Das umkämpfte Museum: Zeitgeschichte ausstellen zwischen Dekonstruktion und Sinnstiftung 9783839451113

Zeitgeschichtliche Museen boomen. Die Brisanz der Auseinandersetzung mit Geschichte im Museum zeigt sich in den vielfält

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German Pages 288 Year 2020

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Editorial
Inhalt
Das zeithistorische Museum und seine theoretische Verortung. Zur Einleitung
Zeitgeschichte als Ich-Erzählung
I. ZEITGESCHICHTSMUSEEN JENSEITS DES NATIONALEN
Das Haus der Europäischen Geschichte. Konstruktion eines transnationalen Ausstellungsnarrativs
Rosenkranz vs. Bordell oder polnische Geschichte im Kontext. Eine kursorische Einschätzung zum Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk
II. MIGRATION ALS NEUER ZUGANG
Migration und Museum: Verheißung oder Aporie?
Migration als Herausforderung nationaler Geschichtsmuseen
„Partizipation“ – Marginalisierte Gruppen in Museum und Ausstellungen
III. OPFER UND TÄTER (NICHT) SINNSTIFTEND AUSSTELLEN – NATIONALSOZIALISMUS UND HOLOCAUST IM MUSEUM
Der Opfer gedenken – über Täter/innen lernen. Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem als Resonanzort
Is it history that has the capacity to save us? Über die Zukunft der Erinnerung an den Nationalsozialismus
Positive Sinnstiftung an Gedenkstätten? Dialog zur Pädagogik an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen
IV. JÜDISCHE MUSEEN ALS KORREKTIV?
Jüdische Museen – Europäische Museen – Postdiasporische Diaspora
Jüdische Museen als gesellschaftspolitischer Diskursraum. Neue Herausforderungen durch Antisemitismus, Fremdenhass und die Renaissance des Religiösen
V. MUSEEN IN POSTSOZIALISTISCHEN LÄNDERN ZWISCHEN EUROPÄISIERUNG UND NATIONALER NEUERFINDUNG
Geschichtspolitischer Wandel und die „Anrufung Europas“ . Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen
Der Kampf um das „moderne“ Museum – Zeitgeschichte im polnischen Museumsboom
Doppelte Diktaturerfahrung. Die Erinnerung an stalinistischen Terror und Holocaust im KGB-Eckhaus und Rigaer Ghetto-Museum
Autor/innen
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Das umkämpfte Museum: Zeitgeschichte ausstellen zwischen Dekonstruktion und Sinnstiftung
 9783839451113

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Ljiljana Radonić, Heidemarie Uhl (Hg.) Das umkämpfte Museum

Erinnerungskulturen / Memory Cultures  | Band 8

Ljiljana Radonić, Heidemarie Uhl (Hg.)

Das umkämpfte Museum Zeitgeschichte ausstellen zwischen Dekonstruktion und Sinnstiftung

This project has received funding from the European Research Council (ERC) under the European Unions Horizon 2020 research and innovation programme (grant agreement No. 816784 GMM)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5111-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5111-3 https://doi.org/10.14361/9783839451113 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Editorial Die Reihe Erinnerungskulturen / Memory Cultures versammelt Studien, die aktuelle Fragestellungen der Erinnerungsforschung bearbeiten und das Forschungsfeld durch innovative Perspektiven bereichern. Diese Studien aus dem breiten Fächerspektrum der Geistes- und Sozialwissenschaften untersuchen insbesondere die Rolle, die Erinnerungen bei Integrationsprozessen und als Konfliktgeneratoren spielen. Sie beleuchten dabei spezifische kulturhistorische Kontexte in Hinblick auf die Bedeutung von Vergangenheitsbezügen nicht nur für den Aufbau und Zusammenhalt von sozialen und politischen Kollektiven, sondern gerade auch in Konflikt-Konstellationen durch divergierende, rivalisierende, gegenläufige und unvereinbare Erinnerungen. Die Reihe schenkt darüber hinaus den transnationalen Akteuren und Medien des Erinnerns in Kontexten der Globalisierung besondere Aufmerksamkeit. Die Reihe wird herausgegeben von Aleida Assmann.

Ljiljana Radonić (Dr. phil.), geb. 1981, leitet am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften das fünfjährige, vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanzierte Forschungsprojekt über „Globalisierte Gedenkmuseen“. Ihre Habilitation am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, wo sie seit 2004 lehrt, verfasste sie über den Zweiten Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen. Heidemarie Uhl (PD Dr. phil.), geb. 1956, ist Historikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Graz. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Gedächtniskultur in Bezug auf den Holocaust und österreichische Zeitgeschichte im europäischen Kontext.

Inhalt Das zeithistorische Museum und seine theoretische Verortung. Zur Einleitung

Ljiljana Radonić / Heidemarie Uhl | 7 Zeitgeschichte als Ich-Erzählung

Martin Sabrow | 27

I. ZEITGESCHICHTSMUSEEN JENSEITS DES NATIONALEN Das Haus der Europäischen Geschichte. Konstruktion eines transnationalen Ausstellungsnarrativs

Andrea Mork | 41 Rosenkranz vs. Bordell oder polnische Geschichte im Kontext. Eine kursorische Einschätzung zum Museum des eiten Weltkriegs in Gdańsk

Daniel Logemann | 55

II. MIGRATION ALS NEUER ZUGANG Migration und Museum: Verheißung oder Aporie?

Dirk Rupnow | 75 Migration als Herausforderung nationaler Geschichtsmuseen

Regina Wonisch | 93 „Partizipation“ – Marginalisierte Gruppen in Museum und Ausstellungen

Georg Traska | 109

III. OPFER UND TÄTER (NICHT ) SINNSTIFTEND AUSSTELLEN – NATIONALSOZIALISMUS UND HOLOCAUST IM MUSEUM Der Opfer gedenken – über Täter/innen lernen. Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem als Resonanzort

Deborah Hartmann / Tobias Ebbrecht-Hartmann | 129 Is it history that has the capacity to save us? Über die Zukunft der Erinnerung an den Nationalsozialismus

Mirjam Zadoff | 147 Positive Sinnstiftung an Gedenkstätten? Dialog zur Pädagogik an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Gudrun Blohberger / Christian Angerer | 165

IV. JÜDISCHE MUSEEN ALS KORREKTIV? Jüdische Museen – Europäische Museen – Postdiasporische Diaspora

Hanno Loewy | 181 Jüdische Museen als gesellschaftspolitischer Diskursraum. Neue Herausforderungen durch Antisemitismus, Fremdenhass und die Renaissance des Religiösen

Barbara Staudinger | 201

V. MUSEEN IN POSTSOZIALISTISCHEN LÄNDERN ZWISCHEN EUROPÄISIERUNG UND NATIONALER NEUERFINDUNG Geschichtspolitischer Wandel und die „Anrufung Europas“. Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen

Ljiljana Radonić | 215 Der Kampf um das „moderne“ Museum – Zeitgeschichte im polnischen Museumsboom

Monika Heinemann | 241 Doppelte Diktaturerfahrung. Die Erinnerung an stalinistischen Terror und Holocaust im KGB-Eckhaus und Rigaer Ghetto-Museum

Katja Wezel | 263 Autor/innen | 281

Das zeithistorische Museum und seine theoretische Verortung Zur Einleitung L JILJANA R ADONIĆ / H EIDEMARIE U HL

Im Zentrum dieses Bandes steht das zeithistorische Museum1, das der im Kontext der Museumstheorie vielzitierte Benedict Anderson als eine „institution of power“2 begreift, eine tragende Säule bei der Schaffung moderner nationaler Identität. Museen werden aus kulturwissenschaftlicher Perspektive als „key cultural loci of our times“ wahrgenommen, denn sie sind „symbols and sites for the playing out of social relations of identity and difference, knowledge and power, theory and representation“3. Robin Ostow fasst Museen in heutigen Demokratien als Schlüsselorte für kulturelle und Geschichtspolitik, die nun mittels neuer Medien als High-Tech-Museen um- oder neugestaltet werden.4 Alison Landsberg begreift Museen als Orte einer „prosthetic memory“, anhand derer man untersuchen kann, „what it means to own or inhabit a memory of an event through

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Diese Ausführungen fußen zum Teil auf Radonić, Ljiljana: Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen. Geschichtspolitik zwischen der „Anrufung Europas“ und dem Fokus auf „unser Leid“, Wien: unveröff. Habilitation 2019.

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Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York: Verso 1996, S. 163.

3

Macdonald, Sharon: „Introduction“, in: Dies./Fyfe, Gordon (Hg.): Theorizing Museums. Representing Identity and Diversity in a Changing World, Oxford/Cambridge MA: Blackwell 1996, S. 2.

4

Ostow, Robin: „Museums and National Identities in Europe in the Twenty-First Century“, in: Ders. (Hg.): (Re)Visualizing National History. Museums and National Identities in Europe in the new Millennium, Toronto: University of Toronto Press 2008, S. 3–11, hier S. 3.

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which one did not live.“5 Jan Assmann betont, Museen mit einem gesetzlich verankerten nationalen Status komme als Orten einer symbolischen nationalen Repräsentation eine bedeutende Rolle bei der „Erfindung der Nationen“ zu.6 „Minderheitenmuseen“ können im Gegensatz dazu durch Sichtbarmachung bisher unterdrückter Gegennarrative Ergänzungen zum Kanon bieten.7 Vor allem aber, wenn sie mit einem traditionell-ethnologisierenden Blick die „Anderen“ darstellen, können sie auch Stereotype reproduzieren. Darüber hinaus verfügen Museen im Spektrum jener gesellschaftlichen Instanzen, die Wissen über die Vergangenheit produzieren, durch das Wechselspiel von Sammeln, Bewahren und Ausstellen über eine spezifische Dimension: Jan Assmann unterscheidet „zwei Modi“, in denen das kulturelle Gedächtnis existiert: „einmal im Modus der Potentialität als Archiv, als Totalhorizont angesammelter Texte, Bilder, Handlungsmuster, und zum zweiten im Modus der Aktualität, als der von einer jeweiligen Gegenwart aus aktualisierte und perspektivierte Bestand an objektiviertem Sinn.“8 Das Museum wird so zum paradigmatischen Ort der Dynamisierung des kulturellen Gedächtnisses. Die Dinge im Museum sind in einen unabschließbaren Prozess des Um-, Neu- und Überschreibens von Geschichte eingebunden. Neue Fragen an die Geschichte verleihen bislang wenig beachteten Dingen im Depot neue Relevanz, Ausstellungsobjekte wandern ins Depot oder werden mit neuen Bedeutungen versehen. Gerade dadurch haben Museen das Potential, in die bestehenden Hierarchien und Ordnungen der identitätsstiftenden Narrative zu intervenieren. Ihre Wirkungsmacht entfalteten Museen erstmals im Zeitalter des Nation Building im 19. Jahrhundert, als zentrale Orte der Konstruktion und Legitimati-

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Landsberg, Alison: Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture, New York: Columbia University Press 2004, S. 129.

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Assmann, Jan: „Kollektives und kulturelles Gedächtnis. Zur Phänomenologie und Funktion von Gegenerinnerung“, in: Borsdorf, Ulrich/Heinrich Theodor Grüttner (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt am Main: Campus 1999, S. 13–32, hier S. 31.

7

Pieper, Katrin: Musealisierung des Holocaust. Das Jüdische Museum Berlin und das U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Ein Vergleich, Köln: Böhlau 2006, S. 23.

8

Assmann, Jan: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 9–19, S. 13.

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on nationaler Identität.9 Die Funktion des Bewahrens von Geschichte, Tradition und historischem Erbe büßte nach 1945 an gesellschaftlicher Strahlkraft ein. Die Institution historisches Museum erschien zunehmend verstaubt und anachronistisch, Zukunft und Fortschritt waren die Leitmotive der von Aufbruchsstimmung geprägten Nachkriegsjahrzehnte. Erst mit der „Erschöpfung der utopischen Energien der Moderne“ (Jürgen Habermas) und dem Schwinden der Fortschrittseuphorie richtete sich die Aufmerksamkeit erneut auf die Kategorie Vergangenheit als Bezugspunkt gesellschaftlicher Selbstvergewisserung.10 Die Frage, wie Gesellschaften mit ihrer Vergangenheit, insbesondere mit traumatischen Ereignissen und Staatsverbrechen, umgehen, wurde zum Indikator ihrer moralischethischen und demokratiepolitischen Verfasstheit. Das Museum als Identitätsfabrik der Moderne11 erfuhr in seiner jüngsten Renaissance allerdings eine entscheidende Transformation: Die New Museology12 und der von den Kulturwissenschaften angestoßene reflexive turn hatten eine „grundlegende Neuorientierung in der museologischen Theoriebildung“ zur Folge: „Während bis dahin Fragen nach Sammlungsstrategien, Organisationsstrukturen oder nach der ‚richtig‘ beziehungsweise ‚gut‘ gemachten Ausstellung im Vordergrund standen, geriet die Institution Museum nun selbst in den Blick.“ 13 Museen als Orte von Wissens- und Bedeutungsproduktion wurden fortan kritisch befragt, vor allem aus den Perspektiven von Hegemonie- und Repräsentationstheorien, Gender Studies und Postcolonial Studies: Wer spricht im Museum, welche Hegemonien durchdringen das Narrativ und das Display von Ausstellun-

9

Vgl. etwa Raffler, Marlies: Museum – Spiegel der Nation? Zugänge zur Historischen Museologie am Beispiel der Genese von Landes- und Nationalmuseen in der Habsburgermonarchie, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007.

10 Vgl. Uhl, Heidemarie: „Museums as Engines of Identity: ‚Vienna around 1900‘ and Exhibitionary Cultures in Vienna – A Comment“, in: Austrian History Yearbook 46 (2015), S. 97–105. 11 Korff, Gottfried/Roth, Martin (Hg.): Das Historische Museum: Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt am Main/New York: Campus 1990. 12 Vergo, Peter (Hg.): The New Museology, London: Reaktion Books 1989; weiterführend: Macdonald, Sharon (Hg.): A Companion to Museum Studies, Malden MA/Oxford: Blackwell 2006. 13 Griesser-Stermscheg Martina u.a.: „Vorwort“, in: ARGE schnittpunkt (Hg.): Handbuch Ausstellungstheorie und -praxis, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2013, S. 9–11, hier S. 9.

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gen?14 Welche Gruppen werden im Museum repräsentiert, welche ausgeschlossen?15 Wie wird die Vorstellung von eigener Identität durch die Differenz zum „Anderen“, Fremden generiert?16 Welche Geschichten sind erzählbar und darstellbar, wo liegen die Grenzen des Sagbaren und damit auch des Zeigbaren? Wie geht das Museum mit der ihm eingeschriebenen Definitionsmacht um? Das Selbstverständnis von Museen und Akteur/innen im Feld von Theorie und Praxis des Ausstellens hat sich radikal verändert. Die permanente theoretische Reflexion dessen, was man tut, wenn man Ausstellungen macht, wurde zur Herausforderung und zum Motor neuer Zugangsweisen. Die Idee des Nationalmuseums wird dadurch nicht obsolet, es geht, wie Aleida Assmann bemerkt, nicht um die Frage von national versus transnational. „Wir leben weiter in Nationalstaaten und sehen derzeit keine Zeichen, dass diese abgeschafft werden. Was sich allerdings radikal verändert hat, ist unser Verständnis des Nationalen. Es gibt inzwischen Nationen, die das Nationale durchlässig, demokratisch, dialogisch, divers und selbstkritisch definieren, und andere, die sich gerade wieder in einem monologischen Verständnis des Nationalen verbarrikadieren, das auf Homogenität und Exklusivität und Geschichtsvergessenheit ausgerichtet ist. Deshalb erlebt die EU ja gerade Brüche und Spaltungen, weil der transnationale Rahmen, den sie bereitstellt, nicht mehr gewünscht wird.“17

Das im November 2018 eröffnete Haus der Geschichte Österreich etwa stellt sich explizit der Frage, „wie man ein Museum bzw. eine Ausstellung zur Geschichte einer Nation im 21. Jahrhundert“ realisiert. Das daraus resultierende institutionelle Selbstverständnis formuliert Gründungsdirektorin Monika Sommer folgendermaßen:

14 Jaschke, Beatrice/Martinz-Turek, Charlotte/Sternfeld, Nora/schnittpunkt (Hg.): Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien: Turia + Kant 2005. 15 Muttenthaler, Roswitha/Wonisch, Regina: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2006. 16 Vgl. Hall, Stuart: „Das Spektakel des Anderen“, in: Ders.: Ideologie Identität Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, hg. v. Juha Koivitso, Andreas Merkens, Hamburg: Argument Verlag 2004, S. 108–166. 17 „Zeitgeschichte gehört ins Museum“. Das Haus der Geschichte Österreich eröffnet im November. Für die deutsche Kulturwissenschaftlerin und ÖAW-Mitglied Aleida Assmann ein Anlass im Interview die heutige Rolle zeitgeschichtlicher Museen zu reflektieren, https://www.oeaw.ac.at/detail/news/zeitgeschichte-gehoert-ins-museum/ vom 27.9.2018.

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„Vor dem Hintergrund der aktuellen geschichtstheoretischen und museologischen Debatten kann Geschichte somit nicht mehr traditionell, d.h. als geschlossenes chronologisches Narrativ dargestellt werden, vielmehr: Geschichtsmuseen werden heute in die Pflicht genommen, nationale Stereotypen und traditionelle Geschichtsmythen kritisch zu hinterfragen, aufzubrechen und zu ‚dekonstruieren‘. Die Vorstellung von dem, was ein Museum ist, hat fundamentale Neuerungen erfahren, das Museum des 21. Jahrhunderts versteht sich nicht mehr als Ort der alleinigen Deutungsmacht über die Geschichte, es ist zu einer ‚contact zone‘ und zu einem Reflexionsraum geworden.“18

Der Museumsboom der letzten Jahrzehnte schlägt sich auch in einer neuen Topografie zeithistorischer Museen nieder. „Wie keine andere Institution hat das Museum in den letzten Jahren Karriere gemacht“, resümiert Gottfried Korff19 die erstaunliche Renaissance dieser „lange für tot erklärten Institution“20. Nicht nur die Vielzahl an Geschichtsmuseen, Häusern der Geschichte, Gedenkstätten und memorial museums ist signifikant, sondern eben auch das vielerorts veränderte Selbstverständnis von Geschichtsmuseen. In ihren Ausstellungen versuchen sie programmatisch, traditionell‐nationalgeschichtliche Darstellungen zu dekonstruieren, ja selbst die Vorstellung von Darstellbarkeit von Geschichte in Frage zu stellen, die Konstruktion von Identitäten aufzuzeigen und Strategien der Partizipation zu entwickeln. Das neue, reflexive Geschichtsmuseum versteht sich somit als Ort der Kritik gesellschaftlicher Repräsentation und Inszenierung, als Ort der Dekonstruktion festgeschriebener Identitäten und Nationalgeschichten, als kritische Intervention in traditionelle Geschichtsbilder und in die Vorstellung scheinbar homogener, nationaler Wir‐Gemeinschaften. Dieses Selbstverständnis steht jedoch in einem Spannungsverhältnis zu jenen Aufgaben, die insbesondere Zeitgeschichtemuseen, Gedenkstätten und memorial museums erfüllen sollen und die angesichts der zunehmenden Krise der Demokratie und des Ansteigens von Rechtspopulismus und Rassismus immer stärker an Relevanz gewinnen: Als zentrale Orte des Lernens aus der dunklen Geschich-

18 Sommer, Monika: „Das Haus der Geschichte Österreich – ein Aufbruch ins Ungewisse“, in: Steirisches Jahrbuch für Politik 2018, S. 111–116, hier S. 114. 19 Korff, Gottfried: „Speicher und / oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum“, in: Moritz Csáky/Peter Stachel (Hg.): Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, Bd. 1, Wien: Passagen Verlag 2000, S. 41–46, hier S. 41. 20 Baur, Joachim: „Museumsanalyse: Zur Einführung“, in: Ders. (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld: transcript 2010, S. 9–14, hier S. 9.

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te von Diktatur und Terrorsystemen sollen Geschichtsmuseen den Wert von Demokratie und Menschenrechten bewusst machen. Auch memorial museums und Gedenkstätten sind in diese Logik eingebunden, denn sie zeigen die extremen Folgen von Diktatur und Terrorherrschaft. Das der Praxis der Dekonstruktion verpflichtete, reflexive Geschichtsmuseum steht nun vor der Herausforderung, auch positive Sinnstiftungen zu vermitteln und demokratische Erfolgsgeschichten zu erzählen. Konterkariert wird diese Entwicklung durch neue nationalistische Gedächtniskulturen, in denen gerade Museen die Aufgabe haben sollen, in der Tradition des nation building des 19. Jahrhunderts erneut, aber nun mit avancierten ästhetischen und technischen Mitteln, die Geschichte nationaler Größe und nationalen Opfertums darzustellen. Diese Praxis lässt sich gegenwärtig vor allem in zunehmend illiberalen Demokratien beobachten. Museen, verstanden als Werkzeuge eines neuen Nationalismus, werden auf neue Weise zu umkämpften Orten. Museen sind in jedem Fall an der Produktion von Wissen und von Geschichte beteiligt. Sie sind „keineswegs neutrale Räume der Wissensvermittlung und -popularisierung, die zeigen, wie ‚es‘ früher war. Vielmehr manifestieren sich im Gezeigten kulturelle Muster, Ein- und Ausschlussmechanismen und soziale, ethnische oder religiöse In- und Outgroups.“21 Wie Geschichtspolitik im Allgemeinen sagen auch zeithistorische Museen dabei immer vor allem etwas über die Bedürfnisse der Gegenwart aus. Dies ist nicht nur im politischen Sinne gemeint, sondern zielt auch auf neue Medien, den Unterhaltungsfaktor: „Although holding fast to classical modern notions of the museum as a public educator and as a catalyst of social reform, the new museology redefines curatorial and outreach practice as extending far beyond the selection and display of instructive samples of knowledge, and now incorporating dimensions such as entertainment, empowerment, experience, ethics, and narrative endeavour.“22

Zum Begriff des memorial museums muss präzisiert werden, dass dieser zunächst solche Gedenkinstitutionen bezeichnete, die nicht in situ, nicht an den Orten der Verbrechen waren – allen voran das 1993 eröffnete US Holocaust Me-

21 Sommer-Sieghart, Monika: „Historische Ausstellungen als ‚contested space‘“, in: Johannes Feichtinger/Elisabeth Großegger/Gertraud Marinelli-König/Peter Stachel/ Heidemarie Uhl (Hg.): Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck: Studienverlag 2006, S. 159–166, hier S. 159. 22 Andermann, Jens/Arnold-de Simine, Silke: „Introduction. Memory, Community and the New Museum“, in: Theory, Culture & Society 1 (2012), S. 3–13, hier S. 5.

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morial Museum (USHMM) in Washington, D.C. und Yad Vashem in Jerusalem, das 1957 als Gedenkstätte eingerichtet wurde und dessen Holocaust History Museum 2005 seine Pforten öffnete. Gedenkmuseen unterscheiden sich etwa von Häusern der Geschichte dadurch, dass sie einem historischen Ereignis gewidmet sind und zunächst allgemein gesagt eines Massenverbrechens gedenken. Solche memorial museums stellen Paul Williams zufolge in gewisser Weise einen inhärenten Widerspruch dar: „A memorial is seen to be, if not apolitical, at least safe in the refuge of history. […] A history museum, by contrast, is presumed to be concerned with interpretation, contextualization, and critique. The coalescing of the two suggests that there is an increasing desire to add both a moral framework to the narration of terrible historical events and more indepth contextual explanations to commemorative acts. That so many recent memorial museums […] find themselves instantly politicized itself reflects the uneasy conceptual coexistence of reverent remembrance and critical interpretation.“23

Gedenkmuseen haben zwei Komponenten: als Orte des Totengedenkens die Erinnerung an eine bestimmte Gewaltgeschichte sowie ferner den Anspruch, mittels Adaption der Vergangenheit „eine Bewusstseinsbasis für aktuelle gesellschaftliche und politische Probleme zu schaffen, auf der Handlungsmaximen und Werte formuliert werden.“24 Ausstellungen sind Räume, in denen Signifikations- und Kommunikationsprozesse stattfinden: Ausstellungskurator/innen formulieren Inhalte, Absichten und Erwartungen, Gestalter/innen übertragen sie in räumliche Arrangements, Besucher/innen machen Erfahrungen und sammeln Erkenntnisse, die idealerweise mit den zu vermittelnden Inhalten übereinstimmen.25 Im Ausstellen kreuzen sich Deutungsabsichten von Ausstellenden, Bedeutungen des Ausgestellten und Bedeutungsvermutungen von Besucher/innen.26 Der Prozess des Ausstellungsmachens bleibt den Besucher/innen verborgen, dem Resultat gehen Kämpfe um Deutungshierarchien und Kompromisse voraus, politische Einflussnahmen, wissenschaftliche und künstlerische Abwägungen. Gruppen und Themen, die in der Ausstellung verhandelt werden, erlangen Präsenz und Sichtbarkeit. Beson-

23 Williams, Paul: Memorial Museums. The Global Rush to Commemorate Atrocities, Oxford: Bloomsbury 2007, S. 8. 24 K. Pieper: Musealisierung des Holocaust, S. 24. 25 Scholze, Jana: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltungen in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld: transcript 2004, S. 12. 26 R. Muttenthaler/R. Wonisch: Gesten des Zeigens, S. 59.

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ders interessant ist die Hierarchie der Sichtbarkeit verschiedener Opfergruppen in der Ausstellung – der Mehrheitsbevölkerung, der jüdischen oder der RomaOpfer. Museen befinden somit sich im Spannungsfeld konfligierender gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Deutungsmuster, Orte, an denen Identität geschaffen und offizielle Geschichtspolitik kanonisiert, an denen das zum jeweiligen Zeitpunkt ihrer Schaffung dominante historische Narrativ als Fundament der Gegenwart sichtbar gemacht wird. Sie können aber auch das hegemoniale Narrativ in Frage stellen. In beiden Fällen ist die Entscheidung darüber, welche Objekte oder Bilder man verwendet, wie man sie organisiert und welchen Ort man für die Ausstellung wählt – ein neu errichtetes Museumsgebäude oder einen historischen Verbrechensort – von politischen, ethischen und ästhetischen Fragen geleitet. Auch hier besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch einerseits, „authentische Beweise“ zu liefern und andererseits dem Bemühen, ein emotionales, dramatisches Erlebnis für die Besucher/innen zu kreieren.27 Stellvertretend für andere US-amerikanische Autor/innen befürworten Spencer R. Crew und James E. Sims eine Inszenierung und eine narrative Ausstellung, denn „the problem with things is that they are dumb. They are not eloquent, as some thinkers in art museums claim. They are dumb. And if by some ventriloquism they seem to speak, they lie.“28 Oder in den Worten des Direktors des USHMM Michael Berenbaum: „Artifacts, architecture and design are subservient to the tale that is being told. They are the midwife of the story.“29 Andere, insbesondere deutschsprachige Autor/innen betonen vor allem die „Aura“ des Objekts und kritisieren an narrativen Museen, dass diese Geschichte immer nur aus einer Perspektive erzählen können – heutzutage meist aus der des Opfers. So führt etwa der langjährige Direktor der Gedenkstätte Buchenwald aus: „Dokumentierend-argumentierende Ausstellungen, wie die in Buchenwald, sind nicht nach einem vorgehenden Narrativ – wohl aber wissenschaftlichen Erkenntnissen – geordnet, sondern verstehen die Realien – und hierzu zählen Objekte ebenso wie Textdokumente oder historische Bilddokumente – als Anstöße für historische Vorstellungskraft, die ih-

27 P. Williams: Memorial Museums, S. 21. 28 Crew, Spencer R./Sims, James E.: „Locating Authenticity: Fragments of a Dialogue“, in: Ivan Karp/Stevan D. Lavine (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington: Smithsonian Books 1990, S. 159–175, hier S. 159. 29 Zit. nach Shenker, Noah: Reframing Holocaust Testimony, Bloomington: Indiana University Press 2015, S. 66.

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rerseits wieder Erinnerungs- und Deutungsleistungen auf den Plan rufen, die in Auseinandersetzung mit dem überkommenen historischen Material reflektiert werden müssen. […] Diese Vorgehensweise ist nicht nur ein Abkömmling der Skepsis, daß eine Gefühlsregung nicht automatisch eine Überzeugung und eine Identifikation noch keine Erkenntnis ist, sondern leitet sich auch von Überlegungen zur Spezifik der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere des Massenmordes an den europäischen Juden her. […] Als eine Geschichte lassen sich die NS-Verbrechen nur aus einer Perspektive erzählen, was, wenn diese Perspektive die einer Opfer- oder Widerstandsgruppe ist, als eine besondere Würdeform verstanden werden kann, in geschichtswissenschaftlicher Perspektive aber als Entkontextualisierung bzw. Verkürzung gelten muß.“30

Ferner lasse sich die grundlose Auslöschung von Menschen aufgrund ihrer Abstammung nicht ohne eine nachträgliche Sinnkonstruktion erzählen. Knigge tritt hingegen für Ausstellungen ein, die den „Zivilisationsbruch“ nicht zuschütten: Sie „sehen im Fragmentarischen der Realien gewissermaßen seinen Widerschein und eine Veranlassung für eigenes Suchen, Fragen, Folgern, Stellungnehmen.“31 Ein erinnerungskultureller Trend, der sich stark in zeithistorischen Museen niedergeschlagen hat, ist die Verschiebung der Perspektive: 1997 hatte Susan A. Crane den Fokus auf die Opfer und die Berücksichtigung persönlicher Erinnerungen noch als Desiderat eingefordert,32 heute ist dies in Museen längst Realität geworden. Märtyrer-, Helden- und Widerstandsnarrative wurden weitestgehend von Opfernarrativen abgelöst.33 So finden sich etwa in der Gedenkstätte Mauthausen auf den älteren Gedenktafeln im Lagerbereich noch die traditionellen Heldenerzählungen. Am Eingang zum Quarantänehof heißt es: „In diesem Lager wurden über 3000 Frauen verschiedener Nationalität interniert, welche für die Freiheit ihres Landes und den Frieden der ganzen Welt kämpften“, und sogar beim Friedhof der unbekannten Häftlinge steht: „Sie gaben ihr Leben für die Freiheit ihrer Heimat.“ Diese früher selbstverständlich scheinende Sinnstiftung

30 Knigge, Volkhard: „Gedenkstätten und Museen“, in: Ders./Norbert Frei (Hg.): Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München: C.H. Beck 2002, S. 379–389, hier S. 385. 31 Ebd., S. 386. 32 Crane, Susan A.: „Memory, Distortion, and History in the Museum“, in: History and Theory 4 (1997), S. 44–63, hier S. 63. 33 Rousso, Henry: „History of Memory, Policies of the Past: What For?“, in: Konrad H. Jarausch/Thomas Lindenberger (Hg.): Conflicted Memories. Europeanizing Contemporary Histories, New York: Berghahn 2011, S. 23–38, hier S. 32.

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steht in einem starken Kontrast zur neuen Museumsausstellung, die dem Tod keinen Sinn einzuhauchen versucht. Von besonderem Interesse ist demnach die Frage, ob „das Opfer“ als Individuum oder im Sinne kollektiver Opferschaft Gegenstand der Ausstellungen ist. Individualisierende Opfergeschichten stellen zumeist das gewöhnliche Leben „davor“ aus34 und ermöglichen Empathie. Identifikation mit dem Opfer führt aber keinesfalls als eine Art Quasi-Automatismus zu Erkenntnis. Als Gründe für die zunehmende Popularisierung des „biographischen Motivs“ von Einzelschicksalen, die von Holocaustmuseen ausgegangen ist, nennt Köhr den Generationenwechsel, den Einfluss filmischer Erzählungen wie Schindlers Liste oder Der Pianist sowie einen Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft von der Sozial- zur Kulturgeschichte.35 Sie warnt aber vor einer Gefahr der Dekontextualisierung, der Auflösung in zahlreiche Einzelgeschichten, die in vielfältige Zusammenhänge gestellt werden können.36 Ein weitgehender Fokus auf individuelle Opfer birgt die Gefahr der Dekontextualisierung und Enthistorisierung. Die Darstellung des individuellen Opfers als Teil eines nationalen Kollektivopfers, wie sie in manchen der in diesem Band untersuchten Museen anzutreffen ist, verhindert ebenfalls tendenziell Fragen von Mitverantwortung sowie nach dem Verwischen von Täter/innen-, Kollaborateurs- und Opferrollen und befördert die Externalisierung von Verantwortung an äußere, fremde Mächte, die zu einem „Europa der Opfer“37 führt. Saul Friedländer plädiert hingegen für eine „integrierte Geschichte“, welche die unverzichtbaren Zeugnisse individueller Opfer ebenso einbezieht wie Täter/innen, Kollaborateur/innen und den komplexen historischen Kontext.38

34 Köhr, Katja: „Flucht in die Moral? – Museale Darstellungen des Holocaust zwischen nationalen Fragen und universellen Zugängen“, in: Medaon 1 (2007), http://medaon. de/pdf/A-Koehr-1-2007.pdf. 35 Köhr, Katja: Die vielen Gesichter des Holocaust: Museale Repräsentationen zwischen Individualisierung, Universalisierung und Nationalisierung, Göttingen: V&R unipress 2012, S. 170. 36 Ebd., S. 175. 37 Hammerstein, Katrin/Hofmann, Birgit: „Europäische ‚Interventionen‘. Resolutionen und Initiativen zum Umgang mit diktatorischer Vergangenheit“, in: Katrin Hammerstein/Ulrich Mählert/Julie Trappe/Edgar Wolfrum (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung?, Göttingen: Wallstein 2009, S. 189–203, hier S. 203. 38 Friedländer, Saul: „Eine integrierte Geschichte des Holocaust“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14/15 (2007), S. 7–14.

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ZU

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B EITRÄGEN

Dieser Band geht auf die im Oktober 2018 von den Herausgeberinnen des Bandes am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit Unterstützung des Hauses der Geschichte Österreich organisierte Konferenz „Das umkämpfte Museum. Zeitgeschichte ausstellen zwischen Dekonstruktion und Sinnstiftung“ zurück. Die Autor/innen gehen darin unter anderem der Frage nach, wie zeitgeschichtliche Museen, Gedenkstätten und memorial museums auf die oben beschriebenen Herausforderungen reagieren. Welche neuen Formen des Ausstellens, Erzählens und Vermittelns sind notwendig, um im Spannungsfeld zwischen Dekonstruktion der „großen Erzählungen“ und positiver Sinnstiftung zu navigieren? Wie gehen wir mit den Veränderungen der zeitgeschichtlichen Museumslandschaft in Zeiten der europäischen Demokratiekrise und des neuen Nationalismus um? Den Band eröffnet Martin Sabrows Diskussion heutiger Zeitgeschichtsschreibung als Ich-Erzählung. Er geht der Frage nach, ob mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts in Forschung und Lehre wie in Museen und Ausstellungen befasste Historiker/innen über den Einfluss ihrer Lebenserfahrung auf ihre fachliche Arbeit angemessen reflektieren können. Die heutige Zeitgeschichtsschreibung habe in energischem Bekenntnis objektivierende Autorität durch empathische Subjektivität ersetzt und bekenne sich unbefangen zu generationsspezifischen Blickwinkeln. Subjektive Perspektivierung werde als Freibrief der historischen Aneignung verstanden, nicht als Mittel der selbstkritischen Distanzgewinnung. Geschichtswissenschaft sei zugleich Teil und Gegenteil der Erinnerung, so Sabrow, dessen Beitrag den verschiedenen Gründen für den heutzutage vorherrschenden Einbezug der eigenen Primärerfahrung und Ich-Erzählung nachgeht. Im ersten Abschnitt werden Museen diskutiert, die versuchen, Zeitgeschichte jenseits des Nationalen auszustellen – sowie Herausforderungen, vor denen derartige transnationale Projekte im Zeitalter aggressiver Nationalismen stehen. Daniel Logemann erörtert, wie der Angriff der polnischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) auf das Museum des Zweiten Weltkrieges in Gdańsk – der sich in der Forderung nach „mehr Rosenkranz“ und „weniger KZ-Bordell“ in der Ausstellung zusammenfassen lässt – eine kritische Auseinandersetzung mit der ursprünglichen, 2017 eröffneten Ausstellung in den Hintergrund treten ließ. Als einer der Kuratoren der Ausstellung arbeitet Logemann problematische Prämissen der Dauerausstellung heraus – und ergreift zugleich explizit Partei für die Gründungsdirektoren und gegen den herrschenden Geschichtsrevisionismus der PiS. Im Zentrum der Ausstellungskonzeption wie der Angriffe steht dabei die Frage nach dem Verhältnis zwischen nationalen und transnationalen Narrativen.

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Andrea Mork stellt die Entstehungsgeschichte des Hauses der europäischen Geschichte in Brüssel und seine kuratorischen Prämissen dar. Sie geht der Frage nach, ob es „europäische Objekte“ gibt und wie man die Geschichte Europas vor dem Hintergrund vielfältiger unterschiedlichster Erfahrungen transnational ausstellen kann. Als einen Kernpunkt der Auseinandersetzungen beleuchtet sie, wie es gelingen kann, Nationalsozialismus und Stalinismus gebührend zu erörtern, Parallelen herauszuarbeiten, ohne jedoch im Sinne der Totalitarismustheorie die beiden Regime und ihre Verbrechen gleichzusetzen. Schließlich geht sie auf heftige nationalistische Angriffe auf das Museum ein. Der nächste Abschnitt setzt sich kritisch mit dem Konzept der Migration als neuem Zugang in Museen auseinander. Dirk Rupnow erörtert den prekären Stellenwert, den Migration im kollektiven Gedächtnis vieler europäischer Länder bis heute hat. Die Debatte um Migration sei dabei im Museumsfeld viel intensiver geführt worden als in den Geschichtswissenschaften allgemein, vor allem anlässlich diverser Jubiläen der „Gastarbeitermigration“. Museen seien heute immer noch geprägt von der Komplizenschaft mit Nationalismus und Kolonialismus, weshalb Rupnow grundlegend der Frage nachgeht, ob ein Museum überhaupt der richtige Ort sei, um Migration zu dokumentieren und zu repräsentieren. Soll es um Sichtbarkeit und Anerkennung, letztlich verbunden mit der Hoffnung auf Gleichberechtigung gehen, wie sie viele von Rupnow vorgestellte Projekte anstreben? Migration müsse als gelebte Realität, nicht nur als Ausnahme und Problem erzählt werden, das Marginalisierte in die Mitte rücken. Migrant/innen selbst müssen diese Geschichte erzählen und (mit-)schreiben können. Regina Wonisch verortet zunächst den heutigen Umgang mit dem Thema Migration im historischen Wandel von Museen. Sie geht von der Öffnung der Museen für ein breiteres Publikum im 19. Jahrhundert aus, die untrennbar mit der Identifikation mit dem Nationalstaat verbunden war und erst mittels verbindender Rituale und Repräsentationsformen erlernt werden musste. Später seien Nationalmuseen kritisiert worden, doch auch die Gegenstrategien ähnelten im Grunde jenen des Bürgertums. Bislang marginalisierte Geschichten – wie Arbeiter/innengeschichte oder Frauengeschichte – wurden in die prestigeträchtigen Institutionen hinein reklamiert und die Öffnung für breitere Bevölkerungsschichten gefordert. So habe auch das derzeit aktuelle Thema der Migration zumindest Eingang in den Ausstellungsbetrieb gefunden, eigene Migrationsmuseen wurden gegründet und Personen mit „Migrationshintergrund“ als Zielgruppe entdeckt. Doch Migration sei kein Randthema, es betreffe die Mitte der Gesellschaft ebenso wie den Kern der Institution Museum. Abschließend geht Wonisch der Frage nach, ob Museen angesichts dessen zu Relikten einer überkommenen Ordnung werden oder ob sie sich die Auseinandersetzung mit dem Thema Migration

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zunutze machen können, um, wie sie vorschlägt, ihre Repräsentationen zugunsten transnationaler und transkultureller Erzählungen zu verschieben. Georg Traska begreift „Migration“ als einen der wichtigsten Begriffe, unter denen im 21. Jahrhundert die Öffnung der Institution Museum, von Archiven und Ausstellungen gegenüber marginalisierten Minderheiten benannt wird – und beleuchtet diesen Begriff zugleich kritisch angesichts populistischer Tendenzen und abwertendem „Othering“. Im Fokus des Beitrags steht die Frage, wie Museen und Ausstellungen mit Methoden der Partizipation marginalisierte Gruppen einbinden. Anhand zweier Wiener Ausstellungsprojekte – einer interventionistischen Erweiterung der Dauerausstellung des Österreichischen Museums für Volkskunde mit dem Titel „Die Küsten Österreichs“ und dem von ihm selbst geleiteten Projekt „Junge Muslim/innen in Österreich – eine sozialanthropologischkulturwissenschaftliche Forschung an Wiener Schulen“– erörtert er, wie Partizipant/innen an der Konzeption der Ausstellungen beteiligt werden und was aus dieser Beteiligung kognitiv und sichtbar hervorgeht. Die Frage, wie Täter/innen und Opfer an den Opfern gewidmeten Gedenkorten einerseits und „Täterorten“ andererseits ausgestellt werden sowie inwiefern diese „Lernorte“ sinnstiftend sein sollen und können diskutiert der nächste Abschnitt. Deborah Hartmann und Tobias Ebbrecht-Hartmann deuten die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als einen Resonanzraum, an dem der Opfer gedacht, aber auch über Täter/innen informiert wird. Auch an Nicht-insitu-Orten könnten durch historiografische und pädagogische Rahmungen Vergangenheit und Gegenwart in Dialog treten, so dass sie uns etwas angehen. In Yad Vashem würden Ausstellung und pädagogische Aufarbeitung der Geschichte der Shoah die jüdischen Stimmen in ein vielstimmiges und multiperspektivisches Erinnerungsgeflecht integrieren. Sie untersuchen nicht, wie viele Studien zuvor, wie dort Sinnstiftung betrieben wird, sondern wie Beziehungen gestiftet werden: zur zerstörten jüdischen Diaspora in Europa vor und während des Holocaust, zwischen Opfern, Bystanders und Täter/innen, aber auch Beziehungen, die an diesem Ort und zu diesem Ort des Gedenkens entstehen. Ein Beispiel für diese Mehrschichtigkeit ist die Verknüpfung von Fotografien, die Täter im KZ Klooga von Leichen auf Scheiterhaufen aufnahmen, mit Privatfotografien und biographischen Informationen der Opfer. Mirjam Zadoff stellt aktuelle Gedenk- und Musealisierungsprojekte in den USA und Skandinavien vor und geht dann der Frage nach, ob die dort gestellten Fragen auch auf die deutschen und österreichischen Erinnerungsdiskurse angewandt werden können. Komplementär zum obigen Beitrag beleuchtet sie, wie im postmigrantischen Deutschland das Erbe der Tätergesellschaft angetreten werden kann, ohne die Opfer zu kurz kommen zu lassen. Der heute stolz gebrauchte Be-

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griff der Erinnerungskultur sei hierbei irreführend, da er den langwierigen, konfliktreichen und oft schmerzhaften Prozess unterschlage. Am Beispiel des 2015 eröffneten Münchner NS-Dokumentationszentrums diskutiert sie, warum sich einerseits hier die Erzählung nicht auf die Opfer konzentrieren kann, da dies den (deutschen) Besucher/innen die Möglichkeit geben würde, sich mit ihnen zu identifizieren – eine Entschuldung also. Andererseits fehle deshalb dort eine „integrierte Geschichte“ des Nationalsozialismus und des Holocaust, die Opfer würden vielfach durch Quellen der Täter hindurch repräsentiert. Gudrun Blohberger und Christian Angerer führen in ihrem gemeinsamen Beitrag einen Dialog über Pädagogik an In-situ-Orten sowie über die Frage, inwieweit Sinnstiftung in Gedenkstätten stattfinden soll. Ausgehend vom Beispiel Peršmanhof diskutieren sie – in der Folge vor allem anhand der KZ-Gedenkstätte Mauthausen – den Wandel hin zu mehr Multiperspektivität, Partizipation und der Diskussion von Handlungsspielräumen. Sie verdeutlichen anhand von Rückmeldungen an die Gedenkstätte Mauthausen, wie neue Vermittlungskonzepte, die bei Führungen nun auch die Umgebung und die Täter/innen einbeziehen, zu Verunsicherung führen, aber auch viel Zuspruch erfahren. Selbstverunsicherung beim Gedenkstättenbesuch könne ein fruchtbarer Teil des „negativen Gedächtnisses“ sein, Demokratielernen und Menschenrechtsbildung jedoch nicht ohne Weiteres an Gedenkstätten delegiert werden, so ihr Fazit. Der folgende Abschnitt ist der Rolle von jüdischen Museen heute gewidmet. Hanno Loewy führt aus: Wenn für Museen gelte, dass einem das Eigene fremd und das Fremde vertraut werden kann, dann gelte das im Extrem für jüdische Museen. Sie seien aus dem Bruch mit der (religiösen) Tradition und ihrer Neuerfindung als „kulturelles Erbe“ hervorgegangen. Schon die ersten Gründungen um 1900 in Wien, New York oder Prag „verdankten“ sich der Auflösung religiöser und traditioneller Alltagspraxis, der Auflösung ökonomisch wie politisch unter Druck geratener Lebenswelten und der Migration: aus den Landgemeinden in die Städte und schließlich der Massenemigration von Osten nach Westen. Nach der Shoah sei die Idee eines jüdischen Museums in Europa heimatlos geworden und stehe für die „postdiasporische Diaspora“. In Israel hingegen sei, etwa im Israel-Museum, die Nation an die Shoah rückgebunden, in den USA jüdische Identität als Teil eines „multikulturellen Gewebes“ konstruiert worden. An einem historisch kontaminiertem Ort wie dem Jüdischen Museum Berlin sei versucht worden, einen Ort der Identitätsstiftung um eine Leerstelle herum zu errichten. Jüdische Museen seien immer mit der Zweideutigkeit konfrontiert, zugleich partikularistisch und universalistisch zu sein, stur am Eigenen festzuhalten und sich permanent mit allem Anderen zu berühren, so Loewy.

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Barbara Staudinger geht der Frage nach, welche Begehrlichkeit die Politik an jüdische Museen heranträgt und wie letztere damit umgehen. Angesichts von antisemitischen Übergriffen sei in letzter Zeit die Erwartungshaltung stärker geworden, jüdische Museen und Gedenkstätten sollten als „Heilanstalten“ für Antisemit/innen fungieren, wodurch die Verantwortung von Eltern und Schule weggeschoben werde. Jüdische Museen im deutschsprachigen Raum würden jedoch auf Zurufe der Politik nicht reagieren, sondern hätten sich vielfach schon längst des Problems angenommen, integrative Projekte entwickelt oder Querschnittsfragen wie die der Migration in die Erzählung miteinbezogen. Zum Teil folgen jüdische Museen aber noch einer Integrationserwartung der Mehrheitsgesellschaft, etwa als das Jüdische Museum Augsburg Schwaben 2006 das Kapitel zur jüdischen Stadtbevölkerung zur Jahrhundertwende mit dem Titel „Integration durch Leistung“ überschrieb. Staudinger plädiert daher für einen mehrfachen Perspektivenwechsel: Nicht nur das Miteinander, sondern auch jahrhundertelange gegenseitige Desintegration sollte thematisiert werden. So zeige das Jüdische Museum München bereits unkommentiert nebeneinander die Skepsis, das Zögern, Erwartungshaltungen, Enttäuschungen und schließlich auch Hoffnungen in die unterschiedlichsten Richtungen im jeweiligen Moment des Ankommens von Jüdinnen und Juden in München. Auf jeden Fall sollten sich jüdische Museen nicht als das „gute Andere“ instrumentalisieren lassen, stattdessen seien Enttäuschung, Verweigerung und Öffnung gefragt. Die letzten drei Beiträge befassen sich mit Museen in postsozialistischen Ländern sowie dem Spannungsverhältnis zwischen der Europäisierung der Erinnerung und nationaler Neuerfindung, teils unter autoritären Vorzeichen. Ljiljana Radonić stellt die Ergebnisse ihrer Habilitation über den Zweiten Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen vor. Sie untersuchte Museen in allen „östlichen“ EU-Mitgliedsländern und entwickelt anhand der systematischen Analyse von zehn Museen von Estland bis Kroatien den diachronen Wandel dieser Institutionen, angefangen mit der sozialistischen Ära, insbesondere den liberaleren 1960er Jahren im Vergleich zu repressiveren Phasen davor und danach. Im Zentrum steht die Frage, wie diese Museen im Zuge der EU-Beitrittsbemühungen mit „Europa“ kommunizierten: Während die eine Gruppe von Museen eine „Anrufung Europas“ betrieb und das Europäisch-Sein des jeweiligen Landes unter Beweis stellen wollte, verlangte die andere Gruppe, insbesondere die baltischen Okkupationsmuseen und das Haus des Terrors in Budapest, „Europa“ möge das Leiden der Mehrheitsbevölkerung unter dem Stalinismus respektive „Kommunismus“ anerkennen. Schließlich gibt Radonić einen kurzen Überblick über die aktuelle verbale „Abrüstung“ in den baltischen Museen und die Auswirkungen des autoritären Backlashs auf die Museumslandschaft in Ungarn und Polen.

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Monika Heinemann zeigt in ihrem Beitrag, dass sich bis zur zweiten Regierungsübernahme durch die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) im Jahr 2015 in Polen eine große Vielfalt an musealen Deutungsangeboten der Vergangenheit entwickelt hat, die parallel existieren. Als Beispiele dienen ihr hierfür des Museum des Warschauer Aufstands, die Schindler-Fabrik in Krakau und das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk. Diese trotz des eindeutigen Triumphs der Form „narrative Ausstellung“ vorherrschende inhaltliche Vielfalt wird jedoch in den letzten Jahren herausgefordert durch eine zunehmend aggressive Geschichtspolitik der neuen polnischen Regierung, die ihre eigene historische Interpretation als die Geschichte durchzusetzen versucht. Katja Wezel untersucht zwei In-situ-Orte in der lettischen Hauptstadt Riga: das vom Museum der Okkupation Lettlands betriebene KGB-Eckhaus und das Rigaer Ghetto-Museum. Sie stellt die im einen Fall der sowjetischen Okkupation, im anderen Fall der NS-Besatzung gewidmeten Museen einander gegenüber – ohne die beiden Besatzungen wie im lettischen Kontext vielfach üblich miteinander gleichzusetzen. Wezel arbeitet die Relevanz und die Probleme der beiden Orte heraus und diskutiert, inwiefern eine getrennte Behandlung der beiden Besatzungen – wie sie die beiden Museen repräsentieren – förderlich sein kann, um Opferkonkurrenzen zu vermeiden. Der Abschnitt über das abschließende Konferenzpanel „Museum goes digital“ kam leider nicht zustande und hinterlässt im Band eine Lücke in Bezug auf das Museum 2.0, digitale Strategien und Museumswebseiten, die wir trotz der Aktualität des Themas nicht mehr schließen konnten.

L ITERATUR Andermann, Jens/Arnold-de Simine, Silke: „Introduction. Memory, Community and the New Museum“, in: Theory, Culture & Society 1 (2012), S. 3–13. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York: Verso 1996. Assmann, Jan: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 9–19. Assmann, Jan: „Kollektives und kulturelles Gedächtnis. Zur Phänomenologie und Funktion von Gegenerinnerung“, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grüttner (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt am Main: Campus 1999, S. 13–32.

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Baur, Joachim: „Museumsanalyse: Zur Einführung“, in: Ders. (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld: transcript 2010, S. 9–14. Crane, Susan A.: „Memory, Distortion, and History in the Museum“, in: History and Theory 4 (1997), S. 44–63. Crew, Spencer R./Sims, James E.: „Locating Authenticity: Fragments of a Dialogue“, in: Ivan Karp/Stevan D. Lavine (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington: Smithsonian Books 1990, S. 159–175. Friedländer, Saul: „Eine integrierte Geschichte des Holocaust“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14/15 (2007), S. 7–14. Griesser-Stermscheg Martina u.a.: „Vorwort“, in: ARGE schnittpunkt (Hg.): Handbuch Ausstellungstheorie und -praxis, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2013, S. 9–11. Hall, Stuart: „Das Spektakel des Anderen“, in: Ders.: Ideologie Identität Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, hg. v. Juha Koivitso, Andreas Merkens, Hamburg: Argument Verlag 2004, S. 108–166. Hammerstein, Katrin/Hofmann, Birgit: „Europäische ‚Interventionen‘. Resolutionen und Initiativen zum Umgang mit diktatorischer Vergangenheit“, in: Katrin Hammerstein/Ulrich Mählert/Julie Trappe/Edgar Wolfrum (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung?, Göttingen: Wallstein 2009, S. 189–203. Jaschke, Beatrice/Martinz-Turek, Charlotte/Sternfeld, Nora/schnittpunkt (Hg.): Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien: Turia + Kant 2005. Knigge, Volkhard: „Gedenkstätten und Museen“, in: Ders./Norbert Frei (Hg.): Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München: C.H. Beck 2002, S. 379–389. Köhr, Katja: „Flucht in die Moral? – Museale Darstellungen des Holocaust zwischen nationalen Fragen und universellen Zugängen“, in: Medaon 1 (2007), http://medaon.de/pdf/A-Koehr-1-2007.pdf. Köhr, Katja: Die vielen Gesichter des Holocaust: Museale Repräsentationen zwischen Individualisierung, Universalisierung und Nationalisierung, Göttingen: V&R unipress 2012. Korff, Gottfried: „Speicher und / oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum“, in: Moritz Csáky/Peter Stachel (Hg.): Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, Bd. 1, Wien: Passagen Verlag 2000, S. 41–46.

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Korff, Gottfried/Roth, Martin (Hg.): Das Historische Museum: Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt am Main/New York: Campus 1990. Landsberg, Alison: Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture, New York: Columbia University Press 2004. Macdonald, Sharon: „Introduction“, in: Dies./Fyfe, Gordon (Hg.): Theorizing Museums. Representing Identity and Diversity in a Changing World, Oxford/Cambridge MA: Blackwell 1996. Macdonald, Sharon (Hg.): A Companion to Museum Studies, Malden MA/Oxford: Blackwell 2006. Muttenthaler, Roswitha/Wonisch, Regina: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2003. Ostow, Robin: „Museums and National Identities in Europe in the Twenty-First Century“, in: Ders. (Hg.): (Re)Visualizing National History. Museums and National Identities in Europe in the new Millennium, Toronto: University of Toronto Press 2008, S. 3–11. Pieper, Katrin: Musealisierung des Holocaust. Das Jüdische Museum Berlin und das U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Ein Vergleich, Köln: Böhlau 2006. Radonić, Ljiljana: Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen. Geschichtspolitik zwischen der „Anrufung Europas“ und dem Fokus auf „unser Leid“, Wien: unveröffentlichte Habilitation 2019. Raffler, Marlies: Museum – Spiegel der Nation? Zugänge zur Historischen Museologie am Beispiel der Genese von Landes- und Nationalmuseen in der Habs-burgermonarchie, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007. Rousso, Henry: „History of Memory, Policies of the Past: What For?“, in: Konrad H. Jarausch/Thomas Lindenberger (Hg.): Conflicted Memories. Europeanizing Contemporary Histories, New York: Berghahn 2011, S. 23–38. Scholze, Jana: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltungen in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld: transcript 2004. Shenker, Noah: Reframing Holocaust Testimony, Bloomington: Indiana University Press 2015. Sommer, Monika: „Das Haus der Geschichte Österreich – ein Aufbruch ins Ungewisse“, in: Steirisches Jahrbuch für Politik 2018, S. 111–116. Sommer-Sieghart, Monika: „Historische Ausstellungen als ‚contested space‘“, in: Johannes Feichtinger/Elisabeth Großegger/Gertraud Marinelli-König/ Peter Stachel/Heidemarie Uhl (Hg.): Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck: Studienverlag 2006, S. 159– 166.

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Uhl, Heidemarie: „Museums as Engines of Identity: ‚Vienna around 1900‘ and Exhibitionary Cultures in Vienna – A Comment“, in: Austrian History Yearbook 46 (2015), S. 97–105. Vergo, Peter (Hg.): The New Museology, London: Reaktion Books 1989. Williams, Paul: Memorial Museums. The Global Rush to Commemorate Atrocities, Oxford: Bloomsburry 2007.

Zeitgeschichte als Ich-Erzählung M ARTIN S ABROW

Zeitgeschichte ist nahe Geschichte, sie ist als Epoche der Mitlebenden und Miterinnernden untrennbar mit Biographie und Weltsicht ihrer Interpreten verknüpft. Können mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts in Forschung und Lehre ebenso wie in Museen und Ausstellungen befasste Historiker über den Einfluss ihrer Lebenserfahrung auf ihre fachliche Arbeit angemessen reflektieren? Das besondere Verhältnis von Lebenserfahrung und Zeitgeschichte hat Vertreter der Disziplin seit jeher bewegt. Als der NS-belastete, aber darüber im Nachhinein auch öffentlich sprechende Osteuropahistoriker Reinhard Wittram (1902–1973) 1968 in seiner Vorlesung ein Ende der Vergangenheitsverdrängung konstatierte, machte er dafür ganz zu Recht vor allem den Generationswechsel in der Zunft verantwortlich: „Das Problem verändert sich freilich, seitdem diejenigen, die den Nationalsozialismus zu verantworten haben, altgeworden sind und nach und nach – mit jedem Jahr schneller – von Jüngeren abgelöst werden, für die eine persönliche Blockade in dieser Hinsicht nicht besteht.“1 Aber erst die heutige Zeitgeschichtsschreibung hat in energischem Bekenntnis objektivierende Autorität durch empathische Subjektivität ersetzt. Konrad Jarauschs Buch über Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995 und erst recht Hans-Ulrich Wehlers fünfter Band der Deutschen Gesellschaftsgeschichte bekannten sich zu ihren generationsspezifischen Blickwinkeln ganz unbefangen nicht nur im Vorwort, sondern legten sie ihren Darstellungen offensiv zugrunde.2

1

Wittram, Reinhard: Anspruch und Fragwürdigkeit der Geschichte. Sechs Vorlesungen zur Methodik der Geschichtswissenschaft und zur Ortsbestimmung der Historie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969, S. 10.

2

Jarausch, Konrad: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München: DVA 2004; Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5. Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949–1990, München: C.H. Beck 2005.

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Wer könnte zu Gerd Koenens Die Farbe Rot oder Wolfgang Kraushaars Die 68er-Bewegung – Eine illustrierte Chronik 1960–1969 greifen, ohne im Blick zu behalten, dass die Autoren sich mit diesen opera magna auch an der eigenen Lebensgeschichte abarbeiteten? Ganz ungeniert einer emphatischen Subjektivität verpflichtet schließlich sind jüngere Großerzählungen zur DDR-Geschichte: Ehrhart Neubert nannte seine umfangreiche Darstellung des Herbstes 1989 wie selbstverständlich Unsere Revolution3 und Ilko-Sascha Kowalczuk hob in seiner Untersuchung zum Endspiel des deutschen Kommunismus gar zu einem förmlichen Lob der Subjektivität an: „Ich gehöre nicht zu jenen Vertretern dieser Zunft, die behaupten, in der historischen Darstellung könne es Objektivität geben. Ich bin ein Kind meiner Zeit, meine Fragen sind interessengeleitet. Ich habe Vorannahmen, Standpunkte, Erfahrungen, ethische Grundsätze. Die kann ich benennen, aber nicht ausblenden. Andere mögen meinen, dies zu können. Ich glaube nicht an ihre Wundertaten. Ich halte sie sogar für besonders raffinierte Scharlatane. […] Ich verkünde hier keine objektive Wahrheit, sehr wohl aber meine eigene, die ich so darlegen möchte, dass sie nachvollziehbar und plausibel ist, selbst wenn man sie nicht teilt.“4

Wie anders argumentierte vierzig Jahre zuvor im Einklang mit der Zunft der zitierte Fachkollege Wittram, der die subjektive Perspektivierung nicht als Freibrief der historischen Aneignung verstand, sondern als Mittel der selbstkritischen Distanzgewinnung: „Jeder Historiker soll sich seine eigenen […] Voraussetzungen bewußt machen, nicht in der Meinung, sie mit einem Willensentschluß abschütteln oder auch in beharrlicher Übung aufheben zu können; wohl aber in der Absicht, durch die Perspizierung und Relativierung des eigenen Standorts für das Verstehen mehr Weite zu gewinnen und auch alle unwillkürliche Urteilsbildung so unter Kontrolle zu halten, daß man über sie Rechenschaft ablegen kann.“5

Wie ist das prononcierte Bekenntnis zur historischen Subjektivität in unserer Zeit zu erklären, das so entschlossen vom nüchternen, auf Objektivierung be-

3

Neubert, Ehrhart: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München/Zürich: Piper 2008.

4

Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München: C.H. Beck 2009, S. 18.

5

R. Wittram: Anspruch und Fragwürdigkeit der Geschichte, S. 87 f.

Z EITGESCHICHTE ALS I CH -E RZÄHLUNG

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dachten Denkstil der frühen deutschen Zeitgeschichte nach 1945 absticht? Als erster Faktor ist hier die Kompensation des fehlenden Sehepunktes zu nennen. Die eigene Biographie, also die sogenannte „Primärerfahrung“ spielt in der Zeitgeschichte eine eigenartige Doppelrolle, die die fachliche Beschäftigung mit der noch qualmenden Vergangenheit von anderen historiographischen Fachgebieten unterscheidet. Zeitgeschichte – treffender wäre der Terminus „Gegenwartsgeschichte“ – bezeichnet über die verkürzende Fokussierung auf die Epoche der Mitlebenden hinaus jene historische Subdisziplin, deren tastende Deutungskonzepte mit den Worten des Heidelberger Mediävisten Fritz Ernst (1905–1963) zwar Orientierungsbedarf formulieren, aber selbst keine Orientierungspunkte besitzen.6 Zeitgeschichte handelt demzufolge von ereignis- oder rezeptionsgeschichtlich noch offenen Epochen, denen die ordnende Kraft des Rückblicks auf eine abgeschlossene Zeit fehlt. Diese historisierende Ordnungskraft liefert der von Johann Martin Chladenius als Ort unseres Auges beschriebene „SehePunkt“,7 der in seinem jeweiligen Betrachtungswinkel die zeitgenössisch empfundenen Zäsuren stärken und schwächen kann, wie das Ende des Fortschrittszeitalters in den 1970er Jahren überhaupt erst sichtbar machte. Erfahrung kann Ordnung nicht ersetzen, aber kompensieren, und ein erster Grund für die prononcierte Subjektivität der gegenwärtigen Zeitgeschichtsschreibung mag darin liegen, dass der Eindruck des eigenen Erlebens den narrativen Kompass liefert, den die zeitliche Nähe konzeptionell versagt. Nur selten jedenfalls kommen Sehepunkt und Erlebnisintensität so fugenlos zur Deckung, wie es Tony Judt im Winter 1989 erging, als er auf dem Weg zu einem Vortrag im Taxi die Radiomeldungen vom Aufstand gegen Ceauşescu hörte und mit einem Schlag wusste: „Eine Epoche war beendet. […] Nun erschienen die Jahre zwischen 1945 und 1989 nicht als Schwelle zu einer neuen Epoche, sondern als Zwischenzeit, als Anlaufphase eines

6

Ernst, Fritz: „Zeitgeschehen und Geschichtsschreibung. Eine Skizze“, in: Die Welt als Geschichte 17 (1957), S. 137–189.

7

„Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, daß wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punkt nennen. Wie nämlich der Ort unseres Auges […] die Ursache ist, daß wir ein solches Bild und kein anderes von der Sache bekommen, also gibt es bei allen unseren Vorstellungen einen Grund, warum wir die Sache so und nicht anders erkennen: und dieses ist der Sehe-Punkt von derselben Sache.“ Chladenius, Johann Martin: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig: Stern-Verlag 1742, S. 71.

30 | M ARTIN S ABROW noch unerledigten Konflikts, der 1945 zwar zu Ende gegangen war, dessen Epilog aber weitere 50 Jahre dauerte. Welche Gestalt Europa auch annehmen würde, sein vertrautes Geschichtsbild hatte sich ein für alle Mal geändert. In diesem kalten mitteleuropäischen Dezember wurde mir klar, daß die europäische Nachkriegsgeschichte neu geschrieben werden mußte.“8

Aus diesem Impuls erwuchs dann Judts große Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. Ein zweiter Grund ergibt sich aus der Nobilitierung der Zeitzeugenschaft, die unsere Gegenwart kennzeichnet. Der Aufstieg des mit fast geschichtsreligiösen Zügen ausgestatteten Zeitzeugen in der öffentlichen Geschichtskultur und insbesondere in der musealen Präsentation hat sich längst von der nüchternen Korrektivfunktion gelöst, die ihm die Zeitgeschichte noch vor vier Jahrzehnten zuschrieb und die etwa Hans Rothfels als „Möglichkeit der Verifizierung durch Befragung noch lebender Zeugen und durch das historische Kreuzverhör“ umriss. 9 Der heutige Zeitzeuge hat mit seinem medialen Siegeszug seit den 1970er Jahren, mit dem Konzept der sekundären Zeitzeugenschaft und mit dem Eintritt in die virtual reality als zeitloser Sprecher der Vergangenheit im Übergang vom Mitmenschen zum Avatar die Grenzen zwischen Faktum und Fiktion so durchlässig gemacht, dass dies auch in der wissenschaftlichen Zeitgeschichtsschreibung seinen Widerhall findet. Diese Entwicklung klammert den Historiker als Zeitzeugen nicht aus, sondern bezieht ihn vielmehr dezidiert mit ein. Sie pocht lediglich auf eine fachliche Selbstdistanzierung, die sich selbst mit Gerd Tellenbach (1903–1999) „möglichst genau[e] und, soweit nötig, sogar rücksichtslos[e] Lebenszeugnisse […] zur Erkenntnis der Zeitgeschichte“ abverlangt und so den historiographischen Anspruch auf fachliche Lauterkeit und persönliche Wahrhaftigkeit sichert.10 Wie stark die innerfachliche Sorge gegenüber der möglichen Blicktrübung des lebensgeschichtlich engagierten oder betroffenen Historikers lange blieb, zeigte in den späten 1980er Jahren die brieflich ausgetragene Kontroverse zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer um das Verhältnis von Erforschung und Erinne-

8

Judt, Tony: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien: Hanser 2006, S. 15 f.

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Rothfels, Hans: „Die Zeit, die dem Historiker zu nahe liegt“, in: Festschrift für Hermann Heimpel. Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1971, S. 28–35, hier S. 33.

10 Tellenbach, Gerd: Aus erinnerter Zeitgeschichte, Freiburg im Breisgau: Verlag der Wagnerschen Universitätsbuchhandlung 1981, S. 8.

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rung des Nationalsozialismus. Broszat unterschied in seiner Gegenüberstellung von „wissenschaftlicher Einsicht und mythischer Erinnerung“ zwischen einer „auf mehr rationales Begreifen ausgehenden jüngeren deutschen Historikergeneration“ und der „geschichtsvergröbernden Erinnerung unter den Geschädigten und Verfolgten des NS-Regimes und ihren Nachkommen“11, was Friedländer zu der Rückfrage veranlasste, warum „Historiker, die zur Gruppe der Verfolger gehören, fähig sein [sollen], distanziert mit dieser Vergangenheit umzugehen, während die zur Gruppe der Opfer gehörenden das nicht können?“12 Dass der sich zur HJ-Generation zählende Broszat jüdischen Historikern die selbst in Anspruch genommene Objektivität des Urteils absprach, ließ sein „Pathos der Nüchternheit“ schon fragwürdig erscheinen, bevor noch 2003 seine einstige NSDAP-Mitgliedschaft bekannt wurde. In der Folgezeit setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Entgegensetzung von Gedächtnis und Geschichte in der Zeitgeschichte in die Sackgasse führe, weil jedenfalls hier „Geschichtswissenschaft zugleich als Teil und Gegenteil der Erinnerung fungiere“.13 Die fachliche Chance zum Einbezug der eigenen Primärerfahrung und IchErzählung verdankt sich des weiteren der epistemologischen Wende in der Geschichtswissenschaft, die die Fesseln eines objektiven Wahrheitsideals gesprengt und den Anspruch auf eine objektive und allgemeingültige Erkenntnisgewinnung zurückgenommen hat. Der cultural turn hat Rankes so bescheidenen wie vermessenen Hoffnungssatz, zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen sei“, zugunsten der unvermeidlichen Perspektivität jeder Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit – Webers berühmte „Wertbeziehung“ – und der narrativen Struktur ihrer Repräsentation für unerreichbar erklärt, ohne deswegen die Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung und ihr Unterscheidungsvermögen zwischen den res factae und den res fictae grundsätzlich aufzugeben. Auch die Zeitgeschichte hat in den letzten Jahrzehnten unter dem Einfluss Thomas S. Kuhns und Hayden Whites immer prononcierter nach leitenden Paradigmen und den „Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung“ gefragt; sie interessiert sich seit langem für das Wie nicht weniger als für das Was historischer Erkenntnisbildung und -vermittlung. Das Interesse an historischen Narrativen und an der Subjektivität der Geschichtsschreibung bestimmt heute die Praxis der Zeitgeschichte, die

11 Broszat, Martin/Friedländer, Saul: „Um die ‚Historisierung des Nationalsozialismus‘. Ein Briefwechsel“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2 (1988), S. 339–372, hier S. 343. 12 Ebd., S. 347. 13 Berg, Nicolaus: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen: Wallstein 2003, S. 41 u. 661.

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in starkem Maße enzyklopädische Autorität durch empathische Subjektivität ersetzt hat. Auf einem überkommenen Ideal absoluter und überzeitlicher Gültigkeit der historischen Erkenntnis beharren heute allein noch Geschichtsrevisionisten, die ihre kruden Widerlegungen des Mainstreams mit der Dignität der unanfechtbaren Wahrheit auszustatten versuchen, wie etwa der als notorischer Geschichtsfälscher rechtskräftig verurteilte Militärhistoriker und Holocaust-Leugner David Irving in seinem Buch Hitler’s War vorführte, das Hitlers Verantwortung für den Holocaust bestritt: „Ich habe […] nach Hinweisen auf die wirkliche Wahrheit in Tagebüchern und privaten Briefen an Witwen und Freunde gesucht.“14 Den Gegenpol markiert ein radikaler Konstruktivismus, der Fakten als soziales Erzeugnis versteht und die Unterscheidbarkeit von Faktizität und Fiktionalität erkenntnistheoretisch ablehnt. Fachliche Dominanz aber wahrt in der heutigen Geschichtswissenschaft ein relationaler Objektivismus, der davon ausgeht, „dass es (neben den sozial konstruierten auch) absolute Tatsachen gibt“15, und am „universalen Geltungsanspruch“16 der Historie festhält, der Wissenschaftscharakter17 wie „kulturelle Orientierungskraft“ verloren ginge, „wenn die sich Erinnernden ernsthaft glaubten, die erinnerte Vergangenheit sei eine Fiktion“.18 Beide Richtungen aber eint der Zielwechsel von der Idee der absoluten Wahrheit zum Telos der vorläufigen Erkenntnis, der sich als fachlicher Grundkonsens in der Gegenwart etabliert hat. „Wer auf die Erkenntnis fundamentaler Wahrheit aus ist, sollte sich nicht mit Wissenschaft oder Literatur zufrieden geben, sondern mit einer Bitte um Offenbarung an den allwissenden und allmächtigen

14 Irving, David: Hitler’s War, London: Hodder & Stoughton 1977, S. XII, zit. nach der Übersetzung von Evans, Richard J.: Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess, Frankfurt am Main/New York: Campus 2001, S. 31. 15 Epple, Angelika: „Nach dem postcolonial turn. Paul Boghossian und die ‚Angst vor der Wahrheit‘“, in: Thomas Sandkühler/Horst Walter Blanke (Hg.): Historisierung der Historik. Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2018, S. 53– 67, hier S. 67. 16 Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2013, S. 66. 17 „Wenn also Geschichtswissenschaft überhaupt möglich sein soll, dann muß es eine wissenschaftlich einholbare historische Wahrheit geben.“ Jansen, Ludger: „Die Wahrheit der Geschichte und die Tugenden des Historikers“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 4 (2008), S. 471–491, hier S. 474. 18 Rüsen, Jörn: „Kann Gestern besser werden? Über die Verwandlung der Vergangenheit in Geschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft 2 (2002), S. 305–321, hier S. 307.

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Herrn selbst wenden“, resümiert selbst eine Studie zum „epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung“19, die es in besonderer Weise mit der Faktizität von Indizien zu tun hat und sich dennoch den berühmten vier Prinzipien des amerikanischen Soziologen Robert Merton – Kommunitarismus, Universalismus, Uneigennützigkeit und organisierter Skeptizismus – verpflichtet weiß.20 Der Trend zur wissenschaftlichen Subjektivierung kommt darüber hinaus dem auf Pluralisierung und Individualisierung gerichteten Wertewandel westlicher Gesellschaften entgegen, der sich in der Zeitgeschichte als Rückkehr von der Struktur zur Story und vom distanzierten Erklärer zum empathischen Erzähler abbildet. Ihm entspricht eine medial verstärkte Verwischung der Grenzen von Faktizität und Fiktionalität, die sich als geschichtskulturelle Subjektivierung ohne Subjekt fassen lässt. Sie bildet sich im Dokudrama und im Reenactment ebenso ab wie in den ästhetischen Authentisierungsstrategien des historischen Spielfilms. Wie erfolgreich diese Authentisierung des Fiktionalen mittlerweile geworden ist, zeigt sich, wenn auch historische Spielfilme unter das Wahrheitsgebot des Presserechts gestellt werden, wie es 2006 dem Contergan-Film des Drehbuchautors Benedikt Röskau erging.21 Infolge der Klage des Produzenten „Chemie Grünenthal“ stellte die 24. Zivilkammer des Hamburger Landgerichts fest, „dass der Film […] eine so hohe Authentizität besitze, dass der Zuschauer nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden könne, und darum

19 Bachhiesl, Christian: Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft: Wissenschaftshistorische Überlegungen zum epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung, Graz: LIT 2012, S. 491. 20 Merton, Robert K.: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. 21 „Als ich meinen Film über den ‚Contergan‘-Skandal geschrieben habe, konnte ich auf ein halbes Dutzend hervorragender Dokumentationen aus dreißig Jahren zurückgreifen. Die Filme wurden oft – und immer zu Recht – ausgezeichnet, wurden gesendet und in Fachkreisen diskutiert und von allen Seiten mehr oder weniger geduldet. Sie beeindruckten, sie bewegten, aber sie bewirkten – nichts. […] Doch plötzlich sollte ein Spielfilm über diesen Skandal gedreht werden und allein das Vorhaben löste eine Welle hektischer und aggressiver Tätigkeiten aus, die keiner der zum Teil wesentlich kritischeren Dokumentarfilme provoziert hatte.“ „Dokudramen, „Biopics und „Reenactments – Verfilmung von tatsächlichen Ereignissen – Welche rechtlichen und praktischen Schwierigkeiten ergeben sich? Podiumsdiskussion auf dem Filmfest Hamburg 2008, Äußerung Benedikt Röskau, http://www.drehbuchautoren.de/files/ Podiumsdiskussion_R%C3%B6skau_Okt.2008.pdf vom 26.1.2012.

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unter das viel strengere Presserecht falle, sich also nicht auf den Verfassungsartikel der Kunstfreiheit berufen könne“.22 Eine kulturelle Subjektivierung der Zeithistorie liegt auch vor, wenn unter dem fordernden Diktat runder Jahrestage historische Ereignisse ganz unbefangen in den Bezugsrahmen der Gegenwart gestellt werden. So erging es 2018 zu ihrem 100. Jubiläum der Novemberrevolution, die ein von der Bundeshauptstadt gefördertes „Revolutionszentrum“ unter sieben Themenschwerpunkte stellte, die die Revolution als vorgezogene Grundgesetzschöpfung auffassten und in Berlin inszenierten: Versammlungsfreiheit, politische Mitbestimmung, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Recht auf Leben, Gleichberechtigung und Arbeitnehmerrechte. Die wohl tiefste Ursache aber für den Trend zur Subjektivität in der Zeitgeschichtsschreibung liegt in den weitgehend ungebrochenen Lebensläufen der heutigen Zeithistorikergeneration. Kein heutiger Lehrstuhlinhaber oder public historian muss wie der aus dem englischen Exil zurückgekehrte Hans Rothfels (1891–1976) 1965 in einer Vortragsreihe über Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus der Universität Tübingen in einem Vortrag über „Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren“ darauf hinweisen, dass „ich selbst eine Zeitlang mitbefangen war“23, oder wie der Bauernkriegsforscher Günther Franz (1902–1992) 1981 in einem Vortrag über „Das Geschichtsbild des Nationalsozialismus und die deutsche Geschichtswissenschaft“ kurz innehalten, um zu bekennen: „An dieser Stelle ist es notwendig, von mir selbst zu sprechen, denn auch ich war damals Nationalsozialist.“24 Lebensgeschichtliche Brucherfahrung begünstigt zeithistorische Entsubjektivierung, und es ist kein Zufall, dass in Bezug auf die DDR-Geschichte gerade diejenigen Historiker auf der Subjektivität ihres konzeptionellen Zugangs beharrten, die sich dem non-konformen Nachwuchs oder sogar der Opposition zurechnen konnten. Einst regimeverbundene DDR-Historiker hingegen führte die Notwendigkeit, lebensgeschichtliche Diskontinuität öffentlich zu verarbeiten, im Gegenteil sogar zu einer förmlichen Verwissenschaftlichung der Ich-Erzählung, wie sie für die postkommunistische Memoirenliteratur etwa die Lebensbeschrei-

22 Ebd. Das Urteil des Hamburger Landgerichts wurde am 5.9.2007 vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. 23 Rothfels, Hans: „Die Geschichte in den dreißiger Jahren“, in: Andreas Flitner (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen, Tübingen: Wunderlich 1965, S. 90–107, hier S. 95. 24 Franz, Günther: „Das Geschichtsbild des Nationalsozialismus und die deutsche Geschichtswissenschaft“, in: Oswald Hauser (Hg.): Geschichte und Geschichtsbewußtsein. 19 Vorträge, Göttingen/Zürich: Muster-Schmidt 1981, S. 91–111, hier S. 106 f.

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bung des Funktionärs und Historikers Stefan Doernberg vorführt, der die Subjektivität seiner persönlichen Erfahrung durch die ausgedehnte Wiedergabe von Zeitdokumenten zu kommentieren und teils auch zu korrigieren richtig fand.25 All das gilt für die seither in den zeithistorischen Arbeitsfeldern etablierte Generation nicht. Längst beherrschen Alterskohorten die Positionen der Zunft, die ihre politische und wissenschaftliche Sozialisation in derselben Werteordnung erfuhren, die in ihren Grundzügen bis heute Bestand hat. Im Zuge der sogenannten Fundamentalliberalisierung der Bundesrepublik wurden in sie auch Historiker integriert, die zeit ihres Studiums auf den radikalen Flügeln der linken Bewegung gestanden hatten. Es bedeutet weder Selbstanzeige noch Denunziation, wenn Historiker wissen lassen, dass sie sich in ihrer Studentenzeit mit ziemlichem Engagement den Spontis zugerechnet hätten oder damals als Revisionisten des MSB Spartakus oder als Stalinisten der KPD/ML Kommilitonen aus fremden Welten gewesen waren oder als Teil einer maoistischen Gruppierung die chinesische Kulturrevolution verherrlicht hätten. Dieser Wandel geht zum einen auf das säkulare Verblassen der Farbe Rot als politischer Option und das Verschwinden einer revolutionären Alternative zur bestehenden Gesellschaftsordnung aus dem politischen Diskurs zurück. In der neuen Linken war die Unterscheidung zwischen „progressiv“ und „reaktionär“ eine Leitkategorie der politischen Verortung. Heute ist sie substanzlos geworden; das Koordinatensystem hat sich aufgelöst, auf dem sich solche Bewegungsbegriffe abbilden lassen, und mit ihm sind die politischen Gruppierungen verschwunden, die einst die revolutionäre Systemüberwindung zu ihrem eschatologischen Ziel erklärten. Dass politische Historikerreminiszenzen heute anders als die ihrer Vorgängergeneration mit Carl Ludwig Schleich (1859–1922) nur mehr eine harmlos „besonnte Vergangenheit“26 darstellen, verdankt sich zweitens einem eigentümlichen Rollenwechsel, der die 1968er von den 1848ern signifikant unterscheidet. Das ursprünglich maßgeblich von der Neuen Linken angestoßene Projekt der

25 Wie Doernberg im Vorwort seiner Autobiographie betonte, habe er „vor allem zur notwendigen Abrundung meiner Sicht auf die Geschichte […] an einigen Stellen – ich hoffe, nicht zu oft – zusätzliche Einfügungen eingeschaltet“. Zur Begründung führte er an: „Ich hielt dies dort für zweckmäßig, wo ich den Erinnerungen an die Vergangenheit eine kritische Note hinzufügen wollte, die aus späteren Erkenntnissen hinzukam. So dürfte mein Bild des 20. Jahrhunderts präziser werden.“ Doernberg, Stefan: Fronteinsatz, Erinnerungen eines Rotarmisten, Historikers und Botschafters, Berlin: Das neue Berlin 2004, S. 6 f. u. 87. 26 Schleich, Carl Ludwig: Besonnte Vergangenheit. Lebenserinnerungen eines Arztes, Berlin: Ernst Rowohlt 1920.

