Die Grosse Sozialistische Oktoberrevolution [Reprint 2021 ed.]
 9783112537442, 9783112537435

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DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU B E R L I N VORTRÄGE UND SCHRIFTEN H E F T 105

ERNST

ENGELBERG

DIE GROSSE SOZIALISTISCHE OKTOBERREVOLUTION WISSENSCHAFT U N D MASSEN

AKADEMIE.VERLAG« 1967

BERLIN

Vortrag von Hrn. E. ENGELBERG in der Festsitzung des Plenums der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 9. November 1967 aus Anlaß des 50. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3 - 4 Copyright 1967 by Akademie-Verlag Berlin Lizenznummer: 202 • 100/246/67 Herstellung: IV/2/14 VEB Werkdrack, 445 Gräfenhainichen • 2919 Bestellnummer: 2003/105 • ES 14 D

Die Schüsse des Panzerkreuzers »Aurora" und der Sturm auf das Winterpalais sind als dramatische Höhepunkte des Oktoberaufstandes nicht nur historische Tatsachen, sie haben auch Symbolkraft erlangt; in ihnen offenbaren sich zielbewußte Organisiertheit und revolutionärer Elan der Massen. Revolutionsszenen mögen in ihren äußeren Erscheinungen und in ihrer inneren Leidenschaft vielfach sehr ähnlich sein, ob es sich, sagen wir, um die bürgerliche Revolution in Frankreich oder die proletarische Revolution Rußlands handelt. Selbst ihre künstlerische Gestaltung mag manche Parallelen aufweisen, ob wir das Barrikadenbild eines Delacroix oder die Plastik einer Muchina betrachten, beiden eignet souveräne Kraft des revolutionären Wollens und heroischer Impetus. Als Kunstwerke widerspiegeln sie zugleich auch historische und klassenmäßige Unterschiede. Delacroix' Freiheitsgöttin schwingt hoch über dem im Kampfe gefallenen und noch kämpfenden Volk die Fahne republikanischer Freiheit; Vera Muchinas Paar, „Arbeiter und Kolchosbäuerin", vereinigt durch das kraftvoll erhobene Zeichen von Hammer und Sichel, weist auf den klassenmäßigen Inhalt des Freiheitskampfes und verdeutlicht den welthistorischen Beginn eines Staatstypus, von dem Karl Marx einmal vorwegnehmend sagte, er sei „die Rücknahme der Staatsgewalt durch die Volksmassen selbst". 1 Auch die künstlerische Gestaltung der Revolutionsführer mag uns zu Vergleichen anregen, so wenn wir an jene Plastik denken, die einst im Garten das Palais Royal von Paris stand und Saint-Just als Mann darstellte, der die Massen zur unmittelbaren Aktion aufrüttelte, oder wenn wir uns erinnern an die bekannte Leninsche Gebärde, die mit weit ausgestreckter Hand den Volksmassen gleichsam den Weg in die Zukunft weist. 1

Maix, Karl, Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich" in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, Berlin 1962, S. 543.

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Als Lenin am 16. April 1917 in Petrograd ankam, sprach er immer wieder zu der vieltausendköpfigen Menge, die ihn am Bahnhof empfing und in die Stadt begleitete. Er sprach mit der ihm eigenen Eloquenz, mit jener revolutionären Urkraft, die sich stets auf das zentrale politische Anliegen konzentrierte, und das war damals: Ende des Völkermordens durch revolutionären Sturz der imperialistischen Regierungen; das hieß in Rußland: Überleiten der bürgerlichen Revolution in die proletarische. Hier in diesen Stunden war Lenin ein Volkstribun, der das, was er sich im Studium der historischen Lage und ihrer Entwicklungstendenzen erarbeitet hatte, den Massen gegenüber in einfache, deren Grundinteressen bewußt machende Worte und Kampflosungen umzusetzen verstand. Gerade darum war Lenin auch im Angesicht der Massen Volkstribun und Wissenschaftler in einem - ein Kämpfer, der wußte, daß innerste leidenschaftliche Anteilnahme an der Sache die höchste Form der Sachlichkeit ist. Lenin griff seine Gegner innerhalb und außerhalb der Arbeiterbewegung schonungslos an und kennzeichnete sie in Worten, die viele als unsachlich empfanden. Da muß man an einen Brief von Jenny Marx denken, den sie im Auftrag ihres Mannes Anfang der 70er Jahre an Johann Philipp Becker schickte, der sich in den Kampf gegen die Bakunisten gestürzt hatte. Sie lobte den „moralischen Mut" des alten Kämpen, „persönlich" zu sein, daß er von allen „Würdigkeits- und Objektivitätsanfällen" frei sei. Und sie fügte hinzu, als „ob man in dem Kampf . . . Prinzipien und Personen trennen könnte!!" 2 Das sollte sich noch eindringlicher am Tage nach Lenins Ankunft in Petrograd zeigen, als er in einer gemeinsamen und recht turbulenten Versammlung von Bolschewiki, Menschewiki und Vertretern anderer sozialistischer Gruppierungen seine politischen Auffassungen vortrug, die er bald darauf in seinen berühmt gewordenen Aprilthesen und in einer Reihe von Aufsätzen veröffentlichte. Lenin ging von der Besonderheit der politischen Machtfrage im damaligen Rußland aus. Seit der Februarrevolution bestand dort eine Doppelherrschaft: einerseits eine Provisorische Regierung, die trotz aller demokratischer Redensarten die Macht der imperialistischen Bourgeoisie repräsentierte, andererseits eine in Keimiorm vorhandene andere Regierung: die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten - die Macht, die aus der revolutionären Initiative der Volksmassen von unten entstanden war. 3 2

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Jenny Marx an J. Ph. Becker, 7. Nov. 1872, in: Archiv des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte Amsterdam. Lenin, W. L, Über die Doppelherrschaft, in: Werke, Bd. 24, Berlin 1959, S. 20.

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Die Doppelherrschaft konnte nur ein Übergangszustand sein: entweder rückwärts zur Alleinherrschaft der imperialistischen Bourgeoisie oder vorwärts auf dem Wege der Weiterentwicklung der Sowjets bis zur Staatsmacht der Arbeiter und ärmsten Schichten der Bauern. Darum mußten die Bolschewiki, die in den meisten Sowjets vorläufig noch in einer schwachen Minderheit waren, die Massen geduldig, systematisch und in Anpassung an deren praktische Bedürfnisse darüber aufklären, daß nicht nur die jetzige Provisorische Regierung kein Vertrauen verdiene, sondern die gesamte Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiterdeputierten übergehen müsse, die die Arbeiterkontrolle in den Betrieben einzuführen, die Gutsbesitzerländereien zu konfiszieren und unter die landarmen Bauern zu verteilen hätten. Darum hieß es weiterhin in den Leninschen Aprilthesen: „Keine parlamentarische Republik - von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts - , sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben." 4 Aus dieser Forderung resultierte die wahrhaft Weltgeschichte machende Losung: „Alle Macht den Sowjets!" Dabei hielt es Lenin noch im Frühsommer 1917 durchaus für möglich, daß sich der Übergang von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution friedlich vollziehe. Als realistischem Politiker ging es Lenin damals auch nicht um den sofortigen Sturz der Provisorischen Regierung, sondern vielmehr um die Klarlegung der strategischen Ausrichtung und um die theoretische Begründung und praktische Vorbereitung eines neuen Staatstypus. Lenin notierte damals in einem Artikelentwurf: „Die Frage ist nicht, wie schnell man gehen soll, sondern wohin man gehen soll. - Die Frage ist nicht, ob die Arbeiter vorbereitet sind, sondern wie und woraul man sie vorbereiten soll." 5 Von unserem Blickpunkt, nämlich dem Verhältnis von Wissenschaft und Massen, verdient ein Vorwurf, der - wie die Chronisten berichten - auch in den Couloirgesprächen immer wieder umging, näher betrachtet zu werden. Eine bestimmte Sorte von Politikern, die sich mitten im Revolutionsgewühl von einer Tagesaufgabe zur andern zerren ließen und deshalb vermeinten, mitten im prallen Leben zu stehen, behaupteten mit dem Hochmut simpler Praktizisten, Lenin habe rein abstrakte Konstruktionen vorgetragen, die in ausländischer Studier4

