegen die Polen kommandiert. Er gehorchte, befahl aber den Soldaten, selbst im Kampf die Menschlichkeit nicht abzustreifen und wehrloser Weiber und Kinder Leben zu schonen. Nach Petersburg berufen, wurde ihm deswegen der Prozeß gemacht. Ein Henker ging für ihn nach Polen, der die Besiegten zerfleischte und zu vielen Tausenden abschlachten ließ. Mein Vater aber ward von entmenschten Richtern nach Sibirien verbannt und seines Vermögens beraubt. Meinen einzigen Bruder, welcher fünfzehn Jahre älter als ich und den man als den Rächer des Vaters ansah, klagte man gleichfalls an und — ermordete ihn. Die Frauen Polens, die in und nach dem Aufstand Männer, Brüder, Väter und Söhne verloren hatten, legten Trauer an. Kosaken peitschten und schändeten sie dafür nach Willkür. Auch meine Mutter trauerte um Sohn und Gattefn]. Gefesselt wurde sie in den Kerker geworfen — wo sie an den brutalen Mißhandlungen verstarb. Ich, die letzte meines Hauses, wurde dem Kerkermeister meiner Mutter angeblich zur Erziehung übergeben. Eine alte, reiche Tante meines Vaters eilte, mich zu retten, indem sie mich von meinem bestellten Mörder kaufte und entführte. Doch die Henker der dritten Abteilung bemerkten meine Abwesenheit, hielten Rundschau im Kreise meiner Blutsverwandten, und abermals war mein und meiner Tante Leben in Gefahr. In einem Kloster verlebte ich meine Jugend. Meine Tante starb und verschrieb mir ihr Vermögen. Das reizte die Geldgier der heiligen Brüderschaft. Die falsche Priorin erzählte mir vom Vater, Bruder, von der Mutter und nannte sie ehrlose Verbrecher. Mein Herz empörte sich bei den Schmähungen meiner Familie, und zornig widersprach ich. Dies genügte, mich bei stinkendem Wasser und wenig Brot in einen von Unrat und Ungeziefer stinkenden finsteren Keller zu werfen. Ich ertrug die namenlose Qual wochenlang und wurde, scheinbar reuig und gebessert, wieder den anderen Zöglingen zugesellt. Doch täglich suchte man nach Vorwänden, mich zu vernichten. Die erste stürmische Winternacht benutzte ich, um zu fliehen. Halb erfroren fanden mich am anderen Tage am Rande des Waldes einige Bauern. Sie waren menschlicher als Aristokraten und Pfaffen. Sie nahmen mich auf und verbargen mich. Ich arbeitete mit ihnen nach besten Kräften und lernte die sogenannte Kanaille, Volk, kennen und lieben. Ich lernte aber auch kennen die ungeheure Not des Volkes und die unbeschreibliche Brutalität, Ausbeutungswut, Herrschsucht und Korruption seiner Unterdrücker. — 145

Ein hochgestellter Verwandter in Moskau hatte indes den Tod der Tante erfahren. Er sann darauf, sich durch eine Verbindung mit mir in den Besitz meines Vermögens zu setzen, ließ Nachforschungen anstellen und mich nach Moskau und Petersburg in die Kreise der privilegierten Gesellschaft überführen. Es war leicht, dem unerfahrenen Mädchen die Unterschrift unter eine Vollmacht zur Erhebung meines Vermögens abzuschwindeln. Mit meinem Gelde führte diese Stütze des Zarentums dann ein großes Haus, feierte wüste Bacchanalien. Da lernte ich mitten in dieser grenzenlosen Verworfenheit der herrschenden Klasse einen armen Offizier kennen, der ebenso reich an Geist wie großherzig. Seine erhabenen Ideale erquickten meinen Geist, eine neue Welt erschloß sich meinem Blick, ich war der Menschheit wiedergegeben. Da wurde der Krieg gegen die Türkei vom Zaun gebrochen, und mein Geliebter mußte ins Feld. Ich folgte als Samariterin, um mich der Gesellschaft nützlich zu machen. Es kam der Tag vor Plewna, der Namenstag des Zaren. Ihr wißt es: Zum Zeitvertreib des blutgierigen Tyrannen trieb man mehr denn dreißigtausend Söhne Rußlands gegen die kahlen, steilen, mit tausend Feuerschlünden besetzten, uneinnehmbaren Felswände. Löwenkühn fochten die Russen, doch gleich verzweifelt schlugen die Scharen Osman Paschas jeden Sturmangriff ab. Es war ein Massenmord, wie ihn die Welt noch nie so namenlos blutig und so zwecklos frivol zuvor gesehen. Berge blutender, zuckender Menschenleiber wurden aufgetürmt, nur um den trunkenen Blick des entmenschten Scheusals Alexander II. zu weiden. Beim letzten blutigen Ansturm der Russen, bei dem man die eigene Artillerie im Rücken der Opfer des Zaren aufgefahren, fiel auch mein Geliebter. Mitten aus dem Kugelregen, unter einem Wall von Leichen zog ich den Sterbenden hervor. Mit zerschmetterter Stirn und zerschossener Brust, der sein Herzblut entquoll, ließ er mich schwören, diesen ungeheuren Massenmord und die Schmach Rußlands an den Tyrannen im Namen des geschändeten Menschentums rächen zu helfen, eine Nihilistin zu werden. Wer fragt nun noch, ohne zu erröten, was ich zu meiner Rechtfertigung zu sagen? Ich sah regimenterweis die Soldaten verhungern, weil die Oberen sie um den Proviant betrogen. Ich sah Hunderte elend zugrunde gehen, weil die Arzneimittel gefälscht oder gar nicht geliefert waren. Ich machte Anzeige und wurde verfolgt, denn alle Oberen waren bei dem Diebstahl beteiligt. Reformen? Für Rußland gibt's keine Reformen, hier 146

hilft nur die Vernichtung des alten Systems, und diese Vernichtung habe ich erstrebt. Ihr wißt nun, was Ihr wissen wollt! Ihr könnt mich zum Tode verurteilen, ich werde nicht zucken. Olga von Kosowsky, die in zwanzig Schlachten dem Kugelregen die Stirn gewiesen, geholfen, wo zu helfen, und gerettet, wo es zu retten gab — sie zuckt auch nicht, wenn ein feiler Henkersknecht durch Mörder Machtspruch sie durch die Pforten des Todes in die Ewigkeit hinabstößt. TSCHEREVIN:

Sie sind erschöpft, Olga von Kosowsky. Setzen Sie sich. — Alexewitsch, die Reihe ist an Ihnen! A L E X E WITSCH:

Wenn schon Mitglieder der privilegierten Klassen die Korruption und die Not unerträglich finden und deshalb ausschließlich vom Nihilismus Heil und Besserung erwarten, um wieviel mehr müssen dann die Bauern und die Lohnarbeiter das gegenwärtige Schandsystem hassen? Sind sie es doch, auf deren Rücken der Adlige, der Polizist, der Fabrikant und seine Sklaventreiber die Knute tanzen lassen. Die größte Unterdrückung, die unerhörteste Ausplünderung und Ausschindung der Arbeitskräfte sowie die frechste Verhöhnung und die brutalste Mißhandlung wird doch immer dem Ärmsten, dem Niedrigsten, dem Wehrlosesten zuteil. Und fühlen die Armen und Ärmsten nicht ebensogut wie die Reichen und Gebildeten? Sind sie fühllos geworden, weil sie arm sind? Sind sie weniger wie das Vieh, weil sie arm sind? Die Bauern und Lohnarbeiter, die klug genug sind, die Reichtümer zu erzeugen, sind auch klug genug einzusehen, daß es ein frecher Raub und ein schreiendes Unrecht ist, ihnen die Früchte ihrer Arbeit wegzunehmen und einem faulen, korrupten, frechen Gesindel zum Verprassen in den Schoß zu werfen. Nehmt doch dem Reichen alles fort, was er hat, und verhöhnt ihn, peitscht ihn, bis er heult vor Schmerz, tretet ihn und malträtiert ihn so lange, bis er sich der brutalen Übermacht knirschend beugt und auf Geheiß den Raub und die Vergewaltigung als gesetzlichen Akt anerkennt — er wird euch sicherlich dann nicht lieben, sondern glühend hassen und auf euren Sturz unter allen Umständen und mit allen Mitteln bedacht sein. Nun, so geht es jetzt den Bauern und den Lohnarbeitern. Sie werden um die Früchte ihrer Arbeit beraubt, ein freches, arbeitsscheues Gesindel mästet sich mit dem Schweiße der beraubten Proletarier, und die privilegierten Räuber verhöhnen die Beraubten, sie peitschen und treten sie 147