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historischen Aufklärung und der Vergangenheitsdistanzierung ist spätestens mit Richard von Weizsäckers Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes Staatsräson geworden, und es definierte seither den erst in jüngster Zeit wieder in Frage gestellten gesellschaftlichen Konsens über den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch. Damit aber transformierte sich die 68er-Tradition der gesellschaftlichen Einmischung; sie wandelte sich von der generationsbiographischen Herausforderung der herrschenden Zustände hin zu ihrer Verteidigung – das Projekt der rücksichtslosen Aufklärung ist in die Praxis der rückhaltgebenden Affirmation umgeschlagen, und mit dieser Verschiebung hat sich auch der subjektive Zug der jüngeren Zeitgeschichtsschreibung von der rebellischen Infragestellung zur empathischen Beglaubigung der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte und ihrer historischen Meistererzählung entwickelt. Seien wir also auf der Hut vor der nur vertrauten Vergangenheit – ihre Vertrautheit spiegelt in Wirklichkeit nur das Maß, mit dem wir sie unter der erinnernden Hand unserer Gegenwart angepasst haben. Ein Vorteil aber bleibt ihr, und das ist ihr grundsätzliches Vermögen, ihren eigenen Standort und ihre professionellen Analysekategorien im zeitlichen Wandel und im historischen Kontext in die Reflexion einbeziehen zu können. Die Zeitgeschichte bleibt ein Kind ihrer Zeit und teilt mit ihr die Begrenztheit des Blicks und die Sogkraft ihrer Vorannahmen. Aber sie verfügt zugleich über die Kategorie der metareflexiven Distanzforderung, der ihr bei aller Relativität des Wahrheitsanspruchs immerhin die Chance einräumt, ihrer Zeit nicht nur blind zu folgen, sondern ihr zugleich auch als „Deutungswissenschaft der Gegenwart“ gegenüberzutreten.27

L ITERATUR Bachhiesl, Christian: Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft: Wissenschaftshistorische Überlegungen zum epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung, Graz: LIT 2012. Berg, Nicolaus: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen: Wallstein 2003. Broszat, Martin/Friedländer, Saul: „Um die ‚Historisierung des Nationalsozialismus‘. Ein Briefwechsel“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2 (1988), S. 339–372.

27 Wirsching, Andreas: Von der Lügenpresse zur Lügenwissenschaft? Zur Relevanz der Zeitgeschichte als Wissenschaft heute, Vortrag am ZZF Potsdam vom 19.4.2018.

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Chladenius, Johann Martin: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig: Stern-Verlag 1742. Doernberg, Stefan: Fronteinsatz, Erinnerungen eines Rotarmisten, Historikers und Botschafters, Berlin: Das neue Berlin 2004. Epple, Angelika: „Nach dem postcolonial turn. Paul Boghossian und die ‚Angst vor der Wahrheit‘“, in: Thomas Sandkühler/Horst Walter Blanke (Hg.): Historisierung der Historik. Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2018, S. 53–67. Ernst, Fritz: „Zeitgeschehen und Geschichtsschreibung. Eine Skizze“, in: Die Welt als Geschichte 17 (1957), S. 137–189. Evans, Richard J.: Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess, Frankfurt am Main/New York: Campus 2001. Franz, Günther: „Das Geschichtsbild des Nationalsozialismus und die deutsche Geschichtswissenschaft“, in: Oswald Hauser (Hg.): Geschichte und Geschichtsbewußtsein. 19 Vorträge, Göttingen/Zürich: Muster-Schmidt 1981, S. 91–111. Irving, David: Hitler’s War, London: Hodder & Stoughton 1977. Jansen, Ludger: „Die Wahrheit der Geschichte und die Tugenden des Historikers“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 4 (2008), S. 471–491. Jarausch, Konrad: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München: DVA 2004. Judt, Tony: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien: Hanser 2006. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München: C.H. Beck 2009. Merton, Robert K.: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. Neubert, Ehrhart: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München/Zürich: Piper 2008. Rothfels, Hans: „Die Geschichte in den dreißiger Jahren“, in: Andreas Flitner (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen, Tübingen: Wunderlich 1965, S. 90–107. Rothfels, Hans: „Die Zeit, die dem Historiker zu nahe liegt“, in: Festschrift für Hermann Heimpel. Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1971, S. 28– 35. Rüsen, Jörn: „Kann Gestern besser werden? Über die Verwandlung der Vergangenheit in Geschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft 2 (2002), S. 305– 321.

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Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2013. Schleich, Carl Ludwig: Besonnte Vergangenheit. Lebenserinnerungen eines Arztes, Berlin: Ernst Rowohlt 1920. Tellenbach, Gerd: Aus erinnerter Zeitgeschichte, Freiburg im Breisgau: Verlag der Wagnerschen Universitätsbuchhandlung 1981. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5. Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949–1990, München: C.H. Beck 2005. Wirsching, Andreas: Von der Lügenpresse zur Lügenwissenschaft? Zur Relevanz der Zeitgeschichte als Wissenschaft heute, Vortrag am ZZF Potsdam vom 19.4.2018. Wittram, Reinhard: Anspruch und Fragwürdigkeit der Geschichte. Sechs Vorlesungen zur Methodik der Geschichtswissenschaft und zur Ortsbestimmung der Historie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969.

I. Zeitgeschichtsmuseen jenseits des Nationalen

Das Haus der Europäischen Geschichte Konstruktion eines transnationalen Ausstellungsnarrativs A NDREA M ORK

Geschichte hat mit Politik gemeinsam, dass sie alle angeht. Dies ist der Grund, warum sie in die Öffentlichkeit gehört. Historische Museen schaffen einen Raum, in dem gesellschaftliche Selbstreflexion stattfinden kann. Das Haus der Europäischen Geschichte, das im Mai 2017 in Brüssel eröffnet wurde, mag als Beispiel dienen, um Fragen zu beleuchten, die mit einer Museumsneugründung verbunden sind. Was ist Europa? Worin besteht das Interesse an europäischer Geschichte? Wie ist das Thema einzugrenzen? Wie die ungeheure Stofffülle bändigen? Gibt es europäische Objekte? Gibt es Lehren der Geschichte, die für alle Europäer Geltung haben? Wie umgehen mit den verschiedenen historiographischen Ansätzen, mit umstrittenen Themen, mit unseren Obsessionen und Idiosynkrasien?

W AS IST E UROPA ? Der Ausgangspunkt meiner Ausführungen ist ein Gemeinplatz: Weder geografisch noch politisch ist Europa ein klar umrissener Raum. Prägend in der europäischen Geschichte war nicht die politische Einheit, sondern die Vielfalt staatlicher Organisationsformen und politischer Gebilde. Niemand wird das ernsthaft bestreiten. Europa ist ein Mosaik von fabelhafter Vielfältigkeit, ein Kontinent, der die größten Unterschiede in sich vereint, Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels sich ergänzender, konkurrierender und antagonistischer Ideen und Entwicklungen. „Die europäische Identität ist komplex, fast flüchtig, in ständiger

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Bewegung und vielköpfig. Ein Kaleidoskop.“1 Europa liefert kein Bild kultureller Geschlossenheit, vielmehr eines, das die größten Unterschiede in sich vereinigt. Und doch lässt sich feststellen, dass die großen revolutionären und richtungsweisenden Entwicklungen in der europäischen Geschichte grenzüberschreitend waren. „Die Schwierigkeit, Europa zu begreifen, liegt vor allem in der Schwierigkeit, sich das Einheitliche im Vielgestaltigen und das Vielgestaltige im Einheitlichen vorzustellen: die unitas multiplex.“2 Was bedeutet das für das Haus der Europäischen Geschichte?

M ETHODE

UND THEORETISCHES

F UNDAMENT

Seit Januar 2011 arbeitete ein akademisches Team, Historiker und Museumsfachleute aus verschiedenen europäischen Ländern, mit verschiedenem Bildungshintergrund aus verschiedenen Denktraditionen kommend zusammen, um ein europäisches Narrativ für das Haus der Europäischen Geschichte zu entwickeln. Die Aufgabe des Kuratorenteams in diesem Projekt war zuvörderst ein theoretischer Entwurf, die Entwicklung eines Konzepts, innerhalb dessen das Narrativ zu entfalten wäre. Dabei war allen Beteiligten von Anfang an eines bewusst: Europa hat unzählige Museen, aber keines über sich selbst, jedenfalls nicht explizit. Wer sich anschickt, ein historisches Museum zu gestalten, muss sich im Koordinatenkreuz dreier Begriffe positionieren: Geschichte, Gedächtnis, Identität. Anstatt von oben herab eine scheinbar konsistente Identität zu definieren, erschien es uns angemessener, an das Konzept des „kulturellen Gedächtnisses“ anzuknüpfen – wegen der ihm innewohnenden Multiperspektivität und seines kritischen Potentials.3 Europa ist zu komplex, vielgestaltig und widersprüchlich, als

1

Kristeva, Julia: „Sprich über deine Schatten“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.5.2013.

2

Morin, Edgar: Europa denken, Frankfurt/New York: Campus Verlag 1991, S. 21.

3

Zum Konzept des „kulturellen Gedächtnisses“ siehe Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt: Suhrkamp 1985; Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München: C.H. Beck 2013; Breier, Zsuzsa/Muschg, Adolf: Freiheit, ach Freiheit… Vereintes Europa – Geteiltes Gedächtnis, Göttingen: Wallstein 2011; Leggewie, Claus/Lang, Anne: Der Kampf um die europäische Erinnerung: Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München: C.H. Beck 2011; Rousso, Henry: „Das Dilemma eines europäischen Gedächtnisses“, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2004), S. 363–378.

D AS H AUS

DER

EUROPÄISCHEN G ESCHICHTE

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dass es sich auf einen Identitätskern zurückführen ließe. Mehr noch, das Haus der Europäischen Geschichte zur Bühne einer vorgegebenen europäischen Identität zu machen, wäre ein autoritärer Akt, der die Debatte über die sehr sinnvolle Frage nach europäischen Gemeinsamkeiten eher blockierte, anstatt sie anzuregen. Wegweisend auf der Suche nach einer Alternative war für uns die Erkenntnis, die der Schweizer Schriftsteller Adolph Muschg folgendermaßen formuliert hat: „Was Europa zusammenhält und was es trennt, ist im Kern eines: das gemeinsame Gedächtnis“4. Das Haus der Europäischen Geschichte strebt nicht an, die Vielfalt der einzelnen Nationalgeschichten darzustellen. Unsere Leitfrage ist: „Was bindet den Kontinent zusammen?“ Wir konzentrieren uns auf solche Ereignisse und Entwicklungen, die sich als formativ für den gesamten Kontinent erwiesen haben. Um die ungeheure Stoffmenge zu bewältigen, haben wir uns auf Auswahlkriterien verständigt. Die Ausstellung ist auf Phänomene fokussiert, die a) in Europa entstanden sind, b) in ganz Europa wirkungsmächtig gewesen sind und c) bis heute relevant sind. Diese Ereignisse und Entwicklungen bilden die Rahmengeschichte, innerhalb derer die unterschiedlichen Erfahrungen und Interpretationen dargestellt werden können. Wie kommen wir zu einer Bestimmung europäischer Besonderheiten, die konkret und spezifisch ist und zugleich weit genug, um der Vielfalt Europas gerecht zu werden? Das Museum wirft gleich zu Beginn seiner Dauerausstellung ein Schlaglicht auf Ideen, Traditionen und Ereignisse, die als europäisches Erbe bezeichnet werden können und bis heute wirkungsmächtig sind. Dazu gehören die griechische Philosophie, das römische Recht, die Dominanz des Christentums, Imperialismus, Humanismus, die Aufklärung, Kapitalismus und Sozialismus, der Nationalstaat, die Erfahrung zweier Weltkriege und Totalitarismen brutalster Ausprägung. Europa hat viele Gesichter. Der Überblick zeigt eine Fülle an unterschiedlichen, auch antagonistischen Kernelementen europäischer Kultur und Zivilisation, mit denen sich die spannungsgeladene Dynamik der europäischen Geschichte erklären und der historisch völlig verfehlten Vorstellung einer wie auch immer gearteten europäischen Einheitskultur vorbeugen lässt.

4

Muschg, Adolph: „Kerneuropa. Gedanken zur europäischen Identität“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 31.5.2003.

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Wie kann man den Besucher dazu anregen, sich mit unterschiedlichen Perspektiven vertraut zu machen und auf diese Weise die nationalen Seh- und Interpretationsgewohnheiten zugunsten eines erweiterten Verständnisses der europäischen Zusammenhänge zu überwinden? Statt einen scheinbar globalen, objektiven Standpunkt einzunehmen, versuchen wir, ein bewusstes Spiel mit der Relativität der Perspektiven in Gang zu setzen. Das neue Museum will ein Gedächtnisspeicher Europas werden, der die Erfahrungen und Interpretationen in ihrer ganzen Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit umfasst. Diese Geschichtsdarstellung zielt nicht auf Homogenität, sie ist vielmehr ambivalent, sie ist kritisch anstatt affirmativ. Auch wenn das Museum den Begriff der Identität im beschriebenen Sinne vermeidet, zielt es gleichwohl darauf ab, den Besucher im Gang durch die Ausstellung Kristallisationskerne und Identifikationspunkte in der europäischen Geschichte entdecken zu lassen, die als Ansatzpunkte für ein geteiltes, aber gemeinsames Europa-Bewusstsein dienen könnten.

D ER

ZEITLICHE UND GEOGRAFISCHE

R AHMEN

Wir haben der Versuchung einer allumfassenden Präsentation der europäischen Geschichte widerstanden. Die Dauerausstellung konzentriert sich auf das 19. und 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der europäischen Integration nach 1945. Im 19. Jahrhundert machte sich Europa auf den Weg in die Moderne – politisch, ökonomisch, gesellschaftlich und kulturell. Ideen und Konzepte wurden auf den Weg gebracht, die uns bis heute bestimmen. Man denke an die Menschenrechte, die parlamentarische Demokratie, die Marktwirtschaft, den Nationalstaat und den Sozialismus. Kein anderes Jahrhundert war in einem nur annähernden Maße eine Epoche Europas. Die Leitidee ist: Während wir die großen Linien der europäischen Geschichte in ihrer transnationalen Verflechtung nachzeichnen, beschreibt die Ausstellung gleichzeitig die lokalen Besonderheiten, die diese Entwicklungen hervorgebracht haben. Dieser Zusammenhang von Gemeinsamkeiten und Unterschieden erklärt den Reichtum und die Komplexität der europäischen Geschichte und bildet das Grundmuster unserer Ausstellung. Dabei geht es nicht um die Darstellung einer linear progressiven Erfolgsgeschichte. Im Gegenteil: Die Ausstellung hebt die sozialen und politischen Spannungen hervor, internationale Rivalitäten und Konflikte, die sich wieder und wieder zu enormen Konfliktpotentialen auswuchsen.

D AS H AUS

DER

EUROPÄISCHEN G ESCHICHTE

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Wie wir alle wissen, ist jede Art von Geschichtspräsentation eine Konstruktion. Dass dabei notwendigerweise Lücken entstehen, nicht Integrierbares, Eigensinniges, sei ausdrücklich zugestanden und kann vom Besucher mit Recht beanstandet werden. Ein Museum aber ist keine Enzyklopädie. Das zu wissen, entlastet die Ausstellungsmacher von Pedanterie und die Kritiker von der Pflicht, nach Lücken zu fahnden. Das Haus der Europäischen Geschichte hat sicherlich nicht das Ziel, National- oder andere Spezialmuseen zu ersetzen, die viel tiefer in den jeweiligen Gegenstand eindringen als wir das könnten. Die unbequemen Fragen sind vielmehr: Haben wir das richtige Gespür für Proportionen gezeigt, die richtigen Akzente gesetzt, Sinn für das Typische bewiesen, für Zusammenhänge und Parallelitäten? Ist es uns geglückt, einen roten Faden der Erzählung deutlich zu machen, aber auch das differenzierende Beispiel, das erhellende Detail? Die erkenntniskritische Einsicht in die Konstruiertheit historischer Darstellungen heißt nicht, dass alles, was dargestellt wird, beliebig und subjektiv wäre. Plausibilität ist das Ziel, Nachprüfbarkeit und intersubjektive Verständlichkeit sind unsere Mittel.

G IBT

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DIE

E UROPA

REPRÄSENTIEREN ?

Objekte sind das Herzstück eines Museums. Sie sind anschauliche Quellen historischer Informationen und Erkenntnis. „Das Objekt gleicht einem Akteur, der in zehn verschiedenen Stücken auftreten kann.“5 Das, was der Maler Henri Matisse über die sich wandelnden Bedeutungszuschreibungen der Objekte für seine Bildkompositionen pointiert beschreibt, gilt in ähnlicher Weise für die Konstruktion historischer Ausstellungen. Objekte sind mehrdeutig. Sie lassen sich im Rahmen der jeweiligen Präsentation zum Träger unterschiedlicher Bedeutungen machen. Ergänzt um Texte und andere Objekte, reflektieren sie die Vielfalt und Komplexität historischer Ereignisse – und die Schwierigkeit, die Vergangenheit zu begreifen. Europa verfügt über eine reiche, historisch gewachsene Museumslandschaft von enormer Vielfältigkeit. Das Haus der Europäischen Geschichte jedoch musste von Null anfangen – ohne ein einziges Objekt. Rund 250 Leihgeber aus 36 Ländern haben uns großzügig unterstützt. Objekte unterschiedlichster Herkunft werden aus ihrem angestammten national- oder regionalgeschichtlichen Kontext

5

Luz, Maria: „Témoignages: Propos recueillis par Maria Luz et approuvés par Henri Matisse“, in: XXe Siècle 2 (1952), S. 66–67.

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in einen europäischen Interpretationszusammenhang gerückt, um sie dadurch in einen gemeinsamen Deutungshorizont zu stellen und als etwas in sich Zusammengehöriges zu begreifen. In der Aufbauphase drohte der Leihverkehr zeitweise den gesamten Betrieb stillzulegen. Inzwischen haben viele Objekte das Museum schon wieder verlassen und weitere werden in absehbarer Zeit an ihre Ursprungsorte zurückkehren. Der ständige Austausch der Objekte macht die Dauerausstellung zu einer permanenten Wechselausstellung, unterstreicht jedoch zugleich ihren multiperspektivischen Charakter.

W IE

MIT UMSTRITTENEN

E RINNERUNGEN

UMGEHEN ?

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wird als das „Zeitalter der Zerstörung“6 präsentiert – erschüttert von zwei Weltkriegen, einer Weltwirtschaftskrise unbekannten Ausmaßes und dem Niedergang der liberalen Demokratie, während Diktatur und Totalitarismus auf dem Vormarsch sind. Die Dialektik der Moderne zeigt sich im Umschlagen äußerster Rationalität, wie sie sich in der neuzeitlichen Gesellschaft entwickelt hat, in äußerste Irrationalität, die sich in den verschiedenen Gewaltexzessen im Massenkrieg und im totalitären Terror manifestiert. In diesem Kontext ist die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus von zentraler Bedeutung. Die Totalitarismusdebatte war uns ständige Mahnung, bei dieser Gegenüberstellung besonders vorsichtig und differenzierend vorzugehen. „Die prinzipielle Vergleichbarkeit beider Regime“, so Hans Mommsen, „liegt in den furchtbaren Auswirkungen unbegrenzter Machtausübung, in der Gewissenlosigkeit […], sowie in der Allmacht von Terrorapparaten, die an keinerlei überlieferte Rechtsnormen gebunden waren.“7 Ein Vergleich ist etwas anderes als Gleichsetzen. Aus ganz unterschiedlichen ideologischen Wurzeln hervorgegangen und innerhalb völlig verschiedener historischpolitischer Rahmenbedingungen entstanden, sind sich Nationalsozialismus und Stalinismus doch in ihrer Skrupellosigkeit und ihrem radikal gewalttätigen Charakter verbunden. Die Ausstellung zeigt die Strukturelemente zweier Systeme,

6

Vgl. Hobsbawm, Eric: The Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914 – 1991, London: Abacus 1997, S. 21–22.

7

Mommsen, Hans: „Vorwort“, in: Jörg Baberowski/Anselm Doering-Manteuffel (Hg.): Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn: Dietz 2006, S. 7–14, hier S. 13.

D AS H AUS

DER

EUROPÄISCHEN G ESCHICHTE

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die einander Todfeinde waren, beide aber einen entschiedenen Bruch mit Liberalismus und Demokratie bedeuten. Gleichwohl, die Frage bleibt: Ist die Ausstellung hinreichend präzise und differenziert genug, um den Eindruck der Gleichsetzung zu vermeiden?

W ELCHE R OLLE

SPIELT DIE

E UROPÄISCHE I NTEGRATION ?

Wie lässt sich der Anschein eines teleologischen Geschichtsverlaufs verhindern? Wie die Komplexität reduzieren ohne banal zu werden? Die europäische Integration wird als das Ergebnis eines langen und schmerzvollen Lernprozesses und zugleich als „Produkt“ des Kalten Krieges kenntlich gemacht. Einige westeuropäische Staaten machten sich auf den Weg supranationaler Kooperation mit dem Ziel, die aggressiven Tendenzen des Nationalismus, namentlich des deutschen, zu bändigen und die Gefahr eines neuen Krieges einzudämmen. Die Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes lieferte ein zusätzliches sicherheitspolitisches Argument, Westeuropa gegen die Bedrohung aus dem Osten zusammenzuschließen. In der Stunde des Verlusts ihrer geopolitischen Führungsrolle angesichts des Aufstiegs der Supermächte USA und Sowjetunion war die Europäische Gemeinschaft für die Nationen Westeuropas zudem ein Vehikel, um im neuen bipolaren Nachkriegszeitalter mit größerem Gewicht auftreten zu können und mit Unterstützung der Partnerländer in der internationalen Politik schwindende Bedeutung, die durch die Dekolonialisierung verschärft wurde, zurückzugewinnen. Wir konzentrieren uns auf 15 Meilensteine, die richtungweisend für die Problemlösungen des europäischen Einigungsprozesses waren. Gewiss, wir hätten es uns einfacher machen können durch eine stärkere thematische Engführung auf die Europaidee. Das aber wäre auf Kosten des Kontexts gegangen. Wir sind überzeugt davon, dass man Umwege gehen und eine breitere Perspektive einnehmen muss, um die Geschichte der europäischen Integration zu verstehen und haben die Meilensteine dieser Entwicklung in einen breiten historischen Zusammenhang eingebettet. Die Struktur der europäischen Integration macht es im Grunde unmöglich, ihr einen teleologischen Zuschnitt zu geben. Zu viele Rückschläge und strukturelle Probleme werden benannt (genannt seien das Scheitern der europäischen Verteidigungsgemeinschaft und Verfassung, die Konstruktionsfehler der Agrarpolitik, die Euro-Krise und der Brexit). Und das ist ihr eigentliches Bewegungsgesetz: die ständige Bewegung durch Widersprüche und Krisen, von denen auch die letzte nicht die letzte bleiben wird.

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Auf diesem mühseligen, nie enden wollenden Weg der Kompromissfindung stellt sich immer wieder das Gefühl der Vergeblichkeit ein, das die Euroskepsis grundiert. Es ist angesichts des Misstrauens gegenüber der Europäischen Union, der Sorge vor Fremdbestimmung oder Gefährdung nationaler Besonderheiten wichtig, daran zu erinnern, dass die Europäische Union von der Übertragung von Zuständigkeiten durch die Mitgliedsländer lebt. Dass diese sich in so vielen Fragen nicht einigen können, ist nicht Schuld der Europäischen Union, es ist ihre Raison d’être, besteht sie doch aus lauter ungelösten Problemen, welche die Nationalstaaten alleine nicht meistern können. „Indem ‚Europa‘ die Mitgliedsländer von den Aufgaben entlastet, mit deren Lösung sie allein überfordert wären, stärkt es die Leistungsfähigkeit bei der Bewältigung der restlichen Aufgaben.“8 Doch das Museum betrachtet Europa nicht bloß als eine geopolitische und ökonomische Größe. Europa ist auch ein ethisches und kulturelles Ideal. Es gehört zu unseren vornehmsten Aufgaben, das mit Objekten sichtbar und mit museumspädagogischen Bildungsangeboten begreiflich zu machen. Dazu bedarf es kontinuierlicher Reflexion und stetiger Verfeinerung des Narrativs. Denn nur wenn man den europäischen Raum als etwas Zusammengehöriges begreift, besteht die Chance, die Konflikt generierenden Dynamiken, nationalistischen Egoismus, Abschottung und Xenophobie zu überwinden.

W ELCHE L EHREN KANN MAN DER G ESCHICHTE ZIEHEN ?

AUS

Die Erinnerung an die Shoah hat im Museum einen besonderen Stellenwert, ist sie doch von zentraler Bedeutung für das europäische Selbstverständnis. Das war nicht immer so. Die Ausstellung dokumentiert verschiedene Verdrängungs- und Rechtfertigungsstrategien, mit denen über Jahrzehnte versucht wurde, die Erinnerung an die Shoah zu unterdrücken. Mittlerweile ist die moralische Hinterlassenschaft der Shoah konstitutiv für das Selbstverständnis Europas geworden. Sie macht uns drastisch bewusst, dass wir uns unserer besten Traditionen nicht sicher sein können. So wie es Tony Judt formuliert hat, ist „die wiederentdeckte Erinnerung an Europas tote Juden Definition und Garantie für die wiedergefundene Humanität des Kontinents“.9

8

Brunn, Gerhard: Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Stuttgart: Philipp Reclam 2009, S. 322.

9

Judt, Tony: Postwar. A History of Europe since 1945, London: Vintage Books 2010, S. 804.

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Nach dem Ende des Kalten Kriegs haben Mittel- und Osteuropäer den kommunistischen Totalitarismus in die Debatte zurückgebracht. Diese Vorgänge gehen nicht nur Osteuropäer an. Die historische Auseinandersetzung mit dem menschenverachtenden Brachialangriff auf Humanität und Menschenrechte im Namen des Sozialismus betrifft auch den Westen und ist essentiell für die Beantwortung der Frage, was Europa ist. Die Ausstellung plädiert dafür, die Erinnerungen an die Shoah und den Gulag nicht gleichzusetzen oder gegeneinander aufzurechnen. Die Singularität des einen macht das andere nicht zu einem Thema minderen Ranges. Eine Auffassung, die Bernd Faulenbach folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: „Die Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus darf die Erinnerung an den Holocaust nicht relativieren. Die Erinnerung an den Holocaust darf die Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus nicht trivialisieren.“10 Wir plädieren dafür, beide Gewaltsysteme schonungslos in den Blick zu nehmen und auf Grundlage der gleichen Wertmaßstäbe zu beurteilen. Wie unsere Ausstellung deutlich macht, verblassen die Erinnerungen an diese traumatischen Erfahrungen keineswegs mit wachsender zeitlicher Distanz. Historische Tatsachen sind hartnäckig und darin allen Versuchen überlegen, sie vergessen zu machen. Deshalb ist die Verpflichtung zur Erinnerung eine Art kategorischer Imperativ geworden. Wie die Ausstellung an vielen Beispielen zeigt, ist es die Erinnerung an oftmals lange Verdrängtes, die besonnen macht, die uns zeigt, wie hinfällig unsere Freiheit ist und die eine kritische Einstellung gegenüber der eigenen Kultur auf den Plan rufen kann. Es gibt nichts, worauf man sich ausruhen könnte. Sich daran zu erinnern und den Prozess ständig reflektierender Aufklärung in Gang zu halten, ist die Aufgabe des Museums.

K RITIK

AN DER

A USSTELLUNG

Das Haus der Europäischen Geschichte ist seit der Öffnung breit rezipiert worden und hat eine überwiegend positive Resonanz erfahren. Der Großteil der Kritik nimmt daran Anstoß, dass bestimmte Themen nicht oder nicht ausreichend gewürdigt werden. Die Kommentatoren fordern mehr zu Frauen und Immigranten, mehr zum Holocaust, mehr zu den Opfern des Kommunismus, mehr zur Eu-

10 Faulenbach, Bernd, zit. nach A. Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, S. 163.

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ropäischen Integration und zur NATO, mehr zum Kolonialismus und zu den Nationalstaaten – und diese Liste ließe sich fortsetzen.11 Über all dies lässt sich reden. Jedem dürfte aber klar sein, dass in einem Museum die Geschichte Europas nicht erschöpfend dargestellt werden kann. Für das Problem, das in diesem Band unter der Überschrift „Das umkämpfte Museum“ verhandelt wird, sind diese Einwände und Ergänzungsvorschläge unerheblich. Problematisch hingegen ist die Kampagne, welche die polnische Regierung seit Monaten gegen das Museum führt. Im Kern geht es um fünf Vorwürfe: Die Ausstellung sei negativ, dem Nationalstaat und dem Christentum feindlich, neomarxistisch in ihrer Grundhaltung und deutschlandfreundlich in exkulpierender Absicht. Was die Kritiker, namentlich die Platform of European Memory and Conscience monieren, ist die kritische Perspektive der Ausstellung. Paweł Ukielski wiederholt in seinem zusammenfassenden Artikel den zentralen Vorwurf: Die Besucher „erhalten im Museum eine Botschaft, der zufolge sie sich dafür schämen sollten, dass sie ihren jeweiligen Völkern angehören, dass sie Erben der jüdisch-christlichen Tradition sind und außerdem sämtliche Verbrechen der letzten 2000 Jahre auf dem Buckel haben.“12 Es erweist sich, dass die Kritiker schlecht über die Ausstellung informiert sind. Vieles, was sie als fehlend anmahnen, ist in der Ausstellung durchaus vorhanden; vieles, was sie als ideologisch verunglimpfen, wird nicht richtig wiedergegeben. Der Bericht der Platform of European Memory and Conscience beruht auf Falschdarstellungen, Unterstellungen und denunziatorischen Ableitungen.

11 Vgl. beispielsweise die gründlich recherchierten und sachlich argumentierenden Artikel von Buettner, Elisabeth: „What – and who – is European in the Post-colonial EU? Inclusions and Exclusion in the European Parliament‘s House of European History“, in: BMGN – Low Countries Historical Review 133–4 (2018), S. 132–148; De Ville, Sabine: „Maison de l'histoire européenne. Les limites de la mémoire“, in: Culture et Démocratie, Archipels #2 (2017), S. 70–73; Eckersley, Susannah: „Wystawa osiągnięći krzywd“, in: Gazeta Wyborcza vom 16./17.12.2017; György, Péter: „The House of European History“, in: múzeumcafé 63-64 (2018), S. 330–334; Kesteloot, Chantal: „Exhibiting European History in the Museum. The House of European History“, in: BMGN – Low Countries Historical Review 133-4 (2018), S. 149–161; Krankenhagen, Stefan: „Gegründet 2017 als House of European History“, in: Merkur 71 (2017), S. 64–70; Lagrou, Pieter: „Europa, ojczyzna eksperymentalna“, in: Gazeta Wyborcza vom 16./17.12.2017. 12 Ukielski, Paweł: „Worauf können die Europäer stolz sein?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.11.2017.

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Infolgedessen informiert sie auch die Öffentlichkeit falsch. Diese Einseitigkeit ist auch bereits von der Presse als solche benannt worden.13 Darüber hinaus aber stellt sich das grundsätzlichere Problem, dass diese Kritik die Integrität des Museums in Frage stellt, gipfelnd in dem Vorwurf, es wolle – der offiziellen Politik der Europäischen Union hörig – „die europäischen Gesellschaften ihrer nationalen Identität berauben und eine homogene Menschenmasse schaffen, ähnlich wie die Sowjets als Sozialingenieure den Homo Sovieticus schaffen wollten.“14 Gefordert wird stattdessen eine europäische Identität, die sich christlich, nationalstaatlich, antikommunistisch und heroisch definiert. Sich die europäische Geschichte als einen kontinuierlichen Prozess vorzustellen und ihre Vielfalt auf einen solchen Kanon von Bestimmungsmerkmalen festzulegen, wäre ziemlich gewagt. Vor allem aber wäre es nun tatsächlich das genaue Gegenteil dessen, was das Haus der Europäischen Geschichte mit seiner offenen, auf Verständigung ausgerichteten Konzeption anstrebt, die zum wechselseitigen Austausch historischer Erfahrungen und kultureller Erinnerungen beitragen möchte. Wie ernst diese Kontroverse genommen wird, verraten die Briefe des polnischen Kultusministers Piotr Glinski (25. September 2018) und seines ungarischen Amtskollegen Zoltan Balog (14. Dezember 2018) an Antonio Tajani, den Präsidenten des Europäischen Parlaments, in denen sie gegen das Brüsseler Museum protestierten. Das Haus der Europäischen Geschichte ist auf Kontroverse anlegt und nimmt jede Kritik ernst, auch weil diese den Diskurs beflügelt und die Öffentlichkeit zur Diskussion anregt. Gleichwohl sind der Multiperspektivität im vielstimmigen Konzert der Narrative Grenzen gesetzt, die sich aus der Sache selbst ergeben. Zur Position der Kritik gehört Sachkenntnis. Die grundsätzliche Wert- und Standortgebundenheit einer jeden historischen Interpretation gibt niemandem das Recht, von den historischen Tatbeständen abzusehen beziehungsweise nach Belieben über das Tatsachenmaterial zu verfügen. Umso erstaunlicher ist es, dass die genannten polnischen Kritiker im Namen Europas und der polnischen Nation versuchen, das zu untergraben, was sich auf diesem Kontinent in einem jahrhundertelangen Prozess der Befreiung aus religiösen und politischen Legitimations-

13 Ingendaay, Paul: „Ist die Geschichte Europas darstellbar?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.11.2017; Krupa, Matthias: „Feiert dieses Museum den Kommunismus? Das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel steht in der Kritik. Vor allem in Polen ist die Empörung groß. Was steckt hinter den Vorwürfen?“, in: DIE ZEIT vom 3.5.2018. 14 P. Ukielski: „Worauf können die Europäer stolz sein?“

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zusammenhängen als zentrale kulturelle Errungenschaft durchgesetzt hat: die Erkenntnis, dass es Institutionen gibt, die ihre Wirkung für das Gemeinwohl nur entfalten können, sofern sie von staatlicher Bevormundung befreit sind. Dazu gehören Museen, die auf engstem Raum größtmögliche Freiheit für den gesellschaftlichen Diskurs gewähren. Das Europaparlament hat dem Haus der Europäischen Geschichte diese Autonomie von Anfang an zugestanden. Genau das scheint den polnischen Kritikern nicht zu gefallen. Die Fixierung auf nationalstaatliche Leitkulturen lässt keinen Raum für die größeren Zusammenhänge und verbaut die Offenheit für Meinungsverschiedenheiten. Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich die Kritiker mit ihren vehement vorgetragenen Abwehrreaktionen gegenüber einer Pluralisierung von Geschichtsbildern dem Dogmatismus ihrer ärgsten Gegner unkritisch nähern, die jeden antiautoritären Impuls durch kommunistischen Totalitarismus zu unterdrücken versuchten. Das Haus der Europäischen Geschichte möchte zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen und kulturellen Erinnerungen beitragen. Wir haben die Hoffnung, dass es möglich ist, das eigene Europa durch die Augen der anderen Europäer zu sehen. Europa hat sicherlich ein schwieriges Erbe. Und doch verfügt Europa über die Fähigkeit, zu sich selbst auf Distanz zu gehen, wie Jacques Le Goff formuliert hat: „Ist nicht der kritische Geist immer eines der wesentlichen Werkzeuge der Europäer gewesen?“15 Leszek Kołakowski hat in dieser Fähigkeit zur Selbstkritik das „Spezifische“ der europäischen Kultur entdeckt und festgestellt: „Diese Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen und – selbstverständlich gegen einen starken Widerstand – pharisäerhafte Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit aufzugeben, ist die Ursache der geistigen Kraft Europas.“16 Das ist ein Gedanke, dem wir folgen möchten. Denn ein Museum macht nur Sinn, wenn es Distanz zum politischen Alltagsgeschäft hält, um ideologiekritische Fragen zu stellen und auf diese Weise bislang übersehene Wirklichkeiten zu beleuchten.

15 Le Goff, Jacques: Das alte Europa und die Welt der Moderne, München: C.H. Beck 1996, S. 11. 16 Kołakowski, Leszek: Die Moderne auf der Anklagebank, Zürich: Manesse 1991, S. 18 f.

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L ITERATUR Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München: Verlag C.H. Beck 2013. Breier, Zsuzsa/Muschg, Adolf: Freiheit, ach Freiheit… Vereintes Europa – Geteiltes Gedächtnis, Göttingen: Wallstein 2011. Brunn, Gerhard: Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Stuttgart: Philipp Reclam 2009. Buettner, Elisabeth: „What – and who – is European in the Post-colonial EU? Inclusions and Exclusion in the European Parliament’s House of European History“, in: BMGN – Low Countries Historical Review 133–4 (2018), S. 132–148. De Ville, Sabine: „Maison de l'histoire européenne. Les limites de la mémoire“, in: Culture et Démocratie, Archipels #2 (2017), S. 70–73. Eckersley, Susannah: „Wystawa osiągnięći krzywd“, in: Gazeta Wyborcza vom 16./17.12.2017. György, Peter: „The House of European History“, in: múzeumcafé 63-64 (2018), S. 330–334. Maurice Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, Paris: Félix Alcan 1925. Hobsbawm, Eric: The Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914 – 1991, London: Abacus 1997. Ingendaay, Paul: „Ist die Geschichte Europas darstellbar?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.11.2017. Judt, Tony: Postwar. A History of Europe since 1945, London: Vintage Books 2010. Kesteloot, Chantal: „Exhibiting European History in the Museum. The House of European History“, in: BMGN – Low Countries Historical Review 133–4 (2018), S. 149–161. Kołakowski, Leszek: Die Moderne auf der Anklagebank, Zürich: Manesse 1991. Leggewie, Claus/Lang, Anne: Der Kampf um die europäische Erinnerung: Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München: C.H. Beck 2011. Krankenhagen, Stefan: „Gegründet 2017 als House of European History“, in: Merkur 71 (2017), S. 64–70. Krupa, Matthias: „Feiert dieses Museum den Kommunismus? Das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel steht in der Kritik. Vor allem in Polen ist die Empörung groß. Was steckt hinter den Vorwürfen?“, in: DIE ZEIT vom 3.5.2018. Kristeva, Julia: „Sprich über deine Schatten“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.5.2013.

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Lagrou, Pieter: „Europa, ojczyzna eksperymentalna“, in: Gazeta Wyborcza vom 16./17.12.2017. Le Goff, Jacques: Das alte Europa und die Welt der Moderne, München: Verlag C.H. Beck 1996. Maria Luz: „Témoignages: Propos recueillis par Maria Luz et approuvés par Henri Matisse“, in: XXe Siècle 2 (1952), S. 66–67. Mommsen, Hans: „Vorwort“, in: Jörg Baberowski/Anselm Doering-Manteuffel: Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn: Dietz 2006. Morin, Edgar: Europa denken, Frankfurt/New York: Campus Verlag 1991. Muschg, Adolph: „Kerneuropa. Gedanken zur europäischen Identität“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 31.5.2003. Rousso, Henry: Das Dilemma eines europäischen Gedächtnisses, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2004), S. 363–378. Ukielski, Pawel: „Worauf können die Europäer stolz sein?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.11.2017.

Rosenkranz vs. Bordell oder polnische Geschichte im Kontext Eine kursorische Einschätzung zum Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk D ANIEL L OGEMANN

Seit dem Wahlsieg der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) im Jahr 2015 häufen sich die besorgniserregenden Nachrichten über die politischen, juristischen und kulturellen Veränderungen in Polen. Verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit widmeten polnische und internationale Medien dem Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk, das über viele Monate hinweg – vom April 2016 zumindest bis Sommer 2017 wenn nicht gar bis heute – im Mittelpunkt eines Streits zwischen Regierung und breit verstandener Opposition stand.1 Doch auch jenseits der Berichterstattung kommt dem Konflikt um das Museum aus (geschichts-)politischen wie geschichtskulturellen Gründen eine bedeutende Rolle zu. Politisch setzte sich Piotr Gliński, Kulturminister der PiS-Regierung mit unverhohlen autoritären Mitteln durch. Unter dem Deckmantel ministerieller Dekrete und Entscheidungen exekutierte er eine Form von Zensur und Berufsverbot, die in Polen nach 1989 beispiellos ist. Dies führte zu einer tiefen und irreparablen Zäsur im Museum und in der geschichtskulturellen Entwicklung des demokratischen Polen. Der Gründungsdirektor des Museums, Paweł Machcewicz, musste nach monatelangem Gezerre im April 2017 – einen Monat nach der Er-

1

Eine Übersicht der Debatte bietet: Logemann, Daniel: „On ‚Polish History‘: Disputes over the Museum of the Second World War in Gdańsk“, in: Cultures of History Forum, http://www.cultures-of-history.uni-jena.de/debates/poland/on-polish-history-disputes-over-the-museum-of-the-second-world-war-in-gdansk/ vom 31.3.2017.

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öffnung des Museums – seinen Posten zusammen mit seinen Stellvertretern räumen.2 Politische Einflussnahme und die empfindlichen Veränderungen der Arbeitsbedingungen im Museum erzeugten einen riesigen Braindrain, der praktisch alle wissenschaftlichen Abteilungen und auch die Abteilungen Buchhaltung, Öffentlichkeitsarbeit und Pädagogik einschloss. Auf geschichtskultureller und wissenschaftlicher Ebene zog dieses Vorgehen der neuen Regierung ebenfalls tiefe Einschnitte nach sich. Die neue Direktion veränderte nach ihrer Einsetzung die ursprüngliche Ausstellung an wesentlichen Punkten: Die international ausgerichtete und pazifistische Aussage wurde zu einer nationalpolnischen abgeändert, in der immer mehr (katholische) Polen zu den Helden des Narrativs wurden. Der vormals international besetzte wissenschaftliche Beirat wurde „polonisiert“ und provinzialisiert. Eine weitere Stufe der Eskalation in der Auseinandersetzung ist ein noch andauernder Gerichtsprozess der ehemaligen Direktoren mit der neuen Direktion um die Autorenrechte an der ständigen Ausstellung. Sollten Machcewicz und seine Mitstreiter den Prozess gewinnen, würde ein geschichtskulturell interessanter Präzedenzfall geschaffen: Dann wären Ausstellungen in Polen ähnlich wie Texte oder Musik geistiges Eigentum. Diese Vorgänge haben allesamt den Blick von den Inhalten und Deutungsangeboten der im März 2017 noch von der ursprünglichen Direktion eröffneten Ausstellung abgelenkt. Nur wenige Stimmen haben sie unvoreingenommen diskutiert und kritisch betrachtet.3 Dabei wäre gerade die in Polen stattfindende geschichtspolitische Kehrtwende am Beispiel des Museums ein Anlass, um zu überprüfen, inwiefern die Konzeption und ursprüngliche Ausstellung sich wirklich von einer polnischen „Meistererzählung“ der jetzigen Regierung absetzten und gar transnationale Züge trugen. Einen Versuch in diese Richtung eines Abgleichs von Anspruch und Wirklichkeit möchte ich im Folgenden unternehmen.

2

Eine – zugegeben parteiische, aber doch treffende – Schilderung verfasste Paweł Machcewicz selbst: Machcewicz, Paweł: Der umkämpfte Krieg. Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Entstehung und Streit, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2018.

3

Hoja, Andrzej: „An Engaged Narrative: the Permanent Exhibition of the Museum of the Second World War in Gdańsk“, in: Cultures of History Forum, http://www.cultu res-of-history.uni-jena.de/exhibitions/poland/an-engaged-narrative-the-permanent-ex hibition-of-the-museum-of-the-second-world-war-in-gdansk/ vom 24.7.2017 und Puttkamer, Joachim von: „Europäisch und polnisch zugleich. Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig“, in: Osteuropa 3 (2017), S. 3-12.

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Als Mitglied des ursprünglichen Kuratorenteams kann ich für meine Betrachtung freilich keine absolute Objektivität beanspruchen.4 Ebenso wenig erlaubt der begrenze Raum eine Tiefenanalyse des Museums oder eine Wiedergabe der geschichtspolitischen Diskussionen.5 Mein Blick in den Maschinenraum der Museumsarbeit (und auch meine Parteinahme für die entlassenen Direktoren) sollen jedoch mehreres ermöglichen: Ich möchte manche auf den ersten Blick nicht ersichtlichen Dinge aufzeigen und an der einen oder anderen Stelle zuspitzen, wo polnische und außerpolnische Sichtweisen und Interpretationen nebeneinander stehen, sich vermischen oder unvereinbar sind. Dafür werde ich zunächst in drei Schritten das ursprüngliche kuratorische Konzept umreißen, Einblicke in pragmatische Entscheidungen und Umsetzungen liefern und schließlich einen kurzen Ausblick auf derzeitige Entwicklungen anschließen. In einem Fragenbündel ließen sich meine Ziele so fassen: Welche Maximen formulierten die Museumsgründer und in welchem Maße wurden diese eingelöst? In welcher Weise kamen internationale Perspektiven zur Geltung? Wo beharrten die Kuratoren aber auch auf einer polnischen Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg? Wie verhält sich dies alles zu den Veränderungen der Ausstellung, die durch die neue Direktion vorgenommen wurden?

K URATORISCHES K ONZEPT Tatsächlich ist es für mich immer wieder aufs Neue empörend, dass es uns Kuratoren nicht möglich war, ein deutungsoffenes Museum zu kuratieren, mit Programm zu füllen und damit einen Ort der Diskussion über Geschichte(n) zu erschaffen. Die Engstirnigkeit von Kulturpolitikern wie der heutigen Direktion verhindert, dass polnische Geschichte ein Teil der Weltgeschichte ist. Sie soll vielmehr ein Instrument patriotischer Erziehung sein. Die Erzählung muss eindeutig sein, nicht schwarz und weiß, sondern schwarz oder weiß. Sinnbildlich

4

Zusammen mit einer weiteren Kuratorenkollegin habe ich meinen (wissenschaftlichen) Standpunkt an anderer Stelle beschrieben: Logemann, Daniel/Muller, Anna: „War, Dialogue, and Overcoming the Past. The Second World War Museum in Gdańsk, Poland“, in: The Public Historian 3 (2017), S. 85–95.

5

Vgl. hierzu insbesondere D. Logemann: „Polish History“ und D. Logemann/A. Muller: „War“ bzw. Peters, Florian: „Polens Streitgeschichte kommt ins Museum. Wie neue Museen in Danzig und Warschau die polnische Geschichtskultur verändern“, in: Zeitgeschichte-online, https://zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/polens-streitge schichte-kommt-ins-museum vom Februar 2015.

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dafür ist ein Talkformat des polnischen Staatsfernsehens TVP kurz nach der Eröffnung des Museums. Der konservative Moderator fasste seine Kritik so zusammen: Im Museum gebe es im Ausstellungsteil zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern keinen Rosenkranz, stattdessen jedoch das Häftlingsbordell.6 Im Raum stand quasi: Religion gegen Sex, die katholische Unschuld Polens gegen sexuelle Ausschweifung. Dahingestellt, ob dieser tiefenpsychologisch interessante Kurzschluss nicht eine eigene wissenschaftliche Untersuchung lohnen würde. Dahingestellt auch, ob diese Behauptung richtig oder falsch ist. Es ist diese Ausschließlichkeit des Denkens, die dem geschichtspolitischen Konflikt in Polen zu Grunde liegt und die es so schwer macht, eine Ebene des Austauschs zu finden. Angelegt war die Ausstellung des Museums ursprünglich als Angebot mit vielen Lesarten. Interessieren sollen hier vor allem jene Aspekte des kuratorischen Konzepts, die einen transnationalen und europäischen Zugang jenseits polnischer Nationalgeschichte versprachen. Paweł Machcewiczs Idee zum Museum entstand 2007 in einem internationalen Kontext, war aber auch von polnischen Entwicklungen beeinflusst. Auf nationaler Ebene war das im Jahr 2004 als Vorzeigeobjekt der PiS eröffnete Museum des Warschauer Aufstands ein ungeahnter Erfolg. Technisch und ästhetisch an ausländischen Vorbildern wie dem Haus des Terrors in Budapest oder dem Holocaustmuseum in Washington orientiert, sorgte es bei den meisten Besuchern für Begeisterung. Erstmals wurde in Polen vorgeführt, dass das Medium Museum erfolgreich Einfluss auf Geschichtsbilder nehmen konnte. Die Lesart des Warschauer Aufstands als erfolgreicher Freiheitskampf unter weitestgehender Ausklammerung seiner in vielen Fällen tödlichen Konsequenzen für die Bevölkerung Warschaus sollte die aufständischen Kombattanten mit der polnischen Jugend vereinen. Die Ausstellung sollte eine Haltung generieren, in der Aufopferung für die Freiheit des Vaterlandes höchste Tugend ist. Machcewiczs Vision beruhte demgegenüber auf einem vielschichtigen Bild der Vergangenheit, in dem auch problematische Ereignisse und uneindeutige Geschichten ihren Platz finden konnten. Auf internationaler Ebene sahen die Initiatoren den Zweck eines Museums des Zweiten Weltkriegs im Jahre 2007 darin, eine Erzählung zu etablieren, die gegenüber der deutschen Initiative eines „sichtbaren Zeichens“ zum Thema Flucht und Vertreibung Position bezog. Deutsche Diskurse wurden als Versuch empfunden, die Rolle von Tätern und Opfern zu verwischen. Das Museum des Zweiten Weltkriegs sollte vor diesem Hintergrund die Deutungshoheit über die polnische Geschichte bewahren und sie gleichzeitig international propagieren.

6

Siehe https://vod.tvp.pl/video/warto-rozmawiac,27042017,29838869 vom 27.4.2017.

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In einem programmatischen Text für eine deutsche Leserschaft hat Machcewicz im Jahr 2009 – also acht Jahr vor Eröffnung der Ausstellung – seine konzeptionellen Ziele formuliert.7 Der Quellenwert des Textes besteht darin, dass Machcewicz den internationalen Kontext hier antizipierte und so die Möglichkeit besteht, die (Grob-)Konzepte mit der fertigen Ausstellung abzugleichen. Laut Machcewicz sollte die Ausstellung einen europäischen Charakter haben und die Erfahrungen anderer Nationen einbeziehen. Das polnische Schicksal sei zentral, ohne andere Schicksale abzuwerten: „In Hinblick auf seine Lokalisierung und seine Initiierung durch Polen ist es verständlich, dass das Schicksal der Polen und ihres Staates hervorgehoben wird, was jedoch nicht auf Kosten der Erfahrungen anderer Nationen, darunter der Deutschen und Russen, gehen soll. Beabsichtigt wird, ein Museum mit einer universalen Botschaft einzurichten, in dem die Ereignisse, die in Polen stattgefunden haben, Teil eines größeren Bildes sind.“8 Timothy Snyder, Mitglied des ersten wissenschaftlichen Beirats, betont ganz auf dieser Linie, dass erst die Darstellung des Ganzen die Besonderheit Polens herausstelle: „Telling a global history of the war is essential to showing the full extent of Poland’s plight and the Polish resistance.“9 Vor dem Hintergrund dieser Programmatik ist beispielsweise der Umgang der Museumsgründer mit dem Ribbentrop-Molotov-Pakt 1939 und dessen Implikationen für Ostmitteleuropa bemerkenswert. Machcewicz selbst ruft in seinem Text von 2009 die fünf Jahre zuvor gehaltene Rede der lettischen Außenministerin auf der Leipziger Buchmesse des Jahres 2004 in Erinnerung. Sandra Kalniete hatte seinerzeit vorgetragen, dass das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjetunion gleichermaßen verbrecherisch gewesen seien. Machcewicz findet, die damalige Entrüstung habe der Grundlage entbehrt, da es der Ministerin nicht um eine Gleichsetzung totalitärer Regime (bereits diese Wortwahl ist für Kritiker der Totalitarismustheorie herausfordernd) gegangen sei, sondern sie lediglich historische Erfahrungen zum Ausdruck gebracht habe. Er verweist im Folgenden auf Polen: „Ähnliche Regungen hegen die Polen, die im September 1939 nicht nur die Aggression des Dritten Reiches erfahren haben, sondern auch der Sowjetunion, sowie die Aufteilung ihres Staates zwischen zwei totalitären Regimen und parallel verlaufende Repressionen seitens beider Okku-

7

Machcewicz, Paweł: „Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Die polnische und europäische Idee, die gemeinsame Geschichte zu erzählen“, in: Polen-Analysen 56 (2009), S. 2-8, http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen56.pdf.

8

Ebd., S. 4.

9

Snyder, Timothy: „Poland vs. History“, in: New York Review of Books vom 3.5.2016.

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pationsmächte […]. 1940 führten die Deutschen die geplante Ermordung mehrerer tausend Vertreter der polnischen Intelligenz durch […] und die Sowjets ermordeten in dieser Zeit über 20.000 polnische Offiziere […]. Dies ist ein zentraler Bestandteil des polnischen historischen Gedächtnisses verbunden mit dem Zweiten Weltkrieg, das in Westeuropa aber außer einem Kreis von an Polen interessierten Spezialisten kaum bekannt ist.“10 Mit der Feststellung dieser historischen Erfahrungen und Ereignisse geht jedoch im Konzept von Machcewicz auch immer die Abschwächung einher, die Regime und Verbrechen von Deutschland und der Sowjetunion nicht gleichzusetzen und keine Vergleiche darüber anstellen zu wollen, wer verbrecherischer agierte.11 Vor dem Hintergrund des Textes von 2009 kann es nicht überraschen, dass der erste zentrale Text im 2017 eröffneten Museum die gemeinsame Verantwortung des Deutschen Reichs und der Sowjetunion für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs betont: „It [the Second World War] was launched by the totalitarian regimes of Germany and the Soviet Union, which cooperated with each other. They committed acts of unimaginable cruelty and crimes in the name of lawless ideologies.“ Nach meiner eigenen Beschäftigung im Ausstellungsteam kann ich diese Verschiebung der Akzente hin zu einer größeren Rolle der Sowjetunion bei Kriegsausbruch nachvollziehen. Die Kriegsbeteiligung und die Besatzungsregime der Sowjetunion in Polen, im Baltikum oder in Bessarabien sind für den Verlauf des Kriegs in diesen Regionen von entscheidender Bedeutung. Doch sind die obigen Argumente im Museum so smart vorgetragen, dass sie anders als noch 2004 in Leipzig offensichtlich keine Konflikte mehr auslösen? Ist der Ausstellungsort Gdańsk so weit entfernt von den „Zentren Europas“, dass die Ausstellung dort keine Wellen schlägt? Hat sich die westeuropäische Historiographie im Zuge etwa von Timothy Snyders Bloodlands12 an diese Lesart angenähert? Oder gibt es andere Gründe, warum diese exponierte Deutung europäischer Geschichte im Paradigma der Totalitarismustheorie kaum Widerspruch hervorruft? Der politische Streit um das Museum hat, so meine These, eine eingehendere Beschäftigung mit den Deutungen des Museums verhindert oder lässt eine Auseinandersetzung über Geschichtsbilder zumindest als unangemessen erscheinen. Indem sich die potentiellen Kritiker des Museums aufgrund ihrer demokratischen Überzeugungen von vornherein auf der einen Seite der Barrikade positionieren mussten, blieben inhaltliche Diskussionen praktisch aus.

10 P. Machcewicz: „Museum“, S. 2. 11 Vgl. ebd., S. 4. 12 Snyder, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München: C.H. Beck 2011.

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P RAGMATISCHE E NTSCHEIDUNGEN Der Zweite Weltkrieg begann mit dem Beschuss des polnischen Munitionsdepots auf der Westerplatte vor Danzig / Gdańsk durch das deutsche Linienschiff Schleswig-Holstein. Der aussichtlose Kampf der polnischen Soldaten, der wider Erwarten sieben Tage andauerte, gilt seitdem als vorbildliches Beispiel patriotischen Widerstands. Die Wahl des Museumsorts ist hochsymbolisch, zumal Gdańsk als Geburtsstadt der Gewerkschaft Solidarność mindestens noch ein weiterer Geschichtsmythos eingeschrieben ist. Neben diesen geschichskulturellen Gründen waren viele Entscheidungen sehr pragmatischer Natur: Der damalige Premierminister Polens Donald Tusk etwa stammt aus Gdańsk (selbstverständlich einer der Gründe, warum PiS das Museum bekämpfte). Die Wahl der Stadt versprach den Besuch vieler nationaler wie internationaler Touristen (davon viele aus Deutschland und Russland). Die multikulturelle Vergangenheit der Stadt legte zudem nahe, die polnische Geschichte insgesamt, jedoch insbesondere die Stadt- und Regionalgeschichte, unter Berücksichtigung kultureller Vielfalt und regionaler Besonderheiten auszustellen. Damit war die entstehende Ausstellung Ausdruck eines Trends, Geschichtsschreibung nicht mehr ausschließlich als Nationalgeschichte zu verstehen. Die Zusammenarbeit mit den belgischen Ausstellungsdesignern von TEMPORA rief den polnischen Kuratoren zudem permanent ins Bewusstsein, wie weit historische Erfahrungen in Europa auseinanderliegen und wie sehr diese Wissensdifferenz zu berücksichtigen sei. Machcewicz wollte von Anfang an eine Ausstellung, die allen Besuchern, unabhängig von ihrer Nationalität, eine verständliche Botschaft vermittelte. Inhaltlich war diese Vorgabe vor allem daran geknüpft, die Botschaften des Museums möglichst allgemeingültig zu fassen. Das Museum vertrat zuallererst eine pazifistische Aussage. Diese simple Botschaft war an die Überzeugung geknüpft, dass trotz einer politisch-wirtschaftlichen Integration Europas die „Unterschiede in der Mentalität und historischen Sensibilität, die sich aus den kulturellen Unterschieden und unterschiedlichen historischen Erfahrungen ergeben […], deutlich tiefer“ seien.13 Trotz moralischer Beurteilungen historischer Verbrechen, insbesondere der Deutschen und Sowjets, aber auch von Polen, Ukrainern, Kroaten oder Serben etc., sollte indes keine antideutsche oder antirussische Stimmung geschürt werden – wie etwa im Museum des Warschauer Aufstands. Das gestalterische Programm klingt 2009 indes noch sehr vage: „Vorstellbar wäre, dass zwischen die Elemente der Ausstellung, die die ‚großen‘ historischen Probleme betreffen, individuelle Geschichten von Menschen aus verschiedenen Ländern

13 P. Machcewicz: „Museum“, S. 2.

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platziert werden, deren Schicksal die wichtigsten Botschaften des Museums illustriert.“14 Abb. 1: Alltag im Krieg zieht sich auf der Hauptachse des Museums durch die gesamte Ausstellung, indem ganz unterschiedliche Objekte vom Brautkleid aus Fallschirmseide bis zur Apparatur zum Brennen von Schnaps in den Kontext des Krieges gerückt werden.

Quelle: Andrzej Hoja

Im eröffneten Museum orientieren sich die ausstellerischen Mittel am state of the art. Die große Geschichte wird tatsächlich zu größeren Teilen am Schicksal einzelner Menschen dargestellt. In den Mittelpunkt rückt das Alltagsleben sowohl der Soldaten als auch der Zivilbevölkerung, auch um so die grundsätzliche Ähnlichkeit menschlicher Erfahrungen auf allen Seiten der Fronten zu illustrieren. Unterstützt wird dieser Zugang durch die inzwischen für ein zeitgemäßes Museum obligatorisch erscheinenden Videointerviews. So werden letztlich auch die pazifistischen Botschaften des Museums exemplifiziert: dass erstens der Zweite Weltkrieg die größte humanistische Katastrophe der Geschichte war und dass sich zweitens Menschen trotz der Kriegssituation anständig verhielten und Menschlichkeit bewahrten.

14 Ebd., S. 7.

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Dennoch war die Umsetzung oftmals günstigen und weniger günstigen Umständen und nicht immer einer konsequenten Befolgung eines Plans zu verdanken. Im Teil zur Zwangsarbeit war es zum Beispiel ein Glücksfall, dass der Direktor eines großen Museums in Gdańsk das Tagebuch seiner Tante aus der Zeit ihrer Zwangsarbeit in Königsberg als Erinnerungsstück aufbewahrt hatte. Als Museumsfachmann und Historiker konnte der Neffe Hintergründe und Familiengeschichte liefern. Zusätzlich zum Tagebuch stellte er dem Museum Fotografien und ein weiteres Erinnerungsstück, einen Lederbeutel mit Muscheln aus der Ostsee, den seine Tante ihm geschenkt hatte, für die Ausstellung zur Verfügung. Die Überlieferung von ganzen Tagebüchern über Zwangsarbeit ist eine Seltenheit. In diesem Fall beobachtete die junge Frau ihre Umwelt sowohl als Angehörige der polnischen Bildungsschicht der Vorkriegszeit als auch als junge Frau mit Einfühlungsvermögen für andere Zwangsarbeiter und sogar für einige Deutsche. Eine solche Quelle rückt Personen und Zeit durchaus näher an die Museumsbesucher heran, das ausgestellte Tagebuch und daraus zitierte Passagen sowie der Beutel unterstreichen die Präsentation. Diese in Polen im Grunde immer noch innovative Fokussierung auf Objekte ist gewissermaßen ein Nebenprodukt der Entscheidung, Biographien „normaler“ Menschen in den Mittelpunkt der Ausstellung zu stellen. Der Fund des Tagebuchs und seine Präsentation ermöglichten schließlich eine Verschiebung von Geschichtsbildern, die bisher weitestgehend konservativ und national dominiert waren, hin zu offeneren Geschichtsdeutungen. Mittels ähnlicher Exponate konnten von uns auch immer wieder Aspekte des Alltags und in eingeschränkterer Weise Geschlechterperspektiven aufgegriffen werden. Weibliche Perspektiven und Praktiken werden an vielen Objekten in der Abteilung zu Konzentrationslagern sichtbar: Von illegalen Fotos der Opfer medizinischer Experimente in Ravensbrück, über Briefwechsel von Häftlingsfrauen mit ihren Familien, die Geburt eines Kindes im Lager, kleine Schnitzereien aus Zahnbürsten als Geschenke an andere Frauen, eine selbstgebastelte Weihnachtskrippe bis hin zum Lagerbordell. Es handelt sich keinesfalls um eine Zentrierung auf die Geschichte von Frauen, aber um eine Sichtbarmachung geschlechterspezifischer Wahrnehmungen und Handlungen. Ein Versuch, eindeutige Bewertungen menschlichen Verhaltens während des Krieges aufzulösen, ist der Einstieg in den Ausstellungsteil zum Holocaust. Als Akteure werden hier Täter, Opfer und Zeugen vorgestellt. Auf Täterseite stehen Heinrich Himmler mit der Posener Rede 1943 und Joe H. Heydecker nebeneinander. Akzentuiert wird dabei, dass sich Heydecker als Teil der Besatzungsmacht seiner Mitverantwortung bewusst war und dennoch sein Möglichstes tat, zu helfen und zu dokumentieren, was er sah. Bei den polnischen Zeugen des Ju-

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denmordes lassen sich drei Perspektiven unterscheiden: Im Tagebuch von Zygmunt Klukowski begegnet der Besucher einem mitfühlenden Beobachter des Mordes während der Aktion Reinhard. Vorgestellt werden daneben die Frauen, die in der „Apotheke unter dem Adler“ am Haupteingang zum Krakauer Ghetto Juden halfen und retteten. In einem weiteren (auf Wunsch des noch lebenden Autors) anonymisierten Tagebuch tritt dem Besucher ein Pole entgegen, der die Ermordung der Juden für richtig hält und sich daran bereichern möchte. Abb. 2: Eingangssequenz zum Ausstellungsteil über den Holocaust. Auf dem großformatigen Foto aus Budapest rücken Opfer, Täter und Zeugen dicht zusammen.

Quelle: Andrzej Hoja

Die neue Museumsleitung hielt die Erörterung der Rolle der Polen als Zeugen des Holocaust für unzureichend. Obwohl in der Ausstellung die Rettung von Juden durch Polen anhand von gut sichtbaren Objekten und Fotos gezeigt wird, steht nun am Ende des Ausstellungsteils über den Holocaust eine übermannsgroße Fotowand, auf der das Schicksal der Familie Ulma behandelt wird, die zusammen mit von ihr versteckten Juden hingerichtet wurde. Eingequetscht zwischen dem Ausstellungsteil zu Auschwitz und einer Denkmalinstallation für die jüdischen Opfer wirkt dies im besten Falle unbeholfen und ist für mich jenseits aller Kritik. Für eine solche Intervention ist an dieser Stelle einfach kein Platz. Auch wenn die neue Direktion so, wenig überraschend, dem aktuellen Fokus der

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PiS auf die polnischen ‚Judenretter‘ Ausdruck verleiht, sind Ausführung und Position der Darstellung gegenüber den ermordeten Juden respektlos und werden letztlich auch der Familie Ulma nicht gerecht, die hier für leicht durchschaubare geschichtspolitische Zwecke instrumentalisiert wird. Während die Darstellung des Holocaust mit verschiedenen Quellen und anhand unterschiedlicher Perspektiven sowie die Präsentation von Objekten mit gut ausrecherchierten Objektgeschichten zu Vielfalt und Mehrdeutigkeit der Ausstellung beitragen, bleiben viele Bereiche aus unterschiedlichen Gründen unterbelichtet oder konnten nicht befriedigend gestaltet werden. Eine von uns recherchierte Geschichte einer Jüdin aus dem Warschauer Ghetto, deren Tagebuch in Majdanek gefunden wurde, wurde zugunsten der Geschichte Janusz Korczaks15 gestrichen. Hier obsiegte der Kanon über die Qualität der Quelle. Bedauerlich finde ich den Umgang mit der Geschichte der Sinti und Roma. Sie ist in einen gänzlich unbedeutenden Multimediascreen als Appendix zum Holocaust verbannt. Hier zeigt sich, wie öffentliches und wissenschaftliches Desinteresse für ein Thema, das in Polen weiterhin vorherrscht, ein anderes, wichtiges wie beeindruckendes Thema an den Rand schieben kann. Zugeständnisse an die Designer und die vorherrschende museale Ästhetik sind insbesondere im erwähnten Ausstellungsteil zu Auschwitz und beim Denkmal sichtbar. Ich wollte den Holocaust als Radikalisierungsprozess mit für Zeitgenossen offenem Ende darstellen, nun dominiert das Tor von AuschwitzBirkenau die Sichtachse vom Anfang des Ausstellungsteils bis zu dessen Ende – und läuft damit als visuelles Symbol der historischen Argumentation entgegen. Problematisch ist auch das Denkmal, wo Fotos ermordeter Juden auf Glas aufgebracht sind. Diese Kopie der in Auschwitz, Washington usw. verwendeten Gedenkformeln gehörte seit dem Designwettbewerb zur visuellen DNA des Museums. Der nach meiner Zeit als Kurator, allerdings noch von der alten Direktion, ergänzte Kommentar zum Denkmal lautet „Menschen wie wir“. Diese Erklärung entblößt auf eindrückliche Weise, was in Polen offenbar immer noch einer Erklärung bedarf: Juden sind so wie wir! Dabei will ich diese Kritik nicht so sehr an den Besucher gerichtet sehen, sondern an die Kuratoren, die diese Erläuterung für nötig hielten. Eine polnische Kritikerin fragt dann auch logisch nach, ob ein

15 Der Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak leitete ein Waisenhaus im Warschauer Ghetto. Er wurde auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin gemeinsam mit „seinen“ Kindern nach Treblinka deportiert und ermordet.

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solcher Kommentar auch zu den polnischen Ermordeten von Katyń gepasst hätte.16

K ORREKTUR

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Die meisten Besucher dürften in der ursprünglichen Ausstellung den Eindruck gewonnen haben, dass polnische Schicksale, polnische Geschichten, auch dezidiert kanonische Lesarten nationaler Geschichte das Grundgerüst der Ausstellung bilden.17 Dies führt dazu, dass die unterschiedlichen Nationalgeschichten in der Ausstellung zumeist nebeneinander stehen und eine Verflechtung der Perspektiven, der menschlichen Biographien, nur selten gelingt. So werden etwa die Geschichten der jeweiligen Partisanenbewegungen in Polen, Frankreich, Jugoslawien und der Sowjetunion zwar in einem Raum nebeneinandergestellt. Ihre Gemeinsamkeiten oder Unterschieden werden aber nicht systematisch herausgearbeitet. Trotz des polnischen Grundtenors des Museums kritisierten das Regierungslager und entsprechend die neue Direktion, das Museum sei nicht „polnisch“ genug. Den Kritikern fehlten neben vielen anderen angeblichen Mängeln gerade die Hinweise auf den militärischen Beitrag Polens zum Krieg und die Leiden und das Martyrium der katholischen Kirche und Kleriker. Einer der lautesten Kritiker des Museums, Jan Żaryn, hatte bereits 2008 in der konservativen Presse gegen das Konzept des Museums protestiert. Nach dem Regierungswechsel 2015 war er einer von drei zunächst anonymen Gutachtern, die das Kulturministerium bestellt hatte. Dort hatte er ausgedrückt, was ein Museum zur polnischen Geschichte leisten müsse: „In other words, the Museum is for the world, but tells about Poland and the Polish – about who we are today, and why we are what we are: loving freedom, Catholic, patriotic, etc. and most of all – proud of our history.“18 Inzwischen wurde die Ausstellung sowohl um Installationen zu katholi-

16 Sobczak, Kornelia: „Bezradność liberałów. Muzeum II wojny“, in: Dialog 12 (733), http://www.dialog-pismo.pl/w-numerach/bezradnosc-liberalow-muzeum-ii-wojny vom Dezember 2017. 17 J. v. Puttkamer: „Europäisch“ und K. Sobczak, „Bezradność“. Vgl. auch Museum of the Second World War. Catalogue of the Permanent Exhibition, Gdańsk 2016. 18 Zitiert nach Logemann, Daniel: „Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk. Wie soll man ‚polnische Geschichte‘ zeigen?“ in: Zeitgeschichte-online, https://zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/streit-um-das-museum-des-zweiten-

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schen Priestern als Gefangenen in Konzentrationslagern als auch zum heiliggesprochenen Maksymilian Kolbe19 ergänzt. Eingefügt wurde wie erwähnt auch die Geschichte der Familie Ulma. (In der Kleinstadt Markowa gibt es seit 2016 ein ganzes Museum zur Familie Ulma und anderen Helfern von Juden, das unter dem Motto der biblischen Geschichte vom Samariter steht.20) Das bekannteste Beispiel einer Veränderung ist die Entfernung des letzten Films der Ausstellung, der eine pessimistische Reflexion über die Auswirkungen des Weltkriegs und zeitgenössische Konflikte – ja über die conditio humana im Allgemeinen – darstellte.21 Ersetzt wurde er durch eine Animation, die Polen als unbesiegte Kämpfer gegen alle äußeren Feinde zeichnet.22 In der oben bereits erwähnten Fernsehsendung kritisierten Żaryn, Piotr Semka, ein weiterer Rezensent des Museumskonzepts, und der Moderator Jan Pospieszalski, dass im Museum die Rolle der katholischen Kirche für die kämpfende polnische Nation nicht dargestellt würde. Zugespitzt wurde diese Frage anhand der Darstellung des Häftlingsbordells und des Auslassens des Rosenkranzes, also katholischer Praktiken in den Lagern. Tatsächlich wird im Museum sexuelle Zwangsarbeit als besondere Form des SS-Regimes in Konzentrationslagern thematisiert. Neben Fotografien aus dem Buchenwalder Lagerbordell kann man dort Aussagen von Zwangsprostituierten aus Interviews von Christa Paul hören.23 Eine explizite Aussage zur religiösen Praxis von (polnischen) Katholiken im Lager suchte man in der ursprünglichen Ausstellungsfassung tatsächlich vergeblich. Das breitere Thema Religiosität fand aber selbst im Ausstellungsteil zu Konzentrationslagern beispielsweise mit einer Weihnachtskrippe aus einem Außenlager Ravensbrücks durchaus Berücksichtigung. In einem der symbolischsten Räume des Museums, in dem ein sowjetischer Panzer als Symbol für Befreiung und neue Unterdrückung in einer zerstörten Nach-

weltkriegs-gdansk#_ftn23 vom 6.4.2017. Die Rezension ist von der neuen Direktion von der Homepage des Museums entfernt worden. 19 Der katholische Geistliche Maksymilian Kolbe opferte sein Leben für einen anderen Gefangenen und wurde an dessen Stelle hingerichtet. 20 Peters, Florian: „Lokales Holocaust-Museum oder nationalistische Geschichtsfälschung? Das Museum für die Familie Ulma im südostpolnischen Markowa“, in: Zeitgeschichte-online,

https://zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/lokales-holo

caust-museum-oder-nationalistische-geschichtsfaelschung vom März 2017. 21 Siehe https://streamable.com/yelt1. 22 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=Q88AkN1hNYM. 23 Ganz ähnlich wird dieses Thema zum Beispiel auch in der Dauerausstellung der Gedenkstätte Buchenwald ausgestellt.

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kriegsstraße steht, liegen eine zerstörte jüdische Grabplatte und ein zerschossener Christus am Kreuz nebeneinander in Schaukästen. Abb. 3: Zerstörte Straße am Ende des Krieges. Im Hintergrund ein T-34. Am rechten unteren Bildrand kann man den jüdischen Grabstein erkennen.

Quelle: Andrzej Otrębski [CC BY-SA 4.0]

Das Thema Sexualität wiederum wird im Museum mehrfach aufgegriffen, wenn auch nicht übermäßig betont. So finden sogenannte comfort women, Koreanerinnen, die von japanischen Soldaten zu sexuellen Diensten missbraucht wurden, Erwähnung. Auch speziell für Zwangsarbeiter eingerichtete Bordelle werden anhand von Fotos, die ein Zwangsarbeiter dort verbotenerweise aufnahm, ausgestellt. Auf die restriktiven Gesetze, die sexuelle Kontakte zwischen Deutschen und etwa Juden oder Zwangsarbeitern verboten, wird mehrmals verwiesen. Sexualisierte Gewalt im Zusammenhang mit Verbrechen an Juden und die Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee zum Beispiel in Gdańsk werden ebenso aufgegriffen. All diese Einzelfälle stellen keineswegs einen thematischen roten Faden dar, an dem sich Sexualität oder die Rolle der Frau im Krieg systematisch zeigt. Sie sind dennoch ein stetiger Verweis auf Facetten des Krieges, die in der von Kritikern erwünschten Darstellung von Geschichte nicht abgedeckt würden.24 (Das Bewusstsein, etwa mit dem Darstellen des

24 Dazu äußerte sich insbesondere Piotr Semka, dessen Rezension ebenfalls nicht mehr einzusehen ist. Ähnlich bereits aus dem Jahre 2008: Semka, Piotr: „Dziwaczny pomysł na muzeum II wojny światowej“, in: Rzeczpospolita vom 28.10.2008.

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Lagerbordells ein Risiko einzugehen, zog sich bereits durch Scherze des Kuratorenteams. Die Reaktionen waren nur eine Bestätigung früherer Befürchtungen. Nur wurde aus Spaß Ernst.) Auch an anderen prominenten Stellen erweitert das Museum das bis dato im öffentlichen Raum Gezeigte. Kurz nach dem Museum der Geschichte der Juden Polens in Warschau (Eröffnung der Ausstellung im Oktober 2014) wird auch hier im Teil zum Holocaust das Pogrom an Juden durch polnische Nachbarn im kleinen Ort Jedwabne 1941 ausgestellt. Als zentrales Objekt wird eine Leninstatue inszeniert, die die jüdischen Männer Jedwabnes zerstören mussten und die nach ihrer Erschießung zu ihnen ins Grab gestoßen wurde. (Inzwischen zweifeln einflussreiche Historiker wie der Direktor des Instituts für Nationales Gedenken an, dass Polen die Verantwortung an dem Pogrom in Jedwabne tragen.25) Aber auch solche neuralgischen Stellen, die am nationalen Selbstbild kratzen, formulieren insgesamt vorsichtig und provozieren nicht durch zusätzliches Hervorheben. So ist etwa der Ausstellungstext zu Jedwabne passivisch gehalten, die Mörder treten nicht als aktive Täter hervor. Abb. 4: Das zerstörte Lenindenkmal aus Jedwabne.

Quelle: Andrzej Hoja

Die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Polen wird im zeitlichen Zusammenhang mit letzten Massenverbrechen an jüdischen Gefangenen des Konzentrationslagers Stutthof dargestellt. Das Großobjekt dieses Ausstel-

25 Vgl. Croitoru, Joseph, „Beim dunklen Kapitel blind“, in: FAZ vom 26.8.2016.

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lungssegments ist die Schiffsglocke der Wilhelm Gustloff, bei deren Versenkung durch ein sowjetisches U-Boot ca. 9000 Flüchtende ihr Leben verloren. Diese Symbolik und die Verklammerung der NS-Umsiedlungspolitik während des Krieges (Deportationen von Polen, Elsässern etc., Aktion „Heim ins Reich“) mit den erzwungenen Migrationen der Nachkriegszeit sind durchaus provokativ. Abschließend kann dennoch festgehalten werden, dass die Ausstellung auf recht traditionellen Deutungen polnischer (und europäischer) Geschichte beruht. Machcewicz hatte durchaus das Ziel vor Augen, verschiedene europäische Erinnerungen an den Krieg miteinander zu verbinden, sie dabei allerdings nicht zu vereinheitlichen, sondern für ihre Unterschiedlichkeiten zu sensibilisieren. Gegen manche Deutung vor allem aus Deutschland verwahrte er sich bereits 2009 mit deutlichen Worten. Gerade bezüglich des Themas Flucht und Vertreibung in der deutschen Museums- und Institutionen-Landschaft verdeutlichte Machcewicz seine Sichtweise vehement: „In Polen wird in Frage gestellt, dass es begründet ist, den Zwangsumsiedlungen eine Sonderstellung als eines der wichtigsten Probleme der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuräumen. […] Im Verständnis vieler deutscher Historiker und Medien […] werden die Vertreibungen der Deutschen in eine Reihe ethnischer Säuberungen eingeordnet. […] Eine solche Auffassung führt aus polnischer Perspektive zur Deformation eines der Wirklichkeit entsprechenden Geschichtsbildes, und zwar vor allem deswegen, weil die Sonderstellung der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Totalitarismen und deren Verbrechen relativiert werde. […] Im historischen Gedächtnis der Polen sind die Zwangsumsiedlungen bedeutend weniger wesentlich und schmerzhaft als Auschwitz oder Katyń, die Tötung der Zivilbevölkerung während des Warschauer Aufstands und die zerstörerische Politik des deutschen Besatzers von Kriegsbeginn an.“26 Auch wenn der fertigen Ausstellung und ihren Kuratoren durchaus eine Rolle als Vermittler zwischen unterschiedlichen Gedächtnissen in Europa zuzutrauen gewesen wäre: Einige ihrer Positionen – wie beispielsweise jene zur Gewichtung deutscher und sowjetischer Verbrechen oder zur Beteiligung von Polen an der Ermordung der Juden – sind innerhalb (nicht nur seitens der Regierung) wie außerhalb Polens umstritten und hätten gerade deshalb den geeigneten Gegenstand für geschichtswissenschaftliche wie -kulturelle Diskussionen abgegeben. Im Zuge der Verlagerung der Diskussion um das Sein oder Nicht-Sein des Museums sind diese Aspekte bedauerlicherweise in den Hintergrund geraten.

26 P. Machcewicz: „Museum“, S. 3.

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A USBLICK Es reicht ein Blick auf die Homepage des Museums, um zu erkennen, dass nationale Rhetorik und patriotische Anstrengungen nunmehr zum Kernbereich der Aktivitäten des Museums gehören. Diese Einschätzung dürfte die neue Direktion keineswegs als Kritik verstehen, sondern eher als Bestätigung des von ihr eingeschlagenen Kurses. Festgehalten werden muss daher: Zusammen mit den Gründungsdirektoren sind Fachwissen sowie internationale Erfahrung abhanden gekommen und jahrelange Bemühungen um einen partnerschaftlichen Austausch mit Historikern weltweit wahrscheinlich irreversibel verloren gegangen. Für die neue Direktion ist es keineswegs mehr eine Position des common sense, dass Transnationalität, zeitgemäße museologische Konzepte und die Einbindung von Mikrogeschichten, die nicht immer moralisch eindeutig sein können, ein Gebot der best practice sind. Für die alten Direktoren waren diese international anerkannten und praktizierten Ausstellungsstrategien der Ausgangspunkt, den polnischen Standpunkt offensiv wie vernünftig zu vertreten und ihn genauso auch diskutieren zu können. Die Abkehr vom nationalen Narrativ hin zu teils auch umstrittenen Themen sollte dazu beitragen, im internationalen Diskurs mithalten zu können. Nach derzeitiger Lage der Dinge sitzen die verbohrten Vertreter einer vermeintlichen polnischen Ratio allerdings am längeren geschichtspolitischen Hebel. In Polen werden von der Regierung derzeit u.a. ein Museum des Warschauer Ghettos und ein Museum der sogenannten „verfemten Soldaten“, die auch nach der Auflösung der polnischen Heimatarmee teils in kriminellen Banden gegen die sowjetischen und kommunistischen Machthaber (und manchmal auch überlebende Juden) kämpften, umgesetzt.

L ITERATUR Croitoru, Joseph, „Beim dunklen Kapitel blind“, in: FAZ vom 26.8.2016. Hoja, Andrzej: „An Engaged Narrative: the Permanent Exhibition of the Museum of the Second World War in Gdańsk“, in: Cultures of History Forum vom 24.7.2017. Logemann, Daniel: „On ‚Polish History‘: Disputes over the Museum of the Second World War in Gdańsk“, in: Cultures of History Forum vom 31.3.2017. Logemann, Daniel: „Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk. Wie soll man ‚polnische Geschichte‘ zeigen?“ in: Zeitgeschichte-online vom 6.4.2017.

