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German Pages 198 Year 2015
Alexander García Düttmann Derrida und ich
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Alexander García Düttmann lehrt Philosophie am Goldsmiths College, University of London. Wichtigste Veröffentlichungen: Das Gedächtnis des Denkens. Versuch über Heidegger und Adorno, Frankfurt am Main 1991; Kunstende, Frankfurt am Main 2000; So ist es. Ein philosophischer Kommentar zu Adornos ›Minima Moralia‹, Frankfurt am Main 2004. Der Autor ist Übersetzer mehrerer Werke von Jacques Derrida.
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Alexander García Düttmann
Derrida und ich Das Problem der Dekonstruktion
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Inhalt
Vorbemerkung | 9
0 Wenn ich du wäre oder das Problem der Dekonstruktion | 11 1
Erstes Modell: Nächstenliebe und Automatismus | 75
2 Zweites Modell: Entscheidung und Souveränität | 101 3 Drittes Modell: Anerkennung und Selbsttäuschung | 121 4 Viertes Modell: Leben und Tod | 137 5 Erinnerung | 151
Anhang I: Ein Mann zu jeder Jahreszeit | 163
Anhang II: Literatur zum Beispiel | 179
Nachweise | 189
Personenregister | 191
»Alex? C’est Jacques.« Jacques Derrida am Telephon
»Zwei Bilder der Rose im Finstern. Das eine ist ganz schwarz; denn die Rose ist unsichtbar. Im andern ist sie in allen Einzelheiten gemalt und von Schwärze umgeben. Ist eines von ihnen richtig, das andere falsch? Reden wir nicht von einer weißen Rose im Finstern und von einer roten Rose im Finstern? Und sagen wir nicht doch, sie ließen sich im Finstern nicht unterscheiden?« Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen
Vorbemerkung
Der Titel dieses Buchs ist ernst gemeint, trotz der Übertreibung oder der Unverhältnismäßigkeit, die der dumme Witz des voranstehenden Mottos noch einmal vorführt. Es soll darin vor allem um das Ich gehen, um den Gebrauch, den ein Philosoph, der sich um ein Verständnis der Gedanken Derridas bemüht, von der Ichform machen kann, zum Beispiel im Verhältnis zu Anderen oder im Fall einer Entscheidung, die es zu treffen gilt. Das Ich ist der Leitfaden, der im ersten Teil dazu dient, die philosophische Idee der Dekonstruktion so genau wie möglich zu umreißen, im zweiten Teil dazu, die Tragweite der umrissenen Idee an vier Denkmodellen so umfassend wie möglich aufzuzeigen, im dritten Teil schließlich dazu, die Erinnerung an Jacques Derrida so lebendig wie möglich zu gestalten. Nach beinahe schellingscher Manier stellt das Umreißen der philosophischen Idee der Dekonstruktion einen Zusammenhang zwischen einem negativen und einem positiven Aspekt her, zwischen der différance und dem »NichtDekonstruierbaren«. Den ersten Anhang bildet ein polemischer Aufsatz, der sich wiederum auf das Ich in der Dekonstruktion bezieht, dieses Mal, um ihren unleugbaren Einfluß auf neuere Gebiete wissenschaftlicher Forschung wie die sogenannte queer theory zu untersuchen. Alle, die der Titel abschrecken mag, weil seine Formulierung akademische Gepflogenheiten außer acht läßt oder die Selbstbezogenheit des Autors in den Mittelpunkt zu rücken scheint, soll das Buch überraschen.
Wenn ich du wäre oder das Problem der Dekonstruktion
0.0 Sind Probleme in der Philosophie nicht die »Schatten vorgegebener Lösungen«, bringen sie, wie Gilles Deleuze dargetan hat, durch ihre genaue Bestimmung die Wahrheit erst hervor und gehen deshalb nicht einfach in ihren Lösungen auf, dann wird man den Gedanken der Dekonstruktion erst begreifen, wenn man es vermag, ihr Problem zu bestimmen. Dazu mag beitragen, von zwei entscheidenden Schwierigkeiten auszugehen, auf die man in der Dekonstruktion stößt. Denn die Aufgabe, diese Schwierigkeiten zu beseitigen, mag, gerade weil sie entscheidend sind, den Weg ebnen, der es erlaubt, das Problem der Dekonstruktion zu bestimmen und seine Lösung zu finden. Eine entscheidende Schwierigkeit ist von jenen Exegeten erkannt worden, die das Denken Jacques Derridas nach einem in der Philosophiegeschichte bekannten Muster in zwei Phasen einteilen. Zunächst soll sich Derrida mit der Entwicklung des Gedankens der différance beschäftigt, dann soll er den Begriff des inkommensurabel Anderen in die Dekonstruktion eingeführt haben. Daß man den Zusammenhang zwischen der différance und dem inkommensurabel Anderen nicht klar sieht, gelegentlich den einen gegen den anderen Derrida ausspielt, liegt an einer Zweideutigkeit in dem Bezug auf Andersheit, ohne den bereits die différance nicht gedacht werden kann. Liegt die Andersheit in der Verräumlichung und Verzeitlichung, die Derrida différance nennt, oder liegt sie in einem Entzug, den er zum Beispiel als den Entzug der Gerechtigkeit in ihrem Verhältnis zum Recht versteht und der mit einer Aufforderung einhergehen soll, sich unentwegt um Gerechtigkeit zu bemühen? Um den Punkt zu verdeutlichen, kann man von dem Bedingungssatz »Wenn ich du wä1 | Gilles Deleuze, Différence et répétition, Paris 1968, S. 206f.
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re« ausgehen, der einen Wunsch äußert. Die différance hat gleichsam stets schon diesen Wunsch verwirklicht. Die Inkommensurabilität des Anderen reißt die beiden Personalpronomina darin auseinander, schafft zwischen ihnen eine Kluft, als müßte sich das eine an dem anderen messen, um seiner selbst zu genügen, und hätte die Bedingung seiner Möglichkeit in einer Unbedingtheit: »(Erst) wenn ich du wäre (der ich nicht bin und nicht sein kann, wäre ich – ich).« Es gilt also, die Zweideutigkeit in dem Bezug auf Andersheit oder in der Auswirkung der Andersheit auszumachen, um sich durch sie dem Problem der Dekonstruktion zu nähern und seiner Lösung. Einer zweiten entscheidenden Schwierigkeit ist vielleicht weniger Beachtung geschenkt worden. Man könnte sie, wollte man einen Begriff bemühen, dem der Existentialismus bekanntlich einen ontologischen Stellenwert zuschreibt, als die einer Unaufrichtigkeit bezeichnen, die sich aus dem Denken der Dekonstruktion zu ergeben scheint. Ein Beispiel sei angeführt. In einem Gespräch über das Verhältnis der Dekonstruktion zur Religion wird Derrida gefragt, warum er an einer Stelle seines Werks behaupte, er werde zu Recht für einen Atheisten gehalten, statt freimütig zu bekennen, er sei ein Atheist. Darauf antwortet er nicht bloß, daß er die Unterscheidung zwischen Gottesglauben und Atheismus für klärungsbedürftig halte und deshalb die unterschiedenen Begriffe nicht unumwunden gebrauchen wolle. Zunächst stellt er knapp fest, er sei »nicht einfach jener, der ›Ich‹ sagt«. Damit greift er ein Motiv auf, das sich durch sein Werk hindurchzieht. Wer ist das Ich, das im Namen eines anderen Ich spricht, um gleichzeitig deutlich zu machen, daß man im Namen eines Ich nicht sprechen kann, sondern eben immer nur im Namen eines anderen Ich? Kann das Ich immer nur »Wenn ich du wäre (dann wäre ich dieser oder jener, würde ich dieses oder jenes tun, usw.)« wiederholen? Wie sich zeigt, ist beiden Schwierigkeiten gemeinsam, daß es um die Bedeutung der Andersheit in der Dekonstruktion geht. Im einen Fall aber auf der gegenständlichen Ebene, im anderen auf der reflexiven einer ausdrücklichen Einbeziehung der Einsicht in das, was anders ist, in die Rede über Andersheit. Schreibt man der gegenständlichen und der reflexiven Schwierigkeit eine entscheidende Rolle zu, kann man vorläufig schon festhalten, daß das Problem der Dekonstruktion eines des Verhältnisses zum Anderen sein muß, für das die Mehrdeutigkeit der Formulierung oder Formel »Wenn ich du wäre« einstehen kann.
2 | Jacques Derrida, »Epoché and Faith«, in: Derrida and Religion, hg. von Y. Sherwood und K. Hart, New York 2004, S. 46.
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Supplement – Derridas aphoristischer, auf den ersten Blick tautologischer Ausspruch »tout autre est tout autre«, den man im Deutschen mit »jeder Andere ist ganz anders« wiedergeben könnte, aber auch mit »jeder Andere ist jeder Andere« oder, ausführlicher, mit »alles, was anders ist, ist so, wie alles, was anders ist«, vereinigt die Kontingenz der Andersheit, die Andersheit, die sich in der Kontingenz manifestiert, und die Inkommensurabilität des Anderen, so daß er die Zweideutigkeit der Dekonstruktion auf den Punkt bringt. Der Andere, der zwangsläufig der Andere der Anderen ist, ist zugleich, soll er ein Anderer sein, ein »absolut Anderer«, der die Symmetrie zwischen Ich und Du bricht und mich dadurch vor den Anderen beansprucht. Seine Kontingenz hat ihr Gegenstück in dem »Mechanischen«, dem die »moralisierende Verwendung des Wortes ›Anderer‹« anheimfällt. Vielleicht steht Derridas Ausspruch, sein schillerndes So-ist-es, in jener Überlieferung, von der Jean-Luc Nancy einmal sagt, daß sie zwei »Maße des Inkommensurablen« miteinander verbindet und voneinander abhebt, die sich gleichzeitig gegenseitig verdecken. Einerseits wird das Andere als Anderes gedacht, das sich in eine tautologische Selbigkeit zurückzieht und auf diese Weise entzieht; andererseits wird die Andersheit des Anderen nicht als Entzug gedacht, sondern als Abstand und Spanne, durch die eine »Mehrzahl« entsteht, eine »Mehrzahl von Ursprüngen«, deren jeder ein Anderer des Anderen ist oder ein Anderer, der mit Anderen existiert. Einen Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen Bezug auf Andersheit in der Dekonstruktion, zwischen dem Denken der différance und dem Denken des inkommensurabel Anderen, hat Giorgio Agamben hergestellt, freilich als einen kritischen. Sein Argument läuft darauf hinaus, zu bestreiten, daß die Dekonstruktion die Lösung ihres Problems finden kann; folglich, daß es ein philosophisches Problem der Dekonstruktion gibt oder daß die Dekonstruktion als Problem Wahrheit erzeugt. Die Bewegung der »Spur«, die wie die der différance den Vorrang einer gänzlichen Anwesenheit, einer ungetrübten Gegenwart, einer Bedeutungsfül3 | Jacques Derrida, Donner la mort, Paris 1999, S. 98. 4 | Jacques Derrida, Sur parole, La Tour d’Aigues 1999, S. 63. 5 | Jean-Luc Nancy, »De l’être singulier pluriel«, in: ders., Être singulier pluriel, Paris 1996, S. 105. Am Anderen soll es, insofern als er oder es eben anders ist, stets etwas geben, das einem »tieferen und ursprünglicheren Bereich« als dem der Subjektivität und der Objektivität zugehört (Jacques Derrida, »Violence et métaphysique«, in: ders., L’écriture et la différence, Paris 1967, S. 187), so daß Derrida nicht strikt zwischen dem Anderen und dem Anderen unterscheidet, dem Subjektiven und dem Objektiven, dem Menschlichen eines Ichs und dem Sachlichen einer Differenz.
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le aus den Angeln heben soll, begreift Agamben als eine »aufgehobene Aufhebung« oder als eine »Auf hebung, die in der Schwebe bleibt«. Diese Auffassung trägt er im Rahmen einer genealogischen Auseinandersetzung mit dem dialektischen Begriff der Auf hebung vor, der es um eine Aufdeckung des messianischen Erbes der Moderne zu tun ist. Sie erlaubt es ihm, in der Dekonstruktion einen »versperrten Messianismus« zu erblicken und damit implizit auf Derridas späten Neologismus messianicité zu verweisen, der einen Messianismus als Versprechen ohne Messias meint. »Was ausgeschlossen werden muß, damit die Dekonstruktion funktionieren kann, ist der Umstand, daß Anwesenheit und Ursprung nicht fehlen, sondern rein unbedeutend sind.« Agambens Kritik hängt demnach an der Unterscheidung zwischen einem Mangel, der das Bedeuten durch eine ständige Verlagerung und Verzögerung verewigt, und einem AußerKraft-Setzen der Bedeutung, das dem Messianismus zu seinem Recht verhilft. Man muß sich demnach fragen, ob es nicht noch eine weitere Möglichkeit gibt, das Problem der Dekonstruktion zu verstehen, als eines, das Wahrheit hervorbringt, sich ein Zusammenhang zwischen dem Denken der différance und dem Denken des inkommensurabel Anderen herstellen läßt, der die Zweideutigkeit auflöst und so die Mittel zu einer Lösung des Problems bereitstellt. In einem recht unübersichtlichen und nicht besonders erhellenden Aufsatz aus dem Jahr 2006, dem er den bezeichnenden Titel »Ein Aufruf zu einer Rückkehr zur différance« verliehen hat, fragt Slavoj Žižek: »Wie, wenn Derridas Wendung zu dem ›postsäkular‹ Messianischen nicht das notwendige Ergebnis seines ursprünglichen dekonstruktiven Impetus wäre? Wie, wenn die Vorstellung einer unendlichen messianischen Gerechtigkeit, die sich in einer unbegrenzten Auf hebung und Aufschiebung auswirkt, stets im Kommen bleibt und den ›nicht dekonstruierbaren‹ Horizont der Dekonstruktion bildet, bereits die ›reine‹ différance verschleiern würde, die Lücke, den Abstand, der dazu führt, daß ein Seiendes von sich abweicht? […] Wie, wenn wir den Bezug auf Andersheit überhaupt fallen ließen?« Die Stoßrichtung dieser Fragen scheint in einem genauen Umkehrungsverhältnis zu jener zu stehen, die die Kritik an Derrida bestimmt, wo Jürgen Habermas die différance der Schrift mit einem »hinhaltenden Offenbarungsgeschehen« identifiziert, das den »Traditionszusammenhang des Monotheismus« erneuern und dadurch an die Schwelle der Auf-
6 | Giorgio Agamben, Il tempo che resta. Un commento alla ›Lettera ai Romani‹, Turin 2000, S. 97f. 7 | Slavoj Žižek, »A Plea for a Return to différance«, in: Critical Inquiry, 2006, 32. Jg., Heft 2, S. 233.
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klärung führen soll. Mit seiner letzten Frage beruft sich Žižek auf einen Vorschlag, den er Ernesto Laclau zuschreibt. Dieser hat in den neunziger Jahren einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er Derrida die Kurzschließung von Argumentationsebenen vorhält und von einer »Zweideutigkeit« seiner Texte redet. Die Unmöglichkeit, eine Anwesenheit oder eine Gegenwart zu denken, die, wie Laclau sich ausdrückt, »in sich geschlossen« ist, soll eine »›ontologische‹ Bedingung« abgeben, deren positive Formulierung man in der Rede von der »Offenheit gegenüber dem Ereignis, dem Heterogenen, dem radikal Anderen« findet. Derrida soll nun aus dem Nachweis einer solchen Bedingung unmittelbar die »Anforderung« ableiten, sich offen für die »Heterogenität des Anderen zu halten«, und so Ontologie und Ethik kurzschließen. Auch die »Anforderung« selber kritisiert Laclau, da entweder die Offenheit gegenüber allem Anderen, ungeachtet des »Inhalts«, einem »ethischen Nihilismus« gleichkommt oder aber, wenn man die Anforderung als ein aktives Sich-Einlassen auf den Anderen interpretiert, etwa in der Gestalt von Kritik, ein alltägliches Verhalten beschreibt, das einer Anforderung gar nicht bedarf. Die Kritik am inkommensurabel Anderen, der man hier begegnet, an der folgenreichen Inhaltsleere des Begriffs, ähnelt in manchen Zügen, mag sie im Fall der Dekonstruktion berechtigt sein oder nicht, der Kritik, die Adorno an der dialektischen Theologie übt. In seiner sechzehnten Vorlesung über Metaphysik aus dem Sommersemester 1965 bemerkt er: »Und dieser Begriff des absolut Anderen hat es in sich, daß er entweder ganz bestimmungslos und abstrakt bleibt, das heißt, daß er also dadurch das, was er leisten soll, gar nicht leisten kann; oder daß er Bestimmungen empfängt, die dann selber wieder der Kritik dieser Theologie unterliegen, das heißt Bestimmungen, die solche der Immanenz sind; oder schließlich, daß doch – und das ist der Weg, den die meisten dieser Theologen gegangen sind – dieser Inhalt von außen, dogmatisch, willkürlich, mit einem Sprung herbeizitiert werden muß.« 10 8 | Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1988, S. 216. 9 | Ernesto Laclau, »›The Time is Out of Joint‹«, in: ders., Emancipation(s), London und New York 2007, S. 77. 10 | Theodor W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Probleme, hg. von R. Tiedemann, Frankfurt a.M. 1998, S. 191. Vgl. dazu etwa: »Ich habe Derrida immer ernsthaft diese Frage gestellt: ›Wie unterscheiden Sie Hitler von dem Anderen, der kommen soll? Hitler war eine so widersinnige Erscheinung, daß man ihn nicht erwarten konnte. Wenn aber der Andere, der kommen soll, nicht erwartet werden kann, wie stellen Sie es dann an, um nicht zu sagen, daß Hitler der Messias ist?‹« (Gianni Vattimo [mit Piergiorgio Paterlini], Non Essere Dio, Reggio Emilia 2006, S. 181)
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0.1 Einem unscheinbaren und unglücklichen jungen Mann wird die Gelegenheit geboten, sein Ich abzulegen und beliebig in die Haut Anderer zu schlüpfen. Um die Verwandlung zu vollziehen, muß er eine geheime Formel in das Ohr des Menschen flüstern, von dem er dann Besitz ergreift. Er scheitert nur ein einziges Mal. Über das Kind, in das er sich verwandeln will, hat die Magie keine Macht. Mit dem Hinweis auf die Gnade der Unschuld ist zunächst wenig gesagt. Vielleicht versteht man das Scheitern erst dann, wenn man sich daran erinnert, daß das Kind noch keinen festen Charakter entwickelt hat, es in Wahrheit noch kein Anderer ist, in den man sich verwandeln kann. Vor einem Wesen ohne Andersheit, vor einem Wesen, in dem sich die Andersheit noch nicht verfestigt hat, vor einem Wesen, das eine Art Gemeinplatz des Lebens darstellt, ein Leben, das sich selber bedeutet, ohne bestimmte Form und ohne bestimmten Inhalt, erweist sich der Übergriff als machtlos. Nur die Ersetzbarkeit, die eigentlich keinen Widerstand leistet, widersteht der Reihe der Ersetzungen, weil sie sich ihr nicht hinzufügen läßt. Daß das Kind nicht bloß als sorgenfreier goldiger Schatz auftritt, pausbackig, sondern als kleiner Automat, der mit sich selber spricht, als eigensinniges und ablenkbares, verwundertes und träumerisches Wesen, das auf den Erwachsenen in sich verschlossen wirkt, ja verwundet, ist ein genialer Streich, der die Schwierigkeit dartut, das Kind festzulegen. Die Verwandlungen ereignen sich zwischen zwei Polen, an denen es keine Andersheit gibt. Denn nicht allein das Kind fällt aus der Reihe; auch das Ich, vor dem der Verwandelte geflohen ist, kann in der Reihe der Ersetzungen keinen Ort haben, zeigt die Ersetzbarkeit im Zustand tiefen Schlafs an. Treten jedoch die Gestalten, deren Ich der junge Mann für sich in Anspruch nimmt, und die er, sobald die jähe Verwandlung stattgefunden hat, der Verwirrung überläßt, bis er sich eine neue Gestalt für eine weitere Verwandlung aussucht, nicht ihrerseits als Gemeinplätze auf, als bürgerliche Respektsperson, als roher Mörder, als armseliger Geistesmensch, als fader Schönling? Man muß also zwischen zwei Gemeinplätzen unterscheiden, einem der Bestimmtheit, der den Gemeinplatz als Erstarrung ausmacht, und einem der Unbestimmbarkeit, der gleichsam der Gemeinplatz als solcher ist, der Gemeinplatz als Vorbild des Gemeinplatzes, der Gemeinplatz, der sich selber ausstellt. In groben Zügen ist damit die Handlung des ersten Romans umrissen, den Julien Green in der Nachkriegszeit veröffentlicht hat, Si j’étais vous…,11 11 | Julien Green, Si j’étais vous…, in: Œuvres complètes (La Pléiade), Band II, hg. von J. Petit, Paris 1973. »Unschuld« und »Gnade« sind Begriffe, die der Romancier selber in dem Vorwort verwendet, das er der durchgesehenen Neuausgabe aus dem Jahr 1970 vorangestellt hat (ebd., S. 1529).
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in der deutschen Übersetzung Wenn ich du wäre… Mit diesem Titel bringt der Autor zum Ausdruck, daß man sein Werk als einen Versuch lesen kann, als literarische Entsprechung zu einem theoretischen Gedankenexperiment. Ein Einfall und ein Vorhaben stehen am Anfang. Von allen Romanen Greens läßt sich dieser vielleicht am meisten von einer Idee leiten, die dem Werk vorausgeht, und bildet dadurch eine Ausnahme, als würde der Wechsel, den der Titel anzeigt, die Literatur selber betreffen, oder als stünde das Ich im Titel für die Idee, den Begriff, das Du dagegen für die Literatur. Nicht aus der Literatur erwächst der Begriff, sondern umgekehrt. Der Schriftsteller versucht sich daran, aus dem Begriff Literatur zu machen. Für diesen Schriftsteller ist aber gerade das Schreiben literarischer Werke ein Unternehmen, bei dem nicht er die Feder führt. Schreiben bedeutet für Green, daß ein Anderer sich seiner bemächtigt, weshalb Walter Benjamin von einem »visionären Verfahren« spricht, von der »übermäßig strengen, halluzinatorischen Deutlichkeit, mit der sich seine Menschen bewegen«.12 »Wenn ich du wäre« ist die Formel des Schreibens, nicht in dem Sinne, daß der Schriftsteller geschickt Gestalten erfindet, im Spielraum seiner Erfindungen sich frei bewegt, sondern vielmehr in dem, daß er etwas sieht, an das er sich entäußert, ihm sich etwas aufdrängt, das die Prägung des Offenbaren trägt, des So-ist-es. Der Konditionalis macht darauf aufmerksam, daß es sich hier nicht um ein Verfahren handelt, das man erlernen und beliebig anwenden kann. Indem nun im Fall des vorliegenden Romans die Formel des Schreibens zu einer Formel für das Schreiben erhoben wird, scheint der Begriff, die Hypothese des Gedankenexperiments, dem So-ist-es Grenzen zu setzen. Gleichzeitig bewährt sich wiederum das Literarische gerade dadurch, daß Green die feststehende Redewendung »Wenn ich du wäre« beim Wort nimmt. In ihrer Formelhaftigkeit ist sie nichts anderes als die Transkription der Geheimformel, mit deren Hilfe in dem Roman die Figur des jungen Manns sich wiederholt in andere Figuren verwandelt. Sie wird nicht ins Begriffliche verflüchtigt, indem sie für eine Verallgemeinerung einsteht, sondern wörtlich verstanden. Der Literatur geht es um das Fleisch und Blut des Buchstabens.
0.2 Man kann sich an dieser Stelle zwei Kritiker vorstellen, die aneinandergeraten. Der eine begegnet der Verwandlung der Formel des Schreibens in eine Formel für das Schreiben mit Mißtrauen, als wäre dadurch bereits die Literatur zu einem Ersatz heruntergekommen. Eine Bestätigung seines Mißtrauens mag er in dem Aufsatz erblicken, den Melanie Klein über den Roman Si j’étais vous… geschrieben hat. Denn obwohl sie einmal den 12 | Walter Benjamin, »Julien Green«, in: Gesammelte Schriften, hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Band II.1, Frankfurt a.M. 1977, S. 330.
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»künstlerischen Standpunkt« erwähnt, zum Schluß, stellt sie den Roman in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen, weil Green über eine »tiefe Einsicht in das Unbewußte« verfügen, sein Werk »reichhaltiges Material« für die Untersuchung des Phänomens projektiver Identifikation bieten, ja es der Psychoanalytikerin ermöglichen soll, sich in ihrer »Interpretation des Romans« auf die Hauptfigur »beinahe« so zu beziehen, als wäre der junge Mann ein »Patient«,13 der durch die Verwandlungen, denen er sich unterzieht, das Abgespaltene in sein Ich wieder einzugliedern vermag. Der Roman wird als Geschichte einer Aufarbeitung der Kindheit interpretiert. Verdächtig wäre er dem mißtrauischen Kritiker insofern, als es zumindest vordergründig der Psychoanalytikerin gelingt, die Romanfigur als einen überzeugenden Patienten vorzuführen. Es will so scheinen, als hätte sich Klein ihrerseits die Formel »Wenn ich du wäre« zum Motto gewählt, um sich dem Schriftsteller so sehr zu nähern, daß man am Ende nicht mehr entscheiden kann, wer der Analytiker, wer der Schriftsteller ist. Der andere Kritiker würde sich dem Roman zuwenden, weil er sich von der Annahme leiten ließe, daß Literatur immer nur dann ihrem Begriff gerecht wird, wenn sie sich an dem mißt, was mit ihm nicht vereint werden kann, zum Beispiel am Begriff, an der Idee, am Gedankenexperiment – an dem, was sie auflöst, am Kunstende. Literatur kann nicht das sein, wovon man sowieso schon weiß, daß sie es ist. Nun würde es so scheinen, als wäre ihrem eigenen Begriff, wie vielleicht dem Begriff des Begriffs selber, ein »Wenn ich du wäre« eingezeichnet, das in dem Abstand zwischen dem »Ich« und dem »Du« von einer unvermittelbaren Andersheit auseinanderund zusammengehalten würde. Ein solches »Wenn ich du wäre« müßte als die Formel für das Ereignis gelten, für die Literatur als Ereignis, statt als Formel für theoretische oder praktische Allgemeinheit zu fungieren. Jacques Derridas Essay über Literatur und Geheimnis handelt von einer »Art« Literaturkritiker,14 der einen Sinn hat für die Schwierigkeit, den Inhalt, die Bedeutung, den Gegenstand eines Textes zu bestimmen, seinen Autor und seinen Leser, der also nicht die Entgegensetzung zwischen Wirklichkeit und Literatur zum Ausgangspunkt nimmt, zwischen einer Wirklichkeit, deren Anschauung durch ein Urteil bestimmt werden kann, und einer Literatur, die sich solcher Bestimmung entzieht. Dieser Kritiker ist wohl auch deshalb nur eine »Art« Literaturkritiker, weil er das Literarische »ahnt«, beim Lesen es »vorherempfindet«, am Text auf jenes achtet, was sein Maß zwar nicht an der Literatur hat, aber an sie grenzt. Sein Gegen13 | Melanie Klein, »On Identification«, in: dies., Envy and Gratitude, London 1997, S. 152. 14 | Jacques Derrida, »La littérature au secret«, in: ders., Donner la mort, S. 175.
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stand ist nicht eigentlich die Literatur, sondern innerhalb oder außerhalb der Literatur die Literatur »vor der Literatur«.15 Für ihn wäre wahrscheinlich das »Wenn ich du wäre« der Psychoanalytikerin, ihre Annäherung an den Schriftsteller, nicht unvoreingenommen genug, geht doch ihrer Arbeit der Sinn für das Problem der Bestimmbarkeit ab und folglich sowohl der Sinn für den »künstlerischen Standpunkt«, den sie nennt, als auch für die Wirklichkeit, deren Erforschung ihre Wissenschaft unternimmt. So steht man erneut vor der Zweideutigkeit der Dekonstruktion, die in einem doppelten Bezug auf Andersheit besteht und auch in diesem Zusammenhang durch zwei verschiedene und miteinander unvereinbare Weisen veranschaulicht werden kann, die Formel »Wenn ich du wäre« zu verstehen. Lautet die Frage: »Was heißt es, ein ›Ich‹ zu sein, wenn man von keiner Identität, wenn man von einer Differenz ausgehen muß?«, so legt der Dekonstruktivist einmal das Gewicht auf die positive Bedingung (die Differenz), dann auf die negative Bedingung (man kann nicht von einer Identität ausgehen, also muß das Ich erst zu einem Ich werden). Einerseits ist etwas nie das, was es ist, sondern ist das, was es ist, nur in dem Maße, in dem es das, was es ist, nicht ist. Dieses Uneinssein, die Differenz im »Ich«, beinhaltet eine Grenzüberschreitung, eine »Ansteckung«, wie der Dekonstruktivist es ausdrückt, eine Unbestimmbarkeit, die auf eine gewisse Unmöglichkeit der Unterscheidung schließen läßt. Hier handelt es sich, wenn man so will, um eine Feststellung, um eine Beschreibung, wie die Dinge sind. Eine Aufforderung liegt nur darin, daß man die Beschreibung als eine Gegenbeschreibung begreifen muß, die sich gegen eine »metaphysische« oder »phonologozentrische« Überlieferung richtet: »Ich« bin nicht »ich«, sondern bereits »du«, oder: »Ich« bin nicht »ich«, ohne bereits »du« zu sein, ein »Du«, das wiederum nicht einfach ein anderes »Ich« ist, so daß »ich« und »du« am Ende nicht in ein übergreifendes »Wir« eingehen können. Mein Wunsch, »du« zu sein, täuscht darüber hinweg, daß »ich« und »du« immer schon die sind, die wir nicht sind. Die Andersheit ist also eigentlich nicht die eines »Anderen«, eines »Du«. Sie durchzieht sowohl das »Ich« als auch das »Du«. Es ist die Andersheit der différance. Die Formel »Wenn ich du wäre« bringt aus diesem Blickwinkel den eigentümlichen Wunsch zum Ausdruck, zur différance selber zu werden, die man schon ist, und die nicht bloß eine raumzeitliche Gleichzeitigkeit bedeutet, die von Aufschub und Unterscheidung, sondern ebenfalls die Gleichzeitigkeit von Einheit und Spaltung, wobei weder Raum und Zeit als Anschauungsformen gegeben sind, in denen Abweichungen und Verzögerungen stattfinden, noch die Spaltung eine vorgängige Einheit voraussetzt. 15 | Jacques Derrida, Demeure, Paris 1998, S. 124.
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Andererseits soll etwas nur dann sein, was es ist, wenn es sich an dem mißt, was es nicht ist, also nicht das ist, was es ist. Dieses Uneinssein beinhaltet eine Andersheit, die sich nicht vermitteln oder auf heben läßt – insofern stimmt sie mit der Andersheit der différance überein. Die Andersheit der différance scheint sich nunmehr aber zu einem Anderen zusammengezogen zu haben, zu einem »Nicht-Ich«, einem »Du«. Und da eine Entgegensetzung immer an die Stelle der Herausforderung treten kann, handelt es sich hier weniger um eine Feststellung oder um eine Beschreibung, wie die Dinge sind, als um eine Aufforderung oder Anforderung. »Ich« vermag »ich« nur dann zu sein, wenn ich mich an einem »Du« messe, das ich nie zu sein vermag. Sicherlich könnte man behaupten, die Andersheit erfasse das Verhältnis zum Anderen selber; schließlich geht ja aus der Aufforderung oder Anforderung, am Anderen sich zu messen, um das zu sein, was man ist, und was man dann nie sein kann, ohne es wiederum nicht zu sein, hervor, daß die Andersheit das Verhältnis selber bestimmt, mich in ein Verhältnis zu mir setzt, indem sie mich in ein Verhältnis zum Anderen bringt und mein Selbstverhältnis von diesem Verhältnis abhängig macht. Der Dekonstruktivist bezeichnet ein solches Verhältnis deshalb oft als ein unmögliches und sucht die Möglichkeit (dessen, was sich zum Anderen verhält) in der Unmöglichkeit, die sich daraus ergibt, daß die Andersheit das Verhältnis zum Anderen bestimmt, das eine sich nicht geradewegs zum anderen verhalten kann. Dennoch würde es zu einem von der Andersheit bestimmten Verhältnis zum Anderen gar nicht kommen, gäbe es nicht eine Herausforderung, eine Aufforderung oder Anforderung, sich an einem Anderen zu messen. Daß man sich überhaupt an einem Anderen mißt, zeugt bereits von Andersheit, davon, daß Andersheit das Verhältnis zum Anderen bestimmt. Aber nur durch die Erfahrung eines Anderen als Erfahrung einer Herausforderung und als Erkenntnis einer Auf- oder Anforderung bildet sich das Verhältnis, das eines des Sich-Messens ist und sein muß, weil sonst die einfache Möglichkeit oder die bloße Unmöglichkeit des Verhältnisses gegeben wären, das Verhältnis sich in eine Tatsache verkehren und durch die Verdinglichung abschaffen oder sich gar nicht erst bilden würde. Die einfache Möglichkeit schlägt in die bloße Unmöglichkeit um. Wenn jedoch das Verhältnis nicht mit einer Tatsache verwechselt werden darf, bedeutet dies, daß das Sich-Messen, das die Dekonstruktion durch den Bezug auf ein inkommensurabel Anderes fordert, kein Maß hat, das außerhalb des Vollzugs, des Verhältnisses zum Anderen, Bestand hätte. Am Ende eines Texts über das Verhältnis der Dekonstruktion zu einem beliebigen X, in dem Derrida mehrere Stimmen sich zu Wort melden läßt, liest man: »Jedes Mal, wenn ich ›Dekonstruktion und X‹ sage, gleichgültig, für welchen Begriff oder Gegenstand das X einstehen mag, handelt es sich um das Vorspiel einer ausgesprochen eigentümlichen Spal-
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tung oder Teilung, die aus diesem X eine Unmöglichkeit macht oder die vielmehr in diesem X eine Unmöglichkeit zur Erscheinung bringt, die zu seiner eigenen und einzigen Möglichkeit wird, so daß zwischen diesem X als einem möglichen und dem ›selben‹ X als einem unmöglichen nurmehr ein Verhältnis der Homonymie besteht, von dem man Rechenschaft ablegen muß.«16 Muß man die Homonymie, mit der, so Derrida, die Auf- oder Anforderung einhergeht, von ihr Rechenschaft abzulegen, nicht ihrerseits in einem doppelten Sinne begreifen, einmal als Homonymie zwischen einem X, das den Namen vielleicht trägt, aber nicht verdient, da es sich nicht an Nicht-X oder Y mißt, am inkommensurabel Anderen oder Unbedingten, und einem X, das den Namen verdient, nicht bloß trägt, da es versucht, sich an Nicht-X oder Y zu messen, dann jedoch als Homonymie zwischen einem X, dessen Möglichkeit in einem Sich-Messen an der Unmöglichkeit liegt, und einem X, dessen Andersheit und Unbedingtheit, dessen Unmöglichkeit (Nicht-X, ja Y) das Sich-Messen herausfordert und so die paradoxe Möglichkeit der Möglichkeit von X abgibt, des Verhältnisses von X zu sich selber (als einem möglichen und als einem unmöglichen X)? Die Wendung »Dekonstruktion und X« indiziert nicht, daß die Dekonstruktion gegeben ist und in ein mehr oder weniger äußeres Verhältnis zu X tritt, sondern vielmehr, daß durch die doppelte Verdoppelung von X eine Dekonstruktion in X am Werk ist. Die Auflösung der Zweideutigkeit der Dekonstruktion erfolgt in zwei Schritten, weil sie auf zwei Fragen antworten muß. Im Abschnitt 0.5 werden der zweite Schritt und die zweite Frage behandelt werden. Zunächst ist die erste Frage die, ob das Verhältnis zum Anderen in seiner Andersheit (das X, das sich zum Anderen verhält, zu Nicht-X oder Y, bestimmt dieses Verhältnis nicht, gibt die Bedingungen für es nicht vor) als eines der Feststellung und Beschreibung gedacht werden muß oder hingegen als eines der Auf- und Anforderung. Antworten kann man darauf, daß die Feststellung, etwas sei das, was es ist, ohne es je sein zu können, und sei deshalb auch das, was es nicht ist, in der Abstraktion befangen bleibt, weil sie keine Auskunft darüber gibt, wie etwas überhaupt etwas sein kann. 16 | Jacques Derrida, »Et cetera… (and so on, und so weiter, and so forth, et ainsi de suite, und so überall etc.)«, in: Jacques Derrida, Cahier de L’Herne, hg. von M.-L. Mallet und G. Michaud, Paris 2004, S. 32. Das Und der Dekonstruktion wird weder von der Kritik der Äußerlichkeit getroffen, der Kritik, es erlaube, alles mit allem zu verbinden, noch ist es ein Tensor. Vielmehr legt es etwas an dem Begriff frei, zu dem es eine Verbindung herstellt, das Unbedingte, greift ihn unmerklich an. Jeder Begriff, den das Und der Dekonstruktion berührt, wandelt sich in ein »Paläonym«, in einen »alten Namen«, der auf eine andere und neue Art und Weise verwendet wird. Das Und der Dekonstruktion ist subversiv.
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Erst der Rekurs auf das inkommensurabel Andere, das Unbedingte der Bedingung, auf eine Auf- oder Anforderung, erst die Beschreibung des Verhältnisses zwischen X und Nicht-X oder Y als eines des Sich-Messens, befreit die différance von ihrer Abstraktion, schafft ein Verhältnis, wo sonst nur ein gleichgültiges In- und Nebeneinander, ja Durcheinander herrscht oder Befangenheit im Schein. Die Formel »Wenn ich du wäre« ist, versteht man sie im Sinne eines Sich-Messens, der Sinn der différance, zwingt dazu, zwischen zwei Aussetzungen des Sinns zu unterscheiden (X setzt seinen möglichen Sinn aus, wo es sich nicht an Nicht-X oder Y mißt; X, das sich an Nicht-X mißt, setzt seinen möglichen Sinn aus, weil Nicht-X die Unmöglichkeit von X meint) und verwandelt den Neologismus, den Derrida prägt, nach seinem eigenen Argument in eine Homonymie, von der man ebenfalls Rechenschaft ablegen muß. Sinn heißt hier, daß es um etwas geht – um X. Gewiß, das »Spiel der différance« hat, wie Derrida in seinem Vortrag »La différance« betont, selber »keinen Sinn«.17 Der Sinn und mit ihm die Unterscheidungen zwischen Sinn und Widersinn, Sinn und Unsinn, Sinn und Sinnlosigkeit, sollen von diesem Spiel hervorgebracht werden. So liest man in der Grammatologie, Bedeutungen seien stets nur »ersetzbare und sich gegenseitig ersetzende Bedeutungen, die aus einer Reihe differentieller Verweisungen hervorgehen«, und auch das »Wirkliche« erhalte seinen »Sinn« von einer »Spur« aus,18 also durch das »Spiel der différance«, das Derrida in dem genannten Vortrag mit dem der »Spur« gleichsetzt. Mit dem Gedanken eines »Spiels der Spur oder der différance« gibt Derrida gleichsam seine Zugehörigkeit zu jener Gruppe französischer Philosophen der sechziger und siebziger Jahre zu erkennen, deren Denken er mit den Worten skizziert, ihnen sei es nicht um die Verwischung oder Zerstörung des Sinns zu tun, sondern darum, seine Möglichkeit aufgrund einer »›formalen‹ Organisation« zu bestimmen, die »keinen Sinn hat«.19 Doch erst der Gedanke des Sich-Messens, der das »Spiel der différance« nicht einer Bestimmung oder einer teleologischen Bewegung unterordnet, läßt dem »Sinn« sein Recht widerfahren, der sonst so gleichgültig wäre wie das »Spiel« selber, ja von ihm ununterscheidbar oder lediglich negativ unterscheidbar, als Schein. Erst mit diesem Gedanken also rührt die Dekonstruktion an das, was »Sinn« macht, und verfehlt das »Spiel« ebensowenig wie den »Sinn«.
17 | Jacques Derrida, »La différance«, in: ders., Marges – de la philosophie,
Paris 1972, S. 23. 18 | Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, S. 228. 19 | Jacques Derrida, »Les fins de l’homme«, in: ders., Marges – de la philosophie, S. 161.
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0.3 Die Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen der Andersheit, auf die sich der Gedanke der différance bezieht, und der Andersheit des inkommensurabel Anderen, verdeutlicht in einem ersten Schritt, der dazu beitragen soll, die Zweideutigkeit der Dekonstruktion aufzulösen, daß durch den Bezug auf das inkommensurabel Andere erst der Sinn der différance dargetan werden kann. Dann muß sich dieser Bezug aber schon in den Formulierungen der différance nachweisen lassen, in denen er nicht als solcher vorkommt. Daß der Sache nach ein Bezug auf das inkommensurabel Andere auch in den fraglichen Formulierungen vorkommt, haben jene Kritiker der Dekonstruktion gespürt, die ihr vor ihrer Einführung und Entwicklung des Begriffs eines inkommensurabel Anderen, eines Unbedingten, vorwerfen, sie renne offene Türen ein, verrenne sich, weil sie ein übertriebenes Bild der Metaphysik oder des Phonologozentrismus zeichne, um dann gegen das hartnäckig festgehaltene Idol anzurennen und seinen Sturz zu bewirken. Habermas wirft Derrida eine Fixierung auf die »Geschichte der Metaphysik als ein alles Innerweltliche determinierendes Übergeschehen« vor,20 ein anachronistisches Festhalten an »jene[n] ›starken‹ Begriffe[n] von Theorie, Wahrheit und System, die doch seit mehr als hundertfünfzig Jahren der Vergangenheit angehören«.21 Man könnte, wenn man von der Frage nach der Berechtigung eines solchen Vorwurfs absieht und sich an das Argument von der Spaltung oder Teilung von X erinnert, das Verhältnis der Dekonstruktion zur Philosophie so beschreiben, daß die Dekonstruktion dort einsetzt, wo sich die Philosophie zweimal verdoppelt. Die Philosophie, die sich nicht an einem Anderen mißt, die das Andere in sich einbegreift oder aus sich ausschließt, erhält den Namen der Metaphysik oder des Phonologozentrismus und wird von der Philosophie unterschieden, von dem Denken, das gerade versucht, sich am Anderen zu messen, um den Namen, den es trägt, zu verdienen, nicht in der Tautologie zu erstarren, in der Ununterscheidbarkeit von Leben und Tod: »Die Geschichte der Metaphysik«, schreibt Derrida in seiner Abhandlung über die Stimme und das Phänomen, »ist das absolute Sich-Sprechen-Hören-Wollen […] Eine Stimme ohne différance […] ist absolut lebendig und gleichzeitig absolut tot.«22 Das inkommensurabel Andere, an dem sich das Denken der Dekonstruktion zu messen versucht, muß jedoch seinerseits ebenfalls als Metaphysik oder Phonologozentrismus erscheinen, zumindest dann, wenn es sich dabei, wie Derrida in einem Gespräch einmal bemerkt, um die philosophische Gestalt eines transzendentalen Scheins handeln soll, der aus dem Denken selber entspringt, um »eine Art strukturelle Täu20 | Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 241. 21 | Ebd., S. 246 (Fußnote). 22 | Jacques Derrida, La voix et le phénomène, Paris 1967, S. 115.
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schung oder Illusion«,23 die man wohl erkennen und durchschauen kann, aber nicht vermeiden; wenn der Wunsch nach »reiner Selbstgegenwart« sich als »unzerstörbar« erweist.24 Man sieht nun, daß die zweifache Verdoppelung von X im Denken der Dekonstruktion nicht einfach auf eine Nebeneinanderstellung hinausläuft. Etwas an dem X, das den Namen nicht verdient, etwas an dem metaphysischen oder phonologozentrischen X stellt für die Dekonstruktion regelmäßig eine Herausforderung dar, ein inkommensurabel, unbedingt Anderes, an dem sich das Denken unermüdlich messen muß, selbst dort, wo es sich an einem anderen inkommensurabel und unbedingt Anderen mißt, an dem Anderen, das nicht, wie in der Metaphysik oder im Phonologozentrismus, gesetzt oder hypostasiert worden ist, gehört doch zu dem Verhalten des Sich-Messens wesentlich dazu, daß es durch die Schwierigkeit, einer unmöglichen Anforderung je zu genügen, erlahmt, zurückfällt in ein Verhältnis zu einem dekonstruierbaren X. Hat nicht sogar die Kontingenz jedes »ganz anders« Anderen ihren Grund in der Reihe von Verdoppelungen, die jedes Wissen darum, mit welchem Anderen man es zu tun hat, an das Verhalten oder den Vollzug des SichMessens untrennbar bindet? Doch nicht allein der transzendentale Schein, der die Gestalt der Metaphysik oder des Phonologozentrismus annimmt, erklärt deren Irreduktibilität, den Umstand, daß am Metaphysischen etwas anders bleibt, unbedingt oder unvergleichlich, und die Dekonstruktion stets erneut herausfordert. Diese Herausforderung hängt nämlich für Derrida auch mit dem Begriff oder mit der Logik des philosophischen Begriffs zusammen, die er mit folgenden Worten skizziert: »Jeder Begriff, der einen Anspruch auf eine gewisse Strenge und Schärfe stellt, beinhaltet die Alternative eines ›Alles-oder-Nichts‹. Selbst wenn in der ›Wirklichkeit‹ oder in der ›Erfahrung‹ jeder zu wissen glaubt, daß es nie ein ›Alles-oder-Nichts‹ gibt, ist es allein das ›Alles-oder-Nichts‹, nach dem sich ein Begriff bestimmt. Sogar der Begriff des ›Gradunterschieds‹, der Begriff der Relativität erhält als Begriff seine Bestimmung aufgrund der Logik des ›Alles-oder-Nichts‹, des Jaoder-Nein: ein ›Gradunterschied‹ oder kein ›Gradunterschied‹. Es ist unmöglich oder unrechtmäßig, einen philosophischen Begriff unabhängig von dieser Logik des ›Alles-oder-Nichts‹ zu bilden.«25 Übertreibt Derrida, jagt er einem ultrametaphysischen Hirngespinst nach oder ist er unfähig, sich von einem philosophischen Anachronismus loszulösen, wenn er den Begriff oder die Logik des philosophischen Begriffs der Anforderung ei23 | Jacques Derrida, Positions, Paris 1972, S. 45. 24 | Jacques Derrida, »Vers une éthique de la discussion«, in: ders., Limited
Inc., Paris 1990, S. 210. 25 | Ebd., S. 211.
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ner Entscheidung unterstellt, die sich an der Unbedingtheit eines Allesoder-Nichts, eines Ja-oder-Nein ausrichtet, wenn er damit nicht nur den Anschein erweckt, als müßte man Begriffe unablässig dekonstruieren, sondern am Ende sogar die Reinheit des Begriffs in dem Maße advoziert, in dem man sich daran messen soll? Auf jeden Fall läßt sich zunächst festhalten, daß man immer dann, wenn man einen solchen Begriff des Begriffs zugrunde legt, im Begriff eine Unbedingtheit verortet, durch die er gegenüber allem Bedingten, allem, was man gemeinhin als Wirklichkeit und Erfahrung bezeichnet, eine inkommensurable Andersheit behauptet. Es gibt gleichsam einen Punkt, an dem der Begriff, der einer ist, nicht mehr mit sich reden läßt. An diesem Punkt, so könnte man ergänzend hinzufügen, kommt der Unterschied zwischen Idealität und Empirie zum Tragen, zwischen einem Begriff, der als Begriff seinen Namen verdient, weil er nicht die Idealität verleugnet, ohne die es keine Begriffe geben würde und die sich aus der Empirie, der Wirklichkeit oder der Erfahrung, nur dann induzieren läßt, wenn man die Unterschiede einebnet, und einem Begriff, dessen Gebrauch so dehnbar oder so lax bleibt, daß man sich um seine abgrenzende Leistung nicht kümmert. Gewiß, es gibt einen konventionellen Gebrauch von Begriffen. In seinen Bekenntnissen gebraucht Rousseau den Begriff des Verzeihens einmal so: »Um ihn so anziehend zu machen wie er sein konnte, mußte es etwas geben, daß man ihm verzeihen mußte.«26 Gewiß, man mag sich in der einen oder anderen Lage fragen, ob es möglich, rechtmäßig, treffend, richtig ist, einen bestimmten Begriff zu gebrauchen, ohne daß sich eine unzweifelhafte Antwort erteilen ließe; und sicherlich entscheidet man nicht jedes Mal, wenn man einen Begriff gebraucht, ob die Lage eine solche Antwort erlaubt, so, als würde allgemein eine zusätzliche mentale Operation den Begriffsgebrauch lenken und zu einer abgrenzenden Leistung anhalten. Was Derrida aber meint, auch mit dem Hinweis auf die Philosophie, macht vielleicht eine weitere Frage kenntlich, jene, ob man in der einen oder anderen Lage überhaupt noch einen Begriff verwenden darf, will man ihn weiterhin sinnvoll gebrauchen. Ein Vergleich mit einer Stelle in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen drängt sich auf, in der es um die Grenzen des Begriffs geht, um »verschwommene Ränder«, die den Begriffsgebrauch ermöglichen sollen, um einen »unscharfen« Begriffsgebrauch, der den Begriff nicht um seine Gültigkeit bringen muß, um ein »Exemplifizieren«, das nicht das Gemeinsame der Beispiele in einem eindeutig gegebenen oder deutlich umrissenen Begriff voraussetzt: »Denn ich kann so dem Begriff ›Zahl‹ 26 | Jean-Jacques Rousseau, Les confessions, in: Œuvres complètes (La Pléiade), Band 1, hg. von B. Gagnebin, M. Raymond und R. Osmont, Paris 1959, S. 213.
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feste Grenzen geben, d.h. das Wort ›Zahl‹ zur Bezeichnung eines fest begrenzten Begriffs gebrauchen, aber ich kann es auch so gebrauchen, daß der Umfang des Begriffs nicht durch eine Grenze abgeschlossen ist. Und so verwenden wir ja das Wort ›Spiel‹. Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen.«27 Daß jede Praxis, die den Gebrauch eines Begriffs einübt und in der ein Begriffsgebrauch stattfindet, in einen Überlieferungszusammenhang eingebunden ist, in dem Grenzen immer schon gezogen worden sind, würde der Anwalt des Mangels an begrifflicher Trennschärfe nicht als Einwand gelten lassen, da noch genügend Spielraum vorhanden wäre, um zu sagen: »Das, und ›Ähnliches‹, nennt man ›Spiele‹«, ohne daß er sich um weitere Grenzziehungen bemühen, das Ähnliche in einen genau definierten Umfang verwandeln müßte. Dem Anwalt des begrifflichen »Alles-oder-Nichts« würde der Hinweis auf die im Überlieferungszusammenhang gezogenen Grenzen nicht genügen, da er ihn lediglich als Hinweis auf die Bedingungen eines empirischen Begriffsgebrauchs verstehen könnte, eines Gebrauchs, der für ihn im strengen Sinne nicht der eines Begriffs wäre, nicht ein von der Begrifflichkeit des Begriffs bestimmter. Natürlich würde auch in diesem Fall ein Konflikt ausreichen, um die Dringlichkeit von Grenzziehungen vor Augen zu führen, etwa in Situationen, in denen mit blutigem Ernst auf einen spielerischen Umgang reagiert wird, der Ernst den Unernst ausschließen soll, ohne den kein Spiel denkbar ist, gleichgültig, wie ernst man es nimmt; oder in Situationen, in denen aus dem Spiel plötzlich blutiger Ernst wird, ein Ernst, der mit dem, was man ein Spiel nennt, nicht mehr vereinbar zu sein scheint, es über sich hinaustreibt. Der Anwalt des Mangels an begrifflicher Trennschärfe würde diese Fälle wahrscheinlich als mögliche Beispiele für Grenzfälle anerkennen, nicht aber als solche, die über den Begriffsgebrauch überhaupt, über einen angeblich vorgeordneten Begriff des Begriffs belehren. Der Anwalt des »Alles-oder-Nichts« könnte ihm dann entgegnen, daß die Konfliktsituation in dem Maße lehrreich ist, als sich in ihr zeigt, welche Frage mit der Unterscheidung zwischen dem philosophischen Gebrauch eines Wortes, dem Gebrauch eines Wortes als Begriff, und seinem vorphilosophischen, unphilosophischen oder empirischen Gebrauch verbunden ist. Es ist die Frage nach dem, was etwas nicht sein kann, soll weiterhin sinnvoll von ihm die Rede sein, was ein Wort nicht bedeuten kann, soll es weiterhin in unzähligen beispielhaften Abwandlungen sinnvoll verwendet werden. Ein Wort wird 27 | Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, zweisprachige Ausgabe, Oxford 1999, S. 33.
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als Begriff gebraucht, wenn seine Bedeutung von der anderer Wörter abgegrenzt wird (»das ist ein Spiel«, »das ist kein Spiel«), wobei diese Abgrenzung der Anführung von Gründen bedarf (»dies ist ein Spiel, jenes dagegen nicht, weil allein hier gewisse Bedingungen erfüllt sind«) und nicht mit der Feststellung eines Soseins oder Nicht-Soseins gleichgesetzt werden darf, die die Bedeutung zu einem Ding erstarren ließe und den automatischen Begriffsgebrauch um seinen Sinn bringen würde. Es mag konkurrierende Bestimmungen eines Begriffs geben, aber jeder begrifflichen Bestimmung ist es, wo es ihr um den Begriff als Begriff zu tun ist, eigentümlich, daß sie eine Grenzziehung vornimmt, den ideellen, aber dadurch nicht weniger realen Punkt eines »Alles-oder-Nichts« zu bezeichnen sucht, eben weil Begriffe nicht (natur)gegeben sind. Erneut verdoppelt sich das X der Dekonstruktion zweimal. Die erste Verdoppelung teilt es jetzt in das X, dessen Begriff auf eine laxe, dehnbare, ungenaue, empirische, reflektierende, von Abweichungen und äußeren Umständen bedingte Weise gebraucht wird, und in das X, dessen Begriffsgebrauch die Unbedingtheit zu berücksichtigen sucht, die den Begriff als (philosophischen oder ultrametaphysischen) Begriff definiert. In dem Maße, in dem dieser Unbedingtheit in der Wirklichkeit oder in der Erfahrung nichts entspricht, gilt es, sich an jedem X als einem begrifflichen zu messen, und zwar um der Wirklichkeit willen – in der Sprache der Metaphysik würde man sagen, daß der Begriff zur Idee oder zum Ideal wird. In dem Maße, in dem aber die Idee oder das Ideal den Überschuß der begrifflichen Idealität in die Grenzen eines Horizonts oder einer reinen Selbstgegenwart verweisen, unter der Hand das Unbedingte in ein Bedingtes zurückverwandeln, sieht die Dekonstruktion ihre Aufgabe darin, den metaphysischen oder phonologozentrischen Begriff erneut auf die Unbedingtheit hin zu öffnen, das X, das dem Alles-oderNichts als bestimmendes Merkmal des Begriffs des Begriffs untersteht, bis zur Unmöglichkeit seiner Möglichkeit zu treiben, bis zu der Grenze, an der es zum ultrametaphysischen Nicht-X oder Y wird, an dem sich das bedingte X dann messen muß. Bemüht sich die Dekonstruktion darum, den Nachweis zu erbringen, daß die Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Erfahrung einerseits, begrifflicher Idealität und Unbedingtheit andererseits eine durchbrochene ist; tritt die Iterabilität des Begriffs, die die Idealität der unveränderten Wiederholung und die Erfahrung der tatsächlichen Veränderung ineinssetzt, an die Stelle des Begriffs des philosophischen Begriffs, so richtet sich letztlich dessen Dekonstruktion nicht auf die Wiederherstellung eines Relativismus der Wirklichkeit, sondern auf die Entkräftung einer Unbedingtheit, die nicht unbedingt genug und dadurch in Wahrheit bereits kraftlos ist. Denn einzig in diesem Fall rührt sie an den Sinn der différance oder der Iterabilität, redet sie der Erzeugung von
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Neuem oder Anderem nicht nur um ihrer selbst willen das Wort, ist die Erzeugung von Neuem oder Anderem an ein Sich-Messen geknüpft. Es gibt also zwei sachhaltige Gründe, aus denen Derrida an der Metaphysik oder dem Phonologozentrismus festhält, gegen die sich die Dekonstruktion richtet und in denen die Dekonstruktion sich schon auswirkt; oder genauer: Derrida hält an der Metaphysik oder dem Phonologozentrismus aus einem Grund fest, der Orientierung am Unbedingten, die einen negativen und einen positiven Aspekt aufweist. Der negative Aspekt liegt in der Aufdeckung eines transzendentalen Scheins im Denken, der die Unbedingtheit verdinglicht oder hypostasiert, der andere, positive, in der Unbedingtheit selber, die dem Begriff als Begriff eignet und in deren Bedeutung die Metaphysik oder der Phonologozentrismus eine zumindest begrenzte Einsicht gewähren. Zieht man die Verdoppelungen von X in Betracht, erhält man für die Dekonstruktion zusammenfassend eine Formel, die lautet: X verdient den Namen X einzig, wenn es sich an Nicht-X (oder Y) mißt. Dabei muß beachtet werden, daß Nicht-X (oder Y, soll entweder eine Andersheit oder die Inkommensurabilität zwischen X und Nicht-X zugespitzt ausgedrückt werden) nicht eindeutig bestimmt werden kann: denn es kann sowohl das Gegenteil von X bedeuten (wie etwa in der Aussage, nur das Unverzeihliche könne man verzeihen) als auch das Andere von X (wie etwa in dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit) als auch die hyperbolische Übertreibung des Begriffs von X (wie etwa in dem Verhältnis zwischen einer bedingten und einer unbedingten Gastfreundschaft). Nimmt man die drei Beispiele noch einmal auf, ergeben sich folgende Formeln: Verzeihung verdient, Verzeihung genannt zu werden einzig, wenn sie sich am Unverzeihlichen mißt (das heißt: das Unverzeihliche verzeiht); Rechtsprechung verdient, Rechtsprechung genannt zu werden einzig, wenn sie sich an der Gerechtigkeit mißt, die sich in keinem Gesetz fassen läßt (ein bestehendes Gesetz nicht einfach anwendet und dadurch den Umstand miteinbezieht, daß das Recht wesentlich dekonstruierbar ist und diese Dekonstruktion ebensowenig eine willkürliche, dem Recht äußerliche wie eine durch das Recht vorgeprägte sein kann; es ist gerade die Dekonstruierbarkeit von X, die dazu führt, daß es sich an Nicht-X oder Y mißt, da es immer X ist, das dekonstruiert wird, nicht ein beliebiges Etwas); Gastfreundschaft verdient, Gastfreundschaft genannt zu werden einzig, wenn sie sich an der (begrifflichen) Unbedingtheit mißt (bedingungslos den Fremden aufnimmt, einem Alles-oder-Nichts, einem Ja-oder-Nein gemäß, das dem Begriff als solchem innewohnt und ihn als »reinen« Begriff auszeichnet). »Ich versuche, zu denken, wie das einzig mögliche X in der Gestalt des Unmöglichen auftreten muß«, bemerkt Derrida in einer Diskussion. Und fügt hinzu: »Ich versuche also, eine Logik zu entwickeln, in der das einzig mögliche X (und
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ich meine hier jeden strengen Begriff von X) das ›unmögliche X‹ ist.«28 Weil in jedem der genannten Beispiele ein Unbedingtes oder inkommensurabel Anderes (das jeweils eine andere Gestalt annimmt) über die Möglichkeit von X entscheidet, führt die Formel der Dekonstruktion nicht zu dem feststellbaren Ergebnis, X verdiene, X genannt zu werden oder nicht. (Um eines der gewählten Beispiele aufzugreifen, sei aus Derridas Force de loi zitiert. Niemals, so liest man dort, könne man »in der Gegenwart« oder in einem »gegenwärtigen Augenblick« behaupten, daß eine Entscheidung, die eines Richters, gerecht sei, »rein gerecht«, also »frei und verantwortlich«.29) Das Verhältnis von X und Nicht-X (oder Y), das Sich-Messen, rückt gleichsam in die Perspektive von Z, das man aber von der Inkommensurabilität des Verhältnisses selbst, die das Sich-Messen sowohl veranlaßt als auch ausmacht, nicht eigentlich unterscheiden kann. Indem X sich zu Nicht-X (oder Y) verhält, schielt es nicht auf Z (als wolle es dadurch erfahren, ob es verdient, X genannt zu werden oder nicht), da Z nicht anders gegeben ist als in dem Verhältnis selber, in dem Sich-Messen. Ein Z als Instanz außerhalb des Verhältnisses von X und Nicht-X (oder Y) würde einen Rahmen für die Bewährungsprobe des Sich-Messens abstecken und Nicht-X (oder Y) seine Unbedingtheit, seine Unmöglichkeit, seine Inkommensurabilität nehmen. Indem also X sich zu Nicht-X (oder Y) verhält, ist es Z, ist es immer schon da, ohne es zu sein – genau das intendiert wohl der Neologismus der différance, wenn seine Herausforderung des Sinns einen gewissen Sinn haben, will sagen: eine Herausforderung sein soll. Nach dem Zusammenhang zwischen Versprechen und Ereignis gefragt, danach, was ein performativer Sprechakt erzeugen oder bewirken soll, antwortet Derrida während eines Seminars: »Ein reines Ereignis, das seinen Namen verdient oder seines Namens würdig ist [digne de ce nom], hat verwirrende Folgen für die konstative Aussage und den performativen Sprechakt.«30 Der performative Sprechakt mißt sich an einem Ereignis, über dessen Erzeugung oder Bewirkung er nicht verfügt, weil es ein reines Ereignis, der Begriff eines Ereignisses ist, ein Unbedingtes und Unmögliches; der Sprechakt sucht also durch die Erzeugung oder Bewirkung eines solchen Ereignisses, eines solchen Tuns im Sprechen, seinen Namen zu verdienen oder sich seines Namens würdig zu erweisen. Worin besteht aber diese Auszeichnung eines Würdigseins, ein Verdienst, das nicht darin bestehen kann, daß X auf irgendeine Art und Weise, die man feststellen könnte, sich an Nicht-X (oder Y) gemessen hat und seinen Namen (X) 28 | Arguing with Derrida, hg. von S. Glendinning, Oxford 2001, S. 55. 29 | Jacques Derrida, Force de loi, Paris 1994, S. 52. 30 | Jacques Derrida, Gad Sousanna und Alexis Nouss, Dire l’événement, estce possible? Séminaire de Montréal, Paris 2001, S. 109.
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aufgrund dieser Erfahrung, dieser Tat oder dieser Leistung trägt? Unter Anspielung auf Nietzsche spricht die Literaturwissenschaftlerin Shoshana Felman in ihrem Buch The Literary Speech Act von dem »Skandal des versprechenden Tieres, der darin besteht, daß es eben genau das Unhaltbare verspricht.«31 Wenn X in ein Verhältnis zu Nicht-X (oder Y) tritt, kann darin also auch eine Verstocktheit sich auswirken oder eine List zum Zuge kommen, eine Instrumentalisierung von Nicht-X (oder Y) zum Zwecke der Täuschung und der Selbstbehauptung von X. Gehört dann aber diese Unterbrechung, diese Umfunktionierung oder diese Verdinglichung des Sich-Messens, die auf einer Trennung von Möglichkeit und Unmöglichkeit beruht, nicht zu dem Sich-Messen, mißt sich das Sich-Messen nicht ebenfalls daran? Daß ein Verdienst ständig in Aussicht gestellt wird und die Erwartung wieder enttäuscht, bedeutet, daß dadurch die Möglichkeit eines Verdiensts gegeben ist, eines Gewinns, der aus der instrumentellen Handhabung des Verhältnisses zu Nicht-X (oder Y) resultiert. Man könnte sogar mit Felman so weit gehen, zu sagen, daß durch das instrumentalisierte Versagen des Sich-Messens indirekt, negativ oder im Symptom an die »unmögliche Wirklichkeit« gerührt, der Unterschied, durch den die Wirklichkeit Widerstand oder Entzug ist, unberührbar, »vorgeführt« wird.32 Ist das ein Verdienst? Gleichzeitig bedeutet die enttäuschte Aussicht auf ein Verdienst jedoch, daß man es anders denken muß, das Verhältnis von Möglichkeit und Unmöglichkeit nicht als eines denken darf, das eine schlechte Unendlichkeit zeitigt.33 So sehr eine der sogenannten »vermischten Bemerkungen« Wittgensteins eher an Spinoza erinnert als auf Derrida vorverweist, weil dieser stets die Zerrissenheit des Sich-Messens, die Möglichkeit und die Unmöglichkeit einer in der Unmöglichkeit liegenden Möglichkeit hervorhebt, einer »Lebensform«, so naheliegend scheint 31 | Shoshana Felman, The Literary Speech Act, Ithaca 1983, S. 12. 32 | Ebd., S. 84. 33 | Indem sie die différance als Verhältnis des urteilenden endlichen Subjekts zu einem »Ideal des Wissens« deutet, das nicht zu einem Inhalt des Urteilens werden kann, weil es für das Urteilen konstitutiv sein soll, setzt sich Andrea Kern ihrerseits einer Deutung der différance als schlechter Unendlichkeit entgegen: »Endliche Subjekte können also in ihren Urteilen über die Welt prinzipiell das Ideal des Wissens erfüllen. Doch es macht für ein endliches Subjekt keinen Sinn, von einem bestimmten Urteil hier und jetzt zu urteilen, es erfülle das Ideal des Wissens.« (Andrea Kern, »Wissen vom ›Standpunkt eines Menschen‹«, in: Philosophie der Dekonstruktion, hg. von A. Kern und Ch. Menke, Frankfurt a.M. 2002, S. 238f.) Différance heißt dann nicht, daß kein Urteil dem Urteil (idealen Wissens) genügt, jedes Urteil in diesem Sinne das Ideal nicht erfüllt, sondern: daß man urteilt, ob ein Urteil dem Urteil (idealen Wissens) genügt oder nicht.