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Lenin, W. /., Ober die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution (Aprilthesen), in: ebenda, S. 5. Derselbe, Entwurf eines Artikels oder einer Kede zur Verteidigung der Aprilthesen: in: ebenda, S. 15.

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zimmeratmosphäre entstanden seien. Die Angreifer wußten nicht, daß sie Lenin eigentlich ein Lob aussprachen. Denn in der Tat hatte er sich im Ausland, in den Bibliotheken von Zürich und Bern, intensiv auf die Klassenauseinandersetzungen in Rußland vorbereitet, inhaltlich und methodisch. Die Analyse des Imperialismus, dessen Widersprüche sich in dem blutigen Ringen des 1. Weltkrieges entluden, zeigte Lenin, daß eine revolutionäre Situation heranwuchs, die im Interesse der Arbeiterklasse nur durch eine Expropriation der Bourgeoisie gemeistert werden konnte. Die revolutionäre Bewährungsprobe konnten die Führer der Arbeiterklasse jedoch nur dann bestehen, wenn sie die Grundfragen des Verhältnisses einmal von demokratischem und sozialistischem Kampf, zum andern von Staat und Revolution in der damaligen Epoche wissenschaftlich klärten. Das erkannte niemand so scharf wie Lenin. Er nahm gerade während des 1. Weltkrieges Stellung gegen alle diejenigen, die entweder um die proletarische Macht unmittelbar kämpfen wollten, bei völligem Verzicht auf bürgerlich-demokratische Forderungen, oder für die Demokratie eintraten ohne sozialistische Revolution. Gegenüber solch starrem, undialektischem Denken vertrat Lenin jenen Grundsatz, der sich in der Oktoberrevolution bewähren sollte: „Man muß es verstehen", so schrieb er 1916 an Inès Armand, „den Kampf um die Demokratie und den Kampf um die sozialistische Revolution zu vereinigen, indem man den ersten dem zweiten unterordnet. Darin liegt die ganze Schwierigkeit; darin liegt das ganze Wesen der Sache."6 Hinsichtlich der Zu- und Einordnung der demokratischen Revolutionen im Zeitalter des Imperialismus zum übergeordneten und vorherrschenden Gesamtprozeß der sozialistischen Weltrevolution hat Lenin in den Jahren 1914-1917 eine große theoretische Leistung vollbracht.7 Was das Verhältnis von Staat und Revolution betrifft, so mußten die historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung, die sich in den Schriften von Marx und Engels theoretisch verdichtet hatten, und die zeitgeschichtlichen Entwicklungen in Gestalt der Sowjets, die sich bereits 1905 gebildet hatten, ausgewertet werden. In der Tat brachte Lenin aus der Schweiz eine Torso gebliebene Studie „Marxis6 7

Lenin, W. 1., Brief an Inès Armand, in: Werke, Bd. 35, Berlin 1962, S. 241. Vgl. Anders, Maria!Rüttler. Woltgang, Der Zusammenhang des Kampfes um Demokratie und Sozialismus und die Weiterentwicklung der Leninschen Revolutionstheorie 1914-1917, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe. Sonderheft 1967.

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mus und Staat" mit, die dann in die Schrift „Staat und Revolution" vom Herbst 1917 einging. Diese Schrift war einerseits eine Wiederentdeckung verschütteten Gedankengutes, andererseits eine Neuentdeckung ganz neuer Seiten des politischen Befreiungskampfes der Arbeiter und Bauern - im ganzen das wissenschaftliche Credo der revolutionären Machtfrage, die die Arbeiterklasse zu lösen hatte und hat. Lenin wußte auch, daß in Zeiten der Revolution größte Elastizität notwendig ist, daß der revolutionäre Prozeß immer neue Seiten und Beziehungen erschließt, daß sich überraschende Übergänge von diesen oder jenen Erscheinungen in ihr Gegenteil verwandeln können, daß sich die gesellschaftlichen Gegensätze und widersprechenden Bestrebungen in den verschiedensten Formen entfalten können - kurz, daß die Führer auf das Studium und die Beherrschung der Dialektik verwiesen sind. Darum sprach Lenin immer wieder davon, daß das Entscheidende im Marxismus seine „revolutionäre Dialektik" sei.8 Um sein methodologisches Rüstzeug zu vervollkommnen, studierte Lenin gerade während des ersten Weltkrieges die Dialektik in Hegels „Logik", in dessen „Geschichte der Philosophie" und „Philosophie der Weltgeschichte". In Lenins Konspekten zu diesen Werken gibt es immer wieder Seiten, die uns in ehrfurchtsvolle Begeisterung von Lernenden versetzen, die in die Werkstatt eines großen Denkers und Revolutionärs schauen können. Man kann vielleicht zweifelnd einwenden, ob denn ein solcher Mann wie Plechanow, der zum entschiedenen Gegner Lenins geworden war, wirklich nichts von Dialektik verstanden habe. Natürlich hat er etwas von Dialektik verstanden; und er war ein grundgelehrter Mann und bedeutender Schriftsteller. Aber hier stoßen wir auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Lenin und Plechanow - einen Unterschied, der zeigt, daß gerade der revolutionäre Praktiker den Wissenschaftler zu neuen produktiven Entdeckungen beflügeln kann. Das umriß bereits Karl Marx in der „Deutschen Ideologie", wenn er schrieb, daß der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhänge.9 Mit gleicher Eindringlichkeit führte er an anderer Stelle aus: „Bei einem Individuum zum Beispiel, dessen Leben einen großen Umkreis mannigfaltiger Tätigkeiten und praktischer Beziehungen zur Umwelt umfaßt, das also ein vielseitiges 8 9

Lenin: W. I., u. a. Ober unsere Revolution, in: Werke, Bd. 33, Berlin 1962, S. 462. Marx. Kail/Engels, Friedrich, Die deutsche Ideologie. I. Feuerbach, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1959, S. 37.

