Deuteronomium: Eine Einführung 9783825236267, 3825236269

Synchrone oder diachrone Textbetrachtung? Manchmal hilft nur beides zusammen. Karin Finsterbusch analysiert auf diese We

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Table of contents :
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Impressum
Vorwort
Inhalt
I. Einleitung: Zur Betrachtung deuteronomischer Texte
II. Fakten und offene Fragen
1. Zu den Namen des Buches
2. Zur Entstehungsgeschichte
2.1 Zur Frage nach den Wurzeln bzw. nach dem »Ur-Deuteronomium«
2.2 Von der exilischen Komposition zum »fünften Buch Mose«
2.3 Ein Arbeitsmodell
3. Zur Textüberlieferung
3.1 Die wichtigsten Textzeugen
3.2 Stabilität und Varianz in der deuteronomischen Überlieferung in der Zeit des Zweiten Tempels
3.3 Textliche Standardisierung am Ende der Zeit des Zweiten Tempels?
3.4 Der MT als Basistext für die Exegese des Deuteronomiums?
III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen auf der Ebene des Deuteronomiums
A. Moses (erste) Worte: Hinführung zum Vorlegen der Tora (1,1–4,40)
1. Synchrone Textbetrachtungen
1.1 Bucheinleitung und erste Überschrift des Bucherzählers (1,1–5)
1.2 Moses Rückblicke: Verzögerungen bei der Eroberung des verheißenen Landes (1,6–3,29)
1.3 Die Konstituierung von Israel als Lerngemeinschaft (4,1–40)
1.4 Zusammenfassung: 1,6–4,40 als erster Teil der Rechtskraft-Verleihung der dtn Tora
2. Diachrone Textbetrachtungen
2.1 Sekundäre Hinzufügung von 1,6–3,29 zu einer selbstständigen Komposition Deuteronomium?
2.2 Sekundäre Hinzufügung von 4,1–40?
B. Intermezzo: Die Erzählnotiz über Moses Einrichtung der Asylstädte im Ostjordanland (4,41–43)
C. Moses Vorlegen der Tora (4,44–26,16)
1. Überschrift des Bucherzählers (4,44–5,1a)
1.1 Synchrone Textbetrachtungen
1.2 Diachrone Textbetrachtungen
2. Moses Rückblick auf die Horeb-Ereignisse (5,1b–31)
2.1 Synchrone Textbetrachtungen
2.2 Diachrone Textbetrachtungen
3. Moses Lehre bezüglich der dtn Gesetze (6–11)
3.1 Synchrone Textbetrachtungen
3.2 Diachrone Textbetrachtungen
4. Moses Lehre der dtn Gesetze (12,1–26,16)
4.1 Synchrone Textbetrachtungen
4.2 Diachrone Textbetrachtungen
EXKURS I: Rezeption von Bundesbuch, den VTE und kasuistischem Recht im dtn Gesetz
1. Die Rezeption des Bundesbuches am Beispiel des Altargesetzes in 12
2. Kritische Rezeption der VTE in 13,1–12
3. Die Aufnahme älterer kasuistischer Rechtssätze in 19–25
D. »Bundeserklärungen«, Segen und Fluch (26,17–28,68)
1. Synchrone Textbetrachtungen
1.1 »Bundeserklärungen« (26,17–27,10)
1.2 Segen und Fluch (27,11–28,68)
2. Diachrone Textbetrachtungen
2.1 Auffälligkeiten im Ablauf der Erzählfolge: Sekundäre Textzusammenstellungen in 27
2.2 Widersprüche bei der Situierung des Garizim: Redaktionelle Arbeit (27,2–8)
2.3 Eine Textänderung aus »ideologischen« Gründen (27,4)
EXKURS II: Die Veröffentlichung der dtn Tora auf Altarsteinen (27,4*–8): Ein Verdrängungsversuch des Bundesbuches
E. Moses Worte des Moab-Bundes (Dtn 28,69–30,20)
1. Synchrone Textbetrachtungen
1.1 Überschrift des Bucherzählers (28,69–29,1a)
1.2 Worte des Bundes (29,1b–30,20)
2. Diachrone Textbetrachtungen
2.1 »Undeuteronomisches« Toraverständnis: Die Bearbeitung von 29,20
2.2 Sprecherwechsel: Die Glosse 29,28
2.3 »Undeuteronomische« Theologie: Sekundäre Einfügung von 30,1–10
F. Moses letzte Worte und Handlungen (31,1–32,47)
1. Synchrone Textbetrachtungen
1.1 Grobgliederung
1.2 Josua: Beauftragung als Nachfolger Moses
1.3 Die dtn Tora: Verschriftlichung, Offenbarung und Lehre ihres letzten Teils
2. Diachrone Textbetrachtungen
2.1 Das Lied als Tora-Supplement: Indiz für redaktionelle Ergänzung des Lied-Blocks
2.2 Unterschiedliche Textüberlieferung der »Rahmenverse« 31,1 und 32,45: Spiegelung historischer Textentwicklung
2.3 Eine Textänderung aus »theologischen« Gründen: 32,8b
G. Epilog: Moses Segen über Israel und die Erzählung über Moses Tod (32,48–34,12)
1. Synchrone Textbetrachtungen
1.1 Letzte Befehle Gottes an Mose (32,48–52)
1.2 Moses Segen über die Stämme Israels (33,1–29)
1.3 Moses Tod und die abschließende Würdigung des Propheten (34,1–12)
2. Diachrone Textbetrachtungen
2.1 Der Epilog als Abschluss des Pentateuchs: »Pentateuchredaktion«
2.2 Das Ende der »Priestergrundschrift« im Epilog?
2.3 »Hexateuchredaktion« im Epilog?
IV. Synchrone Betrachtungen der dtn Texteauf der Ebene des Pentateuchs
1. Die dtn Tora als Teiltext der »Sinai-Tora«
2. Sinaibund und Moabbund oder: das dtn Gesetz neben dem Bundesbuch
V. Zusammenfassung: Struktur, Profil, Botschaft
1. Die Struktur des Buches Deuteronomium
2. Das Profil des exilischen Deuteronomiums
2.1 Das Profil des dtn Gesetzes
2.2 Das Profil der exilischen Gesamtkomposition Deuteronomium
3. Die Botschaft des exilischen Deuteronomiums
Literatur
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Deuteronomium: Eine Einführung
 9783825236267, 3825236269

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Karin Finsterbusch

Deuteronomium Eine Einführung

Vandenhoeck & Ruprecht

Karin Finsterbusch ist Professorin für Altes Testament an der Universität Koblenz-Landau.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Mit 6 Abbildungen

Die Umschlagabbildung zeigt den »Moses« von Michelangelo in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: h Hubert & Co, Göttingen Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm UTB-Band-Nr. 3626 ISBN 978-3-8252-3626-7

Vorwort

Im Jahr 1999 begann ich mit der Arbeit an meiner Habilitationsschrift zum Themenbereich »Religiöses Lehren und Lernen im Deuteronomium« bei Prof. Dr. theol. Bernd Janowski (Tübingen). Seit dieser Zeit hat mich das Deuteronomium in Forschung und Lehre nicht mehr losgelassen. Das Deuteronomium ist ein faszinierendes Buch. Es ist ein komplexer theologischer und ein großartiger literarischer Text, der aus meiner Sicht auch heute mit Gewinn studiert werden kann. Von daher war das Schreiben der Einführung für mich sehr viel mehr als eine »Pflichtaufgabe«. Bücher entstehen nicht im »luftleeren Raum«. Viele Fragen konnte ich während der Entstehungszeit der Einführung in den letzten vier Jahren mit KollegInnen und FreundInnen diskutieren, ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank. Besonders danken möchte ich Prof. Dr. theol. Norbert Lohfink SJ. Die vielen anregenden und vergnüglichen Gespräche in St. Georgen (Frankfurt/M.) in den letzten Jahren waren für mich von unschätzbarem Wert. Besonders danken möchte ich auch meinem Mann, Prof. Dr. med. Dr. phil. Udo Benzenhöfer. Ohne unser »interdisziplinäres« Gespräch und den kritischen Blick des Nichttheologen hätte ich dieses Buch so nicht schreiben können. Für Mithilfe beim Korrekturlesen danke ich herzlich den HiWis Frau Andrea Hildebrand und Frau Mareike Schulz (Landau), für die redaktionelle Betreuung Frau Birthe Schulz-Kullig vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Landau, in der Passionszeit 2011

Karin Finsterbusch

Für Elena

Inhalt

I. Einleitung: Zur Betrachtung deuteronomischer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 II. Fakten und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1. Zu den Namen des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2. Zur Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

2.1 Zur Frage nach den Wurzeln bzw. nach dem »Ur-Deuteronomium« . . . . 17 2.2 Von der exilischen Komposition zum »fünften Buch Mose« . . . . . . . . . . . . 27 2.3 Ein Arbeitsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Zur Textüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

3.1 Die wichtigsten Textzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Stabilität und Varianz in der Überlieferung zur Zeit des Zweiten Tempels 3.3 Textliche Standardisierung am Ende der Zeit des Zweiten Tempels? . . . . . 3.4 Der MT als Basistext für die Exegese des Deuteronomiums? . . . . . . . . . . . .

39 41 45 46

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen auf der Ebene des Deuteronomiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 A. Moses (erste) Worte: Hinführung zum Vorlegen der Tora (1,1–4,40) . . . . . . . . . . 48 1. Synchrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

1.1 Bucheinleitung und erste Überschrift des Bucherzählers (1,1–5) . . . . . . . . 1.2 Moses Rückblicke: Verzögerungen bei der Eroberung des verheißenen Landes (1,6–3,29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Konstituierung Israels als Lerngemeinschaft (4,1–40) . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Zusammenfassung: 1,6–4,40 als erster Teil der Rechtskraft-Verleihung der dtn Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 54 59 61

2. Diachrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

2.1 Sekundäre Hinzufügung von 1,6–3,29 zu einer selbstständigen Komposition Deuteronomium? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.2 Sekundäre Hinzufügung von 4,1–40? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 B. Intermezzo: Die Erzählnotiz über Moses Einrichtung der Asylstädte im Ostjordanland (4,41–43) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

8

Inhalt

C. Moses Vorlegen der Tora (4,44–26,16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Überschrift des Bucherzählers (4,44–5,1a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

1.1 Synchrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1.2 Diachrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2. Moses Rückblick auf die Horeb-Ereignisse (5,1b–31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

2.1 Synchrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.2 Diachrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3. Moses Lehre bezüglich der dtn Gesetze (6–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

3.1 Synchrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.2 Diachrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4. Moses Lehre der dtn Gesetze (12,1–26,16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

4.1 Synchrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.2 Diachrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Exkurs I: Die Rezeption von Bundesbuch, den VTE und kasuistischem Recht im dtn Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

1. Die Rezeption des Bundesbuches am Beispiel des Altargesetzes in 12 . . . . 153 2. Kritische Rezeption der VTE in 13,1–12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3. Die Aufnahme älterer kasuistischer Rechtssätze in 19–25 . . . . . . . . . . . . . . . 158 D. »Bundeserklärungen«, Segen und Fluch (26,17–28,68) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. Synchrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

1.1 »Bundeserklärungen« (26,17–27,10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1.2 Segen und Fluch (27,11–28,68) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2. Diachrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

2.1 Auffälligkeiten in der Erzählfolge: Sekundäre Textzusammenstellungen in 27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2.2 Widersprüche bei der Situierung des Garizim: Redaktionelle Arbeit in 27,2–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2.3 Eine Textänderung aus »ideologischen« Gründen: 27,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Exkurs II: Die Veröffentlichung der dtn Tora auf Altarsteinen (27,4*–8): Ein Verdrängungsversuch des Bundesbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 E. Moses Worte des Moab-Bundes (28,69–30,20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Synchrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

1.1 Überschrift des Bucherzählers (28,69–29,1a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1.2 Worte des Bundes (29,1b–30,20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Diachrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

2.1 »Undeuteronomisches« Toraverständnis: Die Bearbeitung von 29,20 . . . . 178 2.2 Sprecherwechsel: Die Glosse 29,28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2.3 »Undeuteronomische« Theologie: Sekundäre Einfügung von 30,1–10 . . . 180

Inhalt

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F. Moses letzte Worte und Handlungen (31,1–32,47) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Synchrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

1.1 Grobgliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 1.2 Josua: Beauftragung als Nachfolger Moses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1.3 Die dtn Tora: Verschriftlichung, Offenbarung und Lehre ihres letzten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2. Diachrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

2.1 Das Lied als Tora-Supplement: Indiz für redaktionelle Ergänzung des Lied-Blocks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2.2 Unterschiedliche Textüberlieferung der »Rahmenverse« 31,1 und 32,45: Spiegelung historischer Textentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 2.3 Eine Textänderung aus »theologischen« Gründen: 32,8b . . . . . . . . . . . . . . . 190 G. Epilog: Moses Segen über Israel und die Erzählung über Moses Tod (32,48–34,12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Synchrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

1.1 Letzte Befehle Gottes an Mose (32,48–52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1.2 Moses Segen über die Stämme Israels (33,1–29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1.3 Moses Tod und die abschließende Würdigung des Propheten (34,1–12) 194 2. Diachrone Textbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

2.1 Der Epilog als Abschluss des Pentateuchs: »Pentateuchredaktion« . . . . . . 196 2.2 Das Ende der »Priestergrundschrift« im Epilog? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2.3 Hexateuchredaktion im Epilog? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 IV. Synchrone Betrachtungen der dtn Texte auf der Ebene des Pentateuchs 199 1. Die dtn Tora als Teiltext der »Sinai-Tora« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Sinaibund und Moabbund oder: Das dtn Gesetz neben dem Bundesbuch . . . . . 201 V. Zusammenfassung: Struktur, Profil, Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 1. Die Struktur des Buches Deuteronomium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Das Profil des exilischen Deuteronomiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

2.1 Das Profil des dtn Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2.2 Das Profil der exilischen Gesamtkomposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3. Die Botschaft des exilischen Deuteronomiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

I.

Einleitung: Zur Betrachtung deuteronomischer Texte

Was ist das Deuteronomium? Laut G. Braulik wird es oft als »die Mitte des Alten Testaments« bezeichnet, »weil es den zeitlichen und sachlichen Orientierungspunkt für die atl. Literatur- und Religionsgeschichte darstellt und das Verständnis des Rechts, der Geschichte und der Prophetie Israels nachhaltig bestimmt hat.«1 Historisch-systematisch gesehen lässt sich das Deuteronomium etwas »neutraler« als Identitätsschrift in einer bestimmten Zeit verstehen. Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler J. Assmann trifft den Punkt gut: Er beschreibt das Deuteronomium als »Gründungstext einer Form kollektiver Mnemotechnik, die in der damaligen Welt etwas vollkommen Neuartiges darstellte und mit einer neuen Form von Religion zugleich auch eine neue Form kultureller Erinnerung und Identität fundierte«.2 Die vorliegende Einführung in das Deuteronomium ist kein Kommentar im engeren Wortsinn, auch wenn sie Ausführungen zu jedem Kapitel des Deuteronomiums enthält.3 Die Betrachtung der deuteronomischen Texte erfolgt in mehreren Schritten. Die einzelnen größeren Einheiten im Rahmen der großen Sinneinheiten des Buches (z. B. Dtn 1,6–46 im Rahmen der großen Sinneinheit Dtn 1,1–4,40) – beide lassen sich auf der Grundlage von Gliederungssignalen im Text (z. B. Überschriften, Rahmungen, Themenwechsel) erheben4 – werden in einem ersten Durchgang auf der synchronen Ebene des Deuteronomiums mehr oder weniger detailliert betrachtet.5 Synchrone Betrachtung heißt, dass die Texte einer Einheit als »auf einer 1 BRAULIK 2008a, S. 149. Die Bezeichnung »die Mitte des Alten Testaments« geht zurück auf VON RAD 1973, S. 127: Nach VON RAD sind vom Deuteronomium »unermessliche Wirkungen ausgegangen; wir können ja den breiten deuteronomistischen Überlieferungsstrom in der exilischen und nachexilischen Zeit viel deutlicher verfolgen als den angeblich von der Priesterschrift ausgegangenen. Vom Dt. ab datiert eine ganz neue Epoche für Israel. So muß man das Dt. in jeder Hinsicht als die Mitte des Alten Testaments bezeichnen.« 2 ASSMANN 1999, S. 212. 3 Folgende Kommentare waren für mich bei der Abfassung der Einführung besonders wichtig: DRIVER 1902; KÖNIG 1917; BRAULIK 1986 und 1992; PERLITT 1990 ff.; WEINFELD 1991; ROSE 1994a und 1994b; NIELSEN 1995; TIGAY 1996; VEIJOLA 2004 und RÜTERSWÖRDEN 2006. 4 Vor allem im Hinblick auf die Gliederung der größeren Einheit Dtn 12,1–26,16 (dtn Gesetz) und der Sinneinheit Dtn 26,17–28,68 (Bundeserklärungen; Segen und Fluch) unterscheidet sich die vorliegende Einführung von anderen Studien. Zur Divergenz der Ergebnisse synchroner Analysen dtn Texte vgl. RÜTERSWÖRDEN 2007, insbesondere Sp. 883–885. 5 Das hier vertretene Verständnis von synchroner Textbetrachtung entspricht in etwa der Definition der Neutestamentlerin REICHERT 2001, S. 999 (wobei ich nicht in jedem Fall vom Text »in seiner vorliegenden Gestalt«, also vom MT, ausgehe, vgl. z. B. die diachronen Betrachtungen von Dtn 27,4; 29,20 und 32,8): »Die synchrone Betrachtung richtet sich auf den Text in seiner vorliegenden Gestalt, also auf die

I. Einleitung: Zur Betrachtung deuteronomischer Texte

11

Zeitstufe befindlich« angesehen werden.6 Unterstellt wird zunächst Kohärenz (nota bene: auf der Dtn-Ebene). Signale von Inkohärenz werden vermerkt (Brüche, Spannungen, »tote Motive«). Es wird nach der Intention der Verfasser und Redaktoren (sie werden in der Einführung konsequent nebeneinander genannt, um anzuzeigen, dass die Grenzen nicht klar bestimmbar sind) gefragt (synchrone Exegese dtn Texte muss m. E. keine a-historische Exegese sein). Auf den synchronen Textbetrachtungen liegt der Schwerpunkt der Einführung. Nach dem »synchronen Durchlauf« folgen in der Regel auf der Ebene der großen Sinneinheiten diachrone Textbetrachtungen (bei der zweiten Rede Dtn 4,44–26,16 folgen sie aufgrund des Textumfangs schon auf der Ebene der größeren Einheiten).7 Sie sollen u. a. Erklärungen anbieten zu Befunden, auf die bei den synchronen Textbetrachtungen als »Problemanzeige« aufmerksam gemacht wurde. In den »diachronen Textbetrachtungen« wird allerdings nur exemplarisch auf besonders signifikante Fälle von Textbearbeitungen, Fortschreibungen und Einfügungen von Textblöcken eingegangen.8 Diese Fälle sollen jedoch zusammengenommen einen Überblick geben, wie die deuteronomischen Texte entstanden und gewachsen sind.9

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Elemente des Textes und deren Beziehung zueinander, einschließlich des vom Text vorausgesetzten und gegebenenfalls zu rekonstruierenden kulturellen Wissens,« vgl. auch FINSTERBUSCH / TILLY 2010, S. 10 f. Es gibt noch eine synchrone Exegese unter programmatischer Ausblendung des historischen Kontextes und unter Absehung der Autorenintention, nämlich die so genannte kanonische Exegese. Siehe zur Kritik an diesem Programm insbesondere BIEBERSTEIN 2010, S. 44–48. Ein »Sonderfall« der synchronen Exegese ist die traditionelle jüdische Exegese. Vorausgesetzt wird hier eine semantische Entschränkung: Die einzelnen Textelemente (Wörter, Sätze etc.) können als autonome Bedeutungsträger rekontextualisiert werden. Dem biblischen Text wird so ein nicht zu erschöpfendes Sinnpotential zugesprochen, das es für die jeweilige Gegenwart produktiv zu realisieren gilt, BLUM 2005, S. 36. Zu den Zeitstufen: In Bezug auf die großen Sinneinheiten in Dtn 1,1–32,47 wird grosso modo die Zeitstufe der (früheren) exilischen Zeit vorausgesetzt (Ausnahmen sind z. B. Dtn 30,1–10 und der LiedBlock in Dtn 31 f.); in Bezug auf die letzte Sinneinheit Dtn 32,48–34,12 wird von der Entstehung in nachexilischer Zeit ausgegangen. Siehe zu den Überlegungen in Bezug auf die Buchentstehung im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.3. Die diachrone Betrachtung richtet sich nach gängiger Definition auf die Entstehungsgeschichte des Textes, »also auf mündliche oder schriftliche Vor-Texte, die im vorliegenden Text möglicherweise enthalten sind«, REICHERT 2001, S. 999. Für eine Verbindung von synchroner und diachroner Analyse deuteronomischer Texte plädierte z. B. TALSTRA 1995; zu einem ähnlichen Plädoyer in Bezug auf ntl. Texte vgl. FREY 2008, S. 753 ff. Der Text autoritativer religiöser jüdischer Schriften lag bis in die Spätzeit des Zweiten Tempels noch nicht fest, siehe hierzu im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 3.3. Leider, und dies muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, gibt es in Bezug auf die Ergebnisse diachroner (literarkritischer) Untersuchungen im Einzelnen kaum Konsens, dies gilt auch für die deuteronomischen Texte. Dieser Mangel an Konsens ist massive Problemanzeige und nicht zuletzt auch eine schlechte Bilanz für die Disziplin (Außenwirkung!), vgl. VEIJOLA 2000c. Der Mangel an Konsens hängt, wie E. Blum in einer erhellenden Studie gezeigt hat, nicht zuletzt mit einer defizienten Datenbasis zusammen: »Dabei besteht die größte Schwierigkeit darin, daß externe Daten rar bleiben, im besten Falle einen gewissen Rahmen des Möglichen abstecken«, BLUM 2005, S. 13. In der Konsequenz kann dies nicht heißen, nur noch synchrone Textbetrachtungen anzustellen (Synchronie ist kein Ausweg aus dem diachronen Dilemma), sondern dies muss heißen, methodisch kontrollierter vorzugehen. Es muss häufiger zugegeben werden, dass für bestimmte textliche Phänomene keine (sichere) diachrone Erklä-

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I. Einleitung: Zur Betrachtung deuteronomischer Texte

In einem Exkurs im Anschluss an die synchronen und diachronen Betrachtungen des dtn Gesetzes (Dtn 12,1–26,16) wird auf wichtige Quellen hingewiesen, die die Verfasser und Redaktoren bei der Erstellung ihrer Gesetzestexte aufnahmen und zum Teil kritisch rezipierten (das Bundesbuch, die VTE und Gesetze aus kasuistischen Rechtssatzsammlungen).9 Als dritter eigenständiger Durchgang müsste idealerweise eine synchrone Betrachtung der deuteronomischen Texte im Hinblick auf ihren (historisch gesprochen: sekundären, für Pentateuch- oder Enneateuch-LeserInnen: primären) literarischen Kontext erfolgen, nämlich die restlichen Pentateuchbücher (insofern das Deuteronomium als »fünftes Buch Mose« den Pentateuch abschließt) bzw. Enneateuchbücher (insofern das Deuteronomium Teil der Erzählung ist, die von Genesis bis 2 Reg reicht). Denn zumindest teilweise gewinnen die deuteronomischen Texte, gelesen als Teiltexte des Pentateuchs / Enneateuchs, eine neue Bedeutung. Hierzu nur ein Beispiel: Besonders signifikant sind die Verschiebungen in Bezug auf den Status des deuteronomischen Gesetzes, das im Kontext des Pentateuchs nunmehr zusammen mit anderen Gesetzeskorpora (wie dem Bundesbuch) steht (und das deshalb nicht mehr als allein gültiges Gesetz für Israel angesehen werden kann).10 Ein zweiter synchroner Durchgang würde den Rahmen dieser Einführung jedoch sprengen. Dennoch darf diese Ebene nicht außen vor gelassen werden.11 Sie wird in zweifacher Hinsicht berücksichtigt: Die Erstellung bzw. die redaktionelle Bearbeitung einiger (m. E. eher weniger) Texte gehen mutmaßlich auf das Konto einer »Pentateuchredaktion«, dies wird bei den Textbetrachtungen entsprechend thematisiert (siehe z. B. die diachronen Betrachtungen von Dtn 5,5 und von Dtn 32,48–34,12). Darüber hinaus wird in einem eigenen synthetischen Kapitel exemplarisch aufgezeigt, wie sich die sekundäre Pentateuch-Kontextualisierung auswirkt.12

9 rung möglich ist. Häufiger sollten Textanalysen abgeschlossen werden mit einem »ignoramus et ignorabimus«, so zu Recht LOHFINK 1996a, S. 198. 10 Vgl. zu diesen Verschiebungen FINSTERBUSCH 2011a, S. 23–26. 11 OTTO 2002, S. 86, vertritt die These, dass das Deuteronomium synchron nur auf der Pentateuchebene gelesen werden kann: »Ein synchron zu analysierendes Deuteronomium unter Absehung vom übrigen Pentateuch gibt es nicht und wäre eine unhistorisch-fiktive Größe, die auch nicht durch das eigene Überschriftensystem des Deuteronomiums in Dtn 1,1–5, das nicht prinzipiell von den drei weiteren Überschriften des Deuteronomiums geschieden ist, konstituiert wird.« An dieser Auffassung ist unbestreitbar richtig, dass der Pentateuch der literarische Kontext des »jetzigen« Deuteronomiums ist und insofern eine synchrone Betrachtung dtn Texte auf Pentateuchebene sinnvoll ist (es ist das besondere Verdienst von Otto, hierauf nachdrücklich aufmerksam gemacht zu haben). Dennoch ist Otto nicht zu folgen. Nach der von mir zugrunde gelegten Definition von Synchronie (s. o.) ist eine synchrone Analyse der einzelnen dtn Sinneinheiten (z. B. Dtn 1,1–4,40) sinnvoll, da dadurch das Eigenprofil der Sinneinheiten in den Blick kommen kann (ebenso wie Inkohärenzen). Nur auf der Grundlage einer konsequenten synchronen Analyse aller Sinneinheiten im narrativen Gefälle des Buches ist es schließlich möglich, zwischen z. B. »(exilischem) Deuteronomium« und »fünftem Buch Mose« zu unterscheiden, siehe hierzu u. a. im Teil V. ZUSAMMENFASSUNG, 2. Zu einer Kritik an Ottos Position vgl. auch LOHFINK 2003, S. 182, Anm. 6. 12 Teil IV. SYNCHRONE BETRACHTUNGEN DER DTN TEXTE AUF DER EBENE DES PENTATEUCHS.

I. Einleitung: Zur Betrachtung deuteronomischer Texte

13

Die Textbetrachtungen basieren vor allem (auf textkritisch bedeutsame Abweichungen wird eingegangen) auf dem Masoretischen Text (MT) des Deuteronomiums.13 Es wird davon ausgegangen, dass der Masoretische Text der exilischen Komposition Deuteronomium (m. E. Dtn 1,1–31,13* + 32,45*14) – wie auch der entsprechende Text des Sam oder die hebr. Vorlage der LXX Dtn – im Wesentlichen einen Text repräsentiert, der in der Exilszeit existierte und der für die exilische Adressatenschaft als Einheit kenntlich war (auch wenn dieser Text in Bezug auf die »Story« zum einen Wissen voraussetzte und zum anderen auf Fortsetzung angelegt war). Dies gilt analog für die späteren Ergänzungen (z. B. durch die »Pentateuchredaktion«). Vor den synchronen und diachronen Textbetrachtungen werden in einem einleitenden Kapitel einige Ausführungen zu den Namen des Buches, zur Entstehungsgeschichte und zur Textüberlieferung des Deuteronomiums gemacht. Im Anschluss an die Textbetrachtungen findet sich ein Schlusskapitel mit einer Übersicht über die Struktur des Buches Deuteronomium (Dtn 1,1–34,12), einer Beschreibung des Profils der exilischen Komposition Deuteronomium (s. o.) und mit zusammenfassenden Bemerkungen zu ihrer Botschaft.

13 Siehe unten im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 3.4. Zu den Namen »Masoretischer Text« und »Masoreten« siehe TOV 1997, S. 17 f. 14 Siehe unten im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.3.

II.

1. 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 3. 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.4

1.

Fakten und offene Fragen

Zu den Namen des Buches Zur Entstehungsgeschichte Zur Frage nach den Wurzeln bzw. nach dem »Ur-Deuteronomium« Ein »hiskijanisches Ur-Deuteronomium«? Antiassyrismus in vorexilischer Zeit als Ursprung des Deuteronomiums? Ein »joschijanisches Ur-Deuteronomium«? Entstehung einer vorexilischen »deuteronomistischen Landeroberungserzählung« (DtrL) im Zusammenhang mit Expansionsbestrebungen Joschijas? Das »Ur-Deuteronomium« als Reaktion auf Exilierung und Verlust von Judas politischer Eigenständigkeit 597/586 v. Chr.? Von der exilischen Komposition zum »fünften Buch Mose« Die ältesten Pentateuchfragmente und der Terminus ante quem für die Formierung des Pentateuchs Das Deuteronomium und die literarischen Einheiten Pentateuch, Hexateuch, DtrG Impulse für die Formierung des Pentateuchs in persischer Zeit Zwischen Elephantine und Qumran: Die Anerkennung des Pentateuchs als Tora in hellenistischer Zeit Ein Arbeitsmodell Zur Textüberlieferung Die wichtigsten Textzeugen Stabilität und Varianz in der Überlieferung zur Zeit des Zweiten Tempels Teiltext des Gesetzes: 24,1 f. Shabbatgebot des dtn Dekalogs: 5,12–15 Textliche Standardisierung am Ende der Zeit des Zweiten Tempels? Der MT als Basistext für die Exegese des Deuteronomiums?

Zu den Namen des Buches

Nimmt man die aktuelle Fassung der revidierten Lutherübersetzung zur Hand und schlägt ihren ersten Teil (das sog. »Alte Testament«) auf, so kommt man nach einigem Blättern zu einer Seite mit der Überschrift: »Das fünfte Buch Mose (Deuteronomium)«. In einer gängigen jüdischen Bibelausgabe (»Tanach«)1 steht an der entsprechenden Stelle ein Nomen mit fünf hebräischen Konsonanten ‫דברים‬ (sprich: dewarim). Das Nomen bedeutet »Worte«. Schon allein dieser Befund ver1 Z. B. die Ausgabe »Koren Publishers Jerusalem LTD«.

1. Zu den Namen des Buches

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weist auf differierende sprachliche und kulturelle Kontexte, in denen das Buch entstanden ist bzw. rezipiert wurde. Bevor im Folgenden kurz die Namen des Buches erklärt werden sollen, ist noch festzuhalten, dass in der Antike durchaus nicht jedes Buch mit einem Buchnamen versehen wurde.2 Es muss also offen bleiben, ob das Deuteronomium »von Anfang an« einen Buchnamen hatte. 1. Die Wahl von ‫»( דברים‬Worte«)3 als Buchnamen hängt mit dem (im Alten Orient häufiger nachweisbaren4) Brauch zusammen, ein Buch mit einem Wort oder mit mehreren Worten des ersten Satzes zu bezeichnen.5 Der erste Satz lautet im MT Deuteronomium: ‫» אלה הדברים אשׁר דבר משׁה אל כל ישׂראל‬Dies (sind) die Worte, die Mose sprach zu ganz Israel«. 2. Die Bezeichnung des Buches als »fünftes Buch Mose« verweist auf einen komplizierten Sachverhalt: Mose gilt in der Literatur der Zeit des Zweiten Tempels als derjenige, der im Auftrag JHWHs »Tora« (Weisung, Gesetz) an Israel übermittelt hat; ein Ausdruck hierfür ist die Wendung »Tora des Mose« (z. B. Esra 7,6). In den Qumranschriften ist die Bezeichnung des Pentateuchs als »Buch des Mose« (vgl. 4QMMT: 4Q397, Frag. 14–21,10) oder »Tora des Mose« (vgl. CD 16,2) für das 2. Jh. v. Chr. belegt.6 Ein früher Beleg für die Rede von den fünf Büchern Mose findet sich in der von dem jüdischen »Historiker« Josephus gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. verfassten Schrift Contra Apionem.7 Josephus legte hier dar, dass es zweiundzwanzig autoritative jüdische Schriften gibt, davon fünf Bücher Mose, die die Gesetze und die überlieferte Geschichte von der Entstehung des Menschen bis zum Tod des Gesetzgebers enthalten. Dadurch, dass diese fünf Bücher allesamt (obwohl z. B. in der Genesis von Mose nicht die Rede ist) unter die Autorität des Mose gestellt wurden (für Josephus war 2 Siehe hierzu insbesondere BERTHELOT 2007, S. 128. 3 Hieronymus gibt im Prologus Galeatus folgendes Nomen als Titel an (wobei dieses Nomen hier, anders als in der späteren jüdischen Tradition, determiniert ist, d. h. mit Artikel steht): »Addebarim« (»die Worte«). Die »Langform« ‫»( אלה הדברים‬dies [sind] die Worte«) ist belegt bei Origenes, der Ἔλλε ἀδδεβαρὶμ transkribiert (Quelle bei Eusebius, Hist. Eccl. VI,25); nachweisbar ist sie auch in tannaitischen Texten, vgl. z. B. mSota 7,8. Weitere Belege bei BLAU 1894, S. 43. 4 Beispielsweise heißt der Babylonische Weltschöpfungsmythos nach seinen Anfangsworten »Enuma elisch« (»Als droben«), vgl. TUAT III/4, S. 565. 5 Der früheste Beleg eines hebräischen Titels eines Pentateuchbuches, nämlich des ersten (4QGenh-Titel, ‫» בראשׁית‬Am Anfang«), stammt aus dem 1. Jh. n. Chr. Die gefundene Überschrift belegt »nicht nur schon in der Antike den noch heute gebräuchlichen jüdischen Titel des Buches Genesis, sondern gibt auch einen Hinweis auf die bibliothekarische Kennzeichnung von Schriftrollen in Qumran«, LANGE 2009a, S. 49 f. 6 Das Nomen ‫» תורה‬Tora« im Pentateuch bezeichnet nur Teiltexte des Pentateuchs (ist also keine Bezeichnung für den Pentateuch selbst), siehe hierzu FINSTERBUSCH 2011a. 7 Contra Apionem I,38 f. Zu entsprechenden Belegen in der rabbinischen Literatur (z. B. zu der Bezeichnung des Pentateuchs als ‫» חמשׁין‬Fünftel«) siehe BLAU 1894, S. 41 f. In den Qumranschriften ist der Ausdruck »fünf Bücher« einmal in 1Q30 I 4 belegt (der Kontext ist leider nicht erhalten), ein Bezug auf den Pentateuch ist wahrscheinlich, siehe BERTHELOT 2007, S. 139.

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II. Fakten und offene Fragen

Mose auch der Verfasser dieser Bücher8), wurde ihre außerordentliche Bedeutung unterstrichen. 3. Der in der Lutherbibel in Klammern geschriebene Name »Deuteronomium« (auf Deutsch: »zweites Gesetz«) spiegelt den Versuch wider, das Buch nach seinem Inhalt zu benennen. Zur Erläuterung soll zunächst die wörtliche deutsche Übersetzung des hebräischen Textes von Dtn 17,18 angeführt werden: Und wenn er (der König) auf seinem Königsthron sitzt, soll er für sich eine Zweitschrift dieser Tora [‫]משׁנה התורה הזאת‬, die in der Obhut der levitischen Priester ist, auf eine Schriftrolle schreiben.

Nach den Autoren des Verses sollte der König also einen Text abschreiben, der als Tora bezeichnet wird (damit ist in der Welt des Deuteronomiums Dtn 5,1b–26,16; die Segens- und Fluchtexte in Dtn 28 und wohl auch noch das Lied Dtn 32 gemeint9). Im 3. oder 2. Jh. v. Chr. wurden im Zusammenhang der Hellenisierung des Alten Orients nach dem Alexanderfeldzug 333 v. Chr. griechische Übersetzungen der »fünf Bücher Mose« angefertigt (die einzelnen Bücher wurden von verschiedenen Übersetzern übersetzt). Im Zuge der Übersetzung von Dtn 17,18 wurde die hebräische Fügung ‫»( משׁנה התורה הזאת‬eine Zweitschrift dieser Tora«) im Griechischen als »diese zweite Tora« (bzw. »dieses zweite Gesetz«) interpretierend wiedergegeben (was in grammatischer Hinsicht nicht ganz korrekt war10). Nach Auffassung der Übersetzer des Verses sollte der König also einen Text abschreiben, der als »zweites Gesetz« bezeichnet wird (damit meinten die Übersetzer aller Wahrscheinlichkeit nach das ganze Buch Dtn). »Zweites Gesetz«, δευτερονόμιον (sprich: deuteronomion), wurde von den jüdisch-griechischen Übersetzern auch als Buchname gewählt.11 In späteren lateinischen Übersetzungen wurde der Name latinisiert zu »deuteronomium«. Eine offene Frage ist, ob den jüdisch-griechischen Übersetzern eine entsprechende hebräische Tradition in Bezug auf den Buchnamen bereits vorlag oder ob die Wahl dieses Buchnamens ihre »Erfindung« war.12 8 Dies geht aus Contra Apionem I,38–40 implizit hervor, vgl. hierzu insbesondere LABOW 2005, S. 32. Zu rabbinischen Belegen bezüglich der Autorschaft des Mose vgl. z. B. bBabaBathra 14b.15a und jSota 20d. Die Auffassung der mosaischen Verfasserschaft des Pentateuchs lässt sich erst im 1. Jh. n. Chr. nachweisen, vgl. OTTO 2004, S. 473 f. 9 Vgl. im Teil V. ZUSAMMENFASSUNG, 2.2. 10 Diese Wiedergabe ist aber nicht als unangemessen zu beurteilen, vgl. schon DRIVER 1902, S. i: »Although, however, based upon a grammatical error, the name is not an inappropriate one; for Deuteronomy […] does embody the terms of a second legislative ›covenant‹, and includes (by the side of much fresh matter) a repetition of a large part of the laws contained in what is sometimes called the ›First Legislation‹ of Exodus.« 11 Den Buchnamen δευτερονόμιον verwendete Philo von Alexandrien zweimal, nämlich in Leg 3, 174 und in Quod Deus 50. Einen anderen Namen für das Dtn verwendete Philo nicht, vgl. zum Befund COHEN 2007, S. 36–53. 12 In der frühen rabbinischen Tradition lässt sich ‫( משׁנה התורה‬sprich: mischne hatora) mehrfach als

2. Zur Entstehungsgeschichte

17

Wie auch immer: Mit dem Namen »Zweites Gesetz« wurde eine spezifische Sichtweise auf das Buch Dtn zum Ausdruck gebracht: Es wurde als »zweites Gesetz« bezeichnet, um anzuzeigen, dass nach der in Ex 19 – Num 10 erzählten, sozusagen »ersten Gesetzgebung« am Sinai, nunmehr in diesem Buch von einer weiteren Gesetzgebung an das Volk Israel im Land Moab erzählt wird.13

2.

Zur Entstehungsgeschichte

2.1

Zur Frage nach den Wurzeln bzw. nach dem »Ur-Deuteronomium«

Die Mehrheit der ExegetInnen ist sich zumindest in dem Punkt einig, dass das Deuteronomium (entgegen der Darstellung im Buch selbst) nicht in der Frühzeit Israels entstanden ist.14 Zwei der wichtigsten Argumente sind: – Zu den Besonderheiten des deuteronomischen Gesetzes gehört die sog. Kultzentralisation (JHWH soll nur an einem Ort verehrt werden, Dtn 12). Es gibt eindeutige textliche und archäologische Evidenz dafür, dass in den ersten Jahrhunderten der Existenz des Volkes Israel legitimer JHWH-Kult an mehreren Orten möglich war. – An zwei zentralen Stellen im Buch Deuteronomium (Dtn 13; 28) wurden Texte der ca. 672 v. Chr. entstandenen VTE (»Vassal Treaties of Esarhaddon«, s. u. 2.1.2.) rezipiert. Damit ist ein Fixpunkt für die Entstehung (zumindest zentraler Teile) des Deuteronomiums gegeben (ein »terminus post quem«). Abgesehen von diesem Konsens gibt es unterschiedliche Ansätze, die Entstehung des Deuteronomiums zu erklären.

Buchtitel nachweisen, vgl. etwa jMeg 74b, 55; jSan 20c, 49; weitere Stellenangaben bei BLAU 1894, S. 44, Anm. 3. Nach BLAU 1894, S. 45, ist es eher unwahrscheinlich, dass der biblische Ausdruck ‫משׁנה‬ ‫ התורה‬erst ins Griechische übersetzt wurde und dann aus dem Griechischen auf dem Weg der Rückübersetzung als Buchtitel in die rabbinische Tradition gelangt ist. 13 Nach Wevers und Aejmelaeus ist »zweite Gesetzgebung« nicht im Sinn einer neuen Gesetzgebung aufzufassen: »Deut is a second law over against the ‫ תורה‬of Exodus – Numbers, a repetition of the law by God to Moses in Transjordan«, so WEVERS 1995, S. 289 f. »Der Übersetzer hat offensichtlich gedacht […], daß durch ‫ משׁנה התורה‬eben das Dtn als Kompendium des Gesetzes bezeichnet wird und dass nur dieses Kompendium für den König abgeschrieben werden soll. Er formuliert entsprechend τὸ δευτερονόμιον ›Wiederholung des Gesetzes‹«, so AEJMELAEUS 1996, S. 1. Der Frage, wie sich das Verhältnis von dem dtn Gesetz zu den Gesetzen in Exodus – Numeri aus Sicht der jüdisch-griechischen Übersetzer darstellte, müsste einmal genauer nachgegangen werden. 14 Eine Frühdatierung wurde in der exegetischen Literatur eher selten vertreten, Vertreter waren OESTREICHER 1923, und MCCONVILLE 1984, siehe zu Letzterem insbesondere LEVINSON 2000. – Auch das andere Extrem, nämlich eine nachexilische Datierung, findet sich im 19. und 20. Jh. gelegentlich und wird heute so gut wie nicht mehr verteidigt, ein wichtiger Vertreter war z. B. HÖLSCHER 1922.

18

II. Fakten und offene Fragen

2.1.1 Ein »hiskijanisches Ur-Deuteronomium«? Georg Braulik begann 200415 seinen »Entwurf einer literarischen Geschichte des Dtn« mit dem Abschnitt »Das hiskijanische Ur-Deuteronomium«: »Von der ›Kultzentralisation‹ handeln im Endtext des Dtn jetzt folgende Gesetze: 12,4–7.8– 12.13–19.20–28; 14,22–27; 15,19–23; 16,1–8.9–12.13–15.16 f.; 17,8–13; 18,1–8; 26,1–11; 31,9– 13. Ihre historische Zuordnung ist diskutiert [gemeint: ist umstritten, K. F.]. Aber der Grundbestand dürfte eine Opferkultzentralisation unter Hiskija von Juda (725–697 v. Chr.) reflektieren und nachträglich legitimieren.16 Hiskija suchte die Landbevölkerung vor einem zu erwartenden assyrischen Angriff, dem in offener Feldschlacht nicht widerstanden werden konnte, zu schützen und siedelte sie in die befestigten Städte um. Dazu mußte die feste Bindung der bäuerlichen Großfamilie an ihren Boden und den Kult ihrer Ahnen aufgelöst werden. Diesem Zweck dürfte auch das Zentralisationsanliegen gedient haben – vgl. 2 Kön 18,4.22 und im Zusammenhang mit der Kultreform Hiskijas die Zerstörung des Hörneraltars von Tel Scheba und die Schleifung des JHWH-Heiligtums von Arad. Von einem damit verbundenen sozialen Anliegen erzählt die dtr Geschichtsschreibung nichts. Auch Joschija von Juda (640–609 v. Chr.) hat jedenfalls eine Kultstättenzerstörung durchgeführt (2 Kön 23,4–20).«17

Doch gab es wirklich eine Kultreform unter Hiskia, die das Dtn reflektierte bzw. legitimierte? In Bezug auf die beiden von Braulik erwähnten archäologischen Befunde ist festzuhalten, dass sie zwischenzeitlich einer Revision unterzogen wurden: Die Altarzerstörung von Tel Scheba geschah wohl vor der Zeit Hiskijas. Die (kurzzeitige) Aufgabe des Tempels von Arad (Stratum IX) lässt sich nur ungefähr (auf die zweite Hälfte des 8. Jh. v. Chr.) datieren; nach dieser kurzzeitigen Aufgabe des Tempels war das Heiligtum jedenfalls wieder in Kraft bis ins frühe 6. Jh. v. Chr. (deutlich nach der Zeit Joschijas). Dies bedeutet, dass von archäologischer Seite die These einer hiskijanischen (und joschijanischen, s. u.) Kultreform nicht gestützt wird.18 Die beiden Notizen über eine Kultreform in 2 Reg 18,4.22 finden im Übrigen keinerlei Echo in der entsprechenden prophetischen Literatur und in der Fortsetzung von 2 Reg; das macht skeptisch, allein auf die beiden Verse die weitreichende These einer Kultreform zu bauen. Insgesamt gesehen steht also die Hypothese eines »hiskijanischen Ur-Deuteronomiums« auf (zu) unsicherem Grund. 2.1.2 Antiassyrismus in vorexilischer Zeit als Ursprung des Deuteronomiums? Zum Verständnis der im Folgenden darzulegenden Position von E. Otto muss etwas ausgeholt werden: Im Jahr 672 v. Chr. ließ der assyrische Großkönig Asarhaddon (680–669 v. Chr.) die Notabeln seines Reiches und der vertraglich an Assyrien gebundenen Völkerschaften zusammentreten. Er ließ sie einen Treueid schwören, 15 In der fünften Auflage der »Einleitung in das Alte Testament« (hg. von E. Zenger), S. 143 (in den ersten vier Auflagen hat Braulik diese Formulierung nicht verwendet). 16 Eine Gegenposition vertritt z. B. ARNETH 2006. 17 BRAULIK a. a. O., S. 143 f. 18 Vgl. UEHLINGER 1995, S. 64 f.; NA’AMAN 1995, S. 179–195; ZWICKEL 2008a. Die Interpretation des Befundes von Arad ist im Einzelnen schwierig, siehe hierzu insbesondere ZWICKEL a. a. O.

2. Zur Entstehungsgeschichte

19

um sie zur Loyalität gegenüber seinem Sohn Assurbanipal (668–627 v. Chr.19) als seinem designierten Nachfolger zu verpflichten. Assurbanipal war nicht der älteste Sohn Asarhaddons, es handelte sich also gewissermaßen um eine »irreguläre Thronfolge«, die durch den Treueid gesichert werden sollte. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass bei dieser Eideszeremonie auch Manasse von Juda und / oder Repräsentanten des Staates Juda teilnehmen mussten und dass mindestens eine Kopie des Treueides nach Jerusalem transferiert und dort aufbewahrt wurde. Allerdings sind Tafelfragmente dieses Eides (in der Literatur meist pluralisch abgekürzt zitiert als VTE, »Vassal treaties of Esarhaddon«20) in Jerusalem bislang nicht gefunden worden (Exemplare wurden aber bei Ausgrabungen an anderen Orten entdeckt21). Otto geht davon aus, dass in Dtn 13,2–10* und Dtn 28,20–44* bestimmte Passagen der VTE übersetzt sind.22 Diese Übersetzungen sind nach Otto vor 612 v. Chr. (dem Untergang des assyrischen Weltreichs und damit, nach Otto, auch dem Untergang der Gattung »Treueid«23) entstanden. Otto zieht nun einen weitreichenden Schluss für den literarischen Ursprung des Deuteronomiums: Dieser sei ein »judäischer Loyalitätseid«, bestehend aus Dtn 13,2–10* und 28,15*.20–44*. »Die Anstiftung zum religiösen Hochverrat selbst von Propheten, Familienangehörigen und Freunden soll durch sofortige Hinrichtung geahndet werden [Dtn 13,2–10*]. Die Zuwiderhandlung wird mit JHWH-Flüchen belegt [28,15*.20–44*]. Die Rezeption des ass. Loyalitätseides entzieht dem ass. Großkönig die Loyalität. Wird sie nicht auf den judäischen König, sondern JHWH übertragen, ist damit … dem ass. Staatsgedanken, aus dem Staat resultiere als einheitsstiftende Organisationsform Gerechtigkeit und Frieden, widersprochen. Nicht einem religiös überhöhten Repräsentanten des Staates, sondern JHWH wird ungeteilte Loyalität geschuldet und damit die Loyalitätsforderung des Staates beschränkt. Dieser in der Auseinandersetzung mit der assyrischen Hegemonialmacht in judäischen Intellektuellenkreisen gewonnene Gedanke wird in der Fortschreibungsgeschichte des Dtn weiter entfaltet.«24

Trotz mancher Probleme im Einzelnen ist die These der Rezeption der VTE in Dtn 13 und 28 m. E. überzeugend (die Annahme umgekehrter Rezeption macht keinen Sinn).25 Aber geschah dies vorexilisch in subversiver antiassyrischer Absicht? Wäre 19 Jahreszahlen nach SCHOORS 1998, S. 8. 20 Die Bezeichnung ist allerdings nicht korrekt, da es sich nicht um »Vasallenverträge« handelt, siehe hierzu insbesondere OTTO 1999a, S. 15–32. 21 Erhalten ist die Version, die den medischen Fürsten galt, vgl. TUAT I/2, S. 160–176. 22 Vgl. OTTO 1999a, S. 15–90. 23 OTTO 1999a, S. 15–32, betont, dass die »Gattung« der Treueide weder in neubabylonischer noch in persischer Zeit bekannt war. RADNER 2006, S. 375, wendet ein: »Die wenigen bekannten assyrischen Vereidigungen erlauben es uns nicht, eine Entwicklungsanalyse der Textgattung (einschließlich der Fluchsektion) zu erstellen, und jede Parallele zu Dtn 28,22–44 in den Nimruder Texten könnte sich auch in älteren oder jüngeren Vereidigungen (und nicht nur aus der assyrischen, sondern auch der nachfolgenden babylonischen Verwaltung!) wiederfinden, die uns aber nicht erhalten sind.« 24 OTTO 1999b, Sp. 694. 25 STEYMANS 1995, hat nachgewiesen, dass die in Dtn 28 angeführte Fluchsequenz eine exklusive Parallele in den VTE hat; vgl. auch noch RÜTERSWÖRDEN 2002. Dass Dtn 13 und Dtn 28 von altorientalischer Vertragsideologie beeinflusst wurden, jedoch nicht exklusiv von den VTE, vertreten z. B. PAKKALA

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II. Fakten und offene Fragen

ein »judäischer Loyalitätseid« vor dem Tod Assurbanipals (627 v. Chr.) geschrieben worden, hätte ein solches Dokument ihm die politische Loyalität Judas wohl kaum streitig machen können. Und wäre es in Juda nach seinem Tod verfasst worden, wäre es zumindest politisch wirkungslos gewesen, denn mit dem Tod Assurbanipals (und den sofort beginnenden Thronstreitigkeiten) hatten sich die VTE erledigt. Einzugehen ist in diesem Zusammenhang noch auf eine weitere These Ottos: Nach ihm ist in Auseinandersetzung mit der assyrischen Hegemonialmacht auch das deuteronomische Programm der Kultzentralisation entstanden:26 In altassyrischer Zeit übertrug der König Samsi-Adad den Anspruch der Stadt Nippur, »heiliger Hügel« im Zentrum der Achsen der Welt zu sein, auf die Stadt Assur. Dabei erhielt auch der sich in der Stadt Assur befindende Assur-Tempel den Namen des Enlil-Tempels von Nippur, was angesichts der Verehrung des Lokalgottes Assur als Enlil (der assyrische Königsgott) seit der altassyrischen Zeit möglich war. Damit wurde die Stadt Assur zum Sitz des Königsgottes. Fortan wurde der Königsgott Assur, nach allem was aus den Quellen bekannt ist, an keinem anderen Ort des assyrischen Reiches in einem Tempel kultisch verehrt. Ein Versuch, den AssurTempel in eine andere Residenzstadt zu verlegen, scheiterte; die Stadt Assur blieb auch in neuassyrischer Zeit einziger Ort des Assur-Kultes. Otto stellt nun im Hinblick auf diesen Befund folgende These auf: »Wollte der dtn Autor sein Reformprogramm dem neuassyrischen Religions- und Rechtssystem entgegenstellen und die Überlegenheit der judäischen JHWH-Konzeption über die assyrische Konzeption des Gottes Aššur, dessen Stellvertreter der assyrische Großkönig sein wollte, erweisen, so konnte die JHWH-Verehrung nicht hinter der Rationalität der assyrischen Kultzentralisation zurückbleiben: Wie der assyrische Gott Aššur an nur einem Ort kultisch verehrt wird, so auch der judäische Gott JHWH: Jerusalem steht nicht Aššur nach, und kein Lokalheiligtum in Juda unterminiert die Alternative zwischen dem Gott Aššur und JHWH. Der Demonstration der Weltherrschaft des Gottes Aššur und seines Stellvertreters, des Königs, durch die assyrische Staatsmacht wird die Versammlung der Kultgemeinde zum gemeinsamen Opfermahl vor JHWH entgegengesetzt als Ausdruck dessen, was bereits der Loyalitätseid in Dtn 13*; 28* auf die Fahnen schrieb, dass JHWH, nicht aber dem assyrischen Großkönig, ungeteilte Loyalität zukommt.«27

Ein starkes Gegenargument gegen die referierte These Ottos ist m. E., dass die Verfasser und Redaktoren im dtn Gesetz durchaus Gründe für ihr Programm der Kultzentralisation erkennen lassen; hierbei ist sehr viel von Bemühung um Sicherung eigener Identität, aber nichts von einer antiassyrischen Tendenz zu spüren: Die Kultzentralisation soll Israel von den (nicht mehr existierenden) kanaanäischen Vor2006, und KOCH 2008. Vorsichtig urteilt MORROW 2009, S. 231: »For my part, I remain impressed by the number of parallels between Deuteronomy 13; 28 and the VTE; no other extant Assyrian treaty has as many. It is difficult to believe that the correspondences with the VTE are merely coincidental.« 26 Zum Folgenden vgl. OTTO 1999a, S. 350 f. 27 OTTO 1999a, S. 351. Ist es plausibel, dass die dtn Verfasser und Redaktoren dem assyrischen Kult derartig viel Aufmerksamkeit geschenkt haben bzw. den assyrischen Staatsgott derartig ernst genommen haben – und das zu einer Zeit, als der assyrische Stern spürbar am Sinken war?

2. Zur Entstehungsgeschichte

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bewohnern im Land unterscheiden (Dtn 12,2–7), und diese Bewohner zeichneten sich gerade durch die Verehrung ihrer Götter an mehreren Kultorten [!] aus. Die eine Kultstätte soll – positiv formuliert – Stätte des zentralen Gerichts (Dtn 17,8– 13) und Stätte der Konzentration auf die eigene Geschichte und Religion sein (Dtn 16; 26,1–15). 2.1.3 Ein »joschijanisches Ur-Deuteronomium«? Nach einer berühmten Theorie, die 1805 von Wilhelm Leberecht de Wette begründet wurde, ist die Abfassung des »Ur-Deuteronomiums«28 in Zusammenhang mit der Reform des Königs Joschija von Juda (640/39–609/08 v. Chr.29) zu sehen.30 Der entscheidende Bibeltext ist 2 Reg 22 f.: In 2 Reg 22 wird von einem »Tora-Buch«, das im Tempel gefunden wurde, berichtet (‫ספר התורה‬, z. B. V. 8); nach 2 Reg 23 führte Joschija (nach den biblischen Angaben ungefähr 622 v. Chr.) eine Reform durch, die unter anderem auf die Zentralisation des JHWH-Kultes zielte. De Wette postulierte einen Zusammenhang zwischen dem erwähnten Tora-Buch und der Reform und identifizierte das Buch mit einer frühen Ausgabe des Deuteronomiums (die u. a. die Vorschrift der Kultzentralisation enthalten habe, vgl. Dtn 12). De Wette nahm ferner an, dass dieses »Ur-Deuteronomium« in der Zeit der joschijanischen Reform auch verfasst wurde (also nicht sehr viel früher). Die Thesen de Wettes wurden intensiv rezipiert: Bis heute wird vielfach von einem Zusammenhang zwischen Deuteronomium und Joschijareform ausgegangen. Aber hat es die joschijanische Reform tatsächlich gegeben?31 Eine differenzierte Position in dieser Frage vertritt Ch. Uehlinger.32 Während er (m. E. zutreffend) einige der in dem Reformbericht (2 Reg 23,4–20.24a) enthaltenen »Kulttilgungsmaßnahmen« für historisch plausibel hält – und zwar als »konjunkturell bedingte Neuorientierungen«,33 nicht als antiassyrische »Reformmaßnahmen« – äußert er sich in Bezug auf die Profanisierung der Kultstätten im Land Juda skeptisch (2 Reg 23,8a), da »eine joschijanische Kultzentralisation […] durch die – neu interpretierten – Befunde von Arad Str. (VII)-VI in recht krasser Weise in Frage gestellt wird«34 (das Heiligtum in Arad blieb bis in die Zeit nach dem Tod Joschijas in Gebrauch). 28 Der Begriff »Ur-Deuteronomium« ist ein sinnvoller Hilfsbegriff. Eine genaue Rekonstruktion des Textes – unabhängig davon, wann man die Entstehung des »Ur-Deuteronomiums« ansetzt – ist nicht möglich. Vgl. die Übersicht über verschiedene Rekonstruktionsversuche von OTTO 1999b, Sp. 693. 29 Jahreszahlen nach VIEWEGER 2003, S. 396. 30 Vor de Wette haben zwar auch andere Exegeten das in 2 Reg 22 erwähnte Buch mit dem Deuteronomium in Verbindung gebracht, aber de Wette argumentierte erstmals gegen den mosaischen Ursprung des Deuteronomiums, vgl. SMEND 1958, S. 36. 31 Zum Thema vgl. insbesondere SCHREINER 1995. 32 UEHLINGER 1995. 33 Hierzu zählt UEHLINGER 1995, S. 74–81, etwa die in 2 Reg 23,11 erwähnte Abschaffung der Pferde und Wagen des Sonnengottes. Mit einer »kleinen« Kultreform rechnet z. B. auch HARDMEIER 2000, S. 143. 34 UEHLINGER 1995, S. 72.

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II. Fakten und offene Fragen

Die Skepsis lässt sich noch verstärken: H. Niehr hat überzeugend dargelegt, dass die These einer von Joschija durchgeführten weitreichenden religiösen Reform nicht zuletzt auch wegen des diesbezüglichen Schweigens der Zeitgenossen Joschijas nicht zu halten ist.35 Auf gravierende religiöse Neuerungen wie Kultzentralisation und Alleinverehrung JHWHs seitens des Königshauses bzw. Joschijas ebenso wie auf einen Bundesschluss Joschijas in Bezug auf ein bestimmtes Gesetz (2 Reg 23,1–3) hätten sich die Propheten Jeremia, Ezechiel, Zephania oder Nahum aber explizit beziehen müssen.36 Es sei hier noch ein weiterer entscheidender Aspekt angeführt: Uehlinger betont zu Recht, dass der Reformbericht (2 Reg 23,4–20.24a) sich nicht auf den vorausgehenden Buchauffindungsbericht bezieht (die Reformmaßnahmen werden nicht mit dem Inhalt des Buches begründet und umgekehrt enthält 2 Reg 22 keinen Hinweis auf kultisches Fehlverhalten). Er schließt daraus, dass das sachliche und chronologische Verhältnis der Reform nicht nur zum (Ur-)Deuteronomium, sondern zu dem »gefundenen« Buch überhaupt zur Disposition steht.37 Dies bedeutet: Wenn Joschija (kleinere) kultische und kulturelle Neuerungen einführte (was mit Uehlinger wahrscheinlich ist), dann tat er dies nicht auf der Grundlage des Tora-Buches. Die sich auf 2 Reg 22 f. stützende These eines in joschijanischer Zeit entstandenen »Ur-Deuteronomiums« ist also nicht überzeugend.38 In diesem Zusammenhang sei noch eine Anmerkung zu 2 Reg 22 auf literarischer Ebene gemacht: Der Einfluss von dtn Formulierungen und dtn Gedankengut in diesem Kapitel ist mehr als auffällig. Mit anderen Worten: Die Verfasser und Redaktoren von 2 Reg 22 meinten mit dem im Tempel gefundenen Tora-Buch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das (ihnen vorliegende) Deuteronomium und wollten auch, dass ihre Adressatenschaft dies so verstand.39 Die Verfasser und Redaktoren wollten mit dem Motiv der Buchauffindung erklären, warum die (in der deuteronomischen Welt von Mose geschriebene!) Tora in der »Ereignisgeschichte« Israels erst so spät eine Rolle zu spielen begann.40 Historisch lässt sich von hier aus für die Entstehungsgeschichte des Deuteronomiums jedoch nichts gewinnen.

35 NIEHR 1995, S. 50 f. 36 Im Jeremiabuch wird Joschija nur einmal als vorbildhafter König erwähnt, der für Recht und Gerechtigkeit sorgte (Jer 22,15 f.). Zudem wird im Jeremiabuch die Existenz von Lokalkulten bezeugt, vgl. hierzu schon HÖLSCHER 1922, S. 238. 37 UEHLINGER 1995, S. 70 f.; so auch OTTO 1997a, S. 324. 38 Dass sich die Historizität einer umfassenden joschijanischen Kultreform nicht von 2 Reg 22 f. her ableiten lässt, wird mehrfach in der Literatur vermerkt, vgl. z. B. KAISER 1984, S. 130–135; AURELIUS 2003, S. 39–56; DAVIES 2005; CARR 2007, S. 47. 39 Siehe hierzu insbesondere GLATT-GILAD 2009. 40 Das »Auffinden eines alten Buches« ist ein in antiker Literatur gelegentlich verwendetes Motiv zur Legitimierung eines neuen Textes, den man als alt und damit autoritativ einführt, vgl. hierzu z. B. QUACK 1999; RÖMER 2005, S. 51 f. Denselben Zweck wie 2 Reg 22 f. erfüllt auch Esra 7, vgl. HAGEDORN 2007, S. 73, Anm. 76.

2. Zur Entstehungsgeschichte

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2.1.4 Entstehung einer vorexilischen »deuteronomistischen Landeroberungserzählung« (DtrL) im Zusammenhang mit Expansionsbestrebungen Joschijas? Nach N. Lohfink gibt es ein Darstellungsgefüge, das von Dtn 1 bis Jos 22 reicht. Lohfink nennt diese Erzählung DtrL (»deuteronomistische Landeroberungserzählung«).41 Der Erzählzusammenhang ist nach Lohfink einheitlich und deutlich deuteronomistisch geprägt: »Er erzählt zunächst, wie nach dem Aufbruch vom Horeb die Eroberung des den Vätern zugeschworenen Landes von Kadesch-Barnea aus wegen des Unglaubens Israels nicht gelang, dann, wie nach dem Tod der sündigen Generation unter Mose das Ostjordanland, nach dessen Tod unter Josua das Westjordanland erobert wurde. Die Leitvorstellung ist dabei die der militärischen Eroberung des gesamten Landes, der Vernichtung (‫ )חרם‬der gesamten Bevölkerung und der nachfolgenden Inbesitznahme (‫ )ירשׁ‬des Landes und seiner Verteilung.«42

Von hieraus schließt Lohfink auf die Datierung: »Sieht man die Aufmerksamkeit, die hier auf die begriffliche Durchdringung der Inbesitznahme von Israels Land gewendet wird, dann kommen innerhalb der grob vorgegebenen Periode eigentlich nur zwei geschichtliche Situationen als Hintergrund in Frage: die joschijanische Reichsausdehnung nach Norden [vgl. 2 Reg 23,15–20] und die Heimkehr aus dem Exil. Da letztere friedlich verlief, wird das in der Wahl des Wortes ‫»[ ירשׁ‬in Besitz nehmen«] steckende militärische Element in ihrem Zusammenhang nicht verständlich, vor allem, da es in DtrL auch stark herausgearbeitet ist. So wird man als Anliegen von DtrL am ehesten die Legitimation der joschijanischen Ausdehnungsbestrebungen sehen […].«43

Für Lohfinks These spricht der erzählerische Zusammenhang Dtn 1-Jos 22(23).44 Für die Existenz einer vorexilischen Propagandaschrift »DtrL« spricht auch, dass dadurch die Themen der gewaltsamen Eroberung und Verteilung des Landes in Texten der Bücher Dtn und Jos gut erklärt werden kann (ein »Sitz im Leben« in der Exilszeit ist hier schwerer vorstellbar). Allerdings gibt es keinen Beleg dafür, dass Joschija sein Territorium nach 623 v. Chr., als sich die Assyrer aus dem Bereich Syrien-Palästina zurückzogen, nennenswert ausgedehnt hat. Möglicherweise ging die Oberhoheit über die Provinzen von Assur nahtlos auf Ägypten über.45 Jedenfalls berichtet 2 Reg 23,29, dass Pharao Necho II 609/8 v. Chr. zu dem König von Assyrien zog. Als Joschija ihm entgegenging, tötete ihn Necho II. Das Motiv der Tötung bleibt im Dunkeln. Nach 2 Reg 41 LOHFINK 1981, S. 132; vgl. auch DERS. 2004, S. 254, Anm. 10, und siehe insbesondere noch BRAULIK 2011. Zustimmend RÖMER 2006a, ihm erscheint ein Abschluss in Jos 23* »jedoch weitaus logischer«, a. a. O., S. 534, Anm. 51. 42 LOHFINK 1981, S. 133. 43 LOHFINK 1981, S. 135. 44 Für LOHFINK 1996b, S. 155, waren Deuteronomium und Josua in ihrer Vorgeschichte einmal ein einziges Buch. 45 Zu Beziehungen zwischen Juda und Ägypten im ausgehenden 7. Jh. v. Chr. vgl. NA’AMAN 1991, S. 368 f.; UEHLINGER 2001, S. 61–71; RENZ 2001, S. 133–136.

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II. Fakten und offene Fragen

23,33–35 setzte der Pharao Joschijas Sohn Eljakim, den er in Jojakim umbenannte, auf den judäischen Thron. Nach H. Niehr ergibt sich also »eher das Bild eines ägyptischen Vasallen Joschija, der keineswegs ein Großreich etablieren und eine eigenständige Politik verfolgen konnte«.46 Doch selbst wenn Joschija versucht hat, sein Land territorial gen Norden auszudehnen, selbst wenn zur Unterstützung dieses Versuchs eine propagandistische Erzählung zur Landeroberung unter Mose und Josua konzipiert wurde, so bleibt – und das ist m. E. ein entscheidender Punkt – der »Anteil Deuteronomium« an dieser Erzählung DtrL fraglich (gegen Lohfink ist aufgrund des so gut wie nicht vorhandenen Echos dtn Gesetze in Jos 1–23* nicht wahrscheinlich zu machen, dass DtrL Teile des dtn Gesetzes enthalten hat).

2.1.5 Das »Ur-Deuteronomium« als Reaktion auf Exilierung und Verlust von Judas politischer Eigenständigkeit 597/586 v. Chr.? Gegen die Mehrheit der Kollegen plädierte R. Kratz im Jahre 2000 für eine Entstehung des »Ur-Deuteronomiums« nach 586 v. Chr.:47 »Man hat […] politische Gründe und religionsgeschichtliche Analogien ins Feld geführt, die unabhängig von II Reg 22–23 die Datierung des Urdeuteronomiums unter Joschija retten sollen. Doch beides besagt wenig. Die Verkleinerung Judas auf den Rumpfstaat Jerusalem seit 701 v. Chr. zog zweifellos eine Konzentration der politischen Kräfte und also auch des Kults auf die Hauptstadt nach sich, doch sehe ich keinen Anlaß und auch keine Notwendigkeit für die judäischen Könige und speziell für Joschija, sich die von den Assyrern aufgezwungene Beschränkung als machtpolitisches Ziel zu eigen zu machen und in einem Gottesgesetz wie dem Deuteronomium zum theologischen Programm zu erheben. Als Zeichen eines wiedergewonnenen judäischen Selbstbewußtseins im Zeichen der sinkenden Vormachtstellung Assyriens gegen Ende des 7. Jhs. würde man eher das Gegenteil, die Ausdehnung und kräftige Beförderung der lokalen Kulte im ganzen Land, erwarten, wie es die Annalennotiz über den Feldzug gegen Necho und der ausgeführte Reformbericht in frommer Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse ja auch noch erkennen lassen. Und was die Berührung mit der Topik der assyrischen Staatsverträge, insbesondere mit dem vielzitierten Vasallenvertrag Asarhaddons mit medischen Fürsten, anbelangt, so begegnen sie, wie auch immer man rekonstruiert, sowohl im Grundtext als auch in anerkanntermaßen späten Ergänzungen, so daß mit der Assyrerzeit ein terminus a quo des Deuteronomiums gewonnen ist, mehr aber auch nicht. […] So bleibt nichts anderes übrig, als das Deuteronomium nach dem Kriterium zu datieren, das der Grundtext selbst an die Hand gibt, dem theologischen Programm der Kultzentralisation. Es ist so absonderlich und singulär in der altorientalischen Welt, daß es besondere Gründe haben muß.48 Ich sehe zwei Möglichkeiten: Entweder reagiert die Zentralisationsidee ebenso wie das nicht weniger ungewöhnliche, gegen die lokale Differenzierung Jhwhs gerichtete »Höre Israel« in 6,4 f. auf den Untergang Samarias [722 v. Chr.] und will die politisch und religiös heimatlos gewordenen Nordisraeliten an Juda und Jerusalem binden. 46 NIEHR 1995, S. 44. 47 KRATZ 2000, S. 135 ff. 48 Nach Otto allerdings wäre die Verehrung des Gottes Assur in der Stadt Assur eine Parallele, siehe dazu oben 2.1.2.

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Oder das Programm reagiert auf den Untergang des Reiches Juda [586 v. Chr.], den damit verbundenen Verlust der politischen und ideologischen Mitte des vorexilischen Juda und die Verschleppung und verfolgt die Absicht, der dadurch drohenden Dezentralisierung, wie sie vorher im Norden stattfand […], zu wehren und mit dem von Jhwh erwählten einen Kultort Ersatz zu schaffen. Ersetzt wird die natürliche durch eine künstliche Mitte, an die Stelle des Staatskults tritt der kultische Anspruch der Gottheit selbst, der eine Zentralisation verlangt, dabei aber die sozialen und rechtlichen Bedürfnisse der Ortschaften nicht ignoriert. Weil ich mir kaum erklären kann, warum die Judäer in vorexilischer Zeit um der nordisraelitischen Flüchtlinge willen freiwillig auf ihre angestammten Lokalheiligtümer hätten verzichten und umgekehrt die heimatlos gewordenen Israeliten sich nur auf die eine Kultstätte hätten beschränken sollen, halte ich die zweite Möglichkeit, also eine frühexilische Datierung des Urdeuteronomiums als Antwort auf den drohenden Zerfall, für die plausiblere.«49

Die m. E. richtigen Überlegungen von Kratz weisen einen Weg zum Verständnis der Entstehung des Programms der Kultzentralisation in exilischer Zeit.50 Im Folgenden soll die Position der Entstehung einer exilischen Komposition Deuteronomium – und zwar möglicherweise schon als Reaktion auf die Ereignisse 598/7 v. Chr. – noch gestärkt werden (siehe auch unten 2.3): Aus der Exilszeit stammen mehrere deuteronomische Texte, die sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit datieren lassen: Hier sind insbesondere die Texte zu nennen, die sich auf das Exil beziehen bzw. sich explizit mit Fragen der Exilierung Israels beschäftigen (z. B. Dtn 4,25–31; Dtn 28,63–67; Dtn 29,21–27). Dies muss natürlich keineswegs bedeuten, dass das ganze Buch in exilischer Zeit komponiert wurde. Zu bedenken ist aber, dass das Deuteronomium eine (oft unterschätzte) planvolle Gesamtstruktur aufweist. Eine so planvolle Gesamtstruktur wird in der Regel relativ konzentriert entworfen. Diese Annahme schließt weder aus, dass älteres Gedankengut aufgenommen und verarbeitet wurde (z. B. wahrscheinlich Elemente einer älteren Erzählung »DtrL«; sicherlich Elemente aus den VTE, sicherlich Elemente aus älteren Gesetzessammlungen), noch schließt sie eine weitere Bearbeitung des Textes aus. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Texte in einem gewissen Maß aktualisiert wurden (und z. B. ein Block wie Dtn 30,1–10 oder das »Lied« hinzugefügt wurden); es ist auch mehr als wahrscheinlich, dass das Deuteronomium, als es schließlich in nachexilischer Zeit zum »fünften Buch Mose« wurde (s. u. 2.2), sozusagen »angepasst« wurde (z. B. Dtn 34,10–12: Abschluss des gesamten Pentateuchs). Es sei noch eine Anmerkung zum möglichen Entstehungsort der exilischen Komposition Deuteronomium gemacht: Untersuchungen zeigen, dass es im Land Juda nach der Eisenzeit II (1000–586 v. Chr.) einen erheblichen Schwund an Einwohnern gab, wenn auch nicht in allen Gegenden in gleichem Maß.51 Auf jeden Fall verlor Jerusalem dramatisch an Größe und Wirtschaftskraft (es hatte bis in das 49 KRATZ 2000, S. 136–138. Hinzu kommt: Dtn 12 spielt in den dtr Reflexionspassagen der Bücher Josua und Richter keine Rolle, vgl. SCHMID 2004, S. 204 f. 50 Vgl. insbesondere auch noch AURELIUS 2003, S. 39–42. 51 Siehe hierzu ZWICKEL 2008b.

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II. Fakten und offene Fragen

Abb. 1: Das babylonische Reich, in: Wolfgang Zwickel, Calwer Bibelatlas, Stuttgart 22007, Karte 9 (Ausschnitt)

2. Zur Entstehungsgeschichte

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5. Jh. hinein vermutlich höchstens 200 EinwohnerInnen52). Dies deckt sich mit den Aussagen biblischer Texte, nach denen Jerusalem zerstört und ein Großteil der Bevölkerung Judas (darunter die geistige »Elite«) nach Babylonien deportiert wurde (598/7 v. Chr., 587/6 v. Chr. und vielleicht auch um 581 v. Chr., vgl. MT Jer 52,28– 30). Ist Jerusalem als Zentrum der Gelehrsamkeit in der Exilszeit also schwer vorstellbar (wenngleich es im kollektiven Bewusstsein seine religiöse Bedeutung nicht verloren hatte und wenngleich spätestens gegen Ende des 6. Jh. v. Chr. dort auch wieder geschrieben wurde, z. B. die Prophetenbücher Haggai und Sacharia), so wird wahrscheinlich, dass das »Ur-Deuteronomium« von einer (598/7 v. Chr. deportierten?) Elite Schriftgelehrter in Mesopotamien komponiert und ausgearbeitet wurde (ebenso wie dort vermutlich an anderen Werken geschrieben wurde wie z. B. dem Ezechielkomplex, der Priesterlichen Geschichtserzählung, oder dem Jesajabuch, das in Deuterojesaja hinein verlängert wurde53).

2.2

Von der exilischen Komposition zum »fünften Buch Mose«

Wann und warum wurde die in der Exilszeit erstellte Komposition Deuteronomium zum fünften Buch Mose? Diese Frage hängt auf das Engste mit anderen Fragen zusammen, vor allem: Wann, wie und warum entwickelte sich der Pentateuch und wann, wie und warum wurde der Pentateuch zum normativen jüdischen Dokument, also zur »Tora«? In diesem Rahmen kann nur auf einige wenige ausgewählte Aspekte des Fragenkomplexes eingegangen werden.54 2.2.1 Die ältesten Pentateuchfragmente und der Terminus ante quem für die Formierung des Pentateuchs Der Terminus ante quem für die Formierung des (Proto-)Pentateuchs (also des Pentateuchs »nach Inhalt und Form«, in der Überlieferung gibt es in der hellenistischen Zeit im Detail erhebliche Unterschiede55) steht durch den Handschriftenbefund einigermaßen fest: Die älteste bislang gefundene hebräische Pentateuchhandschrift (also eine Rolle, die mehr als ein Pentateuchbuch enthalten hat56) stammt aus der Mitte des 3. Jh. v. Chr., und zwar 4Q17 oder 4QExod-Levf. Da sich im Text einige charakteristische sog. »harmonisierende« (oder »prä-samaritanische«) 52 ZWICKEL 2008b, S. 216. 53 LOHFINK 1995a, S. 122; vgl. auch ZWICKEL 2008b, S. 221. 54 Siehe insbesondere folgende Literatur zum Thema: HOUTMAN 1994; GERTZ u. a. 2002; OTTO / ACHENBACH 2004; DOZEMAN / SCHMID 2006; KNOPPERS / LEVINSON 2007; RÖMER / SCHMID 2007. 55 Vgl. nur die starken Unterschiede zwischen LXX und MT in Ex 35–40. Zu einer Übersicht über die Pentateuch-Handschriften vom Toten Meer siehe LANGE 2009a, S. 35–183. 56 In Qumran wurden Bücher des Pentateuchs einzeln kopiert; einige Hss haben mehr als ein Buch des Pentateuchs enthalten; 4QPRc (4Q365) hat wohl den ganzen Pentateuch enthalten, vgl. hierzu z. B. LANGE 2009a, S. 35 f.

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II. Fakten und offene Fragen

Varianten nachweisen lassen, die aller Wahrscheinlichkeit nicht von dem Schreiber von 4Q17 selbst stammen, muss eine »proto-masoretische« Vorlage seiner Vorlage vorausgesetzt werden.57 Dies weist auf eine Formierung des Pentateuchs spätestens Mitte des 4. Jh. hin, also noch in der ausgehenden persischen Zeit.58 2.2.2 Das Deuteronomium und die literarischen Einheiten Pentateuch, Hexateuch, DtrG Mehrheitlich wird in der Forschung angenommen, dass das »Ur-Deuteronomium« als eigenständige Komposition verfasst wurde. Angesichts sprachlicher und inhaltlicher Bezüge zwischen dem Deuteronomium und den folgenden Büchern und angesichts der Tatsache, dass das Deuteronomium letztendlich zu einem Buch des Pentateuchs wurde, ist aber zu schließen, dass es offenbar nicht lange (oder von vorneherein nicht?) ohne »literarisches Umfeld« blieb. Diesbezüglich werden im Wesentlichen zwei Hypothesen diskutiert: Nach der einen wurde das Deuteronomium zunächst zu einem Buch in der literarischen Großeinheit Hexateuch (Gen 1 bis Josua 24) »umgestaltet« und schließlich zum letzten Buch des Pentateuchs.59 Nach der anderen (einer alten These von Martin Noth folgend) sollte das Deuteronomium als Eröffnungstext für das sog. DtrG (»Deuteronomistische Geschichtswerk«, Dtn – 2 Reg*) dienen.60 Beide Hypothesen schließen sich nicht unbedingt aus:61 Besondere sprachliche und inhaltliche Bezüge (auf redaktioneller Ebene) zwischen Deuteronomium und den vorderen Propheten sind kaum zu bestreiten (z. B. ist, wie oben dargelegt, mit dem in 2 Reg 22 erwähnten »gefundenen« Tora-Buch wohl das Deuteronomium gemeint). Die Intention der Herstellung dieser Bezüge ist evident: Die (»deuteronomistischen«) Verfasser und Redaktoren wollten das deuteronomische Gesetz als »die« Verfassung Israels nach der Landnahme verstanden wissen. Als in der persischen Zeit schließlich das Modell Pentateuch geschaffen wurde und der Pentateuch (bereits in persischer Zeit?) das Gütesiegel »Tora des Mose« erhielt, wurde dem Deuteronomium eine andere Position und Funktion im Rahmen dieser neuen Einheit zugewiesen. 57 Die sog. prä-samaritanische Version der Tora mit ihren harmonisierenden Tendenzen (um z. B. Widersprüche und Lücken im Text auszugleichen) muss als sekundäre Bearbeitung der proto-masoretischen Version gelten, vgl. PUMMER 2007, S. 243 f. Siehe zu Sam unten 3.1. 58 Siehe hierzu im Einzelnen LANGE 2011. 59 Vgl. z. B. OTTO 2007a, S. 171, Anm. »Author’s note«. 60 Aufgegriffen und modifiziert wurden die Thesen Noths u. a. von LOHFINK 1981 (s. o. 2.1.4), und von RÖMER 2006b. Nach Römer hängt das »Ende bzw. das Verschwinden eines selbstständigen DtrG […] mit der Veröffentlichung der Thora zusammen, welcher gegen Ende des 5. oder Anfang des 4. Jh. eine Debatte um deren Umfang (Hexa- oder Pentateuch) vorausgegangen war. […] Die beiden Hauptparteien einigten sich darauf, die Gründungsschrift des im Entstehen begriffenen Judentums als Thora des Mose zu definieren, und so musste das Deuteronomium (auch gegen die Vertreter eines Hexateuchs) von den folgenden Büchern abgetrennt werden, wie es in Dtn 34,4.7.10–12 geschah«, a. a. O., S. 69. Siehe auch unten im Teil III. A. MOSES (ERSTE) WORTE, 2.1. 61 Siehe auch die in der vorherigen Anmerkung zitierte Position von T. Römer.

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2.2.3 Impulse für die Formierung des Pentateuchs in persischer Zeit Im Zentrum der Diskussionen bezüglich der Formierung des Pentateuchs steht die Frage, ob diese Formierung eher durch externe oder eher durch interne Faktoren erklärt werden muss. In einem grundlegenden Beitrag zur Frage nach der Entstehung des Pentateuchs ging E. Blum von einer elementaren exegetischen Beobachtung aus:62 Die Textgestalt des Pentateuchs »weist eine diskontinuierliche Fügung antagonistischer Überlieferungen auf, wie sie in der gesamten biblischen Tradition (und darüber hinaus) ohne Parallele ist. Diese Komposition kann m. E. aus den endogenen Prozessen der jüdischen Traditionsbildung heraus allein nicht erklärt werden.«63 Blum stellte zu Recht die Frage nach den Gründen für eine solche Textgestaltung: »Hätte es nicht in jeder Hinsicht näher liegen müssen, die jeweiligen Anliegen und Konzeptionen mehr oder weniger konsistent in selbstständigen Werken auszuformulieren? Oder alternativ: Wäre im Falle einer Zusammenarbeitung nicht eine tendenziell vereinheitlichende Gestaltung zu erwarten anstelle pointiert diskontinuierlicher Fügungen?«64

Blum verwies als Antwort auf die (schon vor ihm u. a. von Peter Frei vertretene65) sog. »persische Reichsautorisation« (also auf einen externen Faktor): »Sollte so etwas wie eine offizielle Autorisierung einer jüdischen Rechtsüberlieferung durch eine persische Instanz erfolgen, dann konnte dies nur auf der Basis einer von jüdischer Seite erstellten Vorlage geschehen. Diese Vorlage mußte wiederum zwei trivialen Voraussetzungen genügen: (a) sie konnte nur ein schriftliches Werk umfassen, (b) sie mußte für wichtige innerjüdische Gruppierungen konsensfähig sein.«66

Eben dies traf nach Blum auf den (Ur-)Pentateuch zu. Als Beleg für die »Reichsautorisation« verwies Blum auf Esra 7: »Mithin gibt es gute Gründe, jedenfalls die Aussagen, die eine königliche Autorisierung des Esragesetzes formulieren [in Esra 7,25 f.],67 der alten Textgrundlage zuzurechnen. Im übrigen impliziert auch schon der Untersuchungsauftrag von Esr 7,14 die Anerkennung des ›Gesetzes‹ in ›seiner Hand‹ als verbindliche Rechtsnorm in Juda durch die Zentralgewalt, damit einen Vorgang, den ich als ›Reichsautorisation‹ bezeichnen würde.«68

Nach neueren Studien muss die These der persischen Reichsautorisation zumindest modifiziert werden:69 Reichsautorisation ist keinesfalls in dem Sinn zu verstehen, 62 63 64 65 66 67

BLUM 2002, S. 231–256. BLUM 2002, S. 235. BLUM 2002, S. 246. Vgl. FREI 1984. Frei hat die Theorie nicht erfunden, aber erstmals ausführlich begründet. BLUM 2002, S. 247. Zu einer Gegenthese siehe GRÄTZ 2004. Grätz machte den Versuch, Esra 7,25 f. rechtshistorisch, zeitgeschichtlich und theologisch vor dem Hintergrund der Ptolemäerherrschaft zu interpretieren. 68 BLUM 2002, S. 250. 69 Vgl. hierzu die einschlägigen Artikel in WATTS 2001; SCHMID 2007a, verteidigte die These in gemäßigter Form.

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II. Fakten und offene Fragen

dass die persischen Autoritäten bestrebt waren, Gesetze der lokalen Eliten zu kodifizieren und als persisches Recht zentral zu integrieren.70 Die Perser konnten aber, wie Einzelfälle belegen, auf Initiative der lokalen Eliten hin die Rechtsgültigkeit der lokalen Gesetze bestätigen.71 Die entscheidende Frage ist: Lässt sich hieraus etwas für die Formierung des Pentateuchs ableiten? D. Carr bejahte dies und stellte im Hinblick auf die Aussagen in Esra 7 die These auf, dass eine aus der Diaspora zurückkehrende jüdische Elite in nachexilischer Zeit ein erstelltes normatives »Kompromissdokument« Tora (Ur-Pentateuch) von den Persern als gültiges Recht anerkennen lassen wollte, um ihren Einfluss im Land zu sichern.72 J.-L. Ska hingegen verneinte dies: Er bestritt, dass der Pentateuch das autoritative Dokument im Zusammenhang einer Reichsautorisation hätte sein können, unter anderem mit dem Argument, dass ein derartiges Dokument, geschrieben nicht in Aramäisch, sondern in dem von den Persern nicht verstandenen Hebräisch, keinerlei Nutzen für die Perser hätte haben können.73 Ska sah die Entstehung des Pentateuchs vielmehr mit zwei Entwicklungen verbunden: Mit der Errichtung einer Bibliothek in Jerusalem in nachexilischer Zeit und mit dem Aufkommen einer Schriftkultur, die sich auf alte, »paradigmatische Traditionen«, insbesondere die »Tora«, konzentrierte.74 Das Abnehmen von »aktueller Geschichtsschreibung« in der zweiten Tempelzeit und die Konzentration auf die vergangene Zeit bzw. auf paradigmatische Texte erklärt sich nach Ska durch die traumatischen Erlebnisse des Exils.75 Kritisch ist hier m. E. einzuwenden, dass dies nicht das »Phänomen« Pentateuch erklärt, vielmehr wäre dann die Sammlung und Bearbeitung selbstständiger, in sich stimmiger Werke wie der Priesterschrift oder dem Deuteronomium näherliegend gewesen. Auch nach E. Otto kam der Impuls zur Formierung des Pentateuchs aus der Mitte Israels selbst. Der Pentateuch wurde nach Otto aus schriftgelehrtem priesterlichem Interesse konzipiert: »During the so-called exilic period of the 6th century B. C. E., the two rivaling conceptions of Israel’s origins were written down by two different Priestly factions: the Priestly code (Genesis 1-Exodus 29 [Leviticus 9; Ps]) of the Aaronides, on the one side, and Deuteronomistic Deuteronomy, on the other. The Priestly work ended with the Sinai pericope, whereas Deuteronomy started with the Horeb motif. Each of the two literary conceptions represented a critical reaction to the other’s work. After the Exile, when the different Priestly factions responsible for P and D (Dtr) were reunited under the label of Aaron, it became necessary to conflate these two competing conceptions of Israel’s origins and identity. This was not only an institutional matter but also a theological necessity. With the success of the idea of monotheism in the exilic and postexilic period, there was also a theological need to unify the two conceptions 70 71 72 73 74 75

So zu Recht RÜTERSWÖRDEN 1995, S. 59. Vgl. CARR 2007, S. 54. CARR 2007, S. 55 f. SKA 2007, S. 147. SKA 2007, S. 146. SKA 2007, S. 149.

2. Zur Entstehungsgeschichte

31

of P and D because, if there was only one God, there could only be one history of God with Israel.«76

Die vielen Beobachtungen Ottos zum unbestreitbar »schriftgelehrten Anteil« bei der Formierung des Pentateuchs sind wertvoll. Es bleibt aber auch bei diesem Ansatz die Frage, warum die nach Otto nachexilischen aaronidischen priesterlichen Redaktoren ihr Material nicht »einheitlicher« gestaltet haben. 2.2.4 Zwischen Elephantine und Qumran: Die Anerkennung des Pentateuchs als Tora in hellenistischer Zeit Die Formierung des Pentateuchs erfolgte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der persischen Zeit (welche Faktoren hierfür auch immer verantwortlich gewesen sein mögen). Doch den Status als »Tora«, also als das von allen jüdischen Gruppierungen anerkannte fundierende religiöse Dokument schlechthin, gewann der Pentateuch wohl erst in der hellenistischen Zeit. Dies sei im Folgenden kurz dargelegt. Zuerst ist auf die Elephantiner und auf einige der auf der Nilinsel Elephantine gefundenen Papyri einzugehen. Die Anfänge der Elephantiner liegen im Dunkeln,77 ihre Spuren verlieren sich im frühen 4. Jh. v. Chr. Zu betonen ist, dass sie sich – trotz polytheistischer Praxis, s. u. – ausdrücklich als »Juden« (‫ )יהודים‬verstanden. Selbst wenn man ihnen einen »Außenseiterbonus« einräumt: »Es gibt keinen Grund anzunehmen, die Elephantiner wären religionspolitisch nicht auf dem neusten Stand gehalten worden. Der Pesach-Brief und die Korrespondenz mit Jerusalem sprechen gegen eine solche Annahme.«78 Den erwähnten sog. Pesach-Brief schrieb der Perserkönig Dareios II im Jahre 419 v. Chr. an die Gemeinde.79 Der Anfang des schlecht erhaltenen Dokuments lautet: 1 [An meine Brüder, Y]edanyah und seine Genossen, die jüdi[sche Gar]nison, euer Bruder Hanan[yah]. Für das Wohlbefinden meiner Brüder [möge] der Gott [sorgen] 2 [zu jeder Zeit]. Und nun: In diesem Jahr, dem 5. Jahr des Königs Dareios, wurde von dem König eine Botschaft an ’Arscha[ma]80 geschickt […] 3 […] und nun zählt ihr so vi[erzehn] 4 [Tage des Nisan und am 14., bei der Dämmerung fei]ert ihr [das Pesachfest] und vom 15. Tag bis zum 21. Tag des […].

Das Pesach-Fest zählt spätestens seit der exilischen Zeit zu den drei jüdischen Hauptfesten. Es handelt sich bei dem Gegenstand des Briefes also nicht um eine 76 OTTO 2007a, S. 172 f. 77 Vgl. die gute Übersicht über die derzeit diskutierten Thesen zum Ursprung der Elephantiner bei BECKING 2003, S. 207 f. 78 KNAUF 2002, S. 186; vgl. auch KRATZ 2007, S. 87. 79 Vgl. TUAT I/3, S. 253. 80 Arschama war der Satrap von Ägypten.

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II. Fakten und offene Fragen

marginale Angelegenheit. Auffällig ist, dass in der Anweisung des Königs kein Hinweis auf eine schriftgelehrte (Jerusalemer) Autorität oder auf einen autoritativen Text wie eine »Tora des Mose« enthalten ist (die angegebene Datierung erscheint immerhin ausdrücklich in Ex 12,6 und in Lev 23,5). Die Tatsache, dass der persische König in Bezug auf Pesach (wie vermittelt auch immer) eine Anweisung erteilte, ist aufschlussreich: Die Elephantiner konnten offenbar nicht auf eine einheitliche innerjüdische Regelung zurückgreifen. Als kurze Zeit später der Tempel von Elephantine zerstört wurde, wandte sich die Gemeinde mit Fragen zwecks Wiederaufbaus an die Jerusalemer Behörden, u. a. an den Jerusalemer Hohenpriester. Es erfolgte keine Antwort. Daraufhin schrieben sie um 407 v. Chr. an die Statthalter von Juda und Samaria. Beide befürworteten in ihrer Antwort den Wiederaufbau des Tempels. Ihre Position begründeten sie nicht mit einer »Tora des Mose«. Die Befürwortung zeigt, dass sie die deuteronomische Position der Kultzentralisation zumindest nicht für Elephantine durchsetzten versuchten (weil sie nur für das »verheißene Land« Geltung haben sollte?). Segenswünsche in Briefen belegen eindeutig, dass die Elephantiner neben dem Gott JHWH auch andere Götter verehrten.81 Wenn B. Becking Recht hat, und die beiden in einer Abrechnung für den wieder erbauten Jahu-Tempel im Jahre 400 v. Chr. (vermutlich einem Rechenschaftsbericht über die Finanzlage des Tempels gegenüber den Oberbehörden) erwähnten Namen Eshembethel und Anathbethel82 nicht als Gottheiten, sondern als Kultobjekte im Tempel, und zwar als Repräsentanten JHWHs, zu deuten sind, bedeutet dies, dass der Tempelkult der Elephantiner nicht anikonisch war.83 Demnach fühlten sich die Elephantiner also weder dem Monotheismus noch dem bilderlosen JHWH-Kult (Dtn 4!) verpflichtet und wurden von Jerusalem offenbar auch nicht darauf verpflichtet. Ein letzter Punkt: Unter den Elephantine-Papyri befanden sich der AhiquarRoman und die aramäische Fassung der Behistun-Inschrift Daraios I. Sie repräsentierten »tyische Schultexte, aus denen und mit denen man nicht nur Lesen und Schreiben lernte, sondern zugleich ein guter persischer Untertan, Soldat und Beamter zu sein«.84 Nicht gefunden hingegen wurde religiöse jüdische Literatur, weder in Form von Fragmenten noch in Form von Verweisen. Da das Archiv des Tempelvorstehers (!) gefunden wurde, jüdisch-religiöse Schriften auf der Verlustliste im Zusammenhang der Zerstörung des Tempels nicht genannt wurden und um Schriften aus Jerusalem oder um Unterweisung in Schriften nicht gebeten wurde, gilt wohl: »Man hatte in Elephantine nicht nur keine Bibel, man hatte auch keine Vorstellung von und kein Bedürfnis nach einer«.85

81 82 83 84 85

BECKING 2003, S. 218. Vgl. TUAT NF I, S. 268 f. BECKING 2003, S. 224. KNAUF 2002, 183. Vgl. auch KRATZ 2007, S. 86 f. KNAUF 2002, 186. Vgl. auch KRATZ 2007, S. 88.