zu ihrem Vergnügen, nur weil sie beweisen wollen, daß sie noch die Mächtigeren sind. Sie führen Hunderttausende frivolerweise auf die Schlachtfelder und lassen sie um ihrer Ruhm- und Ländergier willen zerreißen und morden! Sie verhindern die Bildung der Ausgebeuteten und verlangen doch von ihnen große Pflichten. Die Volksmasse ist rechtlos, aber ihr werden vermittelst der Knute ungeheure Steuern abgepreßt. Das Leben der Armen ist weniger geachtet und weniger geschützt als das der Tiere des Waldes! Das alles weiß und fühlt das Volk. Es ist mit unauslöschlichem Haß gegen die Tyrannei und ihre Träger erfüllt, und kommen wird der Tag, wo es eine furchtbare Abrechnung halten wird. Die sogenannte Bauernemanzipation vom 19. Februar 1861 ist ein großer, ungeheurer Schwindel. Die Bauern und Proletarier sind nicht frei, sondern immer noch Leibeigene. Nur die Form hat gewechselt, das Wesen der Leibeigenschaft ist hingegen in verschärfter Form zurückgeblieben. Der früher gesetzlich Leibeigne hatte wenigstens satt zu essen; durch die Neuerung erhielt er einen Fetzen unfruchtbaren Landes und die Freiheit, zu verhungern, wo er will. Er muß unerschwingliche Abfindungssummen an seinen früheren Herrn bezahlen; hohe Steuern werden ihm mit der Knute erpreßt, und, um diese Gelder aufzutreiben, fällt er dem Wucherer in die Hände. Er arbeitet, bis er niederfällt, für den Adligen, für den Staat und für den Wucherer, er selbst aber und die Seinigen müssen hungern, und Hunderttausende verhungern. Sind diese namenlos Geschundenen keine Leibeignen? Die Kinder der Bauern müssen, sobald sie laufen können, arbeiten. Mit neun Jahren werden sie in die Fabriken getrieben, wo die Peitsche sie zu unerhörten Anstrengungen zwingt für einen Hundelohn. Von Erziehung und Bildung ist keine Rede. Die erwachsenen Fabrikarbeiter müssen siebzehn und achtzehn Stunden des Tages arbeiten, für einen Lohn, wie ihn die Ausbeuter freiwillig gewähren, der natürlich nicht ausreicht, menschlich zu existieren. Wollen sie für 40 Kopeken nicht arbeiten, so kommt Polizei und Militär mit Knute, Kolben und Säbel, und die Streiker werden nach Sibirien geschickt. Sind diese Proletarier nicht noch Leibeigne? Bei schlechter Kost und harter Arbeit müssen die Fabrikarbeiter in leeren, schmutzigen, von Ungeziefer wimmelnden, elenden Hütten wohnen, auf dem bloßen Boden ihre müden Glieder ausstrecken und für ihre Ausbeuter Millionen Wertes erzeugen! Wer murrt, wird angeklagt

148

und als ein Aufrührer verbannt. Das Leben der Millionen Besitzlosen ist ein langsames, qualvolles, beständiges Hinsterben! Regierung, Polizei, Aristokraten, Kapitalisten, Pfaffen und Wucherer saugen sich, Vampiren gleich, an sie fest, und dieses menschliche Ungeziefer abschütteln wollen nennt man Hochverrat, und solche Hochverräter werden im Namen des Zaren in den Gefängnissen gefoltert, zu Tode gefoltert! RICHTER:

Halt! Das geht zu weit! Diese Frechheit ist unerhört! In Rußland wird niemand gefoltert. ALEXEWITSCH: I h r l ü g t ! H i e r d e r B e w e i s ! Will die bloße Brust

zeigen.

TSCHEREVIN :

Kosaken, fesselt ihn. ALEXEWITSCH:

Feige, heuchlerische Lügner? Ihr foltert Gefangene zu Tode und leugnet frech die Tatsache ab. Hier, ich selbst wurde gefoltert! TSCHEREVIN :

Das ist nicht wahr, du Hund! ALEXEWITSCH:

Wenn Ihr nicht lügt, weshalb laßt Ihr mich denn nicht meine Foltermale zeigen? Straft mich doch Lügen, wenn Ihr könnt. Die Wunden, die ich auf Brust und Rücken und Armen trage, sind die Brandmale Eurer Schande, Ihr feigen, heuchlerischen Henkersknechte! Oder wollt Ihr behaupten, ich hätte kunstgerecht mir selbst den Rücken zerfleischt und die Kraft meiner Arme gebrochen? Habe ich selbst mir in leerer Zelle die Glieder um Fingerlänge ausgereckt und studienhalber mich elektrisch martern lassen? Ihr schweigt? Wer riß das Fleisch mir fetzenweis' vom Rücken? Ich bin ja hier, nun untersucht mich doch, ob ich die Wahrheit sage oder lüge! Ihr glaubtet, ich würde schweigen, um neuen Qualen zu entgehen. Ihr irret! Und hätte ich zehn Leben qualvoll preiszugeben, ich gab' sie hin, um Euch die heuchlerische Maske von der Stirn zu reißen! TSCHEREVIN :

Schweigt und vernehmt das Urteil. Die Beweisaufnahme ist ges c h l o s s e n . Die

Richter

nicken

sich gegenseitig

zu.

Sämtliche

Ange-

klagten sind schuldig des Hochverrats. Im Namen seiner Majestät, des Zaren, verurteilen wir sämtliche Angeklagte zum Tode durch den Strang! 149

JETZKEWIN :

Mein Gott! Mein Gott! Ich bin unschuldig. — Ich werde den Zaren um Gnade bitten . . . PETROWITSCH :

Ihr habt mit diesem Todesurteil auf Jetzkewin zeigend vor dem Volke die Heuchlermaske von Eurem Gesicht gerissen, den Heiligenschein des Richters zerstört und nur den Henker zurückgelassen. Ihr seid . . . TSCHEREVIN

einfallend:

Führt sie fort, Kosaken! OLGA:

Die plumpe Komödie hättet Ihr sparen können. SOPHIA :

Feiglinge! Ihr gabt mit größerer Furcht das Urteil, als wir's empfangen. A L E X E WITSCH:

Ihr werdet über unseren Gräbern den Hals brechen. Große Aufregung.

Ein Kosake

KOSAK ein Schreiben

tritt ein.

übergebend:

Vom Zaren. TSCHEREVIN öffnet den Brief, zeigt ihn bestürzt den anderen Nach einer Pause zu den

Richtern.

Verurteilten:

Ich verkünde hiermit, daß es der unendlichen Gnade des Zaren gefallen hat, das über die Verurteilten ausgesprochene Todesurteil aufzuheben und in lebenslängliche Verbannung mit Zwangsarbeit in den Bergwerken Sibiriens umzuwandeln. OLGA:

Wir fluchen dieser Gnade! PETROWITSCH :

Das ist tausendfache Todesstrafe! SOPHIA :

Er ist zu feige, uns zu töten. Er will der über ihn verhängten Strafe entgehen. A L E X E WITSCH:

Noch eh' unser Fuß die Eisfelder Sibiriens betritt, soll sein Kadaver den Würmern zum Fräße dienen. Die Verurteilten hang fällt

150

werden mit Gewalt abgeführt. Große Aufregung.

schnell.

Vor-

Vierter Aufzug Wüste Winterlandschaft.

Schnee. Zwei Kosaken

mit Lanzen treten auf.

1. KOSAK:

Die Weiber sind heute schon marode, 's werden wohl wenige das Ziel erreichen. 2. K O S A K :

Es ist verdammt kalt. Komm! Wir wollen unsere Seele vom heiligen Geist erwärmen lassen. Trinken. Gefangene treten abteilungsweise

auf.

EINE F R A U :

Mir ist's, als ob ich sterben müßte! Sinkt nieder. EIN MANN:

Auch meine Kraft ist aus. Die dreißig Meilen wurden mir zur Höllenewigkeit. EIN ANDERER:

Wie werden die erst fühlen, die noch Ketten tragen?! Läßt sich nieder. BOBKIN:

Schlagt mein Zelt auf! Koppelt die Pferde! — Die Wagen dicht zusammen. Schurken, soll ich euch Beine machen? Ab. Sophia, Olga und Alexewitsch

treten auf.

SOPHIA:

Hier sind wir endlich, endlich! 0 wie kalt, wie schaurig! Es weht wie Tod in mein Gebein. OLGA:

Seit wir das Schiff verließen, seit unser Leiden sich mit jedem Tag gesteigert und das frühere noch immer als eine Wohltat im Vergleich zum gegenwärtigen erscheint, hab' ich verlernt zu murren. ALEXEWITSCH :

Ja, unsere Mörder haben uns den Tod lieben gelehrt. SOPHIA :

Ich werde den Morgen nicht erleben. Ich glaube, über meinem toten Körper werden die Sterne als Grableuchten glänzen. OLGA:

Oh, daß wir selbst nichts zu entbehren haben, dich vor dem Frost zu schützen. ALEXEWITSCH :

Der Bobkin könnte helfen, wenn er wollte. OLGA:

Wär' sie nicht ihrer Kleider im Gefängnisse beraubt . . . tatlos

151

sind wir der Willkür und dem Zufall und der Bosheit übergeben. EIN KOSAK

vortretend:

Was sprichst du?! Kennst du den Befehl nicht?! — A L E X E WITSCH:

Ich bitte dich, Freund, dieser Ärmsten ist eine Decke nötig. KOSAK:

Wird eine bekommen, und was für eine. Bobkin will ihr Quartier im Zelt geben. Soll es ihr melden. SOPHIA :

Nicht lebendig, sag's ihm. Die Erde ist menschlicher als er, sie stiehlt mir die Ehre nicht; in ihrem Arme schlafe ich unbefleckt dem ewigen Vergessen entgegen. Sag's ihm! KOSAK lacht:

Das wird sich zeigen! — Ab. SOPHIA :

Wenn ich nicht mehr bin und wenn du ihn wiedersehen solltest, der durch dieses Unmenschen Bosheit von meiner Seite gehalten wird, sag ihm, daß ich noch sterbend seiner gedenke. — OLGA :

Ich habe noch immer die Hoffnung auf Erlösung nicht verloren. A L E X E WITSCH:

Ich sah Petrowitsch heute abend. Leidend schlich er hin. Sein Anblick schuf den alten Haß, die alte Wut in meinem Busen. Oh, daß die Stunde der Vergeltung schlüge! SOPHIA ZU Olga:

Schmieg näher dich zu mir, noch näher. Die Nacht wirft ihren Schleier über uns. Scharf streicht der Wind wie über Totenstätten. Ich seh' den Ort schon, wo man mich verscharrt. Ein

Unbekannter

schleicht

heran.

ALEXEWITSCH:

Wer schleicht dort? Wie? Ist das nicht Feodor? — Erhebt sich. FEODOR:

Still! Kein Geräusch! Wir kommen, euch zu retten. — Es war ein scharfer Ritt, euch einzuholen. Hier, nimm die Schlüssel, löse deine Ketten und gib den andern Kunde, was geschieht. Gibt ihm einen Revolver. Wir liegen im Hinterhalt, ganz in der Nähe. ALEXEWITSCH:

Der erste Schuß sei euer Angriffszeichen. Feodor ab. Alexewitsch

schleicht

stert denselben die Nachricht

152

zu.

sich von Person

zu Person und

flü-

KOSAK

auftretend:

He! Holla! Auf! Zu Sophia: Der Hauptmann will dich sprechen! — Was säumst du? — Soll ich gewaltsam packen dich? — Schwingt die

Knute.