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Leben führt, hat das Denken denselben Charakter der Universalität wie jede andere Lebensäußerung dieses Individuums."10 Im Beziehungsreichtum zur Gesellschaft, vermittelt vor allem durch die von ihm geformte Partei, in der Kraft seines revolutionären Willens und der damit gegebenen Möglichkeit produktiver Fragestellungen und schöpferischer Weiterentwicklungen der Theorie lag sowohl die wissenschaftliche wie politische Überlegenheit Lenins über Plechanow. Seinen Gegnern unter den Sozialisten warf Lenin gerade damals, 1917, vor: „Der Opportunist hat verlernt, an die Revolution des Proletariats auch nur zu denken."11 Das war es eben: Die Menschewiki und anderen kleinbürgerlichen Sozialisten - ob sie mehr vom Typ des Nur-Wissenschaftlers oder des Praktizisten waren - wollten im Grunde bei der bürgerlichen Republik stehenbleiben. Sie wollten nicht wahrhaben und begreifen, daß demokratische Errungenschaften der Werktätigen, und seien sie noch so fortgeschritten, bei Weiterbestehen des Monopolkapitals nicht gesichert sind. Das hat die Geschichte nach den beiden Weltkriegen dutzendfach bewiesen, gerade auch in Deutschland. Auch um die demokratischen Freiheiten zu sichern und zu entwikkeln, mußte die demokratische Revolution zur sozialistischen weitergeführt werden. Immer wieder wurde Lenin die scheinbar marxistische These vorgehalten: Rußland hätte in der Entwicklung der Produktivkräfte noch nicht die Höhe erreicht, bei welcher der Sozialismus möglich wäre. Lenin tat dies als schablonenhaft ab - zumal die Schulmeister des Marxismus selbst die Textstellen bei Marx nicht genau gelesen hatten, der schon 1859 in seinem berühmten Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie schrieb, daß eine revolutionäre Aufgabe schon dort entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung „wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind".12 Und das waren sie wahrhaftig in Rußland, wo sich die kapitalistische Produktion in wenigen Zentren im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern besonders stark konzentrierte. Entscheidend für Lenin war jedoch folgende Überlegung: In Rußland, das durch die herrschenden Klassen in den imperialistischen Weltkrieg verwickelt wurde, war eine kombinierte Revolution der Arbeiter und Bauern, deren Kräfte durch die völlige 10

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Marx, Karl/Engels, Friedrich, Die deutsche Ideologie. Das Leipziger Konzil. III. Sankt Max, in: ebenda, S. 246. Lenin, W. I., Staat und Revolution, in: Werke, Bd. 25, Berlin 1960, S. 441. Marx, Karl, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1961, S. 9.

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Ausweglosigkeit ihrer Lage verzehnfacht worden sind, möglich geworden - ähnlich wie dies Marx 1856 für Preußen einmal erwogen hatte. Eine revolutionäre Situation solcher Art mußte die russische Arbeiterklasse unbedingt wahrnehmen, um auf der Grundlage der Arbeiterund Bauernmacht in der Sowjetordnung vorwärtszuschreiten und die anderen Länder auf dem Wege der Zivilisation, nicht zuletzt industriell, einzuholen. In jenen Wochen des April und Mai 1917, als die Beschuldigung der Studierstuben-Abstraktheit noch zu den mildesten Vorwürfen gehörte, die die Sozialdemokraten der verschiedensten Schattierungen an die Adresse Lenins richteten, wurde auf der einen Seite das menschewistischsozialrevolutionäre Exekutivkomitee der Sowjets, das unter der Führung solch routinierter Techniker opportunistischer Machinationen wie Zereteli, Dan, Tschernow und Tscheidse stand, von der Großbourgeoisie „mit dem Lasso" eingefangen und am Gängelband gehalten; auf der andern Seite vollzog sich wider den Willen der Menschewisten und Sozialrevolutionäre in den Sowjets auf allen Ebenen eine Entwicklung, die Suchanow, der linke Menschewist und Redakteur der von Gorki im März 1917 gegründeten Nowaja Shisn, folgendermaßen beschrieb: „Die Bevölkerung wandte sich an den Sowjet mit allen ihren Sorgen und Forderungen, allen ihren privaten, kollektiven, gesellschaftlichen und politischen Fragen. Aber mit der Zeit richteten auch die offizielle Gewalt und alle möglichen Regierungs- und städtischen Behörden die verschiedensten Bitten um Unterstützung an den Sowjet. Schon begann ein Teil der offiziellen Regierungsmaschine nach dem anderen im Leerlauf zu arbeiten. Ob es beide Parteien wollten oder nicht - der Sowjet verdrängte die offizielle Maschinerie. Gegen diesen Prozeß kämpften nicht nur die Vertreter der neuen sowjetischen Mehrheit, sondern auch ich und meinesgleichen von der Linken. Aber es war nicht möglich, ihn aufzuhalten." Ja, es entstanden als Gegenstück zu den bestehenden Ministerien ganze Abteilungen im Exekutivkomitee, beispielsweise die „Abteilung für Auslandsbeziehungen",13 die dem offiziellen Außenministerium ein besonderer Dorn im Auge war. Das spontane Streben der Massen gab also dem angeblich in Abstraktionen sich bewegenden Theoretiker Lenin doch Recht. Die Sowjets erwiesen sich bereits vor der Oktoberrevolution als zukunftsträchtige staatliche Machtorgane der Arbeiter und Bauern. Lenin gab sich persönlich nicht mit unfruchtbaren Debatten mit den opportu13

Suchanow, 1 9 1 7 . Tagebuch der russischen Revolution, München 1967, S. 319

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nistischen Führern im Exekutivkomitee ab, sondern wandte sich (vor allem publizistisch) direkt an die Massen. Die ganze Partei wurde auf die Eroberung der Sowjets durch geduldige Überzeugungsarbeit unter den Massen orientiert. Erst dann konnte die Provisorische Regierung, die imperialistisch war, gestürzt werden und der Sowjet der Arbeiter und Bauern die volle und auch formelle Macht übernehmen und damit der Doppelherrschaft in Rußland im revolutionär-proletarischen Sinne ein Ende bereitet werden. Lenin hat die proletarische Massenpolitik in Inhalt und Form besonders scharf von aller bürgerlichen Politikasterei abgehoben, auch gerade von dem, was schon Karl Marx als parlamentarischen Kretinismus bezeichnete. Die Politik jeder Klasse, repräsentiert durch hervorragende Persönlichkeiten und diese oder jene Organisationen, in neuer Zeit meist durch Parteien, ist stets konzentrierter Ausdruck ökonomischer Interessen, umfaßt die nationalen und internationalen Wechselbeziehungen zwischen den Klassen und Parteien und stellt sich als wesentliches Kampfziel den Besitz der Staatsmacht zur Durchsetzung, Wahrung und Verteidigimg eben dieser jeweiligen Klasseninteressen. In methodischer Hinsicht ist jedoch noch folgendes zu beachten: Der Satz von der Politik als der Kunst des Möglichen gehört zu den Lieblingsvorstellungen der bürgerlichen und junkerlichen Ideologen und Praktiker. Das ist die Formel einer Klasse, die entweder ihre historische Aufgabe nicht mehr erfüllen will und kann (wie die deutsche Bourgeoisie seit Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts) oder die, wie die Bourgeoisie unserer Epoche, keine mehr hat und ohne historische Perspektive gleichsam nur noch von Tag zu Tag lebt. Wer jedoch eine auf Grund der wissenschaftlichen Analyse erkannte historische Perspektive hat, der wird eine großzügige, ja sogar heroische Auffassung von der Politik haben. Der reaktionär-opportunistischen Auffassung von der Politik als der Kunst des Möglichen können deshalb die Ideologen der revolutionären Arbeiterklasse ihre fortschrittlich-mutige Auffassung von der Politik als der Kunst, das als historisch notwendig Erkannte durchzusetzen, gegenüberstellen. In dieser Auffassung vereinigt sich Wissenschaft und Kunst des Handelns, Vernunft und Wille - unlöslich miteinander verbunden und wechselseitig sich beeinflussend. Das mit Hilfe der wissenschaftlichen Analyse als notwendig Erkannte soll durch die Massen und tut die Massen durchgesetzt werden. Deshalb sagte Lenin bei mehreren Gelegenheiten: „Die Politik beginnt dort, wo man mit Millionen zu tun hat; nicht dort, wo man mit Tausenden, son-