2. Zur Entstehungsgeschichte

33

Abb. 2: Palästina bis zum Untergang Judas, Wolfgang Zwickel, Calwer Bibelatlas, Stuttgart 22007, Karte 7 (Ausschnitt)

Wenigstens kurz soll auch noch auf Samaria eingegangen werden.86 Die Provinz Samaria erlitt, anders als Juda, in der babylonischen Zeit weder Deportationen noch Zerstörungen, zur Lage vgl. die Karte. Die Provinz hatte in der persischen Zeit wesentlich mehr Einwohner als Juda, die Stadt Samaria könnte eines der wichtigsten Zentren im Palästina der persischen Zeit gewesen sein. Neuen Ausgrabungen zufolge wurde eine samaritanische Kultstätte (für die JHWH-Verehrung) auf dem Garizim in der 2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. errichtet und im 4. und 3. Jh. v. Chr. weiter ausgebaut.87 Das Verhältnis der Provinzen Samaria und Juda ist nicht einfach zu bestimmen. G. Knoppers betonte, 86 Zu den Ursprüngen der Samaritaner siehe PUMMER 2007, S. 247 ff. Siehe zum Thema Samaritaner insbesondere auch noch MOR 2010. 87 NA’AMAN 2004, Sp. 816, und MAGEN 2007.

34

II. Fakten und offene Fragen

»the material evidence for the cultural continuity between the two regions contrasts with the tensions and opposition found in Ezra-Nehemia. Culturally speaking, Samaria and Yehud shared much in common. Indeed, in speaking of two separate provinces of Samaria and Yehud, one has to recognize that such a distinction is inherently an administrative and political one and not so much a cultural one. Attempts at self definition may have been necessary for some of the elite in Jerusalem precisely because of the similarities between the Yahwists living in the two territories. If, as recent excavations suggest, some sort of sanctuary or temple existed on Mt. Garizim already during the Persian Period, this would only have added further impetus for Jerusalem Temple scribes to authenticate the distinctive positions of their city and shrine.«88

Jedenfalls akzeptierten die Samaritaner als ihre autoritative Schrift exklusiv den (»judäischen«?89) Pentateuch (und zwar eine »harmonistische« Fassung dieses Pentateuchs90). Geschah dies in persischer Zeit? In diesem Zusammenhang soll kurz noch auf eine weitere Gruppe von Papyri verwiesen werden, nämlich die zwischen 385 und 335 v. Chr. abgefassten sog. Samaria-Papyri.91 Hier ist vor allem in Bezug auf die Sklavengesetzgebung auffällig, dass der Inhalt mit den entsprechenden Sklavengesetzen in den großen Gesetzessammlungen des Pentateuchs schlechterdings unvereinbar ist. Dies kann im Wesentlichen drei Dinge bedeuten: Der Pentateuch war zu dieser Zeit noch in der Entstehungsphase; der Pentateuch hatte in Samaria (noch) nicht den Status eines normativen religiösen Dokuments; der Pentateuch war in Samaria als normatives religiöses Dokument akzeptiert, er wurde aber nicht im Sinne eines »Gesetzbuches« gebraucht. Wie auch immer: Die Situation änderte sich in der hellenistischen Zeit: Die einzelnen Bücher des Pentateuchs wurden (separat) vermutlich bereits im 3. Jh. v. Chr. in Alexandria aus dem Hebräischen in das Griechische übersetzt,92 und dies war ein deutliches Zeichen ihrer besonderen Wertschätzung. Für die im 2. Jh. v. Chr. entstandene Gemeinschaft von Qumran lässt sich die unbestrittene Autorität der fünf Bücher Mose eindeutig belegen. Als ein Spezifikum der Gemeinschaft ist allerdings noch zu vermerken, dass auch das Jubiläenbuch (u. a. wegen des Sonnenkalenders) den Status der »Tora des Mose« hatte (vgl. CD 16,1–6). Für das Deuteronomium soll abschließend nur noch festgehalten werden, dass es in den Schriften vom Toten Meer ausgesprochen intensiv rezipiert und dass es in Qumran neben dem Psalter das am häufigsten kopierte Buch war. Die Gründe dafür sind sicherlich inhaltlicher Natur, aber das kann in diesem Rahmen nicht weiter ausgeführt werden.93

88 KNOPPERS 2006, S. 279. 89 Nach einer These von KNAUF 1994, S. 173, müssen die Samaritaner am »Pentateuch-Kompromiss« beteiligt gewesen sein. 90 Siehe unten 3.1. 91 Die Texte sind zu finden in DJD XXVIII. Zu den Papyri siehe KESSLER 2003. 92 Die Gründe für die Übersetzung sind umstritten, vgl. TILLY 2005, S. 45–48; VAN DER KOOIJ 2007. 93 Vgl. FINSTERBUSCH 2011c.

2. Zur Entstehungsgeschichte

2.3

35

Ein Arbeitsmodell

Wie oben dargelegt wurde, liegen die Anfänge des Deuteronomiums im Dunkeln. M. E. spricht viel für die These, dass eine Komposition Deuteronomium relativ konzentriert in der Exilszeit in Babylon (598/7–539 v. Chr.) erstellt wurde (s. u.). Wahrscheinlich ist, dass sich mehrere gelehrte Schreiber einige Jahre lang intensiv mit der Komposition beschäftigt haben, das heißt, einen Entwurf ausgearbeitet und dann mehrfach überarbeitet haben. Ausdrücklich ist zu betonen, dass diese »dtn Verfasser und Redaktoren« u. a. ältere israelitische und nichtisraelitische Texte und Textbausteine verwendet haben (s. z. B. EXKURS I). Die folgende Tabelle gibt eine grobe Übersicht über die Komposition, wie sie sich mir darstellt, und über spätere Zusätze bzw. redaktionelle Überarbeitungen; von diesem Modell wird in der Einführung ausgegangen: Die exilische Komposition Deuteronomium

(spätere Exilszeit oder frühere nachexilische Zeit)

»Pentateuchredaktion«; nach dem 5./4. Jh. v. Chr. bearbeitete Verse

Überschrift 1,1–5 Erste Rede 1,6–4,40* Erzählnotiz 4,41–43

4,1b

Überschrift 4,44–5,1a Torarede Dtn 5,1b–26,16*

6,18 f.; 8,1b; 11,8b.22–25; 16,20b 11,30 7,9 f.; 24,16 12,20–28; 19,8–10

5,5

»Bundeserklärungen« 26,17–27,10* Segen und Fluch 27,11–13; 28,1–68

27,2 f.4 27,14–26

27,4

Überschrift 28,69–29,1a Bundesschluss 29,1b–27; 30,15–20 Schlussvers 31,1*

29,28 30,1–10.11–14 31,1

29,20

Letzte Worte und Handlungen 31,2–13 Schlussvers 32,45* Schluss (Notiz von Moses Tod im Land Moab)?

Liedtexte 31,14–32,44 32,45.46–47

32,8b.43 Erzählungen 32,48–52 34,1–12 Segen 33

36

II. Fakten und offene Fragen

Um Missverständnisse zu vermeiden sei ausdrücklich festgehalten, dass es hier nur um eine »flächige« Einordnung der Texte geht bzw. gehen kann (die dtn Texte wurden in der Zeit des Zweiten Tempels bis hin zur Standardisierung in einem gewissen Rahmen auf der Mikroebene beim Abschreiben bearbeitet und verändert, zu Beispielen siehe unten Punkt 3). Die Begründungen, warum die in den beiden rechten Spalten angegebenen Passagen als signifikant spätere Ergänzungen der exilischen Komposition Deuteronomium (cum grano salis Dtn 1,1–31,13* + 32,45*) bzw. warum einzelne Verse (in der Textfassung des MT) als signifikant später bearbeitet angesehen werden, finden sich in den »diachronen Textbetrachtungen«. Es handelt sich hierbei nur um Ergänzungen und Bearbeitungen, für die sich nach meinem Urteil die Zuordnung zu einer bestimmten Redaktion und/oder für die sich die Einordnung in eine bestimmte (spätere) Zeitepoche wahrscheinlich machen lässt (für die Mehrzahl der auf der Abschnitts- und Versebene erkennbaren Bearbeitungen gilt dies m. E. nicht94). Was spricht dafür, Dtn 1,1–31,13* + 32,45* als eine »Komposition Deuteronomium« zu verstehen und diese in die Exilszeit zu »verorten«? 1. Die Komposition Dtn 1,1–31,13* + 32,45* zeichnet sich durch Kohärenz aus (was zu Unrecht angesichts der zweifellos auch vorhandenen Bruchstellen im Text meist vergessen wird):95 Das alle Teile verbindende Thema ist die deuteronomische Tora bzw. ihr Herzstück, das deuteronomische Gesetz: »Dieser Tora« verleiht Mose in der Erzählung Dtn 1,1–31,13* + 32,45* Rechtskraft (so m. E. Dtn 1,5: ‫)באר … התורה הזאת‬,96

94 Beispiele hierfür sind aus meiner Sicht etwa folgende Ergänzungen oder Bearbeitungen von Versen in folgenden Abschnitten: Dtn 7,17–26 (s. hierzu im Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 3.2.4); Dtn 13,1–12 (s. hierzu im Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 4.2.2). – Es sei an dieser Stelle noch festgehalten, dass entsprechende Phänomene redaktioneller Bearbeitungen von Texten im Alten Orient hinreichend bekannt sind: Zu Neueditionen von Texten in Mesopotamien (z. B. dem GilgameschEpos) vgl. insbesondere TIGAY 1985a, und CARR 2005, S. 34 ff. Zur Einfügung von Blöcken in vorliegende Texte vgl. insbesondere das bekannte Beispiel von Ri 6,7–10 (Verszählung nach MT): Dieser Block wurde sekundär hinzugefügt; die Hs 4QJudga bezeugt noch einen alten Text ohne diese Verse, siehe hierzu ULRICH 2008. Zu Veränderungen von Buchstrukturen vgl. insbesondere die beiden verschiedenen Fassungen von 1QS, siehe hierzu HEMPEL 2009. 95 Vgl. auch MARKL 2011. Anders vor allem KRATZ 2000, S. 136: Kratz hielt dafür, dass das Urdeuteronomium (bestehend nur aus den Zentralisationsgesetzen in Dtn 12–21 und den Rahmen Dtn 6,4–5 und 26,16) »von vorneherein [!] oder recht bald in den älteren Erzählfaden eingesetzt [wurde], der von Num 25,1a über Dtn 34,5 f. nach Jos 2,1; 3,1 führt«. Anders auch OTTO 2009, insbesondere S. 214 f., der mit tiefgreifenden »postdeuteronomistischen« Fortschreibungen (die ihren Horizont primär in Hexateuch und Pentateuch haben) in nachexilischer Zeit rechnete. 96 Diese Interpretation ist neu: Im Anschluss an BRAULIK / LOHFINK 2003, deute ich ‫ באר‬in Dtn 1,5 als »Rechtkraft verleihen« (und nicht als »erklären«), aber im Unterschied zu Braulik und Lohfink weise ich Dtn 1,5 nicht der »Pentateuchredaktion« zu, sondern verstehe den Vers (bzw. Dtn 1,1–5) als Teil der exilischen Komposition Dtn; siehe unten die Betrachtung von Dtn 1,5.

2. Zur Entstehungsgeschichte

37

– indem er in der ersten Rede (Dtn 1,6–4,40*) zunächst einführend deutlich macht, warum er dies erst »heute« in Moab tut (die Ereignisse in Kadesch Barnea führten zu der ungeplanten Verzögerung von achtunddreißig Jahren Wüstenzeit und zu einer Verzögerung der Einnahme des Landes, dessen Gesetz in der Welt des Deuteronomiums exklusiv das dtn Gesetz sein soll), und indem er Israel als Lerngemeinschaft konstituiert (nur als solche soll Israel den dtn Gesetzen begegnen); – indem er in der zweiten Rede (Dtn 5,1b–26,16*) die Tora Israel zur Entscheidung vorlegt, wobei er den Dekalog wiederholt und nach langen Ermahnungen das dtn Gesetz, das m. E. die Dekaloggebote im Hinblick auf das Leben im Land ausdeutet, promulgiert; – indem er »Bundeserklärungen« Israels und JHWHs spricht und bestätigen lässt, und indem er in diesem Zusammenhang durch das Gebieten bestimmter Segen/Fluch-Zeremonien jenseits des Jordans sicherstellen will, dass Israel nach dem Durchzug die Akzeptanz des dtn Gesetzes als Landesgesetz bekräftigt (Dtn 26,17–28,68*); – indem er schließlich in Moab einen Bund auf der Grundlage des dtn Gesetzes schließt (Dtn 28,69–30,20* + 31,1*); – indem er abschließend die Tora auf eine Rolle schreibt, die Israel in Zukunft begleiten soll (Dtn 31,2–13 + Dtn 32,45*). Wahrscheinlich endete die Komposition mit einer (verloren gegangenen bzw. nicht mehr zu rekonstruierenden) Erzählnotiz über Moses Tod. Mit anderen Worten: Es gab m. E. ebenso wenig einmal ein »Deuteronomium« ohne Tora wie ein »Deuteronomium« ohne Mose.97 2. Die Komposition Dtn 1,1–31,13* + 32,45* ist durch das Thema Exil in besonderer Weise geprägt. Es kommt explizit in folgenden Texten vor: – In der ersten Rede, und zwar in Dtn 4,1–40: Hier zeigt Mose auf, dass Israel, falls es die von ihm gelehrten Gesetze im Land nicht hält, exiliert werden wird. – Im Teil »Bundeserklärungen, Segen und Fluch«, und zwar in Dtn 28: Falls Israel das dtn Gesetz im Land nicht hält, wird es – wie im Torabuch geschrieben steht – exiliert werden (z. B. Dtn 28,36 f. 64). – Im Teil »Bundesschluss in Moab«, und zwar in Dtn 29,21–27: Falls Israel den Bund (also das Bundesgesetz) nicht halten wird, wird JHWH es in ein anderes Land exilieren (Dtn 29,27 mit der deiktischen Zeitabgabe ‫» כיום הזה‬wie es heute ist«, die auf die exilische Situation der Verfasser und Redaktoren hinweist). Der Befund lässt sich so interpretieren, dass das Thema Exil die die Komposition »tragenden Texte« bestimmt: als Drohkulisse aufgebaut bei der Konstituierung 97 Letzteres z. B. mit LEVENSON 1975, S. 212; HOSSFELD 2000, S. 51–54, und REUTER 2011. Nach einer anderen Position war das »Ur-Deuteronomium« als Gottesrede formuliert worden, vgl. hierzu z. B. die Überlegungen von LOHFINK 1990a.

38

II. Fakten und offene Fragen

Israels als Lerngemeinschaft in Bezug auf die dtn Gesetze (Dtn 4,1–40), als Drohung festgeschrieben im Buch der dtn Tora (Dtn 28), als furchtbare Alternative aufgezeigt beim Bundesschluss in Moab (Dtn 29). Für die Verfasser und Redaktoren der Komposition ist das babylonische Exil als verwirklichte Drohung JHWHs der Deutehorizont für ihr Hauptthema, nämlich die Stärkung von Identität durch die (geistige) Konzentration auf einen Text mit einem neuen Gesetz, das wohl nicht zuletzt auch als »das« Gesetz für den Neuanfang oder die Neuorientierung Israels nach der Katastrophe im Land Juda gedacht war.98 In der späteren Exilszeit und der frühen nachexilischen Zeit war nicht mehr so sehr das Thema Exilierung / Exil dominant, sondern im Vordergrund standen Themen wie Rückkehr aus dem Exil und Neuanfang im Land (Dtn 30,1–10) sowie Fragen nach dem Tun des dtn Gesetzes nicht erst im Land, sondern bereits in der Diaspora (z. B. Dtn 4,1b; 6,18 f.). 3. Schließlich ist noch anzuführen, dass bei vielen Gesetzen, die wesentlich zum deuteronomischen Profil des dtn Gesetzes beitragen, die Annahme ihrer Entstehung in exilischer Zeit sehr viel wahrscheinlicher ist als in vorexilischer Zeit: – das Königsgesetz mit seiner faktisch politischen Entmachtung des Königs; – das Kriegsgesetz, die Richtergesetze sowie die Sozialgesetze, und zwar aufgrund ihrer explizit »demokratischen« (anti-hierarchischen) Strukturen; – (mit der Minderheit der Exegeten) die Zentralisationsgesetze (wie z. B. Dtn 12 oder der Festkalender), da hinter ihnen m. E. vor allem die Idee der Stärkung von kollektiver Identität stand, was vor allem im Exil Sinn macht (siehe hierzu auch oben 2.1.5).

3.

Zur Textüberlieferung

Über die Textüberlieferung des Deuteronomiums könnte leicht eine eigene Monographie geschrieben werden.99 Hier können nur einige zentrale Punkte herausgearbeitet werden. Zunächst soll ein Überblick über die wichtigsten Textzeugen geboten werden (3.1), dann soll anhand von zwei Beispielen ein Eindruck von der Stabilität bzw. Varianz der dtn Überlieferung in der Zeit des Zweiten Tempels gegeben werden (3.2).

98 Das Thema Exil kommt nicht explizit in der Tora-Rede vor, mehrere Texte darin sind aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Hinblick auf die Exilsthematik verfasst: Beispielsweise wollten die dtn Autoren und Redaktoren durch den in der Einheit Dtn 9,1–10,11 thematisierten Bundesbruch am Sinai der Adressatenschaft das Exil »erklären« (und zwar als Schuld Israels). 99 Vgl. zum Thema insbesondere DAHMEN 2003; CRAWFORD 2005a; LIM 2008; FINSTERBUSCH 2010a.

3. Zur Textüberlieferung

39

Abb. 3: Fragmente einer Qumran-Schriftrolle

3.1

Die wichtigsten Textzeugen100

An erster Stelle sind die ältesten Zeugen dtn Texte zu nennen, nämlich die am Toten Meer gefundenen insgesamt dreiunddreißig101 Deuteronomium-Handschriften, d. h. Handschriften, die das Deuteronomium ganz oder zumindest zu einem großen Teil enthalten haben (darunter eine griechische Handschrift). Die Handschriften stammen aus der Zeitspanne von der zweiten Hälfte des 3. Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. Keine Handschrift ist auch nur annähernd vollständig erhalten, bewahrt sind Fragmente mit mehr oder weniger Text. Hinzu kommen noch vier sog. Exzerpthandschriften mit dtn Texten (möglicherweise für besonderen liturgischen Gebrauch), die Sammlung messianischer Zitate 4Q175, mehrere Tefillin und Mezuzot mit dtn Texten sowie die Tempelrolle.102 Deuteronomischer Text kommt zudem noch vor in Gestalt von Zitaten in den »nichtbiblischen« Handschriften vom Toten Meer. 100 In einer ausführlicheren Übersicht müsste auch auf die Targumim sowie auf die lateinischen und syrischen Zeugen eingegangen werden; vgl. MCCARTHY 2007, S. 8*f.; ebenso wäre auf die Rezeption dtn Texte in den Schriften Philos und Josephus’ einzugehen, siehe hierzu LIM 2008, S. 23 ff. 101 Zur Begründung dieser Zahl siehe FINSTERBUSCH 2010a, S. 339 f. 102 Zu Letzterem siehe z. B. SCHIFFMAN 1991.

40

II. Fakten und offene Fragen

An zweiter Stelle ist die möglicherweise bereits im 3. Jh. v. Chr. angefertigte griechische Übersetzung des Deuteronomiums zu nennen (die griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel wird mit LXX, »Septuaginta«, abgekürzt103). Es handelt sich bei der LXX Dtn aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Übersetzung,104 die dann vielfach abgeschrieben wurde (wobei die Schreiber einen gewissen Spielraum in Bezug auf den Text hatten). Die griechische Übersetzung des Deuteronomiums ist als ausgesprochen sorgfältig zu beurteilen.105 Es spricht grundsätzlich nichts dagegen, von dem griechischen Text guter Textzeugen (wie z. B. dem in der sog. Cambridger Ausgabe zugänglichen Codex Vaticanus aus dem 4. Jh. n. Chr.) auf die hebräische Vorlage zurückzuschließen. Drittens ist die samaritanische Textüberlieferung des Deuteronomiums anzuführen (in hebräischer Sprache). Die samaritanische Gemeinde erkannte bzw. erkennt (es gibt auch heute noch eine samaritanische Gemeinde) ausschließlich den Pentateuch als autoritative religiöse Schrift an. Der samaritanische Pentateuch (abgekürzt Sam) enthält einige spezifische ideologische Elemente und wurde nach der derzeitigen Mehrheitsmeinung im 2. oder 1. Jh. v. Chr. erstellt.106 Doch es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Samaritaner schon vorher (in persischer Zeit?107) einen »harmonistischen« (in der Literatur auch »prä-samaritanisch« genannten) Pentateuchtext als autoritativen religiösen Text akzeptierten (und lediglich die ideologischen Elemente später einfügten). Solche »harmonistischen« Texte haben sich, wie Qumranfragmente belegen, mehrfach auch außerhalb des kulturellen Kontextes von Samaria erhalten, sind also kein samaritanisches Spezifikum: »In other words, everything speaks for the assumption, that the Northerners did not passively and suddenly accept the Pentateuch from the Judeans, but they must have taken part in its growth. When the Samaritan ›sectarian‹ changes were made, they were made in texts that had circulated among Yahwistic Samarians long before the breach in the 2nd/1st century B. C. E. «108

Bewahrt wurde Sam (wie MT, s. u.) in vielen Abschriften. Die ältesten erhaltenen Handschriften stammen aus dem Mittelalter. Die derzeit beste Textausgabe ist diejenige von A. Tal.109 103 Eine Anmerkung zur üblichen Bezeichnung »die Septuaginta« (LXX): Dieser Sprachgebrauch ist problematisch, denn »die Septuaginta« gibt es nicht. Kurz zu den beiden besten Editionen: Die sog. »Cambridge Septuaginta« ediert die Bücher nach Kodex B (Codes Vaticanus, 4. Jh. n. Chr.), Lücken werden ergänzt durch Texte anderer Kodizes (z. B. S: Codex Sinaiticus, 4.–5. Jh. n. Chr., und A: Codex Alexandrinus, 5. Jh. n. Chr.); die »Göttinger Septuaginta« ist eine »kritische Edition«, d. h. sie bietet einen rekonstruierten Text (der nicht mit dem »Urtext« zu verwechseln ist). Siehe TOV 1997, S. 112–124. 104 Vgl. TOV 1997, S. 114. 105 Vgl. insbesondere AEJMELAEUS 1996. 106 Vgl. zu den ideologischen Elementen PUMMER 2007, S. 244 f. 107 Siehe oben 2.2.3. 108 PUMMER 2007, S. 264. 109 TAL 1994. Die edierte Handschrift stammt aus dem Jahr 1204 n. Chr.

3. Zur Textüberlieferung

41

Die heutigen Standardausgaben des hebräischen Bibeltextes im wissenschaftlichen Kontext sind die Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) und die Biblia Hebraica Quinta (BHQ). Der hebräische Text basiert in beiden Fällen auf der Handschrift B19a (abgekürzt auch L für Codex Leningradensis). Diese aus dem Jahr 1008 oder 1009 n. Chr. stammende Handschrift ist immer noch »die älteste datierte Handschrift der vollständigen [hebräischen] Bibel«.110 Sie repräsentiert den sog. Masoretischen Text (abgekürzt MT) – die meisten Druckausgaben der Hebräischen Bibel sind Repräsentanten des MT. Der Masoretische Text hat nach der Einschätzung von E. Tov »auf der sozio-religiösen Ebene einen einzigartigen Charakter, da er in einer bestimmten Phase von einem Hauptstrom des Judentums (den Pharisäern?) den anderen Texten vorgezogen wurde. Bei der Auswertung der verschiedenen Texte sollte man diese Bewertung jedoch unbeachtet lassen, da die Bevorzugung von MT nicht notwendig besagt, dass MT auch den besten Text der Bibel bietet. […]. Nachdem MT zunächst in einem Hauptstrom des Judentums und dann schließlich für das ganze jüdische Volk zum zentralen Text geworden war, wurden keine weiteren Änderungen mehr an ihm vorgenommen […]. So wurde in MT der biblische Text genauso bewahrt, wie er zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Kreis geläufig war. Nachdem dieser Text zum autoritativen Text im Judentum geworden war, wurde er häufig kopiert.«111

Der MT ist also mehr als nur ein gewichtiger Textzeuge unter anderen.

3.2

Stabilität und Varianz in der deuteronomischen Überlieferung in der Zeit des Zweiten Tempels

Im Folgenden soll anhand von zwei Beispielen ein realistischer Eindruck von der deuteronomischen Überlieferung in der Zeit des Zweiten Tempels (515 v. Chr. – 70 n. Chr.) gegeben werden. 3.2.1 Teiltext des dtn Gesetzes: 24,1 f. Als erstes Beispiel soll die Überlieferung von Dtn 24,1 f. dienen. Das einzige Fragment von 4Q28 enthält Reste von Dtn 23,26–24,8; von Dtn 24,1 f. ist noch folgender Text bewahrt:112 ‫תמצ[א חן בעיניו כי מצא בה ערות‬ ‫( והלכה והיתה לאיש‬2) ‫ו[שלחה מביתו‬ … find]et sie Gnade in seinen Augen, weil er an ihr gefunden hat einen Makel … … und] er sendet sie aus seinem Haus (2) und sie geht und wird eines Mannes … 110 Biblia Hebraica Stuttgartensia, Prolegomena, III. 111 TOV 1997, S. 18 f. 112 Vgl. DJD XIV, S. 7 f.

42

II. Fakten und offene Fragen

Frag. 4 von 4Q38a enthält Reste von Dtn 23,22–24,3; von Dtn 24,1 f. ist noch folgender Text erhalten: ‫[חן בעיניו כיא‬ ‫( ויצאה מב]יתו‬2) ‫מב[יתו‬ …]Gnade in seinen Augen, weil … aus seinem H]aus (2) und sie verlässt sein Ha[us …

Im Codex Vaticanus ist folgender Text überliefert: 1 Ἐὰν δέ τις λάβῃ γυναῖκα καὶ συνοικήσῃ αὐτῇ καὶ ἔσται ἐὰν μὴ εὕρῃ χάριν ἐναντίον αὐτοῦ ὅτι εὗρεν ἐν αὐτῇ ἄσχημον πρᾶγμα καὶ γράψει αὐτῇ βιβλίον ἀποστασίου καὶ δώσει εἰς τὰς χεῖρας αὐτῆς καὶ ἐξαποστελεῖ αὐτὴν ἐκ τῆς οἰκίας αὐτοῦ 2 καὶ ἀπελθοῦσα γέγηται ἀνδρὶ ἑτέρῳ 1 Wenn jemand eine Frau nimmt und wohnt ihr bei und dann: nicht findet sie Gnade in seinen Augen, weil er an ihr gefunden hat einen Makel, und wenn er ihr dann einen Scheidebrief schreibt und in ihre Hand gibt und sendet sie aus seinem Haus 2 und sie geht und wird eines anderen Mannes …

Im Sam steht: ‫ כי יקח איש אשה ובא אליה ובעלה והיה אם לא תמצא חן בעיניו‬1 ‫כי מצא בה ערות דבר וכתב לה ספר כריתת ונתן בידה ושלחה מביתו‬ ‫ ויצאה מביתו והלכה והיתה לאיש אחר‬2 1 Wenn ein Mann eine Frau nimmt und kommt zu ihr und wohnt ihr bei und dann: nicht findet sie Gnade in seinen Augen, weil er an ihr gefunden hat einen Makel, und wenn er ihr dann einen Scheidebrief schreibt und in ihre Hand gibt und sendet sie aus seinem Haus 2 und sie verlässt sein Haus und sie geht und wird eines anderen Mannes …

Im MT steht: ‫ כי יקח איש אשה ובעלה והיה אם לא תמצא חן בעיניו‬1 ‫כי מצא בה ערות דבר וכתב לה ספר כריתת ונתן בידה ושלחה מביתו‬ ‫ ויצאה מביתו והלכה והיתה לאיש אחר‬2 1 Wenn ein Mann eine Frau nimmt und wohnt ihr bei und dann: nicht findet sie Gnade in seinen Augen, weil er an ihr gefunden hat einen Makel, und wenn er ihr dann einen Scheidebrief schreibt und in ihre Hand gibt und sendet sie aus seinem Haus 2 und sie verlässt sein Haus und sie geht und wird eines anderen Mannes …

Die beiden Hss vom Toten Meer bezeugen in Dtn 24,2 einen kürzeren (4Q28) und einen längeren (4Q38a) Text. Beide Textüberlieferungen finden sich auch in anderen Textzeugen: Im Codex Vaticanus wurde der Vers offenbar nach der kürzeren Fassung wiedergegeben, die längere Fassung ist noch bezeugt im MT und im Sam.

3. Zur Textüberlieferung

43

In V. 1 hat der Sam noch einen im Vergleich zu LXX und MT zusätzlichen Satz (‫ובא אליה‬, »und kommt zu ihr«). Der entscheidende Punkt ist, dass sich Dtn 24,1 f. in jeder Textüberlieferung leicht identifizieren lässt. Der Inhalt des Gesetzestextes ändert sich trotz der Unterschiede im Detail nicht. 3.2.2 Shabbatgebot des dtn Dekalogs: 5,12–15 Der Dekalog ist durch die Doppelüberlieferung im Pentateuch (Ex 20 und Dtn 5) im gewissen Sinne ein Sonderfall. Er spielt wohl spätestens ab der hellenistischen Zeit eine wichtige Rolle in der gottesdienstlichen jüdischen Liturgie.113 Leider ist der dtn Dekalog in keiner der Deuteronomium-Handschriften vom Toten Meer erhalten. Vollständig erhalten ist er nur in der Exzerpthandschrift 4Q41 und fragmentarisch in der Exzerpthandschrift 4Q37. Beide Exzerpthandschriften enthalten vorwiegend dtn Texte und zwar »special-use«-Passagen.114 Auch in einigen, teilweise fragmentarisch erhaltenen Phylakterien und Mezuzot wurde der Dekalog eindeutig nach dem Deuteronomium zitiert. Die Texte für die Phylakterien und Mezuzot wurden wohl meistens aus dem Gedächtnis aufgeschrieben, sie sind zudem häufig nicht besonders sorgfältig geschrieben. Näher eingegangen werden soll im Folgenden auf das Shabbatgebot in drei Textzeugen (4Q41; 4QPhyl G; MT). Die Abweichungen hier sind vergleichsweise »extrem«. In Kol. III und Kol. IV von 4Q41 ist das Shabbatgebot in folgendem Wortlaut überliefert: ‫ שמור את יום השבת לקדשו כאשר צוך יהוה‬9 (Kol. III) ‫ אלהיך ששת ימים תעבוד ועשית את כול מלאכתך‬10 ‫ וביום השביעי שבת ליהוה אלוהיך לוא תעשה בו כל מלאכה‬11 ‫ אתה ובנך ובתך ועבדך ואמתך ושורך וחמרך‬12 ‫ ובהמתך גריך אשר בשעריך למען ינוח עבדך ואמתך‬1 (Kol. IV) ‫ כמוך וזכרתה כי עבד היית בארץ מצרים ויציאך‬2 ‫ יהוה אלהיך משם ביד חזקה ובזרוע נטויה‬3 ‫ על כן צוך יהוה אלוהיך לשמור את יום השבת‬4 ‫ לקדשו כי ששת ימים עשה יהוה את השמים ואת הארץ‬5 ‫ את הים וכול אשר בם וינוח ביום השביעי על כן ברך יהוה‬6 ‫ את י ום השבת לקדש ו‬7 (Kol. III) 9 Wahre den Tag des Shabbats, ihn zu heiligen, wie dir geboten hat JHWH, 10 dein Gott. Sechs Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeit tun, 11 aber am siebten Tag ist Shabbat für JHWH, deinen Gott. Nicht sollst du an ihm tun jegliche Arbeit, 12 du und dein Sohn und deine Tochter und dein Sklave und deine Sklavin und dein Rind und dein Esel 113 E. ESHEL 1991, S. 151 f. 114 DUNCAN 1997, S. 44.

44

II. Fakten und offene Fragen

(Kol. IV) 1 und dein Vieh, deine Fremdlinge, die in deinen Toren sind, damit ruhe dein Sklave und deine Sklavin 2 wie du. Und gedenke, dass du Sklave warst im Land Ägypten und dich heraus geführt hat 3 JHWH, dein Gott, von dort mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arm. 4 Deshalb hat dir JHWH, dein Gott, geboten, den Shabbattag zu wahren, 5 ihn zu heiligen, denn sechs Tage schuf JHWH den Himmel und die Erde, 6 das Meer und alles, was darinnen ist, und er ruhte am siebten Tag. Deshalb segnete JHWH 7 den Shabbattag, ihn zu heiligen.

4QPhyl G enthält fragmentarisch Dtn 5,1–21 und Ex 13,11–12.115 Das Shabbatgebot hat hier folgenden Wortlaut: ‫ את יום השב[ת ל]קדשו[ ששת ימים תעבוד ועשית‬18 ‫ כול מלאכתך וב]יום השביעי שבת ליהו[ה השביעי‬19 ‫ ליהוה אלהיכה לוא ת]ע[שה כו]ל מלאכה את[ה ובנך ובתך עבד בתך‬20 ‫ ]ואמ[תך ושורך וחמרך וכול בה]מתך וגרך א[שר בשעריך כי ששת‬21 ‫ ]ימים עשה[ יהוה את ה]ש[מים ואת ה]ארץ את הי[ם ואת כול אשר בם וינוח ב‬22 ‫ ]יום השביע[י על כן ב]ר[ך יהוה את ]יום הש[בת ו]י[קדשהו‬23 18 [den Tag des Shabba]ts, zu [heiligen ihn]. Sechs Tage sollst du arbeiten und tun 19 all deine Arbeit, aber am [siebten Tag ist Shabbat für JHW]H ,116 deinen Gott. Nicht sollst du t[u]n jeg[liche Arbeit, d]u und dein Sohn und deine Tochter, Sklave, ,117 21 [und deine Skla]vin und dein Rind und dein Esel und all de[in Vieh und dein Fremdling / deine Femdlinge?,] in deinen Toren seiend, denn sechs 22 [Tage schuf ]JHWH den Hi[m]mel und die Er[de, das Mee]r und alles, was in ihm ist, und er ruhte am 23 [Tag, dem siebte]n. Deshalb seg[ne]te JHWH den [Tag des Shab]bats und [er] heiligte ihn.

Das Shabbatgebot lautet nach dem Konsonantenbestand des MT wie folgt (Dtn 5,12–15): ‫ שמור את יום השבת לקדשו כאשר צוך יהוה אלהיך‬12 ‫ ששת ימים תעבד ועשית כל מלאכתך‬13 ‫ ויום השביעי שבת ליהוה אלהיך לא תעשה כל מלאכה‬14 ‫אתה ובנך ובתך ועבדך ואמתך ושורך וחמרך וכל בהמתך וגרך אשר בשעריך‬ ‫ל מ ע ן י נ ו ח ע ב ד ך וא מ ת ך כ מ ו ך‬ ‫ וזכרת כי עבד היית בארץ מצרים ויצאך יהוה אלהיך משם ביד חזקה ובזרע‬15 ‫נטויה‬ ‫על כן צוך יהוה אלהיך לעשות את יום השבת‬

115 Vgl. DJD VI, S. 58–60. 116 Es handelt sich hier vermutlich um eine versehentliche Dittographie, vgl. DJD VI, S. 59. 117 Es handelt sich hier vermutlich um eine versehentliche Dittographie, vgl. DJD VI, S. 59.

3. Zur Textüberlieferung

45

12 Wahre den Tag des Shabbats, ihn zu heiligen, wie dir JHWH, dein Gott, geboten hat. 13 Sechs Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeit tun, 14 aber der siebte Tag ist Shabbat für JHWH, deinen Gott. Nicht sollst du tun jegliche Arbeit, du und dein Sohn und deine Tochter und dein Sklave und deine Sklavin und dein Rind und dein Esel und all dein Vieh und dein Fremdling, der in deinen Toren ist, damit ruhe dein Sklave und deine Sklavin wie du. 15 Und gedenke, dass du Sklave warst im Land Ägypten und dich JHWH, dein Gott, von dort heraus geführt hat mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arm. Deshalb hat dir JHWH, dein Gott, geboten, den Shabbattag zu tun.

Festzustellen ist neben kleineren Unterschieden (z. B. steht das Nomen ‫ גר‬in 4Q41 im Plural »Fremdlinge«, im MT im Singular »Fremdling«; das Nomen ‫בהמה‬ »Vieh« ist in 4QPhyl G und im MT ergänzt durch ‫» כל‬alles«118) ein bedeutsamer Unterschied in der Begründung des Shabbatgebots: In 4Q41 wird der befreiungstheologischen Begründung die schöpfungstheologische Begründung aus Ex 20,11 angehängt (ein typischer Fall von »Harmonisierung«119); in 4QPhyl G wird die befreiungstheologische Begründung durch die schöpfungstheologische ersetzt; im MT findet sich nur die befreiungstheologische Begründung. Es ist bemerkenswert, dass ganz offensichtlich mindestens bis zum 1. Jh. v. Chr. nicht einmal ein für Frömmigkeit und Liturgie so zentraler Text wie der Dekalog textlich standardisiert überliefert wurde.120 Festzustellen ist neben der gezeigten Variabilität aber auch, dass entscheidende Schlüsselworte identisch sind (die Aufzählung, wer alles ruhen soll) und dass insofern die Texte als »dtn Shabbatgebot« identifizierbar sind und der Inhalt in zentralen Punkten derselbe bleibt.

3.3

Textliche Standardisierung am Ende der Zeit des Zweiten Tempels?

Die angeführten Beispiele zeigen einerseits, dass in der dtn Überlieferung summa summarum stabile Strukturen in der Wortfolge bestanden haben. Deshalb ist eine sichere Identifikation von Text als »deuteronomisch« möglich. Andererseits weisen die Beispiele auch auf mehr oder weniger bedeutsame Unterschiede in der Parallelüberlieferung hin. Eine Untersuchung der überlappenden Texte der ältesten Textzeugen, nämlich der Deuteronomium-Handschriften vom Toten Meer, macht wahrscheinlich, dass von einigen Hundert Varianten in den DeuteronomiumHandschriften vor der Standardisierung auszugehen ist.121 Die meisten Varianten 118 Zum Vergleich: Im Shabbatgebot des Exodus (Ex 20,10) ist an dieser Stelle nur von »Vieh« die Rede; Rind und Esel werden nicht erwähnt. 119 Zu dieser Technik siehe insbesondere TIGAY 1985b, S. 55–57. 120 Zu den Varianten der Dekalogfassung in Dtn 5 in der Zeit des Zweiten Tempels siehe insbesondere E. ESHEL 1991, S. 132 ff., KELLERMANN 2000; LOADER 2004, S. 5–11; HIMBAZA 2004; ULRICH 2010, S. 185– 188. 121 Vgl. FINSTERBUSCH 2010a.

46

II. Fakten und offene Fragen

betreffen den Textsinn allerdings nicht grundlegend, es handelt sich um Unterschiede, die Fragen der Syntax, des Stils sowie kleinere harmonisierende Zusätze122 betreffen. In vielen Fällen kann entschieden werden, welche Variante älter und welche jünger ist123 (und in diesem Sinn kann von einem »ältesten textkritisch erreichbaren Text« gesprochen werden124). Insgesamt zeigt der Befund recht klar: Jüdische Identität vertrug sich einige Jahrhunderte lang durchaus mit Varianz zentraler autoritativer Texte in einem gewissen Rahmen. Warum wurde dann überhaupt standardisiert? Wann geschah dies und nach welchen Kriterien wurden Standardtexte erstellt (oder Texte als Standardtexte gewählt)? Bislang wird mehrheitlich angenommen, dass die Standardisierung mit dem Ende des jüdischen Kriegs gegen Rom (66–70 n. Chr.) einsetzte. Es gibt nun aufgrund von neueren Untersuchungen Stimmen, die einen Beginn bereits im späten 1. Jh. v. Chr. vermuten.125 Vielleicht wird es möglich sein, in absehbarer Zukunft einige offene Fragen in Bezug auf die Standardisierung zu beantworten.

3.4

Der MT als Basistext für die Exegese des Deuteronomiums?

In Kommentaren und Monographien zum Deuteronomium ist der MT (basierend, wie oben dargelegt, auf der Hs L um 1008 oder 1009 n. Chr.) die Grundlage der exegetischen Arbeit. Dabei wird der MT Dtn – meist ohne weitere Begründung – als Text aus dem 7. und 6. Jh. v. Chr. behandelt, der durch Redaktoren (z. B. »Pentateuchredaktoren«) weitere Bearbeitungen erfahren hat und ergänzt worden ist. Die Entscheidung für den MT als Grundlage der Kommentierung ist eine pragmatische Entscheidung. Und sie ist im Hinblick auf das Deuteronomium kein »fauler« Kompromiss: In der Überlieferung des MT Dtn, der Dtn-Hss, der LXX Dtn und dem Sam Dtn zeigt sich zumindest in Bezug auf die Buchstruktur, in Bezug auf Schlüsselformulierungen (z. B. Rahmenverse) und in Bezug auf die Satzsequenzen weitestgehende Übereinstimmung. Insofern spricht nichts dagegen, die Dtn-Hss, die LXX Dtn (bzw. ihre hebräische Vorlage), den MT Dtn und den Sam Dtn cum grano salis als spätere zuverlässige Repräsentanten von frühem dtn Text anzusehen, auch wenn damit gerechnet werden muss, im Detail Abstriche zu machen. Insofern gelten für die Einführung zwei Punkte:

122 Zu Letzterem siehe insbesondere noch TOV 2009. 123 Vgl. hierzu insbesondere CRAWFORD 2005b. Derzeit wird eine neue kritische Edition der Bücher der Hebräischen Bibel vorbereitet, vgl. HENDEL 2008. 124 Vgl. z. B. LOHFINK 2000, S. 58, Anm. 6. 125 Vgl. LANGE 2009b.

3. Zur Textüberlieferung

47

– Die Textanalysen wollen vorwiegend großflächig den Inhalt der einzelnen Passagen erschließen, so dass die Unterschiede im Detail in der Parallelüberlieferung nicht ins Gewicht fallen (müssen); z. B. ist in Bezug auf Dtn 24,1 f. vor allem wichtig, dass es hier um das Thema Scheidung einer Frau geht. – An Schlüsselpositionen stehende Sätze oder Schlüsselbegriffe werden in der Überlieferung im Hinblick auf Differenzen überprüft. Wenn sich weitreichende Differenzen ergeben (wie z. B. im Fall von Dtn 31,1), wird darauf besonders eingegangen.

III.

Synchrone und diachrone Textbetrachtungen auf der Ebene des Deuteronomiums

In literarischer Hinsicht kann das Deuteronomium als Erzählung über den letzten Lebenstag seiner Hauptfigur Mose bezeichnet werden:1 Am Ende dieses Tags, des ersten im elften Monat im vierzigsten Jahr nach dem Auszug aus Ägypten (Dtn 1,3), stirbt Mose (Dtn 34,5 f.). Die dtn Verfasser und Redaktoren gestanden dem »Bucherzähler« allerdings nur wenige Sätze zu, seine Hauptaufgabe ist es, die (nach dem MT 22) Reden des Mose an Israel einzuleiten. »Unter dem narrativen Grundmuster des Buches kommt eine andere umfassende literarische Form zum Vorschein: das Dtn als eine Sammlung von Reden. Gesammelt sind die letzten Wort des Mose – nur in 31 und 34 gibt es auch Gottesreden –, seine ›Abschiedsreden‹ oder sein ›Testament‹.«2 Im Zentrum der Reden des Mose steht eine Gesetzeslehre (Dtn 12,1–26,16): Das in der Welt des Deuteronomiums vor Mose versammelte Israel sollte an der Schwelle zum verheißenen Land dieses Gesetz lernen, um es künftig im Land als Landesgesetz zu befolgen. Die dtn Verfasser und Redaktoren komponierten und arbeiteten, so die im vorliegenden Buch vertretene These, ihr Deuteronomium in der Exilszeit als Identitätsschrift für die im babylonischen Exil lebenden JudäerInnen aus. Durch die synchronen und diachronen Textbetrachtungen soll nicht zuletzt das besondere Profil des exilischen Deuteronomiums und seine Botschaft in den Blick kommen. A. Moses (erste) Worte: Hinführung zum Vorlegen der Tora (1,1–4,40) 1. 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.4 2. 2.1 2.2

Synchrone Textbetrachtungen Bucheinleitung und erste Überschrift des Bucherzählers (1,1–5) Moses Rückblicke: Verzögerungen bei der Eroberung des verheißenen Landes (1,6–3,29) Keine Eroberung des Landes in Kadesch Barnea (1,6–46) Achtunddreißig Jahre später: Die Eroberung des Ostjordanlandes (2 f.) Die Konstituierung Israels als Lerngemeinschaft (4,1–40) Zusammenfassung: Dtn 1,6–4,40 als erster Teil der Rechtskraft-Verleihung der dtn Tora Diachrone Textbetrachtungen Sekundäre Hinzufügung von 1,6–3,29 zu einer selbstständigen Komposition Deuteronomium? Sekundäre Hinzufügung von 4,1–40?

1 Vgl. GEIGER 2010, S. 22–25. 2 Vgl. BRAULIK 2008a, S. 138.

A. Moses (erste) Worte

49

Nach der Bucheinleitung (1,1–5) beginnt mit Dtn 1,6 die erste Rede des Mose. Das Ende der Rede lässt sich einfach bestimmen. Im Anschluss an Dtn 4,40 folgt eine Erzählnotiz (4,41–43) über die Einrichtung von Asylstätten durch Mose. Die Gliederung der ersten Rede ist nicht schwer zu erheben. Grob lässt sie sich in zwei Teile teilen: 1,6–3,29: Moses Rückblicke auf unvorhersehbare Verzögerungen bei der Eroberung des verheißenen Landes 1,6–46: Keine Eroberung des Landes in Kadesch Barnea 2,1–3,29: 38 Jahre später: Die Eroberung des Ostjordanlandes 4,1–40: Konstituierung Israels als Lerngemeinschaft in Bezug auf die dtn Gesetze

Da das erste Kapitel im Buch Dtn aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst und mit besonders hoher Aufmerksamkeit gelesen wird, soll in den folgenden synchronen Textbetrachtungen auf Dtn 1,1–5 und auf den ersten Teil der ersten Rede (Dtn 1,6– 46) ausführlicher eingegangen werden.

1.

Synchrone Textbetrachtungen

1.1

Bucheinleitung und erste Überschrift des Bucherzählers (1,1–5)

Mit Dtn 1,1–5 wird das Deuteronomium eröffnet. In diesen Versen ließen die Verfasser und Redaktoren sofort die Stimme des Bucherzählers hörbar werden. Die Funktion dieser gezielt eingesetzten Stimme ist es, die Adressatenschaft sicher durch das komplexe Buch zu führen. Dtn 1,1–5 ist ein ausgesprochen sorgfältig komponierter Text: Tätigkeit Moses/Ort 1 Dies (sind) die Worte, die Mose zu ganz Israel sprach jenseits des Jordans, in der Wüste, in der Araba, gegenüber Suf, zwischen Paran und Tofel und Laban und Chazerot und Di-Zahab. Zeitangabe 2 Elf Tage sind es vom Horeb über das Gebirge Seir bis nach Kadesch Barnea. Tätigkeit Moses/Zeit 3 Doch es war im vierzigsten Jahr, im elften Monat, am ersten des Monats, da Mose zu den Kindern Israels sprach gemäß allem, was JHWH ihm für sie geboten hatte,

50

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Zeitangabe 4 nachdem er geschlagen hatte Sichon, den König der Amoriter, der in Heschbon wohnte, und Og, den König von Basan, der in Aschterot wohnte, bei Edrei. Tätigkeit Moses/Ort 5 Jenseits des Jordans, im Land Moab, begann Mose, dieser Tora Rechtskraft zu verleihen / diese Tora zu erklären wie folgt:

V. 1 beginnt mit dem Nominalsatz: »Dies (sind) die Worte« (‫)אלה הדברים‬. Die Bedeutung dieses Nominalsatzes ist nicht einfach zu erschließen. Vor allem N. Lohfink hat in Aufnahme einer Beobachtung von P. Kleinert aus dem 19. Jh. gezeigt, dass dieser Nominalsatz Teil eines Vierüberschriftensystems im Deuteronomium ist:3 1,1: Dies (sind) die Worte (die Mose zu ganz Israel sprach …) 4,44: Und dies (ist) die Tora (die Mose den Kindern Israels vorlegte …) 28,69: Dies (sind) die Worte des Bundes (den JHWH Mose mit den Kindern Israels zu schließen gebot) 33,1: Und dies (ist) der Segen (mit dem Mose die Kinder Israels segnete)

Diese Überschriften leiten die sich jeweils anschließende Rede des dtn Mose ein. Demnach handelt es sich bei Dtn 1,1 insbesondere um die Überschrift über die erste Rede des Mose Dtn 1,6–4,40. Durch das Nomen »Worte« (‫ )דברים‬wird zudem gewissermaßen die »Gattung« dieser Rede bestimmt (ebenso wie die Nomina in den anderen drei Überschriften die »Gattungen« der ihnen jeweils folgenden Rede bestimmen4). Insgesamt gibt es im Deuteronomium (nach dem MT) 22 Reden des Mose,5 die Mehrheit der Reden wird also deutlich weniger »spektakulär« durch den Bucherzähler eingeleitet. Zusätzlich zu der Funktion der Überschrift über die erste Rede hat Dtn 1,1 noch eine weitere Funktion: Die Formulierung »diese Worte« wird in Dtn 32,45 in der Fassung des MT aufgenommen: Dtn 1,1aα: Dies (sind) die Worte (‫)אלה הדברים‬, die Mose zu ganz Israel redete. Dtn 32,45: Und Mose hörte auf zu reden alle diese Worte (‫ )הדברים האלה‬zu ganz Israel.

Durch die Kombination ‫ לכל ישׂראל‬+ ‫ דבר‬+ ‫ אלה‬+ ‫»( דברים‬Worte« + »diese« + »reden« + »zu ganz Israel«) wurden also die in Dtn 1,1–32,45 enthaltenen Reden des Mose gerahmt (wobei zur rechten Einschätzung des Phänomens der Rahmung anzumerken ist, dass im Deuteronomium ausgesprochen häufig Texte durch Rahmungen markiert wurden6). Diese Rahmung ist ein klares Indiz dafür, dass der Nominalsatz in Dtn 1,1 über die erste Rede des Mose hinausweist. Nicht zuletzt aus diesem 3 4 5 6

LOHFINK 1962; DERS. 2005. LOHFINK 2005, S. 57. Vgl. LOHFINK 1996b, S. 151. Vgl. z. B. im Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 3.1 und 4.1.11.

A. Moses (erste) Worte

51

Grund wird Dtn 1,1(-5) in der Literatur häufiger als »Buchtitel« oder »Buchüberschrift« bezeichnet.7 Die Bezeichnung Bucheinleitung ist jedoch angemessener, denn die vom Bucherzähler wiedergegebenen »Worte« des Mose enden mit Dtn 32,43, nicht aber endet hier das Buch Deuteronomium. In Dtn 1,1–5 wird, wie sich dies für eine Bucheinleitung gehört, über den Ort und die Zeit der Erzählung sowie über den Anlass und den Zweck der von Mose erzählten Tätigkeit informiert. Nach Dtn 1,1a und 5a spielt die Handlung »jenseits des Jordans«. Diese Formulierung ist besonders zu beachten, denn sie verrät die Perspektive des Bucherzählers (nicht unbedingt diejenige der dtn Verfasser und Redaktoren): Letztere ließen ihn von diesseits des Jordans aus erzählen, also vom Land Israel aus. Der Erzähler ist demnach keinesfalls mit Mose identisch (der nicht in das verheißene Land ziehen darf). In V. 1b wird die Ortsangabe »jenseits des Jordans« durch die Angabe »in der Wüste« präzisiert, wobei diese Angabe ihrerseits durch weitere Ortsnamen (von denen vier sich nur an dieser Stelle in der Hebräischen Bibel finden8) näher bestimmt wird. Mehrheitlich lassen sich diese Orte heute nicht mehr lokalisieren. Nicht recht deutlich ist vor allem der Sinn dieser Kumulierung. Sollte besonders betont werden, dass die Moserede in der Wüste (also als einem Ort, an dem sich Israel entscheiden muss) gehalten wurde? Sollte darüber hinaus die genaue Lokalisierung der Rede in der Wüste »vernebelt« werden, um der Erzählung von Anfang an eine gewisse »Aura« zu verleihen?9 V. 2 setzt unvermittelt mit einer Zeitangabe ein. Zur Erhebung der Bedeutung dieser Zeitangabe ist die Verbindung zwischen V. 2 und V. 3a zu beachten (der Beginn von V. 3 ist in adversativem Sinn zu verstehen10): Vom Horeb (der dtn Name für Sinai) bis nach Kadesch Barnea sind es elf Tagesreisen (V. 2). Doch es war im vierzigsten Jahr, im elften Monat, am ersten Tag (nach dem Auszug aus Ägypten), da Mose redete (V. 3a). Dies lässt vermuten, dass Mose eigentlich viel früher in Kadesch Barnea reden sollte. V. 3b enthält eine Information zum Anlass des mosaischen Redens zu Israel (dieses Reden ist nicht auf Dtn 1,6–4,40 einzuschränken, sondern bezieht sich auf das gesamte Reden des Mose zu Israel in Dtn 1–32): Mose redete zu Israel »gemäß allem, was JHWH ihm für die Israeliten befohlen hat [es ihnen zu sagen]«. Aus der Gesamtperspektive des Bucherzählers sind damit die Befehle JHWHs am Horeb (Mose bekam am Horeb den Auftrag, die deuteronomischen Gesetze Israel mitzu-

7 Vgl. z. B. PERLITT 1990 ff., S. 4; TIGAY 1996, S. 3; VEIJOLA 2004, S. 8; GERTZ 2006, S. 104. 8 Suf, Tofel, Laban und Di Zahab. 9 Vgl. GOMES DE ARAÚJO 1999, S. 24–26. Auffällig ist das Fehlen der Angabe Bet Peor in Dtn 1,1: Das Tal gegenüber von Bet Peor ist nach Dtn 3,29 der Lagerort der Israeliten während der deuteronomischen Mosereden und in Dtn 4,46 (Teilvers der zweiten Hauptüberschrift) mit der Angabe »jenseits des Jordans« verbunden. 10 So z. B. noch BUBER / ROSENZWEIG 1954, z. St.; BRAULIK / LOHFINK 2003, S. 234. Siehe auch schon den Midrasch zum Deuteronomium SifDev, Devarim, 2.

52

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

teilen, Dtn 5,3111) und in Moab (Mose soll den Liedtext Israel mitteilen, Dtn 31,19) gemeint. V. 3b enthält zudem eine Aussage über die Qualität und die Zuverlässigkeit der mosaischen Rede: Mose hält sich an alles, was JHWH geboten hat. Es handelt sich nicht um »weltliches Geschwätz«. In V. 4 gibt der Bucherzähler an, dass Mose erst anfing zu reden nach der Erledigung einer besonderen Aufgabe, nämlich der Besiegung der Könige Sichon und Og im Ostjordanland. In V. 5a wird die Ortsangabe »jenseits des Jordans« durch die Ortsangabe »im Land Moab« näher bestimmt. Die Ortsangabe »im Land Moab« kommt in den ersten vier Mosebüchern überhaupt nicht vor und im Deuteronomium erscheint sie nur an wenigen Stellen (Dtn 1,5; 28,69; 32,49 und 34,5.6). Sie hat, wie L. Perlitt zu Recht betonte, ihren erzählerischen Anlass beim Tod des Mose:12 Mose redete, wo er starb, am selben Tag (32,48 f.) und am selben Ort (34,5). Mit der Angabe »im Land Moab« in V. 5 wurde also ein Hinweis auf das Schicksal des »Helden« gegeben. 11 LOHFINK 2003a, S. 191, machte darauf aufmerksam, dass nur in Ex 25,22, Lev 27,34 und Dtn 1,3 die Konstruktion von ‫ צוה‬mit ‫ את‬des unmittelbar Beauftragten und ‫ אל‬der durch ihn Anzusprechenden vorkommt. In Ex 25,22 kündigt JHWH an, Mose alles, was er ihm für die Israeliten gebietet, künftig von der Bundeslade aus mitzuteilen. Nach Lev 27,34 werden die vorausgehenden Gesetze als Gesetze identifiziert, die JHWH Mose für die IsraelitInnen auf dem Berg geboten hat und die Mose direkt promulgierte. LOHFINK schloss nun für das Deuteronomium auf Pentateuchebene: »Da Mose das, was Gott ihm aufgetragen hat, auch vorher schon weitergegeben hat, kann das Wort ›alles‹ nur implizieren, dass er es nun von neuem vorträgt. Das heißt: Israel kannte die Gesetze, die Mose vorträgt, schon.« Dtn 1,3 bedeutet also nach Lohfink: Mose hat alles bisher von Gott Gebotene bereits weitergegeben und trägt nun im Deuteronomium nochmals vor. »Zwar ist keineswegs alles im Detail ins Deuteronomium aufgenommen, vor allem sind es nicht die vielen kultischen Einzelheiten […]. Aber wenn meine Deutung des deuteronomischen Selbstverständnisses auf Pentateuchebene richtig ist, verdichtet die deuteronomische Tora doch diese ganze Welt des zu Tage getretenen göttlichen Willens zusammen mit den Inhalten der sinaitischen Bundesdokumente in einen repräsentativen und literarisch geschlossenen Gesetzeskomplex hinein. Sie bereitet die ganze Vielfalt so auf, dass sie im Moabbund von Israel in einem einzigen Akt beschworen werden kann« (a. a. O., S. 212). Gegen die Position von Lohfink spricht auf Pentateuchebene Ex 24,12: Nach diesem Vers wird Mose »die Tora« gegeben. Die Tora, die Mose hier erhält, ist auf Pentateuchebene wohl (auch) auf das dtn Gesetz zu beziehen. Auf keinen Fall gehört zu der Tora aber die (Mose später offenbarte) Gesetzgebung in Num bzw. die Gesetzgebung in den Arbot Moab (Num 36,13). Von daher kann die dtn Tora nicht Zusammenfassung aller bisher weitergegeben Gesetze sein, vgl. zu Ex 24,12 FINSTERBUSCH 2011a. Aus meiner Sicht ist Dtn 1,3 (auf dtn Ebene wie auf Pentateuchebene) wie folgt zu verstehen: Mose redet im Dtn Neues, und zwar gemäß allem (‫)ככל אשׁר‬, was JHWH ihm offenbart hat (am Horeb und in Moab). Dabei wird durch das »gemäß« angezeigt, dass nicht alle Teile der mosaischen Reden (wie z. B. die Paränesen) direkte Weitergabe von JHWHs Worten sind. Für diese Deutung spricht nicht zuletzt der innerdtn Befund (insbesondere Dtn 5): Nach Dtn 5,27 erwartet das Volk, Mose solle das, was Gott ihm mitteilt (also im Kontext die dtn Gesetze), direkt weitergeben (und nicht nur als Wiederholung von bereits Gesagtem); nach Dtn 5,31 redet Gott zu Mose »das ganze Gebotene«, die Satzungen und Rechtsvorschriften, d. h. diese Gesetze werden Mose von JHWH bekannt gegeben und Mose muss sie weitergeben (»lehren«). Dass diese Gesetze lediglich »Wiederholung von Gesagtem« sein sollen, ist vollkommen unwahrscheinlich. 12 PERLITT 1990 ff., S. 20 f.; vgl. auch VEIJOLA 2004, S. 9.

A. Moses (erste) Worte

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V. 5b enthält eine Angabe über den Zweck der mosaischen Tätigkeit. Ein besonderes Problem ist hier die Erhebung der Bedeutung des in der Hebräischen Bibel nur dreimal vorkommenden Verbs be’er (‫) באר‬.13 Überzeugend ist m. E. der Vorschlag von G. Braulik und N. Lohfink, die vor allem im Hinblick auf ein akkadisches Parallelwort für die Bedeutung »Rechtsgeltung verschaffen« oder (durch Einsetzen bestimmter Mittel) »Rechtskraft verleihen« plädierten: Mose verleiht der deuteronomischen Tora Rechtskraft – »und dies, so weiß der Leser, wenn er am Ende des Buches angekommen ist, durch ihren öffentlichen Vortrag, durch bindende Erklärungen Gottes und Israels, durch ein Schwurritual, durch ihre Niederschrift und Deponierung bei der Lade, durch Institutionalisierung der Bundesweitergabe und durch Verfügungen über die Herstellung einer Inschrift nach der Überschreitung des Jordan.«14 Nahezu alle jüdischen Übersetzer und Interpreten von Dtn 1,5 in der späteren Zeit des Zweiten Tempels und in der Zeit des rabbinischen Judentums verstanden ‫ באר‬im Sinne von »erklären« / »kommentieren« / »verdeutlichen«. Dies hängt mit ihrer Perspektive auf das Buch Deuteronomium als des »fünften Buches der Tora (i. S. des Pentateuchs)« und damit verbunden mit einer veränderten Rechtshermeneutik des deuteronomischen Gesetzes im Rahmen der Tora zusammen: Dtn 1,5 gewann den Sinn, dass Mose »diese Tora« im Sinne der gesamten im Tetrateuch vorliegenden Gesetzgebung »erklärte« (wobei die deuteronomische Erklärung »dieser Tora« dann selbst als Teil des Pentateuchs als »Tora« galt). Auf der Ebene des (exilischen) Deuteronomiums ist die Formulierung »diese Tora« in Dtn 1,5 kataphorisch zu verstehen:15 Der Text dieser Tora im Deuteronomium beginnt laut der Überschrift Dtn 4,44–49 über die zweite Moserede in Dtn 5,1b. In der ersten Rede beginnt der deuteronomische Mose allerdings seine Tätigkeit in Bezug auf diese Tora: Er beginnt (‫)הואיל ]![ באר‬, sie rechtlich in Kraft zu setzen. Wie das Reden der »Worte« des Mose endet das In-Kraft-Setzen der Tora mit Dtn 32,43. Die Frage ist nun: Was bedeutet in der ersten Rede das In-Kraft-Set-

13 Zu einer Übersicht über die verschiedenen Interpretationsvorschläge vgl. FINSTERBUSCH 2011a. 14 BRAULIK / LOHFINK 2003, S. 247. Vgl. jetzt auch (ohne Verweis auf Braulik / Lohfink) TAWIL 2009, S. 43 (‫ = באר‬Akk. bâru: »to confirm / establish the legal truth«). Braulik / Lohfink sind allerdings der Meinung, dass Dtn 1,5 von einer »Pentateuchredaktion« stammt, vgl. a. a. O., S. 249 f., Anm. 49 (mit erheblichen rechtshermeneutischen Konsequenzen, siehe hierzu insbesondere LOHFINK 2003a, S. 202 ff.). M. E. ist Dtn 1,5 tragender Teil der exilischen Komposition Dtn, siehe hierzu im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.3. 15 Nach OTTO 2000, S. 173, stammt Dtn 1,5 von der »Pentateuchredaktion«: »In Dtn 1,5 verankert die Pentateuchredaktion ihre Deutung des Deuteronomiums als Auslegung der Gesetzgebung am Sinai [nach Otto das Bundesbuch und seine Reformulierung in Ex 34,10–27] im Überschriftensystem des Deuteronomiums«. Eine der Schwierigkeiten dieser Hypothese ist, dass das Bundesbuch an keiner Stelle in den ersten vier Mosebüchern mit »Tora« bezeichnet wird. PentateuchleserInnen werden mit »Tora« in Dtn 1,5 also nicht das Bundesbuch verbinden. HECKL 2004, S. 66, will Tora auf die Gottesrede (Dtn 1,6–8) beziehen. Doch in der ersten Rede wird diese Gottesrede nicht »erklärt«, geschweige denn, dass Mose in der ersten Rede »beginnt, sie zu erklären« (‫)הואיל באר‬.

54

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

zen »dieser Tora« (deren Text der dtn Adressatenschaft hier im Wortlaut noch unbekannt bleibt)?

1.2

Moses Rückblicke: Verzögerungen bei der Eroberung des verheißenen Landes (1,6–3,29)

1.2.1 Keine Eroberung des Landes in Kadesch Barnea (1,6–46) Dtn 1,6–46 lässt sich unter inhaltlichen Gesichtspunkten in drei Teile gliedern: 1,6–8: Mose zitiert JHWH-Rede am Horeb 1,9–18: Mose erzählt von einer Neuorganisation des Gerichtswesens am Horeb 1,19–46: Mose erzählt von den Ereignissen in Kadesch Barnea

Der dtn Mose redet ab V. 6 zu Israel in Moab, doch er beginnt sofort mit einem Zitat, er zitiert die JHWH-Rede am »Berg Horeb« (V. 6b–8). Laut Moses Zitateinleitung V. 6a redete JHWH zu »uns«, also zum Volk und zu Mose. Diese gemeinsame Perspektive ist auffällig, denn im Deuteronomium redet JHWH meist zu Mose, der dann die Rede an Israel weitergeben soll. Die gemeinsame Perspektive unterstreicht die grundlegende Bedeutung der zitierten Gottesrede. In V. 7 werden Gebiete genannt, die Teil des Israel zum Besitz zugedachten Landes sein sollen: Israel soll zum »Amoriter-Berg« (quasi das »Pendant« zum »Berg Horeb«16) und gegen seine Bewohner ziehen, und zwar in der Araba, auf dem Gebirge, in der Schefela, im Negev und an der Küste des Meeres. Angeführt wird noch das Land der Kanaaniter und der Libanon bis zum Euphrat. Kurz gesagt: Das verheißene Land soll das Westjordanland samt Libanon und Syrien umfassen. Die angegebenen Grenzen erinnern am ehesten an das Großreich Davids und Salomos, das freilich die in V. 7 auffälligerweise nicht erwähnten Ostjordangebiete (ihre Eroberung ist Thema in Dtn 2 f.) mit umfasste.17 Nach Salomo war der tatsächliche Umfang des in Nord- und Südstaat geteilten Reiches erheblich kleiner. Sind die Angaben von V. 7 im Sinne eines territorialen Maximalanspruches zu verstehen (wobei das Fehlen des Ostjordanlandes erklärt werden müsste)? Sollten die angegebenen Gebiete vor allem repräsentativ auf die Vielfalt des Landes hinweisen: Bergland, Ebene, Wüste, Meer, zudem ausgedehntes fruchtbares Gebiet, ausgedehntes Gebirge und Flusslandschaft? Laut V. 8 ist JHWH der Geber des Landes. Die »Tatsache« dieser Gabe ist unumstößlich – sie hängt beispielsweise nicht von menschlichem Wollen oder Verhalten ab (und ist insofern nicht rückgängig zu machen). Sie gründet nach V. 8b auf einem 16 Die Bezeichnung »Amoriter-Berg« wurde wohl literarisch für Dtn 1 geschaffen und »erscheint als eine fast mythologische Größe«, BRAULIK 2011, S. 104, Anm. 59. 17 Vgl. 1 Reg 5,1. Zu den Grenzen dieser Reiche siehe z. B. W. DIETRICH 1997, S. 163–169 (mit Karten). Die »eufratische Landeskonzeption« von Dtn 1,7b findet sich auch noch in Dtn 11,24 und in Jos 1,4, siehe hierzu BRAULIK 2011, S. 138 f.

A. Moses (erste) Worte

55

Schwur JHWHs in der »Urgeschichte Israels«, einem Schwur an die drei Erzväter Abraham, Isaak und Jakob. Dtn 1,9–18 ist ein Rückblick auf die Neuordnung der Führungsstruktur und des Gerichtswesens durch Mose »zu jener Zeit«, also noch am Horeb (V. 9). In dem Rückblick verlautet nichts von einem Gebot oder einem Kommentar JHWHs. Es ging allein um ein Anliegen Moses in eigener Sache: Er konnte die Bürde und die Last, die die IsraelitInnen für ihn sind, sowie ihre Streitigkeiten untereinander nicht mehr alleine tragen (V. 12)18 und schlug eine Neuordnung vor. Das Volk sollte hierzu bekannte Männer präsentieren (V. 13). Das Volk hieß den Vorschlag Moses ausdrücklich gut (V. 14). Mose setzte dann diese Männer als besondere Autoritäten und militärische Führer über das Volk ein (V. 15). Ein Teil dieser Autoritäten sollte als Richter amtieren, Mose wollte nur noch bei schwierigen Fällen eingreifen (V. 16–17). Laut V. 18 gebot Mose zu jener Zeit »all die Worte« (‫)כל הדברים‬, die die IsraelitInnen tun sollen. Zumeist werden in der exegetischen Literatur diese »Worte« als Gottesgesetze gedeutet (Dekalog,19 Gesetze des Bundesbuches,20 deuteronomische Gesetze21). Dagegen spricht vor allem, dass diese Worte nicht als JHWHs Worte (wie z. B. in Ex 24,3) ausgewiesen sind. Zudem hätte der Verweis auf eine Gesetzespromulgation keine Funktion im Erzählkontext (auf die ‫ דברים‬wird nicht weiter eingegangen). So legt sich eine »profane« Deutung näher:22 Die »Worte« bezeichnen summarisch die vorher genannten Anweisungen in Bezug auf die Neuordnung sowie die Anweisungen an die Richter (z. B. ohne Ansehen der Person zu richten, V. 17). Auf den ersten Blick unverständlich ist der Zusammenhang von Dtn 1,6–8 und 1,9–18: Wieso wird die Neuordnung hinter Dtn 1,6–8 platziert bzw. warum wird die Neuordnung in dem Rückblick des Mose überhaupt erwähnt? Was trägt sie für den Erzählfortschritt aus? Der Rückblick auf die Ereignisse in Kadesch Barnea (Dtn 1,19–46) ist zum Teil umständlich und uneindeutig formuliert. Das Volk machte den Vorschlag, vor der Eroberung des Landes Kundschafter auszusenden und Mose hieß diesen Vorschlag ausdrücklich gut. Nach der Rückkehr der Kundschafter erwähnt der dtn Mose zunächst deren positive Rückmeldung (V. 25). An diesem Punkt der rückblickenden Erzählung scheint »alles gut« zu sein. Doch dies ist nicht der Fall. Unvermittelt hält Mose in V. 26–28 die negative Reaktion des Volkes auf die Rückmeldung dagegen. Das Volk »hörte« die Rückmeldung der Kundschafter völlig anders als Mose bzw. gewichtete sie völlig anders (V. 28). Der Unterschied der Perspektiven wird in dem anschließenden Versuch Moses, das Volk zu beruhigen (V. 29–33), noch verstärkt:

18 19 20 21

Zu den drei Nomina in V. 12 siehe PERLITT 1990 ff., S. 65 f. Vgl. z. B. ROSE 1994b, S. 475 f. Vgl. z. B. HECKL 2004, S. 398. Vgl. z. B. SEITZ 1971, S. 9. Nach VEIJOLA 2004, S. 27, sind »all die Gesetze, die Mose selber in Ergänzung zu dem von Jahwe promulgierten Dekalog (4,13; 5,31) dem Volk verkündet«, gemeint. 22 Vgl. auch LOHFINK 2004, S. 254.

56

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Moses Verweis auf positive gemeinsame Gotteserfahrung in den unmittelbar vergangenen Wüstentagen nützte nichts, das Volk »glaubte nicht an JHWH« (V. 32). In der dann zitierten Reaktion JHWHs (V. 34–40) machte JHWH zwischen Volk und Mose keinen Unterschied, Volk und Mose wurden gleichermaßen schuldig gesprochen. In Bezug auf Mose heißt es lapidar: JHWH zürnte ihm »wegen Israel« (V. 37a). Zur Strafe darf er nicht in das verheißene Land ziehen, vielmehr muss er Josua als seinen Nachfolger beauftragen (V. 37b.38). Die Frage drängt sich auf: Worin besteht eigentlich genau die Schuld des Mose? Im ganzen Abschnitt Dtn 1,19–46 verlautet darüber nichts explizit. Einige Exegeten verstehen »wegen Israel« im Sinn einer »Herrscherhaftung«:23 Der an und für sich unschuldige Mose muss für sein Volk mithaften. Dagegen spricht, dass Gott nach der Erzählung durchaus individuell und »gerecht« vergilt: Die Kinder der ungläubigen Generation dürfen in das verheißene Land ziehen (V. 39). Kaleb hing als Einziger JHWH an und wird von der Strafe ausgenommen (V. 36). Aus V. 36 folgt indirekt, dass Mose nicht JHWH anhing. Die Verfasser und Redaktoren der Erzählung gingen also definitiv davon aus, dass Mose auch schuldig wurde. Der Schlüssel zum Verständnis von Moses Schuld liegt m. E. in der Komposition von Dtn 1,6–39 verborgen: a) Am Horeb: Mose zitiert JHWHs Verheißung des Landes an »uns« und sein Gebot, das Land einzunehmen (V. 8) b) Am Horeb: Die eigenständige Entscheidung Moses in Bezug auf die Neuordnung; Reaktion des Volkes: Der Vorschlag ist gut (V. 14) a‘) In Kadesch Barnea: Mose zitiert JHWHs Verheißung des Landes an »uns« und sein Gebot, das Land einzunehmen (V. 21) b‘) In Kadesch Barnea: Die eigenständige Entscheidung des Volkes in Bezug auf die Kundschafter; Reaktion des Mose: Der Vorschlag ist gut (V. 23).

Nach der Anführung der göttlichen Verheißung (V. 8 und V. 21) in Bezug auf das Land verbunden mit dem Gebot, das Land in Besitz zu nehmen, ließen die dtn Autoren und Redaktoren keine adäquaten Reaktionen folgen (und damit erklärt sich die Funktion von Dtn 1,9–18 als Beispielgeschichte im Erzählkontext24): Sie ließen Mose und das Volk sich jeweils um eigene Anliegen kümmern ohne Bezugnahme auf JHWH und seine Verheißung und sein Gebot. Auf diesem Hintergrund ist die Formulierung »JHWH zürnte mir wegen euch« in V. 37 zu verstehen: Israel

23 Vgl. z. B. TASCHNER 2008, S. 214 f. 24 Dass ausgerechnet die Geschichte der Neuordnung am Horeb als »Beispielgeschichte« gewählt wurde, könnte damit zusammenhängen, dass sie sich gut militärisch »akzentuieren« ließ (V. 15) und insofern zu der vorgesehenen »Landeroberung« von Kadesch Barnea aus besonders gut passte. Dtn 1,8–19 ist auf jeden Fall ein wesentlicher Baustein der Erzählung Dtn 1,6–3,29, vgl. insbesondere auch LOHFINK 2004, S. 255. Es kann als sicher gelten, dass die dtn Verfasser und Redaktoren von Dtn 1,9–18 eine ältere, in Ex 18 erhaltene Fassung der Geschichte bearbeiteten, siehe hierzu insbesondere LEVINSON 2005, S. 58–68.

A. Moses (erste) Worte

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wurde für Mose zum »Stolperstein«, und dass es dazu kam, hat er im Grunde selbst zu verantworten.25 Es gibt ein »zu spät«: Der Versuch des Volkes, dem Gebot JHWHs nachträglich gehorsam zu sein und das Land einzunehmen, scheiterte (V. 41–45). Die sündige Exodusgeneration war aus der Verheißung entlassen, sie musste 38 Jahre zurück in die Wüste, um dort zu sterben (vgl. Dtn 2,14). Die dtn Verfasser und Redaktoren ließen Mose für seinen Rückblick auf diese Zeit des Sterbens genau zwei Verse »Erzählzeit«26 (das heißt, dass diese Zeit im Rückblick nicht besonders wichtig war). Interessant ist die Charakterisierung der Zeit des Sterbens: – Es ist eine Zeit ohne Möglichkeit zu religiöser Kommunikation: JHWH hat für die Exodusgeneration kein Ohr mehr (Dtn 1,45b). – Es ist eine Zeit ohne Möglichkeit zum Fortschritt: Nach einer unbestimmt langen Zeit im Lager (Dtn 1,46) folgte eine Zeit des ständigen Kreisens um einen Berg (Dtn 2,1). Eine letzte Bemerkung: Kadesch Barnea steht (auch) für die Durchkreuzung der Pläne JHWHs mit seinem Volk durch sein Volk. Vorgesehen war die Eroberung des Westjordanlandes samt Libanon und Syrien. Vorgesehen war, wie die dtn Autoren und Redaktoren durch die Bemerkung des Bucherzählers in Dtn 1,2 f. der Adressatenschaft angedeutet haben, im Zusammenhang dieser Eroberung auch das Reden des Mose zu Israel. Ergeben hat sich aufgrund des »Unglaubens« der Exodusgeneration (Dtn 1,32) die Rückkehr in die Wüste. 1.2.2 Achtunddreißig Jahre später: Die Eroberung des Ostjordanlandes (2 f.) In Kadesch Barnea durchkreuzte Israel die Pläne JHWHs. Besonders interessant ist, dass, wie Dtn 2 und 3 zeigen, in der Welt des Deuteronomiums auch JHWH nach den Ereignissen von Kadesch Barnea seine Pläne änderte: Ursprünglich sollte, wie das in Dtn 1,6–8 zitierte Wort JHWHs am Horeb belegt, Israel das Westjordanland samt Libanon und Syrien einnehmen. Nach dem Aussterben der Exodusgeneration (Dtn 2,14) musste die nachfolgende Generation zur Eroberung des verheißenen Landes gemäß dem Befehl JHWHs das Ostjordanland einnehmen und verteilen (Dtn 2,2–3,17). Dies geschah, wie die dtn Verfasser und Redaktoren Mose in seinem Rückblick darlegen ließen, mit Erfolg. Für die dtn Adressatenschaft bleibt hier zunächst ein Fragezeichen: Was ist der Sinn dieser strategischen Änderung? 25 Auf Pentateuchebene stellt sich (im Hinblick auf die entsprechenden Aussagen im Buch Num) die Sache noch einmal anders dar, vgl. GEIGER 2010, S. 80: »Für die Leserinnen und Leser des Pentateuchs erweisen sich Moses Deutungsversuche seines Schicksals als subjektive Bewältigungsstrategien eines Charakters, dessen Entwicklung von den Lesenden nachvollzogen werden kann und die am Ende des Dtn von der Erzählstimme ins rechte Licht gerückt wird.« 26 In der Literaturwissenschaft bedeutet Erzählzeit die Zeit, die ein Erzähler zum Erzählen benötigt, vgl. zur Terminologie z. B. RICŒUR 1989, S. 129–136; FLUDERNIK 2008, S. 44–46.172. In der exegetisch-theologischen Literatur wird Erzählzeit in den letzten Jahren im Sinne von »Abfassungszeit« gebraucht. Dieser Sondergebrauch ist irritierend und m. E. besser aufzugeben.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Abb. 4: Die Richter- und frühe Königszeit, Wolfgang Zwickel, Calwer Bibelatlas, Stuttgart 22007, Karte 5 (Ausschnitt)

Die veränderte göttliche Strategie hatte auf jeden Fall erkennbare Konsequenzen für die Rolle des Mose: Nach dem Strafspruch Dtn 1,37 sollte Mose vor der Landnahme sterben. Nun aber durfte er die neue Generation bei der Eroberung des Ostjordanlandes anleiten. Hat also JHWH seine Strafe in Bezug auf Mose zurückgenommen? Der dtn Mose erzählte, dass er eben dies vermutete und JHWH bat, Israel auch in das Westjordanland führen zu dürfen (Dtn 3,23–25). Doch seine Bitte wurde abgelehnt: Nach Gottes Willen muss er definitiv vorher sterben und Josua als seinen Nachfolger beauftragen (3,26–28). Die Inbesitznahme des den Erzvätern eigentlich verheißenen Landes steht am Ende von Dtn 3 noch aus. Die neue Generation ist jetzt aber in der Lage, mit der Inbesitznahme des Westjordanlandes zu beginnen. Zuvor hat der dtn Mose noch einen spezifischen Auftrag zu erfüllen. Er muss jetzt zu Ende bringen, was er schon angefangen hat (mit Dtn 1,6): Er muss weitergeben, was JHWH ihm einst für Israel geboten hat (Dtn 1,3). Der geschichtliche Rückblick des Mose endete in Bet Peor (3,29). Das Tal gegenüber von Bet Peor ist der in der Welt des Deuteronomiums gegenwärtige Aufenthaltsort Israels. Mit Dtn 3,29 ist Mose also wieder in der »Gegenwart«.

A. Moses (erste) Worte

1.3

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Die Konstituierung von Israel als Lerngemeinschaft (4,1–40)

Mit Dtn 4,1 ändert sich der Ton der mosaischen Rede. Mit dem eröffnenden Textdeiktikon »und nun« (‫ )ועתה‬zeigen die Verfasser und Redaktoren an, dass Mose jetzt zum eigentlichen Kern seiner Rede kommt.27 1a Und nun Israel, höre auf die Satzungen und Rechtsvorschriften, die ich euch zu tun lehre.

Mose redet jetzt das vor ihm versammelte Israel an und konstituiert in seiner Anrede Israel als religiöse »Lerngemeinschaft«.28 Gelingendes Lehren und Lernen steht im Zentrum der Redeeinheit 4,1–40: Mose lehrt hier nämlich, wie Dtn 4,1a zeigt, Israel die dtn Gesetze (die »Satzungen und Rechtsvorschriften«) zu tun (‫למד‬ ‫)לעשׂות‬, er lehrt noch nicht die Gesetze selbst: Wenn das Israel in der Welt des Deuteronomiums nicht entsprechend lernt und in Folge dessen (im Land) auf die Gesetze hört, dann wird dies katastrophale Folgen haben, nämlich Dezimierung und Exilierung (Dtn 4,23 f.25–28). Die »Satzungen und Rechtsvorschriften« (‫ – )חקים ומשׁפטים‬eine genuin dtn Bezeichnung für Gesetze29 – werden in Dtn 4,1–40 zwar noch nicht mitgeteilt, dennoch ist über sie einiges zu erfahren: – Sie sind nichts weniger als »Gesetze JHWHs« (‫מצות יהוה‬, Dtn 4,2.40) – Sie sind »Landesgesetze«, sie müssen künftig im von Israel in Besitz zu nehmenden Land gehalten werden (Dtn 4,5.14). – Sie sind der Kern der »heute« von Mose Israel gegebenen Tora (Dtn 4,8). – Sie zeichnen sich im Vergleich zu den Gesetzen anderer Völker durch besondere Gerechtigkeit aus (V. 8). – Sie gehören zur »Sinaigesetzgebung«: Mose erhielt nach der Mitteilung der zehn Gebote (»Bundesgebote«) am Horeb (Dtn 4,10–13) den Befehl zur Lehre (‫)למד‬ der Satzungen und Rechtsvorschriften (Dtn 4,14). Die Bedeutung von Dtn 4,14 ist in der Exegese heftig umstritten, wegen der Implikationen für die Gesamtinterpretation des Deuteronomiums muss darauf näher eingegangen werden: Nach einer einflussreichen These von E. Otto wird in Dtn 4,14 im Unterschied zu Dtn 5,31 das, was Mose zu lehren hat, nicht auf eine Gottesoffenbarung zurückgeführt. Mose hat nach Otto in Dtn 4,14 lediglich den Auftrag zur Lehre von bereits bekannten Gesetzen, nämlich den am Horeb offenbarten Gesetzen des Bundesbuches, bekommen: »Das aber beinhaltet eine grundlegende Uminterpretation nicht nur des mosaischen Amtes, sondern auch 27 Vgl. auch BRAULIK 2002, S. 40. 28 Etwas anders BRAULIK 2002, S. 43: »Die erste Moserede ist für die große Versammlung des Buches Deuteronomium nur die Eröffnungsrede, in der die in V. 5 [!] genannte Lehrsituation konstituiert wird.« 29 Der Doppelausdruck kommt im Tetrateuch nur in Lev 26,46 vor. Dieser Vers ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer »Pentateuchredaktion« im Hinblick auf die dtn Bezeichnung für Gesetze formuliert, vgl. zu der Funktion des Verses insbesondere NIHAN 2007a, S. 551 f.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

des Gesetzes im Deuteronomium. Mose hat in dieser Theorie nicht die Funktion eines Offenbarungsmittlers, der die ihm von JHWH mitgeteilte Gebotsoffenbarung dem Volk vermittelt. Vielmehr rückt Mose in das Amt eines Gesetzeslehrers ein, der im Gesetz des Deuteronomiums die Sinaigesetzgebung für das Volk auslegt.«30 Dtn 4,1–40 wird nach Otto (von einer »Pentateuchredaktion«) »geschickt vor Dtn 5 platziert, so dass es zum hermeneutischen Schlüssel nicht nur für Dtn 5, sondern für den ganzen folgenden Rahmen in Dtn 5–11 und damit für das Gesetz in Dtn 12–26 wird. Alles im Deuteronomium Folgende soll im Horizont von Dtn 4 gelesen werden.«31 Diese Interpretation überzeugt m. E. nicht (weder auf der innerdeuteronomischen Ebene noch auf der des Pentateuchs): Angenommen, die für Dtn 4,1–40 verantwortliche Redaktion hätte hier zum Ausdruck bringen wollen, dass Mose im Deuteronomium lediglich den Auftrag zur Lehre der von JHWH bereits offenbarten und von Mose bereits verschrifteten Gesetze (»Bundesbuch«, vgl. Ex 24,3–8) bekommen hat, dann hätte sie diese »mosaischen« Gesetze wohl kaum unbefangen als Gesetze JHWHs bezeichnet.32 Doch in Dtn 4,2.40 steht unmissverständlich geschrieben: Die dtn Gesetze sind Gesetze JHWHs. Von daher wird ein »Erstleser« von Dtn 4,14 eine direkte göttliche Offenbarung der deuteronomischen Gesetze an Mose bei der Lektüre des Verses nicht ausschließen können. Diesbezüglich besteht einfach eine »Leerstelle«. Der »Erstleser« wird diese »Leerstelle« bei der Lektüre von Dtn 5 füllen: In Dtn 5 wird explizit dargelegt, dass die dtn Gesetze von JHWH Mose am Sinai direkt offenbart wurden (vgl. V. 27–31). So spricht nichts dafür und in narrativer Hinsicht alles dagegen, Dtn 4,14 in (künstlichem) Widerspruch zu Dtn 5 zu verstehen. – Zwischen den Satzungen und Rechtsvorschriften und den Dekaloggeboten muss eine besondere Verbindung bestehen, da Mose Israel am Beispiel des ersten Dekaloggebots (Fremdgötterverbot, incl. Bilderverbot)33 demonstriert (Dtn 4,15– 23), dass die Satzungen und Rechtsvorschriften im Land unbedingt gehalten werden müssen. Aus dem Abschnitt Dtn 4,29–31 geht hervor, dass Dtn 4,1–40 auf eine Adressatenschaft zielte, die in exilischer Zeit im babylonischen Exil lebt (im Land Juda verblieb nach V. 26 f. niemand mehr, d. h. mit einer Adressatenschaft in Juda wird nicht gerechnet): Nach V. 29 f. wird Israel im Exil nach der Katastrophe aus eigener Initiative JHWH suchen und auf »seine Stimme hören«.34 Letzteres bezieht sich vor allem auf das Tun der (von JHWHs Stimme gesprochenen) Dekaloggebote (vgl. V. 12 f.), 30 OTTO 2000, S. 164 f. Die Sichtweise, dass Mose im Deuteronomium vor allem Ausleger von (bereits gegebenen) Gesetzen ist, wird mehrfach vertreten, vgl. z. B. FISHBANE 1985, S. 439 f.; WATTS 1998, S. 424 f.; SKA 2001, S. 351 f.; VEIJOLA 2000a, S. 215 f. 31 OTTO 2000, S. 167. 32 So auch die Kritik von LOHFINK 2003a, S. 194 f., Anm. 47. Siehe auch noch KONKEL 2005, S. 35, Anm. 77. 33 Der Wortlaut des ersten Dekaloggebots findet sich in Dtn 5,7–10. 34 So mit GROSS 1998, S. 30 f., und EHRENREICH 2010, S. 73, gegen die Deutung von V. 30 durch LOHFINK 1998, S. 24 f.

A. Moses (erste) Worte

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die auch außerhalb der Grenzen des verheißenen Landes gelten. Angesichts des Themas der Redeeinheit 4,1–40 war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von den dtn Verfassern und Redaktoren aber auch gemeint: Israel wird (sollte) sich im Exil (wie das Israel in der Welt des Deuteronomiums) als »Lerngemeinschaft« konstituieren, also sich in Bezug auf das Tun der dtn Gesetze belehren lassen (durch den Blick zurück auf die Katastrophe 586 v. Chr.), und die Gesetze dann lernen, um sie in Zukunft im Land zu tun. Dass die dtn Verfasser und Redaktoren von einer Rückkehr in das verheißene Land (von einer erneuten Inbesitznahme des Landes Juda vom Exil aus) ausgingen, impliziert V. 31: JHWH wird für das umkehrende Israel ein barmherziger Gott sein, der an den Väterbund denken wird. Im Zentrum des Väterbundes aber steht die Landverheißung (vgl. Gen 15,18). Mose ist nur im Deuteronomium »Lehrer«, Israel nur im Deuteronomium »Lerngemeinschaft« (das zentrale hebräische Verb für Lehren und Lernen ‫ למד‬wird im Tetrateuch nicht verwendet). Die volle Bedeutung der dtn Lehr- und Lernkonzeption erschließt sich der Adressatenschaft zwar erst im Laufe der weiteren Lektüre des Dtn;35 ein zentraler Punkt wird allerdings bereits in Dtn 4,1–40 deutlich: Auch wenn die dtn Gesetze im Land getan werden sollen, das Lehren und Lernen dieser Gesetze ist an keinen bestimmten Ort gebunden. Lehren und Lernen ist immer und überall möglich, auch außerhalb des Landes Juda (in Moab / im Exil). Im Hinblick auf die im Exil lebende Adressatenschaft erklären sich auch eine Reihe von »Nebenthemen« in der Einheit wie z. B. legitimer »Polytheismus« für die Völker und strikter »Monotheismus« für Israel (Dtn 4,19 f.32–40).36 Hinzuweisen ist schließlich noch auf den Finalsatz Dtn 4,1b. Er steht im Widerspruch zu anderen Aussagen in Dtn 4,1–40 bzw. in der ersten Rede:37 Israel soll auf die Satzungen und Rechtsvorschriften hören (im Zuge des Lernens), damit es ins Land kommen und das Land in Besitz nehmen kann. Doch nach Dtn 4,5.14.25 sind die dtn Gesetze erst im Land zu halten. Nach Dtn 1 sollte Israel von Kadesch Barnea aus das Land in Besitz nehmen; von einer Bedingung, bestimmte Gesetze bereits außerhalb des Landes im Vorfeld der Eroberung zu halten, verlautete nichts.

1.4

Zusammenfassung: 1,6–4,40 als erster Teil der Rechtskraft-Verleihung der dtn Tora

Die Angabe über den Zweck der mosaischen Tätigkeit in Dtn 1,5b bestimmt das Verständnis der ersten Rede. Im Anschluss an die Interpretation des Verbs ‫באר‬ von N. Lohfink und G. Braulik (s. o. zu Dtn 1,5b) ergibt sich, dass die erste Rede als 35 Siehe hierzu insbesondere FINSTERBUSCH 2005. 36 Siehe hierzu insbesondere BRAULIK 2004a; vgl. zum Thema auch noch HARTENSTEIN 2003 (Hartenstein vertritt allerdings eine nachexilische Datierung der Einheit, a. a. O., S. 56). Zum Thema Monotheismus im Deuteronomium siehe noch MACDONALD 2003. 37 V. 1b ist m. E. eine sekundäre Ergänzung, siehe dazu unten im Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 3.2.3.

62

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

erster Teil der Rechtskraft-Verleihung der dtn Tora verstanden werden muss (auf die erste Rede gingen Lohfink und Braulik in ihrem Artikel allerdings nicht weiter ein).38 Zwei Punkte sind vor allem wichtig: Erstens gehört zu dem Prozess der Verleihung von Rechtskraft der Tora in der ersten Rede, dass Mose seinen ZuhörerInnen in der Welt des Deuteronomiums (der ersten Generation nach der Exodusgeneration) noch vor der eigentlichen Bekanntgabe der Tora ermöglicht, die Tora bzw. ihre Bekanntgabe in Raum und Zeit angemessen zu verorten (durch die Erzählung versetzten die dtn Autoren und Redaktoren natürlich zugleich ihre Adressatenschaft in die Lage, dies zu tun). Diese Verortung ist durch die Zusammenschau der beiden Einheiten Dtn 1,6–3,29 und Dtn 4,1–40 auf der narrativen Ebene möglich: Den Auftrag zur Lehre der dtn Gesetze bekam Mose am Horeb (4,14). Da die Gesetze im verheißenen Land zu halten sind (4,5.14.25), ist ihre Promulgation im Zusammenhang mit der Inbesitznahme des Landes zu erwarten. Dies bedeutet, der vermutlich vorgesehene Ort für die Lehre war Kadesch Barnea (oder einer der Orte im eroberten Land) gewesen. Die Inbesitznahme des Landes wurde jedoch durch Israels (und Moses) Ungehorsam vereitelt, die Exodusgeneration musste in der Wüste sterben (Dtn 1). Mose kann folglich erst »verspätet« lehren, nämlich die nachkommende Generation. Der faktische Zeitpunkt der Lehre in der deuteronomischen Welt, der erste Tag des elften Monats im Jahr 40 nach dem Auszug aus Ägypten (Dtn 1,5), ist dabei der spätestmögliche Zeitpunkt der Lehre: Die Inbesitznahme des Ostjordanlandes ist schon erfolgt (Dtn 2 f.), die Inbesitznahme des Westjordanlandes steht unmittelbar bevor (Dtn 4). Israel muss nun schleunigst das »Landesgesetz« kennenlernen. Zudem muss Mose seinen Lehrauftrag noch vor der Inbesitznahme des Westjordanlandes erfüllen, da er in dieses Land nicht ziehen darf und vorher sterben muss (Dtn 1,37; 3,27 f.; 4,21 f.). Von daher erklärt sich auch der Ort der Lehre (Dtn 1,1.5; Dtn 3,29): Das Tal gegenüber von Bet Peor im Land Moab ist die letzte Station Israels vor der Überquerung des Jordans. Zu dem Prozess der Verleihung von Rechtskraft der Tora durch Mose gehört zweitens, dass Mose, bevor er die dtn Gesetze in der zweiten Rede lehrt, zunächst Israel in der Welt des Deuteronomiums als Lerngemeinschaft konstituieren muss (Dtn 4,1–40). Dabei muss Mose dafür sorgen (»lehren zu tun«), dass Israel sofort und unmissverständlich die entscheidende existentielle Dimension dieses Lernens erkennen kann (durch die Erzählung versetzten die dtn Autoren und Redaktoren auch ihre Adressatenschaft in die Lage, diese zu erkennen): Von der Perspektive Moab (und von der Perspektive Exil) aus gesehen, ist dieses Lernen Israels »heute«

38 Dieses Verständnis der ersten Rede ist also bislang noch nicht demonstriert worden. BRAULIK 2002, konzentrierte sich in seinem Artikel zu Dtn 1–4 vor allem auf das Verbalgerüst von Dtn 4,1–40. Vgl. noch die älteren Versuche, Dtn 1–4 auf der synchronen Ebene als Einheit zu analysieren (mit zahlreichen wertvollen Verweisen auf die die Kapitel verbindenden Themen), von POLZIN 1980, S. 29–43, und OLSON 1994, S. 23–39.