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Logemann, Daniel/Muller, Anna: „War, Dialogue, and Overcoming the Past. The Second World War Museum in Gdańsk, Poland“, in: The Public Historian 3 (2017), S. 85–95. Machcewicz, Paweł: „Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Die polnische und europäische Idee, die gemeinsame Geschichte zu erzählen“, in: Polen-Analysen 56 (2009), S. 2-8. Machcewicz, Paweł: Der umkämpfte Krieg. Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Entstehung und Streit, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2018. Museum of the Second World War: Catalogue of the Permanent Exhibition, Gdańsk 2016. Peters, Florian: „Lokales Holocaust-Museum oder nationalistische Geschichtsfälschung? Das Museum für die Familie Ulma im südostpolnischen Markowa“, in: Zeitgeschichte-online vom 22.3.2017. Peters, Florian: „Polens Streitgeschichte kommt ins Museum. Wie neue Museen in Danzig und Warschau die polnische Geschichtskultur verändern“, in: Zeitgeschichte-online vom Februar 2015. Puttkamer, Joachim von: „Europäisch und polnisch zugleich. Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig“, in: Osteuropa 3 (2017), S. 3-12. Semka, Piotr: „Dziwaczny pomysł na muzeum II wojny światowej“, in: Rzeczpospolita vom 28.10.2008. Snyder, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München: C.H. Beck 2011. Snyder, Timothy: „Poland vs. History“, in: New York Review of Books vom 3.5.2016. Sobczak, Kornelia: „Bezradność liberałów. Muzeum II wojny“, in: Dialog 12 (733) vom Dezember 2017.

II. Migration als neuer Zugang

Migration und Museum: Verheißung oder Aporie? D IRK R UPNOW

Migration verändert die Gesellschaft. Wie könnte es sein, dass sie nicht auch Veränderungen von unserem Blick auf Geschichte und dementsprechend auch von Institutionen wie Archiven und Museen – von den Institutionen, die Geschichtsschreibung ermöglichen und absichern bzw. Geschichtsbilder umsetzen und vermitteln – fordert? Im kollektiven Gedächtnis vieler Länder in Europa ist Migration – immer noch – eine Leerstelle bzw. hat höchstens einen äußerst prekären und stark umkämpften Platz inne. In den dominierenden Geschichtserzählungen sind Migrant/innen weiterhin weder sicht- noch hörbar. Sesshaftigkeit gilt unverändert als Norm und begründet Zugehörigkeit, Migration wird hingegen stets als Störfall und Problem verstanden. Dabei ist Geschichte ohne Migration eigentlich nicht denkbar. Es gibt jeweils nur die, die schon etwas länger da sind, und diejenigen, die etwas weniger lange da bzw. gerade erst angekommen sind. Im 19. Jahrhundert wurden die nationalen Identitäten aber nicht unwesentlich über die Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte abgesichert, im Dreieck mit einem homogen vorgestellten „Volk“ und einem arrondierten Territorium. Neben der sich gleichzeitig professionalisierenden Geschichtswissenschaft spielten Museen – Sammlungen und Ausstellungen – dabei eine zentrale Rolle: über die Darstellung einer eigenen Kultur und Geschichte (in Heimat-, Volkskunde- und Nationalmuseen), nicht zuletzt aber auch durch die Repräsentation (Ab- und Ausgrenzung) eines angeblich „Anderen“ (in Völkerkundemuseen und Völkerschauen). Museen sind als Institutionen und mit ihren Praktiken mithin tief in die Konstruktion einer hegemonialen Geschichte mit vielfältigen Ausschlüssen verstrickt – auch im globalen Maßstab im Zuge des Kolonialismus. Die Debatte um Migration als spezifische Herausforderung für Museen ist denn wohl auch – neben der über den Status von kolonialem Raubgut in europäi-

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schen Museen und dessen Restitution1 – die facheinschlägig am heftigsten geführte in den vergangenen Jahren. Sie ist (wenig überraschend) eng verknüpft mit politischen und gesellschaftspolitischen Debatten über Migration und das, was jeweils als „Integration“ verstanden wird – und dementsprechend abhängig vom Selbstverständnis als einer offenen und pluralen Migrationsgesellschaft oder von Ängsten gegenüber Flüchtlingen und Diversität. Im Museumsfeld ist sie interessanterweise viel intensiver geführt worden als in den Geschichtswissenschaften allgemein (oder etwa auch Archiven). Nicht unwesentlich waren dafür zunächst diverse Jubiläen der so genannten „Gastarbeitermigration“ der 1950er bis 1970er Jahre, die auch lange im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Zunehmend abgelöst wurde sie allerdings vom gegenwärtigen Fluchtgeschehen. Die zentralen Diskussionsfelder waren und sind: • • •



Migration als Thema im Museum, als historisches bzw. gegenwärtiges Phänomen, vor allem in (kultur-)historischen Museen; Migration als Querschnittsmaterie, die bei sehr unterschiedlichen Themen immer mitzudenken ist; die Migrationsgesellschaft als Rahmenbedingung für Museen und Gedenkstätten und deren Arbeit (etwa auch: Migrant/innen als potentielles Publikum) – mit einer Unterdebatte zur Frage, wie die Migrationsgesellschaft (besonders, aber nicht nur in Deutschland und Österreich) die Erinnerung an die Geschichte des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust verändert; die Repräsentanz von Migrant/innen in der Institution Museum als Kurator/innen und Vermittler/innen, in Leitungsfunktionen etc., im Sinne eines Spiegels der gesellschaftlichen Realität.

I Letztlich sind Museen heute immer noch geprägt von der Komplizenschaft mit Nationalismus und Kolonialismus. Zumindest können diese Vorgeschichten bei den derzeitigen Diskussionen um Migration und Museum nicht außer Acht gelassen werden. Sie schleichen sich sonst unvermeidlich als Untote und Gespenster ein. Keinesfalls selbstverständlich ist mithin auch, dass die Institution Museum sich aus dieser Geschichte lösen, andere Repräsentationen ermöglichen und

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Savoy, Bénédicte/Sarr, Felwine: Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin: Matthes & Seitz 2019.

M IGRATION

UND

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neue Formen von Zugehörigkeit begründen kann, jenseits von Ausschlüssen, die sie immer produziert hat. Ist ein Museum also überhaupt der richtige Ort, um Migration zu dokumentieren und zu repräsentieren?2 Die Forderung nach der Repräsentation von Migration im Museum hat gleichzeitig gute Argumente: Mit den musealen Praktiken des Sammelns und Ausstellens sind Sichtbarkeit und Anerkennung, letztlich auch die Hoffnung auf Gleichberechtigung, zumindest auf kulturellem Gebiet, verbunden.3 Dementsprechend versuchten auf der internationalen Ebene die UNESCO und die International Organization for Migration IOM 2006 mit der „Migration Museum Initiative“, den Trend der Musealisierung von Migration zu verstärken: es gehe dabei um „the creation of a new and multiple identity, at an individual and collective level“, mit den Hauptzielen „acknowledge, integrate and build awareness“4 – unter dem Motto „Memory can help to forge a better future“.5 Die Initiative entstand unter dem Eindruck der Ermordung des Regisseurs Theo van Gogh durch einen fundamentalistischen Islamisten in Amsterdam im Jahr 2004 und der Unruhen in Pariser Vorstädten im Jahr 2005 und hob die Notwendigkeit von Museen hervor, die Migrant/innen eine Stimme geben.6 In Österreich trat im März 2013 die grüne Nationalratsabgeordnete Alev Korun mit der Forderung nach Schaffung eines Migrationsmuseums hervor: „Österreich bzw. Wien beheimatet ein Uhrenmuseum, ein Kaffeemuseum, ein Sexmuseum, ja sogar ein Heizungsmuseum. Anders als in vielen Ländern, wie z.B. in den USA (Ellis Island Museum), Schweiz, Australien oder Südafrika gibt es in Österreich aber kein

2

Vgl. hierzu Macdonald, Sharon J.: „Nationale, postnationale, transkulturelle Identitäten und das Museum“, in: Rosmarie Beier (Hg.): Geschichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M./New York: Campus 2000, S. 123–148; Korff, Gottfried: Fragen zur Migrationsmusealisierung. Versuch einer Einleitung, in: Henrike Hampe (Hg.): Migration und Museum. Neue Ansätze in der Museumspraxis (= Europäische Ethnologie 5), Münster: LIT 2005, S. 5–15.

3

Jamin, Mathilde: Deutschland braucht ein Migrationsmuseum. Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus einem Ausstellungsprojekt, in: Henrike Hampe (Hg.): Migration und Museum. Neue Ansätze in der Museumspraxis (= Europäische Ethnologie 5), Münster: LIT 2005, S. 43–50.

4

International Organization for Migration: Expert Meeting on Migration Museums. 23– 25 October 2006 – Rome, Italy. Final Report, http://www.unesco.org/new/fileadmin/ MULTIMEDIA/HQ/SHS/pdf/Final-Report-Migration-Museums.pdf, S. 10.

5

Ebd., S. 4.

6

Ebd., S. 10.

78 | D IRK R UPNOW Museum, das sich der Migrationsgeschichte Österreichs bzw. dem Thema Migration, Mobilität und Interkulturalität widmet. Migration ist ein altes wie auch brandaktuelles Thema, das die Bürger/innen, Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft beschäftigt. Ein Migrationsmuseum mit einer ständigen Ausstellung und wechselnden Ausstellungen kann viel beitragen zur gesellschaftlichen Aufklärung über nationale und europäische Migrationsgeschichte, Mobilität im Zeitalter der Globalisierung, aber auch zu Entstehung und Wandlung von Identitäten, Ein- und Ausschlüssen. Ein kritisches Migrationsmuseum ist – wie an positiven Beispielen in anderen Ländern ersichtlich – ein lebendiger Ort der Diskussion und des Austausches und ermöglicht so auch eine Auseinandersetzung mit den Leerstellen im Gedächtnis von Gesellschaften und der offiziellen Geschichtsschreibung.“7

In Österreich war allerdings schon 2004 ein erster Anlauf zur Sammlung und Darstellung der Geschichte von 40 Jahren Arbeitsmigration gemacht worden: mit der „Gastarbajteri“-Ausstellung, die im Wien Museum gezeigt wurde und von der NGO Initiative Minderheiten konzipiert worden war. Nicht zuletzt als Bottom-Up-Initiative, in die auch migrantische Akteur/innen eingebunden waren, war sie wegweisend, aber leider nicht nachhaltig, da es nicht gelang, die zusammengetragenen Bestände langfristig an einem Ort zu bewahren und zugänglich zu machen.8 International ist die Diskussion um Migration und Museen inzwischen weit fortgeschritten. In den klassischen Einwanderungsländern widmet sich schon seit langem eine Reihe von speziellen Einrichtungen dem Thema: so etwa das Ellis Island Immigration Museum in New York (seit 1990), das Immigration Museum in Melbourne (seit 1998) oder das Canadian Museum of Immigration at Pier 21 in Halifax (seit 1999). Seit 2007 hat auch Frankreich mit der Cité nationale de l’histoire de l’immigration in Paris ein Einwanderungsmuseum.9

7

Korun, Alev: Entschließungsantrag 2244/A(E) XXIV. GP, https://www.parlament.gv. at/PAKT/VHG/XXIV/A/A_02244/fnameorig_295361.html vom 21.3.2013.

8

Gürses, Hakan/Kogoj, Cornelia/Mattl, Sylvia (Hg.): Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration. Katalog zur Ausstellung vom 22.1.–11.4.2004 im Wien Museum, Wien: Mandelbaum 2004; Kogoj, Cornelia/Ongan, Gamze: „Die Ausstellung Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration. Migrationsgeschichte aus NGO-Perspektive“, in: Regina Wonisch/Thomas Hübel (Hg.): Museum und Migration. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld: transcript 2012, S. 89–114.

9

Bauer, Joachim: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld: transcript 2009; Wonisch, Regina/Hübel, Thomas (Hg.): Museum und Migration. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld: transcript 2012.

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In Deutschland schlug der Museologe und Ausstellungsmacher Michael Fehr bereits 1980 ein „Museum für die Geschichte und Kultur der Arbeitsmigranten“ vor, um Fremdheit abzubauen.10 1993 warf der Historiker Joachim Meynert den (kultur-)historisch orientierten Museen in der Bundesrepublik Deutschland vor, dass sie der „multikulturellen Verfaßtheit unserer Gesellschaft bislang kaum Rechnung getragen haben“ und verlangte entsprechende strukturelle Veränderungen.11 Fehr nahm seinen Vorschlag, ein eigenes Migrationsmuseum einzurichten, allerdings kürzlich wieder zurück: Museen sei ein kolonialer Gedanke zutiefst eingeschrieben, sie seien Institutionen der Segregation.12 Vor allem ein eigenständiges Migrationsmuseum könne zu Enklavenbildung und Ghettoisierung führen und zur Funktionalisierung für Ziele, die nicht notwendigerweise die der Migrant/innen seien. Fehr sieht Migration mittlerweile eher als eine Querschnittsmaterie an, der sich alle Museen gleichermaßen widmen sollten. Die Forderung nach einem eigenständigen Museum ist in Deutschland jedoch keinesfalls verstummt: Aytaç Eryılmaz, bis 2012 Geschäftsführer von DOMiD (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V.) in Köln, forderte beständig ein „Migrationsmuseum als Zentrum für

10 Fehr, Michael: „Idee zu einem Museum für die Geschichte und Kultur der Arbeitsmigranten“, in: Olaf Schwenke/Beate Winkler-Pöhler (Hg.): Kulturelles Wirken in einem anderen Land (= Loccumer Protokolle 3/87), Loccum: Evangelische Akademie Loccum 1987, S. 118–121. 11 Meynert, Joachim: „Sackgasse Museum? Überlegungen zur multikulturellen Verantwortung historischer und kulturhistorischer Stadt- und Regionalmuseen“, in: Museumskunde 58/2+3 (1993), S. 131–134. 12 Fehr, Michael: „Überlegungen zu einem ‚Migrationsmuseum‘ in der Bundesrepublik“, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2009. Thema: Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, Essen: Klartext 2009, S. 265–270. Zum kolonialen Charakter der Institution Museum erhellend: Meza Torres, Andrea: „‚Colonial/racial subjects of empire‘ im Eingangsbereich der Cité nationale de l’histoire de l’immigration“, in: Friedrich von Bose/Kerstin Poehls/ Franka Schneider (Hg.): Museum X. Zur Neuvermessung eines mehrdimensionalen Raumes (= Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge 57), Berlin: Panama 2011, S. 28–36; Dies.: „The Museumization of Migration in Paris and Berlin and Debates on Representation“, in: Human Architecture. Journal of the Sociology of Self-Knowledge 4 (2011), S. 5–22; Dies.: „Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration und die ‚Immigranten‘ im Kontext der Kolonialgeschichte“, in: Regina Wonisch/Thomas Hübel (Hg.): Museum und Migration. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld: transcript 2012, S. 193–221.

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Geschichte, Kunst und Kultur der Migration“ und als „Schlüssel zu einer umfassenderen Gesellschaftsgeschichte“, „ein Ort, an dem Deutschland sich als Einwanderungsland entdecken und verstehen lernen kann“.13 Im Jahr 2015 hat DOMiD, mittlerweile unter neuer Leitung und mit der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth als Schirmherrin für das Projekt, einen neuen Anlauf zur Realisierung eines zentralen Migrationsmuseums in Deutschland unternommen. Mittlerweile scheint dafür ein Standort in Köln-Kalk gefunden worden zu sein.14 Auch im nationalen deutschen Integrationsplan „Neue Wege – Neue Chancen“ wurde 2007 dem Bereich „Kultur und Integration“ ein eigenes Kapitel gewidmet: Festgestellt wird dort etwa, dass „Zuwanderung und Integration […] Teil unserer Geschichte“ seien. Dem kulturellen Schaffen von Migrant/innen soll zwar mehr Raum gegeben werden, ebenso wie die Geschichte der Migration sichtbarer gemacht werden soll, aber vor allem sollen „erfolgreiche historische Integrationsprozesse als Teil unseres eigenen kulturellen Erbes“ fokussiert werden: Nicht Migration, sondern „Integration sollte Querschnittsthema für kulturelle Einrichtungen sein“.15 Daneben geht es recht pragmatisch darum, Migrant/innen als Zielgruppe für Kulturinstitutionen zu gewinnen. Leitend bleiben dabei bedauerlicherweise herkömmliche Vorstellungen von Integration (vor allem durch Leistung bzw. Leistungen, die von Migrant/innen zu erbringen sind), von „uns“ und den „anderen“, Kultur und Werten etc. Der Deutsche Museumsbund hat 2015 im Anschluss daran eine „Handreichung für die Museumsarbeit“ zum Thema „Museen, Migration und kulturelle Vielfalt“ veröffentlicht.16 Dort werden Vorschläge für alle Ebenen musealer Arbeit gemacht: Sammlung (vorhandene Sammlungen neu befragen, neue Strategien des Sammelns, bisher übersehene Sammlungsgegenstände), Ausstellung

13 Eryılmaz, Aytaç: „Migrationsgeschichte und die nationalstaatliche Perspektive in Archiven und Museen“, in: Wonisch, Regina/Hübel, Thomas (Hg.): Museum und Migration. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld: transcript 2012, S. 33–48, hier S. 47 f. 14 Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V.: „Standort für das Migrationsmuseum in Köln-Kalk gefunden“, https://domid.org/ news/presse/pressemitteilung-1/ vom 3.7.2019. 15 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration (Hg.): Der nationale Integrationsplan. Neue Wege – Neue Chance, Berlin 2007, S. 127–136. 16 Deutscher Museumsbund (Hg.): Museen, Migration und kulturelle Vielfalt. Handreichungen für die Museumsarbeit, Berlin 2015.

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(Migration soll in angemessener Form als Querschnittsthema in Dauerausstellungen berücksichtigt werden, in Wechselausstellungen sollen zunehmend interkulturelle Perspektiven implementiert werden) und Vermittlung (mit dem Ziel, die Unterscheidung von Menschen „mit und ohne Migrationshintergrund“ zu überwinden), bis hin zu der Forderung, langfristig den Anteil an Beschäftigten „mit Migrationshintergrund“ in allen Bereichen von Museen zu erhöhen. Partizipation wird dabei zum Schlüssel für die Bewahrung und Sichtbarmachung von Migrationsgeschichte: „Museen sind bei der Dokumentation und Präsentation der Migrationsgeschichte auf Einzelpersonen, Vereine und Organisationen als Ratgeber und Mitwirkende angewiesen. Ohne die Menschen und ihre Erfahrungen können weder mögliche neue Fragen an vorhandene Sammlungen gestellt, noch neue Perspektiven entwickelt werden.“17 Ausstellungen wie „Projekt Migration“ (Köln 2005), „Crossing Munich“ (München 2009), „Movements of Migration“ (Göttingen 2013) haben hier Pionierarbeit geleistet – jenseits der Präsentation der ewig gleichen Koffer, Ausweisdokumente und exotischen Objekte, die die Realität der Migration und ihrer gesellschaftlichen Veränderungskraft letztlich nicht abbilden, sondern vielmehr ein ewiges „Dazwischen“ konstruieren. Sie sind im Wesentlichen geprägt gewesen von ethnologischen und kultur- bzw. sozialanthropologischen, aber auch von künstlerischen Zugängen.18 In Österreich hat zunächst das Vorarlberger Landesmuseum – vorarlberg museum – einen wichtigen Schritt gesetzt: In den anlässlich seiner Neueröffnung 2013 eingerichteten Ausstellungen „buchstäblich vorarlberg“, „vorarlberg. ein making-of“ und „Sein&Mein. Ein Land als akustische Passage“, die sich der Landesgeschichte auf unterschiedliche Art und Weise annähern und dabei auch verstärkt die jüngste Vergangenheit in den Blick nehmen, sind Erfahrungen und Geschichten der Migration jeweils ein integraler Bestandteil der Erzählung. Damit gibt es einen neuen Standard, den andere Häuser im Land in Zukunft wohl zu berücksichtigen haben werden. Generell ist die Zeitgeschichte in den österreichischen Landesmuseen ja bisher stark unterrepräsentiert gewesen.19

17 Ebd., S. 29. 18 Eryılmaz, Aytaç/Frangenberg, Frank (Hg.): Projekt Migration. Katalog zur Ausstellung vom 30.9.2005–15.1.2006, Köln: DuMont 2005; Bayer, Natalie/Engl, Andrea/ Hess, Sabine/Moser, Johannes (Hg.): Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus. Katalog zur Ausstellung vom 9.7.–15.9.2009, München: Schreiber 2009. 19 Vgl. zum vorarlberg museum Rudigier, Andreas/Winkler, Bruno (Hg.): Sichten. Vorarlberg museum 2013 bis 2016, Bregenz: vorarlberg museum 2016; zur (ungenügen-

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Anlässlich des Jubiläums der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen Österreich und der Türkei 1964 wurde 2014 eine ganze Reihe von lokalen Ausstellungsprojekten realisiert (etwa in St. Pölten, Salzburg, Hall i.T., Telfs sowie zwei Wanderausstellungen), die aus sehr unterschiedlichen Kontexten hervorgingen (von Universitäten und Forschungseinrichtungen über NGOs und Vereinen bis hin zu Lokalmuseen), aber allesamt nicht an große Kulturinstitutionen angebunden waren.20 Die Erinnerung an das Anwerbeabkommen zwischen Österreich und Jugoslawien 1966 im Jubiläumsjahr 2016 wurde hingegen durch die Fragmentierung der Community seit dem Zerfall Jugoslawiens und den Kriegen in den 1990er Jahren erschwert.21 Im österreichischen „Gedenk- und Er-

den) Sichtbarkeit der Zeitgeschichte in den österreichischen Landesmuseen vgl. Sommer, Monika: „Experiment und Leerstelle. Zur Musealisierung der Zeitgeschichte in den österreichischen Landesmuseen“, in: Dirk Rupnow/Heidemarie Uhl (Hg.): Zeitgeschichte ausstellen in Österreich. Museen – Gedenkstätten – Ausstellungen, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2011, S. 313–335. 20 Stadtmuseum St. Pölten/Zentrum für Migrationsforschung am Institut für die Geschichte des ländlichen Raumes und NÖ Landesarchiv/Bernhard Gamsjäger/Österreichisch-Türkischer Freundschaftsverein/Betriebsseelsorge Traisental: „Angeworben! Hiergeblieben! 50 Jahre ‚Gastarbeit‘ in der Region St. Pölten“; Stadtarchiv Salzburg/Universität Salzburg: „Kommen – Gehen – Bleiben. Migrationsstadt Salzburg 1960-1990“; Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck/Stadtmuseum und -archiv Hall i.T.: „Hall in Bewegung. Spuren der Migration in Tirol“; Integrationsbeauftrage der Marktgemeinde Telfs/Migrationsarchiv Telfs: „Alte Neue TelferInnen“; Verein Jukus zur Förderung von Jugend, Kultur und Sport:„Avusturya! Österreich – 50 Jahre türkische Gastarbeit in Österreich“; migrare/Volkshilfe/Universität Linz: „Gekommen und geblieben. 50 Jahre Arbeitsmigration“; Wiener Institut für internationalen Dialog/Wienwoche: „Gaygusuz gegen Österreich oder von der Nützlichkeit der ‚Gast‘-arbeiter_innen“. Eine weitere wissenschaftliche Konferenz wurde von Christiane Hintermann und vom Autor, gemeinsam mit dem Karl-Renner-Institut, der Grünen Bildungswerkstatt und der Initiative Minderheiten veranstaltet: „Orte, Räume und das Gedächtnis der Migration“. 21 Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck/Forschungszentrum Migration und Globalisierung der Universität Innsbruck/Arbeitskreis Archiv der Migration/ Initiative Minderheiten: „‚…daß ich mir Wien nicht vorstellen könnte, ohne unsere jugoslawischen Freunde…‘. 50 Jahre Anwerbeabkommen Österreich – Jugoslawien 1966–2016“. Ausstellung im Filmcasino Wien vom 7.–26.4.2016; Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres/Österreichischer Integrationsfonds: „Ajnhajtclub“. Ausstellung im MuseumsQuartier Wien vom 6.7.–5.9.2016; Verein Jukus:

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innerungsjahr“ 2018, in dem der Republikgründung 1918, dem „Anschluss“ und dem Novemberpogrom 1938, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 und der 68er-Bewegung gedacht wurde, trat das Thema wieder in den Hintergrund. Obwohl das lange diskutierte „Haus der Geschichte Österreich“, das im November 2018 in der Neuen Burg am Heldenplatz eröffnet wurde, in seiner Ausstellung „Aufbruch ins Ungewisse – Österreich seit 1918“ Migration als integralen Bestandteil der österreichischen Republikgeschichte zu berücksichtigen versucht, scheint sich dies nicht allgemein durchgesetzt zu haben und Migrationsgeschichte weiterhin doch als ein getrenntes Feld betrachtet zu werden.22

II Durch Richtlinien, Initiativen und einzelne Ausstellungen gibt es mittlerweile in den Museen ein grundsätzliches Bewusstsein für die Herausforderungen. Es geht jedoch keinesfalls nur darum, dass Migration und Migrant/innen repräsentiert werden, sondern vor allem um das Wie: Homogenisierende, essentialisierende und kulturalisierende Darstellungen sind ebenso eine Gefahr wie das Überbetonen der staatlich gelenkten Migration, die immer wieder in angeblich typische Abläufe untergliedert wird. Die Unmöglichkeit der musealen Erzählbarkeit von Migration führt gleichzeitig immer wieder zu biographischen Zugängen, individuelle Erfahrungen werden dabei als typisch herausgestellt und wiederum entindividualisiert. Allein durch die Benennung als Migrant/in (zumal in der Generationenfolge und von Menschen, die selbst nie über Staatsgrenzen migriert sind) werden die nationalstaatliche Perspektive, Sesshaftigkeit und kulturelle Homogenität immer noch einmal als Norm befestigt.23 Notwendig ist daher eine Blick-

„Unter fremdem Himmel. Aus dem Leben jugoslawischer GastarbeiterInnen“. Ausstellung im Volkskundemuseum Wien vom 2.9.–16.10.2016. 22 Republik Österreich, 2018 – 100 Jahre Republik, Republik Österreich, www.oester reich100.at; zur Diskussion über ein nationales österreichisches Geschichtsmuseum vgl. Rupnow, Dirk: „Nation ohne Museum? Diskussionen, Konzepte und Projekte“, in: Dirk Rupnow/Heidemarie Uhl (Hg.): Zeitgeschichte ausstellen in Österreich. Museen – Gedenkstätten – Ausstellungen, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2011, S. 417–463; Haus der Geschichte Österreich: Aufbruch ins Ungewisse. Österreich seit 1918, https://www.hdgoe.at/ausstellung. 23 Zur Problematik der Begrifflichkeiten vgl. [o. Verf.]: „Von ‚Ausländerinnen, Personen mit Migrationshintergrund‘ und anderen Bezeichnungen. Martin Reisigl im Gespräch“, in: Antonio Dika/Barbara Jeitler/Elke Krasny (Hg.): Balkanmeile. 24 Stun-

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verschiebung, weg von nationalisierenden und ethnisierenden Zuschreibungen: Migration muss als gesellschaftliche und verändernde Kraft, Migrant/innen müssen als Akteur/innen und Subjekte sichtbar gemacht werden. Zu erzählen ist eine Geschichte jenseits von Viktimisierung und Stigmatisierung, Exotisierung und Kulturalisierung, die aber dennoch Macht- und Repräsentationsverhältnisse sowie Ein- und Ausschlussmechanismen in der Gesellschaft – einschließlich von Formen und Praktiken des Widerstands und der Subversion – durchleuchtet.24 Darüber hinaus muss die historische Komplizenschaft von Institutionen wie Museen und auch Archiven sowie wissenschaftlichen Praktiken mit Nationalismus und Kolonialismus stets reflektiert werden, wenn sie sich der Geschichte und Gegenwart von Migration zuwenden wollen. Die Forderung nach Repräsentation im Museum ist eine grundlegende und eminent politische Forderung nach Gleichheit: Diese Gleichheit beinhaltet Hörund Sichtbarkeit in der Geschichte. Sie sind bisher nicht für alle in unserer Gesellschaft gleichermaßen gegeben. Die werdenden Nationalstaaten haben sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durch homogene Vorstellungen von Volk, Territorium und Geschichte befestigt. Museen waren entscheidende Institutionen in diesem Prozess, Geschichtsschreibung ein wichtiges Instrument. Was als „anders“ galt, wurde an den Rand gedrängt, aus der Geschichte herausgeschrieben, unsichtbar gemacht – so auch in der Gesellschaft: Die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts sind Folgen dieser Homogenisierungsbestrebungen. Einige (vormals) marginalisierte Gruppen sind mittlerweile sicht- und hörbar geworden, Arbeiter und Bauern etwa oder auch Frauen, andere noch nicht. Dem Bedürfnis nach

den Ottakringer Strasse. Lokale Identitäten und globale Transformationsprozesse. Ein Reiseführer aus Wien, Wien: Turia + Kant 2011, S. 118–129. Die Probleme sind nicht leicht zu überwinden: Selbst Konzepte wie Hybridität oder Bindestrichidentitäten befestigen noch einmal die Vorstellung von „reinen“, homogenen Kulturen. 24 Vgl. vor allem die Arbeiten von Bayer, Natalie: „Migration als Thema musealer Erinnerungsarbeit“, in: kulturen 6/1 (2012), S. 33–41; Dies.: Zur Notwendigkeit neuer Bilderproduktion der Migration im Museum, http://www.tokki.cc/files/nataliebayer 2012notwendigkeit-neuer-bilderproduktionen.pdf vom 25.4.2012; Bayer, Natalie/ Terkessidis, Mark: „Zombia Attack! Ein Plädoyer für mehr Phantasie in der Debatte über Museum und Migration“, in: Kulturpolitische Mitteilungen 139/IV (2012), S. 52–54. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Konzept der „Autonomie der Migration“: Bojadžijev, Manuela/Karakayali, Serhat: „Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode“, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld: transcript 2007, S. 203–209.

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Sicht- und Hörbarkeit entgegen steht allerdings das Recht auf „opacité“25. Es gemahnt daran, dass Inklusion nicht Vereinnahmung, Verfügung und Zugriff bedeuten kann. Letztlich geht es darum, nicht nur die Geschichte der Migration zu schreiben, sondern vielmehr Migration in die Geschichte einzuschreiben. Der Zeitpunkt könnte vermutlich ungünstiger nicht sein: Die Bedeutung dieser bisher nicht gesammelten und nicht sichtbaren Geschichte wird gerade in Zeiten schrumpfender Kulturbudgets bewusst. Als Mittel noch freigiebig bereitgestellt und Kulturinstitutionen auf- und ausgebaut wurden, war das Thema nicht relevant; jetzt, da es relevant wird, stehen immer weniger Mittel zur Verfügung. Dadurch entsteht eine bedenkliche Schieflage – nicht zuletzt auch deshalb, weil Migrant/innen den früheren Wohlstand überhaupt erst ermöglicht haben. Neben Veränderungen in der musealen Praxis bedarf es vor allem einer Debatte, keinesfalls nur unter Expert/innen hinter verschlossenen Türen, sondern in der Öffentlichkeit. Letztlich geht es um eine Veränderung der allgemeinen Wahrnehmung: Migration und Migrant/innen als ein selbstverständlicher, sichtund hörbarer Teil der Gegenwart und Geschichte. Mit einer solchen öffentlichen Debatte wäre ein erster wichtiger Schritt getan, um Migration im kollektiven Gedächtnis zu verankern.

III Grundsätzlich geht es um die Fragen: Wessen Geschichte(n) wird/werden erzählt? Wer erzählt Geschichte(n)? Wer darf Geschichte(n) erzählen? Wessen Geschichte(n) werden gehört? Migration muss als gelebte Realität, nicht nur als Ausnahme und Problem erzählt werden, das Marginalisierte in die Mitte rücken. Migrant/innen selbst müssen diese Geschichte erzählen und (mit)schreiben können. Letztlich geht es aber nicht um eine segregierte Geschichte der Migration und der Migrant/innen, sondern um eine inklusive Geschichte, die der alltäglichen Pluralität und dem Wandel des gegenwärtigen Österreichs gerecht wird. 26 Der Begriff der Migrationsgeschichte kann dabei nur ein Behelfsausdruck sein, denn es geht um wesentlich mehr als um den Vorgang der Migration im engeren

25 Glissant, Édouard: Poétique de la relation, Paris: Gallimard 1990; Ders.: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg: Wunderhorn 2005. 26 Vgl. dazu auch Rupnow, Dirk: „Deprovincializing Contemporary Austrian History. Plädoyer für eine transnationale Geschichte Österreichs als Migrationsgesellschaft“, in: Zeitgeschichte 1 (2013), S. 5–21.

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Sinne, vielmehr um eine Geschichte von Diversität und Zugehörigkeiten, damit aber auch von Ein- und Ausschlüssen sowie Grenzziehungen, von der Konstruktion eines vermeintlich „Eigenen“ und eines „Anderen“ und dem Umgang damit. Die bisherigen Geschichten werden nicht nur ergänzt, sondern vor allem transformiert durch den Blick auf Migration und Migrant/innen. Migration stellt das Format der nationalen Geschichte und die etablierten Großnarrative radikal und nachhaltig in Frage. Sie als solche klar zu benennen und zu fokussieren hat daher auch eine strategische Funktion. Es handelt sich um eine trans-nationale Geschichte par excellence: Globalisierung findet alltäglich vor Ort statt, das Überschreiten oder Unterlaufen von Grenzen wird ständig praktiziert.27 Es handelt sich im besten Sinne um eine „geteilte Geschichte“ im Sinne von „divided“ und „shared“ zugleich, um eine „entangled history“ und „histoire croisée“, wie es eigentlich jede Geschichte schon immer ist – mit all den Ambivalenzen, die Austausch und Interaktion mit sich bringen, einschließlich der immer wieder hergestellten Ab- und Ausgrenzungen.28 Geschichte ist dementsprechend nur noch trans-national zu verstehen: im Sinne des Wortes, die Grenzen unterminierend und durchlöchernd, ohne sie freilich vollständig aufzulösen.29 Der nicht nur

27 Yildiz, Erol: Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht, Bielefeld: transcript 2013; Römhild, Regina: „Global Heimat Germany. Migration and the Transnationalization of the Nation-State“, in: Transit 1 (2004), http://escholarship.org/uc/item/57z2470p. 28 Randeria, Shalini: „Geteilte Geschichte und verwobene Moderne“, in: Jörn Rüsen/Hann Leitgeb/Norbert Jegelka (Hg.): Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt a.M./New York: Campus 1999, S. 87–96; Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini: „Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt“, in: Dies. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichte- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M./New York: Campus 2002, S. 9–49, hier S. 17. 29 Aus der Fülle der Literatur vgl. – mit durchaus unterschiedlichen Positionen und Akzentuierungen – beispielhaft Glick Schiller, Nina/Basch, Linda/Szanton Blanc, Cristina: „From Immigrant to Transmigrant. Theorizing Transnational Migration“, in: Anthropological Quaterly 68/1 (1995), S. 48–63; Pries, Ludger: „Migration und Integration in Zeiten der Transnationalisierung – oder: Warum braucht Deutschland eine ‚Kulturrevolution‘?“, in: iza. Zeitschrift für Migration und soziale Arbeit 1 (2001), S. 14–19; Wimmer, Andreas/Glick Schiller, Nina: „Methodological Nationalism, the Social Sciences, and the Study of Migration. An Essay in Historical Epistemology“, in: International Migration Review 37/3 (2003), S. 576–610; Bommes, Michael: „Der Mythos des transnationalen Raumes. Oder: Worin besteht die Herausforderung des Transnati-

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methodische Nationalismus der Geschichtswissenschaften verhindert aber immer noch weitgehend, dass dies entsprechend wahrgenommen wird. Mit dem Blick auf Migration sollte endlich auch Abschied genommen werden von der irrigen Vorstellung einer vollständigen und geschlossenen Geschichte. Eine fragmentierte wäre wohl auch eine ehrlichere Geschichte, die keinesfalls nur an den Rändern zerfasert, sondern immer schon auf allen Ebenen. Sie wäre vielleicht auch gefeit davor, zur Legitimationsgeschichte für immer neue, immer wieder exkludierende Projekte zu werden, ob auf der nationalen oder – wie neuerdings häufiger – auf der internationalen Ebene. Ein Verständnis von Geschichte bleibt allerdings strategisch bedeutsam. Aus dem Blick auf die Vergangenheit können Vorstellungen vom Möglichen und von Veränderung entwickelt werden. Ein kritisches Erinnern ist ein notwendiges Instrument, um verhärtete Perspektiven zu verschieben und zu „verlernen“.30 Gefordert ist freilich eine Geschichte, die ihr Potential zur Inklusion zur Geltung bringt und diese nicht gleichzeitig wieder mit neuen Ausgrenzungen erkauft. Dies erfordert auch Museen, die sich zu inklusiven Einrichtungen wandeln, die die Pluralität der heutigen Gesellschaft widerspiegeln. Sie werden damit in Zukunft weniger Orte eines – normativ-homogen gedachten – „kollektiven Gedächtnisses“ als pluraler und heterogener „collected memories“31 sein, die es auszutauschen, zu teilen und anzuerkennen gilt.

onalismus für die Migrationsforschung“, in: Dietrich Thränhardt/Uwe Hunger (Hg.): Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat (= Leviathan, Sonderheft 22/2003), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2003, S. 90–116; Ders.: „Transnationalism or Assimilation“, in: Journal of Social Science Education 1 (2005), S. 14–30. 30 Castro Varela, María do Mar: „Interkulturelle Kompetenz, Integration und Ausgrenzung“, in: Matthias Otten/Alexander Scheitza/Andrea Cynrim (Hg.): Interkulturelle Kompetenz im Wandel, Bd. 1: Grundlegungen, Konzepte und Diskurse, Frankfurt a.M.: LIT 2007, S. 155–169, hier S. 167. 31 Barricelli, Michele: „Collected memories statt kollektives Gedächtnis. Zeitgeschichte in der Migrationsgesellschaft“, in: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2013, S. 89– 118.

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L ITERATUR [o. Verf.]: „Von ‚Ausländerinnen, Personen mit Migrationshintergrund‘ und anderen Bezeichnungen. Martin Reisigl im Gespräch“, in: Antonio Dika/ Barbara Jeitler/Elke Krasny (Hg.): Balkanmeile. 24 Stunden Ottakringer Strasse. Lokale Identitäten und globale Transformationsprozesse. Ein Reiseführer aus Wien, Wien: Turia + Kant 2011, S. 118–129. Barricelli, Michele: „Collected memories statt kollektives Gedächtnis. Zeitgeschichte in der Migrationsgesellschaft“, in: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2013, S. 89–118. Bauer, Joachim: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld: transcript 2009. Bayer, Natalie/Engl, Andrea/ Hess, Sabine/Moser, Johannes (Hg.): Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus. Katalog zur Ausstellung vom 9.7.–15.9.2009, München: Schreiber 2009. Bayer, Natalie/Engl, Andrea/ Hess, Sabine/Moser, Johannes (Hg.): „Migration als Thema musealer Erinnerungsarbeit“, in: kulturen 1 (2012), S. 33–41. Bayer, Natalie/Engl, Andrea/ Hess, Sabine/Moser, Johannes (Hg.): Zur Notwendigkeit neuer Bilderproduktion der Migration im Museum, http://www.tokki. cc/files/nataliebayer2012notwendigkeit-neuer-bilderproduktionen.pdf vom 25.4.2012. Bayer, Natalie/Terkessidis, Mark: „Zombia Attack! Ein Plädoyer für mehr Phantasie in der Debatte über Museum und Migration“, in: Kulturpolitische Mitteilungen 139/IV (2012), S. 52–54. Bojadžijev, Manuela/Karakayali, Serhat: „Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode“, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld: transcript 2007, S. 203–209. Bommes, Michael: „Der Mythos des transnationalen Raumes. Oder: Worin besteht die Herausforderung des Transnationalismus für die Migrationsforschung“, in: Dietrich Thränhardt/Uwe Hunger (Hg.): Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat (= Leviathan, Sonderheft 22/2003), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2003, S. 90–116. Bommes, Michael: „Transnationalism or Assimilation“, in: Journal of Social Science Education 1 (2005), S. 14–30. Castro Varela, María do Mar: „Interkulturelle Kompetenz, Integration und Ausgrenzung“, in: Matthias Otten/Alexander Scheitza/Andrea Cynrim (Hg.): In-

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Migration als Herausforderung nationaler Geschichtsmuseen R EGINA W ONISCH

Im folgenden Beitrag soll gezeigt werden, dass erst mit den bürgerlichen Geschichtsmuseen des 19. Jahrhunderts die Verengung auf die nationale Perspektive erfolgte. Die früheren fürstlichen Kunst- und Wunderkammern waren dagegen nach universalistischen Sammelprinzipien angelegt worden, sollte sich doch der gesamte Macrokosmos darin spiegeln. Durch die zunehmende Globalisierung und die aktuellen Fluchtbewegungen wird nun von unterschiedlichen Protagonist/innen die Musealisierung der Migrationsgeschichten eingefordert. Dies stellt die nationalen Geschichtsmuseen zwar vor die Anforderung, neue Objektbestände und Erzählungen zu integrieren, lässt die Institution an sich allerdings meist unangetastet. Die eigentliche Herausforderung besteht jedoch darin, den Blick nicht auf das „Andere“, sondern auf das „Eigene“, die Verfasstheit der Geschichtsmuseen selbst zu richten. Das würde bedeuten, nicht nur die nationale, sondern auch die eurozentristische Perspektive, wie sie sich in der Abspaltung der ethnologischen Museen manifestiert, in Frage zu stellen, um den Blick gleichsam erneut auf die globalen Verflechtungen richten zu können. Die Entstehung des modernen bürgerlichen Museums im 19. Jahrhundert ist untrennbar mit dem Konzept des Nationalismus und Eurozentrismus verbunden. Im Unterschied dazu sind die fürstlichen Kunst- und Wunderkammern gleichsam unter einer globalen Perspektive angelegt worden. Ging es hier doch um nichts Geringeres als die Welt: sie sollten als Microcosmos den Macrocosmos widerspiegeln. Auch wenn die Kunst- und Wunderkammern mit ihren Naturalien, Ar-

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tefakten und Mirabilien aus heutiger Sicht skurril erscheinen mögen, das ihnen zugrundeliegende Ordnungsprinzip war die Analogie.1 In der Französischen Revolution eignete sich das Bürgertum nicht nur feudale und klerikale Kunst- und Kulturgüter an, es definierte sie um. Die als Sammelsurien abgewerteten feudalen Sammlungen wurden nach Sachgebieten getrennt und einer rationalen wissenschaftlichen Ordnung unterworfen – das entscheidende Ordnungskriterium war nun nicht mehr die Analogie, sondern die Differenz. In den Wunderkammern wurden außergewöhnliche Erscheinungsformen als besondere Spielarten der Natur geschätzt, nun wurde das Unbekannte als Abweichung von der Norm, als das „Andere“ klassifiziert. Das Fremde und Exotische unterlag allerdings unterschiedlichen Wertungen.2 Objekte aus Kunst und Natur wurden – dem Paradigma der Aufklärung folgend – meist nach enzyklopädischen Kriterien gesammelt, sodass Exemplare aus aller Welt die Bedeutung der nationalen Museen steigerten. Die Grande Galerie im Pariser Louvre sollte zur Weltgalerie werden und wurde doch als Gedächtnisort der Nation verstanden. Die Idee einer unantastbaren europäischen Gemeinschaft der Kunst und Wissenschaft, die keinem Staat das Recht auf Aneignung von Kunstdenkmälern anderer Staatsgebiete geben sollte, wurde hingegen als kosmopolitisch abgelehnt.3 So ist es ganz selbstverständlich, dass im Kunsthistorischen Museum Wien Werke der Italienischen Schule, der Niederländer etc. oder im Naturhistorischen Museum Wien Naturerscheinungen aus allen Erdteilen zu sehen sind. Im Unterschied dazu verengte sich der Blick in den Geschichtsmuseen, der Bezugspunkt war nicht mehr die Welt, sondern die Nation. Aus dem nationalisierten Erbe sollte ein nationales werden. Auf diese Weise haben insbesondere Geschichtsmuseen maßgeblich zur Konstruktion von Wir-Identitäten beigetragen, wobei die eigene Identität immer in Abgrenzung zu einem wie auch immer definierten „Anderen“ erfolgte. Mit dieser Kategorisierung geht vor allem die

1

Vgl. Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800 (= Berliner Schriften zur Museumskunde 10), Opladen: VS Verlag 1994.

2

Der Text beruht zum Teil auf Wonisch, Regina: „Museum und Migration. Einleitung“, in: Regina Wonisch/Thomas Hübel (Hg.): Migration und Museum. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld: transcript 2012, S. 9–32.

3

Pommier, Eduard: „Der Louvre als Ruhestätte der Kunst der Welt“, in: Gottfried Fliedl (Hg.): Die Erfindung des Museums. Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution, Wien: Turia+Kant 1996 (= Museum zum Quadrat 6), S. 7–25, hier S. 13 ff.

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Neutralisierung des „Eigenen“ einher. Ethnizität haftet daher stets den „Anderen“ an. Die „Anderen“ waren jedoch nicht nur andere Nationalstaaten, die „Anderen“ waren vor allem jene, die quasi keine Geschichte hatten: außereuropäische Kulturen – Gesellschaften, deren Geschichte bis heute nicht in den europäischen Geschichtsmuseen verankert ist. In den Nationalmuseen kommen sie nicht vor und in den Völkerkundemuseen werden sie kulturalisiert. Mögen die ethnologischen Museen auch neuerdings Weltmuseum, Museum fünf Kontinente oder Humboldt Forum heißen, hier geht es, selbst wenn die Entwicklungslinien bis in die Gegenwart gezogen werden, in erster Linie um Kultur, vielleicht auch Kunst, seitdem der Terminus „Primitive Kunst“ eingeführt wurde, aber kaum um Geschichte, Politik oder Ökonomie. Die Umbenennungen, die darauf abzielten, die Begriffe Völkerkunde und Ethnographie aus den Namen zu eliminieren, machen vor allem eines deutlich: In dieser Welt der fünf Kontinente gibt es immer eine Leerstelle – Europa.4 Es wurde also ein externer Betrachterstandpunkt konstruiert, von dem aus die übrige Welt nach Kulturen und Kulturkreisen geordnet wurde. Doch wie Christian Kravagna formuliert, jenseits des Kolonialismus macht es keinen Sinn, Menschen nach Kulturen und Kulturkreisen zu ordnen. Kolonialismus und Nationalismus entspringen derselben Ideologie, können gewissermaßen als zwei Seiten einer Medaille betrachtet werden.5 Aber auch die Identifikation mit dem vermeintlich Eigenen, mit der abstrakten Idee des Nationalstaates, war nicht für alle Bevölkerungsgruppen selbstverständlich – sie musste mittels verbindender Repräsentationsformen und Rituale erst gelernt werden. Daher war das Bürgertum im Unterschied zu den adeligen Machthaber/innen, die auf die Exklusivität ihrer Sammlungen setzten, an der Öffnung der Museen für ein breites Publikum interessiert. Denn es galt, möglichst breite Bevölkerungsschichten in das Projekt des Nationbuilding, das auf eine Homogenisierung der Bevölkerung vor allem über die Geschichte, Kultur und Sprache abzielte, einzubinden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Europa basierend auf dem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ nach dem Nationalitätenprinzip geordnet. Doch schon damals stimmten die Staatsgrenzen nicht mit den sprachlichen, kulturellen, ökonomischen Einflusssphären überein. Im Unterschied zu den übrigen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie gab es jedoch für die deutschsprachige Bevöl-

4

Christian Kravagna: „Vom ethnologischen Museum zum unmöglichen Kolonialmuseum“, in: Katrin Audehm et al (Hg.): Der Preis der Wissenschaft (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 1/2015), S. 95–100, hier S. 95.

5

C. Kravagna: „Vom ethnologischen Museum zum unmöglichen Kolonialmuseum“, S. 97.

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kerung zwei Staatsgebilde, die Republik Deutschösterreich und Deutschland, als „Identifikationsangebote“. Auf diesen verspäteten und erschwerten Prozess der Nationswerdung ist es zurückzuführen, dass es in Österreich kein Nationalmuseum im eigentlichen Sinn gibt. An der „Lebensfähigkeit“ des Staates wurde zwar zunächst gezweifelt, aber an der Vorstellung einer vermeintlich homogenen Sprach- und Kulturgemeinschaft wurde festgehalten. Die Verfestigung dieser Ideologie insbesondere durch den Austrofaschismus und Nationalsozialismus ließ die in den 1960er Jahren angeworbenen Arbeitskräfte aus Jugoslawien und der Türkei schließlich als „Fremdkörper“ erscheinen. Die nationalen Geschichtsmuseen suggerierten allerdings nur, der gesamten Gesellschaft verpflichtet zu sein, es ging jedoch vielmehr um die Selbstvergewisserung der bürgerlichen Eliten. Aufgrund dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurden die historischen Museen im Zuge der Demokratisierungsbewegungen der 1970er Jahre zum Stein des Anstoßes. Bis dahin vernachlässigte historische Perspektiven und gesellschaftliche Gruppen – wie die Arbeiterschaft und Frauen – wurden so wie neuerdings Migrant/innen meist von außen, von Selbstorganisationen und NGOs, in die Geschichtsmuseen hinein reklamiert. Doch mit welchem Effekt? Arbeiter/innen- und Frauengeschichte haben schon längst Eingang in den Ausstellungsbetrieb gefunden, doch am musealen Repräsentationssystem hat sich meist nichts Grundlegendes verändert. Denn die eigentliche Forderung war, die klassischen Differenzkategorien der Moderne „Klasse, Geschlecht und Rasse“ – in allen Museums- und Ausstellungskonzepten zu berücksichtigen. Doch sobald marginalisierte Themen im MainstreamAusstellungsbetrieb angekommen sind, verlieren sie – wie die Museumsgeschichte bislang zeigte – an Brisanz. Denn es gehört zu den Strategien hegemonialer Institutionen, Kritik zu integrieren, ohne dabei die zugrundeliegenden Machtverhältnisse aufzubrechen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, worin besteht die eigentliche Herausforderung des Themas Migration für die nationalen Geschichtsmuseen?

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Eine Herausforderung für die nationalen Geschichtsmuseen besteht darin, dass vielfach die Quellenbasis insbesondere für die Visualisierung neuerer Migrationsbewegungen fehlt. Das Anlegen oder Vertiefen dieser Sammlungen geht allerdings nicht ohne die Mitwirkung von Migrant/innen beziehungsweise Mig-

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rant/innenorganisationen. Dem Engagement von Vereinen und Einzelpersonen ist es in der Regel zu verdanken, dass überhaupt Dokumente und Materialien vorliegen, die bisher nur in Ausnahmefällen Eingang in nationale oder kommunale Gedächtnisinstitutionen gefunden haben.6 Das Wien Museum hatte zwar mit „Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration“ (2004) eine vielbeachtete Migrationsausstellung mitgetragen, aber an der Übernahme der angebotenen Ausstellungsobjekte ein relativ geringes Interesse gezeigt. Ein Grund dafür mag darin gelegen haben, dass nur „Flachware“ und keine dreidimensionalen Objekte ausgestellt waren. Doch gerade bei der Geschichte der Migration sind Papiere wie Aufenthaltsgenehmigung, Arbeitsbewilligung, Staatsbürgerschaftsurkunde etc. von besonderer Bedeutung.7 Nicht umsonst werden Migrant/innen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Frankreich als „SansPapiers“ bezeichnet. Wie passend der Begriff ist, manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass er auch in anderen Ländern aufgegriffen wurde – so heißt in Österreich ein Fußballverein „Sans Papier – Die Bunten“. Das Ausstellungsteam versuchte dem kulturalisierenden Blick, wie er für den aktuellen Migrationsdiskurs der Mehrheitsgesellschaft auf die Zugewanderten bestimmend ist, durch den Verzicht auf dreidimensionale Objekte zu entgehen. Aber auch die Selbstethnisierung von Migrant/innen beförderte eine Unzahl an traditioneller Kleidung, Musikinstrumenten, religiösen Objekten ins Scheinwerferlicht der Vitrinen. Denn um als ein Objekt einer Migrationsgeschichte erkennbar zu sein, muss es als different wahrgenommen werden und bestätigt auf diese Weise wieder die Alterität des migrantischen Lebenszusammenhangs. Im Rahmen des Projekts „Migration sammeln für das Wien Museum“ (2015/2016) wurde auf Initiative der Arbeitsgruppe „Archiv der Migration“ und dank der finanziellen Unterstützung der Magistratsabteilung 17 – Diversität und Integration der Objektbestand des Wien Museums zum Thema Migration vor allem um die Arbeitsmigration der 1960er Jahre erweitert. Die Herausforderung derartiger Sammelprojekte, die auch in anderen Museen durchgeführt wurden, besteht vor allem darin, dass die Zielgruppen der Projekte nicht unbedingt mit der Institution Museum vertraut sind und daher die Beziehungsarbeit einen wesentlichen Teil der Arbeit ausmacht. Dafür haben die Museumskurator/innen in der Regel kaum Zeit. Die Sammeltätigkeit auszulagern bedeutet allerdings, dass die Kurator/innen nicht in Kontakt mit den jeweiligen Communities kommen.

6

Akkılıç, Arif et al.: „Der überfällige Blick auf die Geschichte der Gastarbajteri. Zum Projekt Migration sammeln“, in: Akkılıç Arif et al. (Hg.): Schere – Topf – Papier. Objekte zur Migrationsgeschichte, Wien: Mandelbaum 2016, S. 18–28, hier S. 22.

7

Ebd., S. 26.

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Auf die Funktion von Materiallieferant/innen reduziert werden die Subjekte der Migration damit letztlich wieder zu Objekten gemacht. Wollen die Kurator/innen jedoch tatsächlich in Austausch mit den Migrant/innen treten, müssten sie bereit sein, sich möglicherweise auf einen anderen Zugang zum materiellen Erbe und zur Institution Museum einzulassen. Denn das Museum ist eine genuin westeuropäische Institution und nicht alle Gesellschaften haben diesen spezifischen Umgang mit materiellen Zeugnissen gleichsam gelernt. Daher wäre das Projektteam einschließlich der Verfasserin dieses Beitrags auch an einem intensiveren Austausch mit dem Wien Museum interessiert gewesen, als es im Rahmen des Projekts möglich war. Denn das Hinzufügen von Objektbeständen bringt zwar neue Perspektiven ein und ermöglicht weitere Erzählungen, öffnet aber nicht unbedingt die Institution. Dass diese grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Institution Museum nicht geführt wurde und wird, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich die Geschichte zu wiederholen scheint: Nachdem sich viele Museen insbesondere an den Geschichten der Arbeitsmigration der 1960er Jahre bereits abgearbeitet haben (mittlerweile hat es auch in Österreich eine Reihe von Ausstellungen zum Thema Migration gegeben), ist das medienwirksame Thema der Flucht auf den Plan getreten. Mit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 wurde es zu einem „Dauerbrenner“ nicht nur in den Massenmedien und der politischen Auseinandersetzung. Die unterschiedlichen Positionen zwischen „Willkommenskultur“ und der Abschottung Europas polarisierte die Bevölkerungen vieler europäischer Staaten. Fluchtrouten und Mittelmeerstrände werden nach zurückgelassenen Gegenständen der Geflüchteten abgesucht. Was die sogenannte Müllarchäologie zutage fördert, wie Schwimmwesten, Schlauchboote, Kochutensilien und andere Bedarfsgegenstände, hat im Unterschied zum Thema Migration ziemlich rasch Eingang in Museen und Ausstellungen gefunden. Denn im Unterschied zu Migrationsbewegungen, die über einen längeren Zeitraum kontinuierlich stattfinden, hatte diese Fluchtbewegung gleichsam Ereignischarakter. Im Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich befindet sich im Bereich, der dem Thema Flucht und Migration gewidmet ist, ein 2015 in Nickelsdorf zurückgelassener Kinderwagen zusammen mit folgenden Objekten: Griechische Babynahrung, ein serbisches Busticket, eine kroatische Milchpackung, ungarisches Trinkwasser und die Hülle einer österreichischen SIM-Karte. Diese Objekte dokumentieren laut Objekttext den Fluchtweg einer Familie durch Südosteuropa. Aber sagen die Objekte tatsächlich etwas über die Flucht und ihre Strapazen, die Ängste und Hoffnungen aus? Vor allem lenken sie – ähnlich wie das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven – den Blick auf den Übergang,

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den Zwischenraum der Ausgangssituation und einem vielleicht neuen Lebensabschnitt. Im Rahmen der Wienwoche 2018 fanden (Flucht-)Geschichten des Jahres 2015 Eingang in die Dauerausstellung des Volkskundemuseums Wien. Unter dem Titel „Die Küsten Österreichs“ haben die Historiker und Ausstellungsmacher Niko Wahl und Alexander Martos gemeinsam mit Personen im Asylverfahren im Rahmen des Projekts Collegium Irregulare „Museum auf der Flucht“ in die bestehende Schausammlung interveniert und Fluchtgeschichten eingearbeitet, sodass nun neben Kleiderschränken aus Tiroler Bauernhäusern beispielsweise eine gepackte Reisetasche, die auf der Flucht zurückgelassen werden musste, zu sehen ist. Es waren die Kuratoren Niko Wahl und Alexander Martos, die sich auf die Suche nach den Objekten in Griechenland gemacht haben. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Geflüchteten tatsächlich mit zerschlissenen Schlauchbooten, Schwimmwesten, Müll, Wohncontainern, Hilfspaketen im Museum repräsentiert sein wollen. Die Ausnahmesituation der Flucht ist sicherlich ein prägendes Ereignis in ihrem Leben, doch damit bleiben die Menschen immer auf ihren Flüchtlingsstatus fixiert, egal, woher sie kommen, welchen sozialen, ökonomischen oder politischen Status sie haben. Auch wenn es nicht die Intention der Projekte sein mag – auf diese Weise können die geflüchteten Menschen gar nicht ankommen, bleiben immer auf Distanz. Im Weltmuseum Wien wird im Raum „Welt in Bewegung“, der dem Thema Migration gewidmet ist, auch auf die Fluchtbewegungen über das Mittelmeer Bezug genommen, allerdings mit einem Kunstwerk. Die Künstlerin Annalisa Cannito verweist in ihrer Arbeit „Lifesaver“ mit einem goldfarbenen Rettungsring aus Beton darauf, dass sich die Hoffnung der Flüchtlinge auf ein besseres und sicheres Leben oftmals nicht erfüllt – der Rettungsring Europa wird – so heißt es im Objekttext – zur tödlichen Falle. Brisante Themen einer künstlerischen Bearbeitung zu überantworten ist eine beliebte Strategie, nicht nur im Ausstellungswesen. In dieser Installation wird zwar mit dem Rettungsring dasselbe Symbol für das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer aufgriffen, doch ästhetisch gewendet. Die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 hat tatsächlich viel in Bewegung gesetzt. Der Nationalismus, der in Europa eine neue Renaissance erfahren hatte, wurde verstärkt. Die Europäische Union ist in der Frage des Umgangs mit den Flüchtlingen gespalten, weitgehende Einigkeit besteht jedoch darin, die Außengrenzen zu schützen, was im Klartext die Abschottung Europas bedeutet. Doch erneut wird in den Ausstellungen vor allem der Blick auf die „Anderen“, die Flüchtlinge, gerichtet und nicht auf jene gesamtgesellschaftlichen Entwicklun-

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gen in Österreich und in Europa, die durch die Fluchtbewegungen befördert wurden. Der deutsche Bundespräsident Walter Steinmeier formulierte bei der Eröffnung der erneuerten Dauerausstellung im Haus der Geschichte in Bonn: „Deutsche Geschichte ist und war immer auch europäische Geschichte.“ Diese Darstellung erfolgt – laut Medienberichten – unter anderem mithilfe eines hölzernen Flüchtlingsboots, das Menschen von Afrika nach Europa brachte, bevor es 2014 beschlagnahmt wurde. Es ist dieser Blick von außen, der die Ausstellung „Unsere Geschichte. Deutschland seit 1945“ prägt und zeigt, wie das Weltgeschehen der vergangenen Jahrzehnte das Leben in Deutschland verändert hat.8 Dies kann als Indiz für eine gewisse Sensibilisierung dafür gewertet werden, dass der nationale Blick vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung eine Erweiterung erfahren muss, wenngleich die Rhetorik nach wie vor die gleiche ist, wie der Titel „Unsere Geschichte“ zeigt.

B LICKUMKEHR Das Einbeziehen von Migrationsgeschichten in die nationalen Geschichtsmuseen bedeutet nicht per se eine Strategie der Ermächtigung, die immer auch mit der Forderung nach Sichtbarkeit und Repräsentanz einhergeht. Denn so wichtig Frauenausstellungen oder Migrationsausstellungen sind, um vernachlässigte Perspektiven in den Blickpunkt zu rücken, ausgewiesen als Sonderausstellungen befördern sie immer einen Othering-Prozess. Dazu kommt, dass im Migrationskontext der emanzipatorische Ansatz des Sichtbarmachens eine neue Dimension bekommt. Das Problem, unter dem Zugewanderte vielfach zu leiden haben, ist nicht ihr „Migrationshintergrund“, sondern ihr „Migrationsvordergrund“9. Menschen mit schwarzer Hautfarbe werden in Österreich immer als fremd wahrgenommen werden. Vielen Migrant/innen geht es daher nicht um die Repräsentation ihrer spezifischen Geschichte, ihr Anliegen ist es vielmehr, nicht permanent im Migrationskontext verortet zu werden. Denn die Anerkennung, die sie sich

8

Neue Ausstellung im Haus der Geschichte, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.12.2017, https://www.sueddeutsche.de/news/kultur/museen-neue-dauerausstellung-im-haus-dergeschichte-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-171211-99-236325.

9

Sterkl, Maria: „Vom Leben mit ‚Migrationsvordergrund‘“, in: Der Standard vom 10.6.2010, https://derstandard.at/1276043512025/Bilanz-Vom-Leben-mit-Migrationsvordergrund.

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letztlich wünschen, ist als gleichberechtigte Staatsbürger/innen wahrgenommen zu werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit die Einbeziehung von Migrationsgeschichten in die musealen Repräsentationen tatsächlich darauf abzielt, der ganzen Gesellschaft Rechnung zu tragen. Oder geht es bei dem Bemühen, den Zugewanderten „ihren Platz“ in den nationalen Museen einzuräumen, vielmehr darum, sie mit einer genuin westeuropäischen Kultur- und Wissensform vertraut zu machen. Denn die Museen können ihre Funktion als Erinnerungssorte nur dann erfüllen, wenn sie in den sie umgebenden sozialen Kontexten verankert sind. Gedächtnisbeziehungen müssen immer wieder aufs Neue hergestellt werden, um einen lebendigen gesellschaftlichen Zusammenhang aufrecht zu erhalten. Die klassischen nationalen Gedächtnisorte und -rituale sind für die meisten Zugewanderten jedoch nicht anschlussfähig: Sie haben entweder eine andere Perspektive auf transnationale historische Ereignisse wie etwa den Ersten und Zweiten Weltkrieg, den Kolonialismus etc. oder gar keinen Bezug zur Vergangenheit der Mehrheitsgesellschaft. Dagegen bringen die Zugewanderten historische Erfahrungen mit, für die es keine öffentlichen Erinnerungsräume gibt. Die Öffnung der nationalen Museen für neue Themen wäre demnach nicht ein Zugeständnis der Institution Museum, sondern eine unabdingbare Notwendigkeit aufgrund der zunehmenden Globalisierung der Städte. So ist es vielleicht auch kein Zufall, dass auch ethnologische Museen oder Weltkulturmuseen, wie sie neuerdings meist heißen, das Thema Migration für sich entdecken. Sie begreifen sich vielfach als Vermittlungsinstitutionen zwischen den Welten. Im Weltmuseum Wien, das 2017 eine Neukonzeption erfahren hat, widmet sich ein Raum unter dem Titel „Welt in Bewegung“ dem Thema Migration. Doch was bedeutet es, wenn das Thema Migration Eingang in die ethnologischen Museen findet, vor dem Hintergrund, dass es sich bei Migrant/innen per se um die „Anderen“ handelt. Denn manche Menschen werden nie als Migrant/innen wahrgenommen, während es andere – aufgrund ihrer äußeren Erscheinung oder ihres sozialen Status – immer bleiben, egal, wie lange sie schon an einem Ort leben oder welche Staatsbürgerschaft sie haben. Der Begriff Migration verweist nicht auf alle Personen, die ihren Lebensmittelpunkt in ein anderes Land verlagert haben, sondern auf jene Menschen, deren Status wirtschaftlich oder politisch prekär ist. Darin unterscheiden sie sich von mobilen Menschen wie etwa Künstler/innen, Wissenschaftler/innen, Spitzensportler/innen

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oder Manager/innen, die meist willkommen sind und bei denen Auslandserfahrungen meist positiv bewertet wird.10 Dazu kommt, dass es in den ethnologischen Museen in der Regel nur um außereuropäische Kulturen geht. Hier gibt es eine Übereinstimmung mit dem breiteren öffentlichen Migrationsdiskurs, wonach aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen und Probleme meist auf kulturelle Differenzen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zurückgeführt und soziale, ökonomische und politische Parameter vielfach außer Acht gelassen werden. So heißt es im Ausstellungstext des Raumes „Welt in Bewegung“ im Wiener Weltmuseum: „Unzählige Gründe treiben Menschen dazu, ihre Sachen zu packen und ihr Land zu verlassen. Neben Menschen wandern auch Objekte, Erfindungen, Ideen und Ansichten. So entstehen Begegnungen, Austausch, globale Verflechtungen und kulturelle Vielfalt. Diese Vielfalt macht Wien aus und prägt den Alltag. Heute werden in der Stadt über 100 Sprachen gesprochen.“ Auch wenn hier auf globale Verflechtungen verwiesen wird, geht es dabei nicht um ökonomische und politische Zusammenhänge, sondern um kulturelle Differenzen. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Befund, dass in gegenwärtigen Migrationsausstellungen ähnliche Repräsentationsmodi wie bei ethnologischen Ausstellungen zum Tragen kommen, nicht ganz von der Hand weisen. Als Sonderausstellung oder punktuelle Hinzufügung kann das Thema Migration sowie andere Perspektiven in die musealen Repräsentationen integriert werden, ohne dass sich die jeweiligen Institutionen grundlegend verändern müssten. Das Thema Migration stellt nur dann eine Herausforderung für nationale Museen dar, wenn tatsächlich eine Blickumkehr erfolgt. Das heißt, wenn die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf das „Andere“, auf das Leben und die Kultur von Migrant/innen, sondern auf die in Veränderung befindliche Migrationsgesellschaft gerichtet wird, also darauf, wie sich Politik, Wirtschaft und Kultur insgesamt durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Folge von Migrationsbewegungen und Globalisierungsprozessen wandeln.11 Bleibt jedoch das „Zentrum“ der Betrachterstandpunkt, von dem aus der Blick auf die Migrant/innen gerichtet wird, dann haftet dem Phänomen Migration immer etwas Randständiges an. Doch wie bei der Repräsentation von Arbeiter/innen- oder Frauengeschichte geht es auch bei der Migrationsgeschichte nicht um ein Randthema, sondern um eine zentrale Dimension globalisierter Gesellschaften. Daher versuchten Initiativen wie das „Projekt Migration“ in Köln

10 Poehls, Kerstin: „Zeigewerke des Zeitgeistes? Migration, ein ‚boundary object‘ im Museum“, in: Zeitschrift für Volkskunde 2 (2010), S. 225–246, hier S. 229. 11 Ebd., S. 226.

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(2005), in der Ausstellung den nationalen Blick zurückzunehmen und die Perspektive der Migration – nicht der Migrant/innen – einzunehmen, um Migration als eine die gesamte Gesellschaft transformierende Kraft sichtbar zu machen.12 Im Zuge von Globalisierungs- und Migrationsprozessen entstehen grenzübergreifende Sozial- und Wirtschaftsräume, die nicht-territorial definierte Identitäten befördern. Sie bringen ein Neben- und Ineinander vielfältiger Beziehungen, Vorstellungen und Praktiken hervor, die die bestehenden sozialen und politischen Ordnungen durchdringen und weit über den Rahmen nationaler Narrative hinaus weisen. Nach Sabine Strasser stellt sich die Frage, ob Ansprüche auf kulturelle Anerkennung und politische Partizipation von neuen Minderheiten in den nationalen Kontexten der Aufenthaltsstaaten geformt werden oder transnationale Räume neue politische Felder kreieren, die den Nationalstaat mit seinen Institutionen herausfordern.13

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Das Thema Migration trifft jedenfalls nicht nur in die Mitte der Gesellschaft, es trifft auch den Kern der Institution Museum, das maßgeblich zum Denken in Differenzen beigetragen hat. Schon in der feministischen Museumsdebatte der 1980er Jahren wurde die Position vertreten, dass die eigentliche Brisanz der Museumskritik nicht im Einklagen marginalisierter Bevölkerungsgruppen, sondern in der Analyse der vorherrschenden Repräsentationspraktiken liegt. Denn das Bedrohliche ist eigentlich nicht die Differenz, sondern es sind jene Phänomene, bei denen die Grenzen nicht mehr eindeutig zu ziehen sind. Dann wären wir nämlich gezwungen, die sichere Distanz externer Beobachter/innen aufzugeben.14 Das würde aber auch bedeuten, die Trennung nationaler Geschichtsmuseen von ethnologischen Museen durchlässiger zu machen. Die nationalen Geschichtsmuseen müssten gleichsam den Blick auf transnationale und globale Prozesse erweitern und die ethnologischen Museen den Blick

12 Eryılmaz, Ataç et al: „Vorwort“, in: Kölnischer Kunstverein et al. (Hg.): Projekt Migration, Köln: DuMont 2005, S. 14–25, hier S. 17 f. 13 Strasser, Sabine: „Beyond Belonging. Prozesse translokaler Beziehungen und nationaler Politik“, in: Senol Akkilic et. al (Hg.): Aspekte der österreichischen Migrationsgeschichte, Wien: Edition Atelier 2019, S. 171–187, hier S. 171. 14 Bhabha, Homi: „Globale Ängste“, in: Peter Weibel/Slavoj Žižek (Hg.): Inklusion : Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration, Wien: Passagen 1997, S. 19–44, hier S. 31 f.

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umkehren – und auf die Leerstelle Europa richten. Denn es geht weniger um die Auseinandersetzung mit Lebensweisen fremder Kulturen oder Lebenswelten, sondern um Einblicke in koloniale Herrschaftsbeziehungen in der Vergangenheit und Ausblicke auf deren Spuren in eine von Globalisierungsprozessen gekennzeichnete Gegenwart.15 Damit würde nicht die Differenz zwischen Österreich und dem „Rest der Welt“, sondern würden die miteinander verflochtenen Geschichten in den Mittelpunkt des Interesses rücken. In Wien hätte eine Chance bestanden, die Grenzen zwischen diesen beiden Perspektiven aufzubrechen, da das Weltmuseum etwa zur selben Zeit neukonzipiert wurde, als die Debatte um die Neugründung eines Hauses der Geschichte in unmittelbarer Nachbarschaft neu belebt wurde. Als die Standortfrage des Hauses der Geschichte Österreich (HdGÖ) in der Hofburg diskutiert wurde, sprach Oliver Rathkolb, der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats des HdGÖ, Synergieeffekte16 mit dem Weltmuseum an. Dabei ging es jedoch vor allem darum, den Museumsstandort zu argumentieren, die in Aussicht gestellte Kooperation bezog sich auf gemeinsame Ausstellungsprojekte. In der Umsetzungsphase des Hauses der Geschichte Österreich gab es zwar Überlegungen, zumindest die räumliche Abgrenzung zwischen den beiden Institutionen für die Besucher/innen durchlässiger zu machen – aber ohne Erfolg. Vor allem aufgrund des enormen Zeitdrucks in der Gründungsphase des HdGÖ waren weitergehende konzeptionelle Vorstöße nicht möglich. Dafür hätte es aber auch einer visionäreren Kulturund Wissenschaftspolitik bedurft. In der ethnologischen Museumsdebatte gibt es bereits Überlegungen, die Völkerkundemuseen über die Umbenennungen hinaus grundsätzlich neu zu denken. Dabei wird für eine „Hybridisierung“17 des ethnologischen Museums in Richtung eines kulturgeschichtlichen Museums plädiert, um politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Aspekten nicht-europäischer Gesellschaften

15 Kaschuba, Wolfgang: „Kolonialismus im Humboldt Forum?“ in: Berliner Zeitung vom

5.1.2014,

https://www.euroethno.huberlin.de/de/institut/personen/kaschuba/

literatur/wk-berlinerzeitung-kolonalismus-imhumboldt-forum.pdf. 16 Haus der Geschichte in Wien wird „sicher kein braves Nationalmuseum“, https://www.vienna.at/haus-der-geschichte-in-wien-wird-sicher-kein-braves-national museum/4217448 vom 28.1.2015. 17 Groschwitz, Helmut: „Und was ist mit Europa? Zur Überwindung der Grenzen zwischen ‚Europa‘ und ‚Außer-Europa‘ in den ethnologischen Sammlungen Berlins“, in: Michael Kraus/Karoline Noack (Hg.): Quo vadis, Völkerkundemuseum? Aktuelle Debatten zu ethnologischen Sammlungen in Museen und Universitäten, Bielefeld: transcript 2015, S. 205–226, hier S. 217.

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G ESCHICHTSMUSEEN

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gleichermaßen Rechnung tragen zu können. Die Dekolonisierung ethnologischer Sammlungen und Museen impliziert also die Hinterfragung der disziplinären Grenzen zwischen Ethnologie, Kulturgeschichte, Geschichte und Kunst und die damit verbundenen Wissensordnungen.18 Von einer derartigen Entwicklung könnten die nationalen Geschichtsmuseen nicht unberührt bleiben. Auch wenn der Nationalismus in weiten Teilen Europas derzeit eine neue Renaissance erfährt, ist das eurozentristische Weltbild längst überholt und die nationale Perspektive als Konstrukt in Frage gestellt worden. In beiden Institutionen könnten Themen wie Rassismus, Migration, Vertreibung und Flucht, die aus dem ökonomischen, politischen und sozialen Ungleichgewicht der Weltteile resultieren, aus einer historischen und einer globalen Perspektive neu betrachtet werden. Die zunehmende Globalisierung kann nun zum Anlass genommen werden, die nationalen Narrative zugunsten transnationaler und transkultureller Erzählungen in den Museen zu verschieben – aber diese Kritik ist eigentlich nicht neu. Wollen Geschichtsmuseen nicht zu Relikten einer überkommenen nationalen Ordnung werden, sondern aktiv zur Gestaltung gesellschaftlicher Gedächtnisbeziehungen beitragen, dann müssten sie sich als Orte konkurrierender Erinnerungen und Gedächtnispolitiken verstehen. Dafür bedarf es allerdings sozialer Aushandlungsprozesse, die auch die Bedingungen der Herstellung musealer Repräsentationen mitreflektieren. Die Beteiligung von Zugewanderten an der Erinnerungspolitik kann aber nicht auf Einladung erfolgen, Teilhabe muss eingefordert und erkämpft werden, nur dann kann sie auch institutionelle Praktiken in Frage stellen und vielleicht zu einer Veränderung der musealen Narrationen und Repräsentationspraktiken führen. Partizipation, die das herrschende Repräsentationssystem nicht stützt, wäre eine Teilhabe, die auch die Bedingungen des Teilnehmens selbst zur Disposition stellt. Es kann also nicht Ziel sein, dass Migrant/innen das Spiel gleichsam mitspielen, ohne in eine Auseinandersetzung um die Spielregeln eintreten zu dürfen.19 Auch das bürgerliche Nationalmuseum war nur deshalb so erfolgreich, weil im 19. Jahrhundert tatsächlich ein Machtwechsel stattgefunden hat und damit eine neue Wissensordnung etabliert wurde.

18 H. Groschwitz: „Und was ist mit Europa?“, S. 222. 19 Sternfeld, Nora: „Um die Spielregeln spielen! Partizipation im post-repräsentativen Museum“, in: Susanne Gesser et al. (Hg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012, S. 119–126, hier S. 120 f.

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L ITERATUR Akkılıç, Arif et al.: „Der überfällige Blick auf die Geschichte der Gastarbajteri. Zum Projekt Migration sammeln“, in: Akkılıç Arif et al. (Hg.): Schere – Topf – Papier. Objekte zur Migrationsgeschichte, Wien: Mandelbaum 2016, S. 18–28. Bhabha, Homi: „Globale Ängste“, in: Peter Weibel/Slavoj Žižek (Hg.): Inklusion : Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration, Wien: Passagen 1997, S. 19–44. Eryılmaz, Ataç/Marion von Osten/Martin Rapp/Kathrin Rhomberg/Regina Römhild: „Vorwort“, in: Kölnischer Kunstverein et al. (Hg.): Projekt Migration, Köln: DuMont 2005, S. 14–25. Groschwitz, Helmut: „Und was ist mit Europa? Zur Überwindung der Grenzen zwischen ‚Europa‘ und ‚Außer-Europa‘ in den ethnologischen Sammlungen Berlins“, in: Michael Kraus/Karoline Noack (Hg.): Quo vadis, Völkerkundemuseum? Aktuelle Debatten zu ethnologischen Sammlungen in Museen und Universitäten, Bielefeld: transcript 2015, S. 205–226. Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. (= Berliner Schriften zur Museumskunde 10), Opladen: VS Verlag 1994. Kaschuba, Wolfgang: „Kolonialismus im Humboldt Forum?“ in: Berliner Zeitung, https://www.euroethno.huberlin.de/de/institut/personen/kaschuba/litera tur/wk-berlinerzeitung-kolonalismus-imhumboldt-forum.pdf vom 5.1.2014. Kravagna, Christian: „Vom ethnologischen Museum zum unmöglichen Kolonialmuseum“, in: Katrin Audehm et al (Hg.): Der Preis der Wissenschaft (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 1/2015), S. 95–100. Muttenthaler, Roswitha/Wonisch, Regina: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2006. Poehls, Kerstin: „Zeigewerke des Zeitgeistes? Migration, ein ‚boundary object‘ im Museum“, in: Zeitschrift für Volkskunde 2 (2010), S. 225–246. Pommier, Eduard: „Der Louvre als Ruhestätte der Kunst der Welt“, in: Gottfried Fliedl (Hg.): Die Erfindung des Museums. Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution, Wien: Turia+Kant 1996 (= Museum zum Quadrat, Bd. 6), S. 7–25. Sterkl, Maria: „Vom Leben mit ‚Migrationsvordergrund‘“, in: Der Standard vom 10.6.2010, https://derstandard.at/1276043512025/Bilanz-Vom-Leben-mit-Mi grationsvordergrund. Sternfeld, Nora: „Um die Spielregeln spielen! Partizipation im post-repräsentativen Museum“, in: Susanne Gesser et al. (Hg.): Das partizipative Museum.

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Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012, S. 119–126. Strasser, Sabine: „Beyond Belonging. Prozesse translokaler Beziehungen und nationaler Politik“, in: Senol Akkilic et. al (Hg.): Aspekte österreichischer Migrationsgeschichte, Wien: Atelier Verlag 2019, S. 171–187. Wonisch, Regina: „Museum und Migration – Einleitung“, in: Regina Wonisch/ Thomas Hübel (Hg.): Migration und Museum. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld: transcript 2012, S. 9–32.

„Partizipation“ – Marginalisierte Gruppen in Museum und Ausstellungen G EORG T RASKA

Eine gewinnbringende Auseinandersetzung mit Gesellschaft, mit ihrer Geschichte, ihren kulturellen Strukturen und Erscheinungsweisen muss immer wieder aufs Neue von den Rändern, von den Grauzonen und bei jenen Bereichen ansetzen, die bis dahin im kollektiven Gedächtnis keinen Platz gefunden haben. „Migration“ ist einer der wichtigsten Begriffe, unter denen im 21. Jahrhundert die Öffnung der Institution Museum, von Archiven und Ausstellungen gegenüber marginalisierten Minderheiten benannt wird. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Methoden der Partizipation, mittels derer im Bereich von Museum und Ausstellungen marginalisierte Gruppen thematisiert werden. Er untersucht zwei Ausstellungsprojekte in Hinblick darauf, wie Partizipant/innen an der Konzeption der Ausstellungen beteiligt werden und was aus dieser Beteiligung kognitiv und sichtbar hervorgeht.