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es wiederum zu sein, in der Idee einer verwandelnden Anerkennung des Problematischen eine Möglichkeit zu erblicken, das unmögliche Verdienst des Sich-Messens zu denken: »Die Lösung des Problems, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu leben, die das Problemhafte zum Verschwinden bringt. Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann Dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische. Aber haben wir nicht das Gefühl, daß der, welcher nicht darin ein Problem sieht, für etwas Wichtiges, ja das Wichtigste, blind ist? Möchte ich nicht sagen, der lebe so dahin – eben blind, gleichsam wie ein Maulwurf, und wenn er bloß sehen könnte, so sähe er das Problem? Oder soll ich nicht sagen: daß, wer richtig lebt, das Problem nicht als Traurigkeit, also doch nicht problematisch, empfindet, sondern vielmehr als eine Freude; also gleichsam als einen lichten Äther um sein Leben, nicht als einen fraglichen Hintergrund.«34 Wittgenstein redet von einer »Freude«, wie an jener anderen Stelle, wo er die Freude an philosophischen Gedanken mit der Freude an seinem »eigenen seltsamen Leben« gleichsetzt.35 Diese »Freude« richtet sich wohl auch gegen das, was er »Tragik« nennt und was wie die »Traurigkeit« oder die Schwermut ein Verhältnis zu dem Problem des Lebens zum Ausdruck bringt, das Wittgenstein verwirft; ob das Problem selber sich im »Äther« auflöst oder nur das Problematische des Verhältnisses zum Problem, ob es sich um eine verwandelnde Anerkennung handelt oder um eine Abschaffung, läßt er offen, wenn er die Differenz zu einer tragischen Erfahrung der Welt markieren will: »Eine Tragik gibt es in dieser Welt (der meinen) nicht und damit all das Unendliche nicht, was eben die Tragik (als Resultat) hervorbringt. Es ist sozusagen alles in dem Ether löslich; es gibt keine Härten. Das heißt die Härte und der Konflikt wird nicht zu etwas Herrlichem sondern zu einem Fehler.«36 Während der Unterschied zwischen den philosophischen Temperamenten Wittgensteins und Derridas in der Bewertung der Unendlichkeit liegt, die der eine Philosoph als Anzeichen eines grundlegenden »Fehlers« im Verhältnis zu dem Problem des Lebens ansieht, der andere dagegen als Bewegung und Sinn der différance, die das Leben dem Tod aussetzt und es zugleich vor ihm bewahrt, die also das Problem des Lebens genau bezeichnet, mag Wittgensteins Bemerkung über eine verwandelnde Anerkennung dennoch hilfreich sein, um den Derridaschen Gedanken eines Verdiensts besser zu verstehen. Denn die »Freude« entspringt nicht einer Verleugnung oder einer letztendlichen Lösung des 34 | Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a.M. 1994,
S. 62f. 35 | Ebd., S. 46. 36 | Ebd., S. 35.
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Problems, ist nicht die Äußerung, an der man ein am Ende zugesprochenes Verdienst ablesen kann: »Wenn einer die Lösung des Problems des Lebens gefunden zu haben glaubt und sich sagen wollte jetzt ist alles ganz leicht so brauchte er sich zu seiner Widerlegung nur sagen daß es eine Zeit gegeben hat wo diese ›Lösung‹ nicht gefunden war; aber auch zu der Zeit mußte man leben können und im Hinblick auf sie erscheint die gefundene Lösung wie ein Zufall.«37 Das Verdienst, so könnte man Derrida in der Nachfolge Wittgensteins deuten, ist nicht der (stets nur versprochene) Erfolg eines Tuns oder Handelns, eines Verhaltens, sondern vielmehr ein Verhalten zu diesem Verhalten (zu dem Sich-Messen) oder eine (niemals einfach gegebene und willentlich einnehmbare) Haltung, die sich in diesem Verhalten (im Sich-Messen) zeigt, ein Ernst: daß es um etwas geht, daß es X um X geht, nicht im Sinne einer Selbstbefangenheit, sondern in dem, daß ein anderer nichts für X tun kann, was X nicht selber zu tun vermag. »Niemand kann einen Gedanken für mich denken, wie mir niemand als ich den Hut aufsetzen kann.«38 Weder kann ein solcher Ernst durch Erziehung allein entstehen noch durch Konvention verbürgt werden; Innerlichkeit muß nicht seine Bedingung sein, Tiefe nicht sein Ausdruck. Er hängt an Erfahrungen und Beobachtungen, die sich in der Herstellung eines kleinsten und unmerklichen Abstands niederschlagen können, in einer Ironie oder einem Witz. Hier ist ein Punkt erreicht, an dem die Lehre des Philosophen, Derridas Beispiel als Lehrender, sich mit dem Gelehrten, mit dem Inhalt, berührt. Daß es X mit diesem aufmerksamen Ernst, der sich dem Sich-Messen mitteilt, es über die Virtuosität im herausfordernden Spiel, das Erfolgsversprechen im perfektionistischen Hindernisrennen, auch das Pathos der Zerrissenheit im Kampf erhebt, und der vielleicht durch eine Gelassenheit geprägt wird, ohne die er ungeduldige Verbissenheit wäre, um X gehen kann und gehen muß, darum, einen Namen zu verdienen und nicht nur zu tragen, darum, einem Anspruch an sich selber zu genügen oder gerecht zu werden (etwa dem, ein versprechender oder verzeihender einzelner zu sein), hat seinen Grund in der Unbedingtheit, die im Fall der Gerechtigkeit sowohl ihr begriffliches Merkmal ist als auch ihren Begriff als Begriff auszeichnet. Aus zeitlicher Perspektive duldet sie keine Verzögerung, keine Vertröstung, keine Ausrede, läßt sie X keine Zeit und verweist X immer wieder und unmittelbar an das Hier und Jetzt; oder, um es dem Wortlaut, aber nicht der Sache nach anders zu formulieren: daß es X mit aufmerksamem Ernst um X gehen kann und gehen muß, hat seinen Grund in der différance, die,
37 | Ebd., S. 25. 38 | Ebd., S. 23.
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wie Derrida unterstreicht,39 sich gerade insofern in einer Erfahrung der Dringlichkeit des Augenblicks kundtut, als X nie einfach gegeben ist, seine Einzigartigkeit (etwa die eines verzeihenden oder versprechenden einzelnen) in einem unauf hebbaren Uneinssein besteht, in einer Gespaltenheit, Veränderbarkeit, Ersetzbarkeit, nicht in einer vergegenständlichenden und die Einzigartigkeit durchstreichenden Gegebenheit. Was sich im Ernst zeigt, weil das Sich-Messen davon berührt worden ist und daran gerührt hat, ist die Dekonstruierbarkeit (in) der Dekonstruktion und damit gleichsam eine innere Grenze des »Wenn-ich-du-wäre«. Die Dekonstruierbarkeit steht hier nicht für ein Wesen oder eine abstrakte Möglichkeit, sondern meint eben den Umstand, daß es der Dekonstruktion immer um ein X zu tun ist, nicht einfach um eine allgemeine Dekonstruktion von alles und jedem. So erklärt sich, warum es nicht ausreicht, zu sagen, daß die Dekonstruierbarkeit von X die Dekonstruktion ermöglicht, und es einer weiterführenden Klärung bedarf: »Die Nicht-Dekonstruierbarkeit der Gerechtigkeit ermöglicht ebenfalls die Dekonstruktion, ja ist von ihr ununterscheidbar.« 40 Nicht, daß es zwei Bedingungen der Dekonstruktion gibt, will Derrida behaupten, eine formale, die Dekonstruierbarkeit oder die abstrakte Möglichkeit der Dekonstruktion überhaupt, und eine inhaltliche, die Gerechtigkeit, sondern daß die Dekonstruierbarkeit stets die von X ist und damit X gerecht werden muß. Mit anderen Worten: durch die und in der Dekonstruktion (von X) zeigt sich, was sich nicht dekonstruieren läßt und was X in ein Verhältnis des Sich-Messens setzt. Wenn X gleichsam unter dem Aspekt der Gerechtigkeit erscheint, erscheint es in dreifacher Hinsicht: als dekonstruierbares X, als nicht-dekonstruierbarer Begriff von X (Nicht-X oder Y), als X, das sich als dekonstruierbares gerade am NichtDekonstruierbaren messen muß, um den Namen X zu verdienen. Die Dekonstruierbarkeit (in) der Dekonstruktion ist das Nicht-Dekonstruierbare. Wenn die Schlußfolgerung, die Derrida aus der doppelten Prämisse einer Ermöglichung der Dekonstruktion zieht (die Dekonstruierbarkeit von X und die Nicht-Dekonstruierbarkeit der Gerechtigkeit ermöglichen die Dekonstruktion), sich als mißverständlich erweisen kann, so deshalb, weil sie Dekonstruierbarkeit und Nicht-Dekonstruierbarkeit auseinanderhält, es tun muß, will sie eine Schlußfolgerung sein. Die Ununterscheidbarkeit zwischen Dekonstruktion und Nicht-Dekonstruierbarkeit, die in der zweiten Prämisse behauptet wird (die Nicht-Dekonstruierbarkeit der Gerechtigkeit soll in der Dekonstruktion aufgehen, sich gleichsam mit ihr »vermischen«) und die sie selber als weitere Prämisse in Frage stellt (wenn man zwischen der Dekonstruktion und der Nicht-Dekonstruierbarkeit nicht 39 | Jacques Derrida, Spectres de Marx, Paris 1993, S. 60. 40 | Jacques Derrida, Force de loi, S. 35.
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eigentlich zu unterscheiden vermag, vermag man auch nicht zwischen der Dekonstruierbarkeit und der Nicht-Dekonstruierbarkeit zu unterscheiden, ist die Dekonstruktion beides ineins, die Dekonstruierbarkeit und die Nicht-Dekonstruierbarkeit von X), wird in den Hintergrund gedrängt, die Zweideutigkeit der Dekonstruktion, ihr zweifacher Bezug auf Andersheit, in den Vordergrund: »Die Dekonstruktion ereignet sich in dem Abstand, der die Nicht-Dekonstruierbarkeit der Gerechtigkeit und die Dekonstruierbarkeit [von X] trennt.« 41 Dieser Abstand darf folglich nicht mit dem zwischen zwei unterscheidbaren Bedingungen der Dekonstruktion verwechselt werden, als würde es eine Dekonstruktion der différance und eine des inkommensurabel Anderen geben. Vielmehr ist der Abstand als der des Sich-Messens von X an Nicht-X oder Y zu verstehen, das eine Dekonstruierbarkeit impliziert (im Sich-Messen wird deutlich, was es heißt, einen Namen nur zu tragen) und, untrennbar davon, eine Nicht-Dekonstruierbarkeit (im Sich-Messen wird deutlich, was es heißt, den Namen oder – gar – das Tragen eines Namens zu verdienen). Supplement – Daß erst durch den Bezug auf das inkommensurabel Andere der Sinn der différance dargetan werden kann und sich dieser Bezug der Sache nach schon auf die Formulierungen der différance auswirkt, in denen er nicht als solcher vorkommt, läßt sich nicht nur ex negativo zeigen, indem man fragt, was die Kritik an dem Metaphysikbegriff der Dekonstruktion motiviert, sondern ebenfalls, indem man zum Beispiel versucht, eine Bemerkung zu verstehen, mit der Stanley Cavell eine Deutung der Iterabilität vorschlägt, wie Derrida sie metaphysikkritisch faßt. Ich bin, so Cavell, den Wörtern, die ich spreche oder schreibe, meinen Äußerungen, von denen ich mich beim Sprechen oder Schreiben zwangsläufig trennen muß, wie Dieben oder Verschwörern ausgesetzt, die mir den Atem rauben. 42 Diese Bemerkung, die der Entgrenzung der Mitteilung durch die Iterabilität Grenzen setzen soll, um sie auf ihre wahren oder »spezifischen« Bedingungen zurückzuführen, findet ihre Entsprechung in einer anderen Bemerkung Cavells – daß nämlich die Wiederholung, die für das Sprechen, Schreiben, Mitteilen nötig ist, an einem anderen Ort geschieht, dort, wo der Andere einer Stimme, dem Sprechen oder der Sprache eines Ich, widersteht oder sie eindämmt und sogar unterdrückt. 43 Die Rückführung von Derridas Entgrenzung auf ihre »spezifischen« Bedingungen stimmt jedoch genau mit dem Gedanken des Sich-Messens überein, den der Bezug 41 | Ebd. 42 | Stanley Cavell, A Pitch of Philosophy, Cambridge und London 1996, S. 125. 43 | Ebd., S. 72.
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auf ein inkommensurabel Anderes oder einen inkommensurabel Anderen nahelegt. Kurz: der Sinn der Iterabilität tritt, wie der der différance, erst dann hervor, wenn man der Frage nachgeht, warum Derrida einen solchen Bezug schafft. Das sprechende, schreibende, sich mitteilende Ich, das Ich, das signiert, seine Eigenheit kennzeichnet, seine Stimme zu Gehör bringt, muß sich an dem Anderen messen, der es überhaupt sprechen, schreiben, sich mitteilen läßt und der deshalb ein inkommensurabel Anderer ist: »Wenn ich du wäre«. Könnte man nicht, um diesen Sinn der différance oder der Iterabilität präziser zu bestimmen, also das Sich-Messen, behaupten, daß es sich jedes Mal um das »Gefühl der Existenz« handelt, von dem wohl Rousseau als erster gesprochen hat, als würde Derridas Anstrengung dem Unternehmen gelten, dieses »Gefühl« erneut und neu zu erschließen – trotz oder gerade wegen der Dekonstruktion jener »Metaphysik«, der er Rousseaus »Traum« einer in der Gegenwart andauernden Zeit zurechnet, einer Zeit der ununterbrochenen und sich selber genügenden Anwesenheit? Man achte auf den Wortlaut eines Satzes aus der Grammatologie. Der Satz bezieht sich auf einen Abschnitt im fünften Spaziergang der Rêveries, der dem Abschnitt, in dem von einem »bloßen« oder »baren« Gefühl der Existenz44 die Rede ist, fast unmittelbar vorangeht: »Der rauschhafte Genuß, die Lust, die eine ständige und unartikulierte Gegenwart bereitet, ist beinahe unmöglich.« 45 An Ort und Stelle meint Derrida mit dieser Unmöglichkeit, die lediglich »beinahe« eine solche ist, eine Befangenheit in einem Schema der Metaphysik, das die Reinheit durch den Zusatz einer einfachen Äußerlichkeit, einer Äußerlichkeit, die der Reinheit nicht selber innewohnt, ergänzt. Im Zusammenhang mit dem Denken der Dekonstruktion aber, das durch den Bezug auf Andersheit als différance und Inkommensurabilität bestimmt wird, könnte die Einschränkung auf eine ganz verschiedene Art ausgelegt werden, sowohl als Erinnerung an den Unterschied zwischen der begrifflichen Unbedingtheit der Metaphysik und der Dekonstruktion als auch als Fingerzeig auf ein Sich-Messen, dessen Möglichkeit in der Unmöglichkeit gesucht werden muß. So ist die 44 | Jean-Jacques Rousseau, Les rêveries du promeneur solitaire, in: Œuvres complètes (La Pléiade), Band 1, S. 1047. 45 | Jacques Derrida, De la grammatologie, S. 354. Vgl. dazu ebenfalls den Aufsatz Dieter Thomäs »›Das Gefühl der eigenen Existenz‹ und die Situation des Subjekts. Mit Rousseau gegen Derrida und de Man denken«, in: Philosophie der Dekonstruktion, s.o. Für Thomä folgt aus dem, was hier der Bezug auf ein inkommensurabel Anderes genannt wird, allein eine »Zurückhaltung angesichts der Unergründlichkeit des Individuellen« (ebd., S. 328). Die »situative Ermöglichung des Sprechens, das im ›Gefühl der eigenen Existenz‹ einen Rückhalt findet«, soll von der Dekonstruktion verkannt werden.
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Dekonstruktion vielleicht selber immer in der Position oder am Ort des Anderen, der die eigenen Worte wiederholt. Die »spezifischen« Bedingungen ihres Denkens werden erprobt.
0.4 Der nordamerikanische Rechtswissenschaftler und Philosoph Martin Stone hat gegen die Dekonstruktion vorgebracht, daß sie den »Schein der Möglichkeit« 46 hegt. Damit will er sagen, daß durch die Berufung auf eine Möglichkeit der Schein erzeugt wird, eine solche Möglichkeit könne sinnvoll in Betracht gezogen werden. Wenn man annimmt, daß die Berufung der Dekonstruktion auf eine Möglichkeit den Zweck erfüllt, die Gewißheit oder die Sicherheit herauszufordern, mit denen man sich in einem gegebenen oder vorgebildeten Zusammenhang bewegt, so bezweifelt Stone, daß es stets eine Perspektive gibt, die Raum für eine »verständliche Herausforderung« 47 gewährt. Letztlich richten sich Stones Zweifel freilich nicht allein auf die Möglichkeit einer grundsätzlich sinnvollen Berufung auf eine herausfordernde Möglichkeit, sondern auf die Tragweite von Theorie oder Philosophie, auf den von ihm als »metaphysisch« bezeichneten Versuch, die »Bedingungen der Verständlichkeit der Welt als ganze« 48 freizulegen, zu dem die Berücksichtung abstrakter Möglichkeiten gehören soll. »Wenn wir«, schreibt Stone in einem Essay über Derrida und Wittgenstein, »den Gebrauch eines Zeichens als ein Ereignis betrachten, das, richtig verstanden, die es umgebende Situation mit einschließt, dann sehen wir zwangsläufig, daß aus der Tatsache, daß Zweifel über die Bedeutung möglich sind, nicht folgt, daß irgend jemand tatsächlich zweifelt oder (in dieser Situation) überhaupt einen verständlichen Zweifel vorbringen könnte.« 49 Mit seinem Einwand zwingt Stone den Leser, sich darüber klar zu werden, was wohl Derrida genau im Auge hat, wenn er zum Beispiel darauf beharrt, daß die Möglichkeit des Mißlingens nicht als eine solche behandelt werden darf, die der Beschreibung der Bedingungen, unter denen man von einem Gelingen redet, äußerlich bleibt, als zufällige und unwesentliche Ausnahme im Verhältnis zum Normalfall. Dieses Beispiel trifft im Grunde auf alle, die Stone anführen könnte, da ja eine Möglichkeit nur dann als herausfordernd angesehen werden kann, wenn sie ein Gelingen in Frage stellt, die Anwendung des Maßstabs, nach dem etwas 46 | Martin Stone, »On the Old Saw ›Every Reading of a Text is an Interpretation‹«, in: The Literary Wittgenstein, hg. von J. Gibson und W. Huemer, London und New York 2004, S. 197. 47 | Ebd., S. 199. 48 | Ebd., S. 189. 49 | Martin Stone, »Die dekonstruktive Stimme in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen«, in: Philosophie der Dekonstruktion, S. 170.
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als das zu gelten vermag, was es sein soll. Reicht es, die Berufung auf eine Möglichkeit, die ein Gelingen herausfordert, als Instanz der Verfolgung des »praktischen Ziels« auszugeben, ein über das »Plausible« hinausgehendes Zugeständnis zu machen, um »falsche Entscheidungen« zu verhüten?50 Weder kann man die Verhütung einer »falschen Entscheidung« zu einem allgemeinen »praktischen Ziel« erklären, da man erst durch eine solche Entscheidung zu einer richtigen finden mag, noch muß das Plausible, also das Einleuchtende, das Zustimmung erheischt, in jedem Fall gegen eine Falschheit, einen Irrtum, eine Täuschung abgesichert werden, deren Annahme es bereits als zweifelhaft erscheinen läßt, ob man es mit der Plausibilität ernst meint, das Einleuchten nicht unter eine Beweislast stellt, die es überfordert. Die Frage nach der sinnvollen Berücksichtigung einer Möglichkeit, die ein Gelingen herausfordert, läßt folglich nur Antworten zu, die nicht ihrerseits zur Folge haben, daß der dem Anschein nach vergrößerte Spielraum in Wahrheit eingeengt wird, etwa für Entscheidungen. »Um eines zu sein, muß sich ein Versprechen als unhaltbar erweisen und also kein Versprechen sein können«, schreibt Derrida. Und fügt in einer Klammer hinzu: »Denn ein unhaltbares Versprechen ist kein Versprechen.« Die Konsequenz, die man, folgt man Derrida an dieser Stelle, aus dieser Möglichkeit der Unmöglichkeit ziehen muß, aus diesem Mißlingen, das dem Versprechen als Abschaffung seiner selbst innewohnen soll, ist die, daß es verwehrt bleiben muß, aufgrund eines »bestimmenden oder theoretischen Urteils« festzustellen, daß ein Versprechen wirklich ein Versprechen ist.51 Hat man damit einen Dogmatismus des Versprechens abgewehrt, als wäre jedes Versprechen nur das Versprechen eines Versprechens und jede Berufung auf es ein gewaltsamer Versuch, der Verkettung von Versprechen Einhalt zu gebieten? Läßt sich die Abwehr durch den Rekurs auf einen transzendentalen Schein rechtfertigen und damit perpetuieren, oder genügt als Rechtfertigung die zeitbedingte Notwendigkeit, gegen eine Richtung zu kämpfen, die »durch andere Richtungen verdrängt« werden wird, so daß man, um wiederum Wittgenstein zu zitieren, in der Zukunft nicht mehr begreifen wird, »warum man all das hat sagen müssen«?52 Die erste Möglichkeit kippt in dem Maße, in dem sie auf einer Einsicht in den transzendentalen Schein beruht, in die zweite Möglichkeit um, so hartnäckig der Schein sich auch erhalten mag, so sehr seine Möglichkeit die der Einsicht herausfordert. 50 | Thorsten Hitz, Jacques Derridas praktische Philosophie, München 2005, S. 197. 51 | Jacques Derrida, »Avances«, in: Serge Margel, Le tombeau du dieu artisan, Paris 1995, S. 26. 52 | Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, S. 89.
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Den Unterschied zwischen Gelingen und Mißlingen zu relativieren, kann dazu beitragen, eine dogmatische Erstarrung dessen, was man jeweils unter einem Gelingen versteht, zu erkennen und ein Bewußtsein des Ausschlusses eines wichtigen Aspekts des Gelingens zu erlangen. Das muß aber von Fall zu Fall immer wieder gezeigt werden, da der Verdacht, den die Relativierung ausdrückt, sich in leere Allgemeinheit verflüchtigt, wo er von einem solchen Nachweis dispensiert. In einem Vortrag führt Derrida folgendes Beispiel für das möglicherweise legitime Brechen eines Versprechens an: »Ich habe in der Vergangenheit aufrichtig etwas versprochen, doch Zeit ist verstrichen, die Zeit ist also vorbei oder darüber hinaus, jener, der das Versprechen gegeben hat, damals oder neulich, kann seinem Versprechen zwar treu bleiben, doch handelt es sich nicht mehr um mich, ich bin nicht mehr dasselbe Ich, ich bin ein Anderer, Ich ist ein Anderer, ich habe mich verändert, alles hat sich verändert, auch jener oder jene, denen das Versprechen galt. Ich habe es vergessen… Zum Beispiel: Ich war verliebt, bin es aber nicht mehr auf die gleiche Art oder im gleichen Maße, liebe einen Anderen, und ich bin unfähig, davon Rechenschaft abzulegen; man frage den Anderen, der in mir für mich darüber entscheidet.«53 Man könnte das Ich, das hier im Bewußtsein seiner Nichtidentität spricht, fragen, ob es überhaupt ein Versprechen gebrochen und folglich in der Vergangenheit gegeben hat, da es ja die Zeit, die sich spaltend auf es auswirkt, als eine Macht darstellt, die jeden Versuch durchkreuzt, sich über sein Verhalten Rechenschaft abzulegen oder es als das eigene Verhalten zu betrachten. Dann wäre aber der Hinweis auf die Schwierigkeit, bestimmend darüber zu urteilen, ob ein Versprechen gegeben oder gebrochen wurde, ob es sich um einen gelungenen oder mißlungenen Akt des Versprechens handelte, kaum als Antwort annehmbar. In der erklärenden Rede des Ichs will es beinahe so scheinen, als würde die Zeit das Versprechen geben oder brechen! Hat das Ich ein Versprechen gegeben, so muß sich, wenn es dies im Ernst getan hat, die Treue, die mit dem Versprechen einhergeht und deren Sinn von Anfang an abhängig ist von den Überlegungen, die das Ich hier nach der geschehenen Veränderung anstellt, bis in den Bruch auswirken, ja über ihn hinaus, etwa als Unterschied zwischen dem Ausdruck einer Bestürzung und dem Achselzucken, das das »Es geht halt weiter, wie die abstrakte Zeit« bedeutet. Vielleicht könnte man auch sagen: Die Zeit ist in diesem Fall kein Anderer, ihre Andersheit tritt zwischen das Ich und den Anderen, dem das Ich etwas versprochen hat, zwischen das Ich des Versprechens und das Ich des Bruchs, nicht wie die Andersheit, die
53 | Jacques Derrida, »Le parjure, peut-être (›brusques sautes de syntaxe‹)«, in: Jacques Derrida, Cahier de L’Herne, S. 583f.
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das Verhältnis zwischen dem versprechenden Ich und dem Du, dem das Versprechen gegeben wird, kennzeichnet. Vergegenwärtigt man sich noch einmal, daß der Bezug der Dekonstruktion auf ein inkommensurabel Anderes es erlaubt, das Verhältnis von X zu sich selber (als Nicht-X oder Y) im Sinne eines Sich-Messens zu deuten und damit von der Abstraktheit der Feststellung zu lösen, X sei X nur in dem Maße, in dem es Nicht-X oder Y sei; vergegenwärtigt man sich also, daß der Dekonstruktivist damit in der Lage ist, eine Unterscheidung zwischen dem bloßen Tragen und dem Verdienen eines Namens zu treffen, scheint die Berufung auf eine herausfordernde Möglichkeit, auf eine Möglichkeit, die eine gewisse Unmöglichkeit anzeigt, den Sinn zu haben, das Sprechen, das Denken oder das Handeln von X als eines herauszustellen, das bei aller Konventionalität oder bei aller Einübung in eine anerkannte Praktik immer auch von X vollbracht oder geleistet wird. Am Ende von Tolstojs Erzählung »Die Kreutzersonate« stößt man auf ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie im Äußersten, beim affektgeladenen Mord aus Eifersucht, das fremdbestimmte oder selbstvergessene Verhalten immer noch das des Handelnden ist; insofern der Handelnde ein solcher ist, kann es sich – kann er sich nicht anders verhalten: »Wenn manche Leute sagen, sie wüßten in der Raserei nicht, was sie tun, so ist das Unsinn und Lüge […] Ich will nicht behaupten, daß ich vorher gewußt hätte, was ich tun würde; aber in dem Augenblick, wo ich es tat, sogar ganz kurz vorher, war ich mir meines Tuns bewußt, wohl – so möchte ich fast sagen – damit ich es später bereuen könnte, damit ich mir sagen könnte, daß ich hätte haltmachen können.«54 Ich muß mich nicht stets an etwas messen, wenn ich etwas tue, sobald ich aber dessen gewahr werde oder mich daran erinnere, daß ich es bin, der dieses oder jenes tut, statt es nicht oder etwas anderes zu tun, kann ich nicht umhin, mein Tun zu bewerten – und zwar im Hinblick auf ein Anderes, durch das sich meine erworbene Fähigkeit, dieses oder jenes zu tun, als eine erweist, die ich erst noch erwerben und erprüfen muß. Gibt man allerdings zu, daß man sich nicht stets an etwas messen muß oder kann, ja daß ohne eingeübte Praktik und Gewohnheit, ohne das Vertrauen in Erworbenes und Erprüftes kein Sich-Messen möglich ist, so wird die Relevanz des Einwands vom Schein der Möglichkeit daraus ersichtlich, daß Derrida selber das Unbedingte in ein Verhältnis zum Bedingten treten läßt, oder, wenn man so will, jenes, was den Namen verdient, zu dem, was den Namen – lediglich – trägt. Damit erreicht die Auflösung der Zweideutigkeit der Dekonstruktion die Schwelle ihres angekündigten zweiten Schritts. Der Bezug auf die Andersheit des inkommensurabel An54 | Lew N. Tolstoj, »Die Kreutzersonate«, in: Die großen Erzählungen, Frankfurt a.M. 1975, S. 182f.
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deren steht nämlich auch deshalb nicht in einer unbestimmten Spannung zu dem Bezug auf die Andersheit der différance, weil das inkommensurabel Andere, das Unbedingte, nicht einfach außerhalb des Uneinsseins angesiedelt ist, der Spannung, die alles durchzieht, was im Widerstreit mit sich steht und dadurch überhaupt fähig ist, sich an etwas zu messen.
0.5 Leser der späteren Schriften Derridas werden in Zusammenhängen, in denen es um Nicht-X oder Y als Begriff von X geht (als Unmöglichkeit von X, die die Möglichkeit seines Begriffs ausmacht), häufig auf eine eigentümliche Einschränkung stoßen, deren Formulierung etwas Rhetorisches anzuhaften scheint. So heißt es zum Beispiel in dem Buch über Gabe und Zeit: »Eine Gabe, wenn es denn überhaupt eine gibt, gibt es nur…«55 Daß die Rhetorik ein fundamentum in re hat, wird deutlich, sobald man in Betracht zieht, daß die Formulierung an Heideggers Unterscheidung zwischen einem »Es ist« und einem »Es gibt« anknüpft, an den Versuch, über etwas zu sprechen, was sich in keiner Aussage fassen läßt, die das Vorhandensein von etwas feststellt, von einem Seienden;56 sie lenkt die Aufmerksamkeit darauf, daß man sich zwar zu X verhalten kann, nicht aber zu Nicht-X oder Y als Begriff von X, ohne daß dieses seinerseits in das Verhältnis eintritt und damit gerade seine Reinheit, seine Andersheit, seine Inkommensurabilität abstreift oder einbüßt. Um sich an Nicht-X oder Y als Begriff von X zu messen (als X unter dem Gesichtspunkt der grenzüberschreitenden Übertreibung oder der Unbedingtheit), muß man sich auf etwas beziehen, das gar keinen Bezug erlauben würde, wenn es nicht schon in der schillernden Gestalt eines »Als-ob« an der Bedingtheit von X teilnehmen würde. So weist Derrida nicht nur darauf hin, daß Recht im Namen von Gerechtigkeit ausgeübt und gesprochen wird, sondern auch darauf, daß der Gerechtigkeit, deren Erfahrung er als eine »absoluter Andersheit« beschreibt, selber die Forderung innewohnt, sich in einem anwendbaren Recht einzurichten.57 Gerechtigkeit als »nichtdekonstruierbare Bedingung aller Dekonstruktion« kann sich aus der Dekonstruktion nicht ausnehmen, ist ihr unterworfen.58 Ein Versprechen soll »unendlich« sein, da es mehr versprechen muß als bloß das, was man zu versprechen vermag, das Berechenbare und Gewisse; gleichzeitig muß das Versprechen aber ebenfalls »endlich« sein, da man es nur dann hal-
55 | Jacques Derrida, Donner le temps. I. La fausse monnaie, Paris 1991, S. 25. 56 | Martin Heidegger, »Zeit und Sein«, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976, S. 5. 57 | Jacques Derrida, Force de loi, S. 49f. 58 | Jacques Derrida, Spectres de Marx, S. 56
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ten und es also nur dann ein Versprechen sein kann.59 Eine Gabe muß sich von jedem »Band« loslösen, von dem Band der Verpflichtung und der Schuldigkeit, des Vertrags und des Tauschs, um eine solche zu sein; gleichzeitig bedarf sie aber ebenfalls des Bandes, weil sie ohne es spurlos verschwinden, gar nicht als Gabe erscheinen würde.60 Die Dekonstruktion hat einerseits über Gnade nichts zu sagen und ist ihr gegenüber so »vollkommen entwaffnet und vollkommen unbrauchbar«, daß sie sogar in einer Erfahrung, die mit der der Gnade vergleichbar sein soll, die Grenze ihrer Möglichkeit und ihrer Unmöglichkeit erblicken kann; andererseits hat sie indes über die »Diskurse« etwas zu sagen, die sich auf eine Gnade berufen oder Gnade zum Gegenstand haben.61 Wo verläuft die Grenze zwischen der einen und der anderen Erfahrung der Gnade, zwischen der Gnade als »einzigartiger Erfahrung«, die jeden Beweis übersteigt, und der Gnade, die den Anlaß zu einem Verhalten, einer religiösen, juridischen, politischen Praxis abgibt? Während folglich der erste Schritt auf dem Weg zu einer Auflösung der Zweideutigkeit der Dekonstruktion darin besteht, daß man in dem Bezug auf ein inkommensurabel Anderes den Sinn der différance erkennt, besteht der zweite Schritt darin, daß man zeigt, wie das inkommensurabel Andere selber in die différance einbezogen wird. Durch diese Verwicklungen des Begriffs, die an seinem Alles-oder-Nichts rütteln, dadurch also, daß sich die Unbedingtheit ebensosehr als zum Begriff des Begriffs gehörig erweist wie die Bedingtheit, gelangt man im Zuge einer Auflösung der Zweideutigkeit der Dekonstruktion an den Punkt, an dem ihre Antinomie hervortritt.62 Die These dieser Antinomie lautet: Wäre X nichts als die Spur von X, ein in der unendlichen Bewegung von räumlicher Unterschiedenheit und zeitlichem Aufschub Bedingtes, es selber und gleichzeitig immer auch ein Anderes, ohne daß man das Verhältnis des Selben zum Anderen seiner59 | Jacques Derrida, »Avances«, S. 26. 60 | Jacques Derrida, Donner le temps, S. 42. 61 | Jacques Derrida, »Epoché and Faith«, S. 39. 62 | Wenn Quentin Meillassoux in seinem Buch über die »Notwendigkeit der Kontingenz«, Après la finitude (Paris 2006), gegen den starken Korrelationismus von Subjekt und Objekt einen Vorrang des Objekts einklagt, will er einerseits der Idealisierung der Zahl widerstehen und so der korrelationistischen Metaphysikkritik Rechnung tragen, andererseits jedoch an einer Mathematisierung der Natur festhalten, die zwar denkbar, aber nicht auf ein Denkkorrelat reduzierbar sein soll, und sich so gegen die Hypostasierung der Andersheit im Korrelationismus wehren. Bringt die Antinomie der Dekonstruktion eine verwandte doppelte Frontstellung zum Ausdruck?
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seits einer Bestimmung unterstellen könnte, ja so, daß die Möglichkeit eines spurlosen Verschwindens von X immer gegeben wäre, dann bliebe unbestimmt, was X eigentlich zu diesem X in der différance macht. Denn die différance soll ja nicht die berüchtigte Nacht sein, in der alle Kühe schwarz sind, X so gleichgültig wie Y, eine Welt bloßer Namensträger, eine Mechanik der Abweichungen. Also muß man, soll die différance nicht um ihren Sinn gebracht werden, ein Unbedingtes annehmen, zu dem X in ein Verhältnis treten und das selber nur X unter dem Aspekt der Unbedingtheit sein kann, des Begriffs, der inkommensurablen Andersheit des Allesoder-Nichts. Wird jedoch durch die Annahme eines Unbedingten nicht die Bewegung der différance in ein Bedingtes verwandelt, das Verhältnis des Selben zum Anderen einer Bestimmung unterstellt und auf diese Weise das Andere dem Selben untergeordnet? Die Antithese lautet daher: Es gibt nichts, was sich aus der différance ausnehmen läßt, nicht einmal ihr Sinn, das Unbedingte. Denn sonst könnte sie als différance nicht wirken, wäre ihr Wirkbereich von einer Grenze oder einem Horizont umgeben, von einer Schranke, über die hinweg oder hinter die sich ihre Bewegung nicht mehr erstrecken könnte. Die différance wäre wiederum um ihren Sinn gebracht, der Sinn in eine wie immer auch verhängte Bedeutung verkehrt. Sinkt dann aber die différance nicht erneut in die Nacht der schwarzen Kühe, die sie zeitigt? Die Formulierung der Antinomie der Dekonstruktion, die zur Folge hat, daß das Sich-Messen nicht ein allgemeines sein kann, jeweils ein anderes sein muß, abhängig von dem Zusammenhang, in dem es seiner bedarf, macht eine Klärung erforderlich, die den Gebrauch der Begriffe der Dekonstruktion und der différance betrifft. Drückt sich nämlich in dem Widerstreit von These und Antithese nicht der zweifache Bezug auf Andersheit aus, der die Dekonstruktion zweideutig erscheinen läßt? In der These, so könnte man denken, wird das Geschehen der différance durch eine Praxis der Dekonstruktion ergänzt, durch ein Sich-Messen, das als das Sich-Messen von X an Nicht-X oder Y begriffen werden muß oder als das Sich-Messen der Dekonstruktion an X, als die Gerechtigkeit, die mit der Dekonstruktion gleichnamig sein soll. Es geht um X. Daß sich X an Nicht-X oder Y mißt, heißt, daß es X dekonstruiert. Mit Dekonstruktion ist also der Sinn der différance gemeint. In der Antithese wiederum, so könnte man ebenfalls denken, ist die Praxis der Dekonstruktion in das Geschehen der différance eingebracht, als könne es kein Sich-Messen geben, weil Nicht-X oder Y selber von der Dekonstruktion erfaßt werden. Mit différance ist also die Durchkreuzung des Sinns gemeint, durch den die Dekonstruktion das Geschehen ergänzt. Derrida gebraucht nun den Begriff der Dekonstruktion auf doppelte Weise, einmal im Sinne einer Praxis, dann aber auch im Sinne eines Geschehens, das der reflexiven Namensgebung und
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Praxis vorausgeht: »Die Dekonstruktion ereignet sich. Sie ist ein Ereignis, das nicht Beratungen und Überlegungen abwartet, ein Bewußtsein, die Zusammensetzung eines Subjekts oder gar die Moderne. Es dekonstruiert sich. Dieses ›Es‹ meint nichts Unpersönliches, das man einer egologischen Subjektivität entgegensetzen könnte.«63 Die Antinomie der Dekonstruktion scheint sich demnach auch anders formulieren zu lassen. Wäre die Dekonstruktion nichts als ein Geschehen, nichts als différance ohne eine Praxis, die das Geschehen benennt und es sowohl reflexiv als auch aktiv mit ihm aufnimmt, als eine Erinnerung an das, was der Fall ist, aber ebenfalls, untrennbar davon, als ein Sich-Messen, durch das X sich erst als X in der différance unterscheidet, dann wäre sie eine Tautologie, gleichgültige und dinghafte Wahrheit; wäre umgekehrt die Dekonstruktion nichts als eine Praxis oder eine Tätigkeit, dann wäre sie aus dem Geschehen ausgenommen, in dem sie sich bewähren soll, und würde ihm von außen willkürlich Schranken setzen. Zu einem antinomischen Verhältnis zwischen Dekonstruktion und Dekonstruktion kommt es dadurch, daß, will man nicht einen idealistischen Primat des Geistes einräumen, durch den sich das Geistige als das Wirkliche und das Wirkliche als das Geistige offenbart, die Praxis immer ein Anderes sein muß als das Geschehen, das ohne sie in der indifferenten Differenz verharrt, eine bezuglose Welt, obwohl das Geschehen keine Andersheit zuläßt als die, die es selber begründet – denn eine Hinterwelt gibt es nicht. Einen Hinweis zur Auflösung der Antinomie der Dekonstruktion gibt Derrida in jenem Abschnitt seiner Studie über Gesetzeskraft, in dem von einem unerwarteten Befehl oder Gebot der Gerechtigkeit64 die Rede ist. Die Gerechtigkeit, von der sich gezeigt hat, daß sie mit der Dekonstruktion gleichnamig ist, soll ein Kalkül gebieten, das sich mit ihrem Begriff in dem Maße als unvereinbar erweist, in dem sie keiner Regel unterworfen ist und sie X keiner Regel unterwirft, es ihr um die Besonderheit von X geht, um X in seiner Andersheit, nicht um dessen Vergleichbarkeit, um X als Größe, als Instanz, als Fall, als Abstraktion. Folgerecht stellt auch Derrida fest, daß dieses Gebot, dieses Müssen, dieses Vorschreiben eines Kalküls, nicht eigentlich der Gerechtigkeit zugehört, ebensowenig wie dem Bereich, in dem berechnende Überlegungen stattfinden, als würde sich in ihm gerade die Antinomie der Dekonstruktion verkörpern, der widerwendige Doppelcharakter der Gerechtigkeit als einer dekonstruierenden und als einer dekonstruierbaren. Wie soll man also das Gebot des Kalküls verstehen, das von der Gerechtigkeit ausgeht, ohne von ihr auszugehen, will man den 63 | Jacques Derrida, »Lettre à un ami japonais«, in: ders., Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987, S. 391. 64 | Jacques Derrida, Force de loi, S. 61.
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Gedanken, die Dekonstruktion sei die Gerechtigkeit, nicht preisgeben und ihre Hypostasierung vermeiden, ihre Verdinglichung zu einer Instanz, die mit einer anderen Instanz im Wettstreit liegt und gleichzeitig ein Bündnis mit ihr einzugehen scheint? Würde es zwei Instanzen geben, wäre entweder die Dekonstruktion nicht die Gerechtigkeit oder etwas, die andere Instanz, die Instanz des Kalküls, würde außerhalb der Dekonstruktion stehen, im Gegensatz zu ihr. Das X in der différance (oder in der Dekonstruktion als Geschehen), das sich an Nicht-X oder Y mißt (oder das Dekonstruktion praktiziert), tut dies, weil es, ein Bedingtes, kein inkommensurabel Anderes, auch eine Größe, ein Fall, eine Instanz, eine Abstraktion ist, die man der Ordnung der Berechenbarkeit zurechnen muß, zu der die unberechenbare, nicht-dekonstruierbare, unbedingte, bedingende Gerechtigkeit nur in ein Verhältnis treten kann, wenn sie sich auf Bedingungen einläßt und selber zu einer bedingten wird, zu einer dekonstruierbaren, berechnenden, berechenbaren Gerechtigkeit. X durch die Dekonstruktion Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, heißt deshalb, es auch unter dem Gesichtspunkt des Kalküls zu betrachten, diesen Gesichtspunkt nicht als einen äußerlichen, nebensächlichen, zufälligen auszuschließen. Man muß das Gebot der Gerechtigkeit im Sinne einer solchen Berücksichtigung verstehen. X durch die Dekonstruktion Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, heißt, das Kalkül aus Gerechtigkeit oder im Hinblick auf die Gerechtigkeit sich vorschreiben zu lassen. Das Gebot der Gerechtigkeit und der Dekonstruktion besagt in dieser antinomischen Logik, daß man »das Verhältnis zwischen dem Berechenbaren und dem Unberechenbaren aushandeln [muß]«,65 ohne dadurch der Berechenbarkeit den Vorrang zu erteilen. Oder daß die Praxis der Dekonstruktion, das Sich-Messen am Unbedingten, nicht aus dem dekonstruktiven Geschehen heraustreten kann, dem sie Sinn und der ihr Sinn erst verleiht. Die Auflösung der Antinomie der Dekonstruktion läuft so gesehen nicht auf die Herstellung einer Widerspruchsfreiheit hinaus, auf eine Beilegung des Widerstreits durch die Unterscheidung von Konstitution und Regulation, sondern auf die eines Verständnisses der Notwendigkeit, mit der X in einen Widerspruch oder Widerstreit verstrickt ist. Die Dekonstruktion hat ihren Lebensnerv an ihrer Antinomie. Heißt das jedoch nicht, daß sich die Zweideutigkeit ihres Bezugs auf Andersheit niemals gänzlich auflösen läßt? Supplement – Wenn das Unbedingte, Nicht-Dekonstruierbare, inkommensurabel Andere in die Dekonstruktion des Bedingten einbezogen bleiben muß, in das Geschehen der différance, die Zweideutigkeit des doppelten dekonstruktiven Bezugs auf Andersheit dadurch bis zu einem gewissen 65 | Ebd., S. 62.
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Punkt aufgelöst wird, aus der Dekonstruierbarkeit des Nicht-Dekonstruierbaren aber sich die unauflösbare und doch in ihrer Notwendigkeit einsehbare Antinomie der Dekonstruktion ergibt, dann kann man vielleicht den Zugang zur Dekonstruktion genauer erfassen, den Alain Badiou wählt. Obwohl Badiou am Anfang seines Werks Logiques des mondes die »post-heideggerianische« Dekonstruktion der Metaphysik der Subjektivität als »ideologisch« anprangert, weil sie dem »demokratischen Materialismus« den Weg ebnen soll, der »nur Individuen und Gemeinschaften« kennt, »Körper«, aber keine »Subjekte«, die allein der Wahrheit oder ihrer Verhüllung dienen können,66 übernimmt er am Ende des Buchs, in einer Notiz, die Derrida gewidmet ist, den Begriff der différance, um ihn in seinem eigenen Gedankengang einen Ort zuzuweisen. Die Entdeckung der Dekonstruktion soll, so Badiou, darin liegen, daß sie in jeder Welt oder in jeder »diskursiven Auferlegung« den Punkt ausmacht, an dem alles, was in einer Welt oder in einer »diskursiven Auferlegung« zur Erscheinung gelangt und existiert, auf hört, zu existieren. Diesen Fluchtpunkt nennt er »Inexistenz«. Die »Inexistenz« darf jedoch nicht mit dem Nichts verwechselt werden, da sie die »Möglichkeit einer vollen und erfüllten Existenz an anderem Ort« anzeigen soll.67 Die »Inexistenz«, die Badiou mit der différance gleichsetzt, ist ein Nicht-Seiendes, das in dem Zusammenhang einer Welt, die von der vorhandenen verschieden ist, oder einer »diskursiven Auferlegung«, die sich von der gegebenen unterscheidet, existieren, ein Seiendes sein kann. In einem im Herbst 2005 gehaltenen Vortrag über Derrida bezeichnet Badiou die »Inexistenz« als »minimalen Grad der Erscheinung oder der Existenz«, dem Sein zukommt, nicht aber, aus der Perspektive der fraglichen Welt, Existenz.68 Was in einer Welt erscheint, so könnte man diese Auffassung der Dekonstruktion in deren eigenem Kontext umschreiben, muß sich an dem messen, was in ihr nicht erscheint, an der Inexistenz, die in jeder Welt und in jeder »diskursiven Auferlegung« ein Anderes ist, also nicht von einem X prädiziert wird, zu dessen Bestimmung es gehören würde, daß es nie erscheint und existiert, gleichgültig in welcher Welt oder »diskursiven Auferlegung«. Deshalb stellt sich in Badious Worten das Problem der Dekonstruktion als das einer Verortung und eines Aufzeigens des Fliehens und des Entzugs dar. Das »Anderswo«, so könnte man mit und gegen Badiou den Gedanken zuspitzen, ist nicht das einer anderen Welt, in der dann etwas existiert, das in dieser Welt sich der Existenz entzieht, sondern das Fliehen der Existenz selber. Der Ab66 | Alain Badiou, Logiques des mondes, Paris 2006, S. 58f. 67 | Ebd., S. 571. 68 | Alain Badiou, »Derrida ou la localisation de l’inexistence«, Vortrag, gehalten am 22. Oktober 2005 an der Ecole Normale Supérieure, Paris.
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schnitt von Logiques des mondes, der dem Begriff der Inexistenz gewidmet ist, enthält eine weitere Ausführung, nach der der Fluchtpunkt, an dem ein Seiendes auf hört, zu erscheinen und zu existieren, eine Welt an ihre Kontingenz mahnt,69 daran, daß sie auch nicht in Erscheinung und ins Dasein hätte treten können. Diese Erinnerung ist der Grund dafür, daß der Fluchtpunkt der Inexistenz in einer Welt oder in einer »diskursiven Auferlegung« Sammel- und Ausgangspunkt für eine verändernde, ja revolutionäre Bewegung sein kann, die einer anderen Welt zur Erscheinung und zur Existenz verhilft. Sieht man nun von dem Mißverständnis ab, das dadurch zustande kommt, daß Badiou den Eindruck erweckt, als könnte für Derrida in dem einen Zusammenhang das Versprechen zum Beispiel den Fluchtpunkt der Inexistenz markieren, in dem anderen Zusammenhang dagegen ein in einem »vollen und erfüllten« Sinne erscheinendes Phänomen sein; sieht man davon ab, daß für Derrida das Versprechen in einer Welt oder in einer »diskursiven Auferlegung« sowohl die Position von X einzunehmen vermag (von X in der différance oder in der metaphysischen Zurichtung, nicht von einem Phänomen X, das in einem »vollen und erfüllten« Sinne erscheint) als auch die von Nicht-X oder Y (von NichtX oder Y als Fluchtpunkte der Welt oder der »diskursiven Auferlegung«), entspricht die Auffassung der Dekonstruktion, die in ihr eine »Leidenschaft der Inexistenz« erblickt, in gewisser Weise der Antinomie eines Unbedingten, inkommensurabel Anderen, das nicht-dekonstruierbar und gleichzeitig dekonstruierbar ist, als würde es einmal aus dem Blickwinkel von X, dann aus dem Blickwinkel von Nicht-X oder Y betrachtet. Daß freilich in der Dekonstruktion die Unterscheidung zwischen Inexistenz und »voller und erfüllter« Existenz ihre Zuständigkeit einbüßt, weder in Bezug auf eine einzige noch, von außen gesehen, auf zwei verschiedenen Welten sinnvoll ist, liegt daran, daß die différance die ganze Welt erfaßt, jede Welt, und nicht einfach in der Welt stattfindet, innerhalb des Horizonts der Welt, oder an einem weiteren Punkt der Welt, den man verorten und aufzeigen kann, in äußerstem Kontrast zu dem Punkt, der sich durch einen »maximalen Grad« an Existenz auszeichnet, zu einem »Seienden, das absolut da ist«.70 Zwar scheint Badiou mit der Erkenntnis der weltverändernden Kraft, die von der Inexistenz ausgehen kann, dem Sich-Messen der Dekonstruktion nahezukommen, dem Sinn der différance, doch löst er letztlich die Antinomie auf, indem er die Andersheit der différance von der des inkommensurabel Anderen trennt, das inkommensurabel Andere zur Instanz der Inexistenz verdinglicht, der »volle und erfüllte« Existenzen, Existenzen, die »absolut« erscheinen, gegenüberstehen, in einer und in 69 | Alain Badiou, Logiques des mondes, S. 339. 70 | Ebd., S. 149.
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mehreren Welten. Im Gegensatz zu Derrida entpuppt sich Badiou als ein Jäger, der seine Beute zu stellen sucht, statt auf das Fliehen des Tieres zu zeigen. Die Metapher gebraucht er selber in dem Passus seines Vortrags, in dem er von dem Verorten der Flucht spricht. Badiou verweigert sich, wie es scheint, der Einsicht, daß die erfaßte Beute gar nichts, die Verortung der »Inexistenz« alles ist. Wendet man sich an dieser Stelle noch einmal der Antinomie der Dekonstruktion als Antinomie von Geschehen und Praxis zu, so kann man sie in einen Zusammenhang mit Erwägungen zum Ereignis rücken, die Derrida in späten Texten gelegentlich anstellt. Denn das Sich-Messen von X an Nicht-X oder Y, eines Romanciers etwa an einer philosophischen Idee, an dem Gesicht einer Umgebung, einer Gebärde, einer Begebenheit, oder eines Philosophen an einem literarischen Text, an den Erkenntnissen eines anderen Philosophen, kann dazu führen, daß etwas hervorgebracht wird, was es in seiner Art bislang nicht gab und was neue Maßstäbe setzt. Ob es Julien Green mit Si j’étais vous… gelungen ist, sei dahingestellt; Derrida ist es wohl mit La carte postale gelungen. Gefragt, ob ein Klang, ein Bild oder eine Idee zur Entstehung eines Gedichts führen, antwortet die nordamerikanische Dichterin Elizabeth Bishop: »Manchmal sucht mich eine Idee für lange Zeit heim, obwohl es viel schwerer ist, Gedichte zu schreiben, die mit einer Idee beginnen. Es ist einfacher, wenn am Anfang eine Reihe von Wörtern steht, die schön klingen und nicht viel Sinn ergeben, dann aber ihren Zweck offenbaren.«71 Da es für ein Sich-Messen von X an Nicht-X oder Y, das einem Ereignis gleichkommt, für das Gelingen des konzeptuellen Greenschen Romans oder der Derridaschen philosophischen Postkartensammlung kaum ein anderes Kriterium gibt als das eines schöpferischen Enthusiasmus, eines Anstoßes zur erschließenden Reflexion, die sich durch ein »Gegenzeichnen« an einer weiteren »Erfindung des Anderen« versucht, wie Derrida es nennt, bleibt das Eintreten eines Ereignisses umstritten oder zumindest unverbürgt, durch keine bewundernde Nachahmung oder weiterführende Schulbildung einzuholen, als müßte das Ereignis, angewiesen auf das Eintreten eines weiteren Ereignisses, das allein ihm gerecht werden kann, erst auf seine Höhe gebracht werden. Das Verdienst, das nicht in einer Zuerkennung besteht, die sich auf ein erzieltes Ergebnis beruft, sondern als Ernst verstanden werden muß, der sich im Denken und Handeln, im Verhalten mitteilt, und die Herausforderung eines weiteren Ereignisses, das ein früheres »gegenzeichnet«, aner71 | Elizabeth Bishop und Alexandra Johnson, »Geography of the Imagination«, in: Conversations with Elizabeth Bishop, hg. von G. Monteiro, Jackson 1996, S. 99.
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kennt, und dadurch zu seinem Daseinsrecht verhilft, sind vielleicht zwei Gestalten des Gelingens der Dekonstruktion. Wie tritt ein Ereignis aber ein, das dann der »Gegenzeichnung« bedarf, um einzutreten oder um im Rückblick eingetreten zu sein? In einem Kapitel seines Buchs über Freundschaft verwendet Derrida in Anlehnung an einen Begriff der Patristik, der das Bewirken einer Vervollkommnung bedeutet, das Vollkommenmachen oder das Ankommen eines Kommens im Vollkommenen, den Ausdruck »Teleiopoetik«, der das Eintreten eines Ereignisses meinen soll, das Kommen von etwas, von dem wir wissen und zugleich nicht wissen können, daß es kommt. Wüßten wir, daß es kommt, daß ein Ereignis eintreten wird, dann würde es nicht »anders« kommen, dann würde nicht die unterbrechende Veränderung geschehen, für die das Ereignis einsteht oder die das Ereignis hervorbringt. Wüßten wir nicht, daß es kommt, würde das Kommen spurlos in ein Gehen umschlagen, in ein Verschwinden, das Ereignis nicht stattfinden. Das Kommen, um das einzig ein »Nicht-Wissen« weiß, ist also immer schneller oder langsamer als erwartet, vollkommen, weil jener, der das Ereignis anerkennt, sich von seinem Kommen nicht mehr ausnehmen kann, die »Teleiopoetik« eine »Auto-Teleiopoetik« ist, und weil kein Subjekt, kein Urheber, kein Autor, kein Revolutionär über es, über das Eintreten des Ereignisses, ein bestimmendes Sagen hat. »Das Rennen ist im voraus beendet«, bemerkt Derrida im Zuge eines Kommentars, der sich auf einen Satz Nietzsches bezieht, »und das erzeugt das Kommen des Künftigen.«72 Er fügt ein weiteres Bild der paradoxen Überstürzung hinzu: »Hier geht es um einen Pfeil, dessen Bahn so verläuft, daß er zu seinem Bogen zurückkehrt. Er bricht sich so schnell Bahn, daß er im Grunde den Bogen niemals verlassen hat.« Dennoch – oder gerade wegen der ungeheuren und vollkommenen Geschwindigkeit seiner Bewegung – berührt uns dieser Pfeil, der uns entgegenzischt und zugleich von uns davonschnellt, als würde er Zeit beanspruchen, eine Entfernung durchqueren, und sich trotzdem nicht bewegen. Vielleicht »hat er die Weltordnung verändert, bevor wir überhaupt aufwachen konnten« und zur Kenntnis nehmen, daß nichts geschehen ist, nichts, was wir nicht wie Blinde im voraus gewußt hätten. Wenn aber das Ereignis stets schon geschehen ist, bevor es geschehen ist, wenn es am Anfang schon am Ende ist und darum im Anfang zu verharren scheint, als wäre nichts geschehen, wo alles sich ereignet hat, die Welt verändert worden ist, muß die Anerkennung mehr als nur eine Feststellung oder eine Bestätigung sein, ist sie, eben als Anerkennung, ebenfalls Stiftung des Ereignisses. Der Anerkennende, dessen Nicht-Wissen um das Ereignis weiß, der von seinem Kommen gleichsam im Schlaf gestreift worden 72 | Jacques Derrida, Politiques de l’amitié, Paris 1994, S. 50.
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ist und der nur die geschehene Veränderung zur Kenntnis nehmen kann, weiß in seinem Nicht-Wissen um das Ereignis. Deshalb schreibt Derrida in einer Parenthese, daß die »Teleiopoetik«, die er, wie bereits angemerkt, an einem Satz Nietzsches erläutert, sich in die »Signatur oder Zeichnung des Anderen einübt«,73 ja daß sie damit beginnt, ihren Anfang setzt, mit der Anerkennung des Ereignisses, die sowohl »Zeichnung« oder Stiftung als auch »Gegenzeichnung« oder Bestätigung ist. Denn so sehr der Andere, in diesem Fall der Leser des Satzes, als Wissender, als Signierender, als Anerkennender mit Blindheit geschlagen sein muß, so sehr bedarf das Ereignis zu seiner Vollkommenheit (um seinen Namen zu verdienen) des Wissens, der Zeichnung, der Anerkennung, muß die Feststellung des Erwachenden, der einer bedeutsamen Veränderung gewahr wird, mehr und anderes sein als eine bloße, äußerliche, gleichgültige Verdoppelung. Das (vollkommene) Geschehen eines Ereignisses erweist sich folglich als ein Geschehenlassen seiner selbst, als ein Machen oder als eine Praxis, als das Bewirken seiner eigenen Vollkommenheit, als Aussetzung in der Einsetzung. Man stößt auf die Antinomie der Dekonstruktion, wo die Blindheit, die das Einbezogensein in das Geschehen anzeigt, in das Kommen des Ereignisses, sehend die Augen aufschlagen muß, damit das Ereignis an seine Vollkommenheit reichen kann, dadurch aber diese Vollkommenheit aufs Spiel gesetzt wird, in der Gestalt einer durch die Zeitigung eines anderen Ereignisses zu leistenden Vervollkommnung des ereignishaften Geschehens. Was Derrida deutlich macht, ist der Grund für die wesentliche Umstrittenheit eines Ereignisses, für die Herausforderung, mit der es einhergeht, und die Polemik, die es entfacht und die über es hereinbricht: daß ein Ereignis das Veränderte unverändert läßt, weil es eine grundlegende Veränderung vornimmt. Von einer unendlich schnellen Verringerung und einer schließlichen Aufhebung des Abstandes, der zwischen dem Geschehen und dem Tun herrscht, von einem Kommenlassen des Ereignisses, das sowohl als Zurückhaltung, Rezeptivität, als auch als Eingriff, Spontaneität, gedeutet werden muß, handelt Derridas langer Aufsatz über die Schriftstellerin Hélène Cixous. Schon Heidegger hat in den Vorlesungen über Nietzsche von einem »Seinlassen« geredet, das etwas tut, ohne es zu tun, weil es nur dann zu einer Begegnung kommen kann. Dieses »Seinlassen«, das 73 | Ebd. Der fragliche Satz, dessen Zuordnung eines Subjekts man als unbestimmt und mehrdeutig ansehen muß, lautet im Original: »[La poétique de la distance à distance / l’accéleration absolue / la phrase] commence par la fin, elle s’initie à la signature de l’autre.« In einer deutschen Übersetzung könnte er so lauten: »[Die Poetik der Entfernung auf Entfernung / die vollkommene Beschleunigung / der Satz] beginnt mit dem Ende, übt sich in die Signatur des Anderen ein.«
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weder aktiv noch passiv ist, gibt das »Begegnende als solches« frei, »gönnt« ihm das, »was ihm selbst zugehört und was es uns zubringt«.74 Derrida hebt den schwer faßbaren Doppelcharakter der Begegnung oder des Ereignisses, der das Verhalten zu ihnen prägt, das Sein- oder das Kommenlassen, durch seine Wortwahl hervor. Er gebraucht einmal ein Wort, das im Französischen Gnade und Anmut bedeutet, ein dem Tun entrücktes Geschehen und ein Moment des rein Ausdruckhaften, der bewegten und bewegenden freien Erscheinung, die mit dem Tun eng verbunden ist, doch nicht in der Verfügungsgewalt des Tuenden steht und die Anstrengung des Tuns abstreift. Dann ergänzt Derrida diese Wahl durch die eines Wortes, das im Französischen den Bestimmungsort bedeutet, die Adresse, aber zugleich die schillernde Gewandtheit, die zwischen natürlicher Begabung und praktischer Einübung wechselt: »Die Gnade, die Anmut und auch die Gewandtheit würden darin bestehen, etwas zu tun, indem man es läßt, etwas zum Kommen zu bringen, indem man es kommen läßt, etwas kommen zu sehen, ohne es kommen zu sehen.«75 So entspricht dem Ereignis und seinem Kommen die »Fertigkeit, die Macht, die Kraft, das Kommende kommen zu lassen«,76 im Sinne eines Tuns und eines Nichttuns; die »Fertigkeit, die Macht, die Kraft« definiert Derrida sogar als die Tautologie eines »gnädigen und anmutigen« Gewährens, das es dem Ereignis erlaubt, das es darauf einstimmt, (etwas) »kommen zu lassen«. Die Antinomie der Dekonstruktion, die sich bei dem Versuch aufdrängt, die Zweideutigkeit ihres Bezugs auf Andersheit aufzulösen, liegt in dem Kommenlassen des Ereignisses beschlossen. Mit der Bestimmung des Kommenlassens als Tautologie indiziert Derrida aber eine Auflösung der Antinomie, die Aufhebung des Abstands zwischen dem Kommenlassen als Geschehen und dem Kommenlassen als Tun, ein »Möge (das Ereignis kommen)«, das mit dem Kommen des Ereignisses zusammenfällt, als würde eine »beinahe unendliche Geschwindigkeit« die Tautologie erzeugen, als würde die »unendliche« Steigerung der Passivität an die »unendliche« Steigerung der Aktivität rühren und dadurch das Ereignis zeitigen, als wäre das »Leben« nichts anderes als diese Zeitigung, die die Zeit abschafft, ein »Leben«, das »für das Leben« ist, das sich gleichsam selber affiziert, ein Lebensbund, dessen Kraft, die in dieser Selbstaffektion, diesem Selbstbezug oder dieser Selbstanrufung besteht und aus ihnen entspringt, sich in einem »Gesagt-getan« äußert. Allerdings entwickelt Derrida den Gedanken einer Tautologie des Ereignisses, indem er zwei Einschränkungen vorbringt. Zum einen ist es immer möglich, daß das Ereignis nicht stattfindet, die 74 | Martin Heidegger, Nietzsche, Band I, Pfullingen 1961, S. 129. 75 | Jacques Derrida, H.C. pour la vie, c’est à dire…, Paris 2002, S. 61. 76 | Ebd., S. 62.
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Kraft einer Ohnmacht verfällt oder die Geschwindigkeit nicht ausreicht, dem Leben es an Lebendigkeit mangelt, an Lebenskraft, um den Bund mit sich erfolgreich einzugehen. Diese Möglichkeit, deren Hervorhebung die »Endlichkeit« der Lebenskraft hervortreten läßt, kann man wiederum im Sinne einer Herausforderung des Lebens, eines Sich-Messens des Lebens am Leben begreifen. Wenn freilich das »Gesagt-getan« als höchster Ausdruck der Lebenskraft ein Nicht-X oder Y ist, an dem sich das X, das Leben selber, mißt, dann muß man sich fragen, ob dadurch die Antinomie der Dekonstruktion nicht erneut den Anspruch eines Widerstreits anmelden kann, ob es also genügt, zwischen jenen Fällen, in denen das Ereignis stattfindet, und jenen anderen, in denen es dies nicht tut, zu unterscheiden – vorausgesetzt, eine solche Unterscheidung läßt sich bündig treffen. Die zweite Einschränkung, mit der Derrida den Gedanken einer Tautologie des Ereignisses in eine weitere Verwicklung treibt, wird durch den Umstand veranlaßt, daß die ereignishafte Geschwindigkeit, die unendlich schnelle Verlagerung vom Kommenlassen zum Kommenlassen, vom Tun zum Geschehen und umgekehrt, die in der augenblicklichen Abschaffung von Raum und Zeit resultiert, eben in der Tautologie, als Ersetzung gedeutet werden muß, die den Selbstbezug der Kraft in einen Bezug zum Anderen verwandelt, die Tautologie in eine »Heterologie«. »Die Geschwindigkeit der Ersetzung«, konstatiert Derrida, »ist die Einsetzung dessen, was man ein Ereignis nennt, in seiner vollkommenen Ursprünglichkeit.«77 Was sich ereignet und als Ereignis einzigartig ist, ein unerwarteter und (welt)verändernder Eingriff, öffnet sich bereits auf ein Anderes hin, da es sonst bezuglos bleiben müßte; das Einzigartige und Besondere fungiert als »Homonym« oder wird zum Bestandteil einer »Metonymie«, wie Derrida sagt, folgt einem »Wenn-ich-du-wäre«, so daß sich die Antinomie der Dekonstruktion erneut behauptet, das Kommenlassen erneut aufspaltet, das Tun erneut von dem Geschehen abweicht.
0.6 Der Versuch, das Problem der Dekonstruktion zu bestimmen und seine Lösung zu finden, hat in einem ersten Anlauf ergeben, daß es mit der Bedeutung der Andersheit zusammenhängt, daß man sich jedoch zunächst, bevor man sich über diese Bedeutung klar werden kann, mit zwei auftauchenden Schwierigkeiten auseinandersetzen muß. Die erste Schwierigkeit, so hat sich gezeigt, ist die einer Zweideutigkeit, die dadurch entsteht, daß sich die Dekonstruktion auf Andersheit sowohl als Andersheit der différance als auch als Andersheit des inkommensurabel Anderen bezieht, ohne daß der Bezug zwischen dem einen und dem anderen Bezug unmittelbar einleuchtet. In zwei Schritten kann man die Zweideutigkeit 77 | Ebd., S. 67.
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auflösen, einmal dadurch, daß man den Bezug auf das inkommensurabel Andere als Sinn der différance und ihres Bezugs auf Andersheit versteht, als ein Sich-Messen von X an Nicht-X oder Y, dann dadurch, daß man das inkommensurabel Andere als eines betrachtet, das selber in die Andersheit der différance einbezogen bleibt, dekonstruiert wird. Diese Auflösung der Zweideutigkeit der Dekonstruktion führt aber zu der Entdeckung einer Antinomie, die man ihrerseits nicht auflösen kann und durch die sich die Zweideutigkeit erneuert. Man kann aber die Notwendigkeit der Antinomie einsehen, die Tatsache, daß die Dekonstruktion an ihr den eigenen Lebensnerv hat. Dadurch mag auch die Irreduktibilität der Zweideutigkeit begriffen und das Verhältnis zu ihr verändert werden, so daß es nicht mehr eines zwiespältiger Undeutlichkeit ist. Die Antinomie der Dekonstruktion läßt verschiedene Formulierungen zu, als Widerstreit zwischen der Andersheit der différance und der Andersheit des inkommensurabel Anderen, als Widerstreit zwischen Geschehen und Praxis, als Widerstreit zwischen einem aktiven und einem passiven Kommenlassen. Nun ist der Punkt erreicht, an dem die zweite Schwierigkeit, die sich der Bestimmung des Problems der Dekonstruktion und seiner Lösung in den Weg stellt, untersucht werden muß. Diese Schwierigkeit ist eingangs bereits als die einer Unaufrichtigkeit erkannt worden, die sich nicht einfach auf subjektive Willkür oder psychologische Verstellung zurückführen läßt. Der junge Mann, der in Greens Roman Si j’étais vous… der Versuchung nachgibt und sich mit Hilfe einer einzigartigen Geheimformel den Wunsch erfüllt, beliebig in die Haut eines Anderen schlüpfen und »an die Stelle des Nächsten«78 treten zu können, von innen gleichsam an eine fremde Seele zu rühren, statt vielleicht bloß von außen, steht, wie ihm nach der zweiten Verwandlung aufgeht, durch die er zu einem Rohling wird, der sich unversehens eines Mordes schuldig macht, vor dem Dilemma, daß er im voraus nie genau wissen kann, wer der Andere ist, in den er sich verwandelt, an welche Seele er rühren wird. Die Erfahrung seiner Verwandlungen wird ihn denn auch lehren, daß er sich jedes Mal in einen unglücklichen Menschen verwandelt, obwohl das Unglück jedes Mal ein anderes ist. Wie ihm aber bereits nach der ersten Verwandlung aufgeht, steht der junge Mann ebenfalls vor dem nicht weniger dringlichen Dilemma einer Erinnerung an sich selber, durch die allein er sich seiner Verwandlungsgabe versichert, Widerstand gegen die vollkommene Angleichung leistet und nicht in die Fänge des anderen Ich gerät, des »alten Totengräbers, der mit mir anstellt, was er will«.79 Dieses Dilemma veranlaßt den jungen Mann, der kein junger Mann mehr ist, sondern sich in einen wohlhabenden kranken Alten 78 | Julien Green, Si j’étais vous…, S. 927. 79 | Ebd., S. 1004.