A. Moses (erste) Worte

63

nicht nur Teil der Rechtskraft-Verleihung der Tora, sondern auch die Voraussetzung für ein zukünftiges, dauerhaftes Leben im Land. Die erste Rede lässt sich also sinnvoll als erster Teil der »In-Kraft-Setzung der dtn Tora« verstehen. Es bleibt die Frage, warum die dtn Verfasser und Redaktoren sie mit so vielen verkomplizierenden und retardierenden Momenten gestaltet haben. M. E. wollten sie dadurch nicht zuletzt ihrer historischen exilischen Adressatenschaft die Identifikation mit dem Israel in der Welt des Deuteronomiums leicht machen: Das Exil ist ja in gewissem Sinne auch eine besondere Verkomplizierung und Retardierung in der Geschichte Israels (ihrer Meinung nach aufgrund der Schuld einer bestimmten Generation, der »Vätergeneration«, vgl. insbesondere noch MT Jer 31,19 und Ez 18,239).

2.

Diachrone Textbetrachtungen

Die beiden Teile der ersten Rede, 1,6–3,29 und 4,1–40, werden in der exegetischen Literatur auf der diachronen Ebene fast ausnahmslos getrennt betrachtet.40 Zunächst zu 1,6–3,29.

2.1

Sekundäre Hinzufügung von 1,6–3,29 zu einer selbstständigen Komposition Deuteronomium?

An der Aufgabe, die Funktion von Dtn 1,6–3,29 und ihren literarhistorischen Ort zu bestimmen, scheiden sich die Geister.41 Dies hängt mit der »Vieldimensionalität« der Kapitel zusammen, die L. Perlitt zutreffend wie folgt beschrieben hat: a) Es gibt hier keinen erzählenden Stoff ohne Parallele in Num. b) Es gibt keine geographische Angabe (und in ihrer Gesamtheit bilden diese das 39 Siehe hierzu auch OTTO 2008, S. 413. 40 Klassisch z. B. VEIJOLA 2004, S. 96: »Sie [die Moserede Dtn 4,1–40] bildet eine Einheit für sich, die weder mit dem vorangehenden historischen Prolog noch mit der nachfolgenden Gesetzesverkündigung in ursprünglicher Verbindung steht.« Siehe auch DERS. 1988. 41 Siehe hierzu insbesondere den Forschungsüberblick von OTTO 2008, S. 285–301. Nach OTTO 2000, S. 301, wird in Dtn 1,6–3,29 Mose im Land Moab insofern eine Bühne bereitet, »als es einer Erklärung bedarf, inwiefern zwei Bundesschlüsse nebeneinander im Deuteronomium stehen, die nicht nur geographisch, sondern vor allem in ihren Autoritätsansprüchen differenziert werden sollen, indem die ›erste Generation‹ gescheitert sei, nunmehr also der Bundesschluss für die ›zweite Generation‹ in Dtn 29 die Autorität des Horebbundes übernehmen soll.« Diese Sichtweise ist nicht überzeugend: In der Welt des Deuteronomiums sollte ohne Zweifel der ersten Generation das dtn Gesetz promulgiert werden und mit ihr sollte auch der Bund in Bezug auf das dtn Gesetz bei der Landnahme geschlossen werden (und zwar zusätzlich zu dem Horebbund). M. E. sind Ottos Thesen in Bezug auf das Verhältnis von Horeb- und Moabbund im Dtn (bzw. seine Thesen zu der dtr Horebredaktion und der dtr Moabredaktion) nicht plausibel, siehe auch unten die entsprechenden Anmerkungen zu Dtn 28,69.

64

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

historisch-geographische Rückgrat des Textes) ohne Parallele, Fortsetzung oder Zusammenfassung in Jos (und Ri). c) Es gibt hier kaum ein theologisches Motiv ohne Bezug zum Kern des Dtn.42 Eine einflussreiche These zu Dtn 1–3 hat 1943 M. Noth aufgestellt: »Denn wenn man mit dem Gedanken an das große selbstständige Geschichtswerk von Dtr [dem deuteronomistischen Autor]43 die sogenannten Einleitungsreden des deuteronomischen Gesetzes genauer ins Auge fasst, so zeigt sich schnell und überzeugend, dass die erste dieser Einleitungsreden […] gar keine spezielle Beziehung zum deuteronomischen Gesetze, wohl aber ein ganz unmittelbares Verhältnis zum deuteronomistischen Geschichtswerk hat. Daraus ergibt sich der Schluß, daß wir es in Dtn. 1–3 (4) nicht mit einer Einleitungsrede zum deuteronomischen Gesetz, sondern mit dem Eingang des deuteronomistischen Geschichtswerkes [Jos – 2 Reg] zu tun haben, daß dieses letztere also mit Dtn 1,1 beginnt. Im einzelnen spricht dafür schon die Tatsache, daß Dtn. 31,1 ff., also der Beginn der Erzählung von Dtr nach der Mitteilung von Dt [dem deuteronomischen Gesetz] und dessen paränetischen Rahmenstücken, dem Wortlaut und der Sache nach unmittelbar an Dtn. 3,23– 29 anknüpft, also – wenn wir von dem besonderen Stück Dtn. 4,1–40 (41–43) absehen – an das Ende des Eingangsstücks von Dtr vor der Mitteilung von Dt mit Rahmenstücken.«44

Nach Noth hat also ein »deuteronomistischer Autor« Dtn 1–3 als Einleitungsstück für sein »deuteronomistisches Geschichtswerk« (also unabhängig von dem »ursprünglichen« Deuteronomium) verfasst; das ältere »deuteronomische Gesetz« hat dieser Autor »im wesentlichen bereits in der Form, in der es uns heute in Dtn 4,44– 30,20 vorliegt«, sekundär übernommen.45 Noths These wurde vielfach kritisiert (ein berechtigter Kritikpunkt ist angesichts uneinheitlicher »deuteronomistischer« Texte in den Büchern Jos – 2 Reg z. B. die Annahme eines individuellen Autors) bis hin zur gänzlichen Bestreitung der Existenz eines »deuteronomistischen Geschichtswerkes«.46 »Vom Tisch« ist Noths These aber keineswegs. In modifizierter Form vertritt sie derzeit T. Römer:47 Er verweist u. a. auf signifikante sprachliche und inhaltliche Zusammenhänge zwischen 42 43 44 45

PERLITT 1985, S. 117. Zu den von Noth verwendeten Siglen siehe NOTH 1957, S. 3 und S. 4, Anm. 1. NOTH 1957, S. 14. Vgl. NOTH 1957, S. 16. Noth datierte sein deuteronomistisches Geschichtswerk in die exilische Zeit, und zwar um die Mitte des 6. Jh. v. Chr.: Die Schlussbemerkung 2 Reg 25,27–30 betrifft ein in das Jahr 562 v. Chr. fallendes Ereignis, das nach Noth einen festen terminus a quo für die zeitliche Ansetzung von Dtr gibt. Noth sah weder einen Grund, »wesentlich unter diesen terminus a quo herabzugehen«, noch einen Grund dafür, diesen terminus a quo »nur für eine zweite ›deuteronomistische Bearbeitung‹ und nicht vielmehr für das Gesamtwerk Dtr gelten zu lassen« (a. a. O., S. 12). Eine besonders einflussreiche (und m. E. überzeugende) Modifikation der These Noths legte CROSS 1973, vor (nach Cross gab es eine vorexilische joschijanische Ausgabe Dtr 1 und eine exilische Ausgabe Dtr 2). 46 Zu Letzterem z. B. KRATZ 2000, S. 219; KNAUF 1996, S. 409–418. Eine sehr gute Übersicht über die Diskussion bietet FREVEL 2004, S. 60–95. 47 RÖMER 2006. Eine Modifizierung der Nothschen These hat vor rund 30 Jahren auch LOHFINK 1981, vorgelegt. Nach Lohfink gibt es ein Darstellungsgefüge, das von Dtn 1 bis Jos 22 reicht. Lohfink nannte diese Erzählung DtrL (»deuteronomistische Landeroberungserzählung«), s. o. in Teil II. FAK-

A. Moses (erste) Worte

65

Texten in Dtn 1–3, weiteren Texten in den folgenden Kapitel des Dtn und Texten in Jos – 2 Reg, und bekräftigt die These Noths, dass Dtn 1–3 als Einleitung konzipiert wurde.48 Im Hinblick auf die Parallelen von Dtn 1–3 im Buch Numeri äußerte sich Römer wie folgt: »Es bleibt natürlich die Frage nach der Herkunft oder nach eventuellen Vorlagen für Dtn 1–3 (und den nicht-priesterlichen Numeritexten) und es ist durchaus nicht auszuschließen, dass einige Num- und Dtn-Texte auf eine gemeinsame Tradition zurückgreifen, welche jedoch kaum [z. B. aufgrund von Widersprüchen] den im jetzigen Numeribuch vorliegenden Texten entsprechen würden.«49

Eine Gegenposition vertritt J. Gertz:50 Für Gertz hat Dtn 1–3 nicht die Funktion einer Einleitung, er erkennt hier keinen Neuanfang eines Literaturwerkes. Vielmehr lässt sich Dtn 1–3 nach Gertz angemessen als eine Relecture der vorangehenden Erzählungen von der Wüstenwanderung beschreiben; die Aufgabe von Dtn 1–3 bestand »von Anfang an darin […], das Dtn fest in einen zumindest vom Exodus bis Josua reichenden, nichtpriesterlichen Erzählablauf zu integrieren.«51 Auf Pentateuchebene wird nach Gertz »der Eindruck einer störenden Wiederholung des Erzählverlaufs durch Dtn 1–3 allein schon durch die Stilisierung der Kapitel als erinnernde Rede des Mose innerhalb der Erzählung des Buches durchbrochen: Im Verlauf der Pentateucherzählung stellt der anonyme Erzähler im Numeribuch zunächst die Ereignisse auf der Wüstenwanderung dar, um dann in Dtn 1–3 von einer Rede des Mose zu berichten, in der dieser auf eben diese Ereignisse deutend zu sprechen kommt. So erinnert innerhalb der Buchwelt der zitierte Mose seine Zuhörer an Dinge, die er mit ihnen gemeinsam erlebt hat. Auf diese Weise deutet Mose, so der Bucherzähler, seinen Zuhörern ihre Geschichte.«52

Gertz hat eine Möglichkeit beschrieben, wie eine Pentateuchleserschaft Dtn 1–3 nach der Lektüre von Num verstehen kann. Anders formuliert: Auf Pentateuchebene funktioniert Dtn 1–3 zweifellos als Verbindung zwischen Tetrateuch und Deuteronomium. Doch sprechen gewichtige Gründe dagegen, dass dies die Intention war, mit der Dtn 1–3 verfasst wurde (diesfalls müsste man von einer sekundären Vorschaltung der Kapitel Dtn 1–3 zu dem dieser Redaktion vorliegenden Deuteronomium ausgehen): – Dagegen sprechen deutliche Unterschiede zwischen den Versionen der gemeinsamen Erzählungen in Dtn 1–3 und Num, die keinen Sinn machen, wenn Dtn 1– FRAGEN, 2.1.4. Der Erzählzusammenhang ist nach Lohfink einheitlich und deutlich deuteronomistisch geprägt. Vgl. auch VEIJOLA 1988, S. 252 f.; BLUM 2007, S. 90 ff. RÖMER 2006, S. 53. GERTZ 2006. Vgl. auch HECKL 2004, S. 446 f. Jüngst hat Heckl seine Position korrigiert, vgl. DERS. 2010, S. 361, Anm. 20. GERTZ 2006, S. 104 f. GERTZ 2006, S. 112 f. Auch nach dem Urteil von SCHMID 2004, S. 209, bietet das Dtn »keinen sachlich suffizienten Erzählanfang«. TEN UND OFFENE

48 49 50 51 52

66

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

3 als »Überleitungsstück« Stoff aus Num rekapitulieren sollte. Beispielsweise versuchen in Num 14 Josua und Kaleb in Kadesch Barnea, das Volk zu beruhigen, nach Dtn 1,29–31 macht diesen Versuch Mose selbst. – Dagegen spricht vor allem auch die Stoffauswahl in Dtn 1–3: Warum hätten sich die Autoren und Redaktoren bei der Schaffung eines Überleitungsstücks, das das dtn Gesetz in einen vorliegenden Zusammenhang Ex bis Jos (Reg) integrieren sollte, ausgerechnet auf die Ereignisse in Kadesch Barnea und die beiden Kriege im Ostjordanland konzentrieren sollen?53 So spricht mehr für die These, dass Dtn 1–3 als ein ohne besonderes »Vorwissen« verständliches Einleitungsstück konzipiert wurde (gerechnet wird lediglich mit elementaren Kenntnissen, z. B. in Bezug auf Mose, die Erzeltern oder den Horeb). Nun zu Dtn 4,1–40.

2.2

Sekundäre Hinzufügung von 4,1–40?

T. Veijola schrieb zu Dtn 4,1–40 in seinem Kommentar: »Von dem methodischen Ansatz her, dem dieser Kommentar verpflichtet ist, erscheint es unmöglich, einen so heterogenen und wiederholungsreichen Text wie 4,1–40 als eine ursprüngliche literarische Einheit zu fassen.«54 Doch die Anzahl der Exegeten, die für die literarische Einheitlichkeit des Abschnitts plädieren, wächst;55 m. E. ist lediglich Dtn 4,1b einer späteren spezifischen »Redaktion« zuzuweisen.56 Damit ist freilich die Frage nach der Entstehung des Abschnitts 4,1*–40 noch nicht beantwortet. Die »klassische« Trennung von Dtn 4,1–40 und Dtn 1,6–3,2957 ist synchron nicht sinnvoll (Dtn 1,6–3,29 ist synchron nur mit Dtn 4,1–40 verständlich und umgekehrt) und diachron nicht alternativlos. Gegen die häufiger vertretene These, dass Dtn 4,1–40 als Ganzes durch eine nachexilische Redaktion / »Pentateuchredaktion« (siehe z. B. die oben in Punkt 1.3 referierte These von E. Otto)58 sekundär ein53 Vgl. auch RÖMER 2006, S. 51. 54 VEIJOLA 2004, S. 97. Unter denjenigen, die Dtn 4,1–40 als literarkritisch nicht einheitlich beurteilen, gehen die Meinungen in Bezug auf die einzelnen Verse extrem weit auseinander, vgl. nur die Analysen von Dtn 4,1–40 in den Kommentaren von ROSE, NIELSEN, VEIJOLA und RÜTERSWÖRDEN sowie in der Monographie von KNAPP 1987. 55 Vgl. z. B. LEVENSON 1975; BRAULIK 1978; MAYES 1981; HARTENSTEIN 2003, S. 56 (Hartenstein beurteilte unter Bezugnahme auf die Analysen Brauliks den Abschnitt als »[weitgehend] einheitlich«), und die Exegeten, die Dtn 4,1–40 einer »Pentateuchredaktion« zuweisen, siehe dazu drei Anm. weiter unten. 56 Siehe hierzu im Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 3.2.3. 57 M. E. lassen sich auch in Dtn 1,6–3,29 Bearbeitungsspuren schwer nachweisen. Nach HECKL 2004, sind die Kapitel mit Ausnahme der sog. »antiquarischen Notizen« literarisch weitgehend einheitlich. Auch Lohfinks synchrone Analyse der Kapitel spricht eher für literarische Einheitlichkeit, vgl. LOHFINK 2000. Wie eine »Harmonisierung« mit Tetrateuchtexten aussah, zeigt z. B. der Sam. 58 Dtn 4,1–40 wird auch noch von KRÜGER 2000, und SCHMID 1999, S. 164 f., Anm. 660, einer »Pentateuchredaktion« zugewiesen. – Die Berührungen mit p Texten und Texten aus Dtjes in Dtn 4,1–40

B. Intermezzo: Moses Einrichtung der Asylstädte

67

gefügt wurde, spricht jedenfalls, dass die Abfolge Dtn 1–3 – Dtn 5 wenig plausibel wäre (der Rückblick in Dtn 1–3 würde völlig in der Luft hängen).59 M. E. sollte eine intentionale Komposition von Dtn 1,6–3,29 und 4,1*–40 als Einleitungsstück (»erste Rede«) samt der Bucheinleitung Dtn 1,1–5 (insbesondere samt Leseanweisung für die erste Rede, Dtn 1,5) bereits in der Entstehungsphase der (exilischen) Komposition Deuteronomium ernsthaft bedacht werden. Dies schließt nicht aus, dass die dtn Autoren und Redaktoren ältere Textbausteine verwendet haben (beispielsweise Elemente einer vorexilischen »deuteronomistischen Landeroberungserzählung«, was die Verbindung mit Texten des Josuabuchs erklären kann).

B. Intermezzo: Die Erzählnotiz über Moses Einrichtung der Asylstädte im Ostjordanland (4,41–43) Nach der ersten Rede des Mose (Dtn 1,6–4,40) folgt im Deuteronomium eine drei Verse umfassende Notiz des Bucherzählers über Moses Einrichtung von drei Asylstädten in dem von Israel bereits eroberten Ostjordanland. Die Platzierung von Dtn 4,41–43 nach dem Rückblick auf die erfolgreiche Eroberung des Ostjordanlandes in Dtn 2 f. ist nachvollziehbar. »Damals« (‫ )אז‬in V. 41 meint »im Zusammenhang mit der Eroberung des Ostjordanlands« (nicht: »nach der ersten Rede«). Eingerichtet hat der dtn Mose nach V. 43 die Städte Bezer für den Stamm Ruben, Ramot für den Stamm Gad und Golan für den Halbstamm Manasse. Von Bezer wird in der Hebräischen Bibel ebenso wenig wie von Golan Näheres berichtet; allein Ramot wird gelegentlich in Erzählungen erwähnt (aber nicht als Asylstadt).60 Wo haben sich die dtn Verfasser und Redaktoren die Lage dieser Städte gedacht? W. Zwickel hat versucht, auf einer Karte (s. nächste Seite) die Vorstellungen über einige Orte im Zusammenhang der Eroberung von Ost- und Westjordanland wiederzugeben und dabei auch Ramot und Golan (nicht Bezer) berücksichtigt. Bezer könnte im südlichen »Stammesgebiet« von Ruben verortet worden sein; die Stadt ist jedenfalls in der moabitischen Mescha-Inschrift erwähnt in Verbindung mit Dibon und dem Arnon. Das Thema »Asylstädte« wird in der zweiten Rede des Mose (Dtn 5,1b–26,16) aufgegriffen, insofern Dtn 12,1–26,16 auch ein Gesetz über die Einrichtung von Asylstädten enthalten ist (Dtn 19,1–13). Nach diesem Gesetz soll sich Israel drei Asylstädte im Westjordanland einrichten (und im Fall, dass JHWH das Land erweitern wird, nochmals drei Städte). In der Welt des Deuteronomiums sind also insgesamt neun Asylstädte vorgesehen. deuten nicht notwendig auf literarische Abhängigkeit und begründen nicht zwingend eine nachexilische Datierung der Einheit, vgl. auch BRAULIK 1989a, S. 37. 59 Vgl. z. B. auch MACDONALD 2006, S. 209 f. 60 Siehe hierzu im Einzelnen PERLITT 1990 ff., S. 384 f.

68

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Abb. 5: Das Stämmesystem in Israel nach Josua 13–21, Wolfgang Zwickel, Calwer Bibelatlas, Stuttgart 2 2007, Karte 4 (Ausschnitt)

C. Moses Vorlegen der Tora

69

Die Einrichtung von Asylstädten ist auch in Num 35,9–15 Thema:61 Nach der Weisung JHWHs soll Israel, wenn es über den Jordan gezogen sein wird, sechs Asylstädte einrichten, drei jenseits und drei diesseits des Jordans. Laut der Ausführungserzählung in Jos 20,1–9 (mit signifikanten Unterschieden zwischen MT und LXX62) hat Israel tatsächlich so gehandelt. Dtn 4,41–43 ist mit dieser Tradition insofern nicht kompatibel, als hier Mose die drei Städte Bezer, Ramot und Golan (die namentlich auch in Jos 20,8 genannt werden) im Ostjordanland eingerichtet hat. Dtn 4,41–43 ist also sozusagen »deuteronomisches Sondergut«. »Sondergut« ist auch die Bestimmung im dtn Gesetz, bei Erweiterung des Landes zusätzlich zu den drei Asylstädten im Westjordanland drei weitere Asylstädte einzurichten (vgl. Dtn 19,8–10, s. u. zur Stelle). Die Erzählnotiz Dtn 4,41–43 wirft quasi abrupt aus der mosaischen Rede hinaus und sie führt weg von dem Thema der Rechtskraft-Verleihung der Tora. Die Frage ist, warum die Erzählnotiz hier platziert wurde: Die Einrichtung der Asylstädte hätte Mose auch in seinem Rückblick in Dtn 3 in den Mund gelegt werden können. Wollten die dtn Verfasser und Redaktoren durch diesen die beiden ersten Redeeinheiten des Mose trennenden »Einschub« erreichen, dass die Adressatenschaft die erste und zweite Rede mit wünschenswerter Deutlichkeit als eigenständige Einheiten wahrnehmen kann?

C. Moses Vorlegen der Tora (4,44–26,16) Nach der Überschrift des Bucherzählers (Dtn 4,44–5,1a) folgt die zweite Rede des Mose (Dtn 5,1b–26,16). Sie macht in Bezug auf den Textumfang den Großteil des Buches Deuteronomium aus. Der erste Teil Dtn 5,1b–33 besteht im Wesentlichen aus einem Rückblick des Mose auf die Horeb-Ereignisse. Der Rückblick bietet eine »Ätiologie« des dtn Gesetzes und des diesbezüglichen mosaischen Lehrauftrags. In Dtn 6,1–26,16 erfüllt Mose diesen Lehrauftrag. Dtn 6,1–26,16 kann nochmals untergliedert werden in zwei Teile: Dtn 6,1–11,32 enthalten Lehrreden des Mose bezüglich der dtn Gesetze; Dtn 12,1–26,16 ist Moses Lehre der dtn Gesetze. Aufgrund des außerordentlichen Umfangs der zweiten Rede erfolgen die synchronen und diachronen Textbetrachtungen abschnittsweise.

61 Einen guten Überblick über die verschiedenen Forschungspositionen zur Bestimmung des literargeschichtlichen Verhältnisses von dtn und priesterlichen Asyl-Gesetzen bietet STACKERT 2007, S. 58–61. Zum Thema Asyl im Alten Orient vgl. insbesondere Ch. DIETRICH 2008. 62 Siehe hierzu STACKERT a. a. O., S. 96–111.

70

1. 1.1 1.2

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Überschrift des Bucherzählers (4,44–5,1a) Synchrone Textbetrachtungen Diachrone Textbetrachtungen

2. 2.1 2.2 2.2.1

Moses Rückblick auf die Horeb-Ereignisse (5,1b–31) Synchrone Textbetrachtungen Diachrone Textbetrachtungen Vermittelte Dekalogverkündigung in 5,5: Hermeneutischer Kompromiss einer »Pentateuchredaktion« 2.2.2 Der Dekalog als externer Textbaustein in 5 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2 3.2.1

Moses Lehre bezüglich der dtn Gesetze (6–11) Synchrone Textbetrachtungen Die erste Lehrrede (6,1–7,11) Die zweite Lehrrede (7,12–8,20) Die dritte Lehrrede (9,1–10,11) Die vierte Lehrrede (10,12–11,32) Diachrone Textbetrachtungen Methoden der Textbearbeitung: Doppelüberlieferung eines Teils des »Schema Israel« in 6,6–9 und 11,18–20 3.2.2 Kritische Interpretation: Der Dekalogtext 5,9 f. und die Ergänzung 7,9 f. 3.2.3 Veränderte Botschaft: Indiz für das Werk einer Redaktion 3.2.4 Indiz für Textwachstum in 7: Der »Anhang« 7,17–26 4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.1.8 4.1.9 4.1.10 4.1.11 4.2 4.2.1 4.2.2

Moses Lehre der dtn Gesetze (12,1–26,16) Synchrone Textbetrachtungen Überschrift mit Paränese (12,1) Einleitungstext: Gesetze zur Schaffung der Voraussetzung für die Konzentration auf eine Kultstätte für Opfer und Abgaben (12,2–7) Gesetze zum Themenbereich »(Kultische) Verehrung JHWHs im zentralen Heiligtum im Unterschied zu anderen Völkern« (12,8–14,21) Gesetze zum Themenbereich »Religiöser Zeit- und Festrhythmus in Israel« (14,22–16,17) Gesetze zum Themenbereich »Zentrale Autoritäten in Israel« (16,18–18,22) Gesetze zum Themenbereich »Totschlag, Mord, (legitime) Tötung« (19–21) Gesetze zum Themenbereich »Gefährdung und Sicherung von personaler Identität und von Gemeinschaften« (22,1–23,15) Gesetze zum Themenbereich »Verluste von Menschen und Dingen« (23,16–24,7) Gesetze zum Themenbereich »Ausbeutung und Ausnutzung von Armen, Schwachen und Unterlegenen« (24,8–25,16) Ausleitungstext: Gesetze zum Sprechen von liturgischen Texten im zentralen Heiligtum bei der Ausführung dtn Gesetze in Bezug auf Opfer und Abgaben (26,1–15) Abschluss mit Paränese (26,16) Diachrone Textbetrachtungen Redundanzen und schroffe Fügungen: Textwachstum in 12 Fortschreibungen im dtn Gesetz am Beispiel von 13,1–12

C. Moses Vorlegen der Tora

1.

Überschrift des Bucherzählers (4,44–5,1a)

1.1

Synchrone Textbetrachtungen

71

Die Überschrift des Bucherzählers über die zweite Rede ist ein komplexes Gebilde. Sie soll zunächst übersetzt werden: 44 45

Und dies ist die Tora, die Mose den Kindern Israels vorgelegt hat. Dies sind die Vorschriften, die Satzungen und die Rechtsvorschriften, die Mose den Kindern Israels mitteilte bei ihrem Auszug aus Ägypten. 46 (Und zwar) jenseits des Jordans, im Tal gegenüber Bet-Peor, im Land Sichons, des Königs der Amoriter, der in Heschbon saß, den geschlagen hatte Mose und die Kinder Israels bei ihrem Auszug aus Ägypten, 47 und dessen Land sie in Besitz genommen hatten, und (zudem) das Land Ogs, des Königs von Baschan; (das Land) der zwei Amoriterkönige jenseits des Jordans, nach Sonnenaufgang hin, 48 (nämlich) von Aroer am Rand des Arnontals bis zum Gebirge Sion, das ist der Hermon, 49 und die ganze Araba jenseits des Jordans nach Osten hin und bis zum Meer der Araba unterhalb der Steilhänge des Pisga. 5,1a Und Mose berief ganz Israel und sagte zu ihnen:

Der Text beginnt mit einer doppelten Überschrift: Nach V. 44 legt Mose Israel im Folgenden (also in der zweiten Rede) die Tora (zur Entscheidung) vor (‫ שׂים‬q.). ׂ ‫»( הע‬Vorschriften«) und ‫החקים והמשׁפטים‬ Nach V. 45 teilt Mose ihnen ‫דת‬ (»Satzungen und Rechtsvorschriften«) mit (‫ דבר‬pi.). Die Bedeutung von ‫דת‬ ׂ ‫( ע‬im ׂ ‫ הע‬und ‫החקים‬ Dtn nur noch in Dtn 6,17.20) sowie das Verhältnis von ‫דת‬ ‫ והמשׁפטים‬sind nicht einfach zu bestimmen. Vertreten werden zwei Deutungen: a) Der Begriff ‫דת‬ ׂ ‫ ע‬bezieht sich auf den (in Dtn 5 von dem dtn Mose wiederholten) Dekalog;63 der Doppelausdruck ‫ החקים והמשׁפטים‬schließt sich daran an und zeigt eine besondere Verbindung zwischen Dekalog und dtn Gesetzen. Gegen diese Deutung spricht die Verwendung des (im Dtn selten gebrauchten) Promulgationsverbs ‫ דבר‬in V. 45b: Die Dekaloggebote hat nach Dtn 5,4.22 ausschließlich JHWH »gesprochen« (‫ דבר‬pi.) – Mose zitiert sie in der dtn Welt nur; nach Dtn 5,1 hat Mose in der dtn Welt lediglich die dtn Gesetze »gesprochen« (‫דבר‬ q.). b) Alle drei Gesetzesbegriffe beziehen sich auf die dtn Gesetze: Der typisch dtn Doppelausdruck für die dtn Gesetze »Satzungen und Rechtsvorschriften« ist als Apposition zu dem ersten Gesetzesbegriff zu verstehen.64 Diese Deutung ist m. E. 63 So z. B. NIELSEN 1995, S. 68, und VEIJOLA 2004, S. 123. Ein Bezug des Nomens ‫ עדת‬auf den Dekalog ist aus anderen (p) Zusammenhängen bekannt: In Ex 31,18 z. B. werden die Dekalogtafeln ‫לחת העדת‬ genannt. 64 So z. B. LOHFINK 1991a, S. 170. Nach Lohfink ist ‫ עדת‬die älteste (aus joschijanischer Zeit stammende) Bezeichnung des dtn Gesetzes (die es charakterisiert als Eid / Vertrag oder alternativ als Lehre). Eine

72

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

möglich, verwunderlich ist allerdings die hervorgehobene Position des im Dtn nur selten vorkommenden Nomens ‫דת‬ ׂ ‫ע‬. In jedem Fall lassen sich V. 44 und V. 45 im Sinne einer allgemeinen und einer spezifischen Überschrift verstehen. Die Tora (V. 44) bezeichnet die gesamte zweite Rede des Mose (also Dtn 5,1b–26,16). M. E. bezeichnen alle drei Begriffe »Vorschriften, Satzungen und Rechtsvorschriften« (V. 45) den besonderen Inhalt der zweiten Rede und entsprechend besondere Texte (nämlich Dtn 12,1–26,16). Nach V. 45b fand die Promulgation der Gesetze »bei ihrem Auszug aus Ägypten« (‫ )בצאתם ממצרים‬statt: Die von Mose angeredeten IsraelitInnen befinden sich nach dem Bucherzähler also immer noch in der »Auszugsepoche«, sie sind noch nicht »angekommen«. Diese Sichtweise ist bemerkenswert, denn die IsraelitInnen haben ja bereits das Ostjordanland eingenommen. Warum wurde also nicht formuliert: »bei ihrer Inbesitznahme des Landes«? Möglicherweise war dies der Perspektive einer exilischen Adressatenschaft geschuldet (die sich mit einem Israel in der »Auszugsepoche« wesentlich besser identifizieren konnte). In V. 46a wird der Ort des Geschehens in Aufnahme der Angaben von Dtn 1,1 und 3,29 genau bestimmt: jenseits des Jordans bei Bet Peor. Die Zeitangabe »bei ihrem Auszug aus Ägypten« (‫ )בצאתם ממצרים‬findet sich in V. 46b erneut. Diese Angabe erscheint nach V. 45 tautologisch. V. 47–49 sind ergänzende Bemerkungen über die Inbesitznahme des den Königen Sichon und Og ursprünglich gehörenden Ostjordanlandes und über den Umfang dieses Landes. Die Orts- und Zeitangaben in V. 46–49 bieten im Wesentlichen eine Zusammenfassung des in Dtn 1–3 Dargelegten. In Dtn 5,1a wird von der Einberufung Israels gesprochen. Dies ist wohl nicht als neuer Vorgang zu deuten (sonst müsste angenommen werden, dass Israel nach 4,40 auseinander gegangen wäre), sondern als Fortsetzung der Moserede zu dem in Moab schon versammelten Israel, das in Dtn 4,1 als Lerngemeinschaft konstituiert wurde. Durch die Formulierung in 5,1a wird unterstrichen, dass ganz Israel in der Welt des Deuteronomiums zum Hören der Tora formell vor Mose versammelt ist (vgl. noch Dtn 29,1a). Die dtn Verfasser und Redaktoren haben der Adressatenschaft, bevor sie den Toratext selbst kennenlernt (Dtn 5,1b–26,16), durch die Überschrift des Bucherzählers sozusagen noch einmal Raum und Zeit der deuteronomischen Welt und die Situation Israels in der deuteronomischen Welt (Israel ist immer noch in der »Auszugsepoche«) vor Augen geführt.

der Schwierigkeiten dieser Auffassung ist, dass Lohfink nicht erklären kann, warum dieses Nomen »aus der Sprache des Dtn [verschwand], nachdem es ursprünglich seine einzige Bezeichnung gewesen war«, a. a. O., S. 173.

C. Moses Vorlegen der Tora

1.2

73

Diachrone Textbetrachtungen

Intensiv diskutiert wird in der exegetischen Literatur vor allem das im Dtn ungewöhnliche Phänomen der doppelten Überschrift in V. 44 und V. 45. Mehrheitlich werden die Verse verschiedenen Redaktionsstufen zugeordnet, die Entscheidung hängt u. a. mit der Einschätzung zusammen, inwieweit die Gesetzesbegriffe »Tora« und »Satzungen und Rechtsvorschriften« als genuin deuteronomisch oder als »spät« einzustufen sind. Nach Perlitt wurde »Tora« erst spät in die Rahmentexte des Dtn eingeführt, »so daß also V. 44 einfach vor V. 45 gesetzt wurde – erstaunlich unbekümmert um Stil und Stimmigkeit der Titelei«65. Nach Veijola handelt es sich bei V. 45* wegen des absoluten Einsatzes des Verses »wahrscheinlich um die älteste Überschrift des Dtn, das die Deuteronomisten vorfanden und mit dem historischen Prolog Dtn 1–3(4) versahen«.66 Sollte diese (von der Mehrheit der Exegeten derzeit geteilte67) Hypothese in Bezug auf die Textgenese zutreffen, würde dies bedeuten, dass »bereits das Ur-Dtn als Rede des Mose stilisiert war, die dieser nach dem Auszug aus Ägypten hielt und deren Inhalt ›die Satzungen und Rechte‹ waren.«68 Nach Nielsen hingegen gehört Dtn 4,44 zusammen »mit 1,1b.2.5* und 27,1–8* einer vor-dt Schicht an […]. Die neue Überschrift, V. 45, ist durch die von Dtr vorgenommene Einschaltung des Dekalog-Kapitels veranlasst«69. M. E. könnte für die Sichtweise einer späteren (spezifizierenden) Hinzufügung (aber wie viel »später«?) von V. 45 in einen vorgegebenen Zusammenhang von V. 44.46 sprechen, dass sie die auffällige Doppelung der Zeitangabe in V. 45b und 46b (»bei ihrem Auszug aus Ägypten«) erklären kann: Durch V. 45 sollte quasi nachträglich betont werden, dass sich Israel bei der Promulgation der dtn Gesetze trotz der bereits erfolgten Eroberung des Ostjordanlandes noch in der »Auszugsepoche« befindet. Nimmt man hingegen an, dass V. 46 im Anschluss an V. 45 fortgeschrieben wurde, bliebe undeutlich, warum die Zeitangabe aus V. 45 wiederholt wurde (denn dass die ostjordanischen Könige im Zusammenhang des »Auszugs« geschlagen wurden, wäre nach V. 45 selbstredend gewesen).

65 PERLITT 1990 ff., S. 390. 66 VEIJOLA 2004, S. 123. 67 Vgl. z. B. noch SEITZ 1971, S. 27; LOHFINK 1991a, S. 172; RÜTERSWÖRDEN 2006, S. 45; OTTO 2009, S. 114 (Dtn 4,44 sei der »postdtr Pentateuchredaktion«, Dtn 4,45 der »dtr Horebredaktion« zuzuschreiben). 68 VEIJOLA 2004, S. 123. 69 NIELSEN 1995, S. 68. Nielsen bezieht die ‫דת‬ ׂ ‫ ע‬auf die Dekaloggebote.

74

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

2.

Moses Rückblick auf die Horeb-Ereignisse (5,1b–31)

2.1

Synchrone Textbetrachtungen

Der dtn Mose beginnt seine Tora-Rede mit einem Aufruf (V. 1b): Israel soll die »Satzungen und Rechtsvorschriften« (‫ )החקים והמשׁפטים‬im Zuge der mosaischen Promulgation »heute« (‫ )היום‬hören, lernen (im Sinn von »nachsprechen« und »auswendig lernen«70) und (sofort bzw. sofort im Land) tun. Dann folgt abrupt ein Perspektivwechsel: Mose hält Rückblick auf die Horeb-Ereignisse (V. 2–31). Nach V. 2 f. schloss JHWH den Bund am Horeb nicht mit den Erzvätern; JHWH zeichnete die Erzväter, wie zu Beginn der ersten Rede festgestellt wurde, »nur« mit dem Schwur in Bezug auf das Land aus (Dtn 1,8). Der Bund am Horeb wurde mit »uns heute« geschlossen (V. 3b) – obwohl das Israel in der Welt des Dtn nicht am Horeb stand (es ist die zweite Generation nach der Exodusgeneration, die in der Wüste sterben musste). N. Lohfink spricht in diesem Zusammenhang von einer »rhetorischen Generationenverschmelzung«.71 Dadurch konnten sich z. B. auch die exilischen AdressatInnen von dem »uns heute« direkt angesprochen fühlen. Zum Bund gehören Bundesworte. In V. 4 f. finden sich zwei widersprüchliche Aussagen in Bezug auf die Übermittlung dieser Bundesworte am Horeb: Laut V. 4 redete JHWH »von Angesicht zu Angesicht« mit Israel auf dem Berg (vgl. auch V. 22); laut V. 5 hat Mose JHWHs Worte dem nicht auf dem Berg stehenden Israel vermittelt. Wie auch immer: Das Volk hat die Worte JHWHs am Horeb gehört, und es ist davon auszugehen, dass das Volk diese Worte damals auch verstanden hat72 (was wäre das sonst für ein Reden bzw. für eine Vermittlung gewesen?).73 In V. 6–21 wiederholt der dtn Mose die Israel bereits bekannten von Gott am Horeb gesprochenen Bundesworte (»Dekalog«):74 »Prolog« (Selbstvorstellung JHWHs) I Fremdgötterverbot II Namensmissbrauchsverbot III Shabbatgebot IV Elternehrungsgebot V Tötungsverbot VI Ehebruchsverbot VII Diebstahlverbot VIII Falschzeugenverbot IX Begehrensverbot, bezogen auf die Frau des Nächsten X Begehrensverbot, bezogen auf den Besitz des Nächsten

Dtn Dtn Dtn Dtn Dtn Dtn Dtn Dtn Dtn Dtn Dtn

5,6 5,7–10 5,11 5,12–15 5,16 5,17 5,18 5,19 5,20 5,21a 5,21b

70 Siehe hierzu insbesondere FINSTERBUSCH 2005, S. 159–161. 71 LOHFINK 1991b, S. 20. 72 Auch in Dtn 4 wird damit gerechnet, dass das Volk die Worte JHWHs am Sinai verstanden hat, siehe hierzu insbesondere KONKEL 2005, S. 22 f. 73 Vgl. KONKEL 2005, S. 30; BRAULIK 2009, S. 209. Anders insbesondere DOHMEN 2005, S. 52. 74 Zur Bedeutung der einzelnen Dekaloggebote siehe insbesondere VEIJOLA 2004, S. 147–173; KÖCKERT 2007, und DERS. 2009.

C. Moses Vorlegen der Tora

75

Das erste Wort des Dekalogs ist (JHWHs) »Ich« (‫)אנכי‬, das letzte »dein Nächster« (‫)רעך‬. Dies korrespondiert mit dem Inhalt des Dekalogs: In den ersten Geboten geht es um das Verhalten Israels gegenüber JHWH, es folgen Gebote, die das Verhalten dem Nächsten gegenüber betreffen. Der Dekalog beginnt genau genommen nicht mit einem Gebot: JHWH stellt sich als Israels Gott vor, und zwar als derjenige, der Israel aus Ägypten befreit hat (V. 6). Am Exodus kann JHWHs Bedeutung für Israel erkannt werden: JHWH ist Israels heilvoller und mächtiger Gott, der auf die Freiheit seines Volkes bedacht ist. Die nachfolgenden Gebote sind unter diesem Vorzeichen zu lesen. Die Gebote sollen Israel nicht »versklaven«, sondern sie sind grundlegende Weisungen, wie Israel als JHWHs Volk leben soll und wie es die von JHWH geschenkte Freiheit auf Dauer bewahren kann.75 Nach dem Kontext war (und in der dtn Welt ist) das ganze Volk Israel angesprochen (»Du«, »Ihr«). Dennoch sind die Gebote nicht für alle Gruppen gleichermaßen gültig: Manche Gebote richten sich exklusiv an freie, wohlhabende erwachsene Männer (vor allem das neunte Gebot und das Elternehrungsgebot76). Mindestens das »Du« im Shabbatgebot schließt die freie Frau ein (wenn das »Du« hier nicht inklusiv gedeutet würde, müsste geschlossen werden, dass nach den Verfassern des Gebots die Frau als einzige Person im Haus am Shabbat arbeiten sollte, was extrem unwahrscheinlich ist);77 das »Du« zielt nicht auf (kleine) Kinder und unfreie Personen (das »Du« im Shabbatgebot hat Kinder und Gesinde). Der deuteronomische Dekalog hat im Vergleich mit dem in Ex 20 überlieferten Dekalog einen zum Teil abweichenden Wortlaut bzw. eine etwas abweichende Struktur. Einige wichtige Unterschiede sind:78 – Das Bilderverbot ist im dtn Dekalog Teil des Fremdgötterverbots (also kein eigenes Verbot wie in Ex 20). – Das Shabbatgebot wird im dtn Dekalog befreiungstheologisch begründet (in Ex 20: schöpfungstheologisch). – Sprecherwechsel finden sich im dtn Dekalog am Ende des Fremdgötterverbots (»seine Gebote«) sowie im Shabbatgebot und Elternehrungsverbot (Rückverweise: »wie er dir geboten hat«79). – Die Gebote fünf bis zehn sind im dtn Dekalog durch »und« verbunden und somit als inhaltlich zusammengehöriger Block ausgewiesen (in Ex 20 stehen die entsprechenden Gebote unverbunden hintereinander). – Am Ende des dtn Dekalogs stehen zwei Begehrensverbote (in Ex 20 nur eines). 75 Vgl. CRÜSEMANN 1998. 76 Die Töchter werden verheiratet und leben bei der Familie ihres Mannes; sie fallen für die (hier vorrangig gemeinte) Altersversorgung der eigenen Eltern aus, vgl. z. B. VEIJOLA 2004, S. 164–166; FINSTERBUSCH 2010b, S. 379. 77 Vgl. BRAULIK 1998, S. 83, Anm. 84. 78 Zu den Unterschieden vgl. insbesondere MARKL 2007, S. 209–211. 79 Vgl. hierzu insbesondere BRAULIK 2008b.

76

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Laut V. 22 hat JHWH »diesen Worten« nichts hinzugefügt (nur diese Worte sind also »Bundesworte«), und er hat sie anschließend selbst auf zwei Steintafeln geschrieben und Mose übergeben. Damit wird »juristisch festgehalten, dass der von Mose zitierte Wortlaut des Dekalogs dem von Gott niedergeschriebenen vollends entspricht«.80 In V. 23–31 rekapituliert Mose Ereignisse in Folge der Dekalogverkündigung am Horeb und liefert eine Art »Ätiologie« der dtn Gesetze sowie seines diesbezüglichen Lehrauftrags: Nach den Dekaloggeboten sollten weitere Worte JHWHs folgen. Weil das Volk sich vor den Begleiterscheinungen der direkten Rede JHWHs fürchtete, d. h. weil es sich fürchtete, bei der weiteren göttlichen Wort-Offenbarung von dem Feuer verzehrt zu werden (V. 25, vgl. V. 5), schlug es Mose (der sich nach Meinung des Volkes ohne Gefahr JHWH nähern kann, V. 27a) in Bezug auf die weiteren Worte JHWHs als Vermittler vor: »Du sollst zu uns reden alles, was JHWH, unser Gott zu dir reden wird« (V. 27b). JHWH billigte diesen Vorschlag (V. 28) verbunden mit dem Wunsch (V. 29), dass das Volk alle seine Gesetze halten möge. Was genau ist mit den »Gesetzen« (‫ )מצות‬gemeint? Durch die Formulierung ‫ לשׁמור‬+ ‫ מצותי‬wird zum einen deutlich Bezug auf Dtn 5,10b genommen: JHWH (MT: Mose) verheißt Segen denjenigen, die seine Gesetze, d. h. im Kontext die Dekaloggebote, halten.81 Zum anderen müssen mit den Gesetzen insbesondere die noch ausstehenden Gesetze gemeint sein, auf die sich die Erzählung an diesem Punkt konzentriert: JHWH äußerte den Wunsch, dass »alle seine Gesetze« gehalten werden, nachdem das Volk versichert hat, es wolle alles, was JHWH über Mose noch mitteilen werde, hören und tun.82 Nach V. 30 sollte Mose nach dem Willen JHWHs das Volk zu den Zelten zurückschicken. Nach V. 31 wollte JHWH, so der dtn Mose in seinem Rückblick, ihm dann vor Ort die noch ausstehenden Worte mitteilen: »das ganze Gebotene, (nämlich) sowohl die Satzungen als auch die Rechtsvorschriften« (‫) את כל המצוה והחקים והמשׁפטים‬.83 Und diese Gesetze sollte Mose das Volk lehren. Aus der Fortsetzung der mosaischen Rede in Dtn 6,1 geht für das Israel in der Welt des Deuteronomiums sowie für die Adressatenschaft hervor, dass Mose die80 BRAULIK 2009, S. 209. 81 Nach dem MT (gegen alle anderen Textzeugen) findet in V. 10b ein Wechsel in die Moserede statt. Das 3. Sg. Suffix (‫ )מצותו‬könnte ein Abschreibfehler sein (Verschreibung von ‫)מצותי‬, so z. B. MCCARTHY 2007, S. 67*. Möglicherweise liegt aber auch eine intentionale Änderung eines Redaktors oder Schreibers vor: Indem die letzte Wendung in V. 10b zu einem »Kommentar« des Mose in der Welt des Deuteronomiums wird, wird die Bedeutung von ‫ מצות‬aufgesprengt. In der ursprünglichen JHWH-Rede in V. 10b bedeuten die ‫ מצות‬sicherlich exklusiv die gerade von ihm verkündeten Dekaloggebote. Als (paränetischer) »Kommentar« des Mose können die ‫ מצות‬von der Adressatenschaft auch auf die in V. 1 erwähnten Satzungen und Rechtsvorschriften bezogen werden, zumal die dtn Gesetze in Dtn 4,40 schon einmal explizit ‫ מצות‬genannt wurden. 82 Vgl. auch MARKL 2007, S. 239. Die ‫ מצות‬bezeichnen hier nicht ausschließlich die Dekaloggebote, gegen LOHFINK 2003b, S. 128. 83 Der Doppelausdruck »Satzungen und Rechtsvorschriften« ist Apposition (unabhängig davon, ob man V. 31 in der Fassung des MT oder des Sam für ursprünglich hält), vgl. schon KÖNIG 1917, S. 97.

C. Moses Vorlegen der Tora

77

sem Lehrauftrag nunmehr »heute« nachkommt (er beginnt in 6,1, diesen Auftrag zu erfüllen). Der »Zeitsprung« Horeb – »heute« muss in Dtn 5 und 6 nicht mehr erklärt werden: Warum Mose diesen Lehrauftrag erst »heute« erfüllt, war Thema in der ersten Rede.84 Mit V. 32 f. beendet Mose seinen Rückblick und wechselt zurück in seine »Gegenwart«: Mose ermahnt die vor ihm in Moab stehenden IsraelitInnen zu handeln, wie JHWH geboten hat, und auf dem Weg zu gehen, den JHWH ihnen geboten hat. V. 32 f. bilden mit V. 1 eine paränetische Inclusio (‫שׁמרתם לעשׂות‬ beschließt V. 1 und eröffnet V. 32). Dies zeigt, dass der Fokus wieder auf den dtn Gesetzen liegt (von denen nochmals im unmittelbaren Kontext in Dtn 6,17 gesagt wird, dass sie JHWH »geboten hat«).85 In Dtn 5 ist also von zweierlei Gesetzen die Rede: den Dekaloggeboten und den dtn Gesetzen. Im Folgenden sollen einige Punkte zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser Gesetze zusammengestellt werden: – Gemeinsam ist Dekalog und dtn Gesetzen, dass sie als JHWHs Gesetze (‫מצות‬ ‫ )יהוה‬bezeichnet werden (Dtn 5,10.29.31, vgl. auch Dtn 4,40 und 6,17) und dass sie von ihm selbst gesprochen werden (‫ דבר‬pi., Dtn 5,4.22.31). Auf dieser Ebene sind sie gleichwertig. – Unterschieden sind sie in Bezug auf den Rang: Der Horebbund bezieht sich ausschließlich auf die zehn Gebote. Sie sind ein abgeschlossenes Ganzes (V. 22a: JHWH fügt nichts hinzu). Was an weiterer göttlicher Offenbarung folgen sollte (»Satzungen und Rechtsvorschriften«), ist nachgeordnetes »zweites Wort« 84 OTTO 2009, S. 139 ff., postuliert eine »dtr Horebredaktion«, die um das spätvorexilische dtn Gesetz einen Rahmen schuf, und zwar insbesondere durch Dtn 5* und die narrative Fortsetzung Dtn 9–10*, die gemeinsam auf die Bundeszeremonie Dtn 26,16 f. zielten: »In dieser am Gottesberg Horeb [!] lokalisierten Szene [Dtn 26,16 f.] wird im Rückgriff auf Dtn 5 die Promulgation des Gesetzes in Dtn 12,1–26,15* ebenso wie der Rückblick auf die Ereignisse der Erzählung in Dtn 5; 9–10* am Gottesberg Horeb verortet [!]. Wird in Dtn 5,31 Mose der Auftrag erteilt, das Volk zu lehren […], was durch die Promulgation von Dtn 12,1–26,15* ausgeführt [wird], so geht es in Dtn 26,16 um die Inkraftsetzung […] (›heute befiehlt dir JHWH …‹). Wird in Dtn 26,16 an Dtn 5,31 angeknüpft, so blickt in der ›Fabel‹ der dtr Horebredaktion Mose vom Bundesschluss am Gottesberg auf die Versammlung des Volkes in Dtn 5* und das sich daraus entwickelnde Geschehen in Dtn 9–10* zurück. […]. Der in Dtn 26,16 f. vollzogene Bundesschluss ist in der erzählten Zeit kein anderer als der des Horebbundes, von dem Dtn 5,2–5* erzählt, wobei sich der erste Akt dieses Bundesschlusses auf JHWHs Kundgabe des Dekalogs in Dtn 5,6–21*, der zweite auf Moses Promulgation des Gesetzes des Deuteronomiums in Dtn 12,1–26,15* bezieht, wobei die beiden Akte auch dadurch aufeinander bezogen sind, dass das Gesetz des Deuteronomiums als Verfassungsentwurf für das Leben Israels im Verheißenen Land (Dtn 12,1) dem pentalogischen Aufbau des Dekalogs in Dtn 5,6–21* folgt,« a. a. O., S. 141 f. Nach Otto hat erst die »dtr Moabredaktion« Moses Promulgation des dtn Gesetzes sekundär nach Moab verlegt (Dtn 28,69). Zu einer Kritik an dieser Position vgl. LOHFINK 2003a, S. 190, Anm. 36. 85 »Weg« bezieht sich in Dtn 5,33 also nicht auf die Dekaloggebote, vgl. z. B. auch SKWERES 1979, S. 54 f.58; gegen LOHFINK 2003b, S. 121, und BRAULIK 1970, S. 22 f. (etwas anders DERS. 1986, S. 55: Hier bestimmte Braulik die Formulierung »auf dem Weg JHWHs gehen« mit »den Dekalog halten« und »das dtn Gesetz befolgen«).

78

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

JHWHs. Die besondere Dignität der Dekaloggebote wird im Text durch das Motiv des Schreibens JHWHs (und nicht, wie häufig zu lesen ist, durch die direkte Offenbarung JHWHs86) unterstrichen (V. 22b). Die dtn Tora wird nach Dtn 31,9.22 »nur« von Mose geschrieben. – Unterschieden sind Dekalog und dtn Gesetze im Geltungsbereich: Die Dekaloggebote müssen unmittelbar nach der Bekanntgabe am Horeb getan werden (vgl. Dtn 9,16). Sie gelten also außerhalb des Landes, aber natürlich auch im Land, wie die Begründung des Elterngebots (V. 16b) zeigt. Die Satzungen und Rechtsvorschriften sollen explizit »im Land« getan werden (V. 31). Sie müssen also nicht sofort in der Wüste gehalten werden (Israel muss sie aber außerhalb des Landes »lernen«). Nach der Lektüre von Dtn 5 drängt sich die Frage nach dem Verhältnis der Dekaloggebote und der »Satzungen und Rechtsvorschriften« geradezu auf. Für einen inhaltlichen Bezug von Dekaloggeboten und dtn Gesetzen spricht nicht nur ihre gemeinsame Bezeichnung mit dem Terminus ‫מצוה‬,a87 sondern auch die Tatsache, dass der Dekalog vollständig von Mose wiedergegeben wird (Mose hätte auch nur erwähnen können, dass JHWH den Dekalog am Horeb gesprochen hat). Mit anderen Worten: Die dtn Verfasser und Redaktoren wollten in Dtn 5 sicherlich vor allem eine »Ätiologie« der dtn Gesetze bieten; doch wenn es ihnen ausschließlich darum gegangen wäre, dann wäre die Anführung des Wortlauts der Dekaloggebote in diesem Kapitel kaum erklärlich (s. u. 2.2.2).

86 Vgl. z. B. CRÜSEMANN 1997, S. 410 f.; VEIJOLA 2004, S. 128. Nach V. 4 werden die Dekaloggebote dem Volk direkt vermittelt. An diesem Modus der Bekanntgabe der noch ausstehenden Gebote hätte sich nach dem ursprünglichen Plan, wie den Worten der Volksvertreter in V. 23–27 zu entnehmen ist, nichts geändert. Zur Bedeutung des Motivs von Gottes Schreiben in Dtn 5,22 siehe insbesondere SONNET 1997, S. 42–51. 87 In V. 10* (nicht MT) bezeichnet das Nomen nur die Dekaloggebote; in V. 29 Dekaloggebote und dtn Gesetze, in V. 31 nur das dtn Gesetz. Anders beurteilt LOHFINK 1989a, den Befund: Nach Lohfink entfaltet Dtn 5 eine »Globaltheorie über das Wesen der deuteronomischen Gesetzgebung«: In Dtn 5,28 f. drückt nach Lohfink JHWH den Wunsch aus, das Volk möge in Furcht vor ihm verharren und den ganzen Dekalog halten (Lohfink bezieht die mitzwot auf die Dekaloggebote, s. o. z. St.). Nach V. 30 f. will JHWH Mose ‫»( את כל המצוה‬das ganze Gebotene«) mitteilen. Nach Lohfink tritt hier ergänzend neben die mitzwot (V. 29) die mitzwah. Dass die mitzwah eine Ergänzungs- und Klärungsfunktion bezüglich vieler von den mitzwot (den Dekaloggeboten) her noch offenen Fragen hat, wird nach Lohfink dadurch ausgedrückt, dass als Apposition zu mitzwah der Ausdruck »Satzungen und Rechtsvorschriften« hinzugefügt wird. Dieser Ausdruck determiniert die mitzwah im Sinne einer autoritativ gesetzten Sammlung von Rechtsbestimmungen (chuqqim), die das vom Dekalog her offen Bleibende klärt (mischpatim), a. a. O, S. 235.

C. Moses Vorlegen der Tora

2.2

79

Diachrone Textbetrachtungen

2.2.1 Vermittelte Dekalogverkündigung in 5,5: Hermeneutischer Kompromiss einer »Pentateuchredaktion« In Dtn 5,1–33 ist vor allem der Widerspruch zwischen V. 4 und V. 5 auffallend (direkte Offenbarung des Dekalogs an das Volk auf dem Berg durch Gott einerseits – durch Mose vermittelte Weitergabe des Dekalogs an das nicht auf dem Berg stehende Volk andererseits). Dafür, dass V. 5 (ohne ‫ )לאמר‬eine nachträglich zu V. 4 zugefügte Ergänzung ist (und nicht umgekehrt),88 lassen sich ein inhaltlicher und ein sprachlicher Grund anführen. Zunächst der inhaltliche Grund: V. 22 ist als narrativer Baustein im Rückblick auf die Horeb-Ereignisse unverzichtbar und muss deshalb zum ursprünglichen Textgefüge gerechnet werden, wobei hier ausdrücklich die Sichtweise von V. 4 bestätigt wird, dass Gott direkt zu dem Volk geredet hat (‫ דבר‬pi., vgl. auch Dtn 4,13). Nun der sprachliche Grund: Das ‫» לאמר‬wie folgt« am Ende von V. 5 schließt syntaktisch an das Verb ‫ דבר‬in V. 4 an. V. 5 (ohne ‫ )לאמר‬lässt sich von daher als nachträglicher Einschub identifizieren, der die ursprünglich stimmige Syntax von V. 4 + ‫ לאמר‬unterbricht. Besonders beachtenswert ist, dass die Aussage der direkten Rede in V. 4 (V. 22) nicht getilgt, sondern ergänzt wurde. Was ist der Sinn dieser Ergänzung? Eine plausible Erklärung hat B. Levinson vorgelegt: Der für V. 5* verantwortlichen Redaktion ging es demnach um einen hermeneutischen Kompromiss (»hermeneutical compromise«). Sie insistierte, dass selbst im Fall des Dekalogs für die Adressatenschaft ein Zugang zu JHWHs Wort nur indirekt (über »Mose« bzw. den entsprechenden Text) möglich ist (im Fall der dtn Gesetze wird diese indirekte Vermittlung durch Mose explizit in Dtn 5,23–31 festgeschrieben).89 Die Redaktion wollte durch das Insistieren auf den indirekten Zugang zu JHWHs Wort jedoch das Gewicht des Dekalogs nicht mindern. Vielmehr wollte sie in Zusammenschau mit V. 4 der Adressatenschaft zeigen: Der dtn Dekalog ist (wie alle anderen Gesetze auch) JHWHs gesprochenes Wort bzw. entspricht vom Inhalt her JHWHs gesagtem Wort. Bei der für V. 5 (ohne ‫ )לאמר‬verantwortlichen Redaktion dürfte es sich m. E. um eine »Pentateuchredaktion«90 gehandelt haben.91 Der Grund für diese Annahme ist, dass in Ex 19 und 20 dasselbe Phänomen wie in Dtn 5,4 f. zu beobachten ist: Der Aussage in Ex 20,1, dass JHWH den Dekalog spricht, wird in Ex 19,25 der Satz vorangestellt, dass Mose der Sprecher ist, wobei dieser Satz syntaktisch unvollständig gelassen wurde.92 Die eindeutig auszumachende sekundäre Ergän88 Dies ist in der exegetischen Literatur nahezu Konsens. 89 LEVINSON 2010. 90 Der Begriff wird in der exegetischen Literatur uneinheitlich verwendet, vgl. SCHMID 2007b, S. 239. Mit SCHMID a. a. O., S. 240, verstehe ich unter »Pentateuchredaktion« Folgendes: »With this term I refer only to texts that have to do with the formation of the Pentateuch – in canonical terms, the Tora – and that show an awareness of a literary horizon that comprises the entire Pentateuch.« 91 Siehe auch noch OTTO 2009, S. 120 f. 92 Vgl. zu Ex 19,25 ausführlich KONKEL 2005, S. 24–28, und LEVINSON 2010.

80

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

zung der älteren Perspektive (direktes von Gott gesprochenes Wort) an beiden Stellen spricht für eine Redaktion, die Ex 19 f. und Dtn 5 bereits als Texte des Pentateuchs vorliegen hatte und ihre Sichtweise hier wie dort eingetragen hat. 2.2.2 Der Dekalog als externer Textbaustein in 5 In diachroner Hinsicht fällt bei der Lektüre des Dekalogs besonders der Wechsel vom Ich Gottes (Dtn 5,6–10a) zur Rede von Gott in der dritten Person auf (Dtn 5,10b–16).93 Dies sowie die auffallend uneinheitliche Gestaltung der Gebote (z. B. was ihren Umfang betrifft)94 könnte darauf hinweisen, dass der Dekalog aus ursprünglich selbstständigen Textelementen zusammengesetzt wurde. Ein recht eindeutiges Indiz dafür, dass der Dekalog jedenfalls nicht aus deuteronomischen Kreisen stammte, ist die Verwendung der im Dtn singulären Formulierung »nichtiger Zeuge« (‫ )עד שׁוא‬im Falschzeugenverbot Dtn 5,20 (im dtn Gesetz wird von den dtn Autoren und Redaktoren die Wendung ‫» עד שׁקר‬Lügenzeuge« bevorzugt, vgl. Dtn 19,18). Und so konnte F.-L. Hossfeld formulieren: »Nach einem breiten Konsens ist der Dekalog im Deuteronomium zwischenhineingekommen; auf jeden Fall hat er das Wachstum zum vorliegenden Buch geprägt.«95 Nach dem »Hineinkommen« in das Dtn rechnen die meisten ExegetInnen dann noch mit kleineren deuteronomischen Bearbeitungen des Dekalogtextes (z. B. mit der Einfügung der Rückverweise in Dtn 5,12.1696). Unterschiedlich (je nach Einschätzung der Priorität der Dekalogfassungen97 und der Einschätzung, ob das dtn Gesetz nach dem Dekalog strukturiert wurde oder nicht) beantwortet wird die Frage, wann und warum der Dekalog in das Dtn »hineingekommen« ist: Nach T. Veijola wurde das um 560 v. Chr. in den Hexateuch integrierte Deuteronomium von DtrP (»prophetischer Deuteronomist«98) dahingehend bearbeitet, dass DtrP »den aus Ex 20 bekannten Dekalog als Zusammenfassung des göttlichen Willens auch in das Dtn integrierte (Dtn 5,6–21*) und ihn mit einem Rahmenbericht versah, in dem er Mose zu einem von Jahwe eingesetzten prophetischen Mittler zwischen Gott und Volk stilisierte.«99 Der Zweck, den der prophetische Verfasser beim Einfügen des Dekalogs nach Veijola verfolgte, bestand darin, die Lücke auszufüllen, »die es in der dtn Gesetzgebung durch das Fehlen des Dekalogs in seiner Zeit noch 93 Nach HOSSFELD 2004, S. 60, handelt es sich um einen »Sprecherwechsel einer Ich-Rede Gottes zur Rede von Gott in der dritten Person«; nach BRAULIK 2008b, S. 169 f., spricht Gott auch in V. 11–16 (in V. 12 und 16 nur kurz unterbrochen von der Stimme Moses oder des Bucherzählers). Zumindest auf synchroner Ebene ist Brauliks Sichtweise sicher die plausiblere. 94 Siehe hierzu z. B. SCHMIDT 1993, S. 26. 95 HOSSFELD 2004, S. 62. 96 Siehe hierzu insbesondere BRAULIK 2008b, S. 170–172. 97 Diesbezüglich besteht kein Konsens (Ex 20: z. B. Graupner, Kratz, Veijola; Dtn 5: z. B. Perlitt, Hossfeld), vgl. die Forschungsüberblicke von GRAUPNER 2001, und KONKEL 2005, S. 11–14. 98 Zu DtrP und weiteren, vor allem von der sog. Göttinger Schule angenommenen Redaktionen (DtrH; DtrN; DtrB) siehe vor allem SMEND 1978, S. 111–125, und VEIJOLA 2004, S. 3 f. 99 VEIJOLA 2004, S. 4.

C. Moses Vorlegen der Tora

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gab. Als Vorbild diente der zeitlich frühere Sinaibericht in Ex 19 ff*, dessen älteres Gesetz, das Bundesbuch (Ex 20,24–23,19*), in einer nicht allzufernen Vergangenheit durch den Dekalog als Zusammenfassung des göttlichen Willens ergänzt worden war. Da das dtn Gesetz sich weitgehend als Neuauslegung des Bundesbuches verstand, war es die logische Konsequenz, dass nach der Analogie des Sinaiberichts auch der Dekalog als dessen neue Krone seinen Weg in das Dtn und seinen Ort an der Spitze aller anderen Gesetze fand. Durch ihre hervorgehobene Stellung am Anfang der Gesetzgebung und durch ihre Form als direkte Jahwerede an das Volk sind die zehn Gebote das Grundgesetz, das die Voraussetzung für alle weiteren Gesetze und Paränesen bildet.«100 E. Otto ging aus von der Beobachtung einer strukturellen Entsprechung des dtn Gesetzes und des Dekalogs, der nach Otto ein »Pentalog« ist, d. h. gemäß einer Fünferstruktur organisiert ist, und schloss daraus: »Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der dtr Hauptredaktion im Gesetz des Deuteronomiums und Dtn 5. Wurde das Gesetz des Deuteronomiums von Dtn 5,6–21 her dtr umgestaltet, so wird entsprechend in Dtn 5 der theologische Knoten geschürzt, der das Ganze des Deuteronomiums zusammenhält. ›Those who shaped chapter 5 did so in light of the emerging structure and themes of the entire book of Deuteronomy as it was written and edited‹ [D. T. Olson], so daß nicht nur die Strukturierung der Gesetze in Dtn 12–25 von Dtn 5 her, sondern auch die theologische Formierung des dtr Deuteronomiums in Dtn 5 berechtigt, die hier am Werk befindliche Dekalogredaktion als ›Hauptredaktion‹ zu bezeichnen.«101 Die Intention dieser »dtr Hauptredaktion« [DtrD] bestimmte Otto wie folgt: »Während das vorexilisch-dtn Deuteronomium als Reformprogramm, das das Bundesbuch reformuliert, keine spezifische geschichtliche Verortung kennt und direkt auf JHWHs Autorität zurückgeführt wird, mit dem von JHWH erwählten Ort aber auf Jerusalem als Gegenprogramm zu Aššur bezogen ist, wird, ausgelöst durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, mit der dtr eingeführten Mosaizität auch die Kundgabe des Deuteronomiums in der Gründungsgeschichte Israels in der Wüste am Horeb verortet, um so eine Verarbeitung der Exilszeit in die Konzeption des dtr Deuteronomiums zu integrieren.«102

M. E. ist die Dekalog-Ausrichtung des dtn Gesetzes noch sehr viel deutlicher ausgeprägt als von Otto angenommen wurde.103 Diese Dekalog-Ausrichtung des dtn Gesetzes ist ein Indiz dafür, dass das dtn Gesetz 12–26* (gegen Veijola und Otto) mehr oder weniger »von Anfang an« (m. E. im Exil) nach dem (von den dtn Verfassern und Redaktoren als externen autoritativen Text akzeptierten) Dekalog komponiert wurde (im Unterschied zum Bundesbuch, bei dem mit Schwienhorst-Schönberger erkennbar ist, dass der Text sekundär, so gut es eben noch ging, nach dem Dekalog ausgerichtet wurde104). Mit anderen Worten: Der Dekalog in Dtn 5 war

100 101 102 103 104

VEIJOLA 2004, S. 131. OTTO 2000, S. 115. OTTO 2000, S. 117 f. Siehe FINSTERBUSCH 2011b. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER 2005.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

m. E. die Strukturvorlage für das dtn Gesetz, das als die Ausdeutung der Dekaloggebote unter den Bedingungen des Lebens im Land zu verstehen ist. Die interessante theologische Frage ist, was die dtn Verfasser und Redaktoren durch die Erfindung der Konzeption eines Grundgesetzes und eines zweiten (ausdeutenden) Gesetzes im Buch Deuteronomium gewonnen haben. Über die von Veijola und Otto gemachten Anmerkungen hinaus ist der Gedanke naheliegend, dass sie diese Konzeption erfunden haben aufgrund ihres identitätsstärkenden Potentials. Für die im Exil lebenden JudäerInnen sollte JHWHs Gesetz unter den Bedingungen der Diaspora gelten, d. h. sie sollten sich mindestens am Dekalog ausrichten. Insofern sie auch im babylonischen Exil JudäerInnen bleiben sollten, sollten sie die dtn Gesetze lernen, um – in Zukunft im Land Juda – die Dekaloggebote und die sie im Hinblick auf die Landesverhältnisse ausdeutenden dtn Gesetze befolgen zu können.105

3.

Moses Lehre bezüglich der dtn Gesetze (6–11)

Seinen am Horeb erhaltenen Lehrauftrag bezüglich der Satzungen und Rechtsvorschriften (Dtn 5,31) beginnt Mose in der Welt des Deuteronomiums laut 6,1 nunmehr zu erfüllen: 6,1: Und dies (ist) das Gebotene, (d. h. dies sind) die Satzungen und die Rechtsvorschriften, die JHWH, unser Gott, geboten hat, euch zu lehren, damit (ihr sie) im Land tut, in das ihr hinüberziehen werdet, um es in Besitz zu nehmen.

Der Vers weckt die Erwartung, dass Mose im Folgenden die dtn Gesetze bekannt gibt. Dies jedoch wird, wie Dtn 12,1 deutlich macht, erst ab Dtn 12 geschehen: 12,1: Dies (sind) die Satzungen und die Rechtsvorschriften, die ihr sorgfältig tun sollt im Land, das JHWH, der Gott eurer Väter, dir gegeben hat, es in Besitz zu nehmen, alle Tage, die ihr auf der Erde lebt.

Dieser Befund ist m. E. so zu interpretieren, dass Mose, bevor er die Satzungen und Rechtsvorschriften lehrt im Sinne von bekannt gibt (Dtn 12,1–26,16), zunächst Verschiedenes in Bezug auf diese Gesetze lehrt (Dtn 6–11). Der in Dtn 6–11 enthaltene Text ist also (gegen mehrere ExegetInnen106) nicht als dtn Gesetzestext (den, so der übliche dtn Promulgationssatz, Mose »heute« Israel »gebietet«107) zu verstehen (zum großen Teil könnte er inhaltlich gar nicht als »Gesetzestext« charakterisiert werden, siehe hierzu insbesondere unten zu Dtn 9,1–10,11). 105 Siehe auch unten im Teil V. ZUSAMMENFASSUNG, 2.2 und 3. 106 Z. B. gegen BRAULIK 2009, S. 213; siehe auch unten zu Dtn 6,6. Dtn 6–11 ist von der Zwischenüberschrift Dtn 6,1 her gesehen (mit Fokus auf den »Satzungen und Rechtsvorschriften«) auch nicht als paränetische Auslegung des ersten Dekaloggebots (oder als »Hauptgebotsparänese«) zu bestimmen, so aber z. B. LOHFINK 1963; WEINFELD 1991, S. 328 ff.; OLSON 1994, S. 3. 107 Vgl. z. B. Dtn 6,6; 7,11; 8,1.11; 10,13; 11,8.13.22.

C. Moses Vorlegen der Tora

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Die sechs Kapitel enthalten recht heterogenen Stoff. Durch den Einsatz signifikanter Struktursignale108 haben die dtn Verfasser und Redaktoren die Identifikation der folgenden Sinneinheiten ermöglicht: Der erste und der letzte Vers von Dtn 6,1– 7,11 sind aufeinander bezogen durch die Dtn 5,31 aufnehmende und im Dtn nur noch in den beiden Versen 6,1 und 7,11 vorkommende Fügung ‫»( המצוה‬das Gebotene«: Oberbegriff) + ‫»( החקים והמשׁפטים‬die Satzungen und die Rechtsvorschriften«: Apposition).109 Dtn 7,12–8,20 ist durch die im Deuteronomium sonst nicht mehr vorkommende Verbindung ‫ שׁמע‬+ ‫ עקב‬q. (»weil« + »hören«) gerahmt. Der Beginn der nächsten beiden Einheiten ist jeweils durch eine markante Wendung angezeigt, nämlich durch den Höraufruf ‫»( שׁמע ישׂראל‬Höre Israel«) in Dtn 9,1 einerseits und durch ‫»( ועתה ישׂראל‬Und nun, Israel«) in Dtn 10,12 andererseits (vgl. hierzu auch Dtn 4,1). Die Einheiten Dtn 6,1–7,11; Dtn 7,12–8,20; Dtn 9,1–10,11 und Dtn 10,12–11,32 werden, da sie nach der Überschrift Dtn 6,1 »Lehre« des dtn Mose sind, als »Lehrreden« bezeichnet.110

3.1

Synchrone Textbetrachtungen

3.1.1 Die erste Lehrrede (6,1–7,11) Die einzelnen Abschnitte der Lehrrede Dtn 6,1–7,11 sind durch gezielte Wiederaufnahmen von Schlüsselbegriffen und Themen aufeinander bezogen. Inhalt und Struktur von Dtn 6,1–7,11 lassen sich unter Berücksichtigung dieser Bezüge wie folgt darstellen: Israel soll, wie der dtn Mose in den Rahmenversen (Dtn 6,1–3; 7,11) deutlich macht, die dtn Gesetze sorgfältig tun (‫)שׁמר לעשׂות‬. In diese Ermahnung eingebettet liegt ein zweifacher Argumentationsgang zur Notwendigkeit des künftigen Tuns dieser Gesetze im Land: Israel kann nicht einerseits JHWH als einzigen und einzigartigen Gott bekennen und lieben, ohne andererseits seine Gesetze künftig im Land zu halten (Dtn 6,4–25); Israel kann sich nicht einerseits als von JHWH erwählt und geliebt ansehen, ohne andererseits seine Gesetze künftig im Land zu befolgen (Dtn 7,1–11).

108 Diese Struktursignale werden in den Kommentaren häufig vermerkt, aber zumeist späten Redaktionen zugeschrieben und in der Kommentierung dann nicht weiter berücksichtigt, vgl. WEINFELD 1991, S. 372, und VEIJOLA 2004, S. 201. Zu einer instruktiven Übersicht über die Forschungsgeschichte zu Dtn (5)6–11 siehe OTTO 2009, S. 66–85. 109 In den »Exzerpthandschriften« wird die Fügung ‫( המצוה‬Oberbegriff) + ‫( החקים והמשׁפטים‬Apposition) noch einmal in Dtn 11,8 eingesetzt: 4QDeutj (DJD XIV, S. 86), 4QDeutk1 (DJD XIV, S. 96). 110 Zu detaillierten synchronen Analysen dieser Einheiten siehe FINSTERBUSCH 2005, S. 170–224.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Rahmen 6,1–3: Ankündigung der Lehre des »Gebotenen, der Satzungen und der Rechtsvorschriften«; Paränese: »Tut sorgfältig« a) 6,4–9: Israels Beziehung zu JHWH (»Liebe«) Anweisungen in Bezug auf die dtn Gesetze b) 6,10–25: »Wenn dich JHWH, dein Gott, in das Land geführt hat …«: Anweisungen zu der Beziehung zu JHWH und den dtn Gesetzen b‘) 7,1–6: »Wenn dich JHWH, dein Gott, in das Land geführt hat …«: Anweisungen zur Umsetzung des Banngebots als erwähltes Volk a‘) 7,7–11: JHWHs Beziehung zu Israel (»Liebe«, Erwählung) Paränese in Bezug auf die dtn Gesetze Rahmen 7,11:111 Paränese: »Tue sorgfältig das Gebotene, sowohl die Satzungen als auch die Rechtsvorschriften.«

Die erste Lehrrede enthält einige Texte von besonderem »theologischem« Gewicht. Dazu nun im Folgenden. Dtn 6,4–9 ist der ersten Teiltext des für die spätere jüdische Religion so wichtigen »Schema Israel«, deutsch: »Höre Israel«.112 Die Übersetzung des Textes ist notorisch schwierig (insbesondere für V. 4b und V. 7a gibt es aufgrund offener Syntax mehrere Übersetzungsmöglichkeiten): 4 Höre Israel: JHWH ist unser Gott, JHWH ist (für uns) einzig.113 5 Und du sollst JHWH, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft. 6 Und es sollen diese Worte, die ich dir heute gebiete, auf deinem Herzen sein. 7 Und du sollst sie deinen Kindern wiederholt vorsprechen, und du sollst (mit deinen Kindern) über sie reden114 bei deinem Sitzen in deinem Haus und bei deinem Gehen auf dem Weg und bei deinem Niederlegen und bei deinem Aufstehen. 8 Und du sollst sie binden als Zeichen auf deine Hand, und sie sollen sein Merkzeichen zwischen deinen Augen. 9 Und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und auf deine Stadttore.

V. 4 enthält eine Bekenntnisaussage: Unter allen Göttern soll (nur) JHWH als »unser Gott« bekannt werden; zudem soll JHWH als für Israel einzigartig bekannt werden. In V. 5 wird die Einzigartigkeit des Bezugs Israels zu JHWH mit der Kate111 Der Rahmenvers Dtn 7,11 hat eine mehrfache Funktion. Dass Rahmenverse (oder -abschnitte) Mehrfachfunktionen haben, ist im Deuteronomium nicht ungewöhnlich, vgl. z. B. oben zu Dtn 1,1 und unten zu Dtn 11,26–32 und 26,16. 112 Zum »Schema Israel« vgl. VEIJOLA 2000a, S. 76 f.; TREPP 2004, S. 26; GEIGER 2010, S. 142–176. Zu einzelnen Vorschriften siehe insbesondere noch KEEL 1981; LEMAIRE 2008. 113 So z. B. auch VEIJOLA 2000a, S. 82 f. Zu alternativen Übersetzungsmöglichkeiten von V. 4b siehe DERS. a. a. O., S. 82–87. Hier nur ein Beispiel: In der EÜ ist V. 4b übersetzt mit »Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig.« Zu einer interessanten samaritanischen Sonderüberlieferung siehe DAVIES 1999. 114 Anders z. B. FISCHER / LOHFINK 1987, S. 195, die V. 7 folgendermaßen übersetzen: »Du sollst sie deine Kinder lehren. Und selber sollst du sie vor dich hin summen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, bis du dich schlafen legst, sobald du aufstehst.« Siehe zu dieser Übersetzung ausführlich FINSTERBUSCH 2005, S. 239–248.

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gorie der »Liebe« gefasst. Liebe kann eine Emotion meinen, vermutlich ist Liebe hier vor allem (im Hinblick auf altorientalische Vertragsterminologie) als juristische Kategorie zu verstehen im Sinn von »unbedingter Bundesloyalität«.115 In jedem Fall muss sich die »Liebe« zu JHWH im Verhältnis Israels zu dem Gesetz zeigen: V. 6–9 enthalten Anweisungen zum Umgang mit den heute von Mose gebotenen Worten, d. h. mit den deuteronomischen Gesetzen.116 In der Summe bilden sie ein bemerkenswertes Programm: Die dtn Gesetze sollen auswendig gewusst werden, sie sollen eine zentrale Rolle spielen in der alltäglichen Erziehung; sie sollen zum »Markierungszeichen« der Einzelnen werden, sie sollen in privaten wie öffentlichen Räumen sichtbar vor Augen stehen. Bedeutsam ist die Zweiteilung von Dtn 6,4–9: Bevor Mose auf die deuteronomischen Gesetze zu sprechen kommt (V. 6–9), geht er auf die Beziehung Israels zu JHWH ein (V. 4 f.). Das heißt, die »Liebesbeziehung« zu JHWH soll die Grundlage für Israels Lernen, Lehren und Halten der Gesetze sein. Diese Zweiteilung prägt auch den nächsten Abschnitt V. 10–25: Wenn JHWH Israel ins Land führt und es im Land sein wird (V. 10 f.), dann soll es zuerst auf die Beziehung zu JHWH achten (V. 12–16). Es folgen zwei allgemeine Anweisungen in Bezug auf die Einhaltung der dtn Gesetze (V. 17) und in Bezug auf die Erklärung ihres Sinnes für die nächste Generation (V. 20–25). V. 18 f. passen inhaltlich nicht zu der Perspektive »Israel in Zukunft im Land«: Nach V. 18 f. ist der Gesetzesgehorsam die Bedingung dafür, dass das noch nicht im Land lebende Israel das Land in Besitz nehmen kann. In Dtn 7,1–6 geht es um die Situation der Inbesitznahme des Landes: Wenn JHWH Israel in das Land führt, um es in Besitz zu nehmen, und JHWH die sieben mächtigen kanaanäischen Völker Israel ausliefert und Israel sie schlägt, dann soll Israel sie bannen (V. 1 f.). Dies impliziert die Vernichtung dieser Völker (vgl. auch V. 16). Auf keinen Fall sollen (während des Bannvorgangs) Kontakte mit den kanaanäischen Völkern geknüpft werden, sonst würde Israel seine Existenz aufs Spiel setzen (V. 3–5). Das Banngebot wird in V. 6 wie folgt begründet: Denn ein heiliges Volk bist du IHM deinem Gott, dich erwählte ER dein Gott, ihm ein Sonderguts-Volk zu sein, aus allen Völkern, die auf der Fläche des Erdbodens sind.117

Die sieben kanaanäischen Völker, die zur Verfassungszeit des Textes schon lange nicht mehr existierten, repräsentieren im Deuteronomium das Fremde in seiner 115 Vgl. WEINFELD 1972, S. 81–91; DERS. 1991, S. 351 f.; OTTO 2009, S. 180. 116 »Worte« und »Satzungen und Rechtsvorschriften« sind in der ersten Lehrrede Synonyme, wie der identische Promulgationssatz in Dtn 6,6b und 7,11b belegt. Gegen BRAULIK 2009, S. 213, der die ‫ דברים‬hier auf Dtn 6–26 bezieht, und OTTO 2009, S. 181 f., der sie auf Dtn 6,4 f. bezieht. Eine gute Übersicht über die in der exegetischen Literatur vertretenen Deutungen der ‫ דברים‬in Dtn 6,6 bietet SONNET 1997, S. 52–55. 117 Übersetzung nach BUBER / ROSENZWEIG 1954, z. St.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

existenzbedrohenden Form: Dieses »Fremde« gefährdet nach den dtn Verfassern und Redaktoren die geforderte ausschließliche Konzentration auf JHWH bzw. die »Heiligkeit Israels« und soll nach dem dtn Gesetz vernichtet werden (siehe unten zu dem dtn Banngesetz Dtn 20,15–18). Ansonsten droht nach Ansicht der dtn Verfasser und Redaktoren Israel selbst die Vernichtung durch den Gott, der es sich zum »Sonderguts-Volk« (‫ )עם סגולה‬erwählt hat. Der Gedanke der Erwählung wird im Abschnitt Dtn 7,7–11 weitergeführt. Zusammen mit V. 6 sind die Verse 7 f. der »locus classicus« der Erwählung Israels in der Hebräischen Bibel: 7 Nicht weil euer ein Mehr wäre gegen alle Völker, hat ER sich an euch gehangen, hat euch erwählt, denn ihr seid das Minder gegen alle Völker: 8 sondern weil ER euch liebt und weil er den Schwur wahrt, den er euren Vätern zuschwor, führte ER euch heraus mit starker Hand, galt er euch ab aus dem Haus der Dienstbarkeit, aus der Hand Pharaos, des Königs von Ägypten.118

Die Verse sind kompliziert formuliert. Erwählung hat nach V. 7 nichts mit besonderen Vorzügen wie z. B. Größe zu tun. Womit dann? Wie die Fortsetzung V. 8 zeigt, wurde die göttliche Erwählung manifest durch die Befreiung Israels aus Ägypten. Diese Befreiung ist in der Terminologie von V. 8 Ausdruck von göttlicher Liebe und Ausdruck einer freiwilligen göttlichen Bindung durch den Schwur an die Erzväter (im Hinblick auf die Verheißung des Landes; für die Erfüllung dieser Verheißung war der Exodus eine grundlegende Voraussetzung). Das Fundament für die göttliche Erwählung ist also unbegründbar und unbegründet. Die Bedeutung der Rede von Gottes Erwählung Israels in Dtn 7 kann leicht missverstanden werden: – Die dtn Verfasser und Redaktoren verstanden die Erwählung Israels keinesfalls im Sinne einer »Statusgarantie«. Verwiesen sei auf V. 4 f.: Sollte sich Israel anderen Göttern zuwenden, droht ihm Vernichtung. JHWH könnte also seine Erwählung rückgängig machen.119 Im Kontext der ersten Lehrrede soll Israel freilich nicht so sehr gedroht, sondern Israel soll zum Gesetzesgehorsam motiviert werden (V. 11). – »Nicht-erwählt« ist nicht gleichzusetzen mit »verworfen«: Nach den dtn Verfassern und Redaktoren trifft die Weltvölker keineswegs automatisch, wie die Ausführungen in Bezug auf die sieben Völker (Dtn 7,1 f.) oder auf den Pharao (Dtn 7,8) nahelegen könnten, der göttliche Zorn bzw. der göttliche Vernichtungswille.

118 Übersetzung nach BUBER / ROSENZWEIG 1954, z. St. 119 Gesamtbiblisch gesehen wird das Thema der Erwählung Israels kontrovers dargestellt (vgl. etwa Hos 11; Jer 31,20).

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Wie implizit aus V. 9 f. hervorgeht (s. u.), steht es vielmehr auch den Völkern offen, zwischen »Liebe« und »Hass« zu wählen: Je nachdem, wie sie sich zu JHWH und seinen Gesetzen verhalten, bekommen sie seine Zuneigung oder Ablehnung zu spüren (wie die Völker JHWH und seine Gesetze kennen können, bleibt hier offen). Die sieben Völker und der Pharao stehen in Dtn 7 lediglich für den Teil der Völkerwelt, der JHWH »hasst«. Ch. Hardmeier hat die Bedeutung der hier dargestellten Erwählung mit den folgenden zutreffenden Sätzen beschrieben: »Allerdings ist dem historisch folgenschweren, antijudaistischen Mißverständnis zu wehren, dieses Auserwähltsein sei eine Sonder- oder Extremform von religiös-metaphysisch überhöhter Selbstidealisierung. Denn entscheidend am Erwählungsglauben Israels ist zunächst, daß das Volk der Hebräischen Bibel sich selbst und seine Geschichte fundamental mitbestimmt, ja primär gewirkt sieht von ›seinem Gott‹. Es handelt sich somit um eine theozentrische Selbstsicht […]. Das heißt, Israel sieht seine Erwählung im Gegensatz zu jedweder Selbstidealisierung erstens als ein geschichtlich-kontingentes Urereignis, das zweitens in der souveränen, primär gütigen Selbstzuwendung der göttlichen unverfügbaren Kontingenz begründet liegt, die sich drittens allerdings nur dann segensreich entfalten kann, wenn die Erwählten ihre Liebe zu Gott respektvoll erwidern, indem sie im Respekt gegenüber dem ersten und zweiten Gebot ein praktisches Bewußtsein der Kontingenzbehaftung aller Lebensvollzüge wachhalten und indem sie der Tora als guter Lebensgabe sowie den prophetischen Weisungen in ihrer Lebenspraxis entsprechen.«120

Sichtbarer Erweis der Erwählung JHWHs sowie seiner Treue den Erzeltern gegenüber ist die Herausführung Israels aus Ägypten (V. 8). Israel soll aus seiner »Geschichte« Entscheidendes über seinen Gott lernen: Er ist der treue Gott, der nur bei »Hass« (im Fall des Pharaos oder der sieben Völker) ad personas vergilt (V. 9 f.). Mit dem Prinzip der Individualvergeltung wird dem im ersten Dekaloggebot vertretenen Prinzip der generationenübergreifenden Vergeltung (Dtn 5,9) direkt widersprochen. Die Verse lesen sich wie ein kritischer Kommentar des dtn Mose zum ersten Dekaloggebot. Der Abschnitt bzw. die Einheit schließen mit einer Paränese ab (V. 11): Die in der Geschichte Israels sichtbare Erwählung und die Treue Gottes sollen für Israel Motivation sein, die von Mose »heute« gebotenen dtn Gesetze in Zukunft zu halten. 3.1.2 Die zweite Lehrrede (7,12–8,20) Die dtn Verfasser und Redaktoren haben durch eine besondere Markierung angezeigt, dass Dtn 7,12–8,20 als Einheit verstanden werden soll, nämlich durch die Platzierung der (nur hier im Deuteronomium vorkommenden) Fügung ‫ שׁמע‬+ ‫עקב‬ (»falls« + »hören«) in Dtn 7,12 und in Dtn 8,20. Die Struktur der zweiten Lehrrede lässt sich insbesondere anhand des in 8,1.6.11 gezielt eingesetzten sog. gesetzesparä120 HARDMEIER 1998, S. 310.312.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

netischen Schemas (das aus mindestens einem Verb für Gesetzesbeobachtung und einem Begriff für Gesetz besteht121) erheben: a)

7,12–16: Falls Israel die Gesetze hört: Segensverheißungen 7,17–26: »Anhang« im Anschluss an V. 16 bα) 8,1–5: Aufforderung zum Gesetzesgehorsam (8,1): anschließend Erläuterung der Paränese; Fokus: JHWHs Führung in der Wüste bβ) 8,6–10: Aufforderung zum Gesetzesgehorsam (8,6): anschließende Begründung der Paränese; Fokus: JHWHs Führung ins Land bγ) 8,11–18: Warnung vor Gesetzesungehorsam (8,11): anschließend Erläuterung der Warnung; Fokus: Israels Verhältnis zu JHWH im Land a‘) 8,19 f.: Falls Israel nicht auf die Gesetze hört: Vernichtungsandrohung

In den Rahmenabschnitten werden zwei Alternativen aufgezeigt: Segen in Folge von Gesetzesgehorsam (Dtn 7,12–16) und Vernichtung in Folge von Gesetzesungehorsam (Dtn 8,19 f.). Eingebettet in diesen Rahmen liegen drei nach dem Kriterium der »Chronologie« geordnete Abschnitte: In Dtn 8,1–5 und 8,6–10 beschreibt Mose in der Welt des Deuteronomiums JHWHs vergangenes (in der Wüste, 8,1–5) und gegenwärtiges Handeln an Israel (JHWH führt Israel ins Land, 8,6–10), verbunden mit Aufforderungen, die Gesetze JHWHs zu halten. In Dtn 8,11–18 steht Israels Verhältnis zu JHWH zukünftig im Land im Vordergrund: Israel wird gewarnt, im Land JHWH und seine Gesetze zu vergessen. Aus dem Rahmen fällt der Abschnitt Dtn 7,17–26. Er ist eine Art Anhang zu V. 16, also zu der Verheißung, dass das gebotstreue Israel die Völker, die JHWH ihm ausliefert, vertilgen wird. In dem Anhang werden mögliche Bedenken Israels im Hinblick auf seine Möglichkeiten, diese Völker zu vernichten, ausgeräumt. Der Anhang unterbricht den Gang der Argumentation, denn er trägt für das Thema der Einheit (Segen oder Fluch in Verbindung mit Israels Tun oder Nicht-Tun der dtn Gesetze) nichts aus. Genauer eingegangen werden soll hier nur auf die bekannte Sentenz Dtn 8,3 (»Der Mensch lebt nicht vom Brot allein …«). Der Abschnitt, in dem sie steht (Dtn 8,1– 5), beginnt mit einer Aufforderung zum Halten der dtn Gesetze (V. 1). In V. 2–5 wird erläutert, warum Israel die Gesetze halten soll. Nach V. 2 soll sich Israel erinnern an den 40-jährigen Weg in der Wüste, den JHWH es geführt hat, um es zu demütigen und zu prüfen: JHWH wollte wissen, ob Israel in der Wüste (grundsätzlich) bereit ist, seine Gesetze (hier sind nicht die dtn Gesetze gemeint, die in der Welt des Deuteronomiums erst am Ende der Wüstenzeit gegeben werden)122 zu 121 Siehe hierzu FINSTERBUSCH 2000. Häufig wird Dtn 8,1–6 als ein Abschnitt bestimmt, vgl. z. B. GOMES DE ARAÚJO 1999, S. 124–137; OTTO 2009, S. 205. Gegen die These, dass in V. 7 ein Temporal-Bedingungssatz-Gefüge beginnt, spricht die Satzstellung von V. 7a, siehe dazu ausführlich FINSTERBUSCH 2005, S. 195, Anm. 303. Siehe auch KÖNIG 1917, S. 105, und BUBER / ROSENZWEIG 1954, z. St. 122 In Dtn 8,2 sind Gesetze gemeint, die Israel beim Auszug bzw. in der Wüste bekannt waren (z. B. die

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halten. Die Demütigung sollte zudem Israel ein spezielles Glaubenswissen vermitteln, das in der Sentenz V. 3b auf den Nenner gebracht wird. Die Bedeutung der Sentenz ist freilich umstritten. Zunächst V. 3 in der Übersetzung von Buber / Rosenzweig:123 3aα 3aβ 3bα 3bβ

Er beugte dich, er hungerte dich ab, er ließ dich das Manna essen, das du nicht kanntest, das deine Väter nicht kannten, damit er dir zu kennen gebe: nicht vom Brot allein lebt der Mensch, nein, von jeglichem, was aus SEINEM Munde fährt, lebt der Mensch.