„M IGRATION “

UND

„M IGRANT / INNEN “

„Migration“ als thematischer Überbegriff wird hier mit Vorbehalt aufgegriffen. Er wurde in den Diskurs von Museum und kulturellem Gedächtnis als neutraler, wissenschaftlich hinterlegter Begriff eingeführt, um Gruppen von Migrant/innen in den Fokus zu rücken, die im deutschsprachigen Raum bis dahin als „Ausländer“, „Fremd-“ oder „Gastarbeiter“ oder nach nationaler Herkunft als „Türken“, „Jugoslawen“ etc. bezeichnet wurden. Diese Gruppen sollten damit als Teil, als gerade nur die jüngste Generation der menschheitsgeschichtlich universalen Kategorie „Migration“ verstanden werden, die die Migrationsforschung in einer

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weiten historischen Perspektive untersucht.1 Doch wurden die Begriffe „Migration“ und „Migrant/innen“ im politischen und massenmedialen Diskurs bald ebenfalls populistisch verwertet und verlängern in diesem Gebrauch das abwertende „Othering“ – die Unterscheidung von der mehrheitlich-hegemonialen, meist national definierten, ansässigen Bevölkerung, die den älteren Bezeichnungen wie „Gastarbeiter“ oder „Ausländer“ nur noch offensichtlicher eingeschrieben war. Im Begriff „Migrationshintergrund“ wird – auch in verschiedenen Verwaltungskontexten – das „Othering“ noch über die erste Generation hinaus verfestigt. Dieser „Hintergrund“ haftet auch hier geborenen Staatsbürger/innen an und wird in unterschiedlichen problematisierenden Diskursen – etwa zu Kriminalität und Gewalt, Mängeln im Bildungssystem, Überlastungen des Sozialsystems – aufgerufen, „kulturalisiert“ unterschiedliche soziale Probleme und verschiebt die politischen Bewältigungsstrategien auf Migrations-, Asylpolitik und nationale Grenzregime. Daher sollte einerseits der Überbegriff „Migration“ und „Migrant/innen“ mit Vorsicht verwendet werden, wenn damit die gegenwärtige Marginalität einer Gruppe verfestigt werden könnte. Eine solche Verfestigung bewirkt zum Beispiel die Verknüpfung von „Muslim/innen“ mit „Migration“, im Zuge derer die Zugehörigkeit des Islam und der Muslim/innen zu einer „europäischen“, vermeintlich „christlich-abendländischen“ Kultur in Frage gestellt wird. Andererseits sollte „Migration“ im gegenwärtigen museologischen oder KulturerbeDiskurs nicht paradigmatisch für das Thema gesellschaftliche Minderheiten und marginalisierte Gruppen verwendet werden, von denen viele nicht oder nicht primär migrantisch, sondern religiös, sprachlich, ethnisch (rassistisch) oder anders definiert sind. Sicherlich angemessen ist der Begriff in konkreten Anwendungen auf bestimmte Abschnitte der Migration wie etwa die Arbeitsmigration der 1960er und 1970er, die aufgrund von Anwerbeabkommen nach Österreich oder Deutschland zustande kam,2 oder die zentraleuropäischen Migrationsbewegungen der Gründerzeit. In einem öffentlich wirksamen Diskurs kann der Begriff vor allem dann nützlich sein, wenn er jenseits der nationalen Perspektive Ein- und Auswanderungsbewegungen in ihren vielfältigen Kausalitäten typologisch kenntlich macht,

1

Vgl. z.B. Oltmer, Jochen: Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017; Manning, Patrick: Migration in World History, New York/London: Routledge 2013; Lucassen, Jan/Lucassen, Leo (Hg.): Globalising Migration History: The Eurasian Experience (16th–21st Centuries), Leiden/Boston: Brill 2014.

2

Vgl. etwa die Ausstellung „Gastarbajteri“ (Wien-Museum 2004).

„P ARTIZIPATION “

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kleinräumige und globale Mobilitäten aufeinander bezieht und gegenwärtige Migration in einen weiten historischen Kontext stellt. Fehlt dieser kritisch bearbeitete Kontext, bringt die Subsummierung von einzelnen historischen Abschnitten unter den generischen Begriff „Migration“ eher Probleme als Vorteile, indem spezifische Formen politischer oder rassistischer Gewalt durch die vermeintliche Neutralität des Begriffs verschleiert werden.3 Dies gilt auch für die Institution Museum, solange sie wesentlich in der Tradition des „nationalen Erbes“ steht, worin „Migration“ tendenziell als problematischer Gegenbegriff zur „Nation“ erscheint.4

„P ARTIZIPATION “ Das Spektrum dessen, was im Museums- und Ausstellungsbetrieb unter Partizipation verstanden wird, wie und mit welchen Zielen Partizipation eingesetzt wird, ist breit. Neue Stadtmuseen gehören mit ihrem programmatischen Gegenwartsbezug und ihrem Versuch, die städtische Gesellschaft möglichst vielfältig darzustellen, und zwar auch in ihren migrantischen Anteilen, zu den wichtigsten Exponenten partizipativer Konzepte. Das partizipative Museum wird als „Kommunikationsplattform“ statt als „Bildungsinstitution“ verstanden, und es soll ein möglichst breites Publikum ansprechen. Hinsichtlich des Verhaltens und des Erwartungshorizonts von Publikum und „Nutzern“ werden die partizipativen Praktiken vom Internet, dem „Web 2.0“, insbesondere von sozialen Netzwerken, von der Bedeutung des „user generated content“ sowie von den Gewohnheiten des Kommentierens und Teilens im Netz hergeleitet.5

3

Kritisch gegenüber dem Ausstellen von Migration an sich, vor allem aber gegenüber den Modi dieses Ausstellens sind die Beiträge zu dem aus einer österreichischen Perspektive vor allem auf den deutschsprachigen Raum fokussierenden Sammelband: Wonisch, Regina/Hübel, Thomas (Hg.): Museum und Migration. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld: transcript 2012.

4

Zur Nachhaltigkeit dieses „nationalen“ Fundaments des Museums vgl. Bayer, Natalie: „Transversale After-Effects. Skizzen über den Migrationsdiskurs im Museum“, in: Christoph Rass/Melanie Ulz (Hg.): Migration ein Bild geben. Visuelle Aushandlungen von Diversität, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 53–74.

5

Siehe Gesser, Susanne u.a. (Hg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012.

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Nina Simon nahm eine relativ pragmatisch ausgerichtete Systematisierung dieses Feldes vor und definiert eine „partizipative Kulturinstitution […] als einen Ort, an dem Besucher Inhalte miteinander schaffen, teilen und sich darüber miteinander vernetzen können.“ Simon stellt die individuelle Erfahrung – „Selbsterfüllung“ – in den Fokus musealer Arbeit, will das Individuum aber mit seinen „kreativen, physischen und kognitiven Fähigkeiten“ ernst genommen sehen und verfasst Regeln für ein ehrliches und faires Verhältnis zwischen Institution und beteiligten Personen.6 Auf eine Rollenverteilung, die eindeutig von der Institution definiert wird, reagiert Nora Sternfeld mit einem kritischen „Plädoyer“, das im Konzept der Partizipation eine grundlegendere politische und kulturpolitische Dimension einklagt und die Forderung stellt, auch um die Spielregeln der Repräsentation selbst zu spielen, was das im Konkreten auch immer bedeutet.7 Unter anderem bedeutet es mit Sicherheit, dass die Ausstellungskurator/innen, wenn sie „Partizipation“ reklamieren, auch ihre Autorität und Definitionsmacht ein Stück weit zur Disposition stellen müssen.

Z WEI

PARTIZIPATIVE

P ROJEKTE

Zwei Projekte werden im Folgenden auf die Modi, Funktionsweisen und Ergebnisse ihrer partizipativen Konzeption hin untersucht, und zwar aus zwei unterschiedlichen Binnenperspektiven. Die Darstellung des Partizipationsprozesses im Ausstellungsprojekt „Die Küsten Österreichs“ geht von einem Gespräch mit einer als Ko-Kuratorin beteiligten Geflüchteten und von der Ausstellung selbst aus. Über das in seiner Realisierung weit fortgeschrittene, aber noch unpublizierte Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Junge Muslim/innen in Österreich – ei-

6

Simon, Nina: „Das partizipative Museum“, in: S. Gesser u.a.: Das partizipative Museum, S. 93–108; Simon, Nina: The Participatory Museum, Santa Cruz (CA): Museum 2.0 2010.

7

Sternfeld, Nora: „PLÄDOYER: Um die Spielregeln spielen! Partizipation im postrepräsentativen Museum“, in: S. Gesser u.a.: Das partizipative Museum, S. 119–126; und in eine ähnliche Richtung argumentierend: Wonisch, Regina: „Migranten und Migrantinnen als Experten und Expertinnen ihrer eigenen Geschichte? Museum, Demokratie und Migration“, in: Philipp Eigenmann/Thomas Geiger/Tobias Studer (Hg.): Migration und Minderheiten in der Demokratie. Politische Formen und soziale Grundlagen der Partizipation, Wiesbaden: Springer SV 2016, S. 375–396.

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ne sozialanthropologisch-kulturwissenschaftliche Forschung an Wiener Schulen“ berichtet der Verfasser als Projektleiter. In beiden Projekten gingen die Initiator/innen davon aus, dass sie selbst unzureichendes Wissen und ungenügende Information in Hinblick auf die thematisch fokussierten Gruppen hatten und dass eine enge Zusammenarbeit mit Mitgliedern dieser Gruppen aus Erkenntnisgründen unerlässlich sei. Außerdem erachteten es die Initiator/innen als notwendig, der politischen und sozialen Marginalität bzw. Marginalisierung der thematisierten Gruppen mindestens einmal dadurch entgegenzuwirken, dass Mitglieder der Gruppen als Subjekte der Repräsentation zu Wort kämen: dass sie aus sozialräumlichen Binnenperspektiven individuelle Erfahrungen, Wahrnehmungen und Standpunkte artikulieren und das Projekt aus diesen Perspektiven mitgestalten konnten. Dieser Prozess wird in der Ausstellung sichtbar, setzt als generatives Prinzip aber tiefer als bei der sichtbaren Oberfläche an. Möglichst die gesamte Folge der konzeptuellen, forschenden, sammelnden, verarbeitenden und gestaltenden Projektabschnitte sollte unter Beteiligung von Mitgliedern der thematisierten Gruppen geschehen.8 Eine wichtige Gemeinsamkeit der beiden Projekte besteht auch darin, dass sie nicht von einem klar definierten Ausstellungskonzept, sondern von einem experimentellen Forschungssetting ausgingen, das ein methodisch-thematisches Gerüst, Überlegungen zur Machbarkeit in einem bestimmten Ressourcenrahmen und ein Set hypothetischer Forschungsfragen enthielt. Dieser offene, grob strukturierte „Arbeitsraum“ sollte erst durch den partizipativen Prozess methodisch und thematisch konkretisiert werden – auch hinsichtlich der Publikationsform. Die Planung als experimentelles Forschungsvorhaben setzt eine im Kontext des Ausstellungsund Museumsbetriebes verhältnismäßig lange Projektdauer voraus. Die „Marginalität“ der thematisierten Gruppen hat in den beiden Projekten eine unterschiedliche Dimension. Die Existenz der Geflüchteten und Asylwerber/innen ist in jeder Hinsicht ungewiss und vorübergehend9, weit entfernt von der sozialen und Rechtssituation aller anderen „legal“ hier lebenden Menschen. Nur dieser vorwiegend negativ besetzte Zustand sowie die räumliche Koordinate

8

Die Partizipant/innen sind also sowohl „source community“, die Quellen und Material beisteuern, als auch „constituent community“ der Projekte, die aktiv und mitverantwortlich beteiligt sind. Zu diesen Kategorien der Museologie und des Kulturerbes vgl. Meijer-van Mensch, Léontine: „Von Zielgruppen zu Communities. Ein Plädoyer für das Museum als Agora einer vielschichtigen Constituent Community“, in: S. Gesser u.a.: Das partizipative Museum, S. 86–94.

9

Alexander Martos und Niko Wahl berufen sich mit ihrem Konzept der „Weltlosen“ auf Zygmunt Bauman und Hannah Arendt.

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einer vorläufigen Ankunft in Österreich macht aus den Geflüchteten eine „Gruppe“ – nicht eine Gruppe im soziologischen Sinn, mit einer gewissen Kohäsion, sondern lediglich im Sinn einer funktionalen Beziehung innerhalb globaler geopolitischer Ereignisstrukturen und nationalstaatlicher Grenzregime. Im Fall der jungen Muslim/innen handelt es sich um Mitglieder einer großen, gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft, die, ob Staatsbürger oder nicht (das wurde im Projekt nicht erhoben), in ihren Lebensverhältnissen relativ gut etabliert sind. Als religiöse Gruppe werden sie aber – vor allem seit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York 2001 und vermehrt seit der sogenannten europäischen „Flüchtlingskrise“ (2015) – durch Politik und Massenmedien fortwährend pauschal problematisiert, zum Gegenstand einer ausschließlich auf sie ausgerichteten Gesetzgebung gemacht und zu einem gesellschaftlich breit gelagerten Feindbild mit stark rassistischen Zügen. Diese Dynamik verstärkte sich in Österreich seit dem Nationalratswahlkampf 2017 und seitdem die ÖVP-FPÖKoalitionsregierung die Themen „Migration“, „Flüchtlinge“ und „Muslime“ permanent besetzte, miteinander verknüpfte und eine Art nationalen Notstand konstruierte.10 Die FPÖ ist dabei offen antimuslimisch-rassistisch11, der „bürgerliche“ ÖVP-Regierungspartner lässt gewähren.

„D IE K ÜSTEN Ö STERREICHS “ „Die Küsten Österreichs“ ist eine interventionistische Erweiterung der Dauerausstellung des Österreichischen Museums für Volkskunde, in der „hochqualifizierte Asylwerber/innen“ mit den in Österreich etablierten Kuratoren Alexander Martos und Niko Wahl zusammenarbeiteten.12 In der gleichwertigen Partnerschaft als Ko-Kurator/innen überschreitet die Zusammenarbeit eigentlich das

10 Vgl. Bayrakli, Enes/Hafez, Farid (Hg.): European Islamophobia Report 2017, http://www.islamophobiaeurope.com/wp-content/uploads/2018/04/Austria.pdf

vom

27.2.2019, mit dem Abschnitt über Österreich von Farid Hafez (S. 51–83). 11 Eine Zusammenstellung bietet SOS Mitmensch (Hg.): Antimuslimischer Rassismus in der österreichischen Politik, Bericht 2018, https://www2.sosmitmensch.at/dl/OMul JKJKNmKJqx4KJK/Bericht2018_Antimuslimischer_Rassismus_in_der_Politik_SOS _MItmensch.pdf vom 27.2.2019. 12 Österreichisches Museum für Volkskunde (Hg.): Die Küsten Österreichs. Die neue Schausammlung des Volkskundemuseum Wien. In den Bildern des Katalogs ist das im Folgenden beschriebene System der Ausstellung nachvollziehbar, nicht aber der Kontrast mit der vorgegebenen Schausammlung.

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Konzept der Partizipation. Allerdings bedürfen die Geflüchteten der Vermittlung und Einladung, um überhaupt in die Lage der Zusammenarbeit zu kommen. Die Rahmenbedingungen des Arbeitsmodells konnten nur von etablierten Institutionen konzipiert werden, sodass „Beteiligung“ doch wieder als angemessener Begriff erscheint, in dem die vorgegebene radikale Asymmetrie zwischen den verschiedenen Akteur/innen noch aufscheint. „Die Küsten Österreichs“ steht im sprachlichen Gestus, in den subjektiven, fragmentarischen Perspektiven und Positionen, aber auch in den Medien der Präsentation im Kontrast zur Gediegenheit, wohlgefügten Komposition und objektivierenden Vermittlung der Dauerausstellung. Dieser Bruch ist programmatisch und will den Rahmen akademischer Selbstreflexion ethnologischer Museen, die sich von der Beharrlichkeit ihrer Sammlungen nicht lösen wollen oder können, sprengen. Die Leitfrage formulieren Alexander Martos und Niko Wahl so: „Welchen Beitrag kann eine Ethnologie des 21. Jahrhunderts dazu leisten, die post-nationalen, geopolitischen Kämpfe, die an den Außengrenzen ÖsterreichEuropas dieser Tage toben und die zum Teil mit den Grenzen der habsburgischen Sammlung des Volkskundemuseums identisch sind, für die Zukunft zu dokumentieren? Wie können die für das 21. Jahrhundert so einflussreichen Grenzregimekämpfe, die heute zentraler Brennpunkt der kritischen Migrationsforschung sind, Eingang finden in die beschaulichen, historischen Archive der Volkskunde?“13 Ein Grund für den fragmentarisch-interventionistischen Charakter sei aber auch der Mangel an Geld und politischem Interesse, „sich den Rändern der Erzählung selbstbewusst anzunehmen, zu riskieren, aufzuzeigen, zu thematisieren, den Diskurs zu fördern“, so der Museumsdirektor Matthias Beitl.14 Was als impulsiv einschneidende Intervention erscheint – emotional, auch witzig, meist in freier Assoziation an die Themen der Sammlungspräsentation anschließend –, ist jedoch als bleibende Erweiterung geplant. Wie dauerhaft auch immer sie sein wird, ist die „Permanenz“ hier eine Verpflichtung gegenüber dem prekären, unvorhersehbaren Zustand der Geflüchteten, von denen die Ausstellung handelt und die so wesentlich an deren Zustandekommen beteiligt waren. Als eine der Beteiligten berichtete mir Sama Yasseen im Gespräch über den Prozess der Mit- und Zusammenarbeit. Ein Freund und ihr Bruder machten sie auf eine Ausschreibung für ein Stipendium im „Museum auf der Flucht“ des

13 Ebd., S. 16/18. 14 Ebd., S. 10.

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Volkskundemuseums15, das sich an „hoch qualifizierte Flüchtlinge“ wandte, aufmerksam und drängten sie, sich die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen, um dem erzwungenen Nichtstun des Asylwerber-Daseins zu entkommen. Die drei hatten keine klare Vorstellung davon, worauf sich die Ausschreibung eigentlich bezog. – Die methodische und thematische Offenheit partizipativer Konzepte ist typischerweise zu Projektbeginn nicht leicht zu vermitteln. – Nachdem Sama Yasseen aufgrund der Flucht aus dem Irak die Schule nicht abgeschlossen hatte, zweifelte sie an ihrer „hohen Qualifikation“, bewarb sich aber dennoch mit einem Projektentwurf für eine Ausstellung – und wurde als eine von fünf Stipendiat/innen ausgewählt, neben Yarden Daher, Negin Rezaie, Ramin Siawash und Reza Zobeidi. Von diesen haben inzwischen drei einen negativen Asylbescheid erhalten. Sama Yasseen erhielt noch während des Projekts subsidiären Schutz, und ein weiterer Stipendiat erhielt jüngst einen positiven Asylbescheid. Wie war für sie die erste forschende Auseinandersetzung mit der eigenen Flucht und dem Flüchtlingsthema? – „It was awful!“ Trotz dieses anfänglichen inneren Widerstandes verbrachte Sama Yasseen bald viel Zeit im Museum gemeinsam mit den anderen Stipendiat/innen. Sie kamen alle aus anderen Herkunftsländern und stritten zu Beginn nicht wenig miteinander, auch weil sie den in Flüchtlingslagern kursierenden Rassismus reproduzierten – so Sama Yasseen. Alexander Martos und Niko Wahl strengten sich an, den fünf zu erklären, worum es in dem Stipendium eigentlich ging. Sie konfrontierten die Stipendiat/innen mit Objekten, die sie in der Ägäis, auf Stränden und in aufgelassenen Flüchtlingsunterkünften gesammelt hatten. Es entwickelten sich lange Gespräche über die Objekte und die vielfältigen Bedeutungen, die sie für die Geflüchteten enthielten und freisetzten – im Sinn einer „Agency“ als „Dritte“ im methodischen Projektsetting. Bald steuerten die Stipendiat/innen selbst Objekte zu der Sammlung bei. Schließlich wurden aus Stipendiat/innen des „Museum auf der Flucht“ Ko-Kurator/innen der Ausstellung „Die Küsten Österreichs“, indem das eine Projekt fließend in das andere überging.

15 Zum 2015 von Alexander Martos und Niko Wahl im Auftrag des Volkskundemuseums gemeinsam mit den Wiener Festwochen und Science Communications Research initiierten „Museum auf der Flucht“: ebd., S. 22–25. Die Ausschreibung vom April 2015

ist

noch

online:

https://www.volkskundemuseum.at/jart/prj3/volkskunde

museum/data/uploads/MuFlu_CALL_Fellowship_2017_DE_2017-04-06_140425.pdf (zuletzt abgerufen am 27.2.2019). Aus dem „Museum auf der Flucht“ ging außerdem als Beitrag zu den Wiener Festwochen 2017 ein „Museum der Weltlosen“ als Reihe von Veranstaltungen hervor.

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Sama Yasseen beschreibt die Arbeit als eine Abfolge von Diskussionsrunden, in denen die Ausstellung erarbeitet wurde. In einer ersten Runde, die der Zielperspektive der „Küsten Österreichs“ noch voranging, diskutierten sie die Objekte des „Museums auf der Flucht“. Dann erklärten Martos und Wahl den Geflüchteten die bestehende Sammlungsausstellung des Museums: ihre Geschichte als volkskundliche Sammlung, wie die Volkskunde zum Handlanger der nationalsozialistischen Ideologie geworden und wie diese Sammlung 1994 einer kritischen Revision, Neudeutung und -aufstellung unterzogen worden war. In der nächsten Runde wurde die Sammlung Raum für Raum thematisch konfrontiert mit den eigenen Erfahrungen der Flucht und der Flüchtlingsexistenz. In jedem thematischen Abschnitt der Schausammlung nahm der Kreis der Kurator/innen Platz und sprach darüber, was für Bedeutungen und Assoziationen die ausgestellten Sammlungsobjekte und deren thematische Zusammenstellung für sie – die jüngst angekommenen Geflüchteten, die im Gedächtnisraum dieser „österreichischen“ Volkskunde Fremde waren – auslösten. Die Gespräche wurden vollständig aufgenommen und transkribiert. Dann begann die eigentliche Intervention: In Zuordnung zu den thematischen Abschnitten der Schausammlung wurden Objekte aus dem „Museum auf der Flucht“ sowie Sätze aus der reichen Sammlung des diskursiven Sprachmaterials ausgewählt, um schließlich einen Platz in der Ausstellung zu finden. Beispielsweise werden in dem Bereich der Schausammlung, der sich mit historischen Transportmitteln beschäftigt, die Reste eines zerschnittenen Schlauchbootes, das Martos und Wahl 2017 auf einem Strand von Lesbos fanden, ausgestellt – begleitet von dem Satz: „Was für uns der reinste Horror war, könnte unter anderen Umständen ganz lustig sein.“ (Sama Yasseen erzählte mir von dem Plan, die Fluchtreise irgendwann in der Zukunft als Urlaubsreise zu wiederholen.)

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Abb. 1: Schausammlung des Volkskundemuseum Wien und Objekt aus „Die Küsten Österreichs“

Quelle: kollektiv fischka/kramar, Volkskundemuseum Wien 2018

Abb. 2: Objekt der Schausammlung des Volkskundemuseum Wien und sprachliche Einfügung durch „Die Küsten Österreichs“

Quelle: Georg Traska 2019

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Die weißen Schriftblöcke auf den grau lackierten Holzlatten der Substruktionen, auf denen die Vitrinen und freistehende Objekte der Schausammlung platziert sind, ziehen sich als System des Kommentierens und Deutens durch die gesamte Ausstellung: auf Englisch als lingua franca der zusammengewürfelten Geflüchteten/Kurator/innen sowie in deutscher Übersetzung. Die Intervention in die Schausammlung wird von einem doppelten Perspektivenwechsel geprägt: einerseits von den radikalen Perspektivverschiebungen, die der Flucht immanent sind – als Wandel aller räumlichen, soziokulturellen und politischen Kontexte; und andererseits von dem fremden Blick der jüngst angekommenen Geflüchteten auf die volkskundliche Sammlung, die aus der forschenden Auseinandersetzung mit dem „kulturell Eigenen“ hervorgegangen war und für das österreichische Bürgertum eine kulturelle Rückversicherung in den regionalen Traditionen der Monarchie bot. Sama Yasseen ging es gut bei der Arbeit. Im Museum und im kuratorischen Team war sie – nach ihren eigenen Worten – ein „menschliches Wesen“, während sie draußen immer nur „Flüchtling“ war. Es war ihr wichtig, dass dieses Wohlbefinden auch in die Ausstellung und die Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht einfloss. Die Intensität und Dauer des Projekts und was sie darin lernte, haben ihr Leben verändert. Die Mitglieder des Teams sind, auch über das Projekt hinaus, zu engen Freunden geworden. Nach der Rolle von Alexander Martos und Niko Wahl gefragt, antwortet Sama Yasseen, sie seien Mentoren gewesen und hätten die Geflüchteten gelehrt, Kurator/innen zu werden. „They literally paved us the way“, indem sie ihnen sozialwissenschaftliche und ausstellungskuratorische Methoden vermittelten. Die österreichischen Kuratoren hatten also eine führende Rolle durch ihre kuratorische und wissenschaftliche Expertise und in der Verfolgung eines methodischen Basiskonzepts. Die Ko-Kurator/innen hingegen produzierten das meiste sprachliche Material und legten im Gesamtteam die Bruchlinien für die hermeneutische Sprengung der klassisch volkskundlichen Schausammlung fest.

J UNGE M USLIM / INNEN UND DAS INTERKULTURELLE Z USAMMENLEBEN AN W IENER S CHULEN Das Projekt „Junge Muslim/innen in Österreich“ wird ab September 2019 als Ausstellung und Videoinstallation ebenfalls im Volkskundemuseum Wien umgesetzt. Das Projekt unter der Leitung von Georg Traska ist am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) angesiedelt; in Kooperation mit dem Institut für Sozial-

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anthropologie der ÖAW und mit Valeria Heuberger als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Es wurde im Programm „Sparkling Science“ des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung konzipiert, das die Zusammenarbeit von wissenschaftlicher Forschung und Schule fördert, wobei die Schüler/innen eigenständig Anteil an der Forschung nehmen müssen und ein tatsächliches Forschungsergebnis zustande kommen muss.16 Das Projekt untersucht gemeinsam mit den Schüler/innen der Sekundarstufe 2 (im Altersspektrum von 16- bis 18Jährigen, am Abendgymnasium Wien auch ältere) und den Lehrer/innen an vier Wiener Schulen17 die vielfältigen Lebenswelten muslimischer Jugendlicher und das interkulturelle sowie interreligiöse Zusammenleben in diesem sozialen Bereich – mit einer kontinuierlichen Video-Dokumentation, die einen Großteil der Gesprächssettings begleitet. In einem ersten Block von Projekttagen interviewten die Schüler/innen einander klassen- oder schulübergreifend. Ein Tag war der Vorbereitung der Interviews gewidmet: den wissenschaftlichen Interviewformen, dem Verhalten im Interview und der inhaltlichen Entwicklung der Interviewfragen. In Kleingruppen diskutierten die Schüler/innen darüber, was ihnen im Zusammenhang mit diesem Thema wesentlich erscheint, und formten die Notizen in einen Fragebogen um: Fragen von Nicht-Muslim/innen an Muslim/innen, von Muslim/innen an NichtMuslim/innen sowie von Muslim/innen an Muslim/innen. Abb. 3: Schülerin und Schüler im Interview, Video-Still

Quelle: Georg Traska 2018

16 https://www.sparklingscience.at/de/info/programmziele.html; http://www.volkskunde museum.at/jungemusliminnen vom 27.2.2019. 17 BRG/ORG 15 Henriettenplatz, Islamisches Realgymnasium 15 Rauchfangkehrergasse, GRG 10 Ettenreichgasse, Abendgymnasium Wien.

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Abb. 4: Schüler/innen in einer Diskussionsrunde, Video-Still

Quelle: Georg Traska 2018

Aufgrund des entstandenen Materials und dessen Auswertung schlugen die Projektinitiator/innen weitere Gespräche und Interviews vor, die dann auf freier Basis in der Freizeit der Schüler/innen stattfanden. Die Jugendlichen entschieden sich für weitere Doppelinterviews, Einzelinterviews mit den Projektmitarbeiter/innen sowie freie Dreier- oder Vierergespräche. Hinzu kommt die filmische Dokumentation von thematisch vorbesprochenen Unterrichtseinheiten, in denen die Interaktion von Schüler/innen und Lehrer/innen im Zentrum steht. Gesprächsrunden mit Lehrer/innen unterschiedlicher Fächer und Interviews mit Schuldirektoren sowie Vertreter/innen der Schulbehörden fächern die Perspektiven weiter auf. Je vertrauter die Projektmitarbeiter/innen mit den schulischen Akteur/innen waren, umso flexibler entwickelten sich die Gesprächsformate. Im experimentellen, mehrstufigen Vollzug und im Wechsel zwischen den zahlreichen Diskursteilnehmer/innen kristallisieren sich einzelne Themen heraus, die schließlich den Schnitt des Videomaterials und die Ausstellung strukturieren. Sie behandeln alltägliche Praktiken und zwischenmenschliche Momente im Handlungsraum Schule. Von diesem konkreten Handlungs- und Erfahrungsraum ausgehend nehmen die Akteur/innen auch auf den massenmedialen und politischen Diskurs über Muslim/innen und den Islam Bezug. Sprechen und diskutieren Schüler/innen beispielsweise über das Kopftuch, legen sie eine große Vielfalt an Positionen, individuellen Erfahrungen und Überlegungen dar, die zwar auch „Zwang“ und „Freiwilligkeit“ (die dominanten Kriterien im politisch-massenmedialen Diskurs) thematisieren, dieses psychologisch unrealistische EntwederOder aber überwiegend dekonstruieren und ein weit komplexeres Verhältnis zwischen kollektiven Normvorstellungen einerseits und individuellen Entscheidungsspielräumen und Überlegungen andererseits zeigen. Ob Muslim/innen oder

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Nicht-Muslim/innen sprechen, ist in den Video-Aufnahmen und der Art der Argumentation oft nicht erkennbar, und der Videoschnitt zielt nicht darauf ab, diese Unterscheidung prinzipiell kenntlich zu machen. Das Projekt birgt eine im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung mit minorisierten, diskriminierten Gruppen typische Ambivalenz, wenn es bereits im Titel die „Muslim/innen“ gegenüber anderen gesellschaftlichen und religiösen Gruppen herausstellt und damit das „Othering“ in gewissem Sinn bestätigt. Zu rechtfertigen ist das nur durch das partizipative Forschungsdesign, in dem die thematisierten Muslim/innen ausgiebig zu Wort kommen und die Richtung des Diskurses entscheidend mitgestalten, sowie durch eine deutliche Perspektivverschiebung gegenüber den öffentlich wirksamen Pauschalisierungen und Stereotypen. Die Chance der rein qualitativen und partizipativen Forschung besteht darin, dass sie nicht primär identitätsbildende Positionen, sondern die intellektuelle und kommunikative Dynamik des Diskursraums Schule darstellbar macht, also vor allem die Reflexionen, Diskussionen und Aushandlungsprozesse zu den Themen rund um Islam, Muslim/in-Sein und interkulturelles Zusammenleben nachzeichnet. Das Ausmaß, in dem die Partizipant/innen Konzept, Themen und Gestaltung der Ausstellung mitbestimmen würden, war in der Projektplanung offen. Ein Mindestmaß für die Realisierung des Projekts als Ausstellung besteht in der prinzipiellen Offenheit für Gespräch und Diskurs – einschließlich der Zustimmung zur Veröffentlichung der Video-Aufnahmen von Seiten ausreichend vieler Schüler/innen und Eltern. Ein Maximum der Partizipation bestünde laut Grundkonzept darin, dass Schüler/innen als „Ethnograf/innen“ in außerschulische Räume führen und damit selbst neue Darstellungsräume bestimmen, erschließen und erforschen. Von dieser Möglichkeit machten die Schüler/innen keinen Gebrauch. Auch die regelmäßige Involvierung der Schüler/innen in methodische Reflexionsschleifen gelingt nur mäßig gut, weil die Schüler/innen neben ihrem Schulalltag begrenzte Energie und Zeit aufwenden können und die Organisation des Unterrichts keine allzu großen Zeitkontingente für ein solches Projekt freimachen kann. Hierin unterscheidet sich das Schulprojekt deutlich von der äußerst intensiven und kontinuierlichen Arbeit mit fünf Geflüchteten als Stipendiat/innen. Die höchste Bereitschaft, auch Freizeit für das Projekt aufzuwenden, die größte persönliche Offenheit und intellektuelle Energie zeigen die Schüler/innen im offenen Gespräch und in der spontan entwickelten Diskussion – und die Projektbetreiber/innen sind herausgefordert, in diese Gesprächssettings so viel methodische Reflexion wie möglich einzubinden. Eine besondere kognitive Produktivität fördert der partizipative Prozess dadurch zutage, dass die Schüler/innen permanent die Erwartungen und Pläne

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der Wissenschafter/innen, auch wenn diese organisch aus vorhergegangenen Diskussionen und Gesprächen entstanden sind, durchkreuzen und das Gespräch auf spontane Weise in neue Richtungen lenken und vertiefen. Einerseits wirken hier Kontingenz, Vielfalt und Zufall – im positiven Sinn auch Chaos. Andererseits müssen wir Wissenschafter/innen immer wieder eingestehen, dass wir die tiefer liegenden Kontexte und Motivationen, nach denen die Schüler/innen ihre diskursiven Schwerpunkte setzen, nicht (ganz) richtig eingeschätzt haben und unser thematisches Weitertasten auf ungenauen Hypothesen beruhte. Als Forscher muss ich bekennen, dass ich noch nie eine solche Häufigkeit an gebrochenen Erwartungen und Falsifikationen so interessant und produktiv erlebte – und halte dies als einen produktiven Schlüsselfaktor von Partizipation fest.

K OGNITIVER G EWINN

DURCH

P ARTIZIPATION – FÜR

WEN ?

Partizipative Konzepte wurden in den beiden Projekten nicht primär mit dem Ziel der Inklusion neuer Communities ins Museum entwickelt. Die Inklusion interessiert nur dann und vermutlich gelingt sie auch nur dann nachhaltig, wenn sie eine tatsächliche Erweiterung des kognitiven Raumes der Repräsentation bewirkt – eine Erweiterung, die von der Generierung musealer Inhalte und Themen bis zur Rezeption reicht und etwas tatsächlich Unvorhersehbares erbringt. Die Motivationen und Zielperspektiven der Initiator/innen müssen dafür nicht unbedingt mit denen der Partizipant/innen übereinstimmen. Je unterschiedlicher die Verständnishorizonte eines Ausgangsthemas bei den Initiator/innen und Partizipant/innen sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass deren Fokus erst im Projektverlauf nach und nach konvergiert. In einer kleinen, kontinuierlich und intensiv zusammenarbeitenden Gruppe wie der der „Küsten Österreichs“ wird das in höherem Grad zu erzielen sein als in einem Projekt mit wechselnden und unterschiedlich intensiv involvierten Gruppen und Einzelpersonen wie in „Junge Muslim/innen“. Mindestens aber muss im Projekt ein geteiltes Anliegen gegenüber einer gemeinsam imaginierten Öffentlichkeit existieren, um von einer umfassenden, den kognitiven Raum erweiternden Beteiligung zu sprechen. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Sama Yasseen während der Projektentwicklung immer ein österreichisches Ausstellungspublikum als ihr Gegenüber imaginierte und erst nach der Eröffnung die Erfahrung machte, dass die Ausstellung irakische Freund/innen und Menschen anderer Fluchtherkunft emotional sehr intensiv erreicht. Das änderte für sie nochmals die Bedeutung des Projekts und ihrer Mitarbeit daran. Oder anders formuliert, erst dann erlebte sie,

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dass der kognitive Fluss kultureller Übersetzung tatsächlich in beide Richtungen verlief. „Inklusion“ als sozialer Prozess findet nur dann wirklich statt, wenn auf Seiten der Initiator/innen und Museumsinstitution einerseits und auf Seiten der Partizipant/innen andererseits ein Erkenntnisgewinn in Hinblick auf das bearbeitete Thema in seiner gesellschaftlichen Wirkung und Wirklichkeit stattfindet. Die Initiator/innen müssen in einen ihnen unbekannten Erkenntnisraum eintreten, wo sie sich intensiv mit der marginalisierten Gruppe, deren Standpunkten und Interaktionen auseinandersetzen, ohne sich mit ihr zu identifizieren. Ein solches Eintreten ins Feld der zu erforschenden Gruppe nennen die Sozialwissenschaften „teilnehmende Beobachtung“/„participant observation“. „Partizipation“ geschieht hier also auch von Seiten der Forscher/innen! Die Partizipant/innen werden in Ausstellungsprojekten oft als Sprechende, kommunikativ Agierende, sich Ausdrückende gezeigt – als Position Beziehende, Erzählende, Reflektierende. Und dennoch ist es schwieriger dahinterzukommen, worin auf ihrer Seite der Erkenntnisgewinn im spezifischen Themenbereich liegt. Auch wenn sie in den Forschungsprozess zentrale Erkenntnisse einbringen, sind es vor allem die professionellen Kurator/innen, die aus diesen Erkenntnissen die wesentlichen konzeptuellen Konsequenzen im Projekt ziehen und sich dabei, in ihrer eigenen kognitiven Reflexion, immer auf die Ausgangshypothesen des Projektes beziehen können. Die Kurator/innen können also ihre Erkenntnisse einerseits auf einer wissenschaftlichen Reflexionsebene leichter benennen, andererseits werden sie auch dadurch fassbarer, dass sie hauptverantwortlich die im Projekt gewonnenen Erkenntnisse implementieren. In Sama Yasseens Bericht zeichnen sich mehrere themenspezifische Erkenntnisebenen ab. Sie konnte im Projekt ihre Fluchtgeschichte intensiv und auf methodische Weise mit den Geschichten der anderen Stipendiat/innen vergleichen. Sie arbeitete mit an dem Prozess, die armseligen18 Relikte der Flucht dinglich und thematisch in den Rahmen einer ethnologischen Ausstellung zu integrieren, und konnte dabei in Gespräch und Reflexion immer wieder – vor und zurück – die Grenzen von Herkunft, Flucht und Ankunft-in-einer-neuen-Umgebung überschreiten. Angeworben als Asylwerberin und Stipendiatin für das „Museum auf der Flucht“ fühlte sie sich doch im experimentellen Diskursraum des Volkskundemuseums immer als Mensch behandelt. Hier konnte sie das „Flüchtling-Sein“ als etwas erleben, worüber man sprechen kann und das in einer weiteren kulturellen Perspektive auch zu „Österreich“ gehört.

18 Die Ärmlichkeit der Objekte von Flucht- und Migrationsgeschichten war Thema in einem Gespräch mit dem Kurator Niko Wahl, geführt in Wien am 26.9.2018.

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Für „Junge Muslim/innen“ ist es schwierig, im gegenwärtigen Stadium des Projekts den kognitiven Gewinn für die Partizipant/innen zu bestimmen, weil ein solcher Gewinn noch nicht evaluiert wurde und abschließend – in Konfrontation mit dem zu publizierenden, geschnittenen Material und in der Ausstellung selbst – deutlicher erkennbar sein wird. Prinzipiell agiert das Projekt breit aufgestellt im Handlungsraum „Schule“, und die verschiedenen Akteur/innen dieses Raumes können aus dem Projekt unterschiedliche Erkenntnisse mitnehmen. In einem Feedback-Gespräch bemerkte z.B. ein im Projekt sehr engagierten Lehrer des Faches Recht im Abendgymnasium, dass ihn die Schüler/innen in einer offenen Diskussion zum Thema Normenkonflikte seinen vom Regelunterricht geprägten „Prätext“19 von Muslim/innen-in-der-Schule zu überdenken zwangen: Die Diskussion über muslimische Positionen wurde energischer geführt, als ihm aus dem Regelunterricht vertraut war; und es trat generell eine stärkere Differenzierung von Positionen zum Thema religiöser Identität zutage, wobei die Differenzierung nicht primär entlang konfessioneller Positionen verlief. Allgemein formuliert beruht die diskursive Produktivität des Projekts auf unserer (der Projektinitiator/innen) Position als „Dritte“ gegenüber den Schüler/innen als wichtigsten Akteur/innen des Projekts und den Lehrer/innen. Als Moderator/innen und Interviewer/innen – einmal aktiver und strukturierter, einmal zurückgenommener oder spontaner – induzieren wir in ungewohnten Settings einen Diskurs über „Islam“ und „Muslim/innen“, dessen Intensität, Differenziertheit und Reflektiertheit über den Regelunterricht deutlich hinausgeht.

L ITERATUR Baur, Joachim: „Von Mythen, Masken und Migranten. Acht Ansichten aus Ellis Island“, in: Regina Wonisch/Thomas Hübel (Hg.): Museum und Migration. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld: transcript 2012, S. 167–193. Bayer, Natalie: „Transversale After-Effects. Skizzen über den Migrationsdiskurs im Museum“, in: Christoph Rass/Melanie Ulz (Hg.): Migration ein Bild geben. Visuelle Aushandlungen von Diversität, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 53–74. Gesser, Susanne u.a. (Hg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012.

19 Im Sinn von Widdowson, Henry G.: Text, Context, Pretext. Critical Issues in Discourse Analysis, Malden (Mass.) u.a.: Blackwell 2004.

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Lucassen, Jan/Lucassen, Leo (Hg.): Globalising Migration History: The Eurasian Experience (16th–21st Centuries), Leiden/Boston: Brill 2014. Manning, Patrick: Migration in World History, New York: Routledge 2013. Meijer-van Mensch, Léontine: „Von Zielgruppen zu Communities. Ein Plädoyer für das Museum als Agora einer vielschichtigen Constituent Community“, in: Susanne Gesser u.a. (Hg.): Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012, S. 86–94. Oltmer, Jochen: Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017. Österreichisches Museum für Volkskunde (Hg.): Die Küsten Österreichs. Die neue Schausammlung des Volkskundemuseum Wien, Wien: Österreichisches Museum für Volkskunde 2018. Pruulmann-Vengereldt, Pille/Runnel, Pille: „The museum as an arena for cultural citizenship. Exploring modes of engagement for audience empowerment“, in: Kirsten Drotner u.a. (Hg.): The Routledge Handbook of Museums, Media and Communication, New York: Routledge 2018, S. 143–158. Rass, Christoph/Ulz, Melanie (Hg.): Migration ein Bild geben. Visuelle Aushandlungen von Diversität, Wiesbaden: Springer VS 2018. Simon, Nina: „Das partizipative Museum“, in: Susanne Gesser u.a. (Hg.): Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012, S. 93–108. Simon, Nina: The Participatory Museum, Santa Cruz (CA): Museum 2.0 2010. Sternfeld, Nora: „PLÄDOYER: Um die Spielregeln spielen! Partizipation im post-repräsentativen Museum“, in: Susanne Gesser u.a. (Hg.): Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012, S. 119–126. Wonisch, Regina/ Hübel, Thomas (Hg.): Museum und Migration. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld: transcript 2012. Wonisch, Regina: „Migranten und Migrantinnen als Experten und Expertinnen ihrer eigenen Geschichte? Museum, Demokratie und Migration“, in: Philipp Eigenmann/Thomas Geiger/Tobias Studer (Hg.): Migration und Minderheiten in der Demokratie. Politische Formen und soziale Grundlagen der Partizipation, Wiesbaden: Springer SV 2016, S. 375–396.

III. Opfer und Täter (nicht) sinnstiftend ausstellen – Nationalsozialismus und Holocaust im Museum

Der Opfer gedenken – über Täter/innen lernen Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem als Resonanzort D EBORAH H ARTMANN / T OBIAS E BBRECHT -H ARTMANN

Historische Museen und Gedenkstätten bilden Verbindungspunkte zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie ermöglichen Zugänge zur Geschichte, die diese für unser heutiges Leben relevant und lebendig machen. Museen und Gedenkstätten, und insbesondere die pädagogische Rahmung dieser Orte, haben die Aufgabe, für historische Dokumente und Zeugnisse eine resonante Umgebung zu schaffen, durchaus in dem Sinne, wie es der Soziologe Hartmut Rosa in seiner Studie über resonante Weltbeziehungen beschrieben hat. Rosa zufolge bilden historische Orte und Zeiten „Berührungspunkte, an denen moderne Subjekte von der Kraft der Geschichte ergriffen werden – im Negativen wie im Positiven. […] [Die Besucher/innen] machen eine Erfahrung der Selbsttranszendenz, die sie selbst verändert; sie vernehmen einen Ruf, der Konsequenzen hat, sie fühlen sich gemeint. Die Begegnung mit der Geschichte wird so zu einem Prozess der transformativen Anverwandlung, der Verpflichtungscharakter in sich trägt.“1 Folgt man Rosas Ausführungen, sind es insbesondere historische Orte wie das Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart stiften und auf diese Weise ihre Besucher/innen ergreifen und aufwühlen. Durch das Bewusstsein, dass sich hier welthistorisch bedeutsame Ereignisse – oft verbrecherischer und traumatischer Art – zugetragen haben, eröffne der historische Ort „einen geheimen Zeittunnel, durch den eine transhistorische Verbindung geschaffen und der Strom der Geschichte wahrnehmbar werde.“2 Aleida Assmann und Juliane Brauer betonen

1

Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 503.

2

Ebd., S. 505.

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die emotionale Intensität dieser Begegnung mit historischen Orten, wenn sie hervorheben, dass in Gedenkstätten „die Besucher räumlich konkret und sinnlich hautnah nicht nur mit der Welt der ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager, sondern auch mit ihren eigenen Emotionen konfrontiert werden.“3 Was aber passiert an Orten, die – wie beispielsweise Museen – keine unmittelbare Verbindung zum vergangenen Ereignis stiften? Bleibt den Besucher/innen solcher Orte eine Resonanzerfahrung verwehrt? Oder können bestimmte museale Ausstellungstechniken sowie historiografische und pädagogische Rahmungen Vergangenheit und Gegenwart in Dialog miteinander treten lassen, so dass auf diese Weise wie Rosa schreibt, „das Vergangene als ein Anderes, das uns etwas angeht, lebendig und vernehmbar wird“?4 Im Folgenden werden wir untersuchen, inwiefern die israelische HolocaustGedenkstätte Yad Vashem ein Resonanzort geworden ist, obwohl es an diesem Ort keine unmittelbare topografische Verbindung zu den dort erinnerten Verbrechen gibt. In einem ersten Schritt zeichnen wir nach, wie Jüdinnen und Juden bereits während der Jahre der Vernichtung versucht haben, die Stimmen der Überlebenden und der Ermordeten vernehmbar zu machen, indem sie eine Art jüdisches Gegen-Gedächtnis zur antisemitischen Erinnerungskultur der Nationalsozialisten etablierten, das schließlich in dem Vorhaben mündete, einen Gedenkort für die in der Shoah Ermordeten in Israel zu schaffen. Daran anschließend analysieren wir, wie in der gegenwärtigen historischen Ausstellung und der pädagogischen Aufarbeitung der Geschichte der Shoah in Yad Vashem die jüdischen Stimmen in ein vielstimmiges und multiperspektivisches Erinnerungsgeflecht integriert werden, das resonante Beziehungen stiften kann. Wir orientieren uns dabei an einem Verständnis von Resonanz, das der Kulturwissenschaftler Stephen Greenblatt in direkter Auseinandersetzung mit musealen Ausstellungstechniken als die Kraft ausgestellter Objekte beschreibt, über ihre materiellen Grenzen hinaus zu wirken und in den Betrachter/innen ein komplexes und dynamisches Wechselspiel zu evozieren.5 In dieser Definition sind die Relationen zwischen ausgestellten Objekten und Besucher/innen, aber auch zwischen verschiedenen Ausstellungsobjekten, Text- und Medientypen

3

Assmann, Aleida/Brauer, Juliane: „Bilder, Gefühle, Erwartungen. Über die emotionale Dimension von Gedenkstätten und den Umgang von Jugendlichen mit dem Holocaust“, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (2011), S. 72–103, hier S. 73.

4

H. Rosa: Resonanz, S. 505.

5

Greenblatt, Stephen: „Resonance and Wonder“, in: Ivan Karp/Steven D. Lavine (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington/London: Smithsonian Institution Press 1991, S. 42–56, hier S. 42.

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zentral. Eine Ausstellung, die durch ein solches multimodales und vielschichtiges Beziehungsgeflecht Resonanzerfahrung bewirken kann, wirft wiederum neue Fragen auf und ermöglicht ein responsives Verhältnis zwischen Ausstellung und Besucher/innen. Als Beispiel für einen solchen musealen Resonanzort führt Greenblatt das Jüdische Museum in Prag an, das aus mehreren Synagogen und anderen Gebäuden besteht, die zusammen einen Gedenkkomplex bilden. Dabei geht es ihm nicht primär um die „authentischen“ Gebäude und Artefakte, sondern um eine bestimmte Erinnerungsatmosphäre, die einen eigentümlichen Effekt auf die Besucher/innen ausübt.6 Die spezifische Resonanzkraft des Ortes geht dabei insbesondere von der Intensität der dort präsenten Namen und der durch sie verkörperten Stimmen aus: „This resonance depends not upon visual stimulation but upon a felt intensity of names, and behind the names, as the very term resonance suggests, of voices: the voices of those who chanted, studied, muttered their prayers, wept, and then were forever silenced.“7

Resonanz beschreibt also die Anwesenheit von Abwesendem, eine transtemporale Qualität, die durch ein Zusammenspiel von Ort, Ausstellung und Erinnerung entsteht. Es geht dabei darum, Stimmen wieder vernehmbar zu machen, die zum Schweigen gebracht wurden, und Zusammenhänge und Beziehungen zu stiften, die uns, die Besucher/innen, in ein Gespräch verwickeln. Theodor W. Adorno hat eine solche atmosphärische Qualität in einem kurzen Text über Museen als „Kraftfelder“ bezeichnet, die zwischen betrachtendem Subjekt und ausgestelltem Objekt entstehen.8 Solche Kraftfelder holen die scheinbar leblosen, „museal“ gewordenen Gegenstände ins lebendige Bewusstsein der Besucher/innen.9 Auf diese Weise, so Adornos Fazit, „verlangen die Museen nachdrücklich, was eigentlich schon jedes Kunstwerk verlangt: etwas vom Betrachter.“10 In unserer Analyse von Yad Vashem als Resonanzort geht es also weniger um die Fragen nach Bedeutung und sinnstiftender Aufladung, die bereits im Zentrum zahlreicher früherer Studien über Holocaust-Gedenkstätten und Museen

6

Ebd., S. 46.

7

Ebd.

8

Adorno, Theodor W.: „Valéry Proust Museum“, in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften Band 10.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 181–194, hier S. 192.

9

Ebd., S. 181.

10 Ebd., S. 194.

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standen.11 Vielmehr fragen wir danach, wie in der Gedenkstätte Beziehungen gestiftet werden, Beziehungen zur zerstörten jüdischen Diaspora in Europa vor und während des Holocaust, sowie Beziehungen zwischen verschiedenen Perspektiven, die für die Geschichte des Holocaust konstitutiv sind, aber auch Beziehungen, die an diesem Ort und zu diesem Ort des Gedenkens entstehen. Diese Beziehungen ermöglichen dynamische und komplexe Zugänge zur Vergangenheit im Modus der Kopräsenz.

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„Kein Hund wird für uns heulen.“ Kurz vor seinem Tod im Juli 1943 beschrieb der polnisch-jüdische Historiker Isaac Schiper im Vernichtungslager Majdanek mit diesem Satz seine Sorge vor der Auslöschung der Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungswahns: „Everything depends on who transmits our testament to future generations, on who writes the history of this period. […] What we know about murdered peoples is only what their murderers vaingloriously cared to say about them. Should our murderers be victorious, should they write the history of this war, our destruction will be presented as one of the most beautiful pages of world history […].“12

Der drohende Triumph der Geschichte der Sieger und die Auslöschung der Erinnerung an die Opfer, sie dienten als Motivation einer jüdischen Gegengeschichtsschreibung, die ihre Spuren auch in der Entstehungsgeschichte von Yad Vashem hinterlassen hat. Während in Europa noch der Krieg tobte und die Deportationszüge in die Vernichtungszentren rollten, stellte Mordechai Shenhavi auf einer Vorstandssitzung des Jewish National Fund im September 1942 einen ersten Plan zur Errichtung einer Gedenkstätte für die „Shoah der Diaspora“ im

11 Vgl. z. B. Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 267; Goldberg, Amos: „The ‚Jewish Narrative’ in the Yad Vashem Global Holocaust Museum“, in: Journal of Genocide Research 2 (2012), S. 187–213. 12 Zit. n. Kassow, Samuel D.: Who Will Write Our History? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto, and the Oyneg Shabes Archive, Bloomington: Indiana University Press 2007, S. 210. Vgl. Rupnow, Dirk: Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen: Wallstein 2005, S. 31–32.

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damaligen Britischen Mandatsgebiet Palästina vor.13 Dieser Plan wurde zunächst abgelehnt, doch als er sein Konzept 1944 erneut präsentierte, entstand bereits die Idee eines Namens für diesen Ort: „Yad Vashem“, wörtlich übersetzt „ein Denkmal und ein Name“, abgeleitet aus dem biblischen Buch Jesaja.14 Der Name als zentraler Berührungspunkt zwischen Vergangenheit und Gegenwart steht bereits hier im Zentrum des Vorhabens, einen Erinnerungsort zu schaffen. Im August 1945, drei Jahre nach Shenhavis erstem Vorschlag, wurde sein Plan auf dem zionistischen Kongress in London erneut erörtert. Im Mai 1946 eröffnete Yad Vashem mehrere Büros, die aber wegen des Unabhängigkeitskrieges 1948 wieder schließen mussten. 1953, fast fünf Jahre nach der Gründung des Staates Israel, beschloss dann die Knesset per Gesetz die Gründung von Yad Vashem. Als erste Einrichtung begann 1958 das Forschungsinstitut seine Tätigkeit. Dieses stellte sich bewusst in eine Tradition jüdischer Geschichtsschreibung, die, ganz im Sinne von Schipers Warnung, grundlegend von der jüdischen Erfahrung des Holocaust, der versuchten Auslöschung des jüdischen Volkes und seiner Geschichte beeinflusst war. Das Aufschreiben, also Dokumentieren, sowie das Schreiben der Geschichte der jüdischen Opfer waren für die Mitarbeiter/innen der Gedenkstätte zentral. Das Gedenken an diesem Ort definierte sich also gewissermaßen als Gegensatz zur antisemitischen Erinnerungskultur der Nationalsozialisten.15 Es war und ist geprägt vom Bestreben, Juden wieder zu Subjekten ihrer eigenen Geschichte zu machen. Eine der Mitbegründerinnen der Forschungseinrichtung und des angeschlossenen Archivs in Yad Vashem war Rachel Auerbach, während des Krieges Mitarbeiterin von Emmanuel Ringelblum, der im Ghetto Warschau zusammen mit einer Gruppe junger Jüdinnen und Juden die Zustände im Ghetto und die Geschichten seiner Bewohner/innen für die Nachwelt dokumentierte.16 Das in diesem Geist entstandene Archiv war ein Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Geschichtsschreibung, eine Art Flaschenpost der Opfer. Die Dokumentation der Verbrechen während und unmittelbar nach dem Holocaust bildet also, verstärkt durch biographische Bezüge wie im Fall von Rachel Auerbach, ein zentrales Kapitel der Vorgeschichte Yad Vashems. Dazu gehört auch die im Sommer 1944 in Lublin von jüdischen Intellektuellen gegründete

13 Young, James E.: „Israel“, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn: bpb 2005, S. 292–307, hier S. 296. 14 J. Young: Beschreiben des Holocaust, S. 289. 15 Vgl. D. Rupnow: Vernichten und Erinnern, S. 32. 16 Vgl. S. Kassow: Who Will Write Our History?

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„Zentrale Jüdische Historische Kommission“, die es sich zur Aufgabe machte, Zeugnisse und Beweise des Judenmordes zu sammeln und zu sichern. Die sich auf diesen Zeugnissen gründende jüdisch-israelische Erinnerungskultur war allerdings alles andere als homogen. Zu verschiedenen Zeiten dominierten unterschiedliche Erinnerungsperspektiven, in denen die Opfer mal als Held/innen, mal als Märtyrer/innen, mal als Zeug/innen und mal als Leidende stärker in den Fokus rückten. All diese unterschiedlichen Gewichtungen aber beruhen auf demselben Grundverständnis, das Yehuda Bauer 1998 in einer Rede vor dem deutschen Bundestag auf den Punkt brachte, in der er betonte, dass die Shoah „der Plan der totalen Vernichtung des jüdischen Volkes und der Mord an all den Juden, deren die Mörder habhaft werden konnten“ gewesen war.17 Mit den Juden sollte auch die Erinnerung an sie, an ihre Kultur, Geschichte und Identität vollständig vom Angesicht der Erde getilgt werden. Es ging den Nationalsozialisten dabei aber, wie der Historiker Dirk Rupnow hervorgehoben hat, nicht um die Auslöschung der Erinnerung an sich, sondern um eine „Arisierung des Gedächtnisses“, also darum, für die Nachwelt bestimmen zu können, wer die Juden und was die jüdische Kultur gewesen sein würden.18 Es ging um nichts anderes als die Überschreibung des jüdischen Gedächtnisses mit dem Narrativ der Täter/innen. Gegen diese Form der Gedächtnispolitik setzte sich bereits während des Krieges die jüdische Historiografie zur Wehr. Ihre Sammlungen und Dokumentationen sollten die Darstellungen der Täter/innen unterlaufen, indem sie zu verhindern versuchten, dass die Geschichtsschreibung und ihre Deutung aus der Sicht und auf Grundlage der Dokumentationen der Mörder geschehen würden. Was folgt aus dieser Entwicklung nun für die Arbeit und die musealen und pädagogischen Ansätze in Yad Vashem? Zunächst einmal hinterließen sie ihre Spuren in der Betonung des Individuums, des einzelnen Schicksals, manifestiert in der Verpflichtung, den Opfern ihre Namen und ihre Identität zurück zu geben und, damit eng verbunden, Geschichte in ihrem Verlauf wiederzugeben, als ein von Brüchen und Wendepunkten durchzogenes biographisches Kontinuum des Lebens vor, während und nach der Katastrophe. Yad Vashem wurde so zu einem Ort, an dem die Stimmen der Ermordeten und Überlebenden vernehmbar werden sollten, nicht nur durch eine historische Ausstellung und ein vielschichtiges Erinnerungsensemble, das durch die Errichtung verschiedener Denkmäler und Gedenkorte auf dem Gelände der Gedenkstätte entstand, sondern vor allem durch

17 Bauer, Yehuda: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht: Interpretationen und Re-Interpretationen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 317. 18 D. Rupnow: Vernichten und Erinnern, S. 315.

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das Vorhaben, die Namen der Ermordeten zu dokumentieren und mit ihnen die Erinnerung an die Opfer an diesem Ort nachhallen zu lassen.19 Dieser zentrale Ansatz spiegelt sich in dem Bemühen wieder, sowohl im Museum als auch in den pädagogischen Materialien von Yad Vashem die Geschichte der Shoah aus der Sicht der Betroffenen und folglich auf der Grundlage von Ego-Dokumenten zu erzählen. Gleichzeitig zeugt dies vom Bestreben, die Kontinuität der Fremdwahrnehmung zu durchbrechen. Beides verbindet sich zu einem resonanten Gefüge, das die Vergangenheit jüdischen Lebens und Leidens in der gegenwärtigen Topografie Jerusalems vernehmbar zu machen versucht.

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UND

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In der Ausstellung schaffen Ego-Dokumente und Zeugnisse Zugänge zur Vergangenheit und sollen dabei helfen, jüdische Stimmen und Geschichten aus der Shoah hörbar zu machen. Das Zusammenspiel verschiedener Text- und Medientypen ist dabei zentral. Auf diese Weise schafft die Ausstellung ein vielschichtiges, aus verschiedenen Fragmenten zusammengesetztes „Bild“ der Vergangenheit, das aber keineswegs fixiert, sondern hochgradig dynamisch ist. Es entsteht in Abhängigkeit von der spezifischen Wahrnehmung und Perspektive der Betrachter/innen sowie der Kontextinformationen, die durch Vorwissen, den Audioguide oder eine Ausstellungsführung zur Interaktion mit den Objekten, ihrer räumlichen Anordnung und den damit verbundenen Zeitachsen hinzutreten. Das Modell für dieses kuratorische Prinzip findet sich zu Beginn der Ausstellung. Zwei Installationen betonen unmittelbar nach dem Eintreten in die langgezogene prismaförmige Halle, die von verschiedenen Galerien durchkreuzt und durchbrochen wird, den Modus der mehrschichtigen und multimodalen Montage. Die Wandprojektion „Living Landscape“ von Michal Rovner evoziert die Vorgeschichte der Shoah als filmisch-künstlerische Wiederbelebung jüdischen Lebens in Europa. An den Betrachter/innen zieht eine in Jiddisch verfasste Landkarte vorbei, auf der Film- und Bildfragmente jüdisches Leben als zentralen Bestandteil des Vorkriegseuropas markieren. Der sich wiederholende LoopCharakter und das Ein- und Ausblenden betonen noch den porösen Eindruck dieser Bewegbildinstallation, durch die die zerstörte diasporische Existenz gleichsam in die israelische Gegenwart projiziert wird. Die dreizehn Meter hohe dreieckige Außenwand des Ausstellungsgebäudes wird dadurch zu einer transparenten Leinwand, die den Blick in eine vergangene und zerstörte Welt eröffnet. Auf

19 J. Young: „Israel“, S. 296.

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diese Weise konstituiert die Projektion einen transitorischen Zwischenbereich, der die Kopräsenz zweier Zeitebenen in der wechselhaften jüdischen Geschichte markiert.20 Die zweite programmatische Installation verbindet durch eine ähnliche Technik die Erinnerung an die Katastrophe des Massenmords mit dem zerstörten Leben vor der Shoah. Zwei einander gegenüber hängende großformatige Fotografien zeigen auf Scheiterhaufen aufgeschichtete ermordete Menschen. Sowjetische Soldaten hatten diese letzten Spuren der Vernichtung im Konzentrationslager Klooga entdeckt. Vor den Fotografien befinden sich Glasplatten, auf denen semitransparente Reproduktionen privater Fotografien angebracht sind, die in den Taschen der Ermordeten gefunden worden waren. Zwei kleine Vitrinen kontextualisieren die Fotos mit anderen Objekten und biographischen Informationen zu ihren Besitzern. Die Betrachter/innen können alle drei Schichten zueinander in Beziehung setzen. Auf diese Weise entsteht wiederum der Eindruck einer Kopräsenz mehrerer Zeitebenen, der unmittelbaren Nachgeschichte der Vernichtung und ihrer Vorgeschichte, die in einem transitorischen Zwischenraum die Erinnerung an die Verbrechen bewahrt. Die durch die Anordnung von verschiedenen Objekten im Ausstellungsraum hervorgerufene Mehrschichtigkeit zeigt sich auch im Umgang mit den Arbeiten des jüdischen Fotografen Mendel Grossman. In der Art, wie Grossmans Geschichte und sein fotografisches Vermächtnis in die Ausstellung integriert werden, überkreuzen sich kuratorisch-didaktische Zugänge, die Betonung von Selbstbehauptungs- und Überlebensstrategien, und der methodisch-mediale Zugang auf der Basis von vielstimmigen und durchaus ambivalenten Dokumenten und Fotografien. Grossman wurde 1917 in Łódź geboren. Nach der Besatzung Polens kämpfte er einige Zeit im Widerstand. Er wurde jedoch entdeckt und in das Ghetto Litzmannstadt eingewiesen. Dort arbeitete er für die StatistikAbteilung der Ghetto-Selbstverwaltung und hatte die Aufgabe, für diese zu fotografieren. Daneben machte er auch ohne Auftrag Aufnahmen. Mit seiner unter einem Mantel versteckten Kamera fotografierte er, was er sah. Im Spätsommer 1944 kam er in das Arbeitslager Königs-Wusterhausen (bei Berlin). Krank und erschöpft wurde er dort in der Gegend 1945 auf einem Todesmarsch erschossen. Seine zahlreichen Negative hatte er versteckt. Viele wurden nach dem Krieg wieder entdeckt und veröffentlicht. Grossmans Fotos sind einzigartige Fotodokumente aus der Perspektive der jüdischen Verfolgten, die sowohl im Auftrag des Judenrats im Ghetto Łódź auf-

20 Perry, Rachel E.: „Holocaust hospitality. Michal Rovner’s Living Landscape at Yad Vashem“, in: History and Memory 2 (2016), S. 89–122, hier S. 90.

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genommen als auch heimlich fotografiert worden waren. Sie stellen „Berührungspunkte“21 zwischen Vergangenheit und Gegenwart dar und ermöglichen einen Zugang zur Geschichte, der diese für unser Leben heute relevant, lebendig macht. Die aktuelle Ausstellung in Yad Vashem schafft für diese Zeugnisse eine resonante Umgebung. In der Ausstellung hängen Grossmans Fotografien in spannungsreichem Kontrast zu Aufnahmen des deutschen Verwaltungsangestellten Walter Genewein, der mit seiner privaten Kamera Farbaufnahmen im Ghetto gemacht hatte. Auf der einen Seite gehen die unterschiedlichen visuellen Artefakte eine komplementäre Beziehung zueinander ein und ermöglichen so einen Eindruck von der historischen Situation im Ghetto. Auf der anderen Seite können die Besucher/innen in der vergleichenden Betrachtung der aus verschiedenen Perspektiven aufgenommenen Fotografien Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen und diese im Kontext von Fremd- und Selbstbildern dekodieren. Dies ist allerdings nur möglich, wenn sie durch weitere kontextuelle Rahmungen wie eine Ausstellungsführung oder den Audioguide mehr über den Hintergrund der Aufnahmen erfahren. Allerdings verstärken auch die in die kuratorische Gestaltung des Ausstellungsraumes eingefügten medienreflexiven Ausstellungsstücke und Erklärungen, wie ein Fotoalbum zur Demonstration der „Effizienz“ des Ghettos als „Wirtschaftsstandort“ oder viersprachige Notizen, die ein unbekannter Autor zwischen Mai und August 1944 an den Rand eines französischsprachigen Romans geschrieben hat, deren Resonanzcharakter. Durch dieses Zusammenspiel verschiedener Quellen lassen sich auch Täterperspektiven in die Ausstellung integrieren. Ein Beispiel dafür ist ein Ausstellungsfilm, der auf ähnliche Weise die Zustände im Ghetto Theresienstadt zu verdeutlichen sucht. In diesem Film sind zwei verschiedene Perspektiven durch unterschiedliche visuelle Dokumente wie in einer kontrastiven Kollage nebeneinander montiert. Mit Hilfe eines Splitscreens können die Besucher/innen gleichzeitig Filmaufnahmen aus dem Ghetto und Zeichnungen von Mitgliedern des jüdischen „Zeichenkommandos“ sehen. Die schwarzweißen Filmdokumente entpuppen sich dabei als propagandistische Verklärung des Ghettos, während die teilweise surrealistisch anmutenden Zeichnungen als akkurate Dokumentation einer Realität zutage treten, die in sich grundlegend verkehrt ist. Andere Räume der Ausstellung kontrastieren das visuelle Gedächtnis der Täter/innen mit den Stimmen der Überlebenden, so zum Beispiel in der Galerie über das Warschauer Ghetto. Dieses Verfahren wird durch Führungen noch intensiviert, in denen Zitate von Opfern und Überlebenden den atmosphärischen Hintergrund bilden, vor dem die Besucher/innen die Ausstellung wahrnehmen.

21 H. Rosa: Resonanz, S. 503.

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Gerade solche Vielstimmigkeit und die daraus resultierende Multiperspektivität haben sich als besonders wichtige Ansätze einer „transformativen Anverwandlung“22 im Sinne von Rosas Resonanzkonzept bewährt. Sie schaffen emotionale Zugänge, durch die sich Empathie mit den Opfern mit der Reflexion des Ortes verbindet. Differenzerfahrung, also die Differenz zwischen unserer heutigen Welt und der Zeit der Shoah, aber auch die Differenz zwischen der Situation der heutigen Besucher/innen und der der damaligen jüdischen Opfer, ist dafür zentral. Sie gilt auch und besonders für die Integration der Stimmen der Täter/innen. Differenz ist eine wichtige Voraussetzung für Resonanzerfahrungen, denn ihr Ziel ist weder die Wiederherstellung der Vergangenheit, noch das Nachfühlen, sondern ein Modus der dialogischen Kopräsenz von Vergangenheit und Gegenwart: „Geschichte wird mithin dort zu einem Resonanzraum, wo Vergangenheit und Gegenwart, oder mehr noch: Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart in einen Dialog treten, wobei das Vergangene als ein Anderes, das uns etwas angeht, lebendig und wahrnehmbar wird.“23

Nicht nur die Vergangenheit ist ein Anderes, das zu unserer Gegenwart hinzutritt. Auch die Vergangenheit selbst vermittelt sich uns zunehmend als vielstimmiges Erfahrungsgeflecht, in dem die Subjekte der Geschichte als, wie Rosa an anderer Stelle anmerkt, mit „eigener Stimme sprechend, also als zurück tönend“24 auftreten. Auf diese Weise entsteht ein dialogisches Verhältnis mit der Vergangenheit, die wiederum als komplexes Zusammenspiel verschiedener Perspektiven erfahrbar wird. Dies zeigt sich auch im Umgang mit den nationalsozialistischen Täter/innen. Ein frühes Beispiel für diesen Umgang ist die in Yad Vashem an zentraler Stelle aufgestellte Skulptur Der Aufstand im Warschauer Ghetto von Nathan Rappaport, die eindeutig und ausschließlich das Heldentum betont. Ihr beigeordnet ist das Relief Der letzte Marsch, welches – ikonografisch angelehnt an die Darstellung des jüdischen Exils – den Weg in die Todeslager zeigt. Die abgebildeten Alten, Frauen und Kinder gehen mit gesenktem Blick der Vernichtung entgegen. Täter/innen kommen auf den ersten Blick in dieser Anordnung nicht vor. Doch wenn man genauer hinschaut, dann erkennt man im Hintergrund Helme und Bajonette. Obwohl wir keine Gesichter und damit auch keine handelnden Akteure

22 Ebd. 23 Ebd., S. 504–505. 24 Ebd., S. 285.

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erkennen, verweisen diese Objekte implizit auf die Frage, wie die Handlungen der Opfer verstanden werden können, wenn sie nicht in Relation zur Handlungsmacht der Täter/innen interpretiert werden. Obwohl auch weiterhin die Opfer und ihre Schicksale im Zentrum stehen, zeigt sich im Museum ein Paradigmenwechsel. Unter den ausgestellten Objekten, Fotografien und Dokumenten befinden sich auch zahlreiche, eindeutig als solche markierte „Täterdokumente“, die die Konstruktion „der Juden“ in offiziellen Schreiben, aber auch privaten Fotoalben zum Gegenstand haben. Vor allem aber sind es die sogenannten „Täterkästen“, die die Perspektive der nationalsozialistischen Täter (allerdings nicht die der Täterinnen) einerseits in die Ausstellung integrieren und sie andererseits davon abheben. Durch dieses Medium, das eine aktive Handlung, nämlich das Öffnen des Kastens, voraussetzt, kommt die Ausstellung zum ersten Mal explizit auf (allerdings ausschließlich männliche) Täter zu sprechen – und wirft damit die zentrale Frage auf, wer eigentlich für den Massenmord und seine Ausführung verantwortlich gewesen ist. Diese zugegebener Maßen nicht allzu ausführlichen Täterbiographien verdeutlichten das auch in Yad Vashem zunehmende Interesse an der Frage, wie Menschen zu Massenmörder/innen wurden.

M ULTIPERSPEKTIVISCHES L ERNEN Für die Geschichtspädagogik in Yad Vashem war in den letzten Jahren insbesondere die Erkenntnis zentral, dass die Geschichte des Holocaust multiperspektivisch vermittelt werden muss, um eine kognitiv-empathische Lernhaltung zu fördern und einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen, durch den sich die Lernenden mit der Vergangenheit in Beziehung setzen und einen Dialog mit der eigenen Vorgeschichte beginnen können. Dieser multiperspektivische Ansatz reflektierte dabei nicht nur die im geschichtlichen Kontext der Shoah zu verortenden unterschiedlichen historischen Akteure, sondern auch die vielfältigen Perspektiven innerhalb der Lerngruppen. Darauf basiert beispielsweise die Unterrichtseinheit „Was geht mich die Geschichte an?“, die auf die zunehmende Distanz heutiger Schüler/innen zur historischen Epoche des Nationalsozialismus und des Holocaust reagierte. Um Zugänge zu dieser Vergangenheit zu schaffen und damit ein resonantes Verhältnis zu ermöglichen, wurden mehrere Faktoren berücksichtigt, die es den Lernenden möglich machen, Bezüge und Zugänge zu den Lebensgeschichten der historischen Protagonist/innen herzustellen. Dazu zählen komplexe, aus mehreren Identitätsschichten zusammengesetzte Persönlichkeiten, kulturelle Resonanzen und Bezüge zu heutigen Lebenswelten, trans-

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nationale und transkulturelle Bewegungen, Parallelen in der Altersstruktur sowie Individualität und Handlungsmacht.25 Methodisch orientiert sich die Unterrichtseinheit an einem narrativen und multimodalen Modell. Aus verschiedenen Dokumentfragmenten, Texten sowie Bildern rekonstruieren die Lernenden Lebensgeschichten aus der Zeit des Holocaust, die sie sich durch diese Montage und eine diese begleitende narrative Rahmung „aneignen“. In dieser Form der Auseinandersetzung bleibt aber die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart immer gewahrt. Die Lernenden befinden sich in der Position von Kurator/innen, die die Geschichten zu einem Gesamtbild „zusammensetzen“, das aber durch die rahmende Erzählung weiterhin dynamisch und veränderbar bleibt, mithin auf die Lebensrealitäten der Jugendlichen selbst reagiert. Die Geschichten sind dabei so ausgewählt worden, dass sie sowohl unterschiedliche Perspektiven verschiedener Akteure beinhalten als auch eine transnationale Dimension besitzen.26 Mit dieser multiperspektivischen Öffnung treten zunehmend die Perspektiven von nationalsozialistischen Akteur/innen neben die, oder besser gesagt in ein Spannungsverhältnis zu den Zeugnissen der Opfer. Die Täter/innen und ihr Handeln werden auf diese Weise zu einem zentralen Teil des Resonanzraums, den Yad Vashem eröffnet. Die Folge daraus war die Erweiterung der pädagogischen Konzepte und Zugänge. Der Fokus auf individuelle Geschichten und authentische Geschichte, durch die ein konkreter Lebenslauf in einen historischen Gesamtkontext eingebettet und der einzelne Mensch innerhalb seines Lebensentwurfes als selbstständige und selbstbestimmte Person wahrnehmbar wird, erscheint einleuchtend beim Lernen über die Opfer, aber er kann durchaus problematisch werden, wenn sich der Blick auf die Täter/innen richtet. Soll überhaupt eine empathische Lernhaltung eingenommen werden, wenn über jene Personengruppen gelernt wird, die nicht zu den Opfern gehörten, mehr noch, Menschen zu Opfern machten? Diese Frage verdichtet sich zum methodischen Problem, wenn Grenzfälle und Grauzonen menschlichen Handelns zum Thema werden, die die scheinbar klaren Konturen der Kategorien Täter/innen – Opfer – Zuschauer diffus erscheinen lassen. Welches Instrumentarium kann Lernenden an die Hand gegeben werden, um das Verhalten von Menschen in hochkomplexen historischen Konstellationen zu beurteilen? Dazu sollte jede menschliche Entscheidung weniger biographisch als vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Handlungskontextes betrachtet und in Re-

25 Vgl. Ebbrecht, Tobias/Hartmann, Deborah/Mkayton, Noa: Was geht mich die Geschichte an? Den Holocaust im 21. Jahrhundert unterrichten, Jerusalem: Yad Vashem 2012, S. 7–8. 26 Ebd., S. 15.

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lation zu vergleichbaren Kontexten gesetzt werden, ohne dass die moralische Urteilsfähigkeit der Lernenden verschwimmt. Eine solche Auseinandersetzung mit Entscheidungen und Handlungsoptionen sollte sich immer auf konkrete historische Ereignisse und Orte beziehen. Im Sommer 1941 verübten beispielsweise deutsche Polizisten und Wehrmachtsangehörige bei ihrem Einmarsch in Białystok ein Massaker an der jüdischen Bevölkerung. Elias Zinger beschrieb eindrucksvoll den Erwartungshorizont, vor dessen Hintergrund die jüdischen Bewohner/innen der Stadt auf den deutschen Einmarsch reagierten: „Wir erwarteten vom Einmarsch der deutschen Truppen nichts Gutes, weil wir schon manches gehört hatten. Aber dass man die Menschen einfach umbringen würde, haben wir nicht vorausgesehen.“27 Josef Bartoszko, Schabbesgoi in der Großen Synagoge, gelang es, die Haupttüre des brennenden Gotteshauses zu öffnen und einigen der darin Gefangenen zur Flucht zu verhelfen. Polizeiführer Heinrich Schneider leugnete später, an dem Synagogenbrand beteiligt gewesen zu sein, obwohl ein Zeuge ihn bei der Zerstörung der Inneneinrichtung gesehen hatte. Gefragt nach seiner Beteiligung an Erschießungen räumte er ein, „dass es damals auch andere Möglichkeiten gegeben hätte, um ein Herausbringen der Personen zu erreichen.“ Er gab jedoch unumwunden zu, „dass in meinem Herzen auf Grund meiner ideologischen Ausrichtung für derartige Gefühlsregungen kein Raum war.“28 Sidney Wapner, einziger Überlebender seiner Familie, wurde noch Jahrzehnte später von seinen Erinnerungen heimgesucht. Obwohl er seine Geschichte an Jugendliche weitergibt, glaubt er nicht daran, dass es möglich ist, das Erlebte zu erklären. Peter Wieners, Entlastungszeuge der Polizeiaktion in Białystok, erklärte vor Gericht trotzig, er könne „jedenfalls ruhig schlafen.“29 Im auf dem Massaker in Białystok und seinen Folgen basierenden Unterrichtsmaterial „Entscheiden und Handeln“ liegt der Fokus auf den Handlungen und Entscheidungen sämtlicher darin involvierter Akteur/innen, ohne dabei eine

27 Zinger, Elias: Aussage beim Wuppertaler Białystok-Prozess 1967/68, zit. n. Personenkarte – Bialystok – 27. Juni 1942, „Jüdische Einwohnerinnen und Einwohner Bialystoks,“ in: Hartmann, Deborah/Mkayton, Noa/Stocker, Anna/Thron, Oliver: Entscheiden und Handeln. Bialiystok – 27. Juni 1941: Das Massaker und seine Auswirkungen nach 1945, Jerusalem: Yad Vashem 2018. 28 Schneider, Heinrich: Aussage beim Wuppertaler Białystok-Prozess 1967/68, zit. n. Personenkarte – Bialystok – Auswirkungen nach 1945, „Heinrich Schneider,“ in: D. Hartmann et al.: Entscheiden und Handeln. 29 Zit. n. Lichtenstein, Heiner: Himmlers grüne Helfer. Die Schutz- und Ordnungspolizei im „Dritten Reich“, Köln: Bund-Verlag 1990, S. 86.

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Gleichsetzung der unterschiedlichen Gruppen zu vollziehen.30 Die Lernenden sollen sich mit verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten auseinandersetzen und diese zu den tatsächlich stattgefundenen Handlungen in Beziehung setzen, um die Komplexität des Spektrums möglicher Handlungsoptionen zu erkennen. Dadurch wird deutlich, dass Massaker wie das in Białystok nicht pathologisch erklärbar sind, sondern auf bewussten Entscheidungen von Menschen basieren. Damit wird das Phänomen Täterschaft aus dem Monströsen herausgelöst und als reale Option menschlichen Handelns und Entscheidens verstehbar, die innerhalb eines bestimmten Kontextes eine mörderische und kaum mehr kontrollierbare Eigendynamik annehmen kann. Die kontextabhängige Beurteilung menschlicher Handlungen unter Berücksichtigung der Optionen der Akteure ist dafür zentral.31 In einem ersten Schritt beschreiben die Lernenden auf der Grundlage verfügbarer Quellen die Handlungen und Entscheidungen der beteiligten Personen, dann rekonstruieren sie den Handlungskontext. Schließlich stellen sie Beziehungen zwischen den einzelnen Handlungen her und vergleichen sie.32 Im besten Fall wird so ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen und In-Dialog-Treten mit der Vergangenheit möglich. Auf diese Weise können Schüler/innen lernen, individuelles Handeln mit dem jeweiligen Handlungskontext in Beziehung zu setzen. Die Grundlage dafür bildet der gewählte multiperspektivische Zugang. Verschiedene Akteursperspektiven können aufeinander bezogen werden, um die Handlungen und ihre Auswirkungen auf einer synchronen Ebene zu beleuchten. Gleichzeitig folgt der Aufbau der Einheit einer asynchronen Struktur, indem jüdisches Leben in Białystok bis zum Massaker und dessen Nachgeschichte ebenfalls in den Blick genommen und mit dem historischen Ereignis in Bezug gesetzt werden. Zu dieser temporalen Mehrschichtigkeit kommt ein multimodaler Ansatz hinzu. Die Lernenden arbeiten mit verschiedenen Medien (Bildern, Texten) und in verschiedenen Lernumgebungen. Die Vorgeschichte jüdischen Lebens in Białystok wird beispielsweise durch eine online zugängliche virtuelle Lernumgebung vermittelt, die auf Zeug/innenberichte, Fotografien und Filme zurückgreift. In dieser und anderen pädagogischen Konzeptionen, die insbesondere im Kontext der deutschsprachigen pädagogischen Abteilung in Yad Vashem entwickelt wurden, findet sich der Ansatz, über den konkreten Erinnerungsort Yad Vashem hinaus die Geschichte der Shoah und die darin enthaltene spezifisch jü-

30 D. Hartmann et al.: Entscheiden und Handeln. 31 Ebd., S. 16. 32 Ebd., S. 18.

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dische Perspektive auch an anderen Orten und in neuen mehrschichtigen Zusammenhängen vernehmbar zu machen und widerhallen zu lassen.