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verwandelt hat, zu einer in ihren Ansätzen philosophischen Reflexion über Identität: »Ein logisches Bedürfnis zwang ihn, unauf hörlich die Gegebenheiten des Problems erneut zu durchdenken. ›Mein Ich ist weiterhin dasselbe, mit anderen Eigenschaften und einem gänzlich anderen Körper. Was ist aber das Ich und wo befindet es sich? Ich bin sicher, daß ich Mich nicht mehr in Fabiens Körper auf halte. Seine Erinnerungen sind nicht mehr meine Erinnerungen, ich weiß auch nicht mehr, was in seinem Kopf vor sich ging und was er vor hatte. Nein, alles, was mir von meinem Leben in der Gestalt Fabiens bleibt, ist der Name, an den ich mich um jeden Preis werde erinnern müssen, die Formel, ohne die ich verloren bin (er sagte sie für sich auf), und die Gewißheit, daß ich die Macht habe, dem Körper zu entfliehen, den ich besetzt halte. Sonst nichts. Ich habe das Gedächtnis, den Willen und die Einbildungskraft eines Anderen.‹«80 Das Dilemma, das Green hier in einer Art innerem Monolog seiner zersplitterten Hauptfigur beschreibt, ist dem nicht unähnlich, das Hegel in der sinnlichen Gewißheit als »Unterschied des Wesens und des Beispiels« ausmacht,81 aber so, daß dieser Unterschied von der Befangenheit im Wesen immer wieder verwischt zu werden droht, weil er nicht als Fortgang zum Beispiel und zur wahren, aufhebenden Allgemeinheit begriffen werden kann, das Beispiel gleichsam von einer doppelten Unzulänglichkeit entzweit wird, der, bloßes Beispiel zu sein und nicht Wesen, der, bloßes Wesen zu sein und nicht Beispiel. Das ist, wenn man so will, die Unaufrichtigkeit, die in dem Wunsch liegt, ein Anderer zu werden. Jede Verwandlung schafft eine neue sinnliche Gewißheit, die des Lebensgefühls des gekaperten Ichs, zwar nicht unmittelbar, aber doch mit einer sich stufenweise steigernden Geschwindigkeit, als wäre der Tribut, den das Ich für die Verwandlungsgabe zahlen muß, eine mit jeder Verwandlung stets wieder gesetzte Frist, die sich nicht im voraus berechnen läßt, da sie von der Verfassung des einzelnen Ichs abzuhängen scheint, und die nicht verstreichen darf, ohne daß sich eine weitere Verwandlung ereignet. Der junge Mann sucht unterstützende Zuflucht bei einem äußeren Hilfsmittel, schreibt vorsichtshalber seinen Namen, sein Alter, seine Adresse und Stichworte zu seinem Aussehen auf einen Zettel, den er von Verwandlung zu Verwandlung stets bei sich tragen will; freilich löst sich dadurch nicht das Dilemma, da er nun nicht 80 | Ebd., S. 893. Vgl. dazu die Fußnote einer Philosophin: »Das erste Problem, über das ich mir Gedanken gemacht und das ich später als ein philosophisches erkannt habe, lag in dem Gebrauch, den Erwachsene von den Worten »Wenn ich du wäre« machten. Ich fragte mich, wie man den Unterschied feststellen könnte, wenn der Andere ich wäre!« (Philippa Foot, Natural Goodness, Oxford 2001, S. 1) 81 | G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Theorie-Werkausgabe, Band 3, hg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, S. 83.
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vergessen darf, den Zettel wie ein Unterpfand des Ichs an den Anderen weiterzugeben. Schließlich, der junge Mann ist des Zettels längst verlustig gegangen, findet er in einer fiebrigen, von Ahnungen und Augenblicken des dumpfen Wiedererkennens geleiteten und durchsetzten Rückkehr, die die Stationen der Verwandlungen in umgekehrter Reihenfolge durchläuft, zu seinem ursprünglichen Ich zurück, das in der Bewußtlosigkeit verharrt hat, erst durch das Nahen seiner selbst schlafwandlerisch und gleichzeitig höchst erregt erwacht ist. Mit sich vereinigt, geschieht eine letzte, ungewollte, gnadenvolle Verwandlung, wird das Ich, das wieder es selber ist oder sich zu sich selber erweckt hat, von einem intensiven, beinahe ozeanischen Gefühl der Nächstenliebe erfüllt, ja überschwemmt. Die Anrede des Titels ändert sich, bedeutet nicht mehr »Wenn ich du« oder, genauer, »Wenn ich Sie wäre«, sondern »Wenn ich ihr alle wäre«: »Es schien ihm, daß er von ihm ganz verschiedene Menschen hätte lieben können, jeden und alle, die ganze Welt, und plötzlich fühlte er sich grundlos glücklich. Dieses unbestimmte und tiefe Glücksempfinden wuchs in ihm an, so sehr, daß er Lust verspürte, in ein Lachen oder ein Weinen auszubrechen.«82 Während jede einzelne Verwandlung durch die für das Verwandeln notwendige Aufrechterhaltung des Unterschieds zwischen Wesen und Beispiel einer Selbstbehauptung des Ichs gleichkommt, der gefährdeten Selbstbehauptung des Ichs, das sich in ein Ich verwandelt, und der gefährdenden Selbstbehauptung des Ichs, in das sich das Ich verwandelt; während mit dieser Unaufrichtigkeit des Ichs sein Unglück vorprogrammiert zu sein scheint, verdeutlicht die letzte und unerwartete Verwandlung, die einzige Verwandlung in dem Roman, die man als Ereignis bezeichnen kann, daß das Ich nur dann von seinem Unglück befreit wird, wenn es ihm gelingt, die Last der Selbstbehauptung abzuwerfen. Man muß unterscheiden zwischen dem »Wenn-ich-du-wäre« der befangenen Unaufrichtigkeit einerseits und dem »Wenn-ich-du-wäre« eines glücklichen Ausbruchs aus dem verfestigten Ich andererseits, das sich im Affekt äußern kann, im freisetzenden Lachen oder Weinen, das den Unterschied zwischen Wesen und Beispiel abschafft, als würde es nur noch Beispiele kennen, die nicht mehr Beispiele von etwas sind, Beispiele, die auf den vorausgesetzten Begriff des Ichs zurückverweisen, auf eine Allgemeinheit, die wiederum nur in dem einen Ich gegeben ist, das man nun einmal ist, und die deshalb den ambivalenten Wunsch erzeugt, ein Du sein zu können, ein anderes Wesen oder das Wesen des Anderen. Wie genau trägt die Selbstbehauptung zum Unglück bei? Der junge Mann verwandelt sich immer dann in einen Anderen, rekurriert immer dann auf die Zauberkraft der Geheimformel, wenn sich ein Hindernis 82 | Julien Green, Si j’étais vous…, S. 1030.
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vor ihm aufbäumt, dessen Überwindung sich schwierig, wenn nicht gar unmöglich gestaltet. In den verschiedenen Verwandlungen stößt er folglich regelmäßig auf das Hindernis, das er selbst aufrichtet oder das er für sich selbst bedeutet. Nach der letzten gewollten Verwandlung jedoch leistet er etwas, gelingt es ihm, trotz der großen Schwierigkeiten, denen das schwindende Bewußtsein seiner selbst begegnet, zu seinem vormaligen Ich zurückzufinden. Die letzte ungewollte Verwandlung befreit ihn von seinem Unglück, weil er selber, wenn man so sagen kann, diese Befreiung vollbracht, sich nicht mehr auf die Formel der Verwandlungen verlassen hat, die in Wahrheit die Formel der Selbstbehauptung ist. Zwei Aspekte der Romanhandlung erweisen sich in diesem Zusammenhang als bedeutsam. Zum einen fällt es dem Leser auf, daß es dem Verwandelten, der zu einem bestimmten Zeitpunkt das Ich eines angehenden Gelehrten besetzt, der häßlich, fromm und lüstern ist, nicht in den Sinn kommt, die Identität des Geliebten einer schönen Bäckerin sich auszuleihen, nach der es ihm verlangt, als hätte er eine dunkle Vorstellung von der Unverfügbarkeit des Glücks, zu dessen Zeuge er unfreiwillig wird; dazu würde der Umstand passen, daß alle Identitäten, die der junge Mann annimmt, solche eines Menschen sind, der über etwas verfügt, über Geld, physische Kraft, intellektuelle Wendigkeit, ein angenehmes Äußeres, das sich allem Anschein nach gewinnend einsetzen läßt. Zum anderen fällt es dem Leser ebenfalls auf, daß der Verwandelte eine mehr oder wenige starke Erinnerung an vorangehende Verwandlungen mit sich trägt, eine Erinnerung, die sich um so stärker ausprägt, je heller das Opfer ist. Melanie Klein sieht darin, in der Beibehaltung »früherer Identifikationen«, einen wichtigen Aspekt der Identifikation überhaupt, den einer Introjektion, die die Stabilisierung des Ichs fördert, wo sie sich mit der Projektion die Waage hält.83 Der Hochstapler Felix Krull, ein Artist des Ichs, der über es nicht stolpern kann, trifft mit einem reichen Adligen, der die Zeit fürchtet und ihre verändernden Auswirkungen durch andauernde Anwesenheit im Verborgenen mindern möchte, die Vereinbarung, sich dessen Identität in der äußeren Welt der Zufälle und Begebenheiten anzueignen, was einzig unter der Voraussetzung einer geregelten Erinnerungslosigkeit möglich ist, einer »gewissen Ausgeblasenheit« des Inneren, das alle Erinnerungen, die dem »ungültig gewordenen Dasein angehörten«,84 verbannen muß. Sowohl die Scheu vor der Unverfügbarkeit des Glücks als auch die Erinnerung, die eine Geschichte tradiert, antizipieren also die Befreiung von dem erschöpfenden Verwandlungsdrang, von der Selbstbehauptung, die vergessen will und nicht kann, die unter wech83 | Melanie Klein, »On Identification«, S. 144 und S. 170. 84 | Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. von P. de Mendelssohn, Frankfurt a.M. 1980, S. 273.
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selnden Masken die Immergleichheit reproduziert, das Selbst, das sich selbst im Weg ist und das vergeblich vor sich fliehen möchte. An Greens Roman kann man ablesen, was es heißen kann, sich zu sich selber als einem Anderen zu verhalten. Von Anderem zu Anderem kommt das Selbst nicht von sich los und verirrt sich in eine schlechte Unendlichkeit. Welche Antwort gibt die Dekonstruktion auf die Frage nach dem Verhältnis des Selbst zum Anderen, wenn man davon ausgeht, daß es im Sinne ihres doppelten Bezugs auf Andersheit gedacht werden muß und daß, wer sie betreibt, die Frage nicht vermeiden kann, was es für sein Sprechen bedeutet, daß sie mit der Sprache anhebt, der Stimme, sie sich in der Sprache also auf sich bezieht, obwohl keine Sprache in der Lage sein soll, sich als Metasprache über sie zu erheben? a) Eine erste Antwort kann man dem angeführten Zitat aus einem Gespräch mit Derrida entnehmen, das den Unterschied zwischen Behauptung und Zuschreibung (des Atheismus) betrifft und eine Erläuterung zu folgendem Satz sein soll: »Aber [meine Mutter] wußte wohl, daß Gottes Beständigkeit in meinem Leben andere Namen erhält, so daß ich zu Recht für einen Atheisten gehalten werde.«85 Derridas nachträgliche Erklärung, daß die Zuschreibung an die Stelle der Behauptung treten muß, weil das Ich nicht einfach dieses oder jenes Ich ist, es wegen seiner konstitutiven Andersheit immer gleichsam durch ein anderes Ich vertreten wird, überrascht insofern, als der Atheismus, der dem Ich hier nicht etwa willkürlich, sondern mit gutem Grund zugeschrieben wird, letztlich auf einer schwer vermeidbaren Verkennung der »Beständigkeit Gottes« zu beruhen scheint, als würde diese Beständigkeit selber an die Abwesenheit oder Nichtexistenz grenzen, als wäre das Ich also deshalb eines, dem man etwas zuschreibt, weil die Verfaßtheit seiner Gedanken deren Erkenntnis erschwert. In dem einen Fall gibt es ein Ich, das von sich nicht behaupten kann, es sei »Atheist«, obwohl es versteht, warum Andere ihm »Atheismus« zuschreiben, es ihnen nicht widersprechen kann; in dem anderen Fall gibt es kein Ich, das von sich etwas behaupten oder mehr oder weniger anspruchsvolle Erwägungen über Behauptung und Zuschreibung, Selbst und Andersheit anstellen könnte, da jede Behauptung sofort in eine Zuschreibung umschlägt, das Ich sich seiner selbst entzieht oder von sich selbst getrennt wird, schon woanders ist, wenn es darum geht, daß es oder Andere über seine Gedanken und Vorstellungen etwas erfahren. Zwei Lesarten dieser Antwort lassen sich auseinanderhalten, wobei die eine den Bezug auf Andersheit der différance, die andere den des inkommensurabel Anderen vorzuziehen scheint. Sagt man, wie Derrida es nicht 85 | Jacques Derrida, »Circonfession«, in: ders. und Geoff Bennington, Jacques Derrida, Paris 1991, S. 146.
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ohne Ironie tut, daß Behauptungen immer Zuschreibungen sein müssen, weil das Ich nicht einfach ein Ich ist und folglich alles, was das Ich von sich behauptet, in Wahrheit sich nur zuschreiben (lassen) kann, so entsteht eine Asymmetrie zwischen dem Ich, das so über das Ich redet, und dem Ich, über das so geredet wird. Das Ich, das behauptet, alle Behauptungen eines Ichs seien Zuschreibungen, behauptet etwas, das nicht selber eine Zuschreibung ist, entwindet sich aber dem Behaupten eben durch das Behauptete. Damit ist einer jener Fälle von Unaufrichtigkeit gegeben, die Sartre in L’être et le néant untersucht. Ihren Grund hat die Unaufrichtigkeit in dem Umstand, daß alles, was durch das Bewußtsein existiert, in seiner Existenz von dem Wesen des Bewußtseins affiziert wird, das, weil es eben kein Ding ist, kein Sein, sich ständig selber überholt: »Unaufrichtigkeit hat Ungreif barkeit zum Ziel; sie ist eine Flucht.«86 Zieht man aus Derridas Erklärung den Schluß, daß das Ich selber eine Zuschreibung ist, da jede Behauptung, getrieben von einer unauf hebbaren Andersheit im Ich, an ein weiteres Ich weitergegeben, das behauptende Ich dadurch ungreif bar wird, so deckt sich eine solche Deutung genau mit der von Sartre nachgezeichneten Struktur oder Logik der Unaufrichtigkeit. Denn die Unaufrichtigkeit soll sich ebenfalls auf das Ich erstrecken, das sich zu ihr entschließt. Sartre siedelt die Unaufrichtigkeit zwischen zwei Extremen an, die »zynische Lüge«, die eine regelnde Kontrolle über alle ihre Haltungen ausübt, folglich ein Ich voraussetzt, das sich in der Flucht der Zuschreibungen erhält, und die »Evidenz«, die in einem »intuitiven Ergreifen« des Gegenstandes besteht, so daß sich zwischen dem behauptenden Ich und dem Inhalt der Behauptung kein Abstand auftut, in den sich Zuschreibungen einschleichen könnten. Das Problem der Unaufrichtigkeit erblickt Sartre nun in einem Glauben, für den das Sein nicht mehr einfach am Gegenstand haftet. So wie in seinem berühmten Beispiel für Unaufrichtigkeit der Kellner stets auch den Kellner spielt, nicht umhin kommt, die verwirklichende Bemühung um ein Dasein als Kellner durch eine untergrabende Aufführung dieses Daseins zu verdoppeln, das Ich also durch ein Ich vertritt, so spielt der Philosoph stets auch den Philosophen, kommt nicht umhin, sich durch ein Virtuosentum zu verraten, das, um Derridas Beispiel wieder aufzugreifen, die Gestalt einer Aushöhlung des Ichs als Setzung annimmt. Wenn Derrida in seiner Kritik an der Theorie der Sprechakte von einer »allgemeinen Zitierbarkeit« und von der Rezitation, dem Zitat auf der Bühne, als einer »bestimmten Abänderung und Einschränkung« dieser Zitierbarkeit handelt,87 wenn er, anders ausgedrückt, in der bloßen 86 | Jean-Paul Sartre, L’être et le néant, Paris 1976, S. 100. 87 | Jacques Derrida, »Signature événement contexte«, in: ders., Limited Inc., S. 44.
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und reinen Behauptung eine Verwicklung und eine Unreinheit entdeckt, die Raum für eine Zuschreibung schafft, dann kann man seine Analyse als eine gewisse Verlängerung der phänomenologischen Betrachtung über die Unaufrichtigkeit der bewußten Existenz verstehen, über den blinden Fleck einer Andersheit, die sie unauf hörlich dazu zwingt, im Ernst die Rolle einer bewußten Existenz zu spielen. Ein Glaube kann, folgt man Sartre, nicht existieren, wenn er nicht ins Bewußtsein tritt, sich als Bewußtsein seiner selbst bildet; das bedeutet aber, daß er nur als ein »getrübter«, »gestörter«, »verwirrter« Glaube existiert, der sich selber entrinnt und »die Einheit aller Begriffe zerschlägt«,88 mit deren Hilfe man ihn einkreisen mag. So erweist sich Unaufrichtigkeit als ein Glaube, dem es an Überzeugung mangelt und der einer Haltung zur Welt entspricht, einer Art und Weise, in der Welt zu sein, sich zu sich und zu Anderen zu verhalten. Der Welt der Unaufrichtigkeit ist es eigentümlich, daß in ihr »das Sein etwas ist, das es nicht ist, und etwas nicht ist, das es ist«.89 Während folglich einerseits die spezifische Beschreibung der Unaufrichtigkeit als »getrübter«, »gestörter«, »verwirrter« Glaube sie von der »zynischen Lüge« und der vollen »Evidenz« unterscheidet, mündet diese Beschreibung andererseits in eine Verallgemeinerung, die die Unaufrichtigkeit in der Bewegung der bewußten Existenz überhaupt, in dem Widerspruch des Bewußtseins, dessen Sein in einem Seinsentzug begründet liegt, verortet und den »ursprünglichen Entwurf«, der einem unaufrichtigen In-der-Welt-Sein zugrunde liegen soll, bereits als einen von der Unaufrichtigkeit tingierten darstellt, als einen, der nicht von einem aufrichtigen Ich abhängt und der dadurch erst die Unterscheidung zwischen Lüge und Unaufrichtigkeit ermöglicht. »Man versetzt sich in die Unaufrichtigkeit wie man sich in den Schlaf versetzt, und man ist unaufrichtig wie man träumt«, schreibt Sartre.90 Ein Dekonstruktivist könnte fragen, was dazu berechtigt, von Unaufrichtigkeit zu sprechen, wenn sie auf das von der différance bestimmte Verhältnis des Selbst und des Anderen zurückgeführt wird, es keine Position gibt, von der aus man das in der unendlichen Flucht der Zuschreibungen befangene, gespenstische Selbst einer für es wesentlichen Unaufrichtigkeit zu überführen vermag. Sartre unterscheidet zwischen Unaufrichtigkeit und Eigentlichkeit, ohne dieser Unterscheidung in L’être et le néant nachzugehen,91 und setzt an das Ende seines Werks die Frage, was es heißen kann, sowohl das Nichtsein dessen, was man ist, als auch das Sein dessen, was man nicht ist, als »Seinsideal« zu wählen. Wenn die 88 | Jean-Paul Sartre, L’être et le néant, S. 111. 89 | Ebd., S. 103. 90 | Ebd. 91 | Ebd., S. 106 (Fußnote).
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Unaufrichtigkeit als ein Fliehen vor der Angst interpretiert wird, vor dem »Bewußtsein, die eigene Zukunft in der Weise des Nichtseins zu sein«,92 steht dem Fliehenden auch die Möglichkeit eines Freiseins offen, das darin besteht, daß seine Freiheit »sich selber vollkommen entdeckt«, ihr »Sein in dieser Entdeckung liegt«.93 Täuscht sich X selbst, indem er glaubt, daß er einfach X ist oder nicht (X, der Kellner), täuscht er sich nicht ebenfalls selbst, indem er glaubt, daß er gleichermaßen X sein und nicht sein kann? Was heißt es dann aber, etwas zu sein? Wie sich zeigt, muß Sartre die »Selbstlüge« oder »Selbsttäuschung« der Unaufrichtigkeit94, will er dem allgemeinen Begriff gerecht werden, den er einführt, der Verallgemeinerung, die die Unaufrichtigkeit selber betreibt, beinahe auf ein mit dem Bewußtsein Gegebenes reduzieren, auf ein Wesensmerkmal, gegen das man nicht eine mögliche Aufrichtigkeit einklagen kann, auf eine »Entscheidung, die ihren Namen nicht auszusprechen wagt«, weil sie sich selber für unaufrichtig hält und es doch nicht tut,95 zugleich aber die Unaufrichtigkeit von einer wie immer auch unreflektierten Entscheidung oder »spontanen Bestimmung unseres Seins« abhängig machen, soll der Begriff des Fürsichseins nicht seinerseits für den eines Gegebenen einstehen, für ein Sein der Unaufrichtigkeit, für eine Essenz, die der Existenz vorausgeht, weil die Unaufrichtigkeit die Stelle des Unbewußten besetzt hält96 und der Freiheit Schranken auferlegt, die nicht die des Ansichseins in der Kontingenz der Situation sind. Ohne diese spannungsgeladene Verdoppelung, vor deren Hintergrund man sich fragen kann, ob sie die Unaufrichtigkeit verewigt oder ihr ein vorläufiges Ende bereitet, wären ihre phänomenologische Beschreibung und ontologische Bestimmung gar nicht denkbar. Sartre leugnet nicht, daß das Ansichsein der Freiheit des Bewußtseins Schranken auferlegt, wohl aber, daß das Fürsichsein je an eine Grenze stoßen kann, die nicht von ihm selber eingerichtet worden ist, so daß seine Freiheit »vollkommen und unendlich« ist. Jeder schafft sich seine eigene Tür, vor der er wie in Kaf kas Parabel verharrt: »Es ist also nur in dem freien Hervortreten einer Freiheit, durch es, daß die Welt die Widerstände entwickelt und enthüllt, die die Erfüllung eines entworfenen Zwecks durchkreuzen können.
92 | Ebd., S. 67. 93 | Ebd., S. 601. 94 | Ebd., S. 83. 95 | Ebd., S. 103. 96 | Vgl. dazu ebd., S. 518 (»Der Begriff der Unaufrichtigkeit, so will es uns scheinen, ersetzt die Begriffe der Zensur, der Verdrängung und des Unbewußten, deren sich Adler bedient«).
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Der Mensch begegnet einem Hindernis allein im Bereich seiner Freiheit […] Es gibt kein vollkommenes Hindernis.«97 Den Dekonstruktivisten, der die Diagnose der Unaufrichtigkeit verwirft, weil sich kein Ich vorstellen läßt, das aus der Flucht der Zuschreibungen herausfindet, kann man an die Merkwürdigkeit seiner Selbstdeutung erinnern. Gewöhnlich drückt eine Formulierung des wahrscheinlich ziemlich ungewöhnlichen Typus »Diese Überzeugung kann man mir zu Recht zuschreiben« einen Vorbehalt aus, ein Zögern, das zu schwach ist, um einen Widerspruch anzumelden, aber doch stark genug, um eine gewisse Zurückhaltung anzuzeigen. Die Selbstdeutung, die zunächst darauf hinweist, daß ein Ich nicht einfach ein Ich ist, auch nicht oder nicht einmal das eigene, scheint, wenn sie nicht als Witz oder Boutade verstanden wird, so, als würde sie gleichsam mit einem Augenzwinkern vorgetragen, wegen ihrer übertrieben gewichtigen Allgemeinheit in ein Mißverhältnis zu der ursprünglichen Formulierung zu treten. »Ich habe dem Leser zu verstehen gegeben, daß man mir eine Überzeugung zuschreiben kann, und zwar zu Recht, jedoch nicht behauptet, daß ich dieser Überzeugung bin, weil ich deutlich machen wollte, daß das Ich nicht einfach ein Ich ist.« Aus der Perspektive einer solchen asymmetrischen Selbstdeutung sieht es so aus, als hätte der Dekonstruktivist in seiner Denk- und Schreibpraxis die Erfahrung einer Andersheit festhalten wollen, die das Ich immer unabwendbar spaltet; oder genauer: als wäre neben ein gespaltenes Ich ein anderes getreten, das die Erfahrung der Spaltung ausgedrückt hätte, ohne dabei auf die Verdoppelung selber explizit zu reflektieren. Zu einem späteren Zeitpunkt über den Wortlaut seiner schriftlich festgehaltene Erfahrung befragt, deutet der Dekonstruktivist dann die Verdoppelung im Sinne eines Beispiels und versäumt oder vermeidet es wiederum, über die Möglichkeit, ein solches Beispiel zu geben, aufzuklären. Er besetzt ein weiteres Mal die Position des behauptenden Ichs und weist sogar auf sie hin: »Ich erkläre, was der Satz meint, ja, ich erkläre, daß der Satz etwas meint, was sich allgemeiner oder abstrakter oder begrifflicher ausdrücken läßt, verwandle ihn so in das Beispiel, das er in gewisser Hinsicht schon ist, weil seine Formulierung die Einsicht in die Erfahrung der Andersheit des Ichs zum Ausdruck bringt.« Dennoch lenkt der Dekonstruktivist die Aufmerksamkeit nicht auf die Position, die er besetzt, da er erneut nicht erklärt, was die Behauptung von Zuschreibungen gestattet, die Behauptungen ausschließen. Man könnte also meinen, er hätte sich über sich selbst, über sein Theorem täuschen wollen, in dem Maße nämlich, in dem es das, was es zu leisten vorgibt, leistet und trotzdem nicht leistet. Hinzu kommt eine Zweideutigkeit, die sich daraus ergibt, daß ungewiß bleibt, zu welchem Zeitpunkt genau sich 97 | Ebd., S. 533.
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das Beispiel bildet. Fungiert der ursprüngliche Satz bereits als ein Beispiel, ohne daß die Regel (»Ein Ich ist nicht einfach ein Ich«) angeführt würde, oder entsteht dieser Eindruck erst dadurch, daß in der Selbstdeutung der ursprüngliche Satz als ein Fall unter einem Begriff (des Ichs) subsumiert wird? Da der Dekonstruktivist sowohl bei der Formulierung des ursprünglichen Satzes als auch bei der Anführung der Regel, der sein Inhalt unterstehen soll, die zugunsten der Zuschreibung eskamotierte Position des behauptenden Ichs einnimmt, kann man die Frage nicht eindeutig beantworten. Die Unaufrichtigkeit, mit der man es hier zu tun hat, liegt in dem Verhältnis zur Praxis. Zwar mag ein Fall aus der Praxis als Beispiel dienen, doch verhält man sich in der Praxis nicht zur Praxis wie zu einem Beispiel, es sei denn, man spielt eine Rolle, läßt das Spiel erkennbar werden oder versucht, es zu verbergen – und dann dient entweder die Praxis des Rollenspiels als Beispiel, was wiederum ein behauptendes Ich voraussetzt, oder es gibt eigentlich keine Praxis mehr, die als Beispiel dienen kann, nur noch Beispiele, die als Beispiele hervorgebracht werden, und eine gegenstandslose Theorie. Daher kann man letztlich sagen, daß die Unaufrichtigkeit stets ein sie förderndes und herausforderndes Moment der Aufrichtigkeit involviert, die Zuschreibung stets eine ihr untergeordnete Behauptung, die sie desavouiert. Freilich könnte man die These aufstellen, daß Derrida der Unaufrichtigkeit einen strategischen Wert verleiht, nämlich den, jede dogmatische Behauptung und Selbstbehauptung des Ichs zu durchkreuzen. Die Unaufrichtigkeit wäre dann in die distanzierende Wirkung einer Ironie eingebettet. Im Zusammenhang mit der zitierten Stelle über den zugeschriebenen Atheismus wäre die dogmatische Behauptung und Selbstbehauptung des Ichs ununterscheidbar von einem atheistischen Dogmatismus, die Ironie der Unaufrichtigkeit von der Differenzierung der Entgegensetzung zwischen Glauben und Unglauben, die Derrida in seinen Erläuterungen zu dem Zitat vornimmt. Die Unaufrichtigkeit würde folglich in den Dienst eines differenzierenden Ichs treten, wäre nicht der Ausdruck eines verdinglichten Uneinsseins, eines Uneinsseins, das sich als solches ausstellt, als hätte es Gewalt über sich selber und doch wiederum nicht. Die zweite Lesart der Antwort auf die Frage nach Selbst und Anderem, die in der Behauptung besteht, das Ich sei nicht einfach das Ich, privilegiert den Bezug auf die Andersheit des inkommensurabel Anderen und läßt sich, wenn man eine Fußnote wörtlich nimmt, am Ende des kurzen Vorworts zu La carte postale ausmachen. Das Ich, das dieses Vorwort mit dem Namen Jacques Derrida signiert, tut dies, nachdem es die geradezu »tragische« Unbestimmbarkeit unterstrichen hat, die »schicksalhafte Bestimmungsverirrung«, die jede Identifikation des Verfassers oder der Verfasser, des Absenders oder der Absender der »Postkarten« ebenso ver-
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bieten soll wie jede Identifikation des oder der Adressaten, an die sie sich richten. Sogar der Inhalt, das, worum es in den »Postkarten« geht, soll nicht eindeutig bestimmbar sein, entspricht doch die Form der Postkarte, die Offenheit eines unlesbaren Briefs,98 den beiden Aspekten, die sich trotz ihrer Unvereinbarkeit in der Iterabilität bis zur Ununterscheidbarkeit angleichen, das durch eine idealisierende Wiederholung gesicherte Wiederkennen einerseits, also der öffentliche Zugang, und die Einzigartigkeit einer Veränderung andererseits, also der Entzug. Daß aber das Ich, ohne sich auf weitere »Umwege« zu begeben oder weitere Umstände zu machen, die »Verantwortung« für die »Sendungen« übernimmt, dadurch, daß es mit seinem »Eigennamen« unterschreibt, scheint nicht nur eine klärungsbedürftige Handlung zu sein, sondern auch eine ungenügende, liest man doch in einer hinzugefügten Fußnote eine Apostrophe, die man deshalb vielleicht beim Wort nehmen kann, weil sie auf eine Anerkennung der Unbestimmbarkeit folgt, ja auf die Erklärung, erst die Unbestimmbarkeit rechtfertige ein Interesse an den »Sendungen«: »Ich bedauere es, daß Du nicht wirklich meiner Unterschrift traust, unter dem Vorwand, daß wir mehrere sein sollen. Es stimmt, aber ich sage dies nicht, um mir eine zusätzliche Autorität anzumaßen.«99 Ist das Ich, das hier für ein Vertrauen in seine Unterschrift plädiert, in das Übernehmen von Verantwortung für die Andersheit, die das Ich durchzieht und die sich als Unbestimmbarkeit auswirkt, nicht eines, das sich an dieser Andersheit zu messen sucht, eben um den Namen eines Ichs, um den Namen Jacques Derrida zu verdienen? 98 | Jacques Derrida, La carte postale. De Socrate à Freud et au-delà, Paris
1980, S. 16. Vgl. dazu auch die Stelle: »Eine Postkarte ist weder privat noch öffentlich.« (Ebd., S. 199) Die Unlesbarkeit darf also nicht ihrerseits vergegenständlicht werden, als ließe sie sich klar und deutlich von der Lesbarkeit trennen, für die die Iteration als Wiederholung sorgt. Beginnt ein Text von Derrida mit der herausfordernden Ansprache: »Du wirst niemals wissen, und auch sie werden es nicht, was ich mir beim Anblick dieser Bilder noch alles zusammengereimt, welche Geschichten ich mir dabei erzählt habe« (Jacques Derrida, »Une lecture«, in: ders. und M.-F. Plissart, Droit de regards, Paris 1985, I), so könnte ein boshafter Leser mit einem Satz aus den autobiographischen Betrachtungen des Filmregisseurs Paul Cox ripostieren: »Er liebte Heimlichkeit, vor allem, wenn sie inhaltsleer war.« (Paul Cox, Reflections. An Autobiographical Journey, Sydney 1998, S. 16) Führt Derrida nicht die Uneinholbarkeit des Selbstbewußtseins vor, in der die Unaufrichtigkeit nach Sartre gründet, ist die Provokation seines Entzugs nicht auf sie angewiesen? Es ist nur eine Stimme, die hier am Anfang spricht. Auf ihre herausfordernde Ansprache antwortet sofort eine andere Stimme, es dürfe beim Anblick der fraglichen Bilder nicht um das Erdenken von Geschichten gehen. 99 | Ebd., S. 10.
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Aus einem solchen Blickwinkel wäre die Gleichgültigkeit eines Ichs in der Andersheit der différance überwunden, wären die Auswirkungen der Unaufrichtigkeit, die sich in die Feststellung einschleichen kann, ein Ich sei nicht einfach ein Ich, dadurch eingeschränkt, daß der Sinn dieser Feststellung in einer Verantwortung, die das Ich übernehmen muß, liegen würde, in einem Sich-Messen des Ichs am Anderen, ja an der Andersheit des Nicht-Ichs. Weder wäre die Behauptung auf eine Zuschreibung reduziert noch die Zuschreibung auf eine Behauptung; vielmehr wäre eine Spannung zwischen Behauptung und Zuschreibung hergestellt. b) Eine weitere Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Selbst und Anderem in der Dekonstruktion, mit der man vor dem Problem der Unaufrichtigkeit steht, kann man in der zeitlichen Dimension des Bezugs auf die Andersheit des inkommensurabel Anderen ausfindig machen. Derrida selber liefert ein Beispiel für diese Antwort, wenn er über seine Freundschaft mit dem Literaturwissenschaftler Paul de Man nachdenkt. Seine Verurteilung eines Satzes des jungen de Man, den er als »unverzeihlich« bezeichnet, muß vielleicht mit Gedanken über das, was in einer Freundschaft ungesagt bleiben kann, in Verbindung gebracht werden. Nachdem er ein Zitat als Beleg für die These angeführt hat, daß Ideologie und Politik zu jenen Gegenständen des Denkens gehörten, die dem Literaturwissenschaftler immer »besonders gegenwärtig« waren, behauptet Derrida, daß sie für den Freund sogar noch bedeutsamer waren als für alle, die ihn in Nordamerika oder England der Vergeßlichkeit in solchen Fragen zeihten: »Es gab dafür Gründe; Erfahrung hatte ihn auf diese Fragen vorbereitet. Er dachte wahrscheinlich, daß hellhörige Ohren ihn verstehen würden, und daß er es nicht einmal nötig hatte, Vorträge über den Krieg zu halten. In Wahrheit sprach er über nichts anderes, schrieb er nur darüber. Manchmal sage ich mir, daß er vielleicht annahm, ich wisse über die Dinge Bescheid, über die er nie mit mir sprach, und wenn nur aufgrund der Lektüre seiner Schriften. Vielleicht wußte ich auch tatsächlich auf eine undeutliche Art und Weise Bescheid. Gedämpft vernahm ich es: ›wie Meeresrauschen…‹.«100 Derrida verfügte also, nimmt man seine Hypothese ernst, über ein so undeutliches und heikles Wissen, daß er nicht über es verfügte, das Wissen widerspenstig gegen seine Vergegenwärtigung in der Rede blieb. Deshalb hatte die Beziehung zu seinem Freund etwas Ungreif bares, ja beinahe Unauflösliches. Sie wurde zu Lebzeiten des Anderen von einem Vernehmen oder Hören geprägt, das seinen Ort nicht in einem Austausch vertraulicher Mitteilungen hatte. Der Andere ging von der Annahme aus, daß Derrida ihn verstand und daß dessen Ohr hellhörig genug war, um die freundschaftliche Beziehung aufrechtzuerhalten und weiter100 | Jacques Derrida, Mémoires – pour Paul de Man, Paris 1988, S. 229.
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hin zu begreifen, wovon er ununterbrochen sprach, nämlich von seiner Erfahrung der Kriegszeit. Aus diesem Grund sprach er nicht ausdrücklich davon. Es ist, als hätte das eigentümliche Schweigen, das in seinem gesprochenen oder geschriebenen Wort widerhallte, das sich in der Sprache als ein Ungesagtes mitteilte und so eine Grenze der Kommunikation anzeigte, einen Aufschub der unmittelbaren Auseinandersetzung, der sie um so dringlicher erscheinen läßt, die Freundschaft bereits dem Gedächtnis und dem Versprechen geweiht, ja ihre Möglichkeit ausgemacht. Das suggeriert Derrida zumindest in dem zweiten Teil seines de Man gewidmeten Buchs, dort, wo er eine Diskussion über Rousseau erwähnt: »Solches Schweigen gehört dem schwindelerregenden Abgrund des Ungesagten, in dem sich das Gedächtnis einer Freundschaft hält, ich will nicht gleich sagen: bildet, als erneuerte Treue eines Versprechens. Das Ungesagte ist nicht immer jenes, was nicht gesagt zu werden braucht, doch verwischt es auch seine Spuren in der ständigen Bewegung einer Schrift, die man dann entziffern muß. Denn in gewisser Weise haben wir eigentlich nicht aufgehört, über jenes zu schreiben, wovon Paul de Man sagte, daß wir vielleicht später einmal darüber sprechen könnten, und wovon wir, wie ich gerade gesagt habe, nicht mehr gesprochen haben; als hätten wir uns darauf vorbereitet, eines Tages wieder darüber zu sprechen, an einem Tag im sehr hohen Alter. Im Grunde war es wie ein Versprechen.«101 Wenn man einen Zusammenhang zwischen der Stelle aus dem Text über de Mans Erfahrung der Kriegszeit und diesen Sätzen herstellen kann, die das Schweigen als Bereich ausgeben, in dem die Möglichkeit des Gedächtnisses und des Versprechens einer Freundschaft beschlossen liegt, dann deshalb, weil es in beiden Fällen um ein Ungesagtes geht, um die bedeutungsvolle Aussparung einer der Vergangenheit zuzählenden oder der Zukunft vorbehaltenen Erfahrung, für die der Freund empfänglich sein soll, empfänglicher als Andere; weil die Freundschaft eben dieser Empfänglichkeit entspringt, der Bereitschaft, ein zeitliches Vorher in die Zeit der Freundschaft aufzunehmen, das sich für sie als gefährliche Belastung erweisen kann, oder sie einer Zukunft auszusetzen, die nie eintreten mag. Wie steht es nun genauer um das Band zwischen der Freundschaft und dem Ungesagten als bedeutungsvoller Aussparung, wenn der Freund sich, um den Namen zu verdienen, an einem solchen Außerhalb der Freundschaft messen muß, an einer Enttäuschung, die buchstäblich eine sein kann, das Unerwartete einer ernsthaften Enthüllung, die die Freundschaft auf die Probe stellt? Daß Derrida, der sich für die Veröffentlichung der inkriminierenden Artikel des Journalisten de Man einsetzte, an seiner Freundschaft nach dem Fund festhält, wird dadurch deutlich, daß er versucht, die späteren Schriften des Freundes als 101 | Ebd., S. 129.
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Zeugnis eines Ungesagten zu lesen, einer Auseinandersetzung mit dem Gesagten, die sich nicht als solche unvermittelt zu erkennen gibt. Einerseits bindet mich das Ungesagte an den Freund, an die Stimme des Freundes, die sich an mich richtet, da ja die Freundschaft ihren Ursprung in dem Ungesagten haben oder da sie sich mit dem Ungesagten bilden und in ihm halten soll. Das Ungesagte ist, wenn man so will, das Ereignis der Freundschaft, etwas, das im Austausch mit dem Anderen nur dadurch statthat, daß man es nicht erwartet und daß es zu einem undeutlichen Wissen beiträgt. Zu einem Wissen trägt es in dem Maße bei, in dem es keine Anerkennung einer Freundschaft geben würde, »kein Ereignis, das man als solches wiedererkennen könnte, wenn eine Wiederholung nicht die Überraschung abschwächen würde«.102 Andererseits folgt aus einem Gedanken, den Derrida in seinem Buch über de Man entfaltet, aus der für die Freundschaft wesentlichen Endlichkeit, die dazu führen soll, daß wir immer schon um den Freund trauern, von Anbeginn an, nicht nur, daß uns ein Gedächtnis an den Freund bindet, sondern ebenfalls eine Unterbrechung, eine Äußerlichkeit, die es erlaubt, sich zum Ungesagten zu verhalten; muß die Wiederholung, die die Überraschung des Ereignisses abschwächt und so ein Verhalten zu ihm ermöglicht, nicht im Sinne dieser unterbrechenden Äußerlichkeit gedacht werden, als Tod, der sowohl die Freundschaft am Leben erhält, in der Gestalt einer Anerkennung, als auch die Innenperspektive der Freundschaft in eine Außenperspektive verwandelt, in der Gestalt einer Zäsur? Darf man außerdem das Ungesagte der Freundschaft nicht mit einem sorgfältig gehüteten Geheimnis verwechseln, mit einer Wahrheit, die der Freund willentlich vor dem Freund verbirgt, ist das Ungesagte, an dem sich der Freund mißt, ein Beispiel für den Sinn dessen, was Derrida meint, wenn er behauptet, daß »eine Stimme ohne Schrift vollkommen lebendig und vollkommen tot ist«,103 wenn daher die différance der Stimme einer lebensspendenden Unterbrechung gleichkommt. Die Ansiedlung der Freundschaft im Ungesagten besagt also, daß man die Stimme des Freundes von innen hört, als eine vertraute und vertrauenerweckende, jedoch ebenfalls von außen, gleichsam als die unbeteiligte Stimme eines Anderen oder als eine Stimme, zu der man sich verhält, das Gesagte nicht bloß in der unmittelbaren Bejahung und vor jedem Zweifel annehmend und hinnehmend, sondern es auch aus einer gewissen Entfernung erwägend und abwägend. Wie hört Derrida die Stimme des Freundes, wenn er behauptet, die »Gewalt und Verwirrung« von Sätzen, die dieser in seiner Jugend geschrieben hat, über eine »Lösung des jüdischen Problems« durch die Einrichtung einer »von Europa abgeson102 | Ebd., S. 152. 103 | Jacques Derrida, La voix et le phénomène, S. 115.
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derten jüdischen Kolonie«, seien »unverzeihlich«,104 dabei die Bewertung unterstreicht und die Frage an sie anschließt, ob sich solche »Schuld« überhaupt noch abmildern läßt? Selbst die Untersuchung des Kontexts, in dem die verurteilten Sätze des Freundes stehen, selbst die Befürwortung einer gewissen Zurückhaltung und »Kälte«, die der Arbeit einer »hellsichtigen Analyse« dienlich sein sollen, selbst die Einfügung der Sätze in eine Reihe von Beispielen, die alle die Zweischneidigkeit von gespaltenen, mit sich im Widerstreit liegenden Aussagen anschaulich machen sollen, ändert nichts daran, daß man nicht vom Unverzeihlichen sprechen und sich selber ausnehmen, ja im Vergleich für unschuldig ansehen kann, ohne die kontextuelle, analytische und logische Betrachtung zu überschreiten, ohne das Hören der Stimme des Freundes zu unterbrechen, mag auch diese Unterbrechung, dieses Verhalten zum Anderen, von einer Achtung vor der Idee der Freundschaft motiviert werden, die paradoxerweise die Treue zum Freund nicht erneuert. Was »unverzeihlich« sein soll, ist es für immer, ist für immer ein untilgbarer Rest, von dem sich das Verständnis vollkommen zurückzieht, auf das es ankommt. Man kann etwas nur als unverzeihlich verurteilen, das die Notwendigkeit eines solchen Urteils auferlegt, keinen Spielraum für subjektive Abschattierungen und Einschränkungen läßt, für ein Zögern, das in einem Kompromiß resultiert. Das Urteil muß so unwiderruflich sein wie das Verurteilte, selber ein untilgbarer Rest. So wird deutlich, warum die Rede von dem Verzeihen des Unverzeihlichen, von einem X, das sich, um den Namen X zu verdienen, an Nicht-X oder Y mißt, »das Böse«, von dem der Andere durch das Verzeihen freigesprochen werden soll, »als ein unvergeßliches und unverzeihliches Böses« bestätigt.105 Der Andere hat gleichsam dazu beigetragen, eine unauf hebbare Unaufrichtigkeit zu erzeugen, eine Loslösung, die einer Verankerung entspricht. Kann man aber zwischen einem Satz, den man als »unverzeihlich« verurteilt, will sagen: den man, wenn anders das Unverzeihliche in der Bezuglosigkeit verharrt, vor jeder bedächtig abschätzenden Überlegung als »unverzeihlich« verurteilen muß, als würde sich die Verurteilung unmittelbar aufdrängen, aus der Sicht der Zulassung möglicher Gegenargumente von einem blinden Fleck zeugen, aus der Sicht des Urteils hingegen von dem einzig denkbaren Schutz vor der Verblendung; kann man zwischen einem »unverzeihlichen« Satz und der Unmöglichkeit, dem Verfasser zu verzeihen, unterscheiden? In welchem Sinn kann ein Anderer, der einen vom Freund als »unverzeihlich« bezeichneten Satz geschrieben hat, ein
104 | Jacques Derrida, Mémoires – pour Paul de Man, S. 190. 105 | Jacques Derrida, Donner la mort, S. 182.
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Freund bleiben oder zu einem Freund werden, wenn sich das Gedächtnis der Freundschaft als eines des Bösen konstituiert? Die von Derrida redigierte Abschrift einer aufgenommenen mündlichen Einlassung gibt hier bis zu einem gewissen Punkt Auskunft. Derrida weigert sich, die Pertinenz eines unabänderlichen Urteils zu verallgemeinern: »Ich glaube, daß de Man unverzeihliche Sätze geschrieben hat, ohne selber ganz und gar, bis zu seinem Tod, das unverzeihliche Subjekt zu sein, das diese Sätze geschrieben hat.«106 Soll man Derridas Weigerung, die sich wohl zu ihrer eigenen Begründung auf die allgemeine Einsicht berufen muß, das Ich sei nicht einfach das Ich, nachvollziehen können, so muß man eine weitere Unterscheidung berücksichtigen, die er nicht ausdrücklich erwähnt. Denn entweder die Andersheit, die das Ich in der zeitlichen Entwicklung durchzieht, wird verdinglicht und das eine Ich unvermittelt neben das andere gestellt, wobei man das eine verurteilt und das andere zum Freund erklärt. In diesem Fall macht man sich der Unaufrichtigkeit schuldig, weil man einmal hinsieht, dann wieder nicht, als wäre das Ich ein Ding, das man sich von verschiedenen Seiten ansieht, bevor man sich entscheidet, die eine Seite in den Schatten zu stellen, vom Blick abgewandt, die andere Seite hingegen ins Licht, als wäre es eine Reihe nebeneinander gestellter Dinge, das Ding der Vergangenheit und das Ding der Gegenwart, von denen man nach genauer Musterung das eine wählt, das andere verwirft. Die Unaufrichtigkeit nistet sich in die abstrakte zeitliche Aufeinanderfolge ein, erweist sich als solche als eine Haltung, deren Gegenstück, die Vorgabe einer organischen Aufeinanderfolge, die in Wahrheit von einer Verdinglichung bestimmt wird, man an einem Beispiel erläutern kann, an dem Rückblick Winifred Wagners auf ihr Leben, wie er sich in ihren Gesprächen mit dem Filmregisseur Syberberg darstellt. Die strikte Ablehnung, den Hausfreund Hitler aus der Außenperspektive des Verbrechers zu betrachten, der für Unverzeihliches verantwortlich gemacht werden muß, ist, so sehr sie als Provokation an die Adresse der Opportunisten gemeint sein mag, nicht ein Zeichen für die Loyalität, in deren Namen sie erfolgt, sondern für eine erstarrte Unaufrichtigkeit, eine Unfähigkeit zur selbstkritischen Einschätzung und damit zur Freundschaft und zur Treue, die den Begriff der Loyalität selber allen Inhalts beraubt. Entweder verdinglicht man also die Andersheit des Ichs. Oder aber, soll sie vor der Verdinglichung bewahrt werden, man versucht, nach der Tat, die sich als unverzeihlich herausgestellt hat, achtsam zu sein, Hinweise 106 | In: Autour de Paul de Man (Michel Deguy, Jacques Derrida, Elisabeth
de Fontenay, Alexander García Düttmann, Marie-Louise Mallet), Les Papiers du Collège International de Philosophie, Nr. 11, Paris 1988 (ohne Seitenangabe; xerographiertes Exemplar).
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wahrzunehmen, die, wie immer auch verborgen oder schwer entzifferbar, auf eine Erschütterung deuten, auf eine Erschütterung, die eine Wendung zur Selbstkritik ausgelöst und eine Veränderung des Verhaltens bewirkt hat. Das Unmaß des Verbrochenen ist nicht verharmlost, vergessen, verdrängt worden. Deshalb erscheint das Ich des Anderen, aber auch das Ich des Freundes, der sich zu ihm verhält, nicht als ein gegebenes, sondern als eines, das in einer unauflösbaren Spannung steht, die, gleichgültig wie groß die Offenheit sein mag, ein Ungesagtes reproduziert. Meint das SichMessen am Unverzeihlichen nicht das Eintreten in diese Spannung? Supplement – Theorie oder Philosophie werden gegenstandslos, wenn es nur noch Beispiele gibt, alles sich als Beispiel für ein Theorem oder Philosophem anführen läßt, für eine Methode. Man kann diese Gegenstandslosigkeit im Sinne einer Erfüllung des Anspruchs deuten, die Wirklichkeit denkend zu erfassen, das Besondere durch das Allgemeine zu bestimmen. Oder im Sinne eines Verschwindens der Philosophie durch Auf klärung der Verwirrungen, in die sie sich verstrickt. Sobald die philosophischen Probleme vollkommen verschwunden sind, vollkommene Klarheit hergestellt ist, kann man, wie Wittgenstein sagt, an Beispielen eine Methode aufzeigen und die Reihe dieser Beispiele »abbrechen«.107 Wie steht es jedoch um einen Philosophen, der die Philosophie in Frage stellt, indem er sich Beispiele für Probleme ausdenkt, die sich philosophisch nicht lösen lassen? In seinem Vorwort zur nordamerikanischen Ausgabe von Glas bemerkt Derrida, daß in diesem schwer übersetzbaren Buch das Wortspiel »sowohl analysiert als auch praktiziert« werde.108 Was Derrida praktiziert, erweist sich als Herausforderung an die Philosophie, an den Versuch, sprachliche Bestimmtheit und Durchsichtigkeit zu erzielen, ja die Sprache selber in ihrem Wirken durchsichtig zu machen. Derridas Analyse droht umgekehrt den Widerstand gegen das Ideal der Bestimmbarkeit, den das Wortspiel anmeldet, die Sprache, zu brechen. Analyse und Praxis schließen sich aus; der Nachweis dieses Ausschlusses scheint aber den Gegenstand der Analyse abzugeben, der sich Derrida widmet, und den Grund für die Praxis zu legen, in der er sich gleichzeitig übt. Wenn man beides im Hinblick auf einen solchen Nachweis tut, tritt der Nachweis in den Dienst der Analyse – man demonstriert theoretisch und praktisch, daß etwas nicht geht, nicht funktioniert, ohne einen Rest zu hinterlassen, der Sand ins Getriebe streut. Die Praxis wird folglich der Analyse untergeordnet, weil sie, soll das Wortspiel tatsächlich Widerstand gegen das Ideal der Bestimmbarkeit 107 | Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 51. 108 | Jacques Derrida, »Proverb: ›He that would pun…‹«, in: John P. Leavy Jr., Glassary, Lincoln und London 1986, S. 18.
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anmelden, gegen die geistige Durchsichtigkeit der Sprache, gegen das Wissen darüber, was man sagt, nicht ihrerseits in einer Demonstration bestehen kann, und sei es in dem praktischen Nachweis eines unauflösbaren Rests, in der Suche nach beispielhaften Wortspielen. Lauert also in der Feststellung, das Wortspiel werde analysiert und praktiziert, nicht eine Unaufrichtigkeit, von der man sagen könnte, daß sie der Philosophie eigen ist und ebenfalls der Antiphilosophie, der Philosophie, die Philosophie sein und nicht sein will? »Ich trachte nicht, etwas zu verstehen, nur um zu sehen, daß ich’s noch nicht verstehe«,109 notiert Wittgenstein und spricht dabei durchaus als Philosoph. Noch aus einer anderen Perspektive berührt sich das Bemühen um den Nachweis einer wesentlichen Undurchsichtigkeit mit dem Bemühen um jene »vollkommene« Durchsichtigkeit, die nach dem Verschwinden der Philosophie ein reiner, von allen Schwierigkeiten gereinigter Sprachgebrauch erzeugen soll. Wenn es, nach Derridas Einsicht, keine Begriffe gibt, die als solche oder in sich selber »metaphysische« Begriffe sind, Begriffe, die, so könnte man es vielleicht ausdrücken, über das Verwirrende, den unauflösbaren Rest, der dem Ideal der Bestimmbarkeit widersteht, Verwirrung stiften; wenn außerdem die strukturelle Täuschung, die die Verwirrung der Metaphysik unaufhörlich zeitigt, erkannt werden kann, so gibt es für die Dekonstruktion vielleicht einen reinen Sprachgebrauch, der sich mit der Öffnung abzeichnet, die ihre eigene Unterbrechung schafft, ihr wie immer auch verwickelter Selbstbezug, der Nachweis ihrer Notwendigkeit.110
0.7 Zweimal hat sich erwiesen, daß die zweite Schwierigkeit der Dekonstruktion, die eine Unaufrichtigkeit im Verhältnis des Ichs zum Anderen oder zu einer konstitutiven Andersheit betrifft, auf eine ähnliche Art und Weise ausgeräumt werden kann wie die erste Schwierigkeit, die den doppelten Bezug der Dekonstruktion zur Andersheit betrifft: durch den Rekurs auf das Sich-Messen von X an Nicht-X oder Y. Die Formel »Wenn ich du wäre« drückt beide Schwierigkeiten aus. Denn die Schwierigkeit des doppelten Bezugs ist die des Sinns einer Ersetzbarkeit, die in der teilenden Bewegung der différance ausgemacht werden kann (X ist nicht einfach X, also wird X immer schon ersetzt). »Wenn ich du wäre« kann man in diesem Fall als Frage nach dem Sinn der Ersetzung verstehen, die ich in dem Augenblick, in dem ich begreife, daß mein Ich nicht einfach ein Ich ist, sondern ein Du (oder ein Sie, oder ein Er…, die wiederum nicht einfach sie selber 109 | Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, S. 110. 110 | Vgl. dazu: Alexander García Düttmann, »La déconstruction se dé-marque«, in: Le passage des frontières. A partir du travail de Jacques Derrida (Colloque de Cérisy 1992), hg. von M.-L. Mallet, Paris 1994, S. 347f.
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sind), an mich richte. Umgekehrt ist die Schwierigkeit der Unaufrichtigkeit die einer Einzigartigkeit, die der Ersetzbarkeit ausgesetzt ist und sich in dieser Aussetzung als Einzigartigkeit bewähren muß. »Wenn ich du wäre« kann man in diesem Fall deshalb als Frage nach einem Sich-Messen begreifen, nach dem Rühren von X an Nicht-X oder Y, als würde es an deren Stelle treten (das Verzeihen muß sich am Unverzeihlichen messen, folglich an es rühren, sich buchstäblich in es versetzen). Ist es nun, nach der Auseinandersetzung mit diesen Schwierigkeiten der Dekonstruktion, möglich, deren Problem noch einmal anzugehen und es genauer zu fassen? Die Ausräumung der Schwierigkeiten hat gezeigt, daß es mit der Andersheit des Sich-Messens von X an Nicht-X oder Y zusammenhängen muß. Wenn Nicht-X oder Y nicht bloß ein Gegebenes ist, weil man sich an einem Gegebenen nicht messen könnte, sondern es in der Erkenntnis nur mehr oder weniger angemessen hinnehmen kann; wenn Nicht-X oder Y nicht bloß eine Idee ist, weil es nicht als Brennpunkt einer Einheit dient, die das Sich-Messen in sich einbegreift und es dadurch wiederum in die Annäherung an ein Gegebenes verwandelt, mag sich das Gegebene auch entziehen, der Brennpunkt nur ein imaginärer und das Gegebene nur ein Aufgegebenes sein; wenn Nicht-X oder Y nicht bloß ein Bedingtes ist, weil das Maß dann selber in einer Abhängigkeit stünde, die das Sich-Messen um seine Kraft bringen oder diese Kraft einschränken würde, dann ist Nicht-X oder Y selber eine normative Kraft,111 nicht die Gegebenheit einer Regel, nicht die Idealität eines Sollens, wohl aber eine Herausforderung, 111 | Christoph Menke spricht ebenfalls von einer der Dekonstruktion eige-
nen »Kraft des Normativen«: »Die Dekonstruktion versteht Normativität als einen Aspekt der Differenz von Kraft und Norm. Die Entfaltung der Kraft wendet sich gegen sich selbst, sie spaltet sich in Sein und Sollen, Form und Norm. Die Kraft, aus deren Entfaltung die Form hervorgeht, ist zugleich eine Forderung, die sich gegen die hervorgegangene Form richtet. Diese Forderung verlangt, daß die Form ihrem Anderen entspricht, daß sie ihm gerecht wird. Die Forderung, die die Kraft in ihrer Entfaltung erhebt, ist die Forderung der Gerechtigkeit.« (Christoph Menke, »Selbstreflexion des Rechts«, Manuskript 2007, S. 43) In seiner Dissertation Sinn und Gedächtnis versucht Thomas Khurana, die »Normativität« herauszustellen, die der »Zeitlichkeit« des dekonstruktiven Begriffs der Iterabilität innewohnt. Von Wittgenstein ausgehend, entwickelt er zunächst den Gedanken einer »Immanenz der Norm im Vollzug« oder einer Abhängigkeit der Norm von der »Seinsweise«, die Vollzüge voneinander unterscheidet (Thomas Khurana, Sinn und Gedächtnis, München 2007, S. 118). Vollzüge, die man im Sinne der Iterabilität versteht, sind dann »nicht einfach ein Vorkommnis, das unter einen Standard fällt«. Sie »reartikulieren« dessen »ideale Form«. So allein kommt ihnen eine »radikal normative Qualität« (ebd., S. 130) zu.
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die den Abstand zwischen X und X markiert, zwischen einem X, das es verdient, X genannt zu werden, und einem X, das es nicht verdient, und die in sich selber differentiell ist, ja widerwendig oder antinomisch, unbedingt und bedingt zugleich. Was heißt das genau? Es heißt zum einen, wie bereits deutlich geworden ist, daß Nicht-X oder Y ein Unbedingtes meint, das, um als Unbedingtes wirksam zu sein, normative Kraft zu haben, einer »inneren Forderung« folgen muß, im Erscheinen Bestimmtheit zu erlangen und dadurch sich »der Bedingtheit zu beugen«, wie Derrida es im Hinblick auf ein »unbedingtes Verzeihen« formuliert.112 Das Verzeihen mißt sich an einem unbedingten Verzeihen, indem es sich an einem Unverzeihlichen mißt, das nicht weniger unbedingt ist. Das unbedingte Verzeihen beugt sich also der Bedingtheit ebenso wie das unbedingt Unverzeihliche, weil beide, um nicht in der Abstraktion der Bezuglosigkeit zu verharren, bar allen Sinnes, als Unbedingtes in einen Bezug eintreten und so ihrerseits »dekonstruierbar« werden. Die Bestätigung des Unverzeihlichen (des »Bösen«) im unbedingten Verzeihen ist schon ein solcher Bezug. Freilich kann man in dem Maße, in dem man von NichtX oder Y nicht unabhängig vom Sich-Messen selber zu sprechen vermag, vom Bezug, die »innere Forderung« kaum als eine betrachten, die ihrer Erfüllung vorausgeht, dem bestimmenden Erscheinen. Man kann dies nur insofern tun, als X immer noch in einem Bezug zum Unbedingten steht, der Bezug also kein unmittelbarer oder einfacher ist. Nicht-X oder Y als unbedingtes Verzeihen ist zunächst die Dekonstruierbarkeit und daher das Sich-Messen von X. Es läßt sich nicht dekonstruieren und wird doch dekonstruiert. Daraus erwächst die Antinomie der Dekonstruktion. Nicht-X oder Y als unbedingt Unverzeihliches ist auch die Dekonstruierbarkeit und daher das Sich-Messen von X. Es läßt sich ebensowenig dekonstruieren und wird ebenfalls dekonstruiert. Offenbar fallen aber das eine und das andere Nicht-X (oder Y) nicht ineins, kann das unbedingte Verzeihen nicht einfach das unbedingt Unverzeihliche sein, da ja das unbedingte Verzeihen den Anderen von dem unbedingt Unverzeihlichen, das es bestätigt, losspricht. Wie verhält sich also das eine Nicht-X (oder Y) zu dem anderen? Nicht dadurch, daß sich das unbedingte Verzeihen (Nicht-X oder Y) wiederum am unbedingt Unverzeihlichen (Nicht-X oder Y) mißt. Denn dann würde man in einen unendlichen Regreß geraten. Könnte man nicht sagen, daß das Un-, die unermeßliche Hyperbole oder Übertreibung des Gegenteils, dort, wo sich kaum mehr von einem Gegenteil reden läßt (das Unbedingte als Erschöpfung des Bedingten, das Unverzeihliche als Erschöpfung des Verzeihlichen), die Spitze der Wirklichkeit (des Gegebenen 112 | Jacques Derrida, »Pardonner: l’impardonnable et l’imprescriptible«, in: Jacques Derrida, Cahier de L’Herne, S. 557.
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als der uneinholbaren, irreduktiblen différance) in oder an der Kraft ist, an der sich X mißt, gegen deren Teil es seine Kraft aufwendet? Daß Nicht-X oder Y in sich differentiell ist, heißt zum anderen jedoch, daß ein Mangel, eine Unkraft, ein Abbruch zu Nicht-X oder Y gehören. Denn der Abbruch der Erfahrung von Nicht-X oder Y, des Sich-Messens, den man nicht als Ausnahme zur Seite schieben kann, wenn anders jene Erfahrung eine Erfahrung dessen sein soll, was sich nicht eigentlich erfahren läßt, das Unbedingte, also eine Erfahrung, die von keinen vorgängigen Möglichkeitsbedingungen geregelt wird, zeugt eher von Nicht-X oder Y, als daß er sich Nicht-X oder Y entgegensetzt. Nichts ist unverzeihlicher als der Abbruch, durch den sich X der Erfahrung des Unverzeihlichen versagt. Allgemeiner: die Unmöglichkeit, die der Abbruch der Erfahrung von Nicht-X oder Y anzeigt und die eigentlich eine Unmöglichkeit von Erfahrung überhaupt ist, ein Rückfall in die Erfahrungslosigkeit des durch und durch Eingeübten, der Gegebenheit von Regeln und Mustern, nach denen man sich ohne weiteres Nachdenken richtet, rührt negativ zumindest an die Unmöglichkeit, für die Nicht-X oder Y einstehen. Daß X, um seinen Namen zu verdienen, sich an Nicht-X oder Y messen muß, ist, wie man sieht, eine Erfahrung, die paradoxe Folgen hat. Der Widerstand gegen Nicht-X, die Verweigerung, die Abwendung, die Verblendung, die insofern Nicht-X nicht äußerlich sind, als die Aussetzung an das Unbedingte genau diesen Abbruch der Erfahrung vorzuzeichnen scheint, schon deshalb, weil das Unbedingte sonst nicht das Unbedingte wäre, sondern nur ein bis an seine Grenze getriebenes Mögliches, sind für das Sich-Messen am inkommensurabel Anderen von höchster Bedeutung; es bedarf geradezu der Unterbrechung, soll ein solches Sich-Messen gedacht werden. Jene, die nicht verzeihen, weil sie sich dem Unverzeihlichen nicht (mehr) aussetzen, weil sie sich nicht (mehr), von der normativen Kraft unbedingten Verzeihens dazu angehalten, an ihm zu messen versuchen, sind in gewisser Hinsicht dem Verzeihen, das den Namen verdient, näher als jene, die sich unaugesetzt am Unverzeihlichen messen. Fraglos wissen sie es nicht. Doch eine derartige Deutung der Dekonstruktion überzeugt vielleicht um so mehr, als es ihr gelingt, den widerwendigen Bezug zwischen X und Nicht-X zu erklären – daß Nicht-X als Unbedingtes in die Reihe der Bedingungen eintritt, gleichsam um seine Forderung geltend zu machen, kann ja einzig heißen, daß es sich als eine ursprüngliche Spur konstituiert, als »Ur-Spur«, wie Derrida es nennt, die nicht auf etwas vormals Gegenwärtiges zurückverweist oder die Gegenwart eines Fliehenden ankündigt, die folglich den Bezug unterbricht und damit den Abbruch der Erfahrung vorbereitet, die Verneinung, die den Entzug nicht aushält, leugnet, daß man sich am Unbedingten auf irgendeine sinnvolle Art und Weise messen kann. Das Problem der Dekonstruktion, das mit dem Verhältnis zum Ande-
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ren zu tun hat, mit dem Sich-Messen von X an Nicht-X oder Y, läßt sich dann, folgt man dem Gedankengang bis zu dieser Stelle und kehrt man den negativen Befund in einen positiven um, in die Frage fassen, was es bedeuten kann, aufgrund eines Vermögens des Unvermögens oder der Kraft einer Ohnmacht den Namen X zu verdienen. So erst, indem man diese Frage stellt, vermag man die Feststellung des Dekonstruktivisten, die Ausnahme, das Versagen, sei für den Normalfall des Gelingens konstitutiv, aus der Perspektive des Sinns der différance zu verstehen. Was ist zum Beispiel ein Verzeihen, das es aufgrund eines Vermögens oder einer Kraft, nicht zu verzeihen, verdient, als Verzeihen bezeichnet zu werden? Die Frage erinnert an die von Derrida aufgeworfene nach einem Vermögen des Kommenlassens, das zwar ein Vermögen ist, ein Sich-Messen am Anderen als Ereignis, dennoch aber etwas kommen und sich ereignen läßt, den Anderen oder das Andere hervorbringt, indem es gerade nicht willentlich, spontan oder durch tätigen Eingriff das Kommen verursacht oder veranlaßt. Die Lösung des Problems der Dekonstruktion muß darin bestehen, aufzuweisen, wie das Übernehmen der Gewalt einer notwendigen Unterbrechung, das X leistet, indem es sich Nicht-X oder Y aussetzt, ohne deshalb unter der Hand Nicht-X oder Y wiederum in X umzukehren, Nicht-X oder Y hervorbringt. Da ein solches Übernehmen durch keine Regel, keine Methode, keine Praxis vorgezeichnet ist, geht das Problem in der Lösung nicht unmittelbar auf, bringt die Konstruktion des Problems, die sich von seiner Erkenntnis als untrennbar erweist, von der Erkenntnis, daß in der Unterbrechung gerade das Verhältnis zum Anderen zutage tritt, die Wahrheit der Dekonstruktion hervor. Die modifizierte Formel der Dekonstruktion, die Modifikation der Formel »Wenn ich du wäre« aus dem Blickwinkel der Dekonstruktion, lautet also: »Wenn sich X an NichtX oder Y messen kann und Nicht-X oder Y in diesem Sinne möglich sind, dann deshalb, weil X Nicht-X oder Y ermöglicht.« Ausschlaggebend für das Verständnis dieser Formel ist es, daß man die Ermöglichung als eine von Nicht-X oder Y begreift, X nicht einfach X aus sich entläßt und für Nicht-X ausgibt. An vier Modellen, drei der praktischen und eines der theoretischen Philosophie, soll eine solche Ermöglichung nun dargetan werden, in zwei Fällen unter ständigem Bezug auf Derridas eigene Schriften. Das Modell der Nächstenliebe macht deutlich, daß sich das Ich dem Anderen nur zuwenden kann, wenn es einem Gebot folgt, das wie eine Unterbrechung wirkt, dem Gebot des Anderen, das schneller ist als jeder Versuch, es einzuholen, um sich reflektierend zu ihm zu verhalten, und das deshalb die verwirrende Analogie mit einem Automatismus herbeiruft. Es erweist sich hier als unmöglich, eine Rollenverteilung vorzunehmen und zwischen der Andersheit des Anderen, dem man sich zuwenden soll, und der Andersheit
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des Gebietenden, der Andersheit Gottes, zu unterscheiden, obwohl der Andere, dem man sich zuwendet, im Unterschied zu Gott, der Instanz des Gebots, selber jederzeit zu dem Ich der Nächstenliebe werden kann, zu dem Ich, das sich durch die Nächstenliebe erst bildet, dadurch, daß es dem Gebot folgt. Die Zuwendung zeugt aber zugleich von einer Bedürftigkeit des Anderen, so daß sie als Ermöglichung gedacht werden muß. Das Modell der Entscheidung macht deutlich, daß man die Unterbrechung, die in der Aussetzung von X an Nicht-X oder Y liegt, des Entscheidenden an die Unentscheidbarkeit, ein anderes Gesicht zu erblicken vermag, das einer Offenheit, eines Verhaltens, ohne das es nicht zu einer Entscheidung kommen, die Unentscheidbarkeit als solche erfahren und die Souveränität endgültig aus den Angeln gehoben werden könnte. Diese Offenheit, dieses Verhalten, ermöglicht die Unentscheidbarkeit und mit ihr die Entscheidung. Das Modell der Anerkennung macht deutlich, daß der Anerkennende, der sich am Anzuerkennenden mißt, nicht nur der Schwierigkeit begegnen muß, daß sich jedes Anerkennen in ein Bestätigen und in ein Stiften spaltet, eine Schwierigkeit, die die Rede von einem Sich-Messen erst rechtfertigt, sondern daß die Möglichkeit einer Selbsttäuschung des anzuerkennenden Anderen zu einer Unterbrechung führt, die die Spaltung des Anerkennens besonders sinnfällig hervortreten läßt, den Umstand, daß das Anerkennen den Anderen immer auch schafft, »ermöglicht«. Das Modell der Einsicht in das Gesetz schließlich, in das So-ist-es, macht deutlich, daß dann, wenn sich X am Gesetz mißt, an einem Nicht-X oder Y, das sich in dem Maße entzieht, in dem es sich bestimmend auswirkt, und das darum vielleicht als der reinste Ausdruck der Herausforderung eines Sich-Messens angesehen werden kann, die Unterbrechung des Bezugs die Einsicht in ihre Notwendigkeit, in die Notwendigkeit des Gesetzes, nicht einfach mit Blindheit schlägt. Der notwendig unterbrochene Bezug zum Gesetz wird durch die Einsicht in es, die Formulierung eines Gesetzes des Gesetzes, das die Irreduktibilität der Unterbrechung und die Andersheit des So-ist-es berücksichtigt, möglich – und damit das Gesetz selber.