M. Rose hat eine »materielle« Deutung der Sentenz vertreten: »Unser Vers will also ausdrücken, daß das Manna Gottes Schöpfung ist – dies im Gegensatz zu jedem Brot, das der Mensch ›im Schweiße seines Angesichts‹ […] selbst bereiten könnte.«124 Dagegen ist einzuwenden, dass nach V. 3bβ der Mensch von jeglichem lebt, was aus JHWHs Mund hervorgeht, und dies schließt Brot mit ein. Die Sentenz zielt also wohl nicht auf den Gegensatz: vom Menschen selbst gemachtes Brot – von Gott geschaffenes Manna, da beides JHWHs schöpferischem Handeln zu verdanken ist. T. Veijola hat eine »spirituelle« Deutung der Sentenz vorgelegt:125 Nach Veijola will die Sentenz die Frage beantworten, wovon der Mensch letztlich lebt. Dies wird nach Veijola durch die Gegenüberstellung von Brot – das jede Nahrung vertritt (inklusive des Mannas) – und dem, was aus dem Mund JHWHs hervorgeht, ausgedrückt. Bei Letzterem handelt es sich nach Veijola um Gottes Äußerung und zwar im Sinne eines befehlenden Gesetzeswortes. Doch diese Deutung macht im Licht der Gesamtaussage von V. 3 wenig Sinn: JHWH hat Israel Manna gegeben, um es wissen zu lassen, dass der Mensch nicht allein von Nahrung lebt, sondern von Gesetzen? Veijola hat aber richtig gesehen, dass im Kontext von Dtn 8,1–5 die von Israel zu lernende Lehre mit den Gesetzen zu tun haben muss. Was hat die Speisung mit Manna nun mit Gesetzen zu tun? Auf rein innerdtn Ebene ist die Frage nicht beantwortbar. Weiter hilft m. E. allein ein Blick auf die in Ex 16 erhaltene Tradition der Speisung mit Manna – die Kenntnis dieser Tradition (nicht unbedingt des Textes Ex 16) wird in Dtn 8,3 vorausgesetzt: Nach Ex 16,4 f. sagte JHWH Israel zu, es jeden Tag mit Manna zu versorgen; zugleich gab er die Anweisung, das Manna nur an Wochentagen, nicht am Shabbat, aufzusammeln. Israel befolgte laut Ex 16 diese Anweisung und konnte in der Wüste überleben. Mit der Versorgung durch Manna sind demnach zwei Erfahrungen verbunden; beide sind mit der Sentenz erfasst, die quasi auf einer doppelten Ebene zu interpretieren ist: Durch die Speisung wusste Israel zum einen, dass ein Mensch nicht allein Dekaloggebote). Vgl. auch Dtn 7,9: Mit denjenigen, die die Gesetze JHWHs halten, sind im Kontext u. a. die Erzväter gemeint. 123 BUBER / ROSENZWEIG 1954, z. St. 124 ROSE 1994b, S. 459 f. 125 VEIJOLA 1995, S. 156 f.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

von Brot im Sinne von bekannter Nahrung lebt (»nicht vom Brot allein lebt der Mensch«), sondern nach JHWHs Ratschluss auch von anderer Nahrung wie dem von ihm geschaffenen Manna (»von jeglichem, was aus SEINEM Munde fährt, lebt der Mensch«). Zum anderen konnte Israel im Zusammenhang der Speisung mit Manna lernen: Der Mensch lebt nicht nur von der ihm von JHWH zugedachten Nahrung (»nicht vom Brot allein lebt der Mensch«), sondern auch von JHWHs erteilten »Lebensweisungen« wie denen bezüglich der Wochentage (»von jeglichem, was aus SEINEM Munde fährt, lebt der Mensch«). Zum Leben in JHWHs Sinn gehört »weltliche« und »geistliche« Nahrung gleichermaßen. Beides schenkt JHWH seinem Volk, beides muss es annehmen und aufnehmen, wenn es leben will – »heute« und in Zukunft im Land. In Dtn 8,1–5 wird eine signifikante Leerstelle gelassen:126 Es bleibt offen, ob Israel in der Wüstenzeit tatsächlich die Lehre in Bezug auf die Gesetze gelernt hat. Israels Verhalten in der Wüste wird allerdings erneut Thema, und zwar in der dritten Lehrrede Dtn 9,1–10,11. 3.1.3 Die dritte Lehrrede (9,1–10,11) Die Einheit Dtn 9,1–10,11 lässt sich grob in vier größere Abschnitte unterteilen.127 Diese vier Abschnitte sind, wie Wiederholungen von Themen, Schlüsselworten und Sätzen zeigen (z. B. die Inbesitznahme des den Vätern zugeschworenen, von JHWH gegebenen Landes in Dtn 9,1–6 und Dtn 10,11), gegenläufig angeordnet: a) 9,1–6: Zusage von JHWHs Hilfe bei der Inbesitznahme des (den Vätern zugeschworenen) Landes, obwohl Israel – so das Urteil des dtn Mose – keine Gerechtigkeit hat, weil es ein halsstarriges Volk ist. b) 9,7–24: Begründung des Urteils durch einen Rückblick auf das Verhalten Israels in der Wüste, insbesondere durch die Erzählung des dtn Mose über die Annullierung des Bundes infolge des Bundesbruchs Israels am Horeb (Zerbrechen der Bundestafeln). b‘) 9,25–10,10: Erzählung von der Erneuerung des Bundes mit Israel durch JHWH aufgrund der Fürbitte Moses am Horeb (Herstellung neuer Bundestafeln). a‘) 10,11: Wiedergabe von JHWHs Befehl an Mose, das Volk weiterzuführen, damit es in das (den Vätern zugeschworene) Land kommt und dieses in Besitz nimmt.

Nach Dtn 9,1 f. steht das Israel in der Welt des Deuteronomiums »heute« im Begriff, das Land in Besitz zu nehmen und die kanaanäischen Völker zu schlagen. Anlässlich dieser Perspektive wird die Frage behandelt, warum eigentlich JHWH Israel bei der Inbesitznahme des Landes hilft bzw. warum er für die dort lebenden Völker zum »fressenden Feuer« (V. 3) wird. Die Antwort ist komplex: Zunächst wird klar gestellt, dass die Gabe des Landes nicht aufgrund der Gerechtigkeit Israels erfolgt (V. 5a). Gerecht ist Israel, wenn es JHWHs Gesetze hält (vgl. Dtn 6,25 und 126 Der Ausdruck »Leerstelle« stammt aus der Literaturwissenschaft: Leerstellen zeigen »nicht eine Bestimmtheitslücke im Text, sondern eine ›Kombinationsnotwendigkeit‹ an […], durch die der Leser ins Spiel kommt«, JANOWSKI 2001, S. 52, Anm. 92. 127 Vgl. zu dieser Einheit insbesondere die synchronen Analysen von TALSTRA 1995, und LOHFINK 2001.

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24,13128). V. 5a macht also klar: Selbst wenn Israel gerecht wäre, hätte es sich die Gabe des Landes nicht »verdienen« können. Es ist nicht so, dass »die eigene Gerechtigkeit vor Gott nicht zählt«,129 sie zählt nur nicht in Bezug auf die Gabe des Landes. In V. 6 wird das Thema dann noch einmal vertieft: JHWH könnte Israel das Land gar nicht wegen seiner Gerechtigkeit geben, denn es ist ein »halsstarriges« Volk. Warum erfolgt die Gabe des Landes dann? V. 5b liefert zwei Begründungen: Wegen der Schlechtigkeit der Völker zum ersten und wegen des Schwurs an die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob zum zweiten. Im folgenden Rückblick Dtn 9,7–24 wird das Urteil über das »heutige« Israel, es sei ein halsstarriges Volk, begründet und bekräftigt: Vom Tag des Auszugs an bzw. seit Mose das Volk kennt, hat es in der Wüste JHWH mit seinem Verhalten erzürnt (Dtn 9,7.22–24); als Paradigma erzählt der dtn Mose die Geschichte vom Bundesbruch Israels am Horeb (Dtn 9,8–21).130 Israel kommt also mit einer schuldbeladenen Geschichte ins Land. Doch nicht nur diese Geschichte begleitet Israel ins Land: In einem zweiten Rückblick auf die Horeb-Ereignisse Dtn 9,25–10,10 erzählt der dtn Mose eine weitere Geschichte, nämlich dass JHWH Israel als sein Volk aufgrund Moses Fürbitte am Horeb als Bundespartner erneut akzeptierte. Allein aufgrund dieser zweiten Geschichte darf Mose Israel in das den Erzvätern verheißene Land führen (Dtn 10,11). Die Zukunft im Land ist offen: Wird sich Israel (weiterhin) als halsstarriges Volk oder als Bundespartner JHWHs verhalten? Nur im zweiten Fall hätte es eine Zukunft, wie schon in den ersten beiden Lehrreden gezeigt wurde (vgl. Dtn 7,4; 8,20) und wie dann insbesondere in Dtn 10,12–11,32 noch einmal vertiefend gezeigt wird. Eingegangen werden soll noch auf drei, für das Verständnis der Rückblicke auf den Horeb besonders wichtige Punkte: Umstritten ist erstens, ob die dtn Verfasser und Redaktoren mit zwei oder mit drei Aufenthalten des Mose auf dem Horeb gerechnet haben. Der erste Bergaufenthalt wird in Dtn 9,8 ff. thematisiert, bei diesem ersten Bergaufenthalt bekommt Mose die Bundestafeln übergeben. Ein weiterer Bergaufenthalt wird in Dtn 10,1–5 erwähnt, bei dem Mose die neuen Bundestafeln erhielt. Ein letztes Mal wird in Dtn 10,10 erzählt, dass Mose auf dem Berg weilte:

128 »Gerechtigkeit wird uns sein« (‫)צדקה תהיה לנו‬, und zwar durch das Tun der Gesetze. Es steht nicht da: Wir sind (!) im Zustand des »Im-Recht-Seins« (‫)בצדקה‬. Nach Dtn 6,20–25 ist Israel lediglich im Zustand des Befreit-Seins, gegen BRAULIK 1989b, S. 16 f. 129 RÜTERSWÖRDEN 2006, S. 68. 130 Der Bund am Sinai wurde von Israel durch die Fertigung des Stier-Kalbs (wohl als Repräsentant JHWHs gemeint oder als Postament, auf dem sein Erscheinen erwartet wird) gebrochen (also durch einen Verstoß gegen das Bilderverbot), und von dem Mittler Mose durch das Zerbrechen der Bundestafeln annulliert, so die Mehrheit der Exegeten, vgl. z. B. BRAULIK 1986, S. 76 ff.; TIGAY 1996, S. 100; RÜTERSWÖRDEN 2006, S. 64 f. Anders die weitreichende These von OTTO 2009, S. 140 f.: Gebrochen wurde nur das erste Gebot, nicht aber der Bund. M. E. ist diese Unterscheidung künstlich (vgl. auch Dtn 17,2).

92 10a 10b

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Und ich stand auf dem Berg, wie die ersten Tage, vierzig Tage und vierzig Nächte. Und JHWH hörte auf mich auch dieses Mal, nicht wollte JHWH dich verderben.

Nach T. Veijola bezieht sich Dtn 10,10 auf den Bergaufenthalt, bei dem Mose die zweiten Tafeln bekam (Dtn 10,1–5). Veijola bestritt, dass die in Dtn 9,18 und 9,25– 29 erzählte Fürbitte des Mose »vor JHWH« auf dem Horeb stattfand, die »Erzählung 9,7–10,10 weiß in keiner Gestalt von drei Bergaufenthalten des Mose«.131 Gegen Veijola ist nicht davon auszugehen, dass sich Dtn 10,10 auf den in 10,1–5 erzählten Bergaufenthalt des Mose bezieht. V. 10b bezieht sich auf die Fürbitte des Mose: Mose versuchte fürbittend, wie er rückblickend in Dtn 9,18 f. und 9,25–29 erzählt, JHWH von der Vernichtung Israels abzubringen. Vernichtung und Fürbitte sind aber nach Dtn 10,1–5 nicht Thema im Zusammenhang mit dem Aufenthalt des Mose auf dem Horeb zum Empfang der zweiten Tafeln. Im Gegenteil: Dtn 10,1–5 sind nach Dtn 9,25–29 platziert und signalisieren den Erfolg der Fürbitte, insofern der Bund von JHWH mit Israel erneuert wird. Der in Dtn 10,10 erwähnte Bergaufenthalt ist also nicht mit dem in Dtn 10,1–5 erwähnten identisch. Mit E. Talstra, N. Lohfink und U. Rüterswörden lässt sich begründen,132 dass im Text drei Aufenthalte des Mose auf dem Horeb vorausgesetzt werden. Zur Verdeutlichung der Argumentation sollen zunächst Dtn 9,18 f. und 9,25 zitiert werden: 9,18 f. Und ich warf mich nieder vor JHWH, wie das erste Mal, vierzig Tage und vierzig Nächte, Brot aß ich nicht, Wasser trank ich nicht […]. Denn ich hatte Angst vor dem Zorn und vor der Glut, mit der JHWH über euch zürnte, euch zu vernichten. Und auch dieses Mal hörte JHWH auf mich. 9,25 Und ich warf mich nieder vor JHWH vierzig Tage und vierzig Nächte, die ich mich hinwarf, denn JHWH hatte gesagt, euch zu vernichten.

Die engen sprachlichen Bezüge von Dtn 9,18 f., 9,25 und 10,10 sind nicht zu übersehen: An allen drei Stellen geht es um die eine (identische) Fürbitte des Mose nach dem Bundesbruch und dem damit verbundenen Entschluss JHWHs, sein Volk zu vernichten. Allein Dtn 10,10 ergänzt über Dtn 9,18 und 9,25 hinausgehend, dass diese Fürbitte vor JHWH auf dem Horeb stattfand. Somit kommt man auf drei Aufenthalte des Mose auf dem Horeb: a) Mose empfängt auf dem Horeb die ersten Tafeln, b) Mose hält auf dem Horeb Fürbitte, c) Mose empfängt die zweiten Tafeln. Ein Problem ist zweitens die Formulierung in Dtn 9,19 und 10,10, dass JHWH den fürbittenden Mose »auch dieses Mal« (‫ )גם בפעם ההוא‬erhörte. Wie ist das »auch« zu verstehen? Veijola meinte: »Wie Jahwe auf die Kasteiungen des Mose auf dem Berg gnädig reagierte und ihm die Bundestafeln übergab (10,9–11), so ›erhörte er ihn auch dieses Mal‹.«133 Doch gegen diese These spricht, dass JHWHs Plan

131 VEIJOLA 2004, S. 233, Anm. 653. 132 TALSTRA 1995; LOHFINK 2001; RÜTERSWÖRDEN 2006, S. 65. Auch in der Erzählung in Exodus werden drei Aufenthalte auf dem Berg vorausgesetzt, vgl. die gute Übersicht bei LOHFINK a. a. O., S. 146. 133 VEIJOLA 2004, S. 232.

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bezüglich Bundesschluss und Bundesurkunde unabhängig von Moses vierzigtägigem Fasten erfolgte (Dtn 9,9). Die Übergabe der Tafeln lässt sich also kaum als »Erhörung« verstehen. Die Formulierung »auch dieses Mal« ist innerdeuteronomisch im Kontext von Dtn 9,1–10,11 nicht verständlich. Nach Rose »geht es theologisch darum, daß die ganze Geschichte Israels (V. 7: vom Auszug aus Ägypten an) nicht nur von der Revolte des Volkes geprägt ist, sondern glücklicherweise ebenso vom begleitenden Amt des Fürbitters, der immer wieder bei Gott Vergebung erwirkt – und so ›auch dieses Mal‹.«134 Für diese Sichtweise könnte noch Folgendes angeführt werden: Mit den in Dtn 9,22 f. erwähnten Wüstenstationen sind bestimmte Erzählungen verbunden, die sich schriftlich im Buch Exodus und Numeri erhalten haben. Sie zeigen, dass Mose in Tabera und Kadesch Barnea Fürbitte hielt. Allerdings war Israel an diesen Orten nach dem Aufenthalt am Horeb. Lohfink schlug eine m. E. plausible intertextuelle Lösung vor und verwies auf die »Erzählungsgestalt von Exodus 32–34. Dort gab es bei drei Bergaufenthalten auch drei Fürbitten, und alle drei kannten auch eine Reaktion Gottes. Die erste Fürbitte beim ersten Bergaufenthalt hatte Gott erhört. Jetzt in Dtn 9,19 und 10,10 spricht Mose beim zweiten Aufenthalt von der zweiten Fürbitte. Wenn er sagt, auch diesmal habe ihn JHWH erhört, erinnert er seine Zuhörer an die erste Bitte vom ersten Bergaufenthalt, von der sie wissen, auch wenn er sie in seiner eigenen Erzählung nicht erwähnt hat. Er hat auch anderes nicht erwähnt, etwa die Vorgänge bei der Sünde selbst und Aarons Rolle, dennoch setzt er das als bekannt voraus.«135 Wie auch immer: Der Fall zeigt einmal mehr (vgl. auch schon oben zu Dtn 8,3), dass die dtn Verfasser und Redaktoren davon ausgingen, dass ihren AdressatInnen Erzählungen über die Sinai- und Wüstenzeit vertraut waren. Drittens soll noch auf die auf den ersten Blick merkwürdig heterogen wirkende Struktur von Dtn 9,25–10,10 eingegangen werden. Deutlich erkennbar ist die Rahmenfunktion von 9,25–29 und 10,10, hier wird die Fürbitte des Mose thematisiert. Eingebettet in diesen Rahmen finden sich drei Unterabschnitte zu verschiedenen Themen (Dtn 10,1–5; 10,6 f.; 10,8 f.), wobei Dtn 10,6 f. eine Bemerkung des Bucherzählers sind und die Ich-Erzählung des Mose unterbrechen.136 Inhalt und Anordnung der Unterabschnitte erschließen sich in Zusammenschau mit Aussagen aus Dtn 9:

134 ROSE 1994b, S. 509 f. 135 LOHFINK 2001, S. 149. 136 V. 8 f. können wieder als Moserede verstanden werden, vgl. das Suffix der 2. Pers. sg. am Ende von V. 9 (MT). Zu den sog. »frame-breaks«, die sich noch in Dtn 2,10–12.20–23; 3,9.11.13b–14 finden, siehe insbesondere SONNET 1997, S. 238–243, hier S. 239: »What the interpolated comments make clear is that Deuteronomy unfolds a double act of communication: (1) from Moses to his addressees in the plain of Moab; (2) from the narrator to the readers. The starting point is that each group remains in its own sphere of communication (Moses never addresses the readers as such).« Diachron werden die »frame-breaks« meist als spätere Zusätze beurteilt, zu Dtn 10,6 f. vgl. z. B. DAHMEN 1996, S. 106.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

10,1–5: Auf JHWHs Befehl hin werden neue Tafeln gefertigt.

9,15–17: Mose zerbricht die Tafeln.

10,6 f.: Aaron bleibt am Horeb am Leben und sein Sohn kann ihm im Amt nachfolgen.

9,20: Mose bittet für Aaron.

10,8 f.: Der Kult wird durch die Einsetzung von Levi von JHWH neu geregelt.

Dtn 9,21: Mose vernichtet das anstößige Kultobjekt.

Der Überblick zeigt eine intentionale Anordnung der einzelnen Abschnitte. Die dtn Verfasser und Redaktoren haben durch diese Komposition (»Geschichte« und »Gegengeschichte«) m. E. versucht zu zeigen, dass das Scheitern Israels am Horeb aufgrund von Moses Fürbitte quasi in allen Punkten »aufgehoben« wurde. An der Einheit Dtn 9,1–10,11 lässt sich besonders gut zeigen, wie die dtn Verfasser und Redaktoren die »Lehre der Satzungen und Rechtsvorschriften« in Dtn 6–11 verstanden haben. Es ist evident, dass sich Dtn 9,1–10,11 nicht als am Horeb von JHWH Mose mitgeteilter (es handelt sich z. T. um eine Ich-Erzählung des Mose!) und von Mose Israel »heute« gebotener Gesetzestext verstehen lässt.137 Lehre der Satzungen und Rechtsvorschriften heißt im Licht von Dtn 9,1–10,11 in Dtn 6–11 vielmehr, dass die dtn Verfasser und Redaktoren vor der eigentlichen Promulgation der dtn Gesetze in Dtn 12,1–26,16 Mose Ausführungen machen ließen, die im Hinblick auf die Motivation zur Befolgung der dtn Gesetze eine wichtige Rolle spielen.

3.1.4 Die vierte Lehrrede (10,12–11,32) Dtn 10,12–11,32 schließt mit dem Textdeiktikon »und jetzt« (‫ )ועתה‬an Dtn 9,1– 10,11 an. Das Textdeiktikon zeigt an, dass nun etwas Entscheidendes (vor dem Hintergrund der Aussagen der dritten Lehrrede) gesagt werden soll. Formal ist das dominierende Gliederungselement wie in Dtn 7,12–8,20 das gesetzesparänetische Schema:138 Mit ihm eröffnen sechs Abschnitte (10,12 f.; 11,1; 11,8a; 11,13; 11,22; 11,26–28), der letzte Abschnitt schließt mit einem solchen (11,32). Die (in der Exegese ausgesprochen umstrittene139) Struktur von Dtn 10,12–11,32 lässt sich m. E. wie folgt darstellen: 137 Siehe hierzu auch oben die Interpretation der »Worte« in Dtn 6,6. 138 S. o. zu Dtn 7,12–8,20. 139 VEIJOLA 2000b, greift »in Ermangelung eines besseren Hilfsmittels zur Erklärung der dunklen Rede von Dtn 10,12 ff.« (a. a. O., S. 207) auf das sog. Bundesformular zurück und erkennt folgende Elemente: 10,12 f.: Grundsatzerklärung; 11,2–9: Vorgeschichte; 11,10–12: Landbeschreibung; 11,13–15: Segensverheißung I; 11,16–17: Fluchandrohung; 11,18–19a.21: Vorschrift zur Weitergabe des Bundesinhalts an die Kinder; 11,22–25: Segensverheißung II; 11,26–28: Formales Vorlegen von Segen und Fluch. – Elemente des »Bundesformulars« mögen in Dtn 10,12–11,32 verarbeitet worden sein (vgl. noch mit unterschiedlichen Ergebnissen SEITZ 1971, S. 89, und BRAULIK 1986, S. 84), doch m. E. erklärt dies nicht das besondere Profil der Einheit.

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aα) 10,12–22: Aufforderung zum Gesetzesgehorsam – verschiedene Gottesbilder aβ) 11,1–7: Aufforderung zum Gesetzesgehorsam – Erkenntnis von JHWHs Erziehung in der Geschichte bα) 11,8–12: Aufforderung zum Gesetzesgehorsam (11,8a): Anschließend Erläuterung durch Angabe des Zwecks, nämlich Inbesitznahme des Landes (V. 8b) und langes Leben im Land (V. 9–12) bβ) 11,13–21: Wenn (‫ )אם‬Israel die Gesetze hält und JHWH das Land segnet (11,13–15): Warnung vor Überheblichkeit, Aufforderung zum dauerhaften Gebotsgehorsam als Bedingung für ein langes Leben im Land bγ) 11,22–25: Wenn (‫ )אם‬Israel die Gesetze hält (11,22): Zusage der Hilfe JHWHs bei der Vernichtung der Völker im Zuge der Inbesitznahme des Landes c) 11,26–32: Vorlage von Segen und Fluch (V. 26–28) Vorschrift zur Proklamation von Segen und Fluch (V. 29 f.) Aufforderung zum Tun der Satzungen und Rechtsvorschriften (V. 31 f.)

In Dtn 10,12–11,32 sind, abgesehen von dem letzten Teil (c), der in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle einnimmt, zwei thematische Schwerpunkte erkennbar: Erstens soll Israel mit Aussagen über JHWHs Sein und Handeln motiviert werden, die dtn Gesetze zu tun (Teile aα und aβ). Zweitens wird gezeigt, dass Israel ohne Gesetzesgehorsam weder das Land in Besitz nehmen kann noch auf Dauer in ihm leben kann (Teile bα, bβ und bγ). Die Wahl dieser beiden Schwerpunkte lässt sich verstehen vor dem Hintergrund von Dtn 9,1–10,11. Israel soll nach den dtn Verfassern und Redaktoren »jetzt« (‫ועתה‬, Dtn 10,12) entscheidende Konsequenzen aus dem in Dtn 9,1–10,11 Dargelegten ziehen: In der Erzählung über die Horeb-Ereignisse wurde JHWH als gnädiger Gott sichtbar, der sich durch Moses Fürbitte in Bezug auf seine Vernichtungspläne umstimmen ließ. Durch die Anführung weiterer »Gottesbilder« (z. B. des erwählenden, hoheitsvollen, gerechten, befreienden und erziehenden Gottes) in Dtn 10,12–11,7 wird der Aufforderung des dtn Mose, die »heute« gebotenen Gesetze dieses Gottes zu halten, besondere Eindringlichkeit verliehen. Bei der Thematisierung der bevorstehenden Inbesitznahme des Landes in Dtn 9,1–6 machten die dtn Verfasser und Redaktoren deutlich, dass die Gabe des Landes wesentlich mit dem Schwur JHWHs an die Erzväter zu tun hat, und dass JHWH Israel also erfolgreich in das Land bringen will, obwohl es ein halsstarriges Volk ist. Diese Perspektive wird in Dtn 11,8–25 durch eine andere Perspektive ergänzt (wobei sich in Bezug auf die Inbesitznahme des Landes ein Widerspruch ergibt, insofern sie hier an eine Bedingung geknüpft wird, s. u. 3.2.3.): Sollte Israel nicht sofort anfangen, das von Mose »heute« gebotene dtn Gesetz zu halten, so wird die Inbesitznahme des Landes nicht gelingen (vgl. insbesondere 11,8b.22–24); sollte Israel im Land nicht die dtn Gesetze halten, wird es im Land keine Zukunft haben (11,8a.9–12.13–21). Dies impliziert: Israel muss sich ändern. Näher eingegangen werden soll auf zwei Abschnitte, nämlich auf Dtn 11,13–21, da hier eine Doppelüberlieferung von Dtn 6,6–9 enthalten ist, und auf die Schlusspassage Dtn 11,26–32.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Dtn 11,13–21 ist der zweite Teiltext des sog. »Schema Israel« (der erste ist Dtn 6,4–9, s. o.). In V. 13–17 liegt m. E. ein Temporal-Bedingungssatz-Gefüge vor:140 Der Vordersatz V. 13–15 ist in JHWH-Rede gehalten – ein von den dtn Verfassern und Redaktoren gelegentlich eingesetztes »Stilmittel«,141 wohl um anzuzeigen, welche Autorität hinter der Rede des dtn Mose (bzw. hinter den von ihnen geschriebenen Texten) eigentlich steht. Die im Vordersatz genannte Bedingung ist der Gesetzesgehorsam Israels; angeführt wird noch, dass JHWH in diesem Fall für Regen und Nahrung im Land sorgen wird. Im Nachsatz (V. 16 f.) wird Israel davor gewarnt, sich in der Situation der Fülle verführen zu lassen und fremden Göttern zu dienen; die Folge würde sein, dass JHWH Israel dann vernichtet. In V. 18–20 wird aufgezeigt, wie Israel sich in der Situation der Fülle verhalten soll, d. h. wie es mit den dtn Gesetzen umgehen soll. Dabei werden einzelne, schon in Dtn 6,6–9 genannte Bestimmungen (mit z. T. leichter Varianz) wiederholt, wie z. B. das Tragen der Gesetze am Körper, die Lehre der Kinder und die Beschriftung der Türen und Tore mit den dtn Gesetzen. Die massive Präsenz der Gesetze Gottes in allen Bereichen garantiert quasi eine Konzentration auf JHWH. Nur so wird Israel nach V. 21 lange im Land leben können, dessen Gabe an die Nachkommen JHWH den Erzvätern geschworen hat. Was ist der Sinn der Doppelüberlieferung? Dtn 6,6–9 findet sich am Anfang der Lehre des dtn Mose im Hinblick auf die Satzungen und Rechtsvorschriften, Dtn 11,18–20 in einem der letzten Teile dieser Lehre. Die beiden Texte verklammern also die vier Lehrreden und zeigen ihre Zusammengehörigkeit an.142 Durch die zweifache Überlieferung unterstrichen die dtn Verfasser und Redaktoren eindrücklich, welche außerordentliche Bedeutung die tägliche Präsenz der dtn Gesetze bzw. der tägliche Umgang mit den dtn Gesetzen aus ihrer Sicht für Israel im Land hat, bevor sie in Dtn 12,1–26,16 Mose die Gesetze selbst promulgieren ließen. Dtn 11,26–32 soll zunächst übersetzt werden: 26 Siehe, ich lege euch heute Segen und Fluch vor: 27 Den Segen, wenn ihr auf die Gesetze JHWHs, eures Gottes, hört, die ich euch heute gebiete. 28 Und den Fluch, wenn ihr nicht auf die Gesetze JHWHs, eures Gottes, hört und ihr abweicht von dem Weg, den ich euch heute gebiete, indem ihr anderen Göttern nachgeht, die ihr nicht kanntet. 29 Und wenn (‫ )והיה כי‬dich JHWH, dein Gott, in das Land bringt, 140 Zur Begründung siehe GOMES DE ARAÚJO 1999, S. 133, und FINSTERBUSCH 2005, S. 217 f. Zumeist werden V. 13 als Vordersatz und V. 14 f. als Nachsatz bestimmt. 141 Vgl. noch Dtn 7,4; 17,3; 24,8; 28,20 und 29,4 f. Der MT ist, mit der Mehrheit der ExegetInnen, an diesen Stellen nicht textkritisch zu korrigieren. Vergleichbare Stilmittel in Bezug auf die unvermittelte Änderung der Kommunikationsebene sind z. B. noch die Unterbrechungen der Moserede durch den Bucherzähler (die »frame-breaks«, siehe oben zu Dtn 10,6 f.). 142 Vgl. auch BRAULIK 1993, S. 131. Die Verklammerung wird noch deutlicher, wenn der Abschnitt Dtn 11,22–25 ursprünglich nicht im Text stand (s. u. 3.2.3): Rahmen (Dtn 6,1–3) + Teiltext des Schema – Teiltext des Schema + Rahmen (Dtn 11,26–32).

C. Moses Vorlegen der Tora

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in das du kommst, es in Besitz zu nehmen, dann sollst du den Segen auf dem Berg Garizim und den Fluch auf dem Berg Ebal proklamieren. 30 Liegen beide nicht jenseits des Jordans, hinter dem Weg, im Westen, im Land der Kanaaniter, die in der Araba wohnen, gegenüber Gilgal bei den Eichen des Weisenden? 31 Wenn (‫ )כי‬ihr den Jordan überquert, um in das Land, das JHWH, euer Gott, euch gibt, zu kommen, um es in Besitz zu nehmen, dann werdet ihr es (auch) in Besitz nehmen und darin wohnen, 32 und (dann) sollt ihr sorgfältig alle die Satzungen und die Rechtsvorschriften tun, die ich euch heute vorlege.

Der Abschnitt ist – abgesehen von der »Glosse« V. 30 – sorgfältig strukturiert, er ist z. B. gerahmt, nämlich durch die in V. 26a und V. 32b in den Lehrreden nur hier vorkommende Formulierung »ich lege euch heute vor« (‫)אנכי נתן לפניכם היום‬. Der Abschnitt hat mehrere Funktionen. Erstens schließt er die vierte Lehrrede ab. Diese Funktion ist daran erkennbar, dass Motive aus dieser Lehrrede aufgenommen werden, z. B. in V. 28 Formulierungen und Themen aus Dtn 11,13–21 (auf JHWHs Gesetze hören, ‫» סור‬abweichen« + Fremdgötterverehrung). Zweitens bildet der Abschnitt mit Dtn 6,1–3 einen Rahmen um die ersten vier Lehrreden. Dies ist erkennbar an dem im Deuteronomium stets gezielt (d. h. an wichtigen Stellen) eingesetzten Doppelausdruck »Satzungen und Rechtsvorschriften«: Die Lehrreden beginnen mit der Aufforderung, die »Satzungen und Rechtsvorschriften« (‫חקים‬ ‫ )ומשׁפטים‬zu tun und sie enden damit. Drittens kann der Abschnitt auch als »Vorwort« zu den folgenden Kapiteln gelesen werden: Dtn 11,26–28: Vorlage von Segen und Fluch heute

Dtn 28,1–68: Vorlage von Segen und Fluch heute

Dtn 11,29: Segen- und Fluchzeremonie auf Ebal und Garizim

Dtn 27,11–13: Segen- und Fluchzeremonie auf Ebal und Garizim

Dtn 11,32: Vorlage der Satzungen und Rechtsvorschriften

Dtn 12,1–26,16: Lehre der Satzungen und Rechtsvorschriften

Solche Mehrfachfunktionen von Versen oder Abschnitten im Deuteronomium können als ein Zeichen für die literarische Qualität der Texte gewertet werden.143

143 Siehe z. B. auch oben zu Dtn 1,1–5 und unten zu Dtn 26,16.

98 3.2

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Diachrone Textbetrachtungen

3.2.1 Methoden der Textbearbeitung: Doppelüberlieferung eines Teils des »Schema Israel« in 6,6–9 und 11,18–20 Doppelüberlieferungen sind in der Hebräischen Bibel selten zu finden. Text- und literarkritisch sind sie insofern ein »Glücksfall« für die Exegese, da im Zuge des Textvergleichs wertvolle Erkenntnisse im Hinblick auf die Methoden der Bearbeitungen von Texten gewonnen werden können. Doppelt überliefert ist in Dtn 6 und Dtn 11 ein Teil des sog. Schema Israel (»Höre Israel«). Zunächst soll eine Übersicht über die überlappenden Textteile gegeben werden: Dtn 6,6–9

Dtn 11,18–20

6 Und es sollen diese Worte, die ich dir heute gebiete, auf deinem Herzen sein.

18 Und ihr sollt diese meine Worte

7 Und du sollst sie (diese Worte) deinen Kindern wiederholt vorsprechen, und du sollst (mit deinen Kindern) über sie reden bei deinem Sitzen in deinem Haus und bei deinem Gehen auf dem Weg und bei deinem Niederlegen und bei deinem Aufstehen. 8 Und du sollst sie binden als Zeichen auf deine Hand, und sie sollen sein Merkzeichen zwischen deinen Augen. 9 Und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und auf deine Stadttore.

auf euer Herz und auf eure Seele legen. Und ihr sollt sie binden als Zeichen auf eure Hand, und sie sollen Merkzeichen sein zwischen euren Augen. 19 Und ihr sollt sie (diese Worte) eure Kinder lehren, indem ihr sie (ihnen) vorsprecht und über sie redet bei deinem Sitzen in deinem Haus und bei deinem Gehen auf dem Weg und bei deinem Niederlegen und bei deinem Aufstehen.

20 Und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und auf deine Stadttore.

Welcher Text entstand zuerst? Die Indizien deuten darauf hin, dass Dtn 11,18–20 eine Bearbeitung von Dtn 6,6–9 ist (diesbezüglich besteht Konsens in der exegetischen Literatur:144) Dies lässt sich erstens an einer terminologischen Vereinfachung festmachen: Statt des Hapax legomenon ‫ שׁנן‬pi. (»wiederholen«) in Dtn 6,7 steht an der Parallelstelle Dtn 11,19 das gängige, im Deuteronomium häufig verwendete Verb ‫ למד‬pi. (»lehren«). Zweitens zeigt dies eine Verdeutlichung im Ausdruck: Dtn 6,7a besteht aus zwei vollständigen Sätzen, die man als zwei unabhängige Vorschrif144 Vgl. z. B. BRAULIK 1993, S. 125 f.

C. Moses Vorlegen der Tora

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ten deuten könnte (Vorschrift zur Lehre der Kinder und Vorschrift zum Meditieren der Gesetze145). In der Parallelstelle Dtn 11,19a steht stattdessen ein Hauptsatz mit untergeordnetem Nebensatz. Dadurch haben die dtn Verfasser und Redaktoren der Adressatenschaft gezeigt, dass es sich hier um nur eine Vorschrift handelt (Vorschrift zur Lehre der Kinder, indem man die Gesetze vorspricht bzw. über die Gesetze redet). Drittens deutet darauf der signifikante Numeruswechsel in Dtn 11,18–20 hin: Wird Israel (wie im vorausgehenden Kontext) zunächst im Plural (»Ihr«) angeredet, so wechselt die Anrede in V. 19b und in V. 20 unvermittelt in den Singular (»Du«). Dies lässt sich damit erklären, dass hier aus dem ganz im Singular gehaltenen Stück Dtn 6,6–9 »zitiert« wird – wohl in der Absicht, auf das »Original« Dtn 6,6–9 zu verweisen. Viertens lassen sich Gründe dafür finden, dass in Dtn 11,18–20 die Reihenfolge von Dtn 6,6–9 geändert wurde, umgekehrt bliebe eine Änderung rätselhaft: In Dtn 11,18–20 lässt sich eine bestimmte Konzentration der Vorschriften im Vergleich zu Dtn 6,6–9 ausmachen. Zunächst sind die Erwachsenen in ihrer Rolle als Individuen angesprochen (persönliche Ebene), dann in ihrer Rolle als Eltern (familiäre Ebene) und schließlich in ihrer Rolle als »Bürger« (öffentliche Ebene). Diese Konzentration passt zu der Funktion der Vorschriften in Dtn 11,13– 21: Sie sollen insbesondere vor Verführung zum Dienst an fremden Göttern schützen. Aus dem Gesagten ergibt sich ein weiterer Gesichtspunkt: Dtn 6,6–9* muss den dtn Verfassern und Redaktoren als Traditionsstück vorgegeben gewesen sein. Nur so ist die Verwendung des Verbs ‫ שׁנן‬pi. in Dtn 6,7 erklärbar. Anders formuliert: Wenn das Stück mit »deuteronomischen Federn« geschrieben worden wäre, hätten die Autoren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Verb ‫ למד‬pi. verwendet. Mindestens an einer Stelle haben die dtn Verfasser und Redaktoren dieses Traditionsstück der deuteronomischen Welt »angepasst«: Und zwar durch die Einfügung des Relativsatzes in V. 6,146 durch den die »Worte« in V. 6a (die sich möglicherweise ursprünglich nur auf Dtn 6,4 f. bezogen haben147) auf die von Mose »heute« gebotenen dtn Gesetze bezogen wurden (‫» דבר‬Wort« ist kein typischer dtn Gesetzesbegriff). 3.2.2 Kritische Interpretation: Der Dekalogtext 5,9 f. und die Ergänzung 7,9 f. In Dtn 7,9 f. wird unter Aufnahme der Terminologie des ersten Dekaloggebots das Gottesbild des ersten Dekaloggebots ausgesprochen kritisch »kommentiert« und dem Inhalt des Gebots an einem Punkt widersprochen.148 Dieser Befund erklärt sich am einfachsten diachron: Dtn 7,9 f. wurden sekundär eingefügt (V. 11 kann gedanklich nahtlos an V. 8 angeschlossen werden). Um die sprachlichen Bezugnahmen auf das erste Dekaloggebot im Detail zeigen 145 146 147 148

So z. B. FISCHER / LOHFINK 1987; zur Kritik an dieser Position siehe FINSTERBUSCH 2005, S. 242–248. So z. B. auch BRAULIK 1993, S. 124, und VEIJOLA 2000a, S. 78 f. Vgl. z. B. MACDONALD 2003, S. 127. Siehe hierzu insbesondere LEVINSON 2006, S. 174–179; siehe auch noch DERS. 2008, S. 72–84.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

zu können, müssen beiden Texte zitiert werden (die Bezugnahmen sind markiert). Zunächst Dtn 5,6–10: 6 Ich (bin) JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. 7 Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. 8 Du sollst dir kein Gottesbild machen, das irgendetwas darstellt am Himmel oben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. 9 Du sollst dich nicht vor ihnen (den anderen Göttern) niederwerfen und ihnen nicht dienen, denn ich, JHWH, dein Gott, bin EIN EIFERSÜCHTIGER / EIFERNDER GOTT (‫)אל קנא‬: der verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und bis in die dritte und vierte Generation bei denen, die mich hassen, 10 und erweist bis in die tausendste Generation Gnade bei denen, die mich lieben und die meine149 Gesetze halten.

Dtn 7,9 f. lautet: 9 Und so sollst du wissen, dass JHWH, dein Gott, der Gott ist, er ist DER TREUE / ZUVERLÄSSIGE GOTT (‫)האל הנאמן‬, der den Bund und die Gnade denen hält, die ihn lieben und die seine Gesetze halten, für tausend Generationen, 10 und der vergilt denen, die ihn hassen, ins Angesicht, um einen jeden auszutilgen. Er zögert nicht, wenn einer ihn hasst, vergilt er ihm ins Angesicht.

Die Verfasser von Dtn 7,9 f. veränderten erstens das Gottesbild von Dtn 5,9 und ersetzten ‫( אל קנא‬eifersüchtiger / eifernder Gott) durch ‫( האל הנאמן‬der treue / zuverlässige Gott). Zweitens zitierten sie die Aussage in Dtn 5,9 f. über die JHWH Hassenden und Liebenden in umgekehrter Reihenfolge150 und setzten dadurch einen anderen Akzent: Sie kommen zuerst auf die JHWH Liebenden und die »zuverlässige« Zuwendung JHWHs zu sprechen (sein eigentlicher »Schwerpunkt«) und dann auf die JHWH Hassenden. Drittens ersetzten sie bei ihren Ausführungen zu den »Hassenden« in V. 10 die Aussage der generationenübergreifenden Vergeltung (dritte / vierte Generation) in Dtn 5,9 durch die Aussage der Individualvergeltung (Vergeltung »ins Angesicht«, also solange der Täter noch am Leben ist151). Für die Abfassung von Dtn 7,9 f. noch in exilischer Zeit spricht m. E. die explizit in dieser Zeit im Hinblick auf die Ereignisse von 587/6 v. Chr. nachweisbare Problematisierung des Konzepts der generationenübergreifenden Haftung (Jer 31,29 f.; Ez 18, und siehe noch unten zu Dtn 24,16). Die Verfasser von Dtn 7,9 f. haben in den Dekalogtext nicht eingegriffen (sie haben zum Beispiel die Aussage über die generationenübergreifende Vergeltung nicht getilgt), sie haben ihn aber durch ihren »Kommentar« zwei Kapitel später 149 MT: »seine«; ursprünglich stand im Text wohl »meine«, vgl. MCCARTHY 2007, S. 67*, und siehe auch oben z. St. 150 »Seidels Gesetz«, vgl. hierzu LEVINSON 2006, S. 174, Anm. 54. 151 Die dtn Verfasser und Redaktoren kannten das Prinzip der Individualvergeltung durch JHWH auch, vgl. z. B. Dtn 1,36 und 29,15–20; »nach-deuteronomisch« vgl. noch Dtn 27,14–26.

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sozusagen modifiziert. Besonders interessant ist, dass sie sich der Stimme des Mose bedienten. Dadurch wird ihr »Kommentar« selbst zum autoritativen Text neben dem Dekalogtext. Dieser Fall von innerdeuteronomischer Textinterpretation zeigt: Nicht einmal der im Dtn hierarchisch gesehen wichtigste Text, der Dekalog, ist ein »statischer« Text. (Kritische) Auslegung ist möglich. Dieses Phänomen, darauf wies B. Levinson eindrücklich hin, »ist nicht auf das Deuteronomium beschränkt. Bei genauer Betrachtung wird offensichtlich, daß der gesamte Pentateuch seine eigene lebendige Rechts- und Geistesgeschichte hat, bei der spätere Autoren und Redaktoren auf frühere Schichten der Rechtstraditionen Bezug nehmen, sie in Frage stellen, re-interpretieren, angleichen, ausweiten und harmonisieren. Die spätesten Schichten des Pentateuch sind voller Beispiele, in denen sich die Redaktoren bewusst darum bemühen, aus diesem widersprüchlichen Material eine einheitliche Schrift und eine kohärente Tradition zu schaffen. Daraus folgt, daß die Rechtsauslegung ihren Platz nicht allein in der Rezeptionsgeschichte der Heiligen Schrift hat, wie allgemein angenommen wird, sondern bereits bei der Entstehung der Heiligen Schrift eine bedeutende Rolle gespielt hat.«152

3.2.3 Veränderte Botschaft: Indiz für das Werk einer Redaktion Die synchrone Textanalyse von Dtn 6,4–25 hat gezeigt, dass Dtn 6,18 f. inhaltlich in Spannung zu den Aussagen im Kontext (in dem Aussagen über Israels Verhalten im Land getroffen werden) steht: Nach Dtn 6,18 f. ist das Tun der Gesetze die Bedingung dafür, dass Israel das den Vätern zugeschworene Land in Besitz nehmen kann und die Feinde entsprechend der Zusage JHWHs schlagen kann. Die inhaltlichen Spannungen deuten darauf hin, dass Dtn 6,18 f. sekundär in den Kontext als Ergänzung zu Dtn 6,17 (dem Aufruf, die heute promulgierten dtn Gesetze JHWHs zu halten) eingefügt wurden. Die »Gegenprobe« zeigt, dass der Kontext ohne die beiden Verse völlig verständlich ist. Die Position, dass Israel bereits außerhalb des Landes die dtn Gesetze halten muss als Bedingung für die Inbesitznahme des Landes, findet sich im Deuteronomium insgesamt sechsmal: Dtn 4,1b; 6,18 f.; 8,1b; 11,8b.22–25; 16,20b. In Bezug auf die Einschätzung, dass diese Verse und Sätze sekundäre Zusätze einer bestimmten Redaktion sind, herrscht in der exegetischen Literatur weitgehend Konsens,153 denn alle Kontexte sind (wie bei Dtn 6,18 f. exemplarisch gezeigt) nicht nur ohne diese Verse verständlich, sondern die in ihnen formulierte Position steht auch zu den in allen Kontexten formulierte Auffassung, dass die dtn Gesetze im Land getan werden 152 LEVINSON 2006, S. 179. 153 LOHFINK 1981, S. 138 ff., hat die für diese Position verantwortliche Redaktion »DtrN« (»deuteronomistischer Nomist«) genannt (im Anschluss an SMEND 1971, der »DtrN« als Bearbeitungsschicht in Jos und am Anfang des Richterbuches nachgewiesen hat); vgl. auch noch BRAULIK 1989b, S. 18 f. Allerdings äußerten sich Lohfink und Braulik nicht zu Dtn 4,1b (sie sehen hier also offenbar nicht »DtrN« am Werk). VEIJOLA 2004, S. 4, Anm. 12, rechnete die meisten der genannten Texte »DtrB« zu (»bundestheologischer Deuteronomist«).

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sollen, in erheblicher Spannung (vgl. z. B. Dtn 4,5; 6,10 f.; 11,9; 11,13–21; 12,1; 16,18). Nach Meinung dieser Redaktion sollten die dtn Gesetze also offenbar schon im Exil (und nicht erst künftig im Land Juda) von den JudäerInnen befolgt werden (soweit dies eben möglich war). Welche Überlegungen standen hinter dieser Position? War der Redaktion die Position der »Kollegen«, dass JHWH ohne Gegenleistung das Volk in das Land zurückbringen wird (Dtn 9,1–6), zu »lax«? War ihr die genuin deuteronomische Konstruktion (Dtn 4,1*–40; Dtn 5*; Dtn 12–26*), dass außerhalb des Landes (im Exil) die Dekaloggebote und im Land zusätzlich noch die dtn Gesetze (als Ausdeutungen der Dekaloggebote unter den Bedingungen im Land Juda) getan werden sollten, zu »bequem«? Sahen sie durch die Setzung, dass außerhalb des Landes die dtn Gesetze lediglich gelehrt und gelernt werden (z. B. Dtn 5,1; Dtn 6,1), die Bewahrung der Identität der Exilierten als JudäerInnen auf Dauer nicht genügend gewährleistet? Interessant ist auch in diesem Fall (wie im Fall der kritischen Kommentierung von Dtn 5,9 f. in Dtn 7,9 f.): Die Stimme dieser Redaktion ist als eine Stimme neben anderen im Deuteronomium hörbar. Es wird im Text selbst nicht »entschieden«, welche Position im Recht ist. 3.2.4 Indiz für Textwachstum in 7: Der »Anhang« 7,17–26 Bei den synchronen Textbetrachtungen zu Dtn 7,12–8,20 wurde darauf hingewiesen, dass der Abschnitt Dtn 7,17–26 ein (in den Lehrreden aus dem Rahmen fallender) »Anhang« zu V. 16 ist, der für das Thema der Einheit (Segen oder Fluch in Verbindung mit Israels Tun oder Nicht-Tun der dtn Gesetze) nichts austrägt. Aufmerksam gemacht werden soll hier noch auf folgenden inhaltlichen Widerspruch: Nach Dtn 7,22 wird sich die Eroberung des Landes langsam vollziehen, nach Dtn 9,3 wird Israel in der Lage sein, die kanaanäische Bevölkerung schnell zu vernichten. In der Bewertung des Befundes gehen die Meinungen erheblich auseinander.154 Im Folgenden sollen zwei Hypothesen vorgestellt werden, die in etwas modifizierter Form m. E. beide geeignet sind, die Existenz des »Anhangs« zu erklären: M. Weinfeld setzte bei der Struktur von Dtn 7 an und erklärte die Reihenfolge der Themen mit der Hypothese, dass hier Ex 23 bearbeitet wurde: »Deuteronomy 7 is a coherent chapter […] basically built upon Exod 23,20–33, except that the passage about the angel in vv 20–23a was left out of Deuteronomy for ideological reasons. Otherwise there is a thematic and verbal overlap between these two chapters […] The only passages in Deuteronomy that do not find their parallels in Exod 23 are vv 6–11 and vv 17– 154 In diachroner Hinsicht wird Dtn 7 ausgesprochen kontrovers beurteilt, vgl. nur ACHENBACH 1991, S. 212 f.: »Unklar ist so ziemlich alles: das literarische Verhältnis zwischen den auf Jahwekrieg und Landnahme blickenden Außenstücken (7,1–5.17–26) und dem auf Erwählung und Verheißung ausgerichteten Mittelteil (V. 6–16), die innere Wachstumsgeschichte des Textes (d. h. einerseits die Frage nach dem Verhältnis zwischen singularischen und pluralischen Schichten, andererseits die Frage nach dem zwischen der mit v. Rad zu sprechen ersten und zweiten Predigt […], schließlich das Verhältnis zwischen vor-literarischer, literarischer und redaktioneller (dtr.) Überlieferung.«

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19. These are indeed expressly Deuteronomic sections, from the point of view both contents and style.«155

Der Vorteil dieser Hypothese ist, dass sie die Abfolge der Themen in Dtn 7 (Völkervernichtung, Segensverheißungen, Völkervernichtung) gut erklären kann. Die Annahme, dass Dtn 7 eine kohärente literarische Einheit sei, unterschätzt aber doch wohl die Komplexität des Kapitels (z. B. zeigte die synchrone Textanalyse, dass Dtn 7,1–11 einer anderen Sinneinheit zugerechnet werden muss als Dtn 7,12 ff.156). Es ist m. E. aber nicht auszuschließen, dass den dtn Verfassern und Redaktoren Dtn 7,1–26* als Komposition (als eine Bearbeitung von Ex 23) vorlag (vorgelegen hätte damit auch die Aussage der langsamen Eroberung des Landes), die sie für ihre Lehrreden verwendeten. Der Teil Dtn 7,17–26* hätte dann zwar in die Argumentationsstruktur der dritten Lehrrede nicht ganz gepasst, die dtn Verfasser und Redaktoren hätten ihn aber als »Anhang« stehen lassen (und sicherlich etwas bearbeitet / ergänzt). Von anderen Voraussetzungen ging T. Veijola aus. Nach Veijola war das Thema von Dtn 7 die im Land ansässigen Völker, das »von verschiedenen Seiten und Autoren angegangen [wird]. Die Bühne wird in V. 1*.2–3.6 aufgestellt, wo die grundlegende Forderung zur Separation von den Landesbewohnern formuliert (V. 2 f.) und begründet (V. 6) wird.«157 Veijola schrieb diese Verse einem exilischen Verfasser zu. Eine erste nachexilische Erweiterung erfolgte nach Veijola »in V. 17–19.21, wonach der Kontrast zwischen der Kleinheit Israels und der Größe der Völker Angst einflößt und zu einem Glaubensproblem wird«. In einer dritten Phase wurde nach Veijola das Verhalten Israels in dem Konflikt mit den Landesbewohnern auf seine negativen und positiven Konsequenzen hin entfaltet (V. 4 f.12–16.20.22–24, wobei die Redaktoren nach Veijola Ex 23 als literarische Quelle benutzt haben könnten). Die jüngsten Ergänzungen liegen nach Veijola in V. 7–11 und V. 25 f. vor.158 Insgesamt fragte Veijola m. E. zu wenig nach der Funktion der einzelnen Abschnitte von Dtn 7 für die Komposition Dtn (was hätte die Forderung zur Separation der Landesbewohner an dieser Stelle im damaligen Dtn austragen sollen?). Überzeugend ist jedoch, dass er nach Bezügen der einzelnen Aussagen zu der Zeitgeschichte des Alten Israel fragte. So könnte sich mit Veijola Dtn 7,22 recht gut als realistische »Korrektur« der Sichtweise von Dtn 9,3 erklären: Die Erwartung der dtn Verfasser und Redaktoren, JHWH würde Israel das Land schnell erobern lassen (Dtn 9,3), könnte insbesondere in der nachexilischen Zeit zum Problem geworden sein: Die Konsolidierung des kleinen Landes erwies sich als schwierig (siehe etwa

155 WEINFELD 1991, S. 380–382, in Aufnahme von Beobachtungen, die N. Lohfink in seiner Dissertation machte (vgl. LOHFINK 1963, S. 167–188). 156 WEINFELD 1991, S. 372, schrieb diese Unterteilung freilich »late editors« zu, die die literarische Integrität von Dtn 7 ignoriert hätten. 157 VEIJOLA 2004, S. 195. 158 VEIJOLA 2004, S. 196.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

die entsprechenden Aussagen in den Büchern Haggai, Esra und Nehemia). Mit anderen Worten: Dtn 7,17–26* könnte eine nachträgliche (»postdeuteronomische«) aktualisierende Ergänzung sein.159 Eine sichere Entscheidung für die eine oder andere Alternative ist m. E. nicht möglich. Mit Blick auf die recht komplexe Textüberlieferung von Dtn 7,17–26 in der Zeit des Zweiten Tempels kann allerdings vermutet werden,160 dass es eher unwahrscheinlich ist, dass der Abschnitt Dtn 7,17–26 einmal »aus einem Guss« geschrieben wurde.

4.

Moses Lehre der dtn Gesetze (12,1–26,16)

Vor den synchronen und diachronen Betrachtungen sollen einige grundsätzliche Bemerkungen zu Funktion, Struktur und Inhalt von Dtn 12,1–26,16 gemacht werden. In der exegetischen Sekundärliteratur wird Dtn 12,1–26,16 häufig als »deuteronomisches Gesetz« (»deuteronomic law code«) bezeichnet. Diese Bezeichnung wird auch in der vorliegenden Einführung verwendet. Betont werden muss allerdings, dass »Gesetz« dabei eine andere Bedeutung hat als das Gesetz in modernen Staaten: Wird in einem modernen Staat ein Gesetz nicht eingehalten, drohen dem Gesetzesübertreter (wenn er ertappt wird) unmittelbare konkrete Sanktionen.161 Dies gilt für viele deuteronomische Einzelgesetze nicht, sie stehen häufig (nicht immer162) ohne die Nennung einer konkreten Sanktion. Nichtsdestotrotz haben die dtn Verfasser und Redaktoren, wie sich in gesamt-deuteronomischer Perspektive zeigt, Konsequenzen im Fall der Nichteinhaltung aufgezeigt, nämlich in Form von Bestrafung durch JHWH (vgl. z. B. 28,15 ff.; 29,17 ff.). Das dtn Gesetz zeichnet sich nicht durch Vollständigkeit aus. Bei vielen im Gesetz behandelten Themen wird bei der Adressatenschaft Wissen vorausgesetzt (z. B. geht es in Dtn 24,1–5 um das Thema Ehescheidung, Details über den Prozess verlauten aber nicht). Zudem gingen die dtn Verfasser und Redaktoren von der Existenz anderer Gesetzessammlungen neben dem dtn Gesetz aus (z. B. wird in Dtn 24,8 mit einer Priestertora gerechnet). Manche Gesetze, wie z. B. diejenigen, die in dem »Verfassungsentwurf« Dtn 16,18–18,22 zusammengestellt wurden, »were visionary and without precedent. At each point, this section of Deuteronomy thus significantly departs from the institutional and social status quo of its time. Deuteronomy’s sub159 Nach RÖMER 2005, S. 170 f., ist die strikte Trennung Israels von den anderen Völkern in Dtn 7 (und 9,1–6) ein Kennzeichen nachexilischer Bearbeitung (vorausgesetzt wird nach Römer Esra 9). OTTO 2009, S. 190–201, weist Dtn 7,1–3a.17–24 seiner dtr »Moabredaktion« zu und erklärt Dtn 7,3b– 16.25 f. als »postdeuteronomistische Fortschreibungen« (nach Otto 5. Jh. v. Chr.). 160 Vgl. FINSTERBUSCH 2010a, S. 354 f. 161 WAGNER 2006, S. 52, bevorzugt deshalb den Ausdruck »deuteronomische Normensammlung«. 162 Beispiele für Sanktionen finden sich in Dtn 19,15–21 und in Dtn 22,13–29.

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ordination of the monarch to a sovereign legal text that regulates his powers and to which he is accountable has no counterpart known to me in the ancient Near East.«163

Die genannten Punkte führen zu der kontrovers diskutierten Frage nach der Funktion des dtn Gesetzes. Ch. Anderson gehört zu den ExegetInnen, die meinen: »These laws [Bundesbuch und dtn Gesetz] have primarily a non-juridical function and that function is to construct identity«.164 Anderson führte hierzu weiter aus: »By punishing some types of conduct and rewarding others, laws shape and define the behaviour deemed appropriate for an adherent of that value system. In the context of biblical laws, their ability to define appropriate behaviour for an Israelite, whether male or female, a married free woman, a slave man, and so forth is the way that these various identities are developed.«165

Wer damit rechnet, dass die dtn Verfasser und Redaktoren das dtn Gesetz für juristische Zwecke verfasst haben, muss die Frage beantworten, ob es (zumindest partiell) als Orientierung bei der alltäglichen Rechtsprechung dienen sollte (wobei Gewohnheitsrecht nicht unbedingt thematisiert werden musste und spezielles Recht wie z. B. Priesterrecht außen vor gelassen werden konnte), oder ob es vor allem ein Gelehrtenentwurf war (bei dem sich die Frage nach der Praktikabilität bzw. »Realität« der Gesetze nicht stellte).166 M. E. war das dtn Gesetz als ein Text gedacht, der mehrere Zwecke erfüllen sollte. Durch das dtn Gesetz, das nicht zuletzt ein Entwurf des idealen Israel ist, wollten die dtn Verfasser und Redaktoren zunächst einmal die (kollektive) Identität ihrer exilischen AdressatInnen fundieren und stärken (mit Anderson). Dies belegt ihre Konzeption des Lernens und Lehrens: In der Welt des Deuteronomiums werden die Gesetze außerhalb des Landes von Mose gelehrt und von Israel gelernt (vgl. z. B. Dtn 5,1; 6,1). Durch Lesen oder Hören des Deuteronomiums sollte auch die Adressatenschaft angeregt werden, die im Exil größtenteils nicht praktizierbaren (da auf die spezifischen Verhältnisse im Land Juda zugeschnittenen) dtn Gesetze zu lernen. Dass es den dtn Verfassern und Redaktoren allerdings auch mit der künftigen Umsetzung der dtn Gesetze in Juda ernst war167 (wobei sie in Bezug auf die juristische Detailarbeit m. E. auf die Richter in den Ortschaften und am Zentralgericht vertrauten, Dtn 17,2–13), zeigen vor allem die extensiven Paränesen in Dtn 6–11 163 164 165 166 167

LEVINSON 2005, S. 84. ANDERSON 2004, S. 10. ANDERSON 2004, S. 13. Vgl. zu diesen Alternativen z. B. LOHFINK 1996a, S. 180 f.; ANDERSON 2004, S. 11 f., OTTO 2007d. Vgl. z. B. noch HAGEDORN 2004, S. 283: »We have seen, that it is not possible to argue that, only because a state as envisaged in Deut 16: 18–18: 22 has never been put into practice, the authors of such a constitutional document aimed at the construction of a ›cloudcuckoo-state‹. The state reflected in this passage has to be regarded as a real alternative to the reality its deuteronomic authors currently experience.« Siehe auch im Teil V. ZUSAMMENFASSUNG, 3.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

sowie Segen und Fluch in Dtn 28. Das dtn Gesetz ist also als ein Rechtstext für das Volk (nicht für eine juristische Elite!) konzipiert, der eine konkrete Utopie enthält. M. E. ist das dtn Gesetz von den dtn Verfassern und Redaktoren sorgfältig strukturiert worden:168 12,1: ÜBERSCHRIFT mit Paränese EINLEITUNGSTEXT 12,2–7: Gesetze zur Schaffung der Voraussetzung für die Konzentration auf eine Kultstätte für Opfer und Abgaben EINHEIT I 12,8–14,21: Gesetze zum Themenbereich »(Kultische) Verehrung JHWHs im zentralen Heiligtum im Unterschied zu anderen Völkern« (Motiv zu Beginn der Einheit: Ruhe vor den Feinden im Land) EINHEIT II 14,22–16,17: Gesetze zum Themenbereich »Religiöser Zeit- und Festrhythmus in Israel« EINHEIT III 16,18–18,22: Gesetze zum Themenbereich »Zentrale Autoritäten in Israel« Einheit IV 19–21: Gesetze zum Themenbereich »Totschlag, Mord, (legitime) Tötung« EINHEIT V 22,1–23,15: Gesetze zum Themenbereich »Gefährdung und Sicherung von personaler Identität und von bestimmten Gemeinschaften« EINHEIT VI 23,16–24,7: Gesetze zum Themenbereich »Verluste von Menschen und Dingen« EINHEIT VII 24,8–25,19: Gesetze zum Themenbereich »Ausbeutung und Ausnutzung von Armen, Schwachen und Unterlegenen« (Motiv am Ende der Einheit: Ruhe vor den Feinden im Land) AUSLEITUNGSTEXT 26,1–15: Gesetze zum Sprechen von liturgischen Texten im zentralen Heiligtum bei der Ausführung dtn Gesetze in Bezug auf Opfer und Abgaben 26,16: ABSCHLUSS mit Paränese

Das Gesetz ist mit Überschrift (Dtn 12,1) und einem sprachlich darauf Bezug nehmenden Abschlussvers (Dtn 26,16) sowie mit sprachlich und inhaltlich vernetzten Einleitungs- und Ausleitungstexten (Dtn 12,2–7 und 26,1–15) doppelt gerahmt. Zudem wird Dtn 12,8–25,19 durch eine Klammer in Gestalt von sprachlich prägnanten Ausdrücken als »Kern« des Gesetzes ausgewiesen,169 solche markanten sprachlichen Signale haben die dtn Verfasser und Redaktoren, wie bereits mehrfach 168 Die Gegenthese vertritt KRATZ 2000, S. 120: »Eine sinnvolle Ordnung im vorliegenden Bestand [von Dtn 12–26] hat noch niemand gefunden und ist wohl auch nicht zu finden.« 169 Nur in Dtn 12,8–10 und Dtn 25,19 kommt im dtn Gesetz das Motiv des Ruhe-Verschaffens vor

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gezeigt wurde, ausgesprochen häufig, vermutlich als »Lesehilfe« für ihre Adressatenschaft, eingesetzt.170 Der Kern des Gesetzes lässt sich in sieben Einheiten unterteilen (wobei in Bezug auf die Gliederung nur zum Teil Konsens in der Exegese besteht171). Im Detail ist der Befund ausgesprochen komplex. Aufgrund von mehreren Untersuchungen kann es als sicher gelten, dass zumindest einige Abschnitte nach der Systematik keilschriftlicher Rechtssammlungen gegliedert wurden.172 So lässt sich in den Kapiteln Dtn 19–25 zum Teil eine Gliederung nach entsprechenden Sachgruppen und Gebieten zeigen. Dabei kann (und das erweckt bei heutigen LeserInnen gelegentlich den Eindruck »Kraut und Rüben«) durchaus »zwischen die Balken der Rechtssätze des Kodextorsos thematisch irgendwie verwandtes, aber gattungsfremdes Material als Gefache ›eingehängt‹ worden [sein]«.173 Ein Beispiel: »Daß die Rechtssätze 19,1–21,9 durch den Sachverhalt der Tötung von Menschen miteinander verbunden sind, der auch im Krieg eine große Rolle spielt, könnte die ›Einhängung‹ der Regeln für den Kriegsfall 20,1–20 angeregt haben; der Ort hinter 19,16–21 mag durch den Gedanken der Feindschaft in 19,16 bedingt sein.«174

Umstritten ist, ob das dtn Gesetz nach dem dtn Dekalog (Dtn 5,6–21) strukturiert oder (nachträglich) redigiert wurde. Verneiner einer dekalogischen Strukturierung des dtn Gesetzes führen vor allem an,175 dass eine systematische Zuordnung von Geboten und Verboten des Dekalogs in der in Dtn 5 vorliegenden Reihenfolge nicht gelingen will (z. B. das Thema »falscher Zeuge« spielt in dem Abschnitt, der ihm im dtn Gesetz ungefähr entsprechen müsste, nämlich in Dtn 24,8–25,19, keine Rolle). Gegen eine dekalogische Strukturierung scheint zudem zu sprechen, dass der Shabbat im dtn Gesetz ebenso wenig wie der Meineid beim Namen JHWHs (so nach T. Veijola die historische Bedeutung des Namensmissbrauchsverbots176) eine Rolle spielen. Doch in den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die auf sprachliche und inhaltliche Bezüge zwischen dem Dekalog und dem dtn Gesetz hinweisen.177 M. E. lässt sich eine dekalogische Ausrichtung des dtn Gesetzes aufgrund des Einsat-

170 171 172 173 174 175 176 177

Israels Feinden vor (‫ נוח‬hif. + ‫ מכל איבים‬+ ‫)מסביב‬, vgl. hierzu ausführlich FINSTERBUSCH 2011b, S. 129–131. Siehe z. B. oben zur Struktur von Dtn 6–11. Vgl. nur die Überblicke über die Gliederungsversuche von SEITZ 1971, S. 92 f., und PREUSS 1982, S. 108–112. Vgl. insbesondere BRAULIK 1991, S. 18 f.; WAGNER 2006. WAGNER 2006, S. 59. WAGNER 2006, S. 60. Vgl. z. B. ROFÉ 1988, S. 59, Anm. 21; TIGAY 1996, S. 534, Anm. 19; CRÜSEMANN 1997, S. 238–242; WAGNER 2006, S. 54–55. VEIJOLA 2000a, S. 48–60, und DERS. 2004, S. 158–160. Zu einer alternativen Deutung siehe SEREMAK 2004, S. 214–257. Vgl. z. B. HOSSFELD 2000, S. 58–59; SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER 2005, S. 71; RÜTERSWÖRDEN 2005, S. 119; detaillierte Vorschläge zur Strukturierung / Ausrichtung des dtn Gesetzes nach den Dekaloggeboten haben KAUFMAN 1979; BRAULIK 1991; OLSON 1994; OTTO 2005a, und FINSTERBUSCH 2011b, vorgelegt.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

zes von signifikanten Schlüsselworten und/oder von klaren thematischen Schwerpunkten der Einheiten nachweisen (wobei die dtn Verfasser und Redaktoren an einigen Stellen gezielt von der Reihenfolge der Dekaloggebote abwichen).178 Es ging den dtn Verfassern und Redaktoren bei der dekalogischen Ausrichtung des dtn Gesetzes allerdings nicht um die »Explikation des vorliegenden Horebdekalogs«,179 die dtn Gesetze sind keine »Ausführungsbestimmungen«,180 auf Vollständigkeit angelegte Kommentare oder gar Erklärungen des historischen Wortlautes der Dekaloggebote. Vielmehr haben die dtn Verfasser und Redaktoren bestimmte Aspekte und Themen der einzelnen Dekaloggebote im Hinblick auf die Verhältnisse im Land Juda ausgedeutet. Diese Gesetzgebung in »zweifacher Gestalt« (Dekalog und Ausdeutung der Dekaloggebote im dtn Gesetz) gehört zum besonderen Profil des Deuteronomiums. Die von Mose promulgierten dtn Gesetze richten sich an ein »Du«/»Ihr«. Wer ist hier eigentlich genau gemeint? Das Du/Ihr hat gelegentlich zweifellos exklusiv männliches Profil, beispielsweise in den Familiengesetzen, in denen das Du eindeutig das männliche Oberhaupt einer Familie ist, oder im Kriegsgesetz (Dtn 20), in dem das Du die Mitglieder des Heeres meint. Doch auszumachen ist auch ein inklusiver Sprachgebrauch.181 Ein Beispiel: Mehrfach wird bei der Kultgesetzgebung recht detailliert angegeben, wer bei den Opfermahlzeiten am zentralen Jerusalemer Heiligtum teilnehmen soll, nämlich »ihr und eure Söhne und eure Töchter und eure Sklaven und eure Mägde« bzw. »du und dein Sohn und deine Tochter und dein Sklave und deine Magd« (vgl. Dtn 12,12.18; 16,11.14; 26,11182). Auffällig ist, dass in diesen Listen durchweg die Ehefrauen fehlen (vgl. auch das Shabbatgebot des Dekalogs). Dies kann nur bedeuten, dass sie ebenso wie ihre Ehemänner in dem Du/Ihr angesprochen sind. Denn dass (Ehe-)Frauen bei den Opferfesten in Jerusalem teilnehmen sollten, geht ausdrücklich aus Dtn 31,10–13 hervor. Zu bedenken ist zudem: In der Welt des Deuteronomiums spricht Mose zu dem kollektiv vor ihm versammelten Israel in Moab, nach Dtn 5,1 soll ganz Israel die deuteronomischen Gesetze hören und lernen und tun; nach Dtn 31,12 sollen explizit auch die Frauen alle (!) Worte der Tora in Jerusalem beim Laubhüttenfest im Erlassjahr, also alle sieben Jahre, hören und lernen, und sie (dann erneut) tun (alle die Gesetze, die von ihnen eben umgesetzt werden können, also z. B. nicht die Krieggesetze Dtn 20).183 178 Vgl. hierzu FINSTERBUSCH 2011b, und siehe die Übersichtstabelle unten im Teil V. ZUSAMMENFASSUNG, 2.1. 179 So BRAULIK 2008b, S. 182. 180 So RÜTERSWÖRDEN 2006, S. 50. 181 Siehe FINSTERBUSCH 2010b, S. 391–396. 182 Siehe hierzu insbesondere BRAULIK 1998, S. 82 ff., und vgl. auch noch OTTO 2002, S. 267. Dies wird oft übersehen (das Kollektiv Israel nach dem Dtn ist z. B. gegen HAGEDORN 2004, S. 118, gerade nicht der Athenischen Versammlung vergleichbar, die nur aus männlichen Bürgern bestand). 183 Gemeint ist also: Tun sollen Frauen die Gesetze der dtn Tora, die für Frauen Gültigkeit haben, lernen sollen sie in der Welt des Dtn alle Worte bzw. Gesetze der Tora.

C. Moses Vorlegen der Tora

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Hinter dieser in der patriarchalen Welt des Alten Orients vergleichsweise ungewöhnlichen, spezifisch dtn Konzeption steht vielleicht die im Hinblick auf die Ereignisse 598/7 und 587/6 v. Chr. gewonnene Einsicht der dtn Verfasser und Redaktoren, dass das exilierte Israel religiöse Identität nur mit aktiver Beteiligung der Frauen fundieren und erhalten kann. Noch eine letzte Bemerkung zum Inhalt: In inhaltlicher Hinsicht weist das dtn Gesetz viele Gemeinsamkeiten mit den anderen großen Gesetzessammlungen des Pentateuchs, dem »Bundesbuch« (Ex 20,22–23,33) und dem sog. »Heiligkeitsgesetz« (Lev 17–26), und mit altorientalischen Gesetzessammlungen wie z. B. der mittelassyrischen Rechtssammlung auf. Es zeichnet sich aber auch durch einige Besonderheiten aus wie z. B. durch ein »Kultzentralisationsgesetz« (Dtn 12), einen »Verfassungsentwurf« (Dtn 16,18–18,22) sowie eine spezifische »Geschwisterethik« (z. B. Dtn 15,1–11.12–18).

4.1

Synchrone Textbetrachtungen

4.1.1 Überschrift mit Paränese (12,1) Die Überschrift Dtn 12,1 besteht aus einem verschachtelten Satzgefüge: 1aα 1aβ

1b

Dies (sind) die Satzungen und Rechtsvorschriften, die ihr sorgfältig tun sollt im Land (‫)בארץ‬, das JHWH, der Gott deiner Väter, dir gegeben hat / gegeben haben wird, um es in Besitz zu nehmen, alle Tage, die ihr auf der Erde / im Land (‫ )על האדמה‬lebt.

Der Nominalsatz in V. 1aα zeigt an, dass nun die Satzungen und Rechtsvorschriften folgen. Es fehlt ein Promulgationsverb, und daraus ist zu schließen, dass der dtn Mose sein in Dtn 6,1 begonnenes »Lehren« (‫ למד‬pi.) hier weiter fortsetzt. Im restlichen Vers wird zum Tun der Satzungen und Rechtsvorschriften ermahnt und angegeben, wo diese Gesetze gehalten werden sollen, nämlich im verheißenen Land (V. 1aβ), und wie lange, nämlich für die Dauer der Existenz Israels im Land (V. 1b).184 Das Verb »geben« im Relativsatz in V. 1aβ steht im hebr. Perfekt (‫)נתן‬. Interpretiert man es als Vergangenheit, so wurde das Land bereits von JHWH gegeben – und dies steht z. B. in Spannung zu der Aussage von Dtn 11,31, nach der JHWH dem in Moab versammelten Israel das Land erst »heute« gibt. Nach N. Lohfink wird in Dtn 12,1aβ auf Gen 15,18 zurückgegriffen: »Jahwe leistet Abraham einen Eid […] und sein Inhalt ist etwas, was jetzt, beim Aussprechen, vollzogen wird. Indem 184 »Land« (‫ )ארץ‬und »Erde« (‫ )אדמה‬können synonym verstanden werden, vgl. LOHFINK 1989b, S. 258. Adama kann auch im Sinn von Erdkreis interpretiert werden, so z. B. RÜTERSWÖRDEN 1999, S. 212 f. Dann wäre ein möglicher Sinn von Dtn 12,1b: Solange Israel auf dem Erdkreis existiert, soll zumindest im verheißenen Land das dtn Gesetz getan werden.

110

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Jahwe den Eid leistet, schenkt er das Land: jetzt, nicht zukünftig.«185 Der Sinn dieses Rückgriffs auf Gen 15,18 ist nach Lohfink, eine Aussage über den Umfang des verheißenen Landes zu treffen, in dem die Gesetze zu halten sind, denn in Gen 15,18 wird das Land definiert als vom Nil bis zum Euphrat reichend. Außerhalb dieses geographischen Raumes (also u. a. im Exilland Babylon) gilt, so Lohfink, die Verpflichtung, die dtn Gesetze zu halten, nicht. Die These dieses Rückgriffs ist schwer »beweisbar«, und so schlug U. Rüterswörden eine andere Interpretation von Dtn 12,1aβ vor, nämlich das hebr. Perfekt ‫נתן‬ hier im Sinne eines Futur II zu verstehen:186 Die dtn Gesetze sind demnach in dem Land zu halten, das JHWH Israel in Kürze gegeben haben wird. Ausdrücklich bezweifelte Rüterswörden bei seiner Interpretation in Bezug auf den Geltungsbereich der Gesetze eine exklusive Deutung: »Sollten etwa die Speisegebote und -verbote in Dtn 14 und das in Dtn 12 wiederholt genannte Bluttabu im Exil nicht gegolten haben?«187 Nach der dtn Konstruktion der Gesetzgebung in »zweifacher Gestalt« sollte der Dekalog überall und das »heute« zu hörende und lernende dtn Gesetz (künftig) im Land gelten (hier ist Lohfink Recht zu geben, siehe auch unten zu Dtn 25,19). Dies ist allerdings eine »ideale« Konstruktion, die m. E. unter anderem der Identitätsstärkung der Adressatenschaft, nämlich der im Exil lebenden JudäerInnen dienen sollte (s. o. 2.2.2). Dass angesichts dieser Konstruktion recht bald im Exil die »realistische« Frage aufkam (und dies ist die particula veri der zitierten Frage von Rüterswörden), inwiefern einzelne dtn Gesetze, die auch außerhalb des Landes Juda gehalten werden konnten (wie z. B. die Speisegesetze in Dtn 14), nicht auch im Exil gehalten werden sollten, legen bestimmte Sätze bzw. Abschnitte nahe, die sich als sekundäre redaktionelle Ergänzungen wahrscheinlich machen lassen (vgl. z. B. Dtn 4,1b; 8,1b; 11,22–25; Dtn 30,1–10; der kurze Ausflug in die Diachronie sei hier gestattet188). 4.1.2 Einleitungstext: Gesetze zur Schaffung der Voraussetzung für die Konzentration auf eine Kultstätte für Opfer und Abgaben (12,2–7) Nach Dtn 12,2–3 wird Israel in der Welt des Deuteronomiums eine einmalige Handlung geboten: Es soll die vielen Kultstätten der »Kanaanäer« im Land zerstören. Es soll danach also keine funktionierende Kultstätte im Land mehr geben.189 Damit wird sozusagen die Voraussetzung für das »Kontrastprogramm« für Israel

185 LOHFINK 1989b, S. 271. 186 RÜTERSWÖRDEN 1999, S. 211 f. Rüterswörden wies auf mehrere Stellen hin, an denen das hebr. Perfekt im Dtn als Futur II aufzufassen ist (über die von ihm angegebenen Belegstellen hinaus gilt dies m. E. auch noch für Dtn 4,5a). 187 RÜTERSWÖRDEN 2006, S. 73; vgl. auch DERS. 1999, S. 214–216. 188 Siehe hierzu im Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 3.2.3, und im Teil III. E. MOSES WORTE DES MOAB-BUNDES, 2.3. 189 Die Existenz alter israelitischer Lokalheiligtümer wird in der Welt des Deuteronomiums ignoriert.

C. Moses Vorlegen der Tora

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geschaffen, das im zweiten Teil des Abschnitts, in V. 4–7 aufgestellt wird (V. 4: »nicht sollt ihr so tun in Bezug auf JHWH, euren Gott« [nämlich ihn an mehreren Kultstätten verehren]). Was für Israel nach der Zerstörung gelten soll, sagt vor allem die sog. »Zentralisationsformel« in V. 5. Sie findet sich hier im Dtn zum ersten Mal und zwar in ihrer vergleichsweise ausführlichsten Form:190 JHWH soll nur an einem, und zwar an dem von ihm erwählten Ort kultisch verehrt werden. Gemeint ist Jerusalem bzw. der Jerusalemer Tempel. Jerusalem wird im dtn Gesetz (und auch sonst im Deuteronomium) nicht namentlich genannt, da in der erzählten Zeit die Inbesitznahme dieser Stadt noch weit in der Zukunft liegt. An die zentrale Kultstätte soll Israel kommen und seine Opfer bringen (V. 6), nämlich Tieropfer, freiwillige Spenden und Abgaben, die im Rahmen bestimmter dtn Gesetze vorgeschrieben werden (z. B. agrarische Zehntabgaben). Nach V. 7 sollen die Opfergaben mit einem Freudenfest für den Opfernden und seine Familie verbunden sein; und zwar handelt es sich um Freude über JHWH Segen, der in der Fülle der Opfer sichtbar ist (V. 7b). Besonders hinzuweisen ist darauf, dass die dtn Verfasser und Redaktoren in Dtn 12,2–7 einen entscheidenden Hinweis auf das Motiv für die von ihnen geforderte Konzentration des Kultes auf einen zentralen Ort gaben: Israel sollte sich dadurch von der Religion der »Kanaanäer« abheben.191 Der Grund lag also nicht (was z. B. mit Blick auf Dtn 6,4 f. durchaus naheliegend gewesen wäre) in der Einzigkeit JHWHs im Sinne von: ein einziger Gott – ein einziger Kultort, oder, wie E. Otto vermutete, in der Überbietung der »assyrischen Kultzentralisation« (in Bezug auf den Gott Aššur).192 Die Bedeutung dieses kultischen »Kontrastprogramms« ist kaum zu überschätzen: Das dtn Zentralisationsgesetz steht nicht nur in direktem Widerspruch zum Altargesetz des Bundesbuches, das mehrere Kultstätten vorsieht (Ex 20,24–26), sondern es hat auch (wie noch zu zeigen ist) weitreichende Implikationen für die religiöse Lebensgestaltung der Gesellschaft, die im Dtn vorausgesetzt wird. Das Zentralisationsgesetz ist in gewisser Hinsicht der Dreh- und Angelpunkt des dtn Gesetzes. Dass das zentrale Heiligtum in den »Rahmenteilen« des dtn Gesetzes (Dtn 12,2–7 und 26,1–15) eine wesentliche Rolle spielt, ist sicherlich kein Zufall. 4.1.3 Gesetze zum Themenbereich »(Kultische) Verehrung JHWHs im zentralen Heiligtum im Unterschied zu anderen Völkern« (12,8–14,21) Die Sinneinheit Dtn 12,8–14,21 kann grob wie folgt gegliedert werden: 12,8–28: Gesetze zum Thema eine zentrale Stätte für den JHWH-Kult im Land 12,29–31: Gesetze zum Thema kein »kanaanäischer« JHWH-Kult (an der zentralen Kultstätte) 13,1: Paränese mit »Autoritätssicherungsformel« 190 Vgl. die gute Übersicht bei LOHFINK 1989c, S. 151. 191 Vgl. auch TIGAY 1996, S. 120.463 f. 192 OTTO 1999a, S. 351.

112 13,2–19: 14,1–21:

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Gesetze zum Thema exklusive Verehrung JHWHs (keine Verehrung anderer Götter an der zentralen Kultstätte) Israel als aus Völkern erwähltes heiliges Volk: bestimmte Speiseregeln, kein Totenkult

Insbesondere die ersten drei Abschnitte gehören inhaltlich eng zusammen. Sie sind als Ganzes gelesen mehr als die Summe ihrer Teile: In Dtn 12,8–28 wird vorgeschrieben, dass der Opferkult ausschließlich am zentralen Heiligtum praktiziert werden soll. Nach Dtn 12,29–31 wird verboten, JHWH auf »kanaanäische« Weise zu verehren, nach Dtn 13,2–19, andere Götter der Völker zu verehren. Zu ergänzen ist in 12,29–31 und 13,2–19 im Hinblick auf Dtn 12,8–28: »am zentralen Heiligtum« (andere Kultorte sollen ja nach der Umsetzung des Gesetzes Dtn 12,2 f. in der Welt des Dtn nicht mehr existieren). JHWH soll im Land also nicht nur an der zentralen Kultstätte verehrt werden, sondern dort auch in nicht-kanaanäischer Weise und exklusiv. Dtn 14,1–21 wirkt wie ein »Anhang« zum Thema Unterscheidbarkeit von den Völkern. Nun zu den einzelnen Abschnitten der Einheit: Im Abschnitt Dtn 12,8–28193 sind drei Gesetze zum Thema Opferkult an der zentralen Kultstätte für Israel zusammen gestellt (V. 8–12.13–19.20–28). In Bezug auf die Anfangsverse V. 8–10 fällt auf, dass hier zunächst noch einmal grundsätzlich der Fokus auf die Situation Israels in der Welt des Deuteronomiums gerichtet wird: Was »heute« – also für das Israel in Moab außerhalb des Landes – noch gilt, soll künftig im Land nicht mehr gelten, wenn JHWH Israel Ruhe vor den Feinden verschafft hat und Israel sicher in seinem Erbbesitz wohnt. Demnach muss Israel, wenn es über den Jordan zieht, nicht sofort die (in Dtn 12,8–25,19 zusammengestellten194) dtn Gesetze halten, sondern erst, wenn JHWH Israel »Ruhe verschafft hat«. Aus den Abschnitten V. 13–19.20–28 geht hervor, dass die Wahl des Ortes, an dem JHWH Opfer gebracht werden sollen, keinesfalls in menschlichem Ermessen liegen kann (anders das Altargebot des Bundesbuches, Ex 20,24–26). Allein JHWH wählt den Ort aus; dies wird nachdrücklich zum Ausdruck gebracht durch den geradezu stakkatoartigen Gebrauch der sog. Zentralisationsformel. Sie ist als »Kurzform« (»der Ort, den JHWH erwählen wird«) vertreten (vgl. V. 14.18.26) und als »Langform« (hier finden sich z. B. noch die Infinitivsätze »seinen Namen dort wohnen zu lassen« bzw. »seinen Namen dort anzubringen«, vgl. V. 11.21).195 Die Bedeutung des erwählten Kultortes wird insbesondere durch die Langform der Zentralisationsformel unterstrichen: Die Finalbestimmung, dass JHWH seinen Namen an diesem Ort wohnen lassen will, ist als Zusage der dauerhaften Präsenz JHWHs an 193 Der erste und der letzte Vers im Abschnitt sind m. E. aufeinander bezogen gestaltet worden: V. 8: »Ihr sollt nicht so tun, wie wir es heute hier tun, ein jeder all das in seinen Augen Rechte«; V. 28: »sondern du sollst tun das Gute und das Rechte in den Augen JHWHs, deines Gottes«. 194 Zur Wiederaufnahme von in Dtn 12,9 f. verwendeten Formulierungen (wie des Ruhe-Verschaffens durch JHWH) in Dtn 25,19 und zu der Bedeutung dieser Wiederaufnahme siehe unten zu Dtn 25,17–19. 195 Zur Frage der Verwendung der Zentralisationsformel und der Verteilung ihrer Gestalten siehe die interessante Hypothese von LOHFINK 1989c, S. 162 ff.

C. Moses Vorlegen der Tora

113

diesem Ort zu interpretieren (Name und Namensträger sind im altorientalischen Denken identisch).196 Demnach können sich die IsraelitInnen an diesem Kultort gleichsam in der unmittelbaren Gegenwart JHWHs aufhalten. Wenn sie jedoch JHWH an anderen Kultorten verehren würden, würden sie JHWHs Namen gleichsam »missbrauchen« (so m. E. die »Ausdeutung« des zweiten Dekaloggebots durch die dtn Verfasser und Redaktoren, kenntlich an der Verwendung der »Schlüsselterminologie« ‫» שׁם יהוה‬Namen JHWHs«197). Im Zusammenhang mit der Konzentration des Kultes auf einen Ort stellte sich für die dtn Verfasser und Redaktoren die Frage nach der Möglichkeit der sog. Profanschlachtung (Schlachtung nicht zu kultischen Zwecken, sondern zu Genusszwecken). Nach V. 13–19 ist Opferschlachtung nur an der erwählten Kultstätte erlaubt, Profanschlachtung ist an allen Orten erlaubt. Letzteres wird faktisch in V. 20–25 eingeschränkt: Wenn JHWH die Gebietsgrenzen Israels erweitern wird, soll Profanschlachtung an von der zentralen Opferstätte weiter weg liegenden Orten erlaubt sein. Das heißt, wer in der Nähe des zentralen Heiligtums wohnt, muss dort für kultische wie für »profane« Zwecke sein Fleisch schlachten. Blut darf in keinem Fall konsumiert werden (V. 23–25.26 f.). In Dtn 12,29–31 wird bestimmt, dass Israel nach der Vernichtung der »kanaanäischen« Völker durch JHWH nicht (quasi post festum) deren Kultbräuche erforschen (V. 30b »nicht sollst du nach ihren Göttern forschen …«) und praktizieren soll (V. 31a: »nicht sollst du so tun in Bezug auf JHWH, deinen Gott, sondern …«). Im Text verlautet nichts über den Ort solcher möglicher Praxis. Im Kontext gelesen kann hier nur gemeint sein: an der einen Kultstätte. Dtn 13,1 ist kein Gebot, sondern ein paränetischer Satz: Der dtn Mose fordert Israel auf, »die ganze Sache« (‫)כל הדבר‬, die er gebietet, also das dtn Gesetz, unbedingt zu tun (V. 1a), und zwar soll nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden (V. 1b, siehe auch noch Dtn 4,2). V. 1b wird in der exegetischen Literatur zumeist als »Kanonformel« bezeichnet, doch ist die Rede von »Kanon« in diesem Zusammenhang anachronistisch (von einem »Kanon« der Hebräischen Bibel lässt sich frühestens im 1. Jh. n. Chr. sprechen198). Auch die gelegentlich alternativ verwendete Bezeichnung »Wortsicherungsformel«199 ist nicht glücklich, denn es ging den dtn Verfassern und Redaktoren nicht um die »Sicherung« einzelner Worte (auf der Wortebene war, wie gezeigt,200 in der Textüberlieferung vor der Standardisie196 Diesbezüglich ist die Langform der dtn Zentralisationsformel eine (wohl bewusste) Steigerung der Zentralisationsformel im Altargesetz des Bundesbuches (Ex 20,24: »an jeglichem Ort, an dem ich meines Namens gedenken lasse«) sowie der akkadischen Formel in assyrischen Königsinschriften »schuma(m) schakanu(m)«, »sich einen Namen schaffen«, siehe hierzu insbesondere OTTO 2007b, S. 242.244 f. 197 Vgl. zu dieser Interpretation des Namensmissbrauchsverbots insbesondere auch SEREMAK 2004, S. 246 f. 198 Die ersten Hinweise auf einen »Kanon« liefern 4 Esra 14,37–48 und Josephus, Contra Apionem 1,36–47. 199 RÜTERSWÖRDEN 2006, S. 84. 200 Vgl. im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 3.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

rung Varianz üblich). Ich plädiere für die Bezeichnung »Autoritätssicherungsformel«, denn V. 1b zielt darauf, die Autorität des dtn Gesetzes zu unterstreichen: Das dtn Gesetz sollte inhaltlich für die Adressatenschaft Autorität haben, es sollte unbedingt verbindlich sein. Es sei hier noch erwähnt, dass die Formel, wie insbesondere B. Levinson zeigte, eine signifikante Parallele in den VTE hat; dort zielte sie auf die Autorisierung der Worte des assyrischen Königs Asarhaddons.201 Sie war also keine Erfindung der dtn Verfasser und Redaktoren. Dtn 13,1 ist (auch) eine Art paränetische Einleitung zu Dtn 13,2–19: Hier sind drei Gesetze für Extremfälle zum Thema Fremdgötterverehrung (dem zentralen Thema des ersten Dekaloggebots) zusammengestellt.202 In V. 2–6 geht es um den Versuch eines Propheten bzw. eines Traumdeuters, zur Fremdgötterverehrung anzustiften. Fremdgötterverehrung ist nach V. 6 »Hochverrat« (‫)סרה‬. Israel wird geboten, auf diesen Propheten bzw. Traumdeuter nicht zu hören, sondern ausschließlich JHWH zu verehren. In V. 7–12 geht es ebenfalls um Anstiftung zur Fremdgötterverehrung, und zwar von nahen Angehörigen. In beiden Fällen sollen die Anstifter umgehend bestraft werden, d. h. getötet werden.203 In den Versen erinnern manche Formulierungen (wie im Fall von V. 1) auffallend an die VTE (dort ging es um Loyalität gegenüber dem assyrischen König, hier wird unbedingte Loyalität JHWH gegenüber gefordert, siehe zu den Parallelen unten EXKURS I, 2). Im dritten Fall (V. 13–19) wird angenommen, dass »Belial-Menschen«204 (‫אנשׁים בני‬ ‫ )בליעל‬eine Stadt zur Apostasie verführt haben; in diesem Fall soll die Stadt gebannt werden. Die Verehrung fremder Götter (laut V. 8 nicht mehr der »Kanaanäer«, sondern der Völker in der Umgebung Israels) ist nach V. 6 und V. 12 ein Ausdruck von »dem Bösen« (‫)הרע‬. Diesem Bösen kann man nach deuteronomischer Logik weder durch Erziehung noch durch »Ausgrenzung«, sondern nur durch Ausrottung beikommen. Warum diese Radikalität? Warum ist aus deuteronomischer Sicht die Verehrung fremder Götter (neben JHWH) ein so schlimmes Vergehen? Eine Antwort ist in V. 11 zu finden: Die Fremdgötterverehrung würde Israel von der Konzentration auf JHWH abbringen, der ja nach deuteronomischer Glaubensüberzeugung Israel aus Ägypten führte und befreite (siehe auch V. 6) und sich insofern für Israel als einzig legitimer, im Interesse Israels handelnder Gott erwiesen hat. Im Zuge der Fremdgötterverehrung würde Israel seine Wurzeln aus den Augen verlie201 LEVINSON 2009. 202 Vermutlich sollten damit die Grenzen der Loyalität zu JHWH ausgelotet werden, vgl. zu Analogien in der Antike RÜTERSWÖRDEN 2002, S. 190 f. 203 Demnach ist Lynchjustiz möglich, die aber nach Dtn 17,2–13 ausgeschlossen sein soll, siehe hierzu EXKURS I, 2. 204 In den Qumranschriften ist Belial der am häufigsten benutzte Name für den Widersacher Gottes, vgl. STEUDEL 2000. Schon in der Hebräischen Bibel meint der Begriff gelegentlich eine personifizierte Größe, z. B. Ps 18,5. Allerdings nicht im Deuteronomium, »für göttliche oder dämonische Antagonisten Jahwes ist hier kein Platz, ›böse‹ ist eine Qualifikation menschlichen Handelns. Genau an dieser Stelle macht V. 14 mit seiner Wortwahl deutlich, dass es sich um menschliche Akteure handelt«, RÜTERSWÖRDEN 2003, S. 199.