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dem dort, wo man mit Millionen zu tun hat..." 1 4 Dabei bildet die Hauptkraft der Massen heute die Arbeiterklasse. Zum ersten Male in der Geschichte der Revolutionen wurde 1917 die Wissenschaft zur Führungskraft und verband sich mit dem Demokratismus der Massen. Revolutionierte die vornehmlich von bürgerlichen Schichten getragene Naittrwissenschaft die Erkenntnis der Natur und damit auch die industrielle Produktion, so konnte nur die auf dem Boden der revolutionären Arbeiterklasse stehende Gesellschaftswissenschaft Struktur- und Entwicklungsgesetze der Gesellschaft entdecken und von der Theorie zur Praxis der revolutionären Umgestaltung der sozialen Verhältnisse übergehen. Die Umsetzung der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse in revolutionäres Handeln der Massen und umgekehrt die theoretische Auswertung dieses Handelns sind nur durch die Partei der Arbeiterklasse, die die aktivsten und „denkenden Vertreter der gegebenen Klasse"15 umfaßt, möglich. Die Partei der Bolschewiki war jene von Lenin geschaffene und geleitete Partei neuen Typus, die die marxistische Gesellschaftswissenschaft mit der neuen Wirklichkeit des Imperialismus und den Besonderheiten Rußlands in Übereinstimmung brachte, die die Dialektik von Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Arbeiterklasse theoretisch und praktisch beherrschte, die Einheit des revolutionären Willens schuf, ihre Organisation den revolutionären Kampfaufgaben entsprechend gestaltete und sich aus allen diesen Gründen befähigte, das Proletariat durch alle Wechselfälle und Fährnisse des Klassenkampfes zu führen. Es ist hier nicht möglich, den Gang der Ereignisse bis zum Großen Oktober auch nur in Umrissen nachzuzeichnen: Der Zusammenbruch der Frontoffensive, die Kerenski organisiert hatte und die offensichtlich machte, daß dieser - besonders nach dem Ausscheiden des Erzimperialisten und bedeutendsten Vertreters der russischen Großbourgeoisie, Miljukow, aus der Provisorischen Regierung - die objektive Funktion hatte, die Weiterführung des imperialistischen Raubkrieges durch Phrasen vom angeblich revolutionär-demokratischen Verteidigungskrieg zu rechtfertigen; der Terror gegen die Bolschewiki, die Illegalität Lenins - alle diese Juli-Ereignisse leiteten eine neue Etappe des revolutionären Geschehens ein. Von einer kurzen, nur we14

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Lenin, W. /., Referat über Krieg und Frieden, 7. März 1918, Siebenter Parteitag der KPR(B) vom 6.-8. März 1918, in: Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 86. Lenin. W. /., Der „linke Radikalismus*, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Werke, Bd. 31, Berlin 1959, S. 54.

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nige Tage dauernden Chance im September abgesehen, war jetzt der friedliche Übergang zur proletarischen Revolution nicht mehr möglich. Die Partei der Bolschewiki mußte sich auf den bewaffneten Aufstand orientieren und alles tun, damit die damaligen Sowjets, die - zumindest in der Zentrale - Organe des Paktierens mit der nach außen und innen aggressiv gewordenen Bourgeoisie waren, zu Organen des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie wurden;16 schließlich trugen die Niederschlagung des Kornilowputsches und die Bildung des revolutionären Militärkomitees zur weiteren Radikalisierung der Massen bei. Die bolschewistische Führung verstand es, alle Massenkämpfe, alle Wendungen in den Kräfteverhältnissen der Klassen und in den Machtpositionen sowohl des imperialistischen Staates als auch der neu entstandenen Institutionen, wie den Sowjets, zu verfolgen, zu durchdenken und diese Analyse einer rapide sich ändernden Wirklichkeit unmittelbar in taktische Kampflosungen und praktische Organisation umzusetzen. Revolutionärer Wille und Geist, theoretischer Scharfsinn und dialektisches Denken der Führer verbanden sich mit dem Elan und dam urwüchsigen Schöpfertum der Massen. Die Volkskraft hat die Sowjets hervorgebracht; das Elementare der Bewegung in den verschiedenen Phasen der revolutionären Entwicklung war unverkennbar und ein Zeichen dafür, daß sie tiefe und feste Wurzeln in den Massen hatte. Opfermut und Tatwillen der Massen konnten jedoch, wenn ungeleitet durch die theoretische Vernunft und politische Erfahrung, in Apathie oder Anarchismus umschlagen. Diesen Gefahren, die Lenin scharfsinnig erkannte, begegnete die Partei der Bolschewiki durch wohlüberlegte und zielbewußte Überzeugungs- und Organisationsarbeit. Diese politisch erfahrene und straff geführte Partei verstand auch, die innere Dialektik des Militarismus, von der Friedrich Engels schon Ende der 70er Jahre im Anti-Dühring sprach, auszunutzen - jene Dialektik, die darin besteht, daß in der junkerlich-großbürgerlichen Armee die Volksmassen für Interessen kämpfen sollen, die ihnen fremd sind.17 Lenin betonte immer wieder, besonders eindringlich im September 1917, daß alle Erfahrungen der Geschichte besagen: Der revolutionäre Wille der Mehrheit des Volkes genügt nicht. Linken Menschewisten wie Suchanow und Martow rief er zu: „Man will nicht zugeben, daß in der Revolution die feindlichen Klassen besiegt werden müssen, die 16 17

Vgl. Reisberg, Arnold, Lenin im Jahre 1917, Berlin 1967, S. 169/170. Engels, Friedrich, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1962, S. 158/159.