ALEXEWITSCH:

Du Schuft! Nimm dies als Antwort! Aufregung.

Viele Stimmen

B O B K I N ruft im

Schießt ihn

nieder.

werden laut.

Hintergrunde:

Schieß den Hund zusammen, der entflieht. Tod der Kanaille! Die Befreier

stürzen bewaffnet auf die Bühne

mit dem

Ausruf:

Tod den Henkern! BOBKIN

laut:

Was gibt's?

Wird im Hintergrunde

sichtbar.

ALEXEWITSCH:

Gerechtigkeit! —

Schießt Bobkin

nieder.

BOBKIN:

O weh! Ich bin getroffen!

Stirbt.

D i e B E F R E I E R u n d B E F R E I T E N rufen

durcheinander:

Hurra! Der Sieg ist unser! Alexewitsch

mit Petrowitsch

um Sophia

gruppiert.

ALEXEWITSCH

ZU

vortretend. Die Menge hat sich

inzwischen

Sophia:

Hier, Portia, dein Brutus! Petrowitsch

und Sophia

umarmen

sich.

FEODOR:

Hört, Freunde! Vernehmt die Geschichte eurer Befreiung! Eure Leiden sind gesühnt mit dem Blute eures Unterdrückers! — Der Tyrann Alexander II. lebt nicht mehr. Durch Volkswille ward er am 13. März in Petersburg gerichtet. Den Nihilisten verdankt ihr eure Rettung. ALLE :

Hoch die Nihilisten! Hoch unsre Befreier! ALEXEWITSCH

tritt in die

Mitte:

Hört mich, Brüder! Das prophetische Wort angesichts unserer Verbannung hat sich erfüllt. — Die rächende Faust des Volkes hat dem Tyrannen das Haupt zerschmettert. — Sein Tod ist ein Freudenfest der unzähligen Leidenden und sein Grabmal die Stätte des Fluches. — Sein fallender Leib hat die Throne Europas wanken und die gekrönten Verbrecher des Weltalls erzittern machen. — Die Mörder des Volkes hören die Sterbeglocke und verkriechen sich hinter die Sbirren. — Der Tod des Zaren ist 13

Poore, Anthologie

153

das Vorspiel der Vernichtung des Zarentums. Mit dem Sturz dieses Ungetümes wird die Gerechtigkeit den endlichen Sieg über die Bosheit davontragen. Die gewaltige Tat dieser vollzogenen Rache ist die Morgenröte der Erlösung der Menschheit. Mit dem Blut des Gerichteten grüßt sie die Geächteten und Sklaven Europas. — Erhebt euch, Brüder, aus dem Staube der Knechtschaft, schließt fest die Reihen, und mutig und heldenhaft greift in den Busen der Entschließung. Und wenn ihr alle an dem Unmut eurer Leiden das Schwert der Vergeltung schärft, wird die Stunde der sozialen Revolution und die kommende neue Zeit der Genius der Freiheit beschleunigen!

Anmerkungen zur Einleitung An dieser Stelle möchte ich noch einmal Eike Middell, Norbert Rothe, Christiane Klein und Alexandra Bednarz vom Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der D D R , Jutta Kolesnyk und dem Akademie-Verlag Berlin wie auch Hans-Joachim Bernhard, Jost Hermand und Albert Schmitt meinen Dank für ihre Unterstützung dieses Projektes aussprechen. 1 Vgl.: Carol Poore: German-American Socialist Literature. 1865—1900. Bern 1982. 2 Gustav Lyser: Requiescant in Pace! In: Vorbote. Chicago 4 (1877) 32, S. 1. 3 Vgl.: Hartmut Keil u. Heinz Ickstadt: Elemente einer deutschen Arbeiterkultur in Chicago zwischen 1880 und 1890. In: Geschichte und Gesellschaft. Berlin 5 (1979) 1, S. 120: „Literatur als Ausdruck subjektiver Erfahrung fehlt [. . .] so gut wie ganz." 4 Folgende Gedichtsammlungen u. a. von deutsch-amerikanischen Sozialisten enthalten „nicht-politische" Lyrik: Georg Biedenkapp: Sankta Liberias. New Y o r k 1893; Emilie Hof mann: Veilchen und Rote Nelken. Indianapolis 1905; Wilhelm Rosenberg: Liebesglück und Liebesleid. Cleveland 1916; Martin Schupp: Lerchensang und Schwerterklang. New Y o r k 1902. 5 Vgl. Herbert Gutman: Protestantism and the American Labor Movement. In: ders.: Work, Culture and Society. New Y o r k 1977, S. 88ff. (über die Häufigkeit apokalyptischer Revolutionsbilder unter englisch-sprechenden Arbeitern). 6 Einige der wichtigsten Darstellungen, die die deutsch-amerikanischen Sozialisten im Kontext der gesamten amerikanischen Arbeiterbewegung behandeln, sind: Robert Bruce: 1877. Y e a r of Violence. New York 1959; Henry David: The History of the Haymarket Affair. New Y o r k 1936; Philip Foner: The Great Labor Uprising of 1877. New Y o r k 1977; David Herreshoff: The Origins of American Marxism. New Y o r k 1973; Ira Kipnis: The American Socialist Movement 1897—1912. New York 1952; 157

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J o h n L a s l e t t : Labor and t h e Left. New York 1970; Karl Oberm a n n : Joseph Weydemeyer. New York 1947; H e r m a n n Schlüter: Die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in Amerika. S t u t t g a r t 1907, Nachdruck Bern 1984; H e r m a n n Schlüter: Die Internationale in Amerika. Chicago 1918. Die A k t i v i t ä t e n progressiver deutscher E m i g r a n t e n werden ausführlich dargestellt i n : Herreshoff: The Origins of American Marxism. A. a. O.; O b e r m a n n : Joseph Weydemeyer. A. a. O.; Schlüter: Die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in Amerika. A. a. O. Nützliche Informationen über die Erste Internationale in den USA finden sich i n : Samuel Bernstein: The First International in America. New York 1965; Schlüter: Die Internationale in Amerika. A. a. O. Vgl.: The F o r m a t i o n of the Workingmen's P a r t y of t h e United States. Hg. v. Philip Foner. New York 1976. Zum Eisenbahnerstreik vom J a h r e 1877 vgl.: Bruce: 1877. Year of Violence. A. a. O.; F o n e r : The Great Labor Uprising of 1877. A. a. O. Diese Statistiken s t a m m e n a u s : Herreshoff: The Origins of American Marxism. A. a. O., S. 114. Deutsch-amerikanische Sozialisten verbuchten ihre ersten überraschenden Wahlsiege n a c h dem großen Eisenbahnerstreik von 1877. Diese lokalen Erfolge in S t ä d t e n wie Louisville (Kentucky) waren jedoch kurzlebig. Ausführliche Informationen über K a n d i d a t e n , Strategien u n d Wahlergebnisse sind den Berichten der „New Yorker Volkszeitung" zu entnehmen. Dies war die Meinung von Friedrich Engels, die er mehrfach in Briefen an deutsch-amerikanische Sozialisten äußerte. Vgl.: Friedrich Engels: Brief an Friedrich Adolph Sorge vom 8.2.1890. I n : K a r l Marx/Friedrich Engels: Werke. Hg. v. I n s t i t u t f ü r Marxismus-Leninismus beim Z K der S E D . Berlin 1967, Bd. 37, S. 352-353Vgl.: Chester M. Destier: American Radicalism 1865—1901. Chicago 1966. Zur Sozialistischen P a r t e i vgl.: Kipnis: The American Socialist Movement. 1897—1912. A. a. O. Vgl.: H a r t m u t Keil: The New Unions: German and American Workers in New York City. 1870—1885. Unveröffentlichtes Manuskript. Vgl. a u c h : L a s l e t t : Labor a n d t h e L e f t . A. a. O. Vgl.: Philip F o n e r : H i s t o r y of t h e Labor Movement in t h e United States. New Y o r k 1947. Bd. 2, S. 33. Vgl.: Philip F o n e r : P r o t e s t s in t h e USA against Bismarck's Anti-Socialist Law. I n : I n t e r n a t i o n a l Review of Social History. Assen 21 (1976) 1, S. 32.

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ig Ebd.; vgl. des weiteren die Berichte über diese Protestveranstaltung in der „New Yorker Volkszeitung" vom Januar 1879. 20 Vgl.: New Yorker Volkszeitung. New York, 20. 12. 1880, S. 4. 21 Vgl.: New Yorker Volkszeitung. New York, 20. 1. 1881, S. 4, u. 10. 7. 1881, S. 4. 22 So sammelte die SAP im Jahre 1885 mehr als 16000 M und im Jahre 1887 mehr als 40000 M für den Wahlfonds der deutschen Sozialdemokratie. Vgl.: Bericht des National-Exekutiv-Komitees der SAEf zum Parteitag 1885: Socialist Labor Party Papers. Wisconsin State Historical Society. Vgl. auch: Ignaz Auer: Nach 10 Jahren. Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes. London 1889—1890, S. 55—56. 23 Im Frühjahr 1881 brachte die „New Yorker Volkszeitung" detaillierte Berichte über Reden und Aktivitäten. 24 Ihre Reiseroute wird im New Yorker „Sozialist" vom 2. 9. 1886 angegeben. Vgl. auch: Eleanor Marx Aveling u. Edward Aveling: The Working-Class Movement in America. London 1888; Wilhelm Liebknecht: Ein Blick in die neue Welt. Reisebeschreibung. Stuttgart 1887; vgl.: Karl Obermann: Die Amerikareise Wilhelm Liebknechts im Jahre 1886. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Berlin 14 (1966) 4, S. 61 i f f . 25 Vgl.: Die vaterlandslosen Gesellen. Der Sozialismus im Licht der Geheimberichte der preußischen Polizei. 1878—1914. Hg. v. Reinhard Höhn. Köln 1964; vgl. auch: Zusammenfassender Bericht des Polizeipräsidiums über die Agitationsreise Wilhelm Liebknechts durch die USA. Zit. in: Gerhard Becker: Die Agitationsreise Wilhelm Liebknechts durch die USA 1876. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Berlin 15 (1967) 5, S. 842-862. 26 In: New Yorker Volkszeitung. New York, 2. 10. 1878, S. 2. 27 Vgl.: Die vaterlandslosen Gesellen. A. a. O., S. 328. 28 Ebd., S. 248. 29 Vgl. die Liste dieser verbotenen Publikationen in: Poore: German-American Socialist Literature. A. a. O., S. 170—172. 30 Vorwort zu: Auer: Nach 10 Jahren. A. a. O. 31 Über den Einfluß von Most in den USA vgl.: David: The History of the Haymarket-Affair. A. a. O., S. 83ff.; vgl. auch die Biographie von Rudolf Rocker: Johann Most. Berlin 1924. 32 Die Diskussion des Pittsburgher Kongresses dokumentiert Henry David in: The History of the Haymarket Affair. A. a. O., S. 82 ff. 33 Im Jahre 1885 hatte die Central Labor Union in Chicago ungefähr 12000 Mitglieder. Vgl.: David: The History of the Hay.market Affair. A. a. O., S. 150. 34 Die beste Darstellung dieses zentralen Ereignisses der ameri. 159