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ren, es würde quasi geistig-religiös »entwurzelt« und wäre nicht mehr (über-)lebensfähig. Dtn 14,1–21 wirkt wie ein Anhang zum Thema »Unterscheidbarkeit Israels« (bisher wurde betont, dass sich Israel in Bezug auf die eine Kultstätte und die Kultpraxis von den »Kanaanäern« unterscheiden soll, und in Bezug auf die Konzentration auf JHWH an der Kultstätte von den Völkern seiner näheren und ferneren Umgebung; jetzt wird der Blick auf Israel und die Weltvölker gerichtet). Zum einen betrifft dies den Bereich Tod und Trauer (Dtn 14,1): Es soll in Israel bei Trauerfällen keine spezifischen Rituale in Bezug auf Tote geben.205 Zum anderen betrifft dies die Nahrung (Dtn 14,3–21aα.b): Angeführt wird ein Katalog reiner und unreiner Tiere (in der Reihenfolge Landtiere, Wassertiere, Flugtiere). Die Gründe für diese Klassifizierung bleiben (weitgehend) im Dunkeln;206 zudem gibt es in Bezug auf die Klassifizierung von reinen und unreinen Tieren auf Pentateuchebene durchaus Dissens, wie die Liste in Lev 11 zeigt. Aufschlussreich ist die in Dtn 14,3–21 mehrfach verwendete Formulierung (V. 7.8.10.19), dass ein Tier (z. B. das Schwein) unrein »für euch« sein soll (in jeder Gesellschaft gibt es wohl so etwas wie Speisetabus). Sie zeigt, dass die Speisegesetze ein exklusives Identitätsmerkmal für Israel sein sollen (und bis heute haben die vielen Speisegesetze der jüdischen Tradition eine starke identitätsbewahrende Funktion, Stichwort: koscheres Essen). Für den in Israel lebenden Ger (»Fremdling« oder vielleicht besser: »Schutzbürger«207) und den Nochri (den in Israel nicht dauerhaft lebenden Nichtjuden208) gelten diese Speisegesetze nicht, wie an dem »Fall« des verendeten Tieres verdeutlicht wird (V. 21). 205 Die in V. 1b genannten Trauerrituale sind m. E. exemplarisch zu verstehen; siehe auch noch Dtn 26,14 und Dtn 18,11. Im Kontext der ersten Einheit im Gesetz (12,8–14,21), in der m. E. die ersten beiden Dekaloggebote unter den Bedingungen des Landes ausgedeutet werden, kann Dtn 14,1b so verstanden werden, dass die dtn Verfasser und Redaktoren Totenkult als grundsätzlich unvereinbar mit den zentralen Grundätzen ihrer Religion ansahen (vgl. auch die programmatische Eröffnung in V. 1a: »Kinder seid ihr JHWH, eurem Gott«!). Anders urteilte GERTZ 2009, S. 560: »Aufs Ganze gesehen lässt sich aus den drei genannten Texten kein programmatischer Entwurf zur Abwehr des Totenkultes herauslesen. Die Erwähnungen in Dtn 18,11 und 26,14 wirken eher beiläufig […]. Das Deuteronomium kämpft nicht auf breiter Front gegen den Totenkult, sondern vollzieht mit dem Verbot eine mentalitätsgeschichtliche Entwicklung nach, die […] schon längst eingesetzt hatte.« Zu Trauerriten im Alten Israel vgl. noch SCHROER 2009. 206 Möglicherweise bedingten bestimmte Vorstellungen von Ordnung und Ordnungswidrigkeit die Unterscheidung von »rein« und »unrein«, beispielsweise sind Kriechtiere und vierfüßige Tiere, die fliegen, eigentlich »ordnungswidrig«, also »unrein«, so WILLI-PLEIN 1993, S. 40 f. – Sicherlich existiert ein Zusammenhang zwischen den Speisegesetzen und ökonomischen und ökologischen Bedingungen, z. B. ist die Haltung von Schweinen teuer, da Schweine nicht von Gras leben können, und aufwändig, da sie sich nicht auf Dauer in Herden halten lassen, vgl. hierzu die Überlegungen von HARRIS 1980. Zum Thema siehe insbesondere auch noch DOUGLAS 1992. 207 Nach Dtn 31,12 soll der Ger alle Worte der Tora lernen und tun (inwieweit gelten die Gesetze der Tora für ihn?). Zum Ger im Dtn vgl. BULTMANN 1992, und ZEHNDER 2005a. Mit Zehnder ist der Ger im Dtn als »Fremdstämmiger« zu verstehen, vgl. auch DERS. 2005b, S. 308 f. 208 »Der Hauptunterschied zwischen den beiden genannten Gruppen ger und nochri liegt, zusammenfassend gesagt, im Maß ihrer Integration in die israelitische Gesellschaft«, ZEHNDER 2005b, S. 309.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Dtn 14,1 und Dtn 14,3–21aα.b werden jeweils mit dem Satz begründet, dass Israel ein heiliges Volk für JHWH, seinen Gott, ist (Dtn 14,2 und Dtn 14,21aβ). In V. 2 wird noch ergänzt, dass JHWH allein Israel als »Eigentumsvolk« aus allen Völkern auswählte (siehe hierzu auch oben zu Dtn 7,6.7). Die besondere »Heiligkeit« Israels unter den Weltvölkern bedingte für die dtn Verfasser und Redaktoren (naturgemäß) ein Profil Israels, das sich von anderen Völkern (inkl. Ger und Nochri) unterscheidet.

4.1.4 Gesetze zum Themenbereich »Religiöser Zeit- und Festrhythmus in Israel« (14,22–16,17) Das erste Gesetz in der Einheit Dtn 14,22–16,17, in dem es um die Verzehntung der jährlichen Erträge geht (14,22–29), führt das Thema »Essen« von Dtn 14,3–21 in gewisser Weise weiter. Die einzelnen in der Einheit enthaltenen Gesetze sind, wie insbesondere G. Braulik gezeigt hat, durch das Thema Zeit miteinander verbunden (wobei die Zahl »sieben« bzw. der Sieben-Jahres-Zyklus eine zentrale Rolle spielen; dies ist mit Braulik ein Indiz dafür, dass in der Einheit das dritte Gebot ausgedeutet wird.209) Die Einheit lässt sich wie folgt gliedern: 14,22–29: 15,1–11: 15,12–18: 15,19–23: 16,1–16:

Gesetz zur jährlichen Verzehntung der Erträge (an Sukkot) Gesetz zum Siebtjahr als Erlassjahr Gesetz zur Freilassung von SchuldsklavInnen (im jeweils siebten Jahr) Gesetz zur jährlichen Heiligung der männlichen Erstgeburten der Tiere (an Sukkot) Gesetze zu den drei jährlich zu feiernden Wallfahrtsfesten: Pesach, Schawuot, Sukkot

Dtn 14,22–29 und Dtn 15,19–23 bilden quasi eine Klammer um die Gesetze zum Schutz der Armen (Verschuldeten) in Dtn 15,1–18. In beiden Abschnitten geht es um die Verzehntung des Ernteertrags sowie um die Heiligung der männlichen fehlerlosen Erstgeburten210 der Tiere: »Jahr um Jahr« (‫ )שנה ]ב[שנה‬soll verzehntet und geheiligt werden (Dtn 14,22; 15,20). Zuerst zu Dtn 14,22–29: Zehnt und Erstgeburten sollen jährlich von den Familien unter Beteiligung der Leviten am Jerusalemer Heiligtum (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Rahmen des Laubhüttenfestes211) konsumiert werden (V. 22 f.27). Im Fall, dass der Weg zu weit ist, um Zehnt und Erstgeburten an das Heiligtum zu bringen, kann alles verkauft werden und mit dem eingenommenen Silber für ein entsprechendes Mahl am Heiligtum vor Ort gesorgt werden (V. 24–26). Zehnt und Erstgeburten sollen also nicht – und dies ist durchaus unge209 Vgl. BRAULIK 1991, S. 35–38. 210 Zum Profil des dtn Erstgeburtengesetzes siehe insbesondere FINSTERBUSCH 2006. 211 Am Laubhüttenfest liegen die in Dtn 14,23 aufgezählten Erträge vor; ‫» כל תבואה‬der ganze Ertrag« wird in 14,22 und 16,15 erwähnt, siehe auch BRAULIK 1999, S. 103.

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wöhnlich – an den König und seine Beamten (vgl. Gen 14,20 und 1 Sam 8,15.17), auch nicht an JHWH und seine Priesterschaft abgeführt werden (vgl. Num 18,12 ff.). Sie sollen ausschließlich in den bäuerlichen Familien bleiben. Allerdings soll nach Dtn 14,28 f. am Ende von (je) drei Jahren212 – und dies ist bei dem im dtn Gesetz zugrunde gelegten Sieben-Jahres-Zyklus das jeweilige dritte und sechste Jahr – Folgendes gelten: Der Zehnte des Ernteertrags soll nicht am Heiligtum konsumiert, sondern in den Städten abgegeben werden. Zu verteilen ist diese Abgabe an folgende Gruppen: Zum einen an die Leviten, da sie nach Dtn 10,8 f.; 18,1 f. kein Land besitzen dürfen und deshalb auf diese Abgabe angewiesen sind (die Leviten gelten im Dtn allerdings nicht als »arm«,213 vgl. zur Versorgung der Leviten auch Dtn 18,1–8). Zum anderen an die sozial schwachen Gruppen Witwen, Waisen und Fremdlinge (diese sind, wie aus dem Sukkot-Gesetz in 16,13–15 hervorgeht, zudem am Fest in Jerusalem zu beteiligen, s. u.). Es handelt sich demnach bei Dtn 14,28 f. um nichts weniger als um den Erlass der »ersten bekannten Sozialsteuer«.214 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung in V. 29b: Das Abgeben ist die Voraussetzung für den Segen JHWHs in Bezug auf alles Tun des »Du«. JHWH wird demnach nur dann für reiche Jahreserträge sorgen, wenn das »Du« dafür sorgt, dass alle Menschen in Israel (regelmäßig) zu essen haben. Diese Begründung wird auch in den folgenden Gesetzen angeführt (Dtn 15,10.18). Sie zeugt von dem im Deuteronomium besonders ausgeprägten Bewusstsein, dass auch die wohlhabenden Menschen im Letzten vollkommen von JHWHs Segen abhängig sind – den sie jederzeit (mit Konsequenzen für das Kollektiv!) verspielen können. Dtn 15,1–11 und 15,12–18 sind Gesetze, in deren Zentrum arme »Geschwister« stehen (‫אחים‬, das Nomen bedeutet hier nicht »Brüder«, sondern mit Blick auf Dtn 15,12 »Geschwister«215). Die Bezeichnung »Geschwister« ist dabei durchaus programmatisch gemeint: Die im Kollektiv lebenden IsraelitInnen sollen sich gegenseitig als »Geschwister« ansehen, und daraus soll insbesondere in Bezug auf die armen Menschen in der Gesellschaft ein bestimmtes Handeln resultieren (gesetzt wird also interessanterweise hier nicht auf die Hilfsmaßnahmen einer Großfamilie,216 auch nicht auf die soziale Fürsorge durch den König – im Alten Orient eine seiner vornehmsten Aufgaben.217) In Dtn 15,1–11 wird das Siebtjahr als soziales Erlassjahr bestimmt (nach dem Gesetz im Bundesbuch Ex 23,10 f. ist es ausschließlich als agrarisches Brachjahr aus212 213 214 215 216

Vgl. Dtn 26,12: Das Drittjahr wird hier das »Zehntjahr« genannt. So LOHFINK 1990b, S. 213 f. CRÜSEMANN 1997, S. 254. Siehe auch FABRY 1997, S. 93; OTTO 2002, S. 267; KESSLER 2010. Im Deuteronomium wird fast durchweg die Kleinfamilie vorausgesetzt (bezeichnenderweise fehlt weitgehend der Begriff für »Familie« ‫)משׁפחה‬. Mit der dtn »Geschwisterethik« wird nach OTTO 1997b, S. 57 f., auf das Zerbrechen der judäischen Großfamilie mit ihrer innerfamiliären Solidarität im 7. Jh. reagiert; nach FABRY 1997, S. 109, auf die nachexilischen Zustände in Juda. 217 Siehe unten zum dtn Königsgesetz Dtn 17,14–20.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

gewiesen, das den Armen und den Tieren des Feldes zugute kommen soll.218) Am Ende jedes siebten Jahres sollen die den armen »Geschwistern« gewährten, aber bis dato nicht zurückgezahlten Kredite als getilgt gelten (V. 2). Damit wird hier – soweit bekannt, einzigartig im Alten Orient – Schuldenerlass in einem regelmäßigen Abstand vorgesehen.219 Der Schuldenerlass am Ende des Siebtjahrs (wohl am Laubhüttenfest, vgl. Dtn 31,10) muss allerdings nur gegenüber »Geschwistern« praktiziert werden, hingegen nicht gegenüber dem Nochri (V. 3a). Die EÜ übersetzte hier recht unschön: »Gegen einen Ausländer darfst du mit Zwang vorgehen«; Buber/ Rosenzweig übersetzten: »bei dem Fremdländer magst du [das Geliehene] eintreiben«. V. 3a ist nicht im Sinne einer diskriminierenden Regelung gegenüber nicht permanent in Israel lebenden Nichtjuden misszuverstehen.220 In der deuteronomischen Welt sind dtn Gesetze für Nochrim nicht gültig (s. o. zu Dtn 14,21), ein Nichtjude kann diesbezüglich weder Rechte ableiten noch muss er sich verpflichtet fühlen (sollte er also z. B. einem Israeliten ein Darlehen geben, könnte der Israelit einen Schuldenerlass im Siebtjahr nicht geltend machen). V. 4–6 enthalten einige reflektierende »Zwischenbemerkungen«: Nach V. 4 soll die israelische Gesellschaft eigentlich eine Gesellschaft ohne arme Menschen sein. Dies zielt wohl nicht auf die Witwen, Waisen und Fremdlinge, die ja als regelmäßige Versorgungsempfänger vorgesehen sind und insofern auf Dauer ausreichend versorgt sein sollten (siehe oben zu Dtn 14,28 f.).221 Eine Gesellschaft ohne (permanent) arme bzw. verschuldete Menschen wäre nach V. 5 möglich, wenn sich alle an die dtn Gesetze hielten. Denn diesfalls würde sich göttlicher Segen, sprich ausreichende Lebensgrundlage (auf Dauer) für alle Gruppen, einstellen. Selbst wenn die »Realisten« unter den dtn Verfassern und Redaktoren wohl skeptisch blieben (siehe auch die entsprechende Sichtweise in V. 11!), so wurde jedenfalls das (auf Gesetzesgehorsam fußende) Ideal der Gesellschaft ohne (permanent) arme Menschen hier als Maßstab bleibend eingebracht. Nach V. 7 f. soll großzügig geliehen werden, nur so hätten die Armen eine realistische Chance, ihre Situation zu verbessern (und den Kreditgebern ihren Kredit vor Ende des Siebtjahres auch wieder zurückzuzahlen). Ausdrücklich wird in V. 9a geboten, dass auch beim Nahen des Siebtjahres den Armen Kredite zu geben sind (obwohl die Chance einer Rückzahlung natürlich gering ist). Nach V. 9b wacht JHWH über die Rechte der Armen, und Fürsorge gehört zu ihren Rechten bzw. die Gewährung von Krediten gehört zu den religiösen Pflichten der wohlhabenderen 218 Im Dtn wurde das Brachjahr also anders konzipiert, siehe hierzu insbesondere STACKERT 2007, S. 138–141. 219 Siehe hierzu HAMILTON 1992, S. 45–72; OTTO 1997b; YARON 2004. 220 Siehe auch FABRY 1995, S. 104 ff., und ZEHNDER 1995b, S. 310. 221 Vgl. LOHFINK 1990b; sowie DERS. 1992a, S. 249–254. Dies bedeutet, dass Witwen und Waisen in der idealen Gesellschaft des Dtn anders als sonst im alten Orient nicht dem Armenrecht, sondern einem Versorgungsrecht unterstellt sind (anders OTTO 2004, S. 479, Anm. 34). Allerdings rechneten die dtn Verfasser und Redaktoren durchaus auch mit dem Fall, dass Fremdlinge und Witwen (ebenso wie freie israelitische Bauern) »verarmen« (sich verschulden müssen), vgl. Dtn 24,14.17b.

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Menschen. Gewähren sie die Kredite nicht, werden sie vor Gott »schuldig«. »JHWH, nicht ein Gericht, ist für den Schuldner Adressat der Klage, wenn die Erlaßregelung mißachtet wird. Sie enthält dementsprechend keine Rechtsfolgebestimmung für den Fall der Nichtbefolgung.«222 In V. 10 wird versucht, für die Einhaltung des Erlassjahres zu werben, indem wie schon in Dtn 14,29 (s. o.) ein Zusammenhang von fürsorglichem Tun und Segen hergestellt wird: Wer reichlich und ohne Bedauern gibt, wird selbst nicht ärmer, sondern gesegnet.223 Wenn Familien dermaßen in Schulden geraten, dass auch Kredite bzw. Krediterlasse nicht helfen (Dtn 15,1–11), soll nach dem Freilassungsgesetz Dtn 15,12–18 für erwachsene Männer und Frauen die Möglichkeit bestehen, sich selbst für sechs Jahre als SchuldsklavInnen zu verkaufen. Das spezifische Interesse des dtn Freilassungsgesetzes ist es (im Unterschied zu dem des Bundesbuches und des Heiligkeitsgesetzes224), den »Geschwistern« nach ihrer Freilassung im siebten Jahr ein neues Leben in wirtschaftlicher Selbstständigkeit zu ermöglichen: Der Käufer / die Käuferin soll ihnen bei der Entlassung in die Freiheit eine Art Startkapital von den eigenen Gütern mitgeben (V. 14). Um die Bedeutung dieser Freilassung zu unterstreichen, wird in V. 15 auf die Ägyptenerfahrung verwiesen: »Erinnere dich, als du Sklave in Ägypten warst, hat dich JHWH, dein Gott, freigekauft.« Natürlich waren die Angeredeten faktisch nicht selbst in Ägypten. Aber sie sollen sich selbst so ansehen, als ob sie in Ägypten gewesen wären und von JHWH befreit worden sind (generationenübergreifendes »Du«225). Die Identifikation mit der Exodusgeneration soll in diesem Kontext für die Einsicht sensibilisieren, dass jeder und jede in Israel Freiheit einzig und allein JHWH verdankt. Was von JHWH aus Gnade empfangen wurde, soll nach Kräften in der Gesellschaft gefördert werden, hier die freie (wirtschaftlich gesicherte) Existenz aller »Geschwister«. V. 15 macht deutlich, dass nach Meinung der dtn Verfasser und Redaktoren »Sklaverei« in Israel eigentlich nicht zu seiner Geschichte der Befreiung passt. So ist es nicht verwunderlich, dass quasi nur als »Sonderfall« in V. 16 f. Dauersklaverei erwähnt und zugelassen wird im Fall, dass Männer oder Frauen ausdrücklich SchuldsklavInnen auf Dauer bleiben möchten (und zwar nach V. 16b aufgrund einer emotionalen Beziehung zur Käufer-Familie). SchuldsklavInnen würden bei konsequenter Anwendung des dtn Freilassungsgesetzes wohl kaum einen materiellen Vorteil für die Kaufenden bringen. Noch einmal wird deshalb abschließend die Entlassung der SchuldsklavInnen nach sechs Jahren thematisiert und für sie geworben, indem der »Segen JHWHs« ins Spiel

222 OTTO 1997b, S. 54. 223 Zur Wirkungsgeschichte des Erlassjahres siehe OTTO 1997b, S. 61 f.; YARON 2004, S. 199 f.; KESSLER 2010, S. 23–28. 224 Ex 21,1–11; Lev 25,39–46; zu den Unterschieden speziell im Hinblick auf die Sklavinnen siehe FINSTERBUSCH 2010b, S. 382–388. 225 Diese Rhetorik wird im Dtn häufig eingesetzt, siehe z. B. Dtn 6,20–25 (hierzu ausführlich FINSTERBUSCH 2005, S. 249–253) und das sog. kleine geschichtliche Credo Dtn 26,5–10 (s. u.).

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

gebracht wird (V. 18): Gesegnet wird in seinem gesamten Tun, wer die unfreien Geschwister in die Freiheit entlässt (mit allem, was nach dem Freilassungsgesetz zu dieser Entlassung gehört). Der Abschnitt Dtn 16,1–17 enthält Gesetze zu den drei jährlich zu feiernden Hauptfesten in Israel (Pesach: die innerbiblische Wort-»Erklärung« ist »Vorübergehen«,226 Schawuot: »Wochen«, Sukkot: »Laubhütten«). Sie sind im Deuteronomium als »Wallfahrtsfeste« konzipiert: Die drei Feste sollen am zentralen Heiligtum in Jerusalem begangen werden (also nicht, wie im Bundesbuch, an lokalen Heiligtümern, und dies war nach B. Levinson nicht nur ein »update but a revolution«227). Das Gesetz zum Pesachfest (Dtn 16,1–8) beginnt mit einer mehrdeutigen Zeitangabe. Dies hängt damit zusammen, dass das hebräische Wort chodesch »Monat« oder »Neumond« (also: »der erste Tag eines Monats«) bedeuten kann. Es gibt also zwei Möglichkeiten der Interpretation von V. 1a: »Achte auf den Monat Aviv, und feiere JHWH, deinem Gott, Pesach.«228 »Achte auf den Neumond des (Monats) Aviv (d. h. auf den ersten Tag im Monat Aviv), und feiere JHWH, deinem Gott, Pesach.«229

Nach der ersten Möglichkeit wäre gemeint, dass Pesach während des Monats Aviv (übersetzt: »Ähre«) zu einem bestimmten, nicht explizit genannten (vielleicht, weil als allgemein bekannt vorausgesetzten) Datum zu feiern ist. Nach der zweiten Möglichkeit wäre Pesach am ersten Tag des Monats Aviv zu feiern (diesfalls wäre die spätere jüdische Tradition nicht der deuteronomischen Datierung gefolgt230). Wie auch immer, der angegebene Zeitpunkt wird heilsgeschichtlich begründet (V. 1b): »denn am Neumond des Monats Aviv / denn im Monat Aviv hat dich JHWH, dein Gott, aus Ägypten herausgeführt, nachts«. Angespielt wird in V. 1b wenn man so will, auf ein besonderes »Gruppenerlebnis«. Insofern zielt das »Du« im Gesetz zum Pesachfest, anders als in den Gesetzen zum Wochenfest und zum Laubhüttenfest, auf Israel als Kollektiv.231 Nach V. 3 f. sollen während des gesamten Festes nur Mazzen gegessen werden,232 226 227 228 229 230

Vgl. Ex 12,13.23.27. Zur Etymologie des Wortes Pesach vgl. OTTO 1989, Sp. 664–667. LEVINSON 1998, S. 55 f. So etwa TIGAY 1996, S. 153. So etwa BRAULIK 1986, S. 116. Für das Pesachfest ist nach Lev 23,5 als Datum der 14. Tag des ersten Monats angegeben, nach Num 9,10 f. ist die Feier im »zweiten Monat« erlaubt. Nach dem Pesachbrief aus Elephantine ist am 14. Nisan zu feiern (»Nisan« ist der Name für den ersten Monat im babylonischen Kalender). Vgl. zum Thema auch noch BRAULIK 1981, S. 102, Anm. 19, und LEVINSON 1998, S. 68, Anm. 51. 231 BRAULIK 1981, S. 107; LEVINSON 1998, S. 74. 232 V. 3 f. bereiten im Detail Schwierigkeiten: Nach V. 4b darf von dem Opferfleisch nichts bis zum Morgen übrig bleiben, entgegen dem jetzigen Wortlaut von V. 3a soll »zu ihm« (dem Opfertier?) sieben Tage lang (!) nur Mazzen gegessen werden. Möglicherweise sind hier bestimmte Formulierungen des Bundesbuches aufgenommen und kombiniert worden, siehe hierzu insbesondere LEVINSON 1998, S. 81–89.

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die als »Notstandsbrot«233 (‫ )לחם עני‬bezeichnet werden. Diese Mazzen (ungesäuerte Brotfladen) werden ausdrücklich in Zusammenhang mit dem hastigen Aufbruch aus Ägypten gebracht, bei dem keine Zeit mehr blieb, vorbereiteten, gesäuerten Teig zu backen. Durch die Mazzen kann die Erfahrung dieses Aufbruchs während der ganzen Festtage präsent bleiben. Nach V. 5 f. soll das am Zentralheiligtum versammelte Israel am Abend des ersten (abends beginnenden) Feiertags die Pesachopfertiere schlachten, in dieser Nacht sollen diese Tiere vollständig verzehrt werden und am nächsten Morgen soll schon wieder die Heimreise angetreten werden. Der Sinn des Festes wird in V. 3b gewissermaßen auf den Punkt gebracht: »Damit du erinnerst den Tag deines Auszugs aus Ägypten alle Tage deines Lebens«. Warum ist die Auszugserfahrung eigentlich so wichtig? Sie kann wohl besonders deutlich machen, dass das sesshafte Leben im Land in keiner Weise selbstverständlich ist (keineswegs »schon immer so war«), und dass das Volk dieses sesshafte Leben gewissermaßen nicht »verdient« hat. Israel verdankt dies vielmehr allein JHWH, der den Auszug verantwortete (V. 1b) und der Israel schließlich die Ortschaften im Land schenkte (V. 5). In diesem Zusammenhang ist wohl auch die betonte Ausrichtung des Festes auf JHWH erklärbar: Pesach soll gehalten werden »für JHWH« (V. 1) das Pesachfest soll mit einem besonderen Festtag »für JHWH« schließen (V. 7). Bezüglich des Wochenfestes wird in V. 9 nur ein relatives Datum angegeben: »Du sollst sieben Wochen zählen; wenn die Sichel an die Halme gelegt wird, sollst du beginnen, sieben Wochen zu zählen«. Somit ergibt sich ein von Jahr zu Jahr festzulegendes Datum im Mai / Juni (zum Abschluss der Weizenernte). Nach V. 10 steht im Zentrum des Wochenfestes eine freiwillige Abgabe für JHWH. Art und Höhe der Abgabe soll sich nach dem erfahrenen Segen richten, sprich nach dem individuellen Ernteertrag. »Die Einladung zum Wochenfest ist daher nicht wie bei der Pesach-Mazzot-Feier an das ›Du‹ von ganz Israel adressiert, sondern gründet die Festgemeinschaft zunächst auf die Familien.«234 Das Wochenfest ist nach V. 11 »vor JHWH«, also am zentralen Heiligtum zu feiern, über die Details des Festes verlautet nichts. Geboten wird nur, dass die liturgische Grundhaltung des Festes die der Freude vor JHWH sein soll: Das »Du« soll sich vor JHWH freuen samt Kindern und SklavInnen und unter ausdrücklicher Beteiligung der landlosen Leviten und der personae miserabiles (Fremdling, Waise, Witwe). Es geht dabei um Freude, die sich angesichts des erfolgten göttlichen Segens einstellen soll, und diese »Freude des Dankes«235 ist unabhängig von momentaner emotionaler Befindlichkeit, die nicht »geboten« werden kann. In V. 12 schließt etwas unvermittelt die Aufforderung an, an die »eigene« Versklavung in Ägypten zu denken und »diese Satzungen« (also wohl vor allem die 233 BUBER / ROSENZWEIG 1954, z. St. 234 BRAULIK 1981, S. 110. 235 BRAULIK 1981, S. 109.

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Gesetze im unmittelbaren literarischen Kontext) zu tun. Möglicherweise sollte dies insbesondere dazu motivieren, die in V. 11 genannten Gruppen am Wochenfest (und Laubhüttenfest, s. u.) zu beteiligen. Das Gesetz zu Sukkot (die Symbolik der Laubhütte wird im Dtn nicht erklärt236) ist ausgesprochen knapp gehalten (V. 13–15). Gefeiert werden soll das Fest, wenn die Erträge von Tenne und Kelter eingelagert sind. Damit ist von Jahr zu Jahr ein Festtermin im September / Oktober festzulegen. Gefeiert werden soll familienbezogen mit Beteiligung der Leviten und der personae miserabiles, und zwar sieben Tage lang. Die Grundhaltung bei dem Fest soll Freude sein, wobei diese Freude gewissermaßen etwas »profaner« akzentuiert ist als beim Wochenfest: Es geht nicht um »Freude vor JHWH«, sondern um Freude angesichts der Fülle der Erträge und des Erfolgs der eigenen Hände, wobei beides letztlich natürlich in JHWHs Segen gründet (V. 15). Die Knappheit der Ausführungen erklärt sich z. T. dadurch, dass Dtn 14,22–29 Details über die Feier des Laubhüttenfestes enthält: Demnach sind während dieses Festes (mit Ausnahme der Drittjahre und des Siebtjahres) der Zehnte der gesamten Jahresernte samt der männlichen Erstgeburten des Viehs am Heiligtum zu verzehren. Dies sollte reichen, um sieben Tage lang ein Freudenfest der Fülle zu feiern. Dennoch bleiben wesentliche Fragen in Bezug auf die Feier offen. Am Beispiel des Laubhüttenfestes lässt sich damit zeigen, dass die deuteronomischen Kulttexte »nicht die Feiergestalt der verschiedenen Opfer und Feste [entwerfen], auch wenn diese immer wieder durchscheint. Denn in den meisten Fällen fehlen die notwendigen Handlungsanweisungen, ganz abgesehen von subtilen Vorschriften im Stil priesterschriftlicher Kultkasuistik. Angegeben wird offenbar, was die Sinngestalt der Opfer konturiert.«237

Das Fehlen einer Terminvorgabe bei Wochen- und Laubhüttenfest kann auf zweierlei Weise interpretiert werden: Nach Braulik sind die Feste wegen lokal unterschiedlicher Ernteabschlüsse auf keinen bestimmten Tag fixiert (sie bleiben damit für einzelne Familien beweglich).238 Dagegen spricht zumindest in synchroner Hinsicht 31,10–13: Hier soll sich am Laubhüttenfest das Kollektiv Israel versammeln. Deshalb ist es wahrscheinlicher (auch im Hinblick auf die sehr überschaubare Größe des Territoriums von Juda, bei dem lokale Unterschiede kaum wesentlich zu Buche schlagen dürften), dass die dtn Verfasser und Redaktoren meinten, Jahr für Jahr sollte für das Kollektiv ein Datum festgelegt werden. Dtn 16,16 f., eine Art Zusammenfassung zum Festkalender, ist in mancherlei Hinsicht merkwürdig. So wird das Pesachfest hier »Mazzenfest« genannt. So soll nach V. 16a »alles Männliche« ans Zentralheiligtum wallfahren. Auch wenn man diese Vorschrift als »Minimalvorschrift« versteht (im Sinne von: mindestens alles 236 Der Name hängt vermutlich mit dem Brauch zusammen, zur Zeit der Weinlese in den Weinbergen in »Laubhütten« zu wohnen (Ri 21,19–21), vgl. BRAULIK 1981, S. 111. 237 BRAULIK 1998, S. 78. 238 Vgl. BRAULIK 1981, S. 110 f.

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Männliche in Israel soll zu den Wallfahrtsfesten nach Jerusalem kommen), passt sie doch nicht recht zu der Tendenz der vorausgehenden Gesetze, die implizit von der Teilnahme der (Ehe-)Frauen (»Du«: Mann / Frau239) und explizit von der Teilnahme der Töchter und Sklavinnen an den Festen ausgehen. 4.1.5 Gesetze zum Themenbereich »Zentrale Autoritäten in Israel« (16,18–18,22) »Ämtergesetze« gibt es nur im dtn Gesetz (nicht in den anderen Gesetzessammlungen des Pentateuchs). Sie bilden in Dtn 16,18–18,22 einen »gewaltenteiligen Verfassungsentwurf«.240 Sein Spezifikum ist, dass alle Amtsträger gleichermaßen JHWHs Wort und Weisung (der dtn Tora) verpflichtet sein sollen (und insofern ihre Machtbefugnisse gebunden sein sollen): Die dtn Tora soll Grundlage für die Rechtsprechung sein (Dtn 17,11), der König soll in seinem Toraexemplar täglich lesen (Dtn 17,19), die levitischen Priester sollen das »Original« aufbewahren (Dtn 17,18), der Prophet soll JHWHs aktuelle Worte verkündigen (Dtn 18,18). Dtn 16,18–18,22 lassen sich wie folgt gliedern: 16,18–17,13: 16,18–20: 16,21–17,1: 17,2–7: 17,8–13: 17,14–20: 18,1–8: 18,9–22:

Richtergesetze Gesetz zur Einsetzung von Ortsrichtern »Scharnierstück«: Drei kultische Gesetze241 Gesetz zu lokalen Gerichten Gesetz zum Zentralgericht Königsgesetz Priestergesetz Prophetengesetz

In Dtn 16,18–17,13 sind verschiedene Gesetze zum Thema Richter und Gericht im Land Juda versammelt. Nach Dtn 16,18 soll das von Mose angeredete Kollektiv Israel (»Du«) »Richter und Listenführer«242 (‫ )שׁפטים ושׁטרים‬einsetzen – offenbar kann jeder freie Mann (jede freie Frau?) in diese Funktionen in seinen Stadtbereichen eingesetzt werden.243 In V. 19 f. findet sich ein »Richterspiegel«: Hier meint 239 Vgl. BRAULIK 1981, S. 113. 240 Vgl. LOHFINK 1971; siehe auch noch LEVINSON 2005, S. 68–85. Zu Parallelen aus der antiken griechischen Welt bezüglich der Ämter Richter, König und Prophet siehe HAGEDORN 2004, S. 108–171. Zu Dtn 16,18–18,22 als Ausdeutung des vierten Gebots siehe FINSTERBUSCH 2011b. 241 V. 21 (keine Aschera beim Altar JHWHs) und V. 22 (keine Mazzebe) verweisen auf die erste Einheit im dtn Gesetz (Ausdeutung der ersten beiden Dekaloggebote) zurück (also auf die exklusive und »nicht-kanaanäische« Verehrung JHWHs am zentralen Kultort in Dtn 12,8–14,21). In Dtn 17,1 (kein fehlerhaftes Opfer) wird auf Dtn 15,19–23 Bezug genommen, also auf einen Text im Rahmen der Ausdeutung des dritten Dekaloggebots. Durch das Scharnier werden m. E. die ersten beiden Einheiten und die dritte Einheit bzw. die ersten vier Dekaloggebote besonders verklammert. Zur Funktion der drei Verse Dtn 16,21–17,1 siehe auch noch BRAULIK 1991, S. 46.48 f. 242 »Listenführer« (‫ )שׁטרים‬sind untergeordnete Bedienstete der Militär- und Justizverwaltung, vgl. GERTZ 1994, S. 83 f. 243 Nach LEVINSON 2005, S. 71 f., sollte das alte System der Rechtssprechung durch die Ältesten im Dtn ersetzt werden; nach GERTZ 1994, S. 226–233, und WILLIS 2001, S. 150 f., haben Älteste und Richter komplementäre Aufgaben. M. E. trifft den Punkt am besten J. DIETRICH 2010, S. 352: »Weder werden

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das angeredete »Du« nicht mehr das Kollektiv, sondern speziell den Israeliten, insofern er eine Funktion als Richter oder Listenführer hat. Dtn 17,2–7 (ein thematisch mit Dtn 13 eng zusammenhängender Abschnitt) zeigt am extremen Fall der Fremdgötterverehrung (Bruch des ersten Dekaloggebots und insofern Bruch des Bundes JHWHs, V. 2b) durch einen Israeliten bzw. eine Israelitin, dass das Ortsgericht auch für Kapitalverbrechen zuständig sein soll. Wenn einem Ortsrichter oder einem Prozessführenden ein Fall zu schwierig ist (also ein Fall im Rahmen eines ordentlichen Gerichtsverfahrens am lokalen Gericht nicht zu lösen ist, z. B. weil es keine Zeugen gibt),244 dann soll er sich nach Dtn 17,8–13 an das Jerusalemer Zentralgericht wenden.245 Am Zentralgericht sollen nach V. 9 levitische Priester und ein Richter sitzen. Diesen Personen wird höchste juristische Kompetenz und Autorität zugesprochen. Ihre Weisung bzw. ihr Urteilsspruch soll, wie in mehreren Formulierungen unterstrichen wird (V. 10 f.), für das »Du« absolut verbindlich sein. Nach V. 12 f. soll derjenige, der nicht auf den amtierenden Priester bzw. Richter hört und entsprechend des Spruches handelt, sterben (V. 12 f.). Warum wird hier mit der Todesstrafe gedroht? Der Spruch der obersten Richter wird als »Tora« (‫ )תורה‬bezeichnet (V. 11). Die Verwendung dieses Wortes ist bedeutungsvoll: Es stellt eine Verbindung zwischen Richterspruch und den dtn Gesetzen her, die im Deuteronomium als Tora qualifiziert werden (vgl. Dtn 4,8.44). Eine Missachtung des obersten Richterspruches würde also der Verachtung der von JHWH gegebenen und von Mose vermittelten Gesetze gleichkommen. Den Richtergesetzen folgt das Königsgesetz (Dtn 17,14–20). Wie viele Texte der Hebräischen Bibel über die Königszeit zeigen, nahm der König oberste richterliche Funktionen wahr bzw. sollte solche wahrnehmen (vgl. 1 Sam 8,20; 1 Reg 3,16–28). Insbesondere sollte er (entsprechend altorientalischer Königsideologie) Recht für die Armen sprechen (Ps 72,2–4.12–14) und »Recht und Gerechtigkeit« (‫משׁפט‬ ‫ )וצדקה‬zugunsten der personae miserabiles tun (Jer 22,3.15–17).246 Wie nun aber die Richter den Ältesten komplementär beigeordnet, noch werden die Ältesten durch die Richter ersetzt, vielmehr werden die Macht- und Organisationsverhältnisse im Hinblick auf Gesamtisrael so neu geregelt, dass die Richter den Ältesten übergeordnet werden, indem ihnen in ›randscharfer Abgrenzung‹ keine konkrete Funktion über die eines Entscheidungsträgers hinaus zukommt, während die Ältesten nach der Entscheidungsfindung ›als Vollzugsorgane der Entscheidung‹ handeln.« 244 Die Formulierung in V. 8a ist ambivalent, das »Du« kann sich auf den Ortsrichter beziehen, so z. B. TIGAY 1996, S. 164, oder auf die Prozessführenden, so z. B. LEVINSON 1998, S. 129 f. (mit Hinweis auf Dtn 19,17). M. E. ist nicht ausgeschlossen, dass in V. 8a beide Möglichkeiten offen gehalten werden sollten. 245 Das Zentralgericht wird in Dtn 17,8–13 nicht eingesetzt, sondern von den dtn Verfassern und Redaktoren vorausgesetzt: Es ist eine Institution aus vorexilischer Zeit, vgl. auch WAGNER 2002, S. 237 ff.; RÜTERSWÖRDEN 2009a, S. 124 f. (mit Verweis auf das Lachisch-Ostrakon Nr. 4). Seine Funktion wurde von den dtn Verfassern und Redaktoren neu bestimmt, siehe hierzu LEVINSON 2005, S. 74–76. 246 Vgl. insbesondere JANOWSKI 2002, und NIEHR 1997, S. 121 f. HAGEDORN 2004, S. 151, weist darauf hin, dass in den homerischen Epen ein König begegnet, »who has no legal or juridical authority, a concept completely foreign to the royal ideology of the Near East«.

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aus den dtn Richtergesetzen hervorgeht, ist eine königliche Rechtsprechung nicht (mehr) vorgesehen, und wie die dtn »Sozialgesetzgebung« zeigt, soll die Versorgung der personae miserabiles in der Welt des Deuteronomiums eine Angelegenheit des Kollektivs sein. Dies spricht m. E. eindeutig für eine Konzeption der dtn Richter-, Königs- und Sozialgesetzgebung (frühestens) in der Exilzeit.247 Noch eine weitere »Leerstelle« im Königsgesetz ist auffällig: Über die nach 1 Sam 8,20 genuine Funktion des Königs als oberstem Heerführer verlautet nichts – dies passt zu dem Befund, dass der König im dtn »Kriegsgesetz« im Zusammenhang des Aufgebots des Heeres nicht erwähnt wird (Dtn 20,1–9). Welche Funktion soll der König nach dem dtn Königsgesetz dann also haben? Nach V. 14 f. darf Israel im Land, falls es den Wunsch haben sollte, wie die anderen Völker einen König einzusetzen (die Formulierung von V. 14 impliziert, dass das Volk ebenso auch ohne König auskommen könnte!), dies tun: Es darf den von JHWH erwählten König über sich einsetzen (keinesfalls darf es einen Nichtjuden einsetzen248). Nach V. 16 f. soll der König sich in dreifacher Hinsicht einschränken: bezüglich der Beschaffung kriegswichtiger Güter aus dem Ausland (»Ägypten«: Gefahr der »Geschichtsvergessenheit«), bezüglich der (u. a. durch internationale Heiratspolitik möglichen) Vermehrung von Frauen im Harem (Gefahr der Fremdgötterverführung), bezüglich der (im Zuge internationalen Handels möglichen) Anhäufung von Reichtum (Gefahr der Überheblichkeit). Diese Einschränkungen sind angesichts der realen Befugnisse, die (viele) israelitische bzw. altorientalische Könige hatten, bemerkenswert. Die genuine Funktion des israelitischen Königs ist in V. 18–20 beschrieben: Der König soll sich nach seiner Inthronisation von dem Urexemplar der Torarolle, die von den levitischen Priestern aufbewahrt wird, eine Zweitausgabe anfertigen, d. h. er soll die Tora abschreiben. Sein persönliches Toraexemplar (in der Welt des Deuteronomiums ist ein solches persönliches Exemplar nur für den König vorgesehen) soll er jederzeit mit sich führen und er soll darin jeden Tag lesen (V. 18.19a). Der ideale König soll nach dem dtn Königsgesetz also vor allem der fromme »Musterisraelit«249 sein. Nur als solcher wird er auf Dauer im Amt sein (V. 20b). Zu beachten ist die Erwähnung der Tora: In der von den dtn Verfassern und Redaktoren im Königsgesetz fiktiv in den Blick genommenen Königszeit wird das dtn Torabuch längst schriftlich vorliegen. Für die Adressatenschaft ist die Erwähnung des Torabuches (dessen Inhalt sie bislang nur partiell kennt) an dieser Stelle ein literarischer Vorausverweis (auf Dtn 31,9.24). 247 Vgl. auch LEVINSON 2005, S. 83: »In its final form, the unit [Dtn 16,18–18,22] may well date to the exilic period, when the unit’s editors were held in Babylonian exile without any direct access either to political power or to their land.« Nach ACHENBACH 2009, S. 219, ist der Text »frühestens aus der Periode des Beginns der Perserherrschaft nach 539 v. Chr. zu verstehen«; der Text reagiere auf das Weiterbestehen von Erwartungen bezüglich der Erneuerung des Königtums. 248 Siehe hierzu NICHOLSON 2006. Die Bestimmung macht wenig Sinn in der Königszeit, wohl aber in der exilischen oder nachexilischen Zeit. 249 LOHFINK 1971, S. 316.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

In Dtn 18,1–8 schließt sich das Priestergesetz an. Die »levitischen Priester« sind bereits im Zusammenhang der Richtergesetze (Dtn 17,9) und des Königsgesetzes (Dtn 17,18) erwähnt worden. Zunächst ist kurz auf die im Priestergesetz verwendete Terminologie einzugehen: In V. 1 werden »die levitischen Priester« (‫ )הכהנים הלוים‬neben »dem Stamm Levi« (‫ )שבט לוי‬genannt. In V. 3 ist nur vom »Priester« bzw. von »Priestern« (‫ כהן‬/ ‫ )כהנים‬die Rede, in V. 6–8 vom »Levit« bzw. von »Leviten« (‫ לוי‬/ ‫)לוים‬. Die unterschiedlichen Bezeichnungen können synchron wie folgt gedeutet werden: »Levi« ist die Bezeichnung einer Gruppe, »Priester« bezeichnet eine Person, die in bestimmter, nämlich priesterlicher Funktion tätig ist. In der Gesamtperspektive des Priestergesetzes kann eine solche Person nur ein Levit sein. Der Levit soll nach V. 1 f. keinen Erbanteil am Israel geschenkten Land haben.250 Er ist deshalb besonders zu versorgen (s. auch oben zu Dtn 14,28 f.): V. 3 f. legen fest, worauf der Priester (bzw. der Levit, der als Priester am Zentralheiligtum amtiert) Anspruch hat, nämlich auf Opferanteile, Erstlingsfrüchte und den ersten Ertrag der Schafschur (nicht: der Erstlingstiere!) durch den Landbesitzer (»Du«). Dies garantiert den levitischen Priestern einen sicheren Bestand an Nahrung und Kleidung. Besonders hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang noch darauf, dass nach V. 3 die »Opferherrschaften« die IsraelitInnen sind und nicht die Priester. Dies entspricht der »bauernfreundlichen« und »laienfreundlichen« Tendenz im dtn Gesetz bzw. im Dtn.251 V. 5 gibt den Grund an für die Sonderregelung in Bezug auf den Stamm Levi: die Erwählung durch JHWH, »in JHWHs Namen zu stehen und Dienst zu tun« (vgl. auch Dtn 10,8). Die »Dienstaufgaben« (dazu gehört nach dem Kontext das Richten, Dtn 17,9, und die Bewahrung des Urexemplars der dtn Tora, Dtn 17,18) werden im Einzelnen nicht weiter beschrieben. In V. 6–8 wird das Recht der Leviten auf den (priesterlichen) Dienst am Zentralheiligtum festgeschrieben (denn die örtlichen Heiligtümer, die in vorexilischer Zeit für die Priester eine Einkommensquelle darstellten, gibt es in der dtn Welt nicht): Die in Ortschaften auf dem Land lebenden Leviten (vgl. Jos 21) können – nach eigenem Ermessen – an das Zentralheiligtum zum (temporären) priesterlichen Dienst kommen.252 Dabei sollen sie unabhängig von dem elterlichen Vermögen die gleichen Abgaben bekommen wie die anderen dort amtierenden Leviten. Als letztes »Ämtergesetz« folgt das Prophetengesetz (Dtn 18,9–22). In V. 9–14 wird zunächst dargelegt, dass Israel in Juda auf keinen Fall von den anderen Völ250 Es ist umstritten, ob die Forderung der Landbesitzlosigkeit zum dtn »Urgestein« gehört, vgl. DAHMEN 1996, S. 266. 251 Vgl. FINSTERBUSCH 2006. 252 Gelegentlich wird in 2 Reg 23,8 f. ein Indiz dafür gesehen, dass im Zuge der sog. Joschijanischen Reform die dtn Gesetzgebung bezüglich der Leviten (Dtn 18,6–8) umgesetzt wurde, vgl. z. B. LEUCHTER 2007a, S. 428 f. Doch die in 2 Reg 23,8 f. erwähnten Höhenpriester (auf Kulthöhen tätigen Priester) sind keinesfalls mit den Leviten in Dtn 18,6–8 identisch, siehe dazu überzeugend DAHMEN 1996, S. 297–302.

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kern Praktiken aus dem Bereich der Magie und des Orakelwesens übernehmen soll. Nach V. 15 hat JHWH zur Kundgabe seines (aktuellen) Willens vielmehr das Prophetenamt eingesetzt, er will (immer wieder) einen Propheten »aus deiner Mitte, von deinen Geschwistern« (also keinen Nichtjuden) »wie Mose« berufen. Für die dtn Verfasser und Redaktoren lag der Ursprung des Prophetenamts am Horeb. Deshalb ließen sie in V. 16–18 Mose JHWH-Rede am Horeb zitieren: Auf Bitten des Volkes hin wollte JHWH seine Worte nach Verkündigung des Dekalogs nicht mehr direkt mitteilen (vgl. Dtn 5,23–31), sondern sie Mose und dem zukünftigen Propheten zur Übermittlung in den Mund legen. Die Aufgabe des Propheten ist demnach die genaue Vermittlung des göttlichen Wortes (nicht seine Lehre oder Auslegung253). In der Vermittlung ist die Autorität des künftigen Propheten »mosaisch« und in Bezug auf Gewicht und Verbindlichkeit unterscheiden sich mosaisch vermitteltes Torawort und jeweils aktuelles prophetisches Wort nicht. V. 19 f. kündigen Sanktionen an: Zum einen für denjenigen, der auf das durch den Propheten vermittelte göttliche Wort nicht hört (V. 19). Zum anderen für den Amtsträger selbst, falls er ohne Ermächtigung ein Wort als JHWHs Wort ausgeben oder im Namen fremder Götter prophezeien sollte. In diesem Fall soll der Prophet getötet werden (siehe dazu auch oben zu Dtn 13,2–6). In V. 21 f. wird das Problem verhandelt, wie Israel im Zweifelsfall wissen kann, ob der Prophet im Namen Gottes redet oder nicht. Das hier angegebene Kriterium ist das der Erfüllung: Wenn das »Wort«, das der Prophet redet, eintrifft, handelt es sich um »wahre« Prophetie (vgl. z. B. auch Jer 28,9).254 Aus dem »Erfüllungskriterium« lässt sich erschließen, was die genuin prophetische Funktion bzw. das Thema der Prophetenworte sein soll: Der Prophet wird insbesondere als zeitgebundener Künder zukünftiger Ereignisse gesehen. Im Licht des gesamten Prophetengesetzes kann damit aber kaum die Kündung von »Tatsachen« gemeint sein: Auf die Worte der Propheten soll »gehört« werden (V. 19); gedacht ist also wohl an eine Kündung von Ereignissen, die u. a. Mahnungen (z. B. zur Umkehr oder zum Einhalten der dtn Gesetze) enthält.255 4.1.6 Gesetze zum Themenbereich »Totschlag, Mord, (legitime) Tötung« (19–21) In der Einheit Dtn 19–21 ist ein klarer inhaltlicher Schwerpunkt erkennbar, insofern die meisten der hier zusammengestellten Gesetze dem Themenbereich Totschlag (Tötung ohne Vorsatz), Mord und (legitime) Tötung (z. B. im Krieg oder im 253 Der Prophet wird im Dtn nicht als »Lehrer« bezeichnet: Der Prophet ist Mittler wie Mose, aber nicht Lehrer (der Tora) wie Mose (oder »Weisender« wie die Priester), siehe hierzu FINSTERBUSCH 2005, S. 277. 254 Der innerbiblische Befund zeigt, dass das Erfüllungskriterium kein »hartes« Kriterium ist: JHWH kann seine Meinung ändern (vgl. z. B. Jer 26,18 f.), die Erfüllung kann auf sich warten lassen (vgl. z. B. Jes 8,16–18). 255 Umstritten ist, wie das Verhältnis von prophetischem Wort und Tora zu denken ist. Nach OTTO 1994, wird das Verhältnis im Dtn offen gelassen; nach KÖCKERT 2000, S. 99, verhält sich die »,Prophetie wie Mose’ […] zum Gesetz ungefähr so wie das Dtn als Predigt Moses zum Dekalog«.

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Rahmen des Vollzugs der Todesstrafe) zugeordnet sind. Der Bezug zum fünften Dekaloggebot ist evident.256 An die »Ämtergesetze« schließt die Einheit insofern gut an, als in Dtn 19 erneut die zentrale Jerusalemer und in Dtn 21 die lokale Gerichtsbarkeit Thema ist. Untergliedern lässt sich Dtn 19–21 in drei größere Abschnitte, die Kapitelgrenzen sind in diesem Fall auch die Abschnittsgrenzen:257 19: Gesetze zu Totschlag, Mord und Rufmord 19,1–10: Gesetz zur Einrichtung und zum Gebrauch von Asylstädten 19,11–13: Gesetz zum Missbrauch der Asylstädte 19,14: Gesetz zur Verrückung nachbarlicher Grenzen 19,15: Gesetz zur Anzahl von Zeugen 19,16–21: Gesetz zur Falschanklage eines Zeugen vor dem Zentralgericht 20: Kriegsgesetze 20,1–9: Gesetz zum Aufgebot des Heeres 20,10–18: Gesetz zur Kriegsführung gegen eine feindliche Stadt 20,19 f.: Gesetz zum Umgang mit dem Baumbestand vor einer belagerten feindlichen Stadt 21: Weitere mit in Dtn 19 f. angeschlagenen Themen verbundene Gesetze 21,1–9: Gesetz zum Fall eines von unbekannter Hand Totgeschlagenen 21,10–14: Gesetz zur Heirat einer kriegsgefangenen Frau 21,15–17: Gesetz zum Recht des erstgeborenen Sohnes 21,18–21: Gesetz zur Möglichkeit, einen Familie und Gemeinschaft gefährdenden Sohn mit dem Tod zu bestrafen 21,22 f.: Gesetz zur Bestattung eines durch Todesstrafe Hingerichteten

In Dtn 19,1–10 wird die Einrichtung von Asylstädten geboten für Menschen, die ohne Vorsatz versehentlich getötet haben. Im ersten Teil des Gesetzes, in V. 1–7, wird bestimmt, dass ein solcher »Totschläger« (V. 4b: ‫ )אשׁר יכה את רעהו‬in eine der drei innerhalb der Landesgrenzen einzurichtenden Asylstädte vor dem »Bluträcher«, dem zur Ahndung eines Mordes verpflichteten männlichen Verwandten, fliehen und dort (vorübergehend) leben soll. Im zweiten Teil V. 8–10 wird in Aussicht gestellt, dass JHWH, falls Israel »das ganze Gebotene« halten sollte, die Landesgrenzen entsprechend dem Schwur an die Erzeltern erweitern wird (aus der Perspektive dieses zweiten Teils ist in V. 1–7 demnach ein vergleichsweise kleines Kernland Juda gemeint). Dann sollen drei weitere Asylstädte eingerichtet werden. Zusätzlich zu den drei Asylstädten, die nach Dtn 4,41–43 Mose im Ostjordanland bereits ein256 Siehe zum Thema des Abschnitts insbesondere BRAULIK 1991, S. 62 ff., und J. DIETRICH 2010, S. 365. 257 Die dtn Verfasser und Redaktoren haben die Zusammengehörigkeit der Kapitel durch vielfältige strukturelle Bezüge deutlich gemacht: Beispielsweise sind das erste Gesetz in Dtn 19 und das letzte in Dtn 20 durch das Motiv des Baumfällens verbunden. Dtn 21 hat eine Klammer durch die Landgabesätze im ersten und letzten Vers, die wiederum an die Landgabesätze zu Beginn der Einheit in Dtn 19,1 f. anknüpfen und die Dtn 19–21 gewissermaßen als Block ausweisen. Zu beachten ist auch, dass im ersten Gesetz in Dtn 19 und im letzten Gesetz in Dtn 21 die Wendung ‫» משׁפט מות‬Todesstrafe« (19,6; 21,22) verwendet wird; die Wendung kommt im Deuteronomium sonst nicht mehr vor. Zu diesen und weiteren Bezügen siehe BRAULIK 1988, S. 80–91.

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gerichtet hat,258 sind in deuteronomischer Perspektive also maximal neun Asylstädte vorgesehen. Eine andere Tradition in Bezug auf die Verteilung der Asylstädte findet sich in Jos 20,1–9: Hier werden drei (und nicht sechs) Asylstädte für ein Westjordanland vorausgesetzt, das in etwa dem davidischen Machtbereich entspricht (also von Galiläa bis zum judäischen Bergland im Süden). In Dtn 19,11–13 wird geboten, dass bei vorsätzlicher Tötung die Asylstadt den Mörder dem Bluträcher ausliefern soll. Zu dem deuteronomischen Asyl-Modell gibt es in den Gesetzessammlungen des Pentateuchs noch eine Alternative im Bundesbuch (Ex 21,13 f.): Für den Fall der unvorsätzlichen Tötung ist hier ein Asyl am jeweiligen lokalen Heiligtum vorgesehen (solche lokale Heiligtümer soll es in der Welt des Deuteronomiums nicht geben).259 In Dtn 19,14 werden das Stichwort »Erbbesitz« aus V. 10 und das in V. 3.8 erwähnte Stichwort »Grenze« aufgegriffen: Innerhalb der Landesgrenzen darf die »Grenze des Nächsten« (‫ )גבול רע‬nicht verrückt werden, da nach dtn Verständnis das Land von JHWH zum Erbbesitz gegeben wurde und damit auch die Grenzen des einer Familie gehörenden Landes als sozusagen von JHWH selbst festgelegt gelten. Das Verbot der Verrückung der Grenze des Nächsten kann auch im übertragenen Sinne gelesen werden (als Verbot der »Missachtung persönlicher Grenzen«). Darum geht es in den beiden folgenden Gesetzen bezüglich der Zeugen. Die in Dtn 19,1–13 angeführte Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag konnte in der damaligen Zeit im Wesentlichen durch Zeugenaussagen ermittelt werden. In V. 15 wird grundsätzlich die nötige Anzahl der Zeugen bei einem Gerichtsverfahren festgelegt (zwei oder drei, vgl. auch Dtn 17,6). In V. 16–21 geht es um den falschen Zeugen, hier wird explizit das Thema des achten Dekaloggebots aufgenommen. Gesetzt wird der Extremfall (und das erklärt die Ausdeutung des achten Dekaloggebots in Verbindung mit der Ausdeutung des fünften Dekaloggebots im deuteronomischen Gesetz): Der falsche Zeuge ist ein »Gewaltzeuge« (‫עד‬ ‫)חמס‬, der gegen einen Menschen »Hochverrat« (‫ )סרה‬aussagt. ‫ סרה‬meint mit Blick auf Dtn 13,6, die einzige Stelle im Deuteronomium, an der das Nomen nochmals vorkommt, wahrscheinlich Aufruf zur Verehrung anderer Götter, worauf die Todesstrafe steht. Auf jeden Fall handelt es sich um die Bezichtigung eines Kapitalverbrechens, wie aus der talionischen Strafe für den falschen Zeugen, die Todesstrafe, zu schließen ist (V. 19). Der Fall soll »vor JHWH«, d. h. vor »die Priester und die Richter« gehen, die in diesen Tagen amtieren; untersuchen sollen den Fall »die Richter« (V. 17.18a). Im Licht von Dtn 17,8–13 kann es sich dabei nur um die Jerusalemer Richter handeln, 258 Siehe im Teil III. B. INTERMEZZO, Abb. 5. 259 Siehe zu den beiden Modellen insbesondere STACKERT 2006, und Ch. DIETRICH 2007. STACKERT a. a. O., S. 47 f., und DIETRICH a. a. O., S. 206 f., haben sich m. E. zu Recht gegen die Auffassung gewendet, die von ROFÉ 1986, S. 127 f., und OTTO 1999a, S. 264 f., vertreten wurde, nämlich dass nach dem dtn Gesetz auch das zentrale Heiligtum als Asylort dienen sollte.

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obwohl in 17,9 von »levitischen Priestern und dem Richter« die Rede ist und obwohl die Formel »der Ort, den JHWH erwählen wird« in Dtn 19,17 f. fehlt. Nach der Entlarvung des falschen Zeugen soll nach V. 19 die Todesstrafe, die der falsche Zeuge für seinen »Bruder« (!) herbeiführen wollte, auf ihn selbst angewendet werden. Mit Blick auf die abschreckende Wirkung (V. 20) wird darüber hinausgehend in V. 21 in Bezug auf das Strafmaß für falsche Zeugen generell festgelegt, dass mit ihnen nach dem Rechtsgrundsatz der Talion (lat. »Vergeltung von Gleichem mit Gleichem«) zu verfahren ist. Dtn 20 ist das einzige »Kriegsgesetz« in der Hebräischen Bibel. Der erste Teil handelt vom Aufgebot des Heeres, d. h. jedes männlichen erwachsenen Israeliten (V. 1– 9). Nach G. Braulik sind die einzelnen Phasen (V. 1: Die Soldaten erblicken den Feind; V. 2–4: Feldpredigt des Priesters; V. 5–9: Ausmustern von Soldaten durch Listenführer und Einsetzung von Truppenführern) nach ihrer »theologischen Bedeutung« geordnet, da sie in der Praxis umgekehrt erfolgen müssten. Jedenfalls betonten die dtn Verfasser und Redaktoren in V. 1, dass im Fall eines »legitimen« Krieges Israel sich selbst vor überlegenen Gegnern nicht fürchten muss, da JHWH »mit dir«, d. h. mit dem Heer, ist (V. 1). Der andere Fall, der Fall eines von JHWH nicht gebilligten Kriegs, der scheitern muss, wurde in Dtn 1,42–45 erzählt. Nach altorientalischer Auffassung war jeder Krieg eine Art Gottesgericht, Israel bildete hier keine Ausnahme. Im Vergleich zu altorientalischen Auffassungen ist jedoch auffällig, dass im dtn Kriegsgesetz der König keine Rolle spielen sollte, er sollte offenbar nicht als oberster Kriegsherr agieren.260 Eine weitere Besonderheit des dtn Krieggesetzes liegt in der Verpflichtung, Tod und Zerstörung in möglichst engen Grenzen zu halten.261 Dies zeigt sich im zweiten Teil des Kriegsgesetzes (und im dritten Teil V. 19 f., s. u.), zumindest was den Krieg gegen feindliche (nichtkanaanäische) Städte betrifft: Einer feindlichen Stadt muss zunächst eine »friedliche« Lösung angeboten werden (V. 10–14). Akzeptiert sie diese Lösung, sollen ihre Einwohner fronarbeitspflichtig und tributpflichtig werden; akzeptiert sie sie nicht und wird belagert und erobert, soll ausschließlich die männliche Bewohnerschaft getötet werden; Frauen, Kinder und Tiere sollen »Beutegut« werden. In V. 15–18 wird ein »Sonderfall« geregelt; hierbei wird (anders als in V. 1–14) vorausgesetzt, dass die Eroberung des verheißenen Landes Kanaan noch bevorsteht. 260 Vgl. zu Dtn 20,1–9 die Ausführungen von HAGEDORN 2004, S. 175–192, hier S. 199: »The application of the model of hoplite warfare has shown that the laws in Deut 20: 1–9 are on the one hand concerned with the maintenance of the society and on the other hand determined by the striving for maximisation of independent households, since these households are responsible for the number of men in arms. Of course it is not possible to argue that a concrete battle formation such as the phalanx has also been used in the Israel envisaged in Deuteronomy. However certain features known to us from the Greek world such as the elections of generals and a mode of fighting without any central authority such as a king can also be found in the Biblical text. In contrast to the wars reported in the Deuteronomistic History, warfare according to Deuteronomy is a democratic enterprise.« 261 Vgl. hierzu OTTO 2006, S. 449.

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In Bezug auf die kanaanäischen Städte soll gelten, dass sie grundsätzlich zu bannen sind,262 d. h. dass alles Leben (‫ )כל נשׁמה‬auszulöschen ist (der Vollzug des Banns in dem schon eingenommenen Ostteil des Landes wird in Dtn 3,3–7.33–35 erzählt). Die Notwendigkeit des Bannens wird in V. 17b durch einen Rückverweis des dtn Mose (oder des Bucherzählers) auf JHWHs Gebot besonders untermauert.263 In V. 18 wird diese radikale Maßnahme mit der Furcht begründet, dass die »Kanaanäer« Israel »Gräuel« lehren könnten und Israel gegen JHWH sündigen könnte. Dieses Konzept des Banns (‫ )חרם‬ist im Übrigen keine israelitische bzw. deuteronomische Erfindung (wie der Text der Mescha-Stele aus dem 9. Jh. v. Chr. belegt).264 Auffällig ist, dass dieser im dtn Gesetz vorgesehene »Sonderfall« insofern reine Fiktion ist, da die »sieben Völker« im 7. und 6. Jh. v. Chr. sicher nicht mehr existierten (einige haben vielleicht niemals existiert).265 Dies mildert (insbesondere für heutige LeserInnen) nicht die Anstößigkeit des Gesetzes, wirft aber in besonderer Weise die Frage nach dem Sinn von Dtn 20,15–18 auf (die Verse waren, wie an dem Verweis des Mose / des Bucherzählers in V. 17b abzulesen ist, den dtn Verfassern und Redaktoren offenbar ausgesprochen wichtig). Betrachtet man die zentralen deuteronomischen Texte zu den (sieben) kanaanäischen Völkern und ihren »Gräueltaten« (insbesondere Dtn 7,1–6; Dtn 12,29–31; Dtn 18,9–12 und Dtn 20,15–18), so zeigt sich: »Kanaan« steht aus deuteronomischer Sicht für alles, was Israels religiöse Identität existentiell gefährdet. Dies erklärt die ungewöhnliche Radikalität der deuteronomischen Bestimmungen in Bezug auf »Kanaan« (ansonsten sind ja durchaus fremdenfreundliche Tendenzen im Dtn auszumachen): »Kanaan« ist (künftig) zu vernichten bzw. zu meiden, wenn Israel im Land leben will.266 Implizit gaben die dtn Verfasser und Redaktoren mit den Texten wohl auch eine Erklärung für die Ereignisse von 587/6 v. Chr.: Die Katastrophe von 587/6 v. Chr. geschah, da Israel »Kanaanäern« bzw. »kanaanäischen Bräuchen« Einfluss gewährte. Im dritten Teil des dtn Kriegsgesetzes (20,19 f.) wird bestimmt, dass bei der Belagerung einer Stadt die Obstbäume nicht zu schlagen sind. Damit soll nicht zuletzt 262 Jeglicher »kanaanäischer« Einfluss soll nach Dtn 20,18 verhindert werden, insofern gilt für die kanaanäischen Städte auch nicht das in V. 10 f. vorgesehene Friedensangebot, vgl. z. B. auch NOORT 1994, S. 218 f.; gegen BRAULIK 1992, S. 148. 263 Also: Du sollst sie bannen, (so) wie dir JHWH, dein Gott, geboten hat, d. h.: du sollst keinerlei Lebewesen leben lassen (V. 16b). Es handelt sich demnach nicht um einen Rückverweis auf Dtn 7,1 f. (in Dtn 20,17 kommen nur sechs der in Dtn 7,1 f. erwähnten sieben Völker vor) und / oder auf Ex 23,23 oder 34,11 (hier liegt kein Banngebot vor), gegen SKWERES 1979, S. 43–47; BRAULIK 1992, S. 149. 264 Vgl. HOFFMAN 1999, S. 197 f., Anm. 9. Zum Text der Inschrift siehe TUAT I/6, S. 646–650. 265 Vgl. BRAULIK 1997, S. 116 f. 266 HOFFMAN 1999, S. 207, hat vorgeschlagen, das Banngesetz als konkrete Antwort auf die Forderung Esras nach Scheidung der nichtisraelitischen (u. a. ammonitischen und moabitischen) Frauen zu interpretieren: »To this reasoning of Ezra, the polemic answer of the Deuteronomistic circle was the herem combination – the law and its execution by Joshua. His response to Ezra is: there are no Canaanites any more, and therefore your call to avoid intermarriage is anachronistic, groundless and null.« Doch die These einer solchen »freundlichen Haltung« ist nicht zuletzt angesichts des harschen dtn »Gemeindegesetzes« (Dtn 23,2–9) in Bezug auf Ammoniter und Moabiter unwahrscheinlich.

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einem Vandalismus mit verheerenden Langzeitfolgen vorgebeugt werden, wie er in mehreren Texten und Bildern im Alten Israel und in Israels Umwelt bezeugt ist (vgl. z. B. 2 Reg 3,19.25).267 In Dtn 21 wird inhaltlich mehrfach an Gesetze in Dtn 19 und 20 angeknüpft und es werden weitere Aspekte zum Themenbereich Totschlag, Mord und (legitime) Tötung angeführt. Das Gesetz Dtn 21,1–9 zum Fall eines von unbekannter Hand erschlagenen Menschen (ausgegangen wird hierbei wohl vom schlimmsten Fall, von Mord) auf freiem Feld ergänzt die Gesetze in Dtn 19,1–13. Nach Dtn 21,2 sollen die Ältesten und Richter (als Repräsentanten Israels) klären, welche Stadt dem Erschlagenen am nächsten liegt und wer für die zu ergreifenden Sühnemaßnahmen zuständig ist (Blutschuld muss gesühnt werden268). An den Sühnemaßnahmen sollen sich nach V. 3 f. Stadtälteste (als Repräsentanten ihrer Ortschaft) beteiligen; nach V. 5 sollen auch noch levitische Priester herangezogen werden (wobei die levitischen Priester – gewissermaßen als Repräsentanten JHWHs? – die Ritualhandlungen wohl nur auf ihre Rechtmäßigkeit hin kontrollieren sollen). Die Sühnemaßnahmen schließen mit einem Bekenntnis (persönlicher) Unschuld der Stadtältesten und mit einem Gebet an JHWH, er möge sein »Volk Israel« aufgrund der ergriffenen Ritualhandlungen entsühnen (V. 7 f.). Nach der Sichtweise der dtn Verfasser und Redaktoren belastet demnach Blutschuld die ganze Gemeinschaft bzw. ist für einen Mord das Kollektiv verantwortlich. Das Gesetz zur Heirat mit einer kriegsgefangenen Frau (Dtn 21,10–14) ist inhaltlich in zweifacher Weise mit den vorangehenden Gesetzen verbunden: Nach V. Wagner schließt »die Beweinung der in der Heimat zurückgebliebenen Eltern in 21,13 […] an den Verlust eines Menschen durch Mord (oder Totschlag) an«.269 Zudem knüpft Dtn 21,10–14 an das Gesetz zum Krieg gegen feindliche Städte in Dtn 20,10–14 an, insofern hier geregelt ist, dass unter anderem Frauen als »Beutegut« genommen werden dürfen. Eine solche kriegsgefangene (nichtisraelitische) Frau darf nach Dtn 21,11 ein Israelit unter bestimmten Bedingungen zur Ehefrau nehmen. Er darf sie, wenn sie ihm nicht mehr gefällt, auch wieder entlassen (diese Scheidungsregelung gilt generell). Ausdrücklich wird im Entlassungsfall festgelegt, dass er sie nicht als Sklavin verkaufen darf. Dies ist durchaus als Schutzbestimmung für die nichtisraelitische Frau gemeint (V. 14). Das Gesetz spiegelt insgesamt die patriarchale Gesellschaftsordnung wider; aus heutiger »westlicher« Sicht ist es, da 267 Siehe hierzu insbesondere WRIGHT 2008. 268 Siehe hierzu insbesondere J. DIETRICH 2010, S. 293 f.: »[Der Text] ist allein an der Negation des Rechts durch das Verbrechen und an der Wiederherstellung des Rechts durch ›Aufhebung‹ (›Sühne‹) des Verbrechens mittels der Ritualhandlung interessiert. Was in dieser zum Ausdruck gebracht wird, ist keine Vergeltung an einem Substitut des Täters, sondern eine als Schandstrafe vollzogene Strafhandlung an einem Substitut der Ortschaft, um die rituelle Verurteilung des Verbrechens im Namen der objektiv Verantwortlichen anzuzeigen: Die Jungkuh stirbt im Namen der subjektiv unschuldigen, aber objektiv für ihr Gebiet verantwortlichen Ortschaft.« 269 WAGNER 2002, S. 227.

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die Perspektive der Frau in keiner Weise berücksichtigt wird, natürlich höchst problematisch (siehe auch unten zu den Familiengesetzen in Dtn 22,13–23,1). Es folgen zwei Gesetze, die eher assoziativ mit dem in Dtn 21,10–14 neu angeschlagenen Thema Ehe zusammenhängen. Das erste Gesetz (Dtn 21,15–17) setzt polygyne Verhältnisse voraus und schreibt vor, dass ein Mann seinen erstgeborenen Sohn in Bezug auf das Erbe bevorzugen soll (»Recht des Erstgeborenen«). Alternative Positionen sind durch altorientalische Urkunden ebenso wie durch Texte der Hebräischen Bibel belegt (zu denken ist z. B. an die Jakobserzählungen270). Im vorliegenden Kontext ist das Gesetz wohl so zu deuten, dass der erstgeborene Sohn des Mannes, selbst wenn er von einer ehemals kriegsgefangenen Frau stammt, das entsprechende Erbe erhalten muss. Das zweite Gesetz (Dtn 21,18–21) handelt von dem Fall des »störrischen und widerspenstigen Sohnes« (‫)בן סרר ומורה‬, der konsequent nicht auf die Stimme der Eltern (Vater und Mutter!) hört, der also alle Erziehung und Belehrung ablehnt.271 In V. 20b wird ein »störrischer und widerspenstiger Sohn« durch einen exzessiven Gebrauch von Speisen (Fleisch) und (alkoholischen) Getränken charakterisiert (‫)זלל וסבא‬. Es ist nicht explizit ausgeführt, was aus Sicht der Gesetzgeber das besonders Problematische daran ist.272 Doch es liegt auf der Hand, dass ein solcher Sohn nicht nur den Erhalt des Vermögens und damit die Existenz der Familie gefährdet, sondern auch die Einwohner seiner Stadt (im Kontext ist der Gedanke an Mord / Totschlag in Folge von Trunksucht naheliegend). Nach V. 19 sollen die Eltern (Vater und Mutter!) ein öffentliches Gerichtsverfahren im Tor anstrengen.273 An der Todesstrafe durch Steinigung sollen alle Mitglieder der Stadt beteiligt sein (V. 21a). Das heißt, dass die Strafe von der Einwohnerschaft ausnahmslos akzeptiert und mitgetragen werden muss. Das Gesetz wird bezeichnender Weise durch die ‫בערת‬-Formel beschlossen »Du sollst das Böse (bzw. das Blut) wegschaffen aus deiner Mitte« (V. 21b). Diese Formel wird in der Hebräischen Bibel nur im dtn Gesetz verwendet und zwar, abgesehen von Dtn 21,18–21, explizit im Zusammenhang mit begangenen Kapitalverbrechen (z. B. Götzendienst, Mord, Ehebruch).274 Nach Dtn 21,18–21 hat der »störrische und widerspenstige Sohn« zwar noch kein Kapitalver-

270 Töchter können nach Num 27 nur erben, wenn ein Mann keine Söhne hat; ein Erbrecht für kinderlose Witwen ist nach den Gesetzessammlungen des Pentateuchs nicht vorgesehen. Dass es ein solches im Alten Israel gab, belegen u. a. narrative Texte der Hebräischen Bibel (z. B. Rut 4) und Urkunden aus Elephantine, siehe hierzu FISCHER 2005, S. 56 f. 271 Von den dtn Autoren und Redaktoren wurde Dtn 21,18–21 dem Themenbereich Totschlag / Mord / Tötung zugeordnet. Das heißt, dass der Aspekt der »Elternehrung« für die dtn Verfasser und Redaktoren nicht im Vordergrund stand und das Gesetz nicht als Ausdeutung des vierten Dekaloggebots gedacht war, gegen HAGEDORN 2000, S. 102. Siehe auch unten zu Dtn 22,13–21. 272 Vgl. hierzu besonders die Überlegungen von FLEISHMAN 2003, S. 322 f. 273 Vgl. noch Ex 21,15.17: Demnach soll der Sohn mit dem Tod bestraft werden, der sich seinen Eltern gegenüber in ungesetzlicher Weise verhält. 274 Vgl. insbesondere Dtn 13,6; 17,7.12; 19,13.19; 21,9.21; 22,21.22.24; 24,7, und dazu J. DIETRICH 2010, S. 362–370.

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brechen begangen, aber die Verwendung der Formel hier ist ein klares Indiz dafür, dass die Gesetzgeber es für wahrscheinlich hielten, dass er ein solches begehen wird. Dtn 21,22 f. knüpft an das in V. 21 angeschlagene Thema Todesstrafe an und geht aus von dem Fall, dass ein Hingerichteter nach seiner Hinrichtung an einem Pfahl aufgehängt wird. Der Sinn dieses Aufhängens wird nicht klar (Maßnahme zur Abschreckung?). Jedenfalls darf der Aufgehängte nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben. 4.1.7 Gesetze zum Themenbereich »Gefährdung und Sicherung von personaler Identität und von Gemeinschaften« (22,1–23,15) Bei den in der Einheit Dtn 22,1–23,15 zusammengestellten Gesetzen geht es wesentlich um Gefährdung und Sicherung von personaler Identität und von bestimmten Gemeinschaften. M. E. wird damit ein zentraler Aspekt des sechsten Dekaloggebots (Ehebruchsverbot) unter den Bedingungen des Landes ausgedeutet.275 In der Anordnung der Gesetzesblöcke ist im Hinblick auf den Personenkreis eine Steigerung erkennbar (Mann/Frau; Ehe/Familie; »Gemeinde JHWHs«; Heer): 22,1–12: Gesetze zum Thema Gefährdung und Sicherung von personaler Identität 22,13–23,1: Gesetze zum Thema Gefährdung und Sicherung von Ehe und Familie 23,2–9: Gesetz zum Thema Gefährdung und Sicherung der Identität der Gemeinde 23,10–15: Gesetz zum Thema Gefährdung und Sicherung des Heeres im Kriegslager

Der inhaltliche Schwerpunkt in Dtn 22,1–12 erschließt sich nur durch die Analyse der Anordnung der einzelnen Gesetze (im Zentrum steht m. E. V. 5276): V. 1–3.4 handeln von dem Umgang mit gefährdetem Besitz des Nächsten, d. h. mit verlorenen Tieren und Gegenständen (z. B. einem »Kleidungsstück«) bzw. von in Not geratenen Tieren. Dieses Verlorene oder in Not Geratene soll, wenn es gesehen wird, nicht ignoriert werden (V. 1.4.: ‫)לא תראה והתעלמת‬, dem Nächsten soll entsprechend geholfen werden. »Kleidungsstück« (‫ )שׂמלה‬ist eines der zentralen Stichworte in V. 5: Das »Verkleidungs-Verbot« für Männer und Frauen will sicherstellen, dass die geschlechtliche Identität eines Menschen nicht im Unklaren bleibt.277 Dies ist in gewisser Weise nicht nur die Voraussetzung für geschwisterliche Hilfe wie die in Dtn 22,1–4 geforderte (z. B. Rückgabe des »Kleides« an den rechtmäßigen Besitzer / die rechtmäßige Besitzerin), sondern auch für ein reguläres Familienleben und reguläre Nachkommenschaft. Letzteres ist Thema in Dtn 22,6 f.8: Es geht um den Fortbestand von Tier und Mensch, der nicht leichtsinnig gefährdet werden soll. Während Vogeljunge gefangen werden dürfen, soll die Vogelmutter (die für weitere 275 Da die Themen Ehebruch, Ehe und Beziehung explizit in Dtn 22,13–23,1 eine Rolle spielen, besteht zumindest in Bezug auf diesen Abschnitt in den vorliegenden Entwürfen zur dekalogischen Strukturierung des dtn Gesetzes Konsens in der Zuordnung zum Ehebruchsverbot, vgl. KAUFMAN 1979, S. 113 f.; BRAULIK 1991, S. 79–93, und OLSON 1994, S. 64. 276 Siehe hierzu auch die Überlegungen von WAGNER 2002, S. 228 f. 277 Vgl. die interessanten Studien von VEDELER 2008, und SACHER-FOX 2009.

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Nachkommenschaft sorgen kann) freigelassen werden; ein Hausdach ist zu umzäunen (wahrscheinlich zum besonderen Schutz für Kinder278). V. 9–11 machen einen bereits in V. 5 enthaltenen Gedanken stark, nämlich dass bestimmte Kombinationen nicht möglich sein sollen (z. B. die Kombination Mann – Frauenkleider). Die Verse enthalten (auch außerhalb Israels bekannte) Verbote der Vermischung von nicht zusammengehörenden Dingen und Handlungen. Anknüpfend an das Verbot in V. 11, Mischgewebe aus Wolle und Flachs anzuziehen, wird in V. 12 eine zweite »Kleiderordnung« erlassen (Überkleid mit vier Quasten): Sie soll m. E. sicherstellen, dass die religiöse und nationale Identität des Israeliten erkennbar ist. In Dtn 22,13–23,1 sind verschiedene (überwiegend kasuistisch formulierte) Gesetze zum Thema Gefährdung und Sicherung von Ehe und Familie zusammengestellt. In Dtn 22,13–19 wird der Fall von öffentlicher Verleumdung der Ehefrau durch den Ehemann behandelt: Er bezichtigt sie des vorehelichen Geschlechtsverkehrs. Wenn sich seine Anschuldigung (mit der er, im Licht von V. 20 f. besehen, den Tod seiner Frau fordert) als falsch herausstellt (durch die Aussagen von Vater und Mutter der Frau), soll er dennoch nicht mit dem Tod bestraft werden, wie es nach dem in Dtn 19,19 geforderten Grundsatz der Talion eigentlich geschehen müsste (und diese Abweichung von der Regel ist auf synchroner Ebene nicht erklärbar).279 In 22,20 f. wird der Fall ergänzt, dass ein Mann seine Frau diesbezüglich zu Recht anklagt und sich seine Anklage als begründet erweist. In diesem Fall soll die Tochter von der Einwohnerschaft der Stadt an der Schwelle ihres Vaterhauses gesteinigt werden. Das Gesetz impliziert, dass jeder voreheliche Geschlechtsverkehr einer Frau als

278 WAGNER 2002, S. 229, Anm. 60. 279 Einen Versuch, Dtn 22,13–19.20–21 dennoch mit dem Talionsrecht in Einklang zu bringen, machte WELLS 2005, S. 65: »The categories of full and partial measures can also applied to the passage about the slandered bride. Part B [V. 20 f.] reveals what full measures would look like were the husband to choose that option. The men of the city were to stone the women at the door of her father’s house. Part A, on the other hand, is about partial measures. There the man is not interested in the death of his bride; he prefers simply to dissolve the marriage and receive a handsome sum from the father.« Anders der Interpretationsvorschlag von EDENBURG 2009, S. 58: »The careful formulation of the family laws in Deuteronomy 22 is designed to demonstrate the idea that the integrity of the social structure is dependent on women’s exclusive fidelity to their patrons, just as the people as a whole are committed to exclusive fidelity to YHWH. Thus, the scribe responsible for the collection of sex laws broke the tradition of talionic retribution in the ruling for the case countering that of false accusation (22: 10–21), since his interest was to condemn premarital promiscuity and to affirm the principle of exclusive sexual fidelity, even toward a yet unknown, future husband.« Diachron erklärte den Befund OTTO 2002, S. 252: Es ging in Dtn 21,13–19 nach Otto ursprünglich nicht um ein Kapitalverbrechen; erst »die Fortschreibung in Dtn 22,20–21a deutet Dtn 22,13–19 auf den Ehebruch der Frau während der inchoativen Ehe. In diesem Fall kommt die Todessanktion zur Anwendung, sofern der Vorwurf nicht widerlegt wird.« Doch vom Text her ist nicht erkennbar, dass es um Ehebruch der Frau geht [also um Sexualität während der »Verlobungszeit«], und so bleibt die Frage, warum Redaktoren, falls sie dies gemeint haben sollten, keine expliziten Hinweise gegeben haben.

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Kapitalverbrechen zu werten ist.280 Dies ist in der altorientalischen Gesetzgebung singulär.281 Wie nicht zuletzt die engen sprachlichen Bezüge zeigen, ist Dtn 22,13–21 sozusagen das »Gegenstück« zu dem Gesetz über den »störrischen und widerspenstigen Sohn« in Dtn 21,18–21.282 Das Gesetz hätte durchaus zu Dtn 21,18–21 gestellt und dem Themenbereich Totschlag / Mord / (legitime) Tötung zugeordnet werden können (oder Dtn 21,18–21 und Dtn 22,13–21 hätten alternativ auch als Ausdeutungen des Dekaloggebots der Elternehrung dienen können283). Auf welchen Aspekt eines Falls, der sich in rechtssystematischer Hinsicht mehreren Themen zuordnen lässt, es den dtn Verfassern und Redaktoren besonders ankam, lässt sich durch die Beachtung der Einheit, in die der Fall platziert wurde, erkennen. Nach Dtn 22,22 ist der Ehebruch, wenn er in flagranti entdeckt wird, grundsätzlich mit dem Tod beider am Ehebruch Beteiligten zu bestrafen. Dies ist eine deutlich strengere Regelung als in anderen altorientalischen Rechtssammlungen.284 Ehebruch wurde im Dtn wohl nicht aus moralischen Gründen als schweres Verbrechen angesehen, sondern weil er die Sicherheit in Bezug auf die Festlegung der Vaterschaft gefährdete. »Das Verbot des Ehebruchs schützt also die Familie von illegitimen Erbberechtigten.«285 Dtn 22,23–27 unterscheidet in Bezug auf die verlobte (inchoativ verheiratete) Jungfrau zwischen Ehebruch und Vergewaltigung: Vergewaltigung mit Straffreiheit für die Frau wird nur »auf dem freien Feld«, nicht in der Stadt als solche anerkannt. Denn in der Stadt mit ihren beengten Verhältnissen könnten Frauen um Hilfe rufen und gehört werden (V. 24). Dies ist freilich fragwürdig, wie z. B. der Fall der Vergewaltigung Tamars zeigt (2 Sam 13). Geschlechtsverkehr mit der inchoativ verheirateten Frau innerhalb der Stadt gilt jedenfalls als »Ehebruch« und ist entsprechend mit dem Tod zu bestrafen. Nach Dtn 22,28 f. wird die in flagranti entdeckte Vergewaltigung eines unberührten, unverlobten Mädchens nicht dem Todesrecht, sondern dem Ersatzleistungsrecht zugewiesen: Der Vergewaltiger muss an den Vater des Mädchens fünfzig Silberstücke bezahlen. Zudem muss er das Mädchen heiraten und darf es sein Leben lang nicht entlassen. Das Gesetz war wahrscheinlich von seinen Verfassern als »Schutz«-Bestimmung gedacht: Es sollte verhindern, dass das vergewaltigte Mädchen ehelos im Elternhaus verbleibt, und sollte durch das Scheidungsverbot für 280 So mit LOCHER 1986, S. 384 f.; HAGEDORN 2004, S. 247. 281 Vgl. OTTO 2002, S. 252, Anm. 667. Lev 21,9 ist ein Sonderfall in Bezug auf die Priestertochter. 282 Vgl. nur Dtn 21,21: »Und alle Menschen seiner Stadt sollen ihn steinigen mit Steinen und er soll sterben«, und Dtn 22,21: »Und die Menschen ihrer Stadt sollen sie steinigen mit Steinen und sie soll sterben«; siehe auch BERLIN 2009, S. 111 f. 283 Vgl. zum Aspekt der Missachtung elterlicher Ehre in diesen beiden Gesetzen FRYMER-KENSKY 1998, S. 95, und FLEISHMAN 2008. 284 Vgl. etwa die mittelassyrischen Gesetze §12–16, TUAT I/1, S. 82 f. 285 KÖCKERT 2007, S. 79. VEIJOLA 2004, S. 169, weist noch darauf hin, dass Ehebruch auch als Sünde gegen Gott gilt (Gen 20,6; 39,8 f.).

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dauerhafte soziale Absicherung sorgen.286 Hier wie auch in den meisten anderen Familiengesetzen in den Gesetzessammlungen des Pentateuchs (und anderer altorientalischer Gesetzessammlungen) spielt die Zustimmung der Frauen zu der ehelichen Verbindung keine Rolle, das Bestimmungsrecht hat das männliche Oberhaupt der Familie (in der Regel der Vater).287 Dies kann im Fall von Dtn 22,29 implizieren, dass eine vergewaltige Frau ein Leben lang an einen brutalen, von ihr verabscheuten Mann gebunden wird.288 Dtn 23,1 ist ein Inzestverbot: Eine Frau des Vaters (es handelt sich hier nicht um die eigene Mutter) soll nicht geheiratet bzw. mit ihr soll nicht sexuell verkehrt werden. Die in Dtn 22,13–23,1 zusammengestellten Gesetze zeigen, dass die dtn Verfasser und Redaktoren von der patriarchal organisierten Familie ausgingen.289 In diesem Punkt mit allen Implikationen für die Stellung der Frauen (z. B. dass die Sexualität einer Frau ausschließlich von dem Mann kontrolliert wird, in dessen Machtbereich sie sich befindet, also in der Regel Vater oder Ehemann) unterschieden sie sich nicht von anderen Verfassern und Redaktoren biblischer und altorientalischer Gesetzessammlungen. In anderen Punkten war ihre Position im Hinblick auf die Rollen, die Frauen spielen sollten, vergleichsweise offen (z. B. ihre Position, dass Frauen wie Männer die dtn Gesetze lernen und lehren und anwenden sollten, vgl. unten zu Dtn 31,9–13). In dem sog. »Gemeindegesetz« Dtn 23,2–9 wird festgelegt, wer zu der »Versammlung JHWHs« (‫ )קהל יהוה‬kommen darf und wer nicht: Ausgeschlossen sein sollten nach V. 2 f. Entmannte, Verschnittene (aufgrund bestimmter religiöser Praktiken?) sowie »Bastarde« (Kinder aus verbotenen Verbindungen, Kultprostitution?).290 Ausgeschlossen sein sollten nach V. 4–7 zudem (in Israel ansässige) Ammoniter und Moabiter.291 Die Begründung in V. 5a (ihr Verhalten in der Wüste Israel gegenüber während des Exodus) steht dabei in direktem Widerspruch zu Dtn 2,29. Auffällig hart erscheint in V. 7 das Verbot, »ihren Frieden und ihr Gutes zu suchen« (vgl. als Kontrast das Gebot des Propheten Jeremia in Bezug auf Verhalten gegenüber einer babylonischen Stadt, MT Jer 29,7). Liegt der wahre Grund für den Ausschluss darin, dass Ammon und Moab für illegitime (inzestuöse) Verbindungen stehen (siehe die Erzählung Gen 19,30–38)? Hingegen dürften nach V. 8 f. (im Land wohnende) Edomiter (»Brudervolk« Israels) und Ägypter (»Gastvolk« Israels) in der dritten Generation zur »Versammlung JHWHs« kommen.

286 287 288 289 290 291

Vgl. PRESSLER 1993, S. 41; OTTO 2002, S. 250. Die Ausnahme ist Num 36,6. Vgl. FISCHER 1994, S. 86; SEIFERT 1997, S. 198.200. Vgl. auch BERLIN 2009, S. 95 f.; FINSTERBUSCH 2010b. Nach ZEHNDER 2005b, S. 304 f., handelt es sich um ethnisch Fremde. Siehe zum interessanten Fall der direkten Rezeption dieser Verse in Neh 13,1–3 ZEHNDER 2005b, S. 312 f.

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Was für eine Funktion sollte diese (im Dtn nur im »Gemeindegesetz« erwähnte) »Versammlung JHWHs« haben? Aus dem sich anschließenden Gesetz in Bezug auf die Reinheit des Heerlagers Dtn 23,10–15 kann geschlossen werden, dass zumindest eine ihrer Aufgaben nach dem Willen der dtn Verfasser und Redaktoren militärischer Natur sein sollte.292 In Dtn 23,10–15 geht es um Verhaltens-Vorschriften, die sicherstellen sollen, dass Angehörige des Heeres nicht die »Heiligkeit« (V. 15a) des Heerlagers verletzen und damit die gesamte Heeresgemeinschaft gefährden. Denn würde diese Heiligkeit verletzt, könnte sich JHWH, der als im Lager gegenwärtig gilt (vgl. auch schon Dtn 20,4), von dem Heer Israels abwenden (V. 15b). Dies würde seine sichere Niederlage in dem bevorstehenden Krieg bedeuten. 4.1.8 Gesetze zum Themenbereich »Verluste von Menschen und Dingen« (23,16–24,7) Der Themenbereich »Gefährdung und Sicherung von personaler Identität und von Gemeinschaften« endet mit Dtn 23,15. Für Dtn 23,16–24,7 als nächste Sinneinheit spricht das gewichtige Indiz der Rahmung durch Gesetze zum Thema Sklaverei:293 Im ersten Gesetz geht es um einen entlaufenen, nicht-israelitischen Sklaven (Dtn 23,16 f.), im letzten Gesetz geht es um den »Diebstahl« eines israelitischen Mannes mit dem Ziel seines Verkaufs als Sklaven (Dtn 24,7). Thematisch lässt sich in Dtn 23,16–24,7 folgender Schwerpunkt ausmachen: Es geht um »Verluste« von Menschen (bedingt durch Flucht, Prostitution, Scheidung oder Raub) und von Dingen (bedingt durch Zinsnahme, Gelübde oder Mundraub). Die Verwendung des signifikanten Schlüsselbegriffs ‫» גנב‬stehlen« (V. 7) zeigt, dass die dtn Verfasser und Redaktoren in Dtn 23,16–24,7 das siebte Dekaloggebot ausdeuten wollten. Die Einheit besteht aus folgenden Einzelgesetzen: 23,16 f.: Gesetz zum entlaufenen (nicht-israelitischen) Sklaven 23,18 f.: Gesetz zur (Kult)Prostitution 23,20 f.: Gesetze zur Zinsnahme 23,22–24: Gesetz zur Erfüllung von Gelübden 23,25 f.: Gesetz zu Mundraub und Diebstahl von Feldfrüchten 24,1–4: Gesetz zu Ehescheidung und Wiederverheiratung 24,5: Gesetz zur Befreiung eines neu verheirateten Mannes vom Kriegsdienst 24,6: Gesetz zur Pfändung lebenswichtiger Gegenstände 24,7: Gesetz zum Raub eines (israelitischen) Mannes mit dem Ziel seines Verkaufs als Sklaven

M. E. lassen sich die neun kleinen Gesetze in zwei Blöcke gliedern, nämlich in Dtn 292 Vgl. ZEHNDER 2005b, S. 304. Die »Versammlung JHWHs« ist kaum mit »ganz Israel« identisch. Auch die »ganze Versammlung Israels« (Dtn 31,30; Jos 8,35) ist nicht mit »ganz Israel« identisch, siehe hierzu LOHFINK 1993a, S. 240–244. 293 So auch BRAULIK 1991, S. 94–101.