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sie verteidigende Staatsgewalt gestürzt werden muß und daß dazu ,der Wille der Mehrheit des Volkes' nicht genügt, sondern daß dazu die Krait der kampfbereiten und kampffähigen revolutionären Klassen unerläßlich ist, eine Kraft, die die feindlichen Kräfte im entscheidenden Augenblick an der entscheidenden Stelle zerschmettert".18 Es mußte doch die revolutionäre Chance genutzt werden, daß der imperialistische Krieg selbst den breiten Massen, die um ihre nackte Existenz kämpfen mußten, Waffen in die Hand gegeben und Schichten, wie die Bauern, die sonst in ihrer Produktionsweise zersplittert sind, zusammengeführt und damit aktionsfähiger gemacht hat. Die Sowjet-Tagungen, die im Oktober 1917 in den Hauptstädten und in der Provinz stattfanden, waren wie letzte Heerschauen.19 Arbeiter traten auf und brachten den Willen, die Sehnsüchte und den Zorn ihrer Leidensgenossen und Kampfgefährten zum Ausdruck - oft ungelenk, aber ungebrochen und echt in ihrem Gefühl. Soldaten schütteten ihr Herz aus; sie hatten genug vom Krieg, der immer unsinniger und in seiner offiziellen Begründung immer unwahrhaftiger wurde; sie sehnten sich nach einem friedlichen Leben auf freiem Grund und Boden. Es gab Szenen, die in ihrer Schönheit und Grundstimmung von hymnischer Gewalt waren - mitreißend und Taten schaffend, die die Welt erschütterten. Es gibt in der ganzen Weltgeschichte keinen bewaffneten Aufstand, der bereits in der Phase wochenlanger Vorbereitung eine solch breite Basis in den kampibegeisterten und -bewußten Massen gehabt hätte. Das wax Demokratie in revolutionärer Aktion wie nie zuvor. Nach dem Oktoberumsturz mußte die antikapitalistische Revolution noch einige Aufgaben der antifeudalen Revolution im Vorbeigehen, wie Lenin sich ausdrückte 20 , erledigen. In diesem Besonderen zeigte sich zugleich auch das Allgemeine, das für alle antiimperialistischen und sozialistischen Revolutionen gültig ist, in denen sich proletarische und bäuerliche Interessen in der einen oder anderen Form vereinigen. Da das zaristische Reich ein Nationalitätenstaat war, nahm die bäuerliche Revolution in vielen Gebieten auch die Form einer nationalen Befreiungsbewegung an. Die proletarische Macht konnte in einem Riesenlande, dessen Bevölkerung in der Mehrheit Bauern waren, nur dann gesichert sein, 18 19 20

Lettin, W. Aus dem Tagebuch eines Publizisten, in: Werke: Bd. 25, S. 299. Suchanow, a. a. O., S. 609 ff. Lenin, W. I., Zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution, in: Werke, Bd. 33, S. 34.

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wenn das politische Bündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft auf feste Grundlagen gestellt wurde. Dazu war die Erfüllung der bäuerlichen Forderungen nach Land und Frieden unbedingt erforderlich. Um die erste Forderung zu erfüllen, war etwas notwendig, was dem abstrakten Prinzip des Sozialismus scheinbar widersprach: In der Landwirtschaft wurden die Großbetriebe nicht vergesellschaftet, sondern zunächst zersplittert. Lenin nahm diesen inneren Widerspruch der proletarisch-sozialistischen Revolution um der Schaffung und Sicherung der politischen Macht der Arbeiterklasse willen bewußt in Kauf - in vollem Vertrauen darauf, daß, wenn der proletarische Staat einmal geschaffen war, damit auch Voraussetzungen gegeben waren, um den erwähnten Widerspruch zu lösen, d. h. auch die agrarische Produktion über den Weg der bäuerlichen Produktionsgenossenschaften zum Sozialismus zu führen. Es zeigte sich, wie bedeutungsvoll für die historische Praxis es war, daß Lenin in den Jahren unmittelbar vor 1917 die Theorie von dem dialektischen Zusammenhang von demokratischer und sozialistischer Revolution ausgearbeitet hatte. Natürlich zeigt sich dieser Zusammenhang nicht in allen Zeiten und Ländern in gleicher Form, sonst wäre er eben kein dialektischer Zusammenhang. Auf jeden Fall hat sich Lenin auf die Führung seiner Partei und der Volksmassen in der Revolution auf wissenschaftliche Weise vorbereitet und damit die Gesellschaftswissenschaft inhaltlich und methodisch bereichert. Die antikapitalistische Revolution, soweit sie ökonomischen Charakter hatte, ging hingegen relativ langsam vonstatten. Lenin sprach später von einem »Versuch einer ökonomischen Politik der Sowjetmacht, der ursprünglich auf eine Reihe von allmählichen Änderungen, auf einen behutsamen Übergang zur neuen Ordnung berechnet war."21 Zwar wurden die Privatbanken bereits am 14. Dezember 1917 und die Wasserstraßen und damit die letzten Verkehrswege am 26. Januar 1918 nationalisiert, aber die Nationalisierung der Großbetriebe wurde erst am 28. Juni 1918 dekretiert. Das heißt, zwischen dem Oktoberumsturz und der Expropriation des industriellen Großkapitals liegt ein Zeitraum von ungefähr 8 Monaten, das ist ein ebenso langer Zeitraum wie zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution. Ernsthafte Historiker der Revolution behaupten, daß ohne die internationale Situation der damaligen Zeit die Expropriation des Kapitals noch später erfolgt wäre.22 21 22

Lettin, W. I., Über die Neue ökonomische Politik, in: Werke, Bd. 33, S. 73. Ktitsman. L., Die heroische Periode der großen russischen Revolution, Berlin 1929, S. 64 ff.

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Die Verwirklichung des Juni-Dekrets hat ohnehin noch ein halbes Jahr gedauert. Allerdings war die Arbeiterkontrolle in den Betrieben von den ersten Tagen des Oktoberumsturzes an wirksam. Auch von dieser Sicht her zeigt sich das, was wir Marxisten-Leninisten immer wieder betonen, daß die Grundfrage der Revolutionen die politische Machtivage ist. In der Tat konzentrierte sich die bolschewistische Partei in der Vorbereitung der Oktoberrevolution und in der ersten Periode danach auf die Organisierung und ideologisch-politische Durchdringung der Sowjetorgane und ihrer provinziellen und gesamtnationalen Zusammenfassung - auf ihre Zusammenfassung zu der neuen politischen Ordnung, dem Sowjetstaat. Lenin hat mit unerbittlicher Konsequenz gegen alle Anfeindungen und manche Verhöhnungen an dem Grundgedanken festgehalten, daß ohne Schaffung der politischen Grundlagen der proletarischen Revolution der sozialistische Aufbau gar nicht möglich ist. Und diese politischen Grundlagen waren nur durch die Massen und tür die Massen zu schaffen, deren Forderungen unbedingt erfüllt werden mußten, auch wenn sie zunächst und bei den damals gegebenen Klassenverhältnissen Rußlands hehren Idealen des Sozialismus zuwiderliefen. Diese moralisch-politische Einstellung zu den Massen, verbunden mit der Fähigkeit zum dialektischen Denken, das die unmittelbaren gesellschaftlichen Zusammenhänge konkret in ihren entscheidenden Schwerpunkten und zugleich in ihren Entwicklungsmöglichkeiten zu erfassen vermochte, gehörte zu den subjektiven Voraussetzungen für den Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Die siegreichen Bolschewiki und die Revolutionäre allüberall sprachen nach dem .Roten Oktober" immer wieder von der nun anhebenden Weltrevolution - von der Weltrevolution in West und Ost, in Stadt und Land. Das war und ist nicht, wie die Konterrevolutionäre aller Schattierungen unterstellten und heute noch behaupten, Welteroberung. Die aus der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution hervorgegangene junge Sowjetmacht war nicht der Exporteur, sondern der V o r k ä m p f e r der antiimperialistischen Revolution. Es waren vielmehr die Imperialisten, die sich sehr bald als Exporteure der Konterrevolution, zeigten. Der weltrevolutionäre Charakter der Oktoberrevolution zeigte sich sozusagen auf den beiden Polen der kapitalistischen Welt - beim internationalen Kapital und beim internationalen Proletariat.22® Die Oktoberrevolution gab unmittelbaren Anstoß zu revolutionären Aktionen in Deutschland, Österreich, Ungarn, der Slowakei und ItaBa Klitsman. L.. a. a. O., S. 74 ff.