kanischen Arbeiterbewegung ist bei H e n r y David, a. a. O., zu finden. 35 Vgl.: J o h n H i g h a m : Strangers in t h e L a n d . P a t t e r n s of American Nativism. 1860—1925. New York 1970. 36 Vgl.: Friedrich Engels, der in „Die Arbeiterbewegung in Amer i k a " die Ereignisse von 1885 bis 1886 wie folgt b e u r t e i l t : „Während dieser zehn Monate h a t sich in der amerikanischen Gesells c h a f t eine Revolution vollzogen, die in jedem a n d e r n L a n d e mindestens zehn J a h r e g e b r a u c h t h ä t t e . I m F e b r u a r 1886 w a r die öffentliche Meinung Amerikas einstimmig in diesem einen P u n k t : d a ß in Amerika eine Arbeiterklasse — im europäischen Sinn — ü b e r h a u p t n i c h t bestehe; d a ß folglich ein Klassenkampf zwischen Arbeitern u n d Kapitalisten, wie er die europäische Gesellschaft entzweireißt, in der amerikanischen Republik u n möglich sei; u n d d a ß daher der Sozialismus ein von a u ß e n eingef ü h r t e s Gewächs sei, unfähig, im amerikanischen Boden Wurzel zu fassen. U n d doch warf gerade d a m a l s der hereinbrechende Klassenkampf bereits seinen Riesenschatten vor sich her in den Streiks der pennsylvanischen Kohlengräber u n d vieler a n d e r n Gewerke, u n d ganz besonders in den Vorbereitungen — in allen Gegenden des L a n d e s — zur großen Achtstundenbewegung, die f ü r den Monat Mai angesetzt war u n d im Mai a u c h wirklich erfolgte. [. . .] W a s aber niemand voraussehn konnte, das war, d a ß die Bewegung in so kurzer Zeit m i t solch unwiderstehlicher K r ^ f t losbrechen, d a ß sie u m sich greifen werde m i t der Schnelligkeit eines Präriebrandes, d a ß sie schon j e t z t die amerikanische Gesellschaft erschüttern werde bis in ihre Grundfesten. [. . .] Trotzdem ist das alles n u r der Anfang." I n : K a r l Marx/Friedrich Engels: Werke. A . a . O . , B d . 21, S. 335—337. 37 Ein ausgezeichneter Überblick über einige dieser D e b a t t e n wird von J o h n Laslett u n d Seymour Lipset (Hg.) gegeben i n : Failure of a Dream? Essays in t h e H i s t o r y of U . S. Socialism. New Y o r k 1974. 38 Vgl.: Friedrich Engels: Brief an Friedrich Adolph Sorge vom 2. 12. 1893. I n K a r l Marx/Friedrich Engels: Werke. A. a. O., Bd. 39, S. 173. 39 Vgl.: Friedrich Engels: Brief a n Friedrich Adolph Sorge vom 6. 1. 1892. I n : K a r l Marx/Friedrich Engels: Werke. A. a. O., Bd. 38, S. 245-246. 40 Vgl.: Friedrich Engels: Brief a n Friedrich Adolph Sorge vom 2. 12. 1893. I n : Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. A. a. O., Bd. 39, S. 173. 41 Adolf D o u a i : Die Auswanderung als Mittel zur Lösung der sozialen Aufgabe. I n : J a h r b u c h f ü r Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Zürich 1881, Bd. 2, S. 105.

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42 U b e r diese H a l t u n g innerhalb der SAP vgl.: J a m e s Stevenson: Daniel DeLeon. Diss. University of Wisconsin 1977, S. 53 f. 43 Uber die Sprachgruppen der Sozialistischen Partei vgl. David S h a n n o n : The Socialist P a r t y of America. Chicago 1967, S. 43 ff44 Vgl.: William Z. F o s t e r : H i s t o r y of t h e Communist P a r t y of t h e United States. New York 1952, S. 260 ff. 45 Eine möglichst vollständige Liste der deutsch-amerikanischen sozialistischen Zeitungen erscheint im Anhang z u : Poore: German-American Socialist Literature. A. a. O., S. 165—169. Vgl. a u c h : Karl J . R . A r n d t u. May Olson: German-American Newspapers andPeriodicals. 1732—1955. 2. Aufl. Heidelberg 1965. 46 Zu August Otto-Walster. vgl.: August Otto-Walster. Leben und Werk. Eine Auswahl m i t unveröffentlichten Briefen an Karl Marx. H g . v. Wolfgang Friedrich. Berlin 1966 (Textausgaben zur f r ü h e n sozialistischen L i t e r a t u r in Deutschland. Bd. V I I ) . 47 Zur deutsch-amerikanischen sozialistischen Presse vgl.: Poore: German-American Socialist Literature. A. a. O., S. 51 ff. 48 Vgl.: Socialist Labor P a r t y Papers. Wisconsin S t a t e Historical Society, Gesamttätigkeitsbericht des National-Exekutiv-Komitees der SAP vom 1. J a n u a r bis 1. Oktober 1885. New York, S. 4. 49 New Yorker Volkszeitung. New York, 2. 6. 1894, S. 1. 50 Zum f r ü h e n sozialistischen Arbeitertheater in Deutschland vgl. u. a . : F r ü h e s deutsches Arbeitertheater. 1847—1918. Eine Dokum e n t a t i o n von Friedrich Kniiii u. Ursula Münchow. München 1970; Peter von R ü d e n : Sozialdemokratisches Arbeitertheater. 1848—1914. F r a n k f u r t a. M. 1973, und die entsprechenden B ä n d e in der Reihe: Textausgaben zur f r ü h e n sozialistischen L i t e r a t u r in Deutschland. H g . v. Zentralinstitut f ü r Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R . Berlin 1963 ff51 Zum Beispiel erklärte der Sozialist E d u a r d D e u ß den Unterschied zwischen den Arbeitergesangvereinen und anderen Gruppen wie folgt: „Letztere verherrlichen in ihren Gesängen alles das, w a s wir als vernunftwidrig, nebensächlich und kriecherisch ansehen. Sie singen darin einer vernunftwidrigen Gottheit ihr H o s i a n n a h ; sie beweihräuchern darin ein königliches Gottesgnadentum und ergehen sich in Bücklingen und R ü c k g r a t k r ü m m u n g e n vor Dingen und Menschen, denen wir unsere Reverenz versagen müssen, während sie das Arbeiterlied in Acht u n d B a n n t u n . Dieses geschieht, wie die Anhänger dieser Gesangvereine behaupten, im Interesse der K u n s t des Gesanges; der Realismus im Gesang wird verpönt, weil die K u n s t d a r ü b e r

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erhaben sein soll." I n : Festzeitung des Arbeiter-Sängerbundes des Nordwestens, J u n i 1906, S. 9. 52 Vgl.: Peter Brückner u. Gabriele Ricke: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in der Arbeiterbewegung. I n : Das U n vermögen der Realität. Hg. v. Peter Brückner u. a. Berlin 1974. S. 37-6853 Vgl. die Berichte im März 1883 in der „New Yorker Volkszeitung". 54 Zu den Reaktionen der deutsch-amerikanischen Sozialisten auf die H u n d e r t j a h r f e i e r vgl.: Carol Poore: Whose Celebration? The Centennial of 1876 and German-American Socialist Culture. I n : America and t h e Germans. An Assessment of a 300-Year History. Hg. v. F r a n k Trommler. Philadelphia 1985, B d . 1. 55 Vgl.: L i t e r a t u r und proletarische K u l t u r . Beiträge zur K u l t u r geschichte der deutschen Arbeiterklasse im 19. J a h r h u n d e r t . Hg. v. Dietrich Mühlberg u. Rainer Rosenberg. Berlin 1983 (Literatur und Gesellschaft). 56 Zum Beispiel findet m a n in der New Yorker Zeitung „Sozialist" vom 9. April 1887 eine lange Liste m i t deutschen Publikationen, die man durch die SAP bestellen konnte. 57 Zu diesen Entwicklungen (in Chicago) vgl. vor allem: Klaus Ensslen u. Heinz I c k s t a d t : German Working-Class Culture in Chicago. Continuity and Change in t h e Decade f r o m 1900 t o 1910. I n : German Workers in I n d u s t r i a l Chicago. 1850—1910. Hg. v. H a r t m u t Keil u. J o h n B. J e n t z . Dekalb, Illinois 1983. — Ein neuer Ansporn zur Produktion deutschsprachiger, revolutionärer L i t e r a t u r in den USA e n t s t a n d erst wieder durch die Gründung einer deutschen Sprachgruppe innerhalb der K o m m u nistischen P a r t e i der USA. So schrieben Mitglieder des k o m m u nistischen Agitproptheaters, der „Proletbühne", eigene Stücke, die sie in den zwanziger und dreißiger J a h r e n in New York und anderen Städten a u f f ü h r t e n . Vgl.: Daniel F r i e d m a n : The Proletbühne. Diss. University of Wisconsin 1978. 58 Zu diesen Kategorien von Gedichten vgl. Bernd W i t t e : Deutsche Arbeiterliteratur von den Anfängen bis 1914. S t u t t g a r t 1977. 59 Vgl. August Otto-Walster: Ein verunglückter Agitator. I n : Aus den Anfängen der sozialistischen D r a m a t i k I. H g . v. Ursula Münchow. Berlin 1964, S. 33—77 (Textausgaben zur f r ü h e n sozialistischen L i t e r a t u r in Deutschland. Bd. I I I ) . 60 Vgl. den Auszug aus Wilhelm Rosenbergs Stück „Vor der Wahlschlacht" i n : Frühes deutsches Arbeitertheater. A. a. O.; Rosenbergs E i n a k t e r sind sonst u n a u f f i n d b a r geblieben. 61 Das Stück w u r d e lange August Spies zugeschrieben, s t a m m t aber wahrscheinlich von P a u l Grottkau (1846—1899) u n d Wilhelm Rosenberg.