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23,16–26 und Dtn 24,1–7 (beide Blöcke enden mit einem Gesetz zum Thema »Verbot von Diebstahl«). In den in Dtn 23,16–26 zusammengestellten fünf Gesetzen lässt sich eine alternierende Anordnung von »Sozialgesetzen« (Dtn 23,16 f.; 23,20 f.; 23,25 f.) und »kultischen Gesetzen« (Dtn 23,18 f.; 23,22–24) beobachten: Nach Dtn 23,16 f. soll ein Sklave aus dem Ausland, der seinem Besitzer entläuft und nach Israel flieht, nicht ausgeliefert werden, sondern soll sich in Israel (»in deiner Mitte«, V. 17a) niederlassen dürfen. Dies ist angesichts der AuslieferungsBestimmungen in altorientalischen Gesetzen und Staatsverträgen eine Besonderheit.294 Ein solcher entlaufener Sklave würde dann in Israel zu den »Fremdlingen« gehören; er darf keinesfalls schlecht behandelt werden (V. 17b). Das in V. 18 formulierte Verbot, kedescha (wörtlich: »geheiligte Frau«) bzw. kadesch (wörtlich: »geheiligter Mann«) zu sein, knüpft an ein Thema der letzten Einheit an: (Kult-)Prostitution gefährdet legitime Verbindungen und Werte wie die »Ehre des Vaterhauses« (vgl. Dtn 22,21).295 Im gewissen Sinne sind (Kult-)Prostituierte samt ihren, aus dtn Sicht natürlich nicht legitimen Kindern für die Gesellschaft quasi »verloren«. In V. 19 wird noch festgelegt, dass Erträge aus (Kult-)Prostitution nicht JHWH gelobt werden dürfen, da dies ihm ein »Gräuel« ist. Zinsnahme war in der altorientalischen Welt die Regel, doch nach Dtn 23,20 f. soll sie in Israel auf sich nur temporär im Land aufhaltende »Ausländer« (z. B. durchreisende Geschäftsleute) beschränkt sein und nicht für »Geschwister« gelten. Offenbar waren für die dtn Verfasser und Redaktoren Zinsen (bzw. die damit verbundenen Verluste an Geld und Naturalien für den Schuldner) nicht vereinbar mit ihrer Idee einer Gesellschaft von »Geschwistern«. Nach Dtn 23,22–24 muss ein JHWH gelobtes Gelübde (in gewisser Weise »Schuldenmachen bei JHWH«) ohne Verzug erfüllt werden; z. B. muss ein gelobtes Opfer beim nächst möglichen Aufenthalt am Heiligtum (etwa bedingt durch die Teilnahme an einem Wallfahrtsfest) geopfert werden. In Dtn 23,25 f. wird Mundraub in Bezug auf Feldfrüchte erlaubt und die Grenze zum Diebstahl aufgezeigt. Der Schwerpunkt der in Dtn 24,1–7 zusammengestellten Gesetze liegt auf dem »Verlust« eines Menschen: Nach Dtn 24,1–4 ist es einem Mann erlaubt, seine Ehefrau wegen »Anstößigem« (‫ערות דבר‬: unschickliches Verhalten?) zu entlassen. Der Fokus des Gesetzes liegt darauf, dass die Trennung der beiden Ehepartner unwiderruflich sein soll (falls die Frau nach dieser ersten Scheidung sich erneut verheiratet und später frei wird, darf der erste Mann sie nicht wieder heiraten296). Über ein Scheidungsrecht der Frau verlautet in der Hebräischen Bibel nichts. Es verlautet (im Gegensatz zu ausführlichen diesbezüglichen Regelungen in anderen altorientali294 Vgl. TIGAY 1996, S. 215, und S. 387, Anm 57. 295 Vgl. zu Prostitution und Kultprostitution im Alten Orient TIGAY 1996, S. 480–481. 296 Dieses Gesetz ist eine crux interpretum, vgl. WESTBROOK 1991a, S. 155 f., und OTTO 2002, S. 253–262.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

schen Gesetzessammlungen) auch nichts über Einzelheiten in Bezug auf das Scheidungsverfahren (Regelung der Rückzahlung der Mitgift der Frau etc.). Entsprechende Gesetze muss es aber gegeben haben, ihre Kenntnis wird hier vorausgesetzt. Dtn 24,5 hätte in rechtssystematischer Hinsicht auch unter den Regelungen zur Freistellung von der Teilnahme an einem Kriegszug in Dtn 20,5–9 aufgeführt werden können. Die Platzierung in der Einheit Dtn 23,16–24,7 ist allerdings sehr gut nachvollziehbar: Ein neu verheirateter Mann soll ein Jahr lang von jeglichen Kriegsdiensten befreit sein und seine Frau erfreuen können. Durch dieses Gesetz soll einem möglichen Tod des Mannes im Krieg vorgebeugt werden und verhindert werden, dass die Frau zur kinderlosen Witwe wird. Zum Mahlen von Getreide brauchten Frauen eine Handmühle, bestehend aus zwei Mahlsteinen. Mahlsteine sind Werkzeuge, die zum Erhalt der täglichen Existenz notwendig sind. Verboten wird in Dtn 24,6 das Pfänden des oberen Mahlsteins. Dieser allein ist ökonomisch wertlos, er ist also kein klassisches Pfand (im Sinne eines Gegenwertes für ein Darlehen). V. 6 zielt auf ein Pfänden, das bestehenden Rückzahlungsforderungen Nachdruck verleihen soll, indem es den Schuldner unter Druck setzt.297 Die Anordnung dieses Pfändungsverbots hinter den beiden Gesetzen in Dtn 24,1–4.5 könnte sich dadurch erklären, dass eine Familie besonders leicht in existentielle Not geraten kann, wenn das Familienoberhaupt fehlt (z. B. durch Scheidung oder Krieg). Auf jeden Fall schlägt dieses Gesetz inhaltlich eine Brücke zu der folgenden Einheit (Dtn 23,17–24,8, eine ähnliche »Verzahnung« der Einheiten war auch in Dtn 16,21–17,1 zu beobachten). In Dtn 24,7 wird der Raub eines Israeliten in Verbindung mit Menschenhandel verboten. Solcher Raub soll als Kapitalverbrechen gelten und soll entsprechend mit dem Tod bestraft werden. 4.1.9 Gesetze zum Themenbereich »Ausbeutung und Ausnutzung von Armen, Schwachen und Unterlegenen« (24,8–25,19) Die dtn Verfasser und Redaktoren haben (wie auch bei der vorangehenden sechsten Einheit) durch eine Rahmung deutlich gemacht, dass Dtn 24,8–25,19 als Einheit verstanden werden soll. In dem ersten und dem letzten Gesetz findet sich die Formulierung (Dtn 24,9; 25,17): ‫ בדרך בצאכם ממצרים‬xxx ‫ ל‬xxx ‫זכור את אשר עשה‬ »Gedenke, was getan hat xxx an xxx auf dem Weg bei Eurem Auszug aus Ägypten«.298 297 Es geht also eher um Beschlagnahmen als um Pfänden, vgl. auch TIGAY 1996, S. 223. 298 Die Bedeutung dieser markanten Rahmung wurde von Braulik verkannt. BRAULIK 1991, S. 102, bestimmte Dtn 24,8–25,4 als Einheit (»Den Armen, sozial Schwachen und Schuldigen ihr Recht nicht verweigern«), die nach ihm das achte Dekaloggebot »(Wahrheit vor) Gericht« kommentiert. Nun werden Gerichtsverhandlungen in der Tat erwähnt (Dtn 24,17; 25,1–3), zudem erinnert Dtn 24,8 an Dtn 17,9 f. (einem Teil des Gesetzes über das Zentralgericht). Aber der Akzent der einzelnen Gesetze liegt nicht auf dem Thema Zeugenaussage – dies ist jedoch in Dtn 19,15–21 explizit der Fall. Zudem lässt sich gegen Braulik ein Einschnitt zwischen Dtn 25,1–4 und 25,5 nicht feststellen: Das

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Der inhaltliche Schwerpunkt der Einheit lässt sich wie folgt beschreiben: Es geht um Ausbeutung von Menschen bzw. um Ausnutzung von Armen, sozial Schwachen und Unterlegenen (Mensch und Tier) in wirtschaftlicher und physischer Hinsicht. Damit wird m. E. ein zentraler Aspekt der beiden Begehrensverbote des Dekalogs ausgedeutet.299 Die Struktur der Einheit lässt sich wie folgt darstellen: Rahmen 24,8 f.: Gesetz zu einer Hautkrankheit (Gedenken an die Tat JHWHs an Miriam) Gesetze gegen die Ausnutzung von geschwächten / sozial schwachen Personen: 24,10–13: Gesetz zur Behandlung des Pfandes des Nächsten / Armen 24,14 f.16: Gesetz zum Umgang mit dem Lohn des armen Tagelöhners 24,17 f.: Gesetz zum Schutz von Fremdling, Waise und Witwe 24,19–22: Gesetz zur Nachlese für Fremdling, Waise und Witwe Gesetze gegen die Ausnutzung von physisch unterlegenen Menschen und Tieren: 25,1–3: Gesetz zur Limitierung der Prügel bei der Prügelstrafe 25,4: Gesetz zugunsten des dreschenden Ochsen 25,5–10: Gesetz zur Leviratsehe (zugunsten eines sohnlos verstorbenen Mannes) 25,11 f.: Gesetz zu nicht erlaubter Hilfe bei einer Prügelei Gesetz gegen wirtschaftlichen Betrug (betrifft alle Menschen in der Gesellschaft): 25,13–16: Gesetz zu falschen Maßen und Gewichten Rahmen 25,17–19: Gesetz zu Amalek (Gedenken an die Tat Amaleks an Israel)

In Dtn 24,8 f. geht es um das Verhalten bei einer Hautkrankheit (welche genau gemeint ist, ist unklar): Unbedingt ist auf die Weisung der levitischen Priester zu hören. In V. 8b wird betont, dass diese konkrete Weisung einer vorausgehenden Weisung JHWHs an die levitischen Priester entspricht. Offenbar gingen die dtn Verfasser und Redaktoren davon aus, dass die levitischen Priester eine Art Priestertora besitzen, die unter anderem einen Abschnitt zum Thema Hautkrankheit enthält.300 Dtn 24,8 f. wirkt auf den ersten Blick im Kontext thematisch vollkommen deplatziert (und zeigt dadurch den Wechsel der Sinneinheiten unmissverständlich an). Es könnte als Eröffnungsgesetz der siebten Einheit gewählt worden sein, um deutlich zu machen, dass Männer und Frauen (»Miriam«!) recht schnell (unverschuldet) in eine Position der Schwäche geraten können (hier infolge von Krankheit). Die Frage, die in den folgenden Gesetzen thematisiert wird, ist, wie mit Menschen (und Tieren) umgegangen werden soll, die sich in einer unterlegenen Position bzw. in einer Position der Schwäche befinden. Motiv des Schlagens in Dtn 25,2 und 25,11 weist vielmehr die in Dtn 25,1–12 zusammengestellten vier Gesetze als Block aus (diese Klammer wurde von Braulik ignoriert). 299 Darauf haben die dtn Verfasser und Redaktoren einen klaren sprachlichen Hinweis gegeben: Die Kombination »Nächster« (‫ )רע‬und »Haus« (‫ )בית‬kommt nur im zehnten Dekaloggebot und in Dtn 24,10, dem Eröffnungsvers des ersten Gesetzes nach dem Rahmenteil Dtn 24,8–9, vor. 300 Siehe hierzu FINSTERBUSCH 2005, S. 279–281.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Die vier in Dtn 24,10–22 zusammengestellten Gesetze kreisen um den Schutz von Schuldnern und Armen (24,10–13.14–16) und von Fremdling, Waise und Witwe (24,17 f.19–22): Im Fall eines nicht zurückgezahlten Kredits soll der Gläubiger nicht in das Haus des Schuldners eindringen und das Pfand holen (V. 10 f.); und falls der Schuldner zu der Gruppe der Armen gehört, soll das Pfand, z. B. ein Kleidungsstück, noch vor Sonnenuntergang zurückgegeben werden (V. 12 f.). Einem armen Tagelöhner (Israelit oder Fremdling) soll nach V. 14 f. der Lohn noch vor Sonnenuntergang ausgezahlt werden. Wer dies nicht tut, wird »Schuld« haben (‫)חטא‬. Chet ist das Stichwort für den »Exkurs« V. 16: Väter sollen nicht für die Söhne und Söhne nicht für die Väter getötet werden, jeder soll nur für seinen eigenen chet – nun im Sinn von: für sein eigenes »(Kapital-)Verbrechen« – sterben. Es soll also keine Sippenhaft geben, dieser Gedanke wird besonders in exilischer Zeit betont (siehe auch oben Punkt 3.2.2 zu Dtn 7,9 f.). Unterschieden von dem »Armenrecht« in der Welt des Deuteronomiums ist das Recht der personae miserabiles (auch wenn die dtn Verfasser und Redaktoren in der Praxis mit Überschneidungen der Gruppen rechneten):301 Nach V. 17a soll das »Du« das Recht des Fremdlings und der Waise bei Gericht nicht beugen, nach V. 17b soll das »Du« das Kleid der Witwe nicht pfänden (um Druck auszuüben, falls sie einen Kredit nicht zurückzahlen kann). Nach V. 19–21 soll das »Du« vielmehr von seinem eigenen Besitz etwas abgeben und bei der Ernte von Feld, Weinberg und Olivenbaum Vergessenes nicht einholen bzw. gezielt Früchte übrig lassen, damit Fremdling, Waise und Witwe für sich etwas nachlesen können. Dem geforderten Handeln wird in beiden Gesetzen mit dem Hinweis auf das eigene Sklavenschicksal in Ägypten Nachdruck verliehen (V. 18.22). In Dtn 25 wechselt die Perspektive: In den vier in Dtn 25,1–12 zusammengestellten Gesetzen geht es nicht mehr um arme Menschen und personae miserabiles, sondern um Personen (und Tiere), die in physischer Hinsicht in bestimmten Situationen unterlegen oder benachteiligt sind. Nach Dtn 25,1–3 soll der Richter bei Verhängung der Prügelstrafe über einen schuldigen Mann die Zahl der Schläge entsprechend der Schwere des Vergehens bestimmen, maximal darf er aber nur 40 Schläge anordnen. Als Grund für diese Obergrenze wird in V. 3b angegeben, dass mehr Prügel den »Bruder« demütigen könnten. Eine solche Demütigung würde sich, wie die ausdrückliche Bezeichnung des Straffälligen als »Bruder« anzeigt, aber nicht mit deuteronomischer Geschwisterethik vertragen. Nach Dtn 25,4 soll einem Ochsen beim Dreschen nicht sein Maul verbunden werden (um ihn vom Fressen 301 Beispielsweise sollen Fremdling, Waise und Witwe (sowie die Gruppe der Leviten) regelmäßig versorgt werden (vgl. Dtn 14,29; 16,11.14; 24,17–22; 26,12.13). Die Armut der Armen sollte möglichst vermindert und letztlich zum Verschwinden gebracht werden (vgl. Dtn 15,1–3.8–11.12–18; 24,12– 15), z. B. durch entsprechende Erleichterungen bezüglich Kredite. Siehe zum Thema insbesondere LOHFINK 1990b. Dass die dtn Verfasser und Redaktoren pragmatisch mit Überschneidungen zwischen den personae miserabiles und den »Armen« rechneten, zeigen Dtn 24,14 (ein Fremdling kann zu der Gruppe der armen Tagelöhner rechnen) und Dtn 24,17b (eine Witwe, die eigentlich regelmäßig versorgt sein sollte, muss einen Kredit nehmen), so zu Recht OTTO 2004, S. 479, Anm. 34.

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während des Dreschens abzuhalten). Es sei erwähnt, dass das Verb ‫ דושׁ‬q. nicht nur »dreschen« bei der Ernte bedeutet, sondern auch »(Feinde) zerdreschen«; diese Doppelbedeutung könnte erklären, warum Dtn 25,5 mit dem Gesetz zur Prügelstrafe zusammen gestellt wurde. Dtn 25,5–10 ist das einzige Gesetz in der Hebräischen Bibel zum Thema Levirat (lat. levir: Schwager). Die (in mehreren altorientalischen Kulturen bekannte302) Leviratsehe soll nach dem Wortlaut des biblischen Gesetzes (insbes. V. 6b) dem Zweck dienen, einem sohnlos verstorbenen Mann quasi noch nachträglich einen Sohn und Erben zu verschaffen und damit seinen Namen (seine Genealogie) in Israel zu erhalten (patrilineare Struktur der judäischen Familie!). Nun könnte der Schwager z. B. im Hinblick auf den ihm zufallenden Erbteil seines sohnlos verstorbenen Bruders durchaus kein Interesse an einer solchen Regelung haben. Jedenfalls soll (bzw. kann) er nicht zur Ehe mit seiner Schwägerin gezwungen werden. Durch das in V. 9 vorgeschriebene öffentliche Ritual des Anspuckens und Schuhausziehens bei der Verweigerung der Leviratsehe seitens des Mannes (seitens der Frau wird eine Verweigerung nicht erwogen!) machten die dtn Verfasser und Redaktoren jedoch deutlich, dass diesbezüglich eine starke »moralische« Verpflichtung besteht.303 In Dtn 25,11 f. geht es um eine Schlägerei zwischen zwei Männern. Dabei soll eine Ehefrau ihrem geprügelten Mann nicht dergestalt zu Hilfe kommen können, dass sie die Geschlechtsteile seines Gegners »fasst«. Obwohl ein solcher Griff in der Notsituation auf den ersten Blick »entschuldbar« erscheinen mag, darf doch nach Meinung der Gesetzgeber die Intimsphäre eines Gegners auf keinen Fall verletzt werden (dies wäre ein »Tabubruch«): Der Frau soll zur Strafe ihre Hand abgehackt werden. Fällt die Strafe (auch) deshalb so hart aus, weil die dtn Verfasser und Redaktoren hier die Talionsregel anwandten?304 Falls sie damit gerechnet haben, dass durch den Griff der Frau unter Umständen bei dem Mann Zeugungsunfähigkeit hervorgerufen werden könnte, könnte dies mit J. Tigay die Zusammenstellung der Gesetze Dtn 25,5–10 und 25,11 f. erklären (»Nachwuchs« wäre die Verbindung).305 302 Vgl. hierzu z. B. die Angaben bei WESTBROOK 1991b, S. 87–89. 303 Vgl. auch WESTBROOK 1991b, S. 82 ff., und MATLOCK 2007 (der eine Verbindung zwischen Levirat und dem neunten Dekaloggebot Dtn 5,21a herausarbeitete). OTTO 2002, S. 266, deutete den Akt der Chaliza (des Schuhausziehens) dahingehend, dass dem Schwager das Erbe des verstorbenen Bruders zugunsten von dessen Witwe entzogen wird: »Es geht in Dtn 25,5–10 also um ihre Rechte und nicht die des verstorbenen Ehemannes.« Schwierig an dieser Interpretation ist, dass eben dieser nach Otto entscheidende (!) Punkt im Levirats-Gesetz nicht explizit gemacht wird (und so wurde das Gesetz in der jüdischen Tradition auch nicht verstanden). Vom Kontext näher liegend ist m. E. die Interpretation von TIGAY 1996, S. 233: Entzogen wird dem Schwager und seiner Familie das Recht auf die Witwe, sie ist von nun an frei zu heiraten, wen sie will (das Verbot von V. 5 wird also aufgehoben). 304 So mit beachtenswerten Argumenten CORTEZ 2006. »In any event, there is no doubt that shame and honor would have been at stake in this envisioned case and that a notion of shame lay behind the Hebrew euphemism used here for the male genitals«, ELLIOTT 2006, S. 174. 305 TIGAY 1996, S. 484–486 (mit Bezug auf einen ähnlich lautenden mittelassyrischen Gesetzestext).

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Im Fokus des »Händlerspiegels« Dtn 25,13–16 steht im Gegensatz zu den vorangehenden Gesetzen keine bestimmte Gruppe der Gesellschaft. Es geht um Betrug, der Menschen aller Schichten betreffen kann. Verboten wird in V. 13 f. interessanterweise der Besitz von falschen Gewichten und Maßen. Dies erklärt sich wohl durch die implizite Unterstellung der Gesetzgeber, dass der Besitz unabdingbar zum Gebrauch im alltäglichen Handelsgeschäft (ver-)führen würde (V. 16). Die siebte Einheit endet mit dem Gesetz zu Amalek (Dtn 25,17–19). Wie das erste Gesetz in der Einheit geht der Blick zurück in die Zeit des Exodus. Amalek dezimierte laut V. 18 beim Auszug Israels den schwächsten Teil des Volkes. Im Licht des ersten Gesetzes in der siebten Einheit ist hier z. B. an die Kranken zu denken. Jedenfalls soll Israel in Zukunft im Land das Gedenken an Amalek auslöschen. Nun wird Geschichte nicht ausgelöscht, indem man dies befiehlt und die Erinnerung damit geradezu »konserviert«. Entweder wurde dieser Widerspruch nicht bemerkt oder er wurde zugunsten einer wichtigen Funktion der Verse in der siebten Sinneinheit in Kauf genommen. M. E. lässt sich Letzteres wahrscheinlich machen, insofern sich das Gesetz als abschließende Mahnung verstehen lässt: Die dtn Verfasser und Redaktoren werteten Amaleks Handeln als Zeugnis mangelnder Gottesfurcht (V. 18b: ‫» ולא ירא אלהים‬und nicht fürchtete er Gott«). Israel soll sich, wie die in der siebten Einheit zusammengestellten Gesetze zeigen, diesbezüglich von Amalek in Bezug auf (sozial) schwache und unterlegene Personen (und Tiere) deutlich unterscheiden.306 Dtn 25,19 ist nicht nur der letzte Vers der siebten Einheit im dtn Gesetz. In Dtn 25,19 und in Dtn 12,8–10 sind nahezu identische Formulierungen enthalten, wie die folgende Übersicht zeigt: Ihr sollt nicht so tun, wie wir es heute hier tun, ein jeder all das in seinen Augen Rechte. Denn ihr seid bisher noch nicht zur Ruhe gekommen und zu dem Erbbesitz, den JHWH, dein Gott, dir gibt. Ihr werdet aber den Jordan überschreiten und euch niederlassen in dem Land, das JHWH, euer Gott, euch als Erbbesitz zuteilt, und er wird euch Ruhe schaffen vor allen euren Feinden ringsum, und ihr werdet sicher wohnen. (Dtn 12,8–10) Es sei: Wenn JHWH, dein Gott, dir Ruhe schafft vor all deinen Feinden ringsum in dem Land, das dir JHWH, dein Gott, zum Erbbesitz gibt, sollst du das Andenken der Amalekiter unter dem Himmel austilgen, vergiss das nicht. (Dtn 25,19)

Durch diese besondere Markierung (z. B. kommt das Motiv des Ruhe-Verschaffens vor Israels Feinden nur hier im dtn Gesetz vor307) haben die dtn Verfasser und Redaktoren diesen Versen die Funktion einer Klammer verliehen. Laut der Aussa306 Zu interessanten Deutungsversuchen des Gesetzes in der jüdischen Tradition siehe SAGI 1994. 307 Vgl. auch BRAULIK 1991, S. 112.

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gen von Dtn 12,8–10 und Dtn 25,19 sollen alle Gesetze, die innerhalb dieser Klammer platziert wurden (und die sozusagen das »Herzstück« des dtn Gesetzes ausmachen), zwar noch nicht »heute« gelten (Dtn 12,8), aber in Zukunft, wenn Israel in Ruhe im Land leben wird (dies bestätigt noch einmal die These, dass das dtn Gesetz von den dtn Verfassern und Redaktoren eigentlich als Landesgesetz für Juda gedacht war, siehe oben zu Dtn 12,1). 4.1.10 Ausleitungstext: Gesetze zum Sprechen von liturgischen Texten im zentralen Heiligtum bei der Ausführung dtn Gesetze in Bezug auf Opfer und Abgaben (26,1–15) In Dtn 26 wechselt die Perspektive: Es wird vorausgesetzt, dass die IsraelitInnen nunmehr in ihren Erbbesitz gekommen sind und im Land die in Dtn 12,8–25,19 enthaltenen dtn Gesetze tun. In Bezug auf zwei dieser Gesetze erfolgen in Dtn 26,1– 15 gewissermaßen liturgische Nachträge. In Dtn 26,1–11 geht es um die Abgabe der Erstlingsfrüchte. Nach V. 3 f. soll ein Korb mit den Erstlingen (‫ )ראשׁית‬der Früchte der Erde am zentralen Heiligtum (dem Jerusalemer Tempel) dem Priester gegeben werden, der den Korb auf den Altar JHWHs stellen soll (nach V. 10b soll das »Du« den Korb mit den Früchten selbst [nochmals?] auf den Altar stellen). Dies deckt sich zum Teil mit Dtn 18,4: Der erste Ertrag (‫ )ראשׁית‬von Korn, Wein und Öl soll dem Priester zur Versorgung gegeben werden. Im Rahmen der Abgabe soll das landbesitzende »Du« einen Text sprechen (Dtn 26,5aβ-10a). Dieser Text wird in der Literatur (seit G. von Rad) häufig als »kleines geschichtliches Credo« bezeichnet;308 im späteren Judentum wird es in der Pesach-Aggada zitiert. Der Text setzt ein mit der Zeit der Erzväter (V. 5aβ): »Ein Aramäer, ein umherirrender / zugrundegehender, (war) mein Vater«. Die genaue Identifikation des gemeinten Erzvaters wird allerdings offengelassen (Abraham?, Jakob?); möglicherweise ist der Ausdruck kollektiv gemeint und bezieht sich auf alle drei Erzväter (in V. 7b wird der Plural »(Erz-)Väter« verwendet). Interessant ist der »zeitgeraffte« Zugang: »Mein Vater« bringt zum Ausdruck, dass es nicht um längst vergangene (Untergangs-)Geschichte, sondern um die das sprechende Ich unmittelbar angehende Vergangenheit geht. Als Zweites wird die Zeit in Ägypten thematisiert (V. 5aγ-7). Hier ließ sich der »Erzvater« nieder, hier wurde Israel schließlich zu einem großen Volk. Doch die Ägypter brachen das Gastrecht und versklavten Israel. Darauf klagte es in der Not »und wir schrien zu JHWH, dem Gott unserer Väter« und JHWH hörte und sah diese Not (V. 7). Auffallend ist hier der transhistorische Gebrauch der 1. Pers. Pl.: Die sprechende Person muss sich mit der Ägypten- und Exodusgeneration identifizieren, die Geschichte dieser Generationen soll sie als kollektive Glaubensgeschichte bekennen. Als Drittes (V. 8 f.) wird die Rettung durch JHWH beschrieben (wobei Sinai und Wüstenwanderung übersprungen werden): »JHWH hat uns herausgeführt« (‫)ויוצאנו‬, »JHWH hat uns zu diesem Ort 308 Vgl. z. B. GERTZ 2000, und MICHEL 2005.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

gebracht« (‫ )ויבאנו‬und »JHWH hat uns dieses Land gegeben« (‫)ויתן לנו‬. Schließlich (V. 10a) soll die sprechende Person nun aus dieser kollektiven Geschichte ihre persönliche Konsequenz ziehen und JHWH danken: »Und nun, siehe, ich habe gebracht (‫ )הבאתי‬die Erstlingsfrüchte des Landes, das du mir gegeben hast (‫אשׁר‬ ‫)נתתה לי‬, JHWH«. Nach der Zeremonie soll sich ein Freudenfest anschließen (V. 11). Am Fest sollen neben dem »Du« der Levit und der Fremdling teilnehmen. Auffällig ist bezüglich der Teilnehmerliste das Fehlen von Waise und Witwe. Warum werden Levit und Fremdling hier genannt? Der Levit, der ja in der dtn Welt ausdrücklich ohne Land bleiben soll, hätte sonst keinerlei Zugang zu dieser Zeremonie und dem sich anschließenden Fest (vgl. Dtn 18,2). Der Fremdling (‫ )גר‬sollte das »Du« in diesem Rahmen vielleicht (als sein alter ego) an den Aufenthalt in Ägypten erinnern (V. 5a: ‫)ויגר שׁם‬, und seine Anwesenheit sollte zu entsprechend solidarischem Handeln mahnen.309 In Dtn 26,12–15 wird nach der Erfüllung des Gesetzes zur Zehntabgabe in den Drittjahren (des sieben-Jahre-Zyklus) für Levit und personae miserabiles (Dtn 14,28 f.) der abgebenden Person ein »Unschuldsbekenntnis« vorgeschrieben. Dieses soll sie »vor JHWH« sprechen (V. 13a), gemeint ist (wie in V. 5) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor JHWH im Tempel (vielleicht am Laubhüttenfest, da zu dieser Zeit nach Dtn 14,22–29 die Zehntabgabe erfolgen soll).310 Sie soll zunächst die genaue Erfüllung des Gesetzes beteuern (V. 13b.14). Interessant ist hierbei die Formulierung, dass sie gemäß allem getan hat, was JHWH ihr geboten hat. Dahinter steckt das Verständnis, dass JHWH in den (von Mose verkündeten) Gesetzen jeden Einzelnen im Kollektiv Israel zeit- und generationenübergreifend direkt anspricht. Zweitens soll die sprechende Person um den Segen JHWHs für Volk und Land bitten (V. 15). Dies zeigt: Die Erfüllung der dtn Gesetze liegt in der Verantwortung des Einzelnen, hat in den Auswirkungen aber eine kollektive Dimension. Anders formuliert: Die Erfüllung der Gesetze durch den Einzelnen ist die Voraussetzung (nicht die Bedingung) für den Segen JHWHs über Volk und Land. Das Bekenntnis schließt mit dem Hinweis auf JHWHs Gabe des guten Landes an Israel, entsprechend seinem Schwur an die Erzväter. Dies und die Formulierung »das Land, in dem Milch und Honig fließt« verbinden »Glaubensbekenntnis« und »Unschuldsbekenntnis« (vgl. V. 3.9.15). Der »Ausleitungstext« Dtn 26,1–15 bildet zusammen mit dem »Einleitungstext« Dtn 12,2–7 einen Rahmen um den Kern des Gesetzes (Dtn 12,8–25,19): – Beide Texte haben im dtn Gesetz Dtn 12,1–26,16 eine Sonderstellung: In Dtn 12,2–7 wird gewissermaßen die Voraussetzung für die Durchführung der (kulti-

309 Nach MICHEL 2005, S. 47 f., zielt das kleine Credo in Dtn 26 auf Solidarisierung mit dem Fremden. 310 Siehe zur Begründung insbesondere WILSON 2008.

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schen) Gesetze im Land angegeben; in Dtn 26,1–15 wird vorausgesetzt, dass Israel im Land lebt und die (kultischen) Gesetze befolgt. – In beiden liturgischen Nachträgen werden aus Dtn 12,2–7 nicht nur die Themen zentrales Heiligtum (Dtn 12,5; 26,2b.5.13), Opfer und Abgaben (Dtn 12,6; 26,2a.12311) aufgenommen. Aufgenommen werden auch die Motive Freude und Segen (Dtn 12,7): Der erste liturgische Nachtrag schließt mit dem Motiv der Freude (26,11), der zweite mit dem Motiv des Segens JHWHs ab (26,15). Was sollte durch diese Rahmung zum Ausdruck gebracht werden? Einleitungs- und Ausleitungstext des dtn Gesetzes weisen sozusagen auf den »Dreh- und Angelpunkt« dieses Gesetzes hin: die eine Kultstätte für Israel. Dadurch sollte sich Israel von den »Kanaanäern« unterscheiden (Dtn 12,4); dadurch sollte sichergestellt werden, dass Israel regelmäßig bei der Begegnung mit seinem Gott mit essentiellem »Glaubenswissen« in Berührung kommt (Bekenntnis zur eigenen Geschichte in Dtn 26,5–10; Bekenntnis zur Notwendigkeit individueller Gesetzeserfüllung als Voraussetzung für den Segen JHWHs für Volk und Land in Dtn 26,13–15). 4.1.11 Abschluss mit Paränese (26,16) Der Schlussvers Dtn 26,16 hat, wie längst in der exegetischen Literatur gesehen wurde, in zweifacher Hinsicht Rahmenfunktion. Erstens bildet er zusammen mit Dtn 12,1 einen Rahmen um das dtn Gesetz.312 Nur in diesen beiden Versen kommt im dtn Gesetz der Doppelausdruck »Satzungen und Rechtsvorschriften« vor (in beiden Versen verbunden mit der Wendung ‫» לשׁמר לעשׂות‬sorgfältig tun«): 12,1: Dies (sind) die Satzungen und Rechtsvorschriften, die ihr sorgfältig tun sollt im Land, das JHWH, der Gott deiner Väter, dir gegeben hat / gegeben haben wird, um es in Besitz zu nehmen, alle Tage, die ihr auf der Erde / im Land lebt. 26,16: Heute, an diesem Tag, gebiet dir JHWH, dein Gott, zu tun diese Satzungen und Rechtsvorschriften, und du sollst sie sorgfältig tun mit deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Selbst.

Zweitens bildet Dtn 26,16 mit Dtn 5,1b einen Rahmen um die Tora-Rede des Mose (Dtn 5,1b–26,16), dies ist ebenfalls kenntlich durch die Positionierung des Doppelausdrucks verbunden mit der Wendung »sorgfältig tun« (‫ )לשׁמר לעשׂות‬in beiden Versen; im Folgenden Dtn 5,1b: 311 Zwischen den Formulierungen in Dtn 26,4 (der Priester soll den Korb »aus deiner Hand« nehmen) und in Dtn 12,6 (»die Abgaben eurer Hand«) lässt sich eine Verbindung sehen: Die Erstlinge gehören demnach zu den Abgaben, die zum Tempel von Jerusalem zu bringen sind, vgl. auch TIGAY 1996, 121. Der in Dtn 26,12 erwähnte »Zehnte« ist in Dtn 12,6 unter den Opfergaben für den Tempel aufgelistet. 312 Vgl. z. B. LOHFINK 1989a, S. 229; BRAULIK 1991, S. 114; TIGAY 1996, S. 446.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Höre Israel die Satzungen und die Rechtsvorschriften, die ich euch heute in die Ohren rede, und lernt sie und tut sie sorgfältig.

In Bezug auf Dtn 26,16 sei kurz noch auf die Formulierung »JHWH gebietet dir« hingewiesen: Damit machten die dtn Verfasser und Redaktoren einmal mehr deutlich, dass das Gesetz eigentlich von JHWH ausgeht – Mose ist nur der Mittler, der im Auftrag JHWHs gebieten darf (s. auch oben zu Dtn 26,13b.14313).

4.2

Diachrone Textbetrachtungen

4.2.1 Redundanzen und schroffe Fügungen: Textwachstum in 12 Im Zuge der synchronen Analyse von Dtn 12 fiel auf, dass einige Abschnitte sich schroff voneinander abheben (z. B. setzt Dtn 12,8–12 nach Dtn 12,2–7 quasi noch einmal neu an mit ausführlichen einleitenden Bemerkungen zu der künftigen Inbesitznahme des Landes). Dies kann als ein Indiz dafür gewertet werden, dass das Kapitel nicht in »einem Zug« geschrieben wurde. Es lassen sich noch weitere Beobachtungen ergänzen: Auffallend ist beispielsweise, dass in V. 1–12 Israel überwiegend pluralisch, in V. 13 ff. überwiegend singularisch angeredet wird. Ausgesprochen merkwürdig erscheint zudem in Dtn 12,13–19 die Sonderbehandlung ausgerechnet des Brandopfers zu Beginn des Gesetzes (V. 13 f.). Schließlich wirken die drei Opfergesetze (V. 8–12.13–19.20–28) redundant (wenngleich keine direkten Widersprüche zwischen ihnen bestehen). Im Folgenden seien einige Überlegungen angestellt, wie eine Wachstumsgeschichte von Dtn 12 ausgesehen haben könnte:314 Vorausgesetzt wird dabei im Hinblick auf die in sich relativ kohärent wirkenden einzelnen Abschnitte erstens, dass die Struktur von Dtn 12 sich im Wesentlichen durch die (sekundäre) Zusammenstellung von verschiedenen Abschnitten ergeben hat (innerhalb dieser Abschnitte ist 313 Gelegentlich ist in den Paränesen (z. B. Dtn 11,13) und im Gesetzestext ein Oszillieren zwischen dem Ich Moses und dem Ich JHWHs festzustellen (z. B. Dtn 17,3; 24,8). Ein ähnliches Phänomen ist auch im Jeremiabuch festzustellen, siehe hierzu KÖCKERT 2000, S. 88. 314 Zu der Wachstumsgeschichte von Dtn 12 gibt es zahlreiche Hypothesen. Hier nur eine kleine Auswahl: Nach REUTER 1993, S. 42–114, besteht die Grundschicht aus V. 13–14a.15–18 (Schwerpunkt: Kultort); eine erste, vorexilische Redaktion sei auszumachen in V. 19.21.24.26 f. (Schwerpunkt: Klarstellungen aus priesterlich-rituellem Interesse); eine zweite, frühexilische Redaktion sei verantwortlich für V. 8–12.14b.25 (Festlegung des Zeitpunktes der Kultzentralisation auf den salomonischen Tempelbau); V. 1.2–4.5–7.20.28.29–31 gingen auf das Konto einer dritten, spätexilischen Redaktion (Schwerpunkt nicht mehr Einheit, sondern Reinheit des Kultes). Nach ROSE 1994a, S. 11 ff., ist Dtn 12,13–19* der älteste Text im Kapitel (Schicht I, entstanden in der Zeit des Königs Hiskija); es folgt V. 20–27* (Schicht II, steht in Verbindung mit Joschija), dann V. 8–12.28* (Schicht III, exilische Zeit) und schließlich V. 2–7.29–31 (Ende der exilischen Zeit / nachexilische Zeit). Nach RÜTERSWÖRDEN 2006, S. 76, liegt in Dtn 12,13–19* die älteste Stufe des Zentralisationsgesetzes vor, die einschränkenden Bestimmungen in V. 21–24.26 f. gehören zu einer vorexilischen Ergänzung, der Rest ist deuteronomistisch. Trotz aller Unterschiede im Detail herrscht Einigkeit darin, dass in Dtn 12 die Verse 13–19 wohl den ältesten Bestand bilden.

C. Moses Vorlegen der Tora

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durchaus nochmals mit kleineren Bearbeitungen zu rechnen, darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden). Vorausgesetzt wird zweitens die (weithin akzeptierte) Annahme, dass die pluralischen Texte im dtn Gesetz in der Regel die jüngeren sind.315 Wegen seiner »Unableitbarkeit« kann das überwiegend singularisch formulierte Gesetz Dtn 12,13–19* als das älteste Gesetz in Dtn 12 gelten; dieses Gesetz (möglicherweise ein im Kern vor-dtn Gesetz zum Thema Brandopfer?316) haben die dtn Verfasser und Redaktoren als eine Art »Gegengesetz« zu dem Altargesetz des Bundesbuches gestaltet (siehe unten EXKURS I, 1): Opfer sollen nun nur noch an dem einen zentralen Kultort dargebracht werden. Je nachdem, wie die Kultzentralisation historisch bewertet wird, wird der Abschnitt Dtn 12,13–19* für vorexilisch317 oder für exilisch318 gehalten. Sekundär wurden mit diesem Gesetz die beiden Opfergesetze Dtn 12,8–12* und 12,20–28* zusammen gestellt: Das überwiegend pluralisch gehaltene Opfergesetz Dtn 12,8–12* führt die für den ersten Block (Dtn 12,8–28), mit dem die dtn Verfasser und Redaktoren m. E. das zweite Dekaloggebot (das Namensmissbrauchsverbot) unter den Bedingungen des Landes ausdeuten wollten,319 in der ersten Sinneinheit im dtn Gesetz (12,8–14,21) entscheidende Schlüsselterminologie ein: »Namen JHWHs« (‫שׁם יהוה‬, V. 11). Dies spricht m. E. für eine frühe intentionale Verbindung von Dtn 12,13–19* mit Dtn 12,8–12*. Warum wurde Dtn 12,8–12* nun aber nicht singularisch formuliert? Möglicherweise wollten die dtn Verfasser und Redaktoren durch die pluralische Anrede Dtn 12,8–12* bewusst von Dtn 12,13–19* abheben und damit auf die besondere Funktion hinweisen, die Dtn 12,8–12* für das gesamte Gesetz hat: Es bestimmt das Land als den Ort, an dem die dtn Gesetze zu halten sind, und gibt den Zeitpunkt an, ab wann sie gültig sind (die hier vorausgesetzte Situation der Landnahme ist »für eine exilierte Adressatenschaft unmittelbar auf ihre eigene Situation übertragbar«320). Das Opfergesetz Dtn 12,20–28* (in dem die Schlüsselwendung »Namen JHWHs« nochmals wiederholt wird, V. 21), verfügt, Dtn 12,13–19* in gewisser Weise einschränkend, faktisch eine Begrenzung der Schlachterlaubnis im Fall der Ausweitung der Grenzen des Landes und entstammt von daher wohl einer anderen, späteren (spät- oder nachexilischen) Schicht (vgl. auch Dtn 19,8–10).321 Der Abschnitt Dtn 12,29–31* setzt m. E. die Konzentration auf eine Kultstätte 315 316 317 318

Vgl. z. B. ROSE 1994a, S. 17; LOHFINK 1996a, S. 172. Siehe zu diesem Problemfeld insbesondere LOHFINK 1996a, S. 175–177. Vgl. z. B. RÖMER 2006b, S. 56. Vgl. z. B. J. DIETRICH 2010, S. 345 (Dtn 12,13–28*); dies halte ich selbst für wahrscheinlich, siehe auch Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.1. 319 Vgl. FINSTERBUSCH 2011b, S. 131–133. 320 RÖMER 2006b, S. 60. 321 Auffällig ist in dem Abschnitt Dtn 12,20–28 vor allem der Rückverweis in Dtn 12,21 (»wie ich dir geboten habe« – von einem entsprechenden Gebot ist im Dtn nicht die Rede). Im Hintergrund steht möglicherweise eine Auseinandersetzung mit Lev 17, siehe hierzu RÜTERSWÖRDEN 2009b.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

voraus und könnte von denjenigen der dtn Verfasser und Redaktoren hinzugefügt worden sein, denen die an verschiedenen Stellen im Dtn begegnende Abgrenzung von den kanaanäischen Völkern besonders wichtig war – möglicherweise aus Gründen der »Erklärung« der Ereignisse um 587/6 v. Chr. (s. o. zu Dtn 20,15–18). Dtn 12,2–7* ist m. E. noch von dtn Verfassern und Redaktoren in der Exilzeit322 als Einleitungstext zu dem gesamten vorliegenden dekalogisch strukturierten Gesetzestext komponiert worden (zusammen mit dem Ausleitungstext Dtn 26,1–15*), wobei bei der sprachlichen Gestaltung Motive aus Dtn 12,29–31* aufgegriffen wurden. Evtl. hängt die pluralische Formulierung auch hier mit der besonderen Funktion des Abschnitts für den gesamten Gesetzestext zusammen: Mit Dtn 12,2–7* sollte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die grundlegende Bedeutung der Kultzentralisation für das dtn Gesetz hervorgehoben werden.

4.2.2 Fortschreibungen im dtn Gesetz am Beispiel von 13,1–12 In vielen Gesetzen fallen bei genauer Lektüre kleinere inhaltliche und sprachliche »Unebenheiten« auf. Die in der Exegese kaum jemals befriedigend zu lösende Schwierigkeit ist, wie diese Unebenheiten einzuschätzen sind bzw. inwieweit sie literarkritisch auswertbar sind. Im Folgenden soll exemplarisch Dtn 13,1–12 betrachtet werden. Die aus meiner Sicht wahrscheinlichen »Fortschreibungen« sind in eckige Klammern gesetzt:323 Autoritätssicherungsformel und Gesetz 1 1a Und jedes Wort, das ich euch gebiete, sollt ihr sorgfältig tun, 1b nicht sollst du zu ihm hinzufügen und nicht von ihm wegnehmen. 2a Wenn in deiner Mitte ein Prophet oder ein Traumdeuter aufsteht, 2b [und er gibt dir ein Zeichen oder ein Wunderbeweis, 3aα und das Zeichen oder der Wunderbeweis treten ein] 3aβ der (‫ )אשׁר‬zu dir redet wie folgt: 322 RÖMER 2006b, S. 64 ff., hält Dtn 12,2–7 (ebenso wie Dtn 12,29–31) für nachexilisch. Das Thema »Abgrenzung von den kanaanäischen Völkern« passt m. E. besser in die Exilszeit. 323 In Bezug auf die literarkritische Beurteilung und Datierung der einzelnen Verse und Versteile in Dtn 13,1–12 gibt es kaum Konsens: DION 1991, S. 192, meinte: »Deuteronomy 13 is the work of a deuteronomistic writer, who placed it after 12.29–31. This chapter was expanded in a theological direction (vv. 2b–3a, 4b–5, 6a*) by a later redactor with a widened horizon (v. 8), who also tried to build a special unit covering 12.28–13.19.« – Nach ROSE 1994a, S. 295–304, ist Dtn 13 von Theologen der »Schicht II« (Josia-Zeit) gestaltet; dieser Schicht sind V. 2.3*.6*.7a-bβ.9*(die letzten drei Worte).10*.11a.12 zugeordnet; zu Schicht III (exilische Zeit) rechnete Rose V. 4a.5*.6(Relativsatz in V. 6aα).8*.9(bis auf die letzten drei Worte).11b; Schicht IV sind zugeordnet V. 3b(Relativsatz).4b.5b β.6aβ.7bγ.8a(Relativsatz). – NIELSEN 1995, S. 143 ff., datierte Dtn 13,1–19 bis auf V. 1.4b.5.6aβ.8 deuteronomisch vorexilisch. – VEIJOLA 2004, S. 283 f., vertrat eine späte Abfassung von Dtn 13. Der Grundtext stammt nach Veijola von der spätdtr-nachexilischen Bundesredaktion im Dtn (DtrB): 13,2.3*.4–6.7.9.10aα.11b.12; Erweiterungen sind Dtn 13,1.3b*.8.10aβb.11a. Diese Erweiterungen sind nach Veijola keine zusammenhängende Redaktionsschicht, sondern eher als sporadische Zusätze verschiedener Herkunft zu verstehen.

C. Moses Vorlegen der Tora

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3b »Lasst uns hinter anderen Göttern hergehen [die du nicht gekannt hast] und lasst uns ihnen dienen«, 4a so sollst du nicht hören auf die Worte dieses Propheten oder dieses Traumdeuters. 4b Sondern [JHWH, euer Gott, versucht euch, um zu wissen, ob ihr JHWH, euren Gott, liebt mit eurem ganzen Herzen und eurer ganzen Seele] 5a hinter JHWH, euren Gott, sollt ihr hergehen und ihn sollt ihr fürchten, 5b und seine Gebote sollt ihr halten und auf seine Stimme sollt ihr hören und ihm sollt ihr dienen und ihm sollt ihr anhangen. 6aα Und dieser Prophet und dieser Traumdeuter soll sterben, denn er hat Hochverrat geredet gegen JHWH, euren Gott, der euch aus dem Land Ägypten geführt hat und der dich freigekauft hat aus dem Haus der Knechtschaft 6aβ.γ [um dich abzubringen von dem Weg, den JHWH, dein Gott, dir befohlen hat]. 6b Und du sollst das Böse entfernen aus deiner Mitte. Gesetz 2 7a Wenn dich dein Bruder, der Sohn deiner Mutter, oder dein Sohn oder deine Tochter oder die Frau deines Herzens oder dein Freund, den du liebst, heimlich verführen will und spricht: 7bα »Lass uns hingehen und anderen Göttern dienen«, 7bβ [die du und deine Väter nicht gekannt haben, 8a von den Göttern der Völker, die rings um euch her sind, die dir nahe oder fern von dir sind, 8b von einem Ende der Erde bis zum anderen] 9a so sollst du ihm nicht folgen und nicht auf ihn hören, 9b dein Auge soll nicht mitleidig auf ihn schauen, du sollst (ihn) nicht schonen und ihn nicht decken. 10a Sondern unbedingt töten sollst du ihn, deine Hand soll zuerst gegen ihn sein, um ihn zu töten, 10b und die Hand des ganzen Volkes danach. 11a Und (zwar) sollst du ihn steinigen, so dass er sterbe, 11b denn er hat versucht, dich abzubringen von JHWH, deinem Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. 12a Ganz Israel soll hören und sich fürchten, 12b und sie werden nicht fortfahren, eine so böse Sache zu tun in deiner Mitte.

Die »Unebenheiten« seien nun genauer betrachtet: – V. 2b.3aα: In sprachlicher Hinsicht fällt auf, dass die in diesen Versteilen enthaltenen beiden Sätze den Hauptsatz in V. 2a und den Relativsatz in V. 3aβ unterbrechen; das Relativpronomen ‫ אשׁר‬wird dadurch sehr weit von seinem Bezugswort in V. 2a getrennt.324 Inhaltlich enthalten V. 2b.3aα eine Beschreibung des Tuns von Prophet bzw. Traumdeuter, die zum Verständnis der Kernaussage des Gesetzes nicht unbedingt notwendig ist (nach dieser Kernaussage sind Prophet und Traumdeuter grundsätzlich bei Anstiftung zur Falschprophetie hinzurichten). 324 Vgl. auch OTTO 1999a, S. 38.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

– V. 3b: Der Relativsatz fällt insofern aus dem Rahmen, als er unvermittelt die wörtliche Rede unterbricht.325 Er lässt sich als eine später hinzugekommene Präzisierung der »fremden Götter« verstehen. – V. 4b: Wäre dieser Satz eine Erklärung des Verführungsversuches, so ergäbe sich die Konsequenz, dass der Falschprophet als »Instrument« JHWHs im gewissen Sinne entlastet wäre. Der Satz ist also besser als eine Erklärung für das eingetroffene Zeichen des falschen Propheten zu verstehen.326 Demnach knüpft V. 4b an V. 2b.3aα an und ist als eine entsprechend spätere Kommentierung einzuschätzen. – V. 6aβ.γ: Der Infinitivsatz steht syntaktisch hinter dem Relativsatz in V. 6aα, schließt aber nicht an diesen an, sondern an das Prädikat in V. 6aα ([Hochverrat] »reden«). Der Infinitivsatz ist insofern als ein nicht ganz geschickt positionierter Nachtrag über den Zweck des Redens zu bewerten.327 Der Anklang an V. 11b (dieser Satz fügt sich stimmig in den Kontext) ist nicht zu übersehen; möglicherweise wurde 6aβ.γ mit der Absicht eingefügt, die beiden Fälle im Hinblick auf die Schwere des Verführungsversuches einander anzugleichen. – V. 7bβ.8: Diese Sätze lassen sich als sekundäre Fortschreibungen identifizieren, die zwischen die zitierte Rede des Verführers (V. 7bα) und dem Gebot, nicht zu hören (V. 9a), eingeschoben wurden (vgl. auch das erste Gesetz, in dem der zitierten Rede des Verführers in V. 3b* direkt das Gebot in V. 4a, nicht zu hören, folgt). Sie sind Erläuterungen zum Thema der fremden Götter und es ist (aufgrund der wörtlichen Übereinstimmungen) anzunehmen, dass sie von derselben »Hand« wie der Relativsatz in V. 3b stammen.328 Die Analyse belegt auf jeden Fall (auch wenn man im Detail streiten kann), dass auf der »Mikroebene« deuteronomische Texte ergänzt, kommentiert und aktualisiert wurden. Teilweise hängen diese (in der Sekundärliteratur meist mit dem Label »deuteronomistisch« versehenen) mutmaßlichen »Fortschreibungen« wohl inhaltlich zusammen, und sie könnten teilweise sogar von der »Hand« eines der dtn Verfasser oder Redaktoren stammen. Teilweise könnten sie aber auch über Jahrhunderte hinweg beim Überarbeiten oder Abschreiben der vorliegenden Rolle von Schreibern sporadisch eingefügt worden sein. Sicherheit lässt sich hier aus meiner Sicht nicht gewinnen. Beobachten lässt sich in Dtn 13,1–12 auf jeden Fall, dass durch die mutmaßlichen »Fortschreibungen« der Text tendenziell »umständlicher« wird und »beladener« wirkt; er bleibt aber verständlich und er behält summa summarum eine sinnvolle Struktur. Die »Kernaussagen« bleiben identifizierbar.

325 Vgl. auch ROSE 1994a, S. 299. In der Fassung der Tempelrolle wurde diese Schwierigkeit durch eine syntaktische Umstellung gelöst, vgl. 11QTa LIV,10. 326 Vgl. auch ROSE 1994a, S. 300; OTTO 1999a, S. 39. 327 Vgl. auch ROSE 1994a, S. 300. OTTO 1999a, S. 38.41, hält in V. 6 und in V. 11 auch das Ägyptenmotiv für eine spätere Ergänzung. Doch dieses fügt sich jeweils organisch in den Kontext ein. 328 Vgl. auch OTTO 1999a, S. 41 (jedoch mit anderer literarkritischer Argumentation).

Exkurs I: Rezeption von Bundesbuch

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EXKURS I: Rezeption von Bundesbuch, den VTE und kasuistischem Recht im dtn Gesetz 1. Die Rezeption des Bundesbuches am Beispiel des Altargesetzes in 12 2. Kritische Rezeption der VTE in 13,1–12 3. Die Aufnahme älterer kasuistischer Rechtssätze in 19–25

Wie mehrere Spezialstudien gezeigt haben, wurden zentrale Gesetze des Bundesbuches (Ex 20,22–23,33) durch die dtn Verfasser und Redaktoren reformuliert (und nicht umgekehrt).329 Zudem spricht viel dafür, dass sie einige Texte in Aufnahme zentraler Aussagen der VTE (»Vassal treaties of Esarhaddon«330) gestaltet haben.331 Ferner haben die dtn Verfasser und Redaktoren in das dtn Gesetz kasuistische Rechtssätze aus älteren Rechtssatzsammlungen (assyrischen und wohl auch hebräischen) eingebaut.

1.

Die Rezeption des Bundesbuches am Beispiel des Altargesetzes in 12

Zu den ersten Texten des Bundesbuches zählt ein Altargesetz (Ex 20,24–26), auch am Anfang des dtn Gesetzes (Dtn 12,1–7.8–28) steht das Thema Kultort im Zentrum. Im Folgenden sei jeweils ein Auszug der Altargesetze angeführt: Ex 20,24 Einen Altar aus Erde (‫ )מזבח אדמה‬sollst du mir machen, und du sollst schlachten / opfern auf ihm (‫ )וזבחת עליו‬deine Brandopfer und deine Ganzopfer, dein Kleinvieh und dein Rind. An jedem Ort, an dem ich meinen Namen kundtue (‫)בכל מקום אשׁר אזכיר את שמי‬, werde ich zu dir kommen und ich werde dich segnen (‫)וברכתיך‬. Dtn 12,13 Hüte dich, deine Brandopfer darzubringen an jedem Ort, den du sehen wirst (‫)בכל מקום אשׁר תראה‬. 14 Sondern an dem Ort, den JHWH in einem deiner Stammgebiete wählen wird, dort sollst du deine Brandopfer darbringen, und dort sollst du alles tun, was ich dir gebiete. 15 Doch darfst du nach aller Herzenslust schlachten (‫ )תזבח‬und Fleisch essen entsprechend dem Segen JHWHs (‫)ברכת יהוה‬, deines Gottes, den er dir geben wird in allen deinen Stadtbereichen; der Unreine, der Reine darf es essen, wie bei Gazelle und Hirsch. 16 Nur das Blut sollt ihr nicht essen, auf die Erde sollst du es gießen wie Wasser. 17 Nicht darfst du in deinen Stadtbereichen essen den Zehnten deines Getreides und Mosts 329 Vgl. vor allem LEVINSON 1998, und OTTO 1999a, S. 217–364. Ein prominenter Vertreter der Gegenthese (im BB würden ältere dtn Gesetze reformuliert) ist VAN SETERS 2003. Siehe zu einer Auseinandersetzung mit Van Seters LEVINSON 2004. 330 Siehe hierzu im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.1.2. 331 Häufiger wird angenommen, dass Dtn 1–28* nach der Struktur altorientalischer Verträge gestaltet wurde, siehe den forschungsgeschichtlichen Überblick bei KOCH 2008, S. 2–14.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

und Öls und die Erstgeburten deines Rinds und deines Kleinviehs und alle deine Gelübde, die du geloben wirst und deine freiwilligen Abgaben und dein Handopfer. 18 Sondern vor JHWH, deinen Gott, sollst du es essen an dem Ort, den JHWH, dein Gott, erwählen wird, du und dein Sohn und deine Tochter und dein Sklave und deine Magd und der Levit, der in deinen Stadtbereichen ist, und du sollst dich freuen vor JHWH, deinem Gott, an allem, was deine Hand geschaffen hat. 19 Hüte dich, den Leviten im Stich zu lassen alle deine Tage auf deiner Erde.

Die engen sprachlichen Berührungen zwischen den beiden Texten (im Hebräischen besser erkennbar) bei diametral entgegengesetzter inhaltlicher Akzentsetzung sind mehr als auffällig:332 – Nach Ex 20,24 kann »an jedem (Kult-)Ort, an dem ich meinen Namen kund tue«, ein Opfer gebracht werden. Nach Dtn 12,13 wird eben dies verboten, vielmehr darf nach Dtn 12,14(18) geopfert werden ausschließlich »an dem (Kult-) Ort, den JHWH, dein Gott, erwählen wird«. – Nach Ex 20,24 ist das Schlachten (‫ )זבח‬von Tieren ausschließlich als Opferschlachtung gedacht. In Dtn 12,15 wird das Verb ‫ זבח‬verwendet, um die Profanschlachtung einzuführen, eine Möglichkeit, die nicht im Horizont von Ex 20,24 liegt. – Nach Ex 20,24 ergeht der Segen JHWHs ‫»( בכל מקום‬an jedem [Kult-]Ort«). In Dtn 12,15 verbinden die Autoren und Redaktoren das Segensmotiv mit ‫בכל‬ ‫»( שׁעריך‬in allen deinen Stadtbereichen«). Angesichts dieses Befundes ist es mehr als wahrscheinlich, dass ein Text durch die Verfasser und Redaktoren des anderen und unter Verwendung zentraler Schlüsselbegriffe verfasst wurde. Dafür, dass Ex 20,24 der Referenztext ist, der in Dtn 12,13– 19 rezipiert wurde, dass also das Gesetz in Bezug auf die Einrichtung mehrerer Kultorte älter ist als das Gesetz, welches nur einen einzigen legitimen Kultort vorsieht, sprechen vor allem zwei Gründe. Erstens die historische Evidenz: In vorexilischer Zeit gab es (archäologisch nachweisbar) in Juda mehrere Kultorte; Jerusalem als zentraler Kultort in Juda setzte sich erst in nachexilischer Zeit durch. Und zweitens die biblische Evidenz: Die Kultzentralisation wird laut 2 Reg 18 (vgl. V. 22) und 2 Reg 23 (vgl. V. 8) als »Neuerung« bewertet, die sich ausdrücklich gegen die kultische Verehrung JHWHs an mehreren Orten richtet. Die Frage ist, wie die Rezeption der älteren (vorexilischen) Gesetze im Bundesbuch durch die dtn Verfasser und Redaktoren zu verstehen ist. Nach E. Otto war »das Bundesbuch für den dtn Autor autoritativer Text […]. Andernfalls hätte er ihn nicht reformuliert.«333 Diese Deutung des Befundes leuchtet nicht ein: Wie gezeigt, steht das dtn Altargesetz inhaltlich im Widerspruch zu dem Altargesetz des Bundesbuches (und weitere Widersprüche lassen sich im Zuge von Textvergleichen der beiden Gesetzessammlungen zeigen, z. B. bei den Freilassungsgesetzen). Das deutet 332 Die folgenden Beobachtungen nehmen insbesondere Bezug auf LEVINSON 1998, S. 23–52. 333 OTTO 1999a, S. 350.

Exkurs I: Rezeption von Bundesbuch

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eher darauf hin, dass die dtn Verfasser und Redaktoren durch subversive Rezeption das Bundesbuch verdrängen bzw. die ältere Bundesbuchgesetzgebung ersetzen wollten. Diese Auffassung hat vor allem B. Levinson in seiner Studie »Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation« vertreten und m. E. auch wahrscheinlich gemacht.334 Hinzuzufügen ist allerdings sofort, dass historisch gesehen der Verdrängungsversuch der dtn Verfasser und Redaktoren gescheitert ist: Beide Gesetzessammlungen wurden in den Pentateuch aufgenommen. Dies führt zu der Frage, wie das Verhältnis der beiden Gesetzessammlungen literarisch auf der Pentateuchebene zu verstehen ist.335

2.

Kritische Rezeption der VTE in 13,1–12

In Dtn 13 sind nach der »Autoritätssicherungsformel« (V. 1) drei Gesetze zum Thema Fremdgötterverehrung zusammengestellt (Dtn 13,2–19). Insbesondere in den Versen 1.2–12 fällt auf, dass mehrere Formulierungen Parallelen in den VTE haben.336 Die entsprechenden Passagen sind unterstrichen (die in eckigen Klammern gesetzten Passagen sind mutmaßliche Fortschreibungen, siehe dazu oben 4.2.2): Autoritätssicherungsformel und Gesetz 1 1a Und jedes Wort, das ich euch gebiete, sollt ihr sorgfältig tun, 1b nicht sollst du zu ihm hinzufügen und nicht von ihm wegnehmen. 2a Wenn in deiner Mitte ein Prophet oder ein Traumdeuter aufsteht, 2b [und er gibt dir ein Zeichen oder ein Wunderbeweis, 3aα und das Zeichen oder der Wunderbeweis treten ein] 3aβ der zu dir redet wie folgt: 3b »Lasst uns hinter anderen Göttern hergehen [die du nicht gekannt hast] und lasst uns ihnen dienen«, 4a so sollst du nicht hören auf die Worte dieses Propheten oder dieses Traumdeuters. 4b Sondern [JHWH, euer Gott, versucht euch, um zu wissen, ob ihr JHWH, euren Gott, liebt mit eurem ganzen Herzen und eurer ganzen Seele] 5a hinter JHWH, euren Gott, sollt ihr hergehen und ihn sollt ihr fürchten, 5b und seine Gebote sollt ihr halten und auf seine Stimme sollt ihr hören und ihm sollt ihr dienen und ihm sollt ihr anhangen. 6aα Und dieser Prophet und dieser Traumdeuter soll sterben, denn er hat Hochverrat geredet gegen JHWH, euren Gott, der euch aus dem Land Ägypten geführt hat und der dich freigekauft hat aus dem Haus der Knechtschaft 6aβ.γ [um dich abzubringen von dem Weg, den JHWH, dein Gott, dir befohlen hat]. 6b Und du sollst das Böse entfernen aus deiner Mitte. 334 LEVINSON 1998, S. 149 f. Vgl. auch STACKERT 2007, S. 211–214, und RÜTERSWÖRDEN 2009a, S. 120. 335 Siehe hierzu Teil IV. SYNCHRONE BETRACHTUNGEN DTN TEXTE AUF DER EBENE DES PENTATEUCHS. 336 Eine deutsche Übersetzung der VTE findet sich z. B. in TUAT I/2, S. 160–176.

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III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Gesetz 2 7a Wenn dich dein Bruder, der Sohn deiner Mutter, oder dein Sohn oder deine Tochter oder die Frau deines Herzens oder dein Freund, den du liebst, heimlich verführen will und spricht: 7bα »Lass uns hingehen und anderen Göttern dienen«, 7bβ [die du und deine Väter nicht gekannt haben, 8a von den Göttern der Völker, die rings um euch her sind, die dir nahe oder fern von dir sind, 8b von einem Ende der Erde bis zum anderen] 9a so sollst du ihm nicht folgen und nicht auf ihn hören, 9b dein Auge soll nicht mitleidig auf ihn schauen, du sollst (ihn) nicht schonen und ihn nicht decken. 10a Sondern unbedingt töten sollst du ihn, deine Hand soll zuerst gegen ihn sein, um ihn zu töten, 10b und die Hand des ganzen Volkes danach. 11a Und (zwar) sollst du ihn steinigen, so dass er sterbe, 11b denn er hat versucht, dich abzubringen von JHWH, deinem Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. 12a Ganz Israel soll hören und sich fürchten, 12b und sie werden nicht fortfahren, eine so böse Sache zu tun in deiner Mitte.

Nun zu den einzelnen Stellen:337 – Die Autoritätssicherungsformel Dtn 13,1 hat eine Parallele in VTE § 4, hier wird geboten, das Wort Asarhaddons keinesfalls zu verändern.338 – Die Aufzählung der Anstifter zum religiösen Hochverrat in V. 2.7 erinnert an VTE §10: »Wenn ihr ein übles […] Wort, das für Assurbanipal […] nicht angemessen […] ist, sei es aus dem Mund eurer Brüder, eurer Söhne, eurer Töchter, oder aus dem Mund eines Propheten, eines Ekstatikers, eines Befragers des Gotteswortes […] hört und verheimlicht […]«.339

337 Mit B. Levinson und E. Otto macht es m. E. die Summe der Parallelen wahrscheinlich (siehe auch die Parallelen zwischen der Fluchsequenz in Dtn 28 und den VTE, die STEYMANS 1995, nachgewiesen hat), dass die dtn Verfasser und Redaktoren in Dtn 13,1–12 Texte aus den VTE rezipiert haben, vgl. OTTO 1999a, S. 15–90, und die in den folgenden Anmerkungen genannten Arbeiten von LEVINSON. Anders z. B. KOCH 2008, S. 167 f.: »Der komplexe traditionsgeschichtliche Befund, nach dem neben autochthon judäischen Elementen sowohl aramäische als auch assyrische Einflüsse nachweisbar sind, spricht gegen die These, die vertragsrechtlichen Vorstellungen und Sprachformen in Dtn 13* resultierten allein aus der literarischen Abhängigkeit von einem neuassyrischen Vertragstext im Allgemeinen oder gar dem EST [=VTE] im Besonderen.« 338 Vgl. hierzu insbesondere LEVINSON 2009. Ist VTE §4 der Ideenspender für die deuteronomische »Autoritätssicherungsformel« in Dtn 13,1b, so spricht dies angesichts der im Abschnitt mehrfach nachweisbaren Rezeption der VTE dafür, dass die Formel im Kontext von Dtn 13 ihren ursprünglichen literarischen Ort hatte. Dtn 13,1 wäre also nicht (gegen die Mehrheit der ExegetInnen) als »späterer Zusatz« zu beurteilen, so zu Recht LEVINSON a. a. O., S. 35 f. 339 Vgl. vor allem LEVINSON 2001.

Exkurs I: Rezeption von Bundesbuch

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– Die in Dtn 13,6aα gebrauchte hebräische Formulierung »Hochverrat reden« (‫דבר סרה‬a340) entspricht der akkadischen Formulierung in VTE § 57: »aufrührerisches, unwahres Gerede« (dabāb surrāti u lā kīnāti). – Hochverrat darf nicht verheimlicht werden: Die Formulierung in Dtn 13,9b hat eine Parallele in VTE § 10 (akk. pazāu D entspricht hebr. ‫) כסה על‬.341 – Schließlich kann durch die These, dass die dtn Verfasser und Redaktoren auf die VTE Bezug genommen haben, das Gebot zur Lynchjustiz in Dtn 13,10aα (MT342) »erklärt« werden, das mit den dtn Vorschriften zu einem ordentlichen Gerichtsverfahren und der Anhörung von (mindestens zwei) Zeugen (vgl. Dtn 17,2–17,13; 19,15–21) kollidiert. In VTE § 12 wird Lynchen als Reaktion auf politischen Hochverrat vorgeschrieben (»ergreife und töte«). »The Neo-Assyrian treaty material makes it clear that Deut 13: 7–12 follows a different procedural norm and belongs to a different literary tradition.«343 Die Rezeption der VTE in Dtn 13 erfolgte nach B. Levinson und E. Otto in joschijanischer Zeit: Dem assyrischen Großkönig sollte die Loyalität entzogen werden. Dies ist m. E. nicht plausibel: Durch Dtn 13,1–12* wurde die Loyalität gegenüber dem assyrischen Großkönig auf der politischen Ebene kaum in Frage gestellt.344 Näherliegend ist folgender Grund der Rezeption: Die gelehrten (exilischen) deuteronomischen Verfasser und Redaktoren konnten im Zuge ihrer Ausdeutung des ersten Dekaloggebots in Dtn 13345 leicht auf den Gedanken kommen, die (alte) assyrische Forderung der unbedingten Loyalität (mit der gerade Juda durch die VTE historisch lange konfrontiert war) aufzugreifen und sie für ihre Zwecke fruchtbar zu machen: Unbedingte Loyalität gebührt allein JHWH, die Verehrung fremder Götter gleicht religiösem Hochverrat. Diese »Vereinnahmung« kann durchaus als Ausdruck einer kritischen Distanz zu dem assyrischen Text und / oder der assyrischen Tradition interpretiert werden.

340 Das Nomen ‫»( סרה‬Hochverrat«) kommt im Dtn nur noch einmal in 19,16 vor. 341 So OTTO 1999a, S. 60. Anders LEVINSON 1996, S. 165, der V. 9bβ übersetzt mit »nor shall you condone him«. 342 In der LXX steht hier »du sollst ihn unbedingt anzeigen«. Diese durch andere Textzeugen nicht gedeckte Lesart ist (gegen die Mehrheitsmeinung) wohl nicht die »ursprüngliche« Lesart, sondern erklärt sich als sekundäre Anpassung von Dtn 13,10 f. an Dtn 17,2–7, vgl. auch OTTO 1999a, S. 43, und LEVINSON 1995, S. 182–184. 343 LEVINSON 1995, S. 192. Vgl. auch noch DERS. a. a. O., S. 193: »The rhetorical situation – incitement to apostasy which has taken place in a situation where, by definition, there are no witnesses (‫;בסתר‬ Deut 13: 7) – is one where conventional juridical procedure is not to be expected, and where the injunction zealously to ›kill‹ has its logical home.« Verwiesen werden kann in diesem Zusammenhang noch auf Erzählungen im Alten Israel und im frühen Judentum, in denen Apostaten in bestimmten Ausnahmesituationen hingerichtet wurden (vgl. z. B. Ex 32,25 ff.; Num 25,5; 1 Makk 2). 344 Siehe auch oben im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.1.2. 345 Siehe hierzu FINSTERBUSCH 2011b.

158 3.

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Die Aufnahme älterer kasuistischer Rechtssätze in 19–25

In der Welt des Deuteronomiums verkündet Mose in Dtn 12–26 den IsraelitInnen die ihm von Gott am Sinai mitgeteilten Gesetze. Entsprechend findet sich in den meisten Gesetzen die Anrede »Du« bzw. »Ihr« (Beispiel Dtn 21,10a: »Wenn du in den Krieg ziehst …«). In Dtn 19–25 finden sich nun einige kasuistisch formulierte Gesetze (Beispiel Dtn 21,18: »Wenn ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat …«).346 E. Otto hat gezeigt, dass es insbesondere zwischen den kasuistischen Gesetzen in Dtn 22,22–29 und denen der Mittelassyrischen Rechtssammlung MAG.A §§ 12–16; 55; 56 zahlreiche Parallelen gibt, »so dass ein Einfluss assyrischer Rechtsgelehrsamkeit in Gestalt der Mittelassyrischen Rechtssammlung der Tafel A auf das Familienrecht in Dtn 22,22–29 wahrscheinlich ist«.347 Otto schloss weiter, dass die (kasuistische) Familienrechtssammlung (Dtn 21,15–21aα; 22,13– 21a.22a.23.24a.25.27.28 f.; 24,1–4a*; 25,5–10) der »vorexilisch-dtn Redaktion des Deuteronomiums vorgegeben ist«.348 M. E. ist die These plausibel, dass die dtn Verfasser und Redaktoren die kasuistischen Gesetze aus einer vorgegebenen Quellensammlung übernommen haben. Besonders interessant ist, dass diese kasuistischen Gesetze offenbar eine so hohe Wertschätzung genossen haben, dass sie dem deuteronomischen Stil (direkte Anrede an die Adressatenschaft) nicht angeglichen wurden; nur im Anschluss an diese Gesetze fügten die dtn Verfasser und Redaktoren manchmal typisch dtn Formeln hinzu (Beispiel Dtn 21,21; 22,21.22.24: »Und du sollst das Böse aus deiner Mitte entfernen«).349 Die Verwendung älteren, als autoritativ geltenden Quellenmaterials war in der altorientalischen Welt nicht ungewöhnlich: Auch die Verfasser und Redaktoren des Bundesbuches haben, wie R. Rothenbusch zeigte, Teile eines älteren hebräischen Rechtskodex integriert.350 Und E. Otto machte in Bezug auf die mittelassyrischen Gesetze wahrscheinlich, dass die Verfasser und Redaktoren dieser Gesetze eine ursprünglich selbstständig tradierte Rechtssammlung des Eherechts geschlossen aufgenommen haben.351

346 Es handelt sich um die Gesetze Dtn 19,1–7.11–13.15–21; 21,1–9.15–21; 22,5.13–29; 24,1–5.7; 25,2– 3.5–12, vgl. WAGNER 2002, S. 211. Sie entsprechen in ihrem Stil im Wesentlichen den keilschriftlichen Rechtssätzen: Diese sind in der Regel Konditionalgefüge, die mit ‫(» )ו(כי‬und) wenn« eingeleitet und in den Unterfällen mit ‫)ו(אם‬, »falls«, gelegentlich auch durch ‫» או‬oder«, fortgeführt werden. Nach Wagner handelt es sich bei diesen Gesetzen um einen ursprünglich zusammenhängenden Torso eines in sich geschlossenen hebräischen Rechtskodex, aus dem die dtn Verfasser und Redaktoren zitierten, a. a. O., S. 225. 347 Vgl. OTTO 1999a, S. 216. 348 OTTO 1999a, S. 216. 349 Vgl. WAGNER 2002, S. 235 f. 350 Vgl. ROTHENBUSCH 2000. 351 OTTO 1999a, S. 157–196.

D. »Bundeserklärungen«, Segen und Fluch

159

D. »Bundeserklärungen«, Segen und Fluch (26,17–28,68) 1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2 2.3

Synchrone Textbetrachtungen »Bundeserklärungen« (26,17–27,10) Segen und Fluch (27,11–28,68) Diachrone Textbetrachtungen Auffälligkeiten in der Erzählfolge: Sekundäre Textzusammenstellungen in 27 Widersprüche bei der Situierung des Garizim: Redaktionelle Arbeit in 27,2–8 Eine Textänderung aus »ideologischen« Gründen: 27,4

Dtn 26,17–28,68 ist in literarischer Hinsicht außerordentlich komplex (die Auslegung ist entsprechend umstritten). Dies hat unter anderem seinen Grund darin, dass verschiedene Themen angeschlagen werden und verschiedene Erzählebenen miteinander verschränkt sind: Es geht um Bundeserklärungen von JHWH und Israel (Dtn 26,17–19; 27,1.9 f.) und um verschiedene Anweisungen zu Zeremonien auf den Bergen Ebal-Garizim jenseits des Jordans (Dtn 27,2–8; Dtn 27,11–28,68). Dabei ist Dtn 28,1–68 der zu rezitierende Text für eine dieser Zeremonien (Dtn 27,11–13) und zugleich auch (wie sich am Text klar zeigen lässt) genuiner Teil der dtn Tora.

1.

Synchrone Textbetrachtungen

1.1

»Bundeserklärungen« (26,17–27,10)

Nach dem Abschluss der Gesetzespromulgation (Dtn 26,16) spricht der dtn Mose Erklärungen Israels und JHWHs, bei denen die Befolgung der dtn Gesetze durch Israel eine Schlüsselrolle spielt (Dtn 26,17–19). Die Verse enthalten komplizierte Infinitivkonstruktionen mit nicht explizit ausgewiesenen Aussagesubjekten. Entsprechend schwierig ist es, die Verse zu verstehen und zu übersetzen. M. E. zutreffend ist die paraphrasierende Wiedergabe von N. Lohfink:352 17 Heute hast du der Erklärung des Herrn zugestimmt. Er hat dir erklärt:353 Er will dein Gott werden, und du sollst auf seinen Wegen gehen, auf seine Gesetze, Gebote und Rechtsvorschriften achten und auf seine Stimme hören. 18 Und der Herr hat heute deiner Erklärung zugestimmt. Du hast ihm erklärt:354 Du möchtest das Volk werden, das ihm persönlich gehört (‫)עם סגלה‬, wie er es dir zugesagt hat. Du willst auf alle seine Gebote achten; 19 er soll dich über alle Völker, die er geschaffen hat, erheben – zum Lob, zum Ruhm, zur 352 LOHFINK 1993b, S. 272. 353 Wörtlich: »Du hast JHWH sagen lassen:« Das Folgende ist also JHWHs Erklärung. 354 Wörtlich: »Und JHWH hat dich heute sagen lassen:« Das Folgende ist also Israels Erklärung.

160

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Zierde –; und du möchtest ein Volk werden, das ihm, dem Herrn, deinem Gott, heilig ist, wie er es zugesagt hat.355

Demnach erklärt JHWH sich zum Gott Israels in der Erwartung, dass Israel das Gesetz befolgt; Israel erklärt, dass es Eigentumsvolk JHWHs (‫ )עם סגלה‬bzw. heiliges Volk (‫ )עם קדשׁ‬für JHWH sein will (auf der Grundlage von JHWHs Zusagen) und verpflichtet sich, das Gesetz zu befolgen. Diese von Mose gesprochenen »Bundeserklärungen« sind in der dtn Welt von den beiden Parteien »heute« noch nicht bestätigt worden (die dtn Verfasser und Redaktoren haben der Adressatenschaft diesbezüglich keine Informationen gegeben). Insofern weisen die Verse über sich hinaus. Besonders beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die Redeeinleitungen des Bucherzählers in Dtn 27,1 und Dtn 27,9: Dtn 27,1a: Und es gebot(en) Mose und die Ältesten Israels dem Volk: Dtn 27,9a: Und es sprach(en) Mose und die levitischen Priester zu ganz Israel:

Dtn 27,1 beendet die in Dtn 5 begonnene »durchgängige« Rede des dtn Mose an das versammelte Israel. Beide Redeeinleitungen zeigen quasi einen Szenenwechsel an (mit neuen Gruppenkonstellationen). Besonders auffällig ist, dass Mose mit Amtsträgern zusammen spricht (er spricht gewöhnlich allein356). Die Annahme ist mehr als naheliegend, dass der Bucherzähler mit den Redeeinleitungen die Bestätigung der Erklärungen von Dtn 26,17–19 durch die beiden Parteien anzeigen will:357 Nach V. 1 gebietet Mose zusammen mit den Ältesten Israels dem Volk, das (heute promulgierte) dtn Gesetz zu tun (‫)כל המצוה‬. Die Ältesten Israels sind die Repräsentanten des Volkes; durch das Gebieten des Tuns des Gesetzes geben sie sozusagen das Einverständnis Israels kund, seinen Teil des Bundes zu erfüllen. Nach V. 9 f. erklärt Mose zusammen mit den levitischen Priestern, dass Israel »heute« zum Volk JHWHs geworden ist (entsprechend der »Bundeszusage« JHWHs) und fordert Israel auf, sich nunmehr also an die dtn Gesetze zu halten. Die levitischen Priester vertreten hier quasi die göttliche Seite. 355 Anders z. B. die (gewöhnlich sehr gute) JPS-Übersetzung (in: TIGAY 1996, S. 245 f.): 17 You have affirmed (‫ )האמרת‬this day that the Lord is your God, that you will walk in His ways, that you will observe His laws and commandments and rules, and that you will obey him. 18 And the Lord has affirmed (‫ )האמירך‬this day that you are, as He promised you, His treasured people who shall observe all His commandments, 19 and that He will set you, in fame and renown and glory, high above all the nations that He has made; and that you shall be, as He promised, a holy people to the Lord your God. Gegen diese Übersetzung spricht vor allem, dass die Hifil-Form des Verbs ‫ אמר‬in V. 17a.18a mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Sinn von »sagen lassen« zu interpretieren ist. 356 Es gibt abgesehen von Dtn 27,1.9 noch eine Ausnahme: In Dtn 32,44 spricht Mose zusammen mit Josua. 357 Vgl. auch LOHFINK 1993b, S. 273 ff.

D. »Bundeserklärungen«, Segen und Fluch

161

Festzuhalten ist im Hinblick auf die Fabel des Deuteronomiums allerdings, dass mit Dtn 27,1 und 27,9 f. zwar Bundeserklärungen öffentlich bestätigt wurden, dass aber der eigentliche Bundesschluss noch aussteht (mit den Erklärungen verbunden ist keine entsprechende Zeremonie). Der Bundesschluss wird nach Auskunft des Bucherzählers (Dtn 28,69) nach der Neukonstitution der Versammlung Israels in Dtn 29 f. geschlossen, und zwar im Zuge der performativen Rede in Dtn 29,9–14.358 Festzuhalten ist auch noch, dass Dtn 27,1 und 27,9 f. nicht Teil der von Mose verkündeten dtn Tora sind (ebenso wenig wie die Erklärungen in Dtn 26,17–19). Die Tora ist im Deuteronomium ein verkündeter Text, hier hingegen handelt es sich um (einmalige) Handlungen mit Bezug auf diesen Text. In Dtn 27,2–8 wird eine Zeremonie für den Tag, an dem Israel über den Jordan zieht, geboten, die Sprecher sind Mose und die Ältesten. Im Einzelnen bereitet die Deutung die Verse erhebliche Schwierigkeiten:359 Nach der ersten Einheit V. 2 f. wird Israel geboten, »am Tag« (‫ )ביום‬des Jordandurchzugs Steine aufzustellen, sie zu kalken und darauf alle Worte der dtn Tora zu schreiben als Bedingung dafür, dass Israel ins Land kommen kann. In V. 4 erfolgt ein Neueinsatz, hier wird zunächst geboten, »diese« (also im Kontext wohl die in V. 2 f. erwähnten) Steine nach dem Jordandurchzug auf dem Berg Garizim (gegen MT: »Ebal«, s. u. 2.3) aufzustellen und sie zu kalken. Dann wird geboten, dort einen Altar mit (diesen?) Steinen zu bauen – und zwar nach den Anforderungen von Ex 20,24 f. – und ein Opferfest der Freude zu feiern (V. 5–7). Schließlich sollen auf die Steine (wohl des Altars) alle Worte der dtn Tora rechts-

358 Auch in dem etwas genauer beschriebenen Bundesschluss in Ex 24 sind die Akzeptanz des Gesetzestextes durch das Volk und der Akt des Bundesschlusses getrennt (zwischen beiden liegt hier ein Tag, Ex 24,3 f.). Anders TIGAY 1996, S. 245, der davon ausgeht, dass der Bund zu dem in Dtn 26,17–19; 27 vorausgesetzten Zeitpunkt der dtn Fabel geschlossen wurde, obwohl eine Zeremonie nicht berichtet wird: »Precisely when God and Israel made the present declarations is not stated. The text alludes several times to the present covenant, made in the land of Moab (see also 27: 9; 28: 69; 29: 9–14), but does not explicitly narrate the ceremony establishing it as it does in the case of other covenants, such as those in Exod 24: 1–8 (cf. 19: 3–8) and 2 Kings 23: 1–3. Perhaps the text assumes that the ceremony took place at the time of this speech.« LOHFINK 1995b, S. 253, vertritt folgende Position: »In diesen Erklärungen wird der Bund ebenso formell vollzogen wie in dem Symbolakt des Schreitens zwischen den gehälfteten Tieren, auf den 29,11 anzuspielen scheint.« Nach Lohfink handelt es sich in Dtn 26,17–19; 27,1.9 f. und in Dtn 29 f. also um ein und denselben Bundesschluss. Diese These hat erhebliche Konsequenzen für die Bestimmung der dtn Fabel: Dtn 5,1 und Dtn 29,1 handeln nach Lohfink von ein und derselben Versammlung Israels, der Vortrag Dtn 5–28 mitsamt den Erklärungen wäre nach Dtn 29,14 und vor Dtn 29,15 erfolgt, vgl. a. a. O., S. 255 f.; vgl. auch DERS. 1995c, S. 302 f. Die Annahme der Identität von Ereignisfolge und Fabelfolge ist m. E. einfacher, textgemäßer und plausibler, siehe hierzu auch die Kritik von SONNET 1997, S. 112–116, und MARKL 2011, an Lohfinks Position. 359 Für das in V. 2 f.4–8 Angewiesene lassen sich Parallelen in der Welt des Alten Orients zeigen: Die Steine von V. 2 f. erinnern an Stelen, auf denen Vertragstexte (z. B. die in Sefire gefunden aramäischen Staatsverträge) oder Gesetzestexte (z. B. der Codex Hammurapi) geschrieben wurden mit dem Ziel, sie öffentlich bekannt zu machen. Der Altarbau erinnert an alte griechische Traditionen, einen Altar an einem neu gegründeten Ort zu bauen, vgl. hierzu insbesondere WEINFELD 1988.

162

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

kräftig360 geschrieben werden (V. 8). Nach dem Ausführungsbericht in MT Jos 8,31–32 wurde die Tora in der Tat (ausschließlich) auf die Altarsteine geschrieben.361 Evident ist in den beiden Abschnitten die Spannung zwischen der zeitlichen Angabe in V. 2 (»am Tag« des Jordandurchzugs) und der Ortsangabe »Berg Garizim« in V. 4. Der Berg liegt in der Nähe von Sichem in Samaria und ist also deutlich mehr als eine Tagesreise vom Jordan entfernt. Diese Spannung ist aus synchroner Perspektive nicht zu lösen. Wie auch immer, im Zusammenhang mit V. 1 macht die Zeremonie der »Veröffentlichung« der dtn Tora guten Sinn: Das Volk soll durch das Aufschreiben der Tora seinen Willen anzeigen, dass es das von Mose promulgierte dtn Gesetz als rechtsverbindliches öffentliches »Landesgesetz« anerkennt. Im Hinblick auf das Thema Kultzentralisation sei noch angemerkt, dass die Anweisung zum Altarbau auf dem Garizim mit den Zentralisationsgesetzen in Dtn 12 inhaltlich nicht kollidiert: Dem Altar auf dem Garizim wird in der Welt des Deuteronomiums abgesehen von »Veröffentlichung« und Opfer an dem einen Tag keine weitere Funktion mehr zugewiesen. Von daher ist dieser Altar im Land keine Konkurrenz für das Jerusalemer Heiligtum.

1.2

Segen und Fluch (27,11–28,68)

Die Abschnitte in Dtn 27,11–28,68 sind thematisch eng miteinander verbunden, insofern sie alle um das Thema Segen und Fluch kreisen: 27,11–13: 27,14: 27,15–26: 28,1–68:

Segen- und Fluch-Zeremonie der Stämme Fluch-Zeremonie der Leviten Text für die Fluch-Zeremonie der Leviten Texte für die Segen- und Fluch-Zeremonie der Stämme

Die Redeeinleitung des Bucherzählers in Dtn 27,11 zeigt an, dass Mose jetzt (nach Dtn 27,1.9) wieder alleine zu dem Volk spricht. In V. 11–13 gebietet Mose eine (erste) Zeremonie nach dem Jordandurchzug an demselben Ort, an dem auch die »Veröffentlichung« der Tora und das Opfer stattfinden sollen (V. 2–8): Die auf den Bergen Garizim und Ebal verteilten Stämme sollen Segen und Fluch sprechen. In Dtn 27,14–26 gebietet Mose eine zweite Zeremonie, eine Fluch-Zeremonie:362 Demnach sollen die Leviten (die im Rahmen der ersten Zeremonie auf der »SegensSeite« standen) im direkten Anschluss an die erste Zeremonie einen Dodekalog (eine »Zwölfwortreihe«363) rezitieren; jeden einzelnen der zwölf mit »verflucht 360 361 362 363

Die Formulierung ‫ באר היטב‬nimmt Dtn 1,5 auf, vgl. BRAULIK / LOHFINK 2003, S. 249. In diesem Sinne z. B. auch die spätere Interpretation des Josephus, vgl. BEGG 1997, S. 195. So z. B. auch WEINFELD 1991, S. 11, und TIGAY 1996, S. 251–254. Die aufgezählten Vergehen haben zahlreiche Parallelen im dtn Gesetz, im Bundesbuch, in Lev 18–20

D. »Bundeserklärungen«, Segen und Fluch

163

(sei)« (‫ )ארור‬beginnenden Sätze soll das Volk mit »Amen« beantworten. Der Akzent liegt ausweislich von V. 14 auf der Verfluchung des Individuums (‫אל כל‬ ‫)אישׁ‬, das eine der in V. 15–25 genannten Taten begeht (die z. T. nicht »kontrollierbar« oder durch den »Buchstaben des dtn Gesetzes« nicht erfassbar sind) oder das nicht die Worte der dtn Tora hält (V. 26). Damit kann sichergestellt werden, dass nicht das Kollektiv dem Strafgericht Gottes verfällt, sondern dass nur der tatsächlich Schuldige gerichtet wird.364 Der die Rezitation der Leviten abschließende Verweis auf die Tora in V. 26 zeigt, dass dieser Fluchsatz selbst nicht Teil der Tora ist (und damit auch die anderen Fluchsätze nicht Teil der Tora sind).365 Obwohl in Dtn 28,1 keine neue Redeeinleitung steht, kann aus inhaltlichen Gründen Dtn 27,26 als der letzte Satz angesehen werden, der im Rahmen der Fluch-Zeremonie jenseits des Jordans von den Leviten gesprochen werden soll (die Leviten reden also in Dtn 28 nicht weiter): Mit Dtn 28,1 beginnt der dtn Mose (»ich«), Israel Segen (V. 1–14) und Fluch (V. 15–68) heute zu geben, wie er in Dtn 11,26 f. bereits angekündigt hat (siehe oben z. St.). Diese Segenszusagen und Fluchandrohungen sind genuiner Teil der dtn Tora, die Mose in Dtn 5,1 begonnen hat, Israel vorzulegen: Sie sind, wie z. B. aus Dtn 28,61 (s. u.) eindeutig hervorgeht, im »Buch der (dtn) Tora« enthalten (die Bundeserklärungen sowie Dtn 27,11–26 stehen hingegen zwar im Buch Deuteronomium, aber nicht im Buch der dtn Tora366). Zugleich sind die Segenszusagen und Fluchandrohungen in Dtn 28 die Texte, die nach dem Gebot des Mose in Dtn 27,12–13 die zwölf Stämme nach dem Durchzug über den Jordan auf den Bergen Garizim und Ebal rezitieren sollen. Denn in der Welt des Deuteronomiums müssen die Stämme ja wissen, welche Segens- und Fluchworte sie rezitieren sollen (bzw. die dtn Verfasser und Redaktoren mussten ihre Adressatenschaft entsprechend informieren).367 Andernfalls würden Dtn 27,12–13 als eine Art »totes Motiv« im Text stehen. Im Folgenden sollen in Bezug auf Dtn 28 nur einige wenige Punkte hervorgehoben werden:

364

365 366 367

und in Ez 22. Sie weisen damit auf einen literarischen Kontext, der den des Dtn übersteigt, vgl. TIGAY 1996, S. 253–257. Nach FABRY 2000, S. 36, will die Grundschicht des Kapitels »als kompositorischer Kontrastpunkt zum Dekalog in Dtn 5 eine Fluchreihe bieten, die auch den klandestinischen Rechtsbereich der Herrschaft JHWHs unterstellt«. Vgl. auch TIGAY 1996, S. 257. In der Ausführungserzählung in Jos 8,31 werden eben diese Texte zu der »Tora des Mose« gerechnet. Hier liegt ein im Vergleich zum Deuteronomium erweiterter Tora-Begriff vor. Vgl. insbesondere TIGAY 1996, S. 252. Anders z. B. SONNET 1997, S. 98 f. (in Anlehnung an einen Vorschlag von N. Lohfink): Mose kommuniziert in Dtn 28, »what the Levites [!] will formally proclaim at Ebal-Gerizim«. Demnach sollten die Stämme bei der Ebal-Garizim-Zeremonie Segen und Fluch sprechen (Dtn 27,12 f.), die Leviten Fluch (Dtn 27,14–26) sowie anschließend Segen und Fluch (Dtn 28). Der Text legt m. E. eine wesentlich unkompliziertere Interpretation der Zeremonien näher.

164

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Abb. 6: Schriftrolle, aus: Dieter Vieweger, Archäologie der biblischen Welt, Göttingen 22006, S. 92

– Parallel aufgebaut sind die Abschnitte Dtn 28,1–14 und Dtn 28,15–46: Dtn 28,1– 14 beginnt mit sechs Segenszusagen (V. 3–6), die im Anschluss ausgedeutet werden; Dtn 28,15–46 enthält sechs Fluchandrohungen (V. 16–19) mit anschließender Erläuterung. Die beiden Abschnitte werden jeweils durch ein gesetzesparänetisches Schema gerahmt:368 die Segenszusagen durch Dtn 28,1 f. und 28,13 f.; die Fluchandrohungen durch Dtn 28,15 und 28,45 f. Besonders interessant ist die Rahmung des Fluchteils: Zu Beginn steht ein konditional formuliertes gesetzesparänetisches Schema (wenn Israel nicht auf die Stimme JHWHs hört, dann werden die Flüche eintreffen); am Ende ist das Schema kausal formuliert und enthält ein hebr. Perfekt (weil Israel nicht auf JHWHs Stimme gehört hat, werden die Flüche kommen). Letzteres ist vermutlich eine Erklärung des Verlustes der Eigenstaatlichkeit Judas zu Beginn des 6. Jh. v. Chr. Einige Hinweise auf diese Zeit sind im Rahmen des Abschnitts Dtn 28,15–46 noch in V. 25 f.32.36 f. und 41 zu finden; exemplarisch angeführt werden sollen hier nur V. 36 f., in denen auf die Exilierung Jojachins oder Zedekias angespielt wird: 36 JHWH wird dich und deinen König, den du über dich eingesetzt hast, zu einem Volk führen, das du und deine Väter nicht gekannt haben, und du wirst dort anderen Göttern aus Holz und Stein dienen.

368 Siehe hierzu FINSTERBUSCH 2000.

D. »Bundeserklärungen«, Segen und Fluch

165

37 Und du wirst werden zum Staunen, zum Gleichnis und zum Spott bei allen Völkern, zu denen dich JHWH führen wird.

– Zu den Fluchandrohungen gehören weiterhin die Abschnitte Dtn 28,47–57.58– 68. Sie zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie klare Bezüge zu den Ereignissen von 598/7 bzw. 587/6 v. Chr. und zur Exilsthematik haben. Nach V. 47–57 hat Israel JHWH nicht adäquat gedient (V. 47) und es werden die entsprechenden Konsequenzen aufgezeigt, nämlich Krieg und Belagerung der Städte des Landes. Nach V. 58–68 folgt im Fall des Ungehorsams gegen die Worte der Tora u. a. die Exilierung Israels: Nach V. 64 wird sich das Exil »von einem Ende der Erde bis zum anderen Ende« erstrecken; nach V. 68 impliziert die Exilsperspektive das Ende Israels, insofern JHWH die Heilsgeschichte rückgängig machen und die IsraelitInnen wieder nach Ägypten (!) zurückführen wird – und dort wollen die Ägypter sie nicht einmal mehr als Sklaven und Sklavinnen kaufen. – In V. 58 ist unvermittelt die Rede von »diesem Buch« (wörtlich: »dieser Rolle«, ‫ ; הספר הזה‬s. Abb. 6),369 in dem »alle Worte dieser Tora« geschrieben stehen. In V. 61 wird das »Buch dieser Tora« (‫ )ספר התורה הזאת‬nochmals erwähnt. Umstritten ist, was es mit diesem Torabuch auf sich hat: Nach E. Otto ist damit das von Mose gemäß Ex 24,4.7 verschriftete Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) gemeint.370 Es sei hier nur ein Gegenargument angeführt: Es macht keinen Sinn, in V. 61a ‫»( גם כל חלי וכל מכה‬auch / zudem jede Krankheit und jeden Schlag«) auf das Bundesbuch zu beziehen, denn in den ausgesprochen knapp gehaltenen »Fluchandrohungen« in Ex 23 ist von Krankheiten und Schlägen nicht die Rede.371 Nach J.-P. Sonnet ist mit der ‫ בספר‬geschriebenen Tora die in Dtn 27,3.8 erwähnte Verschriftlichung der dtn Tora auf den Steinen gemeint (‫ בספר‬bezog Sonnet auf die Steine, er interpretierte ‫ ספר‬hier also nicht als Buch).372 Mit dieser These wird der Befund im Deuteronomium bezüglich des ‫ ספר התורה‬m. E. unnötig verkompliziert: Es ist nicht unmöglich, aber doch eher unwahrscheinlich, dass in Dtn 28 ‫ הספר הזה‬etwas anders als in Dtn 29 f. und 31 bedeutet, nämlich das Buch der dtn Tora. Es bleibt die Frage, warum das Buch der dtn Tora hier so unvermittelt eingeführt wird (über die Erstellung dieses Buches wurde im Dtn bislang nichts erzählt). Möglich ist m. E., dass der Erzählung absichtlich vorgegriffen wurde, um die Spannung für die Adressatenschaft zu erhöhen. Diese Spannung wird sich erst in Dtn 31 lösen: In der Welt des Deuteronomiums schreibt Mose die Tora nach 369 Mit der Mehrheit der ExegetInnen wird ‫ ספר‬hier aus Gründen der Verständlichkeit mit »Buch« wiedergegeben. Es sei aber ausdrücklich angemerkt, dass die Wiedergabe eigentlich anachronistisch ist, da der Kodex frühestens im 1. Jh. n. Chr. erfunden wurde. 370 Vgl. OTTO 2000, S. 183, Anm. 133; DERS. 2002, S. 85 f. 371 Vgl. auch die Kritik von LOHFINK 2003a, S. 216, Anm. 126, und von MARKL 2011 (im Kapitel zum Moabbund). 372 SONNET 1997, S. 101 f.