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lien, leitete die Krise des imperialistischen Kolonialsystems ein, machte die allgemeine Krise des Kapitalismus sichtbarer denn je. Die Verkündung einer neuen Gesellschaftsordnung fiel zusammen mit dem Ruf „An Alle!", mit der lebensnotwendigen Forderung nach Frieden in der ganzen Welt. Auf der andern Seite begannen sofort die verschiedenen konterrevolutionären Interventionen des Weltkapitals in Rußland selbst. Ohne seinen Export der Konterrevolution hätten die inneren Kräfte der russischen Gegenrevolution bei weitem nicht ausgereicht, drei volle Jahre einen Bürgerkrieg mit jener äußersten Erbitterung und Intensität zu führen. Teilweise nacheinander, teilweise gleichzeitig boten das deutsche, österreichisch-ungarische, französische, englische, italienische, amerikanische und japanische Kapital Streitkräfte gegen die Sowjetrevolution auf. Die Konterrevolution und die imperialistische Intervention haben der Arbeiterklasse und allen Völkern im ehemaligen Zarenreiche unermeßliche Opfer und unsägliches Leid auferlegt. Aber der Heldenmut des Volkes und die Klarsicht der Partei siegten über alle politischen und menschlichen Prüfungen. Der Kampf zwischen der Roten und Weißen Armee führte dazu, daß auf dem Boden des früheren zaristischen Reiches selbständige Staaten von entgegengesetztem Klasseninhalt entweder vorübergehend oder für längere Zeit entstanden - so wie der innere und äußere Klassenkampf nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland zu zwei Staaten von entgegengesetztem Klasseninhalt führte. Die Nationalitätenpolitik der bolschewistischen Partei war in ihren Grundzügen noch vor dem Oktober 1917 konzipiert - und wahrhaftig auch nicht ohne schwere innere Auseinandersetzungen. Die junge Sowjetmacht konstituierte sich als eine Föderation von autonomen Sowjetrepubliken, Gebieten und Bezirken - also nach dem Prinzip, daß die Nationen zwar denselben Wert, aber nicht die gleiche Krait haben. Das wissenschaftlich ausgearbeitete und vom humanistischen Geist getragene Ziel, daß mit der Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, mit der Überwindung des Bildungsprivilegs und mit der sozialistischen Industrialisierung innerhalb und zwischen den Nationen eine Gemeinschaft von Gleichberechtigten, und zwar in sozialökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht, entsteht, hat das halbe Jahrhundert Sowjetgesellschaft realisiert. Damit wurde in vieler Hinsicht die sozialistische Völkergemeinschaft vorgezeichnet.

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Was die bolschewistische Partei von der gesamten internationalen Arbeiterbewegung an Erfahrungen und Kenntnissen erhalten hatte, gab sie nach der Oktoberrevolution bereichert wieder zurück. Seit der Oktoberrevolution mußte die Vorhut der Arbeiterklasse aller Länder die politischen, ideologischen und ökonomischen Fragen des Klassenkampfes unter den veränderten Bedingungen der allgemeinen Krise des Kapitalismus von neuem durchdenken, vor allem Fragen der materialistischen Dialektik, das Verhältnis von demokratischer und sozialistischer Revolution, von Staat und Revolution, von ökonomischem und politischem Kampf, von Partei und Massen. Der Marxismus-Leninismus konnte seinen Vormarsch in Europa und in der ganzen Welt zunächst nur durch die Kommunistische Internationale antreten, die - mag man sie heute von den verschiedensten Seiten aus bekritteln gegenüber festeingefahrenen Traditionen und bankrotten Methoden der II. Internationale eine wahrhaft ideologische Revolution durchzuführen hatte. Die mit der Praxis des proletarischen Befreiungskampfes verbundene und ihr dienende Gesellschaftswissenschaft mußte sich nach ihrem damals höchsten Stand - dem schöpferischen Marxismus eines Lenin - richten. Wir wissen, daß der Sieg der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauern im Bürger- und Interventionskrieg nur durch einen riesigen Verschleiß von materiellen Mitteln der Produktion und den Verlust lebendiger Produktivkräfte erkauft werden konnte. Rußland war, wie Lenin einmal sagte, halb totgeprügelt. Gerade das machte den ohnehin schwierigen Übergang zum sozialistischen Aufbau besonders qualvoll. Die grundsätzliche Schwierigkeit der ökonomischen Revolution besteht in folgendem: Die frühere Organisation der Volkswirtschaft funktioniert nicht mehr, während die neue noch nicht recht im Gange ist. Auf diesen widerspruchsvollen Ausgangspunkt des sozialistischen Aufbaus hat schon Karl Marx im Kommunistischen Manifest hingewiesen: »Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren. Es kann dies natürlich zunächst nur geschehen vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Laufe der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktions2 Engelberg

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weise unvermeidlich sind."23 Die Geschichte hat nun dutzendfach bewiesen, daß die innere Dynamik des sozialistischen Aufbaus durch konterrevolutionäre Eingriffe von außen, auf militärische und nichtmilitärische Weise, gestört werden kann - besonders in den Anfangsperioden und in einem Lande, das die Lasten des Aufbaus alleine zu tragen hat. Diese objektive Wechselwirkung von innerer und äußerer Dynamik muß stets im Auge behalten und konkret analysiert werden - sonst können die Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaus historisch nicht richtig und gerecht beurteilt werden. Ich kann hier nicht näher darauf eingehen, wie die Kommunistische Partei unter Führung Lenins die Krise der Übergangsverhältnisse zunächst einmal durch die Neue Ökonomische Politik meisterte, zugleich aber auch den Vormarsch zum Sozialismus hin durch wissenschaftliche Ausarbeitung verschiedener Pläne, vor allem des berühmten Plans für die Elektrifizierung des ganzen Landes, und der Generallinie der Industrialisierung vorbereitete. Diese Generallinie beruhte auf der Leninschen These, daß die Sowjetunion ohne eine Schwerindustrie keine Industrie aufbauen könne, ohne diese aber als selbständiges Land überhaupt verloren wäre. Die Leninsche Theorie von der sozialistischen Industrialisierung sollte sich gerade in der Praxis des zweiten Weltkrieges bewahrheiten. Die Kommunistische Partei konzipierte als wahrer Pionier in allen Entwicklungsphasen des weiten Landes die sozialistische Umwälzimg aller Bereiche von Staat, Wirtschaft und Kultur unter dem Aspekt der Verbindung von Wissenschaft und Massen - und zwar hinsichtlich des Systems der Sowjetmacht und der gesellschaftlichen Organisationen, der Planung der Wirtschaft, des Militärwesens, der Einheit von fachlicher, politischer und kultureller Bildung. In der Wissenschaft der Planung - der Industrie und der ganzen Gesellschaft - haben die sowjetischen Kommunisten als echte Pioniere neue Wege auf einem bislang unbekannten Terrain aufgezeigt und betreten. Sie mußten aber - wie in jeder Wissenschaft - inhaltliche und methodische Irrtümer berichtigen, Wahrheiten präzisieren und zur Bewältigung neuer Entwicklungen modifizieren - stets eingedenk, daß es die Massen sind, die den Sozialismus zu verwirklichen haben. Unsere Dankbarkeit gilt den Pioniertaten, auf denen auch wir hier aufbauen. In solchen Stunden feierlichen Gedenkens haben wir nicht auf die Asche zu blicken, sondern auf das Feuer. 23

Marx, KarljEngels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 481.