Erstes Modell: Nächstenliebe und Automatismus
1.0 Mein Nachbar befindet sich in meiner Nähe. Der Aufenthalt in der Nähe wird, wenn es sich um Nachbarschaft handelt, gewöhnlich als einer verstanden, der nicht einfach zufällig ist. Wenn es sich um Nachbarschaft handelt, streift ein Bezug den Zufall ab. Die bloße Kontingenz der Kontiguität, des indifferenten und diskreten Nebeneinanders, die gar keine Nähe und Ferne kennt, nimmt eine Bedeutung an, und sei es dadurch, daß der eine weiß, ein Anderer halte sich mehr oder weniger dauerhaft in seiner Nähe auf, wohne dort, ein Anderer, von dem oder über den er sonst nichts oder so gut wie nichts weiß. Deshalb auch kann sich Nachbarschaft auf die Nachbarn auswirken, auf die, die sich in der Nähe zueinander aufhalten, in der Nähe wohnen. In einer musikalischen Rezension aus den späten zwanziger Jahren zum Beispiel bemerkt Adorno, Musik könne »aus der Nachbarschaft des Wahnsinns« eine »sprengende, erhellende Macht« gewinnen. Mit einem Nachbarn versucht man, auszukommen. Oder man will ihn loswerden, wenn nicht gar übervorteilen. Derrida erinnert in Politiques de l’amitié an Nietzsches Deutung des Nächsten, dessen Nachbarschaft oder Nähe in Wahrheit den Drang nach Aneignung verrät, eine List des Eigenen. Man versucht, ein Verhältnis herzustellen, und darum will man sich Nachbarn manchmal aussuchen können. Nachbarn verhalten sich zuein1 | Theodor W. Adorno, Frankfurter Opern- und Konzertkritiken, Dezember 1928, in: Gesammelte Schriften, Band 19, Frankfurt a.M. 1984, S. 138. 2 | Jacques Derrida, Politiques de l’amitié, S. 84. Im Zusammenhang mit dem Zarathustra weist Derrida darauf hin, daß für Nietzsche der Nächste gerade durch seine Nähe und Gegenwart verdächtig wird, die Nächstenliebe durch eine »Fernstenliebe« überwunden werden muß (ebd., S. 317).
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ander, gehen einander an, positiv in der Gestalt des Knüpfens von Banden, negativ in der Gestalt eines Vermeidens, häufig nach Maßgabe gültiger Konventionen oder anerkannter Verträge, die den Verkehr regeln. An einer Stelle, die Adorno als philosophisch banal abtut, weil der Begriff eine unmögliche »magische Teilhabe« suggerieren soll, spricht Heidegger von der Nachbarschaft des Menschen zum Sein. Wenn sich Nachbarn zueinander verhalten, kann sich der zufällige Anlaß der Nähe am Ende als ein äußerlicher erweisen, über den sich die Nähe gleichsam erhebt. Sie ist dann nicht nur eine räumliche Nähe, deren Bestand sich über eine bestimmte Zeit erstreckt, sondern eine Nähe, die über die Nachbarn selber, über deren Wesen, etwas aussagt. Kann ich jedoch nicht auch jenen, der sich gerade zufällig neben mir befindet, in unmittelbarer oder nächster Nähe, als meinen Nachbarn ansprechen? Eine Bedingung für einen solchen Sprachgebrauch ist wohl, daß ein Grund uns für eine gewisse Zeit in einem gewissen Raum zusammenführt. Mein Nachbar ist in diesem Sinne, also wörtlich, mein Nächster. Er ist es ebenfalls aus etymologischer Sicht, wörtlich im Sinne der Wortverwandtschaft, da sich beide Wörter, Nachbar und Nächster, von dem Althochdeutschen nahisto ableiten. Um als mein Nächster gelten zu dürfen, muß mein Nachbar freilich einer sein wie ich selber es bin, über alle Unterschiede und Unterscheidungen hinaus, die mich von ihm trennen mögen und ihn zu einem Fremden machen. Mit dem Nachbarn und mit dem Nächsten habe ich etwas gemein, so zufällig der gemeinsame, geteilte Aufenthalt an einem Ort sein mag, der Aufenthalt an einem Ort, der an einen anderen Ort angrenzt. Im Falle der Nachbarschaft ist der Ort des gemeinsamen, geteilten Aufenthalts ein in seiner Enge oder Weite umrissener, der sich von entfernt liegenden und nicht angrenzenden Orten abhebt. Der Nächste, mein Nachbar im wörtlichen Sinne, wenn er neben mir steht oder sitzt, kann sich auch am anderen Ende der Welt auf halten; dann ist er nicht eigentlich mehr mein Nachbar. Verwandelt die sogenannte Globalisierung den Nächsten in meinen Nachbarn, ungeachtet dessen, ob er gerade neben mir steht oder sitzt? Oder schafft sie mit der Nachbarschaft den Nächsten ab, weil schließlich alle sich viel zu nahe und viel zu gleich oder viel zu ähnlich sind, sich gleichgültig ab-, weg-, anstoßen, von der Verdinglichung des Interesses geleitet, Dinge unter Dingen, Abstraktionen? In dem Film Bells Are Ringing, den Vincente Minnelli in den späten fünfziger Jahren gedreht hat, gibt es zwei Szenen, die sich gleichsam verselbständigen, aus der Handlung herausstechen. Sie ergänzen sich. In der einen Szene, die auf dem abendlichen Broadway in New York spielt und die farbenprächtige Aufregung von ununterbrochenem Straßenverkehr und 3 | Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, in: Gesammelte Schriften, Band 6, Frankfurt a.M. 1970, S. 447.
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Menschenstrom vorführt, fordert ein Mädchen, das telephonisch Nachrichten entgegennimmt und weitergibt, einen skeptischen und resignierten Autor auf, den Nachbarn anzusprechen, der an der Straßenkreuzung unmittelbar neben ihm steht, zufällig der Nächste ist, der die Straße überqueren wird. Sie will ihm damit bedeuten, daß man dort, wo man exponiert ist und glaubt, sich bis zur Verzweiflung durchschlagen zu müssen, immer wieder vergißt, der Nachbar sei ein Nächster. Man sieht in ihm nichts als einen Gegenstand, dem man aus dem Weg gehen oder der aus dem Weg geräumt werden muß, ja dessen man sich unterwegs zum Fortkommen bedient. Über dem »Times Square Hello« leuchtet eine Neonreklame, die zwei kämpfende Boxer zeigt. »Menschen!«, ruft der Misanthrop aus, der gerade erfahren hat, daß sein Stück wider Erwarten angenommen worden ist, und dessen gute Laune sich an dem kaum verdeckten Ärger und der aufgestauten Wut des Passantenvolks stößt, das sich um ihn versammelt hat und verbissen auf die Ampel starrt. Darauf erwidert das Mädchen: »Was erwarten Sie? Heringe?« »Schauen Sie sich doch die Leute an«, sagt der Autor: »Ein Haufen Mörder! Haben Sie schon einmal so viel Haß bemerkt? Wenn ich auch nur einen nach der Uhrzeit fragen würde, würden sie sich alle zusammenrotten, um mich zu lynchen.« Das Mädchen beharrt darauf, jeder wolle in Wahrheit freundlich sein, ein freundlicher Nachbar, wenn nicht gar ein hilfreicher Nächster, sei kein geborener Merowinger des Alltags, scheue sich aber davor, den ersten Schritt zu tun. So kommt es nach anfänglichen Zurückweisungen, die das Mißtrauen der Passanten gegeneinander zum Ausdruck bringen, zu einer allgemeinen Begrüßung, zu einem wiederholten Händeschütteln unter Unbekannten, das so lange anhält, wie die Fußgängerampel auf Rot geschaltet ist. »›Hallo‹? Haben Sie gerade ›Hallo‹ gesagt? Das erste Mal seit dreißig Jahren, daß mich ein Fremder auf der Straße begrüßt!« Die Unbekannten werden auch dadurch zu nachbarlich Gesinnten, daß sie sich mit Vornamen einander vorstellen. Ihre Vornamen und Namen sind natürlich die nächstbesten, nicht solche, die eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder zu einem bestimmten Volk wie einen Ausweis vorhalten: Ludwig Smiley, Charlie Besserman, Miss Scott, Miss Kuchnichev. Die Szene wirkt durch ihre Stilisierung als eine weitere Nummer in dem Musical, die sie nicht ist, da Mu4 | An dieser Abstraktion und dieser Beliebigkeit der Herkunft, dieser Vermischung, kann man ablesen, daß »der ›Nächste‹ nicht mehr der ›nahe Verwandte‹ der Familie oder des Stammes«, er der »Logik der Gruppe oder des Ganzen« entzogen ist, der »Logik der natürlichen Gemeinschaft und der Blutsgemeinschaft« (Jean-Luc Nancy, Être singulier pluriel, S. 104). Im Begriff des Nächsten selber liegt also die Ferne, die an der Erstarrung der Verdinglichung dann ihr äußerstes Maß hat, das Maß ihrer Abschaffung.
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sik und Gesang fehlen, die Musik im Hintergrund bleibt, den Dialog und die choreographierten Bewegungen untermalt. Das »Times Square Hello« fällt heraus, ist die Durchführung eines Experiments oder eines Tests der Nachbarschaft, die für sich stehen kann. Den Verbohrtesten, so das vorausgesetzte Ergebnis, vermag nur der Naive zu entwaffnen und aus seiner Verstocktheit zu befreien. Man muß nur den Nachbarn als den Nächsten lieben, oder zumindest ihm gegenüber liebenswürdig sein, um den Panzer der Verdinglichung zu durchbrechen, die verlorengegangene Gemeinschaft der Nächsten wiederherzustellen. Freilich vergessen die nordamerikanischen Nachbarn und Nächsten die Verbrüderung so schnell, wie sie stattgefunden hat. Die Ampel schaltet auf Grün, jeder geht wieder seiner Wege und alle gehen sie dabei gegeneinander vor, da jeder am schnellsten und am geschicktesten durchkommen, es schaffen will. Um besser zu werden, muß sich die Gesellschaft auf die »Freundlichkeit oder Freundschaft von Gefährten« verlassen können, schreibt Stanley Cavell in einem kommentierenden Abschnitt seines Buchs über Thoreau, in dem es um die Nachbarschaft des Nächsten geht, um das erstrebte oder tätig betriebene Angrenzen, das den einen und den Anderen trennt und zugleich verbindet. Weil die Gesellschaft uns in ihrer gegenwärtigen Verfassung »companionability«, die Freundlichkeit oder Freundschaft von Gefährten nicht zu lehren vermag, wir die Fähigkeit zu einem solchen Verhältnis in ihr nicht erwerben können, hat sie uns einen Ersatz aufgedrängt. Die andere Szene, die sich ergänzend zu dem populistisch-egalitaristisch-kommunitaristischen »Times Square Hello« verhält, durch Kontrast in seine Nachbarschaft gerät, ist eine getanzte Musiknummer, die aus dem Geplänkel einer eleganten Abendgesellschaft hervorgeht: »Drop that Name«. Das Mädchen ist wiederum unter Fremden, beherrscht indes das Sprachspiel nicht, purzelt in ihrem knallroten Abendkleid aus dem Gruppenbild der Upper East Side. Ist mit Ethel die Barrymore oder die Merman gemeint? Die prächtige, ausladende, ansteckend mitreißende Nummer stellt die Namen von Berühmtheiten nebeneinander, von Schauspielern, Schriftstellern, Komponisten, Couturiers, Machthabern. Inhaltsleere Füllsel mit Signalfunktion, verdinglichte Konversationsfetzen werden hinzugefügt, als wären es Laute, die lediglich durch den albernen Reim zu sprachlichen Nachbarn werden: »Flew down to Cannes to get a tan, then simply ran to dear Portofino.« Dem Mädchen gelingt es, durch seine komischen Einsprengsel, die das Brooklyn Heights der fünfziger Jahre in die Nähe oder in die Nachbarschaft von Biarritz rücken, das Sprachspiel auf den 5 | Stanley Cavell, The Senses of Walden, expanded edition, Chicago 1992, S. 108.
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Kopf zu stellen, ihm eine Bedeutung zu verleihen, in deren Aussparung es ursprünglich einüben sollte. Kurz vor der Steigerung des Finales erwähnt das Mädchen selber die Vornamen Mary und Ethel. Eine Mondäne fragt sie nach den Nachnamen, und damit hat sie gewonnen: »Mary Schwartz und Ethel Hutchkiss«. Der Name des Nächsten oder des Nachbarn ist ebenso ersetzbar wie der Name, dessen auratischer Hof eine falsche Einzigartigkeit zum Glänzen bringt, dessen Erwähnung eine »magische Teilhabe« an dieser Einzigartigkeit verbürgen soll, die doch nur die vergegenständlichte des sozialen Privilegs ist, des Dazugehörens. Der Unterschied zwischen der Hutchkiss und der Merman ist im Sprachspiel nicht der zwischen einer wahren und einer falschen Einzigartigkeit, sondern der zwischen einer Ersetzbarkeit, die im Leben und in der Liebe gründet, in der nachbarlichen Zusammengehörigkeit der Nächsten, und einer Ersetzbarkeit, die aus Kälte und Erstarrung resultiert, aus dem rücksichtslosen Neben-, Über-, Untereinander. Der Schriftgelehrte oder Pharisäer, der im Lukas-Evangelium fragt, was er tun müsse, um das »ewige Leben« zu erben (Lukas 10, 26), liest, von Christus aufgefordert, das Gesetz oder das Gebot der Liebe vor, der Gottes- und Nächstenliebe, und erhält dann die Auskunft: »Tu das. So wirst du leben.« Liebe ist, christlich gedeutet, Leben als praktische Erfüllung des Gesetzes, als Abschaffung seines toten Buchstabens, die sich von der Partikularität »weltlicher Benennungen« freimacht, von der Ersetzbarkeit, die in der Verdinglichung und dem Konformismus des Partikularen angelegt ist; der geliebte Nächste bleibt aber, wie Franz Rosenzweig in seinem Stern der Erlösung sagt, ein »Platzhalter«: »Er wird nicht um seiner selbst willen geliebt, nicht seiner schönen Augen wegen, sondern nur weil er grade da steht, weil er grade mein Nächster ist.«
1.1 Daß sich der Autor, den das Mädchen zum »Times Square Hello« ermuntert, überwinden muß, bevor er dem Unbekannten am Straßenrand seine Hand hinhält, daß die praktische Erfüllung des Gesetzes ein Tun ist, weist darauf hin, daß der Nächste keineswegs als eine abstrakte Kategorie gelten darf, er sich nicht durch die Befolgung eines gesetzlichen Buchstabens als Nächster bewährt. Man wird durch sein Verhalten zum Nächsten. An der Parabel vom barmherzigen Samariter läßt sich das beispielhaft ablesen. Wenn man indes durch sein Verhalten zum Nächsten wird, ist Nachbarschaft als ein solches Verhalten wesentlich asymmetrisch. Der 6 | Alain Badiou, Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 1997, S. 118. Badiou kommt an diesem Punkt, also in seinen Schlußbemerkungen, auf das »Wiedich-selbst« des Liebesgebotes zurück, stellt seine Überlegungen zum Namen in den Kontext dieses Gebots oder Gesetzes. 7 | Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a.M. 1988, S. 243.
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Nachbar ist in der Zufälligkeit seines Seins, an der das Gewordene, Gewachsene, Geschichtliche letztlich nichts zu ändern vermag, immer der Nächste, jener, dem ich gerade begegne, jener, an dem ich auf der Straße vorübergehe, ohne ihm zu begegnen, ohne ihn zu bemerken. Ich selber bin dagegen nicht sein Nächster, sondern muß es erst werden, durch mein Verhalten: indem ich nicht unbemerkt an ihm vorübergehe. Ob ich unter Räuber gefallen bin, wie es in der Parabel des barmherzigen Samariters heißt, oder der Andere geschlagen und ausgezogen worden ist, spielt keine Rolle. Ebensowenig, ob der Andere sich mir als Nächster nähert oder nicht. Der Andere ist als solcher stets in der Rolle dessen, der unter Räuber gefallen ist; ich, der nur »Ich« sagen und nicht einfach im Namen oder mit dem Mund des Anderen sprechen kann, bin immer der, der sich ihm nähern muß. Mein Nachbar, mein Nächster, ist irgendeiner; das bedeutet für mich, daß ich zum Nächsten, zum Nachbarn, erst werden muß und mich in diesem Werden, bei der praktischen Erfüllung des Gesetzes oder des Gebots, nie beruhigen darf, ja kann. »Ich« bin folglich zunächst nie ein Nächster oder ein Nachbar. Ein Nachbar oder ein Nächster ist lediglich 8 | Emmanuel Lévinas geht sogar so weit, in der Nächstenliebe den Ursprung, die Einsetzung oder Stiftung des Ichs zu erblicken, an das sich das biblische Gebot richtet, und paraphrasiert dessen Wie-dich-selbst mit den Worten: »Diese Liebe des Nächsten ist es, die du selbst bist«. Daher wird das Selbst von der Andersheit des Nächsten in seiner eigenen Beschaffenheit durchzogen, ist von Anfang an ein »verletzliches« (vgl. Emmanuel Lévinas, »De l’éthique à l’exégèse«, in: ders., A l’heure des nations, Paris 1988, S. 128f.; und: ders., Wenn Gott in das Denken einfällt, Freiburg 1989, S. 116). Dieses Ichverständnis erweist sich mit dem griechisch-aristotelischen als unvereinbar, folgt man der Interpretation der Nikomachischen Ethik, die der nordamerikanische Philosoph und Psychoanalytiker Jonathan Lear vorschlägt. Wenn die zu erstrebende Glückseligkeit außerhalb des ethischen Bereichs gesucht werden muß, des tugendhaften Lebens, nur Betrachtung an sie reicht, dann muß man, so Lear, die Schlußfolgerung ziehen, daß »für Aristoteles das grundlegende Gut der Ethik darin liegt, sich so weit wie möglich von den Nächsten zu entfernen« (Jonathan Lear, Happiness, Death and the Remainder of Life, Cambridge, Mass., und London 2000, S. 53). In einer Vorlesung über Parmenides unterscheidet Martin Heidegger wiederum zwischen dem griechischen und dem alttestamentarischen Gott, indem er jenen als einen »zeigenden«, diesen hingegen als einen »befehlenden« beschreibt: »›Du sollst nicht‹, ›Du sollst‹, ist sein Wort« (Martin Heidegger, Parmenides, in: Gesamtausgabe, Band 54, Frankfurt a.M. 1982, S. 59). – Daß man sich bei der praktischen Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe nicht beruhigen kann, liegt, wie Rosenzweig deutlich macht, an der auszeichnenden Besonderheit der »Liebestat«, daran, daß die »Liebestat« die »Dauerform des Charakters« durchbrechen muß: »Worin diese Tat im einzelnen bestehe, das läßt sich […] im voraus
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stets der Andere. Wenn Nachbarschaft als Verhalten zum Nächsten ein Begriff ist, der zwischen dem Zufälligen des Soseins (es ist so, dieser Andere ist in diesem Augenblick neben mir) und dem Notwendigen des Wesens schwankt (mit dem Nächsten verbindet mich etwas Bestimmendes, das nicht äußerlich bleibt, über den bloßen Gattungsbegriff des Menschen hinaus), so geschieht dieses Schwanken entlang einer Linie, die eine Asymmetrie anzeigt: das Zufällige des Soseins ist zunächst das des Anderen, das Notwendige des Wesens muß ich erst herstellen oder herausstellen.
1.2 In dem Stück Amerikana, das den Titel Bells Are Ringing trägt, klingt nicht allein das biblische »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« nach, das die King James Bibel mit den Worten »Thou shalt love thy neighbor as thyself« übersetzt. Man kann darin auch Reste der Hegelschen Deutung dieses Gebots wiedererkennen, vor allem, wo diese Deutung auf den sozialpolitischen Kontext einer Idee von Gemeinschaft und Gemeinde aufmerksam macht. Hegels Ausgangspunkt ist nicht das Alte Testament, das dritte Buch Mose, in dem das Gebot der Nächstenliebe zweimal vorkommt. Vielmehr deutet er das Gebot als eines, das in seiner Wahrheit zum »Reich des Sohnes« gehört, in dem bekanntlich auch die Parabel vom barmherzigen Samariter ihren Ort hat und folglich das asymmetrische Verständnis der Nächstenliebe. Der Stachel, den das so verstandene Gebot der Nächstenliebe hervorkehrt, ist der einer radikalen Dekontextualisierung, die Anfang und Ende der Weisung zusammenschließt, in einem einzigen mit sich identischen Bewußtsein, das alle Grenzen zwischen sich und Anderen durchlässig macht, ja das den Abstand, der mit der Asymmetrie zwischen dem Nächsten als Ich und dem Nächsten als dem Erstbesten gegeben ist, in seiner Einheit einbegreift, in einer Einheit, die ebenfalls von der Polemik unberührt bleibt, der Konfrontation und dem Krieg, die sie als solche bewirkt oder auslöst: »Sie sollen einander lieben, sonst nichts, und somit nicht irgendeinen Zweck der Besonderheit haben, Familienzwecke, politische Zwecke, oder um dieser besonderen Zwecke willen lieben. Liebe ist vielmehr die abstrakte Persönlichkeit und die Identität derselben in einem Bewußtsein, wo keine Möglichkeit für besondere Zwecke übrigbleibt […] Zunächst ist auch noch diese Liebe als solche, die noch keinen objektiven Zweck hat, polemisch gegen das Bestehende gerichtet […] Alle die vom Gesetz gebotenen Handlungen, worin die Menschen sonst ihren Wert setzen ohne die Liebe, werden für totes Tun erklärt.« An der radikalen Dekonnicht sagen; sie muß überraschend sein; wäre sie im voraus anzugeben, so wäre sie nicht Liebestat.« (Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 241) 9 | G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in: TheorieWerkausgabe, Band 17, S. 284.
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textualisierung der Nächstenliebe, die an dieser Stelle gemeint ist und deren Tendenz ironisch im »Times Square Hello« verfolgt wird, als würde im Film der Anachronismus ausgestellt, hat man sich in der kaum übersehbaren Auslegungsgeschichte des Gebots wieder und wieder gestört, als wäre es eigentlich unverständlich, als würde es zu einem Widerstand anstacheln, der in Einschränkungen und zusätzlichen Erklärungen zum Tragen kommt. Welche Unterschiede und Unterscheidungen, die sich für die Intelligibilität als unabdingbar erweisen, werden von der radikalen Dekontextualisierung der Nächstenliebe im Christentum ausgelöscht, übergangen, übersehen, zumindest dem Anschein nach? Man hat in der Moral- und Religionsphilosophie, aber auch in der Psychoanalyse hervorgehoben, daß Liebe nicht etwas ist, das sich gebieten läßt. In der Kritik der praktischen Vernunft etwa schreibt Kant über das Gebot oder »das Gesetz, das Liebe befiehlt«: »[Liebe als Neigung] ist gegen Menschen zwar möglich, kann aber nicht geboten werden; denn es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden bloß auf Befehl zu lieben.«10 Der Ausweg, den Kant aus diesem Dilemma findet, aus einem allem Anschein nach kontradiktorischen Gebot oder Gesetz, das etwas Unmögliches befiehlt oder gebietet, wird zunächst von einer umschreibenden Interpretation ausgeschildert: »Den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben.« Es soll sich bei dem Gebot der Nächstenliebe folglich nicht um eine pathologische, sondern um eine praktische Liebe handeln. Doch mit einer so interpretierten Liebe, mit einer solchen für die Intelligibilität der gebotenen Nächstenliebe notwendigen Unterscheidung, handelt man sich wiederum nur eine Verdoppelung ein, einen Unterschied, der den Widerspruch verlängert, das »Gesetz aller Gesetze« verdunkelt, statt für seine Auf klärung zu sorgen: »Ein Gebot, daß man etwas gerne tun soll, ist in sich widersprechend, weil, wenn wir, was uns zu tun obliege, schon von selbst wissen, wenn wir uns überdem auch bewußt wären, es gerne zu tun, ein Gebot darüber ganz unnötig, und, tun wir es zwar, aber eben nicht gerne, sondern nur aus Achtung fürs Gesetz, ein Gebot, welches diese Achtung eben zur Triebfeder der Maxime macht, gerade der gebotenen Gesinnung zuwider laufen würde.« Achtung und Liebe lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Das Gebot der Nächstenliebe ist kontradiktorisch, gleichgültig, ob man es im Sinne der pathologischen oder der praktischen Liebe deutet; etwas gerne zu tun, in »bereitwilliger Ergebenheit«, kann deshalb allein ein unerreichbares ideales oder urbildliches Verhalten sein, eines, wonach man streben soll, das jedoch dem Menschen nicht geboten oder befohlen werden kann. Um 10 | Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1974, S. 205.
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das Gebot der Nächstenliebe von seinen Widersprüchen zu befreien, muß Kant es als Anzeige eines Ideals interpretieren, dem man sich in einem »unendlichen Progreß«11 nähern soll. Dieser Fortschritt bereitet den Übergang von Moralität und Tugend in Heiligkeit vor und stellt die Abschaffung aller Gebote als »Vollendung einer dem Gesetze gewidmeten Gesinnung« in Aussicht. Das im Lichte einer Kritik der praktischen Vernunft ausgelegte Gebot der Nächstenliebe ist eigentlich kein Gebot, obwohl es ein Sollen und ein Streben vorschreibt, und richtet sich am Ende gegen sich selber, in dem Maße, in dem man es noch ein Gebot nennen muß. Mit dem Gebot der Nächstenliebe ist man, wie Hegel dann verdeutlicht, schon da, wo man noch nicht ist, in radikaler Dekontextualisierung. In der Schrift über die Religion »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« spricht Kant von der Nächstenliebe als einer »allgemeinen Pflicht«, als einer »Vorschrift der Heiligkeit«, der wir »nachstreben sollen« und »in Ansehnung derer die bloße Nachstrebung Tugend heißt«.12 Indem er darauf hinweist, daß die »besondere Regel«, die »Liebe einen jeden als dich selbst« lautet, auf die Beförderung des Wohls aus »unmittelbaren, nicht von eigennützigen Triebfedern abgeleitetem Wohlwollen« zielt, gibt er nicht nur zu verstehen, daß der Andere als Nächster der Erstbeste ist, ein jeder ohne weiteren Unterschied, sondern ebenfalls, daß, gemessen an der geforderten Unmittelbarkeit, Eigennutz als Triebfeder der Eigenliebe bereits eine Besonderheit ist, die Ableitungen und Vermittlungen voraussetzt, Kontexte, deren Grenzen aufgehoben werden müssen, will man dem Gebot folgen. Wenn Rosenzweig wohl einer der wenigen Philosophen ist, die ohne einen Zweifel anzumelden das Gebot der Nächstenliebe als Gebot zu rechtfertigen suchen, so wundert es vor dem Hintergrund der kantischen Deutung kaum, wenn er dieses Gebot gerade nicht als ein moralisches, also als eines der praktischen Vernunft betrachtet, den Ursprung der Liebe nicht im autonomen freien Willen ausmacht, der lediglich einem inhaltsleeren Gesetz zu folgen vermag und damit keine Voraussetzung duldet, nicht den Inhalt, der darin liegt, daß »die gottgeliebte Seele allein […] das Gebot der Nächstenliebe zur Erfüllung empfangen« kann. Die Nächstenliebe kann und muß geboten werden, weil sie die Gottesliebe voraussetzt: »Indem die Liebe zum Menschen von Gott geboten wird, wird sie, weil Liebe nicht geboten werden kann außer von dem Liebenden selber, unmittelbar auf die Liebe zu Gott zurückgeführt. Die Liebe zu Gott soll sich äußern in der Liebe zum Nächsten. Deshalb kann die Nächstenliebe geboten werden 11 | Ebd., S. 206. 12 | Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Werke in zwölf Bänden, hg. von W. Weischedel, Band VIII, Wiesbaden 1956, S. 830.
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und muß geboten werden.«13 Gott, der »Liebende selber«, gebietet Liebe, aber nicht einfach zu sich, sondern zum Nächsten; solche Liebe ist in ihrer ständigen Erneuerung eine »notwendige«. Es ist, als würde Gott dem Menschen bedeuten, daß er ihn liebt, daß sein »Ich« nichts ist als Liebe, und als würde in diesem Lieben – weil es eben das ist, was es ist, nichts als ein Lieben, das Gebot der Liebe enthalten sein, nicht bloß als eines der Gegenliebe, das die unmittelbare und reine Liebe desavouieren würde, sondern als eines der Nächstenliebe, der Liebe zum Anderen. Die unbedingte Liebe gebietet die Liebe, »sonst nichts«. Der Ausdruck der Gegenliebe als Liebe zum unmittelbar und rein Liebenden muß also in der Liebe zum Anderen liegen. Der Mensch, der den Nächsten liebt, nicht sich an das »Gemenge« verliert, verhält sich nicht im Sinne des »Moralischen«, das die Autonomie des Willens definiert, sondern mißt sich an der Unbedingtheit der Liebe. Um sich jedoch an etwas messen zu können, wahrhaft im Vollzug und nicht anhand eines im voraus festgesetzten Maßes, muß das Bedingte in einem Verhältnis zum Unbedingten stehen, muß sich, wenn man so will, das Unbedingte ihm zugekehrt haben. Daß man nun dem Gebot der Nächstenliebe folgt und der Gegenliebe dadurch zum Ausdruck verhilft, daß man liebt, »sonst nichts«, den Erstbesten, heißt, wie Rosenzweig schreibt, daß es »keine Tat der Nächstenliebe [gibt], die ins Leere fällt«. Die »Tat der Nächstenliebe« wird »blind getan«, »irgendwo«; deshalb droht ihr nicht das Schicksal der »Zwecktat«, der spurlose Untergang.14 Die Kontingenz der Nächstenliebe wird zum Garanten der größten Wirksamkeit, das »Sonst-nichts« überschreitet alle Grenzen, berührt den Nächsten, weil es ihn gleichsam als letzten, auf langen und unabsehbaren Umwegen berührt und dadurch wirklich. Wie Kant erblickt auch Hegel einen Widerspruch in dem Gebot der Nächstenliebe. Das verdeutlichen seine Vorlesungen zur Philosophie der Religion. Der Widerspruch, der Kant dazu angehalten hatte, sich durch die Unterscheidung zwischen pathologischer und praktischer Liebe, durch die Einführung eines Unterschieds zwischen Gebot und Ideal der Moralität, an einer Auflösung zu versuchen, rührt von dem Liebesgebot her. Der Widerspruch, der Hegel zu seinem Auflösungsversuch anhält, liegt in der Ausdehnung der gebotenen Liebe auf die Menschheit. Ist es nicht deshalb unmöglich, Liebe zu gebieten, weil sie an einer Besonderheit haftet, jedes Gebot als solches aber über das Besondere hinausgeht? Wenn das Gebot Liebe zu »allen« Menschen will, muß man es, so Hegel, als »Abstraktum« betrachten, verfolgt das Sollen des Gebots einen Kollisionskurs, wo es auf das Sein der Wirklichkeit zusteuert, auf eine Verwirklichung, muß die Un13 | Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 239. 14 | Ebd., S. 299.
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wirklichkeit der moralischen Vorstellung von Liebe an der Wirklichkeit der Liebe zerschellen: »Die Menschen, die man lieben kann und gegen die die Liebe wirklich ist, sind einige besondere; das Herz, das die ganze Menschheit in sich einschließen will, ist ein leeres Aufspreizen zur bloßen Vorstellung, zum Gegenteil der wirklichen Liebe.«15 Man kann sich nun fragen, ob Hegels Auszeichnung der »Liebe im Sinne Christi« als einer »moralischen Liebe zum Nächsten im besonderen Verhältnisse, in dem man zu ihm steht«, die den Passus über die unterschiedslose Unmittelbarkeit einleitet, eine Auflösung des Widerspruchs unternimmt oder nicht vielmehr als eine Steigerung gewertet werden muß. Der Widerspruch scheint sich aufzulösen, wenn man die Unmittelbarkeit, die aller Besonderung vorausgeht, in das Verhältnis der Mitglieder einer besonderen Gruppe verlegt, in das Verhältnis der »Jünger und Nachfolger« zueinander, und diese Liebe als moralische bestimmt. Die Auflösung ist indes nicht nur deshalb scheinhaft, weil das Bewußtsein der Besonderheit der Gruppe innerhalb des Verhältnisses des einen Nächsten zum anderen Nächsten abgelegt werden muß, der Widerspruch also in der Besonderheit wiederkehrt. Darüber hinaus muß man in der Unmittelbarkeit der Liebe, die von keiner Besonderheit, keinem besonderen Zweck, tingiert werden kann, jene Allheit erkennen, gegen die sich ihr Einschluß in das »besondere Verhältnis« wendet. Die 15 | G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, S. 283. Der Soziologe Detlef Horster hat darauf hingewiesen, daß Adorno und Arendt diese Kritik am Gebot der Nächstenliebe teilen. Die abstrakte »Allmenschlichkeit«, auf die sich die Nächstenliebe beziehen soll, führt an die Schwelle der »Menschenverachtung«; der Nächste wird nicht »aufgrund seiner unverwechselbaren Einzigartigkeit« geliebt, sondern vermittelt, durch die Erfüllung eines göttlichen Gebots, und damit nicht eigentlich als Nächster (Detlef Horster, Jürgen Habermas und der Papst. Glauben und Vernunft, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im säkularen Staat, Bielefeld 2006, S. 80f.). Wo er knapp die Frage beantwortet, wer »mein Nächster« sei, geht der Schriftsteller und Philosoph Pierre Klossowski auf die Bedingungen der Abstraktion ein, die durch die Einrichtung einer Volkssouveränität und die gewaltsame Herstellung von Gleichheit gegeben sind. Da der Nächste nicht ein abstrakter Anderer ist, das Verhältnis zu ihm eines der »gelebten Brüderlichkeit«, bleibt dort, wo alle zu abstrakten Anderen werden, nichts als das Band, das die Bestrafung des Besonderen und die Erinnerung an den Mord knüpft: »Die revolutionäre Brüderlichkeit war in dem Maße wirklich eine solche, in dem sie von dem Mord am königlichen Vater gestiftet wurde – das hat der Marquis de Sade in seinem Bewußtsein tief erfahren, als er forderte, die Republik solle sich entschlossen als eine verbrecherische erachten und die wahre moralische Schuld auf sich nehmen, statt nur die bloße politische Verantwortung.« (Pierre Klossowski, »Qui est mon prochain?«, in: ders., Sade mon prochain, Paris 1967, S. 176)
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»moralische Liebe zum Nächsten im besonderen Verhältnisse« ist unmittelbar die »Liebe zu allen Menschen«, was Hegel schon dadurch zugibt, daß er die Mitglieder der Gruppe als »Jünger und Nachfolger« apostrophiert; denn die Nachfolger Christi sind virtuell alle Menschen, ja sollen, wie das für das Christentum konstitutive Missions- und Konversionsmotiv bezeugt, alle Menschen sein. Keine Kontextualisierung, kein Nachbar und kein Nächster vermag die radikale Dekontextualisierung aufzuhalten, die in dem Gebot der Nächstenliebe enthalten ist und es zeitigt. Freud formuliert am Anfang des vierten Teils seiner Abhandlung über das Unbehagen in der Kultur zwei »hauptsächliche Bedenken« gegen die »allgemeine Menschen- und Weltliebe«, die er zunächst nicht mit dem »großartigen Gebot« der Nächstenliebe als »Idealforderung der Kulturgesellschaft« gleichsetzt. Dabei hebt Freud die Unmöglichkeit einer solchen Liebe hervor, indem er von der Seite der Objektwahl aus nach ihrer Möglichkeit, ihrem Sinn, ihrer Intelligibilität fragt: »Eine Liebe, die nicht auswählt, scheint uns einen Teil ihres eigenen Werts einzubüßen, indem sie an dem Objekt ein Unrecht tut. Und weiter: es sind nicht alle Menschen liebenswert.«16 Diese beiden Einwände werden in der Analyse des Gebots der Nächstenliebe nicht wiederholt und durch die Berücksichtigung von impliziten Unterscheidungen entkräftet. Freud sagt nicht einfach, daß Liebe zum Nächsten nicht geboten werden kann, weil Liebe ihrem eigenen Begriff nach selektiv ist, sich auf diesen, aber nicht jenen Nächsten bezieht, und damit von der Allgemeinheit, die in dem Gebot liegt, unabhängig sein muß, eigentlich von einer zweifachen Allgemeinheit: der, die in jedem Gebot liegt, und der, die in dem besonderen Gebot der Nächstenliebe liegt – man kann Liebe nicht gebieten, man kann nicht alle lieben. Freud sagt ebensowenig, daß das Gebot der Nächstenliebe deshalb unsinnig ist, weil es eine ontologische oder anthropologische oder psychologische Schranke mißachtet, die das Dasein auferlegt, die Unterscheidung zwischen Menschen, die liebenswert, und Menschen, die nicht liebenswert sind. In Wahrheit geht er einen Schritt weiter in die Gegenrichtung, indem er einerseits davon redet, daß der Andere meine Liebe erst verdienen muß, die Selektion also nicht eigentlich von mir als Liebendem vorgenommen wird, der auf das Verhalten des Anderen antwortet und ihm nur so Recht widerfahren läßt, andererseits aber davon, daß die meisten Fremden, all jene »Nächsten«, die sich um meine Liebe nicht verdient gemacht haben, »Anspruch auf meine Feindseligkeit, sogar auf meinen Haß« haben.17 Es ist, als würde Freud die Parabel vom barmherzigen Samariter umkehren. Die Asymmetrie besteht 16 | Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe, Band IX, Frankfurt a.M. 1974, S. 232. 17 | Ebd., S. 239.
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weiterhin, doch nicht zwischen einem Ich, das sich als Nächster erweisen muß, und einem Anderen, der immer schon ein Nächster ist, sondern zwischen einem Anderen, der sich als Nächster erweisen muß, und einem Ich, das immer schon ein Nächster ist – das nichts zu tun braucht als seine Liebe dem zu geben, der sie verdient, der ihren Wert erkannt hat: »Meine Liebe ist etwas mir Wertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf. Sie legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllen bereit sein muß. Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgendeine Art verdienen.« 18 An diesem Punkt verlegt Freud das Gewicht seiner Analyse von der ersten Hälfte des Vergleichs im Gebot der Nächstenliebe, die Kants und Hegels kritische Deutungen zum Gegenstand haben, auf die zweite Hälfte, in der die Selbstliebe genannt wird. Ist in einem Vergleich (»wie«) das Nachstehende nicht stets das Vorstehende, das Vorausgesetzte, das Maßgebende, ohne dessen Verständnis man das im Vergleich Vorstehende und den Vergleich selber nicht verstehen würde? Gilt der Selbstliebe die Aufmerksamkeit der beiden Philosophen in geringerem Maße, so könnte man natürlich ein solches Absehen von dem Vergleich damit rechtfertigen, daß die Abstraktion der Besonderheit, für die die Selbstliebe einsteht, in nichts der Abstraktion der Allgemeinheit nachsteht, die das Verständnis einer gebotenen allgemeinen Nächstenliebe vor beinahe unüberwindbare Schwierigkeiten stellt. Die Selektivität der Liebe verbietet nicht nur die allgemeine Nächstenliebe, sondern jeden Vergleich mit einer Selbstliebe, die gar keine Selektivität zuläßt oder die die Selektivität bis an jene Grenze treibt, an der Selektivität kein zuverlässiges Kriterium mehr sein kann. Vor jedem Vergleich, vor jedem »Wie«, liebe ich mich bereits. Ich liebe mich noch im Selbstmord.19 Kant freilich verbindet einmal die zwei Einwürfe gegen das Gebot der Nächstenliebe, den der Selektivität und den der Unvergleichbarkeit der Selbstliebe, und muß auf die Unterscheidung zwischen einem »Wohlwollen des Wunsches« und einem »tätigen Wohlwollen« rekurrieren, um der Verwirrung Herr zu werden, die das Gebot stiftet. So heißt es in einem Paragraphen der Metaphysik der Sitten, der sich mit der »Liebespflicht« auseinandersetzt: »Aber einer ist mir doch näher als der andere, und ich bin im Wohlwollen mir selbst der nächste. Wie stimmt das nun mit der Formel: Liebe deinen Nächsten (deinen Mitmenschen) als dich selbst? Wenn einer mir näher ist (in der Pflicht des Wohlwollens) als der andere, ich also zum größeren Wohlwollen gegen einen als gegen den anderen verbunden, mir selbst aber geständlich näher 18 | Ebd., S. 238. 19 | Vgl. dazu: Alexander García Düttmann, »The Shadows«, in: Liebeslied/ My Suicides, gemeinsam mit Rut Blees Luxemburg, London 2000, ohne Seitenangabe.
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(selbst der Pflicht nach) bin, als jeder andere, so kann ich, wie es scheint, ohne mir selbst zu widersprechen, nicht sagen, ich soll jeden Menschen lieben wie mich selbst; denn der Maßstab der Selbstliebe würde keinen Unterschied in Graden zulassen.«20 Diesen Maßstab der Selbstliebe, die für Kant eine unmeßbare und darum eine unermeßliche, abgründige Liebe ist, zumindest dann, wenn man »Unterschiede in Graden« braucht, um etwas zu messen, eine Nähe oder eine Ferne, identifiziert Freud, der sich hier nicht für Unterschiede zwischen verschiedenen Formen der Selbstliebe interessiert, etwa zwischen amour de soi und amour propre, zwischen einer natürlichen und vorvernünftigen Sorge um Selbsterhaltung und einer künstlichen und gesellschaftlich bedingten Ichbezogenheit, die den Nächsten hintanstellt, mit einem Maßstab der Ähnlichkeit, der Spiegelbildlichkeit, der erhöhenden und übertragenden Reflexion. Im Anderen bin ich mir selber am nächsten, bin ich mir selber der Nächste, sehe ich mich selbst als den Nächsten. Die Tautologie schließt sich ebenso in sich ab (den Nächsten gibt es nur in dem Maße, in dem ich ihn anerkenne, weil ich mich in ihm wiedererkenne, so, wie ich bin, oder so, wie ich sein will) wie sie sich, gerade weil sie sich in sich abschließt, der feindseligen Heteroaffektion aussetzt (was dem Nächsten widerfährt, widerfährt auch mir, in einer Kette von gefährlichen Substitutionen21): »[Der andere] verdient es [von mir geliebt zu werden], wenn er mir in wichtigen Stücken so ähnlich ist, daß ich in ihm mich selber lieben kann; er verdient es, wenn er so viel vollkommener ist als ich, daß ich mein Ideal von meiner eigenen Person in ihm lieben kann; ich muß ihn lieben, wenn er der Sohn meines Freundes ist, denn der Schmerz des Freundes, wenn ihm ein Leid zustößt, wäre auch mein Schmerz, ich müßte ihn teilen.«22 In seiner sogenannten »Rede an die Katholiken«, in der er auf Freuds Auslegung des Gebots der Nächstenliebe eingeht, bestätigt Lacan den Be20 | Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in: Werke in zwölf Bänden, Band VIII, S. 588. 21 | Die Gefahr der Substitutionen besteht darin, daß die Tautologie der Liebe um so mehr sich der unvorhersehbaren feindseligen Heteroaffektion aussetzt, als die »Menge von Menschen« anwächst, die »in Liebe aneinander [gebunden]« sind. Freud will allerdings einen anderen Aspekt dieser Gefahr hervorheben; das Band der Liebe, das eine »größere Menge von Menschen« zusammenhält, bedarf nämlich der Verlagerung der »Aggression«, der inneren Feindseligkeit, nach außen: »Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden.« (Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 243) 22 | Ebd., S. 238.
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fund: »Nichts ist daran überraschend, daß ich an, ja in meinem Nächsten nichts als mich selber liebe.«23 Diesen Befund, der die Nächstenliebe meint, die Selbstliebe ist, erläutert Lacan nun dadurch, daß er eine Topologie des Abgrunds entwirft. In mir und in meinem Nächsten gibt es einen »aufklaffenden Ort, an dem oder von dem aus das Nichts unser Geschlecht und unser Dasein in Frage stellt«. An dem Ort des Nichts soll ich den Nächsten wie mich selbst lieben.24 Lacan gibt also im Zuge seines Kommentars stillschweigend die Asymmetrie wieder preis, deren unvereinbare Perspektiven Freud vertauscht hatte, um nicht weniger über das Gebot zu staunen als Kant und Hegel, und stellt durch die Behauptung einer gemeinsamen, geteilten Abwesenheit oder Leere, die jeden einzelnen in ihrem Bann hält, die Symmetrie zwischen den einander liebenden Nächsten wieder her. Versteht er das Gebot der Nächstenliebe nicht von dem »Wie«, von der Möglichkeit des Vergleichs aus, die für eine gleiche Verteilung auf beiden Seiten sorgt, obwohl sie selber ein Nichts ist, nichts, was man strenggenommen in Begriffe fassen könnte? Der Ort des »Wie« ist ein Abgrund und darum unfaßbar; in diesem Abgrund soll die Nächstenliebe gründen. Gegen Freuds Kontextualismus behauptet sich auf solche Weise wieder eine radikale Dekontextualisierung, die bei Hegel im Zeichen einer Fülle stand, deren Reichtum an die Armut des Nichts grenzte, bei Lacan jedoch ausdrücklich im Zeichen einer Leere oder einer Abwesenheit steht, an die keine Anwesenheit heranreicht. 23 | Jacques Lacan, Discours aux catholiques, Paris 2005, S. 47. 24 | Ebd., S. 61. Diese Deutung des Gebots der Nächstenliebe läßt sich
schwerlich mit jener vereinbaren, die Lacan als Kommentar zu den Freudschen Ausführungen anbietet. Im Seminar über die Ethik der Psychoanalyse scheint er davon auszugehen, daß sowohl der Nächste als auch das Ich bösartige Wesen sind, daß die Lust des Nächsten, seine »schädliche Lust«, sich als ein »wahres Problem« für meine Liebe erweist. Die Liebe der Nächstenliebe identifiziert Lacan also mit der Lust: »Man stellt somit keine originelle Behauptung auf, wenn man sagt, daß die Scheu vor dem Du-sollst-deinen-Nächsten-lieben-wie-dich-selbst dasselbe ist wie die Schranke vor der Lust, und nicht deren Gegenteil. Ich scheue davor zurück, den Nächsten wie mich selbst zu lieben, weil es am Horizont etwas gibt, das mit irgendeiner unerträglichen Grausamkeit zusammenhängt.« (Jacques Lacan, L’éthique de la psychanalyse. Le séminaire – livre VII, Paris 1986, S. 229) Die Scheu richtet sich gegen die Auf hebung des Gesetzes, der Beschränkung, die das Christentum negativ durch den Tod Gottes und positiv durch die Einführung des Gebots der Nächstenliebe bewirkt hat. Sie ist die Scheu vor dem, was wir an Unerträglichem in uns selbst entdecken. Wir scheuen uns, behauptet Lacan, den Nächsten wie uns selbst zu lieben, weil wir nicht einen Anschlag auf das »Bild des Anderen« verüben wollen, »nach dem wir uns selbst als Ich geformt haben« (ebd., S. 230).
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Zusammenfassend kann man die These aufstellen, daß die Versuche, das Gebot der Nächstenliebe durch Unterscheidungen in einen Kontext einzufügen, auf mindestens zwei grundsätzliche Einwände zurückgeführt werden können, die sich auf je eine Seite des Vergleichs beziehen und für die sich das »Wie« als Schranke erweist, die ein Erreichen der anderen Seite unmöglich macht: 1. Man kann den Nächsten nicht lieben, weil Liebe eines ausschließenden Verhältnisses von Nähe und Ferne bedarf. Eigentlich kann man, bevor man sich darüber streitet, ob es sinnvoll ist, von Nächstenliebe zu sprechen, schon nicht nachvollziehen, wie Liebe zum Gegenstand eines Gebots zu werden vermag. 2. Die Liebe zu sich selbst ist eine Liebe, die keine »Grade« kennt. Sie ist so ausschließlich, daß sie jedes Verhältnis von Nähe und Ferne ausschließt. Nächstenliebe ist höchstens eine projektive Erweiterung der Eigenliebe; weil sich die Eigenliebe indes nicht willkürlich erweitern läßt, ihr Einschluß einen Ausschluß zeitigt, kann es keine Nächstenliebe geben. Zwischen diesen beiden grundsätzlichen Einwänden herrscht ein Verhältnis der Komplementarität, da der erste Einwand die Abstraktion des Anderen denunziert, der zweite die Abstraktion des Ichs setzt. Das Nordamerika des »Times Square Hello«, das nach der emphatischen Bezeugung der Nächstenliebe übergangslos in die Eigenliebe oder in die Ichbezogenheit zurückfällt oder zurückfindet, ist ein Paradigma des Gebots »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, ein Paradigma seiner Befolgung. Radikale Dekontextualisierung und radikale Kontextualisierung berühren sich hier, im blinden Fleck einer Schranke, unter dem Bann des maschinenhaften Automatismus einer dummen Ampel, die von Rot auf Grün schaltet, in der Befangenheit der abstrakten Zeit des Times Square. Man bleibt im Wie stecken und merkt es nicht, weiß nichts von einer anderen Seite. In seiner Leere ist das Wie, das die beiden Seiten zusammenbringen, den Vergleich ermöglichen, das Gebot stiften soll, wie die eine Seite ohne die andere. Es gibt keinen Nachbarn.
1.3 Zusammenfassend kann man auch zwischen zwei Asymmetrien im Verhältnis zum Anderen unterscheiden, die das Gebot der Nächstenliebe durchstreichen oder bekräftigen. Wird das Ich, die Selbstliebe, als gegebener Maßstab vorausgesetzt, wie es der Vergleich logisch will, als Maßstab, der vor dem Gebot gegeben ist und der von außen gleichsam in das Gebot eingeht, als ein unbedingter Maßstab,25 ist der Andere in letzter Konse25 | Gegen eine solche Voraussetzung wendet sich Nancys Auffassung der Nächsten- und Selbstliebe, die auf der unhintergehbaren Andersheit insistiert, dort, wo sie allem Anschein nach dem Selbst oder dem Ich unterstellt wird: »Man muß im Anderen das Sich-Selbst lieben, aber umgekehrt ist das Sich-Selbst in mir auch
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quenz kein Nächster, sondern ein verdoppeltes Ich, einer, der sich um das liebende Ich verdient machen muß, indem er zu einem solchen Ich wird. Denn das liebende Ich liebt zunächst sich selber, liebt seine eigene Liebe, da sie sonst nicht den Wert besitzen würde, den das Verdienst anerkennt. Diese Asymmetrie im Verhältnis zum Anderen durchstreicht das Gebot der Nächstenliebe. Wird, gegen die Logik des Vergleichs, aber im Sinne des Gebots, also im Sinne eines Verständnisses, das einerseits so wenig wie möglich auf äußere Voraussetzungen zurückgreift und andererseits von der Idee der Nächstenliebe sich leiten läßt, das Ich nicht vorausgesetzt, sondern als eines gedeutet, das sich erst bilden muß, durch die Nächstenliebe, so bleibt, was Selbstliebe heißt, zunächst unbestimmt. Erst durch die Nächstenliebe konstituiert sich das Ich, konstituiert es sich als Nächster, als Ich, das sich selber lieben kann. Gewiß, man könnte nun vorbringen, daß in dem Augenblick, in dem man sich den Blickwinkel einer solchen Asymmetrie zwischen Ich und Anderem zu eigen macht, zwar nicht das sich liebende Ich vorausgesetzt wird, als etwas, das gegeben ist, wohl aber der Nächste, der Andere, der immer schon ein Nächster ist und auf den sich die Nächstenliebe immer schon richtet. Wie steht es um den Anderen? Eben so, daß sich das Ich, das noch nicht verdient, ein Ich genannt zu werden, diese Frage stellen und dadurch zum Anderen als einem Nächsten verhalten muß. Wie in der Parabel vom barmherzigen Samariter ist der Andere jener, auf den man zufällig stößt und der bedürftig ist, will sagen: dem ich mich zuwenden kann, gerade deshalb, weil es mich, dieses Ich, noch nicht gibt. Die Voraussetzung des Anderen als des Nächsten läßt sich folglich nur schwerlich mit der Voraussetzung des Ichs der Selbstliebe vergleichen. Während dieses Ich ein bereits konstituiertes ist, seiner Liebe einen Wert zumißt, ist der Andere nichts als einer, dem ich mich zuwenden kann, ein Nächster. Der, dem ich mich zuwenden kann, weil mein Ich kein vorausgesetztes ist, ist bedürftig, ohne daß im voraus irgend ausgemacht sein müßte, worin die Bedürftigkeit besteht. Darum sagt das Gebot der Nächstenliebe, daß ich mich ihm zuwenden soll; und daß ich es tun soll, um mich mir selber zuwenden zu können. Vielleicht kann man das Argument auch so entwickeln: Das Ich gibt es nicht im voraus, da ein solches Ich eine reine Tautologie wäre. Das Ich, das es noch nicht gibt, kann sich zuwenden, wird durch sein Sich-Zuwenden-Können bestimmt. Das Ich wendet sich dem Anderen zu – wer soll sich dem Anderen zuwenden, wenn nicht ich, ein Ich, das es noch nicht gibt? Daß es sich dem Anderen zuwenden kann, bedeutet jedoch, daß der das Andere des Ego, seine entzogene Innigkeit.« (Jean-Luc Nancy, Être singulier pluriel, S. 103) Die Nächstenliebe nimmt sich dieses Entzugs an, der Andersheit.
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Andere bedürftig ist. So entwickelt ist das Argument, das im Gebot der Nächstenliebe als dessen Grund enthalten ist, voraussetzungslos; weder der Begriff der Selbstliebe noch der der Nächstenliebe werden als gegebene vorausgesetzt, vom Gebot unabhängig. Ist es verständlich, spricht man von einem Vergleich, in dem jenes, womit man etwas vergleicht, jenes, das als bekannt und gegeben vorausgesetzt wird, hintansteht, nicht dem Wortlaut, sondern dem Sinn nach? »Wenn das Wie-dich-selbst des Gesetzes dir die Selbstliebe entrissen hat, die das Christentum leider in jedem Menschen annehmen oder voraussetzen muß, dann hast du gelernt, dich selber zu lieben«, konstatiert Kierkegaard.26 Christus fragt den Schriftgelehrten oder Pharisäer, dem er vom barmherzigen Samariter erzählt, welche der drei Gestalten in der Parabel der Nächste des von Räubern überfallenen und geschlagenen Mannes ist oder zum Nächsten »wird«, wie es im 1975 revidierten Text der Luther-Übersetzung heißt. Wer entscheidet, ob ich durch mein Verhalten zum Nächsten geworden bin, zum Ich, dessen Selbstliebe sich aus der Nächstenliebe herleitet? Könnte ich darüber entscheiden, wäre das Gebot der Nächstenliebe hinfällig. Der Andere entscheidet. »Geh hin und mach es ebenso!«, erwidert Christus, als der Pharisäer antwortet, ein Nächster sei der barmherzige Samariter oder zu einem Nächsten sei der barmherzige Samariter geworden, der Unreine, nicht der Priester und nicht der Levit. Er ist jetzt ein Ich, das es noch nicht gibt. Der Name des entscheidenden Anderen, der nicht ein Ich sein kann, das es noch nicht gibt, ist Gott, die Instanz des Gebots. Und dennoch, oder gerade weil der Andere, Gott, die Instanz des Gebots ist, überholt das Gebot stets jedes mehr oder weniger mühsame Unternehmen, ein Argument zu entwickeln, das seinen Grund freilegt. Ein Gebot ist schneller als man denkt. Die radikale Dekontextualisierung des Gebots der Nächstenliebe hat schon stattgefunden: »Sie sollen einander lieben, sonst nichts.« 26 | Soeren Kierkegaard, Works of Love, Princeton 1995, S. 22f. Das »Wiedich-selbst« erhält dadurch wiederum einen gewissen Primat, als wäre die Nächstenliebe der Weg zur richtig verstandenen Selbstliebe. Kierkegaard stellt folgendes Gedankenexperiment an: »Im Denken braucht der Nächste nicht einmal zu existieren. Wenn einer, der auf einer leeren Insel lebt, in seinem Geist dem Gebot folgt, könnte man sagen, daß er durch den Verzicht auf die Selbstliebe den Nächsten liebt.« (Ebd., S. 21) Ein solches Denken wäre freilich schon ein Tun, ein Verhalten, würde sich nicht mehr in der Entfernung halten, aus deren Sicht der Nachbar ein »Schatten« ist, der »auf dem Weg der Einbildungskraft an den Gedanken eines jeden vorbeigeht« (ebd., S. 79).
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1.4 Daß ein Gebot schneller ist als man denkt, bedeutet, daß man ihm schon gefolgt oder nicht gefolgt ist, bevor man sein Verhalten zu begründen vermag. Wer erst darüber nachdenken muß, wie er sich zu einem Gebot verhalten, ob er es tun soll, hat bereits versäumt, sich seiner »Grammatik« gemäß zu verhalten, hat das Gebot als Gebot mißverstanden. Man folgt nicht einem Gebot, weil man davon überzeugt ist oder sich davon überzeugt, daß es vernünftig ist, ihm zu folgen. Das »Sonst-nichts« der hegelschen Formel für die Nächstenliebe, die allgemeine Ersetzbarkeit oder das allgemeine »Wenn-ich-du-wäre«, das sich stets reflexionslos an »ein einzelnes Individuum mit seinem eigenen Wesen und seiner eigenen Geschichte« heftet, 27 wider allen ethischen Relativismus, meint ebenfalls: ohne jeden vorhergehenden oder weiteren angebbaren Grund. Erinnert man sich nun an den Sinn der différance, so könnte man sagen, daß in dem Maße, in dem es nie einen vernünftigen Grund für X geben kann, sich an Nicht-X oder Y zu messen, an dem, woran es sich nicht messen kann, das Verhalten von X stets so wirkt, als wäre es einem Gebot gefolgt oder nicht. Das zeigt sich aber nicht an einer zusätzlichen mentalen Operation oder praktischen Handlung, sondern allein in dem Verhalten selber. Rosenzweig verdeutlicht diese Unmittelbarkeit ja dadurch, daß er das Gebot mit der Liebe gleichsetzt; wer unbedingt geliebt wird, soll nicht anders können, als seinerseits zu lieben. Im Fall der Nächstenliebe müßte der Dekonstruktivist behaupten, daß sie sich allein in der Zuwendung zum Anderen ausdrückt, der als Anderer immer ein Nicht-X oder Y ist, einer, dem man sich nicht eigentlich zuwenden würde, und daß X nicht zunächst in der Begründung ihres Gebots den Grund für diesen Ausdruck legen muß. Zwar rückt dabei das Verhältnis von X und Nicht-X (oder Y), das Sich-Messen, in die Perspektive des Anderen, der Gott genannt wird, in die Perspektive von Z. Auch hier kann man jedoch Z, Gott, die Instanz des Gebots oder der entscheidende Andere, nicht von der Inkommensurabilität des Verhältnisses selbst unterscheiden, die das Sich-Messen sowohl veranlaßt als auch ausmacht, von dem Ernst, mit dem sich X an der Andersheit mißt. Wenn ich mich aus Nächstenliebe dem Anderen zuwende, so ist diese Zuwendung schon Ausdruck eines Gebots, ja am Ende sein einziger Ausdruck. Die Unmittelbarkeit, mit der ich in das Verhältnis des Sich-Messens trete, in dem mir erst ein Ich zuteil werden mag, fällt also in27 | Peter Winch, »Partikularität und Moral«, in: ders., Versuchen zu verstehen, Frankfurt a.M. 1992, S. 241. Freilich will Winch die Unmittelbarkeit der Tat der Nächstenliebe mit einer Berücksichtigung der Besonderheit eines jeden Falls verbinden, so daß entweder die Unmittelbarkeit in Frage gestellt wird oder die Berücksichtigung selber eine unmittelbare sein muß, ein intuitives Empfinden und Erfassen.
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eins mit einer Unterbrechung. Ich messe mich an Nicht-X oder Y, weil ich einem Gebot gefolgt bin, so daß die Andersheit, die das Gebot unmittelbar von dem Nachdenken über es loslöst, mein nachdenkendes Verhältnis zu dem Gebot unterbricht, bevor es überhaupt entstehen kann, und dadurch gerade das unmittelbare Befolgen ermöglicht, gleichzeitig die Andersheit von Nicht-X oder Y ist, die Unterbrechung meines Verhältnisses zum Anderen. Wenn sich X an Nicht-X oder Y mißt, hat die Andersheit es bereits berührt, in der Gestalt eines Gebots, das es unmittelbar befolgt hat und das deshalb nur in der Befolgung sich ausdrückt, in dem Sich-Messen. Man könnte auch sagen, daß die Befolgung des Gebots darin besteht, daß X in ein Verhältnis zu ihm tritt, sich an Nicht-X oder Y mißt und die Unterbrechung erfährt, die es zuerst nicht erfahren hat. Wie steht es um diese Unmittelbarkeit des Gebots, das schneller ist als man denkt, um die Blindheit, die begrifflich oder grammatisch seiner Befolgung zuzugehören scheint und die der Erfahrung in dem Sich-Messen zuteil wird, freilich als Unterbrechung? Der Dekonstruktivist würde wahrscheinlich darauf hinweisen, daß die Befolgung eines Gebots aufgrund der Blindheit, die ihr begrifflich oder grammatisch zugehört, etwas Automatisches hat, etwas Maschinelles oder Mechanisches, ein Abschneiden des Ichs von der Gegenwart seines Selbstbewußtseins, von seiner Absicht, wie es der Iterabilität eignet. »Die Maschine«, schreibt Derrida in seinem Aufsatz »Das Band der Schreibmaschine«, der vielleicht als die angekündigte Fortsetzung des Gesprächs mit de Man betrachtet werden kann, die zu Lebzeiten des Freundes nicht mehr stattgefunden hat, »ist im Verhältnis zu der lebendigen Gegenwart des Lebens oder des lebendigen Körpers sowohl abgeschnitten als auch abschneidend. Die Maschine ist sowohl der Effekt als auch die Ursache eines Abschneidens.«28 Von dem Ereignis oder der Praxis, dem Befolgen eines Gebots als besonderes Tun abgeschnitten, sorgt die Maschine der Iterabilität dafür, daß ein Gebot überhaupt befolgt werden, das besondere Tun einer Praxis sich ereignen kann, schneidet sie das Tun von dem Leben ab, das der Handelnde ihm einhaucht und das seine Besonderheit bestimmt, und sichert ein gewisses »Über-leben« dieses Tuns, dieser Handlung, dieses Ereignisses: dessen Wiedererkennbarkeit als Befolgung eines Gebots, als Tun, Handlung, Ereignis einer eingeübten Praxis. Das Befolgen eines Gebots ist in diesem Sinne stets »quasi« mechanisch, die Nächstenliebe ein Automatismus der Nächstenliebe. Ich weiß nicht genau, was ich tue, wenn ich den Anderen liebe, sonst nichts.
28 | Jacques Derrida, »Le ruban de machine à écrire. Limited Ink II«, in: ders., Papier Machine, Paris 2001, S. 211.
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1.5 Gegen ein solches Verständnis der Nächstenliebe würden all jene Moralphilosophen Einspruch erheben, die sich auf die Unmittelbarkeit eines »natürlichen Gutseins« berufen. So bestreitet etwa D. Z. Phillips, der vor dem Hintergrund des Essays »Wer ist mein Nächster?« von Peter Winch argumentiert, daß moralisches Handeln durch die Erwägung möglicher Alternativen zustande kommt, unter dem Zwang der Vernunft, und beharrt darauf, daß mit einer solchen Vorstellung von Moral eine andere wichtige Alternative unterschlagen wird, die einer Einheit von Wille und Tun, einer »Versunkenheit« des Handelnden in ein »natürliches Gutsein«,29 deren Vorbild man in der Einheit erblicken kann, die Gottes Sein, die ihm natürliche Liebe und Güte, mit der »Grammatik« des göttlichen Willens30 untrennbar zusammenschließt. Man verhält sich moralisch, weil man nicht zweimal über das Verhalten nachdenkt, man nicht anders kann, als eben so zu handeln, wie man handelt, man sich nicht zurückhalten kann, ohne die Spur eines Zwangs oder einer Heteronomie, ohne den Gedanken an die Möglichkeit einer Zurückhaltung und einer Bevorzugung anderen Verhaltens. Ein Beispiel, auf das D. Z. Phillips in diesem Zusammenhang regelmäßig zurückkommt, ist das des barmherzigen Samariters: »Der barmherzige Samariter war von Mitleid unmittelbar bewegt.«31 Bewundernswert soll an ihm sein, daß er einfach tut, was er tut, seine Handlung in ihrer Unmittelbarkeit eine »freie« ist und keinen Zwang kennt, ein Umstand, der »ein integraler Bestandteil seines Mitleids« sein soll. Undenkbar, daß er im Augenblick seiner Zuwendung zum bedürftig Anderen, zu dem Opfer des Raubüberfalls, denkt: »›Ich danke Dir Gott für eine
29 | D. Z. Phillips, The Problem of Evil and the Problem of God, London 2004, S. 32. Winch konstatiert: »Nichts stellt sich zwischen die Situationswahrnehmung des Samariters und seine barmherzige Reaktion.« (Peter Winch, »Wer ist mein Nächster?«, in: ders., Versuchen zu verstehen, S. 215) Und: im Gleichnis vom barmherzigen oder guten Samariter wird »nichts gesagt über irgendwelche Gründe, die die Reaktion des Samariters auf den verletzten Reisenden rechtfertigen« (Peter Winch, »Partikularität und Moral«, S. 240). 30 | D. Z. Phillips, The Problem of Evil and the Problem of God, S. 151. Winch vermutet, daß die »Reaktionen auf moralische Modalitäten, die uns und dem Samariter gemeinsam sind, wie sehr sie auch durch die Umstände verändert oder unterdrückt werden mögen, zu den Keimen [gehören], denen bei manchen Menschen der Begriff der Göttlichkeit und ihrer Gesetze entsprießt« (Peter Winch, »Wer ist mein Nächster?«, S. 223). Man darf hier nicht übersehen, daß Winchs Vermutung eine genetische ist, sich nicht auf die Logik oder Grammatik ausdehnt, mit denen es vor allem Phillips zu tun hat. 31 | D. Z. Phillips, The Problem of Evil and the Problem of God, S. 30.