166

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

dem Bundesschluss in Moab nieder (Dtn 31,9.24).373 Entscheidend ist jedoch, dass im Hinblick auf die Ereignisfolge die Erwähnung des Torabuches in Dtn 28,58.61 als vollkommen sachgemäß beurteilt werden muss: Laut Dtn 27,11–13 sollen Segen und Fluch (als Teil der dtn Tora) nach dem Jordandurchzug von den Stämmen auf Ebal und Garizim rezitiert werden. Wenn es zur Rezitation von Dtn 28,58.61 kommt, liegt aus der Perspektive der Rezitierenden gesehen die Niederschrift der Tora bereits in der Vergangenheit. Mit anderen Worten: Für die (historische) Adressatenschaft handelt es sich bei der Erwähnung des Torabuches in Dtn 28,58.61 um Vorausverweise, für die Rezitierenden jenseits des Jordans in der Welt des Deuteronomiums jedoch um Rückverweise.374 – Segen und Fluch stehen häufig am Ende von altorientalischen Dokumenten wie etwa Staatsverträgen (z. B. dem Vertrag zwischen Ramses II und Hattusili III375) und Gesetzessammlungen (z. B. dem Codex Hammurapi376). Das Gewicht liegt in diesen Dokumenten auf dem Fluch (in manchen Dokumenten fehlt der Segen ganz, so z. B. in den VTE), denn das Ziel ist es, vor einer Verletzung der im Dokument enthaltenen Verpflichtungen zu warnen. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass erstens auch die dtn Tora mit Segen und Fluch schließt und dass zweitens in Dtn 28 der Segen deutlich kürzer ausfällt als der Fluch (etwas ausgewogener ist das Verhältnis in Lev 26, dem Abschluss des sog. Heiligkeitsgesetzes). – Zwischen Dtn 28 und anderen altorientalischen Segens- und Fluchtexten bestehen in Bezug auf die verwendeten Motive zahlreiche Parallelen.377 Für Dtn 28,22–44 hat H. U. Steymans darüber hinaus (m. E. überzeugend) eine spezielle Rezeption der VTE nachgewiesen: »Auf der Grundlage von VTE §56, den der biblische Verfasser ins Hebräische übertrug, schuf er die Fluchsequenz Dtn 28,20–44*, wobei er an Stellen, die durch die Themenabfolge von §56 vorgegeben waren, die Flüche aus VTE §38A-42 und §36 einfügte. Er wählte aus den VTE nur jene Passagen aus, die sich auf die Götter allgemein oder den Himmel und seine Gestirne, besonders Šamaš, bezogen. Viele Eigenschaften des mesopotamischen Sonnengottes schrieb man in Jerusalem auch JHWH zu.«378

373 Siehe hierzu insbesondere SONNET 1997, S. 110–112. 374 Vergleichbar ist diesbezüglich auch Dtn 17,18 (der künftige König soll die von den levitischen Priestern aufbewahrte Tora abschreiben); siehe oben z. St. 375 Der Text findet sich in TUAT I/2. 376 Der Text findet sich in TUAT I/1. 377 Siehe hierzu die hilfreiche Übersicht bei TIGAY 1997, S. 494–497. 378 STEYMANS 1995, S. 380. Gegen eine literarische Abhängigkeit der Fluchreihe in Dtn 28,20–44 von den VTE sprach sich KOCH 2008, aus (vgl. z. B. S. 232–238).

D. »Bundeserklärungen«, Segen und Fluch

2.

167

Diachrone Textbetrachtungen

Zu den im Hinblick auf die Textgenese besonders umstrittenen Texten zählt in der Deuteronomium-Forschung Dtn 27.379 Anknüpfend an die synchronen Textbeobachtungen sollen im Folgenden einige Probleme benannt und literarkritische Lösungsmöglichkeiten vorgestellt werden.

2.1

Auffälligkeiten im Ablauf der Erzählfolge: Sekundäre Textzusammenstellungen in 27

Häufig wird Dtn 27 als »Fremdkörper« beurteilt, der »sekundär« die in Dtn 5,1 begonnene Moserede unterbricht.380 Zudem erscheinen die Abschnitte in Dtn 27 »redundant and inconsistent, and their sequence is hard to follow. Traditional exegesis harmonizes these difficulties, while critical scholarship holds that the chapter contains material of disparate backgrounds as well as editorial revisions.«381 Für die Identifizierung solcher redaktionellen Bearbeitungen kann helfen, in einem ersten Schritt nach der Einbindung der einzelnen Abschnitte in ihren Kontext zu fragen: – Die Abgaben bzw. Bestätigungen der Bundeserklärungen (Dtn 26,17–19; 27,1.9 f.) verweisen auf den Bundesschluss in Moab (Dtn 28,69–30,20). Sie müssen nach der Promulgation des dtn Gesetzes und vor dem Bundesschluss in Moab stehen: Sie beziehen sich wesentlich auf das dtn Gesetz zurück (Israel muss es halten) und sind inhaltlich wesentliche Voraussetzung für den Bundesschluss (Israel erklärt vorab seine Bereitschaft, das dtn Gesetz zu halten). – Segen und Fluch (Dtn 28,1–68) müssen vor dem Bundesschluss in Moab gesprochen sein, denn dieser setzt die dtn Tora inklusive Segen und Fluch voraus. – Da Segen und Fluch nicht nur Teil der dtn Tora sind, sondern auch im Rahmen der Zeremonie auf Ebal-Garizim rezitiert werden sollen, müssen die Anweisungen zu dieser Zeremonie (Dtn 27,11–13) vor Segen und Fluch stehen. – Die Fluch-Zeremonie der Leviten (Dtn 27,14–26) soll direkt nach der SegenFluch-Zeremonie der Stämme folgen. Es fällt auf, dass Dtn 27,14–26 eine quasi in sich geschlossene eigenständige Texteinheit ist und inhaltlich mit dem Kontext nicht weiter verbunden ist. – Die Zeremonie in Bezug auf die Veröffentlichung der Tora in Dtn 27,2–8 (von 379 Zur Demonstration seien einige wenige Hypothesen angeführt: WEINFELD 1991, S. 10–13, rechnete die Sichem-Passagen zu den ältesten Textschichten im Kapitel. Nach NIELSEN 1995, S. 243 f., besteht der älteste vordtn Textbestand aus V. 1*.4*–8.15–18*.20–25*; eine dtn Redaktion hat eingegriffen in V. 1.4.15–25 und hat V. 9 f.*.26 geschaffen; eine deuteronomistische Redaktion schuf die Abschnitte V. 2–3.11–14. Nach FABRY 1985, S. 82 f. (s. auch DERS. 2000, S. 36 f.), besteht die Grundschicht aus V. 1*–3.11.16–25, eine erste Redaktion (kultisch interessierter Levit) umfasst V. 5–8.14.15.26, eine zweite Redaktion V. 4.12.13, eine dritte Redaktion V. 9 f. 380 Vgl. etwa FABRY 1985, S. 78, Anm. 11; NIELSEN 1995, S. 244; RÜTERSWÖRDEN 2006, S. 169. 381 TIGAY 1996, S. 247.

168

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

den Spannungen in den Versen selbst sei jetzt abgesehen) knüpft sinnvoll an Dtn 27,1 an. Nichtsdestotrotz bildet Dtn 27,1 eine eigenständige kleine Einheit, zu deren Verständnis die Fortführung von V. 2–8 nicht zwingend notwendig gewesen wäre. Inhaltlich hängt die Zeremonie vor allem mit den beiden in Dtn 27,11 ff. vorgeschriebenen Zeremonien zusammen (sie sollen zur selben Zeit und am selben Ort stattfinden). Was folgt aus diesem Befund? Er spricht m. E. dafür, dass die Fluch-Zeremonie der Leviten separat spät(er) in den vorliegenden Text eingefügt wurde; ein Indiz dafür ist auch, dass es in der Vorabankündigung von Segen und Fluch in Dtn 11,26–32 nicht berücksichtigt ist.382 Der Befund spricht weiterhin dafür, dass Dtn 27,1 und Dtn 27,2–8 keine »ursprüngliche« Einheit gebildet haben, sondern sekundär zusammengestellt wurden (von verschiedenen dtn Verfassern/Redaktoren?).

2.2

Widersprüche bei der Situierung des Garizim: Redaktionelle Arbeit (27,2–8)

Ein besonderes Problem ist mit den Ortsbestimmungen der drei in Dtn 27 gebotenen Zeremonien verbunden. Sie sollen auf den Bergen Ebal-Garizim abgehalten werden und zwar zeitlich in direktem Zusammenhang mit der Jordanüberquerung. Dies wird jedenfalls unmissverständlich zu Beginn des Kapitels deutlich gemacht: Nach V. 2 soll am Tag des Jordandurchzugs die Tora veröffentlicht werden, und zwar nach V. 4 auf dem Berg Garizim. Nun liegen die Berge Ebal-Garizim tatsächlich bei Sichem in Samaria und sind damit auf jeden Fall mehr als eine Tagesreise vom Jordan entfernt (siehe Abb. 5). Diese Diskrepanz kann theoretisch wie folgt erklärt werden:383 – Die dtn Verfasser und Redaktoren gingen von einem Wunder aus (Israel überquert den Jordan und erreicht auf wunderbare Weise am selben Tag noch die Berge und hält dort die Zeremonien ab). – Die dtn Verfasser und Redaktoren wollten zwei existierenden unterschiedlichen Traditionen (V. 2 f. und V. 4–8) in Bezug auf den »Anfangsort« Israels im Land Rechnung tragen (Sichem in Samaria und Gilgal beim Jordan, vgl. zu Letzterem Jos 4). – Die Berge Ebal-Garizim wurden aus ideologischen Gründen sekundär an den Jordan verlegt und damit wurde quasi eine neue Tradition geschaffen. Hilfreich zur Klärung der Problematik ist die Glosse in Dtn 11,30: Aus ihr geht hervor, dass die (tatsächliche) Lage der Berge bei Sichem einer »späteren Hand« Pro382 RÜTERSWÖRDEN 2006, 171 f., geht sogar, da einige Bereiche des pentateuchischen Rechts vorausgesetzt werden, von einer »Pentateuchredaktion« aus. 383 Vgl. insbesondere die verschiedenen Deutungsversuche in der jüdischen Tradition, die FABRY 2000, S. 45 f., übersichtlich zusammengestellt hat.

D. »Bundeserklärungen«, Segen und Fluch

169

bleme bereitete und dass diese Probleme zu Gunsten einer neuen Lokalisierung der Berge »gelöst« wurden. Diese neue Lokalisierung der Berge in der Nähe des Jordans ist also eindeutig sekundär, und das heißt m. E. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass auch V. 2 f. (aus denselben Gründen) zu einem späte(re)n Zeitpunkt sekundär vor 27,4*–8 platziert wurden.384 Was steckt dahinter? Nimmt man an, dass die dtn Verfasser und Redaktoren in der exilischen Ausgabe ihres Deuteronomiums die Veröffentlichung der Tora und die Segen-Fluch-Zeremonien auf den Bergen Ebal und Garizim zu festen Bestandteilen der deuteronomischen Fabel machten, so wollten sie damit vermutlich Anspruch auf Samaria als Teil des verheißenen Landes erheben (Sichem ist das Zentrum Samarias und Samaria selbst das Kernland des »Hauses Josef«, also der Halbstämme Ephraim und Manasse). Im Zuge von (partiellen?) Spannungen zwischen Samaritanern und Juden385 noch in exilischer Zeit (?) oder möglicherweise in der Mitte des 5. Jh. v. Chr., als die samaritanische Kultstätte auf dem Garizim gebaut wurde386 (auf dem Ebal ließ sich archäologisch bislang keine Kultstätte nachweisen,387 die Wahl des Garizim ist wohl durch die Nähe des Grabes Josefs in Sichem begründet, von dem die Samaritaner ihre Abstammung herleiten), könnten die Berge dann in einem zweiten Schritt an den Jordan »verlegt« worden sein. Und zwar durch die Einfügung von Dtn 11,30 und durch die sekundäre Voranstellung von Dtn 27,2 f. vor Dtn 27,4*–8 (wobei diese beiden Teile durch die Hinzufügung des Pronomens ‫ האלה‬in V. 4* – schlecht – »vernäht« wurden388): Das »wahre« Israel sollte sein Leben im Land nicht ausgerechnet in Samaria bzw. am Ort, an dem das samaritanische Heiligtum steht, beginnen. Auf der Ebene des Pentateuchs bildeten diese Stellen (Dtn 11,30 und 27,2 f.4*–8) jedoch offensichtlich kein grundlegendes »ökumenisches Hindernis«: Die Samaritaner erkannten (in späterer persischer Zeit?) den Pentateuch auch als ihre autoritative Schrift an. Sie haben den textlichen Befund lediglich insofern etwas »entschärft«, als sie in ihrer Pentateuchausgabe im Anschluss an Dtn 11,30 kurzerhand 384 M. E. ist also die These weniger wahrscheinlich, nach der V. 4* von einer späten Redaktion in den Text eingefügt wurde, als es das zentrale Heiligtum der Samaritaner auf dem Garizim schon gab, um »die Samaritaner mit ihrem Kult auf dem Garizim zu integrieren. Dies war schrittweise vorbereitet durch die vorhergehende Schicht [V. 5–8], die darstellt, dass es einen Altar gegeben haben muss, der nicht an der Stätte, die Jahwe sich (später) erwählen würde, stand«, so RÜTERSWÖRDEN 2006, S. 172, im Anschluss an FABRY 1985, S. 95. 385 Einer der ältesten erhaltenen Texte mit anti-samaritanischer Tendenz ist 4Q372 1,1–16, vgl. DJD XXVIII, S. 171 f. Die Geschichte zwischen Juda und Samaria ist nicht einfach zu erheben; ein feindliches Verhältnis ist mehrfach in Esra-Nehemia und den Chronikbüchern bezeugt, vgl. zum Thema z. B. KNOPPERS 2006; PUMMER 2007, S. 247–252. 386 Vgl. hierzu insbesondere MAGEN 2007. 387 Vgl. FRITZ 2003. 388 V. 4 in der vorliegenden Form hat ursprünglich kaum einen selbstständigen Abschnitt eröffnet, da diesfalls das Demonstrativpronomen keinen Sinn macht. Durch die »Vernähung« mit Hilfe des Pronomens sollte deutlich gemacht werden, dass es sich nur um eine einzige Zeremonie handelt.

170

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

»gegenüber von Sichem« (‫ )מול שׁכם‬ergänzten und die Kultzentralisation im Dtn konsequent (durch leichte redaktionelle Bearbeitungen an verschiedenen Stellen) auf den Garizim bezogen haben.389 Eine erneute (?) Entfremdung zwischen Juda und Samaria ist dann auf der Ebene des Textes durch die Änderungen von Dtn 27,4* in der judäischen Texttradition fest zu machen. Dazu nun im folgenden Punkt.

2.3

Eine Textänderung aus »ideologischen« Gründen (27,4)

In Dtn 27,4 wird vom MT und den griechischen Handschriften (in den QumranHss ist leider kein Fragment mit dieser Stelle erhalten390) die Lesart »Berg Ebal« bezeugt; in einer Handschrift von Massada,391 der Vetus Latina392 und dem Sam steht »Berg Garizim«. Aufgrund des »unverdächtigen« Vorkommens in der Vetus Latina urteilt E. Tov wohl zu Recht, dass die Lesart Garizim als »alte, nicht-sektiererische Lesart gewertet werden [sollte]«.393 Was ist das Problem, das sich hinter den divergierenden Ortsangaben verbirgt? M. E. steht, wie in 2.2 dargelegt, hinter V. 4*–8 eine relativ alte deuteronomische Tradition, nach der die Veröffentlichung der dtn Tora auf den Steinen eines auf dem Garizim zu bauenden Altars vorgeschrieben wurde. Im Zuge der Errichtung einer samaritanischen Kultstätte (eines Altars) auf dem Berg Garizim im 5. Jh. v. Chr. und des späteren Ausbaus zu einem Tempel in hellenistischer Zeit wurde Dtn 27,4 im samaritanischen Pentateuch zum »Schriftbeweis«; der Vers wurde von der samaritanischen Gemeinde als aus dem Mund Mose vermittelte Vorschrift (!) gelesen, auf dem Garizim einen Altar zu bauen. Judäische (protomasoretische Pentateuch-)Schreiber wollten offenbar schließlich (im Zuge von Spannungen in hellenistischer und/oder hasmonäischer Zeit?) diesen expliziten Schriftbeweis tilgen und ersetzen »Garizim« im Vers kurzerhand durch »Ebal« (also durch den Berg, auf dem nach Dtn 27,13 die Flüche gesprochen werden sollten).

389 Im samaritanischen Pentateuch wird zudem eine freie Wiedergabe von Dtn 27,2–8 und 11,30 an den Dekalog in Dtn 5 (Ex 20) angehängt, vgl. hierzu insbesondere KELLERMANN 2001, S. 203–206. 390 Das Fragment XDtn mit der »samaritanischen« Lesart »BergGarizim« (hebräisch ein Wort: ‫ )הרגריזים‬ist wohl eine Fälschung, vgl. LANGE 2009a, S. 106. 391 Hier findet sich die »samaritanische« Lesart »BergGarizim« (s. die vorherige Anm.); ob das Fragment samaritanischen Ursprungs ist, ist jedoch umstritten, vgl. H. ESHEL 1991. 392 Siehe hierzu insbesondere SCHENKER 2010, S. 106 f. 393 TOV 1997, S. 78, Anm. 67; vgl. auch MCCARTHY 2007, S. 122 f., und SCHENKER 2010, S. 108. Anders NOORT 1997, S. 167 f.

EXKURS II: Die Veröffentlichung auf Altarsteinen

171

EXKURS II: Die Veröffentlichung der dtn Tora auf Altarsteinen (27,4*–8): Ein Verdrängungsversuch des Bundesbuches Offensichtlich sind die Parallelen zwischen Dtn 27,4*–8 und der Bundeszeremonie in Ex 24,3–8 (Bundesschluss auf der Grundlage des Bundesbuches). Zur Verdeutlichung seien die wesentlichen Elemente der Bundeszeremonie in Ex 24,3–8 kurz aufgelistet: – – – – – –

Verkündigung von Gesetzen (Dekalog? + Bundesbuch) Antwort des Volkes (Selbstverpflichtung, die Gesetze zu erfüllen) Verschriftung der Gesetze Altarbau und Errichtung von zwölf Stelen (für die zwölf Stämme Israels) Opfer von Brandopfer und Heilsopfer Bundeszeremonie und Bundesschluss

Was ist aus den Parallelen zu schließen? Altarbau, »Veröffentlichung« der Tora und die in Dtn 27,11 ff. gebotenen Segen-Fluch- Zeremonien nach dem Jordandurchzug konstituieren nach J. Tigay eine Art »third covenant, and it seems likely that they are interpolated here to make it clear that they are a reaffirmation of the one being made in Moab, and therefore of the earlier one concluded at Horeb as well«.394 Auf Pentateuchebene ist das eine mögliche Interpretation. Auf der Ebene des (exilischen) Deuteronomiums liegen die Dinge vermutlich komplizierter. Wie auch immer das Verhältnis der Texte zu bestimmen ist:395 Die Idee, die dtn Tora auf den Steinen eines zu errichtenden Altars jenseits des Jordans zu schreiben, erscheint im Hinblick auf die deuteronomische Doktrin der Kultzentralisation (die nur einen einzigen Altar für JHWH im Land vorsieht) mehr als merkwürdig (hätten es Mazzeben nicht auch getan?). Was steckt dahinter? Die Annahme ist m. E. naheliegend, diese Vorschrift im Zusammenhang der »Anti-Bundesbuch-Tendenz« des Deuteronomiums zu verstehen:396 Der Altar auf dem Garizim sollte nach den Vorschriften des Altargesetzes des Bundesbuches gebaut werden (nämlich auf unbearbeiteten Steinen397) und dann sollte auf eben diesen Altarsteinen die deuteronomische Tora geschrieben werden mit ihrem Altargesetz (Dtn 12), welches das Altargesetz des Bundesbuches (und damit wohl das Bundesbuch als Ganzes) letztlich als »veraltet« erweist! Die »Veröffentlichung« der dtn Tora auf den Altarsteinen im Land impliziert, dass für Israel im Land allein das dtn Gesetz gültig sein soll bzw. dass Israel allein das dtn Gesetz als gültiges anerkennt. Diese subversive Anti-Bundesbuch-Tendenz des sichemitischen Altargesetzes wurde bislang in der Exegese nicht beachtet.398 394 TIGAY 1996, S. 246. 395 Die Datierung von Ex 24,3–8 ist extrem umstritten, für eine deutlich nachexilische Datierung votiert (m. E. zu Recht) z. B. SKA 2007, S. 163 ff. 396 Siehe hierzu EXKURS I, 1. 397 In Dtn 27,5–7 wird auf Ex 20,24 f. gemäß »Seidels Gesetz« angespielt, vgl. NIHAN 2007b, S. 210. 398 NIHAN 2007b, S. 212, übersah m. E. den entscheidenden Punkt: »Rather, the reception of the altar law of Exodus 20 in Deuteronomy 27 should correspond to a later stage in the development of biblical

172

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

E. Moses Worte des Moab-Bundes (Dtn 28,69–30,20) 1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2 2.3

Synchrone Textbetrachtungen Überschrift des Bucherzählers (28,69–29,1a) Worte des Bundes (29,1b–30,20) Diachrone Textbetrachtungen »Undeuteronomisches« Toraverständnis: Die Bearbeitung von 29,20 Sprecherwechsel: Die Glosse 29,28 »Undeuteronomische« Theologie: Sekundäre Einfügung von 30,1–10

In Dtn 28,69 wird die folgende Moserede (Dtn 29,1b–30,20) als »Worte des Bundes« charakterisiert, und zwar eines Bundes, den Gott Mose in Moab (dem Ort der Handlung in der Welt des Deuteronomiums) geboten hat zu schließen. Der Bundesschluss in Moab wird in der Hebräischen Bibel sonst nicht mehr erwähnt. In inhaltlicher Hinsicht liegt die Besonderheit der Sinneinheit Dtn 28,69–30,20 u. a. darin, dass hier nicht von einem Bundesschluss in Moab erzählt wird, sondern dass dieser Bund durch einen Sprechakt des Mose geschlossen wird (performative Rede: »hiermit«399). Das Einverständnis der beiden Bundespartner liegt in der Welt des Deuteronomiums bereits vor (vgl. Dtn 26,17–19; 27,1.9 f.).400

1.

Synchrone Textbetrachtungen

1.1

Überschrift des Bucherzählers (28,69–29,1a)

Zunächst zu Dtn 28,69. Die Bedeutung des Verses ist nicht einfach zu erheben: Dies (sind) die Worte des Bundes, den JHWH Mose gebot zu schließen mit den Kindern Israels im Land Moab, außer dem Bund, den er (JHWH) mit ihnen am Horeb geschlossen hat.

Dtn 28,69 lässt sich zum einen anaphorisch auf den vorausgegangenen Text (Dtn 5,1b–26,16; 28) beziehen. Die erwähnten »Worte des Bundes« sind demnach Bezeichnung der dtn Tora (so einige wenige Exegeten401). Für diese Interpretation literature, when the Covenant Code and the Book of Deuteronomy were no longer two separate corpora but were now brought together as parts of one document – that is, at the time of the redaction of the Pentateuch.« 399 In der heutigen Zeit begegnet performative Rede z. B. bei der Schließung des Ehebundes auf dem Standesamt (durch das Sprechen des »Ja« wird der Bund geschlossen). Siehe zu der performativen Rede in Dtn 29 f. insbesondere LOHFINK 1995c. 400 Zum Verhältnis von Bundeserklärungen in 26,17–19; 27,1.9 f. und Bundesschluss in Moab siehe im Teil III. D. »BUNDESERKLÄRUNGEN«, SEGEN UND FLUCH, 1.1. 401 Beispielsweise TIGAY 1996, S. 274. Nach BRAULIK 1992, S. 210, könnte der Vers in einem Vorstadium des heutigen Dtn eine Unterschrift gewesen sein: »Mit dem Horebbund wäre dann der Dekalog gemeint gewesen, der Moabbund hätte sich auf 5–28* bezogen und auf die letzten Deklarationen in

E. Moses Worte des Moab-Bundes

173

sprechen z. B. die Formulierungen in Dtn 29,19.20*: Hier werden die Flüche in dem Buch der Tora ausdrücklich »Flüche des Bundes« genannt; ein Toratext (d. h. der Fluchttext Dtn 28,15–68) wird also zugleich als Bundestext bezeichnet. Zum anderen kann Dtn 28,69 auch als Überschrift verstanden werden (dies wird mehrheitlich in der exegetischen Literatur vertreten). Für diese kataphorische Lesart spricht ein starkes Indiz, nämlich dass in Dtn 28,69 »ein Nominalsatz von der Art (steht), die im Deuteronomium gewöhnlich für Überschriften […] verwendet wird«402 (vgl. noch Dtn 1,1; 4,44 und 33,1). Dafür spricht weiterhin, dass von einem Bundesschluss bislang im Dtn nicht die Rede war (abgegeben wurden bislang nur »Bundeserklärungen«: Dtn 26,17–19; 27.1.9 f.). Wie ist zu entscheiden? M. E. ist es wahrscheinlich, dass die dtn Verfasser und Redaktoren in Bezug auf die »Worte des Bundes« eine doppelte Lesart ermöglichen wollten (für »doppeldeutige« Sätze gibt es im Deuteronomium auch noch andere Beispiele403): Die »Worte des Bundes« bezeichnen sowohl den Inhalt der dtn Tora (die Israel im Rahmen des Bundes halten muss) als auch die konkret gesprochenen Worte im Zusammenhang des Bundesschlusses zwischen JHWH und Israel in Moab (die selbst nicht zu der dtn Tora gehören404). Beide Aspekte der »Worte des Bundes« gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. M. E. kann Dtn 28,69 als Überschrift verstanden werden, aber als eine Überschrift mit »Scharnierfunktion«. Die dtn Verfasser und Redaktoren beschrieben auf jeden Fall zwei Bundesschlüsse: Den Bundesschluss am Horeb (Dtn 28,69b) und den Bundesschluss in Moab (Dtn 28,69a).405 In V. 69b haben sie eindeutig Formulierungen aus Dtn 5,2 f. aufgenommen (JHWH hat den Bund am Horeb mit Israel geschlossen). Aus dem Rückblick auf den Bundesschluss am Horeb in Dtn 5 geht hervor, dass das Bundesdokument für die dtn Verfasser und Redaktoren der in Dtn 5,6–21 zitierte Dekalog ist.406 Für den Bundesschluss in Moab ist das Bundesdokument die dtn Tora mit ihrem Herzstück, dem dtn Gesetz (vgl. explizit Dtn 29,28; 30,8.10.11.16).

402 403 404 405

406

26,17–19 27,1.9, durch die der Bund konstituiert wurde«, vgl. auch OTTO 1996, S. 214, Anm. 67. Das Problem an dieser Sichtweise ist, dass im Dtn 28,69 vorausgehenden Text nichts über einen Bundesschluss in Moab verlautet, siehe auch oben zu Dtn 27,1.9. LOHFINK 1992b, S. 279. Vgl. etwa Dtn 1,1 oder Dtn 8,3 (siehe jeweils die Interpretation zur Stelle). Siehe hierzu auch EHRENREICH 2010, S. 29. Nach Auffassung von OTTO 1996; DERS. 2000, S. 139 ff., wird durch die »dtr Moabredaktion« in Dtn 28,69 ff. der Versuch gemacht, den Moabbund dem Sinaibund überzuordnen. Doch wie Dtn 28,69 zeigt, wird der (bereits in Dtn 5,2 f. erwähnte) Horebbund neben dem Moabbund genannt; außerdem ist, wenn erkannt wird, dass Dtn 5,2 in Dtn 28,69b »zitiert« wird, JHWH Subjekt des Bundesschlusses am Horeb; hingegen »nur« Mose das Subjekt in Bezug auf den Bundesschluss in Moab. Dieser Textbefund spricht m. E. entscheidend gegen die These einer Überordnung des Moabbundes. Vgl. auch die ausführliche Widerlegung der Argumente Ottos durch GOMES DE ARAÚJO 1999, S. 307–318. Die Pentateuch-Leserschaft wird mit dem Bundesschluss am Horeb / Sinai Ex 24,3–8 verbinden, das Bundesdokument ist diesfalls das Bundesbuch und – vermutlich – der Dekalog, siehe hierzu Teil IV: SYNCHRONE BETRACHTUNGEN DER DTN TEXTE AUF DER EBENE DES PENTATEUCHS.

174

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Wenn die These richtig ist, dass das dtn Gesetz die Ausdeutung der Dekaloggebote unter den Bedingungen des Landes ist,407 sind in der Welt des Deuteronomiums die beiden Bundesschlüsse am Horeb und in Moab im Hinblick auf die Zeit des Geschehens und die Gestaltung zwar verschieden, im Hinblick auf die inhaltlichen Kernaussagen ihrer Dokumente aber identisch.408 Warum kamen die dtn Verfasser und Redaktoren auf die Idee, dass in Bezug auf die dtn Tora noch ein eigener Bund geschlossen werden sollte? Sicherlich sollte der Bundesschluss in Moab dazu dienen, die Autorität der dtn Tora nochmals zu unterstreichen (vielleicht nicht zuletzt, um ihr dem historischen »Konkurrenz-Dokument« gegenüber, dem Bundesbuch, einen Vorteil zu verschaffen409). Im Anschluss an die Überschrift Dtn 28,69 findet sich in Dtn 29,1a folgende Redeeinleitung: »Und Mose berief ganz Israel und sagte zu ihnen«. Der Bucherzähler zeigt hier (anders als in Dtn 5,1a) die erneute Konstituierung der Vollversammlung Israels an: Sie war in der Welt des Deuteronomiums nach den unterschiedlichen Gruppen-Konstellationen im Anschluss an das Vorlegen der Tora in Dtn 27,1.9 f. und nach der Bekanntgabe von Texten für bestimmte Gruppen im Rahmen bestimmter Zeremonien in Dtn 27,11 ff. nötig. Dtn 29,1a entspricht vom Wortlaut her exakt Dtn 5,1a. Durch die Identität der Formulierungen wollten die dtn Verfasser und Redaktoren sicherlich die besondere Bedeutung der jeweils folgenden Moseworte für das versammelte Kollektiv Israel hervorheben: Nach dem Vorlegen der dtn Tora (der »Bundesurkunde«) in Moab folgt nun für »ganz Israel« der zweite wichtige Teil des »Heute« in der Welt des Deuteronomiums, nämlich der Bundesschluss auf der Basis der Tora.

1.2

Worte des Bundes (29,1b–30,20)

In Dtn 29,1b beginnen die »Worte des Bundes«, die Mose zu Israel redet. Die Rede lässt sich in sieben Abschnitte gliedern: 29,1b–8: 29,9–14: 29,15–20: 29,21–28: 30,1–10: 30,11–14: 30,15–20:

Rückblick auf die Auszugs-Epoche »Protokoll« des Bundesschlusses Warnung vor heimlichem Götzendienst einer Person / Gruppe Beschreibung der Konsequenzen des Bundesbruchs Verheißung der Herzensbeschneidung bei Umkehr Versicherung der Erfüllbarkeit der dtn Gesetze Abschließende Ermahnungen (Segen und Fluch)

407 Siehe oben die einführenden Bemerkungen zu Dtn 12,1–26,16. 408 Die Identität der Bundesschlüsse vertrat mit anderen Argumenten auch TIGAY 1996, S. 274 (er lehnte die These einer Strukturierung des dtn Gesetzes nach dem Dekalog ab): »But Deuteronomy regards these laws [dtn Gesetze] as also implicitly part of the Horeb covenant, since they are the direct continuation of God’s words at Horeb and the people had pledged there to observe them (5: 24). This means that the covenants of Horeb and Moab are virtually identical.« 409 Siehe zu dieser Konkurrenz insbesondere oben EXKURS I, 1, und EXKURS II.

E. Moses Worte des Moab-Bundes

175

In Dtn 29,1b–8 folgt ein kurzer Rückblick auf Exodus, Wüstenwanderung (in JHWH-Rede formuliert!) sowie Eroberung und Verteilung des Ostjordanlandes. Die volle Bedeutung all dieser Stationen soll sich nach JHWHs Willen erst »heute« erschließen, also am Ende der »Auszugs-Epoche« (vgl. Dtn 4,45): »Und nicht gab euch JHWH ein Herz zu verstehen und Augen zu sehen und Ohren zu hören bis zu diesem Tag« (V. 3).410 Nach V. 8 soll aus der neuen Bewertung der Ereignisse der vergangenen Epoche (weil das Israel in der Welt des Deuteronomiums und übertragen das Israel im Exil erst jetzt reif und geläutert genug ist?) resultieren, dass Israel »heute« die »Worte dieses Bundes« hält, damit es in seinem Tun künftig Erfolg hat. Die Formulierung in V. 8 (‫ דברי הברית‬+ ‫ שׁמר‬+ ‫עשׂה‬, »Worte des Bundes« + »halten« + »tun«) fällt auf: Nach dem üblichen dtn Sprachgebrauch sind eigentlich die dtn Gesetze (oder die dtn Tora) zu halten und zu tun (vgl. z. B. Dtn 4,40; 5,1; 8,1; 12,1; 17,19; 31,12). Wenn, wie oben vorgeschlagen, die »Bundes-Worte« eine doppelte Bedeutung haben (Worte der Tora und Worte, die Mose im Rahmen des Bundesschlusses spricht), lässt sich V. 8 wie folgt verstehen: Israel soll den Bund in Moab halten, d. h. es soll die Bundesverpflichtungen einhalten, und dies zeigt sich im Tun der Tora bzw. ihrer Gesetze. Im »Protokoll« des Bundesschlusses in Dtn 29,9–14 wird zunächst aufgezählt, wer die Bundespartner Gottes sind: alle Stände, Personen jeden Alters, Männer und Frauen (!), Angehörige Israels ebenso wie die Fremdlinge, die während der Wüstenwanderung im Lager Israels wohnten (V. 9 f.).411 In V. 11 lässt Mose die Versammelten in den Bund eintreten (wörtlich): »(hiermit) gehst du im Bund JHWHs und in seinem Fluch hindurch«.412 Besonders aufmerksam zu machen ist noch auf die in V. 14 zum Ausdruck gebrachte generationenübergreifende Dimension des Bundesschlusses: Der Bund wurde zwar mit den in Moab versammelten IsraelitInnen geschlossen, aber er schließt auch alle zukünftigen Generationen mit ein (»und alle, die heute hier nicht mit uns sind«).413 Die Funktion dieser Formulierung ist unschwer zu erkennen: Sie behauptet die direkte Relevanz des Bundsschlusses für die historischen exilischen AdressatInnen:414 Auch wenn sie in dem moabitischen »Heute« nicht anwesend waren, ist für sie dieser Bundesschluss in ihrem »Heute« relevant und verpflichtend, »heute« haben sie die Möglichkeit, ihre Vergangenheit neu zu erkennen und zu bewerten (Dtn 29,3), »heute« haben sie die Möglichkeit, künftig ein schlimmes Schicksal wie das von ihnen erlebte durch konsequentes Befolgen der Dekaloggebote (im Exil) und der dtn Gesetze (im Land) zu vermeiden. 410 Vgl. auch Dtn 11,2. 411 Dies ist m. E. als Privileg gemeint: Die Fremdlinge dürfen in den Bund eintreten (und nach Dtn 31,12 am Laubhüttenfest und an der Verlesung der Tora teilnehmen). 412 Die Formulierung ‫ לעבור בברית‬ist in der Hebräischen Bibel einmalig, aller Wahrscheinlichkeit nach hängt sie mit der Zeremonie des Schreitens zwischen gehälfteten Tieren im Rahmen von Bundesschlüssen zusammen (vgl. Gen 15,9 f.17 und Jer 34,18 f.). 413 Vgl. auch Dtn 5,3: JHWH schließt den Bund am Horeb »mit uns, die wir heute alle am Leben sind«. 414 Vgl. auch GOMES DE ARAÚJO 1999, S. 323 f.

176

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

In Dtn 29,15–20 warnt der dtn Mose im Zusammenhang des Vollzugs des Bundesschlusses davor, »privat« anderen Göttern der Israel aus der Geschichte bekannten Völker dienen (und damit bewusst ein dtn Gesetz brechen) zu wollen: Würde eine Person (Mann oder Frau!) bzw. eine Personengruppe (Familie / Stamm) solches heimlich tun, so würde sie der Bundesfluch treffen. Die Vergeltung würde individuell erfolgen (nicht das ganze Volk müsste haften). Wie in Dtn 28,58.61 wird auch in Dtn 29,19 f.26 unvermittelt ein schriftlich vorliegendes Torabuch erwähnt: – Der Verweis des dtn Mose auf dieses Torabuch ist in literarischer Hinsicht (wie in Dtn 28,58.61) ein Vorausverweis, denn in der Welt des Deuteronomiums ist die Tora noch nicht geschrieben. – Nach Dtn 29,19.26 sind die Flüche Teil des Torabuches; diese Flüche beziehen sich auf Dtn 28,15–68 (vgl. auch Dtn 28,61). – In der Welt des Deuteronomiums macht die Formulierung des MT Dtn 29,20, wonach der Bund in dem Buch der Tora geschrieben ist, keinen Sinn. Synchron ist dieser Schwierigkeit nicht beizukommen (s. u. unter 2.1). Im nächsten Abschnitt (Dtn 29,21–27) beschreibt der dtn Mose die Konsequenzen des kollektiven »offiziellen« Bruchs des Bundes, den JHWH schloss, »als er sie (die IsraelitInnen) aus dem Land Ägypten geführt hat« (V. 24).415 Unter anderem wird JHWH nach V. 27 die IsraelitInnen in ein (spezifisches) anderes Land exilieren »wie es an diesem Tag ist«. Diese deiktische (äußerungszeitabhängige) Zeitangabe verrät die Situation der Autoren und Verfasser dieses Textes: Sie schrieben im Angesicht der bestehenden babylonischen Diaspora. In V. 28 wechselt der Fokus: Es handelt sich um eine Art Zwischenbemerkung eines »Wir« (s. u. unter 2.2). In Dtn 30,1–10 ist das Leitwort ‫»( שׁוב‬umkehren«): Gefragt wird nach der Möglichkeit der Umkehr für das exilierte Israel.416 Im Dtn findet sich das Motiv der Umkehr im Exil nur noch in 4,29–31. Im Unterschied zu diesem Text wird in Dtn 30,1–10 allerdings ausdrücklich die Rückkehr der Exilierten ins Land Juda thematisiert. Die Struktur von Dtn 30,1–10 ist ausgesprochen komplex:417 415 Diese Formulierung schließt den Moabbund nicht aus; nach Dtn 4,45 f. wurde auch der Moabbund im Kontext des Exodus geschlossen. Dtn 29,24 f. klagt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Verlassen der Gesetze beider Bünde an (in beiden wird die im Kontext beklagte Verehrung anderer Götter verboten, vgl. das erste Dekaloggebot und seine Ausdeutung in Dtn 13). Keinesfalls ist aus Dtn 29,24 f. eine Aufwertung der dtn Gesetze gegenüber den Dekaloggeboten herauszulesen (insofern [nur] der Horebbund durch die Verletzung des ersten Dekaloggebots in V. 24 f. als gebrochen bezeichnet würde), so mit GOMES DE ARAÚJO 1999, S. 313; gegen CHOLEWINSKI 1985, S. 105 f., und OTTO 1996, S. 201. 416 In V. 5.9 werden die »Eltern« des exilierten Du (!) erwähnt: Damit können nicht die Erzeltern gemeint sein, und auch nicht die in Moab versammelten IsraelitInnen: »Es legt sich also ein weites, generationenübergreifendes Verständnis der ›Eltern‹ in Dtn 30,5.9 nahe, das sowohl den beiden Ebenen (Fiktion, reale AdressatInnen) als auch der Theologie der Verheißungen besser gerecht wird als ein zu punktuelles Fixieren der Generationen«, EHRENREICH 2010, S. 155. 417 Zu dem Gedankengang des Abschnitts siehe insbesondere GROSS 1998, S. 40–43.

E. Moses Worte des Moab-Bundes

177

– Die Umkehr des unter mehreren Völkern verstreuten Israels (V. 3) zu JHWH, die ihren Ausdruck im Tun des dtn Gesetzes findet (V. 2a), ist die Vorbedingung dafür, dass eine Rückkehr ins Land erfolgen kann (V. 1–4). – Für die Situation nach der Rückkehr ins Land wird erwartet, dass JHWH das Herz der Zurückgekehrten beschneiden wird als Bedingung dafür, dass diese im Land umkehren können, d. h. JHWH lieben und alle seine Gesetze halten können (V. 6–8). Dies bedeutet, dass nach Einschätzung der Verfasser und Redaktoren dieses Textes JHWH in die geschöpfliche Konstitution der IsraelitInnen eingreifen muss, um sie in die Lage zu versetzen, im Land die dtn Gesetze zu halten. – Aufgrund der veränderten geschöpflichen Konstitution ist dann eine Umkehr Israels im Land zu JHWH möglich und erwartbar, d. h. Israel wird sich an die im Buch der Tora geschriebenen Gesetze halten (V. 9–10) und JHWH wird sich an seinem Volk freuen. Interessant ist, dass nach Dtn 30,1–10 die »heute« gebotenen Gesetze unbedingt einzuhalten sind, und zwar nicht erst bei der Rückkehr ins Land, sondern ausdrücklich bereits im Exil. Dies ist (abgesehen von einigen, einer bestimmten Redaktion zuzuordnenden Versen in Dtn 4; 6–11418) so explizit im Dtn sonst nicht festgelegt worden. Besonders zu beachten ist der Pessimismus in Dtn 30,1–10: Israel ist aus eigener Kraft nicht in der Lage, die Gesetze JHWHs zu halten. Dies verträgt sich in keiner Weise mit dem dtn Bundesverständnis (Israel wurde am Horeb und in Moab auf das Halten von Gesetzen verpflichtet!). Das Verhältnis dieses Textes zu seinem Kontext kann synchron also nur als ein dialektisches beschrieben werden. In Dtn 30,11–14 wird (nach der Herzensbeschneidung) eine zweite Voraussetzung dafür genannt, dass Israel das »heute« Gebotene (‫ המצוה‬ist hier Sammelbezeichnung für die im Kontext erwähnten dtn Gesetze) tun kann: In Folge der Promulgation durch Mose ist das Gesetz nicht zu schwer oder gar fern (V. 11–13); vielmehr ist es nach V. 14 Israel sehr nahe (‫)קרוב מאוד‬, »in deinem Mund und in deinem Herzen, es zu tun«. Es ist im Mund (‫)בפה‬, und das meint wohl, dass das Israel in der Welt des Deuteronomiums die Gesetze im Zuge der mosaischen Lehre in Moab in den Mund nehmen (also nachsprechen) musste (vgl. Dtn 5,1; 6,1). Es ist im Herzen (‫)בלבב‬, vorausgesetzt oder erwartet wird also, dass Israel in einem zweiten Schritt die nachgesprochenen Gesetze in seinem Herzen, d. h. seinem Gedächtnis, verankert (vgl. Dtn 6,6; 11,18).419 Das Gesetz ist zugänglich. Wodurch soll diese Zugänglichkeit des Gesetzes künftig garantiert sein? In der Welt des Deuteronomiums sollten die Eltern ihre Kinder die dtn Gesetze lehren (Dtn 6,7; 11,19). Auf diese Weise sollte das Gesetz generationenübergreifend Israel sehr nahe sein, also »im Mund und im Herzen sein, es zu tun«. Die »Worte des Bundes« werden abgeschlossen durch das Vorlegen von Segen 418 Siehe oben im Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 3.2.3. 419 Vgl. zu Dtn 30,14 ausführlich FINSTERBUSCH 2005, S. 285–287.

178

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

und Fluch bzw. Leben und Tod (Dtn 30,15–20). Vermutlich sind die Verse performativ (»hiermit«) zu verstehen (im Unterschied zu Segen und Fluch in Dtn 28):420 Israel muss sich hier und jetzt, im Rahmen des Bundesschlusses, entscheiden (V. 19). JHWHs Segen wird es nur haben, wenn es JHWH liebt und die dtn Gesetze hält. Dtn 29 f. ist kein Text der dtn Tora (auch in der Welt von Exodus 24 ist der Bundesschluss nicht Teil des Bundesbuches),421 sondern ein Text, der die dtn Tora voraussetzt. Dtn 29 f. muss also (im Unterschied zum Toratext, vgl. unten Dtn 31,9–13) in der Welt des Deuteronomiums nicht regelmäßig gelehrt und gelernt werden. Wie aber soll der Bundesschluss dann für jede Generation »aktuell« werden bzw. jeder Generation zur Kenntnis gebracht werden? Damit stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von dem »Buch im Buch« (der schriftlichen Tora) und dem (exilischen) Buch Deuteronomium (siehe dazu im Teil V. ZUSAMMENFASSUNG, 3.).

2.

Diachrone Textbetrachtungen

2.1

»Undeuteronomisches« Toraverständnis: Die Bearbeitung von 29,20

Der MT Dtn 29,20 lautet: 20a Und JHWH wird ihn (den heimlichen Götzendiener) absondern zum Schlechten von allen Stämmen Israels 20bα entsprechend aller Flüche des Bundes (‫)הברית‬ 20bβ der (‫ )הכתובה‬in diesem Buch der Tora geschrieben ist.

Nach dem stimmigen System in der Welt des Deuteronomiums in Bezug auf den Toratext macht diese Aussage keinen Sinn:422 Der »Bund« (Dtn 29 f.) ist, wie oben gezeigt, nicht Teil der dtn Tora; auch die »Bundeserklärungen« in Dtn 26,17–19; 27,1.9 f. sind nicht Teil der Tora, sondern setzen die dtn Tora voraus.423 Es ist deshalb wahrscheinlich, dass in Dtn 29,20 ursprünglich eine andere Form des Part. Pass. gestanden hat, möglicherweise ‫»( הכתובות‬die geschrieben sind«, bezogen auf 420 Vgl. Braulik 1992, S. 220. 421 Die dtn Verfasser und Redaktoren schweigen sich kaum zufällig über einen im Buch der Tora geschriebenen Bundestext aus: Geschrieben stehen im Buch der Tora nach Dtn 29,19.20*.26 nur Flüche mit Referenz auf Dtn 28; und nach der späteren Ergänzung Dtn 30,10 (s. u. 2.3.) die dtn Gesetze. Anders BRAULIK 1970, S. 37; TASCHNER 2008, S. 284 ff., und EHRENREICH 2010, S. 122. 422 Interessanterweise wird auf dieses Problem in der Literatur so gut wie nicht eingegangen. Vielfach wird der Vers (gegen seinen wörtlichen Sinn) ohne jede Anmerkung so übersetzt bzw. interpretiert, als ob die Flüche des Bundes in dem Torabuch geschrieben seien, vgl. z. B. BRAULIK 1992, S. 215; NIELSEN 1995, S. 262; SONNET 1997, S. 108. Richtig übersetzte KÖNIG 1917, S. 198, der auf das inhaltliche Problem jedoch nicht einging. 423 Siehe oben im Teil III. D. »BUNDESERKLÄRUNGEN«, SEGEN UND FLUCH, 1.1.

E. Moses Worte des Moab-Bundes

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die Flüche des Bundes, die nach Dtn 28,61; 29,19.26 Teil des Torabuches sind). Tatsächlich wird der Plural des Part. Pass. von der Mehrheit der Handschriften bezeugt.424 Warum wurde hier von der Vorlage in einer (proto-masoretischen) Handschrift abgewichen? Nicht ganz auszuschließen ist ein banaler Schreibfehler: Der Schreiber könnte ‫ הכתובה‬von V. 19 noch im Gedächtnis gehabt und auch in V. 20 eingesetzt haben. Da ein ähnliches Phänomen aber noch einmal in Dtn 30,10 zu beobachten ist (»sperriges« ‫) הכתובה‬,425 spricht mehr für eine intentionale Änderung. Für denjenigen, der für diese Änderung verantwortlich zeichnete, stand im Buch der Tora jedenfalls auch der Bundesschluss in Moab. Er hatte also ein im Vergleich zu der Welt des Deuteronomiums, wie sie die dtn Verfasser und Redaktoren entworfen haben, anderes Verständnis von Tora: »Tora« wurde von ihm wohl mit dem gesamten Deuteronomium (möglicherweise auch schon mit dem Pentateuch) gleich gesetzt. In diesem Licht macht jedenfalls die Aussage, der (Moab-)Bund steht »in diesem Buch der Tora«, sehr guten Sinn. Dies bedeutet: Der Verantwortliche war kein »Pentateuchredaktor«. Denn auf Pentateuchebene verändert sich zwar die Bedeutung der Aussagen im Dtn in Bezug auf die Tora, jedoch der Moabbund Dtn 29 f. zählt auch auf Pentateuchebene nicht zu den Tora-Texten.426 Der Verantwortliche war vermutlich ein »Schreiber« in »nach-pentateuchischer Zeit« mit entsprechend anderem Tora-Verständnis. »Schreiber« schrieben (vielfach) nicht nur Texte ab, sondern bearbeiteten sie in einem gewissen Rahmen auch. Hierfür liefern die Handschriften vom Toten Meer zahlreiche Beispiele.427

2.2

Sprecherwechsel: Die Glosse 29,28

Eine »Sonderstellung« im Text hat Dtn 29,28. Um dies zu zeigen, soll zunächst der Vers im Kontext zitiert werden: 21 Und sagen wird die spätere Generation, also eure Kinder, die nach euch erstehen, und (sagen wird) der Nichtjude, der aus fernem Land kommt, die die Schläge sehen werden, die dieses Land getroffen haben werden (…), 23 und sagen werden alle Völker: Warum hat JHWH diesem Land so etwas angetan? (…) 24 Und sie werden antworten: 424 Vgl. MCCARTHY 2007, S. 85.132*. 425 In Dtn 30,10 stimmt die Verwendung des Partizips fem. sg. pass. ‫ הכתובה‬grammatisch insofern nicht ganz, da die vorausgehenden fem. Nomina im Plural stehen. Vielleicht hat der Schreiber der protomasoretischen Handschrift auch hier ein ursprünglich im Plural stehendes Partizip verändert, um auf diese Weise ein in Dtn 29 f. einheitliches Verweissystem (4x ‫ )הכתובה‬in Bezug auf den Inhalt des Torabuches zu schaffen (Dtn 29,19.26 Fluch ‫ קללה‬/ ‫ ;אלה‬Dtn 29,20 Bund; Dtn 30,10 Gesetz). Zu der Parallelüberlieferung von Dtn 30,10 vgl. MCCARTHY 2007, S. 87. 426 Siehe unten Teil IV. SYNCHRONE BETRACHTUNGEN VON DTN TEXTE AUF DER EBENE DES PENTATEUCHS. 427 Vgl. TOV 2000a; DERS. 2000b; LANGE 2010, S. 66 ff.

180

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Weil sie den Bund JHWHs, des Gottes ihrer Väter, verlassen haben, den er mit ihnen geschlossen hatte, als er sie aus dem Land Ägypten führte (…). 26 Deshalb entbrannte der Zorn JHWHs gegen dieses Land, dass er über es den ganzen Fluch brachte, der in diesem Buch geschrieben ist, 27 und JHWH sie mit glühendem Zorn und großem Unwillen aus ihrem Land heraus riss und sie in ein anderes Land warf, wie es heute noch ist. 28 Das Verborgene ist für JHWH, unserem Gott, das Offenbarte gilt für uns und unsere Kinder für immer: alle Worte dieser Tora zu tun. 30,1 Und wenn alle diese Worte über dich kommen werden, Segen und Fluch, die ich dir vorgelegt habe (…).

Die »Sonderstellung« von V. 28 im Vergleich zu dem vorausgehenden und dem folgenden Abschnitt fällt sofort auf: Dtn 29,21–27 und Dtn 30,1–10 sind wie die weitaus meisten Texte im Deuteronomium als Anrede Moses an Israel (du / ihr) stilisiert. Dtn 29,28 hingegen ist in der ersten Person Plural (wir) gehalten. Mit anderen Worten: Zwischen Drohung (Dtn 29,21–27) und Verheißung (Dtn 30,1–10) für die IsraelitInnen bewegt sich Dtn 29,28 quasi auf einer Metaebene, insofern aus der Perspektive der IsraelitInnen Verhalten reflektiert wird. Dies ist ein klares Indiz dafür, dass es sich bei V. 28 um einen sekundären »Einschub« in den vorgegebenen literarischen Zusammenhang handelt. Die Interpretation des Verses im Detail bereitet Schwierigkeiten (was genau bedeutet »offene und verborgene Dinge«?428). Deutlich ist jedoch, dass ein Redaktor im Anschluss an den Abschnitt Dtn 29,21–27 aus Betroffenheit über den Untergang Judas und das Exil die Konsequenz für seine Generation und für künftige Generationen formuliert hat, nämlich dass die Tora unbedingt gehalten werden muss. Damit lässt sich ein wichtiges Motiv für »Textwachstum« zeigen: Autoritativer Text konnte betroffen machen und zum aktualisierenden Kommentar herausfordern. Der Kommentar konnte dann seinerseits mit dem kommentierten Text zusammen zu autoritativem Text werden. Dieses Phänomen lässt sich vielfach in deuteronomischen und anderen Texten der Hebräischen Bibel nachweisen.429

2.3

»Undeuteronomische« Theologie: Sekundäre Einfügung von 30,1–10

In den dtn Texten wird durchgängig betont, dass Israel in der Lage ist, die Gesetze zu halten, und es wird durchgängig davon ausgegangen, dass Israel frei ist, die Gesetze zu halten oder auch nicht. Dieser Grundkonsens wird selbst mit der ungewöhnlichen Aussage vom Gedenken an den Väterbund durch JHWH in Dtn 4,29– 31 nicht aufgegeben: Israel soll im Exil umkehren und die Gesetze halten (bezweifelt 428 Vgl. zu möglichen Deutungen des Verses TIGAY 1996, S. 283. Zur Interpretation des Verses durch die Gemeinschaft von Qumran siehe FINSTERBUSCH 2011c. 429 Ein anderes Beispiel für eine Glosse im Deuteronomium ist Dtn 11,30, siehe hierzu in Teil III. D. »BUNDESERKLÄRUNGEN«, SEGEN UND FLUCH, 2.2.

E. Moses Worte des Moab-Bundes

181

wird nicht, dass Israel in der Lage ist, Gesetze zu halten); dass freilich Israel im Exil bzw. das Exil überlebt, liegt allein an JHWHs Barmherzigkeit und an seiner Bundestreue. Die denkbare Alternative, dass JHWH aus Zorn Israel vernichtet, ist in Dtn 4,23 f. angedeutet (vgl. auch 7,4; 9,14 u. a.).430 Dtn 30,1–10 greift den Gedanken der Umkehr Israels aus Dtn 4 auf (im Dtn nur in diesen beiden Texten) und entwickelt ihn durch eine Reflexion des Menschenbilds weiter: Die Umkehr wird nur gelingen können, d. h. Israel wird JHWH auf Dauer nur lieben und die dtn Gesetze im Land nur halten können, wenn JHWH eine tiefgreifende Änderung an der menschlichen Konstitution vornimmt: die Beschneidung des Herzens (V. 6). Mit diesem Gedanken brachten die Verfasser und Redaktoren von Dtn 30,1–10 einen theologisch völlig neuen Akzent in das ihnen vorliegende Deuteronomium ein. Folgendes Indiz spricht dafür, dass sie eine andere historische Situation vor Augen hatten, als die Verfasser und Redaktoren von Dtn 29 oder Dtn 4: In Dtn 29,27 war davon die Rede, dass JHWH Israel in »ein (!) anderes Land schicken wird« (‫ ;)אל ארץ אחרת‬nach Dtn 4,27 wird JHWH Israel »unter die Völker« (‫ )בעמים‬verteilen. In 30,3 ist die Rede von der Sammlung »aus allen Völkern« (‫)מכל העמים‬, unter die JHWH Israel verteilt hat (vgl. auch V. 1). Dies lässt darauf schließen, dass hier nicht mehr nur die Diaspora in Babylonien vor Augen stand, sondern (wenn nicht die Zerstreuung des Nordreiches gemeint sein sollte) auch diejenige in Ägypten.431 Freilich blieben die Verfasser und Redaktoren von Dtn 30,1– 10 mit ihren Ausführungen in einem wichtigen Punkt im Rahmen der Welt des Deuteronomiums: Sie bezogen sich auf die dtn Gesetze, d. h. auf die Gesetze, die von Mose heute geboten werden (V. 2.8). Sie hatten also wohl noch keine Pentateuchperspektive.432 Für die These, dass Dtn 30,1–10 (m. E. zusammen mit der Fortsetzung V. 11– 14433) sekundär in den bestehenden Kontext eingefügt wurde, gibt es keinen »Beweis« (z. B. eine Dtn-Handschrift ohne Dtn 30,1–10.11–14). Dass es grundsätzlich Fälle von sekundärer Einfügung von Abschnitten in Texteinheiten der Hebräischen Bibel gegeben hat (und dies also kein Hirngespinst von ExegetInnen ist), zeigen Fälle aus der Qumran-Bibliothek.434

430 Dtn 30,1–10 ist als sekundäre Weiterführung von Dtn 4,29 f. zu deuten. Der Text kann kaum Vorlage für Dtn 4,1–40 gewesen sein, so mit GROSS 1998, S. 43, Anm. 60, gegen OTTO 1996, S. 204 ff. 431 Vgl. auch die signifikant unterschiedlichen Fassungen von Jer 29,14 MT und LXX; im MT ist sicherlich auch die Diaspora in Ägypten im Blick, siehe dazu insbesondere LANGE 2010, S. 75 f. 432 Zur Bedeutung von Dtn 30,1–10 auf Pentateuchebene siehe die interessanten Überlegungen von EHRENREICH 2010, S. 179–186.197 ff.227 ff. 433 Dtn 30,11–14 lässt sich als Weiterführung von Dtn 30,1–10, aber nicht als Weiterführung von Dtn 29,1–27 verstehen. Vgl. zu Dtn 30,1–14 als Einheit noch LOHFINK 1998, S. 26. 434 Vgl. Jos 8,30–35, und siehe hierzu NOORT 1998, sowie Ri 6,7–10, und siehe hierzu ULRICH 2008.

182

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

F. Moses letzte Worte und Handlungen (31,1–32,47) 1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 2.3

Synchrone Textbetrachtungen Grobgliederung Josua: Beauftragung als Nachfolger Moses Die dtn Tora: Verschriftlichung, Offenbarung und Lehre ihres letzten Teils Diachrone Textbetrachtungen Das Lied als Tora-Supplement: Indiz für redaktionelle Ergänzung des Lied-Blocks Unterschiedliche Textüberlieferung der »Rahmenverse« 31,1 und 32,45: Spiegelung historischer Textentwicklung Eine Textänderung aus »theologischen« Gründen: 32,8b

Die Einheit Dtn 31,1–32,47 unterscheidet sich von den vorherigen Einheiten im Buch: Dtn 31,1–32,47 ist nicht durchgängig Moserede an Israel, sondern diese Einheit enthält verschiedene Reden Moses und JHWHs.435 Dass in Dtn 31 nicht einfach Dtn 29 f. (»Worte des Bundes«) fortgesetzt wird,436 sondern etwas Neues beginnt, und dass die Einheit mit Dtn 32,44 bzw. 32,45–47 endet, wird unter anderem durch eigenwillig formulierte Rahmenverse angezeigt: Dtn 31,1 (MT): Und Mose ging und redete diese Worte zu ganz Israel. Dtn 32,44 (MT): Und Mose kam und redete alle die Worte dieses Lieds in die Ohren des Volkes, er und Hosea Sohn Nuns (i. e. Josua).

In Dtn 31,1 können sich »diese Worte« im Kontext nur auf die folgenden Worte beziehen, denn die »Worte des Bundes« hat Mose laut der Einleitung des Bucherzählers in Dtn 29,1a bereits gesprochen (Dtn 29,1b–30,20). Durch die ungewöhnlichen Formulierungen »Mose ging / kam und redete« (‫ ויבא משׁה וידבר‬/ ‫ )וילך‬ist der Bezug der Verse 31,1 und 32,44 aufeinander evident. Mit den beiden Sätzen wird die »Eigenständigkeit« der von ihnen gerahmten Einheit (gegenüber Dtn 29 f.) betont. Dtn 32,45–47 schließen nicht nur die unmittelbar vorausgehende Einheit, sondern alle vorausgehenden Teile im Buch ab. Dies zeigten die Verfasser und Redaktoren, indem sie Dtn 32,45 (MT) in Anlehnung an Dtn 1,1 formulierten:437 Dtn 1,1aα (MT): Dies sind die Worte, die Mose zu ganz Israel redete. Dtn 32,45 (MT): Und Mose hörte auf zu reden alle diese Worte zu ganz Israel.

Die Rahmenverse machen deutlich: Nunmehr sind von Mose »alle diese Worte« (‫ )כל הדברים האלה‬gesprochen worden. Allerdings ist das Buch Deuteronomium 435 Die Erzählfolge in Dtn 31 und 32 entspricht dem Ablauf der Fabel, dies mit TALSTRA 1997; SONNET 1997, S. 124, und MARKL 2011. Anders LOHFINK 1993a. 436 Der Geltungsbereich der in Dtn 28,69 erwähnten »Worte des Bundes« ist also nicht bis 32,47 auszudehnen, z. B. mit LABERGE 1990, S. 144; und gegen CHOLEWINSKI 1985, S. 99 f. 437 PERLITT 1988, S. 130 f.

F. Moses letzte Worte und Handlungen

183

noch nicht zu Ende und der dtn Mose hört auch noch nicht definitiv zu reden auf (siehe unten zu Dtn 33,1). Besonders interessant ist die Einheit Dtn 31,1–32,47 in diachroner Hinsicht. Mehrere Indizien (vor allem unterschiedliche Versionen der Rahmenverse in der Textüberlieferung) weisen auf eine ältere Komposition Deuteronomium hin.

1.

Synchrone Textbetrachtungen

1.1

Grobgliederung

Dtn 31,1–32,47 hat eine ausgesprochen komplexe Struktur. Die Einheit lässt sich wie folgt gliedern:438 Einleitung 31,1: 31,2–6:

Moses Worte an Israel Ansprache des Mose an Israel: Abgabe seines Amtes; Ermutigung im Hinblick auf die Landeseroberung; Aufforderung, an den Völkern nach dem Gebotenen (Bann) zu tun 31,7–8: Ansprache des Mose an Josua: Beauftragung des Josua 31,9–13: Niederschrift der dtn Tora durch Mose; Übergabe an die levitischen Priester und die Ältesten; Moses Anweisung zur Durchführung eines kollektiven Lernrituals 31,14 f.: Erscheinung JHWHs vor Mose und Josua im Zelt der Begegnung 31,16–21: Rede JHWHs an Mose: Prognose in Bezug auf Israels Verhalten im Land; Offenbarung eines Lieds mit dem Auftrag, dieses niederzuschreiben und Israel zu lehren 31,22: Ausführungsnotiz 31,23: Rede JHWHs an Josua: Autorisierung Josuas als Nachfolger Moses 31,24–27: Übergabe der fertig geschriebenen Tora an die Leviten 31,28 f.: Anweisung an die Leviten, die Ältesten und Listenführer zu versammeln zwecks Promulgation des Lieds 31,30–32,43: Promulgation des Lieds vor den versammelten Notabeln Israels durch Mose Schluss 32,44: Promulgation des Lieds vor dem Volk durch Mose und Josua Schluss 32,45.46 f.: Schlussnotiz und letzte Ermahnung des Mose

Die Gliederung zeigt, dass in 31,1–32,47 eine zweifache Thematik beherrschend ist: die Thematik »Josua« (Beauftragung als Nachfolger Moses) und die Thematik »Tora« (Niederschrift; Übergabe an Amtsträger; Offenbarung und Lehre ihres letzten Teils, des Lieds),439 wobei hier vor allem die Dominanz des Lieds und der damit verbundenen narrativen Passagen auffällt. 438 In der LXX ist eine etwas andere Reihenfolge der Ereignisse bezeugt, vgl. zu den signifikanten Abweichungen in Dtn 32,44–47 z. B. LABERGE 1990, S. 159 f.; LOHFINK 1993a, S. 220–226. – Eine deutsche Übersetzung des griechischen Texts (Textgrundlage im Fall des Dtn: die Ausgabe von John W. Wevers) ist gut zugänglich in KRAUS / KARRER 2009. 439 Die Thematik wird in Dtn 31,1–32,44 wohl intentional gewechselt, vgl. hierzu insbesondere auch

184 1.2

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Josua: Beauftragung als Nachfolger Moses

Innerhalb der ersten Rede (Dtn 1,6–4,40) hat der dtn Mose zweimal von einem Gebot JHWHs berichtet, Josua als seinen Nachfolger zu beauftragen (1,38 im Zusammenhang mit Kadesch Barnea und 3,28 nach den Siegen über Sichon und Og). Der Vollzug der geforderten Beauftragung wird nun in Dtn 31 berichtet (dies steht auf der Ebene des Pentateuchs in gewissem Widerspruch dazu, dass Josua bereits in Num 27,22 f. zum Nachfolger des Mose bestellt wurde440): In Dtn 31,7 f. ermutigt Mose Josua, »fest und hart zu sein« und zwar im Hinblick auf seine beiden Aufgaben, nämlich das Volk in das Westjordanland zu bringen und das Land an die Stämme zu verteilen. In Dtn 31,23 wird diese Beauftragung Josuas (bezüglich der ersten Aufgabe) durch JHWH autorisiert. Sprachlich haben die Verfasser und Redaktoren die Zusammengehörigkeit der vier Stellen (Dtn 1,38; 3,28; 31,7 f.; 31,23) insbesondere durch die Verwendung der Motive »fest sein (‫ )חזק‬/ hart sein (‫«)אמץ‬ unterstrichen.441 Die Aufgaben Josuas beziehen sich eigentlich auf die Zeit nach Moses Tod, dennoch hat die in Dtn 31 erzählte Beauftragung Josuas durch Mose und JHWH nach den Verfassern und Redaktoren der Einheit Dtn 31,1–32,47 unmittelbare Konsequenzen. Aufschlussreich sind die Formulierungen im Zusammenhang des letzten Auftrags, den Mose »heute« erfüllen muss: Nach Dtn 31,19aα erteilt JHWH (in seiner Rede an Mose, 31,16!) die Anweisung an Mose und Josua, das Lied zu schreiben; die nächsten beiden Anweisungen in Bezug auf die Lehre des Lieds in 31,19aβ erfolgen nur an Mose. Nach Dtn 31,22 hat Mose das Lied aufgeschrieben, nach 31,30 hat Mose den Notabeln Israels das Lied vorgetragen. In Dtn 32,44 steht, dass Mose und Josua (Hosea Sohn Nuns442) das Lied dem Volk vortrugen. Die uneinheitlichen Formulierungen lassen sich als intentionale Verweise auf die Situation des »Übergangs« interpretieren: Der noch amtierende Mose muss zwar die Hauptverantwortung für das Schreiben und Lehren des Lieds tragen, der bereits eingesetzte Nachfolger Josua ist aber an diesen Vorgängen schon zu beteiligen bzw. war daran beteiligt.

1.3

Die dtn Tora: Verschriftlichung, Offenbarung und Lehre ihres letzten Teils

Nach Dtn 31,9 verschriftlicht Mose nun (quasi am Ende des »Heute«) »diese Tora«, d. h. die in der Welt des Deuteronomiums bisher Israel nur mündlich mitgeteilte dtn Tora. Mose verschriftlicht also nicht das Buch Deuteronomium, sondern nur BRITT 2000, S. 360: TORA Dtn 31,2–6; JOSUA Dtn 31,7–8; TORA Dtn 31,9–13; JOSUA Dtn 31,14 f.; TORA Dtn 31,16–22; JOSUA Dtn 31,23; TORA Dtn 31,24–32,44. 440 Dieser Widerspruch ist m. E. synchron nicht erklärbar, anders SONNET 1997, S. 131 f. 441 Das Leitmotiv »fest und hart sein« findet sich noch in Jos 1,6.7.9.18. SCHÄFER-LICHTENBERGER 1995, S. 203, Anm. 506, spricht in diesem Zusammenhang treffend von der »Erkennungsmarke des Nachfolgers Mose«. 442 Zu diesem Namen siehe Num 13,16.

F. Moses letzte Worte und Handlungen

185

einen bestimmten Teil. Nach der Verschriftlichung »übergibt« (‫)נתן‬a443 er die Tora den levitischen Priestern und den Ältesten Israels (die im Rahmen des Bundesschlusses auf der Grundlage der dtn Tora für die beiden Bundespartner standen, vgl. Dtn 27,1.9 f.) zum Zweck der Erfüllung eines besonderen Auftrags im Land. Dieser wird in V. 10–13 beschrieben: Gemeinsam sollen sie die Tora in jedem Siebtjahr am Laubhüttenfest in Jerusalem dem Volk laut vorlesen (V. 10 f.).444 Dazu sollen sie das (sich in Jerusalem im Rahmen des Festes aufhaltende) Volk versammeln, nämlich Männer, Frauen, Kinder und Fremdling. Das Volk soll den Text der Tora aber nicht nur hören, sondern auch lernen;445 dadurch soll es zur JHWH-Furcht und zum Halten der Worte der Tora, also insbesondere der dtn Gesetze, motiviert werden (V. 12). Es ist besonders hervorzuheben, dass demnach alle IsraelitInnen (samt den Fremdlingen) alle Gesetze der Tora kennen sollen, auch wenn nicht jedes Gesetz für jede Person Gültigkeit hat; beispielsweise betreffen Frauen nicht die Gesetze zum Aufgebot des Heeres in Dtn 20. Dieses kollektive Tora-Lernritual ist sicherlich als eine sehr geschickte »Erfindung« der dtn Verfasser und Redaktoren zur »Sicherung ihres Anliegens« zu bewerten: Solch ein Ritual könnte die generationenübergreifende kollektive Kenntnis und Akzeptanz des dtn Gesetzestextes als »des« Gesetzestextes für Israel garantieren. Nach Dtn 31,14–22 offenbart JHWH im Zelt der Begegnung446 in Moab Mose (mit Josua) noch ein Lied mit dem Auftrag, es aufzuschreiben und zu lehren. Dieses Lied ist, wie mittlerweile mehrfach überzeugend dargelegt wurde, als der letzte Teil der dtn Tora zu verstehen.447 Dies geht aus der Zusammenschau von mehreren Versen hervor: V. 9: Und Mose schrieb diese Tora auf und gab sie den Priestern, den Söhnen Levis, die die Lade des Bundes JHWHs trugen, und allen Ältesten Israels. V. 19: Und nun schreibt euch dieses Lied auf (…), damit dieses Lied für mich Zeuge sei gegen die Kinder Israels. V. 22: Und Mose schrieb dieses Lied auf an jenem Tag (…). V. 24: Und als Mose fertig war, die Worte dieser Tora in ein Buch zu schreiben – bis sie vollständig waren 443 Gemeint sein kann nicht: Mose übergibt ein (!) Tora-Exemplar an zwei (!) Gruppen. Eher: Er übergibt die Tora an beide Gruppen in dem Sinn, dass sie von beiden besonders »genutzt« werden soll (zur Erfüllung spezifischer Aufgaben wie das Lesen beim kollektiven Lernritual, vgl. Dtn 31,10–13). 444 Die Verben »Lesen« und »Versammeln« in V. 11.12 stehen im Singular; d. h. angeredet werden Älteste und levitische Priester im Kollektiv, vgl. LOHFINK 1993b, S. 270. Nach traditionell jüdischer Interpretation ist der Angeredete Josua, vgl. WEINFELD 1991, S. 65, Anm. 1. Zu dieser Deutung siehe SONNET 1997, S. 140 f. 445 Siehe zur Bedeutung dieses Lernens FINSTERBUSCH 2005, S. 289. 446 Das Zelt kommt nur hier im Dtn vor. Nach Ex 25,22 wird JHWH alles, was er in Bezug auf die IsraelitInnen gebietet, Mose an der Lade (im Zelt) bekannt machen. Möglicherweise geben die Verfasser und Redaktoren von Dtn 31,14 mit der Erwähnung des Zeltes indirekt auch bekannt, wo ihrer Meinung nach Mose am Sinai die dtn Gesetze empfangen hat (in Dtn 4; 5; 9 f. verlautet darüber nichts). 447 Vgl. z. B. TALSTRA 1997, S. 100; SONNET 1997, S. 156 ff.; MARKL 2011. Das Lied wird also nicht in ein eigenes Dokument geschrieben, so aber TIGAY 1996, S. 288.295.

186

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

V. 25: da gebot Mose den Leviten, die die Lade des Bundes trugen, Folgendes: V. 26: Nehmt dieses Buch der Tora und legt es neben die Lade des Bundes JHWHs, eures Gottes, und dort soll es für dich bleiben als Zeuge.

Aus V. 24 geht hervor, dass erst zu diesem Zeitpunkt Mose mit dem Schreiben des Torabuches (genau gesagt: der Torarolle448) fertig war. Dies bedeutet, dass die Tora zu dem in V. 9 erwähnten Zeitpunkt noch nicht vollständig aufgeschrieben war (was Mose in der Welt des Deuteronomiums zu diesem Zeitpunkt aber nicht wissen konnte). Der noch fehlende Text kann nur das Lied sein, das vollkommen unerwartet offenbart wurde und das nach JHWHs Gebot von Mose noch nachträglich aufgeschrieben wurde (V. 22) – und zwar vor der erwähnten Fertigstellung der Tora in V. 24. Interessant ist, dass das Lied die Funktion der Tora vollkommen verändert – und hier ist in der Einheit ein »Bruch« auszumachen: Nach Dtn 31,12 soll das Hören der Tora Israel zur Gottesfurcht und zum Gebotsgehorsam anhalten. Nach Dtn 31,19 hat das Lied »Zeugenfunktion« gegen Israel und macht als der letzte Teil der Tora die ganze Tora zum Zeugen gegen Israel (31,26). Was darunter zu verstehen ist, geht aus der vorausgehenden Rede JHWHs an Mose hervor (V. 16–21): Nach Gottes Voraussicht wird sich Israel im Land definitiv fremden Göttern zuwenden und JHWHs Bund brechen, und dann wird das Lied als Zeuge JHWHs gegen Israel aussagen, d. h. Israel (und nicht JHWH) für Not und Unheil infolge des Bundesbruchs verantwortlich machen (V. 20 f.). Diese ausschließlich negative Einschätzung von Israels zukünftigem Verhalten überrascht (vgl. etwa Dtn 30,15–20: Demnach soll Israel zwischen Gehorsam und Ungehorsam wählen). Die (Zeugen-)Funktion der Tora ist insbesondere für die zweite Hälfte der Sinneinheit Dtn 31,1–32,47 prägend (vgl. die Leitworte »Zeuge« / »zeugen gegen« in Dtn 31,19.21.26.28 und Dtn 32,46). Nach Dtn 31,28–30 sollen die Leviten die Notablen Israels (alle Ältesten und die Listenführer) versammeln zwecks Lehre des Lieds durch Mose. Anschließend lehren Mose und Josua es das ganze Volk (Dtn 32,44).449 Der Text des Lieds steht in Dtn 32,1–43. Im Folgenden seien zu diesem ausgesprochen komplexen poetischen Text nur einige wenige Punkte hervorgehoben: – Wie nach der Bestimmung des Lieds als »Zeuge« (31,19) zu erwarten war, spielt der Ungehorsam Israels (32,4–18) und spielen die Strafen, die JHWH über sein ungehorsames Volk bringen will, im Text eine gewichtige Rolle (32,19–25). – Die Bestrafung bleibt aber nicht das dominierende Thema des Lieds: In V. 36–42 kündet Gott sein Eingreifen zugunsten Israels an; abgeschlossen wird das Lied durch einen Aufruf zum Lobpreis Gottes als Erlöser seines Volkes und als Entsühner seines von Schuld befleckten Landes. Dies steht in gewisser Spannung zu der in Dtn 31 ausgeführten »Zeugenfunktion« von Lied und Tora. 448 Siehe Teil III. D. »BUNDESERKLÄRUNGEN«, SEGEN UND FLUCH, 1.2, zu Dtn 28,58 (oben S. 164f.). 449 So mit LOHFINK 1993a, S. 229 f.; siehe auch noch die Überlegungen von MARKL 2011, z. St.

F. Moses letzte Worte und Handlungen

187

– Es fällt auf, dass im Lied spezifisch deuteronomische Themen wie Gesetz und Bund fehlen. Auffallend ist auch, dass das beschriebene Unglück (anders als z. B. in Dtn 4; 28 sowie in 29 f.) keinerlei Bezug zu der Exilsthematik aufweist. – Aufmerksam gemacht werden soll noch auf ein interessantes Gottesbild: In V. 18 wird Israels Gott als Gottheit, die Israel geboren hat (!), beschrieben (damit soll die enge Beziehung von Gott und Israel unterstrichen werden). Es gibt in der Hebräischen Bibel nicht allzu viele Stellen, in denen so genuin weibliche Metaphorik in der Rede über den Gott Israels verwendet wird.450

2.

Diachrone Textbetrachtungen

2.1

Das Lied als Tora-Supplement: Indiz für redaktionelle Ergänzung des Lied-Blocks

Anknüpfend an die synchronen Textbetrachtungen lassen sich gute Gründe für die (in der exegetischen Literatur bereits mehrfach vertretene) These anführen, dass das Lied (Dtn 32,1–43*) und die mit ihm verbundenen narrativen Passagen Dtn 31,14– 30*; 32,44 sekundär einer bereits vorliegenden Komposition Deuteronomium hinzugefügt wurden:451 – Im Liedtext fehlen wesentliche deuteronomische Themen bzw. finden sich »nicht-deuteronomische« Formulierungen und Gedanken (z. B. Polytheismus in V. 8* und V. 43*, s. u. 2.3).452 Dies spricht gegen eine deuteronomische Verfasserschaft des Lieds. – Das Lied (als Teil der Tora) verändert den Charakter der Tora (sie wird »Zeuge«), dies passt in keiner Weise zu der bis Dtn 31,13 beschriebenen Rolle der Tora. – In Dtn 31 selbst wird auf den »sekundären« Charakter des Lieds hingewiesen: Die Tora ist laut Dtn 31,9–13 durch Mose bereits verschriftlicht und den Amtsträgern verbunden mit einem kollektiven Lehrauftrag übergeben worden. Mit anderen Worten: Das Lied ist ein im Deuteronomium vollkommen unerwartet auftauchender »Anhang« zu dem vorliegenden Toratext. Wer war für die Hinzufügung der verschiedenen Texte zuständig (Lied und narrative Passagen stammen kaum von »einer Hand«, aber das kann in diesem Rahmen 450 Vgl. hierzu insbesondere noch KEEL 2008. 451 Die These, dass ein vorexilischer Liedtext im Exil zum vorliegenden Deuteronomium hinzugefügt wurde, vertrat z. B. LEVENSON 1975, S. 212 ff. Nach OTTO 2000, S. 193, setzte der Autor, der das Lied und seine Rahmung einfügte, bereits die »Pentateuchredaktion« voraus. Nach LEUCHTER 2007b, wurde das Lied in die Joschijanische Ausgabe des Deuteronomiums eingefügt. 452 Noch ein anderes Beispiel: In Dtn 32,12 findet sich die Formulierung ‫» אל נכר‬fremde Gottheit« (aufgenommen in Dtn 31,16: ‫)אלהי נכר‬. Die »übliche« dtn Terminologie ist ‫אלהים אחרים‬ »andere Götter«, vgl. u. a. Dtn 5,7; Dtn 13,3; Dtn 31,18.20; siehe auch SONNET 1997, S. 174 f.

188

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

nicht weiter dargelegt werden453) und wann ist sie erfolgt? Zunächst ist festzuhalten, dass die verantwortlichen Verfasser und Redaktoren an die Tora-Konzeption der dtn Welt anknüpften: Das Lied wird »heute« als Teil der Tora nachträglich aufgeschrieben (Dtn 31,24 – mit wörtlicher Bezugnahme auf Dtn 31,9), und es wird gelehrt (unter Verwendung des dtn Schlüsselwortes ‫למד‬, Dtn 31,19.22). Zudem wird durch die Archivierung der fertig geschriebenen dtn Tora neben der Bundeslade (Dtn 31,26), in der die Dekalogtafeln liegen (Dtn 10,5), die besondere Verbindung von Dekalog und dtn Tora unterstrichen (das dtn Gesetz ist m. E. als Ausdeutung der Dekaloggebote unter den Bedingungen des Lebens im Land konzipiert).454 Dies alles spricht für eine (zeitliche) Nähe der Verantwortlichen zu den Verfassern und Redaktoren der bereits vorliegenden Buchkomposition (es handelt sich also nicht um eine »Pentateuchredaktion«455). Was ist durch die Hinzufügung inhaltlich gewonnen? Dtn 31,17 lässt das Problem erkennen, auf das mit dem »Lied-Block« reagiert wurde: der von Israel geäußerte Zweifel an Gottes Gegenwart im Hinblick auf ergangenes Unglück im Land. Das klingt nach schwierigen Verhältnissen – möglicherweise steht im Hintergrund die schwierige Wiederaufbauphase des Landes in früher nachexilischer Zeit. »Streng« halten die Verfasser und Redaktoren des »Lied-Blocks« dagegen, dass die Schuld allein bei dem Volk liegt und seiner »Neigung« (‫יצר‬, a31,21) die unweigerlich zum Bundesbruch führt. Spiegelt sich hier eine gewisse »Frustration« wider im Hinblick auf die »Neigung« der Bevölkerung im Land Juda, das dtn Gesetz zu halten?

2.2

Unterschiedliche Textüberlieferung der »Rahmenverse« 31,1 und 32,45: Spiegelung historischer Textentwicklung

Die Rahmenverse Dtn 31,1 und Dtn 32,45 sind in den alten Textzeugen unterschiedlich überliefert. Zunächst zu Dtn 31,1: Dtn 31,1, MT / Sam: Und Mose ging hin und er sprach diese Worte zu ganz Israel. ‫וילך משׁה וידבר את הדברים האלה אל כל ישׂראל‬ 453 Einen guten Überblick über die Thesen bezüglich des Ursprungs des Lieds gibt SANDERS 1996, S. 1– 98. Sanders selbst vertritt eine vorexilische Datierung, vgl. a. a. O., S. 432. Zum Aufbau des Lieds vgl. ausführlich MARKL 2011. 454 Siehe im Teil V. ZUSAMMENFASSUNG, 2.1. 455 Erwägenswert wäre m. E. allenfalls, Dtn 31,14 f. einer Pentateuchredaktion zuzuweisen, denn in diesen Versen werden unvermittelt Zelt und Wolkensäule erwähnt, die im Dtn sonst keine Rolle spielen (wohl aber in den vorausgehenden Büchern des Pentateuchs). Ihre Verwendung könnte allerdings auch nur bedeuten, dass die Verfasser und Redaktoren das entsprechende Wissen bei ihrer Adressatenschaft voraussetzten – ebenso wie sie z. B. auch Wissen über die Patriarchen voraussetzten. Dass diese Motive hier verwendet werden, erstaunt nicht: Wo sonst hätte die Offenbarung JHWHs stattfinden sollen? Vgl. zum Thema noch TALSTRA 1997, S. 97 f.

F. Moses letzte Worte und Handlungen

189

Dtn 31,1, 1QDeutb (fragmentarisch erhalten; entspricht dem Wortlaut der LXX456): Und Mose hörte auf zu reden alle diese Worte zu ganz Israel. ‫ויכל משׁה לדבר את כל הדברים האלה אל כל ישׂראל‬

In Bezug auf Dtn 32,45 sind neben dem MT zwei kürzere Fassungen überliefert: Dtn 32,45, MT: Und Mose hörte auf zu reden alle diese Worte zu ganz Israel. ‫ויכל משׁה לדבר את כל הדברים האלה אל כל ישׂראל‬

Dtn 32,45, Sam: Und Mose hörte auf zu reden diese Worte zu ganz Israel. ‫ויכל משׁה לדבר את הדברים האלה אל כל ישׂראל‬

Dtn 32,45, LXX: Und Mose hörte auf, zu ganz Israel zu reden. Καὶ συνετέλεσεν Μωυσῆς λαλῶν παντὶ Ἰσραὴλ (würde im Hebr. folgendem Text entsprechen: ‫)ויכל משׁה לדבר אל כל ישׂראל‬

In Bezug auf die Beurteilung dieses Befundes besteht kein Konsens.457 Im Folgenden soll eine neue Erklärung versucht werden. Angenommen wird, dass eine ursprüngliche Komposition Deuteronomium den »Lied-Block« noch nicht enthalten hat (s. o. 2.1). Entscheidend ist, dass diese ursprüngliche Komposition dann auch Dtn 32,44 (als Abschluss des »Lied-Blocks«) nicht enthalten hat. Damit fällt dieser Vers als Pendant zu Dtn 31,1 (MT) weg. Dann aber macht Dtn 31,1 in der Fassung von MT / Sam (»Mose ging und redete«) wenig Sinn. Sinn macht jedoch die Annahme, dass in einer Komposition Deuteronomium ohne »Lied-Block« der Vers Dtn 31,1 in der von 1QDeutb / LXX bezeugten Fassung gestanden hat (vermutlich ohne ‫» כל‬alle«458) und dass Dtn 32,45 aus einem im Vergleich mit dem MT kürzeren Satz bestanden hat. Die Struktur dieser ursprünglichen Komposition Deuteronomium hat dann wie folgt ausgesehen:

456 DJD I, S. 59. Diese Version könnte die Vorlage für die griechischen Übersetzer gewesen sein, vgl. TOV 1997, S. 108. 457 Um nur einige Meinungen zu Dtn 31,1 anzuführen: Nach NIELSEN 1995, S. 277, muss die von LXX / Q bezeugte Lesart für ursprünglicher gehalten werden, da der MT im jetzigen Zusammenhang keinen Sinn ergibt (woher sollte Mose gekommen sein?). Nach LOHFINK 1993a, S. 239, könnten nach dem Prinzip der lectio difficilior MT und Sam als der textkritisch ältere Text betrachtet werden, das Prinzip der Kontextgemäßheit spräche aber eher für LXX als älteren Text. NWACHUKWU 1995, S. 90, überlegt: »The verb ‫[ הלך‬to go] does not always involve a change of place or a new beginning, but also, especially in its infinitive construct, a continuation. Sometimes, it may just be an introductory word, one which makes ›den Vorgang anschaulich‹. Thus, with reference to the plot of the narrative and the context of expression, one is left with a choice between a simpler text (LXX, Q) and a difficult but not impossible one (MT; Sam). And in textual criticism, the preference is, in principle, for the latter.« Nach TALSTRA 1997, S. 97, mag die von LXX / Q bezeugte Lesart »be accepted as an earlier reading of the text, but it does not help the synchronic analysis, since Moses does not finish his speech until after the Song, according to 32,45, where the same words are used.« 458 »Alle« könnte sekundäre Zufügung sein, vgl. MCCARTHY 2007, S. 88.

190

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Einleitungsvers: Dies sind die Worte, die Mose zu ganz Israel redete. I Erste Worte II Tora III Bundeserklärungen, Segen und Fluch IV Bundesworte mit Schlussvers 31,1*: Und Mose hörte auf, [alle] diese Worte (d. h. die Bundesworte) zu ganz Israel zu reden. V Beauftragung Josuas, Lernritual mit Schlussvers 32,45*: Und Mose hörte auf, zu ganz Israel zu reden. VI Abschließende Erzählung über Moses Tod

Die letzten beiden Einheiten dieser (m. E. exilischen459) Komposition vor der Schlusserzählung über Moses Tod460 sind demnach mit einem nahezu gleich lautenden Satz abgeschlossen worden. Dtn 32,45* sollte wohl das Ende des gesamten mosaischen Redens, von dem in der Komposition erzählt wurde, anzeigen.

2.3

Eine Textänderung aus »theologischen« Gründen: 32,8b

Aufschlussreich sind die verschiedenen Textüberlieferungen von Dtn 32,8b: Dtn 32,8b, MT / Sam: ‫יצב גבלת עמים למספר בני ישׂראל‬

Er (JHWH) legt die Grenzen der Völker fest nach der Anzahl der Kinder Israels. Dtn 32,8b, 4QDeutj (von Dtn 32,8b sind in der Hs nur die letzten beiden Worte erhalten):461 ‫בני אלהים‬

(Anzahl der) Söhne Gottes / Götter-Söhne Dtn 32,8b, griechischer Papyrus (848): ἔστησεν ὅρια ἐθνῶν κατὰ ἀριθμὸν υἱῶν θεοῦ462

Er legt die Grenzen der Völker fest nach der Anzahl der Söhne Gottes. Dtn 32,8b, Codex Vaticanus (und die Mehrheit der griechischen Handschriften): ἔστησεν ὅρια ἐθνῶν κατὰ ἀριθμὸν ἀγγέλων θεοῦ

Er legt die Grenzen der Völker fest nach der Anzahl der Engel Gottes.

Welche Version war die »ursprünglichste«? Die »harmloseste« Version ist sicherlich die von MT / Sam. »Harmlos« ist auch die Version des Codex Vaticanus (wenn auch stilistisch unschön: Am Ende des Satzes wäre die Formulierung »[Anzahl] seiner Engel« glatter gewesen). Die anderen beiden Versionen setzen polytheistische 459 Siehe hierzu im Teil II: FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.3. 460 Es ist m. E. wahrscheinlich, dass am Ende dieser Komposition Deuteronomium eine (knappe) Erzählung vom Tod des Mose stand, vgl. z. B. auch FREVEL 2000, S. 227 f. Dies ist in der Komposition selbst angelegt, und zwar insbesondere durch Dtn 1,37; 3,23–29; 31,1 f. Nach OTTO 2000, S. 216 f., Anm. 268, sind die genannten Stellen freilich alle »postdtr«. 461 Vgl. DJD XIV, S. 90. 462 Entspricht entweder ‫ בני אלהים‬oder ‫בני אל‬.

G. Epilog: Moses Segen und Tod

191

Verhältnisse voraus: Gerechnet wird entweder mit mehreren Göttern, die Kinder haben, oder mit Kindern des Gottes Israels (demnach wären die Verfasser mindestens noch von der Existenz einer Göttin ausgegangen). Da die Annahme, dass eine inhaltlich »harmlose« Aussage in eine polytheistische Aussage geändert wurde, die unwahrscheinlichere ist, muss geschlossen werden, dass Dtn 32,8b ursprünglich eine »polytheistische« Aussage enthielt (nach der Regel der Textkritik: lectio difficilior praeferenda est):463 Sie wurde sowohl von dem Schreiber der Vorlage für den Codex Vaticanus als auch von demjenigen der Vorlage für den MT / Sam theologisch »entschärft« (nicht aber von dem Schreiber der Hs 4QDeutj!).464

G. Epilog: Moses Segen über Israel und die Erzählung über Moses Tod (32,48–34,12) 1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 2.3

Synchrone Textbetrachtungen Letzte Befehle Gottes an Mose (32,48–52) Moses Segen über die Stämme Israels (33,1–29) Moses Tod und die abschließende Würdigung des Propheten (34,1–12) Diachrone Textbetrachtungen Der Epilog als Abschluss des Pentateuchs: »Pentateuchredaktion« Das Ende der »Priestergrundschrift« im Epilog? Hexateuchredaktion im Epilog?

Die Einheit beginnt mit einer JHWH-Rede, nämlich mit Befehlen JHWHs an Mose, auf den Berg Nebo zu steigen, das verheißene Land zu sehen und zu sterben (Dtn 32,48–52). Erzählt wird im Anschluss, dass Mose vor seinem Tod die Stämme Israels segnet (Dtn 33). Mit dem Segen beschließt Mose im Deuteronomium sein Reden. Dtn 34 enthält den Bericht über Moses Ausführung der Befehle JHWHs (Dtn 34,1–9) sowie eine letzte Würdigung der überragenden Bedeutung des Mose (Dtn 34,10–12).

463 Vgl. z. B. WEVERS 1995, S. 513; HIMBAZA 2002; WYATT 2007; WHITE CRAWFORD u. a. 2008, S. 357. Vgl. noch V. 43 (auch in diesem Vers standen ursprünglich vermutlich polytheistische Aussagen) und hierzu ROFÉ 2000. 464 Stand im Text ursprünglich ‫בני אל‬, »then it is easy to suppose, that the Vorlage of M SP, wishing to change a polytheistic text to monotheistic orthodoxy, inserted the consonants ‫ ישׂר‬before ‫אל‬, thus creating the reading ‫« בני ישׂראל‬, WHITE CRAWFORD u. a. 2008, S. 357.