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Unter den Bedingungen des sozialistischen Aufbaus erwies sich die Verbindung auch der Naturwissenschaften mit den Massen als notwendig. In dieser Hinsicht wirkte der Pflanzenphysiologe K. Timirjasew mit seinem 1920 erschienenen Buche „Wissenschaft und Demokratie" als Pionier. Lenin begrüßte es begeistert. Das Grundmotiv in dem Buch von Timirjasew war das „Bündnis von Naturwissenschaft und demokratischer Ethik"; er forderte das historisch-politische Verantwortungsbewußtsein auch des Naturwissenschaftlers, das klare Stellen und Beantworten der Frage nach dem gesellschaftlichen Wofür, Wozu und Wohin. Sich an die erste russische Arbeiterfakultät wendend, schrieb Timirjasew am 27.April 1920 u.a.: „Wissenscha.it und Demokratie das feste Bündnis von Wissen und Arbeit - waren jahrzehntelang meine Lieblingslosung, und in unserer heutigen Versammlung erblicke ich den Beginn der Verwirklichung einer ihrer wichtigsten Erscheinungsformen. Der Arbeiter wird zu einer tatsächlichen schöpferischen Geisteskraft, wenn die Haupterrungenschaften der Wissenschaft seinem Verständnis zugänglich werden, und die Wissenschaft wird eine dauerhafte zuverlässige Stütze erhalten, wenn ihr Schicksal in den Händen der aufgeklärtesten Völker selbst, und nicht in denen von Zaren und der vor ihnen liebedienernden Lakaien liegt, mögen sie sich auch Kultusminister, Akademiemitglieder und Professoren nennen."24 Auf die Bedeutung des achtstündigen Arbeitstages, „auf den natürlich ein noch kürzerer folgen wird", hinweisend, schloß Timirjasew seine Grußadresse mit folgenden Worten: „Eine freie Demokratie, die diese Freizeit erobert hat, wird zu einer aufgeklärten Demokratie werden, wenn sie dafür die beste Bestimmung findet im Erwerb der Kraft des Wissens, in der Hinführung zur Wissenschaft. Daß sie dies will, daß sie dies vermag - dafür dient die heutige Versammlung als Unterpfand. Es lebe die durch ihr rotes Banner vereinte, durch ihre Arbeit mächtige und durch das Licht des Wissens, der Bildung starke, die ganze Welt umfassende Demokratie!" 25 Diese begeisternden Worte machen unser Herz und unsern Verstand frei für das Bündnis nicht nur von Wissenschaft und Demokratie, sondern auch von Natur- und Gesellschaftswissenschaft, ohne welches eine Planung des gesellschaftlichen Gesamtgeschehens nicht möglich ist. Der kampferfüllte Auf- und Ausbau des Staates der Arbeiter und Bauern, die sozialistische Industrialisierung, die Kollektivierung der 24

25 2*

Timirjazev, K., Nauka i demokratija Sbornik statej 1904-1919 g., Moskau 1920, S. 430. Ebenda, S. 432,

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Landwirtschaft, die Kulturrevolution allenthalben und auf allen Ebenen brachten soziale Umschichtungen, Spannungen und Schwierigkeiten ganz neuer Art mit sich. In der Periode des weltweiten Klassenkampfes mit dem Imperialismus und des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande, dessen Wirtschaft im ganzen noch rückständig war, bewahrheitete der Prozeß vielfältiger und unerhört harter Widersprüche eine von Karl Marx 1875 in seinen berühmten Randglossen zum Entwurf des Gothaer Programms vertretene These. Diese besagt, daß der Sozialismus in der ersten Phase seines Aufbaus noch in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, mit den Muttermalen der alten kapitalistischen Gesellschaft, aus deren Schoß er herkommt, behaftet ist und alle Qualen langer Geburtswehen erleidet. Trotz aller Irrungen und Wirrungen und menschlicher Mißgriffe tragischen Ausmaßes stets haben die Kommunistische Partei und der Sowjetstaat den Grundsatz praktisch befolgt: Die Wissenschaft hat den Massen zu dienen, und die Massen haben nach der Wissenschaft zu streben. Gerade deshalb konnte der XX. Parteitag der KPdSU aus der inneren Dynamik und sozialethischen Grundhaltung des Sowjetstaates heraus bedeutsame Korrekturen vornehmen. Die wissenschaftlich begründete Vision Lenins, daß die Völker des alten Rußlands nur auf der politischen Grundlage der Sowjetordnung zu einer Industrie- und Wissenschaftsmacht ersten Ranges werden können, hat sich als richtig erwiesen. Der Marxismus macht weder die Ökonomie zum Selbstzweck noch das Volk „zu einem heiligen Wesen".26 Auch wenn der MarxismusLeninismus die historische Schöpferkraft der Volksmassen hervorhebt, so zielt er letzten Endes auf Inhalt und Sinn im Lebensprozeß des Individuums ab. Karl Marx definierte bekanntlich das Wesen des Menschen als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse".27 Das bedeutet jedoch nicht, daß das Individuum ausschließlich ihr passives Produkt ist. Das Individuum ist nicht nur das Geschöpf, sondern auch der Schöpfer der Gesellschaft.28 Mit der Befreiung der Arbeit durch die sozialistische Revolution ist die erste Stufe für die Freiheit des Individuums geschaffen worden. Erst auf der Grundlage der sozialistischen Produktionsverhältnisse kann in der Periode der Vollendung des Sozialismus und mit der weiteren Entwicklung der sozialistischen 26

27

38

Marx, K., Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 413. Marx, Karl. Thesen über Feuerbach, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, S. 534. Vgl. Mächa, Kaiel, Individuum und Gesellschaft, Berlin 1964, S. 287 ff.

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Demokratie das vielfältige und vielfach vermittelte Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gedanklich und praktisch konkreter ins Auge gefaßt und zum Wohle des Ganzen wie des einzelnen gestaltet werden. Die Freiheit des einzelnen realisiert sich nur in der dialektischen Wechselwirkung zwischen der sich befreienden und befreiten Gesellschaft und dem mit ihr verbundenen und dennoch seine Besonderheit bewahrenden Individuum. Das bedeutet, daß in der Periode des vollendeten Sozialismus die subjektiven und objektiven Bedingungen für die Freiheit des Individuums gefestigt werden: subjektiv dadurch, daß die organische Einheit von fachlicher, politischer und kultureller Bildung die Einsicht des einzelnen in sein näheres und weiteres Lebens- und Schaffensmilieu, also in den Bereich der Notwendigkeit, vertieft; objektiv dadurch, daß dank der bewußten und universellen Aktivität der Menschen die Natur und Gesellschaft immer mehr beherrscht werden und damit das Reich der blinden, freiheitsbeschränkenden Notwendigkeit eingeengt wird. Wenn wir im Blick auf die Freiheit des Individuums, die eine immerwährende Aufgabe im nie sich vollendenden Prozeß der Selbsterzeugung des Menschen bleibt, das Verhältnis von Wissenschaft und Massen behandeln, so mögen wir manchmal an jene Formel denken, die die Synthese von Geist und Macht ausdrücken möchte. Diese Formel von Geist und Macht wurde vor dem ersten Weltkrieg in deutschen Intellektuellenkreisen recht gängig, blieb aber in ihrem Inhalt recht unklar, wurde auch nicht klarer, indem man sie durch Goethe und Bismarck 29 zu personifizieren versuchte und deren Köpfe als Relief über dem Portal der damals eröffneten Deutschen Bücherei in Leipzig anbrachte. Die ideologisch-politische Funktion dieses Inbeziehungsetzens von Geist und Macht, von Goethe und Bismarck, von Weimar und Potsdam, erwies sich hingegen gerade durch ihre belletristische Verschwommenheit als sehr bestimmt. Jene deutschen Intellektuellen, die sich über die wachsende Diskrepanz zwischen bürgerlichem Humanitätsideal und imperialistischer Kraftmeierei beunruhigten, sollten wieder ein gutes Gewissen erhalten; der Imperialismus im ganzen sollte geistreichelnd verklärt werden. Die Herrschenden wußten, was sie taten; so zitierte der Reichskanzler von Bethmann Hollweg in einem Brief vom 21. Juni 1913 eine französische Sentenz: „C'est au moment, qu'on veut redoubler de force qu'il faut redoubler 29