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weitere Gelegenheit, mich als ein verantwortliches Wesen zu verhalten.‹«32 Das »natürliche Gutsein« definiert Phillips denn auch als eines, das sich in »einfachen und ungewöhnlichen Taten« zeigt, deren spezifischer Charakter davon abhängt, daß sie »unmittelbar« vollbracht werden, ohne daß man »einen weiteren Gedanken an sie verliert«.33 Wer natürlich gut ist, legt eine Lage so aus, daß zwischen der Auslegung und der Handlung keine Zeit verstreicht, die Auslegung folglich einem augenblicklichen Erfassen gleicht; er weiß, was er tut, mag sein Wissen auch niemals ein reflexives sein, eines, das zum Tun hinzutritt oder in ein Verhältnis zu ihm tritt: »Der moralisch Handelnde stößt nicht zuerst auf eine Lage, die viele Alternativen enthält, und nimmt dann die Moral zum Leitfaden, um eine Alternative auszuwählen. Wenn moralische Betrachtungen für ihn von Belang sind, so erweisen sie sich bereits für die Art und Weise als wesentlich, wie er die Lage einschätzt.«34 Weil aber Menschen mit einem Wissen um Gut und Böse leben, selbst der »moralisch Reine« in einer Welt sein Dasein fristet, in der »Gemeinheit, Grausamkeit, Untreue und Lügen« eine Hebelkraft haben,35 ist die Bewunderung, die man im Hinblick auf ein natürlich gutes Verhalten empfindet, nicht ihrerseits eine unmittelbare, läßt sich die Beschreibung der Unmittelbarkeit nicht von ihrer »weiteren Umgebung« abschneiden, kann die Unmittelbarkeit sich nicht selber beglaubigen. Phillips, der an anderer Stelle durchaus nicht die aushöhlenden Auswirkungen von »kulturellem Wandel« verleugnet, etwa auf »religiöse Ansichten oder Bilder«,36 gibt ein extremes Beispiel, das ex negativo die Implikationen dieser Vermitteltheit des Unmittelbaren veranschaulicht, ein Beispiel, das um so extremer und bezeichnender ist, als es nicht um die Unmittelbarkeit der Ausnahme geht, sondern um die der »Normalität«, des gewöhnlichen Verhaltens, das sich nach den Ausführungen des Moralphilosophen zum »natürlichen Gutsein« als ebenso »außergewöhnlich« herausstellen kann wie das des Heiligen: »Ist es nicht eigentümlich, zu sagen, daß wir gewöhnlich uns darauf verlassen, daß Menschen uns nicht das antun werden, was die Nazis ihren Opfern antaten? Wollen wir Normalität erfassen, so sollten wir 32 | Ebd., S. 59. 33 | Ebd., S. 114. 34 | Ebd., S. 45. Das »natürliche Gutsein« markiert eine ähnliche Grenze wie die religiöse Tiefe und der ästhetische Ernst: »[Wittgenstein] hätte wohl nie den leisesten Zweifel daran gehabt, daß Beethoven wußte, was er [im Violinkonzert, AGD] tat; obwohl er, Wittgenstein, es nicht wußte.« (Ebd., S. 228) 35 | Ebd., S. 53f. 36 | D. Z. Phillips, »Wittgenstein and Religion: Some Fashionable Criticisms«, in: Kai Nielsen und D. Z. Phillips, Wittgensteinian Fideism?, London 2005, S. 50. Der Text stammt aus dem Jahr 1987.
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nicht sagen, daß wir davon ausgehen, daß so etwas nicht geschehen werde, sondern daß die Frage, ob es geschehen könnte, einfach nicht auf kommt […] Diese Tatsache ist keineswegs eine Voraussetzung unserer Auffassung vom Menschsein. Sie ist das, was in unserer Auffassung vom Menschsein beschlossen liegt.«37 Moralphilosophen wie Philippa Foot, die einen Begriff »natürlichen Gutseins« entwickeln, der sein Vorbild nicht an der göttlichen Einheit von Sein und Wille hat, sondern an dem Verhältnis eines einzelnen zu der Lebensform seiner Spezies, und die die Grundlage für moralische Bewertung in der Bewertung des Verhaltens von Tieren suchen; Moralphilosophen, die zwar anerkennen, daß das menschlich Gute »sui generis« ist, im Fall der praktischen Rationalität nachbarlicher Unterstützung also die Ableitung von der »Güte des Willens« eine unauf hebbare Differenz indiziert,38 aber trotzdem anzweifeln, daß die Bedeutung des Wortes »gut« sich ändert, wenn man statt von »guten Wurzeln« zu sprechen über die »gute Veranlagung des menschlichen Willens« redet,39 sind nicht weniger als Phillips bereit, Veränderungen in Betracht zu ziehen, mögen sie auch die Tragweite von »Neubewertungen« durch die Klausel einschränken, daß einer Spezies Schranken gesetzt sind, sie nicht zu einer anderen Spezies werden kann. 40 Der Dekonstruktivist lenkt den Blick auf den blinden Fleck oder die Andersheit in der Unmittelbarkeit, mit der ein Gebot befolgt wird, das Gebot der Nächstenliebe. Er interpretiert diese Andersheit als die besondere des Gebots (ein Gebot wirkt nur dann als Gebot, als etwas, dessen Kraft nicht die eines Arguments oder einer Einsicht ist, wenn man ihm blind folgt) und, allgemeiner, als die der Iterabilität (in der Möglichkeit und Unmöglichkeit des Befolgens von Geboten liegen die Möglichkeit einer Grammatik oder einer eingeübten Praxis, die Unmöglichkeit eines dem Handelnden gänzlich durchsichtigen Tuns). Gleichzeitig setzt er aber die Verselbständigung nicht absolut, weil die Handlung selber sich nicht unmittelbar auf sie zurückführen läßt, sei es, daß sie als Ereignis die Idealisierungsmaschine erst schafft, sei es, daß sie das Funktionieren der Maschine verändert. Der Moralphilosoph, der von der Unmittelbarkeit »natürlichen Gutseins« ausgeht, verabsolutiert die Selbstgegenwart der 37 | D. Z. Phillips, The Problem of Evil and the Problem of God, S. 209. 38 | Philippa Foot, Natural Goodness, S. 11. Während Winch und Phillips gegen den Naturalismus daran festhalten, daß moralisches Empfinden unseren Weltzugang bereits prägt, gehen Winch zufolge moralphilosophische Naturalisten davon aus, daß »Moralität auf der (unabhängig erfaßbaren) menschlichen Natur [beruhe]« (Peter Winch, »Wer ist mein Nächster?«, S. 220). 39 | Philippa Foot, Natural Goodness, S. 39. 40 | Ebd., S. 115.
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Handlung, indem er zwischen dem Gebot und dem Gebotenen nicht eigentlich unterscheidet und die Unmittelbarkeit als die eines so selbstverständlichen, so überzeugenden, so einleuchtenden Wissens interpretiert, daß es kaum ein Wissen genannt werden kann, die Selbstgegenwart durch einen Überschuß gleichsam ihrer selbst nicht länger bedarf, eine Selbstgegenwart ist, die an eine Selbstvergessenheit grenzt, in der man keinen Mangel ausmachen darf. Die Frage lautet nun nicht, wer recht hat, sondern wer den verschiedenen Aspekten eher gerecht wird, ohne deren Berücksichtigung die Rede von dem Befolgen eines Gebots letztlich unbegreiflich bleiben muß. In einer Hinsicht könnte man behaupten, daß die unmittelbare Tat der Nächstenliebe, deren Triebfeder das »natürliche Gutsein« ist, der Gnade ähnelt, von der ja der Dekonstruktivist sagt, daß er über sie nichts zu sagen hat. Und muß die Tat der Nächstenliebe nicht eher durch einen Überschuß an Selbstgegenwart sich auszeichnen als durch einen Mangel, soll sie ihren Namen verdienen? In einer anderen Hinsicht könnte man jedoch ebenso behaupten, daß der Philosoph des unmittelbar »natürlichen Gutseins« sich weigert, die Konsequenzen aus der von ihm eingeräumten Vermitteltheit zu ziehen, aus der Unmöglichkeit einer Selbstbeglaubigung des Guten, die das »natürliche Gutsein« rein erhält, und aus der geschichtlichen Unterhöhlung der Normalität, als die das »natürliche Gutsein« erscheint – nichts ist gewöhnlicher, nichts ist ungewöhnlicher als die Nächstenliebe. Der Dekonstruktivist geht einen Schritt weiter und nimmt die Konsequenzen ernst, zeigt, daß die Fatalität der Vermitteltheit in der Iterabilität ihren Grund hat, ohne die die Normalität »natürlichen Gutseins« nicht gedacht werden könnte, für die Phillips auch das triviale Beispiel des Herrn Müller bietet, der seine Rechnungen am Monatsende bezahlt. Als Idealisierung und Veränderung erklärt Iterabilität sowohl den Doppelcharakter des »natürlichen Gutseins«, den des Gewöhnlichen und den des Außergewöhnlichen, als auch die Durchkreuzung der Selbstgegenwart und Reinheit des Guten, die die Gestalt eines Mangels annimmt oder einer Verwicklung in eine unvorhersehbare Entwicklung. Diese Entwicklung kann von dem Verhältnis zum Bösen ausgelöst werden, dessen sich die Selbstbeglaubigung des Guten nicht zu entledigen vermag, sowie von geschichtlichen Ereignissen, von denen sich das Gute nicht ausnehmen kann, soll es nicht seinerseits erstarren. Für den Dekonstruktivisten reicht folglich der Hinweis auf das »natürliche Gutsein« nicht aus, das sich in der Tat der Nächstenliebe, in der unmittelbaren Befolgung ihres Gebots, ausdrücken soll, und zwar deshalb nicht, weil dieser Ausdruck nicht selbstgenügsam sein kann. Daß man dem Gebot der Nächstenliebe unmittelbar folgt, aus einer Art von »natürlichem Gutsein« oder durch eine Liebe, die »sonst nichts« ist, aufgrund der Kraft, die dem Gebot als Gebot eignet, oder im Sinne der Verselbständigung, die
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mit der Iterabilität einhergeht, heißt, daß man sich am Anderen messen muß, an der Andersheit, die das Gebot und die Nächstenliebe ihrer Kraft und ihres Inhalts beraubt. Daß man sich aber zum Anderen verhält, die Zuwendung von einer Bedürftigkeit zeugt, um so mehr, als die Andersheit auch die ist, die sich als Aushöhlung und Unterhöhlung der Nächstenliebe auswirkt, die Andersheit anders, widerspenstig auch dadurch ist, daß sie keine Einheit bildet, es kein Maß der Andersheit gibt, heißt zugleich, um es mit Derrida mehrdeutig zu formulieren, daß man den Anderen kommen läßt. Die Unmittelbarkeit eines »Sonst-Nichts« bedingt ein Verhalten zum Anderen, das sich nicht wiederum in der Unmittelbarkeit erschöpft, genauer: es bedingt ein solches Verhalten, weil sich kein Verhalten zum Anderen in der Unmittelbarkeit erschöpfen kann. Sonst wäre das »SonstNichts« alles und – nichts. Könnte man aus solcher Sicht den Gedanken vorbringen, das Problem der Dekonstruktion, das sich mit dem Sinn der différance stellt, sei die Befreiung des »Sonst-Nichts« einer Unmittelbarkeit und einer Unbedingtheit von der Abstraktion?
Zweites Modell: Entscheidung und Souveränität
2.0 Wenn es eine philosophische Aktualität Carl Schmitts gibt, dann wird sie nur dadurch erzeugt, daß Motive seines Denkens verwandelt in ein anderes Denken eingehen; oder daß ein anderes Denken sie verwandelnd in sich aufnimmt. Aktualität stellt sich an einer Grenze her, wie Schmitt am Anfang seiner Politischen Theologie nahelegt, gehört wie Souveränität und Entscheidung zu den Grenzbegriffen, zu den Begriffen, deren Definition nicht an den Normalfall anknüpfen kann, sondern nur an den »Grenzfall«, an die Ausnahme. Unverwandelt, ohne an eine Grenze getrieben worden zu sein, ohne Übertreibung, bleiben die Motive eines Denkens gänzlich unzugänglich. Dann lassen sie sich aber nicht eigentlich an dem Verhältnis zwischen ihrer ursprünglichen und ihrer verwandelten Gestalt erkennen; erkennen kann man sie nur an der Verschiedenheit der Verwandlungen, an den Aktualisierungen, die das Aktualisierte hervorbringen, statt es einfach vorauszusetzen. Am Ende erweist sich die ursprüngliche Gestalt als ein Glied in einer Kette möglicher Verwandlungen. Der eine Philosoph verwandelt den anderen – handelt es sich um eine wirkliche Verwandlung, läßt sich keineswegs eine Richtung der Verwandlung ausmachen, ist die verwandelte Gestalt eines Gedankens ebensosehr deren ursprüngliche wie die ursprüngliche Gestalt eine verwandelte. Vielleicht ist es nur sinnvoll, von ursprünglicher und verwandelter Gestalt zu reden, wenn die Verwandlung nicht geglückt ist, wenn die Verwandlung 1 | »Erst [der Ausnahmefall] macht […] die Frage nach der Souveränität […] aktuell.« (Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin 1985, S. 12 – meine Hervorhebung, AGD) 2 | Zu Derridas Entfaltung dieses Gedankens, der einer Signatur und Kontrasignatur, einer Zeichnung und Gegenzeichnung, vgl.: Alexander García Düttmann, Visconti. Einsichten in Fleisch und Blut, Berlin 2006, S. 184ff.
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an die Ununterscheidbarkeit von Ursprung und Verwandlung nicht gerührt hat, wenn also keine Aktualität erzeugt worden ist. Es ist, als würde jeder Gedanke an einer für ihn konstitutiven Entscheidung hängen, nicht bloß an der Vorgegebenheit einer Überlieferung. Diese Entscheidung des Denkens läßt sich ebensowenig wie jede andere Entscheidung »restlos begründen« und hat aus eben diesem Grund eine »selbständige Bedeutung«. Denken beginnt so mit einer zweideutigen Entscheidung. Zweideutig ist diese Entscheidung in dem Maße, in dem sie einerseits sich sowohl aufgrund der Verselbständigung, die von ihrer Unbegründbarkeit bewirkt wird, als auch aufgrund der Kraft der Aktualisierung (daß das Denken von X wahrhaft ein Denken ist, zeigt sich erst im Denken von Y) weder dem einen noch dem anderen Denker zuordnen läßt, die Kraft vielleicht der Unbegründbarkeit oder der Entscheidung entspringt, andererseits jedoch die Frage nach dem Wer um so dringlicher erscheinen läßt.
2.1 Für die Dekonstruktion, deren Idee Jacques Derrida entwickelt hat, sind zwei Begriffe bedeutsam, deren widersprüchliche oder spannungsgeladene Bestimmung den Gedanken Carl Schmitts eine philosophische Aktualität verleiht. Im Fall des Begriffs der Entscheidung deshalb, weil ohne die Definition, die Schmitt in seiner Politischen Theologie vorschlägt, die dekonstruktive Wendung unverständlich bliebe, mit der dieser Begriff in den Mittelpunkt nicht nur rechtlicher, sondern auch ethischer Auseinandersetzungen rückt. Im Fall des Begriffs der Souveränität deshalb, weil der Gedanke des Unbedingten, auf den die Dekonstruktion rekurriert, auch und vor allem im Zusammenhang mit dem Begriff der Entscheidung, nur schwer von dem der Souveränität unterschieden werden kann und doch gänzlich von ihm verschieden sein soll. Welche bestimmenden Merkmale der Entscheidung, die Schmitt hervorhebt und die für die Aktualisierung seiner Definition in der Dekonstruktion relevant sind, können aus dem Kontext der Schrift über politische Theologie abstrahiert werden? Zunächst muß man berücksichtigen, daß Schmitt von 3 | Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 11. 4 | Auch im Begriff des Politischen spielt natürlich der Begriff der Entscheidung eine wichtige Rolle, da Schmitt das Politische durch die Entscheidung über Freund und Feind definiert. Vgl. dazu: Alexander García Düttmann, Freunde und Feinde. Das Absolute, Wien 1999, S. 21f. In seiner Vorbemerkung zur zweiten Ausgabe der Politischen Theologie, nach der Publikation des Begriffs des Politischen verfaßt, insistiert Schmitt darauf, daß jede Entscheidung »politisch« sei. – Es bleibt unbestritten, daß sich Derridas Entfaltung des Entscheidungsbegriffs ebenfalls auf den Kierkegaard zugeschriebenen Gedanken beruft, der Augenblick der Entscheidung sei nicht der eines Wissens, sondern der eines Wahns.
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Entscheidung im Zusammenhang mit Souveränität spricht. Das heißt indes nicht, daß er sich mit irgendeinem beliebigen Fall beschäftigt, wie sich an der Feststellung ablesen läßt, die »Entscheidung über die Ausnahme«, durch die sich die Souveränität auszeichnet, sei »im eminenten Sinne Entscheidung«. Man könnte an dieser Stelle den Ausdruck »eminent« scholastisch verstehen, als hätte Schmitt auf einen Grad höchster Vollkommenheit hinweisen wollen, als wäre die Entscheidung über den Ausnahmezustand die Entscheidung selbst. Nancy, der souverän das Seiende nennt, das »von nichts abhängt«, erinnert in seinen Notizen zur Souveränität daran, daß dieses Nichts die Sache selber ist, nicht diese oder jene Sache. Die Entscheidung des Souveräns ist die Entscheidung selbst, weil ihr Gegenstand die Ordnung ist, sie die Ordnung nicht als bereits hergestellte supponiert und trübe das Stiftende mit dem Deklaratorischen vermischt. Die souveräne, inhaltlich gleichgültige oder »unbegrenzte«, von keiner bestehenden Ordnung abhängige Entscheidung, die eminente Entscheidung oder die Entscheidung selbst schafft eine Situation, in der etwas gelten kann, sorgt dafür, daß die Forderung einer »jede[n] generelle[n] Norm« nach »normale[r] Gestaltung der Lebensverhältnisse« erfüllt wird. Giorgio Agamben drückt das in seiner Deutung der Logik der Souveränität, die von Schmitt ihren Ausgang nimmt, mit den Worten aus, der Souverän entscheide nicht über das Erlaubte und das Unerlaubte, sondern beziehe die Lebenden in die Ordnung ein, in die Rechtsordnung. Die »echte Entscheidung«, eminent und souverän, ist schöpferisch, wird von keinem Chaos eingeschränkt und durch keine Ordnung begrenzt, weder durch das Sein noch durch das Sollen, »macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne
5 | Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 11. 6 | Jean-Luc Nancy, »Ex nihilo summum«, in: ders., La mondialisation du monde, Paris 2002, S. 160 und S. 164. Schmitt bemerkt im ersten Teil der Politischen Theologie: »Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren.« (Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 42) Gegenüber Schmitt äußert Nancy den kritischen Vorbehalt, er habe die Ausnahme verdinglicht, als Gegebenheit eines Außen gedacht (Jean-Luc Nancy, »Ex nihilo summum«, S. 172). 7 | Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 19. Vgl. dazu auch Schmitts Ausführungen zum »konstitutiven Element« der Entscheidung, zum »Eigenwert der Form« in der Entscheidung, zur »ästhetischen« Form als »Lebensgestaltung« (ebd., S. 37). 8 | Giorgio Agamben, Homo Sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin 1995, S. 31. 9 | Carl Schmitt, Politische Theologie, »Vorbemerkung zur zweiten Ausgabe«.
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absolut«,10 behauptet sich, so Schmitt, aufgrund ihrer Einheit und ihrer Unteilbarkeit.11 Sartres Diktum, das Spiel sei aus, wenn man Überlegungen und Beratungen anstellt,12 ist auf die Entscheidung gemünzt, die den Schein hervorbringt, sie stehe noch aus und sei noch nicht getroffen worden, weil zum Beispiel normative Gesichtspunkte noch berücksichtigt werden müssen; können doch Entscheidungen nur dann getroffen werden, wenn sie bereits von einer vorangehenden freien Wahl oder einer ursprünglichen ungebundenen Entscheidung abhängen, die den Grund für jede Überlegung und Beratung abgibt und selber nicht überlegt sein kann. Das Absolute der eminenten, echten, eigentlichen – der souveränen Entscheidung, der Entscheidung selbst, haftet allerdings an einer Bedingung und kann die Entscheidung auch nicht davor bewahren, sich einer Gefahr auszusetzen. Die Bedingung der unbedingten Entscheidung ist die, daß sie der Selbsterhaltung dient;13 eine Entscheidung gegen die Selbsterhaltung wäre keine, weil sie sich im Selbstmord, ihrer pervertierten Gestalt, auslöschen würde. Die Gefahr, der sich die Entscheidung selbst unweigerlich aussetzt, ist die, »durch die Punktualisierung des Augenblicks«,14 die in ihr liegt, ihre Aufgabe zu verfehlen, die Selbsterhaltung zu unterminieren. Eine Entscheidung ist somit immer eine riskante Diktatur, zumindest dort, wo sie sich der Diskussion verschließt, sich selber am nächsten kommt und ihre Intensität die höchste Steigerung erfährt. Wenn sich indes die Entscheidung selbst an keinem besonderen Inhalt mißt und an keiner Norm ausrichtet, weil keine Norm der durch das Entscheiden bewirkten Normalisierung vorausgeht und es vor dem Entscheiden keinen anderen Inhalt gibt als den der stets dringlichen Selbsterhaltung, dann führt der Bruch mit der Immanenz der funktio-
10 | Ebd., S. 19. 11 | Schmitt schreibt Jean Bodin den Verdienst zu, die »unteilbare Einheit« der Souveränität erkannt zu haben. (Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 14) 12 | Jean-Paul Sartre, L’être et le néant, S. 495 (vgl. auch S. 506). 13 | »Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechts, wie man sagt.« (Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 19) Christoph Menke unterstreicht daher das Feststellende an der Entscheidung, führt eine (zeitlich-strukturelle) Differenz zwischen dem kognitiv-reflexiven »Beginn« und dem dezisionistischen »Ende« souveräner Entscheidungen ein. Souveränität verfährt nicht willkürlich: »Grundlegend ist vielmehr, worüber die Souveränität entscheidet: nicht über Beliebiges, sondern darüber, ob der Ernstfall eingetreten ist.« (Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Berlin 2000, S. 162) 14 | Carl Schmitt, Politische Theologie, s.o., »Vorbemerkung zur zweiten Ausgabe«.
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nierenden Maschine, der Sand, den die Entscheidung in das Getriebe streut,15 zu einer Verlagerung des Hauptgewichts vom Wie der Funktion auf das entscheidende Wer. Schmitt redet von dem »personalistischen Element«16 und meint die Person des Souveräns als Instanz der Entscheidung. Wenn der Souverän, der entscheidet – wenn die Entscheidung selbst, die immer vom Souverän getroffen wird, ungebunden sind, heben sich Entscheidungen von richtigen oder falschen Feststellungen durch ihre »Unfehlbarkeit« ab, enthält auch die »unrichtige Entscheidung« ein »konstitutives Moment«;17 sei es, daß die »unrichtige Entscheidung« immer noch Entscheidung ist und eine Rechtswirkung hat, sei es, daß sich dort, wo sich im Ernst der Souverän als fehlbar und seine Entscheidung als unrichtig erweist, wo die »Punktualisierung des Augenblicks« die Aufgabe der Selbsterhaltung verfehlt und die Ordnung zerstört wird, die Souveränität verschwindet, die Entscheidung »im eminenten Sinn« sich auflöst und die Wahrheit der Norm die Autorität der Normalisierung ersetzt. Macht nicht diese wesentliche Unfehlbarkeit, die das Wer der Entscheidung prägt, jede »juristische Transzendenz« bereits zu einer »metaphysischen«,18 ohne daß es dazu einer weiteren Begründung bedürfte? Derrida betont in seinem Buch Voyous, daß der »souveräne Akt« in einem gewaltsamen und ungeschichtlichen Augenblick mit einem »einzigen unteilbaren Schlag« der »unendlichen Argumentation«19 ein Ende setzt; daß »Gewaltmißbrauch« der Souveränität eignet und daß der Versuch, sie zu legitimieren, ihr einen Sinn zu verleihen, das »Außerordentliche« durchstreicht, das »von jeder Ordnung sich ausnimmt und als Entscheidung wirkt«.20 Bereits in der Abhandlung Force de loi begreift Derrida 15 | »Der Souverän […] wird radikal verdrängt. Die Maschine läuft jetzt von selbst.« (Ebd., S. 62) 16 | Ebd. 17 | Ebd., S. 42. Schmitt präzisiert den Gedanken, indem er hinzufügt, die unrichtige Entscheidung sei »gerade wegen ihrer Unrichtigkeit« konstitutiv – jede Entscheidung, die Entscheidung ist, muß gegenüber etablierten Normen als unrichtig erscheinen. Am Punkt der unrichtigen Entscheidung trennen sich, wie Thorsten Hitz hervorhebt, die Wege der politischen Theologie und der Dekonstruktion: »Es ist gerade der Gedanke, daß die Entscheidung sich als falsch herausstellen könnte, der für Derrida unerträglich ist.« (Thorsten Hitz, Jacques Derridas praktische Philosophie, S. 143) 18 | Vgl. dazu: Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart und Weimar 1994, S. 162. 19 | Jacques Derrida, Voyous, Paris 2003, S. 29. 20 | Ebd., S. 144f. Derrida bezieht sich an dieser Stelle ausdrücklich auf
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die Entscheidung als eine, die ihren Namen nur dann verdient, wenn jener, der sie trifft, sich dabei nicht auf ein vorhandenes Wissen und festgelegte Regeln21 verläßt. Die Entscheidung, die sich in keine Ordnung fügen darf und jedem vorhersehbaren Handlungsablauf widersetzen muß, soll sich in der Unbedingtheit der Unentscheidbarkeit halten. Unentscheidbarkeit meint, daß man in einem gegebenen und geregelten Zusammenhang eine Entscheidung zu treffen hat, die sich von Regeln nicht leiten lassen kann, weil mindestens zwei Entscheidungen gerechtfertigt werden können, die einander ausschließen, also in einem antinomischen Verhältnis zueinander stehen. Unentscheidbarkeit meint aber ebenfalls, daß ein Unbedingtes, das mit allem unvereinbar ist, was sich regeln, berechnen, anwenden läßt, in ein Verhältnis zu einem Bedingten treten muß, zu Regeln, Berechnungen, Anwendungen, soll eine Entscheidung getroffen werden. Genau diese »Erfahrung«22 einer Zerstörung und einer Erhaltung der Regel könnte man als die »punktuelle« oder »punktualisierende« der Souveränität bezeichnen, die man weder dem Sein noch dem Sollen, weder der Realität noch der Idealität zuzurechnen vermag und die stets einen doppelten Effekt zeitigt, einen suspendierenden und gleichzeitig normalisierenden Effekt. Die Entscheidung darf nicht als Auflösung der Antinomie oder der Spannung zwischen Bedingtem und Unbedingtem angesehen, sondern muß als deren Ausdruck betrachtet werden. Eine Entscheidung jedoch, die eine für sie konstitutive Unentscheidbarkeit ausdrückt, hebt sich in dem Augenblick auf, in dem sie getroffen wird. Der Augenblick der »Punktualisierung« wird zu einem gegen alle Vorstellung und gegen alle Bestimmung widerspenstigen Nu, in dem etwas zu gelten scheint, ohne daß sich seine Bedeutung ausmachen ließe.23 Das ist letztlich ein mystischer Gedanke oder die Mystik der Souveränität. Allerdings glaubt man gewöhnlich durchaus in der Lage zu sein, eine getroffene Entscheidung identifizieren und sie von der Entscheidung unterscheiden zu können, die sie ratifiziert oder revidiert, etwa aufgrund der Schwierigkeiten, die sich bei der Entscheidungsfindung ergeben haben. Zumindest einen Augenblick lang, der nicht der Augenblick der »Punktualisierung« ist, sondern auf ihn folgt, soll sich eine beliebige Entscheidung Schmitt. Er verwendet die mehrdeutige Formulierung »exceptionnalité décisoire«, die den Entscheidungscharakter des Ausnahmehaften, aber ebenfalls den Ausnahmecharakter des Entscheidenden meinen kann. 21 | Jacques Derrida, Force de loi, S. 58. 22 | Ebd., S. 53. 23 | Zu Scholems Formulierung »Geltung ohne Bedeutung« vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer, S. 59, und Alexander García Düttmann, Philosophie der Übertreibung, Frankfurt a.M. 2004, S. 169ff.
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von deren Aufhebung, von deren Bestätigung oder Veränderung durch eine weitere Entscheidung trennen lassen. Warum folgt ein Augenblick auf den Augenblick der »punktualisierenden« Entscheidung? Weil es sonst zu gar keiner Entscheidung gekommen wäre, es keine Dringlichkeit der Entscheidung geben würde. Wo man sich entscheiden muß, wo der Augenblick zur Entscheidung drängt, wo eine Entscheidung erforderlich ist, folgt immer auch ein Augenblick auf den der »Punktualisierung«, verzehrt die »Punktualisierung« nicht einfach die Zeit, die im Akt des Entscheidens innezuhalten scheint. Die Unbedingtheit der autonomen Entscheidung, ihre Ungebundenheit, ihre Unbegrenztheit, ihre Unendlichkeit – kurz: ihre Souveränität ist an eine Endlichkeit geknüpft, ja wird von einer Endlichkeit generiert, von einer Heteronomie, in der sie sich nicht erschöpft, die sie aber dennoch nicht abstreifen kann. Um sich als Souverän zu behaupten, müßte jener, der sich entscheidet, über die Endlichkeit Herr werden, über die Undurchsichtigkeit und die Wiederholung der Entscheidung; die Endlichkeit setzt ihn aber erst als Souverän ein, da es ohne sie gar nichts zu entscheiden gäbe. Winch, ein Philosoph, dessen Stil weder mit dem Schmitts noch mit dem Derridas viel gemein zu haben scheint, erinnert daran, daß Entscheidungen, solche etwa, die ein Geschick bestimmen, in einen Raum gehören, in dem sich aus ihnen »Konsequenzen ergeben« und in dem »Risiken eingegangen werden können«: »Außerhalb eines solchen Zusammenhangs hätten die Vorstellungen vom Treffen einer Entscheidung, vom Fassen eines Entschlusses hinsichtlich einer Frage usw. kaum einen Gehalt. Inwiefern würden sie sich von einer beiläufigen Zufallshandlung unterscheiden?«24 Die Äquivokation, die darin besteht, daß die Entscheidung selbst die des Souveräns ist und man nicht eindeutig sagen kann, ob der Souverän über die Entscheidung oder die Entscheidung über den Souverän herrscht,25 wird von dem eigentümlichen Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit, 24 | Peter Winch, »Partikularität und Moral«, S. 247. 25 | Diese Äquivokation zeitigt eine eigentümliche Nähe der politischen Theologie zum Okkasionalismus, den sie ausschließt, da ihm jede Entscheidung »im eminenten Sinne« fremd bleibt und er beispielsweise in seiner romantischen Gestalt einzig Entscheidungen »im gewöhnlichen Sinne« (Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 1982, S. 143) kennt. Es ist, als würde sich Gott entscheiden, als wäre die Entscheidung selbst die Entscheidung Gottes, Gott der wahre Souverän und die Entscheidung des endlichen Souveräns nur ein Anlaß für die göttliche Wirksamkeit. – Wenn Benjamin behauptet, die Theorie des Ausnahmezustands, die er von Schmitt übernimmt, sei auf die barocke »Antithetik« von restaurativem Geschichtsideal und Katastrophe gemünzt, so läßt sich diese Antithetik in der Äquivokation der Souveränität ausmachen (vgl. Walter Benjamin, Ursprung des
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von Begrenztheit und Unbegrenztheit bedingt, das für das souveräne Entscheiden charakteristisch ist. Derrida bringt diese Äquivokation zum Vorschein, indem er zeigt, daß meine Entscheidung stets die des Anderen ist, des Anderen in mir, als würde sie von einem Wenn-ich-du-wäre bestimmt, und daß eine gesteigerte Aktivität und eine irreduktible Passivität sich in der Entscheidung unentwirrbar verbinden.26 Die Dekonstruktion der Souveränität als Entscheidung, die den Gedanken Schmitts philosophische Aktualität verleiht, weist also nach, daß die Möglichkeit souveränen Entscheidens oder entscheidender Souveränität mit ihrer eigenen Unmöglichkeit zusammenfällt. Das Ich und der Andere, Ich und Anderes, verschmelzen nicht in der einen und unteilbaren Entscheidung. Der Souverän und die Souveränität der Entscheidung sind nicht miteinander identisch. Deshalb vielleicht – weil die Souveränität des Entscheidens sich nicht einfach im Akt der Entscheidung verwirklicht, darin ihre unteilbare Einheit produziert, unterscheidet Derrida die Unbedingtheit der Souveränität von einer anderen Unbedingtheit, die »Selbstsetzung« von dem »Ereignis«.27
2.2 Praxis als Äquivokation, als Zusammenhang von Bedingtheit und Unbedingtheit, verlangt, soll sie nicht in der Mystik der Souveränität oder im Nu einer getroffenen und aufgehobenen Entscheidung verschwinden, daß man das »Und« einer Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren in das »Und« einer Aufeinanderfolge verkehrt. Damit stellt sich die Frage, ob eine solche Verkehrung die Dekonstruktion der Souveränität der Entscheidung verrät oder erst verständlich macht. Vermittelt die Dekonstruktion als philosophische Aktualisierung Schmittscher Gedanken ein Verständnis von Praxis oder versperrt sie den Zugang zur Praxis, ist sie Initiation in ein deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften, Band 1.1, hg. von H. Schweppenhäuser und R. Tiedemann, Frankfurt a.M. 1974, S. 246). 26 | Jacques Derrida, Force de loi, S. 58. Das Motiv einer Heteronomie, ohne die keine Autonomie denkbar sein soll, durchzieht auch Derridas Politiques de l’amitié, ein Buch, in dem es etwa heißt, die Entscheidung würde sich von dem Ich ausnehmen und sei wesentlich »unbewußt« (Jacques Derrida, Politiques de l’amitié, S. 87f.). 27 | Jacques Derrida, Voyous, S. 196f. In der Ansprache »États d’âme de la psychanalyse« gebraucht Derrida die Wendung »Unbedingtes ohne Souveränität« (Jacques Derrida, États d’âme de la psychanalyse, Paris 2000, S. 82); in dem Vortrag über die unbedingte Universität heißt es: »Im Grunde besagt meine Hypothese vielleicht […], daß eine gewisse unbedingte Unabhängigkeit […] von dem Gespenst und der Wunschvorstellung einer unteilbaren Souveränität und einer souveränen Beherrschung geschieden werden muß.« (Jacques Derrida, L’université sans condition, Paris 2001, S. 76)
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mystisches Nu,28 das alle Praxis aufzehrt? Das Argument, auf das man sich berufen kann, will man die Verkehrung des »Und« rechtfertigen, weist im Fall der Entscheidungsfindung auf den Umstand hin, daß das Treffen einer Entscheidung als Erfahrung der Unentscheidbarkeit immer eine Unterbrechung hervorrufen muß. Entscheiden bedeutet, die Unentscheidbarkeit zu unterbrechen, gleichgültig wie unbestimmt diese Unterbrechung auch bleiben mag. Freilich gilt dieses Argument nur dann, wenn jene, die es anführen, die eine Seite in der Gleichzeitigkeit von Unvereinbarem der anderen unterordnen; denn die Gleichzeitigkeit stellt sich sofort als die von Unterbrechung und Behauptung der Unentscheidbarkeit wieder her. Insofern das Treffen einer Entscheidung die Unentscheidbarkeit unterbricht, die Verkehrung des »Und« ermöglicht und eine weitere Entscheidung erfordert, erweist sich jede getroffene Entscheidung ebenfalls als eine, an die nicht mehr gerührt werden kann, als eine radikal endliche oder als eine absolute, als eine souveräne. Die ratifizierende oder revidierende Entscheidung bezieht sich stets auf eine andere Entscheidung als die, die sie ratifiziert oder revidiert. Sie kann die »Punktualisierung«, die ihr vorausgeht und die zugleich ihrer bedarf, das Daß der Entscheidung, nicht einholen, soll sie eine Bestätigung oder Überprüfung sein. Wo das »Und« eine Mystik des Nus bezeichnet, die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, zieht dieses Nu jenen, der entscheidet, in sich hinein. Wo hingegen das »Und« verkehrt wird, zum »Und« einer Aufeinanderfolge von Entscheidungen, muß man sich wiederum fragen, wer entscheidet. Weil »ich« an die Entscheidung, die »ich« treffe, nicht mehr einfach rühren kann, weil die Entscheidung, mit der »ich« eine von »mir« getroffene Entscheidung ratifiziere oder revidiere, sich nicht mehr einfach auf die von »mir« getroffene Entscheidung zu beziehen vermag, entscheidet zwar der Andere in »mir« – in dem Sinne, daß ich in der Unentscheidbarkeit über keine Entscheidungsgewalt verfüge, über keine Autonomie, über keine Souveränität, besagt jedoch jede getroffene Entscheidung auch etwas über mich, bin ich für die Entscheidung verantwortlich, muß ich für diese Entscheidung einstehen, ja für ein Ich, das sich nicht nur aus einer kontingenten Ansammlung diskreter Entscheidungen zusammensetzen kann. Ein berüchtigter Satz des Dichters Gottfried Benn trifft den Sachverhalt genau, gleichsam am Punkt der Übertreibung: »Sich irren und doch seinem Inneren weiter Glauben schenken müssen, das ist der Mensch und jenseits von Sieg und Niederlage beginnt sein Ruhm.«29 Würde jedes Mal lediglich der Andere in mir 28 | Vgl. dazu: Alexander García Düttmann, Freunde und Feinde. Das Absolute, S. 69. 29 | Gottfried Benn, »Altern als Problem für Künstler«, in: Essays, Reden,
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entscheiden, könnte man ebensowenig von einem Entscheiden sprechen, von einem Sich-Messen von X an Nicht-X oder Y, wie wenn ich jedes Mal über die Entscheidung souverän verfügen würde. Liest man zum Beispiel Derridas Buch Voyous, gilt es nicht bloß, den Gedankengang nachzuvollziehen, der Carl Schmitt eine philosophische Aktualität verleiht,30 die Dekonstruktion der Souveränität und der Entscheidung, sondern ebenfalls, die Frage aufzuwerfen, wie der Autor »selber« sich entscheidet, wie er sich in diesem Kontext zu früheren Entscheidungen verhält, sie ratifiziert oder revidiert. Wer ist Derrida, der in einem nachträglich hinzugefügten Abschnitt seiner aus Anlaß der Verleihung des Adorno-Preises gehaltenen Rede behauptet, er glaube nicht, das am elften September begangene Verbrechen erlaube ein Auseinanderhalten politisch Schuldiger und politisch Unschuldiger;31 und der dann in Voyous die »Einschränkung« demokratischer Freiheiten nach dem elften September durchaus zu unterstützen scheint, und zwar im Namen der Demokratie, ihres gefährlichen und dennoch unabdingbaren Selbstschutzes? Die fragliche Formulierung, lang und gewunden, lautet: »Beim Nachdenken über den elften September sieht man, wie eine nordamerikanische Regierung, deren Beispiel sich möglicherweise andere Regierungen in Europa und dem Rest der Welt anschließen, den Anspruch erhebt, gegen die ›Achse des Bösen‹ in den Krieg zu ziehen, gegen die Feinde der Freiheit und gegen die Mörder der Demokratie in der Welt, und wie sie, ohne es abwenden oder leugnen zu können, im eigenen Land die sogenannten demokratischen Freiheiten einschränken und die Rechtsausübung beschränken muß, indem sie die Macht der polizeilichen Inquisition ausweitet, wobei sich niemand, kein Demokrat, diesem Vorgehen ernsthaft widersetzen kann, etwas anderes tun als eben diesen oder jenen Mißbrauch zu beklagen, bei dem von Anfang an mißbräuchlichen Gebrauch der Gewalt, mit der Vorträge, Gesammelte Werke in vier Bänden, Band I, hg. von D. Wellershoff, Wiesbaden 1960, S. 558. Es handelt sich an dieser Stelle um ein Selbstzitat; Benn bezieht sich auf die Reaktion der Kritiker. 30 | Daß es sich um eine philosophische Aktualität handelt, verdeutlicht bei allem Mißtrauen, mit dem ein Dekonstruktivist dem Begriff der Philosophie begegnen mag, die Kritik, die Derrida an Chomsky übt. Er hält ihm vor, kein »konsequent politisches Denken« entwickelt und die »›Logik‹ des Begriffs der Souveränität« nicht entfaltet zu haben (Jacques Derrida, Voyous, S. 145). Man kann den Unterschied vielleicht so fassen: Aus der Sicht Derridas gibt es für Chomsky historisch und empirisch Schurkenstaaten, während es aus seiner eigenen Sicht strukturell keinen Staat gibt, der nicht ein Schurkenstaat wäre. 31 | Jacques Derrida, Fichus, Paris 2002, S. 52. Die Rede war bereits geschrieben, aber noch nicht gehalten.
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sich eine Demokratie gegen ihre Feinde verteidigt, mit der sie sich selber verteidigt, gegen sich selber, gegen ihre möglichen Feinde.«32 Wird hier nicht der politisch (relativ) Unschuldige wider willen, durch die Schuld des Anderen, die größer sein muß als die eigene, zum politisch (relativ) Schuldigen, der verzweifelt versucht, eine (relative) politische Unschuld zu bewahren, die der Idee von Demokratie? Als einer, der eine Entscheidung getroffen hat, über die ich nicht souverän verfüge, muß ich mich zu der getroffenen Entscheidung verhalten, verfügt die getroffene Entscheidung souverän über mich. Dieses Verfügen ist aber kein gänzlich souveränes. Denn es folgt ja auf den »punktualisierenden« Augenblick der Entscheidung ein weiterer Augenblick, eine weitere Entscheidung, die für ihn konstitutiv sind und die ihn so auf eine Zukunft hin öffnen, die der Verfügung entgeht.
2.3 Daß eine schwerwiegende Entscheidung den, der sie trifft, immer wieder heimsuchen kann, er sich immer wieder zu ihr verhalten muß, sich überlegen, ob er sie ratifizieren oder revidieren soll; daß der Entscheidende gerade deshalb immer wieder von ihr heimgesucht werden kann, weil er sie immer wieder ratifiziert, sie aber keine einfache Entscheidung war und die Folgen unabänderlich, kann man an Melvilles Erzählung »Billy Budd, Sailor« ablesen. Die Oper, die dann Benjamin Britten nach diesem Stoff komponiert hat, macht den Sachverhalt noch sinnfälliger. In Melvilles Erzählung überlebt Captain Vere den Tod Billy Budds nicht lange. Brittens Librettisten Forster und Crozier lassen ihn alt werden, um im Prolog auf die Ereignisse der Handlung zurückzuschauen (»Verwirrung, so viel Verwirrung!«) und im Epilog aus dem Rückblick die Kraft zu einem Vorblick zu schöpfen. Weil er der Verwirrung nicht anheimgefallen ist, ja weil er glaubt, daß Rettung und Segen ihm zuteil geworden sind, singt Vere schließlich: »Ich bin jetzt ein alter Mann und mein Geist kann in Ruhe zu jenem weit zurückliegenden Sommer zurückkehren.« An einer entscheidenden Stelle der Handlung nennt Vere die Verwirrung, die sowohl im Inneren als auch außen vorherrscht. Einerseits endet die Oper also genau dort, wo sie beginnt, am Anfang der Erzählung, als würde Vere zweimal von seiner Begegnung mit Billy Budd berichten. Andererseits ist es aber so, daß die erste Erzählung, die Oper, die der Zuschauer hört und sieht, noch im Zeichen der Verwirrung steht, während die angekündigte zweite, dem Inhalt nach mit der ersten identisch, im Zeichen der Versöhnung stehen soll. Ein gegenwärtiges unsichtbares Geschehen überlagert 32 | Jacques Derrida, Voyous, S. 64f. – meine Hervorhebung, AGD. Zum Wer der Entscheidung in der Dekonstruktion vgl. auch: Alexander García Düttmann, Philosophie der Übertreibung, S. 14f.
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das vormalige, das Vere mit seiner Erzählung sichtbar macht. Denn durch das Erzählen selber vollzieht sich in ihm eine Wandlung, von der der Epilog dann kündet. Dem erzählerischen Rahmen der Oper, dem Literarischen an ihr, kommt, so könnte man folgern, eine ordnende Aufgabe zu. Er sorgt dafür, daß die Verwirrung nicht überhand nimmt. Aber warum beginnt die Erzählung am Ende von neuem, muß Vere, von der Verwirrung befreit, noch einmal dort ansetzen, wo er im Prolog schon angesetzt hatte? Würde die Feststellung nicht ausreichen, aus der Verwirrung, die der Anlaß für die ordnende und heilende Erzählung war, sei innerer Friede entstanden? Weckt der zweite Anfang, den im Libretto nur noch Auslassungspunkte anzeigen und in der Musik der Umstand, daß sie allmählich verstummt, das gesprochene Wort das gesungene ablöst, nicht Zweifel an der Überwindung der Verwirrung? Was hier vielleicht nachhallt, ist das wiederholte »Billy Budd, Billy Budd«, die letzten Worte, die der sterbende Vere in Melvilles Erzählung murmelt.33 Vere hat nicht einfach die Ruhe des Alters erlangt, ist nicht einfach mit sich in Frieden, von einer Last befreit. Der Ernst seines gelebten Lebens hängt nämlich daran, daß er diese Last spürt. Was aus der Verwirrung entsteht, trägt noch deren Spur, kann sie nur um den Preis der Zerstörung und der allergrößten Verwirrung verwischen. Die Last deutet Peter Winch, der sich auf die Erzählung Melvilles bezieht, als eine der moralischen Entscheidung, für die es keine Unterscheidung zwischen dem Richtigen und dem Falschen geben kann, die unabhängig von der zu treffenden Entscheidung Bestand hätte (als müßte sie lediglich auf den besonderen und beliebigen Fall angewendet werden), ja unabhängig von dem, der sich entscheidet (als könnten die Anforderungen lediglich in der dritten Person beschrieben werden): »Wie Melville nahelegt, mag es sich durchaus so zutragen, daß in dem Augenblick, in dem ich in der Wirklichkeit mit einer Lage konfrontiert werde, die von mir eine heikle moralische Entscheidung erfordert, die Dinge ziemlich anders auf mich wirken als dann, wenn ich über sie ganz allgemein nachdenke, oder als Zuschauer.«34 Captain Vere, der als Zeuge vor das Kriegsgericht tritt, das er einberufen hat, muß sich schnell entscheiden, welches Urteil er letztlich den Richtern nahelegen will. Soll dem Gesetz gefolgt werden, das für die Tat, die Billy Budd begangen hat, die Todesstrafe vorsieht, oder dem Gewissen, das, wenn nicht einen Freispruch, so doch eine Strafe fordert, die nicht auf das Leben des Matrosen zielt? Winch weist nach, daß der Kapitän den 33 | Herman Melville, »Billy Budd, Sailor«, in: Billy Budd and Other Stories, London und New York 1986, S. 382. 34 | Peter Winch, »The Universalizability of Moral Judgments«, in: ders., Ethics and Action, London 1972, S. 153.
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Konflikt austrägt, der dem Moralischen innewohnt, ein Konflikt zwischen »zwei im echten Sinne moralischen Sollensforderungen« ist, er sich damit moralisch verhält, weder sich auf den juridischen Buchstaben verläßt noch das Gesetz im Namen des Gewissens außer Acht läßt. Weil die Forderungen des Gesetzes und des Gewissens einander ausschließen, beide sich mit guten Gründen verallgemeinern lassen, muß der Kapitän, so könnte man im Anschluß an Winch sagen, eine Entscheidung in verwirrender Unentscheidbarkeit treffen. Melville vergleicht den Fall nicht umsonst mit der Geschichte von Abraham und Isaak. Wenn er sich entscheidet, die Forderung des Gesetzes zu erfüllen, klagt das Gewissen die Hinrichtung eines Unschuldigen ein: Billy Budd hat den bösen Vorgesetzten Claggart nicht absichtlich getötet; wenn er sich umgekehrt entscheidet, die Forderung des Gewissens zu erfüllen, klagt das Gesetz die Freisprechung oder bevorzugte Behandlung eines Schuldigen ein. In dem einen wie in dem anderen Fall ist die Erhaltung der Ordnung gefährdet, ihre Wiederherstellung, um die es im Krieg gerade geht, den in Billy Budd die konservativen Engländer gegen die revolutionären Franzosen führen. Die Ordnung droht entweder an ihrer Verhärtung zugrunde zu gehen oder ihrer Aufweichung zu erliegen. Winch formuliert den Konflikt, bei dem keine der beiden einbezogenen Forderungen über die andere ein Vorrecht einklagen kann und bei dem deshalb die Rechtmäßigkeit der anderen Forderung sich nach der getroffenen Entscheidung weiterhin behauptet, mit folgenden Worten: »›Auf der einen Seite soll ich dieses tun, auf der anderen hingegen jenes. Was soll ich also eigentlich tun?‹ Mich interessiert hier die Kraft, die dem Wort ›sollen‹ in der Frage und in der Antwort eignet, die man auf sie erteilt. Ich werde das Argument entwickeln, daß sich in dem Fall, in dem jemand auf die Frage antwortet: ›Dies ist es, was ich tun soll‹, nichts in der Bedeutung oder in dem Gebrauch des Wortes ›sollen‹ ausmachen läßt, was ihn logisch zwingen würde, hinzuzufügen: ›Und jeder andere sollte in einer solchen Lage ebenfalls genau dies tun‹.«35 Der Punkt, auf den es Winch nun ankommt, ist der, daß es neben dem Gesetz und dem Gewissen keine andere Ordnung gibt, der sich der Kapitän zuwenden könnte, um vor der Entscheidung herauszufinden, welches Verhalten in der ausweglos anmutenden Lage richtig, welches dagegen falsch ist. Deshalb nimmt die Entscheidung, das »So-istes«, das auf die unvereinbaren und gleichberechtigten Sollensforderungen antwortet, nicht die Last von dem, der ernsthaft, als moralische Person entscheidet;36 deshalb auch findet der Entscheidende, indem er sich so oder so entscheidet, nicht etwas über das an sich Richtige und Falsche heraus, 35 | Ebd., S. 161. 36 | Zum Begriff des Ernsts im Zusammenhang mit einem richtigen (moralischen) Handeln, das nicht verallgemeinert werden kann, vgl. ebd., S. 166.
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sondern vor allem über sich selber. Was aus Verwirrung entstehen kann, ist ein Wissen, das aus einer Einsicht in das eigene Selbst resultiert. Dieses Wissen allein, die Suche danach, bei der es um ein Drittes zu tun ist, um eine gerechte Behandlung Billy Budds, kann moralisch heißen, muß in moralischen Begriffen ausgedrückt werden. Was erfährt man über sich? Wohl nur, daß man es ernst gemeint hat – oder eben nicht. Gewiß, man erfährt auch, daß man zum Beispiel die Gerechtigkeit des institutionellen Gesetzes am Ende über die natürliche Gerechtigkeit stellt, die Umkehrung des Verhältnisses keine Möglichkeit ist, die man ernsthaft erwägen könnte. Doch insoweit man eine solche Bewertung für die richtige Entscheidung hält, nicht allein für eine Entscheidung, die allein für mich, für das entscheidende Ich richtig ist; insofern es also um die gerechte Behandlung eines Anderen geht, für den sich die Entscheidung als gültig erweisen und möglicherweise unwiderrufliche Konsequenzen haben wird, ist dieses Wissen nicht einfach eines, das etwas über mich, über dieses entscheidende Ich als moralische Person besagt. »Wie sich ein Mensch zu den Möglichkeiten verhält, die er für sinnvoll erachtet, hängt davon ab, was für ein Mensch er ist«, schreibt Winch in seinem Aufsatz über »moralische Integrität«; und fährt fort: »Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie er lebt; es zeigt sich ihm in dem Verständnis, das ihn etwas für wichtig ansehen läßt, etwas anderes hingegen für unwichtig.«37 Das moralische Dilemma, auf das sich Winch bezieht, verdeutlicht, was es für Entscheidungen heißen kann, daß ein Anderer mit gleichem Ernst zu einer anderen Entscheidung gelangt ist als ich, zu einer Entscheidung, die ich aus guten Gründen nicht für richtig halten kann, obwohl Argumente hier gerade nicht weiter helfen. Die Richtigkeit ist an den Ernst gebunden, weshalb die Kriterien, die Winch aufzählt, die Möglichkeit des Ernstnehmens betreffen, die Moral zunächst den Ernst ernst nehmen muß. Daß ich mich zu meiner Entscheidung verhalte, ist so ein Ausdruck des Verhaltens zu mir selber, an dem man mein Verhalten zu Anderen und zur Welt messen wird, mein Auftreten als moralische Person, die für ihre Entscheidung den Geltungsanspruch der Richtigkeit erhebt.38 37 | Peter Winch, »Moral Integrity«, in: Ethics and Action, S. 191. Zu dem, was ich über mich beim Entscheiden erfahre, in der Situation des moralischen Dilemmas, mit dem Captain Vere sich auseinandersetzt, zählt Craig Taylor zufolge auch, ob ich »natürliche Gerechtigkeit« für wichtiger als die »Bedeutung der Militärjustiz« halte oder nicht, »so daß die moralischen Möglichkeiten für verschiedene Handelnde verschieden sein können« (Craig Taylor, »Winch on Moral Dilemmas and Moral Modality«, in: Inquiry, 49. Jg., Heft 2, 2006, S. 153). 38 | Lilian Alweiss hat gegen Winch den Einwand erhoben, daß sein Argument auf der Ebene moralischen Urteilens unzutreffend ist. Denn sobald durch ein
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Aber kann man je wissen, ob man es ernst genug gemeint hat? Muß nicht gerade der, der sich am meisten angestrengt hat, um so mehr an
moralisches Urteil, durch die getroffene Entscheidung, das Dilemma sich als ein vorläufiges herausgestellt hat und nicht länger besteht, kann man nicht mehr behaupten, eine andere Entscheidung hätte gleichermaßen richtig sein können. Mit anderen Worten: die moralische Entscheidung enthält eine Verallgemeinerung, eine Idealisierung, ein Wenn-ich-du-wäre, die sich über Besonderheiten erhebt, zu denen auch Unentschiedenheit und der Anschein von Unentscheidbarkeit gehören; wo Unentscheidbarkeit tatsächlich vorherrscht, kann keine moralische Entscheidung getroffen werden, ist die Rede von Moral unzulässig. Die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Idealität spiegelt die Gespaltenheit des Entscheidenden, bewahrt die Richtigkeit seiner Entscheidung vor eingreifenden Zweifeln; moralisches Handeln ist nicht gleichbedeutend mit der Erfüllung moralischer Ideale, von denen man sich dann als Leser fragen kann, was für eine Rolle sie für die Moral noch spielen: »Die Situation ist tragisch, nicht weil Vere glaubt, falsch gehandelt zu haben – er verspürt keine Gewissensbisse, sondern weil seine Entscheidung uneins ist mit seinen moralischen Idealen.« (Lilian Alweiss, »On Moral Dilemmas: Winch, Kant and Billy Budd«, in: Philosophy, Heft 78, London 2003, S. 215) Schon John E. Atwell, auf den sich Alweiss beruft, hatte in den sechziger Jahren Kritik an Winch geübt, indem er auf den Unterschied hinwies zwischen einer Entscheidung und einem moralischen Urteil, das Verallgemeinerung impliziert, ein allgemeines Sollen, an dem der Ernst hängt; Captain Vere urteilt nach Atwell moralisch, während Winch keine moralische Frage stellt, sondern eine, die es nur mit einer Entscheidung zu tun hat: »Es will mir so scheinen, daß die einzige aufrichtige Antwort, die einer, der vor einem ernsthaften moralischen Dilemma steht, auf die Frage geben kann: ›Was soll ich tun‹, die Antwort ist: ›Ich habe keine Ahnung‹.« (John E. Atwell, »A Note on Decisions, Judgments, and Universalizability«, in: Ethics, 77. Jg., 1966/67, S. 133) Unentscheidbarkeit, die Irreduktibilität eines Dilemmas in Sachen der Moral, schließt also für Atwell und Alweiss moralisches Urteilen und Handeln aus, nicht aber für Winch. Die Positionen gehen dadurch auseinander, daß Ernst in dem einen Fall vorausgesetzt wird, in dem anderen nicht. Man muß, so könnte man die Position von Winch umschreiben, als moralisch Handelnder einen Anspruch auf Richtigkeit stellen und kann trotzdem nicht einfach verallgemeinern, da der Ernst, ohne den es keine Moral gibt, nicht als reale oder ideale Gegebenheit hingestellt werden darf. Wäre die Frage nach dem Handeln in der Situation eines unauflösbaren moralischen Dilemmas einzig eine Frage von Gründen, so gäbe es vielleicht keinen Grund, die Entscheidung, die man unter Handlungsdruck treffen muß, moralisch zu nennen. Weil man jedoch mit gleichem Ernst sich zu dem Treffen einer entgegengesetzten Entscheidung gezwungen sehen mag, ist das Entscheiden und Handeln in der Unentscheidbarkeit moralisch zu nennen.
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seiner Anstrengung verzweifeln? »Es ist nicht sein Gericht, sondern meines, meines«, erkennt der reflektierende Vere in der Oper. Winch, der die Entscheidung nicht kritisiert, ja nicht kritisieren kann, weil Melville den Kapitän als eine ernsthafte Figur charakterisiert, bemerkt, daß er selber sich anders entschieden hätte. Hannah Arendt hätte sich wohl ebenfalls anders entschieden, bemerkt sie doch in ihrem Aufsatz über Gewalt, der Schlag, mit dem Billy Budd den verleumderischen Ankläger niederstreckt, ohne Begründung und ohne mit den Folgen zu rechnen, bringe die Waage der Gerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht.39 Die Frage der Moral lautet, wenn man sich an Winchs Deutung von Billy Budd hält: Wie soll ich mich in einer Lage verhalten, in der etwas auf dem Spiel steht, das nicht meinen privaten Nutzen fördert, die Ordnung, der Sinn, und in der sich keine festlegenden Regeln und Normen ausmachen lassen, die mir die Entscheidung abnehmen, Philosophie meinem Willen nicht moralische Anleitung zu bieten vermag? Genau diese Frage, die Frage nach dem Ernst, stellen weder Billy Budd noch sein Gegenspieler Claggart. Deshalb agieren sie nicht im Bereich der Moral. Was beide Gestalten gemein haben, ist, daß sie keine moralischen Entscheidungen treffen müssen, weil sie von einer Kraft bestimmt oder getrieben werden, die über jeden gesellschaftlichen und psychologischen Zusammenhang hinausreicht, über jede Ordnung, die es mit Überlegung zu erhalten oder wiederherzustellen gilt. Melville beschreibt diese Kraft als eine natürliche, sei es, daß sie vom Sündenfall unberührt geblieben ist, sei es, daß die Verkommenheit selber als eine ursprüngliche angesehen werden muß. Erinnert Claggarts zerstörerische Absichtserklärung in Brittens Oper nicht an das böse Credo des Jago im Othello? In einem Gespräch fürs Radio, das Britten mit den Librettisten kurz vor der Uraufführung der Neufassung von Billy Budd im Jahr 1960 führte, behauptet E. M. Forster, die Affinität sei durchaus eine gewollte. Eben weil jedoch der Gute und der Böse von einer Kraft bestimmt oder getrieben werden, die unvergleichbar ist, an keinem gesellschaftlichen oder psychologischen Zusammenhang gemessen werden kann, begegnen sie in gewisser Weise einander nicht, weiß Billy nicht um Claggart, wurzelt Claggarts Wissen um Billy so tief, daß es kaum sein Wissen noch ist. Gleichzeitig wird die Unbedingtheit des Guten und des Bösen eingeschränkt, als sollte damit ein Zeichen für eine Aufspaltung gesetzt werden: Billys Stottern, das den tödlichen Schlag auslöst, ist ein Ausdruck des Bösen im Guten, während der Anblick des Guten die unwiderstehliche Heimsuchung des Bösen zeitigt. Die unvergleichbare Kraft 39 | Hannah Arendt, »On Violence«, in: dies., Crises of the Republic, San Diego, New York und London 1972, S. 161. Ich danke Antonella Moscati für den Hinweis auf diese Stelle.
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ist gleichsam in zwei Kräfte aufgespalten, so daß deren Verhältnis sowohl vergleichbar als auch unvergleichbar ist. Es zeigt sich, daß es dort, wo Moral an Entscheidungen gebunden wird, um eine Ordnung geht, in der weder das Gute noch das Böse stehen; daß aber das vergleichbar und zugleich unvergleichbare Verhältnis zwischen dem Guten und dem Bösen zu solchen Entscheidungen zwingt, die Erhaltung und Wiederherstellung der Ordnung durch es immer wieder in Frage gestellt wird. Ordnung und Verwirrung sind ihrem Wesen nach ineinander. Das Treffen einer Entscheidung muß dann die Gestalt annehmen, die es in Billy Budd annimmt. Da es sich um eine Entscheidung handelt, die nicht schon vorgesehen ist, eignet ihr das Vermittelte des Nachdenkens und das Unmittelbare des Schlags. Ist das Nachdenken ein Erbe des Bösen, das dem Guten nachstellt, und folglich ein Erbe des Guten, das das Böse nicht ruhen läßt, so ist der Schlag ein Erbe des Guten, das vom Bösen behindert wird, und folglich ein Erbe des Bösen, das zwischen die Rede fährt. Wie man sich auch entscheidet, hat die Entscheidung Folgen, die man nicht mehr rückgängig machen kann, ist sie ein letztes Wort, überdauert das zu Entscheidende aber ebenfalls die getroffene Entscheidung, bedarf es noch des letzten Worts. Vere muß seine Geschichte immer wieder erzählen, mindestens zweimal. Wenn er, alt geworden, ja älter als er im Prolog bereits war, am Ende der Oper eine Kraft in sich spürt, die nicht die des Wortes sein kann, eine Kraft, deren Bild in der Erzählung die schwindelerregende Perspektive ist, die sich vom Mast aus auftut, so streift er, aller Zweifel zum Trotz, allmählich die Moral ab. Das letzte Wort der Oper ist der Name des Schiffs, »The Indomitable«, die »Unbezähmbare«.
2.4 Das Verhalten zu einer getroffenen Entscheidung muß nicht zwangsläufig ein Entscheiden sein. Unterscheidet Derrida zwischen zwei Gestalten der Unbedingtheit, zwischen der Unbedingtheit souveräner Selbstsetzung und der Unbedingtheit des Ereignisses, so müßte man vielleicht auch unterscheiden zwischen einem Entscheiden, das in jedem Entscheiden bereits angelegt ist, und einem Verhalten zu einer Entscheidung, das sich nicht auf dem von ihr vorgezeichneten Weg bewegt, so unvorhersehbar sein Verlauf auch sein mag, das also kein Entscheiden mehr ist. Kann man von der Idee eines solchen Verhaltens noch sagen, daß sie Gedanken einer politischen Theologie philosophische Aktualität verleiht? Ohne ein Verhalten, das sich nicht als Entscheiden identifizieren läßt und das auch nicht als strategische Koordination von Entscheidungen betrachtet werden kann, setzt doch eine derartige Koordination ihrerseits eine Entscheidung voraus, eine Entscheidung für eine Strategie, die nicht souverän über den Entscheidenden und über die der Entscheidende nicht souverän verfügt, wäre das entscheidende »Ich« selber nichts als jene kontingente Ansamm-
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lung diskreter Entscheidungen, die die Entscheidung abschafft. Schmitt möchte deutlich machen, daß man nach dem Souverän fragt, danach, wem die souveräne Kompetenz zukommt, fragt man nach dem Wer der Entscheidung. Fragt aber der, der nach dem Wer der Entscheidung fragt, nach einem Verhalten, das kein Entscheiden ist, nach einem nicht-dezisionistischen Verhalten, so fragt er nicht mehr nach der Souveränität. Der Bereich, in den man mit der Frage nach einem nicht-dezisionistischen Verhalten tritt, mit einer Frage, die sich bei jeder Entscheidung stellt, darf kaum mehr politisch heißen. In dem Maße, in dem jede Entscheidung über sich hinausweist, auf das Wer verweist, das nicht schlechthin mit ihr identisch ist, und in dem das entscheidende Wer nicht wiederum von einer Entscheidung abhängig sein kann, ist eine Entscheidung nicht nur politisch. Der Wunsch, ein Anderer oder ein Anderes zu sein, den ja Julien Green zum Ausgangspunkt seines Romans Si j’étais vous… macht und der gerade dort, wo er sich von Allmachtsphantasien speist, das extensive Gegenstück zur Intensität der »Punktualisierung« sein möchte, ein Scheitern oder eine Beschränkung der Souveränität anzeigt, der stiftenden Entscheidung, wird weniger von aufeinanderfolgenden Entscheidungen erfüllt, die wechselnde Verkörperungen hervorrufen, als von einem Verhalten, das ein Offenhalten ist – nicht das Offenhalten der Unentschiedenheit oder der Unentscheidbarkeit, sondern das moralische oder ethische Offenhalten, das Entscheidungen in einen Bezug zueinander setzt, der nicht auf eine weitere oder ursprüngliche Entscheidung zurückgeführt zu werden vermag. Die allerhöchste Intensität, höher als die der »Punktualisierung« souveränen Entscheidens, konzentriert sich in diesem Verhalten. Das Wer mißt sich an ihm, an der intensiven Offenheit, ist um so weniger ein Wer, je mehr es eines ist. Diese intensive Offenheit ist bewahrend, zerstörend und ungerecht, wie man an drei Zitaten aus Jacobsens Niels Lyhne veranschaulichen kann. Sie ist bewahrend wie das Kind: »Dies stand natürlich nicht deutlich vor seinem kindlichen Bewußtsein in der Klarheit und der Bestimmtheit, wie sie das ausgesprochene Wort verleiht, aber es war alles da, unfertig, ungeboren, in vager unbegreiflicher Fötusform; es glich der seltsamen Vegetation eines Meeresbodens, durch fahles Eis hindurchgesehen; schlage das Eis in Stücke oder zieh es dunkel lebend hervor an das Licht der Worte: das gleiche geschieht, – das, was jetzt gesehen und jetzt gefaßt wird, ist in seiner Klarheit nicht das Dunkle, das war.« 40 Zerstörend ist die intensive Offenheit wie der unglückliche und ein wenig pathetische Philosoph: »Als wenn ein Gesetz entdecken etwas anderes sei als einen bestimmten Ausdruck zu finden, wie borniert man war; so weit kann ich sehen und nicht weiter, 40 | Jens Peter Jacobsen, Niels Lyhne, Frankfurt a.M. 1975, S. 25.
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dort ist mein Horizont, das bedeutete die Entdeckung und nicht mehr; denn war da nicht ein neuer Horizont hinter dem ersten und abermals ein neuer, und wieder ein neuer, Horizont hinter Horizont, Gesetz hinter Gesetz bis in eine Unendlichkeit!« 41 Schließlich ist die intensive Offenheit ungerecht wie ein Liebender, unvereinbar mit dem Maß des Vergleichs, des Kommensurablen: »Denke nicht daran, wer recht hat, auch nicht an die Größe des Unrechts; du sollst nicht gerecht gegen ihn sein; denn wohin würden die Besten von uns mit Gerechtigkeit kommen; nein, aber denke an ihn, wie er in der Stunde war, als du ihn am heißesten liebtest. Glaub mir, er ist dessen würdig, du sollst nicht messen, nicht abwägen.« 42
41 | Ebd., S. 31f. 42 | Ebd., S. 219f.