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Fackel. Chicago, 12. 3. 1882, S. 8. Arbeiter-Zeitung. Chicago, 20. 3. 1882, S. 4. Fackel. Chicago, 12. 3. 1882, S. 8. Z u m Beispiel druckte die deutsch-amerikanische sozialistisch Presse W e r k e von A u g u s t Otto-Walster, Minna K a u t s k y und anderen sozialdemokratischen Autoren in Fortsetzungen. 66 Eine weitere Reihe interessanter Berichte aus dem Leben eingewanderter Arbeiter war der „Fabrikantenspiegel", der 1873 regelmäßig in der N e w Y o r k e r „Neuen Arbeiter-Zeitung" erschien. Hier beschrieben Journalisten und Arbeiter ihre E r f a h rungen in verschiedenen F a b r i k e n N e w Y o r k s . 67 Z u m K o n z e p t der „operativen" Literatur v g l . : Gerald Stieg u. Bernd W i t t e : A b r i ß einer Geschichte der deutschen Arbeiterliteratur. S t u t t g a r t 1973. 68 Diesen Unterschied zwischen Form, Inhalt und funktionellem K o n t e x t entwickelt Jürgen K o c k a in seinem A u f s a t z : „Arbeiterkultur als Forschungsthema". I n : Geschichte und Gesellschaft. Berlin 5 (1979) 1, S. 5—12.

Anmerkungen zu den Texten Die Orthographie der T e x t e wurde modernisiert bzw. korrigiert desgleichen, allerdings vorsichtig und unter Berücksichtigung stilistischer Eigenheiten, die Interpunktion. Formale Hervorhebungen wurden getilgt. Einige wenige eindeutige Fehler in der W o r t w a h l wurden ebenfalls korrigiert. T i t e l in eckigen K l a m m e r n stammen v o n der Herausgeberin. [. . .] kennzeichnet eine Auslassung im Zitat. In den folgenden biblio- und biographischen Angaben werden nur solche Werke erwähnt, die die sozialistische Gesinnung des A u t o r s aufzeigen und die während oder nach der Emigration veröffentlicht wurden. Die Bibliographien erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. S. 3

S. 3

Julius Zorn: (um 1853 Pforzheim/Baden —? U S A ) . 1874 nach den U S A . Fabrikarbeiter bis 1899, als er zum Vorsitzenden des Brauereiarbeiterverbandes gewählt wurde. In Arbeitergesangvereinen tätig. Seine Gedichte wurden in der sozialistischen Presse veröffentlicht. Mein Lied! Mein Wunsch! A b d r u c k n a c h : Stimmen der Freiheit. Blütenlese der besten Schöpfungen unserer Arbeiterund Volksdichter. H g . v. K o n r a d Beißwanger. 4. A u f l . Nürnberg 1914, S. 697 f.

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Fackel. Chicago, 12. 3. 1882, S. 8. Arbeiter-Zeitung. Chicago, 20. 3. 1882, S. 4. Fackel. Chicago, 12. 3. 1882, S. 8. Z u m Beispiel druckte die deutsch-amerikanische sozialistisch Presse W e r k e von A u g u s t Otto-Walster, Minna K a u t s k y und anderen sozialdemokratischen Autoren in Fortsetzungen. 66 Eine weitere Reihe interessanter Berichte aus dem Leben eingewanderter Arbeiter war der „Fabrikantenspiegel", der 1873 regelmäßig in der N e w Y o r k e r „Neuen Arbeiter-Zeitung" erschien. Hier beschrieben Journalisten und Arbeiter ihre E r f a h rungen in verschiedenen F a b r i k e n N e w Y o r k s . 67 Z u m K o n z e p t der „operativen" Literatur v g l . : Gerald Stieg u. Bernd W i t t e : A b r i ß einer Geschichte der deutschen Arbeiterliteratur. S t u t t g a r t 1973. 68 Diesen Unterschied zwischen Form, Inhalt und funktionellem K o n t e x t entwickelt Jürgen K o c k a in seinem A u f s a t z : „Arbeiterkultur als Forschungsthema". I n : Geschichte und Gesellschaft. Berlin 5 (1979) 1, S. 5—12.

Anmerkungen zu den Texten Die Orthographie der T e x t e wurde modernisiert bzw. korrigiert desgleichen, allerdings vorsichtig und unter Berücksichtigung stilistischer Eigenheiten, die Interpunktion. Formale Hervorhebungen wurden getilgt. Einige wenige eindeutige Fehler in der W o r t w a h l wurden ebenfalls korrigiert. T i t e l in eckigen K l a m m e r n stammen v o n der Herausgeberin. [. . .] kennzeichnet eine Auslassung im Zitat. In den folgenden biblio- und biographischen Angaben werden nur solche Werke erwähnt, die die sozialistische Gesinnung des A u t o r s aufzeigen und die während oder nach der Emigration veröffentlicht wurden. Die Bibliographien erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. S. 3

S. 3

Julius Zorn: (um 1853 Pforzheim/Baden —? U S A ) . 1874 nach den U S A . Fabrikarbeiter bis 1899, als er zum Vorsitzenden des Brauereiarbeiterverbandes gewählt wurde. In Arbeitergesangvereinen tätig. Seine Gedichte wurden in der sozialistischen Presse veröffentlicht. Mein Lied! Mein Wunsch! A b d r u c k n a c h : Stimmen der Freiheit. Blütenlese der besten Schöpfungen unserer Arbeiterund Volksdichter. H g . v. K o n r a d Beißwanger. 4. A u f l . Nürnberg 1914, S. 697 f.

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S. 4

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Franz Bufe: Zigarrenarbeiter. 1884 nach den U S A . Tätigkeit in Arbeitergesangvereinen. Nähere Lebensdaten nicht zu ermitteln. Werke: Licht und Schatten. Diverse Gedichte. Moline/Illinois 1906. Zwei Wege: Abdruck nach: Bufe: Licht und Schatten. A. a.

O.. S. 34-35. S. 6

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Ein Vagabund: Abdruck nach: New Yorker Volkszeitung. Den Interessen des arbeitenden Volkes gewidmet. Hg. v . der Socialistic Co-operative Publishing Association. New York, 29. 1. 1882, S. 5. Julius Grunzig: (1861 — ? USA). Emigration nach 1879, als er wegen der Verteilung sozialistischer Zeitungen in Berlin verhaftet und nicht zur Universität zugelassen wurde. Mitarbeiter an der „New Yorker Volkszeitung" und Redakteur an der Newarker „New Jersey Arbeiterzeitung". Veröffentlichte kurze Prosastücke im New Yorker „Pionier-Kalender". Die Solidarität: Abdruck nach: Der Sozialist. Zentral-Organ der Sozialistischen Arbeiterpartei von Nord-Amerika. Hg. v. National-Exekutiv-Komitee. New York 3 (1887) 8, S. 1. Friedrich Wilhelm Fritzsche: (1825 Leipzig — 1905 Philadelphia). Zigarrenarbeiter. Bekanntschaft mit Lassalle, Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. 1871—1878 sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter. Zum ersten Mal 1881 mit Louis Viereck nach den USA, um Vorträge zu halten und Geld zu sammeln für die deutsche Sozialdemokratie. Kurz danach siedelten beide in die U S A über. Schrieb Gedichte und kurze Prosastücke für die sozialistische Presse, insbesondere für das „Philadelphia Tageblatt". Werke: Blut-Rosen. Sozialpolitische Gedichte. Baltimore 1890. Mein Vaterland: Abdruck nach: Fritzsche: Blut-Rosen. A. a. O., S. 7. Wilhelm Rosenberg: Wilhelm Ludwig Rosenberg (1850 Hamm/Westfalen — nach 1930 USA). Dr. phil., lehrte Latein und Französisch in Frankfurt a. M. Seit 1875 Mitarbeit an „Die neue Welt". 1880 Emigration nach den U S A . Mitherausgeber von mehreren sozialistischen Zeitungen, Sekretär des National-Exekutiv-Komitees der Sozialistischen Arbeiterpartei von 1885 bis 1890 in New York. Während dieser Zeit erschienen viele seiner Gedichte in der sozialistischen Presse. Nach 1890 zog er sich von der sozialistischen Bewegung zurück und siedelte nach Cleveland im Staat Ohio über, wo er seinen Lehrerberuf wieder aufnahm und eine Schule für sprachbehinderte Kinder gründete.