Vgl. Mareks, Erich, Männer und Zeiten, Leipzig 1912, Bd. 1, Vorwort S. VIII u. Bd. 2, S. 26-29.

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la grâce.* Zu diesem charmanten und höchst aktuellen Satz, daß man das Gefällige verdoppeln müsse, wenn man die Gewalt verdoppeln wolle, meinte der Reichskanzler: „Für diese Seite des Imperialismus scheinen mir noch nicht alle Deutschen reif zu sein." Der Adressat dieses Reichskanzlerbriefes, der Leipziger Historiker Karl Lamprecht, sollte wenige Monate danach, am 6. Februar 1914, im Berliner Zentralsitz des Vereins Deutscher Ingenieure eine Beratung über die „Förderung auswärtiger Kulturpolitik" leiten.30 Wir Wissenschaftler haben wahrhaftig allen Grund, den deutschen Imperialismus als unsern Feind zu bekämpfen, ob er in humanitätsbeflissenem Geist oder faschistischem Ungeist auftritt - zumal auf unserm nationalen Gewissen die beschämende Grundtatsache lastet, dafj die weltweite Konterrevolution gegen den Sozialismus in dem ruchlosen Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion kulminierte. Antifaschistische Intellektuelle erkannten und bekannten zwar gerade damals, daß der Geist Macht haben müsse. Doch lehnen wir einen Geist ab, der sich mit einer Macht verbündet, die sich andern Völkern und dem eigenen Volke entgegensetzt. Unser demokratisches Ethos liegt vielmehr in der Überzeugung, dafj Wissenschaft und Massen - im letzten - zu verbinden sind und einander nötig haben. Wir sind verwiesen sowohl auf die fortschrittlichen Traditionen des deutschen Volkes als auch auf die historische Rolle unserer Deutschen Demokratischen Republik. Friedrich Engels, der äußerst kritisch gegenüber allem Spießerhaften und aller Dienstbeflissenheit im deutschen Volke gegenüber seinen reaktionären Herrenmenschen war, schrieb auf der andern Seite nicht ohne patriotischen Stolz, daß es die „deutsche Dialektik" 31 war, die die andern Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus, die englische Ökonomie und den französischen Utopismus, zum Springen gebracht habe. Wenn wir wissen, daß die revolutionäre Umgestaltung, die die objektive Entwicklung der Produkticns- und Klassenverhältnisse verlangt, weltgeschichtlich gesehen, im Reiche der Ideologie beginnt, so können wir von dieser Sicht her mit gutem Grunde sagen, daß die besten Söhne des deutschen Volkes ihren Anteil an der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution haben. 30

31

Die Angaben und Zitate aus Schönebaum, Hetbert, Karl Lamprechts Mühen um innere und äufjere Kulturpolitik, in: Die Welt als Geschichte, Jg. 1955, H. 2, S. 137 ff., insbesondere die Seiten 142/43, 148 f. u. 150/51. Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Vorwort zur ersten Auflage, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 187/188, vgl. ferner Fugnote.

Oktoberrevolution. Wissenschaft und Massen

So ist das Zusammenfallen zweier Jubiläumsfeiern in diesem Jahr, des 100. Jahrestages des Erscheinens des 1. Bandes des „Kapitals" und des 50. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, für uns deutsche Sozialisten ein Anlaß zum Stolz, ein Aufruf zur Festigung des Bruderbundes mit der Sowjetunion, ein Aufruf, gegen alle reaktionären Erscheinungen und Traditionen der deutschen Geschichte zu kämpfen, ein Aufruf zur revolutionären Ausbildung des entwickelten Systems des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik, eines Systems, das Gedanke und Tat zusammenwirken läßt zur Verwirklichung unseres letzten Zieles: eines ireien Menschen in der sozialistischen Menschengemeinschaft.

ERNST ENGELBKR.G Revolutionäre Politik und Bote Feldpost 1878-1890 1959. XV, 291 Seiten - 9 Kunstdrucktafeln

- 1 Falttafel - 8° - M 8,50

, , . . . Engelbergs Arbeit, vom Akademie-Verlag vorzüglich mit zahlreichen Fotokopien ausgestattet, will keine umfassende Geschichte der Sozialdemokratie während der Zeit des Sozialistengesetzes sein, sondern stellt sich die Aufgabe,,einige der besonderen historischen und moralisch-politischen Leistungen der deutschen Arbeiterklasse und vor allem ihrer Partei' herauszuarbeiten, ,ohne die persönliche Bolle von Marx und Engels zu schmälern'... Das vorliegende Buch schließt nicht nur eine spürbare Lücke in der marxistischen Literatur über die Periode des Sozialistengesetzes, sondern stellt darüber hinaus, da der Verfasser einige Fragen aufgreift, die für die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung im vormonopolistischen Kapitalismus von grundsätzlicher Bedeutung sind, einen sehr wertvollen Beitrag für eine künftige Gesamtdarstellung des Kampfes der deutschen Arbeiterklasse und ihrer Partei dar. Hinsichtlich der marxistisch-leninistischen Verallgemeinerung von Fakten kann es in vieler Hinsicht als beispielhaft für Monographien ähnlicher Art betrachtet werden. Hervorzuheben ist auch die gut fundierte, aus der Anlage des Buches und der Art der Darstellung selbst hervorgehende Aktualisierung des historischen S t o f f e s . . . " Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

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Jahresberichte für Deutsche Geschichte Neue Folge - 15./16. Jahrgang 1963/1964 Herausgegeben von der Abteilung Bibliographie und Dokumentation des Instituts tür Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin

1967. XLVI, 1138 Seiten-gr. 8°-M

209,-

Die Jahresberichte für deutsche Geschichte, die seit 1949 i in neuer Folge erscheinen, erfassen wie bisher alle wesentlichen Arbeiten des Inund Auslandes zur deutschen Geschichte. Unter Mitarbeit der Deutschen Bücherei Leipzig wurden für die Berichtsjahre 1963/64 über 12000 Titel von Monographien und Aufsätzen aus ca. 700 historischen Zeitschriften aufgenommen und nach chronologischen und sachlichen Gesichtspunkten gegliedert. Die Jahresberichte sind nach wie vor für alle Wissenschaftler, die sich mit der deutschen Geschichte beschäftigen, ein unentbehrliches Hilfsmittel.

Folgende Jahrgänge sind noch lieferbar: 1961/62 1966. XXIV,

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Ii

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