R ESONANZORTE Durch vielstimmige und multimodale Montage entstehen in Yad Vashem resonante Ausstellungs- und Lernumgebungen, die ausgehend von konkreten Dokumenten und Lebensgeschichten darüber hinausgehende Erfahrungsräume eröffnen. Im Zentrum steht dabei eine Resonanzerfahrung die, wie bereits Greenblatt am Beispiel des Jüdischen Museums in Prag beobachtet hat, eng mit den Namen der Ermordeten verbunden ist. Der im Namen der Gedenkstätte enthaltene Bezug zu den Lebensgeschichten und Identitäten jener, die mit ihrem Leben auch ihrer Geschichte beraubt werden sollten, verbindet den Anspruch, den Ermordeten und Überlebenden eine Stimme zu geben und ihre Erfahrungen mit dem Ziel vernehmbar zu machen, Berührungspunkte zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu etablieren. Namen begegnen den Besucher/innen in Yad Vashem immer wieder. Sie finden sich auf den Plaketten, die auf dem Gelände der Gedenkstätte die Bäume markieren, die zu Ehren von nicht-jüdischen Retter/innen, sogenannten Gerechten unter den Völkern, gepflanzt wurden. Die Namen und knappen Angaben zum Herkunftsland provozieren dabei weitere Fragen nach den hier erinnerten Schicksalen und fordern zum individuellen Nachforschen beispielsweise mit Hilfe der online zugänglichen Datenbank der Gerechten auf. Diese Praktiken des Nachfragens und Nachforschens, die allerdings stark vom Interesse und der Bereitschaft der Besucher/innen sowie vom Kontext abhängen, den Führungen, pädagogische Seminare, der Audioguide oder andere Rahmungen vermitteln, intensivieren die Resonanzerfahrung an diesem Ort. Eng damit verbunden ist eine emotionale Intensivierung, die wiederum durch multimodale Präsentationsformen (Texte, Stimmen, Bilder, Räume) unterstützt wird. In Ergänzung zur Ausstellung tritt die resonante Verbindung von Raum, Bildern, Stimmen und Namen besonders deutlich an zwei Orten auf dem Gelände der Gedenkstätte hervor, die für viele Besucher/innen mit besonders emotionalen Erfahrungen verbunden sind. Am Ende des Ausstellungsgebäudes betreten sie die Halle der Namen, die dem horizontal in den Berg eingefassten Prisma eine vertikale Ebene hinzu fügt. Über den Köpfen der Besucher/innen spannt sich eine trichterförmige Kuppel, die Fotografien von Ermordeten und Reproduktionen sogenannter Gedenkblätter zeigt, mit denen die Namen der Opfer erfasst und dokumentiert werden. Die Wände der Halle zitieren die Regale einer Bibliothek, in

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der leere Regalebenen all jene symbolisieren, deren Geschichten noch unbekannt geblieben sind. Vertikal in die Tiefe des Berges hinein eröffnet sich ein Abgrund, dessen dunkler, mit Wasser bedeckter Boden wiederum die Kuppel mit den Porträtfotografien spiegelt. Durch diese Komposition schafft die Halle eine Atmosphäre, in der durch den Kuppelcharakter die Stimmen der Anwesenden (aber auch die Stille der Abwesenden) widerhallen.33 Die Halle der Namen findet ihre Entsprechung im Kindermemorial, das an die 1,5 Millionen in der Shoah ermordeten Kinder erinnert. Die Besucher/innen betreten eine dunkle Halle, erblicken dort zunächst großformatige Porträts von Kindern, die durch eine mehrschichtige und transparente Spielgelkonstruktion durchlässig und flüchtig erscheinen, bevor sie durch eine Passage zwischen mehreren Spiegeln hindurch gehen, die die Flammen von Jahrzeit-Kerzen vervielfältigen. Durch die Verbindung von flüchtiger Bildwahrnehmung, Raumerfahrung und Tönen, insbesondere den Namen der ermordeten Kinder, wird das Kindermemorial zu einem Ort der Erinnerung durch Resonanzerfahrung. Die Halle der Namen und das Kindermemorial verdeutlichen noch einmal, dass Resonanzerfahrung direkte Folge bewusster kuratorischer Entscheidungen und installatorischer Arrangements ist. Diese übersetzen historische Perspektiven und die interpersonalen Beziehungen der handelnden Akteur/innen in das Zusammenspiel von Text- und Medienformen. Dieses Zusammenspiel ermöglicht mehrschichtige Zugänge zur Vergangenheit und bedingt individuelle Erfahrungen in der Gegenwart des Museumsbesuchs. Eingebettet in eine Vielfalt von Rahmungen, erklärenden Stimmen und divergierendem Kontextwissen folgt dar-

33 Oft wird im Hinblick auf das Arrangement der Halle deren sakraler Charakter hervorgehoben. Jennifer Hansen‐Glucklich sieht hier beispielsweise eine „evocation of the sacred in Yad Vashem“. Hansen‐Glucklich, Jennifer: „Evoking the Sacred. Visual Holocaust Narratives in National Museums“, in: Journal of Modern Jewish Studies 2 (2010), S. 209–232, hier S. 217. Sakralität und Resonanz, das verdeutlicht bereits das Zitat von Greenblatt mit dem darin enthaltenen Hinweis auf Gebete, stehen in enger Beziehung zueinander. Unser Ansatz, auf Vielstimmigkeit und multimodaler Mediennutzung basierende Resonanzräume zu beschreiben, die den Besucher/innen einerseits Zugang zu komplexen interpersonalen Beziehungs- und Zeitverhältnissen ermöglichen, andererseits emotional ansprechen (und im besten Fall auch aktivieren), geht aber bewusst über das Konzept des Sakralen hinaus. Der darin oft mitschwingenden Konnotation der Manipulation und der daraus resultierenden Passivität setzen wir Möglichkeiten sinnlicher und kognitiver Aneignung entgegen, die durch multimodale Ausstellungsumgebungen geschaffen werden. Zentral dafür ist, dass wir das Museum und den Gedenkort als Teil einer mehrschichtigen Lernumgebung sehen.

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aus ein In-Beziehung-setzen mit Geschichte, das im besten Fall dialogische Formen annehmen kann. In Yad Vashem finden sich mehrschichtige und multimodale Arrangements somit sowohl auf der Ebene der Topografie des Ortes, die verschiedene Mahnmale, Denkmäler und Erinnerungsräume in ein (mitunter spannungsreiches) Wechselverhältnis zueinander bringt, als auch in der Anordnung und Komposition der Ausstellung (durch die kuratorische Montage von Bildern und Zeugnissen, die unterschiedliche Perspektiven widerspiegeln) und der diese begleitenden und räumlich überschreitenden pädagogischen Rahmung. Letztere setzt dabei insbesondere auf die Erweiterung der Perspektiven, die zunehmend auch Täter/innen umfassen und auf die eigenständige Zusammenführung von Geschichtsquellen setzen. Durch die aktive Verbindung unterschiedlicher Dokumente (Bilder, Filme, Zeugenberichte, Erinnerungen) werden diese erzählbar und entfalten Wirkkraft in der Gegenwart der Lernenden, indem Geschichte sie „etwas angeht“ (Rosa). Auf diese Weise gelingt eine nicht nur multimodale, sondern auch multiperspektivische Auffächerung der Geschichte der Shoah als ein Geflecht von Handlungs- und Entscheidungsoptionen, das spezifische Resonanzeffekte in der Gegenwart der Lernenden produziert, die daraufhin zur Geschichte in eine dialogische Beziehung treten können.

L ITERATUR Adorno, Theodor W.: „Valéry Proust Museum“, in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften Band 10.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 181–194. Assmann, Aleida/Brauer, Juliane: „Bilder, Gefühle, Erwartungen. Über die emotionale Dimension von Gedenkstätten und den Umgang von Jugendlichen mit dem Holocaust“, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (2011), S. 72–103. Bauer, Yehuda: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht: Interpretationen und Re-Interpretationen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Ebbrecht, Tobias/Hartmann, Deborah/Mkayton, Noa: Was geht mich die Geschichte an? Den Holocaust im 21. Jahrhundert unterrichten, Jerusalem: Yad Vashem 2012. Kassow, Samuel D.: Who Will Write Our History? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto, and the Oyneg Shabes Archive, Bloomington: Indiana University Press 2007.

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Goldberg, Amos: „The ‚Jewish Narrative‘ in the Yad Vashem Global Holocaust Museum“, in: Journal of Genocide Research 2 (2012), S. 187–213. Greenblatt, Stephen: „Resonance and Wonder“, in: Ivan Karp/Steven D. Lavine (Hg.): Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington/London: Smithsonian Institution Press 1991, S. 42–56. Hansen‐Glucklich, Jennifer: „Evoking the Sacred. Visual Holocaust Narratives in National Museums“, in: Journal of Modern Jewish Studies 2 (2010), S. 209–232. Hartmann, Deborah/Mkayton, Noa/Stocker, Anna/Thron, Oliver: Entscheiden und Handeln. Bialiystok – 27. Juni 1941: Das Massaker und seine Auswirkungen nach 1945, Jerusalem: Yad Vashem 2018. Perry, Rachel E.: Holocaust hospitality. Michal Rovner’s Living Landscape at Yad Vashem, in: History and Memory 2 (2016), S. 89–122. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2016. Rupnow, Dirk: Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen: Wallstein 2005. Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Young, James E.: „Israel“, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn: bpb 2005, S. 292–307.

Is it history that has the capacity to save us? Über die Zukunft der Erinnerung an den Nationalsozialismus M IRJAM Z ADOFF

M OBILIZING M EMORY „Memories are the very fabric from which we are woven. They are intimate, bodily, internal. They enable us to perceive the world, build our coherent selves. But they are also contained in the objects we touch, use and produce; they are mediated through public images and tropes. They can be shared, exchanged and transmitted in familiar and communal settings. In the process and the aftermath of oppression, persecution, war and genocide, when personal coherence is threatened and intimacy evacuated, memories can weigh us down, repeating themselves in traumatic re-enactment. How can intimacy and interiority be reclaimed? How can memories of political violence and atrocity become the occasion for solidarity across space and time? How can they incite action aimed at creating a more just polity?“1

Erinnerungen sind in erster Linie eine persönliche und intime Angelegenheit, auch und besonders, wenn es um die individuelle Bewältigung von Trauma geht. Erinnerung impliziert immer auch die Option von Vergessen oder die Sehnsucht

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Collaborative Archives: Connective Histories, in: Women Mobilizing Memory/ Collaborative Archives: Connective Histories, Ausstellungskatalog, New York 2015, S. 7. Das Titelzitat bezieht sich auf eine Aussage des afroamerikanischen Historikers John Hope Franklin.

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nach der möglicherweise heilsamen Kraft, die das Vergessen verspricht. Die individuelle Erinnerung steht aber zugleich in Zusammenhang mit einer kollektiven Reaktion und Konsequenz, die weit über den zeitlich und örtlich begrenzten Raum der Ereignisse – der Verletzungen, der Verbrechen – hinausgeht. Können individuelle Traumata die Basis bilden für eine kollektiv erinnerte Vergangenheit und damit Entwürfe anbieten für eine gerechtere Form des Zusammenlebens in der Zukunft – und damit nichts anderes als die viel diskutierten, häufig angezweifelten „lessons from the past“ – das Lernen aus der Geschichte? Işin Önol und Katherine Cohn, die Kuratorinnen von „Collaborative archives – Connective histories“ stellten den eingangs zitierten Text an den Beginn des begleitenden Ausstellungskataloges. Das Projekt wurde 2015 im Rahmen von „Women Mobilizing Memory“ an der Columbia University in New York City realisiert. „Women Mobilizing Memory“ ist eine Gruppe von Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen aus den USA, Chile, Argentinien und der Türkei, die sich individuell und gemeinsam dem Studium der „politics of memory“ widmen, und sie tun das vornehmlich aus der Perspektive von sozialen und Genderfragen. In dem Ausstellungsprojekt ging es im Besonderen um vielgestaltige Formen der Archivierung von Erinnerung – der inhaltliche Bogen war weit gespannt vom Onlinearchive für die Geschichte von vertriebenen Kurd/innen bis zu den Aufzeichnungen und Artefakten einer amerikanischen Familie, die über zehn Jahre in Obdachlosigkeit lebte.2 „Women Mobilizing Memory“ verstehen sich als Plattform, die zwischen Institutionen, Gruppen und Individuen vermittelt, um Safe Spaces für Erinnerungsdiskurse zu schaffen. Zumeist geht es um die Entwicklung virtueller Räume für eine mobile und fluide Archivierung der Erinnerungen all jener, deren Erzählungen keinen Platz finden in den meist zutiefst homogenen nationalen Archiven und Mythen. Ungewöhnlich und innovativ an diesem Projekt ist vor allem der Zusammenschluss von Wissenschaft, Kunst und Aktivismus, der einen vielstimmigen und demokratischen Diskurs ermöglichen soll. Können die Fragen, die im Rahmen von „Women Mobilizing Memory“ gestellt werden, auch auf unsere deutschen und österreichischen Erinnerungsdiskurse angewandt werden? Auf die Erinnerung und das Gedenken an die im Namen des Nationalsozialismus begangenen Genozide und Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Bilden ähnliche interdisziplinäre Plattformen von Wissen-

2

Women Mobilizing Memory/Collaborative Archives: Connective Histories, Ausstellungskatalog, New York 2015, https://www.socialdifference.columbia.edu/publica tions-1/collaborative-archives-connective-histories-exhibit-catalogue.

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schaft, Kunst und Aktivismus die – oder eine mögliche – Zukunft für Erinnerung und Gedenken hierzulande? Die Notwendigkeit eines Neudenkens von Erinnerung stellt heute, in einer sich rapide verändernden politischen Kultur, eine der großen Herausforderungen dar. Nachdem wir uns sicher glaubten, zu wissen wie es geht mit dem Gedenken und Erinnern, sehen wir uns konfrontiert mit gewählten und vom Volk legitimierten Regierungen, die sich nicht scheuen, den Holocaust zu instrumentalisieren und Geschichte umzuschreiben mit dem Ziel, nationalistische Ausgrenzungspolitiken zu legitimieren. Historische Museen in Litauen, Polen, Tschechien oder Ungarn werden in Zentren nationalistischer Politik verwandelt, in denen alternative Wahrheiten generiert und als neue Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit vermittelt werden. Und auch hierzulande ist die Unabhängigkeit von Museen gefährdet, wenn Inhalte und Programm etablierter Einrichtungen von Seiten der Politik oder von Interessenvertretungen kritisiert, und ihre Ernsthaftigkeit in Frage gestellt werden. In Wien verließ Nicolaus Schafhausen seine Position als Direktor der Kunsthalle mit folgender Erklärung: „In der derzeitigen nationalistischen Politik in Österreich und der europäischen Situation sehe ich die Wirkungsmächtigkeit von Kulturinstitutionen wie der Kunsthalle Wien für die Zukunft in Frage gestellt. In Zeiten rechtspopulistischer Bewegungen und neuer politischer Kontexte, die sich nicht selbstkritisch hinterfragend mit unserer Zukunft und Vergangenheit auseinandersetzen, wird künftig ein wesentlich offensiverer und stärkerer Rückhalt von Seiten der unabhängigen staatlichen Institutionen und Verwaltungen für Kulturinstitutionen, die sich gesellschaftlich und künstlerisch den komplexen Herausforderungen der Zeit stellen, erforderlich sein.“3

Einrichtungen, deren Aufgabe es ist, das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft zu bewahren – sowohl in Form von Kunst als auch von Erinnerung, Geschichtsvermittlung und Wissenschaft – sehen sich in einem wachsenden politischen Spannungsfeld, denn die Polarisierung der Gesellschaft macht nicht vor ihren Türen halt, sondern wird im Gegenteil vielerorts gerade in und um Museen ausgetragen: Den einen gelten sie als wichtige Sprecher eines demokratischen, offenen Diskurses, den anderen als Vertreter einer Experten- und Elitenkultur, der man zusehends mit Skepsis oder gar Ablehnung begegnet.4 Dazu müssen Museen sich positionieren, besonders solche, deren Fokus es ist, eine objektive und

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Schafhausen, Nicolaus: Pressemitteilung vom 23.5.2018, http://kunsthallewien.at/#/ de/uber-uns/nicolaus-schafhausen.

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Buruma, Ian: „The Revolt Against Virtue“, in: Project Syndicate vom 8.4.2019.

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inklusive Geschichtserzählung und damit verbunden einen reflektierten Umgang mit der Vergangenheit – und folglich auch mit Zukunft – zu pflegen und weiterzugeben. Darren Walker, Präsident der Ford Foundation, konstatierte im Sommer 2019, amerikanische Museen würden sich zusehends zu „guardians of a fading social and demographic order“ entwickeln, also zu Bewahrern einer homogenen Gesellschaft, die in dieser Form längst nicht mehr existiert.5 Gesellschaftliche Veränderungen müssen von Museen aber aufgenommen werden, so Walker weiter: „At stake is not just the work or prestige of a particular institution, but the underpinnings of democracy: How do ‚we the people‘, tell our story – who is included, and who is locked out.“6 Bis 2015 fanden sich „people of color“ in amerikanischen Kunstmuseen häufig nur im Sicherheits-, Reinigungs- und Verwaltungspersonal, aber nicht unter den Kurator/innen oder Wissenschaftler/innen.7 Diesem Missstand begegnete man mit gezielten Förderprogrammen und mit der Empfehlung an Museen, ihre Mitarbeiter/innen zukünftig aus Ausbildungseinrichtungen mit hoher Diversität zu rekrutierten.8 Für Europa oder Deutschland fehlen vergleichbare Zahlen: Zum einen, weil Diversität innerhalb der Bevölkerung am sogenannten „Migrationshintergrund“ gemessen wird, und zum anderen, weil beim Thema „Diversität im Museum“ noch fast ausschließlich über die Besucher/innen gesprochen wird. Die wachsende Vielfalt innerhalb einer zu großen Teilen postmigrantischen Gesellschaft bildet sich jedoch weiterhin nicht unter den Themen, Künstler/innen oder Mitarbeiter/innen vieler Museen ab. Die postmigrantische Gesellschaft stellt besonders Deutschland vor große Herausforderungen, wenn es darum geht, das Erbe einer Tätergesellschaft anzutreten. Wie kann die Relevanz deutscher Geschichte Menschen vermittelt werden, die keinen persönlichen Bezug zu ihr haben, sondern – möglicherweise –

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Walker, Darren: Museums Need to Step Into the Future, in: New York Times vom 26.7.2019.

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Ebd.

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2015 stellte eine Studie der Mellon Foundation fest, dass nur 16 Prozent der Leitungspositionen in Kunstmuseen (dazu zählen auch Kurator/innen) von people of color gefüllt waren, die damals aber 38 Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmachten. „Mellon Foundation Releases the First Comprehensive Survey of Diversity in American Art Museums“, https://mellon.org/resources/news/articles/diversity-american-artmuseums/ vom 29.7.2015.

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Pogrebin, Robin: „With New Urgency: Museums Cultivate Curators of Color“, in: New York Times vom 8.8.2018.

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ihre eigenen Traumata mitbringen? In dieser Konstellation erhält eine gemeinsame, aber diverse und vielstimmige Geschichtserzählung hohen Stellenwert – und eine damit verbundene inklusive Gedenk- und Erinnerungskultur. Nur so können die individuellen Erinnerungen an traumatische Erfahrungen einen kollektiven Lerneffekt zur Folge haben. Als der schwedische Künstler Jonas Dahlberg 2014 ein zweiteiliges Mahnmal für die Opfer des von Anders Breivik begangenen Massakers entwarf, traf er deshalb eine ungewöhnliche Entscheidung: Er schlug vor, nicht die Namen der 77 auf der Insel Utøya und im Osloer Regierungsviertel Ermordeten aufzulisten, sondern die Namen aller damals in Norwegen lebenden Menschen (nicht nur der Bürger/innen des Landes); die Namen der 77 Toten sollten jeweils mit einem kleinen Leerraum gekennzeichnet und von den anderen abgehoben werden. Jeder, der damals in Norwegen lebte, hat Dahlberg zufolge Anteil an der Katastrophe und gehört zu den Zurückgebliebenen, Trauernden, Traumatisierten: eine Solidargemeinschaft der Überlebenden. Das Mahnmal, dessen zweiter Teil Kontroversen hervorrief – Dahlberg wollte die offene Wunde in der norwegischen Gesellschaft mit einer Schneise durch die Insel Utøya symbolisieren – wurde niemals realisiert.9

U MKÄMPFTE E RINNERUNG Erinnern ist ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist. Er nährt sich aus der jeweiligen Gegenwart und sagt deshalb manchmal mehr über diese aus als über die Vergangenheit. Das Erinnern an Nationalsozialismus und Holocaust reflektiert diese Prozesshaftigkeit besonders deutlich, weshalb der in Deutschland gern und stolz gebrauchte Begriff der Erinnerungskultur irreführend ist: Ohne Kenntnis der Genese des Prozesses könnte man glauben, es handle sich um einen per Staatsakt beschlossenen top-down Prozess, der das Erinnern in den 1950er oder 60er Jahren in die Parlamente und teuren Innenstadtlagen geholt und eine bald allzu routinierte Gedenkkultur installiert hat. Nichts an diesem Begriff verweist auf den langwierigen, konfliktreichen und oft schmerzhaften Prozess, der fast ausnahmslos auf die hartnäckige Initiative Einzelner zurückging; ein Prozess, der erst 45, 50 Jahre nach Kriegsende große und sichtbare Erfolge verzeichnete. Als die deutschsprachige Geschichtswissenschaft sich ab den 1970er und 80er Jahren daran machte, diese Blackbox zu öffnen, beschränkte man sich zu-

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„22 July Memorial Norway“, http://www.jonasdahlberg.com/22-july-memorial-siteutøya-kopia-copy-copy-2-kopia.html.

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nächst auf einen kleinen Ausschnitt, nämlich auf die Strukturen des Systems, auf die Zahlen und minutiös nummerierten Akten der Täter/innen. Die Stimmen der Opfer wurden von vielen als problematisch, subjektiv, passiv wahrgenommen, ihre Erinnerung als „mythisch“ abgetan. So bemerkte Martin Broszat, der damalige Leiter des Instituts für Zeitgeschichte: „Zu den Problemen einer auf mehr rationales Begreifen ausgehenden jüngeren deutschen Historikergeneration gehört sicher auch, dass sie es mit einer solchen gegenläufigen, geschichtsvergröbernden Erinnerung unter den Geschädigten und Verfolgten des NS-Regimes und ihren Nachkommen zu tun hat.“10 Die einzig objektive Erzählung des Nationalsozialismus und des Holocaust konnte also aus dem Mund und der Feder deutscher (!) Historiker (!) kommen, aber nicht von den Opfern selbst oder ihren männlichen wie weiblichen Nachkommen. Damit waren alle jüdischen Historiker/innen delegitimiert und die Aufzeichnungen der Überlebenden als geschichtsvergröbernde Mythen abgetan. Es dauerte bis in die 1990er Jahre, bis Friedländers Forderung nach einer „integrierten Geschichte“ und multiperspektivischen Erzählung auch in Deutschland umgesetzt wurde.11 Inzwischen kann man wohl behaupten, dass es wenige historische Ereignisse gibt, die ähnlich viel Aufmerksamkeit von wissenschaftlicher Seite erfahren haben wie die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust. Neben Kadern von Historiker/innen arbeiten Anwälte, Kriminolog/innen, Forensiker/innen, Archäolog/innen, Kurator/innen, Anthropolog/innen, Genealog/innen, Musikolog/innen, Literaturwissenschaftler/innen und andere an der Aufarbeitung der Katastrophe. Mehr Wissenschaftler/innen als je zuvor beschäftigten sich in den vergangenen Jahren mit dem Thema, aber wir wissen noch längst nicht alles. Obwohl deren Forschungsergebnisse über Ausstellungen, Bücher, Dokumentarfilme, Podcasts und Blogs weit über die Elfenbeintürme der Universitäten hinaus kommuniziert werden, belegen Studien auf dieser und jener Seite des Atlantik, dass das Wissen über die Katastrophe rapide abnimmt. Vergangenes Jahr kam eine Umfrage der Claims Conference unter Amerikaner/innen zum Schluss: „Holocaust is fading from memory“. Siebzig Jahre nach Kriegsende hätten die Ereignisse für den Großteil der Amerikaner keine Bedeutung mehr. So wissen etwa 66% der Millenials (der Altersgruppe der 19- bis 35Jährigen) nicht mehr, was Auschwitz war. 70% der Befragten geben an, dass der

10 Zit. n. Saul Friedländer in: Broszat, Martin/Friedländer, Saul: „Um die ‚Historisierung des Nationalsozialismus‘. Ein Briefwechsel“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (1988), S. 339–373, hier S. 346. 11 Friedländer, Saul: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen: Wallstein 2007.

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Holocaust für Amerikaner/innen an Bedeutung verloren hat und 58% denken, etwas Ähnliches könnte wieder passieren. 80% der Amerikaner/innen habe noch nie ein Holocaust-Museum besucht – obwohl es davon 22 im ganzen Land gibt.12 In seinem letzten Buch beschreibt Peter Hayes, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des US Holocaust Memorial Museums, diese Entwicklung als eine der auffallendsten der vergangen Jahre: Einer ungebrochenen Fülle wissenschaftlicher Publikationen zum Thema stehe das bedenklich schnell abnehmende Wissen in der Bevölkerung gegenüber. Dabei verweist die Geschichte des Holocaust in den USA – ganz im Unterschied zu Deutschland und Österreich – auf ein positives Ereignis und eine siegreiche Vergangenheit: auf das amerikanische Retter-Volk im Gegensatz zum deutschen und österreichischen Tätervolk.13 Mehr noch: Der Zweite Weltkrieg und die daraus gezogenen Lehren – im besonderen die transatlantischen Beziehungen – spielen eine zentrale Rolle im Selbstverständnis der amerikanischen Demokratie nach 1945 (oder spielten, nimmt man die Veränderungen unter der Trump-Administration mit in den Blick). Das rapide abnehmende Wissen um die Ereignisse des Holocaust ist wohl zugleich Ursache und Ergebnis dieses sich wandelnden Selbstbildes, oder besser: der plötzlichen Einsicht, dass die USA ihre lessons aus der Geschichte eben doch nicht flächendeckend gelernt haben, und dass sowohl Rassismus als auch Antisemitismus massive gesellschaftliche Probleme darstellen. 2015 filmte der amerikanische Aktivist Michael Moore für seinen Film Where to invade next? auch in Deutschland. In einer Art kulturellem Kreuzzug zog Moore für seine ironische Dokumentation durch Europa, um Amerika vorzuführen, welche sozialen, politischen und kulturellen Standards man sich von den Europäern abschauen könne: leckeres Schulessen in Frankreich, bezahlten Urlaub in Italien, innovative Drogengesetze in Portugal, menschenfreundliche Gefängnisse in Norwegen und einen verantwortungsbewussten Umgang mit den Katastrophen der eigenen Geschichte in Deutschland.14 Auch Susan Neiman, Philosophin, Direktion des Einsteinforums und Exilamerikanerin, vergleicht in ihrem neuen Buch Learning from the Germans: Race and the Memory of Evil den deutschen Weg zu Erinnerung und Gedenken mit dem amerikanischen Umgang mit

12 Astor, Maggie: „Holocaust is Fading from Memory, Survey Finds“, in: New York Times vom 12.4.2018; New Survey by Claims Conference Finds Significant Lack of Holocaust Knowledge in the United States, www.claimscon.org/study/. 13 Hayes, Peter: Why. Explaining the Holocaust, New York: W.W. Norton 2017. 14 Moore, Michael: Where to Invade Next, 2015 (Dog Eat Dog/IMG Films).

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Rassismus und Sklaverei.15 Denn trotz der – unbestritten wichtigen – amerikanischen Holocaustmuseen zählen die USA in Bezug auf ihre eigene Geschichte eher zu den Entwicklungsländern. Erst 2016 öffnete das National Museum of African American History and Culture seine Türen, um die Geschichte der Afroamerikaner an der nationalen Erinnerungsmeile, der Washingtoner Mall, zu platzieren. Damit wurde eine klaffende Lücke gefüllt: Afroamerikaner machen immerhin 14 Prozent der Bevölkerung aus, im 18. Jahrhundert waren es gar 20 Prozent. Ihre Geschichte – eine Abfolge von Sklaverei, Flucht, Migration, Verfolgung, „Rassentrennung“, sozialer und kultureller Stigmatisierung, Kriminalisierung bis zur noch immer andauernden Massen-Inhaftierung in Gefängnissen – gehört nach wie vor nicht zu den zentralen Themen des schulischen Geschichtsunterrichts in den USA.16 Kurz nach der Eröffnung des Museum of African American History and Culture entstand ein zweites wichtiges Projekt, vielleicht noch wichtiger, weil dezentral und im Deep South, dem tiefen amerikanischen Süden gelegen – dort, wo bis heute die Flaggen der Konföderierten wehen: das National Memorial for Peace and Justice in Montgomery, Alabama. Umgangssprachlich auch als Lynching Memorial bezeichnet, ist dieses Mahnmal – verbunden mit einem Museum – ein Ort, an dem der Opfer der Lynchjustiz gedacht und über ihre Geschichte aufgeklärt wird. Der Initiator Bryan Stevenson ist Anwalt und Vorsitzender der Equal Justice Initiative (EJI), einer Organisation zur Sicherung der Rechte von unschuldig oder zu unverhältnismäßigen Strafen verurteilten Afroamerikaner/innen. „Our nation’s history of racial injustice casts a shadow across the American landscape,“ erklärte Stevenson anlässlich der Eröffnung des Mahnmals. „This shadow cannot be lifted until we shine the light of truth on the destructive violence that shaped our nation, traumatized people of color, and compromised our commitment to the rule of law and to equal justice.“17 Stevenson, in den USA eine Berühmtheit, hat als Aktivist begonnen, und aus seinem Aktivismus ein Interesse an nationalen Erinnerungs- und Gedenkmythen entwickelt. Besonders inspirieren ließ er sich dabei von der im amerikanischen Kontext ungewöhnlichen, weil abstrakten Ästhetik des Berliner Holocaustmahnmals. In der Begründung zum Bau des Montgomery-Mahnmals heißt es:

15 Neiman, Susan: Learning from the Germans: Race and the Memory of Evil, London: Penguin 2019. 16 Zu diesem Thema u.a.: Kendi, Ibram: Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika, München: C.H. Beck 2017. 17 Bryan Stevenson, zit. n.: The Legacy Museum: From Enslavement to Mass Incarceration, https://eji.org/legacy-museum.

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„A history of racial injustice must be acknowledged, and mass atrocities and abuse must be recognized and remembered, before a society can recover from mass violence. Public commemoration plays a significant role in prompting community-wide reconciliation. Modeled on important projects used to overcome difficult histories of genocide, apartheid, and horrific human rights abuses in other countries, EJI’s sites are designed to promote a more hopeful commitment to racial equality and just treatment of all people.“18

Die Berliner Inspiration ist nicht zu übersehen: 800 Stelen aus Cortenstahl stehen für jene 800 Countys, in denen Fälle von Lynchjustiz dokumentiert sind – insgesamt etwas mehr als ein Viertel der amerikanischen Regierungsbezirke. Auf den Stelen sind die Namen der Opfer eingraviert, sofern sie bekannt sind. Ein zweiter Teil des Mahnmals liegt etwas abseits: ein Feld mit weiteren 800 Stelen, identischen Kopien der ersten. Nach dem Wunsch und der Hoffnung der Initiatoren werden diese Stelen über die Jahre von den jeweiligen Countys beansprucht. EJI lädt die Verantwortlichen in den Bezirken und besonders die Vertreter von „communities of color“ ein, die Stelen mitzunehmen und vor Ort zu installieren. Außerdem bietet die Organisation den Counties Vermittlungsmaterial an, um neben der Errichtung eines Mahnmals auch pädagogische und Aufklärungsarbeit zu leisten.19 EJI will damit eine öffentliche Auseinandersetzung über die Geschichte der Lynchmorde auslösen, von denen sich die letzten in den 1960er Jahren ereigneten – die sich aber in gewisser Weise bis heute in regelmäßigen ungerechtfertigten Erschießungen von Schwarzen und Latinos durch die Polizei fortsetzen. Erst 2005 war von Seiten des Senats eine offizielle Entschuldigung ausgesprochen worden: Die USA hätten es verabsäumt, so heißt es darin, bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein bundesweites Verbot der Lynchjustiz zu erlassen. Neben einer Entschuldigung und dem Bedauern über die Konsequenzen für die Opfer und deren Nachkommen verpflichtete sich der Senat, der Ereignisse zu erinnern und sicherzustellen, dass diese Tragödien weder vergessen noch wiederholt werden.20 Wie präsent das Thema nach wie vor ist, zeigte sich nach der Wahl Donald Trumps im November 2016, als überall im Land das Symbol der „Noose“, der Schlinge auftauchte – etwa an den Bürotüren von afroamerikanischen Dozent/innen an den Elite-Universitäten American University und Pennsylvania

18 The National Memorial for Peace and Justice, https://museumandmemorial.eji.org/ memorial. 19 Ebd. 20 S. Res. 39 (109th): Lynching Victims Senate Apology resolution, https://www.gov track.us/congress/bills/109/sres39/text vom 13.6.2005.

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University; und im übrigen häufig neben Hakenkreuzen.21 Trump hatte sich bereits während seines Wahlkampfs nicht gescheut, „white supremacy“ zu unterstützen und gegen Immigration zu wettern – und auf diese Weise dem Rassismus in den USA eine prominente Stimme zu verleihen. In der Diskussion um die Entfernung von Denkmälern der Konföderierten und des amerikanischen Rassismus, allen voran den über 40 Statuen von General Robert E. Lee, warf Karl Oliver, Republikaner aus Louisiana, im Mai 2017 den Verantwortlichen Nazi-Praktiken vor und erklärte, dass jeder, der historische Monumente „unserer Geschichte“ zerstöre, gelyncht werden solle.22

E RINNERUNGSRAUM E UROPA In ihrem Buch Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin wirft die Journalistin Geraldine Schwarz einen vergleichenden Blick auf die Geschichte der Mitläufer/innen und Zuschauer/innen auf der deutschen wie der französischen Seite ihrer eigenen Familie – und darüber hinaus auf die sogenannte Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Geschichtsvergessenheit der Kollaborateur/innen in den von Deutschland besetzten Ländern ebenso wie in der ehemaligen DDR mit verantwortlich sei für den aktuellen Populismus und Nationalismus der jeweiligen Regionen. In Deutschland hat diese Entwicklung eine wachsende Spaltung der Bevölkerung zur Folge, die weit über Pegida und Chemnitz hinausgeht. „Sie wollen das auslöschen“, kommentiert Geraldine Schwarz diese Entwicklung, „was die moralische Stärke Deutschlands ausmacht und was die ganze Welt diesem Land neidet: aus der Reflexion über die Vergangenheit dauerhafte Werte gesogen zu haben, die bei den Bürgern einen kritischen Geist und eine moralische Umsicht ausbildeten, die untrennbar mit der Kraft der deutschen Demokratie verbunden sind.“23

21 Frequency of Noose Hate Crime Incidents Surges, https://www.splcenter.org/ hatewatch/2017/06/05/frequency-noose-hate-crime-incidents-surges vom 5.6.2017. 22 Pilkington, Ed: „Mississippi Lawmaker Calls for Lynching After Removal of Confederate Symbols“, https://www.theguardian.com/us-news/2017/may/22/mississippi-con federate-symbols-karl-oliver-lynching-comments vom 22.5.2017. 23 G. Schwarz: Die Gedächtnislosen, S. 439.

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Dabei ist der reflektierte Umgang mit der Vergangenheit, den man heute vielfach und zurecht mit Deutschland verbindet, ein durchaus ambivalentes Phänomen: Das offizielle Gedenken an den Holocaust war erst 1988 im deutschen Bundestag angekommen, als dort dem 50. Jahrestag des Novemberpogroms gedacht wurde – im Übrigen mit einer weitgehend missverstandenen Rede des CDUAbgeordneten und Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger. Bereits ein Jahr später wurde dieses Gedenken überlagert durch den Mauerfall und die darauffolgende Wiedervereinigung.24 Damit war die Bestrafung des deutschen Volkes, nämlich seine Teilung, aufgehoben und ein wiedervereinigter deutscher Nationalismus konnte entstehen. 1998 warf Martin Walser vor 1200 geladenen Gästen in der Frankfurter Paulskirche den deutschen Intellektuellen vor, sich in einen „grausamen Erinnerungsdienst“ zu stellen, er sprach von der „Moralkeule Auschwitz“ und von einer „Monumentalisierung der Schande“. Er erhielt dafür Standing Ovations.25 Spätestens anlässlich der Fußball-WM 2006 wurden überall im Land wieder stolz die Fahnen geschwungen. Von den einen wurde diese Entwicklung als positive Normalisierung und Entspannung wahrgenommen, und unter den Fahnenschwenkenden waren ja auch viele Migrant/innen. Von anderen wurde dieser Moment sorgenvoll zum Beginn einer wachsenden und provokanten Ignoranz der unmittelbaren deutschen Vergangenheit erklärt. Währenddessen entstand im wiedervereinigten Berlin gewissermaßen die Erinnerungshauptstadt Europas. Besonders der Wettbewerb um das Berliner Holocaustmahnmal reflektiert die Mitte der 1990er Jahre geführte Diskussion über die Rolle der Erinnerung: etwa die Idee des Kassler Künstlers Horst Hoheisl, das Brandenburger Tor abzureißen, zu zermahlen und auf dem für das Mahnmal bestimmten Platz auszustreuen – und damit nicht nur jede Erinnerung an deutsche Größe auszulöschen, sondern auf die Abwesenheit und den Verlust hinzuweisen, auf die Lücke, die durch die Ermordung der europäischen Juden entstanden war; oder Rudolf Herz’ und Reinhard Matz’ Vorschlag, einen Kilometer Autobahn bei Kassel mit Pflastersteinen auszulegen, mit einem strengen Tempolimit zu

24 Dazu u.a.: Brenner, Michael: „Einleitung“, in: Von der Kristallnacht zum Novemberpogrom. Der Wandel des Gedenkens an den 9. November 1938. Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 2 (2010), S. 5–7. 25 Dankesrede von Martin Walser zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober 1998, https://hdms.bszbw.de/frontdoor/deliver/index/docld/440/file/walserRede.pdf.

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versehen – und damit die deutsche Nachkriegsidentität, nämlich Autoindustrie und die tempolimit-freie Autobahn, im Herzen zu treffen.26 Ein weiterer Vorschlag reflektierte die europäische Dimension des Holocaust auf spannende Weise, der Entwurf „Bus Stop“ von Renata Stih und Frieder Schnock: Statt einem steinernen Mahnmal schlugen die beiden eine Bushaltestelle vor, von der aus rote Doppeldeckerbusse abfahren sollten – Destination Konzentrations- und Vernichtungslager in der Nähe Berlins, aber auch einige in ganz Europa. Auf den Bussen sollte das jeweilige Fahrtziel zu lesen sein: Buchenwald, Auschwitz, Dachau, sowie „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Dieser so gar nicht repräsentative Gestaltungsvorschlag kollektiven Gedenkens wurde von allen beteiligten Seiten abgelehnt. Stattdessen sollte im Jahr 2005 Peter Eisenmans Mahnmal aus 2711 Stelen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, das allein im ersten Jahr 3,5 Millionen Besucher/innen hatte. Berlin, mehr als alle anderen Städte, wollte, brauchte ein steinerneres Mahnmal im Zentrum der neuen Hauptstadt. Aus heutiger Perspektive erscheint „Bus Stop“ wie der Versuch einer didaktischen Kolonialisierung von Erinnerung. In jedem Fall stand bei dem Vorschlag der Wunsch oder das Ideal eines gemeinsamen europäischen Gedenkens im Zentrum. Denn ganz anders als heute wurde damals, Ende der 1990er, von einem wiedervereinigten Europa die Aufarbeitung der Geschichte zum common ground erklärt. Besonders die osteuropäischen Anwärterstaaten mussten beweisen, dass sie ihre Vergangenheit aufgearbeitet hatten, um Teil dieser sich nun nicht mehr nur als Wirtschafts- sondern auch als Wertegemeinschaft definierenden EU zu werden. Als die Vereinten Nationen 2005 den 27. Januar als Internationalen Holocaustgedenktag einführten, reagierte die Europäische Union unter der Präsidentschaft Luxemburgs mit einem Statement, das das demokratische Europa und die EU eng an die Geschichte des Holocaust band.27 Wie wir heute wissen, ist das von der EU geforderte Projekt einer gemeinsamen Erinnerungskultur – ebenso wie das einer Wertegemeinschaft – in weiten Teilen gescheitert. In Litauen wird Jonas Noreika als Widerstandskämpfer gefeiert und seine zentrale und verbrecherische Rolle bei der Ermordung der litauischen Juden nur von Historiker/innen und seiner in den USA lebenden Enkelin Silvia Foti öffentlich thema-

26 Hoheisl, Horst: Berlin Torlos. Das Brandenburger Tor ein leerer Ort, www.zer mahlenegeschichte.de; Herz, Rudolf/Matz, Reinhard: Zwei Entwürfe zum HolocaustDenkmal, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2001. 27 EU Presidency statement on Holocaust Remembrance vom 31.10.2005.

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tisiert.28 Im Danziger Museum zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird der Leiden Polens im Zweiten Weltkrieg gedacht und in der ganzen Ausstellung konsequent zwischen Polen und Juden unterschieden, niemals also von jüdischen Polen oder polnischen Juden gesprochen. Erst zum Schluss, in einer Statistik der Opferzahlen organisiert nach Nationen, werden die jüdischen Opfer unter den Polen subsumiert – erklärt nur in einer kleinen Fußnote. Der Effekt ist gewollt: Im Verhältnis zu den Bevölkerungszahlen kann Polen damit die größte Opfergruppe verbuchen. Die Ausstellung endet mit einem martialischen Video in der Ästhetik kriegerischer Videogames, in dem das polnische Volk als eigentlicher Held und tatsächliches Opfer des Zweiten Weltkrieges beschrieben wird.29 Angesprochen auf die Einseitigkeit dieser Darstellung sprechen die Verantwortlichen ungerührt von einer Wahrheit, die eben „ihre“ Wahrheit sei, als ob die Vergangenheit ein Selbstbedienungsladen wäre für politische Notwendigkeiten – von nationalistischen Heldenmythen, über Opferzahlen, bis hin zu wechselnden Definitionen, wer der Nation zu welcher Zeit angehört(e) oder nicht. Diesem exklusiven und manipulativen Nationsbegriff gegenüber steht Jonas Dahlbergs Mahnmal-Entwurf, der von einer inklusiven Gemeinschaft der Erinnernden ausgeht und die Getöteten nachträglich in ihre Mitte aufnimmt und einbettet.

T ÄTERORTE , O PFERORTE , L ERNORTE Das Münchner NS-Dokumentationszentrum ist eine Spätgründung und geht, wie viele Institutionen dieser Art, auf eine Reihe persönlicher Initiativen während der 1990er Jahre zurück. 2001 entschied die Landeshauptstadt endlich, ein Museum zur Geschichte der „Hauptstadt der Bewegung“ schaffen zu wollen. 2015 wurde das Haus als „Lern- und Erinnerungsort“ am Standort des ehemaligen Braunen Hauses mit Blick auf den Münchner Königsplatz eröffnet. Die Dauerausstellung zum Thema „München und der Nationalsozialismus“ wurde inhaltlich von einem Gremium deutscher Historiker/innen entwickelt und unter dem Gründungdirektor und Architekturhistoriker Winfried Nerdinger umgesetzt. Seine Maxime „Erinnerung gründet auf Wissen“ richtete sich gezielt gegen jeden Anspruch, Geschichte interessant machen zu wollen:

28 Foti, Silvia: Captain Jonas Noreika Museum, https://silviafoti.com/noreika-a-hero/ vom 25.5.2018. 29 IPNtv: The Unconquered, https://m.youtube.com/watch?v=Q88AkN1hNYM vom 15.9.2017. Zu den Änderungen in diesem Museum seit dem PiS-Regierungsantritt siehe den Beitrag von Daniel Logemann in diesem Band.

160 | M IRJAM Z ADOFF „Der Modus der Vermittlung der NS-Geschichte, zur Annährung an NS-Alltag und Holocaust, an Mitläufer und Massenmörder, kann nicht Unterhaltung, Emotionalisierung, Inszenierung oder Virtualisierung, sondern nur glasklare, auf Evidenz und Aufklärung zielende Rationalität sein. Die stärkste und nachhaltigste Vermittlungsform ist die Evidenz, das heißt die kognitive und visuelle Einsichtigwerdung von historischen Zusammenhängen.“30

Nerdinger warnte davor, sich auf die Erzählung der Opfer zu konzentrieren und damit den (deutschen) Besucher/innen die Möglichkeit zu geben, sich mit ihnen zu identifizieren. Darin sah er eine Form der Entschuldung des Tätervolkes. Auch könne der Blick auf die Opfer allein „nicht erklären, warum jemand verfolgt wurde, nur über die Täter, über deren Hintergrund sowie über die Ideologie und Struktur des NS-Regimes können Zusammenhänge einsichtig werden.“31 Weder Museum noch Gedenkstätte sah er in dem Haus, sondern einen Ort der Aufklärung an einem „Täterort“, an dem das Licht der Vernunft die dunkle Vergangenheit ausleuchten und „aus der rationalen, kritisch distanzierten Auseinandersetzung mit den Tätern“ gelernt werden solle: „Diesem Ansatz stehen Inszenierung und Emotionalisierung entgegen, denn sie sind Elementen einer Instrumentalisierung der Historie.“32 Diese Argumentation gründet einerseits im Aufklärungsbegriff der Frankfurter Schule – so erklärte Theodor W. Adorno 1967, der einzige Weg, dem neuen Rechtsradikalismus zu begegnen sei mit der „durchschlagenden Kraft der Vernunft, mit der wirklichen unideologischen Wahrheit“.33 Andererseits findet sich in der Sorge vor „Emotionalisierung“ und Problematisierung der Opferperspektive eine Verbindung zu Martin Broszat und der Tradition der deutschen Zeitgeschichte bis in die 1990er Jahre. Und gerade darin liegt eine Schwachstelle der in vielerlei Hinsicht erfolgreichen Dauerausstellung des Hauses: Denn trotz ihres hohen Grades an Professionalität und Wissenschaftlichkeit fehlt dem Narrativ, was Saul Friedländer Mitte der 1990er in seiner Auseinandersetzung mit Broszat

30 Nerdinger, Winfried: „Wie erinnern? Weiße Rose Gedächtnisvorlesung 2016“, in: Ders.: Erinnerung gegründet auf Wissen. Das NS-Dokumentationszentrum München, München: Monopol 2018, S. 144–179, hier S. 172. 31 Ebd., S. 166, 168. 32 Ebd.; Nerdinger, Winfried: Bedeutung und Formen der Erinnerung, in: ebd., S. 242– 266, hier S. 254. 33 Adorno, Theodor W.: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 55.

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gefordert hatte – nämlich eine integrierte Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust. Dabei vermag die Ausstellung es durchaus, die Rolle Münchens für den Aufstieg der NS-Bewegung vielfältig, detailliert und komplex abzubilden, im Besonderen die Geschichte der frühen Protagonist/innen und Förder/innen, der Repräsentant/innen und Ermöglicher/innen. Etwas weniger sichtbar sind die Biographien von „Mitläufern“ – also der Masse des profitierenden, marschierenden und affirmierenden deutschen Volkes. Ihr Schwanken, die Vielfalt ihrer Entscheidungen, ihre Handlungsspielräume wären aber durchaus zentral, um die Dynamiken von sterbenden Demokratien und Diktaturen in the making zu verstehen. Die Geschichte der einzelnen Opfergruppen wird, dem Platz geschuldet, teilweise knapp, teilweise etwas ausführlicher erzählt. Das Verbindende ist, dass die Verfolgten vornehmlich in den Quellen der Täter dargestellt werden: Fotografien, Listen, Pläne, Berichte. Den Menschen selbst begegnen wir in Abschiedsbriefen, hastig geschriebenen Lebewohl-Notizen – und damit in ihrer Rolle als Opfer, als Reagierende. Wir begegnen ihn nicht als Handelnde oder Entscheidende, als Menschen, die sich in ihrem permanent verändernden Alltag immer wieder aufs Neue zurechtfinden oder sich in der wachsenden Enge Handlungsspielräume, Hoffnungen, Träume erhalten. Auf diese Weise verpasst die Ausstellung die Chance, die Geschichte der „Hauptstadt der Bewegung“ in ihrer Parallelität als Täter-, Opfer- und Mitläuferort zu erzählen. Bis zur Implementierung einer grausamen und inhumanen Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik wurde München als „shared space“ von allen gemeinsam bewohnt – von jüdischen, christlichen, kommunistischen, sozialdemokratischen, schwulen, nomadisch lebenden, kranken oder gesunden Deutschen (oder Angehörigen anderer Nationen). Wie haben sie den Zusammenbruch des gesellschaftlichen Zusammenhaltes wahrgenommen, das Ende der Solidarität, die Aufgabe der Demokratie, den Umbau der Stadt? Nicht den Menschen, sondern dem „historischen Ort“ fällt die Hauptlast der Erinnerung in der Dauerausstellung zu, genauer dem Standplatz des ehemaligen Braunen Hauses, zwischen den beiden NSDAP-Bauten von Paul Troost, mitten im ehemaligen Parteiviertel in München. „Der historische Ort kann somit Erinnerungen auslösen und diese im Gedächtnis verankern. Deswegen sind historische Orte unersetzbar für jede Form von Erinnerung“, bemerkt Winfried Nerdinger dazu.34

34 Ebd., S. 158.

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Haben die Orte eine Bedeutung für sich? Können „historische Orte“ die Überlebenden und Zeitzeug/innen ersetzen, wenn diese verstummen? Eine 2018 von der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft durchgeführte Studie kam zu dem Schluss, dass in Deutschland ein ungebrochen hohes Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust bestehe. Es scheint fast, als wünschen sich die Menschen in Zeiten politischer Verunsicherung eine Art Immunisierung oder Demokratiespritze, die aus der Geschichte, aus der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust erwächst.35 Die Erwartungen an „historische Orte“ sind grade jetzt sehr hoch, zugleich besteht in vielen Einrichtungen Verunsicherung über die Zeit nach den Zeitzeugen. Man versucht sich deshalb an neuen Technologien, um gerade junge Besucher/innen zu erreichen: Hologramme, Augmented Reality, Virtual-Reality-Brillen, Artificial Intelligence und Computerspiele reflektieren unsere Sorge vor dem, was kommt, wenn die Zeitzeug/innen nicht mehr da sind und sich eine neue und unbekannte Stille über die „historischen Orte“ legt. Im NS-Dokumentationszentrum in München unternehmen wir den Versuch, temporärere Plattformen zu schaffen, die durch das Zusammendenken von Kunst, Wissenschaft und partizipativen Projekten alternative Zugänge, Diskurse und Fragestellungen ins Haus bringen. Denn geht es nicht in erster Linie um demokratische, kooperative und interdisziplinäre Herangehensweisen an Geschichte? Ohne zu banalisieren, zu kommerzialisieren oder zu relativieren soll das Ziel eine vielstimmige Form der Erinnerung sein, in der Wissenschaftler/innen, Künstler/innen, Kulturvermittler/innen, Autor/innen, Mediator/innen, Lehrer/innen und andere in Dialog treten und gemeinsam neue Formate entwickeln. Es gehören dazu auch alternative Strategien des Vermittelns, demokratisch geführte Diskurse des Erinnerns, partizipative Projekte, die eine postmigrantische Gesellschaft ebenso miteinbeziehen wie all jene, denen eine Beschäftigung mit Geschichte fernliegt oder unwesentlich erscheint. Ein solcher Prozess des mobilizing memory kann nichts anderes sein als ein work in progress, manchmal auch eine Form von trial and error. Was wir vor zehn oder zwanzig Jahren als die zeitgemäße Form des Erinnerns betrachtet haben, hat sich heute gewandelt in andere Inhalte und Zugänge. Die Arbeit des Erinnerns besteht darin, niemals anzukommen. Spätestens dann, wenn man annimmt, man wüsste, wie es geht mit dem Erinnern, sollte man wieder von vorn beginnen – ganz im Sinn von Hannah Arendts Natalität „diese geheimnisvolle

35 Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: Memo. Multidimensionaler Erinnerungsmonitor. Studie 2018, hg. vom Institut fuer interdisziplinäre Konfliktund Gewaltforschung und der Stiftung EVZ.

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IT HISTORY THAT HAS THE CAPACITY TO SAVE US ?

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menschliche Gabe, die Fähigkeit, etwas neues anzufangen“ mobilisieren, etwas in Bewegung zu setzen, das zuvor nicht da war.36

L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, Berlin: Suhrkamp 2019. Arendt, Hannah: Die Freiheit, frei zu sein. Mit einem Nachwort von Thomas Meyer, München: dtv 2018. Astor, Maggie: „Holocaust is Fading from Memory, Survey Finds“, in: New York Times vom 12.4.2018 Brenner, Michael: „Einleitung“, in: Von der Kristallnacht zum Novemberpogrom. Der Wandel des Gedenkens an den 9. November 1938. Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 2 (2010), S. 5–7. Broszat, Martin/Friedländer, Saul: „Um die ‚Historisierung des Nationalsozialismus‘. Ein Briefwechsel“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (1988), S. 339–373. Buruma, Ian: „The Revolt Against Virtue“, in: Project Syndicate vom 8.4.2019. Collaborative Archives: „Connective Histories“, in: Women Mobilizing Memory/Collaborative Archives: Connective Histories. Ausstellungskatalog, New York 2015. Foti, Silvia: Captain Jonas Noreika Museum, https://silviafoti.com/noreika-ahero/ vom 25.5.2018. Friedländer, Saul: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen: Wallstein 2007. Hayes, Peter: Why. Explaining the Holocaust, New York: W.W. Norton 2017. Herz, Rudolf/Matz, Reinhard: Zwei Entwürfe zum Holocaust-Denkmal, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2001. Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: Memo. Multidimensionaler Erinnerungsmonitor. Studie 2018, hg. vom Institut fuer interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und der Stiftung EVZ. Kendi, Ibram: Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika, München: C.H. Beck 2017. Neiman, Susan: Learning from the Germans: Race and the Memory of Evil, London: Penguin 2019.

36 Arendt, Hannah: Die Freiheit, frei zu sein. Mit einem Nachwort von Thomas Meyer. München: dtv 2018, S. 37.

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Nerdinger, Winfried: Erinnerung gegründet auf Wissen. Das NSDokumentationszentrum München, München: Monopol 2018. Pilkington, Ed: Mississippi Lawmaker Calls for Lynching After Removal of Confederate Symbols, https://www.theguardian.com/us-news/2017/may/22/ mississippi-confederate-symbols-karl-oliver-lynching-comments vom 22.5. 2017. Pogrebin, Robin: „With New Urgency: Museums Cultivate Curators of Color“, in: New York Times vom 8.8.2018. Schafhausen, Nicolaus: Pressemitteilung vom 23.5.2018, http://kunsthalle wien.at/#/de/uber-uns/nicolaus-schafhausen. Walker, Darren: „Museums Need to Step Into the Future“, in: New York Times vom 26.7.2019. Women Mobilizing Memory/Collaborative Archives: Connective Histories, Ausstellungskatalog, New York 2015, https://www.socialdifference. columbia.edu/publications-1/collaborative-archives-connective-histories-exhi bit-catalogue.

Positive Sinnstiftung an Gedenkstätten? Dialog zur Pädagogik an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen G UDRUN B LOHBERGER / C HRISTIAN A NGERER

GUDRUN BLOHBERGER:

Bevor ich als pädagogische Leiterin an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen tätig wurde, hatte ich mich für eine kleine Gedenkstätte im Süden Kärntens, für das Museum und die Gedenkstätte Peršmanhof, engagiert. Gelegen auf 1000 Metern Seehöhe und abseits jeder Öffentlichkeit zeigt dieser Ort die Geschichte der Kärntner Slowen/innen, insbesondere die Geschichte der NS-Zeit. In einer kleinen Ausstellung wird der Bogen vom Ende des Ersten Weltkrieges über den „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland bis zur unmittelbar danach einsetzenden Verfolgung und Deportation der Kärntner Slowen/innen sowie zu deren Widerstandskampf gespannt. Das Verbrechen, das eine Einheit eines SS- und Polizeiregiments am Peršmanhof begangen hat, nimmt dabei besonderen Raum ein: Elf Menschen – von der beinahe 80-jährigen Altbäuerin bis hin zum wenige Monate alten Kleinkind – wurden am 25. April 1945, also wenige Tage vor der Befreiung, am Peršmanhof ermordet, weil die kärntner-slowenische Familie den Widerstand der Partisan/innen unterstützt hatte. 2005 fand das vierte zentrale Seminar von erinnern.at in Kärnten statt. Im Rahmen dieses Seminars besuchte eine Gruppe den Peršmanhof. Ein kleines Pädagoginnenteam arbeitete damals an einem Konzept, das Themen und Methoden für die Vermittlungsarbeit am Peršmanhof umreißen sollte. Beim Besuch der Tagungsgruppe wollte ich die Gelegenheit nützen, um erfahrenen Kolleg/innen unsere Überlegungen zu präsentieren. Doch ich stand vor einem Problem. Unsere Geschichten endeten mit Tod, mit Ungerechtigkeiten, die sich auch nach der Befreiung und in „Friedenszeiten“ fortsetzten, mit andauernden Diskriminierungen und Ausgrenzungen bis zur Nichterfüllung von Minderheitenrechten in der Gegenwart. Was würden die am Peršmanhof erörterten Themen vermitteln? Dass es sich nicht lohnt, Widerstand zu leisten oder zu unterstützen, weil am En-

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de alle sterben würden? Dass am Ende immer die Täter/innen und Mitläufer/innen siegen, weil sie wieder in wichtige Ämter gehoben werden? Und dass sich Diskriminierung bis in die Gegenwart fortsetzt? Kurzzeitig war mir damals der Sinn verloren gegangen. Unsere Aufgabe war es, Themen zu formulieren, aus denen die Besucher/innen des Peršmanhofs etwas lernen sollten, und Methoden zu entwickeln, die das oft beschworene „Lernen aus der Vergangenheit für die Gegenwart“ unterstützen: jene Aufgabe also, welcher sich die Gedenkstättenpädagogik verpflichtet sieht. CHRISTIAN ANGERER:

Ich nahm 2005 als Oberösterreich-Koordinator von erinnern.at am Seminar in Kärnten teil und befand mich in der Gruppe, die zum Peršmanhof fuhr. Es war mein erster Besuch an dieser Gedenkstätte. Was ich mir genau erwartete, kann ich nicht mehr sagen, aber einer Sache bin ich mir sicher: Zweifel, ob der Besuch dieses Ortes sinnvoll sein würde, hatte ich nicht. Der Bauernhof war ein Stützpunkt der slowenischen Partisan/innen und Schauplatz eines Massakers, begangen von einer Einheit eines SS- und Polizeiregiments – mehr Wissen benötigte ich nicht, um ihn interessant zu finden. An die Ausstellung und die präsentierten pädagogischen Überlegungen besitze ich kaum eine Erinnerung, aber vor meinem inneren Auge steht dieser weiße Bergbauernhof mit den herbstlich goldenen Wäldern ringsum, in denen sich die Partisan/innen versteckt hielten, und ich entsinne mich eines Gespräches darüber, dass man in diesen Wäldern auf ihren Spuren wandern kann. Das erschien mir überaus reizvoll. Wahrscheinlich war dabei ein wenig Widerstandsromantik mit im Spiel; doch für mich als Gedenkstättenbesucher bürgte der Ort für Sinn, weil er Widerstandsort und Tatort war. Freilich gehört zum Ort die Erzählung einer Geschichte: Was ist dort geschehen? Wer war daran beteiligt? Warum und wie geschah es, und welche Folgen hatten diese Ereignisse? Das zu erfahren, sind Gedenkstättenbesucher/innen begierig, die historische Erzählung erschließt ihnen den Sinn des Ortes, sei es durch eine heroische oder tragische Geschichte. Aber damit geben wir uns im Arbeitsfeld der Gedenkstättenpädagogik nicht zufrieden. Wir wollen mehr bieten als Erzählung und historisches Wissen, nämlich jenes erwähnte „Lernen aus der Vergangenheit für die Gegenwart“. Erst dann, wenn wir ein solches Lernen anstoßen zu können glauben, erfüllen wir unsere Mission. Wir misstrauen der Kraft der Geschichtserzählung und müssen uns vergewissern, dass sie uns für die Gegenwart etwas zu sagen, dass sie einen „Sinn“ hat. Darin liegt bestimmt viel Richtiges; dieses Bestreben treibt uns dazu an, auf die verschiedenen Rollen der historischen Akteur/innen zu blicken, die Motive und Umstände, aus denen sie handelten, genauer zu rekonstruieren und

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Vergleiche bis in die Gegenwart anzustellen, um unsere Schlüsse daraus zu ziehen. Wir sind motiviert, neue Ansatzpunkte für historische Erzählungen mit größerer Komplexität und Erklärungskraft zu finden. Dennoch sollten wir uns dessen bewusst bleiben, dass es zuallererst der konkrete Ort und seine Geschichte sind, die Besucher/innen kennenlernen wollen. Dieser Sinn des Ortes – sei er negativ oder positiv – ist schon da, bevor wir ihm einen weiteren, ambitionierteren zu geben versuchen. GUDRUN BLOHBERGER:

Aus heutiger Perspektive betrachtet geht mein damaliger „Sinnverlust“ einher mit einer Entwicklung, die die Gedenkstättenlandschaft insgesamt in dieser Zeit durchgemacht hat. Zuvor brauchte es einige Jahrzehnte, um dem Gedenken an die Opfer des NS-Systems überhaupt einen Platz einzuräumen, die Opfer endlich zu würdigen und anzuerkennen. Es mussten die Geschichten jener Menschen erzählt werden, die in Konzentrationslager verschleppt, von der Gesellschaft weggesperrt und kriminalisiert worden waren. Ihnen musste endlich Empathie entgegengebracht und den Überlebenden Gehör geschenkt werden. Es ging darum, ehemalige NS-Tatorte in der Landschaft sichtbar zu machen. Dieses Sichtbarmachen war meist getragen von zivilgesellschaftlichem Engagement, von Menschen, die sich zusammengetan hatten, um „vor der eigenen Haustüre zu kehren“, und die sich dafür stark machten, NS-Verbrechen, wie im Falle Österreichs, nicht einzig in Mauthausen zu sehen, sondern auch an Orten ehemaliger Außenlager – und auch am Peršmanhof. Es musste darum gehen, jenen Fokus des Gedenkens, der sich den Gefallenen der Wehrmacht und dem „Heldengedenken“ verschrieben hatte, zu verschieben und die wirklichen Opfer ins Licht zu rücken. Ein Narrativ musste dekonstruiert und ein neues geschaffen werden. Es wird wohl auch mit der viel zitierten zunehmenden zeitlichen Distanz zusammenhängen und mit dem Ableben der Erfahrungsgeneration, dass rund um die Jahrtausendwende dann die alleinige Auseinandersetzung mit den Opfern des NS-Systems nicht mehr ausreichend erschien. Und genau in diese Zeit fällt mein oben beschriebenes Beispiel. Das „negative Gedächtnis“ oder das „negative Gedenken“ wurde konstatiert und diskutiert; die begangenen und zu verantwortenden Verbrechen sollten dauerhaft im kollektiven Gedächtnis der Deutschen (und Österreicher/innen) aufgehoben werden, wie Volkhard Knigge es 2002 formulierte.1 Die (Kollektiv-)Schuld, die es lange Zeit abzuwehren galt, sollte nun der

1

Knigge, Volkhard: „Statt eines Nachworts: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland“, in: Ders./Norbert Frei

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Verantwortung weichen. Nun war es an der Zeit, sich mit Täter/innen und mit der Gesellschaft, die die NS-Ideologie mitgetragen hatte, auseinanderzusetzen – auch in der Gedenkstättenpädagogik. Der Diskurs über Multiperspektivität bei der Auseinandersetzung mit NSTatorten erreichte vor knapp 15 Jahren auch die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Bis dahin war Gedenkstättenpädagogik – abgesehen von engagierten Projekten, die Lehrer/innen initiierten – kein ernst zu nehmender Faktor an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Die Bildungsarbeit beschränkte sich auf klassische „Führungen“, die von Zivildienern gemacht wurden. Die jungen Männer durchliefen vor Aufnahme ihrer Führungstätigkeit eine intensive historische Einschulung, diese befähigte sie dazu, hunderte (Schul-)Gruppen an der Gedenkstätte zu betreuen – was sie meist sehr engagiert und ambitioniert taten, aber sie erhielten dabei keine weitere Unterstützung. In engster Kooperation mit erinnern.at wurde nach einigen Jahren Vorbereitung 2007 ein pädagogischer Fachbereich an der KZGedenkstätte eingerichtet. Das pädagogische Konzept, das in der Folge unter der Leitung von Yariv Lapid entwickelt wurde, prägt bis heute die Leitgedanken der pädagogischen Arbeit in Mauthausen. Die Betrachtung eines Rundgangsverlauf an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen illustriert die skizzierte Entwicklung von Multiperspektivität. Abb. 1: Rundgangsverlauf

Quelle: KZ-Gedenkstätte Mauthausen

(Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München: C.H. Beck 2002, S. 423–440, hier S. 423.

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Die Linie zeichnet den Verlauf eines begleiteten zweistündigen Rundgangs nach. Vor Einführung und Umsetzung des pädagogischen Konzepts beschränkten sich Rundgänge überwiegend auf den Bereich des ehemaligen Schutzhaftlagers, also den „Kernbereich“ des ehemaligen Konzentrationslagers, jenen Bereich, der auf der Abbildung mit den Punkten 6–10 eingezeichnet ist. Die Erzählung widmete sich beinahe ausschließlich dem Leben und Sterben der Häftlinge. Mit Einführung des pädagogischen Konzepts wurden auch Bereiche außerhalb des ehemaligen Schutzhaftlagers in den Rundgangsverlauf aufgenommen und die Geschichte des Konzentrationslagers multiperspektivisch erzählt. Das gesellschaftliche Umfeld und die Täter/innen werden seitdem in der ersten Hälfte angesprochen. Den Opfern des KZ-Systems Mauthausen ist die zweite Hälfte des Rundgangs gewidmet. CHRISTIAN ANGERER:

Diese Erweiterung um die Beschäftigung mit Perspektiven von Täterschaft und gesellschaftlichem Umfeld lag für uns bei der Formulierung des pädagogischen Konzepts2 aufgrund der beschriebenen Entwicklungen in Geschichtswissenschaft und Gedenkstättenpädagogik „in der Luft“. Für die pädagogische Arbeit an der KZ-Gedenkstätte bedeutet das nicht nur eine komplexere historische Erzählung, sondern auch neues Potential für „Sinnstiftung“. Denn lange Zeit dominierte die eingeforderte Identifikation mit den Opfern; an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen orientierte sich das Narrativ jahrzehntelang, in teils ungewollter Übereinstimmung mit dem österreichischen Opfermythos, an den österreichischen Widerstandskämpfer/innen. Nun werden neben den Opfern die Rollen von Täter/innen sowie Zeug/innen gleichermaßen dazu befragt, was sie mit uns zu tun haben.3 Ein Beispiel dafür ist jene Station im ersten Abschnitt des Rundgangs, die der Besprechung des Sanitätslagers und des benachbarten Fußballplatzes der SS gewidmet ist (Abb. 1, Punkt 3). Wir stehen oberhalb einer großen Wiesenfläche mit einer kleinen Allee, hinter der sich ein Obelisk für die sowjetischen Opfer des Lagers verbirgt. Ab 1943 standen auf dieser Fläche die Baracken des Sanitätslagers, in dem nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge von den anderen isoliert und ohne medizinische Versorgung ihrem Schicksal überlassen wurden. Tausen-

2

Lapid, Yariv/Angerer, Christian/Ecker, Maria: „‚Was hat es mit mir zu tun?‘ Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen“, in: GedenkstättenRundbrief 8 (2011), S. 40–45.

3

Angerer, Christian: „Opfer, Täter, Umfeld. Zum pädagogischen Konzept der KZGedenkstätte Mauthausen“, in: GedenkstättenRundbrief 6 (2016), S. 28–35.

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de gingen hier zugrunde. Unmittelbar daneben und nur durch einen Stacheldraht getrennt befand sich der Fußballplatz der SS. 1944 trug die SSFußballmannschaft auf diesem Platz ihre Heimspiele in der OberdonauMeisterschaft aus. Fußballmannschaften aus Linz, Steyr oder Wels waren hier zu Gast. Publikum aus der Umgebung, Männer, Frauen, Jugendliche besuchten an vielen Sonntagen die Fußballspiele neben dem Sterbelager. Warum kamen Zuschauer/innen ins KZ, um sich Fußballspiele anzuschauen? Obwohl sie wussten, dass im Lager ständig Menschen ermordet wurden? Wie steuerten sie ihre Wahrnehmungen, ihre Gedanken und Gefühle dazu? Welche Rolle spielte dabei rassistische Ideologie? Wie konnte Massenmord zum Alltag werden? Das sind mögliche Fragen, die uns an dieser Station des Rundgangs beschäftigen. Dabei versuchen wir, einen moralischen Zeigefinger, mit dem wir auf die lokale Bevölkerung weisen, zu vermeiden. Denn von der konkreten historischen Situation am Fußballplatz im KZ wollen wir grundsätzlichere Fragen ableiten: Wie konstruieren Menschen „Normalität“, auch wenn sie – aus unmittelbarer Nähe oder aus medialer Distanz – Zeug/innen von Verbrechen werden, damals und heute? Vor welchen ethischen Herausforderungen stehen wir in der Situation der Zeugenschaft? Welche Entscheidungen können wir treffen? Gerade die Perspektive der Bystander öffnet uns ein Fenster zur Geschichte. Im Gegensatz zu den extremen Positionen der Opfer und Täter/innen ist das eine Rolle, die wir auch heute alle kennen. Es gab keinen Zwang, zum Fußballspiel ins KZ zu gehen (höchstens vielleicht einen „Gruppenzwang“); wenn man sich dafür entschied, wurde man noch nicht zum Mittäter, und falls man sich dagegen entschied, riskierte man weder sein Leben noch erschütterte man das Regime. Aber durch seine Entscheidung drückte man etwas aus, für sich und für die anderen. So fördert die multiperspektivische Geschichtsbetrachtung die Wahrnehmung von Handlungsspielräumen auch in der Gegenwart: Das erscheint mir als ergiebiger Ansatzpunkt für historisch-politische Bildung an Gedenkstätten,4 eine Möglichkeit, der Geschichte einen positiven Sinn für die Gegenwart zu geben. GUDRUN BLOHBERGER:

Das Einnehmen dieser Multiperspektivität erfuhr nicht nur Zustimmung. Insbesondere von Lehrer/innen erntete dies auch Kritik. Für sie war es nicht nachvollziehbar, warum mit Schüler/innen über im KZ veranstaltete öffentliche Fußball-

4

Huhtasaari, Hanna: „Die Bundeszentrale für politische Bildung. Selbstverständnis und Auftrag im Arbeitsfeld Gedenkstättenpädagogik“, in: Elke Gryglewski et al. (Hg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NSVerbrechen, Berlin: Metropol 2015, S. 82–97, hier S. 93.

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spiele gesprochen wird. Warum sich mit dem Publikum dieser Fußballspiele beschäftigen, statt die Zeit für eine ausführlichere Schilderung der Leiden der Opfer zu verwenden? Für manche war es auch unverständlich, warum ein Foto von fröhlich feiernden SS-Offizieren zum Thema wird, das Selbstbild, Selbstbewusstsein und Gruppenidentität der Täter widerspiegelt. Wäre es nicht viel wichtiger und lehrreicher im Sinne eines „Nie wieder!“ von der Qual der Häftlinge zu hören? Dahinter steht die Überzeugung, dass der Gedenkstättenbesuch die Schüler/innen vor allem emotional treffen soll. Der Perspektivenwechsel hingegen ist auf rationale Kräfte angewiesen, auf Vorstellungsbildung durch Rekonstruktion sowie auf kritische Betrachtung durch Distanz. Etliche Formulierungen aus EMails von Lehrer/innen, die an der Gedenkstätte nach Umsetzung des neuen Konzepts 2010 eintrafen, bringen das deutlich zum Ausdruck: Die Rede ist zum Beispiel von „emotionslosem Vortragen“ und davon, dass „den Schülern in keiner Phase eine tiefe Betroffenheit vermittelt werden konnte“ und deshalb „die extremen Verbrechen des NS-Regimes heruntergespielt“ wurden. Bei weitem in der Überzahl, wenn auch meist nicht so laut, waren jene Stimmen, die der Multiperspektivität an der Gedenkstätte vieles abgewinnen konnten. Eine Schülerin schrieb zum Beispiel: „Ich konnte für mich lernen, dass es immer wichtig ist, Situationen von verschiedenen Seiten zu betrachten. Auch in Mauthausen soll man nicht nur das Leid der Opfer betrachten, sondern sich auch mit den Tätern und dem Umfeld beschäftigen.“ Und eine Lehrerin attestierte einer Vermittlerin in einem E-Mail: „Sie hat die Kinder zum Denken angeregt, das ist ihr wunderbar gelungen.“ Diese bestärkenden Zitate stehen stellvertretend für viele. Die Gedenkstätte nahm Kritik sehr ernst, Bestärkung selbstverständlich auch gerne entgegen. In ausführlichen Antworten auf Beschwerden wurde viel erklärt, zahlreiche Fortbildungen für Lehrer/innen fanden statt, bei denen das neue pädagogische Konzept vorgestellt wurde. Allmählich wurde die Kritik leiser, dennoch erzeugt der Rundgangsverlauf nach wie vor bei manchen Besucher/innen Irritation. Er steht häufig konträr zu dem, was sie sich von einer „Führung“ an einer KZ-Gedenkstätte erwarten. Astrid Messerschmidt stellte noch 2016 fest, dass die Bildungsarbeit an deutschen Gedenkstätten weiterhin stark auf die Opfer der Verbrechen fokussiere. Sie sieht dies in Zusammenhang mit der Involvierung in die Verbrechen. Der Wunsch, sich von den Täter/innen zu distanzieren, scheint nur durch die Entwicklung von Empathie mit den Opfern möglich.5 Die

5

Messerschmidt, Astrid: „Selbstbilder zwischen Unschuld und Verantwortung. Beziehungen zu Täterschaft in Bildungskontexten“, in: Oliver von Wrochem/Christine E-

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so skizzierte Bildungsarbeit an Gedenkstätten entspricht damit auch häufig den mitgebrachten Erwartungen, während andere Blickwinkel irritieren. CHRISTIAN ANGERER:

Irritierend wirken manchmal auch die an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen eingesetzten Vermittlungsmethoden, die nicht ausschließlich Erzählung sind. Warum Erzählung fundamental ist, aber unserer Ansicht nach nicht ausreicht, lässt sich gut anhand der Eckpunkte des Dreiecks erklären, das in grafischer Form das pädagogische Konzept der KZ-Gedenkstätte Mauthausen darstellt. Abb. 2: Zeichnung „Vermittlungsdreieck“

Quelle: Christian Angerer

Der linke Punkt markiert den historischen Ort, den ehemaligen NS-Tatort, der rechte Punkt die Geschichte des Ortes. Das Kennenlernen des Schauplatzes der NS-Verbrechen und seiner Geschichte ist, wie gesagt, ein zentrales Bedürfnis der Besucher/innen und eine essenzielle Aufgabe der Vermittlungsarbeit. Wir erfüllen diese Aufgabe, indem wir eine historische Erzählung bieten – seit einigen Jahren handelt es sich eben um eine multiperspektivische Erzählung. Doch wem zeigen wir den Ort und wem erzählen wir seine Geschichte? Welche Voraussetzungen bringen die Adressat/innen mit, an Wissen, an Vorstellungsbildern, an

ckel (Hg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin: Metropol 2016, S. 115–133, hier S. 118.

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Interessen? Wir können (und wollen) den Ort nicht für sie „wahrnehmen“, sie können es nur selber tun, und wir können (und wollen) ihnen die Erzählung nicht „eintrichtern“, sie können sie sich nur selbst aneignen. Was sehen sie und was verstehen sie dabei? Wir werden es nicht erfahren, wenn wir nicht mit ihnen darüber sprechen. So grundlegend also die Erzählung als unsere Erklärung von Ort und Geschichte ist, so notwendig sind die Wahrnehmung des Ortes und die Interpretation seiner Geschichte aus der Perspektive des Ichs der Besucher/innen. Deshalb kommt als dritter Punkt das Ich hinzu. Und während die Kommunikation auf der Grundlinie zwischen Ort und Geschichte als Erzählung abläuft, nimmt sie in Bezug auf die Wahrnehmungen und Verständnisweisen des Besucher-Ichs die Form des Austauschs im Gespräch an: des Austauschs über Geschichtsbilder (immer wiederkehrende Beispiele: Die Bevölkerung hat nichts gewusst; die SS-Männer wurden aus Angst vor Verfolgung selber zu Tätern), Vorstellungen und Erwartungen (Wo ist die Gaskammer?), die manchmal, um mit Verena Haug zu sprechen, auch „fantastische[n] Projektionen“ gleichen.6 Manche, das sei nicht verheimlicht, kommen mit Gleichgültigkeit oder Desinteresse, insbesondere dann, wenn der Besuch nicht ganz freiwillig ist. Was Besucher/innen auch immer mitbringen mögen, wird Teil der Vermittlungsarbeit, Teil unserer Aufmerksamkeit. Die historische Erzählung nimmt 50 % der Rundgangszeit ein, 50 % sollen den Besucher/innen vorbehalten sein, die ermutigt werden, ihre Vorstellungen, Beobachtungen und Fragen zu artikulieren. Indem wir die Wahrnehmung des Ortes anregen, Bild- und Textquellen gemeinsam interpretieren und Diskussionsfragen stellen, versuchen wir, in der Gruppe ein vielstimmiges Gespräch zu initiieren.7 Der Anspruch eines intensiven Austauschs über Wahrnehmungen und Interpretationen in unseren Rundgängen wird von Lehrer/innen unterschiedlich quittiert. Ablehnung von multiperspektivischer Erzählung paart sich oft mit Skepsis gegenüber solcher Interaktion. „Es greift mehr, wenn die Schüler und Schülerinnen über den Alltag, die Missstände, den Überlebenskampf etc. erfahren – auch wenn es frontalunterrichtartig ist“, lautete zum Beispiel eine Kritik, oder: „Statt Mitgefühl und notwendigem Erschrecken stand zwei Stunden lang unsere jeweilige eigene Person im Mittelpunkt.“ Aber auch hier überwiegt die positive Resonanz, ein Blitzlicht aus einem E-Mail dazu: „Heute kann ich sagen, dass unsere

6

Haug, Verena: „Gedenkstättenpädagogik als Interaktion. Aushandlung von Erwartungen und Ansprüchen vor Ort“, in: Elke Gryglewski et al. (Hg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin: Metropol 2015, S. 113–126, hier S. 126.

7

C. Angerer: „Opfer, Täter, Umfeld“, S. 31–35.

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Kollegen (bes. die Klassenvorstände) ganz begeistert waren, wie der gestrige Tag verlaufen ist. […] Die Schüler konnten sich sicher mehr und besser einbringen, als das bei vergangenen Mauthausenbesuchen der Fall gewesen ist.“ Viele ähnliche Rückmeldungen bestätigen uns darin, den Austausch über Geschichtsverständnis – immer in engem Bezug zum Ort – zu einem Schwerpunkt unseres Rundgangs zu machen. Denn so ermöglicht Gedenkstättenpädagogik die „Beteiligung an historischer Sinnbildung“.8 GUDRUN BLOHBERGER:

Mit der „Beteiligung an historischer Sinnbildung“ geht die Befragung der eigenen Identität einher. Was man durch familiäre, soziale, ethnische oder nationale Herkunft mitbringt, reibt sich in der Auseinandersetzung mit anderen über Geschichte und Gegenwart. Anknüpfungspunkte dafür sind in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen oft Denkmäler oder Gedenktafeln. Dazu eine Episode, die sich kürzlich ereignete: Im Denkmalpark beschäftigte sich eine Gruppe mit nationalem Gedenken. Gegenüber dem großen Denkmal der Sowjetunion steht, getrennt durch die ehemalige Lagerstraße, jenes der Ukraine. Es gibt auch ein jugoslawisches und slowenisches Denkmal oder eines für die frühere BRD und eines für die DDR. Der Vermittler (Guide), der die Gruppe begleitete, stellte die Frage in den Raum, wo offizielle Delegationen z.B. aus Deutschland Blumen niederlegen sollten. Beim Denkmal der ehemaligen Bundesrepublik oder bei jenem der DDR oder bei beiden? Einige Tage nach diesem Rundgang erreichte uns ein Anruf: Eine Frau meldete sich und gab sich als Teilnehmerin des beschriebenen Rundgangs zu erkennen. Sie wollte dem Vermittler ausrichten lassen, dass sie die Frage zu den Denkmälern sehr beschäftigt habe. Sie sei gebürtige Ukrainerin und sie überlege, wo sie Blumen niederlegen möchte. Sie sei zu dem Entschluss gekommen, diese beim sowjetischen Denkmal hinterlassen zu wollen. Mir gefällt dieses Beispiel, weil es demonstriert, was der Besuch des Ortes und eine Frage, die auf dem Rundgang gestellt wurde, an Selbstreflexion auslösen können; und hätte der Vermittler seine Diskussionsfrage nicht gestellt, wäre dieses Nachdenken über sich selbst vielleicht nicht in Gang gesetzt worden. Allgemeiner formuliert: Der Schlüssel für Prozesse der historischen Sinnbildung und der Reflexion von Identität ist Partizipation. Durch multiperspektivische Er-

8

Scheurich, Imke: „NS-Gedenkstätten als Orte kritischer historisch-politischer Bildung“, in: Barbara Thimm/Gottfried Kößler/Susanne Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2010, S. 38–44, hier S. 40.