192

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

1.

Synchrone Textbetrachtungen

1.1

Letzte Befehle Gottes an Mose (32,48–52)

Nach Dtn 32,48–52 gebietet Gott »an eben diesem Tag« (‫ )בעצם היום הזה‬Mose, auf den Berg Nebo zu steigen, von dort aus das Land zu sehen und dort zu sterben. Mit »eben diesem Tag« ist das zuletzt in Dtn 32,46 erwähnte dtn »Heute« (‫)היום‬ gemeint, also konkret der Tag, an dem in der Welt des Deuteronomiums die Handlung spielt, nämlich der in Dtn 1,3 erwähnte erste Tag des elften Monates im vierzigsten Jahr (nach dem Exodus aus Ägypten). Nachdem in Dtn 31,14 Gott Mose mitgeteilt hat, dass sich der Zeitpunkt seines Todes nähert (vgl. auch Dtn 31,16.29), wird nunmehr definitiv klar, dass Mose »heute« noch sterben muss. Die in Dtn 32,48–52 erzählten Befehle Gottes sind summa summarum in der Welt des Deuteronomiums eine Wiederholung von bereits früher Gesagtem; sie stimmen mit dem überein, was die AdressatInnen von Dtn 3,27 her kennen. Insofern sind die innerdtn Bezüge stimmig. Doch abgesehen davon ist irritierend, dass in Dtn 32,48– 52 zwei Punkte stehen, die im bisherigen Buch Deuteronomium anders dargestellt wurden: – In Dtn 32,51 wird in der Gottesrede als Grund für den Tod Moses und Aarons jenseits des verheißenen Landes eine Sünde Moses und Aarons an den Wassern von Meribat Kadesch angegeben (vgl. Num 20,1–13). Dtn 32,51 widerspricht damit der Perspektive der ersten Moserede (vgl. Dtn 1,37; 3,23–27; 4,21): Hier wird der Grund in den Ereignissen in Kadesch Barnea gesehen.465 – Nach Dtn 32,50b wird von Aarons Tod auf dem Berg Hor erzählt (vgl. Num 20,23–29). Nach Dtn 10,6 f. hingegen wird von Aarons Tod und seinem Begräbnis in Mosera berichtet. Die genannten, der bisherigen dtn Sicht widersprechenden Informationen finden sich konzentriert noch einmal in der Gottesrede an Mose in Num 27,12–14. In jenen Versen sind noch weitere Details enthalten, die auch in Dtn 32,48–52 begegnen, wie etwa die Formulierung »zu seinem Volk versammeln«.

1.2

Moses Segen über die Stämme Israels (33,1–29)

Dtn 33,1 ist die vierte und letzte Hauptüberschrift im Deuteronomium: Und dies ist der Segen, mit dem Mose, der Mann Gottes, die Kinder Israels segnete vor seinem Tod.

465 Zu einer interessanten Deutung der Unterschiede von Moses und Gottes Perspektiven bezüglich der Gründe, warum Mose nicht in das Land kommen darf, siehe SONNET 1997, S. 188–192.

G. Epilog: Moses Segen und Tod

193

Der Segen kommt im Buch unerwartet: Nach Dtn 32,45 (MT) hat Mose aufgehört, »diese Worte« (‫ )הדברים האלה‬zu »ganz Israel« zu reden. Der Segen gehört demnach nicht zu den (zu Israel gesprochenen) »Worten« (‫)דברים‬. Dazu passt, dass nach der Hauptüberschrift in Dtn 33,1 im Unterschied zu den anderen drei Hauptüberschriften keine Redeeinleitung des Bucherzählers dergestalt folgt, dass Mose zu Israel spricht (vgl. Dtn 1,1; 5,1a; 29,1a). Es wird nur gesagt, dass Mose segnet (vgl. Dtn 33,2). Der Segen ist also als einziger von dem dtn Mose gesprochener Text nach einer Hauptüberschrift keine Rede an Israel, sondern ein »Sonderfall«. Die Anwesenheit des Volkes beim Segen wird nicht berichtet, ist aber doch wohl vorauszusetzen: Mose ist hier nicht mehr Lehrer, Prophet oder strenger Mahner, sondern er hat quasi die Rolle des »Patriarchen« inne, der kurz vor seinem Tod seine »Kinder« segnet (vgl. Gen 49). In sprachlicher Hinsicht ist der poetische Segenstext Dtn 33,2b–29 ausgesprochen schwierig (schon ein Vergleich verschiedener deutscher Übersetzungen zeigt erhebliche Abweichungen). Im Folgenden sollen nur wenige Punkte, das Verhältnis des Segenstextes zu anderen Texten im Dtn betreffend, angeführt werden.466 – Im MT fehlt der Segen über den Stamm Simon (er müsste von der Geographie467 her nach dem Stamm Ruben [V. 6] kommen, in einigen Hss der LXX wird in V. 6b tatsächlich »Simon« erwähnt).468 Das Fehlen ist in deuteronomischer Perspektive umso auffälliger, da Simon als Stamm in Dtn 27,13 mit den anderen Stämmen explizit genannt wird. – Der Segenstext enthält keine deuteronomischen Sprachklischees und es fehlen spezifische deuteronomische Themen wie Väterverheißung, Exodus, Erwählung, Sinaigesetzgebung und Bund. – Das Schlüsselwort »Tora« wird in V. 4.10 anders als sonst im Dtn gebraucht. Eingegangen sei kurz auf V. 4.469 Er ist einer der wenigen Verse im Segenstext, die aufgrund des verwendeten Vokabulars bei oberflächlichem Lesen zunächst deuteronomisch »klingen«: Eine Tora hat Mose uns geboten, ein Erbbesitz für die Gemeinde Jakobs.

Doch ergeben sich bei genauer Prüfung zwei Unterschiede: Erstens gebietet nach gängigem dtn Sprachgebrauch Mose Israel Gesetze, er legt die Tora vor, aber es wird abgesehen von Dtn 33,4 an keiner Stelle gesagt, dass Mose die Tora gebietet.470 466 Vgl. zum Mosesegen grundlegend BEYERLE 1997. 467 Zu den Kriterien der Anordnung der Stämme im Mosesegen (geographische Lage und Zuordnung der Stammväter zu ihren Müttern nach der Reihenfolge ihrer Geburt) vgl. z. B. TIGAY 1996, S. 521 f. 468 Die Gründe für das Fehlen Simons im MT sind m. E. bislang nicht befriedigend geklärt worden. 469 Zur Verwendung von Tora in V. 10 siehe FINSTERBUSCH 2011a. 470 Dtn 32,46 bildet keine Ausnahme (der Vers wird freilich häufig falsch übersetzt, vgl. z. B. die ZÜ z. St.: »[…] gebietet sie [die Worte der Tora] euren Kindern, damit sie alle Worte dieser Weisung halten …«). Die Infinitive ‫ לשׁמר לעשׂות‬sind aber an das Verb ‫ צוה‬pi. anzuschließen: »die Worte, die ihr ihnen, (d. h.) euren Kindern, gebieten sollt sorgfältig zu tun«. Vgl. dazu FINSTERBUSCH 2005, S. 301 f.

194

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Zweitens ist das Nomen Tora nur an dieser Stelle im Deuteronomium nicht determiniert.

1.3

Moses Tod und die abschließende Würdigung des Propheten (34,1–12)

Die narrative Fortsetzung von Dtn 32,48–52 ist Dtn 34,1–6.471 Mose handelt genau so, wie Gott ihm geboten hat: Er steigt auf den Berg, sieht das Land und stirbt. Interessant sind einige Details der Erzählung: In V. 4 wird im Zusammenhang der Schau des Landes der Väterschwur JHWHs erwähnt – hierbei griffen die Verfasser und Redaktoren vor allem Formulierungen aus Dtn 1,8 auf und »zitierten« zudem JHWHs Versprechen an die Väter (vgl. Gen 12,7). Damit unterstrichen sie eindrücklich die Gültigkeit dieses Schwurs. V. 5 relativiert etwas die in Dtn 32,51 erwähnte Schuld Moses: Mose ist (aufs Ganze gesehen) »Knecht Gottes« (vgl. auch Dtn 33,1: »Mann Gottes«), und als solcher stirbt er gehorsam »nach dem Mund / Befehl Gottes« (‫)על פי יהוה‬. Nach V. 6 wird Mose »im Tal im Land Moab gegenüber von Bet Peor« begraben – in Bezug auf diese Ortsangaben bezogen sich die Verfasser und Redaktoren auf Dtn 1,5; 3,29 und 4,46. Begraben wird Mose von JHWH selbst, diese anthropomorphe Gottesvorstellung ist bemerkenswert. V. 7–9 geben einige Zusatzinformationen im Zusammenhang mit Moses Tod: Nach V. 7 war Mose mit seinen 120 Jahren noch bei bester Gesundheit. Dies steht zwar in gewisser Spannung zu Dtn 31,2, wonach Mose sich mit seinen 120 Jahren zumindest zur Versehung von militärischen Aufgaben nicht mehr in der Lage sieht,472 betont aber um so mehr den in V. 5 erwähnten Aspekt von Moses Gehorsam in Bezug auf sein Sterben (es war kein »natürlicher« Tod, sondern ein gehorsames Sterben nach Gottes Befehl!).473 Nach V. 8 wird Mose von den IsraelitInnen dreißig Tage lang beweint. Erwähnt wird eine so lange Trauerzeit in der Hebräischen Bibel nur noch bei Aarons Tod in Num 20,29. Aaron wird im dtn Epilog explizit in Dtn 32,50 erwähnt: Mose muss auf einem Berg sterben »wie Aaron«. Dies sind Indizien dafür, dass Mose und der Hohepriester Aaron von den Verfassern und Redaktoren des Epilogs gewissermaßen als ebenbürtig angesehen werden. Dies ist nicht so in Bezug auf Mose und Josua. In V. 9 ist eine deutliche Abwertung Josuas im Vergleich mit Mose nicht zu verkennen.474 Diese wird unter anderem mit Hilfe der Motive Geist und Handauflegung bei Moses Amtsübertragung an Josua ausgedrückt (die sich in entsprechenden Stellen in vorausgehenden dtn Texten nicht finden): Nach V. 9a ist Josua zwar »voll Geist an Weisheit«, aber nur, weil 471 472 473 474

Siehe auch LUX 1987, S. 401 f. »Ausziehen« und »Kommen« meint »Krieg führen«, vgl. z. B. SONNET 2001, S. 354. Vgl. auch SONNET 2001, S. 368 f. Vgl. auch OTTO 2000, S. 228.

G. Epilog: Moses Segen und Tod

195

Mose ihm die Hände aufgelegt hat (zum Vergleich: nach Num 27,18 hat Josua »Geist« bereits vor seiner Handauflegung durch Mose475). Nach V. 9b hören die Kinder Israels auf Josua und tun (warum nun eigentlich?) – sie tun allerdings das, was JHWH Mose geboten hat. Dies ist eine klare Anspielung auf Dtn 1:476 Dieses Mal wird, so die implizite Information für die Adressatenschaft, die Landnahme erfolgreich sein, und zwar trotz des Todes von Mose, wegen der Verlagerung seiner Autorität auf Josua. Die Erwähnung von Josua in V. 9 weist die AdressatInnen also einerseits darauf hin, dass die »Story« im Deuteronomium eine Fortsetzung hat (nämlich im Buch Josua). V. 9 zeigt ihnen aber andererseits auch, dass die Hauptperson in der Fortsetzung dieser Geschichte, Josua, mit Mose nicht gleichrangig ist. Im Zentrum der abschließenden Würdigung des Mose in V. 10–12 steht seine Einzigartigkeit als Prophet. V. 10a (»und nicht stand ein Prophet in Israel auf wie Mose«) verrät die Perspektive der Verfasser und Redaktoren: Der Vergleich macht nur Sinn, wenn sie auf die »Zeit der Propheten Israels« bereits zurückblicken konnten. Die Begründung der Einzigartigkeit Moses ist in V. 10b zu lesen: JHWH hat Mose »von Angesicht zu Angesicht erkannt«. Im Deuteronomium findet man darüber keine näheren Informationen, wohl aber in Ex 33,11. In Dtn 34,11 f. verweisen die Verfasser und Redaktoren noch auf die außerordentlichen Zeichen und Wunder, die Mose im Auftrag JHWHs in Ägypten getan hat. Dies fällt im dtn Kontext auf: In dtn Texten ist sonst stets JHWH derjenige, der Zeichen und Wunder vollbringt (vgl. z. B. Dtn 29,1 f.). Dass Mose Prophet ist, wird auch im Prophetengesetz des Deuteronomiums festgehalten (Dtn 18,15.18). Allerdings wird dort gerade nicht gesagt, dass er diesbezüglich einzigartig ist (vgl. Dtn 18,18: »einen Propheten wie dich will ich erstehen lassen«). Aus der innerdeuteronomischen Perspektive ist im Hinblick auf 34,10–12 nicht zuletzt auch merkwürdig, warum am Ende ausgerechnet Mose in seiner Funktion als Prophet (und nicht z. B. in seiner Funktion als Gesetzeslehrer) so großes Gewicht bekommt.

475 Von der Handauflegung im Zusammenhang mit einer Amtsübertragung ist im Pentateuch nur in Num 27 und in Dtn 34 die Rede. Mit PERLITT 1988, S. 138, ist Dtn 34,9 aber »weder eine Fortführung oder Wiederaufnahme noch auch ein Extrakt aus Num 27,15–23 […]; und es wäre ja auch ein wunderlicher Extrakt, der sich auf die eine Phrase der Handauflegung beschränkt und beinahe alles verschweigt, worin der ›gebende‹ Text sein Kolorit und seine Intention hat. Natürlich ist es ebenso unwahrscheinlich, dass Num 27,15–23 (unter Wegfall der ›Weisheit‹) aus der bloßen Handauflegungsformel herausgesponnen ist.« 476 Vgl. Dtn 1,41 (Befehl Gottes) und 1,43 (Hören auf Mose). Diesen Bezug verkennt SCHMITT 2004, S. 189 f. Schmitt nimmt eine Anspielung auf Ex 6,9 an, doch dies ist unwahrscheinlich, da in Ex 6,2– 9 nicht von einem »Befehl Gottes« die Rede ist.

196

2.

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

Diachrone Textbetrachtungen

Das Verhältnis der Texte im Epilog Dtn 32,48–34,12 zu Texten im vorausgehenden Buch Deuteronomium, zu den vorausgehenden vier Büchern (Gen – Num) und zum folgenden Buch Josua ist, wie bereits die synchronen Textbetrachtungen gezeigt haben, ausgesprochen komplex. Insofern kann es nicht erstaunen, dass in der exegetischen Literatur eine Fülle von Hypothesen zum Epilog zu finden ist, die nicht zuletzt zentrale Fragen des Werdens von Pentateuch bzw. Hexateuch berühren. Im Folgenden kann nur auf einige wesentliche Punkte eingegangen werden.

2.1

Der Epilog als Abschluss des Pentateuchs: »Pentateuchredaktion«

Bei den synchronen Textbetrachtungen hat sich an einigen Stellen gezeigt, dass im Epilog Perspektiven enthalten sind, die die Welt des Deuteronomiums »übersteigen«. Ein Teil des Befundes lässt sich recht gut mit Hilfe der Hypothese erklären, dass eine »Pentateuchredaktion« einen ihr vorliegenden Schluss des Buches Deuteronomium477 als Epilog des Pentateuchs ausgestaltet hat: – Dass der (mit Sicherheit aus nichtdeuteronomischen Kreisen stammende) Segenstext erst nachträglich zu der (exilischen) Komposition Dtn hinzugefügt wurde, deckt sich nicht zuletzt mit der innerdtn Sicht, nach der er ein Zusatz zu den »Worten« an Israel (‫ )דברים‬ist. Dafür, dass eine »Pentateuchredaktion« für die Hinzufügung des Segens verantwortlich war, spricht folgende Beobachtung:478 Am Ende der Genesis segnet Jakob seine Söhne, am Ende des Deuteronomiums Mose die aus diesen Söhnen hervorgegangenen Stämme. Dieser Bezug auf der Pentateuchebene ist so auffällig, dass er als intentionale literarische Gestaltung beurteilt werden muss. Durch die Platzierung der Segenstexte ergibt sich nicht nur eine Art Rahmung innerhalb des Pentateuchs. Durch diesen doppelten Segen wird auch eine gewichtige theologische Aussage getroffen: Außerhalb des verheißenen Landes wird »Israel« zweimal von zentralen Figuren seiner Gründungsgeschichte gesegnet und ist damit für die Zukunft bestens gerüstet. – Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat eine »Pentateuchredaktion« Dtn 34,10–12 verfasst.479 Die Intention dieser »Pentateuchredaktion« in diesen Versen mit der auffälligen Betonung der Einzigartigkeit Moses als Prophet liegt auf der Hand: Sie konnte damit deutlich machen, dass »Mose« (und damit der 477 Siehe hierzu die Überlegungen in Teil III. F. MOSES LETZTE WORTE, 2.2. 478 Vgl. z. B. auch LEUCHTER 2007b, S. 300; OTTO 2000, S. 189, Anm. 154. 479 Vgl. OTTO 2000, S. 228–233; RÖMER / BRETTLER 2000, S. 405–407; PETERSEN 2006, S. 316.324; SCHMID 2007b. Nach SCHMITT 2004, S. 182, ist in Dtn 34,10–12 nicht nur der Pentateuch im Blick, denn auch in Jos 24,17 würde JHWH »Zeichen« gegen Israels Feinde wirken. Schmitt übersieht, dass die Perspektive der Verfasser und Redaktoren in Dtn 34,10–12 ausschließlich das vergangene Leben des Mose ist.

G. Epilog: Moses Segen und Tod

197

mosaische Pentateuch) höheres Gewicht hat als die autoritativen Schriften der »Propheten« (also als »Josua-Maleachi« [vgl. den Aufriss des Tanach]). – Zu prüfen ist m. E., ob nicht auch die Gestaltung von Dtn 32,48–52 und Dtn 34,1–9 überwiegend auf das Konto einer »Pentateuchredaktion« geht. Dies kann in diesem Rahmen nicht geschehen, aber es seien wenigstens einige Beobachtungen zusammengestellt, die in diese Richtung denken lassen: Die Verfasser und Redaktoren verwandten mehrfach nicht-deuteronomische Motive und Inhalte (wie etwa die Schuld des Mose in Meribat Kadesch, Dtn 32,51), was sich als bewusste Einblendung »überdeuteronomischer« Perspektiven (oder als Überblendung deuteronomischer Perspektiven) erklären lässt – vielleicht um den AdressatInnen die Pentateuchperspektive dieser Schlusstexte (und damit des Deuteronomiums insgesamt) deutlich zu machen. Die Verfasser und Redaktoren sympathisierten vor allem mit Mose und Aaron (trotz seiner spezifischen Schuld bleibt Mose »Knecht Gottes« und vorbildlich gehorsam bis hin zu seinem Sterben); nicht wirklich zugetan waren sie Josua (er steht im Schatten des Mose). Prägend sind zum einen die Gewissheit, dass JHWH seinen alten Schwur in Bezug auf das Land nunmehr einlösen wird (Dtn 34,4), und zum anderen die Gewissheit, dass der Landnahme dieses Mal seitens Israels nichts entgegen steht (Dtn 34,9). Insofern ist das Ende ein »Happy End«. Die Geschichte Israels geht zwar weiter (mit »Josua«), aber da ihr Ausgang in Bezug auf das Land (für die Verfasser und Redaktoren sowie für die Adressatenschaft) feststeht, kann und soll sich die Adressatenschaft getrost auf »Mose« – auf den Pentateuch – konzentrieren.

2.2

Das Ende der »Priestergrundschrift« im Epilog?

Besonders umstritten ist in der exegetischen Literatur, ob sich in Dtn 34,48–52 und in 34,1.7–9 die ursprünglichen (Schluss-)Teile der sog. »Priestergrundschrift« (PG) nachweisen lassen, also ob die (mit dem ersten Schöpfungsbericht in Gen 1 beginnende) »Priestergrundschrift« mit dem Thema Tod des Mose endete (und nicht, wie mehrfach angenommen, mit der Errichtung des Heiligtums am Sinai und Gottes Einzug in das Heiligtum, Ex 40).480 In einem berühmt gewordenen Aufsatz bestritt L. Perlitt 1988 energisch einen bis zu diesem Zeitpunkt fast hundert Jahre lang andauernden Konsens in Bezug auf priesterschriftliche Textteile in Dtn 32,48–52 und 34,1.7–9. Perlitt hat ausführlich dargelegt, dass anhand der wenigen spezifischen Termini, die (vor allem, aber nicht nur) in der »Priester(grund)schrift« verwendet werden, der Nachweis von priesterschriftlichem Einfluss in den besagten Versen nicht geführt werden kann.481 Ch. Frevel hat versucht, gegen Perlitt zu begründen, warum davon ausgegangen 480 Eine gute Einführung in die Thematik »Priestergrundschrift« bietet KRATZ 2000, S. 105–107.230–233. 481 PERLITT 1988.

198

III. Synchrone und diachrone Textbetrachtungen

werden kann, dass die »Priestergrundschrift« ursprünglich in Dtn 34 endete.482 Frevel hielt (ähnlich wie Perlitt) eine Zuweisung einzelner Verse und Worte zu spezifischen Redaktionen in Dtn 34,1–9 für nicht möglich.483 Nach Frevel ist vielmehr in eine deuteronomistische Erzählung vom Tod des Mose in Dtn 34,1–8* der Abschluss von PG so geschickt integriert worden, dass PG nicht mehr mit Hilfe literarkritischer Methodik rekonstruiert werden kann. Für Frevel war entscheidend, dass in der PG das Thema Land die zentrale Rolle spielt und dass also ein Bogen von Gen 9,1–17; 17,1–8; Ex 6,6–8; 29,43–46 zu Dtn 34 führen muss, der auf die Erfüllung der Landverheißung zustrebt. Es bleibt freilich die Schwierigkeit, dass erst im Buch Josua und nicht schon in Dtn 34 die Erfüllung der Landverheißung explizit vermeldet wird.

2.3

»Hexateuchredaktion« im Epilog?

Nach der Meinung einiger Exegeten gehen Teile des Epilogs des Deuteronomiums auf das Konto einer (nachpriesterschriftlichen) »Hexateuchredaktion« (sei es, dass diese Redaktion Abschnitte verfasste, sei es, dass sie vorliegenden dtn Text ergänzt hat).484 Diese Hypothese gründet unter anderem auf Beobachtungen, dass im Epilog des Deuteronomiums (insbesondere in Dtn 32,48–52 und Dtn 34,1–9) Verbindungslinien zum Buch Josua bestehen. Beispiele sind: – Die Landthematik: In Dtn 32,48–52; 34,1–6 wird das verheißene »Land« (‫)ארץ‬ fünfmal (!) erwähnt; der Landschwursatz in Dtn 34,4 lässt sich als Vorausverweis auf Jos 24,13 verstehen, wo von der Erfüllung der verheißenen Gabe des Landes rückblickend berichtet wird. – Die Ortsangabe »gegenüber von Jericho« (‫ )על פני ירחו‬in Dtn 32,49 und 34,1: Diese (innerdeuteronomisch »überflüssige«) Ortsangabe lässt sich als Ergänzung verstehen mit dem Ziel, das Ende des Deuteronomiums mit dem Buch Josua (im Hinblick auf die »Jericho-Kapitel« zu Beginn des Buches) zu verbinden. Einigkeit über den Umfang der Hexateuchredaktion im Epilog des Deuteronomiums besteht in der exegetischen Literatur nicht, ebenso wenig wie über die Intention dieser Redaktion. 482 FREVEL 2000, S. 234 ff. 483 FREVEL 2000, S. 337. 484 Nach OTTO 2000, S. 211–233, geht auf das Konto dieser Redaktion Dtn 32,48–52 und 34,1–8* (ohne V. 7); nach RÖMER / BRETTLER 2000, S. 407 f.416, hingegen Dtn 34,1*.7–9. Anders als Otto gingen Römer und Brettler von der Existenz eines DtrH und eines Hexateuchs aus (zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte des Alten Israel): »Recently, however, Noth’s theory has come under heavy attack, and it has become fashionable to deny the existence of a DtrH covering the books from Deuteronomy to Kings, whose first or second edition offers a comprehensive interpretation of the fall of Jerusalem and the temple. We do not share this current revisionism and believe that the DtrH remains a useful construct. Yet we simultaneously believe in the existence of a Hexateuch. Deuteronomy 34 and Josua 24 play a key role in understanding this seemingly contradictory position«, a. a. O., S. 402.

IV.

1. 2.

Synchrone Betrachtungen der dtn Texte auf der Ebene des Pentateuchs Die dtn Tora als Teiltext der »Sinai-Tora« Sinaibund und Moabbund oder: das dtn Gesetz neben dem Bundesbuch

Vermutlich in persischer Zeit wurde (so die mehrheitlich in der Exegese vertretene These) die ursprünglich eigenständige Komposition Deuteronomium zum »fünften Buch Mose«. Dabei wurde sie literarisch durch die »Pentateuchredaktion« an einigen (m. E. eher wenigen) Stellen an den neuen Kontext angepasst bzw. auf den neuen Kontext abgestimmt, z. B. durch die Hinzufügung des Segens Mose über die Stämme in Dtn 33 (als Pendant zum Segen Jakobs über seine Söhne in Gen 49).1 Durch die Zusammenstellung von deuteronomischen und tetrateuchischen Texten entstanden auf der Pentateuchebene Doppelüberlieferungen, z. B. bezüglich der Ereignisse in Kadesch Barnea: Diese Ereignisse finden sich nunmehr im Rahmen einer Erzählung des »Bucherzählers« in Num 13 f. und im Rahmen des Rückblicks des Mose auf diese Ereignisse in Dtn 1, wobei Widersprüche in den Texten von der »Pentateuchredaktion« interessanterweise nicht ausgeglichen wurden. Schließlich bekamen einige Aussagen im »fünften Buch Mose« synchron auf der Pentateuchebene gelesen eine andere Bedeutung, insbesondere einige Aussagen zu Tora und Bund. In Bezug auf die rechtshermeneutischen Implikationen sind diese Bedeutungsverschiebungen kaum zu überschätzen. Sie sollen im Folgenden anhand einiger signifikanter Beispiele aufgezeigt werden.

1.

Die dtn Tora als Teiltext der »Sinai-Tora«

Auf der Ebene des Deuteronomiums bevor es Teil des Pentateuchs wurde (also auf der Ebene von Dtn 1,1–32,47*2) besteht »die Tora« (‫)התורה‬, wie der Adressatenschaft durch gezielt eingesetzte sprachliche Signale gezeigt wurde (z. B. durch die Überschrift Dtn 4,44 ‫» וזאת התורה‬und dies ist die Tora«), aus bestimmten dtn Teiltexten, nämlich Dtn 5,1b–26,16, Segen und Fluch in Dtn 28 und dem Lied in Dtn 32.3 »Dieser Tora« (‫ )התורה הזאת‬verleiht der dtn Mose Rechtskraft (Dtn 1,5): 1 Siehe hierzu im Teil III. G. EPILOG, 2.1. 2 Also des Deuteronomiums ohne die Ergänzungen und Bearbeitungen durch eine »Pentateuchredaktion«, siehe hierzu z. B. im Teil V. ZUSAMMENFASSUNG, 2. 3 Vgl. z. B. SONNET 1997, S. 252–259.

200

IV. Synchrone Betrachtungen auf der Ebene des Pentateuchs

nach ihrer Verortung in Raum und Zeit und der Konstituierung Israels als Lerngemeinschaft (Dtn 1,6–4,40) durch das Vorlegen ihrer Teiltexte, durch einen Bundesschluss auf ihrer Grundlage (Dtn 28,69–30,20), durch ihre Verschriftlichung (Dtn 31,9.24) und schließlich durch die Bestimmung des Aufbewahrungsortes der Torarolle (neben der Lade mit den Bundestafeln, Dtn 31,26). Bezüglich der Tora wird noch erzählt, dass der dtn Mose verschiedene Anweisungen zur Sicherung ihrer Gültigkeit (bzw. zur Sicherung der Gültigkeit ihres Herzstücks, des dtn Gesetzes) als »Landesgesetz« und ihrer generationenübergreifenden Präsenz im Land gegeben hat (z. B. Schreiben ihrer Worte auf Altarsteine beim Durchzug durch den Jordan: Dtn 27,8; öffentliches Vorlesen und Lernen alle sieben Jahre beim Laubhüttenfest in Jerusalem: Dtn 31,12). Eine Pentateuchleserschaft wird all dies im Licht von Ex 24,12 verstehen, der einzigen Stelle im Tetrateuch, an der »Tora« als Bezeichnung für eine Gesetzessammlung (und nicht für einzelne Gesetze oder für einen kleinen Komplex einzelner Gesetze) verwendet wird. Der grammatisch ausgesprochen schwierige Vers ist m. E. wie folgt wiederzugeben: JHWH sprach zu Mose: Steig herauf zu mir auf den Berg und bleib hier, damit ich dir die Steintafeln gebe, und die Tora und (zwar genauer) das Gebotene (i. S. v. die Einzelgesetzgebung), die (i. e. die Steintafeln) ich beschrieben habe, dass man sie (i. e. die Tora und das Gebotene) weist.

Was ist hier unter »Tora« zu verstehen? M. E. ist G. Braulik zuzustimmen, dass hier weder das Bundesbuch (das Mose vor dem erwähnten Aufstieg auf den Berg Israel promulgierte und verschriftlichte, Ex 24,7) noch der Dekalog (für den im Pentateuch kein besonderer »Weisungsauftrag« gegeben wird) gemeint sind.4 Gemeint sein müssen Gesetzestexte, die Mose »auf dem Berg« von JHWH mitgeteilt wurden zwecks Promulgation und die in (naher und ferner) Zukunft ausdrücklich Grundlage für »Weisung« (‫ ירה‬hif.) in Israel sein sollen (es geht hier aber gegen Braulik m. E. nicht um einen Lehrauftrag für Mose, denn Mose »weist« im Pentateuch in Bezug auf die Sinaigesetzgebung konsequent nicht5). Damit sind Kriterien für die Pentateuchleserschaft gegeben, um die Teiltexte dieser »Sinai-Tora« (dieser Ausdruck mag hier gestattet sein) identifizieren zu können. Die Pentateuchleserschaft kann (maximal) folgende Texte als Sinai-Tora identifizieren: 4 BRAULIK 2004b, S. 114.116; siehe auch FINSTERBUSCH 2011a, S. 20. 5 Mose redet, gebietet oder – speziell im Deuteronomium – lehrt (‫ למד‬pi.). Auf Pentateuchebene haben in Bezug auf die sinaitischen Gesetze »Weisungsaufträge« (‫ ירה‬hif.) die Handwerker Bezalel und Oholiab, levitische Priester und Richter sowie Levi; keine dieser Personen »lehrt« (‫ למד‬pi.). Angesichts dieses konsequenten Sprachgebrauchs ist die von BRAULIK 2004b, S. 115, sowie auch noch von OTTO 2005b, S. 282, vertretene Deutung von Ex 24,12, dass JHWH einen »Weisungsauftrag« an Mose richtete, den er dann im Deuteronomium erfüllte, unwahrscheinlich. Hätten die Verfasser und Redaktoren von Ex 24,12 auf Moses Lehre im Deuteronomium verweisen wollen, hätten sie wohl kaum derart »undeuteronomische« Terminologie verwendet, sondern »das« dtn Verb für die mosaische Lehre eingesetzt, nämlich ‫למד‬.

2. Sinaibund und Moabbund

201

– Die Anweisungen zum Bau des Heiligtums (Ex 25,1–31,17): Nach Ex 35,34 hat JHWH den Chefhandwerkern Bezalel und Oholiab die Fähigkeit zum »Weisen« gegeben. – Die Gesetze in Lev 1–27: Mose wurden diese Gesetze »auf dem Berg« gegeben (Lev 26,46; 27,34), und die aaronidischen Priester sollen sie (ganz oder zum Teil?) »weisen« (Lev 10,10 f.; 14,57). – Die dtn Toratexte, d. h. Dtn 5,1b–26,16, Segen und Fluch in Dtn 28 und wohl auch das Lied Dtn 32 (obwohl das Lied quasi als »Supplement« nicht »auf dem Berg«, sondern in Moab im Zelt der Begegnung von JHWH mitgeteilt wurde): Wie aus Dtn 17,11 und Dtn 33,10 hervorgeht, soll die Tora gewiesen werden durch die Richter und »Levi« – und dies muss die dtn Tora inkludieren. Die Pentateuchleserschaft wird also bei Lektüre von Dtn 4,8.44 mindestens Dtn 5,1b–26,16, Dtn 28 und Dtn 32 als Teiltexte der von Mose »heute« (in Moab) vorgelegten Tora identifizieren. Doch sie wird im Licht von Ex 24,12 diese »heutige Tora« als Teiltext der Sinai-Tora ansehen. Und die Pentateuchleserschaft wird einige Aussagen im »fünften Buch Mose« über »diese Tora« (‫ )התורה הזאת‬als Aussagen über die (ganze) Sinai-Tora interpretieren – und zwar alle diejenigen Aussagen, die vom Kontext her nicht exklusiv auf die »heute« in Moab gegebene dtn Tora bezogen werden müssen. Hier nur die wichtigsten Stellen: Die Aussage in Dtn 1,5, dass Mose »dieser Tora« Rechtskraft verleiht, wird die Pentateuchleserschaft von Ex 24,12 herkommend so deuten, dass Mose am Ende der Pentateucherzählung der Sinai-Tora mit allen ihren Teiltexten (also inklusive dtn Tora) Rechtskraft verleiht. Entsprechend wird für die Pentateuchleserschaft auch das Bundesdokument für den in Dtn 28,69–30,20 erzählten Bundesschluss in Moab die Sinai-Tora sein (insofern die z. B. in Dtn 30,10 erwähnte Torarolle in Pentateuchperspektive nicht auf die dtn Tora zu beschränken ist). Dtn 31,9 besagt in Pentateuchperspektive schließlich, dass Mose am Ende seines letzten Lebenstags die Sinai-Tora niedergeschrieben hat. Die mosaischen Anweisungen zur Sicherung der Geltung der Tora im Land (z. B. Dtn 27,8 und Dtn 31,12) wird die Pentateuchleserschaft ebenfalls auf die gesamte Sinai-Tora beziehen.

2.

Sinaibund und Moabbund oder: das dtn Gesetz neben dem Bundesbuch

Zentral für das Verständnis von Bund im Deuteronomium ist Dtn 28,69: Dies (sind) die Worte des Bundes, den JHWH Mose gebot zu schließen mit den Kindern Israels im Land Moab, außer dem Bund, den er (JHWH) mit ihnen am Horeb geschlossen hat.

Auf der Ebene des Deuteronomiums ist der erwähnte Bundesschluss am Horeb exklusiv mit den Dekaloggeboten zu verbinden, insofern nach Dtn 5,3 ff. der Deka-

202

IV. Synchrone Betrachtungen auf der Ebene des Pentateuchs

log das entsprechende »Bundesdokument« ist. Das Dokument für den Bund in Moab hingegen ist unstrittig die dtn Tora mit dem dtn Gesetz. Wenn die These richtig ist, dass das dtn Gesetz die universal gültigen Dekaloggebote unter den Bedingungen des Lebens im Land ausdeutet,6 dann sind in Bezug auf die inhaltlichen Kernaussagen die beiden Bundesdokumente also gleichsam identisch. Nun soll der Bundesschluss in Moab nach den dtn Verfassern und Redaktoren laut Dtn 28,69 als Ergänzung zu dem Bund am Horeb verstanden werden (‫מלבד הברית‬ »außer dem Bund [am Horeb]«). Im Hinblick auf die beiden Bundesdokumente lässt sich die Bedeutung dieser Ergänzung auf der Ebene des Deuteronomiums wie folgt bestimmen: Der Bundesschluss in Moab ist eine Art Spezifizierung des Bundesschlusses am Horeb. Die Pentateuchleserschaft wird den in Dtn 28,69 erwähnten Bund am Horeb zweifellos auf die entsprechende Erzählung in Ex 24,3–7 beziehen. Das Bundesdokument ist demnach das Bundesbuch (das in Pentateuchperspektive als Ausdeutung des Dekalogs in Ex 20 zu verstehen ist7). Als Bundesdokument des Moabbundes wird die Pentateuchleserschaft, wie oben schon erwähnt, die gesamte Sinai-Tora identifizieren (deren letzter Gesetzes-Teiltext, Dtn 12,1–26,16, m. E. ebenfalls eine Ausdeutung des Dekalogs ist). Entsprechend stellt sich das Verhältnis der beiden Bundesschlüsse nach Dtn 28,69 auf Pentateuchebene wie folgt dar: Der Bundesschluss in Moab steht neben dem Bundesschluss am Horeb / Sinai. Dabei wiederholt und bekräftigt der Bundesschluss in Moab einerseits den gesamten Inhalt des Horeb- / Sinaibundes, und zwar durch das dtn Gesetz (als Teil des Bundesdokuments in Moab), das wie das Bundesbuch die Dekaloggebote unter den Bedingungen des Landes ausdeutet. Aber andererseits, wie allein der Umfang der Sinai-Tora zeigt, geht der Moabbund inhaltlich deutlich über den Horeb- / Sinaibund hinaus. Beide Bundesdokumente werden von Mose verschriftlicht (am Sinai: Ex 24,7, und in Moab: Dtn 31,9); eine Verbindung zwischen den Dokumenten wird in der Erzählung des Pentateuchs nicht hergestellt. Über den Aufbewahrungsort des verschrifteten Bundesdokuments des Horeb- / Sinaibundes verlautet im Gegensatz zu dem Bundesdokument des Moabbundes in der Welt des Pentateuchs auffallender Weise nichts (weil es im Bundesdokument des Moabbundes als »aufgehoben« gilt?). Auch wenn man die Rechtshermeneutik im Pentateuch anders als hier vorgeschlagen bestimmt (und sich dem Entwurf von E. Otto8 oder dem von N. Lohfink9 6 Siehe hierzu oben in Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 4, die einleitenden Bemerkungen zu Dtn 12,1–26,16. 7 Siehe hierzu insbesondere SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER 2005. 8 OTTO 2007c, wies Dtn 1,5 der »Pentateuchredaktion« zu und interpretierte den Vers wie folgt: Mose legt im Deuteronomium »diese Tora« im Sinne des Bundesbuches aus. Mit anderen Worten: Die Pentateuchredaktion wollte das Deuteronomium zur mosaischen Schriftauslegung des Bundesbuches werden lassen; Mose wird im Deuteronomium zum Gesetzeslehrer (hierbei beruft sich Otto auf Dtn 4,14, siehe dazu oben z. St.). Gegen Ottos These spricht unter anderem, dass das Bundesbuch im Pentateuch nicht als »Tora« bezeichnet wird. Wie sollte eine Pentateuchleserschaft »diese Tora« in Dtn 1,5 also mit dem Bundesbuch identifizieren können?

2. Sinaibund und Moabbund

203

anschließt), so dürfte doch in einem Punkt Einigkeit herrschen: Mit Hilfe der Konstruktion der beiden Bundesschlüsse samt den entsprechenden Bundesdokumenten konnte die »Pentateuchredaktion« Gesetzestexte wie z. B. das Bundesbuch und das dtn Gesetz, die historisch betrachtet einmal in direkter Konkurrenz zueinander standen, in einen narrativen Zusammenhang bringen: Im Pentateuch steht das Altargesetz des Bundesbuches mit seiner Erlaubnis, JHWH an mehreren Orten zu verehren (JHWH erinnert seinen Namen an mehreren Orten, Ex 20,24), gleichberechtigt neben dem Altargesetz des Deuteronomiums, das die Verehrung JHWHs ausschließlich am zentralen Heiligtum erlaubt (JHWH lässt seinen Namen nur an einem Ort wohnen, Dtn 12,11). Das Beispiel der Altargesetze zeigt, soviel sei hier noch angedeutet, dass es der »Pentateuchredaktion« ganz offensichtlich darum ging, ihrer Adressatenschaft deutlich zu machen, dass normative Texte »von Anfang an« (also schon in der erzählten Welt des Pentateuchs) keine statischen Texte sind, sondern auszulegende bzw. (mehrfach und durchaus diskrepant) ausgelegte Texte.10 Dies ist mehr als bemerkenswert: Der von der Pentateuchredaktion geschaffene Pentateuch ist ein im gesamten Alten Orient einmalig »dynamisches« Dokument.

9 LOHFINK 2003a, interpretierte Dtn 1,3 dahingehend, dass Mose alles, was Gott ihm geboten hat, d. h. die Gesetze von Ex 20-Num 36, schon weitergegeben hat und im Dtn nun von Neuem vorträgt. »Zwar ist keineswegs alles im Detail ins Deuteronomium aufgenommen, vor allem sind es nicht die vielen kultischen Einzelheiten […]. Aber wenn meine Deutung des deuteronomischen Selbstverständnisses auf Pentateuchebene richtig ist, verdichtet die deuteronomische Tora doch diese ganze Welt des zu Tage getretenen göttlichen Willens zusammen mit den Inhalten der sinaitischen Bundesdokumente in einen repräsentativen und literarisch geschlossenen Gesetzeskomplex hinein. Sie bereitet die ganze Vielfalt so auf, dass sie im Moabbund von Israel in einem einzigen Akt beschworen werden kann«, a. a. O., S. 212. Gegen diese rechtshermeneutische These spricht vor allem die Perspektive von Dtn 5: Das dtn Gesetz ist demnach als »eigenständiges Gesetz« (und nicht als Zusammenfassung anderer Gesetze) am Sinai von JHWH Mose zur Promulgation gegeben worden. Dtn 1,3 ist m. E. wie folgt zu verstehen: Mose redet »Neues« gemäß allem, was ihm JHWH (am Sinai bzw. in Moab im Zelt, vgl. Dtn 31,14) offenbart hat. 10 Vgl. hierzu insbesondere LEVINSON 2008, S. 19 ff.

V. 1. 2. 2.1 2.2 3.

Zusammenfassung: Struktur, Profil, Botschaft Die Struktur des Buches Deuteronomium Das Profil des exilischen Deuteronomiums Das Profil des dtn Gesetzes Das Profil der exilischen Gesamtkomposition Die Botschaft des exilischen Deuteronomiums

In diesem Schlusskapitel soll zunächst eine knappe Übersicht über die Gesamtstruktur des Buches Deuteronomium 1,1–34,12 auf der synchronen Ebene gegeben werden (1.). Es folgt (2.) die Herausarbeitung des Profils des exilischen Deuteronomiums (Dtn 1,1–31,13* + 32,45*): Nach einer Übersicht über die exilische Komposition Deuteronomium, wie sie in der vorliegenden Einführung vertreten wurde, werden die wichtigsten Merkmale des dtn Gesetzes (2.1) sowie die Themen, die der Komposition ihr spezifisches Gepräge verleihen, zusammengestellt (2.2). Abschließend sollen einige Überlegungen zur Bedeutung des exilischen Deuteronomiums angestellt werden und gezeigt werden, dass es nicht als Erbauungsliteratur oder als Gesetzbuch, sondern als Identitätsschrift gemeint war (3).

1.

Die Struktur des Buches Deuteronomium

Die Textbetrachtungen haben ergeben, dass sich das Buch Deuteronomium (Dtn 1,1–34,12) auf der synchronen Ebene in sieben Blöcke oder Sinneinheiten unterteilen lässt (s. die Übersicht auf der nächsten Seite). Kurz sollen die wichtigsten Unterschiede zu anderen Gliederungsentwürfen benannt werden:1 – Dtn 4,41–43 wird als thematisch eigenständiger narrativer Block ausgewiesen (und nicht der ersten Rede des dtn Mose zugeschlagen). – Dtn 26,17–28,68 wird als Sinneinheit verstanden (Dtn 27 wird also nicht als Exkurs oder Einschub gesehen, der Dtn 28 von Dtn 26 künstlich trennt). – Die »Worte des Moab-Bundes« reichen m. E. von Dtn 28,69 bis Dtn 30,20 (und nicht bis 32,47). – Der »Epilog« besteht m. E. nicht aus Dtn 31,1–34,12, sondern Dtn 31,1–32,47 und Dtn 32,48–34,12 bilden thematisch eigenständige Einheiten. 1 Zum Vergleich siehe z. B. die Struktur- bzw. Inhaltsübersichten von DRIVER 1902, S. i-ii; TIGAY 1996, S. xii, und BRAULIK 2008a, S. 138 f.

2. Das Profil des exilischen Deuteronomiums

205

I Moses (erste) Worte: Hinführung zum Vorlegen der Tora (1,1–4,40) 1. Bucheinleitung und erste Überschrift des Bucherzählers (1,1–5) 2. Moses Rückblicke: Verzögerungen bei der Eroberung des verheißenen Landes (1,6–3,29) 3. Die Konstituierung Israels als Lerngemeinschaft (4,1–40) II Intermezzo: Die Erzählnotiz über Moses Einrichtung der Asylstädte im Ostjordanland (4,41–43) III Moses Vorlegen der Tora (4,44–26,16) 1. Überschrift des Bucherzählers (4,44–5,1a) 2. Moses Rückblick auf die Horeb-Ereignisse (5,1b–31) 3. Moses Lehre bezüglich der dtn Gesetze (6–11) 4. Moses Lehre der dtn Gesetze (12,1–26,16) IV »Bundeserklärungen«, Segen und Fluch (26,17–28,68) 1. »Bundeserklärungen« (26,17–27,10) 2. Segen und Fluch (27,11–28,68) V Moses Worte des Moab-Bundes (28,69–30,20) 1. Überschrift des Bucherzählers (28,69–29,1a) 2. Worte des Bundes (29,1b–30,20) VI Moses letzte Worte und Handlungen (31,1–32,47) 1. Beauftragung Josuas als Nachfolger Moses, Niederschrift der Tora (31,1–13) 2. Offenbarung, Niederschrift und Lehre des Lieds (31,14–32,44) 3. Schlussnotiz und Schlussparänese (32,45–47) VII Epilog: Moses Segen über Israel und die Erzählung über Moses Tod (32,48–34,12) 1. Letzte Befehle Gottes an Mose (32,48–52) 2. Moses Segen über die Stämme Israels (33,1–29) 3. Moses Tod und die abschließende Würdigung des Propheten (34,1–12)

2.

Das Profil des exilischen Deuteronomiums

Bei den synchronen Textbetrachtungen hat sich gezeigt, dass die dtn Erzählung zwar auf rhetorischer und theologischer Ebene komplex ist, dass ihr aber insgesamt gesehen (Ausnahmen gibt es, s. u.) Kohärenz nicht abgesprochen werden kann. Dies deutet m. E. darauf hin, dass sie relativ konzentriert (unter Verwendung von »nichtdeuteronomischem« Material und älteren Textbausteinen2) in ein bis zwei Generationen erstellt worden ist. Sie ist nicht das Werk »eines« Autors, denn auf der Mikroebene sind häufig noch »mehrere Hände« erkennbar, die an der Komposition gearbeitet haben (und die sich nach meinem Urteil keiner »Redaktion« zuordnen lassen, vgl. z. B. oben den »Mustertext« Dtn 13,1–123). Aufgrund vielfacher Hinweise im Text ist davon auszugehen, dass sich diese »dtn Verfasser und Redaktoren« an eine exilische Adressatenschaft richteten. 2 Siehe hierzu z. B. EXKURS I. 3 Siehe Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 4.2.2.

206

V. Zusammenfassung: Struktur, Profil, Botschaft

Die synchronen Textbetrachtungen haben auch gezeigt, dass einige Texte in so großer Spannung zu ihrem Kontext stehen, dass sie als spätere (d. h. spätexilische oder nachexilische) Bearbeitungen von vorliegendem Text und / oder als spätere Hinzufügungen aufgefasst werden müssen. Die Tabelle (siehe auch S. 35) zeigt die Struktur des exilischen Deuteronomiums und die Ergänzungen bzw. Bearbeitungen (die sich m. E. mit relativer Wahrscheinlichkeit entsprechend zeitlich einordnen lassen):4 Die exilische Komposition Deuteronomium

Ergänzungen und bearbeitete Verse (spätere Exilszeit oder frühere nachexilische Zeit)

Überschrift 1,1–5 Erste Rede 1,6–4,40* Erzählnotiz 4,41–43

4,1b

Überschrift 4,44–5,1a Torarede Dtn 5,1b–26,16*

6,18 f.; 8,1b; 11,8b.22–25; 16,20b 11,30 7,9 f.; 24,16 12,20–28; 19,8–10

5,5

»Bundeserklärungen« 26,17–27,10* Segen und Fluch 27,11–13; 28,1–68

27,2 f.4 27,14–26

27,4

Überschrift 28,69–29,1a Bundesschluss 29,1b–27; 30,15–20 Schlussvers 31,1*

29,28 30,1–10.11–14 31,1

29,20

Letzte Worte und Handlungen 31,2–13 Schlussvers 32,45* Schluss (Notiz von Moses Tod im Land Moab)?

Liedtexte 31,14–32,44 32,45.46–47

32,8b.43 Erzählungen 32,48–52 34,1–12 Segen 33

4 Siehe auch im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.3.

»Pentateuchredaktion«; nach dem 5./4. Jh. v. Chr. bearbeitete Verse

2. Das Profil des exilischen Deuteronomiums

207

Das exilische Deuteronomium (also m. E. cum grano salis Dtn 1,1–31,13* + 32,45*) hat ein besonderes Profil, das konzentriert nun noch einmal dargestellt werden soll.

2.1

Das Profil des dtn Gesetzes

Das dtn Gesetz hebt sich z. T. inhaltlich und formal von anderen Gesetzen ab (wie z. B. dem Bundesbuch oder altorientalischen Gesetzessammlungen). Im Folgenden sollen diesbezüglich die wichtigsten Punkte angeführt werden, von denen vier den Inhalt betreffen und ein Punkt sich auf die Struktur des Gesetzes bezieht: An erster Stelle ist die Konzentration des Kultes auf eine Stätte (gemeint ist Jerusalem) zu nennen. Die in der Welt des Alten Orients wohl analogielose5 »spektakuläre« Vorgabe (sei sie nun in vorexilischer oder erst in exilischer Zeit gemacht worden6), dass JHWH nur an einer einzigen Kultstätte verehrt werden soll, hatte erhebliche Konsequenzen: Die dtn Verfasser und Redaktoren mussten ganze Bereiche der Gesetzgebung entsprechend gestalten. Betroffen waren vor allem die Gesetze zu Opfer und Abgaben (Dtn 12,8–28; 26,1–15), die Gesetze zur Gerichtsbarkeit (Dtn 16,18–17,14) und der Festkalender (Dtn 16,1–17). Die Tragweite dieser »Reform« zeigt sich im Vergleich zu den entsprechenden älteren Gesetzen im Bundesbuch.7 Zweitens ist das dtn Gesetz durch eine Art Geschwisterethik ausgezeichnet:8 Nach dem Willen der dtn Verfasser und Redaktoren soll die künftige Gesellschaft eine Gesellschaft ohne (permanent) arme Menschen sein: In Not geratene »Geschwister« sollen entsprechend unterstützt werden, z. B. durch einen Schuldenerlass im Siebtjahr (Dtn 15,1–11), durch »humanen« Umgang mit einem Pfand (Dtn 24,12 f.) oder – im Fall von SchuldsklavInnen – durch ein »Startkapital« nach der Freilassung im siebten Jahr zur Ermöglichung einer neuen Existenz (Dtn 15,12–18). Die sozial schwachen Gruppen in der Gesellschaft (nämlich Witwe, Waise und Fremdling) sollen durch regelmäßige Zuwendungen in Gestalt einer »Sozialsteuer« im Drittjahr (Dtn 14,28 f.; 26,12–15) und durch besondere Zuwendungen z. B. während der Ernte (Dtn 24,19–22) und bei Festen (Dtn 16,11.14) versorgt werden. Damit verbunden sind drittens erstaunlich »demokratische« Züge des dtn Gesetzes auszumachen:9 So sollen von dem angeredeten »Du« sowohl der König (in Ein-

5 Siehe hierzu im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.1.2 und 2.1.5. 6 Siehe zu den unterschiedlichen Positionen in der exegetischen Literatur im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.1.3 und 2.1.5. 7 Siehe hierzu EXKURS I, 1., sowie insbesondere LEVINSON 1997. 8 Siehe hierzu Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 4.1.4 (insbesondere die Betrachtung von Dtn 15,1– 11), und 4.1.9 (insbesondere die Betrachtung von Dtn 24,17 f.19–22), sowie LOHFINK 1990b, und DERS. 1992a. 9 Diesfalls bestehen einige signifikante Übereinstimmungen mit griechischem Recht, vgl. insbesondere HAGEDORN 2004.

208

V. Zusammenfassung: Struktur, Profil, Botschaft

klang mit der Entscheidung JHWHs, Dtn 17,15) als auch Richter (Dtn 16,18) eingesetzt werden. Dem König sollen keine weitreichenden politischen Machtbefugnisse oder Privilegien zukommen. Für die Durchführung der Gesetze sollen Männer und Frauen als Teile der Gesellschaft verantwortlich sein (häufiger inklusiver Sprachgebrauch des »Du« / »Ihr«; zudem: Männer und Frauen müssen alle Gesetze lernen / kennen, Dtn 31,12).10 An vierter Stelle ist das auffallend »radikale« Gepräge bestimmter Gesetze anzuführen: Nach Dtn 20,15–18, einem Teil des Kriegsgesetzes (Dtn 20), sollen die sieben »kanaanäischen« Völker bei der in der erzählten dtn Welt einmaligen Situation der Inbesitznahme des Landes vernichtet (»gebannt«) werden. Dies steht in krassem Kontrast zu den ausgesprochen »humanen« Zügen der anderen Gesetze zum Thema Kriegsführung in Dtn 20 und zu der ausgesprochen fremdenfreundlichen Tendenz vieler Gesetze (z. B. in Bezug auf den »Fremdling«, der zusammen mit Waise und Witwe regelmäßig versorgt werden soll). Die Radikalität gegenüber den (historisch im 6. Jh. v. Chr. längst nicht mehr existierenden!) kanaanäischen Völkern erklärt sich wohl dadurch, dass die dtn Verfasser und Redaktoren »Kanaan« sozusagen zur Chiffre von allem gemacht haben, was Israel existentiell gefährdet hat oder gefährden könnte.11 Einen radikalen Zug bekommen mehrere Gesetze durch die genuin deuteronomischen Biarta-Formeln: Das »Böse« soll aus der Mitte Israels weggeschafft werden; die Menschen, die »Böses tun« (im Sinn von Kapitalverbrechen begehen), sollen hingerichtet werden (z. B. Dtn 13,6; 17,7; 19,19). Die dtn Verfasser und Redaktoren schätzten solches Tun offensichtlich als derartig bedrohlich für das gesamte Kollektiv ein, dass ihrer Meinung nach diesfalls nicht mit Erziehung oder Buße, sondern nur mit Eliminierung reagiert werden soll.12 Der fünfte und letzte Punkt bezieht sich auf die Struktur des dtn Gesetzes. M. E. wurde das dtn Gesetz (das nach Dtn 12,1 im Land Juda gelten soll) systematisch »von Anfang an« nach den Dekaloggeboten (deren Geltung örtlich und zeitlich im Dtn nicht eingeschränkt wurde) ausgerichtet.13 Diese These ist nicht neu,14 neu ist aber die von mir erarbeitete Art und Weise der Ausrichtung. Sie lässt sich wie folgt darstellen:

10 Siehe hierzu die einführenden Bemerkungen zu Dtn 12,1–26,16 und insbesondere BRAULIK 1998; OTTO 2002, S. 267; FINSTERBUSCH 2010b. 11 Siehe hierzu im Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 3.1.1 (insbesondere die Betrachtung von Dtn 7,1–6), und 4.1.6 (insbesondere die Betrachtung von Dtn 20,15–18). 12 Siehe hierzu im Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 4.1.3 (insbesondere die Betrachtung von Dtn 13) und 4.1.6 (insbesondere die Betrachtung von Dtn 21,18–21). 13 Hier liegt der Unterschied zum Bundesbuch, bei dem die Beziehung der Gesetze zu den Dekaloggeboten bei Weitem nicht so eindeutig auszumachen ist. 14 Vgl. den Forschungsüberblick bei FINSTERBUSCH 2011b.

2. Das Profil des exilischen Deuteronomiums

209

12,1: ÜBERSCHRIFT mit Paränese EINLEITUNGSTEXT 12,2–7: Gesetz zur Schaffung der Voraussetzung für die Konzentration auf eine Kultstätte für Opfer und Abgaben EINHEIT I: 12,8–14,21 Gesetze zum Themenbereich »(Kultische) Verehrung JHWHs im zentralen Heiligtum im Unterschied zu anderen Völkern« 2. und 1. Gebot (Motiv zu Beginn der Einheit: Ruhe vor den Feinden im Land) EINHEIT II: 14,22–16,17 Gesetze zum Themenbereich »Religiöser Zeit- und Festrhythmus in Israel« 3. Gebot EINHEIT III: 16,18–18,22 Gesetze zum Themenbereich »Zentrale Autoritäten in Israel« 4. Gebot EINHEIT IV: 19–21 Gesetze zum Themenbereich »Totschlag, Mord, Tötung« 5. Gebot / 8. Gebot integriert EINHEIT V: 22,1–23,15 Gesetze zum Themenbereich »Gefährdung und Sicherung von personaler Identität und von bestimmten Gemeinschaften« 6. Gebot EINHEIT VI: 23,16–24,7 Gesetze zum Themenbereich »Verluste von Menschen und Dingen« 7. Gebot EINHEIT VII: 24,8–25,19 Gesetze zum Themenbereich »Ausbeutung und Ausnutzung von Armen, Schwachen und Unterlegenen« 9. / 10. Gebot (Motiv am Ende der Einheit: Ruhe vor den Feinden im Land) AUSLEITUNGSTEXT 26,1–15: Gesetze zum Sprechen von liturgischen Texten im zentralen Heiligtum bei der Ausführung dtn Gesetze in Bezug auf Opfer und Abgaben 26,16: ABSCHLUSS mit Paränese

Die dtn Verfasser und Redaktoren wollten die Dekaloggebote durch die dtn Gesetze unter den Bedingungen des Lebens im Land Juda ausdeuten.15 Ausdrücklich ist noch 15 Die Zuordnung der Sinneinheiten in dem Gesetzestext Dtn 12,8–25,19 zu den Dekaloggeboten einzeln oder paarweise ist einerseits möglich durch den Einsatz von signifikanten Schlüsselworten und -wendungen, also Name JHWHs (‫ ;)שׁם יהוה‬fremden Göttern dienen (‫ ;)עבד אלהים אחרים‬sieben (‫ ;)שׁבע‬morden (‫ ;)רצח‬zeugen gegen (‫ ב‬+ ‫ )ענה‬/ Lügenzeuge (‫ ;)עד שׁקר‬stehlen (‫» ;)גנב‬Haus des Nächsten« (‫)בית רע‬. Andererseits kann sie erhoben werden aufgrund der klaren thematischen Schwerpunkte der einzelnen Einheiten, die auf den Bezug zu dem jeweiligen Dekaloggebot / den jeweiligen Dekaloggeboten hinweisen. Beispielsweise lässt sich Dtn 16,18–18,22 dem vierten Gebot (Elternehrungsgebot) zuordnen, da im Mittelpunkt der einzelnen Abschnitte der (für die dtn Verfas-

210

V. Zusammenfassung: Struktur, Profil, Botschaft

anzumerken, dass Dekaloggebote und dtn Gesetze (wie auch die anderen Gesetze im Pentateuch) im Unterschied zu altorientalischem Recht, das insbesondere ein Recht des Königs war (wie z. B. der berühmte Kodex Hammurapi), als von Gott gegeben galten (vgl. Dtn 5,22 und Dtn 5,31).

2.2

Das Profil der exilischen Gesamtkomposition Deuteronomium

Fokussiert werden sollen hier einige Punkte, die für das Profil der exilischen Gesamtkomposition Deuteronomium m. E. von besonders hoher Relevanz sind. Eingegangen werden soll also nicht weiter auf einzelne inhaltliche Besonderheiten (wie z. B. die Themen Monotheismus oder Erwählung16) oder auf die eigentümliche Formelhaftigkeit der dtn Sprache.17 – Eines der signifikanten Schlüsselworte der Komposition ist unbestreitbar das Wort »Tora« (‫ תורה‬wird im Tetrateuch im Sinn von Gesetzeskorpus mit einer Ausnahme nicht verwendet). Das Wort ist nicht gleichmäßig über die Komposition verteilt, sondern wurde an entscheidenden Stellen eingesetzt, so etwa am Anfang (Dtn 1,5) und am Ende (Dtn 31,9). In der exilischen Komposition bezeichnet Tora, wie die Überschrift Dtn 4,44 mit wünschenswerter Eindeutigkeit zeigt, einen bestimmten Text, nämlich Dtn 5,1b–26,16; hinzu kommen die Segens- und Fluchtexte in Dtn 28 (Fluch – und damit auch Segen – stehen im »Buch der Tora«, vgl. z. B. Dtn 29,19).18 Nach einer Einführung zur Verortung der Tora in Raum und Zeit und der Konstituierung Israels als Lerngemeinschaft (Dtn 1,6–4,40) teilt Mose in der Welt des Deuteronomiums die Tora Israel in Moab mit (Dtn 5,1b–26,16; 28) und schreibt sie am Ende der Erzählung auf (Dtn 31,9; im m. E. später hinzugefügten Lied-Block schreibt Mose in die Torarolle als »Supplement« noch das Lied, Dtn 31,22.2419). Promulgation und Verschriftlichung der Tora sind (nach der in der vorliegenden Einführung vertretenen Deutung von Dtn 1,520) entscheidende Teile der in der exilischen Komposition erzählten Rechtskraft-Verleihung der Tora durch den dtn Mose, ebenso wie auch der Bundesschluss in Moab (Dtn 29 f.).

16 17 18 19 20

ser und Redaktoren) zentrale Aspekt Autorität(en) steht; Dtn 22,1–23,15 lässt sich dem sechsten Gebot (Ehebruchsverbot) zuordnen, da hier der Aspekt Gefährdung und Sicherung von personaler Identität und von bestimmten Gemeinschaften (wie z. B. der Ehe) im Hinblick auf das Leben im Land ausgelotet wird. In beiden Fällen ist eine Zuordnung möglich, obwohl keine Schlüsselworte aus den entsprechenden Dekaloggeboten aufgenommen wurden. Vgl. zum Ganzen FINSTERBUSCH 2011b. Siehe hierzu die Übersichten von BRAULIK 2008a, S. 149–154, und MCKENZIE 2002. Vgl. hierzu immer noch grundlegend WEINFELD 1972. Vgl. hierzu z. B. SONNET 1997, S. 184 f.; FINSTERBUSCH 2011a. Siehe im Teil III. F. MOSES LETZTE WORTE, 1.3. Siehe im Teil III. A. MOSES (ERSTE) WORTE, 1.1 z. St.

2. Das Profil des exilischen Deuteronomiums

211

– Der Bundesschluss in Moab (Dtn 28,69–30,20*, ohne die m. E. später eingefügten Teile Dtn 30,1–10.11–1421) ist ein Spezifikum der exilischen Komposition Deuteronomium; dieser Bundesschluss wird in keiner der anderen Schriften der Hebräischen Bibel erwähnt. Die dtn Verfasser und Redaktoren nannten in der Überschrift des Bucherzählers Dtn 28,69 neben dem Bund in Moab, den Mose schloss, auch noch den Bund am Horeb, den JHWH schloss (vgl. Dtn 5,2 f.). Das Bundesdokument des Horebbundes ist in der Welt des Deuteronomiums (nicht in der Welt des Pentateuchs22) der Dekalog (vgl. Dtn 5,22). Das Bundesdokument des Moabbundes ist, wie die »Bundeserklärungen« in Dtn 26,17–19 und 27,1.9 f. zeigen, die dtn Tora (mit ihrem Herzstück, dem dtn Gesetz). Da das dtn Gesetz m. E. die Dekaloggebote unter den Bedingungen des Landes ausdeuten sollte, unterscheiden sich die beiden Bundesschlüsse in der Welt des Deuteronomiums im Hinblick auf Zeit und Ort, nicht aber im Hinblick auf die inhaltlichen Kernaussagen ihrer Dokumente (nota bene: der von JHWH verschriftete Dekalog wird von Mose nochmals geschrieben, und zwar als erster Text der dtn Tora in Dtn 5). Der Bundesschluss in Moab unterstreicht nachdrücklich die besondere Bedeutung des dtn Gesetzes (und bestätigt indirekt die grundlegende Bedeutung des Dekalogs): Es ist die dtn Tora mit dem dtn Gesetz, das durch den Bundesschluss in Moab in der Welt des Deuteronomiums als Landesgesetz für Israel Rechtskraft erhalten hat, also Gültigkeit erhalten hat, und nicht etwa ein anderes Gesetz (wie z. B. das Bundesbuch). – Buchübergreifend bedeutsam ist schließlich das Thema Lehren und Lernen. Das Schlüsselwort ‫ למד‬findet sich im Tetrateuch nicht (und findet sich sonst in der Hebräischen Bibel in vergleichbarer Dichte nur im Psalter).23 Die von den dtn Verfassern und Redaktoren vorgelegte ausgefeilte Lehr- und Lernkonzeption zeigt, dass es in der Komposition Dtn nicht nur um eine Erzählung über die Rechtskraft-Verleihung der Tora an einem bestimmten Tag gehen sollte, sondern auch um das Thema Nachhaltigkeit in Bezug auf Wissen und Tun der dtn Tora: Mose ist (einmalig in der Hebräischen Bibel) der »Urlehrer« Israels, insofern er »heute« Israel (Männer und Frauen!) als Lerngemeinschaft konstituiert (nur als solche soll Israel die dtn Gesetze hören, Dtn 4,1a24) und Israel die dtn Gesetze »lehrt« (Dtn 5,1b.31; 6,125). Und Mose gibt dem Israel in der Welt des Deuteronomiums auch für »morgen« noch zahlreiche Anweisungen, um die Kenntnis der Gesetze generationenübergreifend zu sichern. Beispielsweise sollen die Eltern die Gesetze nach Dtn 6,7 par. 11,19 ihre Kinder im Alltag lehren und nach Dtn 6,20–25 Fragen in Bezug auf den Sinn der dtn Gesetze beantworten; nach Dtn 31,10–13 soll das Kollektiv Israel (Männer und Frauen!) im Rahmen des Laubhüttenfestes des Siebtjahres in Jerusalem die dtn Tora öffentlich lernen. Gelehrt 21 22 23 24 25

Siehe im Teil III. E. MOSES WORTE DES MOAB-BUNDES, 2.3. Siehe hierzu Teil IV. SYNCHRONE BETRACHTUNGEN DER DTN TEXTE AUF DER EBENE DES PENTATEUCHS. Vgl. hierzu insbesondere BRAULIK 1993; FINSTERBUSCH 2005. Siehe hierzu im Teil III. A. MOSES (ERSTE) WORTE, 1.3. Siehe hierzu die einführenden Bemerkungen im Teil III. C. MOSES VORLEGEN DER TORA, 3.

212

V. Zusammenfassung: Struktur, Profil, Botschaft

und gelernt werden sollen aber nicht nur die Gesetze, sondern auch fundierende Geschichte (z. B. Dtn 4,9–14) und JHWH-Furcht (z. B. Dtn 14,23; 31,13). Wenn das Israel in der Welt des Deuteronomiums alle diese Anweisungen befolgte, würde es seine religiöse Identität in Raum und Zeit niemals verlieren.

3.

Die Botschaft des exilischen Deuteronomiums

An keiner Stelle steht geschrieben, was die exilischen AdressatInnen mit dem Deuteronomium machen sollten (beispielsweise gibt es kein »Nachwort«, zumindest ist keines erhalten). Angewiesen wird in der Komposition lediglich, was die IsraelitInnen in der Welt des Deuteronomiums mit dem Text der dtn Tora machen sollen. Was wollten die dtn Verfasser und Redaktoren also erreichen? Zunächst sind folgende Punkte auszuschließen: – Das exilische Dtn ist kein Werk zum Zweck der Erbauung; es ist kein Roman über den letzten Tag des Mose. Dagegen sprechen die umfangreichen Paränesen. – Das exilische Dtn ist auch kein Gesetzbuch.26 Dagegen spricht die Form (es ist eine Erzählung mit außerordentlich langen Reden der Hauptperson Mose). – Es ist auch keine »Propagandaschrift« für eine bestimmte Person oder Gruppe wie z. B. der Codex Hammurapi für den König Hammurapi.27 Dafür fehlt die Evidenz. Was sollte das exilische Deuteronomium dann sein? Die Intention der dtn Verfasser und Redaktoren lässt sich mit Hilfe folgender Besonderheiten der Komposition bestimmen: – Bestimmte »Markierungen«, nämlich die »Verschriftlichungsnotizen« und die »Lehr- und Lernnotizen«, zeigen, dass die Texte im Buch unterschiedlich gewichtet werden sollten: Mose schreibt nicht das »Buch Deuteronomium«, sondern nach Dtn 31,9 in der Welt des Deuteronomiums das »Buch der Tora« (er schreibt also Dtn 5,1b–26,16 sowie Segen und Fluch in Dtn 2828). Der Dekalog wird gleich doppelt geschrieben: Von JHWH nach seiner Promulgation am Horeb (Dtn 5,22) und nochmals von Mose im Zuge seiner Niederschrift der Tora in Moab (der Dekalog ist Dokument des Horebbundes und erster Teil der dtn Tora [Dtn 5], also des Dokuments des Moabbundes29). Gelehrt und gelernt wird im »Heute« der Welt des Deuteronomiums der Text Dtn 6,1–26,16; nach Dtn 5,1b (auch 4,1a) zielt die mosaische Lehre insbesondere auf die dtn Gesetze, also 26 Mehrere Exegeten gehen davon aus, dass in spätvorexilischer Zeit (unter Joschija) ein dtn Gesetzbuch existiert hat, vgl. z. B. LOHFINK 1992c, S. 31; LEVINSON 1997, S. 10; OTTO 2008, S. 302, Anm. 68. 27 Oder wie die »deuteronomistische Landeroberungserzählung« für den König Joschija, wenn es sie gegeben hat, siehe oben im Teil II. FAKTEN UND OFFENE FRAGEN, 2.1.4. 28 S. o. 2.2. 29 S. o. 2.2.

3. Die Botschaft des exilischen Deuteronomiums

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auf Dtn 12,1–26,16. Jeden Tag sollen die dtn Gesetze (also Dtn 12,1–26,16) familienintern gelehrt und gelernt werden (Dtn 6,7; 11,19). Die Tora (also Dtn 5,1b– 26,16; Dtn 28) soll alle sieben Jahre kollektiv gelehrt und gelernt werden (vgl. Dtn 31,12). Demnach sollte auf der Textebene die höchste Autorität zweifellos dem Dekalog zukommen, es folgen die dtn Gesetze als Teil der Tora und schließlich die Tora als »Buch im Buch«. – Die im Dtn verwendete Rhetorik diente eindeutig dem Zweck, dass sich die exilische Adressatenschaft beim Lesen oder Hören des Textes mit dem Israel in der Welt des Deuteronomiums identifiziert:30 Beispielsweise durch die die Komposition dominierende direkte Anrede eines Israel außerhalb des Landes (massives »Du« / »Ihr« in den langen Reden des Mose); durch das generationenübergreifende »Ich« / »Wir« in Texten wie Dtn 6,20–25 oder 26,5–9; durch den ausdrücklichen Zusammenschluss aller Generationen Israels in dem Bundesgeschehen am Horeb und in Moab (Dtn 5,3 und 29,15); durch das typisch deuteronomische »Heute«, das bewusst transparent für das »Heute« verschiedener Generationen und Epochen gehalten wurde, auch für das »Heute« der realen exilischen Adressatenschaft (vgl. Dtn 5,1b; 6,24; 9,1; 29,27). Diese Rhetorik weist klar darauf hin, dass die exilische Komposition Dtn vor allem als Identitätsschrift gedacht war, also als Literatur, die die Identität (eines verunsicherten und leidgeprüften Israels) neu definieren wollte. Durch das Israel in der Welt des Deuteronomiums wollten die dtn Verfasser und Redaktoren dem Israel im Exil (aus ihrer Sicht) entscheidende Dimensionen seiner (religiösen) Existenz aufzeigen: Sie wollten Israel an seine fundierende Geschichte erinnern (Väter / Exodus und vor allem Horeb / Moab); sie wollten sein »Heute«, d. h. sein gegenwärtiges Exil, als gerechte Bestrafung JHWHs deuten (also nicht als Ausdruck der Verwerfung oder als Ausdruck der Unterlegenheit von Israels Gott anderen Göttern gegenüber); sie wollten die Konturen des idealen Israel beschreiben, d. h. sie wollten deutlich machen, wie es »gestern« hätte sein und handeln müssen (so dass »587/6 v. Chr.« nicht passiert wäre) und wie es »heute« und wie es in Zukunft »morgen« im Land idealerweise sein und handeln müsste (so dass »587/6 v. Chr.« nicht nochmals passiert). Ins Zentrum der Komposition wurden kaum zufällig die Gesetze gestellt. Denn durch Gesetze ist die Kontur der Identität Israels besonders gut bestimmbar. Dabei machten die dtn Verfasser und Redaktoren (sicherlich im Hinblick auf die anvisierte Adressatenschaft) einen Unterschied, ob sich Israel außerhalb des Landes (so das Israel in der Welt des Deuteronomiums und das adressierte Israel im Exil) oder im Land Juda befindet (so die Erwartung für die Zukunft für das Israel in der Welt des Deuteronomiums und das Israel im Exil). Das ideale Israel außerhalb des Landes (für das die Dekaloggebote gelten sollten) sollte sich beispielsweise ausschließlich auf JHWH konzentrieren, das ideale Israel im Land (für das zusätzlich 30 Siehe zu dieser besonderen Rhetorik vor allem MARKL 2011.

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V. Zusammenfassung: Struktur, Profil, Botschaft

noch die dtn Gesetze gelten sollten) sollte JHWH nur an einem Ort verehren, »demokratische« gesellschaftliche Strukturen pflegen, Armut in der Gesellschaft wirksam bekämpfen und für soziale Randgruppen sorgen. Sollte das exilische Dtn noch mehr als Literatur sein, die um Fragen der idealen Identität Israels kreiste? Mit anderen Worten: Waren die in dieser Schrift »erzählten« Vorschriften in Bezug auf die Tora (Dekalog und dtn Gesetz) – auch – »real« gemeint?31 M. E. sprechen nicht zuletzt die ausladenden Paränesen (z. B. Dtn 4.6– 11), die in Dtn 27 vorgeschriebenen Zeremonien zur Sicherung des dtn Gesetzes als »Landesgesetz«, die mehrfache Betonung des auf Nachhaltigkeit zielenden Lehrens und Lernens der Gesetze sowie »Segen und Fluch« in Dtn 28 dafür, dass die dtn Verfasser und Redaktoren durchaus der Meinung waren, das dtn Gesetz sollte »das« geltende Gesetz (wohl zusammen mit »Gewohnheitsrecht«) in Zukunft im Land Juda sein (trotz zahlreicher »idealer« Züge gibt es m. E. keinen Grund, dem dtn Gesetz »Praxistauglichkeit« abzusprechen). Das exilische Deuteronomium konnte als Literatur freilich nicht die Geltung des dtn Gesetzes in Israel begründen. Zu der In-Kraft-Setzung eines Gesetzes bedarf es »externer« Faktoren wie z. B. der Zustimmung einer Elite / eines Königs (vgl. als »Mustertext« den in 2 Reg 23,1–3 erzählten Bundesschluss Joschijas) und / oder der Mehrheit des Volkes (vgl. als »Mustertexte« die »Bundeserklärungen« der Bundespartner in Dtn 26,17–19; 27,1.9 f. vor dem in Dtn 29 erzählten Bundesschluss in Moab). Nur solche »externen« Faktoren hätten das dtn Gesetz eine entsprechende Geltung gewinnen lassen. Wenn die dtn Verfasser und Redaktoren (und ihre »Tradenten«) das dtn Gesetz als »das« Landesgesetz installieren wollten, ist historisch gesehen dieser Versuch gescheitert: Das Deuteronomium wurde »nur« zum »fünften Buch Mose« (und damit wurde das dtn Gesetz auf Pentateuchebene ein Gesetz neben anderen Gesetzen32). Es war der Pentateuch, der schließlich Geltung als »Tora« gewann und dem das rabbinische Judentum die höchste Autorität unter den Texten der Hebräischen Bibel zusprach.

31 Siehe zu dieser Frage insbesondere auch OTTO 2007d. 32 Siehe hierzu Teil IV. SYNCHRONE BETRACHTUNGEN DER DTN TEXTE AUF DER EBENE DES PENTATEUCHS.

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Wenn Sie weiterlesen möchten... Bernd Moeller Geschichte des Christentums in Grundzügen In dieser bewährten Darstellung wird die Geschichte des Christentums im Überblick und in ihrem inneren Zusammenhang geschildert. Es geht nicht nur um Namen, Daten und Einzelfakten, sondern vor allem um die elementaren Strukturen und die Hauptereignisse. Der Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen des Geschehens wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die einzelnen Bereiche des christlichen Lebens und Denkens – die Geschichte der Theologie, der Frömmigkeit und des Kultus, der geistlichen Institutionen, der Kirchenpolitik – werden aufeinander bezogen, die bedeutenden Personen an ihrem geschichtlichen Ort aufgesucht. Die Neuauflage ist durchgehend überarbeitet, das Literaturverzeichnis wurde auf den neuesten Stand gebracht.

Udo Schnelle Einleitung in das Neue Testament Udo Schnelles Einleitung behandelt die Entstehungsverhältnisse der 27 neutestamentlichen Schriften und stellt die theologischen Grundgedanken jeder Schrift und die Tendenzen der neuesten Forschung dar. Darüber hinaus werden Themen wie die Chronologie des paulinischen Wirkens, die Paulus-Schule, methodische Überlegungen zu Teilungshypothesen, die Gattung Evangelium, Pseudepigraphie und das Werden des neutestamentlichen Kanons ausführlich erörtert.

Hans G. Kippenberg / Jörg Rüpke / Kocku von Stuckrad (Hg.) Europäische Religionsgeschichte Ein mehrfacher Pluralismus Das Problem einer europäischen Religionsgeschichte ist nicht die Säkularisierung. Zwar hat die Bindung an christliche Kirchen zahlenmäßig abgenommen, die individuelle Religiosität und die öffentliche Präsenz von Religionen sind davon jedoch unabhängig. Typisch für die europäische Moderne ist die Gleichzeitigkeit der Idee eines messbaren Fortschritts des Wissens mit einem Glauben an den bleibenden Wert von Religionen. Dieses zweibändige Werk trägt dem mehrfachen Pluralismus der europäischen Religionsgeschichte in seinen zahlreichen Facetten Rechnung.

Axel Wiemer Lernkarten Bibelkunde »Was man verstanden hat, kann man auf einer Postkarte zusammenfassen.« Dieser Satz ist dem Autor zum Grundprinzip seiner bibelkundlichen Arbeit geworden: Ein Thema auf einer Karte, Detailreduktion zugunsten der Herausarbeitung der Grundeinsichten. Die Bibelkundekarten helfen so zu einer Orientierung über den gesamten Text der Lutherbibel (ohne Apokryphen), markieren theologisch besonders gewichtige Punkte und nehmen, wo es angezeigt ist, knapp auf literarische Fragen Bezug. Sie bieten Übersichten, heben bedeutende Passagen hervor und helfen so, die Bibel selber verstehend zu lesen. Manch knappe Information zum theologischen oder literarischen Charakter der Texte wird auch durch ergänzende Lektüre geeigneter kurzer Einführungen (etwa in einer Kommentarbibel) klarer. Die Karten laden dazu ein, selbst farbige Bearbeitungen und Markierungen vorzunehmen und weitere Informationen an geeigneten Stellen oder auf zusätzlichen eigenen Karten zu ergänzen. Sie können so zum Kern einer eigenen, wachsenden Bibelkundekartei werden. Die Bibelkundekarten sind auf der Basis der eigenen handschriftlichen Kartei des Autors für seine Seminare am Ökumenischen Institut für Theologie und Religionspädagogik der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd entstanden. Die ursprünglichen Adressaten sind Lehramtsstudierende, die sich auf den Religionsunterricht vorbereiten. Interessant sind die Karten aber für alle Bibelleserinnen und -leser und für alle Studierenden, die sich auf eine Bibelkundeprüfung vorbereiten.

Wilfried Joest / Johannes von Lüpke Dogmatik I: Die Wirklichkeit Gottes Wilfried Joests klassisches Lehrbuch wurde von Johannes von Lüpke grundlegend überarbeitet. Es erläutert alle Hauptthemen der evangelischen Dogmatik und gibt die zugehörigen theologiegeschichtlichen Informationen. Das Buch führt in die verschiedenen Positionen der neueren und gegenwärtigen theologischen Diskussion ein und setzt sich mit ihnen kritisch auseinander. Der erste Band der »Dogmatik« fokussiert auf Gott, Christus und den Heiligen Geist. Der zweite Band beschreibt den »Weg Gottes mit den Menschen«. Die beiden Bände können unabhängig voneinander gelesen werden.

Wilfried Joest / Johannes von Lüpke Dogmatik II: Der Weg Gottes mit dem Menschen Wilfried Joests klassisches Lehrbuch wurde von Johannes von Lüpke grundlegend überarbeitet. Es erläutert alle Hauptthemen der evangelischen Dogmatik und gibt die zugehörigen theologiegeschichtlichen Informationen. Das Buch führt in die verschiedenen Positionen der neueren und gegenwärtigen theologischen Diskussion ein und setzt sich mit ihnen kritisch auseinander. Der zweite, abschließende Band dieses Dogmatiklehrbuches behandelt Anthropologie, Eklesiologie, und Eschatologie; er ist in sich abgeschlossen. Bibelstellen-, Personen- und Sachregister zu beiden Bänden erleichtern die Arbeit mit dem Werk.

Rochus Leonhardt Grundinformation Dogmatik Ein Lehr- und Arbeitsbuch für das Studium der Theologie Das Buch vermittelt einen Einblick in die Hauptinhalte und -probleme der christlichen Dogmatik sowie maßgebliche dogmen- und theologiegeschichtliche Zusammenhänge. Die quellennah ausgearbeitete Darstellung ist didaktisch aufbereitet: Definitionen, Arbeitsaufgaben, Übersichten, Hinweise auf vertiefende Literatur, Tipps zur Arbeit mit dem Internet, Glossar etc. Das Buch trägt den vielfältigen Umbrüchen innerhalb der Forschung in den letzten Jahren Rechnung und bemüht sich erstmals um eine Synthese neuer Forschungspositionen.

Peter Zimmerling Charismatische Bewegungen Die pflingstlich-charismatischen Bewegungen stellen den am schnellsten wachsenden Teil der Weltchristenheit dar. Dieses Buch vermittelt grundlegende Einblicke in ihre Theorie und Praxis. Neben Informationen zu charismatischen Strömungen der Gegenwart ordnet Zimmerling diese kirchen- und theologiegeschichtlich ein. Er stellt sie in den Kontext der unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen von Christsein, überblickt die charismatischen Essentials und würdigt sie kritisch. Zielhorizont der Auseinandersetzung mit den charismatischen Bewegungen ist die Frage nach einer möglichen Integration pfingstlich-charismatischer Impulse in die evangelische Spiritualität.

Peter Zimmerling Studienbuch Beichte Für viele Christen stellt sich die Beichte immer noch als konfessionsunterscheidendes Merkmal dar. Dass Martin Luther die Beichte Zeit seines Lebens praktizierte und Dietrich Bonhoeffer zu den Pionieren der Beichte im 20. Jahrhundert gehörte, versetzt Protestanten häufig in großes Erstaunen. Seit einigen Jahren ereignet sich eine Wiederentdeckung der Beichte in unterschiedlichen Zusammenhängen – sowohl innerhalb als auch außerhalb von Theologie und Kirche. Talkshows sind nur ein Beispiel von vielen. Auch im politischen Bereich lässt sich eine erstaunliche Bereitschaft zum Eingeständnis von Schuld beobachten. Kaum ein Staatsbesuch, ohne dass Schuld bekannt würde. Inzwischen sind Schuld und Beichte eine Art Modethema auch in der theologischen Diskussion geworden. Die Renaissance der Beichte überrascht, zumal sich in der Alltagssprache längst eine Abschwächung der Rede von Sünde und Schuld zu einer religiös neutralen Bedeutung oder gar zur rein ironischen Verwendung ereignet hat. Das Buch gliedert sich in vier Teile, die die Beichte in Geschichte, Theologie, Situation heute und Praxis verorten. Mit einer umfassenden Auswahl an Originaltexten lässt Zimmerling zudem Praktikerinnen und Praktiker aus Geschichte und Gegenwart zu Wort kommen. Das Buch kann als Grundlage eines Seminars zur Beichte an der Hochschule, als Lektüre zur Examensvorbereitung oder auch zum Selbststudium dienen.

Michael Meyer-Blanck Liturgie und Liturgik Der Evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt Dieses Studienbuch bietet altkirchliche, reformatorische und neuzeitliche Quellen zum evangelischen Gottesdienst, die jeweils ausführlich kommentiert und mit Literaturhinweisen zur eigenen Weiterarbeit versehen sind. Meyer-Blank geht am Rande auch auf die katholische und die orthodoxe Lehre vom Gottesdienst ein. Gegenüber anderen Quellenbänden, die die Quellen nur unkommentiert bieten und sich auf evangelische Quellen beschränken, ist dies ein Alleinstellungsmerkmal. Der Autor bietet das grundlegende Orientierungs- und Handlungswissen für alle, die Liturgien zu gestalten haben oder sich auf das Pfarramt vorbereiten. Die Quellentexte werden im Hinblick auf theologische Positionen, hermeneutisch-dramaturgische Inhalte, didaktische Möglichkeiten und im Blick auf ihr Verständnis von Abendmahl und Eucharistie erschlossen. Das Buch, das 2001 in erster Auflage erschien, bewährt sich seit langem in praktisch-theologischen Proseminaren, in der zweiten Ausbildungsphase von PfarrerInnen, aber auch im Liturgik-Unterricht an Hochschulen für Kirchenmusik. Diese aktualisierte Neuauflage ist durch neue Literatur ergänzt.

Michael Weinrich Religion und Religionskritik Ein Arbeitsbuch Das Buch führt in die Fülle der unterschiedlichen Positionen zu Religion und Religionskritik ein, dokumentiert exemplarische Texte und stellt durch Interpretationen einen Zusammenhang her, der zu weiterer Vertiefung anregen will. Das neuzeitliche Religionsverständnis hat seine Wurzeln im Humanismus der Renaissance und entwickelt sich im 17. Jahrhundert als ein Mittel zur Befriedung der nachreformatorischen Konfessionen. Im Zuge der Aufklärung gerät die Religion dann in den Strudel der Kritik, weil sie für eine Scheinkompensation wirklicher Defizite gehalten wird. Philosophische, soziologische und psychologische Religionskritik ergänzen einander und geben eine vernichtende Prognose: Eine vernünftige Bearbeitung der Defizite werde zur Überwindung der Religion führen. Wenn heute die Säkularitätsdiagnose zugunsten der These einer Wiederkehr der Religion in den Hintergrund gedrängt wird, bekommt auch die kritische Wahrnehmung dieses Phänomens eine neue Dringlichkeit. Ebenso wird der Dialog der Religionen vor die Herausforderung der Religionskritik gestellt.

Volker Küster Einführung in die Interkulturelle Theologie Volker Küster erkundet die Landschaft der interkulturellen Theologie entlang dreier Pfade. Er klärt zunächst Begriffe und Methoden, indem er den Weg von der traditionellen Missionswissenschaft zur kontextuellen Theologie und dem durch diese ausgelösten interkulturellen theologischen Gespräch nachzeichnet. In einem zweiten Schritt wird die interreligiöse, interkulturelle und interkonfessionelle Dimension des christlichen Glaubens ausgemessen. Dabei vollzieht Volker Küster zugleich einen Perspektivenwechsel. Der Weg führt nicht vom intra-christlichen zum inter-religiösen Gespräch, sondern in die umgekehrte Richtung: Was können wir von der Differenzerfahrung im inter-religiösen Dialog für die Einheitsdebatten in der ökumenischen Bewegung lernen? Im dritten Hauptteil schließlich wird untersucht, wie die kontextuellen Theologien und der interkulturelle Austausch darüber das Gewebe der generativen Themen des christlichen Glaubens verändert haben. Dieser Begriff bezeichnet die für eine Gemeinschaft prägenden Themen, anhand derer dieser seine Alphabetisierungskampagnen in Brasilien organisiert hat. Dynamischer als »Dogma« weist diese Begrifflichkeit auf den engen Zusammenhang zwischen den biblischen Geschichten und den Themen, die sie bestimmen. Zugleich werden im hermeneutischen Zirkel zwischen Text und Kontext die generativen Themen des Textes mit den generativen Themen des Kontextes stets neu verwoben.

Reiner Rohloff Johannes Calvin Leben, Werk, Wirkung Calvin ist einer der bedeutendsten Reformatoren des 16. Jahrhunderts, der bis heute nachwirkt. Reiner Rohloff stellt Calvins Leben, Wirken und Werk in geschichtlichen und theologischen Zusammenhängen dar und bietet das Wichtigste zu Leben, Werk und Nachwirken des Refomators in knapper, aber umfassender Form, sodass das Buch für Prüfungsvorbereitungen genutzt werden kann und deren Anforderungen vollständig abdeckt.

Albrecht Beutel Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung Ein Kompendium Albrecht Beutels Buch bietet erstmals eine umfassende und dennoch kompakte Darstellung der Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In konzentrierter, auch die Nachbardisziplinen berücksichtigender Darstellung werden zunächst die Voraussetzungen und Horizonte der theologischen Aufklärung vermessen, sodann deren unterschiedliche, selbst den Pietismus teilweise einbeziehende Erscheinungsformen skizziert. Schließlich wird beschrieben, welchen Niederschlag die Aufklärung in Theologie und Kirche sowie in zeittypischen Debatten und Konflikten gefunden hat. Während die Epoche der Aufklärung in der Philosophie-, Literatur-, Sozial- oder Staatsgeschichte längst die ihr gebührende wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden hat, macht Beutels Darstellung auch die Theologie mit ihrer entscheidenden neuzeitlichen Umbruchsphase bekannt und vertraut.

Wilhelm Pratscher (Hg.) Die Apostolischen Väter Eine Einleitung Der Band behandelt eine kirchengeschichtliche Einordnung der Apostolischen Väter sowie eine Diskussion ihrer Genese und Deutungen. Besonderes Augenmerk liegt auf dem jeweiligen theologischen Profil, zu dem es umfassende Informationen gibt. Studierende im Grund- und Hauptstudium profitieren von dem breit gefächerten Ansatz. Mit Beiträgen von J.A. Draper, F.R. Prostmeier, A. Lindemann, W. Pratscher, H. Löhr, B. Dehandschutter, G. Buschmann, U.H.J. Körtner, H. Lona, D. Hellholm und J. Ulrich.

Bewährte Studienliteratur

K l Wilh l Niebuhr Karl-Wilhelm Ni b h (H (Hg.)) / Michael Mi h l Bachmann / Reinhard Feldmeier / Friedrich Wilhelm Horn / Matthias Rein

Grundinformation Neues Testament

Udo SSchnelle Ud h ll

Eine bibelkundlich-theologische Einführung

Einleitung in das Neue Testament

UTB 2108M 4., durchges. Aufl. 2011. 477 Seiten mit 8 Abb. und 20 Tab., kartoniert ISBN 978-3-8252-3594-9

UTB 1830M 7., durchgesehene Aufl. 2011. 607 Seiten mit 6 Karten, kartoniert ISBN 978-3-8252-1830-0

Das Arbeitsbuch stellt die Schriften des Neuen Testaments allgemeinverständlich in der Reihenfolge des Kanons dar. Der Zugang erfolgt über eine bibelkundliche Erschließung.

Udo Schnelles Einleitung behandelt die Entstehungsverhältnisse der 27 neutestamentlichen Schriften und stellt die theologischen Grundgedanken jeder Schrift und die Tendenzen der neuesten Forschung dar.

Theologisches Gespräch: »Dem selbstgesetzten Ansprich, sowohl den Fachleuten als auch interessierten Laien eine einfache und doch anspruchsvolle Einführung in das NT zu geben, werden die fünf Autoren [...] mehr als gerecht.«

Theologisches Gespräch: »Das gut zu lesende Buch eignet sich besonders für den, der sich über den gegenwärtigen Stand der historisch-kritischen Forschung im Blick auf die wichtigsten Einleitungsfragen informieren möchte.«

Bewährte Studienliteratur

Jan Christian Gertz (Hg.) (Hg )

Grundinformation Altes Testament Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments UTB 2745M 4., durchges. Aufl. 2010. 640 Seiten mit 19 Abb. und zahlreichen Tabellen, kartoniert ISBN 978-3-8252-2745-6

Dieses Buch dient nicht nur als Einführung, sondern auch als zuverlässiger und im Grunde unentbehrlicher Begleiter bei der Beschäftigung mit Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments. Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft: »Das Lehrbuch ist gleichermaßen für Diplom- wie für Lehramtsstudierende in allen Studienphasen bis hin zum Examen geeignet, ist aber auch darüber hinaus jedem zu empfehlen, der sich in kirchlicher und schulischer Praxis um ein vertieftes Verständnis des Alten Testaments bemüht.«

Hans-Christoph Schmitt

Arbeitsbuch zum Alten Testament Grundzüge der Geschichte Israels und der alttestamentlichen Schriften UTB 2146M 3., durchges. Auflage 2011. 478 Seiten mit 5 Karten, kartoniert ISBN 978-3-8252-3609-0

Das Arbeitsbuch zum Alten Testament enthält zwei für sich verständliche Teile: Es setzt ein mit einer Darstellung der Geschichte Israels. Ein zweiter Teil gibt einen Überblick über die literarhistorischen und theologischen Probleme der einzelnen Schriften des Alten Testaments und behandelt zentrale Themen in Beziehung zur gesamtbiblischen Theologie. Zeitschrift für Religionspädagogik: »Eine konzentrierte und sehr übersichtliche Darstellung des alttestamentlichen Grundwissens.«