Drittes Modell: Anerkennung und Selbsttäuschung
3.0 Wenn die Forderung nach Anerkennung immer eine doppelte Forderung ist, sich in eine Forderung nach Bestätigung und in eine Forderung nach Stiftung aufspaltet, das Anzuerkennende der Anerkennung vorausgeht und gleichzeitig durch sie erst ins Leben gerufen wird, dann stellt sich fast unweigerlich die Frage nach der Selbsttäuschung. Kann sich jener, der Anerkennung fordert, nicht über seine eigene Forderung täuschen, über das, was er fordert, in dem Maße, in dem er noch nicht der ist, der er schon ist, in dem Maße also, in dem die Bestätigung auch eine Stiftung sein soll? Die Auseinandersetzung zwischen Wotan und Brünnhilde im zweiten und dritten Aufzug der Walküre kann als Beispiel dienen, dessen Untersuchung den Konflikt zwischen den beiden Forderungen erhellen mag, die in der Forderung nach Anerkennung enthalten sind, und zwar genau an dem Punkt, an dem die Frage nach der Selbsttäuschung gestellt werden muß. Zunächst läßt sich anmerken, daß an kaum einer anderen Stelle des Rings der Übergang von der mythischen Kraft zur Kraft der Psychologie, von der Kraft der »Urtümlichkeit« zu der der »Modernität«, die Thomas Mann bekanntlich als die eigentümlichen Kräfte der Wagnerschen Musik identifiziert, deutlicher zum Ausdruck kommt. Vielleicht hat auch deshalb Patrice Chéreau in seiner Bayreuther Inszenierung den Ehekrach und 1 | Vgl. dazu: Alexander García Düttmann, Zwischen den Kulturen, Frankfurt
a.M. 1997, passim. 2 | Thomas Mann, »Leiden und Größe Richard Wagners«, in: Leiden und Größe der Meister, hg. von P. de Mendelssohn, Frankfurter Ausgabe in Einzelbänden, Frankfurt a.M. 1982, S. 721 und S. 802.
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die erste Auseinandersetzung zwischen Vater und Tochter in ein großbürgerliches Interieur verlegt, in Wotans Ankleidezimmer, so daß der Gruß der eintretenden Gattin ironisch den Übergang des Mythischen ins Psychologische reflektiert: »Wo in Bergen du dich birgst, / der Gattin Blick zu entgehen, / einsam hier / such ich dich auf, / daß Hilfe du mir verhießest.« Was soll man aber unter diesem Übergang der einen Kraft in die andere verstehen? Legt man den Schwerpunkt auf die »Psychologie« oder die »Modernität«, so muß die Antwort lauten: einen Prozeß der Subjektivierung, ohne den unverständlich bleiben müßte, daß in dem vorliegenden Zusammenhang von Anerkennung gesprochen werden soll; oder: einen Prozeß der Rationalisierung, ohne den unverständlich bleiben müßte, daß in dem vorliegenden Zusammenhang von Selbsttäuschung gesprochen werden soll. Donald Davidson erinnert daran, daß sich nur ein Subjekt, das sich die »meiste Zeit« im Einklang mit den »grundlegenden Normen der Rationalität« befindet und verhält, selbst täuschen und folglich irrational handeln kann. Legt man hingegen den Schwerpunkt auf den »Mythos« oder die »Urtümlichkeit«, so muß die Antwort auf die Frage, was man unter dem Übergang verstehen soll, lauten: den vielleicht unüberwindbaren Widerstand, ohne den unverständlich bleiben müßte, daß sich die Forderung nach Anerkennung, von der gesprochen werden soll, in einen Konflikt verstrickt; oder: die vielleicht unauflösbare Irrationalität, ohne die unverständlich bleiben müßte, daß in dem Konflikt der Anerkennung eine Selbsttäuschung stattfinden kann. Dann läßt sich anmerken, daß Wagner in seinen Werken, auch und vor allem in der Walküre, eine Art visual culture pflegt, wie es neumodisch heißt, als Dichter und vielleicht als Komponist, wenn anders die charakteristischen Leitmotive sich als wiedererkennbare »Bildchen« begreifen lassen, wie Adorno es ausdrückt. »Doch dich kannt ich / deutlich und klar; / als mein Auge dich sah, / warst du mein Eigen« (W, 599), singt Sieglinde, nachdem die unvermittelt hereinbrechende Frühlingsnacht die Winterstürme vertrieben hat. Bruder und Schwester erkennen sich als Liebende und als Geschwister. Adorno ist aufgefallen, daß es bei Wagner Liebe fast immer nur »auf den ersten Blick« gibt. Diese entwicklungslose Unmittelbarkeit hat er als Zweideutigkeit interpretiert, die dem Archaischen an-
3 | Richard Wagner, Die Walküre, in: Die Musikdramen, München 1978, S. 604. [Im Text mit dem Sigel W abgekürzt.] 4 | Donald Davidson, »Incoherence and Irrationality«, in: ders., Problems of Rationality, Oxford 2004, S. 197. 5 | Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, in: Gesammelte Schriften, Band 13, hg. von G. Adorno und R. Tiedemann, Frankfurt a.M. 1971, S. 43.
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haftet, wo es in die Zivilisation hineinragt. Über Sieglindes Begegnung mit ihrem Vater Wotan, der inkognito erscheint, heißt es: »An dem Blick / erkannt ihn sein Kind.« (W, 601) Wotan wirft in der ersten Textfassung seiner Gattin Fricka vor, sie sehe nur das eine: »Das andre sehe ich, das jenes mir jagt aus dem Blick.« (W, 889 – Anhang) Das Unwichtige, auf das sich Frickas Auge allein richten soll, bezeichnet Wotan auch als das »Gewohnte« (W, 607) – eine eingeübte Praktik, für die es kaum eines aufmerksamen Blickes bedarf. Der Bruch mit der Tochter Brünnhilde im dritten Aufzug wird eingangs als Verbannung aus Wotans »Angesicht« (W, 641) beschrieben. Die Walküre, die den Grimm des Gottes mildern möchte, bittet ihren Vater, ihr »ins Auge« zu sehen (W, 643), in das Auge, von dem sie sagt, es habe für den Vater gesehen, an seiner Stelle, als dieser den Blick abwandte (W, 644) und nicht mehr dort hinsah, wo er hätte hinsehen sollen. Die letzte Begegnung zwischen Gott und Walküre, Vater und Tochter, endet damit, daß Wotan wie zum Segen »sie lange auf beide Augen« (W, 650) küßt, nachdem sie ihn umschlungen, das Haupt zurückgeworfen und ihm »feierlich ergriffen« ins Auge geschaut hat. Chéreau hat nicht nur einen Holzrahmen mit einem Kippspiegel in Wotans Ankleidezimmer gestellt und den Gott in dem Augenblick sein lebensgroßes Bild betrachten lassen, in dem er in Gegenwart seiner Tochter Brünnhilde, der Verlängerung oder dem Spiegelbild des eigenen Willens, ein Zwiegespräch mit sich selber führt. Er hat auch dem Libretto eine Regieanweisung hinzugefügt: Wotan nimmt die Binde ab, die sein blindes Auge kaschiert, als könne oder wolle er das eine und das Andere sehen, wenn es darum geht, sein Verhalten zu erwägen, zu erklären, zu rechtfertigen. Die visual culture, die Wagner
6 | Ebd., S. 111. 7 | Das Motiv des Augenkusses kehrt in Thomas Manns Erzählung »Wälsungenblut« wieder. Hier küßt Sieglinde den schönen, zarten, brutalen Zwillingsbruder Siegmund auf die »geschlossenen Augen«, eine Geste narzißtischer Abschirmung im bürgerlichen Interieur, das sich gleichsam selber fühlt (Thomas Mann, »Wälsungenblut«, in: Frühe Erzählungen, hg. von P. de Mendelssohn, Frankfurter Ausgabe in Einzelbänden, Frankfurt a.M. 1981, S. 523). Jacques Derrida verbindet einmal die theoretische Frage, die Frage des Sehens und des Lichts, ohne das nichts erscheinen und erkannt werden kann, mit der ethischen Frage, mit der Frage nach der Beziehung zum Anderen und zu sich selber: »Solange du mich nicht mit deinen Augen berührt haben wirst, solange du meine Augen nicht berührt haben wirst, als wären sie Lippen, wird es dir nicht möglich sein, ›ein Tag‹ oder ›eines Tages‹ zu sagen. Und auch nicht ›Leb wohl‹: guten Tag, auf Wiedersehen, sei gegrüßt, gib auf dich acht, ich bete, damit du mich eines Tages überlebst.« (Jacques Derrida, Le toucher, Jean Luc Nancy, Paris 2000, S. 13)
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pflegt, weist auf die Bedeutung des Sehens als »Eräugen«, als Erkennen und Wiedererkennen hin, damit auf die des Nichtsehens als Täuschung. Dieses Sehen ist aber immer mehr als nur eine theoretische Anschauung, die sich dem Irrtum aussetzt, zumindest insofern als es seine Bedeutung in einem politischen und in einem ethischen Zusammenhang gewinnt, in dem einer Beziehung zu Anderen und zu sich selber. Der Gedanke an die Anerkennung, an eine, ja vielleicht sogar an die bevorzugte Gestalt, die das Sehen oder die Betrachtung in der Beziehung zu Anderen und zu sich selber annimmt, liegt also nahe, ebenso wie der einer Täuschung als Selbsttäuschung.
3.1 Wie entfaltet sich in der Walküre der Konflikt, der als Konflikt zwischen den beiden Forderungen der Anerkennung angesehen werden kann und der zumindest in diesem Fall mit dem Problem der Selbsttäuschung einhergeht, des bewußten und doch vernünftig unerklärlichen Nicht-Sehens seiner selbst? Zwischen Wotan und Fricka, den beiden Göttern, die sich sowohl von archaisch-chthonischen Urmächten wie den Riesen und der allwissenden Erda unterscheiden als auch von den prosaischen Menschen, etwa den Gibichungen, kommt es im zweiten Aufzug der Oper zu einem Ehekrach, in dem der Zorn des Gatten auf den Unmut der Gattin trifft. Nach der heroisch romantischen Emphase des ersten Aufzugs geschieht ein Stimmungswechsel, der ein anachronistisches Element in die Oper einführt, an dem sich der ästhetische Ernst bricht, das den ästhetischen Ernst kompromittiert: »Es ist [Wagner] sehr ernst damit, zu Tränen ernst – aber nicht ganz, und also gar nicht«, stellt Thomas Mann mit unverminderter Konsequenz fest, ohne den Folgen dieses Bruchs im Werk Wagners nachzugehen. Brünnhilde singt: »Dir rat ich, Vater, / rüste dich selbst; / harten Sturm sollst du bestehn. / Fricka naht, deine Frau«. Wotan, der sich im Siegfried als »Stürmebezwinger« apostrophiert,10 seufzt zornig: »Der alte Sturm, / Die alte Müh.« (W, 604) Das sogenannte Zornmotiv, das hier erklingt, wird dem abgeklärt enervierten Gatten zugeordnet. Die nahende Fricka tritt als Ehehüterin auf, die für die Erhaltung der bestehenden sittlichen Ordnung sorgt, weil sie jeden Verstoß gegen diese Ordnung, der ungestraft bleibt, als Bedrohung für die hierarchisch aufgebaute Welt wertet, an deren Spitze die Götter stehen. Bei Chéreau verschmäht sie es nicht, verführerische Koketterie als Trick einzusetzen, mit dem die 8 | Heidegger definiert in seinem Vortrag »Identität und Differenz« das »Er-
äugen« als ein »Er-blicken, im Blicken zu sich Rufen, An-eignen« (Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1978, S. 24f.). 9 | Thomas Mann, »Leiden und Größe Richard Wagners«, S. 748. 10 | Richard Wagner, Siegfried, in: Die Musikdramen, S. 719.
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Ehefrau die Oberhand behalten will. Wollte man Frickas Rede zusammenfassen, so könnte man ihre Position als die der Selbsterhaltung durch das Verbot der Grenzübertretung identifizieren. Da die Göttin ihrem Mann Betrug in der Ehe vorwirft, kann sie es nicht vermeiden, den Verdacht zu wecken, daß sich das persönliche mit dem sachlichen Interesse vermischt, was den Anachronismus fortsetzt. Wotans Position unterscheidet sich von der Frickas nicht dadurch, daß er das Interesse an der Selbsterhaltung hintanstellt, sondern dadurch, daß er die Ordnung und mit ihr die Selbsterhaltung durch die Grenzübertretung zu sichern sucht, also durch die Zerstörung der Ordnung, dadurch, daß er die Selbsterhaltung aufs Spiel setzt. Deshalb beschwört Wotan nicht die Willkür ungebundener Macht, sondern ein älteres Gesetz, das der »Leibes- und Liebeskraft«, das der »Lebensmacht«. Auf Frickas anklagende Frage in der ersten Textfassung »Wohin rennst du, / rasender Gott, / reißest die Schöpfung du ein, / der selbst das Gesetz du gabst?«, antwortet Wotan: »Des Urgesetzes / walt ich vor allem.« (W, 892 – Anhang) Fricka insistiert auf der Wahrung der Sitten, die sie »ewig« hütet, da ohne eine solche Wahrung der willkürlichen Gewalt Tür und Tor geöffnet werden. Ihre konservative Haltung begreift sie als Bewahrung vor einer Gewalt, die als willkürliche unterminierend wirkt, sich gegen die Ordnung und die Selbsterhaltung richtet, die die Ordnung verbürgt. Wotan hingegen insistiert darauf, daß gerade der unbeugsame Konservatismus, das bewahrende »ewige« Hüten der Sitten, gewaltsam willkürliche Züge annehmen muß, die Züge einer losgelösten und unterdrückenden Macht, durch die die Welt sich in ihr Gegenteil verkehrt und die darum sich selber unterminiert. Daß Wotan in dem Moment, in dem er der Unmöglichkeit gewahr wird, sich gegen die Rede seiner Gattin durchzusetzen, sofort bereit ist, aufzugeben und den eigenen Untergang zu wollen, das Ende der Ordnung und der Selbsterhaltung, indiziert folglich zum einen, daß er ein Hasardeur ist, ein Spieler, ein Revolutionär, ein Bombenleger, dessen anarchischer Impuls sich jederzeit gegen sich kehren kann. Die selbstmörderische Widerwendigkeit gehört zum anarchischen Impuls, zu dem, was den Impuls in einen anarchischen verwandelt. In diesem Sinn personifiziert jeder Revolutionär virtuell die »Phantasmagorie der begrabenen Revolution«, die Adorno in der Figur des Wotan ausmacht,11 unabhängig davon, ob die Revolution gelingt oder mißlingt, der Revolutionär resigniert oder nicht. Schillert nicht auch der anarchische Impuls zwischen dem Dienst, den er dem Konservatismus leisten soll, dessen Ziele Wotan nicht weniger verfolgt als Fricka, und einer Anarchie, die sowohl für eine Utopie der 11 | Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, S. 126.
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Liebe und des Lebens als auch für den Tod einstehen kann? Wollte man hier den biographistischen Kurzschluß ausnahmsweise nicht scheuen, so könnte man daran erinnern, daß in Viscontis großartigem Film Ludwig der Komponist Wagner seinem König unterwürfig karrieristisch begegnet, mit dem Kalkül der Selbsterhaltung, gleichzeitig, bei dem letzten Zusammentreffen, liebevoll und freundschaftlich. Zum anderen aber indiziert der ungehemmte Selbstvernichtungswille des Gottes, daß es für das Spiel mit der Ordnung und der Selbsterhaltung letztlich keine Rechtfertigung gibt, die standhält, das Spiel in den Dienst von Ordnung und Selbsterhaltung treten kann, in den Dienst des Ernstes, Ordnung und Selbsterhaltung indes das Spiel, die Unordnung und den Tod, nie wirklich anerkennen können. Der Mangel an rationaler Rechtfertigung nähert Wotan dem Mythischen an, der Irrationalität. Dieses Mythische, Irrationale, ist allerdings ein Rest, dessen sich die Rationalität, die vernünftige Rede der Fricka, nicht zu entledigen vermag. Es mag also stimmen, daß der Ring vielfach ins »Leere« und »trübgeworden Tierische« hineintreibt, wie Ernst Bloch meint,12 aber dieses Treiben hat auch einen strukturellen Grund, der im Übergang vom Mythischen zum Modernen liegt, in der Dialektik der Auf klärung. Daß hingegen, wie Bloch ebenfalls behauptet, Wotan deshalb kein Gott sein soll, sondern eine Person, weil ihm alles »Übermächtige« und »Geheimnisvolle« abgeht,13 stimmt nicht, verkürzt die Darstellung, den dargestellten Sachverhalt.
3.2 Bestätigung und Stiftung, festgelegte Norm und schöpferisches Spiel, driften in der Anerkennung der Ordnung auseinander. Anders ausgedrückt: im Verhältnis zur Ordnung, zur politischen oder zur sittlichen, sind Fricka und Wotan Verkörperungen der beiden Forderungen, aus denen die Forderung nach Anerkennung besteht, Verkörperungen aber, die jeweils die eine Forderung isolieren, um sie gegen die andere Forderung zu wenden und geltend zu machen. Für Fricka besteht die Forderung nach Anerkennung nur in einer Forderung nach Bestätigung, die sich in der Ahndung jeder Grenzübertretung äußert. Für Wotan besteht die Forderung nach Anerkennung nur in einer Forderung nach Stiftung, die sich in der Erneuerung der Ordnung durch Spiel und Unordnung äußert. Während Frickas Position in dem Maße die stärkere ist, als sie keiner weiteren Rechtfertigung bedarf, jede Bestätigung die Ordnung erhält und rechtfertigt, ist Wotans Position in dem Maße die stärkere, als sie zwar nur umständlich und durch die gefährliche Annahme blinder Flecken Rechtfertigung er12 | Ernst Bloch, Geist der Utopie, zweite Fassung, Frankfurt a.M. 1985, S. 108. 13 | Ebd., S. 118.
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langt, jede Stiftung die Ordnung jedoch dauerhafter erhält und rechtfertigt als die mechanische Bestätigung des Gegebenen. Denn sie verleiht ihr eine Lebendigkeit, die ihr sonst abgeht. Die beiden Positionen markieren zwei Extreme, an denen sich der Begriff der Anerkennung stößt, wo er als politischer Begriff gebraucht wird, als Begriff für eine Erhaltung der Ordnung, die einer Selbsterhaltung gleichkommt. Wotan, so könnte man sagen, weiß um das Brüchige, Prekäre, Ungesicherte der notwendigen Verträge, die er zum Auf bau und zur Erhaltung der Ordnung hat schließen müssen, da ihm die Macht weder durch das ursprüngliche Allwissen noch durch die Zauberkraft des Rings zugänglich ist. Um die Macht zu gewinnen, Verträge schließen zu können, war er gezwungen, die Sphäre des ursprünglichen Allwissens zu profanieren. Der Speer ist das Symbol von Wotans Macht, trägt die materielle Spur der geschlossenen Verträge, weil er einmal ein Ast der Weltesche war, unter der die Nornen am Schicksal strickten. Als der Gott den Ast abbrach und daraus seinen Speer schnitzte, verdorrte die Weltesche, verfinsterte sich das Allwissen. Auf dem ermächtigenden Ring, dessen Gewinn ihm vertraglich verwehrt ist, lastet ein Fluch, der den Besitzer unerbittlich ereilt und vor dessen fatalen Folgen Wotan gewarnt wird. Der Gott sucht also nach einem Ausweg aus einer Lage, in der die dauerhafte Beibehaltung der Macht, die die Ordnung erhält, an deren Spitze er steht, höchst ungewiß scheint, sei es, daß bloße Verträge die Gewalt des Stärkeren oder Schlaueren nicht wirksam in Schach halten, »die Freiheit der ausweichenden Bewegung rauben und damit das Chaos wieder herstellen helfen«, wie Adorno schreibt,14 sei es, daß die eigene Macht, die die bestehende Ordnung gestiftet hat, auf der Verdrängung, Unterdrückung, Ausrottung der vormals herrschenden Mächte beruht und deren Mittel sich nicht mehr zunutze machen kann, sei es, daß Versuche, anders als durch Verträge Macht zu beanspruchen, nämlich durch Usurpation, in die schlechte Unendlichkeit der blinden Gewalt geraten, in das zerstörerische Auf und Ab von Schlag und Gegenschlag. An der Szene, die auf den Ehekrach folgt, in der also der Gott seiner unehelichen Tochter Brünnhilde den Befehl erteilt, nach Frickas Wünschen zu handeln, als wären es seine eigenen, kann man den Wechsel von einem politischen zu einem ethischen Gebrauch des Anerkennungsbegriffs ablesen, mag auch im Text von Anerkennung nie ausdrücklich die Rede sein, der Begriff nicht ausdrücklich gebraucht werden. Dieser Wechsel ist, wie sich zeigen wird, mit Brünnhildes Reaktion verbunden. Wenn Wotan der Walküre befiehlt, im Namen der bestehenden Ordnung dem Helden Siegmund, den er selber gezeugt hat und der als wah14 | Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, S. 112.
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rer Held erscheint, 15 im Kampf gegen Hunding nicht mehr beizustehen, so kann man das politisch als Selbsttäuschung deuten, obwohl es strittig bleiben mag, ob im Fall dieses Konflikts die Bedingungen erfüllt sind, die sich von der Bestimmung der Selbsttäuschung nicht wegdenken lassen. Donald Davidson verdeutlicht, daß Selbsttäuschung eine Form von Irrationalität ist, die begrifflich Schwierigkeiten bereitet, weil sie ein Versagen »innerhalb« eines einzelnen und einzigen Subjekts anzeigt, ein Versagen der »Kohärenz oder Konsistenz«, die jene Muster zusammenhält, die von Überzeugungen, Einstellungen, Gefühlen, Absichten oder Handlungen gebildet werden. 16 Von einem Konflikt kann man dann sinnvoll sprechen, wenn die Gründe für und gegen die Wahl einer möglichen Handlungsweise beinahe ebenso einsichtig sind wie die Gründe für und gegen die Wahl einer anderen möglichen Handlungsweise, die die erste ausschließt oder sich mit ihr als unvereinbar erweist. Daß man sich bei der Lösung eines Konflikts nicht inkohärent oder inkonsistent verhalten muß, läßt sich durch die Einführung eines »Prinzips zweiter Ordnung« erklären, des Prinzips der eigenen Urteilskraft. 17 Denn jedes Mal, wenn man in einer Konfliktsituation eine mögliche Handlungsweise nach bestem Wissen und Gewissen wählt, wenn also ein Verhalten nicht von einer mentalen Ursache bedingt wird, die kein vernünftiger Grund ist, verhält man sich nicht irrational, täuscht man sich nicht selber, muß man, um von dem Verhalten Rechnung abzulegen, nicht auf die mit der Psychoanalyse geteilte »Idee einer Aufsplitterung des Geistes« 18 in »quasi-autonome Teile« rekurrieren, zwischen denen »nicht-logische kausale Beziehungen« 19 wal15 | Ebd., S. 142. 16 | Donald Davidson, »Paradoxes of Irrationality«, in: ders., Problems of Rationality, S. 170. Nachdem er auf Augustinus hingewiesen und die Frage nach der Möglichkeit der Selbsttäuschung (oder der »Selbstlüge«) aufgeworfen hat, schreibt Derrida: »Das Selbst, wenn dieses Wort denn einen Sinn hat, schließt die Selbsttäuschung aus.« (Jacques Derrida, »Histoire du mensonge. Prolégomènes«, in: Jacques Derrida, Cahier de L’Herne, S. 516) Die Möglichkeit der Selbsttäuschung beinhaltet die einer »teilbaren oder gespaltenen Ipseität«, einer Ipseität, die von einem »anderen Selbst« von sich getrennt wird, von einem »Selbst als Feind« des Selbst. 17 | Donald Davidson, »Paradoxes of Irrationality«, S. 177. 18 | Ebd., S. 181 (Fußnote). 19 | Ebd., S. 185. Vgl. dagegen Sartres Kritik an einer psychoanalytischen Erläuterung der Selbsttäuschung, die den Gegensatz durch Trennung des Gegensätzlichen und Verteilung auf zwei Ebenen verdinglicht und so die »Unaufrichtigkeit« verfehlt: »Die Erklärung, die sich auf das Unbewußte beruft, zerstört die psychische Einheit und kann nicht mehr von den Tatsachen Rechenschaft ablegen, die ihr auf den ersten Blick zugehören.« (Jean-Paul Sartre, L’être et le néant, S. 89) Zu
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ten. Der Konflikt, dem Wotan ausgesetzt ist, ist ein Konflikt zwischen einem rationalen Prinzip der Selbsterhaltung und einem Prinzip der Selbsterhaltung, das ein irrationales Moment in sich schließt. Erkennt man diesem Prinzip jede Rationalität ab, wie Fricka es zu tun scheint, erblickt man darin nur einen unverantwortlichen Wagemut, dann muß man die Verteidigung ihrer Position als Bemühung interpretieren, den Gatten in einem heiklen Zusammenhang, in dem die Grundsätze des Politischen auf dem Spiel stehen, die Erhaltung der Ordnung und die Selbsterhaltung, vor einer Selbsttäuschung mit schrecklichen Folgen zu schützen. Für Fricka gibt es keinen Konflikt. Wotan weiß eigentlich, daß er sich so nicht verhalten sollte, wie er sich verhält, da er der »Schöpfung« das Gesetz verliehen hat, das er unauf hörlich übertritt, als würde das Gesetz nicht nur seine Übertretung kausal motivieren, ohne daß ein vernünftiger Grund für sie einsichtig wäre, sondern als würde das Festhalten am Gesetz die Übertretung perpetuieren.20 Fricka verschließt sich, so könnte man es auch formulieren, der »Selbstkritik«,21 die insofern als »Selbsttäuschung« gewertet werden kann, als Unvereinbarkeit herrscht zwischen den Kriterien, an denen sich die Begründung der Kritik ausrichtet, und den Kriterien, an denen sich die Begründung des Kritisierten orientiert. Ist man dagegen bereit, das Prinzip, das ein irrationales Moment in sich schließt, als eines anzuerkennen, das die Bewährung der Rationalität erlaubt, wie Wotan es zu tun scheint, besteht in der Tat ein Konflikt, ist die Selbsttäuschung gleichsam das Risiko, das man eingeht, um der Selbsttäuschung zu entgehen. Was Wotans diesen Tatsachen gehört die Selbsttäuschung: »Das Wesen der reflexiven Idee eines ›Sich-vor-sich-selber-etwas-Verbergen‹ beinhaltet die Einheit eines und desselben Seelenlebens und daher eine doppelte Tätigkeit im Schoß der Einheit, wobei einerseits die zu verbergende Sache erhalten und gekennzeichnet, andererseits sie aber verborgen und verdrängt wird; jeder der beiden Aspekte dieser Tätigkeit ergänzt den anderen, impliziert ihn also in seinem eigenen Sein.« (Ebd., S. 87) Thomas Khurana bemerkt, daß Davidson sich auf der zitierten Seite an Freuds Modell der Ichspaltung orientiert, nicht an dem der Verdrängung, und fragt, ob man die Spaltung der Einheit nicht von einer »Spaltung in der Einheit« unterscheiden muß. (Private schriftliche Mitteilung, AGD) Muß aber eine Spaltung in der Einheit nicht die Einheit produzieren, so daß man sich dann wiederum fragen muß, ob die Spaltung von der Einheit abhängt und also am Ende nur eine vorläufige oder begrenzte Spaltung ist, oder ob Spaltung und Einheit in einer Spannung stehen, die sich gegen die Einheit auswirken oder sie zumindest affizieren muß? 20 | Donald Davidson, »Deception and Division«, in: ders., Problems of Rationality, S. 208. 21 | Donald Davidson, »Paradoxes of Irrationality«, S. 187.
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Handlungsweise aus solcher Sicht mit dem Begriff der Selbsttäuschung gemein hat, ist ein unvermeidlicher Einsatz des Irrationalen. Denn so wie der Gott durch Unordnung eine dauerhafte Ordnung erhalten will, so muß der Philosoph, der den Begriff der Selbsttäuschung zu entfalten versucht, zugeben, daß er dies nur kann, wenn er der Begrifflosigkeit ihren Teil nicht vorenthält. Folgt man Davidson, rührt das »Paradox der Irrationalität« daher, daß dort, wo irrationale Phänomene wie Selbsttäuschung allzu überzeugend erklärt werden, man sie in eine »verkappte Form von Rationalität« verkehrt, während dort, wo man zu sparsam mit Erklärungen umgeht, die Fähigkeit zur Erkennung der Symptome irrationalen Verhaltens beeinträchtigt wird, der rationale Hintergrund sich verdunkelt, vor dem die Rechtfertigung einer solchen Diagnose einzig möglich ist.22 Davidsons Kohärenzmodell der Rationalität stößt also im Zusammenhang mit den Erklärungsversuchen, die sich auf Irrationalität richten, zweimal an eine Schranke: dort, wo der Begriff der Irrationalität selber gefaßt werden soll, und dort, wo Selbstkritik weder als ein irrationales Phänomen erklärt noch unter dem Begriff der Rationalität subsumiert werden kann, obwohl sie als »Wesen der Rationalität selbst und als Ursprung der Freiheit« angesehen worden ist: »Eine Theorie, die Irrationalität nicht erklären könnte, wäre eine Theorie, die auch nicht unsere heilsamen und nützlichen Anstrengungen zur Selbstkritik und Selbstbesserung erklären könnte, ja unsere Erfolge bei diesen Anstrengungen.«23 Der Streit zwischen Fricka und Wotan kreist nicht um den Vormachtsanspruch des Gottes, darum, daß die Ordnung, die er hervorgebracht hat, erhalten werden soll, mag auch Fricka den Verdacht hegen, daß ihr Gatte umstürzlerische Tätigkeiten betreibt. Er kreist vielmehr darum, was es heißt, diese Ordnung und Wotan selber als ihren Schöpfer und ihren Hüter anzuerkennen. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß nur deshalb, weil die politische Anerkennung sich in eine Forderung nach Bestätigung und in eine Forderung nach Stiftung aufspaltet, es folglich zwischen beiden zu einer Polarisierung kommen kann, eine konservative und eine revolutionäre Position aufeinanderprallen und sich die Frage nach der Selbsttäuschung stellt, nach Konsistenz und Kohärenz. Wie steht es nun um den Übergang von einer politischen zu einer ethischen Anerkennung nach dem Aufprallen jener beiden Positionen? Wie stellt sich die Frage nach der Selbsttäuschung im Hinblick auf einen ethischen Gebrauch des Anerkennungsbegriffs?
22 | Ebd., S. 185. 23 | Ebd., S. 187.
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3.3 Wotan ist ein Dialektiker. Von der Schaffung eines »freundlichen Feindes« verspricht er sich die eines Auswegs aus seiner ausweglosen Lage, eines Auswegs, den Fricka dann versperrt: »Wie macht ich den Andren, / der nicht mehr ich, / und aus sich wirkte, / was ich nur will?« (W, 615)24 Fricka versperrt den Ausweg, indem sie den Tod dieses Anderen, dieses »freundlichen Feindes« fordert. Siegmund, Sprößling einer göttlichen Eskapade, hat bekanntlich die Schwester Sieglinde zum Ehebruch angestachelt und ist mit ihr ein inzestuöses Verhältnis eingegangen. Die Walküre aber waltet nicht frei, ist kein Anderer, kein »freundlicher Feind«. Für den »haltenden Haft« (W, 611) des väterlichen Willens stellt sie keine Gefahr dar. Deshalb kann Wotan, dessen Wille von Fricka gebeugt worden ist und der seinem »heftigen inneren Kampf« (W, 609) durch die Anerkennung der konservativen politischen Gegenposition ein Ende gesetzt hat, im Angesicht seiner Tochter, die nach dem Abgang der Gattin erneut auftritt, ein Zwiegespräch mit sich selber führen, das an Brünnhilde gerichtet ist, als wäre sie ihr Vater, als würde er zu sich reden, wenn er sie anredet. Der Befehl, den er schließlich der Walküre erteilt, dem Helden Siegmund im Zweikampf den Beistand zu verweigern, wird also durch die ausführliche rekapitulierende Auseinandersetzung mit sich selber in einen Zusammenhang gerückt, in den Zusammenhang eines Konflikts, der sowohl ein äußerlicher Konflikt ist, der Konflikt des vertraglich Gebundenen, als auch ein Konflikt im Inneren, der Konflikt dessen, der um der Möglichkeit willen sich am Unmöglichen versucht. Schreibt Nietzsche in seiner vierten »Unzeitgemäßen Betrachtung«, Wagner habe sich zeitlebens gefragt, wie es möglich sei, dort, wo überall »Fesseln und Fallgruben« seien, »Treue zu halten, ganz zu bleiben«, so kann man diese Frage auch als die Wotans begreifen.25 24 | Vgl. dazu folgende Stelle aus Schellings Deutung der Dreifaltigkeit in der Potenzenlehre seiner Philosophie der Offenbarung: »Doch findet hier das Besondere statt, daß der Vater seinen wahren Willen nicht unmittelbar zeigen kann, daß er unmittelbar nur das Contrarium, das Widerspiel von dem, was er eigentlich will, darzulegen vermag, die Nicht-Einheit statt der Einheit […]; eben dies legt ihm die Notwendigkeit auf, seinen wahren Willen in den Sohn zu legen, indem er das, was er eigentlich will, nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar, also nur durch eine zweite Persönlichkeit erreichen kann, in die er seinen Willen legt.« (F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, zwei Bände, unveränderter reprographischer Nachdruck der aus dem handschriftlichen Nachlaß herausgegebenen Ausgabe von 1858, hg. von K.F.A. Schelling, Band 1, Darmstadt 1990, S. 325) 25 | Friedrich Nietzsche, »Richard Wagner in Bayreuth«, in: ders., Unzeitgemäße Betrachtungen, Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, München 1988, S. 440.
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Die Walküre, die dem Vater zuhört, vermag sich demnach zu Wotans Befehl zu verhalten. Den Freiheitsraum für dieses Verhalten schafft der Vater, da er seinen Willen als einen vorstellt, der mit sich hadert oder gehadert hat, mit den Gründen für eine Entscheidung. Es ist beinahe, als wolle Wotan bewußt oder unbewußt dem Befehl, mit dem seine Rekapitulation endet, die Grundlage entziehen. Denn im Gegensatz zu einer Forderung nach Anerkennung, die durch die Aufspaltung in eine Forderung nach Bestätigung und eine Forderung nach Stiftung, stets einen Zusammenhang hervorbringt, muß der Befehl letztlich jeden Zusammenhang durchschneiden, fordert er wie das Gebot zur Befolgung auf, gleichgültig, in welchem Zusammenhang er stehen oder welchen Zusammenhang er seinerseits hervorbringen mag. Ist die Götterdämmerung nicht vielleicht darin angelegt, daß Wotan seiner Tochter einen Befehl erteilt, den er gleichzeitig zurücknimmt, bevor er ihn erteilt, daß er auf der einen Seite zwar verzweifelt dem revolutionären Prinzip absagt, auf der anderen Seite ihm jedoch die Treue hält, indem er Brünnhilde in seinen Konflikt einweiht, sie, die seinen Willen angeblich ungebrochen reflektiert, als einen »freundlichen Feind« behandelt? Die Götterdämmerung wäre aus dieser Sicht das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Kalküls des Inkalkulablen, das vom Kalkulierenden mit Kalkül verdeckt worden ist. Brünnhilde, die zunächst den Vater ermahnt, den Befehl zurückzunehmen, zieht in den Kampf, um Siegmunds Gegner beizustehen, obwohl Wotans »zwiespältig Wort« (W, 618) schwer auf ihrer Entschlußkraft lastet, als würde sich zwischen dem Willen des Vaters und dem Willen der Tochter ein Spalt öffnen, den kein Wille zu überbrücken oder zu schließen vermag. Mitgefühl mit Siegmund führt dann dazu, daß Brünnhilde sich dem erteilten Befehl widersetzt. Wotan sieht sich durch diesen Widerstand genötigt, in den Kampf einzugreifen. Er muß die Einheit seines Willens behaupten, die sein Befehl wiederherstellen sollte, nachdem Brünnhilde diese Einheit Lügen gestraft, den Konflikt bloßgestellt, eine andere Einheit gegen die behauptete Einheit ins Feld geführt hat. Denn Brünnhildes Widerstand entspringt nicht dem Trotz, der dem Vater als bloße Verstocktheit oder als Selbsttäuschung erscheinen muß. Der Widerstand der Tochter wirkt um so unheimlicher auf Wotan, als er darin das Symptom des Konflikts erkennen muß, der ihn selber heimgesucht hat. Brünnhilde ist keine Antigone, die im Namen der Liebe handelt, der Pflicht gegen das höhere Gesetz, und dadurch bewußt mit der Macht kollidiert, die auf dem niedrigen Gesetz beruht. Schon deshalb nicht, weil Wotan seinerseits kein Kreon ist, dessen Unnachsichtigkeit und Uneinsichtigkeit von der Furcht vor der allgemeinen Korruption gespeist werden, der also allein in Begriffen der Stabilität und Instabilität der hergestellten und zu bewahrenden Ordnung denkt. Wotan hadert mit sich, zerrissen nicht nur zwischen zwei
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Prinzipien der Selbsterhaltung, sondern zwischen dem Prinzip der Selbsterhaltung überhaupt und der Liebe für den Anderen. »Du liebst Siegmund: / dir zulieb, / ich weiß es, schütz ich den Wälsung« (W, 617), entgegnet Brünnhilde ihrem Vater. Vielleicht weiß Fricka, daß sich die eigentliche Gefahr, die in dem Verhalten ihres Gatten lauert, aus der Nähe des anarchischen Elements zur Liebe ergibt, zu einem Gefühl, für das es in der Logik der politischen Selbsterhaltung und ihrer Anerkennung keinen Platz geben kann. Indem sie sich dem Befehl des Vaters widersetzt, handelt Brünnhilde für ihren Vater, so, wie es in der griechischen Tragödie, die der Ring durch Reflexion zersetzt,26 Kreons Sohn tut, Hämon. Ihre Auflehnung, die Wotan nicht dulden will, besteht am Ende in dem Übergehen von einer politischen zu einer ethischen Anerkennung, das nicht willkürlich geschieht, sondern aus Treue zu dem väterlichen Willen; ja man müßte sogar sagen: Brünnhildes Auflehnung, für die sie von Wotan fürchterlich bestraft wird, besteht in einem Verhalten, das die einfache Befolgung eines Befehls in eine Anerkennung verwandelt. Diese Verwandlung impliziert, daß Brünnhilde über den Vater urteilt, daß sie in dem erteilten Befehl nichts anderes sieht als eine Selbsttäuschung. Die Walküre fragt sich nicht, was Wotan dazu verhelfen mag, seine Macht in der Welt zu erhalten und zu festigen. Sie nimmt an dem Streit mit Fricka, in dem es um diese Frage geht, keinen Anteil. Die Frage, die sie sich zu stellen scheint, lautet vielmehr: Wie verhält sich mein Vater zu sich und zur Welt? Oder: Wie hält er sich in der Welt? Oder: Wer ist er und was will er wirklich, was ist sein Ethos, wenn er sich zu sich, zu Anderen, zur Welt öffnet? Der Unterschied zwischen einem politischen und einem ethischen Gebrauch des Anerkennungsbegriffs ist damit markiert.
3.4 Daß Brünnhilde »Wotans innerstem Wunsche« zu entsprechen sucht, wie es bei Nietzsche heißt,27 daß sie nach dem »wahren Willen« des Vaters handelt, wie Thomas Mann es formuliert,28 beinhaltet, daß der Vater durch die Zurücknahme des ursprünglichen Befehls, des Befehls, dem geliebten Sohn und »freundlichen Feind« Siegmund beizustehen, ein Verhalten ermöglicht hat, das als solches jede Ausführung eines Befehls übersteigt. Zwar beansprucht Brünnhilde im dritten Aufzug, den erteilten 26 | Bloch wirft Wagner vor, Brünnhildes Schicksal sei »traurig«, nicht »tragisch-notwendig«, deshalb, weil es nicht aus dem Konflikt einer »echten Handlung« hervortrete (Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 119). 27 | Friedrich Nietzsche, »Richard Wagner in Bayreuth«, S. 439. 28 | Thomas Mann, »Richard Wagner und der ›Ring des Nibelungen‹«, in: Leiden und Größe der Meister, S. 795.
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Befehl ausgeführt zu haben, ihr Anspruch bedeutet aber an dieser Stelle nichts anderes, als daß sie sich zu Wotans Befehlen verhalten hat, zu dem zurückgenommenen und zu dem an seiner Stelle erteilten, um über die Wahrheit des Gewollten oder Befohlenen zu entscheiden und entsprechend zu handeln. Wo das Verhalten sich in einer solchen Entscheidung ausdrückt, in einer Entscheidung, die mit dem »innersten Wunsche« oder dem »wahren Willen« des Anderen zu tun hat, also mit der Möglichkeit der Selbsttäuschung, vor der der Andere bewahrt werden soll, ist es ein ethisches Verhalten, ein Anerkennen, das nicht auf die Selbsterhaltung der Ordnung zielt, sondern auf das Ethos, auf die Art und Weise, wie man sich in der Welt hält, zu sich und zu Anderen verhält. Brünnhilde handelt aus Liebe zu ihrem Vater, will ihm beistehen und die Einheit seines gespaltenen Willens in dem Augenblick wiederherstellen, in dem sie feststellen muß, daß Fricka den »eig’nen Sinn« ihm »entfremdet« hat, er sich selber zum »Feind« geworden ist (W, 644). Sie behält im Auge, was Wotan sehen sollte und nicht mehr sieht, bewacht im Kampf den Rücken des Vaters, ist ihm selbstlos treu,29 bestrebt, daß der Vater »in Liebe« frei wird, »frei von sich selber«,30 von dem Konflikt, der das Uneinssein seines Willens ausmacht und die Möglichkeit der Selbsttäuschung zeitigt, aber auch frei zu sich selber, im Verhältnis zum eigenen Willen. In diesem Sinne bewundert die Walküre den Vatergott Wotan. Bewunderung, bemerkt wiederum Thomas Mann in seiner Zürcher Rede über den Ring, ist die »Quelle der Liebe«: »Sie ist schon die Liebe selbst – die keine tiefe Liebe, keine Passion und vor allen Dingen ohne Geist wäre, wenn sie nicht auch zu zweifeln, an ihrem Gegenstand zu leiden wüßte.«31 Brünnhilde verhält sich zu Wotan, da dieser selber sich in einem zweideutigen Monodialog zu ihr verhält und nicht der ist, der er ist, Minne und Macht sich in ihm trüb und triebhaft vermischen: »Von der Liebe doch / mocht ich nicht lassen, / in der Macht verlangt mich nach Minne.« (W, 612) Was die Tochter durch ihr Verhalten als Forderung nach Bestätigung begreift, verdoppelt sich, wird zu einer Forderung nach Stiftung, zumal sie Wotans revidierten, ins Gegenteil verkehrten Befehl als das Anzeichen einer Selbsttäuschung deuten muß. Wotans Strafgericht wendet sich gegen die Deutung seines Befehls als Forderung nach einem anerkennenden Verhalten, also gegen die Deutung seines Befehls als Anzeichen einer Selbsttäuschung. Die Tugend »epistemischer Besonnenheit«, die Bernard Williams dem möglichen Opfer von Selbsttäuschung empfiehlt, hilft hier 29 | Friedrich Nietzsche, »Richard Wagner in Bayreuth«, S. 439. 30 | Ebd., S. 509. 31 | Thomas Mann, »Richard Wagner und der ›Ring des Nibelungen‹«, S. 780.
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nicht weiter, da es nicht so sehr um die Vorsicht als um die episteme geht, um den keineswegs epistemisch geregelten Übergang von einem politischen zu einem ethischen »Wissen«, um den keineswegs epistemisch geregelten Übergang von einem Akt des Gehorsams zu einem Akt des Anerkennens.32 In dem Maße, in dem Brünnhilde den Willen des Vaters verlängert, zeigt in seinen Augen ihr anerkennendes Verhalten selber eine Selbsttäuschung an, die eigene als die der Tochter. Unerträglich muß Wotan aber nicht nur die Deutung des Befehls als Forderung nach einem anerkennenden Verhalten anmuten, sondern vor allem die Deutung des anerkennenden Verhaltens als eines ethischen. Vor dem Vater, der sie straft, hätte Brünnhilde ihre Auflehnung ja auch durch das Einnehmen der Position rechtfertigen können, die Wotan im zweiten Aufzug gegen seine Gattin Fricka einnimmt. Dann hätte sich der Konflikt als reiner Machtkampf dargestellt. Der politische Gebrauch des Anerkennungsbegriffs hat die Erhaltung der Ordnung zum Gegenstand, die eine Selbsterhaltung ist. Der ethische Gebrauch des Anerkennungsbegriffs hingegen meint das Ethos des Anderen, sein Verhalten und seine Haltung zu sich und zur Welt, das heißt: die Öffnung, die in der Zuwendung zu sich und zur Welt liegt und für die Liebe der Name ist, den Wagner wählt. Jener, der den Anerkennungsbegriff politisch gebraucht oder sich in einem politischen Zusammenhang anerkennend verhält, betrachtet den Bezug des Anderen zu sich und zur Welt unter dem Aspekt der Schließung und der Macht, der Einsetzung und Erhaltung einer Ordnung, mögen sie auch mit revolutionär anarchischen Mitteln erfolgen. Könnte ohne eine solche Betrachtung die Selbsterhaltung gewährleistet werden? Jener, der den Anerkennungsbegriff ethisch gebraucht oder sich in einem ethischen Zusammenhang anerkennend verhält, betrachtet das Verhalten und die Haltung des Anzuerkennenden, zu sich und zur Welt, zu Anderen in der Welt, unter dem Aspekt der Öffnung, der Offenheit und des Offenhaltens,33 ohne die jede Ordnung erstarren, jede Selbsterhaltung sich zum Untergang verurteilen würde. Das Skandalon, das mit Brünnhilde in eine Welt kommt, deren Ordnung oder Verfassung von dem Vorrang der politischen Anerkennung bestimmt wird, dem Wotan sich untergeordnet hat, manifestiert sich in einem Verhalten, in dem man 32 | Bernard Williams, »Truth, Politics and Self-Deception«, in: In the Beginning Was the Deed, hg. von G. Hawthrone, Princeton 2005, S. 156. 33 | In seinem »Brief über den Humanismus« bestimmt Heidegger das »Wesen des Ethos« im griechischen Denken als das »Offene« des menschlichen »Aufenthalts« (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1981, S. 45).
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eine ethische Anerkennung erblicken muß. Die Tochter will so den Willen des Vaters ausführen: »Wenn ich du wäre«. Sie mißt sich an der herausfordernden, unterbrechenden und letztlich unbegreif baren Selbsttäuschung des Anderen, die auch und jederzeit ihre eigene sein kann, an Nicht-X oder Y, und will dadurch dem Vater näher sein als sie es je könnte, würde sie den revidierten Befehl befolgen oder sich durch die Anerkennung der revolutionären politischen Position gegen ihn auflehnen. Brünnhilde folgt dem Willen des Anderen, wo er an eine Grenze stößt, wo Offenheit und Zuwendung nicht mehr Sache der Willensbehauptung sein können.
3.5 Nur, weil einer nicht einfach der ist, der er ist, kann ein Verhalten als Forderung nach Anerkennung und als Selbsttäuschung gedeutet werden, kann eine ethische Anerkennung an die Stelle einer politischen treten. In dem Maße aber, in dem einer nicht einfach der ist, der er ist, Anerkennung fordert, um der zu sein, der er nicht einfach ist, eine Stiftung, die weder mit einer Bestätigung zusammenfallen noch ohne jede bestätigende Beziehung zu dem Fordernden bleiben darf, muß man sich fragen, ob Selbsttäuschung lediglich ein extremer Ausdruck des Konflikts ist, den die Anerkennung zu lösen trachtet und den sie vielleicht fortsetzt, oder ob nicht das Auseinandertreten der Forderung nach Anerkennung in eine Forderung nach Bestätigung und eine Forderung nach Stiftung sowohl für den Anerkennenden als auch für den Anzuerkennenden immer den Aspekt einer Selbsttäuschung annehmen muß. Dann muß man sich jedoch ebenfalls fragen, wie sinnvoll die Rede von einer Selbsttäuschung in dem einen und in dem anderen Fall ist, in dem Normalfall und in dem Ausnahmefall. Denn die Diagnose einer Selbsttäuschung involviert, wie Davidson nachweist, einen Begriff von Kohärenz oder Konsistenz. Geht es in der Anerkennung nicht gerade darum, was im Grunde Kohärenz und Konsistenz ausmacht?
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»Essere morti o essere vivi è la stessa cosa.« Pier Paolo Pasolini, La terra vista della luna
4.0 Im Lehrsatz 67 des vierten Teils seiner Ethik behauptet Spinoza, es gebe einen Gedanken, der dem freien Menschen fast nie in den Sinn komme. Gedanken kommen uns mehr oder weniger häufig in den Sinn. Wer aber sich als frei erweist, denkt an nichts weniger als an den Tod. Der britische Philosoph Stuart Hampshire warnt davor, diesen Lehrsatz nicht wirklich ernst zu nehmen, indem man ihn auf ein »rhetorisches Beiwerk« herabmindert und seine Bedeutung für ein spinozistisches Verständnis von »Objektivität« übersieht. Der nordamerikanische Philosoph Steven Nadler spricht von einer »Verkündung« und legt damit dem Leser nahe, daß Spinoza an dieser Stelle eher eine Haltung einnimmt als einfach einen Gedanken formuliert. In der Manier eines Vorläufers und Boten der Auf klärung soll Spinoza gegen die »abergläubische Menge« argumentieren, die, von Furcht und Hoffnung bewegt, »sich über ein vermeintliches Leben im Jenseits Sorgen macht«. Alain Badiou eignet sich Spinozas Satz an und versteht ihn aus der Perspektive seiner eigenen Lehre so: »Der Tod ist nur eine Folgeerscheinung. Das Denken muß sich dem Ereignis zukehren, von dem die lokale Veränderung der Funktionen des Erscheinens abhängt.« 1 | »Tot oder lebendig – es ist dasselbe.« (Pier Paolo Pasolini, Die Erde vom Mond aus betrachtet) 2 | Stuart Hampshire, Spinoza and Spinozism, Oxford 2005 (überarbeitete Ausgabe), S. 126 und S. 128. 3 | Steven Nadler, Spinoza. A Life, Cambridge 2001, S. 349. 4 | Alain Badiou, Logiques des mondes, S. 286.
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Es ist, als wäre die Idee der Freiheit aufs engste mit der Seltenheit oder gar Abwesenheit des Gedankens an den Tod verbunden, oder als würde die Quantität eine Qualität anzeigen, eine notwendige Belanglosigkeit. Wenn wir frei sind, kommt uns der Tod kaum in den Sinn, weil der Gedanke an ihn belanglos ist, belanglos nicht für die zweifelhafte Art von Freiheit, die sich von der beschwerlichen und oft enttäuschenden Anstrengung des Denkens abwendet, sondern für jene andere Art von Freiheit, die sich im Denken ausdrückt und ausdrücken muß, in einem bestimmten Verständnis der Dinge und ihrer Notwendigkeit, in einem Begreifen der Gesetze, denen die Natur unterworfen ist. Mit anderen Worten: der Gedanke an den Tod ist nicht einmal ein Gedanke, oder er ist ein Gedanke, der einer weiteren Bestimmung bedarf. Sicherlich mag ein Philosoph über den Tod nachdenken, im Falle Spinozas über die Sterblichkeit des Körpers. Spinoza sagt, daß es keinen Grund dafür gibt, warum man nur dann von Tod sprechen sollte, wenn sich der Körper in eine Leiche verwandelt. Sobald die Regel, die das Verhältnis zwischen Ruhe und Bewegung festlegt, eine Veränderung erfährt, unterliegt die Anlage der Körperteile einer Verwandlung. Geschieht dies, so kann es schwer sein, genau auszumachen, ob ein Mensch immer noch der Mensch ist, dem wir zuvor begegnet sind. Das erste Beispiel, das Spinoza anführt, ist das eines spanischen Dichters, den Gedächtnisschwund befällt und der seine Werke nicht mehr als solche erkennt, als die eigenen Werke. Spinozas zweites Beispiel scheint zu implizieren, daß die Ursachen für die Entwicklung von Körper und Geist nicht einfach innere Ursachen sind. Es bezieht sich auf die eingreifenden Veränderungen, die während des Übergangs von der Kindheit zur Reife geschehen. In dem Maße, in dem der Geist die Idee des Körpers ist, das Denken eine Idee dessen hervorbringt, was den Körper affiziert, und unser Selbst die »Idee [ist], die wir von unserem Körper und unserem Geist bilden, als etwas, auf das etwas Anderes eine Wirkung zu haben vermag«, wie Gilles Deleuze es formuliert, kann man sagen, daß die Veränderungen, um die es Spinoza hier zu tun ist, eine Tragweite haben, die über die reine Äußerlichkeit von Körperteilen hinausreicht. Adorno, nicht gerade als Spinozist bekannt, behauptet in seinen »Meditationen zur Metaphysik«, daß die »biologische« Dimension des Todes nicht nur die physische Existenz Menschen »hohen Alters« umfaßt, sondern ebenfalls ihr Ich, »alles, wodurch sie als Menschen sich
5 | Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Lateinischdeutsch, neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von W. Bartuschat, Hamburg 1999, S. 449 (IV. Teil, Lehrsatz 39, Beweis). 6 | Gilles Deleuze, Spinoza et le problème de l’expression, Paris 1968, S. 131.
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bestimmten«. Alte Menschen scheinen zu »zerbröckeln«, obwohl sie nicht an einer Krankheit leiden oder »gewalttätigen Eingriffen« ausgesetzt sind. In einer Vorlesung aus den späten siebziger und frühen achtziger Jahren erinnert Deleuze daran, daß der Tod für Spinoza immer etwas ist, das uns gleichsam von außen trifft, und daß kein Gedanke seiner Weltsicht fremder sein könnte als der eines Todestriebs.
4.1 So besteht also wenig Zweifel daran, daß Spinoza etwas über den Tod zu sagen hat. Doch der Gedanke an den Tod resultiert aus einem Affekt der Furcht und muß als die Idee des Vorstellungsbilds einer ungewissen Sache gelten, der unergründbaren Art, in der unser Körper von außen affiziert werden wird. Wer über den Tod nachdenkt und es häufig tut, kocht sein eigenes Süppchen. Es überrascht kaum, daß Spinoza den Selbstmord verwirft, auf den der wiederholte Gedanke an den Tod hindeuten mag, indem er den Mangel an Macht oder das »ohnmächtige Gemüt« derer denunziert, die die Möglichkeit in Betracht ziehen, ihrem Leben willentlich ein Ende zu setzen. Der Schein von Vorsätzlichkeit verdunkelt die Tatsache, daß der Selbstmörder gänzlich von »äußeren Ursachen« überwältigt wird, die seiner Natur und ihrer Notwendigkeit entgegengesetzt sind. Er ist ein Sklave der Furcht. Ich mag mich in ein Wesen verwandeln, das dem wenig ähnelt, das ich einmal war. Ich mag kein Bewußtsein mehr davon haben, wer ich war, bevor ich zu einem anderen Wesen wurde. Aber dieses Werden ist nicht in der Notwendigkeit meiner Natur vorgezeichnet. Der Selbstmörder kapituliert vor dem »Gesetz des Anderen«,10 um einen Ausdruck von Pierre Macherey zu verwenden. Man könnte nun versucht sein, das Argument weiter zu entwickeln und die Behauptung aufzustellen, daß der Gedanke an den Tod gerade deshalb häufig vorkommt, weil er nicht einfach ein Gedanke ist, eine Einsicht, die einzig von sich selber abhängt; er wird von einer Furcht vor dem Tod bestimmt. Die Unfähigkeit, die Dinge unter das Naturgesetz zu subsumieren und ihr Wesen intuitiv zu begreifen, führt zu einer Notwendigkeit, die eine andere Notwendigkeit ist als die der Substanz. Es handelt sich um die Notwendigkeit des Schicksals, die sich eben in der Furcht vor dem Tod manifestiert, in der unkontrollierbaren Häufigkeit, mit der der Ge 7 | Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1975, S. 364. Vgl. dazu: Alexander García Düttmann, Zwischen den Kulturen, S. 139ff. 8 | Gilles Deleuze, En medio de Spinoza, Buenos Aires 2003, S. 150. 9 | Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, S. 411 (IV. Teil, Lehrsatz 18, Anmerkung). 10 | Pierre Macherey, Introduction à l’éthique de Spinoza. La cinquième partie: les voies de la libération, Paris 1997, S. 56.
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danke an den Tod wiederkehrt. So lange das Gesetz nicht auf die Substanz bezogen wird, deren Existenz von ihr selbst herrührt, so lange spaltet es sich in das eigene Gesetz und in das Gesetz des Anderen auf. Eine solche Deutung von Spinozas Lehrsatz beinhaltet, daß die Furcht vor dem Tod als beispielhaft für den Affekt der Furcht angesehen werden kann, für die Verringerung der Macht, die, wenn sie sich vergrößert, uns vom Schicksal befreit, indem sie eine vernünftige Ansicht des Verhältnisses von Ursache und Wirkung fördert, ein intuitives Verständnis des Wesens. An dieser Stelle lassen sich zwei negative und zwei positive Schlußfolgerungen ziehen. Einerseits wäre es müßig, ja widersinnig, das Verschwinden des Gedankens an den Tod aus dem Geist des freien Menschen als das Ergebnis einer Entscheidung zu werten, nur gelegentlich über den Tod nachzudenken, so wie es ebenso müßig, ja widersinnig wäre, wollte man annehmen, daß sich der freie Mensch damit begnügt, einer moralischen Vorschrift zu folgen, die ihm bedeutet, es sei besser, nicht allzu oft an den Tod zu denken.11 Andererseits muß Freiheit als eine Befreiungstat gedacht werden, die es den Menschen erlaubt, sich der Herrschaft der Affekte oder der Leidenschaften zu entledigen, der scheinhaften Notwendigkeit des Schicksals, ebenso wie sie als ein Verhalten des Geistes zum Leben gedacht werden muß, das sich nach der erfolgreichen Anstrengung der Befreiungstat als möglich erweist. Am Ende seiner Ethik unterstreicht Spinoza, daß Freiheit nie eine Gegebenheit ist, und daß wir eingangs nie frei sind. In dem Teil über die menschliche Knechtschaft zitiert er sogar folgendes »Dichterwort« aus den Metamorphosen: »Ich sehe das Bessere und billige es, dem Schlechteren aber folge ich.«12 Die gelungene Befreiung von den Affekten erzeugt allerdings eine Art von Weisheit, die darin besteht, daß man über das Leben nachdenkt, nicht über den Tod, und dort ein Gesetz oder eine notwendige Verknüpfung ausmacht, wo zuvor unvorhersehbare Zufälle herrschten. Diese Art der Weisheit ist frei, weil sie sich nicht von einer vorhergehenden Furcht leiten läßt. Der freie und weise Mensch denkt an die Erhaltung seines Wesens, an Wirkungsmöglichkeiten, die ihm zum Vorteil gereichen und ihn davor bewahren, über die Hindernisse zu stolpern, die es verwehren, die Notwendigkeit des Gesetzes zu erkennen und 11 | »Durch die Trennung der Freiheit von der Idee eines freien Willens knüpft Spinoza an ein altes Ideal an, das er gleichzeitig verwandelt. Es verortet Freiheit im Wissen statt im Wollen.« (Moira Gates und Genevieve Lloyd, Collective Imaginings. Spinoza, Past and Present, New York 1999, S. 41) Freilich läuft diese Verortung nicht auf ein Abstreifen des »ursprünglichen Affekts« hinaus, sondern auf seine »Umstrukturierung« (ebd., S. 50). 12 | Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, S. 407 (IV. Teil, Lehrsatz 17, Anmerkung).
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das Wesen der Dinge intuitiv einzusehen, so daß die Macht seiner Existenz abnimmt. Spinoza insistiert darauf, daß wir unwissend sind, was die Wirkungsmöglichkeiten unseres Körpers angeht. Er läßt keinen Zweifel daran, daß sich körperliche Affektionen auf die Idee Gottes beziehen lassen. Doch obwohl der Körper niemals vollkommen zerstört wird, seine Idee nach der verheerenden Begegnung mit »äußeren Ursachen« fortbesteht, kann sich der Geist zur Notwendigkeit so verhalten wie der Körper es nicht vermag. Der weise Mensch existiert, ohne daß seine Existenz je auf hört. Er hat das Gesetz vom Anderen befreit und an die Wirklichkeit oder das Sein selbst gerührt. Wenn Schelling in seiner Philosophie der Offenbarung Spinozas Lehre abtut, weil sie die Seinsnotwendigkeit allein in abstrakt-logische Begriffe faßt und deshalb eine Antwort auf die Frage schuldig bleibt, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, schwebt ihm ebenfalls dieser Sinn der oder für die Wirklichkeit vor.13
4.2 Die Behauptung, daß die Furcht vor dem Tod letztlich eine Furcht vor dem Leben ist, findet sich in Machereys umfangreichem Kommentar zum fünften Teil der Ethik. Versteht man diese Behauptung, wie es jetzt möglich ist, so kann man dadurch auch den Lehrsatz oder die Verkündung besser verstehen, die die Häufigkeit des Gedankens an den Tod zum Gegenstand hat. Würde sich Freiheit nämlich nicht in einer Befreiungstat und in der Gestalt der Weisheit äußern, wäre es unmöglich, die Furcht vor dem Tod, die die Wiederkehr des Gedankens an den Tod zeitigt, als Anzeichen einer Furcht vor dem Leben und folglich als Widerstand gegen das Leben selbst zu deuten. Diese Unterscheidung beinhaltet, daß die Tat, die den Menschen von den Affekten befreit, die Umwandlung der Leidenschaften in Affekte der Selbstaffektion und der Selbstbestimmung, eine Spur der Weisheit enthalten muß, die es noch zu erlangen gilt, und daß umgekehrt keine Weisheit erlangt werden kann, geht ihr nicht eine Befreiungstat voraus. Nur wenn ich bereits auf dem Weg bin, Weisheit zu erlangen, kann meine Furcht vor dem Tod eine Furcht vor dem Leben sein; und nur wenn meine Furcht vor dem Tod eine Furcht vor dem Leben ist, kann sie überhaupt eine Furcht vor dem Tod sein. Jacobi, der bekanntlich den berühmten Pantheismus- oder Spinozismusstreit in der deutschen Philosophie angezettelt hat, antizipiert Schellings kritische Argumente, indem er Spinoza vorhält, in der Sphäre des Logischen oder Philosophischen befangen zu bleiben und die Heterogenität des Positiven und des Negativen, des Glaubens und des in aller Vernunft inhärenten Fatalismus zu vernachlässigen. Er fragt: »Wie können wir nach Gewißheit streben, wenn uns Gewißheit nicht zum voraus schon bekannt ist; und wie kann sie uns bekannt sein 13 | F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, Band 1, S. 242.
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anders als durch etwas, das wir mit Gewißheit schon erkennen?« 14 Es ist aber genau diese Denkfigur der Voraussetzung, eine Art von hermeneutischem oder performativem Zirkel, die Jacobi mit Spinoza in dem Augenblick teilt, in dem er seine Lehre zurückweist. Eine Freiheit, die sich nicht in einer vorangehenden Befreiungstat äußern würde, die also nicht etwas wäre, das errungen werden muß, würde ihren Namen nicht verdienen, zumindest dann nicht, wenn sie ein Verhalten oder ein Verhältnis zur Welt auszeichnen soll. Als ein Gegebenes wäre sie nicht erkennbar, würde sie mit bloßer Notwendigkeit zusammenfallen. Die Freiheit der Substanz ist ja nicht die ihres endlichen Modus, jener Seinsweise, die sich der Freiheit der Substanz nur dann nähert, wenn sie sich vom »Gesetz des Anderen« befreit hat. So muß sich die Freiheit selber voraussetzen, nicht anders als die Erkenntnis, zum Beispiel in der Gestalt des Glaubens. Bei Spinoza sind die Voraussetzung der Freiheit und der Erkenntnis eins. Eine dem Anschein nach triviale Bemerkung kann Licht auf den Punkt werfen, um den es hier geht. Nur wenige Menschen, sagt Deleuze in seiner bereits angeführten Vorlesung über Spinoza, sind vollkommene Idioten. Denn für jeden gibt es immer etwas, das er versteht.15 Diese Bemerkung ergänzt und vervollständigt das Bild ewigen Lebens, das Deleuze auf den letzten Seiten der großen Studie zeichnet, die er dem Problem des Ausdrucks bei Spinoza gewidmet hat. Wer den Tod fürchtet, hat guten Grund dazu.16 Er hat sich von dem Einfluß passiver Affekte nicht befreit und hat darum immer noch etwas zu verlieren; sobald die Anlage der ausgedehnten Teile seines Körpers sich so grundlegend verändert haben wird, daß die Veränderung einer Zerstörung gleichkommt, wird er nicht mehr leiden und einen Affekt wie den der Furcht verspüren können. In Michael Powells und Emeric Pressburgers Film A Matter of Life and Death sind die Szenen, die im Himmel spielen, in Schwarzweiß gedreht worden. Der Himmel wird als legalistische Hölle dargestellt, eine Sicht, die kaum von dem Geist Spinozas zeugt, da ja in der Ethik Gott, die eine Substanz, kein Gesetzgeber ist, kein oberster Richter an einem Gerichtshof oder Vorsitzender eines Gerichtsverfahrens, der den Menschen mit der schlimmsten Strafe droht und sie einen Tod fürchten läßt, der schlimmer ist als der Tod. Aber der Gedanke, daß einem tödlich Verunglückten die Gelegenheit geboten wird, zu seinem Leben zurückzukehren, mutet wie ein humorvolles Echo des Gedankens an, ein freier Mensch denke so gut wie nie an den Tod, zumin14 | F.H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, Hamburg 2000, S. 113. Zu Jaco-
bis Mißverstehen von Spinozas Lehre vgl. Eckart Förster, Die fünfundzwanzig Jahre der Philosophie, Kapitel 4, Manuskript 2006. 15 | Gilles Deleuze, En medio de Spinoza, S. 145. 16 | Gilles Deleuze, Spinoza et le problème de l’expression, S. 297.
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dest dann, wenn man diesen Gedanken so begreift, daß Menschen eine Aufgabe zu erfüllen haben. Die Befreiungstat, durch die Menschen sich einen Wirklichkeitssinn erschließen, der zur Folge hat, daß sie höchst selten an den Tod denken, hebt die Spaltung des Gesetzes in ein eigenes Gesetz und in ein Gesetz des Anderen auf. Es ist, als würde das Gesetz an die unendliche Natur der Substanz zurückerstattet, von der es herrührt. In jenem Kapitel seines Theologisch-politischen Traktats, in dem er sich mit dem göttlichen Gesetz auseinandersetzt und eine Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und von Menschen niedergelegten Gesetzen einführt, stellt Spinoza fest, daß Christus über ein geistiges Verständnis offenbarter Gehalte verfügte und sie durch reines Denken aufnahm, nicht durch Worte und Vorstellungsbilder. Spinoza hebt alle, die zu solch einem Verständnis unfähig sind und allein durch die Befolgung des Gesetzes Zugang zu den Gehalten der Offenbarung haben, von denen ab, die diese Gehalte als ewige Wahrheiten zu sehen vermögen und so von der »Knechtschaft des Gesetzes«17 frei sind. Es besteht ein Unterschied zwischen dem Wissen um das Gesetz und dem Wissen um seinen Buchstaben. Das Gesetz zu kennen, ein Wissen, das Macherey als ein aktives Verhalten zur Welt interpretiert, nicht als beschaulichen Intellektualismus, heißt, seine Notwendigkeit einzusehen. Wer sich um eine derartige Einsicht bemüht hat, ist dem Gesetz nicht mehr unterworfen, ohne darum seine Geltung außer Kraft zu setzen und sich von ihm auszunehmen. Der freie Mensch ist kein Anarchist. Denkt er nicht deshalb nur höchst selten an den Tod, fast nie, weil er sich wissend und einsehend zu dem Gesetz verhalten kann, das seiner Natur eingeschrieben ist, und weil sein Wissen das Gesetz der unendlichen Natur der Substanz zurückerstattet?