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zählung und vielstimmiges Gespräch wollen wir die Besucher/innen einbinden, ihr Mitgebrachtes zu „unserem“ Thema und die besprochene Geschichte zu „ihrer“ machen. Wir möchten Partizipationsmöglichkeiten schaffen. Das führt auch an Grenzen, doch genau hier gibt es mitunter das größte Weiterentwicklungspotential in der gedenkstättenpädagogischen Arbeit. 2018 veranstalteten wir z. B. eine Reihe von Workshops mit Schulklassen, die sich speziell mit der Gedenkkultur an der KZ-Gedenkstätte beschäftigten und dazu ihre eigenen Ideen entwarfen. Ein Vorhaben für die Zukunft könnte sein, in die pädagogische Entwicklungsarbeit nicht nur unsere Vermittler/innen miteinzubeziehen, was wir bereits tun, sondern auch unsere wichtigste Zielgruppe, die Schüler/innen. Positive Sinnstiftung an Gedenkstätten? Für mich hat diese Frage mit Authentizität zu tun. Es ist eine nach innen gerichtete, aber stark nach außen wirkende Frage. Gelingt es uns unter dem moralischen Druck der Vergangenheit, an Gedenkstätten authentisch eine Atmosphäre zu schaffen, die offenen Austausch und Reflexion ermöglicht? Eine solche Öffnung für Diversität, nicht etwa ein diskriminierender Zuschnitt von pädagogischen Programmen auf „migrantische“ Gruppen, wäre auch die adäquate gedenkstättenpädagogische Antwort auf eine ethnisch-national vielfältige Gesellschaft.9 Eine Atmosphäre, in der sich jeder und jede ernst genommen fühlt, obwohl das Gespräch vielleicht mitunter zur schwierigen Kontroverse wird. Eine Rückmeldung, die eine Schülerin schriftlich hinterlassen hat, gefällt mir in diesem Zusammenhang gut, weil ich dazu neige, die Äußerung nicht nur auf die Gestaltung der KZ-Gedenkstätte zu beziehen, sondern auch auf die Atmosphäre während des Rundgangs: „Es wurde aus einem grausamen Ort etwas Wertvolles, Menschenwürdiges und Beruhigendes“. CHRISTIAN ANGERER:

Das Zitat finde ich sehr schön und anregend zugleich, da es auf ein Spannungsfeld hinweist, in dem wir uns in der Gedenkstättenpädagogik bewegen. Dem von der Schülerin benannten „Beruhigenden“ könnte man die „Selbstbeunruhigung“ entgegenhalten, die Bildungsarbeit zu den NS-Verbrechen als „negatives Gedenken“ bewirkt, indem sie ein Bewusstsein „der radikalen Unselbstverständlichkeit des (gesellschaftlich) Guten“ schafft.10 Wenn es gelingt, diese (notwendige)

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Kößler, Gottfried: „Der Gegenwartsbezug gedenkstättenpädagogischer Arbeit“, in: Barbara Thimm/Gottfried Kößler/Susanne Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2010, S. 45–52, hier S. 50–51.

10 V. Knigge: „Statt eines Nachworts“, S. 433.

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„Selbstbeunruhigung“ an der Gedenkstätte in eine Bildungssituation einzubetten, in der man sich durch Partizipation akzeptiert, „sicher“, „aufgehoben“ und „beruhigt“ fühlt – das könnte doch als positive Sinnstiftung verstanden werden, die es erlaubt, mit „negativem Gedenken“ produktiver umzugehen. Mir scheint, dass es hier darauf ankommt, eine gute Balance zu halten. Ein ähnliches Spannungsfeld und eine ähnliche Herausforderung der Balance sehe ich bei den Geschichten, die wir innerhalb des multiperspektivischen Spektrums erzählen. Wir suchen an Gedenkstätten Erzählungen, die uns emotional berühren, als Tragödien oder als Heldengeschichten – zu den ungeheuren Ereignissen, mit denen wir uns beschäftigen, gehören eben Mitleid und Bewunderung (damit bin ich wieder bei meiner Widerstandsromantik am Peršmanhof); aber wir benötigen auch jene Quellen und Erzählungen, die uns stutzen lassen, verwirren, mit offenen Fragen konfrontieren, die uns verschiedene Handlungsmöglichkeiten vor Augen führen und unser Nachdenken über gesellschaftliche Bedingungen und ethische Probleme fordern. Die Geschichte von den Zuschauer/innen am Fußballplatz des KZ Mauthausen ist ein Beispiel dafür. Das Nachdenken über Handlungsspielräume insbesondere von Zeug/innen und Bystandern in der NS-Zeit eignet sich – wie erwähnt – dazu, unseren Blick für Entscheidungssituationen in der Gegenwart zu schärfen. Dieser Schritt ist für eine positive Sinnstiftung wichtig. Wenn wir bei den Handlungsalternativen der historischen Akteur/innen im totalitären System bleiben, landen wir meist bei Vergeblichkeit und Tod. Das NS-Regime wurde nicht vom inneren Widerstand besiegt, sondern von den Alliierten. Heute jedoch können wir Entscheidungen treffen, ohne unser Wohlergehen oder Leben zu riskieren: „Es kommt also darauf an, Gefahren für die Demokratie rechtzeitig zu erkennen und zu ihrer Verteidigung aktiv zu werden, solange das ohne ein für viele untragbares Risiko möglich ist.“11 Dabei gilt es, die Ansprüche an die Gedenkstättenpädagogik nicht zu überspannen. Aus mehreren Gründen, z. B. wegen der Vermeidung von Instrumentalisierung der NS-Geschichte und der knappen zeitlichen Rahmenbedingungen, können Demokratielernen und Menschenrechtsbildung nicht ohne Weiteres an Gedenkstätten delegiert werden. Die Gedenkstättenpädagogik kann „Elemente“ davon integrieren, aber keine umfassenden „Lernprozesse“ dazu begleiten.12

11 Kaiser, Wolf: „Aus der Geschichte lernen? Zur Relevanz der NS-Herrschaft als historische Erfahrung“, in: GedenkstättenRundbrief 9 (2018), S. 3–17, hier S. 5. 12 Kaiser, Wolf/Rinke, Kuno: „Zum Verhältnis von historischer und politischer Bildung in Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“, in: Elke Gryglewski et al.

P OSITIVE S INNSTIFTUNG

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G EDENKSTÄTTEN ?

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Was sie aber sehr wohl zu leisten vermag, ist die Entwicklung von Gegenwartsbezügen aus einer möglichst konkreten Beschäftigung mit historischen Bedingungen und Situationen heraus, z. B.: Welche politischen Entscheidungen hatten manche von jenen, die im Publikum der Fußballspiele im KZ waren, möglicherweise bereits Jahre zuvor getroffen? Welche Entscheidungen treffen wir heute? Wolf Kaiser schreibt: „Wer beizeiten erkennt, dass grundlegende Rechte in Gefahr sind, und denen, die sie gefährden, entschieden entgegentritt, wenn sie noch aufzuhalten sind, hat eine entscheidende Konsequenz aus der Erfahrung der NSDiktatur und der von ihren Führern und Anhängern begangenen Verbrechen gezogen.“13 Wäre ein Beitrag zu dieser Erkenntnis, dass man etwas tun kann, nicht auch ein Bestandteil von positiver Sinnbildung an Gedenkstätten?

L ITERATUR Angerer, Christian: „Opfer, Täter, Umfeld. Zum pädagogischen Konzept der KZ-Gedenkstätte Mauthausen“, in: GedenkstättenRundbrief 6 (2016), S. 28– 35. Haug, Verena: „Gedenkstättenpädagogik als Interaktion. Aushandlung von Erwartungen und Ansprüchen vor Ort“, in: Elke Gryglewski et al. (Hg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin: Metropol 2015, S. 113–126. Huhtasaari, Hanna: „Die Bundeszentrale für politische Bildung. Selbstverständnis und Auftrag im Arbeitsfeld Gedenkstättenpädagogik“, in: Elke Gryglewski et al. (Hg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin: Metropol 2015, S. 82–97. Kaiser, Wolf: „Aus der Geschichte lernen? Zur Relevanz der NS-Herrschaft als historische Erfahrung“, in: GedenkstättenRundbrief 9 (2018), S. 3–17. Kaiser, Wolf/Kuno Rinke: „Zum Verhältnis von historischer und politischer Bildung in Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“, in: Elke Gryglewski et al. (Hg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin: Metropol 2015, S. 147– 165. Knigge, Volkhard: „Statt eines Nachworts: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland“, in:

(Hg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin: Metropol 2015, S. 147–165, hier S. 165. 13 W. Kaiser: „Aus der Geschichte lernen?“, S. 15–16.

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Ders./Norbert Frei (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München: C.H. Beck 2002, S. 423–440. Kößler, Gottfried: „Der Gegenwartsbezug gedenkstättenpädagogischer Arbeit“, in: Barbara Thimm/Gottfried Kößler/Susanne Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2010, S. 45–52. Lapid, Yariv/Christian Angerer/Maria Ecker: „‚Was hat es mit mir zu tun?‘ Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen“, in: GedenkstättenRundbrief 8 (2011), S. 40–45. Messerschmidt, Astrid: „Selbstbilder zwischen Unschuld und Verantwortung. Beziehungen zu Täterschaft in Bildungskontexten“, in: Oliver von Wrochem/ Christine Eckel (Hg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin: Metropol 2016, S. 115–133. Scheurich, Imke: „NS-Gedenkstätten als Orte kritischer historisch-politischer Bildung“, in: Barbara Thimm/Gottfried Kößler/Susanne Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2010, S. 38–44.

IV. Jüdische Museen als Korrektiv?

Jüdische Museen – Europäische Museen – Postdiasporische Diaspora H ANNO L OEWY

Ich erinnere mich gut an diesen Abend. Wir waren alle einigermaßen erschöpft. Das Jüdische Museum Berlin sollte in zwei Tagen der Öffentlichkeit übergeben werden. Dieser Abend aber sollte der Politik und der Elite der Republik gehören. Es war der 9. September. Mehr als die halbe Bundesregierung wurde erwartet. Es regnete in Strömen. Kanzler Schröder und sein Kabinett eilten durch die Ausstellung. Die Kuratoren standen Spalier, bereit, Fragen zu beantworten. Als der Tross im 20. Jahrhundert angekommen war, waren die Fragen längst ausgegangen. Und der Blick auf die Uhr forderte dazu auf, sich in den Saal im alten Kammergerichtsgebäude nebenan zu begeben, das einst das Berliner Stadtmuseum war. Jenes Stadtmuseum, das erst einen Anbau, dann eine Jüdische Abteilung bekommen sollte. Und schließlich zum Eingang des Jüdischen Museums wurde. Die überraschendste Wendung, die je ein Museumsprojekt genommen hat. Im Saal wartete der gedeckte Tisch auf die vielen hundert Gäste der Gala. Die Kuratoren suchten anderswo nach etwas zu Essen. Die Security der Politiker hatte im Zelt neben dem Museum Schutz vor dem Regen gesucht und das Buffet für die Mitarbeiter entdeckt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte die Gästeliste unter der Überschrift: „die Gründungsversammlung der Berliner Republik“. Man schrieb das Jahr 2001.

G RÜNDUNGEN Die Geschichte des Museums als Hüter des kulturellen Erbes war von jeher eine Geschichte der Erfindung von Nationen. War es das, was Krzystof Pomian meinte, als er vom Museum als der „Quintessenz Europas“ sprach? Für ihn waren

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Museen Tempel der Säkularisierung, in denen die „Beziehungen zwischen Vergangenheit und Zukunft […] an die Stelle der Beziehungen zum Jenseits“1 treten würden, in denen die Kunst die Religion ablösen würde. Doch dieses Bild einer Entzauberung der Welt durch ihre Historisierung, mit der Pomian die Aufklärung im Museum realisiert, ja zur europäischen Institution schlechthin geworden sieht, hatte nicht erst im 20. Jahrhundert Risse bekommen. Dieses Bild verdeckte von Beginn an die andere Seite dieses neuen Kults. Gottfried Fliedl hat minutiös einen anderen Tag beschrieben, dessen Dramaturgie das erste Nationalmuseum auf dem europäischen Kontinent mit dem neuen politischen Körper, dem Volk verband: den 10. August des Jahres 1793. An diesem Tag, dem Jahrestag des Sturms auf die Tuilerien, dem Fest der Einheit und Unteilbarkeit der Republik, wurde das Musée français im Pariser Louvre eröffnet. Es galt den „Reichtümern der Nation“ und dem „Recht aller Menschen auf diesen Genuss“, wie Jacques Louis David es in der Nationalversammlung zum Ausdruck brachte. An diesem Tag wurde die neue demokratische Verfassung verkündet. Und ein Nationalfest zog abertausende von Franzosen in Paris auf die Straße und versammelte sie zu einer Prozession, die schließlich in einem Eid der Abgeordneten auf die neue Ordnung gipfelte. Die Trustees des British Museum in London hatten sich seit seiner Gründung durch den Act of Parliament im Jahre 1753 noch darüber gestritten, ob die Angehörigen der unteren Klassen überhaupt Zugang zu dem 1759 schließlich eröffneten Museum erhalten sollen.2 Sie entschieden sich dafür, Eintrittskarten nur an jene auszugeben, deren Wohlerzogenheit und Bildung man sich sicher sein konnte, in einem Haus, das die koloniale Macht und die kulturstiftende, erzieherische Wirkung eines weltumspannenden Imperiums in seinen Sammlungen zum Ausdruck bringen sollte. Das Musée français hingegen sollte die destruktive Energie des revolutionären Bildersturms, die der Utopie durch Zerstörung aller Formen den Weg frei machen wollte, in ein neues, staatstragendes Bett leiten. Genauer: das alte Zentrum der Macht, den Königspalast, in ein Haus des Volkes verwandeln – und die dort für eine soziale Elite gesammelten Leistungen einer kulturellen Elite in eine Kultur des Volkes.

1

Pomian, Krzysztof: „Das Museum: Die Quintessenz Europas“, in: Wunderkammer des Abendlandes. Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit, Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 1994, S. 112–118, hier S. 116.

2

Cash, Derek: „Access to Museum Culture: the British Museum from 1753 to 1836“, https://www.britishmuseum.org/pdf/3.pdf vom 28.5.2019.

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An die Stelle eines Auftrags aus dem Jenseits, der hinter den als „göttlich verbrieften“ Vorrechten und Verpflichtungen des Adels angenommen wurde, war mit der Revolution eine neue Stiftung von Gemeinschaft getreten: die Zukunft, das Recht eines jeden einzelnen auf Glück. Doch dieses Versprechen schien schon 1793 nicht mehr zu genügen. Die Vergangenheit sollte nicht länger nur entsorgt werden. Nun ging es darum, sie in ihrer Totalität zu besitzen und neu zu deuten. „Dem Furor des Verschwindens“, so schreibt Gottfried Fliedl, wurde nun „eine Politik des Erbes entgegengesetzt, die ihre Kulmination in der Gründung einer Denkmalpflegebehörde und von Museen findet […] Dieses Erbe ist in rechtsbrüchigen und gewaltförmigen Prozessen wie Säkularisierung, Beschlagnahme, Enteignung usw. entstanden, um nun in den Besitz des Volkes zu gelangen.“3 Doch nicht nur das Volk gelangte so in den Besitz dieses „Erbes“. Das Erbe nahm auch das „Volk“ in Besitz. Oder genauer: jene, die nun darüber entschieden, woraus dieses Erbe bestehen sollte. Mit den Nationalmuseen trat neben den Kult des Göttlichen, der schließlich die Revolutionen überlebte, der Kult der Kultur. Die Nationen Europas traten in einen Wettbewerb ein, der nicht nur kriegerische Gewalt und Konkurrenz um Macht, Ressourcen und Territorien bedeutete, sondern auch die immer leidenschaftlichere Suche nach neuer Legitimität, jenseits der privilegierten Nähe zu Gott. Museen boten dieser Konkurrenz der „Nationen“ neue, kulturelle Ressourcen. Das Zauberwort, das heute durch Europa hallt, nämlich „Identität“, nimmt hier seinen Anfang. Und indem sich in der Institution des Museums die Autoren dieser großen neuen Erzählungen der Nationen, später auch der lokalen Gemeinschaften, Religionen und Ethnien, in der Anonymität einer kollektiven Autorschaft verbargen, sich selbst in das Kleid der Öffentlichkeit hüllten, die sie zu vertreten vorgaben, verwandelte sich die kritische Öffentlichkeit, wie sie in den Bildungsgesellschaften und Salons im Diskurs konstituiert wurde, zurück in eine Anbetung der Dinglichkeit, die Feier dessen, was doch nicht zu ändern sei: das kulturelle Erbe. So ist das Museum, um noch einmal Gottfried Fliedl zu zitieren, „hinsichtlich Macht und Identität eins: kein neutraler Ort. […] Verschleiert wird das dadurch, dass die Museumserzählungen und Repräsentationsformen eine allgemeine Gültigkeit und Verbindlichkeit behaupten, obwohl sie immer eine Auswahl darstellen, immer Nicht-Gesagtes enthalten und immer mit Ausschlüssen einhergehen. Museumserzählungen sind Setzung, haben partikulare Geltung,

3

Fliedl, Gottfried: „Haus der Geschichte. Mein ‚nein‘ dazu“, http://museologien. blogspot.co.at/2015/10/haus-der-geschichte-mein-dazu.html vom 28.5.2019.

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doch behauptet das Museum das Gegenteil, nämlich die allgemeine Verbindlichkeit seiner Werte und Erzählungen.“4 Was im Museum gesammelt, beforscht und ausgestellt wird, beansprucht kanonischen Wert, und das ist niemals eine unschuldige Entscheidung. Benedict Anderson und viele nach ihm haben diese identitäts- und kanonbildende Funktion der Museen für die Erfindung und Legitimation der Nationen Europas und darüber hinaus eingehend beschrieben.5 Seit den 1990er Jahren kreist die Museumsdiskussion freilich auch um die Krise dieser von Museen gestifteten „Gewissheiten“, ihre produktive Infragestellung angesichts von Migration und transnationalen Beziehungen, von „transkulturellen“ und „hybriden“ Identitäten. Der damit verbundene Optimismus hat längst einer gewissen Skepsis Platz gemacht, angesichts der sich gegenseitig verstärkenden Effekte der konkurrierenden, auf kulturelle, politische und soziale Abschottung setzenden Identitätspolitiken in Europa. Diese Konkurrenz ist nicht mehr nur eine zwischen den Nationen, erst Recht suchen Mehrheiten und Minderheiten in der Migrationsgesellschaft Ressourcen im Kampf um Anerkennung und soziale Hegemonie – nicht zuletzt auf dem Feld symbolische Politik, sei es der Religion oder des kulturellen Erbes. Die Karten in diesem Kampf sind ungleich verteilt, aber seine Spielregeln untergraben die demokratische Öffentlichkeit von allen Seiten und ersetzen sie durch den Paternalismus der Demographie, die Behauptung natürlicher Autorität innerhalb von „gegebenen“ Zwangsgemeinschaften. Schon 2000 hatte Sharon MacDonald darauf hingewiesen, dass auch die Wertschätzung für hybride oder „hyphenated“ Kulturen diesen auf ethnische „Substanz“ bauenden Kulturalismus bestärken könnte: „Articulating postnational, transcultural or ‚hybrid‘ identity is a difficult matter […] it easily runs the risk of unwittingly ‚freezing‘ identities, precisely contrary to its ambitions. […] museums may face a particular dilemma in this regard. One problem that has been identified is that the notion of ‚hybridity‘ (as with related conceptions, such as ‚syncretic‘ or ‚creole‘ identities) seems to presuppose pre-existing ‚pure‘ or ‚non-creolised‘ cultures, a view which most anthropologists would dispute […] A second, related, problem is a tendency to privilege ‚ethnic‘ or ‚national‘ identity (e.g. ‚South Asian‘), even if this is conceptualised as ‚hyphenated‘ (e.g. ‚Anglo-Indian‘, ‚German-Turkish‘) and to equate this with ‚culture‘, thus again setting ‚hybrid‘ or ‚fluid‘ identities against an implicit ‚pure‘

4

Ebd.

5

Vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 2006.

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identity and conceptualising the non-homogeneous as inherently ‚potentially conflictual‘.“6

Mit dem Jüdischen Museum Berlin freilich hat – an historisch kontaminiertem Ort, um eine Formulierung von Aleida Assmann zu verwenden7 – die Idee des Nationalmuseums jenseits seiner Hinwendung zu Formen des Pluralismus eine andere, neue und verstörende Qualität erreicht, die zugleich faszinierend und problematisch erscheint. Faszinierend, weil es den Versuch unternimmt, einen Ort der Identitätsstiftung um eine Leerstelle herum zu errichten, um jene „voids“, die Daniel Libeskind als zentrale Achse entwarf, eines Baus, der demonstrativ gebrochen und fragmentarisch auftritt (auch wenn wir diesen schließlich nahezu enzyklopädisch befüllen wollten, um diesem horror vacui etwas entgegenzusetzen). „Eigene“ Identität mit der Erinnerung an die Erfahrung „anderer“ zu begründen stellt das Paradigma nationaler Erinnerung, aber auch das Bild des Multikulturalismus auf die Probe. Und zugleich erweist sich eine solcherart negativ begründete Identität, durch negative Denkmäler – wie James Young sie nannte – in vielen Varianten inszeniert, selbst als problematisch, wo sie mit dem Gestus der nationalen Vergemeinschaftung auftritt. Denn keineswegs erzeugt eine solche, nicht hintergehbare Leerstelle immer nur Offenheit für die Erfahrung anderer, sie kann diese auch wie ein schwarzes Loch verschlucken. Die Leerstelle der Erinnerung an die Verbrechen, nämlich die Unfähigkeit der Täter, ihre Verbrechen zu bedauern (die die eigentlich schockierende Erfahrung der NS-Prozesse war), erweist sich auch als Kern einer möglichen Gemeinschaft, die sich erst recht im Ausschluss des Anderen realisiert. Als wir das Museum eröffneten, las ich gerade Dostojewskis „Dämonen“. Und es war mir, als kreiste dieses Buch um einen einzigen beunruhigenden Gedanken: dass nämlich nichts eine derart unauflösbare Gemeinschaft stiften würde wie ein gemeinschaftlich begangener Mord. So stand die Eröffnung des Museums am 9. September 2001 unter einem zweideutigen Stern: dem Zeichen einer paradoxen, auf Leerstellen gebauten Annahme von Verantwortung für begangene Verbrechen und dem irritierenden Stolz darauf, sich genau darin als neue Gemeinschaft konstituieren zu können. Viel Zeit blieb nicht, diesen verstörenden Gedanken nachzugehen. Das Buffet war, wie man so sagt, abgefrühstückt, die in der Not bestellten Croissants

6

MacDonald, Sharon: „Museums, national, postnational, transcultural identities“, in: Museum and Society 1 (2003), S. 1–16.

7

Vgl. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München: C. H. Beck 2007.

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durchgeweicht, auf das „Festzelt“ der Mitarbeiter klatschte der Regen. Schließlich mischten sich die Kuratoren unter die versammelte „kritische Öffentlichkeit“, unter die Journalisten. Denn für die gab es, wie die Wachleute des Museums aus proletarischer Solidarität verrieten, im Restaurant, im Trockenen, noch etwas zu Essen. Es folgte ein entspannter Tag. Die Sammler und Leihgeber, die Kolleg/innen aus anderen Institutionen, Freunde und Ratgeber kamen herbei, um das größte jüdische Museum Europas zu bestaunen. Und für alle, die dieses Abenteuer bestanden hatten, war es ein Tag der Verschnaufens, Atemholens vor der erwarteten Feuertaufe am nächsten Tag. Am 11. September sollte die Öffentlichkeit von diesem neugeschaffenen sozialen Raum Besitz ergreifen dürfen, von einem „Jewish space“ in all seiner von Diana Pinto konstatierten Mehrdeutigkeit. Doch bekanntlich kam es anders. In den Räumen des American Jewish Comittee diskutierten wir mittags über deutsche Nachkriegsliteratur und ihren Umgang mit dem Holocaust, der Leerstelle. Natürlich gab es wieder ein Buffet und diesmal keine Konkurrenz darum. Beim Dessert blickten wir hinaus auf die neuen Hochhäuser am Potsdamer Platz, als die ersten Meldungen aus New York eintrafen. Ein Flugzeug war in einen der beiden Twin Towers geflogen. Das zweite konnten wir schon live auf den Bildschirmen beobachten. Die Nachkriegszeit war vorbei.

Z WEIDEUTIGKEITEN Peter Sloterdijk hat Museen einmal die „Schule des Befremdens“ genannt. „Wer sich hingegen im Museum zu Hause fühlt, der hat mitten in der Welt den Platz entdeckt, wo man da sein kann, als wäre man schon fort.“8 Und das nicht nur im Sinne einer imaginären Reise an einen anderen Ort. „Die Museumswissenschaft“, so schreibt Sloterdijk, „gehört zur Phänomenologie der kulturellen Strategien des Umgangs mit dem Fremden.“ Und zwar gerade dort, wo das Fremde und das Eigene sich berühren, am Ort der Gleichzeitigkeit von Xenophilie und Xenophobie, der „Sympathie mit dem Nicht-Ich“ und der „Abwehrreaktion gegen das Nicht-Ich“. „Aufgrund dieser Ambivalenz ist das moderne Museum einer der nervösen Punkte, um die Arbeit der Kultur als gleichzeitiges Aneignen

8

Sloterdijk, Peter: „Weltmuseum und Weltausstellung“, in: Ders.: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 371–399, hier S. 377.

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und Abwehren zu studieren“9, ein Horizont, „in dem uns die Welt als fremde bekannt wird und als bekannte uns fremd anblickt.“10 Wenn für Museen gilt, dass einem das Eigene fremd und das Fremde vertraut werden kann, dann gilt das im Extrem für jüdische Museen. Schon an deren Namensgebung entzünden sich nicht endende Diskussionen, jedenfalls in Europa, wo die meisten jüdischen Museen nach 1945 nicht in der Trägerschaft einer jüdischen Organisation entstanden sind, sondern in öffentlichen Prozessen, in denen unterschiedliche Interessen an „jüdischem Erbe“, oft konfliktreich, ausgehandelt und räumlich zum Ausdruck gebracht wurden. So wird zuweilen auf Umschreibungen zurückgegriffen, die der identitären Vereinfachung vorbeugen sollen. In Warschau steht heute das „Polin Museum der Geschichte der polnischen Juden“, in Amsterdam das „Jüdische Historische Museum“ als Teil des „Jüdischen Historischen Viertels“, in Augsburg das „Jüdische Kulturmuseum“ und in Laupheim das „Museum zur Geschichte von Christen und Juden“. Spätestens die Umgangssprache macht daraus dann schließlich doch „Jüdische Museen“. Und die Zweideutigkeit eines solchen Begriffs, der zwischen einer Zuschreibung des Gegenstandsfeldes und einer Zuschreibung von Identität schillert, wird für diese Museen selbst konstitutiv. Sie teilen manche dieser Zweideutigkeiten mit anderen Museen und treiben sie zugleich auf die Spitze. Kulturmuseen sind ein Produkt der Säkularisierungsgeschichte und der Demokratisierung. Mit ihnen öffneten sich die Wunderkammern der Herrschaft dem Volk und die sakrale Kunst öffnete sich der profanen Anschauung. Doch der Furor der Aufklärung schuf neue Götter. Und so wurden aus den Museen des Volkes Museen der Völker, aus den Museen der Nation Kultstätten des Nationalen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden gemeinsame kulturelle Wurzeln beschworen und damit eine vorrangige Einheit jenseits der politischen Ansprüche der sozialen Bewegungen. Aus den Museen der Demokratie wurden Tempel eines säkularen Kultes. Und damit waren die freilich auch zum Kampfplatz und Instrument jener geworden, die (neue) Nationen und Regionen mit eigenen politischen Geltungs- und Machtansprüchen ins Spiel bringen wollten. Mit der Ausdifferenzierung der Museen als Orte der Konstitution, ja, der Erfindung von „Identität“, rückte auch die Alltagskultur, der Wert des Geringen und Durchschnittlichen, des vermeintlich „Typischen“ in den Fokus. So wie sich der herrschaftlich-koloniale Zugriff auf fremde Kulturen schrittweise auch der

9

Sloterdijk, Peter: „Museum – Schule des Befremdens“, in: Ders.: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 354–370, hier S. 357.

10 Ebd., S. 358.

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„eigenen Folklore“ annäherte und im Medium der Volkskunde damit begann, eine quasi naturgegebene Einheit von Kulturen und Territorien zu beschwören, so nobilitierten nun neu entstehende Regional- und Heimatmuseen Alltagsgegenstände und verfremdeten sie zugleich. Walter Benjamin hatte in seinem Versuch, die Aura eines Gegenstandes als das Aufblitzen von Bedeutung begrifflich zu fassen, schon auf diese Ambivalenz hingewiesen: „die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“11 Das Objekt, das wir nobilitieren, indem wir es ins Museum holen, wird uns in diesem Moment zugleich fremd. Es tritt, obwohl physisch nah, von uns zurück, wenn es aus seinem Alltagskontext entführt und in einen Raum des Bedeutens gestellt wird. Je mehr Identitätsbegehren wir nun mit diesen Dingen zu verbinden suchen, umso fremder werden sie uns. Die Spannung zwischen Sakralem und Profanem wird im Museum unauflösbar fortgeschrieben. Was im Zuge der Säkularisierung aus Kirchen und Klöstern ins Museum geschafft wurde, wird nun Teil einer Kulturgeschichte. Und was aus der profanen Alltagskultur den Weg ins Museum fand, wurde mythisiert und mit einer Aura nationaler Kultur aufgeladen, die an religiöse Andacht zu erinnern vermag. Während Krzysztof Pomian die Verwandlung von Religion in Kunst beschreibt, geht es Orhan Pamuk genau umgekehrt. Auf dem „knarzenden Parkettboden“ eines Museums, bewacht von dösenden Aufsehern, erfasst ihn „ein geradezu religiöses Gefühl“12, das sich immer wieder einstellt, wenn er das Museum in ritueller Wiederholung besucht. Die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird im Museum auf ebenso zweideutige Weise thematisiert. So verleiht ihre Musealisierung den Objekten eine Präsenz, die physische Kontinuität feiert, sie aus der Zeit heraushebt, uns mit der unmittelbaren Gegenwart von Vergangenheit konfrontiert und sie zugleich in etwas verwandelt, was sie niemals waren. Ein Museum ist aber auch ein Ort, an dem wir Dinge im Raum betrachten können, und das heißt auch von zwei (oder noch mehr) Seiten aus. Es ist die Bewegung der Besucher im Raum, die einen mal narrativen, mal diskursiven Zusammenhang entstehen lässt, in dem bewusste und unbewusste Entscheidungen jederzeit neue Assoziationen herstellen und auflösen können. Das Museum kann ein Ort sein, an dem man – anders als in der Rezeption der meisten kulturellen Medien – über diese Differenz unmittelbar in einen Dialog treten kann, einen

11 Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, deutsche Fassung 1939; in: Ders: Gesammelte Schriften, Band I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 471–508, hier S. 479. 12 Pamuk, Orhan: Das Museum der Unschuld, München: Carl Hanser Verlag 2008, S. 529.

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Dialog und eine Folge von Entscheidungen, die unmittelbar in die Rezeption des Mediums selbst eingreift. Dabei kommt es darauf an, den Raum, den das Museum bietet, als Ensemble von Möglichkeiten zu betrachten, das dem Besucher reale Freiheiten einräumt, eigene Erfahrungen zur Geltung zu bringen, mit der Anschauung von Objekten in Beziehung zu setzen und mit anderen Besuchern zu kommunizieren. Zumeist wird freilich das Gegenteil versucht. Jeder will Geschichten erzählen, und dabei die Objekte wie Wörter aneinander reihen, Eindeutigkeit herstellen, erklären, lenken, erziehen, wo gerade die Mehrdeutigkeit des Objekts seine Qualität ausmacht. Inzwischen gibt es ein neues Zauberwort: die „Partizipation“, aber statt mehr Offenheit für die Deutung der Objekte beschert sie in vielen Ausstellungen noch mehr Ablenkung von ihnen. Und doch bleibt im räumlichen Dispositiv des Museums eine Spannung wirksam: nämlich die zwischen der narrativen Absicht der Kuratoren und dem Eigensinn der Besucher, die ihren eigenen Weg durch die Ausstellung finden und damit – allein oder in Verhandlung mit anderen – ihr eigenes Beziehungsnetz knüpfen und einen diskursiven Raum herstellen, der immer wieder neu entsteht. Schließlich steht jedes Objekt im Spannungsfeld von Biographie und Geschichte. Es gehört zum je eigenen Bedeutungsgewebe, das ein menschliches Leben ausmacht und aus dessen Kontext es nun herausgefallen ist. Und es gehört als gesellschaftliches Objekt zugleich zu einer Geschichte, die schon da war, bevor das Objekt in einen individuellen Besitz gelangt ist, aus dem es nun wieder – freiwillig oder gewaltsam – gerissen ist. Geschichtliche Brüche sind es, die die Museen mit Objekten füllen. Auch die jüdischen Museen sind aus dem Bruch mit der (religiösen) Tradition und ihrer Neuerfindung als „kulturelles Erbe“ hervorgegangen. Schon die ersten Gründungen um 1900 „verdankten“ sich der Auflösung religiöser und traditioneller Alltagspraxis, der Auflösung ökonomisch wie politisch unter Druck geratener Lebenswelten und der Migration: aus den Landgemeinden in die Städte und schließlich der Massenemigration von Osten nach Westen. All diese von Individuen mal als Katastrophe, mal als Aufbruch wahrgenommenen oder erlittenen Zäsuren verwandelten einen religiös geprägten Begriff von jüdischer Tradition in eine Frage von Identität und Kultur. Deren wichtigstes Medium, nämlich die Familie, bekam angesichts des Zusammenbruchs der traditionellen Strukturen der Großfamilie im Zuge von Migration, Urbanisierung und ökonomischer Mobilität zugleich Konkurrenz durch die Produkte der Massenkultur – und schließlich auch durch das Museum. Die ersten jüdischen Museen entstanden zumeist in der Trägerschaft jüdischer Gemeinden oder ihnen nahestehender Kulturvereine, 1895 in Wien, 1904 in New York, 1906 in Prag, 1909 in Budapest,

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1912 in Worms, 1922 in Frankfurt am Main, 1927 in Breslau, 1932 in London und 1933 in Berlin. Es waren Community Museen, denen der Versuch gemeinsam war, eine partikulare Tradition als universelle Kultur zu bewahren und zugleich in das kulturelle Erbe der verschiedenen Nationen einzuschreiben als deren Teil man sich nun zugleich empfand. Damit wurden aus den heimatlos gewordenen Objekten einer zerbrechenden traditionellen Lebenswelt Träger einer neu konstruierten kulturellen Überlieferung und einer besonderen historischen Identität. Und zugleich eine Bürgschaft im Prozess der Assimilation und Akkulturation, die ihre Besonderheit aufheben sollte. Das Versprechen der Aufklärung, für das sie noch immer einstanden, wurde nicht eingelöst. Was nach der Shoah blieb, war eine radikalere Heimatlosigkeit als sie die Museumsobjekte schon in den Gründungen vor 1933 kennzeichnete. Nun war die Idee des „Jüdischen Museums“ in Europa selbst heimatlos geworden und stand damit für die Diaspora schlechthin ein, in ihrer zerstörten Realität wie in ihrem noch lange nicht erledigten utopischen Potential. Doch bevor wir versuchen zu verstehen, was jüdische Museen in Europa heute mit der Existenz einer postdiasporischen Diaspora verbindet, sei ein Blick auf jüdische Museen gerichtet, die die Diaspora scheinbar hinter sich gelassen haben. Das erste, das mir dabei einfällt, ist im Grunde gar kein jüdisches Museum, es behauptet von sich das „Israel Museum“ zu sein. Und so heißt es jedenfalls auch. Seit seiner großartigen Erweiterung und Neuinszenierung in den letzten Jahren erwarten die Besucher in Jerusalem drei Flügel mit gänzlich verschiedenen Themen, Rhetoriken und musealen Präsentationsweisen. Wer einen „Gesamtrundgang“ wagt, wird zuerst mit dem „Land“ und den verschiedenen Kulturen, die es bewohnten, vertraut gemacht, in einer historischen Tiefenbohrung, die sich folgerichtig auf die archäologische Sammlung des Hauses konzentriert. Man erfährt, dass das Gebiet Israels und Palästinas immer ein Ort war, an dem sich die Wege kreuzten und jede Kultur ihren Fußabdruck hinterließ. Die dritte Abteilung zeigt israelische und internationale Kunst. Die zweite und zentrale Abteilung aber ist „Jewish Art and Life“ gewidmet und führt den Reichtum sakraler und profaner jüdischer Alltagskultur quer durch Jahrhunderte und Weltgegenden vor. Im Zentrum dieses Zentrum steht der Reigen der jüdischen Feiertage und ihrer Zeremonialkunst. Neben Schabbat und Synagogenbau (ganz im Stile kolonialer Museumstraditionen sind ganze Innenräume von Synagogen aus aller Welt nach Jerusalem transloziert worden) ist dies nicht zuletzt eine Galerie der unermesslichen Sammlung von Chanukkaleuchtern, die diesen in der Diaspora früher vergleichsweise unbedeutenden Feiertag alleine durch seine räumliche Dominanz in der Ausstellung mit jener Bedeutung auflädt, die

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dem Fest des Lichtwunders und der spirituellen und militärischen Unbeugsamkeit der Makkabäer nach dem Holocaust in Israel und im zionistisch-religiösen Jahreskalender zugewiesen wurde. Die hohen Feiertage hingegen – nicht zuletzt den höchsten, nämlich Jom Kippur und seine ethische Dimension des Selbstzweifels und der Selbstkritik – übersieht man hingegen fast, sie spielen eine Nebenrolle am Rande. Im Zentrum dieses disproportionalen Jahreszyklus wiederum bildet eine Videoprojektion den eigentlichen Mittelpunkt des ganzen Museums. Auf der einen Seite, zurückversetzt zwischen die Wände eines nach zwei Seiten offenen Kubus, thematisiert eine frühe Arbeit von Yael Bartana den Gedenktag für die Opfer der Shoah, Jom Hashoah. Auf der Rückseite der gleichen Wand hingegen verbindet eine Videoarbeit über den „Unabhängigkeitstag“ Jom Haatzmaut die „nationale Souveränität“ mit der Sammlung der Chanukkahleuchter. Dazwischen, an der Außenwand, wird der Gedenktag für die gefallenen jüdischen Soldaten, Jom Hazikaron thematisiert, und korrespondiert mit Jom Kippur. Jom Kippur, so erfährt man, ist für viele Israelis inzwischen der Gedenktag für die Gefallenen des Jom-Kippur-Krieges. So steht im Mittelpunkt dieses nationalen Museums die Rückbindung der Nation auf eine unhintergehbare Katastrophe und ihre Umdeutung in ein Opfer auf dem Weg zu selbst erkämpfter Souveränität – und damit auch zur Legitimation der Hegemonie eines Teils der Bevölkerung über jenen anderen Teil, für den dieses Museum zwar pädagogische Angebote, aber kaum je eine selbstbewusste Repräsentanz in seinen Ausstellungen parat hat, und wenn, dann an ihren Rändern. Diese Verbannung des „Anderen“ an die Grenzen der Sichtbarkeit wird in Yad Vashem, dem zweiten „Nationalmuseum“ Jerusalems, auf die Spitze getrieben. Saul Friedländer hat schon vor fast 30 Jahren die Einbettung der Shoah in den nationalen Festkalender Israels und in das Gedenkensemble am „HerzlBerg“ kritisch beschrieben, ohne voraussehen zu können, zu welcher Perfektion sie noch getrieben werden würde. Wer heute seinen Weg durch die historische Ausstellung nimmt, begegnet zunächst flüchtigen, verblassenden Filmbildern der europäischen Diaspora, bevor ein leicht abschüssiger Weg durch die Kapitel der Vernichtung beginnt. Der mäandernde Pfad durch dunkle Räume führt immer wieder durch die von oben erleuchtete Mittelachse hindurch, die nach der Hälfte des Weges wieder unmerklich emporführt. Nach diesem Wechselbad von dunklen Kapiteln und regelmäßiger Begegnung mit Hoffnung spendendem Licht von oben betreten die Besucher einen imperialen Balkon mit einer prächtigen Aussicht auf den Jerusalemwald im Tal und einige westliche Stadtteile auf den Hügelkuppen gegenüber. Wendet man den Blick ganz nach rechts, dann sieht man

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auch auf Har Nof und Kfar Shaul auf jener Kuppe, auf der einst das Dorf Deir Yasin lag, dessen arabische Bevölkerung 1948 von der Irgun unter Menachem Begin massakriert wurde und das so zum zentralen Symbol der Naqba wurde, zum Gegenstand eines fortwährenden Deutungskampfes über die Ereignisse des Bürgerkriegs von 1948. Die prekäre Nähe zwischen den verschiedenen Orten des Gedenkens und der Verdrängung, dem Herzl-Berg und seinen Soldatengräbern, dem Grabmal Theodor Herzls und dem ihm gewidmeten Museum, der Gedenkstätte der Shoah und dem zerstörten arabischen Dorf auf der anderen Seite des Tales bildet ein verstörendes Ensemble – freilich nur für den, der um die ganze Geschichte dieser umkämpften Erinnerungslandschaft weiß. Wer sich tatsächlich auf dem schräg gegenüberliegenden Hügel den Überresten des Dorfes nähert, stößt bald auf einen Zaun. In den wiederaufgebauten Häusern ist schon seit Anfang der 1950er Jahre die Jerusalemer Irrenanstalt untergebracht – und bietet unter anderem Therapien des Jerusalem-Syndroms an. Ganz anders konstruieren jüdische Museen in den USA jüdische Identität als Teil eines „multikulturellen Gewebes“, als das viele US-Amerikaner ihr Land gerne sehen – und begreifen sich als „identity museums“ unter anderen, als Teil eines Ensembles von Schaufenstern, die verschiedene amerikanische communities dem größeren Publikum öffnen. Auch in dem Bild, das die meisten dieser Museen von jüdischer Existenz entwerfen, ist die Diaspora überwunden, freilich in einer eigensinnigen Überbietung des „american dream“ als Erfüllung des jüdischen Universalismus. So beginnt und endet das Narrativ des Maltz Museum of Jewish Heritage in Cleveland mit der Parallele zwischen Israel und den USA als „gelobtem Land“. Die mit Jerusalem-Stein verkleidete Fassade transloziert die Bedeutung Jerusalems in die USA und die Geschichte jüdischer Einwanderung wird zur amerikanischen Einwanderungsgeschichte schlechthin überhöht. Zugleich verstehen sich jüdische Museen in den USA als „community museum“ – und anders als die europäischen Gründungen bis 1933 (und vielleicht die Pariser im Jahre 1946) sehen sie ihren Auftrag nicht nur in der Bewahrung materieller Kultur und der Verwandlung von religiöser Tradition in kulturelles Erbe, sie bieten sich als Experimentierfeld und Bühne für plurale jüdische Identitätsentwürfe an, die dieses jüdische Erbe jung und attraktiv halten sollen. Edward Rothstein, der langjährige Museumskritiker der New York Times, beklagt in einem Anfang 2016 erschienenen Warnruf an die jüdischen Museen, diese seien nicht „jüdisch genug“, da sie sich anders als andere „identity museums“ (der American Indians, der African-Americans oder der Asian-Americans) allzu universalistisch gebärden. Sie beschäftigten sich Rothstein zufolge mehr

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mit der Berührung des Judentums mit den es umgebenden Gesellschaften als mit den Wurzeln des Jüdischen und der „jüdischen Kultur“13. Damit benennt er jedoch nur ein unlösbares Problem, das freilich nur dann eines ist, wenn man an unteilbare Kulturen glaubt, an die Substanz eines Erbes. Und das vor dem Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft, die ihre Mitglieder vor allem auf eine gemeinsame Zukunft verpflichtet und nicht auf eine gemeinsame Vergangenheit. Das Problem bleibt immer noch ein relatives, auch wenn in den USA der Druck auf jene wächst, die sich nicht einer kulturellen Hegemonie zurechnen wollen. Unlösbar ist dieses herbeigeredete Problem allerdings tatsächlich auf sehr spezifisch „jüdische“ Weise. Und dieser Gedanke führt zurück zu Europa, zur postdiasporischen Diaspora, und zur Herausforderung, die jüdische Museen für die kulturelle Selbstrepräsentation europäischer Nationen, europäischer Mehrheiten und Minderheiten bedeuten können. Und dies umso mehr, als sich in Europa, anders als in den USA (und auf dem Kontinent mehr als auf den britischen Inseln), die Bindung von Kultur an Territorium bis heute geltend macht und als Bollwerk gegen Migration wiederentdeckt wird, aller europäischer Integration zum Trotz. Das Judentum, solange es nicht wie in Israel zu einem trivialen Kult des Landes, der Fruchtbarkeit, der Überlegenheit, der Erwählung banalisiert wurde, ist immer beides gewesen: partikularistisch und universalistisch, Volk und Religion, Stamm und Idee, stur am Eigenen festhaltend und sich permanent mit allem Anderen berührend, aufladend und entladend. Und es ist zugleich immer das „Andere“ und das „Eigene“. Jüdische Museen, die diese Zweideutigkeit ernst nehmen, liegen damit konstitutiv auf der Grenze. Sie beschäftigen sich mit der Geschichte und Gegenwart einer Minderheit, einschließlich ihrer religiösen Dimensionen, die zugleich eine Quelle der Mehrheitskulturen Europas und großer Teile der Welt darstellt, des Christentums wie des Islams. Sie spiegeln das „Eigene“ im „Anderen“, ohne sich darauf festlegen zu lassen, um wessen „Eigenes“ und „Anderes“ es geht. Sie stellen Zugehörigkeit, Identität und Abgrenzung, kulturell wie territorial, gründlicher in Frage, als es ihren Trägern, aber zuweilen auch ihrem Publikum recht ist. Sie tun es auf unterschiedliche Weise, mal bewusst, mal unwillkürlich. Sie präsentieren in ihrer Mitte gigantische Leerstellen, oder sie drehen, wie das in Köln geplante Jüdische Museum, die symbolische Ordnung der Geschichte auf den Kopf, indem die gesamte archäologische Ausgrabungszone in der Kölner

13 Siehe Rothstein, Edward: „The Problem with Jewish Museums“, in: Mosaic. Advancing Jewish Thought vom 1.2.2016, https://mosaicmagazine.com/essay/historyideas/2016/02/the-problem-with-jewish-museums/.

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Altstadt, von den römischen Palastruinen bis ins christliche Mittelalter und darüber hinaus, in Zukunft über das Jüdische Museum betreten werden wird, so als läge der Schlüssel zum Verständnis der gesamten Geschichte im Ghetto begraben. Jüdische Museen bieten sich damit geradezu paradigmatisch für eine Diskussion über Museen als Kontaktzonen an, wie sie Nora Sternfeld wiederholt eingefordert hat. Als ein Paradigma, das weit über sich selbst hinausweist. In einer Migrationsgesellschaft fordert eben nicht nur das Nachdenken über jüdische Geschichte und über die Geschichte des Holocaust dazu auf, pluraler zu denken, und anzuerkennen, „dass Erinnerung ein Ergebnis von Kämpfen ist, dass sie brüchig und umstritten ist und ständig neu und immer wieder in der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft formuliert wird.“14 Verschiedene jüdische Museen jedenfalls gehen mit diesem möglichen Spiel von Leerstellen und Überschreibungen, den Spiegelungen der eigenen Identitätsbedürfnisse im Bild des „Anderen“, mit diesen Rochaden und Perspektivenwechseln auf je eigene Weise um, abhängig von ihrer Trägerschaft und den Menschen, die sie betreiben, die mal mehr, mal weniger den Interessen der Öffentlichkeit oder jüdischer Gemeinden, von Sponsoren oder politischen Gremien ausgesetzt sind. Sie spekulieren auf die Sehnsucht von Teilen der Gesellschaft nach Bestätigung, sie mahnen und fordern, sie locken Touristen, sie provozieren Debatten, aber sie tun dies immer auf der Grenze zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“. Die Koordinaten dieser Grenze freilich haben sich spätestens seit dem 9. September 2001 dramatisch verändert. Im Zeichen des grassierenden europäischen Kulturkampfs mit dem „neuen Anderen“, dem immer mehr zur Bedrohungsphantasie schlechthin werdenden „Islam“, wird den jüdischen Gemeinden Europas, aber auch den jüdischen Museen eine neue Rolle zugeschrieben. Sie sind zu „unseren Anderen“ geworden, zum role model „gelungener Integration“, zum Ausweis eigener Toleranz: sogar in Moskau, wo eine Koalition von Putin, einigen Oligarchen und der (unter „nicht genügend religiösen“ Juden missionierenden) orthodoxen Organisation Chabad ein „Jewish Museum and Tolerance Center“ betreibt, immerhin das drittgrößte jüdische Museum Europas. So lastet auf „jüdischer Repräsentanz“ in Europa – und als solche werden auch Museen empfunden – ein wachsender Druck, sich als Teil eines „christlich-jüdischen Abendlandes“ aufzustellen und die neuen Minderheiten Europas zum Objekt von Erziehung und Maßregelung zu machen. So als gäbe es nicht gerade in der jüdischen europäischen Geschichte

14 Sternfeld, Nora: Das radikaldemokratische Museum, Berlin/Boston: de Gruyter 2018, S. 143.

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einen Abgrund, der gerade das Modell der „Assimilation“ mit vielen verstörenden Fragen verbindet. Dass diese Fragen auch radikal gestellt werden können, ohne sich für neue Ressentiments instrumentalisieren zu lassen, wurde schon 1991 einem kleinen jüdischen Museum ins Stammbuch geschrieben, das im Windschatten der Metropolen, wenn auch exakt in der Mitte der deutschsprachigen Länder Europas, zwischen Deutschland und Liechtenstein, der Schweiz und Österreich seine Arbeit aufnahm. Hohenems, das war bald unter Museumskollegen in Deutschland und Österreich ein Mythos, ein Geheimtipp, bedeutungsvoll einander zugeraunt, allein schon wegen der Frage, wo sich das eigentlich befand. Bereits Anfang der 1990er Jahre machten die Kollegen dort mit Projekten wie dem „Emser Halbmond“ auf sich aufmerksam, nahmen in der Lokalzeitung allerhand Mythen über muslimische Einwanderer auseinander und diskutierten darüber, ob die als Feuerwehrhaus missbrauchte ehemalige Synagoge vielleicht in Zukunft besser als Moschee wieder genutzt werden könnte, projizierten vor tausenden von Menschen in der Stadt jüdische Hausgeschichten im alten jüdischen Viertel an die Fassaden oder setzten sich spielerisch mit propagandistischen Mythen über Israel auseinander. An allen Grenzen entlang, und sie immer wieder überschreitend, näherte sich dieses Museum den Widersprüchen seiner Existenz in einem ironischen Modus. Der Ort: mal sentimentales, mal mit sich haderndes und dadurch ungeahnt produktives Städtchen, darin eine verlassene Villa an einer der beiden Hauptstraßen, die einst als Israelitengasse das Pendant zur zweiten Hauptstraße bildete, die den sonst nirgends zu findenden Namen „Christengasse“ trug. Dorthin hat es mich gezogen. 2004 begann ich dort zu arbeiten.

A NKÜNFTE „Die Reise nach Hohenems war unbequem. Sie führte über Stuttgart und Ulm an den Bodensee und dauerte damals fast einen Tag oder eine volle Nacht: es gab auf dieser Strecke keine Schlafwagen. Von Friedrichshafen ging es nach Bregenz, wo wir den österreichischen Zoll passierten. In Österreich standen damals die Zölle auf Zucker, Kaffee und ähnliche Dinge sehr hoch. Es war gang und gäbe, ein bisschen Zucker, Kaffee oder Stickereien aus der Schweiz zu schmuggeln. Bei den vielen Unterröcken, die die Damenwelt trug, war es immer möglich, eine Extragarnitur einzuschalten, ohne dadurch aufzufallen. Ich bin in einer zollfeindlichen Luft aufgewachsen und mir nie ganz klar darüber geworden, ob meine Einstellung zum Freihandel von dorther rührte oder aus den Lehrbüchern der klassischen Nationalökonomie. Die Bahnfahrt Bregenz – Hohenems dauerte noch eine

196 | H ANNO L OEWY Stunde. Am Bahnhof begrüßte uns Herr Weil, der Gepäckträger, mit langwallendem, weißen Bart. Er hatte ein so gütiges Lächeln, dass einer meiner kleinen Vettern einmal stracks auf ihn zuging und fragte: ‚Bist du der liebe Gott?‘ Dann wurden wir in einen geräumigen, von zwei schwerfälligen Schimmeln gezogenen Landauer gepackt, und vier Wochen Seligkeit lagen vor uns.“15

Ich hatte es bequemer als Moritz Julius Bonn, der Autor dieser Zeilen. Seine jährliche Sommerfrische liegt mehr als 130 Jahre zurück. Der Ort seiner Familie mütterlicherseits muss ihm, aus dem Frankfurter Westend kommend, wie ein etwas unwirkliches Idyll vorgekommen sein. Großvater Brunner – ein international zwischen St. Gallen, Wien und Triest erfolgreicher Bankier – züchtete hinter dem Haus Hühner. Großmutter Henriette aus Bozen vergnügte sich mit Seidenraupenzucht. Ein verschlafenes Städtchen, mehr ein großes Dorf mit urbanen, ja eigensinnig kosmopolitischen Einsprengseln, das schon damals, kurz vor der Wende ins 20. Jahrhundert, bessere Zeiten gesehen hatte. Für Bonn war es ein Paradies, noch 70 Jahre später, als er in London, nach vielen Jahren der Emigration und einer Karriere als liberaler Nationalökonom, seine Lebenserinnerungen schrieb. Hohenems, das lag auf seiner imaginären Landkarte in einem unschuldigen Irgendwo, auf der Grenze zwischen einem untergegangenen HabsburgÖsterreich und der Schweizer Eidgenossenschaft, in der zollfeindlichen Luft der Heimat von Schmugglern und einem mehr oder minder legalen Grenzverkehr. Die Grenze am Rhein zwischen Österreich und der Schweiz ist noch immer spürbar, wenn ihr auch etwas Unwirkliches anhaftet. Eine EU-Außengrenze, die man beim Spazierengehen oder beim Baden im Alten Rhein überschreitet. Als 1617 ein Hohenemser Reichsgraf zwölf jüdischen Familien mit einem Schutzbrief die Ansiedlung erlaubte, war sein Gebiet ein kleiner Pufferstaat zwischen Habsburg-Österreich und der Eidgenossenschaft. Von dieser Unzugehörigkeit ist noch heute etwas übrig. Das Jüdische Museum Hohenems war von Anfang an ein Experiment, das Themen, Zeiten und Orte auf provozierende, verstörende, manchmal ironische Weise miteinander verband. Es stellte die mitgebrachten Vorstellungen seiner Besucher offen infrage. Und es pflegte seit jeher lokale, regionale und globale Netzwerke, die sich auf überraschende Weise durchdrangen, so wie es die politische, soziale und kulturelle Realität der Gegenwart tut. Die Diaspora der Hohenemser Juden und ihrer Nachkommen, die Vielfalt ihrer Perspektiven und Zugehörigkeiten schlägt sich auch in den Projekten des Museums nieder – von der

15 Bonn, Moritz Julius: So macht man Geschichte? Bilanz eines Lebens, München: List Verlag 1953, S. 26.

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weltumspannenden Genealogie im Internet bis zur Infragestellung des „Museumsobjektes“ an sich. Es ist damit zugleich ein regionales „kritisches Heimatmuseum“ und ein weltweit operierendes Diasporamuseum, ein Ort der Konzentration und der Zerstreuung. Und es ist damit von Beginn an ein Ort, der mit den Fragen der Gegenwart von Migration und Akkulturation und den damit verbundenen Konflikten konfrontiert ist. Schon bei seiner Eröffnung wurde betont, dass dieses auch ein Ort der Auseinandersetzung mit Fragen der gegenwärtigen Migration sein würde, ein politischer Ort, der über Fragen österreichischer oder deutscher „Vergangenheitsbewältigung“, aber auch über Fragen der jüdischen Geschichte hinausweisen kann. Von Beginn an thematisierte das Museum, häufig in Kooperation mit Partnern in der Gesellschaft, grundsätzliche und gegenwartsbezogene Fragen des Verhältnisses von „Heimat“, „Fremdheit“ und wirtschaftlich-sozialer Realität. Dabei schreckte das Museum auch nicht davor zurück, politisierte und Ressentiment geladene Auseinandersetzungen mit ironischen Interventionen zu unterlaufen. Angesichts einer Bevölkerung, zu der in den Städten der Region etwa 20 Prozent muslimische und alevitische, meist türkischstämmige Einwanderer gehören, wäre es im Grunde eine Selbstverständlichkeit, dass sich kulturelle Institutionen im öffentlichen Auftrag auch um Migranten als Zielgruppe bemühen. Doch lange Zeit war das Jüdische Museum einer der wenigen etablierten Kulturveranstalter, der auch diesen Teil seines möglichen Publikums ernst nahm. In einem jüdischen Museum begegnen sich die Besucher selbst im Spiegel des „Anderen“. Und das gilt für die nicht-jüdischen Besucher ebenso wie für die jüdischen. Daraus resultiert eine Chance, die man freilich bewusst wahrnehmen muss: man muss sich trauen, die Besucher zu irritieren und vor offene Entscheidungen zu stellen, sie nicht zu belehren, sondern ihnen mit Neugier zu begegnen. Und das heißt auch: die Angst vor Zweideutigkeit über Bord werfen. Dazu muss sich das Museum als „Open Space“ verstehen, als Ort, an dem verschiedene Identitätsentwürfe, Selbstbilder und Interpretationen aufeinandertreffen dürfen, an dem kulturelle Hegemonie infrage gestellt werden darf. Wo zur Partizipation nicht symbolisch in der Ausstellung „eingeladen“ wird, sondern sie Teil der Entstehung der Projekte selbst ist. Ich denke immer wieder zurück an einen Abend im Museum, der mich bis heute berührt. 2004 zeigten wir eine Ausstellung über Arbeitsmigration in Vorarlberg – und die Spuren davon im jüdischen Viertel der Stadt, das vor 50 Jahren Heimat muslimischer und anderer Migranten aus der Türkei wurde. Eine der Eröffnungsreden sollte eine armenische Türkin halten, die seit ihrer Kindheit in Vorarlberg lebt und an der Ausstellung mitgearbeitet hatte. Zwei Tage vor der Eröffnung wurde sie krank, doch ihre Rede hatte sie schon geschrieben. Nun, so

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ließ sie uns wissen, würde halt ihr zehnjähriger Sohn sie vorlesen. Der junge Bub wiederum ließ uns wissen, dass er gerne auf einem Stuhl stehen würde, um besser gesehen zu werden. Und wenn nach der Hälfte der Rede ein Glas Wasser für ihn bereit stehen würde und er eine kurze Pause einlegen dürfte, wäre das fein. Ein zehnjähriger Profi. So kam der Tag und Marcel stand auf seinem Stuhl. Sein Papa war deutlich nervöser als er. Nach der Hälfte seiner Rede stieg Marcel vom Stuhl herab, bat um das versprochene Glas Wasser und setzte seine Rede fort, die keiner der Anwesenden jemals vergessen wird. In breitem Vorarlberger Dialekt schlüpfte er in die Rolle einer jungen Frau aus bürgerlicher Familie, seiner Mutter, die bei ihrer Einwanderung einen Kulturschock erlebte, freilich nicht den, den manche wohl erwartet hatten. „Und dann kam ich aus der Millionenstadt Istanbul nach Göfis, wo es mehr Kühe gab als Menschen.“ Seitdem haben wir uns weiter die Freiheit genommen, die uns der Windschatten bietet: statt auf muslimische Männer zu schimpfen, die Frauen nicht die Hand geben, haben wir uns kritisch mit der problematischen Beziehung zwischen Sexualität und Reinheitsgeboten in allen Religionen beschäftigt. Statt die Grenzen von Identitäten zu bewachen, haben wir die Produktivität und auch die abgründigen Seiten von Konversionen betrachtet. Statt Objekte zu Fetischen eines neuen Kults zu machen, haben wir Unsicherheit gestiftet, ob es sich bei manchem Objekt überhaupt um Realität, Kunst oder Fake handelt – und damit auch die beliebtesten Fragen unseres Publikums – „Was sie schon immer über Juden wissen wollten und nicht zu fragen gewagt haben“ – ironisch gespiegelt. Statt die Mythen von Jerusalem (als „ewige Hauptstadt Israels“, als „heilige Stadt“, als „Zentrum der Welt“, als „Ort des jüngsten Gerichts“…) zu propagieren, haben wir die fatale Wirkung dieser Mythen auf eine zerrissene Stadt präsentiert. Statt die berühmten Juden der Pop-Kultur oder die Tradition der „jüdischen Musik“ zu feiern, haben wir die Besucher in einen Strudel eigener Erinnerungen an ihre eigenen musikalischen Rebellionen hineingezogen – und die Geburt der Popkultur aus dem Zerbrechen der Traditionen und Lebenswelten zum Thema gemacht. Und statt der Diaspora den Mythos eines „jüdischen Staates“ entgegenzustellen, haben wir unser Publikum mit der Realität einer israelischen Vielfalt vertraut gemacht, die eine bohrende Frage hinterließ: Wie soll dieses Land jemals eine zivile Gesellschaft werden, wenn es sich nicht endlich auf das besinnt, was die Menschen, die dort leben, teilen können, also eben nicht das „Jüdische“, das ein Viertel der Bevölkerung ausschließt. Und erst Recht die Menschen, die außerhalb der Staatsgrenze, aber innerhalb der israelischen Besatzungsrealität leben.

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Statt Fragen zu stellen, auf die wir die Antwort schon wissen, stellen wir lieber Fragen, nach deren Antwort wir selber suchen. Und dies sind Fragen, die über Europa hinausgehen – so wie die Hohenemser Diaspora, die Nachkommen der jüdischen Familien aus Hohenems, die sich 2017 zum dritten Mal hier treffen, aus der Schweiz und aus Italien, aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien, aber auch aus den USA und aus Südamerika, aus Israel und aus Australien anreisen werden. Vielleicht ist aber dieses eigensinnige Bestehen darauf, dass jüdische Existenz noch immer und mehr denn je eine diasporische ist und bleibt, eine europäische Erkenntnis. Keine jedenfalls, die an ein gelobtes Land glaubt.

L ITERATUR Anderson, Benedict: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 2006. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München: C. H. Beck 2007. Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, deutsche Fassung 1939“; in: Ders: Gesammelte Schriften, Band I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 471–508. Bonn, Moritz Julius: So macht man Geschichte? Bilanz eines Lebens, München: List Verlag 1953. Cash, Derek: „Access to Museum Culture: the British Museum from 1753 to 1836“, https://www.britishmuseum.org/pdf/3.pdf vom 28.5.2019. Dostoyevsky, Fyodor: „The Devils“, in: The Russian Messenger 1871–72. Fliedl, Gottfried: „Haus der Geschichte. Mein ‚nein‘ dazu“, http://museo logien.blogspot.co.at/2015/10/haus-der-geschichte-mein-dazu.html vom 14.10.2015. MacDonald, Sharon: „Museums, national, postnational, transcultural identities“, in: Museum and Society 1 (2003), S. 1–16. Pamuk, Orhan: The Museum of Innocence, London: Faber 2009. Pomian, Krzysztof: „Das Museum: Die Quintessenz Europas“, in: Wunderkammer des Abendlandes. Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit, Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 1994, S. 112– 118. Sloterdijk, Peter: „Museum – Schule des Befremdens“, in: Ders.: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2007.

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Sloterdijk, Peter: „Weltmuseum und Weltausstellung“, in: Ders.: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2007. Young, James: At Memory‘s Edge: After-images of the Holocaust in Contemporary Art and Architecture, New Haven/London: Yale University Press 2000.

Jüdische Museen als gesellschaftspolitischer Diskursraum Neue Herausforderungen durch Antisemitismus, Fremdenhass und die Renaissance des Religiösen B ARBARA S TAUDINGER

„Museums are not neutral. […] Neutrality is a fiction.“1

Museen sind entweder als staatliche (in Österreich: Bundesmuseum) oder städtische Museen Teil (kultur-)politischer Strukturen oder zumindest finanziell von öffentlichen Subventionen, die von politischen Gremien oder Körperschaften bewilligt werden, abhängig. Damit ist das Museum per se ein politischer Raum, und die Frage, ob Museen Schauplatz politischer Einflussnahme sind, bereits beantwortet: Natürlich sind sie es. Die Frage ist daher nicht, ob sich die Politik in das Museum einmischen will, sondern welche Begehrlichkeiten an das Museum herangetragen werden und wie Museen darauf reagieren, welche Haltung sie einnehmen. Dabei ist ein Rückzug auf vermeintliche Objektivität oder Neutralität eigentlich nicht möglich, da die Behauptung, keine Haltung zu haben, auch eine Haltung ist.2 Da wir also dem Politischen nicht entkommen können, sollten wir es einmal genauer betrachten: die Wünsche und Erwartungshaltung von Seiten der Politik

1

Steinhauer, Jillian: „Museums have a duty to be political“, in: The Art Newspaper vom 20.3.2018, https://www.theartnewspaper.com/comment/museums-have-a-dutyto-be-political.

2

Siehe den Schwerpunkt „Das Museum als Teil seines politischen Umfelds“, in: neues museum. die österreichische museumszeitschrift 1-2 (2018), S. 8–53.

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oder gesellschaftspolitischer Akteur/innen und die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Museums, darauf zu reagieren. Im Folgenden will ich das anhand der jüdischen Museen tun und am Beispiel des Jüdischen Museums Augsburg Schwaben überlegen, wie ein Museum aussehen könnte, das nicht nur auf politische Begehrlichkeiten reagiert, sondern sich auch bewusst an gesellschaftspolitischen Debatten beteiligt bzw. solche eventuell sogar initiiert.

D AS B EGEHREN DER P OLITIK GEGENÜBER JÜDISCHEN M USEEN Spätestens nachdem die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) 2017 in den Bundestag eingezogen ist, hat sich in Deutschland viel getan. Erstmals wurde ein Antisemitismusbeauftragter der Regierung eingesetzt, dem ein Antisemitismusbeauftragter in Bayern als erstem Bundesland folgte. Inzwischen sind die Medien voll mit Berichten von rassistischen und antisemitischen Übergriffen, wie etwa in Chemnitz im August 2018, wo das Restaurant Schalom mit Steinen und Eisenstangen angegriffen wurde. Seitdem sind sich alle einig: Deutschland hat ein Antisemitismusproblem – und dies nicht nur seit ein paar Jahren. Anlässlich der Einrichtung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern wurde in den Zeitungen von Hakenkreuzritzereien im Gestühl der Straubinger Synagoge berichtet3 – und auch in der historischen Synagoge in Augsburg finden sich mehr als 60 Hakenkreuze, SS-Runen und ähnliches am Gestühl der Frauenempore, die von Museumsbesucher/innen besichtigt werden kann. Mehr oder weniger alarmistisch wird von verschiedenen Seiten der neue Antisemitismus beschrieben,4 werden politische Anträge gestellt – und letztlich die jüdischen Museen und Gedenkstätten Deutschlands in die Pflicht genommen: Verpflichtende Besuche von Schulen in Dachau sowie in jüdischen Museen wurden und werden diskutiert. Museen und KZ-Gedenkstätten, so scheint es, haben in den Augen der Politiker/innen als Einzige die Möglichkeit, Jugendliche davor zu bewahren, Antisemit/innen zu werden. Warum sich das Antisemitis-

3

Antisemitismus in Bayern: Freistaat richtet Meldestelle ein, in: BR24 vom 27.3.2019, https://www.br.de/nachrichten/bayern/antisemitismus-in-bayern-freistaat-willmeldestelle-einrichten,RLqBbj1.

4

Heibronn, Christian/Rabinovici, Doron/Sznaider, Nathan (Hg.): Neuer Antisemitismus? – Fortsetzung einer globalen Debatte. 2. überarbeitete Auflage, Berlin: Suhrkamp 2019.

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musproblem auf Jugendliche konzentrieren soll, bleibt dahingestellt und wird von der Politik nicht beantwortet. Deutlich wird aber die Erwartungshaltung: Gedenkstätten und jüdische Museen haben ihre Aufgabe darin, Antisemitismusprävention zu betreiben bzw. als Heilanstalten für Antisemiten zu fungieren und damit gesellschaftliche Grundwerte zu vermitteln und ihr moralisches Kapital auszuspielen. Von ihnen wird erwartet, Delegationen der AfD, von der sich die anderen Parteien bis vor kurzem nur zögerlich abgegrenzt haben, nicht hineinzulassen oder muslimische Kinder und Jugendliche zu deradikalisieren, was jedoch eigentlich die Aufgabe der Schulen bzw. der Eltern wäre. Hohe Erwartungen werden also an die jüdischen Museen und Gedenkstätten gestellt. Angesichts der politischen Dringlichkeit des Kampfes gegen Antisemitismus sind die dahingehenden Konzepte der Museen nicht nur interessant, sondern auch bemerkenswert: Soweit ich die jüdischen Museen des deutschsprachigen Raums überblicke, reagiert kein einziges spezifisch auf den Zuruf der Politik. Vielmehr haben sich die Museen entweder des Problems bereits selbständig angenommen (z.B. Jüdisches Museum Frankfurt)5, arbeiten bereits seit Jahren an integrativen Projekten (z.B. Jüdisches Museum Hohenems)6 oder ignorieren weitgehend das politische Begehren nach Anti-Antisemitismuserziehung (z.B. Jüdisches Museum Wien). Zudem sind Hohenems und Berlin durch Ausstellungen aufgefallen, die auch politisch Position beziehen. Als Reaktion auf die Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ des Jüdischen Museums Berlin verlangte Benjamin Netanjahu im Dezember 2018 von der Bundesrepublik Deutschland, dem Jüdischen Museum in Berlin wegen „antiisraelischer Aktivitäten“ die Mittel zu kürzen.7 Dass sich kulturhistorische Museen und eben auch jüdische Museen heute mit der Aufforderung konfrontiert sehen, „die Demokratie zu verteidigen“, wie es Michael Brenner in der Jüdischen Allgemeinen vor nicht langer Zeit formu-

5

Siehe das kulturelle Bildungsprogramm „AntiAnti – Museum Goes School“ des Fritz Bauer Instituts: Kanbıçak, Türkân/Hafeneger, Benno/Wenzel, Mirjam: Extremismusprävention durch kulturelle Bildung. Das Projekt „AntiAnti – Museum Goes School“ an berufsbildenden Schulen, Frankfurt am Main: Wochenschau-Verlag 2018.

6

Siehe die Vermittlungsprojekte des Jüdischen Museums Hohenems: https://www.jmhohenems.at/vermittlung/projekte vom 24.6.2019.

7

Stahnke, Jochen: „Deutschland soll Förderung für Jüdisches Museum Berlin einstellen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.12.2018, https://www.faz.net/ aktuell/politik/ausland/netanjahu-verlangt-einstellung-der-foerderung-fuer-das-juedi sche-museum-15946640.html.

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lierte,8 bzw. für eine offene Gesellschaft einzustehen, wundert nicht, verstehen sich Museen doch als erstens demokratische und zweitens politische Institutionen, als Lernorte, wie in praktisch jedem Mission Statement von Museen zu lesen ist – Lernorte, die für sich beanspruchen, Orte der Reflexion der Vergangenheit und Identitätsstiftung zu sein. Zwar hat Gottfried Fliedl in seinem Blog „Museologien“ unter dem Titel „Zwölf Möglichkeiten, das Museum mißzuverstehen“ in gewohnt scharfen Worten klargestellt, dass Museen als demokratische und politische Räume mehr oder weniger Fiktion sind, das Selbstverständnis ist jedoch ungebrochen.9 Dies gilt auch für jüdische Museen, und weil sich der gesellschaftliche Diskurs immer mehr auf das Antisemitismusproblem und die mögliche Abwehr desselben fokussiert, sind jüdische Museen angehalten, eine Antwort darauf zu finden, wenn auch keine Antwort, die auf den politischen Zuruf reagiert, sondern eine Antwort aus ihrem Selbstverständnis heraus. Als Museen zur Geschichte einer Minderheit und als Ort, der sich zwangsläufig mit den Folgen von Antisemitismus und politisch motivierter Ausgrenzung auseinandersetzt, haben sie eine gesellschaftspolitische Verantwortung – und diese bezieht sich nicht nur auf eine Beschäftigung mit Antisemitismus, sondern auch auf andere Formen des Rassismus und des Othering.

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Die Dauerausstellungen in den meisten jüdischen Museen Deutschlands und Österreichs wurden in den letzten Jahren erneuert bzw. neu konzipiert. Abgesehen von einem neuen Ausstellungsdesign wurden Querschnittsfragen wie die der Migration in die Erzählung miteinbezogen. Jüdische Geschichte wird – zumindest dem Anspruch nach – nicht mehr als die Geschichte jüdischer Eliten erzählt und der Vielfalt jüdischen Lebens wird ebenso Rechnung getragen. Sieht man davon ab, hat sich an der Erzählung der jüdischen Geschichte wenig geändert: Jüdische Geschichte wird zumeist als Ambivalenz zwischen einem Miteinander von jüdischer Bevölkerung und nichtjüdischer Umwelt und Judenfeindschaft/ Antisemitismus beschrieben. Innerjüdische Perspektiven sind in vielen jüdischen Museen eher Randerzählungen, ein Perspektivenwechsel – hier kann man natürlich auch Ausnahmen nennen – hat oft nicht stattgefunden. Dies liegt zum einen

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Brenner, Michael: „Weimarer Verhältnisse?“, in: Jüdische Allgemeine vom 20.9.2018, https://www.juedische-allgemeine.de/politik/weimarer-verhaeltnisse/.

9

Fliedl, Gottfried: „Zwölf Möglichkeiten, das Museum mißzuverstehen“, http://museo logien.blogspot.com/2018/06/zwolf-moglichkeiten-das-museum.html vom 4.6.2018.

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daran, dass jüdische Museen für zumeist nichtjüdische Besucher/innen konzipiert sind und somit Jüdinnen und Juden auch in jüdischen Museen als „Andere“ dargestellt werden. Zum anderen gehen jüdische Museen mit ihrer Rolle als Museum einer historischen und gegenwärtigen Minderheit nicht selbstbewusst genug um: Zwar wird immer wieder betont, dass der Umgang mit Minderheiten, insbesondere mit der jüdischen Bevölkerung, ein Seismograf für die Verfasstheit einer Gesellschaft sei, dass die vergleichende Untersuchung von historischen und aktuellen Bestrebungen des Ausschlusses eine Art gesellschaftliches Warnsystem sein könnten,10 jedoch wird allzu oft die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft – Stichwort Integrationsdiskurs – übernommen: So wird etwa in der 2006 konzipierten Dauerausstellung des Jüdischen Museums Augsburg Schwaben das Kapitel zur jüdischen Stadtbevölkerung zur Jahrhundertwende mit dem Titel „Integration durch Leistung“ überschrieben und folgt damit einer Integrationserwartung der Mehrheitsgesellschaft. Es ist daher ein mehrfacher Perspektivenwechsel nötig. Wie Max Czollek in seiner derzeit viel diskutierten Streitschrift „Desintegriert Euch!“11 darlegt, schreibt die deutsche Gesellschaft der Gegenwart Jüdinnen und Juden die Rolle des Opfers zu und überträgt diese auch auf die Geschichte. Für Vielfalt ist in dieser Rolle kaum Platz, vielmehr ist es eine romantisierte Inszenierung einer Projektion, die damit auch politisch zur Abgrenzung vom Islam genutzt werden kann. Czolleks Forderung nach einer Emanzipation aus dieser Opferrolle, dieser Instrumentalisierung, ist verständlich und könnte ein Ansatzpunkt sein. Jüdinnen und Juden leben wohl seit dem 4. Jahrhundert in Deutschland, zumindest ist ihre Anwesenheit seit dieser Zeit belegt. Man könnte daher – gerade im Hinblick auf die aktuelle Debatte – nicht nur die Geschichte eines 1.700 Jahre dauernden Miteinanders, sondern auch eine Geschichte von 1.700 Jahren gegenseitiger Desintegration, also von Abgrenzung und Selbstbehauptung, aber auch von Vielfalt innerhalb der jüdischen Bevölkerung erzählen, anstatt alleine die ausgrenzenden Maßnahmen der Obrigkeit zu fokussieren. Eine solche Erzählung könnte viel weniger auf eine gelungene Integration des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und auf „Vorbilder“ setzen, und stattdessen auch jene aufzeigen, die sich der Integration verweigerten. Mit fast 1.700 Jahren jüdischer Geschichte in Deutschland

10 Zuletzt Zadoff, Mirjam: „Wenn die Stadt leer und still wird – Ausgrenzung damals und heute“, in: Brunner, Andreas/Staudinger, Barbara/Sulzenbacher, Hannes/Zadoff, Mirjam (Hg.): Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge. Ausstellungskatalog, NS-Dokumentationszentrum München und Jüdisches Museum Augsburg Schwaben, München: Hirmer 2019, S. 5–7, hier S. 5. 11 Czollek, Max: Desintegriert Euch!, München: Hanser 2018.

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könnte damit die Frage „Wie fremd darf oder will man sein in Deutschland?“ eine zentrale Frage der Ausstellung sein. Jüdische Museen als Museen, die Geschichte und Kultur einer höchst vielfältigen Minderheit zum Thema haben, müssen sich heute mehr denn je mit Fremdheitserfahrungen, mit fragmentierten jüdischen Identitäten auseinandersetzen. In der Dauerausstellung des Jüdischen Museums München mit dem Titel „Stimmen – Orte – Zeiten“ finden sich in einem Durchgang im Eingangsbereich Stimmen aus unterschiedlichen Zeiten, die ihr Ankommen in München beschreiben. Unkommentiert nebeneinander, oszillierend zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Enttäuschung und Entzückung, werfen sie einen anderen, ungewohnten Blick auf jüdische Migrant/innen. Sie zeigen die Skepsis, das Zögern, Erwartungshaltungen, Enttäuschungen und schließlich auch Hoffnungen in die unterschiedlichsten Richtungen im Moment des Ankommens. Eine Möglichkeit, auf die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung zu reagieren, wäre also die Verweigerung einer vorgegebenen, politisch instrumentalisierbaren Erzählung der jüdischen Geschichte als der der „guten Anderen“, der „nahen Fremden“, deren Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft nur deswegen nicht möglich war, weil sich diese Jahrhunderte lang weigerte. Eine Gegenerzählung wäre dabei nicht nur eine Geschichte der Desintegration, des Bestehens, sondern auch eine Geschichte der Vielfalt jüdischer Identität.

W ECHSELAUSSTELLUNGEN

UND

G ESELLSCHAFTSPOLITIK

Neben der Dauerausstellung sind es zumeist Wechselausstellungen, die aktuelle Fragestellungen aufgreifen und das Museum zu einem gesellschaftspolitischen Diskursraum machen wollen. An der Programmierung von Wechselausstellungen jüdischer Museen kann man derzeit einen Wandel feststellen. Jüdische Museen beschäftigen sich traditionell weniger mit der Geschichte des Antisemitismus, da diese mehr über die Antisemiten erzählt als über die jüdische Bevölkerung. Dies hat sich geändert – angesichts des aktuellen Antisemitismus in Deutschland kommen auch jüdische Museen vermehrt unter Druck, dazu Stellung zu beziehen.12 Im Moment erarbeiten gleich mehrere jüdische Museen Ausstellungen

12 Neulich hat dies auch der Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer formuliert: „Produktive Unruhe in die Gesellschaft tragen“, in: Der Tagesspiegel vom 1.10.2018, https://www.tagesspiegel.de/kultur/juedisches-museum-berlin-produktiveunruhe-in-die-gesellschaft-tragen/23132572.html.