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Der produktivste deutsch-amerikanische sozialistische Autor. Rosenberg schrieb u. a. fünf Gedichtbände und mindestens zwölf Einakter. Werke: Vor der Wahlschlacht. New York 1887; Aus dem Reiche des Tantalus. Alfresco-Skizzen. Zürich 1888; Crumbleton. Soziales Drama. Cleveland 1898; An der Weltenwende. Gedichte. Cleveland 1910; Krieg dem Kriege. Gedichte. Cleveland 1915; Weltverrat und Weltgericht. Cleveland 1921; Die Geisterschlacht. Cincinnati o. J. Falsches Heimweh: Abdruck nach: Rosenberg: An der Weltenwende. A. a. O., S. 77—78. Die Geisterschlacht: Abdruck nach: Rosenberg: Die Geisterschlacht. A. a. O. Neue Zeit: Die neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens. Organ der deutschen Sozialdemokratie. Torquemada: Tomas de Torquemada (1420—1498), Dominikaner, leitete die Inquisition in Spanien. Hermandad: 1476 wurde die „Santa Hermandad" oder „Heilige Brüderschaft" gegründet, die später als Nationalpolizei fungierte. Viermal wurde Generalmarsch geblasen: Hinweis auf die Reichstagswahlen während des Sozialistengesetzes. Gustav Lyser: (1841 Dresden — 1909 USA). Sohn des Vormärzlers Ludwig Burmeister. Mitarbeiter am „Braunschweiger Volksfreund". 1873 aus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands ausgeschlossen. Emigration 1874. Redakteur des New Yorker „Sozial-Demokrat", Organ der Nordamerikanischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, bis 1875, als er wegen seiner gewerkschaftsfeindlichen Gesinnung aus dieser Partei ausgeschlossen wurde. Im Jahre 1876 gab er die Milwaukeer Zeitungen „Sozialist", „Rote Laterne" und „Leuchtkugeln" heraus. Übersiedlung 1878 nach Chicago, wo er an den dortigen sozialistischen Zeitungen mitarbeitete und die Organisationen bewaffneter Arbeiter (vgl. Anm. zu S. 77) aktiv unterstützte. 1880 ging er wieder nach Milwaukee und zog sich schließlich von der Arbeiterbewegung zurück. Veröffentlichte zahlreiche Gedichte in sozialistischen Zeitungen. An unsere Brüder in der alten Heimat: Abdruck nach: Vorbote. Chicago 4 (1887) 31, S. 1. Rudolph Saur: Lebejisdaten nicht zu ermitteln. Werke: Gedichte. Washington 1898. Betrachtungen über den großen Arbeiterstreik: Abdruck nach: Arbeiterstimme. Organ und Eigentum der Arbeiterpartei der Vereinigten Staaten. New York, 9. 9. 1877, S. 4. Arbeiterstreik: Eisenbahnerstreik von 1877.

S. 19 Grant: Ulysses H. Grant (1822—1885), General im amerikanischen Bürgerkrieg und 18. Präsident der USA 1869—1877. S. 20 Columbia und Germania: Abdruck nach: Vorbote. Chicago 5 (1878) 40, S. 7. S. 20 Columbia: Personifizierung der USA, nach Kolumbus. S. 22 Emil Friedrich: Lebensdaten nicht zu ermitteln. S. 22 Wilhelm Liebknecht: Abdruck nach: Der Sozialist. A. a. O. 2 (1886) 38, S. 4 - Vgl.: Wilhelm Liebknecht: Ein Blick in die neue Welt. Reisebeschreibung. Stuttgart 1887; und: Eleanor Marx Aveling u. Edward Aveling: The Working-Class Movement in America. London 1888. S. 22 4. Juli-Paraphrase: Abdruck nach: Rosenberg: An der Welten wende. A. a. O., S. 31. S. 22 4. Juli: Der amerikanische Unabhängigkeitstag (1776), an dem Feuerwerkveranstaltungen üblich sind. S. 24 Aus der Streikgeschichte der pennsylvanischen Kohlengräber: Abdruck nach: Rosenberg: An der Weltenwende. A. a. O., S. 39 f. S. 24 Pinkertoner: Privatdetektive, die wegen ihrer gewerkschaftsfeindlichen Gesinnung berüchtigt waren. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kam es zu Streiks und großen Unruhen in den Bergarbeiterdistrikten Pennsylvaniens. S. 25 Hazleton (Freitag, 10. Sept. i8gy) : Abdruck nach: Rosenberg: An der Weltenwende. A. a. O., S. 62 f. S. 25 Hazleton: Stadt im Bergarbeiterdistrikt von Pennsylvanien, wo an diesem Tag mehrere Streikende erschossen wurden. S. 26 Eine Schwerenotsepistel: Abdruck nach: Arbeiter-Zeitung. Buffalo, 10. 8. 1898, S. 1. S. 26 dieser Krieg: Das Gedicht handelt vom Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten im Jahre 1898. S. 27 Onkel Sam: „Uncle Sam", Personifizierung der Regierung oder der Bevölkerung der USA. S. 28 Die zehn Gebote: Abdruck nach: Arbeiter-Union. New York, 9. 8. 1869, S. 4. S. 28 Eine neue Konstitution für die verunreinigten Staaten von Amerika: Abdruck nach: Milwaukeer Leuchtkugeln, 13. 8. 1876, S. 2. — Der Autor ist höchstwahrscheinlich Gustav Lyser (vgl. Anm. zu. S. 18). S. 29 [Aus dem Witzblatt]: Abdruck nach: Vorbote. Chicago 5 (1878) 10, S. 7. S. 29 Präsident Hayes: Rutherford B. Hayes (1822—1893), Präsident der USA (1877-1881). S. 29 [Carl] Schurz: (1829—1906). Achtundvierziger, General im amerikanischen Bürgerkrieg, Innenminister in der Hayes-Regierung.

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Versammlungsrecht: Nach den Streiks und Unruhen vom Jahre 1877 verabschiedeten einige Städte und Gemeinden Gesetze, die das Versammlungsrecht einschränkten. Neuester Arbeiter-Katechismus: Abdruck nach: New Yorker Volkszeitung. A. a. O., 18. 6. 1878, S. 2. „ The Song of the Ninety and Nine": Abdruck nach: Der Sozialist. A. a. O. 3 (1887) 30, S. 1. The Song of the Ninety and Nine: Titel eines beliebten Kirchenliedes, bezieht sich auf die biblische Parabel von dem verlorenen Schaf. Jakob Franz: (1846 Bayern — 1902 USA). Emigration nach den U S A 1878. Aktives Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei in Brooklyn, New York. Schrieb Gedichte und ökonomische Abhandlungen für die sozialistische Presse. Arbeiter-Wörterbuch: Abdruck nach: New Yorker Volkszeitung. A. a. O., 22. 5. 1887. Boodle: Schmiergeld. Astor, Vanderbilt, Rockefeiler, Knickerbocker: Einige der führenden Kapitalisten der U S A . New York Staatszeitung: Deutsch-amerikanische bürgerliche Zeitung in New York City. Alexander Jonas: (1834 Berlin — 1912 New York). Sohn eines wohlhabenden Berliner Buchhändlers. 1869 nach den USA, wo er zuerst in Freidenker kreisen und für Frauenrechte tätig war. 1877 wurde er Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei. 1876—1878 Redakteur des offiziellen Parteiorgans, der New Yorker „Arbeiter-Stimme". Mitbegründer und Mitherausgeber der „New Yorker Volkszeitung", in der er Gedichte, Geschichten und Reportagen über das Leben der New Yorker Arbeiter veröffentlichte. Werke: Reporter und Sozialist. New York 1884. Die Göttin der Freiheit: Abdruck nach: New Yorker Volkszeitung. A. a. O., 13. 7. 1884, S. 4. Battery Park: Der südlichste Stadtteil der ManhattanInsel in New York City. Emigranten-Runner: Vertreter von Unternehmern, die neuangekommene Einwanderer zu niedrigen Löhnen und ungünstigen Bedingungen einstellten. Tenementhäuser: Mietskasernen. das richtige „Ticket" stimmen: Für die „richtige" Partei, die „richtigen" Kandidaten stimmen. wegstoren: einlagern, verstauen Conrad Conzett: (1848 Chur/Schweiz — 1897 USA). Gewerkschaftler, Mitglied der I. Internationale in Chicago

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und Schriftsetzer für den Chicagoer „Vorboten". Beging Selbstmord. Der Reiche an seinen Sohn: Abdruck nach: Vorbote. Chicago 2 (1875) 9, S. 4. Respekt vor dem menschlichen Geist: Abdruck nach: Vorbote. Chicago 5 (1878) 4, S. 7. In der Fron: Abdruck nach: Pionier-Kalender. New York 1893Ernst Schmidt: (1830 Franken — 1900 Chicago). Achtundvierziger, ging nach 1848 ins schweizerische Exil. Wiederkehr nach Deutschland, wo er Medizin studierte. 1856 nach den U S A , w o er anfangs am Kampf gegen die Sklaverei (Abolitionismus) in Chicago teilnahm. Kandidierte 1879 bei der Bürgermeisterwahl von Chicago, unterstützte die Chicagoer Sozialrevolutionäre. Das Lied vom Streik: Abdruck nach: Pionier-Kalender. New York 1894, S. 62. Klage eines Proletariers im Central Park: Abdruck nach: Pionier-Kalender. New York 1899, S. 8. Der Weltenherrscher: Abdruck nach: Rosenberg: An der Weltenwende. A. a. O., S. 15. Martin Schupp: Veröffentlichte Gedichte in der „New Yorker Volkszeitung". Verkehrte in Anarchistenkreisen in New York. Veröffentlichungen in Johann Mösts „Freiheit". Nähere Lebensdaten nicht zu ermitteln. Werke: Lerchensang und Schwerterklang (Pseud. Germanus). New York 1902. Titanenjagd: Abdruck nach: Schupp: Lerchensang und Schwerterklang. A. a. O., S. 125—126. Sergius Schewitsch: (1848—1912 München). Russischer Adliger, der seine Kindheit in England und Deutschland verbrachte, in St. Petersburg studierte und russischer Staatsbeamter wurde. 1877 emigrierte er mit seiner Geliebten, Helene von Rakowitza, nach den USA, wo er bald zu einem der aktivsten und beliebtesten sozialistischen Redner, Journalisten und Schriftsteller in New Yorker deutschamerikanischen Kreisen wurde. Schewitsch sympathisierte mit den Nihilisten, wurde aber auch Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei in New York. Redakteur der „New Yorker Volkszeitung" in der ersten Hälfte der achtziger Jahre. Heirat mit der Schauspielerin Rakowitza, derentwegen Ferdinand Lassalle im Duell gestorben war. Veröffentlichte zahlreiche Reportagen und Geschichten in der New Yorker Presse. Schewitsch ging schließlich 1890 mit seiner Frau nach Rußland zurück, um eine Erbschaft anzutreten. 1912 begingen beide Selbstmord in München.