4.3 Am Anfang und ganz am Ende seines langen Aufsatzes H.C. pour la vie, c’est à dire… schreibt Derrida, der Unterschied zwischen ihm und dem Werk seiner Freundin Hélène Cixous bestehe darin, daß man von ihm immer behauptet habe, er stünde auf der Seite des Todes, während sie es immer vorgezogen habe, sich auf die Seite des Lebens zu stellen: »Zwischen ihr und mir scheint alles eine Angelegenheit von Leben oder Tod zu sein.«18 17 | Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, auf der Grundlage der Übersetzung von C. Gebhardt neu bearbeitet, eingeleitet und hg. von G. Gawlick, Hamburg 1994, S. 74. 18 | Jacques Derrida, H.C. pour la vie, c’est à dire..., S. 136. Vgl. auch ebd., S. 36.
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Natürlich erwähnt Derrida diese Sichtweise nicht einfach, um sie zu bestätigen. Schon im ersten Teil des Aufsatzes zeigt er, daß es in Wahrheit nicht möglich ist, Leben und Tod so auseinanderzuhalten als würde es sich um zwei Seiten eines Gegensatzes handeln, um zwei Ufer, die einander gegenüber liegen. Ist es um den Tod zu tun, so gibt es kein Lager, das man einem anderen Lager vorziehen könnte. Man kann sich hier nicht auf die eine oder die andere Seite schlagen und entscheidet sich deshalb stets für das Leben, gleichgültig, wie wichtig, wie ernsthaft, wie dringend die Entscheidung sein mag. Meint Derrida in diesem Zusammenhang, daß sogar der Selbstmord eine Entscheidung für das Leben ist, selbst wenn sie als eine Entscheidung gewertet werden muß, die nicht um sich selber weiß? Gerade weil das Leben nicht der Gegensatz des Todes ist, bleibt es nicht unberührt. In De la grammatologie kennzeichnet Derrida die Organisation des Lebens als eine Ökonomie des Todes. In seinem Aufsatz über Cixous bezieht er sich dort, wo er das Leben als endlich und dennoch auch als unendlich versteht, auf die Bestimmung der différance in La voix et le phénomène – unendlich ist das Leben, dem man keine andere Seite, kein anderes Ufer, kein anderes Lager entgegensetzen kann, endlich ist das Leben, das nur von einer Seite begrenzt wird, von der Seite, die es gleichsam selber bildet. Es ist, als würde sich der Tod zweimal auf das Leben auswirken, es dazu anhalten, eine Seite oder ein Ufer zu bilden, und ihm gleichzeitig erlauben, sich unendlich zu erstrecken, immer weiter an seinem Ufer entlang. Eine gewöhnliche Entscheidung bedarf einer Alternative, und sei es der, sich für etwas entscheiden zu können oder nicht. Wenn es jedoch um Leben und Tod geht, besteht keine Alternative, keine Option, der sich im Vergleich zu einer anderen Option der Vorrang einräumen läßt. Verweist die Tatsache, daß jede Entscheidung eine für das Leben sein muß, auf die Unmöglichkeit, eine Entscheidung je zu treffen? Aus einem spinozistischen Blickwinkel muß man diese Frage wohl bejahen. Die Willensfreiheit, zu der das Entscheiden gehört, erweist sich als Schein, als fehlende Erkenntnis der Ursachen. Wir können keine Entscheidung treffen, da wir uns immer schon auf der Seite des Lebens befinden, ob wir darum wissen oder nicht. Allerdings stellt es sich aus diesem Blickwinkel auch so dar, daß das Leben nur dem als gleichzeitig endlich und unendlich erscheinen kann, der seinem Intellekt Schranken auferlegt hat, noch zu häufig an den Tod denkt, die Freiheit und das Verständnis nicht erlangt hat, die mit der zweiten und der dritten Erkenntnisart einhergehen. Die Seite des Lebens ist keine Seite. Für Derrida hat also der Umstand, daß jede Entscheidung zwangsläufig eine Entscheidung für das Leben ist, nicht zur Folge, daß die Möglichkeit des Entscheidens durchkreuzt wird, das Entscheiden nicht mehr unumgänglich ist, im Gegenteil. Das Leben bezeichnet wie die dif-
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férance die Unentscheidbarkeit selber,19 das Verhältnis zu etwas, das jedes Verhältnis unterbricht und das deshalb immer wieder die Herstellung eines Verhältnisses, das Treffen einer Entscheidung hervorruft. Wo es keine Seite gibt, auf die man sich schlagen kann, nicht, weil es überhaupt keine Seiten gibt, sondern weil man sich schon auf einer Seite befindet und sich auf keiner anderen befinden kann, muß man sich auf eine Seite schlagen. Wenn man nun fragt, warum man in diesem Zusammenhang das Wort »Seite« verwenden soll, verläuft doch die Grenze nur einseitig, öffnet sich doch vom Ufer aus ein Ausblick auf das Nichts, handelt es sich doch in kantischer Terminologie eher um eine Schranke als um eine Grenze, so mag man bereits auf dem Weg sein, sich in einen Spinozisten zu verwandeln. Und führt die Unentscheidbarkeit nicht dazu, daß nicht ich, sondern der Andere »in mir« die Entscheidung trifft, als würde zumindest in den Augen eines Spinozisten die Notwendigkeit bereits an die Stelle der Autonomie treten, freilich in ihrer falschen Gestalt, der des »Gesetzes des Anderen«? Behauptet man, daß das Leben in seiner Unbegrenztheit endlich ist oder daß das Wesen der Endlichkeit in unendlicher différance liegt, heißt dies, daß man Entscheidungen für den Ausdruck einer unhintergehbaren Unentscheidbarkeit hält und daß die Unentscheidbarkeit eine Entscheidung erst ermöglicht, so wie das Leben eine Erfahrung ermöglicht, die stets die des Überschreitens von Grenzen ist, das auf der einen Seite bleibt – also nicht, im Sinne des Spinozismus, die Erfahrung der Ewigkeit. Derrida denkt das Leben nicht als Substanz, weder auf spinozistische noch auf hegelsche Weise.20 Es ist dann unvermeidbar, daß man sein Süppchen 19 | Ebd., S. 46. 20 | Hegel stimmt, wo es um Leben und Tod geht, nicht mit Spinoza überein. Für ihn reicht es nicht aus, anzuerkennen, daß neben einer Substanz, die »leer und tot« sein soll, es »eine Welt von Bestimmungen« gibt, die »von ihrer eigenen Negativität lebt« (Pierre Macherey, Hegel ou Spinoza, Paris 1990, S. 143). Derrida rückt freilich an einer eigentümlichen Stelle, die um Heideggers Geschichte der Metaphysik kreist, die Dekonstruktion in die Nähe des Spinozismus: »Was widersteht dieser Ordnung der Epochen und damit jedem heideggerschen Denken der epochalen Unterscheidung? Vielleicht, um ein Beispiel zu geben, eine Behauptung und Bejahung der Vernunft (ein Rationalismus, wenn man so will), die sich erstens dem Satz vom Grund in seiner leibnizschen Gestalt nicht beugt, also dem Satz vom Grund, der untrennbar ist von einem Finalismus oder von einer absoluten Vorherrschaft der Endursache; die zweitens die Substanz nicht als Subjekt bestimmt; und die drittens die Idee so faßt, daß sie nicht als Vorstellung begriffen wird. Ich habe gerade implizit Spinoza genannt. Heidegger spricht sehr selten von ihm, mit knappen Worten und nach meinem Wissen niemals von einem solchen Gesichtspunkt
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kocht, obwohl man in dem Augenblick, in dem man meint, das Eigeninteresse verfolgen zu können, feststellen muß, daß es sich verflüchtigt, da man nur dann lebt, wenn man in immer kleineren Zeitabständen Entscheidungen bestätigt und widerruft; vor allem darüber, wer man ist. Am Ende kann sich einer, der mit Derrida durch die Welt geht, ebensowenig auf das eigene Süppchen oder das Eigeninteresse verlassen wie ein Spinozist, obwohl in dem zweiten Fall dieser Umstand als ein Zeichen von Wissen und sogar Weisheit gedeutet werden muß, im ersten Fall dagegen nicht. Einerseits liefern wir uns dem Tod aus, wenn wir nicht ständig Entscheidungen treffen, schikanieren wir uns und Andere; andererseits liefern wir uns ebenfalls dem Tod aus, denken an ihn zu häufig, wenn wir weiterhin glauben, Entscheidungen treffen zu können und zu müssen, oder daß etwas wahrhaft Wichtiges von einem solchen Verhalten abhängen kann. Sowohl für den Derridisten als auch für den Spinozisten ist alles eher eine Angelegenheit von Leben oder Tod als eine Angelegenheit von Leben und Tod. Man könnte ebenfalls sagen, daß der Akt des Entscheidens eine falsche Befreiungstat ist, die dazu führt, daß der Gedanke an den Tod sich tiefer noch in unserem Wesen festmacht. Wenn er es überhaupt tut, verwendet Derrida den Begriff der Freiheit verhältnismäßig selten. Man könnte aber vermuten, daß Freiheit in seinen Augen mit einer Entscheidungsfindung zusammenhängt, die unter der Voraussetzung geschieht, daß es an einem Satz verläßlicher Kriterien mangelt. Sie geschieht also außerhalb eines gegebenen Rahmens und ohne daß eine andere Seite vorhanden wäre, der man sich zuwenden könnte, um weitere Anhaltspunkte zu erhalten. Das himmlische Gericht in dem Film A Matter of Life and Death, dem unbegrenzte Mittel zur Verfügung stehen, ist für den Derridisten kein Ort für Entscheidungen, ähnelt für den Spinozisten allzu sehr einem irdischen Gericht, um zu seinem Ruhme beizutragen. In dem Maße, in dem der Gedanke an den Tod wiederkehren kann, vermögen wir es, uns zum Leben zu verhalten, will sagen: können wir versuchen, »wahrhaft zu leben«; so drückt sich Macherey aus, wo er das »letzte Wort der spinozistischen Ethik« sprechen will.21 In dem Maße, in dem die Organisation des Lebens als Ökonomie des Todes jede Anstrengung übersteigt, ihr Gesetz zu erfassen, weil das Erfassen ihres Gesetzes mit der Möglichkeit einhergehen würde, zu einem anderen Ufer überzusetzen, zu einer entgegengesetzten Seite, zur anderen Seite einer Grenze, oder zwiaus und in einem solchen Zusammenhang.« (Jacques Derrida, »Le principe de raison et l’idée de l’université«, in: ders., Du droit à la philosophie, Paris 1990, S. 475ff.) Ich danke Thomas Khurana für den Hinweis auf diese Stelle, AGD. 21 | Pierre Macherey, Introduction à l’éthique de Spinoza. La cinquième partie: les voies de la libération, S. 187.
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schen dem einen und dem anderen Ufer hin- und her zu wechseln, können wir uns zum Leben verhalten, »das Leben dem Tod gegenüber vorziehen« und den Versuch unternehmen, so »eindringlich wie möglich« zu leben, wie es Derrida in dem letzten Gespräch formuliert, das er vor seinem Tod mit einem Journalisten führte.22 In genau dem gleichen Maße jedoch, in dem Maße, in dem das Leben dem Tod nicht entgegengesetzt werden kann, weil zu seiner Bestimmung gehört, daß es über sich hinausgeht, endlich in seiner Unendlichkeit ist, kann man sich nicht auf das Leben beziehen und »das Leben dem Tod« oder umgekehrt dem Leben den Tod vorziehen. In dem Augenblick, in dem man sich auf etwas bezieht oder sich zu etwas verhält, das die Beziehung oder das Verhältnis unterbricht und dadurch gerade zu einem Verhalten anhält, lebt man bereits, ist man bereits am Leben, fühlt sich lebendig, steht man mitten im Leben, auf dessen Seite, und versucht, es mit ihm aufzunehmen, ihm nachzukommen, indem man an seinem Ufer entlangrennt.
4.4 Wenn man sich nun darauf besinnt, daß Derrida das Gesetz als einen »verbotenen Ort«23 bestimmt, als einen Ort, zu dem man keinen Zugang hat, und daß er erläutert, warum das Gesetz etwas Verbietendes an sich hat, also Achtung vorschreiben muß, um eben als Gesetz zu wirken; wenn man sich darauf besinnt, daß für Derrida das Gesetz sich entzieht, sobald man es gänzlich begreifen will, ihm die Wirkung eines Gesetzes nur dort zukommt, wo es letztlich als ein wesentlich unerkennbarer Grund gelten muß, ist man nicht bloß in der Lage, zwischen dem Leben und dem Gesetz als zwangsläufig unterbrochenen Verhältnissen eine Analogie zu ziehen, sondern ebenfalls, das Gesetz und das Leben aufgrund der Zweideutigkeit ihrer Verhältnisse miteinander zu identifizieren. Wie verbietet, folgt man Derrida, das Gesetz den Zugang zu sich, wie versperrt es die Einsicht in den Grund für die Forderungen, die es stellt, oder für das, was es besagt? Dadurch, daß es sich selber zu widersprechen scheint und den Menschen in einen Widerspruch verwickelt, in ein sogenanntes »double-bind«. Das trifft sicherlich auf das Gesetz als einen ethischen oder rechtlichen Begriff zu. In der Natur, so könnte man aus der Perspektive Derridas und 22 | Jacques Derrida, Apprendre à vivre enfin. Entretien avec Jean Birnbaum, Paris 2005, S. 55. Vgl. dazu: »Ein anderes Mal, H. gegenüber: ›Ich träume von einer Schrift, die kein Tod wäre.‹« (Jean-Luc Nancy, À plus d’un titre. Jacques Derrida, Paris 2007, S. 97) Für eine Philosophin wie Iris Murdoch gibt es nur zur Wirklichkeit Zugang, gerade weil sie unzugänglich ist, das Ich sie nicht verändern oder zerstören kann. 23 | Jacques Derrida, »Préjugés. Devant la loi«, in: La faculté de juger, Paris 1985, S. 121.
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vor dem Hintergrund der Ethik Spinozas folgern, trifft es insofern zu, als die Erklärung eines Gesetzes auf ein Anderes zurückverweist, auf einen anderen Grund, eine andere Bedingung oder eine andere Unterscheidung, die man noch nicht verstanden hat, so daß man in einen Rückgang gerät, der jede Vereinheitlichung hintertreibt. Das Gesetz, das sich notwendigerweise widerspricht, bringt Ununterscheidbarkeit hervor. Es stellt uns vor Forderungen, die sich als miteinander unvereinbar erweisen, sei es, daß die eine Forderung die andere ausschließt, sei es, daß eine Forderung als solche erkennbar ist, die andere hingegen ihre Erkennbarkeit übersteigt. So beschreibt Derrida in Force de loi das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen dem Gesetz, das in einer geschichtlichen Entwicklung gesetzt oder niedergelegt worden ist, und dem Gesetz, das sich an den Menschen richtet, ohne eine Ableitung, eine Begründung oder gar eine Veränderung zuzulassen. Das Gesetz bleibt am Ende ein verbotener, verbietender, unwirtlicher Ort, prohibitiv, weil es zwischen einer relativen Erkennbarkeit und einer relativen Unerkennbarkeit schwankt. Es entzieht sich dem begreifenden Zugang und dem begrifflichen Zugriff dadurch, daß es dem Menschen ermöglicht, sich zu ihm zu verhalten, und ihn nicht einfach mit Blindheit schlägt. Man lebt unter dem Gesetz. Eine Befreiung von seiner Knechtschaft oder von seinem Zwang würde das Leben allen Sinnes berauben, den sinnvollen Gebrauch des Lebensbegriffs unmöglich machen. Obwohl aber das Gesetz Freiheit einräumt, die eines Verhaltens zum Leben, das sich im Treffen von Entscheidungen äußert, verhindert es, daß man an die Notwendigkeit selber rührt, an die Wirklichkeit oder das Sein. Es verwundert also nicht, wenn Derrida behauptet, daß er sich von dem Gedanken an die »Notwendigkeit des Sterbens« besonders dann heimgesucht fühlt, wenn er ein gesteigertes Glücks- und Lustgefühl verspürt.24
4.5 Wenn ich du wäre… – Du verwendest zwar den Begriff der Notwendigkeit, doch hast du dich bereits der Möglichkeit begeben, Notwendigkeit überhaupt zu denken. Es fehlen dir dazu die Mittel. Du kannst nicht wirklich und wahrhaftig verstehen, was Notwendigkeit meint, was Gesetz heißt, da du glaubst, daß die Unterscheidung zwischen zwei Seiten, einem zeitlichen und einem ewigen Gesichtspunkt, es dir erlaubt, Endlichkeit im Hinblick auf die Unendlichkeit der Substanz zu erklären, wobei die eine die andere in sich schließt oder die Entfaltung der anderen ist. So willst du über den Gedanken des Todes verfügen. Du richtest die Notwendigkeit zu, die sich gleichsam umfassend der Erkenntnis erschließen soll. In un24 | Jacques Derrida, Apprendre à vivre enfin. Entretien avec Jean Birnbaum, S. 55.
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serer Gigantomachie bist du der Idealist. Denn um wirklich und wahrhaftig zu verstehen, was es bedeutet, von Notwendigkeit zu sprechen, muß ich anerkennen, daß ich nicht an die Wirklichkeit oder das Sein zu rühren vermag. – Für dich ist der Punkt, an dem die Geltung des Gesetzes sowohl bestätigt als auch aufgehoben wird, man sich auf das Gesetz bezieht und es die Beziehung unterbricht, ein Punkt, an dem man sich in einen Selbstwiderspruch verwickelt und daher in einen Taumel gerät. Man erfährt die Unmöglichkeit, an die Wirklichkeit oder das Sein zu rühren. Das Gesetz behauptet sich in seiner Äußerlichkeit. Für mich ist dieser Punkt einer, an dem meine Intelligenz und der Affekt, den ich als intellektuelle Liebe zu Gott bezeichne, es mir gestatten, an die Wirklichkeit oder das Sein zu rühren, mich also nicht mehr so zum Gesetz zu verhalten, daß ich ihm bloß folge oder hörig bin, ohne daß das Gesetz deshalb seine Wirkung einbüßen würde. Ich höre auf, an den Tod zu denken, und betrachte das Leben unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit. Wenn es mir gelingt, das Leben unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, erfährt auch mein Ich eine Bestätigung und wird aufgehoben, erfährt es eine Bestätigung in dem Maße, in dem meine Selbstbestimmung ihren Höhepunkt erreicht, meine Macht nie größer ist, wird es aufgehoben in dem Maße, in dem ich das Ganze der Natur erkenne, oder etwas daran, und mich mit der Natur als Ganzes verbunden fühle. Ich möchte dir nun folgende Frage stellen. Wir schlagen uns beide in unterschiedlicher Weise auf die Seite des Lebens. Hat diese entscheidende Abweichung mit einer Entscheidung zu tun, als hättest du genau den gleichen Punkt erreicht, den ich erreicht habe, dann jedoch entschieden, den Gesichtspunkt der Ewigkeit dem der Zeitlichkeit unterzuordnen? Ich frage mich, ob du nicht ein geheimer Idealist bist. Schreckst du nicht vor deinem eigenen Mut zurück, wenn du das Gesetz so begreifst, daß es sich ständig zurückhält und eine Art unausschöpfliche, ja ungreifbare Reserve bildet? Das wäre eine Erklärung dafür, daß du noch an den Tod denkst, es in dem Augenblick tust, in dem du die eindringlichste Erfahrung des Lebens machst, um mich deiner eigenen Worte zu bedienen. Wirklich und wahrhaftig die Notwendigkeit zu denken, muß bedeuten, daß man freikommt, durch eigene Anstrengung die Fesseln ablegt. Obwohl du wiederholt behauptest, daß es keine Metasprache gibt, etwa in deinem Aufsatz über Cixous, und daß die Metasprache nichts ist als ein Effekt, formulierst du dennoch das Gesetz des Gesetzes. Anders ausgedrückt: du bemühst dich, die Notwendigkeit aufzuzeigen, die dazu zwingt, sich dem verbotenen, verbietenden, widersprüchlichen Gesetz zu unterstellen, ihm unterstellt zu bleiben, ohne es zu verstehen. So beanspruchst du, über ein Verständnis des Gesetzes zu verfügen, zumindest implizit. Hast du einmal verstanden, daß das Verhältnis zum Gesetz notwendigerweise ein unter-
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brochenes sein muß, kannst du dich zu ihm nicht mehr so verhalten wie zuvor. Beziehst du dich nicht sogar in dem Film, der deinen Namen als Titel trägt, auf die Erfahrung, daß sich dir einmal etwas als unmittelbar einsichtig aufgedrängt hat, als offenbar oder evident, in einem Augenblick des aufklärenden oder erhellenden Verstehens, in dem du die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit gesehen hast, wenn du es mir erlaubst, meine Sprache zu sprechen? Du hattest gerade einen langen Text zu Ende geschrieben, der dann in die Grammatologie eingegangen ist. Vielleicht hast du nur »Ja!« gerufen, lautlos oder vernehmbar. Ich verstehe dich.
Erinnerung
Wer sich an Jacques Derrida erinnert, dem ergeht es, so unangebracht der Vergleich auch sein mag, nicht viel anders als Adorno. Dieser steht am Anfang seiner Erinnerung an Alban Berg vor der Schwierigkeit, daß sich der Komponist Nachrufe auf ihn selber zu Lebzeiten humorvoll ausgedacht hatte. In einem Gespräch redet Derrida darüber, was es heißt, aus der Perspektive des eigenen Todes zu sprechen, ja sprechen zu müssen. Hat er in den letzten Jahren seines Lebens nicht auch weltweit an unzähligen Veranstaltungen teilgenommen, die sein Werk oder einen Aspekt seines Werks zum Gegenstand hatten, als hätte man von ihm erwartet, daß er sich in der Rückschau darstellt? Noch wenige Monate vor seinem Tod saß er ziemlich müde zwischen drei Schülern, die über ihn referierten und auf seinen Kommentar warteten. Er wirkte auf mich gealtert, nicht nur, weil wir uns schon seit mehreren Jahren nicht gesehen hatten, sondern auch, weil die erschöpfende Therapie gegen den Krebs, die Sorge wegen der schweren Erkrankung, die nun nicht mehr eine vorweggenommene war, ja vielleicht auch die Angst, die er empfand oder die sich seiner bemächtigte, seine physische Erscheinung verändert hatten. Vormittags war ihm ein Ehrentitel verliehen worden. Nach langer Zeit hatte er mich angerufen, um mir zu sagen, daß er nach London kommen und sich über ein Wiedersehen freuen würde. Er hat mir davon abgeraten, bei der Zeremonie zu erscheinen, weil er sich der Langatmigkeit des institutionellen Rituals bewußt war und sie mir nicht zumuten wollte. Er hat mich aber eingeladen, an dem Seminar teilzunehmen, das im Anschluß an das Mittagessen und den wahrscheinlich kurzen Mittagsschlaf stattfinden sollte. So habe ich es gehalten und, wie ich beschämt hinzufügen muß, mein Bedürfnis kalt an erste Stelle gesetzt. Das Seminar hat mich traurig gestimmt. Der Raum war klein, so daß die hereinströmenden Studenten darin kaum Platz fanden. Es war ein Sommertag und drinnen heißer als draußen, zumal man die Fenster nicht ganz öffnen konnte. Nun mußte Derrida den Vorträgen der Schü-
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ler zuhören, die als Kurzreferate geplant waren und doch unendlich lange dauerten, mir gescheit und schal vorkamen, um dann auf die einzelnen Beiträge, die sein Denken ehren sollten, stichwortartig einzugehen. Es war anstrengend. Meine für die Anderen unerwartete Anwesenheit wurde, glaube ich, mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Ich konnte mich auch dieses Mal nicht zurückhalten. Während der abschließenden Diskussion habe ich eine Frage gestellt, deren polemische Spitze kaum verdeckt war. Nur Derrida hat sie mit Wohlwollen aufgenommen, indem er lächelnd ihre Berechtigung anerkannte und nach einer Antwort suchte. Ich wollte mit der Hybris des Störenfrieds, der sich überschätzt, des Anklägers und des Retters in der Not, dem Spuk der gespenstischen Verdoppelung ein Ende setzen, das von mir einmal geliebte Denken und den von mir immer noch geliebten Menschen herausfordern, den Anschein, es sei alles noch beim Alten, das doch selber schwer erträglich war, durchbrechen, um Derrida zu einem Höhenflug zu ermuntern. Erst beim Abendessen in Wapping mit den englischen und amerikanischen Freunden hat er gelacht, war die Last von uns genommen. Während der ausgedehnten Fahrt aus dem Londoner Osten zurück ins Russell, in dem er besonders gern wohnte, weil die Erinnerung an frühere Aufenthalte ihm wichtiger war als der nebensächliche Umstand, daß das Hotel inzwischen ein wenig heruntergekommen war, saß ich neben ihm auf dem Hintersitz. Durch seine unmittelbare Nähe erregt, beflügelt und überschwenglich wie früher, aber auch von der Ruhe erfüllt, die sich einstellt, wenn alles Unwichtige weggewischt ist, dachte ich, er sei eigentlich gesund. In den achtziger Jahren bemerkte mein Freund G., ihm mißfalle die eigentümliche Angewohnheit französischer Philosophen, ihre Texte in der Ichform zu schreiben. Die Beobachtung trifft auf Derrida fraglos zu. Handelt es sich jedoch bloß um jene Ichbezogenheit, die den Philosophen daran hindert, an die Wirklichkeit zu rühren? Was mich zu Jacques Derrida am Anfang hingezogen hat, als ich ihm noch nie begegnet war und so gut wie nichts über sein Denken wußte, obwohl ich eingeschüchtert in der Dantestraße genickt hatte, als ein Kommilitone die différance erwähnte, war sicherlich auch die Herausforderung, die ein Denken darstellt, das im Ruf der Undurchdringlichkeit steht. Nach einer geduldigen ersten Lektüre von Aufsätzen, die nicht ganz so schwierig waren, der Vorträge über das Ende des Menschen und über den apokalyptischen Ton, war es dennoch nicht einfach die Überzeugungskraft eines plötzlich verstandenen Arguments, die mich zu Derrida hinzog. Es war eine Stimme oder, um mich seiner Sprache zu bedienen, eine Signatur, als wäre die Wahrheit untrennbar von einem Ich, vielleicht, weil sie erschlossen werden muß und mit dem Verwischen der Spur ihrer Erschließung selber wieder verschwindet. Sie zieht
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sich dann aus der Erfahrung zurück und zu einem Punkt zusammen. Ohne den oft als äußerlich gewerteten Zugang bleibt von ihr, von der Wirklichkeit, nichts übrig als die nackte Unzugänglichkeit, die Tatsache, daß sie gleichgültig ist. Durch die Erschließung verwandelt sich aber das Ich, streift es die Partikularität ab und wird, wenn man so will, zur reinen Neigung, zur Beugung einer Gunst, zur Geste des Denkens. Es war die Verwandlung des Ichs durch die Wahrheit, die mich zu Derrida hingezogen hat, das Gefühl, ohne sie der Philosophie nichts abgewinnen zu können, so wie mich die Hülse des Ichs abgestoßen hat, das Denken als Maschine oder Methode. Deshalb ging es nicht allein um die Richtigkeit der Erkenntnis, um das Abwehren von Gegenargumenten, an dem ich mich ebenfalls versucht habe, sondern vor allem um das richtige oder gute Leben, als wäre jenes Abwehren selber ein Festhalten an diesem Leben. Derrida hat ein Seminar nie wiederholt, weil er sich vor der einsetzenden Langeweile fürchtete, der eigenen nicht weniger als der der Anderen. Seminare waren bei ihm in Wahrheit Vorlesungen, die er am Wochenende zu Hause vorbereitete, um das häufig dreißigseitige Manuskript mittwochs mit nur wenigen Abweichungen oder Ergänzungen vorzutragen, stets so, daß es wie ein improvisierter Gedankengang wirkte, wie ein lebendiger Denkprozeß, der sich der Sache überläßt, mag der Verlauf auch ein unvorhergesehener oder ungewöhnlicher sein. Die Aufmerksamkeit, die Derrida den philosophischen, psychoanalytischen, literarischen, wissenschaftlichen Texten schenkte, die er als Grundlage für seine Seminare auswählte, diente als Sprungbrett. In der Auswahl lag schon das Geheimnis. War es für ihn selber eines, das seiner Kunst? Von jeder anstehenden Seminarstunde, von jedem angekündigten Vortrag, von jedem Text, den er schrieb, erwartete ich eine neue Einsicht und war enttäuscht, wenn ich sie nicht sogleich ausmachen konnte. In den letzten Schriften hat Derrida eine Art Spätstil entwickelt, ist die Erkenntnis zurückgetreten, galt seine Leidenschaft fast ausschließlich der Sprache selber, den Nuancen, die er ihr abtrotzen konnte. Manchmal schafft es ein Philosoph, den sein Lehrdeputat zur regelmäßigen Wiederholung von Seminaren zwingt, die Seminarstunde mit einer solchen Begeisterung für die Sache zu gestalten, daß er den Eindruck des Ungedachten vermittelt, das zum Denken anhält. Bei meinem Frankfurter Lehrer Alfred Schmidt habe ich das erfahren. Der Preis, den Derridas gesteigerte Produktivität für die Vermeidung von Wiederholungen gezahlt hat, war die Schaffung eines gewissen Vorrats an Denkfiguren, auf die er regelmäßig zurückgriff. Das konnte sich für den, der ihn regelmäßig hörte, künstlich ausnehmen, ja es konnte sogar eine lähmende Wirkung auf ihn ausüben. Ich kann mich aber genau an das erinnern, was mich umgeworfen hat, als ich in den frühen achtziger Jahren zum ersten Mal sein
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Seminar besuchte, in dem er sich damals mit der Frage des Nationalismus aus philosophischer Sicht beschäftigte. Es war das Gefühl, daß es hier um die Sache selbst ging, nicht um die Aufrechterhaltung eines Betriebs, und daß sich in der Stringenz der Argumente, die Derrida bis zu ihrer Grenze entwickelte und nicht einfach übernahm oder zusammenbastelte, eine Erfahrung der Welt niederschlug. Ich war gerade in Paris angekommen, mit einem Auslandsstipendium, das mir einen einjährigen Aufenthalt ermöglichen sollte. Ob die ersten Seminarsitzungen, die Derrida noch vor einem roten Vorhang in einem großen Saal der École Normale abhielt, schon stattgefunden hatten, kann ich nicht mehr sagen. Wir waren an einem lauen Herbstnachmittag in seinem Büro verabredet, das in einem oberen Stockwerk des Gebäudes der École des Hautes Études lag und den Boulevard Raspail überblickte. Dort hat er mir anvertraut, daß er am liebsten von vorne anfangen würde, als wäre alles, was er bislang geleistet hatte, unzureichend, als würde ihn die Dekonstruktion, die er bisher betrieben hatte, nicht mehr zufriedenstellen. Er wollte zum Beispiel Descartes noch einmal lesen, ganz anders als man es von ihm gewohnt war. Derrida wünschte sich, tabula rasa machen zu können, obwohl ihm die Unwahrscheinlichkeit des Unternehmens deutlich vorschwebte. Viele Jahre danach, als ich in New York ein Gastsemester verbrachte und unglücklich verliebt war, erlebte, was Adorno als das »Phänomen des Besetztseins« bezeichnet, hat Derrida bemerkt, in den Beziehungen zu Anderen gebe es keine tabula rasa, Andere seien immer schon in ein Netz weiterer Beziehungen verstrickt. Das konnte ein Trost sein oder eine furchtbare Belastung. Als Philosoph hatte er sich von ihr einmal befreien wollen, so sehr der Befreiungsversuch ihn in das double-bind geführt hätte, das sein Denken regelmäßig bemüht. Gründet aber die Philosophie nicht wie die Liebe in der Unwahrscheinlichkeit eines Versuchs, wächst ihr nicht durch sie nur ein Erfahrungsgehalt zu? Was hat es mit einer Erfahrung auf sich, mit der es nichts auf sich hat? Nicht mit einer Erfahrung, der man eine beispielhafte Bedeutung zuschreiben kann, durch die sich ein Sinnzusammenhang bildet, aus der sich Weisheit herausschält, die zur Entstehung von Wissen beiträgt, sondern mit einer Erfahrung, die dumm ist, zu dumm, weil sie in sich verharrt, sich aufgrund ihrer Zufälligkeit und Läppischkeit entzieht, aufgrund ihres Mangels an Gewichtigkeit? Das Läppische ist immer zu dumm, ebenso der Zufall, in dem sich Leere und Fülle bis zum Indifferenzpunkt einander annähern und den genauen Blick fernhalten. Im ersten Teil eines Vortrags über Joyce zitiert Derrida zwei Abschnitte aus dem Ulysses. Von »meinen Erfahrungen« ist in dem einen Abschnitt die Rede, von der »Großen Schlacht
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Tokio« in dem anderen. Derrida kommentiert diese beiden Abschnitte mit den Worten: »Die Ökonomie eines Vortrags erlaubt es mir lediglich, ihnen my experiences in Tokyo zu erzählen, als würde es sich um eine ins Meer geworfene Postkarte handeln.« Im Vorbeigehen will er dann noch ein paar begriffliche Fragen aufwerfen, zu denen die des Zufalls gehört, der Begegnung oder des Zusammentreffens. Welches Erfahrungsgespinst bringt sein Vortrag hervor, von welchen Begebenheiten, Ereignissen, Umständen, Daten, Anekdoten berichtet Derrida? Von der Suche nach Postkarten und der Entdeckung eines Schmökers in einem Hotel in Tokio; von den Worten, mit denen ein Tourist ihn anredet; von einer Autofahrt mit seiner Mutter durch Paris, bei der er einen Freund auf dem Bürgersteig erkennt und aus dem haltenden Wagen springt; von einem Werbespruch für einen Joghurt, auf den er in Nordamerika vor dem Weiterflug nach Japan stößt; von dem Kauf von Zahnseide in einer Drogerie in Ithaca; vom Wiederlesen des Ulysses während eines Sommers in Nizza; von der Unachtsamkeit, die nach der Rückkehr aus Tokio um ein Haar zu einem Autounfall geführt hätte. Diese, wenn man so will, dummen Erfahrungen werden in ein Geflecht von literarischen Zitaten und philosophischen Denkfiguren gewoben. Sie scheinen ihre Dummheit abzustreifen, verwandeln sich aber nicht gänzlich in Bedeutungsträger, in geistige Erfahrungen. Es ist eben so, als würden sie zwischen Leere und Fülle, zwischen Buchstabe und Bedeutung, unentscheidbar hin- und her schwanken. Alles Zufall, alles Veranstaltung, alles von hintergründiger und erhabener Bedeutung? Der Leser kann sich des Eindrucks der Willkür nicht erwehren und ist ständig versucht, die Lektüre mit einem ungeduldigen »Zu dumm!« abzubrechen, während er gleichzeitig von den vielen Fäden, die Derrida spinnt, gefesselt wird und wissen will, was es damit auf sich hat, mit den unwichtigen Begebenheiten oder den dummen Erfahrungen. Der in dem Vortrag über Joyce entwickelte Gedanke formuliert, erklärt und verdoppelt dann die Erfahrung des Lesens, die weder eine dumme noch eine geistige ist, darum aus der Fassung bringt. Hat es des Umwegs über »my experiences in Tokyo« zur Formulierung eines solchen erklärenden Gedankens bedurft? Derrida entwickelt den Gedanken, daß keine Erfahrung in sich verharrt, jede Erfahrung sich auf sich bezieht, dadurch aber bei sich ist und gleichzeitig über sich hinausweist. Sie kann immer eine dumme Erfahrung sein, ja muß es in dem Maße sein, in dem sie über sich keine Macht hat. Das heißt jedoch nicht, daß sie in der Dummheit verschwindet. Es verwundert also kaum, daß Derrida gegen alle Versuche der abschlußhaften Vereinheitlichung, gegen das Resultatsdenken der spekulativen Dialektik, gegen die Erzeugung einer literarischen Enzyklopädie, ja gegen die Systematisierung des eigenen Denkens, einen Rest einklagt, den einer dummen Erfahrung. Keine Erfahrung ist dumm genug, mit jeder hat es etwas auf sich, läßt sich etwas
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machen. Weiß das der Künstler? Jede Erfahrung ist aber letztlich auch zu dumm, um sich in einer Erkenntnis oder Bestimmung aufzulösen, restlos in ein Wissen einzugehen, als wahrhaft triftiges Beispiel anführen zu lassen. Denkt das der Philosoph? Darüber, was es mit einer Erfahrung auf sich hat, was sich mit ihr machen läßt, entscheidet folglich, was man mit ihr macht, die »Kontrasignatur« oder »Gegenzeichnung«, von der Derrida in seinem Vortrag spricht. Am 12. Juni 1984, nachdem er in Frankfurt öffentlich von seinen »experiences in Tokyo« erzählt hatte, schrieb er mir zum ersten Mal eine Widmung in einen seiner Texte, in einen Aufsatz, den ich von Anfang bis Ende gelb unterstrichen hatte. Nach der Namensnennung fügte er hinzu: »dans la chance d’une rencontre«, bei Gelegenheit oder beim Glücksfall einer Begegnung. Ich erinnere mich an das Archiv mit veröffentlichten und unveröffentlichten Texten, das mein Freund T. in seiner Wohnung in der Varick Street angelegt hatte. Ich erinnere mich an die manchmal schwierigen Begegnungen in der sogenannten Öffentlichkeit, wenn Derrida für eine Einladung zu einem Vortrag gesorgt hatte oder unsere Aufenthalte in einer fremden Stadt sich überschnitten: in Irvine, wo wir vor meinem Abflug im John Wayne Airport zu Abend aßen, in Cérisy, wo ich ihm in großer Runde auf katalanisch zum Geburtstag gratulieren durfte, in Athen, wo wir zusammen in einem kaum besuchten Museum Skulpturen betrachteten, in New York, wo wir zufällig auf der Fifth Avenue aufeinanderstießen. Ich erinnere mich an meine schnelle Fahrt über die Autobahn von Heidelberg nach Frankfurt. Ich wollte ihm meine Freundin S. vorstellen. Es wurde dann doch zu spät und ich mußte ihn direkt zum Flughafen bringen. Ich erinnere mich an die Sommertage in Nizza mit ihm und seiner wunderbaren Ehefrau Marguerite, als er mich in der Wohnung seiner Mutter empfing, mir ein Buch von Frances Yates über die Rosenkreutzer schenkte, das ich in der Altstadt entdeckt hatte, und in einem Restaurant über der Stadt das Du anbot. Ich erinnere mich an die Gegenstände, die mir in seinem Haus vertraut waren, an ein rötliches Sofa aus weichem geripptem Stoff, an Bücher mit Eselsohren, die als Lesezeichen dienten, an ausgetragene grauschwarze Mokassin-Schuhe mit Gummisohle, an Dinge, die wie das Denken selber nur dadurch beseelt sind, daß man auf sie achtet. Ich erinnere mich an das leise Schuldgefühl, weil ich erst zwischen acht und neun aufstand, während er schon seit den frühen Morgenstunden in der überdachten Terrasse an der Arbeit war. Ich erinnere mich an den Abend, als ich mit Marguerite vor dem Fernseher saß, er einen Text schrieb, der »Biodégradables« hieß, uns fragte, ob wir einen Neologismus billigten, den er gerade erfunden hatte, und wir beide ihm davon abrieten, ihn zu verwenden. Ich erinnere mich an meinen Vorschuß an Begeisterung, wenn wir Zeit miteinander
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verbrachten, allein oder in Gegenwart Anderer, sowie an die Begeisterung, die sich sofort einstellte, wenn mir zu einem Gegenstand, mit dem er sich gerade beschäftigte, etwas einfiel, das seine Aufmerksamkeit weckte, zum Beispiel die Stelle über die Lotophagen aus der Dialektik der Auf klärung, die er in seinen Überlegungen zum Drogengebrauch zitiert, oder Benjamins Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt«, auf den ich ihn während einer der vielen Autofahrten nach Ris hinwies, als er meinte, zur Gerechtigkeit habe er eigentlich nichts zu sagen. Ich erinnere mich an die Müdigkeit, die ihn nach dem Abendessen regelmäßig überkam, weil er wenig geschlafen hatte. Ich erinnere mich an das Leiden, das eine plötzliche und unerwartete Kälte verursachte, die manchmal mit mir nichts zu tun hatte, etwa in der Paulskirche oder im Frankfurter Hof, als ich froh war, an dem Tisch mit den Freunden H. und J.-L. zu sitzen. Ich erinnere mich an die unmittelbare Nähe, die sich nach langer Trennung wie von selbst herstellte, mein Lebensgefühl steigerte und meine Befürchtungen Lügen strafte; so bei dem kurzen Wiedersehen in der St. Pancras Station. Ich erinnere mich, daß Alfred Schmidt mit beinahe rührendem understatement zu ihm sagte: »I have heard of you«, als er ihm vorgestellt wurde, und daß ich mit Schmidt in Paris die Buchhandlung La Hune besuchte, wo er ein Exemplar von Otobiographies kaufte. Ich erinnere mich an den furchtbaren Augenblick, als er mich am Telephon vor Gerüchten warnte, ohne mir sagen zu wollen, worum es sich handelte. Ich erinnere mich, daß ich während seiner sechswöchigen Abwesenheit im Frühjahr mit Marguerite ins Kino ging. Ich erinnere mich an die Seminarsitzungen, in denen er mein Referat immer wieder unterbrach, wodurch der Vortrag sich zum Leidwesen der Zuhörer über mehrere Wochen hinzog. Ich erinnere mich an den unveröffentlichten offenen Brief, den ich ihm schrieb, als mich eine Formulierung in dem versöhnlichen Geburtstagsgruß, den er an Habermas richtete und der als Morgenröte am philosophischen Himmel begrüßt wurde, enttäuschte und betrübte, obwohl er mich bereits scherzhaft gewarnt hatte: »Es wäre wirklich zu dumm, wenn wir uns wegen Habermas streiten würden!« Wer kann und will sich heute noch daran erinnern, daß an bundesrepublikanischen Universitäten der achtziger Jahre eine Hexenjagd auf Derrida veranstaltet wurde? Die späte Erkenntnis, daß er sich für die Sache der Linken und Liberalen einsetzte, kein gegenauf klärerischer Neokonservativer war, hat dann eine Auseinandersetzung mit den Argumenten selber verdrängt. Es gab auch einen Derrida der Strategien und Taktiken, der es verstand, die Heftigkeit der militanten Ablehnung in eine unerwartete Anerkennung zu überführen. Ich erinnere mich an die beiden mir gänzlich unbekannten älteren Damen, die sich zu meinem Erstaunen in einem Café am Rand des Parc Montsouris über sein Werk unterhielten. Ich erinnere mich, daß wir einmal die Brasserie des Lutétia verließen, weil er an einem Tisch eine
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Feindin entdeckt hatte, die eine Freundin gewesen war. Ich erinnere mich an die wöchentlichen Besuche von G.S., die dienstags in Pittsburgh abhob, mittwochs in Paris landete, an seinem Seminar teilnahm und donnerstags wieder zurückflog. Ich erinnere mich an B., der ihm eine übelriechende Flüssigkeit einheimischer Indianer mitbrachte und den ich fünfzehn Jahre später in Bogotá plötzlich wiedererkannte. Ich erinnere mich, daß er an mehreren Orten gleichzeitig sein konnte, die Wärme durch den eindringlichen oder abgelenkten Blick aus der Fremde plötzlich zu einem unberührbaren Körper wurde. Ich erinnere mich an die Freunde, die ich durch ihn kennenlernte und die für mich einen Horizont und eine Mitte bildeten, ein Idealbild, das mir in der höflichen Distanz der schönen, klugen, witzigen, aufmerksamen S. begegnete. Ich erinnere mich, daß wir oft über Flugangst sprachen. Als er sich wieder einmal nach Los Angeles aufmachte, schenkte ich ihm Julien Greens Roman Léviathan und schrieb ihm einen Satz aus dem Tagebuch des Schriftstellers in das Exemplar: »Man muß das Glück im Flug erhaschen.« Zu Green wollte ich ihn immer bekehren, wie zu Adorno, den er kaum gelesen hat. Derrida hat gerne Anekdoten und Geschichten erzählt, oft aus seiner Kindheit und Jugend, hat auch gerne zugehört, wenn einer zu erzählen wußte. Damit hängt sicherlich seine Leidenschaft für Dokumentarfilme und Dokumentationen zusammen. Er fände es unerträglich, daß selbst die allem Anschein nach unwichtigste und dümmste Einzelheit für immer verloren gehe, hat er mir einmal versichert, als würde er schreiben, um den unvermeidlichen Verlust zu verhindern. Ich lese die Aufsätze, die X zur Erinnerung an seinen Lehrer zusammengestellt und in einem kleinen Buch veröffentlicht hat. Die Anekdoten sind alle stimmig, weil jeder, der Derrida kennengelernt hat, ihn darin wiedererkennen wird. Es fehlt aber etwas. Mir geht auf, daß eine Erinnerung nicht nur aus der Stimmigkeit der Anekdoten bestehen kann, des Abbilds, das sich aus ihnen ergibt, der akkuraten Charakterisierung. Das sich erinnernde Ich muß selber am Leben sein. Ach, ich will gar nicht in einen Wettstreit um die Erinnerung treten! Viele der Anekdoten und der Geschichten, die Derrida erzählt hat, im Freundes- oder Familienkreis, habe ich, wie ich gestehen muß, vergessen, viele der Witze auch, mit denen er mich zum Lachen brachte. G., ein Freund aus Barcelona, forderte mich vor ein paar Jahren während eines Gesprächs mit Studenten auf, von der Zeit mit Derrida zu berichten. Weil ich mir zunächst recht dumm vorkam, ratlos war, nicht wußte, wo ich beginnen sollte oder was ich sagen konnte, habe ich vorgeschlagen, gemeinsam über eine Frage nachzudenken, nämlich über die, was es bedeutet, einen Lehrer zu haben. Ein Lehrer zeigt mir die Welt zum ersten Mal,
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führt mich herum, macht mich auf Unebenheiten und Untiefen aufmerksam, auf den Schrecken und die Schönheit, vermittelt mir einen Sinn für Ernsthaftigkeit, indem er mir durch seine Lehre mitteilt, daß es um etwas geht, es etwas gibt und nicht vielmehr nichts. So muß ich schon bei der frühen Lektüre von Derridas Büchern den dunklen, vagen, unbestimmten und doch gewissen Eindruck gehabt haben, sie seien der genaue Ausdruck einer schon angeeigneten Weltsicht oder eines bereits empfundenen Lebensgefühls. Gleichzeitig ermöglichte es mir ihre Stimme, ein Verständnis meines Gefühls zu erlangen, als hätte ich es nur dumpf gefühlt und damit nicht wirklich, oder als hätte es, wenn nicht der Bestimmung, so der Reflexion bedurft. Der Lehrer erweckt seine prospektiven Schüler zum Leben des Geistes, indem er sagt, so sei es; der Schüler, von einem ozeanischen Gefühl erfüllt, antwortet, ja, es ist so. Wo sich aber ein solches Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler herstellt, der Lehrer den Schüler durch die Welt führt, bietet sich diesem eine ungeheuere Abkürzung. Die Welt tut sich ihm in ihrer Wahrheit auf, sie tut sich ihm als ganze dar, ohne daß er einen Weg über mühsame Zwischeninstanzen zu gehen bräuchte, die vielleicht die Gelehrsamkeit fördern, niemals jedoch eine überwältigende Wirkung auf ihn ausüben können, und ohne von Welterschließung zu Welterschließung irren zu müssen, um an jeder etwas zu finden und an keiner etwas, das mehr wäre. Abkürzungen gibt es dann freilich im Leben doch nicht, so das man immer wieder der Versuchung widerstehen muß, einen Verrat an der Lehre zu üben, der auch darin bestehen kann, daß man sie erstarren läßt. Daß man einen Lehrer hat, zeigt sich daran, daß man als Schüler noch den unbedeutendsten Text des Lehrers auftreiben und lesen möchte, weil man glaubt, darin stünde etwas Entscheidendes, das man auf keinen Fall versäumen dürfe. Von Derrida habe ich jahrelang fast alles gelesen, unermüdlich habe ich nach der Gelegenheitsarbeit in der entlegensten Publikation gejagt, obwohl ich von anderen, wichtigen Philosophen nichts gelesen hatte, nicht einmal ihre überall leicht erhältlichen Hauptschriften. An eine beiläufige Bemerkung über Derrida, die seine Schülerin G.S. in New York machte, kann ich mich heute noch erinnern, weil sie mir einen bedeutenden Umstand zu treffen schien. Viele glauben, so sagte sie, daß Derridas Denken durch und durch hermetisch ist und den Leser vor unüberwindbare Hürden stellt. Dabei ist der Gedanke, um den seine Texte kreisen, ein ganz einfacher, hat man ihn einmal verstanden. Ein nordamerikanischer Student, der an dem Frankfurter Hauptseminar des ehemaligen Erzfeindes Jürgen Habermas teilnahm, hat diesen Gedanken gelegentlich in ein Bild gefaßt. Wenn der eine Deckel des Fasses sich löst, dann ist der andere Deckel auch nicht mehr sicher. Als ich vor kurzem
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eine Betrachtung des Freundes J.-L. las, in der er von einem Spaziergang mit Derrida erzählt, bei dem ihm deutlich wurde, daß man mit einem Philosophen am wenigsten vielleicht über Philosophie spricht, habe ich an die Bemerkung von G.S. gedacht. In einer Unterhaltung, einem Gespräch, einer Diskussion wirkt ein Gedanke oft überraschend einfach, scheint dem Austausch von Gedanken häufig etwas abzugehen, weil ihnen gleichsam der Körper fehlt, dessen Entwicklung von der Schrift abhängt, von der präzisen, Einzelheiten und Dunkelstellen berücksichtigenden Formulierung, die wiederum den Keim für andere und neue Gedanken enthalten oder eine im mündlichen Austausch erhaltene Anregung zu solchen Gedanken, zur Überprüfung von bereits gedachten Gedanken, in sich aufnehmen und fruchtbar machen kann. Der Körper des Gedankens läßt sich nicht von ihm trennen. Es ist, als hätte Derrida genau diese Einsicht ernst genommen, die sich vielleicht mit Deleuzes Abwehr der Kommunikation in der Philosophie berührt. Noch in dem Seminar, das der Suhrkamp Verlag mit geladenen Gästen veranstaltete und das die Möglichkeit für eine sachliche Auseinandersetzung zwischen Derrida und Habermas schaffen sollte, antwortete Derrida auf eine Frage, die ein Teilnehmer ihm stellte, sein Gedanke sei wirklich ganz einfach, eine bloße Erinnerung an die Bedeutung der Ausnahme für den Normalfall, auf der er beharre, so unwichtig sie auch Anderen erscheinen möge. Vergegenwärtigt man sich nun den gestochenen, klaren, strengen Stil der Abhandlung La voix et le phénomène, so muß man sich vor dem Mißverständnis hüten, es handle sich dabei um die Darstellung eines Gedankens, der die körperliche Last abgeworfen hat. Denn es handelt sich lediglich um einen schlanken Körper, der sich ebensowenig ablegen läßt, vielleicht, weil er mit dem Geist noch inniger verbunden ist. Wenn Karl-Otto Apel zur leisen Verwunderung des Kollegen Habermas einmal behauptet hat, man müsse sich als Student auf die Gigantomachie einlassen und sich einem Philosophen wie Derrida verschreiben, um dann zu begreifen, daß der weitere Weg der Erkenntnis an anderer Stelle verlaufe, so könnte man diesem anspruchsvollen Bildungsroman zunächst ein bescheideneres Lernziel entgegenstellen. Um Derrida überhaupt zu verstehen, muß man erst lernen, die verschiedenen Erscheinungen seiner verblüffenden Verwandlungsgabe zu lieben, den schlanken und den unförmigen Körper. Was mich zu Derrida hingezogen hat, und was ich mir in meinem eigenen Verhalten zueignen wollte, meistens vergeblich, war die eigentümliche Verbindung eines gewaltigen Anspruchs des Denkens und einer entwaffnenden Einfachheit im unmittelbaren Umgang. Derrida war ein sehr herzlicher Mensch, der geliebt werden wollte und der seine Freunde geliebt hat. Das Konventionelle hatte bei ihm ein freundliches Gesicht. Sein verschmitztes
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Lächeln im wissenden Einverständnis schuf gegenüber der Kälte und der Dummheit der Welt einen Zufluchtsort der Wärme. Als er, der in der ganzen Welt verehrte Philosoph, neben mir stand und ein deutscher Kollege sich uns näherte, der hohes akademisches Ansehen genoß, flüsterte er mir ins Ohr: »Da kommt er, der Herr Professor.« In diesem Augenblick waren wir wie Kinder, die wußten, wie es um die Welt der Erwachsenen bestellt ist, und sich von den würdigen Gesichtern nichts vormachen lassen. Während der Jahre, die ich in Paris gelebt habe, am Anfang ziemlich einsam, haben er und Marguerite mich in ihre Familie aufgenommen, mich nicht wie einen Studenten oder einen Schüler behandelt, sondern mit eben jener Herzlichkeit, die mir aus dem Süden vertraut war und auf die ich höchst beglückt angesprochen habe. Einmal habe ich beide in das kleine Zimmer eingeladen, das ich im Collège Franco-Britannique bewohnte, zum Tee. Ich besorgte zuckersüße bunte petits fours. Sie ähnelten den kleinen Kuchenstücken, die man in Barcelona kaufen konnte, in den Konditoreien meiner Kindheit und Jugend, schmeckten im Unterschied zu jenen aber nicht sonderlich. Die Farben, rosa, gelb, blau, brachten mein Entzücken darüber zum Ausdruck, daß Jacques und Marguerite mich besuchten und eine Weile blieben. Als er Vertrauen zu mir gefaßt hatte, hat er mit mir so gesprochen, daß ich stets den Eindruck der Offenheit hatte, nicht der Vorsicht oder Zurückhaltung. Daß er mich dann einen Freund genannt hat, war für mich das Anzeichen einer Freigebigkeit des Gefühls, der ich nur durch meine Treue entsprechen konnte, da ich ihn ja bewundert habe, wie man einen Freund gewöhnlich nicht bewundert. Meine Bewunderung galt einem Genie, nicht nur einem an Erfahrung und Einsicht weit überlegenen Menschen und Philosophen. Freunde, die ich bei Derrida eingeführt habe, die abends mit mir im Zug nach Ris fuhren, um mit ihm, Marguerite und anderen Gästen zu Abend zu essen, hat er mit großer Höflichkeit empfangen. Einmal begleitete mich L., der seinen Namen kannte, aber nicht sein Werk. Als Derrida erfuhr, daß L. Weinhändler war wie sein eigener Vater, war es ihm wahrscheinlich sehr recht, daß ich keinen Akademiker mitgebracht hatte. Ich erinnere mich daran, daß er mir zehn oder zwölf Jahre vor seinem Tod erklärt hat, er wolle nur noch zu Tagungen reisen, die Freunde veranstalteten. Damals habe ich diese Erklärung nicht besonders wohlwollend aufgenommen, weil ich sie als einen weiteren Beweis für eine Entwicklung angesehen habe, die ich mit Argwohn betrachtete. Ich fragte mich, ob nicht Derrida, der, wie es schien, immer häufiger reiste und für alle möglichen Anlässe und Unternehmungen zu haben war, sogar im konservativen deutschen Feuilleton salonfähig wurde, sein Denken ausverkaufte und sich gegen Gedanken absperrte, die es herausfordern konnten, als hätte er selber am Ende die unmögliche Abkürzung gesucht. Heute glaube ich, daß sich in Derridas Verhalten wiederum seine Großherzigkeit
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äußerte, vor allem, weil ich den zunehmend scheußlichen Betrieb der glatten Wichtigtuer und eitlen Langweiler, der Scharlatane und machtgierigen Drahtzieher besser zu kennen meine. Fühlte er nicht vielleicht, daß er denen, die sein Denken auf die eine oder andere Weise ernst genommen, ja dafür manchmal sogar den Preis bezahlt hatten, sich beruflich ins Abseits drängen zu lassen, etwas schuldig war, eine Anerkennung ihres Einsatzes und ihrer Leidenschaft? Im Winter des Jahres, das dann das Jahr seines Todes war, wartete ich in einer Senator-Lounge des Frankfurter Flughafens darauf, in die Maschine nach Tokio einsteigen zu können. Vor einem Bildschirm, auf dem die Nachrichten von CNN oder n-tv liefen, sah ich einen Mann mit weißem Haar, Brille und gestreiftem Tweed-Jackett, der mir zwar den Rücken zukehrte, den ich aber dennoch wiederzuerkennen glaubte. War es Derrida? Ich habe mich ihm nicht genähert. Warum? Weil ich wußte, daß ich mich zu ihm nicht mehr von innen her verhalten konnte, ohne mich zu ihm von außen aus verhalten zu wollen und ohne ein anderes Verhältnis zu ihm gefunden zu haben. Mein Weg hatte mich weggeführt, obwohl es dafür keinen äußeren Anlaß gegeben hatte, und nun war ich mit einer Frage allein, auf die ich die Antwort schuldig blieb, vielleicht, weil ich es nicht vermochte, sie mir deutlich genug zu stellen. Ich war ein Schüler gewesen. Zu dem Kreis der Schüler hatte ich jedoch nie gehört, war ihnen meistens mit Ironie oder Mißtrauen begegnet und hatte sie mit wenigen Ausnahmen nur schwer ertragen, sei es aus Eifersucht, aus Überheblichkeit oder aus einer beinahe instinktiven Reaktion gegen den Ernst der Buchstabentreue, den sie nach meinem Eindruck verkörperten und der dem Spiel, der Beweglichkeit des Denkens, Grenzen setzte. Deshalb waren mir wohl jene Situationen nie geheuer gewesen, in denen ich beobachtet hatte, wie sich ehemalige Schüler, die in Ungnade gefallen waren, um die Gunst des Lehrers bemühten, vergeblich oder erfolgreich, ja ohne recht abschätzen zu können, ob es ihnen gelang oder nicht. Sie führten mir, wenn ich es zugespitzt ausdrücke, die Austauschbarkeit von Innen- und Außenansicht vor Augen, wie in der Politik, in der der Liebling von heute bereits der Bösewicht von morgen ist. Meine Freundschaft mit Ch., der sich mit sachlichem Antrieb immer wieder mit Derrida beschäftigt, hat mich spüren lassen, daß ich doch nicht ganz allein bin. Ich möchte die Liebe, die ich erfahren habe, in eine Kraft verwandeln, die Liebe für den Lehrer und den Menschen, die von dessen Zuwendung lebte, von der Zuwendung seines Denkens, das mich etwas Wirkliches hat entdecken lassen, nicht nur ein erweitertes Selbst. Ist mir das noch möglich? J.-L. fragt sich, ob wir nicht unfähig waren, ihn zurückzubehalten.
Anhang I: Ein Mann zu jeder Jahreszeit
Ist es verrückt, eine entstellende Verkehrung der Dinge, wie sie sein sollten, wenn man zu schreiben beginnt, ohne zu wissen, ob der Gegenstand wichtig ist, ja ob es überhaupt einen Gegenstand gibt? Die Zeilen, mit denen Robert Bolts Stück A Man for All Seasons anfängt, werden von dem Gemeinen Mann gesprochen. Sie lauten: »Es ist verrückt! Man setzt an den Anfang eines Stücks, das aus Königen und Kardinalen in sprechenden Kostümen und Intellektuellen mit aufgestickten Mündern besteht – mich.« Verdächtigt man die Könige, Kardinäle und Intellektuellen, ganz zu schweigen von den Königinnen, die es für ausgemacht halten, daß die Dekonstruktion zur queer theory beitragen kann, lediglich »sprechende Kostüme« zu tragen, so riskiert man sicherlich, in die Lage des Gemeinen Mannes zu geraten, zumindest dann, wenn man die Perspektive »aufgestickter Münder« einnimmt. Wenn das Ich am Ende der zweiten Zeile erscheint, wird die Sprache schal, hört der aufgebauschte Satz abrupt auf, als hätte man ihn flachgelegt. Man muß jedoch ebenfalls davon ausgehen, daß es eines Glaubens oder einer Überzeugung bedarf, und seien sie noch so unbedeutend, um sinnvoll über einen Gegenstand zu reden, eines Glaubens oder einer Überzeugung, die nicht einen Sinn für das Genehme in sich bergen, sondern einen Sinn für Wahrheit, für das, was jenseits des Eigennutzens und der pragmatischen Überlegung liegt, jenes Interesses, das in den Worten der Hauptfigur des Stücks das des »reinsten Klempners« ist. Wollte man nun an dieser Stelle bereits den Rekurs auf den Begriff des Sinns und des Sinnvollen zurückweisen, könnte man es auch anders ausdrücken. Denn entweder man nimmt an, daß queer theory und eine dekonstruktive Annäherung an eine solche Theorie auf etwas hinauslaufen, oder aber es wäre besser, man hält den Mund. 1 | Robert Bolt, A Man for All Seasons, London 1995, S. 1. 2 | Ebd., S. 70.
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Es gilt also, im Namen eines Glaubens oder einer Überzeugung, im Namen jenes »Sinns für das Selbst«, den Bolt entwickeln möchte, ohne sich auf irgendeine »Magie« zu beziehen, über »Derrida und queer theory« zu schreiben, eben um sich gegen alle zu wenden, die die Bedeutung von Theorie in dem, was sie »queering« nennen, ausmachen wollen, in einer Handlung, die so verstanden wird, daß sie jede Möglichkeit, jeden Versuch, sich selber treu zu bleiben, sich in Übereinstimmung mit sich selber zu verhalten, untergräbt oder vernachlässigt. Man kann nämlich nicht nur für eine gewisse Zeit und in Erwartung weiterer Veränderungen sich in Übereinstimmung mit sich selber verhalten, sich selber treu bleiben. In dem Kapitel ihres Buchs Bodies That Matter, das »Critically Queer« heißt, untersucht Judith Butler die Aneignung des kränkenden und verletzenden Ausdrucks »queer«, die als das subversive »queering« eines »früheren Wortgebrauchs« betrachtet werden muß, als ein Wortgebrauch, der gegen den Strich geht, sich gegen die herrschende Norm und ihre negativen Auswirkung richtet, die bereits eine Form von »queering« darstellt (»das beschämende Tabu, das ›queert‹«). Diese militante Inversion soll Licht auf die Verzerrungen werfen, denen der sogenannte »Präsentismus« entspringt, ein Gesetz oder eine Logik, die ihre eigene »Geschichtlichkeit« verbergen und die »Kraft« und das »Ansehen« ihres Geltungsanspruchs aus dieser Verbergung schöpfen. Sie ist von einer Demontage des Subjekts untrennbar, die kaum Raum für einen Glauben oder eine Überzeugung läßt. »Willen« und »Wahl« identifiziert Butler mit der »Magie des Namens«. Ihr Argument beruht freilich nicht auf dem immanenten Determinismus der Substanz, sondern auf ihrem Verständnis der quasitranszendentalen Funktion, die Derrida der Iterabilität zuschreibt, oder, in ihren eigenen Worten, den Worten eines queer theorist, auf »Performativität« als ein »Verhältnis«, bei dem man »in das einbezogen ist, wogegen man sich kehrt«. Ist damit gesagt, daß ein Zug gegen die »kritische« Idee einer queer theory ebenfalls ein Zug gegen die Dekonstruktion sein muß? Bejaht man diese Frage, so kann es durchaus sinnvoll sein, von »Derrida und queer theory« zu sprechen, wenn auch nur, um gegen den Beitrag der Dekonstruktion zu der Entwicklung einer solchen Theorie zu argumentieren. Man würde sich von der recht trivialen Annahme leiten lassen, daß 3 | Ebd., xiii. 4 | Judith Butler, »Critically Queer«, in: dies., Bodies That Matter, New York 1993, S. 226 und S. 228. 5 | Ebd., S. 226. 6 | Ebd., S. 227. 7 | Ebd., S. 228. 8 | Ebd., S. 241.
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der Eigenname des Philosophen für ein Denken einsteht, dessen Überzeugungskraft zur Begriffsbildung in Bereichen führt, die nicht die der Philosophie sind, und daß die Berufung auf es durch den queer theorist nicht einfach als unsinnig abgetan werden kann. Kehrt man sich aber auf diese Weise gegen den Zusammenhang zwischen »Derrida und queer theory«, so eignet man sich nicht wiederum das Wort »queer« an, sondern markiert vielmehr die Grenzen des Einbezogenseins oder der »Performativität« selber. Vielleicht findet man dann sogar Hilfsquellen für einen solchen Gegenzug in Gesichtspunkten der Dekonstruktion, die vom queer theorist übersehen werden. Ist Derrida folglich deshalb ein Mann zu jeder Jahreszeit, weil die Dekonstruktion in der Lage ist, die Felder zu bewässern, die sich zu verschiedenen Zeitpunkten des intellektuellen Kalenders bewirtschaften lassen, so daß man die queer theory als Beispiel für diese Fruchtbarkeit des Geistes ansehen könnte? Man müßte sich dann weiterhin fragen, ob die Dekonstruktion selber am Ende saisonabhängig ist und ob der Umstand, daß sie zur Umgrenzung und Erschließung des wissenschaftlichen Feldes beiträgt, das man als queer theory bezeichnet, eine bloß selektive Lesart Derridas voraussetzt. Wie nun, wenn ein queer theorist behaupten würde, daß an Derrida, dem Mann zu jeder Jahreszeit, dem Philosophen, dessen Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit den Reichtum seines Denkens bezeugt, etwas genuin »queer« sei, durch »binäre Entgegensetzungen« uneingeschränkt und darum – der Wahrheit nahe? Wäre dies ein Beispiel für ein »queering« von Derrida, ja für sein »outing«? Würde Derrida dann sogar als Leitbild des »queering« fungieren, unmittelbar hinter Butler, ein Experte im Hintergrund der queer theory? Oder ist Derrida ganz im Gegenteil ein Mann zu jeder Jahreszeit in dem Sinne, in dem Bolts Stück den Ausdruck zitiert und im Titel verwendet: ein Philosoph, auf den man sich verlassen kann, weil er, sich selber treu oder in Übereinstimmung mit sich selber, mit dem »Hinter« der Dekonstruktion, das nicht eine »Hinterwelt« meint, sondern die erscheinende Welt, für das einsteht, wovon er überzeugt ist? Derrida hebt die Bedeutung jenes Nicht-Dekonstruierbaren hervor, das man beinahe als ein Absolutes begreifen muß und weder auf »Geschichtlichkeit« noch auf »Performativität« zurückführen kann. Welcher queer theorist wäre bereit, sich zu einem solchen Mann zu bekennen, ihn gleichsam in seine Arme zu schließen? Ein Theoretiker der »Performativität«, ob »queer« oder nicht, könnte diese Anhäufung von Fragen als eine »Vorführung« deuten, als Veranschaulichung von Butlers Vorlieben in ihrer Untersuchung einer »kritischen« queer theory, da ja der erste Abschnitt des Kapitels »Critically Queer«, der in der Originalausgabe anderthalb Buchseiten füllt, über den Daumen gepeilt mindestens fünfzehn Fragesätze enthält, von denen manche sich über mehrere Zeilen erstrecken. Die
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Vorliebe für das ständige Aufwerfen von Fragen, für ein »querying«, steht in einem deutlichen Kontrast zu dem assertorischen Stil, der den Text weitgehend prägt. Der Passus etwa über die Möglichkeit, »ich« zu sagen, richtet sich an Althussers Theorie der Anrufung aus, ohne sich aber auf eine Auseinandersetzung mit Argumenten und Gegenargumenten einzulassen. Oder entspringt die Vervielfältigung der Fragezeichen gerade einem Gedankengang, der aufgrund von aneinandergereihten Behauptungen fortzuschreiten scheint? Diese Behauptungen berufen sich auf eine Anzahl von Philosophen und Theoretikern, um sich den Rücken zu stärken. In der queer »theory« erweist sich die »Theorie« häufig als abgeleitet und epigonal; sie hat Gedanken, die an anderer Stelle entwickelt worden sind, zur Voraussetzung, im Falle von Butler in den Schriften von Nietzsche, Foucault, Althusser und natürlich Derrida. Oder würde ein queer theorist, vor allem, wenn er noch ein junges Ding ist, behaupten, daß die »theoretischen« Ideen, auf die er sich bezieht, erst in der queer theory zu sich selber finden? Vielleicht liegt also zunächst die Aufgabe darin, festzustellen, was es genau ist, das die Theorie in eine queer theory verwandelt, und sich dabei von der Erwartung leiten zu lassen, daß sich Derrida der Sache oder der Gesellschaft zugesellt, ja unter den Gastgebern entdeckt werden kann. Sucht man nach einer Definition des Wortes »queer« in Butlers Text, ist es nicht nur so, daß man wenig findet, was zur Verdeutlichung beisteuern würde. Je weiter man in ihn eindringt, desto seltener wird das Wort »queer« eigentlich gebraucht. Auf halbem Weg verschwindet es sogar fast völlig und wird durch das Wort »homosexuell« ersetzt. Es bleibt ungeklärt, ob die Autorin dem Leser suggerieren will, daß man beide Wörter als Synonyme gebrauchen kann und sogar sollte, ob die Verlagerung durch eine implizite Kritik an den neuen Verwendungsweisen des Wortes »queer« zustande kommt, oder ob »queerness« als eine Spezies verstanden werden muß, die der »Homosexualität« zuzuordnen ist, selbst wenn ihre Furore machende Erscheinung die Bestimmung des Gattungsnamens zu tingieren droht. Während es am Anfang von »Critically Queer« heißt, das Wort »queer« empfehle sich »einer jüngeren Generation, die sich der institutionell eingerichteten und reformistischen Politik widersetzen möchte, für die der Ausdruck ›schwul und lesbisch‹ gemünzt worden ist«10, während das Wort folglich für den Anspruch einsteht, es könne auch »innerhalb der Homosexualität eine sexuelle Differenz geben«11 und wahrscheinlich ebenfalls innerhalb der Heterosexualität, zieht Butler später in demselben Kapitel eine Parallele zwischen »Feminismus« und »gender« einerseits, 9 | Ebd., S. 225. 10 | Ebd., S. 228. 11 | Ebd., S. 240.