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zur jüdischen Geschichte in Deutschland nach 1945 – und es wird an ihnen sein, nicht nur das Gefühl der displaced persons (DPs), auf gepackten Koffern zu sitzen, zu erzählen, sondern auch gleichzeitig das Land der Täter/innen zu adressieren. Gemeinsam mit dem NS-Dokumentationszentrum in München hat das Jüdische Museum Augsburg Schwaben die Ausstellung „Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge“ erarbeitet, die von Hannes Sulzenbacher, Andreas Brunner und mir kuratiert wurde und die von Mai bis November 2019 in München und anschließend vom Dezember 2019 bis März 2020 in Augsburg zu sehen sein wird.13 Die Ausstellung bietet in ihrem Hauptteil einen Vergleich zwischen den gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen gegenüber Jüdinnen und Juden in den 1920er Jahren und der Ausgrenzung von Minderheiten heute. Vor einigen Jahren hätte so eine Ausstellung wohl nicht Eingang in das Programm eines jüdischen Museums gefunden, da sie nicht auf die jüdische Perspektive, sondern auf die Ausschlussmechanismen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten fokussiert. Wie Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, und auch andere formulierten, hat sich die Aufgabe eines jüdischen Museums verändert. Gegründet als Gedenkorte an eine jüdische Kultur, die in der Shoah vernichtet wurde, für Nichtjuden und Nichtjüdinnen an Orten, wo kein jüdisches Leben mehr existiert, stehen sie heute einer neuen jüdischen Gegenwart in Europa gegenüber und müssen, wollen sie die Gesellschaft mitgestalten, auch entsprechend aktuelle Themen entwickeln – auch wenn diese nicht die jüdische Perspektive einnehmen.14 Genau aus diesem Grund kann auch ein jüdisches Museum heute eine solche Ausstellung zeigen, weil sie auch für die jüdische Geschichte und Gegenwart etwas hinzufügt: die Wachsamkeit gegenüber jeglicher Ausgrenzung von Minderheiten aus jüdischer Perspektive und das Fortbestehen von Antisemitismus bis in die Gegenwart. „Geschichte wiederholt sich nicht“ wurde nun 73 Jahre beschworen, aber angesichts aktueller Entwicklungen muss man sich fragen, bis zu welchem Grad sie sich eben doch wiederholen kann – wenn auch etwas anders gewendet, wenn auch unter anderen Rahmenbedingungen. Neben Antisemitismus und Fremdenhass ist noch eine dritte Entwicklung relevant für jüdische Museen: die Renaissance des Religiösen. Das säkulare Zeitalter scheint vorbei, Kreuze ziehen wieder in den öffentlichen Raum ein und eine

13 Siehe den Ausstellungskatalog A. Brunner et al.: Die Stadt ohne. 14 Siehe z. B.: „Jüdische Museen im Wandel“, in: Jüdische Europa vom April 2011, https://www.juedisches-europa.net/archiv-seite-3/4-2011/neue-ziele-jüdische-museenim-wandel/.

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„christlich-jüdische Leitkultur“ wird seitens der Politik beschworen. Sich aus diesem Diskurs herauszuhalten, wäre für jüdische Museen fatal. Sich dagegen nicht zu wehren, würde bedeuten instrumentalisiert zu werden und aus der Vereinnahmung kaum mehr herauszukommen. Symbolpolitik, wie sie beispielsweise vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder mit der Anordnung betrieben wird, in staatlichen Institutionen ein Kreuz als Zeichen „bayerischer Kultur“ anzubringen, sind nicht ohne Relevanz für jüdische Museen, auch wenn sie sich nicht in staatlicher Hand befinden bzw. die Museen vom „Kreuzerlass“ ausgenommen wurden und nur eine Empfehlung ausgesprochen wurde. Auf der Symbolebene zielt das Kreuz auf eine Polarisierung der Bevölkerung ab, auf ein Auseinanderdividieren in Christ/innen und andere. Eine Antwort auf die politische Vereinnahmung von Religionen zu finden, ist meines Erachtens eine Aufgabe eines jüdischen Museums heute. So haben das Jüdische Museum Hohenems und das Jüdische Museum Berlin jeweils eine Ausstellung über Jerusalem als religiös-politischen Kampfplatz gezeigt, welche im Fall von Berlin, wie bereits erwähnt, durchaus Kritik erntete. Das Jüdische Museum Augsburg Schwaben hat sich als bayerische Institution für die Installation „1933“ der österreichisch-iranischen Künstlerin Ramesch Daha entschieden, die sich mit der Symbolpolitik des NS-Regimes kurz nach der Machtübernahme auseinandersetzt. Mit der Entfernung „jüdisch“ markierter Namen aus der amtlichen Buchstabiertabelle wurde bereits 1933 in jüdisch auf der einen und deutsch auf der anderen Seite gespalten – ein ebenso symbolpolitischer Akt wie die Bücherverbrennungen, die ebenfalls ab März 1933 einsetzten. Zum 80-jährigen Gedenken an das Novemberpogrom müssen wir uns mehr denn je fragen, welche Schritte dahin geführt haben. Im Fall der Buchstabiertafel war es eine Postkarte eines „besorgten Bürgers“ an das Postamt Rostock vom 22. März 1933, die bis nach Berlin weitergereicht wurde und schließlich zur Entfernung der jüdischen Namen führte.

N EUE H ERAUSFORDERUNGEN –

NEUE

A NTWORTEN

Neue Herausforderungen gibt es heute viele, für Museen und besonders für jüdische Museen. Gegen Populismus, rassistische Hetze und Instrumentalisierung von Religion aufzutreten ist mittlerweile schon fast zum Topos geworden, den sich alle Kulturinstitutionen auf die Fahnen schreiben und in zahlreichen Wortspenden betonen. Eine Umsetzung jenseits der Wortspenden ist gefragt, insbesondere weil an jüdische Museen – man nehme nur den Titel des Panels, im

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Rahmen dessen dieser Beitrag entstanden ist: „Jüdische Museen als Korrektiv?“ – eine besondere Erwartungshaltung herangetragen wird. Ein Zugang zu einer solchen Umsetzung lässt sich in drei Schlagworten zusammenfassen: Enttäuschung, Verweigerung und Öffnung. Gemeint ist erstens eine gezielte Enttäuschung der Erwartungshaltung an jüdische Geschichtserzählung im Museum. Zum zweiten geht es um eine Verweigerung, die Ansprüche, die an jüdische Museen herangetragen werden, zu erfüllen – seien die Ansprüche nun auf eine Bekämpfung des Antisemitismus ausgerichtet oder seien sie andere tagespolitische Zurufe und sonstige Instrumentalisierungen des Museums. Drittens müssen sich Museen öffnen. Diskursräume, wenn sie gesellschaftspolitische Relevanz haben wollen, müssen auch erreichbar sein – und dafür ist das Museum, versteht man es im Sinne des Gebäudes, nicht wirklich der richtige Ort, mögen noch so viele Schulklassen hingebracht werden. Für viele potentiell freiwillige Besucher/innen besteht nach wie vor neben der Bildungsschranke, die zumeist nicht überwunden wird, auch eine Hemmung, einen jüdisch konnotierten Ort zu betreten. Wenn sich jüdische Museen öffnen wollen, dann müssen sie zum einen dies durch Ausstellungen tun, die einen universalistischen und damit offenen Anspruch haben sowie an aktuelle Fragestellungen anschließen. Zum anderen muss das Museum sowohl von seinen Akteur/innen als auch in Bezug auf den Museumsraum neu gedacht werden: Museen erobern zusehends den öffentlichen Raum, sei es wie die Tate Modern, deren Foyer mit vielen Ein- und Ausgängen, ohne Eintrittsgebühr und einer Installation von Superflex zum öffentlichen Raum wurde oder sei es wie das Rijksmuseum, das ein Rembrandgemälde in einer Shopping Mall inszeniert hat. Für jüdische Museen ist das noch weitgehend Neuland, und auch wenn man sich nicht an populären Formen orientieren will, ist der öffentliche Raum eine Möglichkeit, einen breiten Diskursraum mit offenen, alle Religionen umfassenden Fragen zu eröffnen. In einer Zeit, in der auch jüdische Museen antisemitischen Angriffen ausgesetzt sind und das Thema Sicherheit immer zentraler wird, scheint dies geradezu unerfüllbar zu sein. Dennoch: Ohne Öffnung wird sich kein modernes Museum der Zukunft realisieren lassen. Öffnung bedeutet dabei nicht nur ein Herauskommen aus dem Museumsraum in den öffentlichen Raum, sondern auch eine Öffnung des Museums selbst für neue Themen und Partizipation. Natürlich macht man sich dadurch angreifbar, gerade wenn man mit tradierten Erzählungen bricht und die Erwartungen an jüdische Erinnerungskultur nicht bedient. In dieser Angreifbarkeit liegt allerdings auch eine Chance: Sie zwingt uns, unsere Aufgabe und unser Tun zu reflektieren und neu zu fokussieren. Sie zwingt uns, uns mit den aktuellen Diskursen um Migration und Integration nicht

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nur aus jüdischer, sondern auch aus universaler Perspektive auseinanderzusetzen. Sie zwingt uns auf, uns mit gesellschaftlichen Kategorien von Fremdsein auseinanderzusetzen und mit den Wertungen, die damit einhergehen. Eine radikale Öffnung jüdischer Museen, die bisher wohl eher als Rückzugsort galten, ist somit ebenfalls ein Weg, auf die gesellschaftlichen Herausforderungen zu reagieren. Museen der Zukunft sind entweder partizipative Museen oder sie sind keine Museen mehr.15

L ITERATUR Brenner, Michael: „Weimarer Verhältnisse?“, in: Jüdische Allgemeine vom 20.9.2018, https://www.juedische-allgemeine.de/politik/weimarer-verhaelt nisse. Czollek, Max: Desintegriert Euch!, München: Hanser 2018. „Das Museum als Teil seines politischen Umfelds“, in: neues museum. die österreichische museumszeitschrift 1–2 (2018), S. 8–53. Fliedl, Gottfried: „Zwölf Möglichkeiten, das Museum mißzuverstehen“, http://museologien.blogspot.com/2018/06/zwolf-moglichkeiten-das-museum. html vom 4.6.2018. Gesser, Susanne/Handschin, Martin/Jannelli, Angela/Lichtensteiger, Sibylle (Hg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012. Heibronn, Christian/Rabinovici, Doron/Sznaider, Nathan (Hg.): Neuer Antisemitismus? – Fortsetzung einer globalen Debatte. 2. überarbeitete Auflage, Berlin: Suhrkamp 2019. Kanbıçak, Türkân/Hafeneger, Benno/Wenzel, Mirjam: Extremismusprävention durch kulturelle Bildung. Das Projekt „AntiAnti – Museum Goes School“ an berufsbildenden Schulen, Frankfurt am Main: Wochenschau-Verlag 2018.

15 Timm, Elisabeth: „Partizipation. Publikumsbewegungen im modernen Museum“, in: MAP #5 vom Juni 2014, http://www.perfomap.de/map5/transparenz/partizipationpublikumsbewegungen-im-modernen-museum; Gesser, Susanne/Handschin, Martin/ Jannelli, Angela/Lichtensteiger, Sibylle (Hg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012.

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Schäfer, Peter: „Produktive Unruhe in die Gesellschaft tragen“, in: Der Tagesspiegel vom 1.10.2018, https://www.tagesspiegel.de/kultur/juedischesmuseum-berlin-produktive-unruhe-in-die-gesellschaft-tragen/23132572.html. Stahnke, Jochen: „Deutschland soll Förderung für Jüdisches Museum Berlin einstellen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.12.2018, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/netanjahu-verlangt-einstellungder-foerderung-fuer-das-juedische-museum-15946640.html. Steinhauer, Jillian: „Museums have a duty to be political“, in: The Art Newspaper vom 20.3.2018, https://www.theartnewspaper.com/comment/museumshave-a-duty-to-be-political. Timm, Elisabeth: „Partizipation. Publikumsbewegungen im modernen Museum“, in: MAP #5 vom Juni 2014, http://www.perfomap.de/map5/ transparenz/partizipation-publikumsbewegungen-im-modernen-museum. Zadoff, Mirjam: „Wenn die Stadt leer und still wird – Ausgrenzung damals und heute“, in: Brunner, Andreas/Staudinger, Barbara/Sulzenbacher, Hannes/ Zadoff, Mirjam (Hg.): Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge. Ausstellungskatalog, NS-Dokumentationszentrum München und Jüdisches Museum Augsburg Schwaben, München: Hirmer 2019, S. 5–7.

V. Museen in postsozialistischen Ländern zwischen Europäisierung und nationaler Neuerfindung

Geschichtspolitischer Wandel und die „Anrufung Europas“ Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen L JILJANA R ADONIĆ

Der vorliegende Beitrag fasst die Ergebnisse meines Habilitationsprojektes über den Zweiten Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen zusammen. Im Vordergrund steht das Gedenkmuseum als tragende Säule, als Flaggschiff der Geschichtspolitik des jeweiligen Landes im Kontext transnationaler politischer Prozesse sowie Kämpfe um Hegemonie und Deutungshoheit und ihr Niederschlag in der „Identitätsfabrik“1 Museum. Im Zentrum steht die Frage, wie die Zeit des Zweiten Weltkriegs in großen, durch öffentliche Gelder (mit-) finanzierten Gedenkmuseen, die nach 1989 (wieder-)eröffnet wurden, in den elf postsozialistischen EU-Mitgliedsländern repräsentiert wird. Den Kontext bilden der europäische Einigungsprozess, insbesondere die „Europäisierung der Erinnerung“ und die Bemühungen, Geschichte nach dem Fall der sozialistischen Regime neu zu erzählen. Über einen Überblick über die Museen, ihre Entstehungsgeschichte und die Frage, was sie repräsentieren, hinausgehend wurde untersucht, wie doppelte Okkupation und der Holocaust, wie Opfernarrative und Kollaboration in den jeweiligen Dauerausstellungen und Museumsführern verhandelt werden, aber auch, welche Auswirkungen die EUBeitrittsbemühungen auf dieses Aushandeln hatten und autoritäre Tendenzen heute haben. Untersucht werden der Wandel und die Dynamik der Opfernarrative, der Externalisierung von Verantwortung und des „negativen Gedächtnisses“ im Bezug auf Täter/innenschaft und Kollaboration des „eigenen“ Kollektivs. Dies geschieht besonders im Hinblick darauf, wie die Museen auf „europäi-

1

Korff, Gottfried/Roth, Martin (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt am Main: Campus Verlag 1990.

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sche Standards“ rekurrieren und inwieweit sie den von Holocaust-Museen ausgehenden Trend übernehmen, das individuelle Opfer in den Mittelpunkt zu rücken. Aufgrund des autoritären Backlashs vor allem in Ungarn seit 2010 und Polen seit 2015 rückte dabei die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Demokratieentwicklung und Geschichtspolitik immer stärker in den Vordergrund meiner Analyse. Verglichen wurden zehn postsozialistische Gedenkmuseen und von ihnen im Laufe der Zeit herausgegebene Museumsführer2 im nationalen und internationalen Kontext: das Museum der Okkupationen in Tallinn, das Museum der Okkupation Lettlands, das Museum der Genozidopfer in Vilnius, das Museum des Warschauer Aufstands, das Museum der Kleinen Festung und das Ghettomuseum in der Gedenkstätte Terezín, das Museum des Slowakischen Nationalaufstandes in Banská Bystrica, das Haus des Terrors und das HolocaustGedenkzentrum in Budapest, das Zeitgeschichte-Museum in Ljubljana sowie das Jasenovac-Gedenkmuseum in Kroatien.3 Aus jedem postsozialistischen EU-Land habe ich öffentlich (mit-)finanzierte Museen ausgewählt, in welchen die Zeit des Zweiten Weltkriegs – oftmals verschränkt mit der sozialistischen Ära – behandelt wird und die bei Staatsbesuchen den ausländischen Staatschef/innen vorgeführt wird, um sie die Geschichte des Landes „besser verstehen“ zu lassen. Die Untersuchung zeigt, dass sich entscheidende Parallelen nicht etwa zwischen den scheinbar verwandtesten Museen wie den beiden Gedenkstättenmuseen oder den zwei Aufstandsmuseen finden, sondern zwischen jenen Ländern, deren Museen eine ähnliche Funktion in der Kommunikation mit „Europa“ erfüllen. Ich unterscheide zwei Pole in Bezug auf diese Kommunikation mit „Europa“ während der EU-Beitrittsverhandlungen: •

Museen, die das „Europäischsein“ des jeweiligen Landes dadurch unter Beweis stellen wollten, dass sie von „westlichen“ Holocaustmuseen ausgehende Musealisierungstrends übernahmen – dunkle Ausstellungsräume, die erstmalige individualisierende Darstellung von Holocaust-Opfern, die Inklusion der

2

Der diachrone Wandel wurde anhand einer Diskurs- und Bildanalyse von 52 Museumsführern untersucht. Die aktuellen Dauerausstellungen wurden als hybride Medien begriffen, die mehr sind als die Summe der eingesetzten Texte, Bilder und Objekte, die sich also erst in ihrem Zusammenspiel mit der Ästhetik und Architektur des Raums vollends entschlüsseln lassen.

3

Auch habe ich in der Habilitation das Fehlen solcher dem Zweiten Weltkrieg gewidmeter Gedenkmuseen in Sofia und Bukarest analysiert, wobei dieser Aspekt hier aus Platzgründen vernachlässigt werden muss.

G ESCHICHTSPOLITISCHER W ANDEL UND



DIE

„A NRUFUNG E UROPAS “

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Roma-Opfer und die Auseinandersetzung mit eigener Verantwortung und Kollaboration; Museen, die von „Europa“ forderten, „unser“ Leiden unter dem Stalinismus bzw. Sozialismus anzuerkennen und bestrebt waren, die Erinnerung an die nationalsozialistische Besatzung und den Holocaust „einzudämmen“, damit sie die „eigene“ Opfererzählung nicht überschreiben.

Schließlich werde ich zeigen, wie sich diese Typologie der Museen in den letzten Jahren durch neue Dauerausstellungen und Museumsumbenennungen insbesondere in den baltischen Ländern verändert hat.

V OR 1989: D IE M USEEN IN

DER SOZIALISTISCHEN

Ä RA

Drei der zehn hier untersuchten Museen existierten bereits in der sozialistischen Ära. Auf den ersten Blick erscheint das von der KP forcierte dogmatischantifaschistische Narrativ vom heldenhaften kommunistischen Widerstand in sozialistischen Ländern sehr ähnlich und eine Analyse der sozialistischen Museen im tschechischen Terezín/Theresienstadt, dem Museum des Slowakischen Nationalaufstands (SNP) in Banská Bystrica und der kroatischen KZ-Gedenkstätte Jasenovac nicht vielversprechend. Doch obwohl alle drei Erinnerungsorte einen prominenten Stellenwert im jeweiligen sozialistischen Gründungsmythos innehatten, bargen sie für das vorherrschende antifaschistisch-sozialistische Narrativ jeweils ein Problem. Im Slowakischen Nationalaufstand von 1944 ging es auch um die slowakische „nationale Frage“, nicht vor allem um die gemeinsame Tschechoslowakei. In Theresienstadt waren über 150.000 Jüdinnen und Juden im Ghetto inhaftiert und überlebten den Krieg in der Mehrzahl nicht – im Gegensatz zu den rund 32.000 vor allem politischen Häftlingen im Gestapo-Gefängnis in der Kleinen Festung. Trotzdem durfte es in Terezín kein Ghetto-Museum geben. Im Ustaša-Konzentrationslager Jasenovac in Kroatien war die Mehrheit der bis zu 100.000 Opfer nicht Partisan/innen, sondern Serb/innen, Jüdinnen und Juden, Romnija und Roma, die die kroatischen Ustaša aus „rassischen“ Gründen ermordeten, was dem jugoslawischen Gründungsmythos von der „Brüderlichkeit und Einheit“ widersprach. Die Spannung zwischen Helden- und Opfergedenken wird an allen drei Erinnerungsorten deutlich. Die Analyse von 15 Museumsführern aus diesen drei sozialistischen Institutionen hat vor allem in Bezug auf die Liberalisierungsphase in den 1960ern starke Parallelen zutage gefördert. Zuvor marginalisierte Themen durften nun behandelt werden: die „slowakische Frage“ in der Tschechoslowakei sowie in allen

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drei Museen die Opfer „rassischer“ Verfolgung, die mit dem antifaschistischen Heldennarrativ unvereinbar schienen. Die Gedenkstätte Jasenovac auf dem Gelände des größten ehemaligen Ustaša-KZ konnte überhaupt erst in diesem Klima eingerichtet und nach über 20 Jahren damit eine Leerstelle des Gedenkens gefüllt werden. Während in Terezín die jüdischen Opfer und die Vernichtungslager niemals tabuisiert waren, waren die Publikationen vor und nach dieser Phase extrem ideologisch aufgeladen, argumentierten teils antisemitisch und setzten den US-Imperialismus und Israel mit dem NS-Staat gleich.4 Im Museumsführer aus 1967 wurden hingegen jüdische Häftlinge mit Empathie und individualisiert dargestellt.5 Seit der Eröffnung der Gedenkstätte 1947 lag der Fokus auf den politischen Häftlingen der Kleinen Festung, nun sollte aber auch die bei weitem größte Opfergruppe in einem neuen Museum über das Ghetto vertreten sein. Der repressiven „Normalisierung“ nach der teils gewaltsamen Niederschlagung der Liberalisierungsbemühungen fielen das Projekt Ghettomuseum in Terezín und die Inklusion des Holocaust im Museum des slowakischen Nationalaufstands dann wieder zum Opfer, in Jasenovac wurde eine verschleiernde Sprache gewählt. Die Analyse des visuellen Materials in den Museumsführern förderte einen frappanten Wandel zu Tage: In Publikationen aus allen drei Ländern lässt sich zunächst die Abwesenheit von Menschen feststellen. Der Terezín-Guide aus 1963 enthält etwa ausschließlich Fotos leerer Höfe, Gebäude und Zellen der Festung.6 In der liberalen Phase 1967 ist auch auf der Bildebene alles anders: neben zwölf Fotos leerer Höfe und Gebäude sind hier auch acht Zeichnungen von Kindern und Jugendlichen inklusive ihres Namens, Geburtsjahres und Todesjahres in Auschwitz enthalten, ein Ausnahmefall im Hinblick auf die sehr frühe Individualisierung der Opfergeschichten.7 Die späteren sozialistischen Publikationen zeigen dann Menschen wieder als anonyme Menge, Leichen bzw., wenn Zeichnungen der Häftlinge gezeigt werden, dann als Abbildungen der historischen Realität, zum Beispiel der „Judenzelle“ in der Kleinen Festung, nicht als individuelle Zeugnisse.8 Die erste Publikation, die als Versuch der umfassenden Individualisierung der Opfer betrachtet werden kann, ist der Hochglanzband aus 1988 mit 370 visuellen Elementen auf 280 Seiten, davon zahlreiche Häftlingsporträts und

4

Kulišova, Táňa: Kleine Festung Theresienstadt, Prag: Verband der Antifaschistischen Widerstandskämpfer 1963, S. 69.

5

Kulišova, Táňa/Polák, Josef/Lagus, Karel: Terezín, Prag: Naše vojsko 1967.

6

Ebd.

7

T. Kulišova/J. Polák/K. Lagus, Karel: Terezín.

8

Novák, Václav: Terezín, Terezín: Památník Terezín 1974, S. 60.

G ESCHICHTSPOLITISCHER W ANDEL UND

DIE

„A NRUFUNG E UROPAS “

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-zeichnungen – diesmal als Belege ihres kreativen Schaffens unter unmenschlichen Lebensbedingungen vor ihrer Ermordung. Nun wird für „ganz normale“ Opfer Empathie geweckt – während nur mehr acht Prozent der Fotos Gebäude und Höfe zeigen.9 Auch die Jasenovac-Führer zeigen zunächst das markante Mahnmal in Form einer Blume, die neben der Gedenkstätte errichtete Schule oder einen Baum, an dem Hinrichtungen stattfanden. Wenn Opfer abgebildet werden, dann als anonyme „Kinder ohne Mütter im Lager“.10 Die Publikation aus 1986 hingegen wirkt wie ein Vorbote des Krieges. Im Sinne der serbischen Mobilisierung im „Krieg der Erinnerung“11, der mit den Jugoslawienkriegen einhergehen sollte, kommt hier erstmals eine Leichenberge-Pädagogik zum Einsatz. Im Sinne der Mobilmachung des serbischen Nationalismus dominieren in der Publikation aus 1986 unter den 53 Fotos jene abgetrennter Köpfe, aufgedunsener Wasserleichen, ermordeter Kinder und von Leichen in Massengräbern12 – sie zeigen aber keine Jasenovac-Opfer, sondern anderenorts Ermordete, in einem Fall gar von Deutschen begangene Verbrechen an Slowenen.13 Auch in der zweiten ständigen Jasenovac-Ausstellung, welche 1988 die Dauerausstellung von 1968 ablöste, beherrschen großformatige Fotos von Folter und massakrierten menschlichen Körpern den Raum. Eine entsprechende Wanderausstellung wurde von 1986 bis 1991 jugoslawienweit auch Soldaten der Jugoslawischen Volksarmee gezeigt.14 Während also in Terezín 1988 die systematische Individualisierung der Opfer und der Fokus auf das künstlerische Schaffen „ganz normaler“ Häftlinge einsetzen, zeugen in Jasenovac Publikation wie Ausstellung von einer Überwältigungs- und Mobilisierungsstrategie im Sinne des „Krieges um die Erinnerung“. Die friedliche Transformation im tschechoslowakischen und die kriegerische

9

Památník Terezín: Terezín, Ústí nad Labem: Severočeské nakladatelství 1988.

10 Trivunčić, Radovan: Jasenovac i jasenovački logori, Jasenovac: Spomen-područje Jasenovac 1974, S. 34. 11 Radonić, Ljiljana: Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards, Frankfurt am Main: Campus 2010. 12 Lukić, Dragoje: Jasenovac – istorijske fotografije – Svjedočanstvo o zločinima u ustaškom koncentracionom logoru Jasenovac, 1941.–1945. godine. Jasenovac/Belgrad: BIGZ 1986. 13 Mataušić, Nataša: Jasenovac. Fotomonografija, Jasenovac: Spomen-područje Jasenovac 2008, S. 72 ff. 14 Jovičić, Nataša: „Jasenovac Memorial Museum’s Permanent Exhibition – The Victim as Individual“, in: Review of Croatian History 1 (2006), S. 295–299, hier S. 296.

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Trennung im jugoslawischen Fall scheinen in den Entwicklungen der späten 1980er bereits angelegt.

1990–1999: D IE W ENDE

UND DIE

M USEEN

In Terezín, im SNP-Museum in Banská Bystrica und in Jasenovac kam es nach der Wende zu gravierenden Veränderungen – wenn auch in völlig unterschiedliche Richtungen –, bevor noch irgendeines der anderen sieben untersuchten Museen eröffnet wurde. In Terezín wurde 1991 endlich das Ghetto-Museums eröffnet – nicht nur wegen des neuen politischen Klimas, sondern auch weil die Mitarbeiter/innen seit den 1960er Jahren insgeheim weiter recherchiert und Material für die Ausstellung gesammelt hatten. Das Museum des Slowakischen Nationalaufstands veröffentlichte 1990 einen kurzen Museumsguide, der stark von der Unsicherheit der Übergangszeit geprägt ist. Am auffälligsten ist daran das abwartende Fehlen jeglicher Charakterisierung des Tiso-Regimes, also der sogenannten „Slowakischen Republik“, und ihrer Kollaboration mit dem NS-Regime.15 Das Museum kämpfte nach der „Samtenen Scheidung“ von Tschechien 1993 um eine neue politische Linie jenseits der sozialistischen Propaganda. Doch als 1994 Vladimir Mečiar die ultra-nationalistische und geschichtsrevisionistische Slovenská národná strana (SNS) in die Regierung aufnahm und das Museum 1996 von einer staatlichen zu einer regionalen Institution heruntergestuft wurde, kämpfte es ums Überleben. Erst nach der Wahlniederlage Mečiars 1998 war das staatliche Kokettieren mit der geschichtsrevisionistischen Verklärung des Tiso-Regimes beendet16 und die Einrichtung erhielt ihren Status als staatliche Institution zurück. Jasenovac wiederum rückte in den Fokus des serbisch-kroatischen „Krieges um die Erinnerung“. Der serbische Nationalismus betonte noch stärker als in den 1980er Jahren die These von der vor allem an Jasenovac festgemachten „Genozidalität“ der Kroaten. Die Gedenkstätte wurde 1991 kriegsbedingt geschlossen, die Exponate von einem Kurator in den serbischen Teil Bosniens gebracht und in Folge für Hass schürende serbische Ausstellungen mit überhöhten Opferzahlen

15 Múzeum SNP: Sprievodca po expozicii Muzea SNP, Banská Bystrica: Múzeum SNP 1990. 16 Pauličkova, Nina: „The ‚Unmasterable Past‘? The Reception of the Holocaust in Postcommunist Slovakia“, in: John-Paul Himka/Joanna Michlic (Hg.): Bringing the Dark Past to Light. The reception of the holocaust in Postcommunist Europe, Lincoln/London: University of Nebraska Press 2013, S. 549–590, hier S. 550.

G ESCHICHTSPOLITISCHER W ANDEL UND

DIE

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in Banja Luka und Belgrad eingesetzt.17 Währenddessen rückte auch der kroatische, von 1990 bis zu seinem Tod 1999 amtierende Präsident Franjo Tuđman Jasenovac in den Fokus seiner revisionstischen Geschichtspolitik. Er gibt für Jasenovac viel zu niedrige Opferzahlen an, um sie mit jenen von Bleiburg vergleichen zu können und baut Jasenovac in sein Projekt der „nationalen Versöhnung“ ein: Partisan/innen wie Ustaša hätten im Zweiten Weltkrieg auf ihre je eigene Weise für die „kroatische Sache gekämpft“. Der Krieg der 1990er Jahre rückte in diesem Fall die Deutung des Zweiten Weltkriegs ins Zentrum der Identitätsstiftung im Zuge des jugoslawischen Zerfallsprozesses – das Museum blieb jedoch von 1991 bis 2006 geschlossen. Das Zeitgeschichte-Museum in Ljubljana trägt hingegen weniger Spuren des im slowenischen Fall nur einige Tage dauernden Krieges 1991. Unter den zehn Museen ist es insofern ein Sonderfall, als sich hier innerhalb ein- und desselben Museums zwei widerstreitende Narrative finden. Das frühere Museum der Volksrevolution wurde 1994, vergleichsweise also recht spät, in Zeitgeschichtemuseum umbenannt und erhielt 1996 seine neue postsozialistische Ausstellung über „Slowenen im 20. Jahrhundert“. Doch auch in der neuen Ausstellung erinnerten manche Teile an das jugoslawisch-sozialistische Narrativ, etwa wenn die Beschneidung der Menschenrechte im Königreich Jugoslawien ausschließlich anhand der Verfolgung der Kommunist/innen verdeutlicht wurde. Dies hatte eine einmalige Konsequenz: 1997 warf der slowenische Schriftsteller Drago Jančar in der Zeitung Delo der ständigen Ausstellung vor, „die dunkle Seite der slowenischen Geschichte im Sommer 1945 verdeckt und das totalitäre System schöngefärbt“18 zu haben. Daraufhin wurde er 1998 prompt mit der Ausarbeitung eines zusätzlichen Ausstellungsteils beauftragt.19 Dieser behandelt seitdem unter dem Titel „Dark Side of the Moon. A Short History of Totalitarianism in Slovenia, 1945–1990“ vor allem die Nachkriegsverbrechen der Partisan/innen. In der dazugehörigen Museumspublikation wird die jugoslawische Nachkriegs-

17 Radonić, Ljiljana: „The Holocaust Template – Memorial Museums in Hungary and post-Yugoslav Croatia and Bosnia-Herzegovina“, in: Annals of the Croatian Political Science Association: Political Science Journal 1 (2018), S. 131–154, hier S. 136. 18 Jančar, Drago: „Čemu ta razstava ali: kaj je na temni strani meseca?“, in: Ders. (Hg.): Temna stran meseca: kratka zgodovina totalitarizma v Sloveniji 1945–1990: razstava v Muzeju novejše zgodovine, Ljubljana: Muzej novejše zgodovine 1998, S. 5–8, hier S. 5. 19 Troha, Nevenka: „Slovenia. Occupation, Repression, Partisan Movement, Collaboration, and Civil War in Historical Research“, in: Südosteuropa 2 (2017), S. 334–363, hier S. 349.

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Staatsicherheit Udba als „umfassender Organismus des Bösen“ bezeichnet, der gefoltert, liquidiert und „Konzentrationslager eingerichtet“ habe.20 Die Partisan/innen werden mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt und somit Schuldund Erinnerungsabwehr in Bezug auf die slowenischen Kollaborateur/innen betrieben.21 Die individuellen Opfer der unrechtmäßigen Tötungen durch die Partisan/innen werden im Ausstellungsführer nicht erwähnt, nur die Todesorte aufgezählt und die Gesamtzahl der Ermordeten genannt. Ab den 1990er Jahren konnten also erstmals die sozialistischen Verbrechen thematisiert werden. Auch im Baltikum fiel mit der Wende das Tabu, über sowjetische Verbrechen zu sprechen. In Litauen hörte der KGB im Herbst 1991 zu existieren auf, und im August 1992 wurde in der ehemaligen KGB-Zentrale in Vilnius das Museum der Genozidopfer eröffnet. Ab Herbst 1940 hatte die sowjetische Staatssicherheit das Gebäude als Zentrale und Gefängnis genutzt, während der NS-Zeit folterte dort die Gestapo und nach der zweiten sowjetischen Besatzung 1944 der KGB. Zunächst waren im Museum nur die Folterzellen im Keller zu besichtigen. Archäolog/innen wurden bestellt, die nach den Beweisen für die in den 1950ern umgebauten Räume des Terrors suchten. 1998 wurde dann der von den Häftlingen vielfach beschriebene Exekutionsraum lokalisiert.22 Seit 2000 kann dieser besichtigt werden. Ständige Ausstellungen eröffneten Schritt für Schritt erst ab 2002.23 Die NS-Zeit aber, in der das Gebäude zwischen den beiden sowjetischen Besatzungen ebenfalls als Foltergefängnis gedient hatte und aus der in den Gefängniszellen noch deutlich erkennbare Spuren der Häftlinge vorhanden waren, wurde dabei ausgespart.

20 Simoniti, Vasko: „Permanentna revolucija, totalitarizem, strah“, in: Jančar, Drago (Hg.): Temna stran meseca: kratka zgodovina totalitarizma v Sloveniji 1945–1990: razstava v Muzeju novejše zgodovine, Ljubljana: Muzej novejše zgodovine 1998, S. 8–12, hier S. 9. 21 Jančar, Drago: „Temna strana meseca“, in: Ders. (Hg.): Temna stran meseca: kratka zgodovina totalitarizma v Sloveniji 1945–1990: razstava v Muzeju novejše zgodovine, Ljubljana: Muzej novejše zgodovine 1998, S. 26–27, hier S. 26. 22 Mark, James: „What Remains? Anti-Communism, Forensic Archaeology, and the Retelling of the National Past in Lithuania and Romania“, in: Past and Present 5 (2010), S. 276–300, hier S. 298. 23 Peikštenis, Eugenijus: „Das Museum für die Opfer des Genozids. Vilnius“, in: Volkhard Knigge/Ulrich Mählert (Hg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln: Böhlau 2005, S. 131– 138, hier S. 138.

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Die erste ständige Ausstellung in meinem Sample, welche die beiden sowjetischen Besatzungen behandelte, war im 1993 eröffneten Museum der Okkupation Lettlands in Riga zu finden. Das Museum wurde in einem ursprünglich glänzend kupferroten, nun schwarzen blockartigen Gebäude am Rathausplatz untergebracht, in dem sich seit 1970 das Museum der Roten Lettischen Schützen befunden hatte.24 Gegründet wurde das Okkupationsmuseum vom Exilletten Paulis Lazda. Er sah die Anerkennung des „okupācijas fakts“25, der Tatsache, dass Lettland 1944 von der Sowjetunion besetzt und nicht befreit wurde, als überlebensnotwendige Basis für den jungen lettischen Staat an. Das Museum sollte Lazda zufolge die Fehlinformationen, die den nationalistischen russischen Diskurs über die Besatzung Lettlands dominierten, zerrütten.26 Es sollte ferner Lettland vor der „Diffamierung“ wegen seiner Staatsbürgerschafts- und Sprachpolitik in Bezug auf die russischsprachige Bevölkerung des Landes einerseits und der Rolle von Letten im Holocaust andererseits schützen.27 Im Gegensatz zum Museum der Genozidopfer in Vilnius betonte Lazda28 neben der sowjetischen Besatzung immer auch die nationalsozialistische. Sein Hauptzweck sei es, die einheimische Bevölkerung und andere Länder über die „tragische Geschichte“29 der baltischen Staaten zu informieren, die von der Welt vergessen worden sei. Von Beginn an betonten die Museumsvertreter/innen die Rolle der Einrichtung in der Kommunikation mit der „Außenwelt“: „A part of our mission is to tell the world the story of this country and of its survival during the years of occupation and annexation.“30 Seit 1998 ist das Museum offizieller Programmpunkt für ausländische

24 Blume, Rebekka: Das lettische Okkupationsmuseum. Das Geschichtsbild des Museums im Kontext der Diskussionen über die Okkupationszeit in der lettischen Öffentlichkeit, Bremen: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen 2007, S. 58. 25 Lazda, Paul: „Latvijas 50 gadu okupācijas muzejs: Kāpēc? Kas? Kā?“, http://lpra.vip.lv/om.html, von 2003. 26 Lazda, Paul zitiert nach Velmet, Aro: „Occupied Identities: National Narratives in Baltic Museums of Occupations“, in: Journal of Baltic Studies 2 (2011), S. 189–211, hier S. 192. 27 P. Lazda: „Latvijas 50 gadu okupācijas muzejs“. 28 Lazda, Paul: „The Museum of Occupation of Latvia: Why? What? How?“, in: Valters Nollendorfs (Hg.): 1940-1991. Latvia under the Rule of the Soviet Union and Nationalist Socialist Germany. Museum of the Occupation of Latvia, Riga: Museum of the Occupation of Latvia 2008, S. 11–13, hier S. 12. 29 Lazda, Paul zit. n. R. Blume: Das lettische Okkupationsmuseum, S. 36. 30 Nollendorfs, Valters zit. n. Freutel, Aziza: „Repatriate gives back to Latvia, his first home“, https://www.baltictimes.com/news/articles/11083/ vom 1.6.2004.

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Staatsgäste31 und wurde seitdem etwa von Queen Elisabeth II., dem japanischen Kaiser, der deutschen Kanzlerin oder dem türkischen Premier besucht. Das führt uns zu einer zentralen Frage dieses Beitrags, nämlich welche Botschaften die untersuchten Museen an in- und ausländische Rezipient/innen mit ihren Ausstellungen senden wollten und wie sich dies im Zuge der EU-Beitrittsbemühungen der postsozialistischen Kandidatenländer veränderte.

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Nach der Jahrtausendwende erhielten die bisher besprochenen Museen neue Dauerausstellungen (Terezín: 2001 Ghettomuseum, 2003 Kleine Festung und Internierungslager für Deutsche; 2002–2004 Museum der Genozidopfer; 2004 Museum des Slowakischen Nationalaufstands; 2006 Jasenovac) und neue Museen wurden eröffnet (2002 Haus des Terrors in Budapest; 2003 Museum der Okkupationen in Tallinn; 2004–2006 Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest; 2004– 2006 Museum des Warschauer Aufstands). Es gab also beträchtliche Aktivitäten in genau der Zeit, in der sich die Länder um einen EU-Beitritt bemühten. Die vergleichende Untersuchung der zehn Museen von Estland bis nach Kroatien hat zwei unterschiedliche Strategien zutage gefördert, wie postsozialistische Museen mit „Europa“ kommunizieren – auf Text-, Bild- und allgemein ästhetischer Ebene. Unter den zehn Museen lassen sich ihrer Kernbotschaft nach Gruppen erkennen, die interessanterweise unabhängig vom Hauptgegenstand des Museums (Aufstand, Konzentrationslager, Gefängnis mit Folterzellen im Keller) oder der Art seiner Unterbringung (in situ, neues Gebäude, umgewidmetes früheres Museum) sind. Die eine Art von Museen betreibt im Zuge der EUBeitrittsbemühungen etwas, das ich als „Anrufung Europas“ bezeichne: Diese allesamt staatlich finanzierten Institutionen übernehmen die Ästhetik „westlicher“ Holocaustmuseen sowie den Fokus auf das individuelle Opfer, widmen den jüdischen und Roma-Opfern als Folge der „Europäisierung der Erinnerung“ ausführlich Raum und stellen ihre Institution explizit in den Kontext „internationaler Vorgaben“ und „europäischer Standards“, denen sie als Beleg für ihre „EuropaReife“ entsprechen wollen. Interessanterweise sind es vor allem nichteuropäische „westliche“ memorial museums, allen voran das US Holocaust Me-

31 Fritz, Regina/Wezel, Katja: „Konkurrenz der Erinnerungen? Museale Darstellung von diktatorischen Erfahrungen in Ungarn und Lettland“, in: Katrin Hammerstein et al. (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung?, Göttingen: Wallstein Verlag 2009, S. 233–247, hier S. 237.

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morial Museum (USHMM), aber auch Yad Vashem in Jerusalem, an denen sich diese Museen in ihrer Ausstellungsästhetik orientieren, um ihr „Europäischsein“ unter Beweis zu stellen. Dies zeigt, wie stark die „Europäisierung der Erinnerung“ im Zuge des europäischen Integrationsprozesses aus der „Universalisierung des Holocaust“, deren Ursprung in den USA liegt, hervorgegangen ist. Die „Anrufung Europas“ ist am deutlichsten im Museum des Slowakischen Nationalaufstands, dem Jasenovac-Gedenkmuseum und dem Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest zu beobachten. Das Holocaust-Gedenkzentrum wurde 2004 wenige Wochen vor dem EU-Beitritt eröffnet, obwohl die ständige Ausstellung erst zwei Jahre später eröffnet werden konnte. Prägend sind hier entsprechend dem Vorbild „westlicher“ Holocaust memorial museums die dunkle Raumgestaltung, der Fokus auf individuelle Opfer und ihre Zeugnisse, nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch Romnija und Roma. Ebenfalls aus 2004, dem Jahr der großen EU-Osterweiterung, stammt die heutige Ausstellung im Museum des Slowakischen Nationalaufstands. Bereits der Titel der Ausstellung kommuniziert unverkennbar mit „Europa“: „Slovakia in Europe’s Antifascist Resistance Movement 1939–1945“. Auch in den Überschriften der einzelnen Texttafeln findet sich dieser Bezug. Sie lauten „Europe after 1918“, „Europe after 1938“ oder „International Participation in the SNU and help of the Allies“. Während die Ausstellung ansonsten von Waffen, Orden und Uniformen dominiert wird, fällt im Holocaust-Abschnitt vor allem eine Stele mit namentlich zugeordneten Privatfotos auf, die stark an den „Tower of Faces“ im USHMM erinnert.32 Die kroatische Ausstellung in Jasenovac stammt aus 2006 und ihre Funktion wurde von einem kritischen kroatischen Journalisten als „Zugpferd nach Europa“33 bezeichnet. Die kroatischen EU-Beitrittsverhandlungen stockten zu dieser Zeit aufgrund des Vorwurfs der mangelnden Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Die ehemalige Tuđman-Partei, die nun nach „Europa“ ausgerichtete HDZ, war seit 2003 wieder an der Regierung und wollte mit einer neuen Jasenovac-Ausstellung ein internationales Signal setzen. Der Kulturminister setzte als Museumsdirektorin eine in den USA ausgebildete Kunsthistorikerin ein, die sich explizit am USHMM, dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam und Yad Vashem als Vorbildern orientierte. Wieder sind der dunkle

32 Radonić, Ljiljana: „Slovak and Croatian Invocations of Europe – The Museum of Slovak National Uprising and the Jasenovac Memorial Museum“, in: Nationalities Papers 3 (2014), S. 489–507. 33 Pavelić, Boris: „Koji Ante“, in: Novi list vom 15.5.2005.

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Raum34 sowie der starke Fokus auf die individuellen Opfer, ihre Namen, Zeugnisse und Gegenstände Referenzen auf „westliche“ Vorbilder. So eine „Anrufung Europas“ bringt aber auch Probleme mit sich, wenn sie den Charakter eines bloßen Lippenbekenntnisses aufgrund von Machtgefälle zwischen der EU und den Kandidatenländern und deshalb vorauseilend angenommener Verhaltenskodices hat. So verwendet das slowakische Museum zwar auffällig häufig das Wort „Europa“, doch werden zugleich auch nationalistischrevisionistische Positionen vertreten. Wenn dem NS-Kollaborationsregime Tisos, der „Slowakischen Republik“, in der Ausstellung „many positive results in the areas of economy, science, schools and culture, owing to the war boom“ zugestanden werden, ohne diese „Errungenschaften“ im Kontext von Massenmord zu verorten. Im kroatischen Fall führt der starke Fokus auf die individuellen Opfer und die Orientierung an USHMM, Yad Vashem und dem Anne-FrankHaus – und nicht etwa an deutschen KZ-Gedenkstätten – dazu, dass der In-situCharakter des ehemaligen Konzentrationslagers ebenso in den Hintergrund tritt wie die konkreten Täter/innen und ihre brachialen Tötungswerkzeuge, die Jasenovac den Beinamen „Manufaktur des Todes“ einbrachten. Das slowakische, kroatische und das Budapester Holocaust-Museum sind unter den zehn hier untersuchten auch die einzigen, die ausführlicher auf RomaOpfer eingehen. Die „Europäisierung der Erinnerung“ im Zuge des europäischen Einigungsprozesses beinhaltete zunächst die Auseinandersetzung mit der Mitverantwortung der eigenen Nation für die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, und in einem zweiten Schritt die Inklusion zuvor noch stärker marginalisierter Opfergruppen. Alle drei Museen bemühen sich um eine Inklusion der Romnija und Roma, reproduzieren in ihrer Darstellung aber zum Teil haarsträubende Stereotype und lassen im Gegensatz zu den anderen Opfergruppen eine individualisierende Darstellung, die Empathie mit den Opfern wecken könnte, vermissen. So finden sich etwa im Jasenovac-Guide über 300 vor, aber auch zum Teil nach dem Krieg aufgenommene Privatfotografien kroatischer, serbischer und jüdischer Opfer, Romnija und Roma sind jedoch visuell einzig auf vier teils erniedrigenden, von Täter/innen aufgenommenen Fotografien zu sehen. Im Budapester Holocaustmuseum werden die jüdischen Opfer mit viel Empathie dargestellt, während Roma erkennbar nachträglich in das Ausstellungskonzept als Nachsätze zu den Texttafeln über jüdische Opfer hinzugefügt wurden. Sie werden distanziert als „these people“ bezeichnet, die den Behörden

34 Kalčić, Silva: „Vizualna kultura. Memoriranje zločina“, http://www.zarez.hr/ 204/z_vizualna.htm, von 2007.

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Mühe bereitet hätten: „the job of the authorities was not made easier by the fact that the law never defined who was to be regarded as a Gypsy.“35 Den anderen Pol unter den zehn analysierten Museen bilden jene postsozialistischen Institutionen, die von „Europa“ verlangen, dass es ihre Leiden unter dem Kommunismus, der Sowjetunion bzw. dem Stalinismus anerkenne. Das trifft auf die drei baltischen Museen und das Haus des Terrors in Budapest zu. Sie setzen außerdem auf symbolischer Ebene Kommunismus und Nationalsozialismus zunächst gleich, um im Laufe der Dauerausstellung dann auszuführen, warum die sozialistische Ära „schlimmer“ gewesen sei. In Folge betreiben sie, was James Mark als „containing fascism“36 bezeichnet hat, eine Eindämmung der als bedrohlich für die „eigene“ Leidensgeschichte erscheinenden Erinnerung an die NS-Besatzung und den Holocaust. In den Museen dieser zweiten Gruppe kommen Roma im Wesentlichen nicht vor. Hier verläuft die Unterscheidung zwischen „unseren“ Opfern, der Mehrheitsbevölkerung Estlands, Lettlands, Litauens oder Ungarns, und den „anderen“, in diesem Fall den jüdischen Opfern, die, wie schon erwähnt, als bedrohlich für die eigene Opfererzählung begriffen und daher durch unterschiedliche Strategien ausgegrenzt werden. Dies lässt sich am deutlichsten im Museum der Genozidopfer in Vilnius beobachten.37 Mit „Genozid“ sind hier ausschließlich die Opfer der beiden sowjetischen Besatzungen, der „physical and spiritual genocide against the Lithuanian people“38 gemeint, wie es im Guide heißt. 2002 wurde die Ausstellung über die Jahre 1939–1941 eröffnet, 2004 jene über den bewaffneten antisowjetischen Widerstand 1944–1953. Die NS-Besatzung zwischen 1941 bis 1944 wurde schlicht ausgelassen, obwohl in manchen Zellen im Keller deutliche Spuren von Gestapo-Häftlingen zu sehen waren, zum Beispiel eingeritzte Namen und Jahreszahlen polnischer Häftlinge. Während der KGB-Exekutionsraum mit viel archäologi-

35 Zit. n. Radonić, Ljiljana: „‚People of Freedom and Unlimited Movement‘: Representations of Roma in Post-Communist Memorial Museums“, in: Social Inclusion 5 (2015), S. 64–77, hier S. 73. 36 Mark, James: „Containing Fascism. History in Post-Communist Baltic Occupation and Genocide Museums“, in: Oksana Sarkisova/Péter Apor (Hg.): Past for the Eyes. East European Representations of Communism in Cinema and Museums after 1989, Budapest: Central European University Press 2008, S. 335–369. 37 Radonić, Ljiljana: „From ‚Double Genocide‘ to ‚the New Jews‘: Holocaust, Genocide and Mass Violence in Post-Communist Memorial Museums“, in: Journal of Genocide Research 4 (2018), S. 510–529, hier S. 511 f. 38 Rudienė, Virginija/Juozevičiūtė, Vilma: The Museum of Genocide Victims. A Guide to the Exhibitions, Vilnius: The Museum of Genocide Victims 2006, S. 3.

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schem Aufwand „wiederhergestellt“ wurde, hieß es in Bezug auf die NS-Zeit, es seien zu wenige Spuren vorhanden. Am Ende des Raumes über die erste sowjetische Besatzung findet sich auf Knöchelhöhe ein Schild mit folgendem Text: „For visitors willing to get acquainted with the period of Nazi occupation in Lithuania and the Holocaust more extensively we suggest visiting the Vilna Gaon Jewish State Museum.“ Dabei forderte die NS-Besatzung den vom Museum selbst vorgelegten Zahlen zufolge im Vergleich zu den beiden sowjetischen Besatzungen das Vierfache an Todesopfern, bei weitem die meisten davon Jüdinnen und Juden. Der Exekutionsraum übernimmt die Ästhetik von HolocaustMuseen und KZ-Gedenkstätten: Unter dem Glasboden befinden sich persönliche Gegenstände der Opfer: Brillen, Schuhe, Kämme etc. Diese wurden jedoch nicht im Gebäude selbst gefunden, sondern von der Erschießungsstätte Tuskulėnai hergebracht. Das Museum der Genozidopfer ist insofern ein extremes Beispiel für die Eindämmung der als bedrohlich scheinenden Erinnerung an die NS-Zeit, als es die Phase, in der das Gebäude als Gestapo-Gefängis diente, zwischen der Eröffnung 1992 und der kleinen Ausstellung 2011 schlicht verleugnete. Die beiden anderen hier behandelten baltischen Museen und das Haus des Terrors widmeten sich hingegen von Beginn an beiden Besatzungen. 39 Am Anfang des Besuchs ist man in allen dreien mit einer Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus, Hakenkreuz (oder Pfeilkreuz als Symbol der „ungarischen Nazis“) und rotem Stern konfrontiert. Im 2003 in Tallinn eröffneten Museum der Okkupationen sahen die Besucher/innen (bis zur Umgestaltung 2018) als erstes zwei stilisierte Lokomotiven, eine mit Hakenkreuz, eine mit Stern, im Museum der Okkupation Lettlands die übergroßen, nebeneinander montierten Porträts von Hitler und Stalin, bereits vor dem Haus des Terrors die Montage von Pfeilkreuz und Stern. Doch in allen drei Fällen wird in Folge die NS-Besatzung als „weniger schlimm“ vorgestellt. So führte etwa der Direktor des 2003 eröffneten Museums der Okkupationen im estnischen Tallinn, Heiki Ahonen, aus, die NS-Zeit habe weniger Opfer verursacht und sei durch einen geringeren Grad an Repression gekennzeichnet ge-

39 Das Museum des Warschauer Aufstands ist Gegenstand des Beitrags von Monika Heinemann in diesem Band und wird deshalb hier ausgelassen. Es lässt sich keinem der beiden hier entwickelten Typen eindeutig zuordnen, wenn auch Parallelen zu den baltischen Museen und dem Haus des Terrors feststellbar sind: Die sowjetischen Verbrechen werden mit mehr Emotion geschildert als jene der „Deutschen“ und „unsere“ polnischen Opfer werden individualisiert, die jüdischen Opfer weitestgehend anonym dargestellt – Roma kommen nicht vor.

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wesen.40 Die „Waldbrüder“, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die sowjetische Besatzung kämpften, werden mit Ausstellungsobjekten und im gezeigten Video eindrucksvoll dargestellt. Juden hingegen werden am Ende des zweiten, 27-minütigen Dokumentarfilms über The War and the German Years erstmalig erwähnt, ihre Verfolgung und der Charakter des KZ Klooga dabei relativiert. Direktor Ahonen beschreibt das Jahr der ersten sowjetischen Besatzung als „totale Vernichtung der bisherigen Lebensweise“.41 Auf die Frage angesprochen, was das Museum über den Holocaust zeige, antwortet er: „Estonia never had a Jewish question and we just simply don’t have any physical items from these people who were killed.“42 Interessanterweise bezieht sich auch diese zweite Gruppe von Museen auf „westliche“ Holocaust-Museen. Das Haus des Terrors in Budapest übernimmt im Vorraum des Museums auf den ersten Blick die Ästhetik des „Tower of Faces“ im USHMM. Wie bei der mehrstöckigen Installation in Washington D.C., die an mehreren Stellen der Ausstellung auf unterschiedlichen Etagen passiert wird, gibt es auch in Budapest eine über alle Stockwerke reichende Installation mit zahlreichen Porträtfotos. Bei näherem Hinsehen zeigen diese mit „Victims“ überschriebenen Fotos aber nicht wie im USHMM Privataufnahmen unterschiedlicher Größe und Form in allen erdenklichen Alltagssituationen und Posen, sondern uniforme erkennungsdienstliche, also von Tätern aufgenommene Fotos. Und obwohl das Gebäude, in dem das Museum untergebracht ist, ähnlich wie im litauischen Fall, während der NS-Besatzung als Zentrale und Foltergefängnis der ungarischen Pfeilkreuzler und später der sozialistischen Staatssicherheit diente, werden auf dieser Wand nur Opfer der staatssozialistischen Repression gezeigt. Ein sowjetischer Panzer am Fuße der Installation verdeutlicht diese Ausblendung der Opfer der Pfeilkreuzler. Die uniformen Individuen verschmelzen hier – im Gegensatz zum individualisierenden Vorbild – zu einer Masse, zu Ungarn als kollektivem Opfer.43

40 Ahonen, Heiki: „Wie gründet man ein Museum? Zur Entstehungsgeschichte des Museum der Okkupationen in Tallinn“, in: Volkhard Knigge/Ulrich Mählert (Hg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln: Böhlau 2005, S. 107–116, hier S. 110. 41 Ahonen, Heiki: „Das Estnische Museum der Okkupationen: Ein Überblick über seine Arbeit“, in: Forschungen zur baltischen Geschichte 3 (2008), S. 233–238, hier S. 237. 42 Ahonen zit. n. J. Mark: „Containing Fascism“, S. 367. 43 Radonić, Ljiljana: „The Holocaust Memorial Center in Budapest – An ‚Impossible‘ Museum?“, in: Der Donauraum. Zeitschrift des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa 1–2 (2014), S. 11–21, hier S. 17 f.

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Der explizite Bezug auf Holocaust-Museen kann aber auch negativ sein, wie etwa im Falle des Museums der Okkupationen in Tallinn, dessen Direktor die helle Ästhetik des gläsernen, eigens für die Ausstellung errichteten Museumsgebäudes mit der Ablehnung der „düsteren, kirchenähnlichen Atmosphäre von Holocaust-Museen“ begründete.44 Positive wie negative Bezüge belegen die „Universalisierung des Holocaust“, den Holocaust als Bezugspunkt, zu dem sich jedes neue Museum auf die eine oder andere Weise in Beziehung setzt.

G RÜNDE FÜR

UND WIDER DIE

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Warum aber sind diese beiden Trends in genau diesen Museen so ausgeprägt und welche Museen weichen aus welchen Gründen von dem Muster ab? Obwohl Jasenovac das dortige Konzentrationslager zum Gegenstand hat und das slowakische Museum einen Aufstand, ähneln sich die beiden Museen aufgrund von zwei Parallelen zwischen der Slowakei und Kroatien. Beide Staaten existierten vor den 1990er Jahren einzig während des Zweiten Weltkriegs nach der Zerstückelung der Vielvölkerstaaten Tschechoslowakei respektive Jugoslawien als NSSatellitenstaaten. Beide wurden in den 1990ern als Meilensteine auf dem Weg zur Unabhängigkeit verklärt (wenn auch im Tuđman-Kroatien institutionalisierter als in der Slowakei unter Mečiar). Beide Länder hinkten in den 2000er Jahren in den EU-Beitrittsbemühungen hinterher: Kroatien aufgrund des Krieges, der aggressiven Bosnien-Politik auch nach dem Krieg, der defekten Demokratie und wegen des Geschichtsrevisionismus unter Tuđman. Die Slowakei wiederum drohte lange Zeit, den Anschluss an die anderen für die EU-Osterweiterung vorgesehenen Länder zu versäumen45, erfüllte die Bedingungen dann aber in Rekordzeit. Beide Länder setzten ihre staatlichen Museen, deren Leitung unmittelbar vom Kulturministerium bestellt wird, als „Zugpferde nach Europa“ ein, die sie vom Geschichtsrevisionismus der 1990er „reinwaschen“ sollten. Das markante Gegenbeispiel dazu bieten Tschechien und die Gedenkstätte Terezín. Tschechiens „goldene Ära“ nationaler Unabhängigkeit war weder ein NS-Kollaborationsregime noch ein Staat der Zwischenkriegszeit, der sich in den 1930ern in eine Diktatur entwickelte. Die Tschechoslowakei blieb als einziger der später sozialistischen Staaten bis zur Annexion des Sudetenlandes durch NS-

44 Radonić, Ljiljana: „Post-Communist Memorial Museums and the ‚Europeanization of Memory‘“, in: National Identities 2 (2017), S. 269–288, hier S. 282. 45 Miháliková, Silvia: „Changing Identities in the European Enlargement Process“, in: International Issues & Slovak Foreign Policy Affairs 1 (2006), S. 32–40, hier S. 34.

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Deutschland am 1. Oktober 1938 demokratisch, erst dann folgten Monate autoritärer Herrschaft bis zur deutschen Besatzung der böhmischen Länder.46 Euroskeptizismus war und ist zwar in Tschechien seit den 1990ern weit verbreitet, doch demokratische Grundfeste standen nicht in vergleichbarem Ausmaß in Frage wie in Kroatien oder der Slowakei. Der Beweis des Europäisch-Seins und der Demokratietauglichkeit musste also nicht angetreten werden. So findet in Terezín keine mit dem slowakischen oder kroatischen Fall vergleichbare „Anrufung Europas“ statt. Eine individualisierende Darstellung der Opfer lässt sich bereits 1988 nachweisen, und ein externer Zweck, der damit angestrebt wurde, ist nicht zu erkennen. Die Ästhetik der Ausstellung im Ghettomuseum ist auch eine völlig andere als in Jasenovac oder im Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest: Der helle Raum wird von stilisierten Fenstern mit blauem Himmel umrahmt. Die Spezifik der baltischen Staaten liegt auf der Hand: Sie waren als einzige der hier untersuchten Länder Teil der Sowjetunion. Daraus folgt, dass auch die drei Museen bei der Vermittlung des „Okkupationsfakts“, dass die Sowjetunion das Baltikum 1944 also nicht befreite, sondern besetzte, eine besondere Verantwortung trugen. Insbesondere die größten Deportationswellen in den Gulag und die Zwangsansiedlungsgebiete 1941 und 1949 standen im Zentrum der Neuschreibung der Geschichte nach 1991. Die These vom „doppelten Genozid“, einmal der Sowjets an den Est/innen, Lett/innen und Litauer/innen, einmal des NS-Regimes (und seiner baltischen Kollaborateur/innen) an der jüdischen Bevölkerung, wurde und wird bis heute in allen drei Staaten, wenn auch in etwas unterschiedlichem Ausmaß, im Kampf um die Anerkennung des „eigenen“ Leidens eingesetzt. Das Haus des Terrors in Budapest gehört ebenfalls eindeutig zu dieser Gruppe von Museen, in der das Leiden unter staatssozialistischen Repressionen im Vordergrund steht. Doch sowohl dieses Museum als auch das inhaltlich völlig konträre Holocaust-Gedenkzentrum wurden beide in der ersten Regierungsperiode von Viktor Orbán (1998–2002) initiiert. Die beiden staatlichen Museen sind verschiedenen Typen zuzuordnen, eines vor allem für das einheimische, das andere für das ausländische Publikum bestimmt. Die Tatsache aber, dass sie sich in derselben ungarischen Hauptstadt befinden und gegensätzliche Geschichtsentwürfe präsentieren, verweist auf die Zerrissenheit der ungarischen Erinnerungskultur in dieser Phase. Das Holocaust-Gedenkzentrum entstand in Reaktion auf die internationale Kritik am Haus des Terrors. Dort wird Miklós Horthy, der Ungarn in der Zwischenkriegszeit zunehmend autoritär regierte, als Demokrat ver-

46 Brenner, Christiane: „Das ‚totalitäre Zeitalter‘? Demokratie und Diktatur in Tschechiens Erinnerungspolitik“, in: Osteuropa 6 (2008), S. 103–116, hier S. 104.

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klärt, im Holocaust-Gedenkzentrum als autoritärer Regent vorgestellt, der antisemitische Politik beförderte. Während das Haus des Terrors versucht, die Verantwortung für den Holocaust in Ungarn, sofern dieser überhaupt behandelt wird, zur Gänze den Nationalsozialisten und wenigen „ungarischen Nazis“, wie die Pfeilkreuzler dort bezeichnet werden, anzulasten, wird die ungarische Mitverantwortung für den Holocaust im anderen Museum schonungslos aufgearbeitet, bis hin zu ausnehmend seltenen visuellen Repräsentationen von der Bevölkerung als Täter – und sogar als Täterinnen. Abb. 1: Die beiden Gruppen und die Ausnahmen: „Anrufung Europas“ und Betonung „unseres“ Leids unter dem „Kommunismus“

N EUESTE E NTWICKLUNGEN Die drei baltischen Länder waren bis vor kurzem eindeutige Beispiele für den Fokus auf die sowjetischen Verbrechen und die Eindämmung der NSErinnerung, reagieren nun aber zeitverzögert auf die „Universalisierung des Holocaust“, inkludieren diesen also zusehends in ihre Ausstellungen und nehmen zum Teil die These vom „doppelten Genozid“ etwas zurück. Das Museum der Genozidopfer in Vilnius, das bis dahin radikalste Beispiel für die Ausblendung der NS-Zeit, eröffnete 2011 in einer Kellerzelle, in der sich die deutlichsten von Gestapo-Häftlingen hinterlassenen Spuren befinden, eine kleine Ausstellung über die NS-Besatzung und konservierte diese Spuren.47 Doch während die litauischen Opfer sowjetischen Terrors, insbesondere die nach Sibirien Deportierten sowie die Vertreter/innen des bewaffneten und unbewaffneten

47 L. Radonić: „From ‚Double Genocide‘ to ‚the New Jews‘“, S. 519 f.

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Widerstands, in den beiden oberen Museumsstockwerken mit viel Empathie, individuellen, berührenden Geschichten und Gegenständen sowie hunderten Privatfotos dargestellt werden, erscheinen die jüdischen Opfer im neuen Raum nicht individualisiert, sondern als anonyme Masse und entpersonalisiert in Zahlen. In diesem Museum hat der Raum mit seinem übergroßen Davidstern vor allem Signalwirkung und erweckt den Eindruck, nicht primär der Information und dem Gedenken zu dienen. 2015 wurde schließlich in einer weiteren Kellerzelle auch eine kleine Ausstellung über die Verfolgung litauischer Roma in der NS-Zeit hinzugefügt, was als ein weiteres Zugeständnis an internationale Trends gedeutet werden kann. Im Mai 2018 benannte sich das Museum zwar schließlich nach vielen Jahren der Kritik in Museum der Okkupationen und der Freiheitskämpfe um, was als Schritt in Richtung verbaler Abrüstung und Angleichung an die beiden nördlichen baltischen Nachbarn gedeutet werden kann. Doch das Museum bezeichnet sich bis heute trotzdem in vielen Texten unverändert selbst als „KGB-Museum“ und die NS-Zeit ist stark unterrepräsentiert. Der früher eindeutigste Vertreter des „containing Nazism“ in der Typologie verändert sich dennoch neuerdings unübersehbar. Das Museum der Okkupation Lettlands in Riga, das der NS-Zeit im Vergleich mit den anderen beiden baltischen Museen den meisten Raum bot, jedoch die Individualisierung der Opferschicksale ausschließlich „unseren“ Opfern aus der lettischen Mehrheitsbevölkerung vorbehielt, ist 2012 aus dem schwarzen Museumsgebäude ausgezogen. Eine weiße zweite Hälfte, das „Haus der Zukunft“ soll angebaut werden, verzögerte sich jedoch aufgrund der Wirtschaftskrise und von Konflikten zwischen der mehrheits-lettischen Geschichtserzählung und der von russischsprachigen Politiker/innen dominierten Stadtregierung Rigas. In der für 2020 geplanten Ausstellung bleibt die bereits zuvor ausgestellte Gulag-Baracke „als wichtigstes Erinnerungsmahnmal“48 im Zentrum der Ausstellung, aber auch der Holocaust wird Valters Nollendorfs zufolge nun ausführlicher beleuchtet. Im estnischen Fall des 2003 eröffneten Museums der Okkupationen in Tallinn fand bei Stiftungsführung wie Museumsführung ein Generationenwechsel statt. Folglich wurde das Museum 2016 in Vabamu, eine Abkürzung von Vabaduse Muuseum, was Freiheitsmuseum bedeutet, umbenannt. Konservative Kräfte kritisierten die Entfernung des Begriffs „Okkupation“ aus dem Museumsnamen als Selbstzensur und als Einknicken unter dem Druck Moskaus im

48 Nollendorfs, Valters: „Die Zukunft der Vergangenheit. Das Okkupationsmuseum in Riga wird (endlich) umgebaut“, in: Baltische Briefe 756 (2011), S. 1–4.

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Streit um die Deutungshoheit.49 Schließlich wurde das Museum deshalb noch einmal in Vabamu Museum of Occupations and Freedom umbenannt. Die 2018 eröffnete ständige Ausstellung setzt weiterhin die sowjetischen Deportationen und den Gulag mit den NS-Verbrechen gleich. Pääbo und Pettai kritisieren, dass die behauptete Gleichbehandlung der beiden „totalitären Regime“ durch das Raumdesign Lügen gestraft wird: Die interaktiven Teile sind in einen Tisch in Form eines fünfzackigen Sterns eingebettet und die gesamte Decke wird von einem übergroßen Stalin-Porträt bedeckt.50 Wie in Museen dieser Gruppe üblich wird auch hier wieder den sowjetischen Repressionen mehr Raum gegeben. Der Holocaust wird aber neuerdings anhand der Lebensgeschichte von Daisy Levin individualisiert dargestellt.51 Die Verfolgung von Roma wird nun erwähnt, doch wie bei den zuvor erörterten Beispielen erfolgt diese erste Inklusion von RomaOpfern nicht auf die gleiche individualisierende Weise wie bei den anderen Opfergruppen. Die größte Neuerung ist sicherlich, dass auch Kollaboration, sowohl mit den NS- als auch mit den sowjetischen Besatzern, kritisch thematisiert wird als etwas, das uns alle betreffen könnte. „How would you behave?“ fragt etwa der Audioguide. Waren die baltischen Museen vor der EU-Osterweiterung 2004 in unterschiedlichem Ausmaß, aber doch eindeutig Beispiele für die Eindämmung der Erinnerung an die NS-Besatzung und den Holocaust, so findet in diesen Institutionen in den letzten Jahren ein Wandel statt, der der „Universalisierung des Holocaust“ Rechnung trägt. Im Gegensatz dazu steuern in Ungarn seit 2010 die Fidesz und in Polen seit 2015 die PiS die Geschichtsdeutungen zunehmend aggressiv. Im Zuge des autoritären Backlashs und der Beschneidung demokratischer checks and balances koppeln sie einen nationalistischen Geschichtsrevisionismus mit autoritären Mitteln der Durchsetzung desselben. Auf den EU-Beitritt folgt hier mit einiger Verzögerung ferner ein anti-europäischer Diskurs, der in Ungarn auch mit einer Hinwendung

49 Kõresaar, Ene/Jõesalu, Kirsti: „Okupatsioonide muuseumist Vabamuks: nimetamispoliitika analüüs“, in: ERMi aastaraamat 60 (2017), S. 136–161. 50 Pääbo, Heiko/Peltai, Eva-Clarita: „A Museum of Memories: The New ‚Vabamu‘ in Tallinn“, http://www.cultures-of-history.uni-jena.de/exhibitions/estonia/a-museum-ofmemories-the-new-vabamu-in-tallinn/ vom 27.3.2019. 51 Kõresaar, Ene/Jõesalu, Kirsti: „From Museum as Memorial to Memory Museum: On the Transformation of the Estonian Museum of Occupations“, in: Constantin Iordachi/ Péter Apor (Hg.): Occupation and Communism in Eastern European Museums. ReVisualizing the Recent Past, London: Bloomsbury 2020 (in Vorbereitung).

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zu Russland einhergeht.52 Das Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest, welches sich schonungslos mit der ungarischen Mitverantwortung für den Holocaust auseinandersetzt, stellt sich daher heute als ein kritischer Stachel gegen den herrschenden Geschichtsrevisionismus, die Verklärung von Horthy als Demokraten und der Leugnung der ungarischen Mitverantwortung für den Holocaust dar. Nach Orbáns Wahlsieg 2010 wurde Direktor László Harsányi entlassen, 2014 zahlte dann das staatliche Museum für mehrere Monate keine Gehälter an die Mitarbeiter/innen aus, sodass viele Wissenschaftler/innen die Institution verlassen mussten. Konnte man in den 2000er Jahren in Bezug auf das Haus des Terrors und das Holocaust-Gedenkzentrum noch von einer gewissen Pluralität der Geschichtspolitik sprechen, einer Verklärung der „Wir“-Gemeinschaft vs. einer selbstkritischen Aufarbeitung, so verschiebt Fidesz seit 2010 die dominante Geschichtserzählung mit aller Kraft in Richtung des bereits aus dem Haus des Terrors bekannten nationalistischen Narrativs. So ließ die Fidesz-Regierung im ungarischen Holocaust-Gedenkjahr 2014 am Budapester Freiheitsplatz das „Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung“ errichten. Es zeigt den Erzengel Gabriel, der die kollektive ungarische Unschuld darstellt, wie er vom deutschen Reichsadler attackiert wird. Die Verantwortung Horthys für die vor seiner Absetzung erfolgte Deportation der ungarischen Jüdinnen und Juden wird somit gänzlich externalisiert und „Deutschland“ zugeschoben. 2014 wollte Fidesz ferner ein zweites Holocaust-Museums am JózsefvárosBahnhof, von wo aus 1944 die jüdische Bevölkerung der Budapester Vorstädte deportiert wurde, eröffnen. Der Name „Haus der Schicksale“ (Sorsok Háza) orientiert sich am Haus des Terrors. Mariá Schmidt, die Frontfrau der Fideszschen Geschichtspolitik, sollte Direktorin auch dieses Museums werden, das vor allem jüdischer Kinder gedenken soll sowie „die Herzen der Besucher berühren, vor allem die der jungen Menschen. Die Tragödie des Holocausts muss für sie, die in der glücklichen Lage sind, Bürger eines freien demokratischen Landes zu sein, nacherlebbar werden,“ so Schmidt.53 Die Holocaust-Erinnerung soll also den demokratischen Charakter des ungarischen politischen Systems zu Zeiten des autoritären Backlashs unterstreichen. Der zweite Fokus sollen diejenigen Ungar/innen sein, die Jüdinnen und Juden gerettet haben. Diese Verschiebung vom Gedenken an die Opfer auf die Ehrung der „Judenretter“ ist auch im polnischen

52 Rév, István: „Liberty Square, Budapest: How Hungary won World War II“, in: Journal of Genocide Research 4 (2018), S. 607–623, hier S. 608. 53 Verseck, Keno: „Budapester Versprechungen“, in: Jüdische Allgemeine vom 24.10.2013.

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Fall zu beobachten (Ulma Family Museum of Poles Who Saved Jews in World War II in Markowa; Gedenkkapelle für „Judenretter“ in Toruń). Schmidt plant für das Budapester „Haus der Schicksale“ explizit eine „story of love between Hungarian Jews and non-Jews.“54 Wie schon in der kleinen NS-Ausstellung im Museum der Genozidopfer in Vilnius fällt auch hier an der Fassade der überdimensionale Davidstern auf. Beide Museen tragen damit der „Universalisierung“ und „Europäisierung des Holocaust“ Rechnung, ohne dass dabei die individuellen Holocaust-Opfer selbst im Fokus liegen. Dieses zweite Budapester Holocaust-Museum konnte allerdings bis heute nicht eröffnet werden, da die jüdische Gemeinde und internationale Kritiker/innen Schmidts Geschichtsrevisionismus öffentlich machten. Neuerdings unterstützt aber die kleine orthodoxe jüdische Gemeinde EMIH das Fideszsche Museumsprojekt, sodass es vielleicht doch demnächst umgesetzt werden kann.55 Dies gibt eine Ahnung von den Drahtseilakten, die eine Minderheit vollführen muss in einem Land, gegen das das EU-Parlament 2018 ein Verfahren nach Artikel 7 eröffnete, weil die Regierung Orbán durch ihr Handeln die Grundwerte der EU-Verträge verletze. Die Politik der in Polen seit 2015 erneut regierenden PiS geht in vielerlei Hinsicht in eine ähnliche Richtung, wie Monika Heinemann und Daniel Logemann in diesem Band ausführen. Bei der Umgestaltung der Museumslandschaft ließ sich die PiS weniger durch internationale Proteste stören als Fidesz in Ungarn. Das Museum des Warschauer Aufstands und das Haus des Terrors haben ihre Dauerausstellungen seit ihrer Eröffnung nicht verändert. Doch während die beiden Museen zuvor den nationalistischen Pol in der pluralen Museumslandschaft des jeweiligen Landes bildeten, verengt sich heute die Geschichtspolitik der beiden Länder auf das dominante Narrativ der beiden Institutionen. Alle analysierten Länder betreiben selbstredend Geschichtspolitik, verwenden Geschichte also für die identitätsstiftenden Bedürfnisse der Gegenwart. Doch während die baltischen Staaten, allen voran Litauen, als Extrembeispiele für Geschichtsklitterung galten, weisen die neuesten Entwicklungen in eine zunehmend an internationalen Trends orientierte Richtung. Im Gegensatz dazu gehen in Polen und Ungarn Geschichtsrevisionismus und seine autoritäre, zunehmend undemokratische Umsetzung Hand in Hand. Eine politische Wende ist dort derzeit nicht in Sicht, eher drohen andere Länder wie Kroatien ihrem Bei-

54 Schmidt, Mária: „A Love Story“, http://hungarianglobe.mandiner.hu/cikk/20141003_ schmidt_maria_a_love_story vom 3.10.2014. 55 Hungarian Spectrum: „Will Orbán retreat on two key issues: CEU and the House of Fates?“, http://hungarianspectrum.org/tag/house-of-fates/ vom 3.1.2019.

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spiel zu folgen wie es sich 2016 bereits für ein halbes Jahr vor dem Sturz der HDZ-Regierung von Tihomir Orešković angedeutet hatte, der einem Ustašaverklärenden Kulturminister die Verantwortung für Jasenovac übertragen hatte.

L ITERATUR Ahonen, Heiki: „Das Estnische Museum der Okkupationen: Ein Überblick über seine Arbeit“, in: Forschungen zur baltischen Geschichte 3 (2008), S. 233– 238. Ahonen, Heiki: „Wie gründet man ein Museum? Zur Entstehungsgeschichte des Museum der Okkupationen in Tallinn“, in: Volkhard Knigge/Ulrich Mählert (Hg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln: Böhlau 2005, S. 107–116. Blume, Rebekka: Das lettische Okkupationsmuseum. Das Geschichtsbild des Museums im Kontext der Diskussionen über die Okkupationszeit in der lettischen Öffentlichkeit, Bremen: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen 2007. Brenner, Christiane: „Das ‚totalitäre Zeitalter‘? Demokratie und Diktatur in Tschechiens Erinnerungspolitik“, in: Osteuropa 6 (2008), S. 103–116. Fritz, Regina/Wezel, Katja: „Konkurrenz der Erinnerungen? Museale Darstellung von diktatorischen Erfahrungen in Ungarn und Lettland“, in: Katrin Hammerstein/Ulrich Mählert/Julie Trappe/Edgar Wolfrum (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung?, Göttingen: Wallstein Verlag 2009, S. 233–247. Hungarian Spectrum: „Will Orbán retreat on two key issues: CEU and the House of Fates?“, http://hungarianspectrum.org/tag/house-of-fates/ vom 3.1.2019. Jančar, Drago: „Čemu ta razstava ali: kaj je na temni strani meseca?“, in: Ders. (Hg.): Temna stran meseca: kratka zgodovina totalitarizma v Sloveniji 1945– 1990: razstava v Muzeju novejše zgodovine, Ljubljana: Muzej novejše zgodovine 1998, S. 5–8. Jančar, Drago: „Temna strana meseca“, in: Ders. (Hg.): Temna stran meseca: kratka zgodovina totalitarizma v Sloveniji 1945–1990: razstava v Muzeju novejše zgodovine, Ljubljana: Muzej novejše zgodovine 1998, S. 26–27. Jovičić, Nataša: „Jasenovac Memorial Museum’s Permanent Exhibition – The Victim as Individual“, in: Review of Croatian History 1 (2006), S. 295–299. Kalčić, Silva: „Vizualna kultura. Memoriranje zločina“, http://www.zarez.hr/ 204/z_vizualna.htm, von 2007.

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Der Kampf um das „moderne“ Museum – Zeitgeschichte im polnischen Museumsboom M ONIKA H EINEMANN

Geschichtsmuseen sind in Polen das erinnerungskulturelle Medium der Stunde. In keinem anderen Land des östlichen Europa ist eine derartige Fülle an musealen Neugründungen und Neukonzeptionen historischer Schauen zu beobachten. Dieser Boom hält seit nunmehr anderthalb Jahrzehnten an und ein Ende ist gegenwärtig nicht in Sicht. Einher geht dieser Prozess mit einer wachsenden Selbstreflexion der Museumspraktiker, mit neuen Herangehensweisen an und einem neuen Selbstverständnis ihrer Arbeit.1 So werden zunehmend grundsätzliche Fragen um die Ziele und Aufgaben der Institution Museum ebenso wie die Inhalte und Deutungen diskutiert, die es vermittelt bzw. vermitteln soll. Der Austausch findet dabei sowohl im Kreis von Museumspraktikern und den wenigen polnischen Museumtheoretikern als auch unter Teilnahme zahlreicher an der Thematik interessierter Historiker, Soziologen und Anthropologen statt. 2 In den

1

Ausdruck des gestiegenen fachinternen Bedürfnisses nach theoretischer wie methodischer Reflexion war etwa der erste Kongress Polnischer Museologen, der vom 23. bis zum 25. April 2015 in Łódź stattfand. Siehe seine Dokumentation: http://kongres muzealnikow.pl (am 10.1.2016); Muzealnictwo 56 (2015), S. 87–147.

2

Beispielhaft seien an dieser Stelle nur einige Bände erwähnt, die aus Konferenzen der vergangenen Jahre hervorgegangen sind: Popczyk, Maria (Hg.): Muzeum sztuki. Od Luwru do Bilbao [Das Kunstmuseum. Vom Louvre bis Bilbao], Katowice: Muzeum Śląskie 2006; Fabiszak, Małgorzata/Owsiński, Marcin (Hg.): Obóz – muzeum. Trauma we współczesnym muzealnictwie [Lager – Museum. Traumata im gegenwärtigen

Ausstellungswesen],

Kraków:

Universitas

2013;

Kostro,

Robert/Wóycicki, Kazimierz/Wysocki, Michał (Hg.): Historia Polski od-nowa. Nowe narracje historii i muzealne reprezentacje przeszłości [Polnische Geschichte von Neu-

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letzten Jahren gewinnen schließlich zunehmend aggressive Versuche der Einflussnahme seitens politischer Akteure in diesen Auseinandersetzungen eine neue Bedeutung. Im Folgenden werden die Aushandlungsprozesse um ein neues, im normativen Sinne „modernes“ Verständnis des historischen Museums in Polen seit 2004 nachvollzogen – Debatten, die sich insbesondere an zeitgeschichtlichen Museums- und Ausstellungsprojekten entzünden.