S. 50 Der Brandstifter: Abdruck n a c h : New Yorker Volkszeitung. A. a. O., 23. 12. 1883, S. 4. S. 51 Store: Laden (hier: Lebensmittelgeschäft, das dem Fabrikbesitzer gehört). S. 52 Truck-Sklaverei: System der Entlohnung in Naturalien. S. 56 Julie Zadek-Romm: (1854 Posen — 1916 New York). Studium in Zürich, 1890 nach den USA. Mitarbeiterin der SPD-Presse in Deutschland. Leitete die Frauenseite der „New Yorker Volkszeitung". Veröffentlichte kurze Prosastücke und Reportagen in der deutsch-amerikanischen sozialistischen Presse. S. 56 Proletarierlos: Abdruck n a c h : Pionier-Kalender. New York 1892, S. 33-34S. 61 Max Forker: Fahrender Redner f ü r die Sozialistische Arbeiterpartei, der neue Sektionen der P a r t e i in vielen Städten organisierte und Reportagen über seine Agitationsreisen veröffentlichte. Nähere Lebensdaten nicht zu ermitteln. S. 61 Opfer des Systems: Abdruck n a c h : Arbeiter-Zeitung. Buffalo, 21. 10. 1899, S. 1. S. 61 eine Sektion in 0. zu organisieren: Eine Sektion der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), der wichtigsten sozialistischen Partei in den USA bis zur Gründung der Sozialistischen P a r tei im J a h r e 1901. Eingewanderte Deutsche spielten eine f ü h rende Rolle in der S A P ; O.: höchstwahrscheinlich Omaha. S. 65 Dein Heil: Abdruck n a c h : Rosenberg: An der Weltenwende. A. a. O., S. 75f. S. 66 Proletarisches Bekenntnis: Abdruck nach: Rosenberg: An der Weltenwende. A. a. O., S. 25. S. 67 Arbeiterlied: Abdruck n a c h : Internationale Arbeiter-Assoziation, Mikrofilmarchive, Wisconsin State Historical Society, Madison, Wisconsin/USA, Spule 1. S. 67 Arbeiterfest in Williamsburg am 15. September 1873: Fest, vera n s t a l t e t von den Sektionen der I. Internationale. Williamsburg, ein Stadtteil von New York, liegt im heutigen Brooklyn. S. 68 Hermann Pudewa: (1847 Schlesien—1902 Chicago). Sohn eines Webers. Um 1870 nach den USA. Mitherausgeber der Chicagoer „Arbeiter-Zeitung". S. 68 Auf zur Tat: Abdruck n a c h : Arbeiter-Stimme. A. a. O., 23. 7. 1876, S. 4. S. 68 unser Bund: Typographia, Druckergewerkschaft. S. 69 ihr schönes Werk: Der Gothaer Parteitag 1875, auf dem sich die Eisenacher (SDAP) und Lassalleaner (ADAV) zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammenschlössen. S. 69 Werft eure Stimmen nicht fort: Abdruck n a c h : Vorbote. Chicago 4 (1877) 45, S. 8. S. 70 Karl Sahm: (1821 Grumbach/Rheinpreußen—1883 New York). 14

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Studium der Musik 1843—1847 in Paris. Achtundvierziger, Emigration 1853 nach New York. Der wichtigste Komponist und Dirigent in Arbeitergesangvereinkreisen in New York. Schrieb mindestens 300 Männerchöre, eine komische Oper und andere Werke. Bannerlied: Abdruck nach: Archive der „Sozialistischen Liedertafel", Lincoln Center Musikbibliothek, New York, Manuskript. Karl Reuber: Schreiner, Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Pittsburgh, Mitglied der dortigen deutschen Schreinergewerkschaft. Werke: Hymns of Labor. Pittsburgh 1871; Gedanken über die neue Zeit. Pittsburgh 1872. Zur Erinnerung an ein Arbeiter-Heldengrab: Abdruck nach: Vorbote. Chicago, 25. 6. 1881, S. 4. Carl Derossi: (1844—1910 USA). Mitglied des Vorstands der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands vor seiner Emigration nach New York. Tätigkeit dort in der sozialistischen Presse und für Arbeitergesangvereine. Erwach, 0 Volk, erwache!: Abdruck nach: Der Sozialist. A. a. O. 5 (1889) 15, S. 3. Josef Schiller [Schiller Seff]: (1846 Reichenberg [Liberec]— 1897 Germania/Pennsylvania). Sohn eines Webers. Wichtiger sozialistischer Agitator und Journalist in Böhmen und Österreich. Emigrierte 1896 nach den USA, wo er im folgenden Jahr in Armut starb. Seine Gedichte wurden in der deutschamerikanischen sozialistischen Presse veröffentlicht. Der Sozialdemokratie von Nordamerika: Erschienen im „Volksanwalt" (Cleveland), drei Wochen vor dem Tode des Dichters, am 24. Juli 1897, anläßlich der Neukonstituierung der nordamerikanischen Sozialdemokratie. — Abdruck nach: Stimmen der Freiheit. A. a. O., S. 119. — Vgl. auch: Josef Schiller. Auswahl aus seinem Werk. Hg. v. Norbert Rothe. Berlin 1982 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. X X I I I ) . Neukonstituierung der Nordamerikanischen Sozialdemokratie: Im Juni 1897 wurde die „Social Democracy" in Chicago gegründet. Diese Arbeiterorganisation war eine Vereinigung verschiedener kleinerer Gruppen, die die Interessen der Arbeiterklasse besser als die von fast ausschließlich Deutschen geleitete S A P vertreten konnte. Emilie Hofmann: (1844—? USA). In den frühen siebziger Jahren nach den U S A emigriert, proletarischer Herkunft. Ihre Gedichte wurden in der sozialistischen Presse veröffentlicht. Werke: Veilchen und rote Nelken. Indianapolis 1905; über

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die Haltung der deutsch-amerikanischen Sozialisten zur Frauenfrage vgl.: Mari J o Buhle: Women and American Socialism. 1870—1920. Chicago 1981, bes. S. 1—49. Die Frau und die Freiheit: Abdruck nach: Hofmann: Veilchen und rote Nelken. A. a. O. Unsere liebe Polizei: Abdruck nach: Vorbote. Chicago 5 (1878) 18, S. 5. Lehr- und Wehrverein: Diese Gruppen von bewaffneten Arbeitern bildeten sich nach den Streiks von 1877 in vielen amerikanischen Städten. Zentrum dieser Bewegung war Chicago, wo deutsche und böhmische Arbeiter innerhalb dieser Selbstverteidigungsgruppen dominierten. Marschlied des Lehr- und Wehrvereins: Abdruck nach: Vorbote. Chicago 6 (1879) 1 1 , S. 5. — Der Autor ist vielleicht J a k o b Winnen. Schreiner, Emigration in den frühen siebziger Jahren nach den U S A . In der I. Internationale in Chicago tätig, Mitbegründer des Chicagoer „Vorboten". Zur Fahnenweihe des Jägervereins von Chicago am 15. Juni 187g: Abdruck nach: Die Fackel: Sonntagsblatt der Chicagoer Arbeiter-Zeitung. Unabhängiges Organ zur Belehrung, Unterhaltung und Erheiterung. Hg. v. d. Socialistic Publishing Society Chicago, 15. 6. 1897, S. 7. Jägerverein: Eine Gruppe von bewaffneten Arbeitern (vgl.: Lehr- und Wehrverein, Anm. zu S. 77). Georg Biedenkafp: (1843 Londorf/Hessen—1924 Frankfurt a. M.). Dr. phil., Auswanderung 1885 nach New York. Anarchistische Tendenzen. Veröffentlichte Gedichte in den New Yorker deutsch-amerikanischen sozialistischen Zeitungen. Zusammen mit Wilhelm Rosenberg (vgl. Anm. zu S. 9) Herausgeber der satirischen Monatsschrift „Tramp" (New Y o r k 1888). Werke: Sankta libertas, Gedichte. New Y o r k 1893; Brennende Lieder und Strophen. New Y o r k 1900. Den Manen des 11. November: Abdruck nach: Biedenkapp: Sankta libertas. A. a. O., S. 2 ff. 11. November: Am 1 1 . November 1887 wurden die vier des Haymarket-Bombenattentates beschuldigten Chicagoer Sozialisten — unter ihnen drei Deutsche, Georg Engel, Adolf Fischer und August Spies — erhängt. Das Schanddenkmal auf dem Heumarkt von Chicago, inzwischen abgerissen: Abdruck nach: Rosenberg: An der Weltenwende. A. a. O., S. 56ff. Schanddenkmal: Denkmal zur Verehrung der Chicagoer Polizei, nach der Haymarket-Affäre aufgestellt. Lincoln: Abraham Lincoln (1809-1865), Präsident der U S A