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»Sexualität« und »queer theory« andererseits,12 als wolle sie damit anzeigen, daß »Sexualität« oder, genauer, die »Politik« der »sexuellen Differenz« in der (Hetero- und) Homosexualität den eigentlichen Gegenstand einer Theorie, die man »queer« nennt, bildet. Es fällt auf, daß unmittelbar nach der Einführung der einzigen ausdrücklichen und »positiven« Definition von »queerness«, auf die man in ihrem Kapitel stößt, Butler an der Berechtigung des Widerstands zweifelt, den die »jüngere Generation« gegen die Institution einer Sexualpolitik auf bringt, die man als die der »Schwulen und Lesben« bezeichnet, weil diese eben den revolutionären Impuls in die Strategie des Reformismus überleitet. Sie unterstreicht nämlich, daß in den frühen neunziger Jahren »queerness« eine »vorwiegend weiße Bewegung« war, die eine »falsche Einheit von Frauen und Männern« darstellte.13 Auf kritische Art und Weise »queer« zu sein, bedeutet für Butler daher, Selbstkritik zu üben (die ältere Generation, die sich als die der Schwulen und Lesben identifiziert, wendet sich gegen sich selber in der Gestalt einer jüngeren Generation), und gleichzeitig kritisch zu sein gegenüber den aussondernden, herabsetzenden, verhüllenden Auswirkungen einer Kritik, die das Adjektiv »queer« für sich beansprucht (die jüngere Generation wendet sich ebenfalls gegen sich selber, sorgt vielleicht sogar für eine Wiederkehr der »feministischen und antirassistischen Mobilisierung in der Politik der Schwulen und Lesben«, 14 und tritt so erst wirklich das Erbe vorangehender Befreiungsbewegungen an). Es ist, als würde sich die Autorin auf beide Seiten der kritischen Teilung schlagen. Sie signalisiert sogar Bereitschaft, den Gebrauch des Worts »queer« selber aufzugeben,15 wohl, um nicht der »Magie des Namens« zu verfallen. Wer sich auf kritische Art und Weise »queer« verhält, akzeptiert die Notwendigkeit von Ausschlüssen und richtet sich zugleich gegen deren Zufälligkeit. Aber solange die Befreiungsbewegungen ihre jeweilige Besonderheit nicht abstreifen und sich zur Einheit einer einzigen Bewegung zusammenschließen, wird ein Rest jeden, der einmal als »queer« bekannt war, an die Dringlichkeit mahnen, mit einer neuen Wortprägung in den politischen Kampf zu treten, einem neuen Namen, der an eine sexuelle Differenz gebunden bleiben muß, die so oder so der Generation der »queerness« und der Generation der Schwulen und Lesben gemein ist. Das Problem ähnelt hier dem, das in der sogenannten Politik der Identität auf kommt. Wenn die kritische Tragweite einer Befreiungsbewegung nicht ausreicht, um ein Unterscheidungsmerkmal ausfindig zu machen, das eine schwule Identität von einer anderen trennt, dann 12 | Ebd. 13 | Ebd., S. 223. 14 | Ebd., S. 228. 15 | Ebd., S. 229.
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müssen alle, die eine solche Identität in Anspruch nehmen wollen, auf ein bestimmtes Verständnis, eine bestimmte Interpretation, eine bestimmte Konstruktion der Sexualität rekurrieren, vielleicht sogar auf die Idee der Sexualität »selber«.16 Wie steht es also um die Sexualität in Derridas Werk, mag sie nun »queer«, schwul oder lesbisch sein? Früher oder später wird der Detektiv, der sich als »queer« oder schwul ausweist, eine Entdeckung machen. In einem Fragment seines Buchs Die Postkarte spielt »Derrida« auf eine Diskussion an, die im Juni 1977 auf dem Rasen vom Balliol College stattfand. Die Wörter, die in Klammern stehen, werden die Aufmerksamkeit des Privatdetektivs besonders auf sich ziehen: »Ein (sehr hübscher) junger Student glaubte, mich herausfordern und auch, denke ich, mich ein wenig verführen zu können, indem er mich fragte, warum ich mir nicht das Leben nehme.«17 »Derrida« hat, wie es scheint, keine Wahl, als sich entweder das Leben zu nehmen oder sich als Mädchen zu verkleiden, um mit dem katalanischen Schriftsteller Francesc Pujols zu sprechen.18 Wenn er sich so auf die richtige Fährte hat bringen lassen und geduldig genug ist, um sich durch hundert weitere Seiten zu wühlen, wird der Detektiv, der sich als »queer« oder schwul ausweist, schließlich kaum ein überzeugenderes Beweisstück aufstöbern können als jenes, das zwei Sätze bieten, die wiederum im selben Jahr niedergeschrieben wurden, am 7. Oktober. Auf der betreffenden Seite werden die Sätze durch einen Leerraum getrennt: »Ich werde auf dem Boden liegen, auf meinem Rücken / Laß das Band [la bande] nicht herumfliegen.« 19 Bezieht er sich auf den unmittelbaren Zusammenhang, in dem diese Eintragung oder Postkarte steht, so muß der Detektiv, der sich als »queer« oder schwul ausweist, zweifellos das Wort »bande« mit dem Wort »Band« übersetzen; der zweite Satz verlangt, daß ein Tonband nicht sich selber überlassen bleibt und dadurch verloren geht. Weil er aber wahrscheinlich das vorhergehende Buch des Philosophen gelesen hat, Glas, ist der Detektiv, der sich als »queer« oder schwul ausweist und den die erste Eintragung oder Postkarte an eine Wendung in einem Roman von Jean Genet erinnert, die Derrida fasziniert und »verführt« (»Mädchen so blond wie Jungen«20), dessen gewahr, daß sich Derrida im Gefolge des Schriftstellers den Wörtern »bander« und »bande« aufmerksam zuwendet, der bindenden, pressenden, 16 | Vgl. dazu: Alexander García Düttmann, Uneins mit Aids, Frankfurt a.M. 1993, S. 79f. 17 | Jacques Derrida, La carte postale, S. 19. 18 | »No tinc més remei que suïcidar-me o vestir-me de dona.« (Francesc Pujols, La tardor barcelonina [Der Herbst in Barcelona], Barcelona 2005, S. 29) 19 | Jacques Derrida, La carte postale, S. 129. 20 | Jacques Derrida, Glas, Paris 1974, S. 96.
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klemmenden, umschnallenden, spannenden, straffenden Kraft,21 die es im Französischen erlaubt, das Verb im Sinne des Erigierens zu verwenden. »Derrida« liegt also auf seinem Rücken und bittet den Anderen in einer Szene gegenseitiger Verführung, seinen Ständer nicht zu verschwenden. »Geh’ nicht heim mit deinem Ständer / Er wird dich nur verrückt machen«, singt Morrissey. Ist es folglich nicht klar, daß »Derrida« den Boden betritt, den man »queer« nennt? Vielleicht. Betritt er aber ebenfalls den Boden der queer theory? Das wäre dann der Fall, wenn man die Erektion des Anderen mit der »Logik« der »anthérection« in Verbindung bringt. Es handelt sich dabei um einen Neologismus, den Derrida in Glas gebraucht, um sprachlich Kastration und Fruchtbarkeit ineinanderfallen zu lassen, oder um das gleichzeitige Ermöglichen und Unterbinden einer Erektion beim Namen zu rufen.22 Erweitert jedoch nicht eine solche verquere Erektion die Grenzen der queer theory über die Grenzen einer Sexualität hinaus, auf die sich sinnvollerweise das Wort »queer« noch anwenden läßt? Verwandelt sie nicht in gewisser Hinsicht jede Gestalt von Sexualität in etwas, das man als »queer« bezeichnen muß, als verquer, so daß sich entweder die Spezifität einer queer theory in einer allgemeinen Theorie der sexuellen Differenz auflöst, oder der Gegenstand der Theorie selber verschwindet und mit ihm auch die Theorie, gleichgültig, ob man sie mit dem Prädikat »queer« versieht oder nicht? Hat er Derrida einmal Tür und Tor geöffnet und dadurch eine Grenze der queer theory erreicht, bleibt dem Theoretiker noch die Möglichkeit, eine dritte und letzte Wahl zu treffen, bevor er sich aus dem Staub macht. Er kann, will er sich von seiner großzügigen Seite zeigen, die Mitglieder der Generation, die als »queer« anerkannt werden, zu einer Vorhut der Sexualität oder der sexuellen Differenz erklären: »We’re here, we’re queer, so get fuckin’ used to it.« Wenn es freilich zutrifft, daß Sexualität durch den Widerstand gegen Hetero- und Homosexualität eingeschränkt und zugerichtet, die sexuelle Differenz verdinglicht werden kann, wenn, anders ausgedrückt, es einer Vorhut bedarf, um gegen die Gewalt anzugehen, die der »queerness« durch den Reformismus der Schwulen und Lesben und durch den weitaus sichtbareren Konservativismus der Heterosexuellen angetan worden ist, dann darf man nicht vergessen, daß die »Logik der ›anthérection‹«, auf die der queer theorist Bezug nimmt, um über »binäre Entgegensetzungen« hinauszugelangen, deutlich macht, daß es kein Hinausgelangen gibt, keine Transgression, die nicht gleichzeitig als eine Regression gewertet werden müßte, als Rückfall, der die Absicht 21 | Ebd., S. 30. 22 | Ebd., S. 148. Von einer »logique de l’anthérection« spricht Derrida auf S. 157.
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durchkreuzt, die Sexualität von ihren Fesseln zu befreien. Denn jedes Festbinden und jedes Losbinden sind unentrinnbar und unentwirrbar in ein double-bind eingebunden. Die Zuwendung zur Dekonstruktion überantwortet den queer theorist am Ende jener »unmöglichen Homosexualität«, die Derrida in »Circonfession« beschwört, stets unsicher, ob er Trauben oder Eier berührt, die Eier des Cousins mit einem verqueren androgynen Namen, Claude, oder die Weintrauben, die Augustinus, der junge Teufel, stibitzt und die in die Hose verpflanzt werden, die der Geliebte des Diebes trägt.23 Immer wieder wird der queer theorist entscheiden müssen, ob diese Unentscheidbarkeit Trauer und Melancholie verursacht oder ob ihr umgekehrt unerwartete Lustempfindungen entspringen können, die einem nur dann zuteil werden, wenn man sich der furchtbaren Drohung von Verlust und Abbruch aussetzt, nicht gerade eine fröhliche Aussicht, eine, die man als »gay« oder »queer« bezeichnen möchte – oder vielleicht doch? Wenn nämlich im Sinne der Dekonstruktion die Möglichkeit des Möglichen im Unmöglichen aufgesucht werden muß, wenn das Mögliche das Unmögliche braucht, um sich zu bewähren und dadurch überhaupt den Namen des Möglichen zu verdienen, advoziert dann Derridas Rede von einer »unmöglichen Homosexualität« nicht eine Ultra-»queerness«, die so vollkommen »queer« ist, daß sie kaum mehr »queer« heißen darf? Derrida scheint immer einen Schritt zu weit zu gehen, um den queer theorist bei Laune zu halten. Die »queerness« kann es nicht wirklich mit der Theorie, der Philosophie, dem Denken aufnehmen, hinkt hinterher, da der Appell an eine Ultra-»queerness« und die Insistenz auf einem doublebind eben jene Unterscheidungen aus den Angeln heben, von denen jeder abhängt, der sich »queer« verhält, zwischen einem Subjekt und einem anderen, einem Gegenstand und einem anderen, einer Theorie und einer anderen. Im Fall des Appells an eine Ultra-»queerness« ändert sich nichts dadurch, daß man entweder die Richtung einschlägt, die zu einer »unmöglichen Homosexualität« führt, oder die Ebene einer Allgemeinheit erreicht, die man sowohl in dem Gedanken einer Sexualität antrifft, die sich noch nicht zu einer Zweierbeziehung verhärtet hat, als auch in dem Begriff eines Schreibens »von hinten« oder einer »Rückschrift«. Um die Schwierigkeiten auszuräumen, vor die ihn die verschiedenen Formen von Ultra-»queerness« stellen, mag der queer theorist versuchen, sich mit einem Teil gleichzusetzen, das größer ist als das Ganze, und sich dadurch, wenn man so will, in der Ultra-»queerness« selber einzurichten.
23 | Jacques Derrida, »Circonfession«, S. 150. An dieser Stelle erwähnt Derrida auch das »Erlebnis der Traube«, über das er in Glas schreibt (Jacques Derrida, Glas, S. 211).
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Er erliegt dann aber dem Schein, daß sich ein solcher Teil noch von dem Ganzen unterscheiden läßt, das es übersteigt. Was die Sexualität angeht, so entwickelt oder skizziert Derrida in recht groben Zügen die Idee eines Sexualverhaltens, das man begrifflich erfassen muß, bevor die Differenz von einer Verdinglichung ereilt wird und zur »Dualität« erstarrt. Er tut dies in seinem Aufsatz über sexuelle und ontologische Differenz bei Heidegger.24 Soll die terminologische Genauigkeit nicht aufgegeben werden, darf man diese sexuelle Differenz ebensowenig als »queer« bezeichnen, wie sie homo- oder heterosexuell sein kann. Der Begriff eines Schreibens »von hinten« oder einer »Rückschrift«, der die ursprüngliche Spur meint, die différance, die die Erfahrung selber konstituiert und sich deshalb der Sichtbarkeit entzieht, kann bis zu Glas zurückverfolgt werden und steht ebenfalls im Mittelpunkt des ersten Teils der Carte postale. Ein Text über das Schreiben und die Schrift, der eine Kolumne bildet, die in die rechtseitige Kolumne des Buchs über Hegel und Genet eingefügt worden ist, enthält eine deutliche Anspielung auf Sexualität, obwohl seine Tragweite über ein eingeschränktes Verständnis der Frage nach der sexuellen Differenz hinausreicht: »Alles wird stets vom Rücken aus angegangen, von hinten geschrieben, be- oder entschrieben. A tergo. Daß ich bereits (tot) bin, bedeutet, daß ich hinten bin, dahinter. Vollkommen dahinter, in einem Hinten, ja Hinterteil, die man nie von vorne, dessen Vorderseite man nie gesehen haben wird; ein Bereits, dem nichts voraufgegangen ist, das sich selber ge- und erzeugt hat, aber als Leiche oder verklärter Leib. Hinten sein, heißt vor allem sein – im Bruch mit der Symmetrie.«25 In der Carte postale wiederum kann man eine Art Aussage entdecken, in der diese Zeilen aus Glas nachhallen. Sie folgt auf eine Parenthese, die auf »das Wahre der Philosophie« hindeutet, auf jenes, was wahr an der Philosophie ist, wahr an einer Postkarte, die Plato zeigt, der hinter Sokrates steht und ihn zum Schreiben anzuhalten scheint: »In dem, was geschrieben wird, liegt alles 24 | Jacques Derrida, »Geschlecht – différence sexuelle, différence ontologique«, in: Psyché. Inventions de l’autre, S. 402 und S. 404. Derridas Gedanken stehen hier in einem Gegensatz zu denen von Alain Badiou, der mit der Behauptung ansetzt, in Liebe und Sexualität sei die »Dualität« unhintergehbar. Für Badiou kann die queer theory lediglich ein weiteres, durchaus wichtiges Beispiel für jenen »Biomaterialismus« sein, der auf der Gleichung »Existenz = Individuum = Körper« basiert, auf der Doktrin, es gebe allein Sprachen und Körper, nicht aber Wahrheiten (Alain Badiou, Logiques des mondes, S. 10f.). 25 | Jacques Derrida, Glas, S. 97. Dieser Passus wird auszugsweise von JeanLuc Nancy in einem Essay über den »Rücken«, das »Dahinter«, das »Hinten« und das »Hinterteil« der Dekonstruktion angeführt (Jean-Luc Nancy, »Borborygmes«, in: ders., La pensée dérobée, Paris 2001, S. 55, Fußnote Nr. 1).
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nur im Rücken, wird alles nur von hinten gesehen – so lautet das letzte Wort.«26 Derrida versäumt in diesem Zusammenhang nicht die Gelegenheit, zu insinuieren, daß Plato seinen Lehrer Sokrates fickt,27 doch allein, um die fragliche Postkarte als eine zu deuten, die die Allegorie einer »anfänglichen Katastrophe«28 darstellt, einer Katastrophe, die es erschwert, sich im Denken zu orientieren, indem man festlegt, was an erster und was an zweiter Stelle kommt. Man ist zu weit vorgerückt, weil man zu sehr zurückliegt, zu weit hinten, kommt und geht zwischen zwei Extremen der Ultra-»queerness«, der Vergangenheit und der Zukunft von etwas, das zu »queer« und doch nicht »queer« genug ist, um wirklich und wahrhaftig »queer« zu sein. Derridas Argument, vorausgesetzt, er entfaltet hier eines, zielt auf die Störung, die man beachten muß, wenn man Unterscheidungen einbringen will, die eine gewisse Ordnung schaffen sollen. Daran ist nichts besonders »queer«. Hat man die Carte postale gelesen, so mag es durchaus verlockend sein, die These aufzustellen, daß Derridas Verhältnis zur Philosophie als eine Form von Analverkehr begriffen werden muß, wie das von Deleuze. Man spießt einen Philosophen von hinten auf, bringt ihn zum Schreien, bis er um mehr fleht, oder macht ihm ein Kind nach dem Vorbild der »unbefleckten Empfängnis«.29 Gleichzeitig muß allerdings unentscheidbar oder ununterscheidbar bleiben, wer hinter dem Arschficken steckt, im Rücken oder im Hinterteil, ob überhaupt jemand da ist. Kein queer theorist kann diese privilegierte Position für sich reklamieren. Vielleicht muß man aus dieser kurzen Untersuchung der Rolle, die »Derrida« für eine queer theory spielen kann, den Schluß ziehen, daß es eine solche Theorie nicht gibt, ja daß Theorie oder Philosophie nichts anderes übrig bleibt, als eben einen weiteren Schritt zu machen, eine zusätzliche und außerordentliche Anstrengung zu unternehmen, die in der Überlieferung der Idee, dem Sein, dem Begriff, dem Transzendentalen gilt, und die sich der queer theorist verbieten muß, will er nicht seine eigene »Identität« oder seinen eigenen »Namen« aufgeben, lange bevor sich ihm überhaupt eine Gelegenheit geboten hat, sie in Umlauf zu setzen und dadurch ihre Wirksamkeit und ihre Berechtigung zu erproben. Vielleicht muß man den Schluß ziehen, daß einerseits die Unmöglichkeit einer queer theory der Grund dafür ist, daß ihre Vertreter zumeist ihre Gedanken Theorien entlehnen, die unabhängig von ihren Anliegen entstanden sind, und daß andererseits, wie Butler durchaus sieht, ohne aber ihrer Erkenntnis aus26 | Jacques Derrida, La carte postale, S. 55. 27 | Ebd., S. 35. 28 | Ebd., S. 25. 29 | Gilles Deleuze, Pourparlers, Paris 1990, S. 15.
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drücklich nachzugehen, die queer theory in Wahrheit eine queer politics ist, ein Versuch, durch die Wahrnehmung eines bestimmten Interesses Ideen, die in anderen Zusammenhängen zustande gekommen sind, gegen andere Ideen zu kehren. Oder hat es ein queer theorist je verstanden, in Derrida einzudringen und ihn zu schwängern? Nicht, daß Derrida es nicht gewollt hätte… Es ist daher kaum überraschend, wenn die doppelte Aufgabe, die Butler dem queer theorist zuweist, recht bescheiden ausfällt, obwohl sie doch mit viel Arbeit verbunden ist. Eine historische oder genealogische Erkundung der »Bildung von Homosexualitäten« soll durch eine Erforschung der »entstaltenden und enteignenden Kraft« ergänzt werden, »die dem Wort ›queer‹ gegenwärtig innewohnt«.30 Während man sicherlich zugestehen sollte, daß eine Reihe von Entdeckungen von solchen Studien zu erwarten ist, die »queerness« eher als Gegenstand oder Objekt behandeln denn als Subjekt, erweist sich die Schaffung eines begrifflichen und theoretischen Rahmens für die Ausführung der doppelten Aufgabe des queer theorist als eine Verschmelzung vorhandener Ideen, nicht eigentlich als Anzeichen oder Beweisstück für ein wirkliches Ingenium, zumindest in dem Maße, in dem Butlers Text als Bezugspunkt zu dienen vermag. Kann man sich indes damit zufriedengeben, queer theory durch queer politics zu ersetzen? Dort, wo Butler ihre theoretischen Hilfsquellen zutage fördert, vereinigt sie den Gedanken einer Konstitution des Subjekts durch Anrufung mit dem dekonstruktiven Gedanken einer Iterabilität als idealisierende und zugleich verändernde Bewegung. Das Argument, daß die Idealität zu ihrer Erzeugung und Erhaltung einer Wiederholung bedarf, die man nicht von einer verändernden Unterbrechung loslösen kann, veranlaßt Butler, das »Ich«, das sich durch eine vorausgehende Anrufung konstituiert hat, als eines vorzustellen, das mächtiger ist als das Ich und dennoch unvorhersehbaren Veränderungen ausgesetzt bleibt: »Das ›Ich‹ ist folglich ein Zitat des Ortes, den das ›Ich‹ in der Rede einnimmt, wobei diesem Ort im Verhältnis zu dem Leben, das er beseelt und anregt, ein gewisser Vorrang und eine gewisse Anonymität zukommen. Er ist die geschichtlich veränderbare Möglichkeit eines Namens, der mir vorausgeht und mich übersteigt, ohne den ich aber nicht sprechen kann.«31 Insofern das ideale »Ich«, das Ich, das bis zu einem gewissen Grad unabhängig ist von dem Ich oder von dem »Leben, das [es] beseelt und anregt«, Stabilität verbürgt und selbst den »präsentistischen« Schein hervorbringt, muß sich der Theoretiker, der sich um ein Verhalten bemüht, das man in der Theorie »queer« nennen kann, auf es als »diskursiven Sammelpunkt« verlassen
30 | Judith Butler, »Critically Queer«, S. 229. 31 | Ebd., S. 226.
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können.32 Diese fatale Notwendigkeit ist auch der Grund dafür, daß der Theoretiker, dessen Verhalten den Anspruch erhebt, als »queer« gelten zu können, sich unauf hörlich an die »Geschichtlichkeit« und »Kontingenz« des »Ichs« erinnern muß, das er voraussetzt. Kurz: »queer« zu sein bedeutet definitionsgemäß, daß man kritisch »queer« ist. Selbstverständlich handelt es sich dabei nur um eine Variation der allgemeinen Erkenntnis, die Butlers Gedankengang zugrunde liegt, nach der ein »Ich« zu sein bedeutet, daß man ein Ich ist. Wenn also, wie der Theoretiker, der sich als »queer« einbekennt, hervorhebt, der »präsentistische« Schein seine höchste Wirkkraft dort erreicht, wo das »Subjekt als ausschließlicher Ursprung oder einziger Eigentümer des Gesagten« auftritt, dann besteht die Rolle des Ichs, dessen Leben von dem »Ich« beseelt und angeregt wird, darin, seinerseits das Leben des »Ichs« zu beseelen und anzuregen, oder deutlich zur Erscheinung zu bringen, daß das »Ich« ebenfalls ein Leben hat und mehr als bloß ein »Ich« ist. Butler setzt das »Ich« und das Ich gegen das »Ich« und das Ich ein. Wenn die Idealität des »Ichs« dem Theoretiker behilflich ist, ein Verhalten einzuüben, das als »queer« gelten soll, wird es gegen die Launen des Ichs eingesetzt. Umgekehrt wird das Ich gegen den »präsentistischen« Schein eingesetzt, der von der Idealität des »Ichs« hervorgebracht wird, weil seine Beweglichkeit jedem, dessen Verhalten als »queer« gelten soll, bei seinen kritischen Unternehmen behilflich ist. Darum bedeutet »queer« zu sein die Fähigkeit, sich zwischen einem »Ich« und einem Ich hin und her zu bewegen, um das eine Ich gegen das andere zu richten. Auch diese Definition ist nicht viel mehr als eine Anwendung der allgemeinen Definition des Ichs. Man kann folglich nicht behaupten, daß sich hier eine unvermutete Affinität zwischen Derrida und einer »kritischen« queer theory im Ansatz zumindest abzeichnet. So wie die Dekonstruktion oft die eine Seite gegen die andere ausspielt, gegen eine unvereinbare und inkommensurable Seite, scheint die queer theory, wie Butler sie versteht, einer ständigen Konfrontation zu entspringen. Das »Leben«, so könnte man folgern, findet man nie dort, wo man es sucht, weder einfach im Ich noch einfach im »Ich«. Kommt man an diesem Punkt auf das Stück A Man for All Seasons zurück, kann man zwei Zeilen zitieren, die von der Hauptfigur gesprochen werden, von Thomas Morus, und dadurch die Sache von einer weiteren Seite beleuchten. »Ein Schwur setzt sich aus Wörtern zusammen, ist daraus gemacht! Es mag deshalb möglich sein, ihn zu leisten«,33 behauptet Morus gegen die Anwälte einer intendierten Bedeutung, die sprachlichen »Präsentisten«. Doch gegen alle, die den »Präsentismus« herabsetzen und 32 | Ebd., S. 230. 33 | Robert Bolt, A Man for All Seasons, S. 78.
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Morus ermutigen, die »Worte des Schwurs zu sprechen« und »sich etwas Anderes dabei zu denken«, stellt er fest, daß in dem Augenblick, in dem »ein Mensch einen Schwur leistet«, er »sein eigenes Selbst in den eigenen Händen hält«.34 Was aus dem Blickwinkel dieser Entgegnung ins Auge sticht, ist die Tatsache, daß Butler in »Critically Queer« eine Menge über das »Ich« zu sagen hat, vergleichsweise wenig aber über das Ich, auf das, wie sich gezeigt hat, eine queer theory sich auch verlassen muß. Das Selbst, an das die Figur in dem Stück appelliert, der Mensch oder »Mann zu jeder Jahreszeit«, ist kein »Ich«, kein »diskursiver Sammelpunkt«, nicht ein »notwendiger Fehler der Identität«,35 der in einem politischen Kampf aufgrund der einen oder anderen Notwendigkeit verhüllt wird oder zum Einsatz gelangt. Der Appell selber ist nicht, um mit Morus zu sprechen, »eine verwickelte Gebärde, die man in Büchern gelernt hat«36 und die einen Verrat an dem Vermögen oder der Eigenschaft der Zuwendung begeht. Der Unterschied, den man in diesem Zusammenhang einführen muß, ist der zwischen einer Gegnerschaft, die sich als wesentlich strategisch erweist, und einer ganz anderen Art der Gegnerschaft, die in einem Glauben oder einer Überzeugung gründet, nicht in der Verfolgung eines Eigeninteresses: »Ich werde nicht nachgeben, denn ich bin dagegen – ich bin es – nicht mein Stolz, nicht meine Übellaunigkeit, nicht irgendein anderes meiner Verlangen, nein, ich bin es – ich!«37 Hier trennt sich vielleicht Derrida von dem queer theorist, der sich von Butler hat inspirieren lassen. Denn der Begriff der »nicht dekonstruierbaren« Gerechtigkeit, auf den er in seiner Auseinandersetzung mit dem Recht rekurriert, verleiht der »unmöglichen« Verhandlung zwischen dem, was unausgesetzt der Dekonstruktion unterworfen wird, und dem, was letztlich »nicht dekonstruierbar« sein muß,38 einen Ernst und eine Dringlichkeit, deren Sinn sich allem Anschein nach in »Critically Queer« nicht ausmachen läßt. Butler kennt nur ein Ich, das der Unterstützung eines von Unaufrichtigkeit heimgesuchten und gespaltenen »Ichs« bedarf. Daher beschwört die kritische queer theory ein Ich, für das es in ihr doch beinahe keinen Ort gibt. Das Stück A Man for All Seasons führt eine solch extreme Lage vor, daß, würde Morus seinen Glauben oder seine Überzeugung zum Gegenstand einer aufwieglerischen Erklärung machen oder sie gar gänzlich preisgeben, um sein Leben zu retten und seiner Familie die Schmach der Landesflucht zu ersparen, er alles zerstören würde, worum es geht, ja die Tatsache 34 | Ebd., S. 87. 35 | Judith Butler, »Critically Queer«, S. 229. 36 | Robert Bolt, A Man for All Seasons, S. 57. 37 | Ebd., S. 77. 38 | Jacques Derrida, Force de loi, S. 35, S. 61 und S. 144.
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selber, daß es um etwas geht. Er würde sich dem Kompromiß und der Korruption ausliefern, eine Verhärtung der »Gedanken des Herzens«39 verursachen. Das Ich darf hier weder seiner eigenen Gefährdung und Unsicherheit nachgeben, seiner Aussetzung, noch dem Dogmatismus, nicht einmal für eine gewisse Zeit. So extrem die Lage in dem Stück ist, sie wird dennoch nicht künstlich herbeigeführt. Die Radikalität der Wahl, die sich Thomas Morus aufdrängt, hat den Vorzug, daß sie verdeutlicht, wie wichtig es ist, dort, wo es um etwas geht, an dem Gedanken eines Ichs festzuhalten, das einen Sinn für das hat, was zählt, und dessen gewahr ist, daß nicht alles gleichermaßen von Bedeutung ist. Man darf das Festhalten an diesem Gedanken nicht mit der Auferlegung einer konventionellen und konformistischen Erfindung verwechseln. Übersieht jedoch nicht eine solche Deutung des Stücks seinen auffälligsten Zug, daß es nämlich aufgeführt werden soll, daß seine Wörter gleichsam in Anführungszeichen gesetzt sind, ungeachtet dessen, ob man diese Veränderung für die »bestimmte Veränderung einer allgemeinen Zitierbarkeit« 40 hält oder nicht? Kann man sich von der Darstellung der Überzeugung einer dramatis persona überhaupt überzeugen lassen, ohne zu berücksichtigen, daß das Stück selber fordert, überzeugend zu sein und ernstgenommen zu werden, und daß, wie der Kunsthistoriker Michael Fried bekanntlich sagt, jede Überzeugung in ihrem Wesen von einer unmittelbaren »Gegenwärtigkeit« geprägt wird, die sich mit Theater nicht vereinen läßt?41 Vielleicht könnte man die Mittelbarkeit, das Indirekte, das Anführungszeichen indizieren, als Erinnerung daran interpretieren, daß man als Zuschauer nie den Gegenstand zu Gesicht bekommen kann, den das Selbst hervorbringt. Ist unter Bedingungen, die weniger extrem sind als die, die das Stück A Man for All Seasons dartut, Überzeugung nicht auch etwas viel Flüssigeres, etwas, das nicht immer nur Kanten hat, an denen man sich stößt? In dem Maße, in dem das Selbst angehalten ist, sich für etwas einzusetzen, ohne sich von der Aussicht auf einen schließlichen Gewinn, einen dauernden Lohn, eine sich ergebende Erfüllung lenken zu lassen, und daß die Wirklichkeit seines Daseins von einer solchen Verpflichtung abhängt, bringt es einen Gegenstand hervor, der unsichtbar ist und der allein einem »Gedenken Gottes« gilt, um eine rätselhafte Wendung Benjamins zu verwenden, wobei Gott in diesem Fall nicht als eine Instanz der Bestrafung und Entschädigung, der Auslöschung und Erhöhung verstanden werden 39 | Robert Bolt, A Man for All Seasons, S. 100. 40 | Jacques Derrida, »Signature Événement Contexte«, S. 44. 41 | Michael Fried, »Art and Objecthood«, in: ders., Art and Objecthood. Essays and Reviews, Chicago und London 1998, S. 167.
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sollte. »So dürfte«, schreibt Benjamin in seinem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers, »von einem unvergeßlichen Leben oder Augenblick gesprochen werden, auch wenn alle Menschen sie vergessen hätten. Wenn nämlich deren Wesen es forderte, nicht vergessen zu werden, so würde jenes Prädikat nichts Falsches, sondern nur eine Forderung, der Menschen nicht entsprechen, und sogleich wohl auch den Verweis auf einen Bereich enthalten, in dem ihr entsprochen wäre: auf ein Gedenken Gottes.« 42 Viele halten wahrscheinlich diese Sätze für allzu beruhigend und tröstend, um wahr zu sein, fragen sich, wie eine existentielle und eine logische Forderung gleichgesetzt werden können. Alle aber, die sich weigern, in der Rede von einem »Gedenken Gottes« ein vernichtendes Täuschungsmanöver zu erblicken, betrachten sie als Ausdruck für den Umstand, daß das Leben oder das Dasein verantwortlich ist für Forderungen, die über die »Geschichtlichkeit« hinausweisen, soll »historisches« Verhalten sinnvoll gedacht werden, nicht als willkürliche Zuschreibung von Bedeutung. Wen Derrida nicht überzeugt, der glaubt nicht, daß der Anstoß, den er manchen Bereichen der Philosophie und einer Reihe von verwandten oder mit ihr nicht zusammenhängenden Disziplinen gegeben hat, etwa den queer studies, irgend etwas aufzeigt oder verdeutlicht – außer vielleicht, daß man ihm nicht trauen sollte. Wer aber überzeugt worden ist, wohl auch der kritische queer theorist, der Glauben und Überzeugung verdächtigt oder vergißt, wird dazu angehalten, sich für die erneute und neuartige Hervorbringung eines Gegenstands einzusetzen, der eines geeigneten und aneignenden Prädikats wird ermangeln müssen.
42 | Walter Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: Gesammelte Schriften, Band IV.1, hg. von T. Rexroth, Frankfurt a.M. 1972, S. 10.
Anhang II: Literatur zum Beispiel
Beispiele bilden Grenzen zwischen einem Innen und einem Außen. Mit dem Anführen eines literarischen Beispiels etwa ist ein außerliterarischer Zusammenhang gesetzt, ein Zusammenhang, ohne den das Beispiel nicht als solches erscheinen könnte. Selbst wenn man innerhalb eines Texts, den man der Literatur zurechnet, auf ein literarisches Zitat stößt, als würde sich die Literatur anzeigen, ist die Unterscheidung zwischen einem Innen und einem Außen nicht zu umgehen. Die Literatur nimmt sich dann gleichsam selber zum Beispiel, so sehr sie das Außen wieder in das Innen einbezieht oder zwischen Innen und Außen ein Verhältnis der Ungewißheit und Unentscheidbarkeit herstellt. Daß Beispiele Grenzen zwischen einem Innen und einem Außen bilden, daß immer dann, wenn ein Beispiel angeführt wird, die Unterscheidung zwischen einem Innen und einem Außen unumgehbar ist, läßt vielleicht darauf schließen, daß in dem Anführen eines Beispiels schon ein philosophischer Zug liegt, das literarische Beispiel der Philosophie ausgesetzt ist, gleichgültig, ob der außerliterarische Zusammenhang, in dem man ihm begegnet, ein erkennbar philosophischer ist oder nicht. Man könnte nämlich ein solches Beispiel in einem außerliterarischen Zusammenhang nicht anführen, hielte man nicht ein gewisses Ersetzen und ein gewisses Verallgemeinern für möglich, würde ein anderes Beispiel nicht an die Stelle des gegebenen Beispiels treten können, um etwas auf den Begriff zu bringen. Wenn Jacques Derrida behauptet, daß das Beispiel als solches über seine »Besonderheit« hinausgeht, so will er wohl auf diesen ersetzenden und verallgemeinernden Zug aufmerksam machen. Indem er aber gleichzeitig behauptet, daß das Beispiel als solches ebenfalls über seine »Identität« hinausgeht, ein Beispiel nicht nur durch ein anderes Beispiel ersetzt werden 1 | Jacques Derrida, Passions, Paris 1993, S. 43.
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kann, sondern ebenfalls als ein Beispiel für etwas anderes zu dienen vermag, so will er wohl darauf aufmerksam machen, daß dort, wo das Verhältnis zwischen außen und innen kein rein äußerliches ist, es auch kein Außen gibt, keine Allgemeinheit, von der aus man etwas als Beispiel für etwas anderes ausreichend zu bestimmen vermag. Das Beispiel paßt nicht ganz, ist immer dem entnommen, was man als Textur bezeichnen könnte und was sich nicht vollständig ersetzen, das heißt: eindeutig bestimmen läßt. In dem Maße, in dem es der Literatur um die Darstellung dieser Textur geht, nicht eigentlich um ihre Bestimmung, hat, so könnte man an dieser Stelle hinzufügen, jedes Beispiel etwas Literarisches, setzt das Beispiel als solches Literatur und Philosophie in ein Verhältnis. Die Logik des Beispiels wird also von einer Spannung durchzogen, die sich nicht lockern läßt. Derrida bringt die Schwierigkeit pointiert auf den Nenner, indem er behauptet, es gebe keine Beispiele und doch gebe es nichts anderes. Die widerwendige Behauptung gilt zweimal. Paßt ein Beispiel nicht ganz, so gibt es kein Beispiel; bleibt das Anführen eines Beispiels unzureichend, gibt es aber wiederum nichts als Beispiele, da das Außen sich ja nie vom Innen säuberlich trennen läßt, in das Innen einbezogen bleibt und stets eines weiteren Beispiels bedarf, um dem Mangel abzuhelfen und sich als das Außen einer Allgemeinheit zu behaupten. Paßt umgekehrt ein Beispiel, so gibt es kein Beispiel, weil sich das Beispiel im Begriff auflöst, gibt es aber auch in diesem Fall nichts als Beispiele, weil sich die Textur durchgängig als bestimmbar erweist. Derrida spricht von einem »alten Kinderspiel« und meint damit wohl, daß die Spannung oder die Widerwendigkeit, die den Begriff des Beispiels in einen prekären verwandelt, immer wieder die Wahl von Ansätzen veranlaßt, die sich kaum miteinander vereinbaren lassen, sei es, daß sie ein Moment der Beispielslogik hervorheben und das andere in den Hintergrund drängen, sei es, daß sie sich um die Vereinigung der Momente bemühen. Welche Ansätze kann man unterscheiden, vor allem dort, wo es um das Verhältnis von Literatur und Philosophie geht, der Philosoph ein literarisches Beispiel anführt? Gegen die Annahme, man müsse Beispiele anführen, vor allem literarische, ohne sich von theoretischen Erwägungen oder philosophischen Prinzipien leiten zu lassen, eine Annahme, die sie Moralphilosophen der Wittgensteinschen Schule zuschreibt, wendet die angelsächsische Philosophin Onora O’Neill ein, das Aufstellen von Prinzipien sei unabdingbar und das Anführen von Beispielen, die nicht aus der Literatur stammen, stets vorzuziehen. Denn das Anführen, das sich nicht an philosophischen Prinzipien oder theoretischen Erwägungen ausrichte, müsse die Verständlichkeit des Beispiels sichern und bleibe deshalb gänzlich auf die Voraussetzung einer einheitlichen Überlieferung und einer geschlossenen Ge-
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meinschaft angewiesen, die eine einzige Alternative zulasse – moralisches Einverständnis oder das Fehlen eines Austauschs über Angelegenheiten der Moral. Literarische Beispiele mindern, so O’Neill, die »Kraft des Beispiels« dadurch, daß ihre Wirkung von der Autorität abhängt, die darüber entscheidet, was als Literatur zählt und was nicht, was ein gutes literarisches Beispiel ist und was ein schlechtes; daß der Rahmen der Literatur selber, des Werks, an dem sich die Deutung des Beispiels orientieren muß, Einschränkungen auferlegt, indem »viele Arten moralischer Uneinigkeit« künstlich ausgeschlossen werden, der »vorgefertigte« Charakter das literarische Beispiel dem nichtliterarischen annähert, das »mit dem richtigen Etikett versehen wird, um es handlich zu machen und so unter das zuständige Prinzip subsumieren zu können«; daß Romane, die man als Beispiel verwendet, eine Gattung darstellen, die häufig das Gewicht auf Innerlichkeit legt, auf individuelle Beziehungen, nicht auf schwierige Lagen im öffentlichen Leben und im Arbeitsbereich; daß schließlich die Sicht des Zuschauers privilegiert wird, für den das Nachdenken über das angeführte Beispiel keine praktischen Folgen hat, und dadurch ungeklärt bleibt, wie man tatsächliche moralische Entscheidungen treffen soll, wie sich zwischen der folgenlosen Reflexion und dem folgenreichen Verhalten ein Übergang schaffen läßt. D. Z. Phillips, der Moralphilosoph der Wittgensteinschen Schule, konzediert in seiner Erwiderung, man könne Menschen und Ereignisse nicht wie Bücher beiseite legen. Lernen, wie man mit einem Menschen und einem Ereignis lebt, sei daher etwas ganz anderes als lernen, wie man mit einem Buch umgeht. Literatur soll aber über die Kraft verfügen, die Verschiedenheit der Möglichkeiten aufzuzeigen, die Menschen in bestimmten Lagen offenstehen, so vermittelt ihr Einfluß auf deren Leben auch sein mag. Folgt man Phillips, fungiert das literarische Beispiel im philosophischen Text als Mittel zur verstehenden Erschließung von Möglichkeiten. Es tut dies in Situationen, in denen es um ein bewertendes und beurteilendes Verhalten geht, das es selber unter dem Aspekt eines Werts zu betrachten gilt. O’Neill soll Beispiel und Bewertung trennen, als würde die Bewertung von außen zu dem Beispiel hinzutreten, zu der Situation, die es vorführt. Sie soll verkennen, daß das literarische Beispiel die Unterschiede zum Vorschein bringt, auf die man in der moralischen Bewertung oder Beurteilung stößt. Beispiele aus der Literatur sollen uns helfen, zu begreifen, 2 | Onora O’Neill, »The Power of Example«, in: Philosophy, Jg. 61, Heft 235
(1986), S. 13. 3 | Ebd., S. 22. 4 | D. Z. Phillips, »The Presumption of Theory«, in: Value and Understanding. Essays for Peter Winch, hg. von R. Gaita, London und New York 1990, S. 227.
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was es heißt, eine Situation moralisch zu bewerten oder zu beurteilen: »Es ist schwer, sich bedeutsame Literatur vorzustellen, die nicht [das Problem widerstreitender Bewertungen einer Situation] in den Vordergrund stellt.« Der Streit zwischen Phillips und O’Neill dreht sich also um das, was die Philosophin den »vorgefertigten Charakter« nennt. Während einerseits die Literatur als solche für den »vorgefertigten Charakter« der ihr entlehnten Beispiele sorgen soll, Verschiedenheit nicht wirklich zuläßt und dadurch das Verhalten verdinglicht, es letztlich um den moralischen Anspruch betrügt, soll andererseits gerade die Literatur als solche – dann, wenn sie »bedeutsam« ist und Literatur im eigentlichen Sinne, den weiten Horizont von Möglichkeiten aufreißen, den sonst der »vorgefertigte Charakter« unserer Einstellungen zu verhängen droht. Gehört zu der Verschiedenheit, die Phillips meint, einzig die Reihe möglicher Verhaltensweisen, wie die Rede von einem Widerstreit nahelegt, ja einzig die Reihe ausdrücklich genannter Alternativen, oder muß man dazu ebenfalls, wie Cora Diamond es tut, »das Benehmen, die Gesten und Gewohnheiten, die Rede- und Denkweisen, die Mienenspiele eines einzelnen oder eines Volks« zählen? Körperliche und geistige Gebärden sollen, Diamond zufolge, die »menschlichen Möglichkeiten« in einer Situation miterschließen und etwas Moralisches zum Ausdruck bringen. Ihre genaue Beschreibung soll ein »moralisches Interesse« an literarischen Beispielen begründen. Verlangt also das Ernstnehmen literarischer Beispiele in der Philosophie, die sich mit Verhalten unter dem Aspekt des Werts beschäftigt, jenes Vertrauen in die Sprache, von dem Iris Murdoch spricht und auf das sich Diamond beruft, ein Vertrauen, das allen abgeht, die den »vorgefertigten Charakter« der Literatur denunzieren? Den Gedanken, daß das »moralische Interesse« von und an literarischen Beispielen, deren Relevanz für die Philosophie, in einer beschreibenden Sprache liegt, die einer bis ins Nichtsprachliche reichenden Verschiedenheit gerecht zu werden versucht, hat Martha Nussbaum entwickelt, die im Gegensatz zu Phillips und Diamond nicht in einer Wittgensteinschen Schule beheimatet ist. Der Verdacht eines »vorgefertigten Charakters« der Literatur ist diesem Gedanken fremd. Nussbaums philosophische Gegner sind jene, die zwischen dem vernünftigen Gedankengang einerseits, dem »literarischen Vorstellen« und dem durch es gesteigerten Gefühlsleben andererseits einen unauf hebbaren Gegensatz auszumachen glauben, der zur 5 | Ebd., S. 234. 6 | Cora Diamond, »Having a Rough Story about What Moral Philosophy Is«, in: The Literary Wittgenstein, hg. von J. Gibson und W. Hümer, London und New York 2004, S. 139. 7 | Ebd., S. 142.
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Rechtfertigung einer Leugnung der Bedeutung literarischer Beispiele für die Philosophie herhält. Wenn Einbildungskraft als Vermögen der Literatur ein Vermögen zur »Vorstellung nicht gegebener Möglichkeiten« ist, ein Vermögen, »etwas als etwas anderes zu sehen und das eine im anderen«, ein Vermögen, »eine wahrgenommene Gestalt« mit einem »komplexen Leben« auszustatten, so erblickt Nussbaum darin, in der Eröffnung eines Zugangs zu »fernen Anderen«, den vor allem die Konkretion des realistischen Romans offerieren soll, die Darstellung des Alltäglichen, nicht nur ein »moralisches Interesse«, sondern auch eine politische Tugend, soll sich doch durch eine solche Konkretion und eine solche Darstellung ein Sinn für demokratische Gleichheit und Gerechtigkeit ausprägen. Vor jedem besonderen literarischen Beispiel soll der Roman bereits als Beispiel erscheinen, soll man seine Form, die Dialektik der »konkreten Situation« und der »allgemeinen Idee menschlichen Gedeihens«, als Muster eines »ethischen Argumentierens« deuten können, das »kontextspezifisch« ist, ohne in Relativismus umzukippen. Vor jeder philosophischen Zuwendung zu einem besonderen literarischen Beispiel soll das Lesen von Literatur bereits als Beispiel erscheinen, soll man seine Form, den Wechsel von »versunkenem Vorstellen« und »kritischer Prüfung«, als Muster »öffentlichen Argumentierens in einer demokratischen Gesellschaft« deuten können.10 Das Beispiel der Literatur konstruiert Nussbaum folglich, indem sie von zwei Polen ausgeht, sei es im Bereich der Literatur oder im Verhältnis zu ihr. Aus dem Zusammentreten »einfühlender Teilnahme« und »äußerer Beurteilung«, das Abhilfe schafft gegen die Wertblindheit des Intellekts, entsteht die Figur des »besonnenen und klarblickenden Zuschauers«, dessen die Ethik so sehr bedarf wie die Politik und die Rechtswissenschaft.11 Dieser Zuschauer erzielt gleichsam einen Nutzen aus dem »vorgefertigten Charakter« der Literatur, versteht man darunter eine Beweglichkeit, die im Leben fehlt. Weil der Leser, nach dessen Vorbild sich der »besonnene und klarblickende Zuschauer« richtet, der Philosoph, der Politiker, der Richter, alle Figuren eines Romans sein kann und dennoch keine einzelne je ist, braucht er nicht die »häufig verwirrte Eindringlichkeit des Gefühls« zu fürchten, die sich dann einstellt, wenn er davon ausgehen muß, daß es in dem einen oder anderen Fall um sein »eigenes Leben« geht.12 Die Figur des »besonnenen und klarblickenden Zuschauers« ist in dem Maße eine 8 | Martha Nussbaum, Poetic Justice, Boston 1995, S. 4. 9 | Ebd., S. 8. 10 | Ebd., S. 9. 11 | Ebd., S. 73. Den Begriff des »besonnenen und klarblickenden Zuschauers« übernimmt Nussbaum von Adam Smith. 12 | Ebd., S. 75.
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umgestülpte Romanfigur, in dem sie durch die Beschränkung an die Freiheit der Zuwendung rührt. Nussbaum überträgt die Bedeutung und den Wert, die Phillips etwa in dem zitierten Aufsatz dem literarischen Beispiel zumißt, auf das Beispiel der Literatur, auf das »Erzählen einer Geschichte«, die »Gestalt und das Gewebe von Sätzen«, das »Lebensgefühl, das den Text als ganzen anregt«,13 als müßte sich der Philosoph darum bemühen, sich in der Literatur, in der literarischen Form wiederzuerkennen, um als Philosoph ernstgenommen werden zu können. So verschieden die Ansätze von Phillips, Diamond und Nussbaum sein mögen, so sehr stimmen sie darin überein, daß sie das Anführen eines literarischen Beispiels oder der Literatur als Beispiel auf einen Begriff von Philosophie beziehen, der nicht als gegeben vorausgesetzt werden darf, sondern der erst durch dieses Anführen gewonnen werden muß. Aus dieser Sicht paßt das literarische Beispiel oder die Literatur als Beispiel noch nicht ganz, gibt es keine Beispiele und doch nichts anderes als Beispiele. Wo jedoch der Begriff der Philosophie oder die philosophische Praxis sich am literarischen Beispiel oder an der Literatur als Beispiel bewähren, paßt das Beispiel, gibt es wiederum keine Beispiele und doch nichts anderes. Dadurch, daß der Abstand zwischen den beiden Gesichtspunkten nicht als ein logischer oder struktureller bestimmt wird, sollen letztlich Besonderheit des Beispiels und Allgemeinheit der Betrachtung aus der Widerwendigkeit der Beispielslogik heraustreten, sei es, daß man aus der Betrachtung eine Einsicht in das Wesen moralischer Urteile gewinnt, die den philosophisch vorherrschenden Begriff der Moral einer Revision unterzieht, sei es, daß man die Figur des »besonnenen und klarsichtigen Zuschauers« umreißt. Diesen Schritt ermöglicht entweder eine Vernachlässigung der literarischen Form oder eine Interpretation dieser Form als Vehikel der Vereinigung der Momente. Die Form soll für die Bestimmung des literarischen Beispiels und der philosophischen Praxis sorgen; das literarische Beispiel übt keinen Widerstand gegen die Erkenntnis aus. Nussbaum will die Form durch den Hinweis auf einen »sich herausbildenden Sinn für Grundsatz und Überlieferung«14 vor der verunsichernden Wirkung der »Unbestimmtheit« bewahren. Muß man sich dann nicht, wie es O’Neill auf ihre Weise tut, noch einmal fragen, was sich an der literarischen Form vielleicht der Bestimmung entzieht, was an ihr der Durchsichtigkeit Schranken setzt? Wenn man ihren Ursprung in einer unverminderbaren Unbestimmtheit der Sprache sucht, in einem Verwischen der Unterschiede, der Unterscheidung zwischen dem, was ein Beispiel ist und was nicht, stellt die Lite13 | Ebd., S. 4. 14 | Ebd., S. 85.
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ratur in ihren Beispielen oder in ihrer beispielhaften Form der unterscheidenden und bestimmenden Philosophie kein Mittel mehr zur Verfügung, um ein Verhalten einzuüben, das »ferne Andere« ernst nimmt. Etwas, das mit Literatur zu tun hat, schreibt Derrida, fängt dort an, wo man nicht entscheiden kann, ob man beim Sprechen über etwas wirklich davon spricht, von der Sache selbst, oder ob man bloß ein Beispiel gibt, »ein Beispiel für etwas oder ein Beispiel des Umstands, daß ich über etwas sprechen kann, der Art, wie ich über etwas zu sprechen vermag, der Möglichkeit, über etwas überhaupt zu sprechen«.15 Ist für die, die das literarische Beispiel im philosophischen Text oder die Literatur als Beispiel für die philosophische Praxis advozieren, die Literatur häufig mehr als lediglich ein Beispiel unter anderen, überschreiten sie oft schon die Grenze zwischen dem Innen des Beispiels und dem Außen, von dem aus es als Beispiel erscheint; ist die Literatur für sie bereits eine gleichsam nach innen gewendete Philosophie, weil sich die Bestimmung als die andere Seite der Beschreibung erweist, soll durch diese Umkehrbarkeit gerade verbürgt werden, daß man wirklich über etwas spricht, die Sache selbst in der Fülle ihrer Unterschiede intendiert; so kehrt Derrida die sprachliche Unbestimmtheit, die es, ungeachtet kontextueller Bestimmungen, letztlich verbietet, zwischen dem Beispiel und dem, wofür es einsteht, eindeutig zu unterscheiden, gegen den Ernst, der das Verhalten als ein moralisches auszeichnet. Ist es ein Ich, das spricht, spricht das Ich über etwas, oder ist das sprechende Ich bloß ein Beispiel für ein sprechendes Ich und das Etwas, über das es spricht, ein Beispiel für ein Etwas, über das man sprechen kann? Wenn Derrida feststellt, die Literatur sei ein Beispiel für das, was überall geschieht, so folgt er dem Gedanken, die Unbestimmtheit der Sprache,16 der die Literatur entspringt, deren zitternde Form die Literatur annimmt, liege in der Iterabilität, ohne die es keine Erfahrung geben würde, kein Verhältnis zu sich, zu »fernen Anderen«, zur Welt. Die Literatur liefert der Philosophie nicht literarische Beispiele, ihre Form übernimmt nicht eine für die Philosophie beispielhafte, ja fast beispiellose Funktion, vielmehr verdoppelt die Literatur die Rede ständig, indem sie das Beispiel einführt, und überholt dadurch unausgesetzt die Philosophie, die sich in ihr kaum mehr wiedererkennt, die Beschreibung nicht mehr in eine Bestimmung überführen 15 | Jacques Derrida, Passions, S. 89. 16 | Auch Giorgio Agamben versucht, Sprache und Beispiel zusammenzudenken. Das Beispiel soll seine »Kraft« daraus schöpfen, daß es weder besonders noch allgemein ist, weder der Gegenstand eines Sagens noch der eines Zeigens. Es ist ein »besonderer Gegenstand, der sich sozusagen als solcher zu erkennen gibt, der seine Besonderheit zeigt« (Giorgio Agamben, La comunità che viene, Turin 1990, S. 8). Dieses »beispielhafte Sein« soll aber »das rein sprachliche Sein« sein.
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kann. Es verwundert also nicht, daß Derrida zu dem Schluß kommt, die Philosophie sei nichts anderes als eine Verselbständigung der Literatur, die immer etwas anderes tue und sage als das, was sie tut und sagt.17 Die Philosophie, die sich als Verselbständigung der Literatur gegen diese kehrt, will vor allem Stabilität hervorbringen, wo der sprachliche und literarische Wirbel, der Wirbel der Iterabilität, die Unterschiede und Unterscheidungen, an denen das Können, das Vermögen, die Macht hängen, in seinen Sog hineinzuziehen droht. So geraten die Philosophen unfreiwillig in eine doppelte Dialektik. Daß die Philosophen, die eine Bestimmbarkeit der Form unterstellen, um nicht von der Widerwendigkeit der Beispielslogik erfaßt zu werden, in eine Dialektik geraten, läßt sich an der oben erwähnten Beobachtung Nussbaums ablesen, der Leser eines Romans könne alle Gestalten sein, die darin vorkommen, ohne doch eine davon ganz zu sein. Denn damit wird nicht nur die Position des »besonnenen und klarsichtigen Zuschauers« untermauert, sondern ebenfalls, der Möglichkeit nach, das Verhältnis zwischen »versunkenem Vorstellen« und »kritischer Prüfung« aus dem Gleichgewicht gebracht, als wäre das Ich allein ein Beispiel für ein Ich. Umgekehrt geraten die Philosophen, die eine Unbestimmtheit der Form unterstellen und die Widerwendigkeit der Beispielslogik anerkennen, die Tatsache, daß es keine Beispiele und zugleich nichts als Beispiele gibt, ebenfalls in eine Dialektik, wie man an Derridas Verallgemeinerung des literarischen Beispiels oder der Literatur als Beispiel abzulesen vermag. Denn damit wird zwar die Eigenständigkeit der Philosophie, des Unternehmens einer unterscheidenden Bestimmung der Sache, genetisch erklärt, als Verselbständigung, nicht aber als Eigenständigkeit ernst genommen. Wie soll man sich ohne das Können und das Vermögen in der einen oder anderen Lage zur Unbestimmtheit der Sprache verhalten, ja wie soll man sich in ihr halten? Es ist, wenn man sich an Kants treffende Bestimmung der »schönen Kunst« erinnert, als würden die Philosophen, die sich mit dem literarischen Beispiel auseinandersetzen, entweder das Bewußtsein der Form bevorzugen, das Bewußtsein, daß die Kunst eben Kunst ist »und nicht Natur«, oder umgekehrt das Als-ob der Form in den Mittelpunkt rücken, den Schein, Kunst sei »ein Produkt der bloßen Natur«.18 So muß man sich schließlich fragen, ob die Verwandlung der Literatur in ein Beispiel, die dort stattfindet, wo die Philosophie die Literatur zum Beispiel nimmt, nicht unweigerlich den Schein von der Scheinlosigkeit trennen muß. Sie stellt den Schein in den Dienst der Scheinlosigkeit oder die Scheinlosigkeit in den Dienst des Scheins. Nur in der Kunst sind Schein und Schein17 | Ebd., S. 91. 18 | Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 45, Frankfurt a.M. 1977, S. 240.
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losigkeit untrennbar ineinander, nur die Kunst, die weder im Schein des Besonderen oder des Inneren noch in der Scheinlosigkeit des Allgemeinen oder des Außen aufgeht, ist ein reines, beispielloses Beispiel, in dem das »alte Kinderspiel« der Beispielslogik zur Ruhe kommt. Vielleicht gibt es folglich in der Philosophie keinen Ort für literarische Beispiele. Eine Konstruktion, die Beschreibung und Bestimmung nebeneinanderstellt, eine Montage des Literarischen und Philosophischen, tritt dann an die Stelle der Beispielgebung.
Nachweise
Auszüge aus meinen kurzen Aufsätzen »Le non-dit et l’impardonnable« (in: Les Papiers du Collège International de Philosophie, Nr. 11, Paris 1988, xerographiertes Exemplar) und »La déconstruction expliquée aux enfants qui n’en ont pas besoin« (in: Jacques Derrida, Cahier de L’Herne, hg. von M.-L. Mallet und G. Michaud, Paris 2004) sind in den ersten Teil dieses Buchs eingegangen. Der Text, der das zweite Modell des zweiten Teils ausmacht, ist in einer ersten und wesentlich kürzeren Fassung in einem Sammelband publiziert worden (Autonomie und Heteronomie in der Politik, hg. von dem Frankfurter Arbeitskreis für politische Theorie und Philosophie, Bielefeld 2004). Einige der Überlegungen zu der Erzählung »Billy Budd« und zu der gleichnamigen Oper, die in diesem Modell enthalten sind, wurden in dem Programmheft der Oper Frankfurt abgedruckt, das im November 2007 anläßlich einer Neuinszenierung erschien. Das dritte Modell stellt eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines Textes dar, der in einer Übersetzung von Robert Savage verfügbar ist (»Self-Deception and Recognition«, in: Angelaki. Journal for the Theoretical Humanities, General Issue, 2006). In der Erinnerung findet man eine leicht revidierte Notiz, die unter dem Titel »Zu dumm« von der Zeitschrift transversale veröffentlicht wurde (2, 2006). Schließlich wird die als Anhang hinzugefügte Polemik, zunächst auf englisch geschrieben, in dem von Michael O’Rourke herausgegebenen Sammelband Derrida and Queer Theory (2009) enthalten sein. London, im Dezember 2007
Personenregister
Adorno, Theodor W. 15, 75-76, 85 (Anm. 15), 110, 122, 125, 127, 138, 151, 154, 158 Agamben, Giorgio 13-14, 103, 106 (Anm. 23), 185 (Anm. 16) Althusser, Louis 166 Alweiss, Lilian 114-15 (Anm. 38) Apel, Karl-Otto 160 Arendt, Hannah 85 (Anm. 15), 116 Atwell, John E. 115 (Anm. 38) Aurelius Augustinus 128 (Anm. 16), 170 Badiou, Alain 45-47, 79 (Anm. 6), 137, 171 (Anm. 24) Benjamin, Walter 17, 107 (Anm. 25), 157, 176-77 Benn, Gottfried 109 Berg, Alban 151 Bishop, Elizabeth 47 Bloch, Ernst 126, 133 (Anm. 26) Bodin, Jean 104 (Anm. 11) Bolt, Robert 163-65, 174-76 Britten, Benjamin 111, 116 Butler, Judith 164-67, 173-75 Cavell, Stanley 34, 78 Chéreau, Patrice 121, 123-24 Chomsky, Noam 110 (Anm. 30)
Cixous, Hélène 49, 143-44, 149 Cox, Paul 62 (Anm. 98) Crozier, Eric 111 Davidson, Donald 122, 128-30, 136 Deleuze, Gilles 11, 138-39, 142, 160, 172 de Man, Paul 63-67, 94 Derrida, Jacques passim Descartes, René 154 Diamond, Cora 182, 184 Felman, Shoshana 30 Förster, Eckart 142 (Anm. 14) Foot, Philippa 53 (Anm. 80), 97 Forster, Edward M. 111, 116 Foucault, Michel 166 Freud, Sigmund 86-89, 129 (Anm. 19) Fried, Michael 176 García Düttmann, Alexander 69 (Anm. 110), 87 (Anm. 19), 101 (Anm. 2), 102 (Anm. 4), 106 (Anm. 23), 111 (Anm. 32), 121 (Anm. 1), 139 (Anm. 7), 168 (Anm. 16) Gates, Moira 140 (Anm. 11) Green, Julien 16-18, 47, 52-56, 118, 158
192 | D errida
und I ch
Habermas, Jürgen 14-15, 23, 157, 15960 Hampshire, Stuart 137 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich 53, 81, 83-87, 89, 93, 145, 171 Heidegger, Martin 40, 49-50, 76, 80 (Anm. 8), 124 (Anm. 8), 135 (Anm. 33), 145 (Anm. 20), 171 Hitler, Adolf 15 (Anm. 10, im Zitat), 67 Hitz, Thorsten 37, 105 (Anm. 17) Horster, Detlef 85 (Anm. 15) Jacobi, Friedrich Heinrich 141-42 Jacobsen, Jens Peter 118-19 Joyce, James 154-55 Kafka, Franz 59 Kant, Immanuel 82-84, 87-89, 145, 186 Kern, Andrea 30 (Anm. 33) Kierkegaard, Soeren 92, 102 (Anm. 4) Klein, Melanie 17-18, 55 Klossowski, Pierre 85 (Anm. 15) Khurana, Thomas 70 (Anm. 111), 129 (Anm. 19), 146 (Anm. 20) Lacan, Jacques 88-89 Laclau, Ernesto 15 Lear, Jonathan 80 (Anm. 8) Lévinas, Emmanuel 80 (Anm. 8) Lloyd, Genevieve 140 (Anm. 11) Lukas 79 Luther, Martin 92 Macherey, Pierre 139, 141, 143, 145 (Anm. 20), 146 Mann, Thomas 55, 121, 123 (Anm. 7), 124, 133-34 Meier, Heinrich 105 (Anm. 18) Meillassoux, Quentin 41 (Anm. 62)
Melville, Herman 111-13, 116 Menke, Christoph 70 (Anm. 111), 104 (Anm. 13) Minnelli, Vincente 76 Moscati, Antonella 116 (Anm. 39) Mose 81 Murdoch, Iris 147 (Anm. 22), 182 Nadler, Steven 137 Nancy, Jean-Luc 13, 77 (Anm. 4), 9091 (Anm. 25), 103, 147 (Anm. 22), 171 (Anm. 25) Nietzsche, Friedrich 30, 48-49, 75, 131, 133-34, 166 Nussbaum, Martha 182-84, 186 O’Neill, Onora 180-82, 184 Ovid (Metamorphosen) 140 Parmenides 80 (Anm. 8) Pasolini, Pier Paolo 137 Paterlini, Piergiorgio 15 (Anm. 10) Phillips, Dewi Zephaniah 95-98, 181-82, 184 Powell, Michael 142 Pressburger, Emeric 142 Pujols, Francesc 168 Rosenzweig, Franz 79, 80-81 (Anm. 8), 83-84, 93 Rousseau, Jean-Jacques 25, 35, 64 Sartre, Jean-Paul 57-60, 62 (Anm. 98), 104, 128-29 (Anm. 19) Savage, Robert 189 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 9, 131 (Anm. 24), 141 Schmidt, Alfred 153, 157 Schmitt, Carl 101-05, 107-08, 110, 117 Scholem, Gershom 106 (Anm. 23) Smith, Adam 183 (Anm. 11)
P ersonenregister | 193
Spinoza, Baruch de 30, 137-43, 145 (Anm. 20), 146, 148 Stone, Martin 36 Syberberg, Hans-Jürgen 67 Taylor, Craig 114 (Anm. 37) Thomä, Dieter 35 (Anm. 45) Thoreau, Henry David 78 Tolstoj, Lew N. 39 Vattimo, Gianni 10 (Anm. 15) Visconti, Luchino 126 Wagner, Richard 121-36 Wagner, Winifred 67 Williams, Bernard 134-35 Winch, Peter 93, 95, 97 (Anm. 38), 107, 112-16 Wittgenstein, Ludwig 7, 25-26, 3032, 36-37, 68-69, 70 (Anm. 111), 96 (Anm. 34, im Zitat), 180-81 Yates, Frances 156 Žižek, Slavoj 14-15
Edition Moderne Postmoderne Christian Filk Günther Anders lesen Der Ursprung der Medienphilosophie aus dem Geist der ›Negativen Anthropologie‹ September 2008, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-687-8
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