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während des Bürgerkrieges 1861—1865, verkündete die Abschaffung der Sklaverei. S. 83 Washington: George Washington (1732—1799), erster Präsident der U S A 1789—1797. S. 83 Leopold Jacoby: (1840 Lauenberg/Hinterpommern—1895 Zürich). Sohn eines jüdischen Religionslehrers. Studium der Zoologie und Medizin in Berlin und Marburg, Teilnahme als Arzt am Krieg 1870/71. Durch die Erfahrung der Pariser Kommune wurde er Sozialist. Ab 1882 in Cambridge bei Boston, wo er von Privatstunden lebte. Beiträge für die deutsch-amerikanische sozialistische Presse. Mitte der achtziger Jahre Rückkehr nach Europa. S. 83 Karl Marx' Totenfeier im Cooper-Institut zu New York, ig. März 1883: Abdruck nach: Leopold Jacoby. Auswahl aus seinem Werk. Hg. v . Manfred Häckel. Berlin 1 9 7 1 , S. 50 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. X). — Bei dieser großen Versammlung sprachen Redner verschiedener Nationalitäten: John Swinton (Amerikaner, Zeitungsverleger), Sergius Schewitsch (Russe, Redakteur der „New Yorker Volkszeitung"), Viktor Drury (Franzose, Gewerkschafter), Adolf Douai (Deutscher, sozialistischer Journalist), Johann Most (Deutscher, Anarchist) u. a. Vgl.: When Karl Marx Died. Comments in 1883. Hg. v. Philip Foner. New Y o r k 1973. S. 84 S. 86 S. 88 S. 90 S. 91 S. 91

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Prolog zur Lassalle-Feier, am 31. August 188g: Abdruck nach: Fritzsche: Blut-Rosen. A. a. O., S. 52—53. Zum Weltfest des Ersten Mai: Abdruck nach: Rosenberg: An der Weltenwende. A. a. O., S. 86 ff. 1848—i8g8: Abdruck nach: Pionier-Kalender. New Y o r k 1898, S. 73. Eine Fabel: Abdruck nach: New Yorker Volkszeitung. A. a. O., 1 1 . 8. 1878, S. 4. Zeit- und Streitfragen: Abdruck nach: New Yorker Volkszeitung. A. a. O., 18. 9. 1879, S. 2. Staatszeitung, Volkszeitung: Die New Yorker „Staatszeitung" (vgl. Anm. zu S. 33), deutsch-amerikanische bürgerliche Zeitung, befehdete ständig die „New Yorker Volkszeitung", Organ der Sozialisten und größte deutsch-amerikanische sozialistische Zeitung. Hayes: Vgl. Anm. zu S. 29. Tilden: Samuel Tilden ( 1 8 1 4 - 1 8 8 6 ) kandidierte gegen Hayes bei der Präsidentschaftswahl 1876. Der Menschheitsfrühling: Abdruck nach: New Yorker Volkszeitung. A. a. O., 7. 3. 1886, S. 7. Der Sozialisten Siegeszug: Abdruck nach: Archive der „So-

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zialistischen Liedertafel", Lincoln Center Musikbibliothek. New York, Manuskript. 99 Illusionen und Ideale: Abdruck nach: Hofmann: Veilchen und rote Nelken. A. a. O. 101 30. April 2882: Abdruck nach: New Yorker Volkszeitung. A. a. O., 30. 4. 1882, S. 4. 101 Heimes der Arbeit: Brooklyn Labor Lyceum, Versammlungsort der Brooklyner und New Yorker Sozialisten und Gewerkschafter. 101 Williamsburg: Vgl. Anm. zu S. 67. 103 Jay Gould: (1836—1892). Finanzier und Eisenbahnkönig. Tom Scott: Thomas Scott (1824—1881), Präsident der Pennsylvanischen Eisenbahn. Jesse James: (1847—1882). Berühmter Bankräuber und Gangster. Wm. Vanderbilt: William Vanderbilt, Mitglied einer der reichsten Familien der USA. Villard: Henry Villard (1835—1900), Journalist, Finanzier, Eisenbahnkönig. 106 Der Teilungstag: Abdruck nach: New Yorker Volkszeitung. A. a. O., 16. 8. 1885, S. 4. 109 New Yorker Staatszeitung: Vgl. Anm. zu S. 33. 109 [. . .]: Text hier unleserlich. 1 1 2 Kongreß zur Verwirrung der Arbeiterfrage in New York: Vorbote. Chicago 5 (1878) 33, S. 7. — Vgl. die Übersetzung und Analyse dieses Stückes von Heinz Ickstadt u. Hartmut Keil: A Forgotten Piece of Working-Class Literature: Gustav Lyser's Satire of the Hewitt Hearing of 1878. In: Labor History. New York, Bd. 20, Nr. 1 (Winter 1979), S. 127—140. 1 1 2 Hewitt: Abram S. Hewitt, Vorsitzender des Untersuchungsausschusses des amerikanischen Kongresses, der die Unruhen im großen Eisenbahnerstreik vom Jahre 1877 untersuchen sollte. 1 1 2 Greenbackler: Anhänger der Greenback Labor Party, die 1875 gegründet wurde und eine Währungsreform anstrebte. 1 1 4 Bayard Taylor: (1825—1878). Amerikanischer Schriftsteller, übersetzte Goethes „Faust". 118 Ludwig A. Geißler: Herausgeber der radikalen Zeitung „Hammer" (1876) in New Orleans. Beteiligt an Versuchen, kommunistische Kolonien in Louisiana zu gründen. Veröffentlichungen in der Chicagoer „Fackel". Werke: Looking Beyond. New Orleans 1891. 118 Allegorisches Weihnachtsfestspiel: Abdruck nach: Volksstimme des Westens, 18. 1. 1880, S. 3. 122 Die Nihilisten: Abdruck nach: Die Nihilisten. Festspiel in 173

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vier Aufzügen. Nach historischen Quellen für die Bühne bearbeitet von • * #. Als Festspiel wurde das Stück vor großen Gruppen von Arbeitern erfolgreich aufgeführt. Nihilisten: Eine anarchistische Bewegung im Rußland des 19. Jahrhunderts, die den Sturz des Zarentums anstrebte und soziale Reformen durchsetzen wollte. 1881 wurde Alexander II. Opfer von Nihilisten. Die Chicagoer Sozialrevolutionäre verehrten die Nihilisten, wie aus vielen ihrer Zeitungsartikel und aus diesem Stück zu erkennen ist. Thiers: Adolphe Thiers (1797—1877), Politiker und Historiker. An der Niederschlagung der Pariser Kommune im Mai 1871 maßgeblich beteiligt. A b 31. 8. 1871 Präsident der 3. Republik. Plewna: Pleven, bulgarische Stadt, gegen Ende des 14. Jahrhunderts von den Türken erobert. Die Befreier: Diese Rollen wurden von Mitgliedern des Chicagoer Lehr- und Wehrvereins gespielt (vgl. Anm. zu S. 77).

In der Reihe

„TEXTAUSGABEN ZUR FRÜHEN SOZIALISTISCHEN L I T E R A T U R IN DEUTSCHLAND" sind bisher erschienen: B a n d I : Gedichte über Marx und Engels Herausgegeben von M A N F R E D H Ä C K E L (1963, vergriffen) B a n d I I : Robert Schweichel Erzählungen Herausgegeben von E R I K A P I C K (1964, vergriffen) B a n d I I I : A u s den Anfängen der sozialistischen Dramatik I Herausgegeben von U R S U L A M Ü N C H O W (1964, 1973, 1987) B a n d I V : Minna K a u t s k y Auswahl aus ihrem Werk Herausgegeben von C A C I L I A F R I E D R I C H (1965, vergriffen) B a n d V : A u s den Anfängen der sozialistischen Dramatik I I Herausgegeben von U R S U L A M Ü N C H O W (1965, 1973, 1987) B a n d V I : Rudolf L a v a n t Gedichte Herausgegeben von H A N S U H L I G (1965)

B a n d V I I : A u g u s t Otto-Walster Leben und Werk Eine Auswahl mit unveröffentüchten Briefen an Karl Marx Herausgegeben von W O L F G A N G F R I E D R I C H (1966, vergriffen) B a n d V I I I : A u s dem Schaffen früher sozialistischer Schriftstellerinnen Herausgegeben von C A C I L I A F R I E D R I C H (1966) B a n d I X : Ernst Preczang Auswahl aus seinem Werk Herausgegeben von H E L G A H E R T I N G (1969) B a n d X : Leopold Jacoby Auswahl aus seinem Werk Herausgegeben von M A N F R E D H Ä C K E L (1971) B a n d X I : Aus den Anfängen der sozialistischen D r a m a t i k I I I Herausgegeben von U R S U L A M Ü N C H O W (1972)

Band X I I : Frühes Leipziger Arbeitertheater Friedrich Bosse Herausgegeben von G U S T A V S C H R Ö D E R (1972, vergriffen) B a n d X I I I : Max K e g e l Auswahl aus seinem Werk Herausgegeben von K L A U S V Ö L K E R L I N G (1974, vergriffen) B a n d X I V : Kalendergeschichten und kleine Erzählstücke Herausgegeben von C A C I L I A F R I E D R I C H (1975, vergriffen) B a n d X V : Otto Krille - Unter dem Joch Die Geschichte einer Jugend Herausgegeben von U R S U L A M Ü N C H O W (1975)

B a n d X V I : Ein deutscher Chansonnier Aus dem Schaffen Adolf Lepps Herausgegeben von U R S U L A M Ü N C H O W und K U R T L A U B E (1976)

B a n d X V I I : Werner Möller Gedichte Sturmgesang. Krieg und Kampf Herausgegeben von M A T H I L D E D A U (1977)

B a n d X V I I I : A u s dem Klassenkampf Herausgegeben von K L A U S V Ö L K E R L I N G (1978)

Band X I X : Frühe sozialistische satirische L y r i k Herausgegeben von N O R B E R T R O T H E (»977)

B a n d X X : G. M. Scaevola Gedichte und Stücke Herausgegeben von G U D R U N und H A N S H E I N R I C H

KLATT

(i977)

B a n d X X I : Das lyrische Feuilleton des „ V o l k s s t a a t " Gedichte der Eisenacher Partei Herausgegeben von R E I N H A R D W E I S B A C H (1979, vergriffen) E a n d X X I I : Frühe sozialistische satirische Prosa Herausgegeben von N O R B E R T R O T H E (1981) B a n d X X I I I : Josef Schiller Auswahl aus seinem Werk Herausgegeben von N O R B E R T R O T H E (1982)

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