D ER T RIUMPH DER F ORM – DIE „ NARRATIVE A USSTELLUNG “ Auslöser der Entwicklung, die heute als Boom des polnischen historischen Museumswesens wahrgenommen wird, war der Erfolg des Museums des Warschauer Aufstands (Muzeum Powstania Warszawskiego, MPW). Seine Dauerausstellung stellt die Geschichte und Erinnerungsgeschichte des größten polnischen Aufstands während des Zweiten Weltkrieges dar, des zweimonatigen Kampfs der polnischen Widerstandsorganisation „Heimatarmee“ (Armia Krajowa) gegen die deutschen Besatzer in Warschau 1944. Die Eröffnung dieses städtischen Museums im Jahr 2004 wurde vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen. Innerhalb kürzester Zeit avancierte es zu einem der beliebtesten Geschichtsmuseen des Landes, mit gegenwärtig 500.000 bis 600.000 Besuchern pro Jahr. Begeistert waren die Besucher vor allem von der gestalterischen Aufmachung der Dauerausstellung, die mit umfassenden szenografischen Arrangements sowie zahlreichen multimedialen Elementen arbeitet. Man betritt dort scheinbar eine andere Welt; Pflastersteine auf dem Boden, gedimmtes, sich an vermeintlichen Hausfassaden brechendes Licht, Geräusche von Bombenabwürfen, Befehlen, Aufstandsliedern empfangen die Besucher. An unzähligen Bildschirmen finden sich Zusammenschnitte von Zeitzeugeninterviews und historischen Filmschauen. Zahlreiche Ausstellungselemente können berührt, geöffnet oder begangen werden.3

em/Erneuerung. Neue historische Narrationen und museale Geschichtsrepräsentationen], Warszawa: Muzeum Historii Polski 2014. Einen wesentlichen Debattenbeitrag stellte auch dar: Piotrowski, Piotr: Muzeum krytyczne [Das kritische Museum], Poznań: Rebis 2011. 3

Für eine kurze Darstellung der Museumsgeschichte und seiner Dauerausstellung siehe Heinemann, Monika: „Das Museum des Warschauer Aufstands“, in: Zeitgeschichteonline, www.zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/das-museum-des-warschaueraufstands vom Juli 2014.

D ER K AMPF

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Diese Schau stellte damit ein vollkommen neues Museumserlebnis her, das sich diametral unterschied von den bis dato üblichen Glasvitrinen, Wandzeitungen oder im besten Fall zweidimensionalen Schautafeln. Langeweile war die erste Assoziation, die zuvor das Stichwort „Geschichtsmuseum“ bei den meisten Besuchern auslöste; Spannung, Spaß und Unterhaltung brachte – zumindest gefühlt – erstmalig das MPW ein. Dieses Museum wurde damit zur Verkörperung des Begriffs, der seit Mitte der 2000er Jahre in Polen sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in der breiten Publizistik zum Synonym für „Modernität“ im Bereich von Geschichtsmuseen avancierte: der „narrativen Ausstellung“ bzw. des „narrativen Museums“. Eine einheitliche Definition oder auch nur konkretere Vorstellungen von den Inhalten dieses Terminus existierten dabei meist nicht. Er wurde primär zur Abgrenzung von älteren Ausstellungen und deren objektzentrierter Präsentationsweise verwendet, die als langweilig, konservativ und rückwärtsgewandt wahrgenommen wurden. Verbunden wurde und wird mit dem Schlagwort „narrative Ausstellung“ in erster Linie eine szenografische und multimediale Präsentationsweise, die den Besuchern ein spannendes Erlebnis bietet. Damit verweist der Erfolg des Ausdrucks prägnant auf den Zustand der polnischen musealen Debatte im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts: Die Form stand im Vordergrund, Inhalte traten dahinter noch meist zurück. Eine in diesem Sinne „moderne“ Ausstellungsgestaltung wurde vom Publikum bis in die jüngste Zeit als Garant einer innovativen historischen Erzählung angesehen bzw. mit einem „modernen“ Museum gleichgesetzt. Ursprünglich geht der Begriff „narrative museum“ auf Yeshajahu Weinberg zurück, der ihn in seiner Beschreibung des Konzepts des United States Holocaust Memorial Museums von 1993 prägte.4 Angewandt hatte er den Ansatz bereits zuvor auf das von ihm konzipierte Beit Hatfutsot (Museum of the Jewish People) in Tel Aviv, das 1978 eröffnete. Ausgangspunkt einer narrativen Ausstellung ist ihm zufolge nicht eine existierende Sammlung, sondern ein stringent durchdachtes Narrativ. Erst im nächsten Schritt folgt die Überlegung, mit welchen Objekten oder auch anderen Ausdrucksmitteln dieses museal umgesetzt werden kann. Entscheidend ist dabei, dass für Weinberg sowohl der Einsatz von Originalen als auch Kopien und inszenatorischen Arrangements möglich war, wie die diesbezüglich sehr unterschiedlichen Zugänge der beiden von ihm verantworteten Präsentationen verdeutlichen. Zudem sei Ziel dieses Ausstellungstyps, die Besucher emotional zu berühren und bei ihnen eine Identifikation mit

4

Weinberg, Jeshajahu/Elieli, Rina: The Holocaust Museum in Washington, New York: Rizzoli 1995, S. 49.

244 | M ONIKA H EINEMANN

den präsentierten Ereignissen und Protagonisten hervorzurufen. Der Ausstellungsbesuch solle somit sowohl eine intellektuelle als auch eine emotionale Kontemplation des Gezeigten umfassen.5 Auf diese konzeptionellen Ursprünge beziehen sich jedoch bislang nur einzelne polnische Museumspraktiker, allen voran die Verantwortlichen des Museums der Geschichte der Polnischen Juden POLIN (Muzeum Historii Żydów Polskich POLIN).6 In den folgenden Jahren entwickelten sich „narrative Ausstellungen“ in ihrem spezifisch polnischen Verständnis zum state of the art des Museumswesens in Polen, der hohe Besucherzahlen garantiert – unabhängig von der jeweiligen inhaltlichen und interpretatorischen Ausrichtung. Zunehmend wurden jedoch auch kritische Stimmen laut, die die szenografischen Ausstellungsarrangements als übermäßig didaktisiert empfanden und eine Überwältigung der Besucher mit verschiedensten Sinneseindrücken durch diese Art der Gestaltung beklagten. In Bezug auf die neue Dauerausstellung des Historischen Museums der Stadt Krakau in der sogenannten Schindler-Fabrik, die 2010 eröffnet wurde, kritisierte etwa eine Kommentatorin: „Was meinen Protest hervorruft, ist die Infantilisierung des Betrachters. […] das Problem liegt darin, dass die Intensität der visuellen und Geräuscheffekte derart groß ist, dass dort kein Platz ist für eigene Gedanken.“7 Zunehmend kritisch wird auch der Umgang mit Objekten in den szenografischen Arrangements gewertet, da für die Besucher oft nicht mehr erkennbar ist, ob es sich bei den verwendeten Materialien um Originale oder Kopien handelt; fraglich scheint sogar, inwieweit originale Exponate für diese neuen Ausstellungen überhaupt von Bedeutung sind. Selbst Schauen, die auch das Fachpublikum inhaltlich begeisterten, wie die Ende 2014 eröffnete Dauerausstellung von POLIN, wurden für die geringe Zahl der gezeigten authentischen Objekte kritisiert.8 Befürchtet wird, dass die Spezifik und das Alleinstellungsmerkmal des

5

Ebd.

6

Kirshenblatt-Gimblett, Barbara: „Theater of History“, in: Museum of the History of the Polish Jews (Hg.): Polin. 1000 Year History of Polish Jews, Warsaw: Museum of the History of the Polish Jews 2014, S. 19–35, hier S. 30, 34. Yeshajahu Weinberg gehörte seit 1994 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 in leitender Funktion zum Team, das das Warschauer Museumsprojekt entwickelte.

7

Jarecka, Dorota: „Nowe muzeum w Krakowie. W potrzasku wojny“ [Das neue Museum in Krakau. In den Wirren des Krieges], in: Gazeta Wyborcza, www.wyborcza.pl vom 25.6.2010. Alle Übersetzungen aus dem Polnischen stammen von der Autorin.

8

Szpakowska, Małgorzata: „O Muzeum Historii Żydów Polskich“ [Zum Museum der Geschichte der Polnischen Juden], in: Zagłada Żydów. Studia i Materiały 11 (2015),

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Mediums Museum, nämlich der Zugang zu und der Umgang mit authentischen Relikten der Vergangenheit, verloren geht.9 Nicht zuletzt wird auch die Gefahr der schnellen Veraltung dieser Schauen durch den rasanten technischen Fortschritt im Bereich audiovisueller Gestaltungsmittel gesehen.10 Diese Debatten führen allmählich zu einem Gegentrend. Ausstellungen sind entstanden, die bewusst die Sammlung ihrer Häuser ins Zentrum stellen und den Einsatz digitaler und audiovisueller Mittel bewusst beschränken. Das prominenteste jüngste Beispiel dieses Ansatzes ist die 2017/2018 neu eröffnete, vollständig neu konzipierte Dauerausstellung des Stadtmuseums von Warschau (Muzeum Warszawy). Nicht nur sind dort authentische Artefakte die zentralen Ausstellungsgegenstände, auch hat man auf ein chronologisches und thematisches Narrativ verzichtet. Gruppiert sind die Objekte nach sachlichen Kriterien – Portraitmalerei, Silberzeug, Skulpturen, Fotografie u.ä. Artefakte aus unterschiedlichen Jahrhunderten, Kontexten, Stilrichtungen stehen nebeneinander. Auch einordnende Kuratorentexte sind auf ein Minimum beschränkt. Diese Präsentationsweise soll die Besucher zu eigenen Fragen, eigenen Entdeckungen und Interpretationen einladen, ihnen immer wieder überraschende Perspektiven eröffnen.11

S. 753–759, v.a. S. 753; Cieślińska-Lobkowicz, Nawojka: „Żydowska Biblia pauperum“ [Eine jüdische Biblia Pauperum], in: Zagłada Żydów. Studia i Materiały 11 (2015), S. 743–752, hier S. 744 f., 747. 9

Link-Lenczowska, Magdalena: „Śmierć w nowych dekoracjach“ [Der Tod im neuen Gewand], in: Herito 1 (2010), S. 104–117, hier S. 116 f.; Bogumił, Zuzanna: „Miejsce pamięci versus symulacja przeszłości – druga wojna światowa na wystawach historycznych“ [Gedenkort versus Simulation der Vergangenheit – Der Zweite Weltkrieg in historischen Ausstellungen], in: Kultura i Społeczeństwo 4 (2011), S. 149–170, hier S. 154 f.; Rottermund, Andrzej: „Muzea – Perspektywy“ [Museen – Perspektiven], in: Muzealnictwo 56 (2015), S. 15–27, hier S. 17.

10 Górajec, Piotr: „Po co nam te multimedia?“ [Wozu brauchen wir diese Multimedien?], in: Muzealnictwo 55 (2014), S. 198–201. 11 Urbaniak, Mike: „Jarosław Trybuś, wicedyrektor Muzeum Warszawy: Nie zaśmiecamy naszej wystawy multimediami“ [Jarosław Trybuś, stellvertretender Direktor des Museums von Warschau: Wir müllen unsere Ausstellung nicht mit Multimedien zu], in: Gazeta Wyborcza, http://weekend.gazeta.pl/weekend/1,152121,22016871,jaroslaw -trybus-wicedyrektor-muzeum-warszawy-nie-zasmiecamy.html vom 14.3.2019.

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N EUVERHANDLUNGEN „ POLNISCHER “ G ESCHICHTE Ein zweites Diskussionsfeld, das mit den „narrativen Ausstellungen“ eröffnet wurde und im aktuellen Jahrzehnt zunehmend in den Fokus der Debatten rückte, betrifft die Frage der Inhalte musealer Geschichtsvermittlung. Hierbei muss zunächst angemerkt werden, dass bis Ende des 20. Jahrhunderts unter den Museumspraktikern des Landes ein positivistisches Geschichtsverständnis dominierte, der Konstruktcharakter auch musealer Ausstellungsnarrative inzwischen jedoch im Verständnis der eigenen Arbeit weitgehend angekommen ist. Die Diskussionen der letzten Jahre kreisen daher um die Frage, welche „Wahrheiten“ bzw. welche Inhalte und Perspektiven präsentiert werden sollen, welches Wissen also für die Formierung des individuellen und gesellschaftlichen Selbstbildes der Gegenwart als notwendig erachtet wird. Verhandelt wird dabei in erster Linie, was und damit auch wer als Teil der polnischen Vergangenheit zu gelten habe12 – mit dem Ergebnis eines inzwischen sehr ausdifferenzierten Deutungsangebots. Dies betrifft zunächst die Frage nach der Definition der Wir-Gemeinschaft, die Protagonist aber auch Zielgruppe der präsentierten historischen Erzählungen ist. Die immer größere Bandbreite an Perspektiven changiert dabei zwischen zwei Polen: Der eine wird markiert von Schauen, die auf einer exklusiven ethnisch-nationalen Definition dessen basieren, was als „polnische Geschichte“ verstanden wird. Im Zentrum steht in diesen Präsentationen die ethnisch polnische, christliche bzw. katholische Bevölkerung; Minderheiten bleiben meist außen vor. Den anderen Pol bilden Ausstellungen, denen ein integratives staatsbürgerliches Verständnis polnischer Geschichte und Gemeinschaft zugrunde liegt, in der verschiedene religiöse und ethnische Gruppen als gleichberechtigte Elemente der lokalen oder regionalen Geschichte in Erscheinung treten. Einen zweiten, damit eng verbundenen Aspekt stellt der Bezugsrahmen der musealen Erzählungen dar: Viele Präsentationen bewegen sich noch immer implizit in dem übergreifenden narrativen Rahmen einer ethnisch-polnischen Nationalgeschichte, auch wenn sie den Anspruch artikulieren, primär eine regionale oder lokale Geschichte darzustellen. Erst wenige Ausstellungen bemühen sich darum, ihre Stadt oder Region dergestalt in den Mittelpunkt zu rücken, dass sie ihre Geschichte auch in unterschiedlichen historischen Staatszusammenhängen

12 Exemplarisch: Cichocka, Lena et al. (Hg.): Polityka historyczna. Historycy – politycy – prasa [Geschichtspolitik. Historiker – Politiker – Presse], Warszawa: Muzeum Powstania Warszawskiego 2005; R. Kostro/K. Wóycicki/M. Wysocki (Hg.): „Historia Polski od-nowa“.

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beleuchten und dabei etwa auch die multinationale Zusammensetzung der Bevölkerung in verschiedenen Perioden berücksichtigen. Ein dritter Aspekt, der in den Schauen der jüngsten Zeit verhandelt wird, ist die Frage des Umgangs mit bisherigen Tabuthemen. Hierbei tritt besonders deutlich der Unterschied zwischen der „kritischen“ und „affirmativen“ Geschichte zu Tage – Schlagworten, die im Kontext einer Anfang des Jahrhunderts entbrannten Debatte um die Ausrichtung und Inhalte staatlicher Geschichtspolitik in Polen aufkamen.13 Museumsmacher, die der erstgenannten Position eines sogenannten kritischen Patriotismus nahestehen, fordern in ihren Schauen die Besucher mit verschiedenen, darunter widerstreitenden Perspektiven auf historische Ereignisse und Situationen heraus und benennen auch negative Aspekte polnischer Geschichte offen, beispielsweise in Bezug auf die polnisch-jüdischen Kontakte während des Zweiten Weltkrieges. Andere Museen hingegen sparen solche Inhalte nach wie vor fast vollständig aus und entwerfen eine apologetische, heroisch-martyrologische Vision polnischer Vergangenheit mit dem Ziel der Stärkung eines ausschließlich positiven Selbstbildes der Nation. Beispielhaft soll diese Ausdifferenzierung des Deutungsangebots anhand dreier Schauen skizziert werden, die landesweite Wahrnehmung erfahren haben und wesentliche Referenzpunkte der polnischen musealen Debatten bilden: die Dauerausstellungen des Warschauer Aufstandsmuseums (2004), des Stadthistorischen Museums von Krakau in der ehemaligen Emaillewarenfabrik Oskar Schindlers (2010) sowie die Originalfassung der Dauerausstellung des Museums des Zweiten Weltkrieges (Muzeum II Wojny Światowej, MIIWŚ) in Gdańsk vom März 2017.14 Die zentralen Protagonisten der Präsentation des MPW sind die Aufständischen des Jahres 1944, auch wenn die Erzählung vom Kriegsbeginn 1939 bis zur

13 Zur Debatte siehe Steffen, Katrin: „Ambivalenzen des affirmativen Patriotismus. Geschichtspolitik in Polen“, in: Osteuropa 11–12 (2006), S. 219–233; Wolff-Powęska, Anna: „Polskie spory o historię i pamięć. Polityka historyczna“, in: Przegląd zachodni 1 (2007), S. 3–44, hier S. 24–33; Michlic, Joanna Beata: Poland’s Threatening Other. The Image of the Jew from 1880 to the Present, Lincoln/London: University of Nebraska Press 2006, S. 1–23; Nijakowski, Lech M.: Polska polityka pamięci. Esej socjologiczny, Warszawa: Wydawnictwa Akademickie i Profesjonalne 2008, S. 190 ff. 14 Ausführliche Analysen der drei Präsentation finden sich bei: Heinemann, Monika: Krieg und Kriegserinnerung im Museum. Der Zweite Weltkrieg in polnischen historischen Ausstellungen seit den 1980er Jahren, Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2017.

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Überwindung der Kriegsfolgen in der Dritten Republik reicht, wozu die Museumseröffnung 2004 selbst gezählt wird. Sie begegnen den Besuchern in zahlreichen Video- und Audiomitschnitten von Zeitzeugeninterviews; einzelne Schicksale von Aufständischen werden zudem in Form kurzer schriftlicher Biogramme vorgestellt. Bei den derart Porträtierten handelt es sich sämtlich um Personen, die sich während der Kämpfe durch besonderen Mut und Opferbereitschaft hervortaten. Die Interviewten berichten zudem fast ausnahmslos von positiven Situationen, wie etwa der Begeisterung beim Ausbruch der Kämpfe, den Kampfaktionen, an denen sie beteiligt waren, oder von der Hilfe von Landsleuten, die ihnen das Leben rettete. Daneben wird auch auf den Alltag in der umkämpften Stadt eingegangen; einzelne Sektionen sind der Versorgungslage oder der Religiösität während des Aufstands gewidmet; sie werden von den Ausstellungsmachern als Beispiele für das umfassende Bild der Erhebung mit ihren verschiedenen Facetten betrachtet. Auffällig ist jedoch, dass diese und weitere Aspekte des Alltags der Besatzung und der Kämpfe ausschließlich am Beispiel der aktiven Kämpfer geschildert werden. Die Fotos zeigen überwiegend Aufständische, die zudem meist gelöst und freundlich in die Kameras der Fotografen blicken, die als Teil der offiziellen Strukturen der Heimatarmee auf ihrer Seite der Barrikaden kämpften. Zivilisten, mithin die Mehrheit der Warschauer Bevölkerung, treten dagegen nicht als Protagonisten der Ereignisse in Erscheinung. Es sind die Aufständischen, die stellvertretend für die Bevölkerung des besetzten Landes und der widerständigen Stadt stehen. Auch werden fast allein positive Verhaltensweisen illustriert: Der Zusammenhalt, der Mut und die Begeisterung der Aufständischen stehen im Fokus. Resignation, Angst und Verzweiflung, gar der Wunsch vieler Warschauer spätestens im zweiten Monat der Kämpfe, zu kapitulieren, wie auch ihre Wut auf die Aufständischen werden nicht erwähnt,15 um nur einige inhaltliche Auslassungen und Vereinfachungen des präsentierten Narrativs zu nennen. Kennzeichnend für die dem Ausstellungsrundgang inhärenten normativen Vorgaben ist auch der stark wertende Sprachgebrauch der Kuratorentexte. In Bezug auf die zwei zentralen Feindbilder der Schau – die deutschen Besatzer sowie die Sowjetunion als zweiter Angreifer Polens, als militärische Macht, die die Unterstützung des Aufstands verweigerte und damit das Massensterben in der Stadt zuließ, sowie als Besatzer, der das polnische Nachkriegsschicksal bis 1989 bestimmte – wird dies besonders deutlich. So ist etwa die großformatige Fotografie einer Gruppe lachender Kinder in einer Straßenbahn, auf der deutlich sichtbar

15 Siehe Borodziej, Włodzimierz: Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2004.

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ein Schild mit der Aufschrift „Nur für Deutsche“ angebracht ist, mit dem Kommentar versehen: „Die Aufschrift ‚nur für Deutsche‘ verbessert das Wohlbefinden der reisenden Jugendlichen“.16 An anderer Stelle wird der politische Führer der Sowjetunion mit den Worten vorgestellt: „Die sowjetische Inkarnation des Bösen – Stalin“.17 Das Museum zeigt den Aufstand letztendlich als moralischen Sieg Polens, hinter dem die militärische Niederlage und ihre dramatischen Auswirkungen in den Hintergrund treten. Dies hat etwa zur Folge, dass gerade junge Besucher nicht immer realisieren, dass der Aufstand verloren ging, mit enormen Opferzahlen vor allem unter der Zivilbevölkerung.18 Die Krakauer Präsentation in der sogenannten Schindler-Fabrik hingegen, die der Geschichte der Stadt während der deutschen Besatzung der Jahre 1939– 1945 gewidmet ist, vertritt eine deutlich entgegengesetzte Perspektive auf die Kriegsereignisse, so auch bei der Wahl ihrer zentralen Protagonisten. Die zivilen Einwohner – und zwar sowohl polnische als auch jüdische Krakauer – stehen im Zentrum der Erzählung; ihre Erfahrungen verfolgen die Besucher im Verlauf des gesamten Rundgangs. Die aktiven Widerstandskämpfer und die von unmittelbarer Besatzungsgewalt Betroffenen polnischen Krakauer, die bis dato in Schauen zum Weltkrieg dominierten, aber nur einen relativ kleinen Anteil der Stadtbewohner ausmachten, stehen dagegen im Hintergrund, auch wenn ihre Erfahrungen an mehreren Stellen beleuchtet werden. Fotografien zeigen überwiegend Alltagssituationen, wie die Beschaffung von Lebensmitteln und den legalen und illegalen Handel. Einfache Krakauer berichten in Videomitschnitten von Interviews oder in Form schriftlicher Zitate von ihren täglichen Erfahrungen. In diesen werden die Besucher mit unterschiedlichen, auch überraschenden Perspektiven konfrontiert. So schildern etwa die Zeitzeugenberichte in der Sektion zum Ghetto das Nebeneinander von tiefer Verzweiflung, Erniedrigungen durch Deutsche und ethnische Polen, aber auch Lebenslust und wilden Feiern. An anderer Stelle werden mittels solcher Zitate detailliert die Gefahren geschildert, die von polnischen Krakauern für Juden ausgingen, die sich auf der sogenannten ari-

16 Sektion „Die Deutschen in Warschau“. 17 Sektion „Treffen im Kreml“. 18 Interview mit Karol Mazur, dem Leiter der museumspädagogischen Abteilung des MPW, am 25. Juni 2009. Siehe auch M. Heinemann: Krieg und Kriegserinnerung, S. 394 f. 90 Prozent der geschätzten 150.000–180.000 Toten des Aufstands waren Zivilisten; die verbliebenen Einwohner wurden in deutsche Lager deportiert. Die Stadt wurde im Anschluss von deutschen Truppen systematisch zerstört. Borodziej, Włodzimierz: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck 2010, S. 250.

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schen Seite der Stadt versteckten – ein Thema, das sich bis dato in Dauerausstellungen polnischer Museen nicht fand. Neu zum Zeitpunkt der Ausstellungseröffnung war auch die Thematisierung der deutschen Besatzer. Terror und Gewalt gegen die jüdischen und nichtjüdischen Stadtbewohner stehen selbstverständlich im Vordergrund, daneben kommt jedoch auch der zivile Alltag der deutschen Bevölkerung zur Sprache, mithin ihre menschliche Seite. Fotografien zeigen etwa Schulkinder oder BDM-Veranstaltungen. Auch werden ambivalente und bislang tabuisierte Elemente des Besatzungsalltags benannt, wie der Austausch zwischen polnischer Bevölkerung und Wehrmachtsangehörigen beim florierenden Schwarzmarkt. Wertungen der geschilderten Ereignisse bleiben dabei weitgehend den Besuchern überlassen,19 denn normative Kommentare zum Dargestellten stammen allein aus – deutlich als solchen markierten – Zeitzeugenberichten. Eine weitere neue Qualität der musealen Darstellung des Krieges brachte schließlich das MIIWŚ in Gdańsk ein, das als erstes Museum des Landes nicht nur eine gesamtstaatliche Darstellung der Jahre 1939–1945 vornimmt, sondern diese auch in eine europäische Gesamtschau der Kampfhandlungen und Okkupationen einbettet, mit zahlreichen Bezügen zu außereuropäischen Kriegsereignissen. Chronologisch reicht sie von den Vorläufern des Krieges in der Zwischenkriegszeit bis zur Überwindung seiner langjährigen Folgen 1989 und sogar bis in die jüngste Gegenwart. Seit dem Austausch der Direktion Anfang April 2017 wurden zahlreiche Veränderungen in der Originalschau vorgenommen.20 Hier soll jedoch auf die originale Konzeption und Umsetzung der Präsentation eingegangen werden. Zu den zentralen Ansätzen der Ausstellungserzählung gehört auch hier, ähnlich wie in Krakau, der Fokus auf den Alltag des Kriegs und der Besatzungen in seinen vielfältigen Facetten, mithin stehen die Erlebnisse und Perspektiven der breiten Masse der Gesellschaften im Zentrum. Selbst bei der Thematisierung militärischer Zusammenhänge liegt der Fokus auf Alltagserfahrungen – diesmal derjenigen von Soldaten. So wird etwa auf ihre Verpflegung und Ausrüstung, den Umgang mit der Langeweile zwischen den Kampfhandlungen, Erfahrungen von Verwundung und Kriegsgefangenschaft eingegangen. Die Darstellung dieser Aspekte erfolgt dabei armee- und länderübergreifend, und das sowohl anhand

19 Erst in der allerletzten Sektion der Schau wird von diesem Konzept abgewichen. Siehe M. Heinemann: Krieg und Kriegserinnerung, S. 259–267. 20 Einen intensiven Eindruck von der ursprünglichen Konzeption und Umsetzung der Schau bietet der Katalog: Wnuk, Rafał et al.: Katalog wystawy głównej [Katalog der Dauerausstellung], Gdańsk: Muzeum II Wojny Światowej 2016.

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von Beispielen aus den besetzten und alliierten als auch der mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündeten Staaten. Einerseits werden mittels dieser Strategie, die die gesamte Schau durchzieht, Gemeinsamkeiten von Erfahrungen der Kriegsjahre über Ländergrenzen hinweg kenntlich gemacht. Aufgezeigt werden jedoch andererseits ebenso die Unterschiede in den Besatzungserfahrungen einzelner Staaten und Nationalitäten. Deutlich wird etwa die unterschiedliche Härte der Besatzungsregime in West- und Osteuropa. Weiterhin bemerkenswert ist die Definition der polnischen Wir-Gemeinschaft, wie sie die Ausstellung zeichnet. Diese wird staatsbürgerlich-inklusiv gefasst; die jüdische Bevölkerung wie auch weitere ethnische Minderheiten der Zweiten Republik werden als Teil der polnischen staatlichen Gemeinschaft thematisiert.21 Aus dieser Perspektive ist die Verfolgung der jüdischen Bewohner des Landes Teil der eigenen, hier polnischen Geschichte der Jahre 1939 bis 1945, was sich auch in der Darstellung spiegelt. So sind die Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung des besetzten Polens und die gegen sie gerichteten repressiven Maßnahmen kontinuierliche Bestandteile der Ausstellungserzählung. Die Verortung des Holocaust in einem eigenen Themenabschnitt markiert zugleich die Spezifik und damit auch den Unterschied zwischen der Verfolgung von Juden und Nichtjuden durch die Nationalsozialisten. Zugleich fällt auf, dass die polnische Wir-Gemeinschaft während des Kriegs nicht als vermeintlich uniform in ihren Einstellungen und Verhaltensweisen erscheint. Immer wieder gibt es Verweise auf Verhalten, das aus ethischer Perspektive negativ bewertet werden kann. Schließlich werden in dieser Schau auch bis dato dominante schematische Feindbilder differenziert, etwa mittels der Darstellung nicht nur von aktiven Tätern, sondern auch der breiten gesellschaftlichen Masse von Mitwissern und Nutznießern der Verbrechen (etwa im Fall der Zwangsarbeit im Deutschen Reich), aber ebenso von Leid aufseiten der Gesellschaften der Angreiferstaaten. So werden sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Haft als zweitgrößte Opfergruppe des Kriegs prominent kenntlich gemacht. Gleich im Anschluss erfolgt die ausführliche Schilderung der Hungerkatastrophe im belagerten Leningrad. Eine solche Perspektive, in der sowjetische Zivilisten und Soldaten als Opfer von Gewalt thematisiert werden, wird gerade für polnische und ostmitteleuropäische Museumsbesucher neu sein, denen bis dato in musealen Narrativen des

21 Vermittelt wird dies etwa mit Bezug auf die Zwischenkriegszeit im Arrangement des inszenierten Schaufensters eines Buchladens, in dem polnische, deutsche, ukrainische, belarussische und hebräische Fibeln ausliegen. Einzelne Kuratorentexte stellen auch die Nationalitätenkonflikte innerhalb des Staates dar.

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Zweiten Weltkriegs die Sowjetunion ausschließlich als Aggressor und Besatzungsmacht begegnet. Die Ausstellung in ihrer Gesamtheit vermittelt die grundlegende Aussage, wonach der Zweite Weltkrieg die „größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit“22 war. Mit ihrer auf die Gräuel und die Leiden der Jahre 1939 bis 1945 konzentrierten Erzählung positioniert sich die Institution somit als Antikriegsmuseum, in dem Kämpfe und Besatzungen in ihren dramatischen Auswirkungen auf alle involvierten Gesellschaften als grundsätzlich negativ dargestellt werden – eine diametral entgegengesetzte Sichtweise zur positiven, heroischmartyrologischen Sinnstiftung des MPW. Diese drei Ausstellungen, die hier nur beispielhaft für ein inzwischen breites Spektrum nebeneinander existierender unterschiedlicher Deutungsangebote stehen, bieten ihren Besuchern gegensätzliche Perspektiven der polnischen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs an: Das MPW präsentiert ein eindeutiges und einseitiges ethnisch-nationales Narrativ polnischen Helden- und Märtyrertums, das keinen Raum für abweichende Haltungen oder Fragen zulässt. In Krakau ist dagegen eine Ausstellung entstanden, die als eine der ersten die jüdischen Stadtbewohner als gleichberechtigte Akteure der Krakauer Wir-Gemeinschaft und polnische Staatsbürger präsentiert. Sie legt zudem ein breites Spektrum an Sichtweisen und Verhaltensweisen der Krakauer in den Jahren 1939–1945 und damit auch die Ambivalenzen und sprichwörtlichen Graustufen des Besatzungsalltags offen. Das MIIWŚ schließlich eröffnet einen Blick über den eigenen nationalen Tellerrand hinaus, indem es die bisherige nationale Fokussierung in Verhältnis setzt zu den Kriegs- und Leidensnarrationen anderer Staaten und Nationen sowie übergreifende Gemeinsamkeiten vieler Kriegs- und Besatzungserfahrungen vor Augen führt. Dass es dabei keine positive teleologische Sinnstiftung offeriert, stellt eine grundsätzliche Abkehr von der seit Kriegsende etablierten und bis dato weitgehend unhinterfragten polnischen Sichtweise auf den Weltkrieg dar.

Z IELE MUSEALER G ESCHICHTSVERMITTLUNG Der sich in den betrachteten Ausstellungen manifestierende grundlegende Unterschied im inhaltlichen Ansatz und in der Ausrichtung der Erzählungen geht einher mit der deutlich differenten Wahrnehmung der Zielsetzungen musealer Ge-

22 Titel des Thementextes, Sektion „Auf dem Weg zum Europa von Versailles“.

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schichtsvermittlung, den die jeweils Verantwortlichen vertreten – ein insbesondere im aktuellen Jahrzehnt wesentliches Thema polnischer musealer Debatten. Auf den ersten Blick könnten man meinen, dass die Frage nach den Aufgaben und Zielen historischer Museen in Polen unstrittig ist: Eine grundsätzliche identitätsstiftende Funktion und auch Aufgabe von Museen wird sowohl von Museumspraktikern, der publizistischen Öffentlichkeit wie der Politik als selbstverständlich angesehen. Sie wird sogar als derart bedeutungsvoll betrachtet, dass sie von den Teilnehmern des Ersten Kongresses Polnischer Museologen 2015 in einen Neuentwurf der Definition des Museums und seiner Aufgaben aufgenommen wurde.23 Wie die Warschauer, Krakauer und Danziger Beispiele zeigen, wird diese Aufgabe jedoch sehr unterschiedlich interpretiert. Auch in diesem Bereich sind die Spuren der Debatte um die Ausrichtung staatlicher Geschichtspolitik weiterhin wirksam. Viele Ausstellungsmacher und Museumsverantwortliche stehen dem sogenannten affirmativen Ansatz der Deutung polnischer Geschichte nahe. Sie sehen ihre Aufgabe in der Konzentration auf die positiven Elemente der nationalen Vergangenheit und unterstützen die Prägung eines unkritischen, „bestärkenden“ Patriotismus. Andere Museen haben sich dagegen bislang verschwiegenen Teilen ihrer lokalen und regionalen Geschichte gegenüber geöffnet; dort findet etwa die multikulturelle Zusammensetzung der lokalen Gemeinschaft vor 1945 verstärkt Beachtung – eine Tendenz, die zuweilen auch zur Romantisierung dieser Vergangenheit tendiert, wenn etwa ein historisches Nebeneinander verschiedener Religionen und Nationalitäten zu einem Miteinander verklärt wird.24 Immer mehr Ausstellungsmacher fordern ihr Publikum aber auch heraus, mit der offensiven Darstellung von Brüchen, von bisherigen Tabuthemen, aber auch mit der Verweigerung linearer Erzählungen, wie in den vorangegangenen Analysen deutlich geworden ist.

23 „a museum: […] determines cultural identity, mediates between the interpreted past and the future under creation […].“ „Resolution No. 1, section b of the First Congress of

Polish

Museologists“,

http://kongresmuzealnikow.pl/draft-resolutions/

vom

11.9.2015. 24 Ein Beispiel hierfür war etwa die erste historische Dauerausstellung des Stadtmuseums Łódź (Muzeum Miasta Łodzi) „Triada łódzka. Trzy wielkie społeczności. Polacy – Niemcy – Żydzi“ [Łódźer Triade. Drei große Gemeinschaften. Polen – Deutsche – Juden], die zwischen 1998 und 2015 präsentiert wurde. Vgl. Kossert, Andreas: „‚Promised Land‘? Urban Myth and the Shaping of Modernity in Industrial Cities: Manchester and Lodz“, in: Christian Emden/Catherine Keen/David Midgley (Hg.): Imaging the City, Volume 2. The Politics of Urban Space. Bd. 2, Bern: Peter Lang 2006, S. 169–192, hier S. 176 f.

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Zahlreiche neue Museen verstehen sich zudem nicht mehr allein oder primär als Orte der Sammlung und Bewahrung von Zeugnissen der Vergangenheit, auch ihre Deutung und Vermittlung im Rahmen von Ausstellungen genügt nicht mehr. Vielmehr sehen sie sich in der Rolle eines Akteurs, der im Bereich der historischen Bildung aktiv mit eigenen Initiativen das Publikum zu erreichen sucht. Dabei werden die Museen immer mehr zu Orten, die eine breite kulturelle Tätigkeit in ihrer Stadt und Region entfalten. Eine Vorreiterrolle in dieser Entwicklung nahm auch hier das MPW ein. Seine Eröffnung ging einher mit einer breiten Medienpräsenz und einer Vielfalt an Kulturangeboten, die sich stetig erweitert hat und bisher so verschiedene Formate wie Sommerschulen für Studenten, Rockkonzerte oder Spiele im Stadtraum umfasste.25 Das Museum profiliert sich damit als Ort geschichtspolitischer, aber auch gesellschaftlicher Diskussionen, als popkultureller Veranstaltungsort und als Bildungsinstitution, die in ihrer thematischen Spannbreite über das eigentliche Thema der Dauerausstellung hinausgeht und allgemeiner auf die jüngste Geschichte, aber auch Gegenwart der Stadt gerichtet ist. Auch das damals noch im Entstehen befindliche POLINMuseum begann bereits lange vor der Existenz eines eigenen Gebäudes mit einer vielfältigen kulturellen Tätigkeit.26 Andere Museen folgen diesen Beispielen.

P OLITIK IM M USEUM Bis zur zweiten Regierungsübernahme durch die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) im Jahr 2015 hat sich somit eine große Vielfalt an musealen Deutungsangeboten der Vergangenheit, aber auch des Zugangs zum und des Umgangs mit dem eigenen Publikum entwickelt, die parallel existieren, ohne dass sich eine deutungsvorgebende Institution herauskristallisiert. Diese Vielfalt wird in den letzten Jahren herausgefordert durch eine zunehmend aggressive Geschichtspolitik der neuen polnischen Regierung, die bestimmte historische Interpretationen zu beeinflussen oder gar durchzusetzen versucht. Das drastischste Beispiel stellt bislang der Fall des MIIWŚ

25 Vgl. https://www.1944.pl/wydarzenia.html vom 19.3.2019. 26 Bereits seit 2006 und damit lange vor der Eröffnung des Museumsgebäudes 2013 bzw. der Dauerausstellung Ende 2014 organisierte das Museum ein breites Kulturangebot in einer eigens hierfür geschaffenen Installation namens „Ohel“ (Zelt). „Historia: od Idei, przez OHEL do Muzeum POLIN“ [Geschichte: Von der Idee, über das Ohel zum Polin-Museum], https://www.polin.pl/pl/o-muzeum/historia-od-idei-przezohel-do-muzeum-polin vom 19.3.2019.

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dar.27 In jüngster Zeit kommen jedoch auch andere große Museen unter Druck, so das POLIN-Museum und das Europäische Solidarność-Zentrum (Europejskie Centrum Solidarności, ECS) in Gdańsk. Bevor jedoch auf diese Beispiele etwas genauer eingegangen wird, ein kurzer Rückblick. Die politische Wahrnehmung einzelner Museumsprojekte kennzeichnete den Museumsboom von Beginn an. So wird das MPW bis heute als Flaggschiff der Geschichtspolitik der PiS sowohl von dieser selbst verstanden als auch von außen wahrgenommen. Nicht nur wurde seine Realisierung vom damaligen Warschauer Stadtpräsidenten und späteren Präsidenten Polens Lech Kaczyński (PiS) durchgesetzt. Auch entsprechen die in dem Museum vermittelten Deutungen der Geschichts- und Gesellschaftsvision dieser Partei. Der Erfolg des Museums beim Publikum, insbesondere die erfolgreiche Durchsetzung seiner Perspektive auf den Aufstand in der breiten gesellschaftlichen Wahrnehmung, trug nicht zuletzt erheblich dazu bei, dass historische Museen in den Fokus der Aufmerksamkeit politischer Auseinandersetzungen rückten. Zahlreiche folgende Museumsprojekte wurden und werden mit einzelnen Parteien in Verbindung gebracht, allen voran den führenden Regierungsparteien. So ist das 2006 initiierte Museum der Geschichte Polens (Muzeum Historii Polski, MHP) ein Projekt der zu diesem Zeitpunkt regierenden PiS, das 2008 gegründete MIIWŚ dagegen eine Initiative der damaligen Regierungspartei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO). Hierbei muss jedoch betont werden, dass bei den drei genannten Projekten bis 2015 keine unmittelbare Einflussnahme politischer Akteure auf Inhalte und Ausgestaltung ausgeübt wurde. Eine grundsätzliche Ausrichtung der Museen wurde vielmehr durch die Auswahl bzw. Beauftragung der jeweiligen (Gründungs-)Direktoren getroffen, deren folgende Handlungen jedoch autonom blieben. Der große Einfluss der Politik bei diesen Projekten bestand in der Bereitstellung (oder Verweigerung) der notwendigen erheblichen finanziellen Mittel zu ihrer Realisierung. Eine erste Kontroverse um inhaltliche Einflussnahme seitens der Politik gab es 2013/2014, kurz vor der Fertigstellung der Dauerausstellung des POLINMuseums. Diese bezog sich auf Einwirkungen der damaligen PO-geführten Regierung. Nach einer Präsentation der Inhalte des Ausstellungsteils zur Nachkriegszeit im Ministerium für Kultur und Nationales Erbe wurden einzelne Änderungen in der Präsentation vorgenommen – wie die für die Sektion verantwortlichen Wissenschaftler kritisierten, auf Druck des Ministeriums.28

27 Siehe dazu auch den Beitrag von Daniel Logemann in diesem Band. 28 U.a. dieser Vorgang führte zum Protest und Rückzug von Helena Datner aus dem für die Sektion verantwortlichen Wissenschaftlerteam. Datner, Helena: „Żydowski punkt

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Eine neue Qualität politischer Einflussnahme stellte sich mit der zweiten Regierungsübernahme der PiS Ende 2015 ein. Ihr erstes Ziel wurde das MIIWŚ.29 Jarosław Kaczyński, Parteivorsitzender der PiS, hatte die Umgestaltung der geplanten Schau dieses Museums bereits im Juni 2013 als Ziel einer zukünftigen PiS-Regierung formuliert; er wolle sie dergestalt ändern, dass sie „den polnischen Standpunkt“ wiedergebe – ohne freilich zu spezifizieren, was genau dies beinhalten sollte.30 Im April 2016 verkündete der neue Minister für Kultur und Nationales Erbe Piotr Gliński schließlich die Absicht, das Museum mit dem erst kurz zuvor gegründeten und bis dato lediglich auf Papier bestehenden Museum der Westerplatte und des Kriegs 1939 (Muzeum Westerplatte i Wojny 1939) zu vereinen.31 Ziel war es, die bisherige Direktion auszuwechseln und die konzeptionell bereits fertiggestellte Dauerausstellung noch vor ihrer Eröffnung zu verändern. Gegen die Entscheidung des Ministers gingen der Direktor und der Be-

widzenia. Pyta Kacha Szaniawska“ [Die jüdische Sichtweise. Fragen von Kacha Szaniawska], in: Krytyka Polityczna. Dziennik Opinii, https://www.krytykapoli tyczna.pl/artykuly/historia/20150529/datner-zydowski-punkt-widzenia-rozmowa vom 30.5.2015. 29 Eine umfangreiche Darstellung der Auseinandersetzung um das Museum bietet Logemann, Daniel: „Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk. Wie soll man ‚polnische Geschichte‘ zeigen?“, in: Zeitgeschichte-online, http://www.zeit geschichte-online.de/geschichtskultur/streit-um-das-museum-des-zweiten-weltkriegsgdansk vom April 2017. 30 Vgl. die Reaktion der Direktion des Museums hierauf: Oświadczenie dyrektora Muzeum w związku z wypowiedzią Jarosława Kaczyńskiego wygłoszoną podczas kongresu Prawa i Sprawiedliwości w dn. 29 czerwca 2013 r. [Erklärung des Museumsdirektors im Zusammenhang mit der Äußerung Jarosław Kaczyńskis auf dem Kongress der Partei Recht und Gerechtigkeit am 29. Juni 2013], www.muzeum 1939.pl/pl/aktualnosci vom 30.6.2013. Die Attacken auf das Museumsprojekt seitens der PiS und rechtskonservativer Publizisten hatten jedoch bereits mit der Publikation des ersten Konzeptpapieres Ende 2008 begonnen. 31 „Obwieszczenie Ministra Kultury i Dziedzictwa Narodowego z dnia 15 kwietnia 2016 r. o zamiarze i przyczynach połączenia państwowych instytucji kultury Muzeum II Wojny Światowej w Gdańsku oraz Muzeum Westerplatte i Wojny 1939“ [Bekanntmachung des Ministers für Kultur und Nationales Erbe vom 15. April 2016 über die Absicht und Gründe für den Zusammenschluss der staatlichen Kulturinstitutionen Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk und Museum der Westerplatte und des Kriegs 1939], in: Dziennik Urzędowy Ministra Kultury i Dziedzictwa Narodowego vom 15.4.2016, Pos. 18.

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auftragte für Bürgerrechte gerichtlich vor. In der dadurch gewonnenen Zeit gelang es dem Team, die Präsentation umzusetzen und am 23. März 2017 zu eröffnen. Letztlich ermöglichte jedoch das Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts Anfang April 2017 die Vereinigung beider Institutionen. Bereits am folgenden Tag setzte der Minister einen kommissarischen Direktor für das neu geschaffene Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk (Muzeum II Wojny Światowej w Gdańsku) ein; Gründungsdirektor Paweł Machcewicz und seine beiden Stellvertreter wurden ihrer Positionen enthoben. In der Dauerausstellung wurden seitdem zahlreiche Eingriffe vorgenommen mit dem Ziel, ein heroisch-martyrologisches Narrativ der polnischen Nation im Krieg einzuführen.32 Dieser bis dato einmalige Vorgang eines direkten politischen Angriffs auf die organisatorische und inhaltliche Autonomie einer bedeutenden nationalen Kulturinstitution hat nicht nur im Land selbst, sondern auch im Ausland massive Proteste hervorgerufen – bislang jedoch ohne Erfolg. Das MIIWŚ blieb jedoch nicht das einzige prominente Museum, das sich Versuchen politischer Einflussnahme erwehren muss. Gegenwärtig steht das POLIN-Museum unter Druck; das Kulturministerium hat die Verlängerung der Amtszeit des Direktors Dariusz Stola abgelehnt, die im Februar 2019 endete.33 Hintergrund ist ein Streit um die Sonderausstellung zum Jahrestag der antisemitischen Kampagne von 1968, die von März bis September 2018 unter dem Titel „Obcy w domu. Wokół Marca ’68 / Estranged: March ’68 and Its Aftermath“ gezeigt wurde. Die Schau war mit über 116.000 Besuchern die bislang erfolgreichste Sonderausstellung POLINs. Sie rief zugleich zahlreiche Proteste rechtskonservativer Politiker und Publizisten hervor. Der Streit entzündete sich insbesondere an einer Sektion, in der jüngste öffentliche antisemitische Äußerungen parallelen Aussagen aus dem Jahr 1968 gegenübergestellt wurden. Damit sollte die Gegenwart von Ausgrenzungs- und Hassbotschaften gegenüber vielfältigen ‚Anderen‘, deren Mechanismen aus der Zeit der Volksrepublik überdauert haben, offenbart werden. Wie sich anhand der Proteste später herausstellte, stammten die in der Ausstellung anonymisierten Aussagen u.a. von Journalisten des öffentlich-rechtlichen, von der PiS kontrollierten Fern-

32 Die Ausstellungsautoren gehen hiergegen mit der Begründung der Verletzung ihres Urheberrechts an der Ausstellung gerichtlich vor. 33 Als einer von drei Trägern des Museums – die beiden weiteren, die Stadt Warschau und der Verein Jüdisches Historisches Institut, stehen hinter der Direktion – konnte der Minister den Direktor jedoch nicht unmittelbar austauschen.

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sehens.34 Die Aufnahme dieser Äußerungen in die Schau wurde von Abgeordneten der PiS als „Schmähung der polnischen Nation“ kritisiert. Ein weiterer Vorwurf an den Direktor ist seine vermeintlich zu große politische Aktivität. 35 So hatte Dariusz Stola die Novellierung des Gesetzes über das Institut für Nationales Gedenken – in der ausländischen Presse irreführenderweise als „HolocaustGesetz“ bezeichnet –36 scharf kritisiert. Die drei Träger des Museums (neben dem Ministerium für Kultur und Nationales Erbe gehören hierzu die Stadt Warschau sowie der Verein Jüdisches Historisches Institut) haben inzwischen ein neues Auswahlverfahren für die Direktorenstelle durchgeführt, das Stola Anfang Mai klar für sich entschieden hat. Dennoch hat Minister Gliński seine offizielle Ernennung bis heute noch nicht vorgenommen (Stand 30. Juni 2019).37 Auch das Solidarność-Zentrum ist unter Beschuss seitens des Ministeriums für Kultur und Nationales Erbe geraten. Der Minister weigert sich seit über einem Jahr, die Nominierungsurkunde für die neue Amtszeit des Direktors zu unterzeichnen –38 ein Vorgehen, das in diesem Fall zwar primär symbolische Bedeutung hat, aber bereits die Stoßrichtung der PiS in Bezug auch auf dieses Museum ankündigte. Im Oktober 2018 wurde schließlich bekannt, dass die finanzielle Zuwendung des Ministeriums für 2019 von sieben auf vier Millionen Złoty gekürzt werden wird, was vor allem die Veranstaltungstätigkeit im 30. Jubiläumsjahr der ersten halbfreien polnischen Parlamentswahlen von 1989 gefährdet. Eine Wiederherstellung der ursprünglichen Zuwendung macht der Minister davon abhängig, die Besetzung wesentlicher Stellen im ECS direkt vorzunehmen,

34 Kobielska, Maria: „History and Memory of 1968 in Poland: Debates Around the ‚Estranged‘ Exhibition“, in: Cultures of History Forum vom 28.9.2018. 35 Urzykowski, Tomasz: „Minister kultury nie przedłużył kontraktu dyrektorowi Muzeum Polin. Co planuje Gliński?“ [Der Minister für Kultur verlängert nicht den Vertrag des Direktors des Polin-Museums. Was plant Gliński?], in: Gazeta Wyborcza vom 16.2.2019. 36 Bucholc, Marta/Komornik, Maciej: „The Polish ‚Holocaust Law‘ revisited: The Devastating Effects of Prejudice-Mongering“, in: Cultures of History Forum vom 19.2. 2019. 37 PiS czai się do skoku na Polin. Dlaczego minister wciąż nie powołał zwycięzcy konkursu?, in: Gazeta Wyborcza, http://warszawa.wyborcza.pl/warszawa/7,544 20,24881431,pis-czai-sie-do-skoku-na-polin-dlaczego-minister-wciaz-nie.html

vom

10.6.2019. 38 Sandecki, Maciej: „Minister Gliński przez ponad rok nie podpisał nominacji dla dyrektora ECS“ [Minister Gliński hat über ein Jahr die Ernennung des ECS-Direktors nicht unterzeichnet], in: Gazeta Wyborcza vom 2.2.2019.

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wodurch er Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit dieser Institution erhielte.39 Dieser unverhohlene Angriff auf die Autonomie des ECS hat jedoch deutliche öffentliche Reaktionen hervorgerufen. Nicht nur weigern sich zwei zentrale Träger der Institution, die Stadt Gdańsk und die Woiwodschaft Pomorze, diese Bedingungen zu akzeptieren, die sie als „ökonomische Zensur repressiven Charakters“ geißeln.40 Mehrere Spendensammlungen für das Museum haben zudem die stattliche Summe von bisher 6,47 Millionen Zloty aufgebracht.41 Bislang sieht es so aus, als würden sowohl das ECS als auch POLIN aufgrund ihrer besonderen Organisationsform, die verschiedene institutionelle Träger einbindet, wie auch aufgrund der breiten lokalen und überregionalen gesellschaftlichen ebenso wie kommunalen politischen Unterstützung dem Druck der PiS standhalten können. Das politische Klima in der polnischen Museumslandschaft ist rauer geworden. Bislang halten jedoch die vielfältigen fachinternen wie publizistischen Debatten über museale Geschichtsdarstellung und -vermittlung an. Auch führen Ausstellungsmacher und Museumsverantwortliche ihre engagierten und von der aktuellen Geschichtspolitik der polnischen Regierung deutlich abweichenden Projekte fort.

39 Die Forderung umfasst die Besetzung der Stelle eines der Vizedirektoren des Museums und der Mehrheit der Mitglieder eines der zentralen Museumsgremien, des Museumrates oder des Programmrats. Zudem soll eine neue Museumsabteilung geschaffen werden, die direkt dem von der Regierung benannten Vizedirektor unterstehen soll. Sandecki, Maciej: „PiS chce zmienić ECS po swojemu“ [Die PiS möchte das ECS nach ihrem Willen verändern], in: Gazeta Wyborcza vom 31.1.2019. 40 Brief der Stadtpräsidentin von Gdańsk und des Marschalls der Woiwodschaft Pomorze an Minister Gliński vom 12.2.2019, veröffentlicht in Dobiegała, Anna: „Samorządy nie oddadzą ECS rządowi PiS“ [Die Selbstverwaltungen überlassen das ECS nicht der PiS-Regierung], in: Gazeta Wyborcza (elektronische Ausgabe) vom 13.2.2019. 41 https://www.ecs.gda.pl/title,DO_PRZYJACIOL_ECS,pid,8,oid,62,cid,840.html vom 20.3.2019.

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L ITERATUR Bogumił, Zuzanna: „Miejsce pamięci versus symulacja przeszłości – druga wojna światowa na wystawach historycznych“ [Gedenkort versus Simulation der Vergangenheit – Der Zweite Weltkrieg in historischen Ausstellungen], in: Kultura i Społeczeństwo 4 (2011), S. 149–170. Borodziej, Włodzimierz: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck 2010. Borodziej, Włodzimierz: Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2004. Bucholc, Marta/Komornik, Maciej: „The Polish ‚Holocaust Law‘ revisited: The Devastating Effects of Prejudice-Mongering“, in: Cultures of History Forum vom 19.02.2019. Cichocka, Lena et al. (Hg.): Polityka historyczna. Historycy – politycy – prasa [Geschichtspolitik. Historiker – Politiker – Presse], Warszawa 2005. Cieślińska-Lobkowicz, Nawojka: „Żydowska Biblia pauperum“ [Eine jüdische Biblia Pauperum], in: Zagłada Żydów. Studia i Materiały 11 (2015), S. 743– 752. Datner, Helena: „Żydowski punkt widzenia. Pyta Kacha Szaniawska“ [Die jüdische Sichtweise. Fragen von Kacha Szaniawska], in: Krytyka Polityczna. Dziennik Opinii, https://www.krytykapolityczna.pl/artykuly/historia/ 20150529/datner-zydowski-punkt-widzenia-rozmowa vom 30.5.2015. Fabiszak, Małgorzata/Owsiński, Marcin (Hg.): Obóz – muzeum. Trauma we współczesnym muzealnictwie [Lager – Museum. Traumata im gegenwärtigen Ausstellungswesen], Kraków: Universitas 2013. Górajec, Piotr: „Po co nam te multimedia?“ [Wozu brauchen wir diese Multimedien?], in: Muzealnictwo 55 (2014), S. 198–201. Heinemann, Monika: Krieg und Kriegserinnerung im Museum. Der Zweite Weltkrieg in polnischen historischen Ausstellungen seit den 1980er Jahren, Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. Heinemann, Monika: „Das Museum des Warschauer Aufstands“, in: Zeitgeschichte-online, www.zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/das-museum -des-warschauer-aufstands vom Juli 2014. Kirshenblatt-Gimblett, Barbara: „Theater of History“, in: Museum of the History of the Polish Jews (Hg.): Polin. 1000 Year History of Polish Jews, Warsaw: Museum of the History of the Polish Jews 2014, S. 19–35. Kobielska, Maria: „History and Memory of 1968 in Poland: Debates Around the ‚Estranged‘ Exhibition“, in: Cultures of History Forum vom 28.9.2018.

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Doppelte Diktaturerfahrung Die Erinnerung an stalinistischen Terror und Holocaust im KGB-Eckhaus und Rigaer Ghetto-Museum K ATJA W EZEL

Die lettische Hauptstadt Riga verfügt über mehrere Museen, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts während der sowjetischen und nationalsozialistischen Herrschaft thematisieren. Am bekanntesten ist das Lettische Okkupationsmuseum, das sich der Geschichte Lettlands während der sowjetischen und nationalsozialistischen Besatzung widmet.1 Es befindet sich im Herzen der lettischen Hauptstadt. Das Museum nutzt das – umgebaute – Gebäude, das während der sowjetischen Zeit die Ausstellung über die Roten Lettischen Schützen beherbergte. Das Gebäude wird zurzeit erweitert und soll am 14. Juni 2020 mit neuer Dauerausstellung eröffnet werden. Die bisherige Ausstellung fokussierte die doppelte Diktaturerfahrung als ineinander verwobene, in der Lettland zum Spielball von zwei Diktatoren – Stalin und Hitler – wurde. Die neue Ausstellung soll an diese Darstellung anknüpfen und wird sich darüber hinaus stärker der Geschichte Lettlands während der Transformation (1986–1990) sowie nach Wiederherstellung der Unabhängigkeit 1990/91 widmen. Im Folgenden möchte ich mich auf zwei kleinere Museen konzentrieren, die in der Regel weniger im Fokus stehen. Im Gegensatz zum Lettischen Okkupationsmuseum handelt es sich um zwei Museen an Tatorten, die zwischen 2010 und

1

Siehe Nollendorfs, Valters (Hg.): Museum of the Occupation of Latvia. Latvia under the Rule of the Soviet Union and National Socialist Germany, 1940–1991, Riga: Okkupationsmuseum 2002; Michel, Gundega und Valters Nollendorfs: „Das Lettische Okkupationsmuseum. Riga“, in: Volkhard Knigge/Ulrich Mählert (Hg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln: Böhlau 2005, S. 117–129.

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2014 eröffnet und seither erweitert worden sind. Beide tragen dazu bei, an die Verbrechen zu erinnern, die unter nationalsozialistischer (1941–1944/45) bzw. kommunistischer Herrschaft (1940–41 und 1944/45–1991) in Lettland begangen wurden und richten die Aufmerksamkeit aufgrund ihres Ortes auf die Opfer der zwischen 1940 und 1991 verübten Gewaltverbrechen. Aus lettischer Sicht waren beide Perioden Teil einer Fremdherrschaft und Fremdbestimmung, weshalb in Lettland gewöhnlich der Begriff nationalsozialistische bzw. sowjetische Okkupation verwendet wird.2 Dadurch neigt die lettischen Historiographie dazu, die beiden Regime trotz ihrer Unterschiedlichkeit in Wirkung, Dauer und Langzeitfolgen gleichzusetzen. Ich möchte die beiden Regime in meiner vergleichenden Betrachtung dieser beiden Museen hingegen keinesfalls gleichsetzen – mir geht es um eine Gegenüberstellung. Dabei kommt es mir besonders darauf an, zentrale Aspekte der Aufarbeitung der beiden Diktaturen sowie eventuelle Auslassungen aufzuzeigen. Die vergleichende Betrachtung von zwei Museen, die die beiden unterschiedlichen Diktaturen fokussieren, die Lettland im 20. Jahrhundert geprägt haben, ist deshalb wichtig, weil es in Lettland die Tendenz der Opferkonkurrenz gibt, die auch im Kampf um Museen, Erinnerungsorte und Symbole der Erinnerung zum Tragen kommt. Die beiden Museen haben unterschiedliche Entstehungsgeschichten. Das Rigaer Ghetto- und Holocaust-Museum geht auf eine private Initiative des Rabbis der russischsprachigen jüdischen Gemeinde Rigas, Menachem Barkahan, zurück und wird vom Verein Shamir betrieben. Es begann 2010 zunächst mit einer kleinen Ausstellung im Außenbereich neben den früheren Markthallen hinter dem Rigaer Zentralmarkt – und damit in unmittelbarer Nähe zu den Straßenabschnitten, in denen die nationalsozialistische Militärverwaltung Rigas in Zusammenarbeit mit der SS ab August 1941 das Rigaer Ghetto einrichtete.3 2016 wurde es um die Ausstellung „Berlin-Riga: Ohne Rückfahrkarte“ erweitert. Sie dokumentiert die Geschichte der ca. 25.000 Jüdinnen und Juden, die zwischen November 1941 und Oktober 1942 aus dem Deutschen Reich nach Riga deportiert wurden.4

2

Zum Begriff „Okkupation“ und seiner Verwendung in Lettland siehe Wezel, Katja: Geschichte als Politikum. Lettland und die Aufarbeitung nach der Diktatur, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2016, S. 147–153.

3

Angrick, Andrej/Klein, Peter: Die Endlösung in Riga, Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 101.

4

Für die Deportationszahlen und Herkunftsorte der einzelnen Transporte siehe Salmanowitsch, Mirjam: „Die Katastrophe der Juden in Lettland“, in: Menachem Barkahan (Hg.): Die Vernichtung der Juden in Lettland 1941-45, Riga: Schamir 2008, S. 65–66.

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Dies ist nicht das erste Museum in Riga, das sich der Geschichte des Holocaust widmet, aber es ist das erste Museum in unmittelbarer Nähe eines Tatorts. Das ist besonders deshalb hervorzuheben, weil fast die gesamte jüdische Vorkriegsbevölkerung Rigas – 29.602 Jüdinnen und Juden – durch dieses Ghetto gegangen sind, bevor der überwiegende Teil von ihnen den Massenerschießungen von Rumbula am 30. November und 8. Dezember 1941 zum Opfer fiel. 5 Ihre Erschießung war eng verbunden mit der Entscheidung, deutsche, österreichische und tschechische Jüdinnen und Juden in die besetzten Gebiete des Ostlands zu deportieren. Die faktische Räumung des Ghettos fand statt, um den aus dem Reich angekommenen Jüdinnen und Juden Platz zu machen. Sie steht damit in einem engen Zusammenhang mit der europäischen Geschichte des Holocaust, ein Aspekt, den gerade die 2016 neu hinzugekommene Ausstellung „BerlinRiga: Ohne Rückfahrkarte“ betont. Das sogenannte Stūra Māja, übersetzt Eckhaus, befindet sich in dem Gebäude, das von 1940 bis 1941 und 1945 bis 1991 die Zentrale der sowjetischen Staatssicherheit in Lettland (NKWD, ab 1954 KGB) beherbergte. Der Keller des Hauses diente als Erstinhaftierungsort für jene Menschen, die das sowjetische Regime aufgrund angeblicher oder tatsächlicher Handlungen als „Feinde des Kommunismus“ einstufte. Im Lettischem meist als „Eckhaus“ (Stūra Māja) bezeichnet, ist unter ausländischen Besucher/innen der Name KGB-Haus (engl. KGB-Building) gebräuchlich. Das Haus befindet sich an der Ecke Stabu und Brivibas iela (dt. Straße der Freiheit). Das Museum verdankt seine Entstehung Rigas Wahl zur europäischen Kulturhauptstadt 2014, was eine Anschubfinanzierung ermöglichte. Das Eckhaus gehört zum Lettischen Okkupationsmuseum, das sich zu 70 Prozent aus Spenden und zu 30 Prozent aus Mitteln des lettischen Staates finanziert. Aktuell werden das Erdgeschoß, der Keller und der Innenhof des Eckhauses als Museum genutzt. Während des Rigaer Kulturhauptstadtjahres 2014 gab es zudem weitere Sonderausstellungen im vierten und fünften Stock des Hauses. Der Rest des Gebäudes steht momentan leer. Die Stadt Riga sucht nach wie vor nach Investor/innen bzw. nach einem Konzept für das Haus, das für viele Menschen in Lettland eine besonders dunkle Phase ihrer Geschichte repräsentiert.

5

A. Angrick/P. Klein: Die Endlösung in Riga, S. 127.

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D ARK TOURISM AM EHEMALIGEN T ATORT : D AS KGB-E CKHAUS Das KGB-Eckhaus ist ein Beispiel für dark tourism. Dies unterstreicht auch ein Zitat des lettischen Dissidenten und Aktivisten für Menschenrechte Gunārs Astra (1931–1988), der mehrere Jahre seines Lebens in sowjetischen Lagern und Gefängnissen, darunter auch dem KGB-Eckhaus, verbrachte, und das sich in der Ausstellung im Erdgeschoss als eine Art Motto wiederfindet: „Ich denke diese Zeiten werden vorbeigehen wie ein furchtbarer Alptraum. Das gibt mir die Kraft hier zu stehen und zu atmen. Unsere Nation hat viel gelitten und hat gelernt zu überleben und sie wird weiter überleben auch diese dunklen Zeiten.“6

Hauptattraktion und zentraler Ausstellungsgegenstand des Eckhauses, das besonders von ausländischen Schülergruppen und Tourist/innen besucht wird, ist der Keller des Eckhauses. Von 1940 bis 1941 und 1945 bis 1991 nutze der sowjetische Sicherheitsdienst den Keller als Gefängnis. In einem typischen Monat hat das Museum ca. 1.500 bis 2.000 Besucher/innen, in den Sommermonaten können es bis zu 6.000 sein.7 Die meisten von ihnen besuchen auch den Keller, der nur mit einer Führung zugänglich ist. Der Keller ist nicht im Originalzustand, da die lettische Polizei das Gefängnis in den 1990er Jahren nach Auszug des KGB weiter nutzte. Die Wände erhielten einen neuen Anstrich, aber sonst wurde wenig verändert, so dass die Dunkelheit des Kellers, die Enge und die notdürftige Ausstattung dennoch ein relativ „authentisches“ Bild vermitteln.

6

Zitat aus der Ausstellung des KGB-Eckhauses. Übersetzt aus dem lettischen Original von der Autorin.

7

E-Mail Korrespondenz der Autorin mit der Ausstellungskoordinatorin des KGBEckhauses Aija Abene am 12.3.2018.

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Abb. 1: Gefängnis im Keller des KGBHauses

Quelle: Katja Wezel

Die Führung durch den Keller wird in lettischer, englischer und russischer Sprache angeboten, sowie auf Anfrage auch in anderen Sprachen. In Ermangelung historischer Forschungsliteratur über das Eckhaus und seine Geschichte beziehen sich die Museumsguides in ihrer Führung größtenteils auf die Aussagen von Überlebenden in Interviews, die Mitarbeiter/innen des Okkupationsmuseums im Rahmen eines Oral History Projekts aufgezeichnet haben.8 Der zentrale Fokus der Ausstellung liegt darauf, den Opfern eine Stimme zu geben. Ausgewählte Interviews können sich die Besucher/innen der kostenlosen Ausstellung auch im Videoraum im Erdgeschoß ansehen. Nur die Führung durch den Keller ist kostenpflichtig. Die Interviews ehemaliger Inhaftierter werden in lettischer Sprache mit englischen Untertiteln abgespielt. Neben den einleitenden Texten und den Fotografien von Opfern stellen diese Interviews der Zeitzeug/innen den Hauptaspekt der Ausstellung dar.

8

Die sechs Interviews mit Opfern, die in der Originalausstellung 2014 zu sehen waren, sind auf YouTube frei zugänglich: Mirdza Barbaka (1921-2007), inhaftiert 1946; Harijs Ruks (1917–2001), inhaftiert 1945; Ieva Lase Birgere (1916–2002), inhaftiert 1951; Dailis Rijnieks (geb. 1934) und Uldis Ofkants (1941–2008), beide inhaftiert 1962. Siehe Museum of the Occupation of Latvia: „Eye-witness accounts about the former KGB building of Riga“, https://www.youtube.com/watch?v=XtyQXC5OB94 vom 17.10.2014.

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In den Worten des Kurators Rihards Pētersons, der für die wissenschaftliche Ausgestaltung der ursprünglichen Ausstellung 2014 zuständig war, ist es das erklärte Ziel, dass Besucher/innen das Gebäude so sehen, wie es die Menschen erlebten, als sie dort eingesperrt waren. Laut Pētersons können nur die Erinnerungen der Opfer die Geschichte „authentisch“ erzählen.9 Das weitere, im Erdgeschoß der Ausstellung vorhandene Informationsmaterial fokussiert ebenso die lettische Opferperspektive. Erläuterungen zu Letten, die hohe Positionen im stalinistischen Unterdrückungsapparat inne hatten, wie Alfons Noviks, Leiter der lettischen Abteilung des NKWD von 1940 bis 1941 und ethnischer Lette, finden sich nicht. Die Person Noviks würde Gelegenheit bieten, Fragen zur Kollaboration zu stellen – eine Möglichkeit, die die Ausstellung jedoch nicht nutzt. Es muss hierbei darauf hingewiesen werden, dass das Stūra Māja mit extrem geringen Mitteln und sehr wenig Personal arbeitet. Zum Zeitpunkt der Recherche für diesen Beitrag (2018) hatte das Museum sechs regelmäßige Mitarbeiter/innen, die Führungen anboten, sowie eine Managerin und eine Historikerin als wissenschaftliche Angestellte, die neue Ausstellungen recherchierten und vorbereiteten. Nichtsdestotrotz fällt auf, dass im Museum eine Einordnung in die Geschichte des sowjetischen Sicherheitsdiensts und die Verbrechen des Stalinismus fehlt. Gerade für Betrachter/innen aus dem Ausland, die zurzeit 90 Prozent der Besucher/innen stellen, ist das aus museumspädagogischer Sicht problematisch. Denn damit stellt sich die Frage, ob das KGB-Eckhaus die Funktion des Museums als Lernort überhaupt erfüllen kann. Es vermittelt zwar sicherlich einen eindringlichen Einblick in die während der sowjetischen Herrschaft im Namen des Kommunismus in Lettland verübten Verbrechen. Allerdings bleiben viele Fragen unbeantwortet, besonders wenn die Besucher/innen keine Führung durch den Keller machen und daher keine Gelegenheit bekommen, einem Guide weitere Fragen zu stellen. Dazu trägt auch die Verwendung des Begriffs „Čeka“ in der Ausstellung bei.10 Bereits die Tafel über dem Eingang des Hauses an der Ecke der Stabu und Brivibas Straße lädt Besucher/innen in der lettischen Version dazu ein, „die Ausstellung der Geschichte der Čeka in Lettland“ bzw. auf Englisch „the history of KGB-operations in Latvia“ zu besuchen. Der Begriff dominiert

9

Interview der Autorin mit dem für die Gestaltung der Erstausstellung 2014 verantwortlichen Historiker Rihards Pētersons am 12.7.2014 in Riga.

10 Siehe die Darstellung auf der Webseite des Museums: Izstāde „Čekas Vēsture Latvijā“ [Ausstellung „Geschichte der Čeka in Lettland“], http://okupacijasmuzejs.lv/ lv/apmekle/izstade-cekas-vesture-latvija/ vom 30.3.2019.

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auch die Eingangshalle der Ausstellung, wie die hier dreisprachige Nennung auf Russisch, Lettisch und Englisch – Чека, Čeka, Cheka – offenbart. Abb. 2: Eingangsbereich des KGB-Eckhauses

Quelle: Katja Wezel

Čeka war (und ist bis heute) der in Lettland landläufig im Volksmund gebrauchte Begriff für die sowjetische Staatssicherheit. Es ist auch der Begriff, den die Opfer in ihren Interviews benutzen. Er wird durchgängig in den Erläuterungen des Museums verwendet. Der Begriff ist jedoch ahistorisch, weil die erste sowjetische Sicherheitspolizei, mit vollem Namen „Außerordentliche Gesamtrussische Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“, kurz Außerordentliche Kommission (Črezvyčajnaja Komissija), russisch Ч („Če“) und К („ka“), lediglich bis 1922 so hieß. Zum Zeitpunkt ihres erstmaligen Wirkens in Lettland war der offizielle Name für die sowjetische Staatssicherheit bereits NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) und seit 1954 KGB (Komitee für Staatssicherheit). „KGB“ ist der am längsten verwendete und international vermutlich gängigste

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Begriff. Die Entscheidung, den Begriff „Čeka“ als Standardterminus zu verwenden, zeigt die Bedeutung, die die Kuratoren den Zeitzeugenaussagen zugewiesen haben. Die Verwendung des Begriffs „Čeka“ trägt aber auch dazu bei, die spezifisch national lettische Sicht auf die sowjetische Staatssicherheit zu betonen. Dies macht wiederum das Museum und die Ausstellung weniger anschlussfähig an die internationale Debatte um die Verbrechen des NKWD bzw. KGB sowie für ausländische Besucher/innen weniger verständlich. Die Dominanz des Terminus „Čeka“ wirft die interessante Frage auf, warum man in Lettland noch immer bevorzugt diesen Begriff verwendet. Es lassen sich hierfür vor allem zwei Erklärungen anführen. Zum einen gab es Anfang der 1920er Jahre eine hohe Zahl russischer Flüchtlinge, die nach dem Sieg der Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg ins benachbarte Lettland flohen, wo sich seit 1920 ein demokratisches Staatswesen etabliert hatte. Diese Flüchtlinge, die aus den Fängen der „Čeka“ entflohen, brachten den Begriff als erste nach Lettland mit. Der Anteil der russischstämmigen Bevölkerung in Lettland verdoppelte sich zwischen 1920 und 1930. Zum anderen – und dieser Aspekt wird in Lettland im Zusammenhang mit der Čeka nur ungern erwähnt – hatte die kommunistische Idee gerade in Lettland Anfang des 20. Jahrhunderts viele Anhänger/innen gehabt. Einige von ihnen schlossen sich den Bolschewiki an und schafften es in hohe Positionen im ersten kommunistischen Staat Europas, darunter auch als Mitarbeiter der im Dezember 1917 gegründeten sowjetischen Staatssicherheit Čeka. So galt der Lette Iakov Peters als rechte Hand des ersten Čeka-Direktors Felix Dserschinksi.11 Die Beteiligung von Letten im sowjetischen Sicherheitsdienst zur Zeit der Čeka sowie die Kollaboration von Lett/innen mit dem NKWD und KGB nach der Besatzung durch die sowjetischen Truppen 1940 wird zurzeit in der Ausstellung des KGB-Eckhauses jedoch nicht diskutiert. Bisher betonen sowohl Ausstellung als auch Museumswebseite die Fremdbestimmung durch sowjetische Sicherheitsorgane und stellen die sowjetische Diktatur als ausschließlich von außen eingedrungene, fremde Macht dar, mit russischen bzw. russischsprachigen Tätern und lettischen Opfern. „Am 17. Juni 1940 drangen reguläre sowjetische Kampftruppen zusammen mit Spezialtruppen der Staatssicherheit in Lettland ein und etablierten die Čeka. Die Čeka führte ihre

11 Vgl. Leggett, George: The Cheka: Lenin’s Political Police. The All-Russian Extraordinary Commission for Combating Counter-Revolution and Sabotage (December 1917 to February 1922), Oxford: Clarendon Press 1981, S. 266–268.

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Tätigkeit in Lettland bis 1991 fort und ist für den Tod von Tausenden lettischen Bürgern sowie für physisches und psychisches Leid verantwortlich.“12

Die Geschichte des KGB-Eckhauses ist noch nicht zu Ende erzählt. Die Ausstellung wird ständig überarbeitet und erweitert. Abb. 3: Außenbereich mit Ausstellung zu den Massenerschießungen im Juni 1941

Quelle: Katja Wezel

Eine der letzten Ergänzungen zur Ausstellung, die seit Sommer 2016 im Hof des KGB-Hauses zu sehen war, zeigte bereits den Weg hin zu einer sehr viel differenzierteren Darstellung, in der es neben Lett/innen auch russische, jüdische und deutsche Opfer gab. Die Ausstellung im Außenbereich nimmt die Massenerschießungen im Juni 1941 kurz vor Abzug der sowjetischen Truppen und dem

12 Zitat, übersetzt aus dem Lettischen, siehe die Webseite „Kas bija Čeka?“ [„Was war die Čeka?“], http://okupacijasmuzejs.lv/lv/apmekle/izstade-cekas-vesture-latvija/kasbija-ceka/ vom 30.3.2019.

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Beginn der nationalsozialistischen Besatzung in den Blick. Die Opfer wurden entweder im Keller des Eckhauses oder im Rigaer Zentralgefängnis in den Tagen vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Riga am 1. Juli 1941 erschossen. Auf weißen Stelen, die an ein Kreuz erinnern, befindet sich jeweils ein Foto eines Opfers mit Namen, Geburtsjahr, Beruf, Nationalität, und Todeszeitpunkt (soweit bekannt). Alle weiteren Opfer, von denen es keine Fotos gibt, deren Identität aber bekannt ist, werden auf einer Wand namentlich auflistet. Die Auswahl der Personen auf den Stelen beruht teilweise auf Zufällen, wie dem Vorhandensein eines Fotos.13 Dennoch offenbaren diese Namen und ihr biographischer Hintergrund bereits, wie unterschiedlich die Opfer waren: Eduards Mārtiņš Rinks, Offizier der Lettischen Armee; Dmitrij Iševskis, Russischer Journalist; Jozef Kagan, jüdischer Fabrikdirektor; Alfred Hermann Reinis, deutscher Arbeiter in einer Textilfabrik – um nur vier Opfer zu nennen. Dieser Teil der Ausstellung ist besonders wichtig, weil er den Übergang von der sowjetischen zur nationalsozialistischen Diktatur im Sommer 1941 dokumentiert und auch die Möglichkeit eröffnet, die danach folgende Nazipropaganda zu diskutieren. Das NS-Regime nutzte diese Opfer, deren Leichen ihnen nach dem überstürzten Abzug der sowjetischen Truppen in die Hände fielen, für ihre Propagandaschrift Das Jahr des Grauens (Lett. Bagais Gads). Lange Zeit stellte diese problematische und in den 1990er Jahren nachgedruckte Propagandahetzschrift die hauptsächliche Informationsquelle zu den Erschießungen während des ersten Jahres der sowjetischen Besatzung dar.14 Die Fotos dieser Erschießungsopfer, die die NS-Militärverwaltung verbreitete, und die Erinnerung an das erste Jahr unter sowjetischer Besatzung, während derer Tausende Lett/innen nach Sibirien verschleppt wurden, bildeten gemeinsam mit Theorien über eine jüdisch-bolschewistische Verschwörung die Basis für den antisemitischen Cocktail, der Lett/innen 1941 zur Mittäter/innenschaft anlocken sollte. Diese Ausstellung im Hof des KGB-Eckhauses leistet daher einen entscheidenden Beitrag zur Aufarbeitung der beiden Diktaturen und ihrer teils ineinander verwobenen Propaganda.

13 Gespräch der Autorin mit der für die Ausstellung im Außenbereich zuständigen Historikerin Inese Dreimane am 9.8.2016 in Riga. 14 Kovaļevskis, Pauls/Norītis, Oskars/Goppers, Miķelis (Hg.): Bagais gads. Attēlu un dokumentu krājums par bolševiku laiku Latvijā, Riga: Zelta Abele 1942. Vgl. auch: Lux, Markus: „‚Das Jahr des Grauens‘. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Lettland,“ in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 807–818.

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D AS R IGAER G HETTO -M USEUM Die Bedeutung von Authentizität und der bewussten Rekonstruktion eines Tatortes wird auch bei näherer Betrachtung des Ghetto-Museums in der Moskauer Vorstadt, einem Standteil am Rande der Rigaer Altstadt, deutlich. Die ursprüngliche (und bis heute der Hauptteil der) Ausstellung des Ghetto-Museums ist im Außenbereich nahe der Route angebracht, die Bewohner/innen des Ghettos 1941-43 entlanggehen mussten, um das Ghetto zu verlassen. Ebenso wie für sie gibt es für die heutigen Besucher/innen bei Regen oder Schnee keinen Schutz. Die Gestaltung, die den Ghettoeingang mit Stacheldraht und Holzmauer imitiert, so wie er von 1941 bis 1943 bestanden hat, bemüht sich darum, den Tatort möglichst authentisch zu rekonstruieren. Im Zentrum des Ausstellungsdesigns steht die lange Holzwand mit den Namen derer, die das Rigaer Ghetto von 1941 bis 1943 durchlaufen haben. Die Mauer besteht aus zwei Teilen: der erste Teil der Holzmauer dokumentiert die Geschichte der 27.80015 lettischen Jüdinnen und Juden, die von August bis November 1941 im Ghetto eingepfercht waren, bevor Friedrich Jeckeln, SSObergruppenführer und Höherer SS- und Polizeiführer, im November 1941 den Befehl zu ihrer Massenerschießung gab. Dieser Teil der Ausstellung enthält auch umfangreiches Bildmaterial zum Leben der jüdischen Minderheit im Lettland der Zwischenkriegszeit (1918-1940). Das Bildmaterial dokumentiert kulturelle und wirtschaftliche Errungenschaften, jüdische Architektur, religiöses Leben sowie die zahlreichen jüdischen Bildungseinrichtungen im Lettland der 1920er und 1930er Jahre. Der zweite Teil der Holzmauer ist den ca. 25.000 aus dem Deutschen Reich nach Riga deportierten Jüdinnen und Juden gewidmet: hier werden die Namen der Deportierten sowie die Daten ihrer Transporte aufgelistet.

15 Siehe A. Angrick/P. Klein: Die Endlösung in Riga, S. 180.

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Abb. 4: Außenanlage des Rigaer Ghetto-Museums mit nachgebauten Eingang

Quelle: Katja Wezel

Ein weiterer Teil der Ausstellung ordnet die Geschichte des Holocaust in Lettland in die europäische Gesamtdarstellung ein: Auf dreisprachigen Informationstafeln (lettisch, russisch, englisch) wird der Holocaust im „Osten“ erläutert, mit besonderer Berücksichtigung der Massenerschießungen als Pendant zu den – im Westen noch immer bekannteren – Vernichtungslagern. An dieser Stelle thematisiert die Ausstellung auch die Täter, Deutsche und Letten, und geht auf das Thema der lettischen Kollaboration ein. Stellvertretend wird hier die Geschichte des berüchtigten Arājs-Kommandos dargestellt, einer Gruppe von rund 300 Letten unter der Führung von Viktors Arājs, die der Einsatzgruppe A des SD unterstand und für den Tod zahlreicher Jüdinnen und Juden v.a. in den kleineren Städten Lettlands verantwortlich war.16 Der SD setzte das Arājs-Kommando zudem zur Bewachung der Ghetto-Insassen auf deren Weg zu den Massenerschießungen von Rumbola und Bikernieki ein.

16 Vīkse, Rudīte: „Members of the Arājs Commando in Soviet Court Files: Social Position, Education, Reasons for Volunteering, Penalty“, in: Valters Nollendorfs/Erwin Oberländer (Hg.): The Hidden and Forbidden History of Latvia under Soviet and Nazi Occupations 1940–1991. Selected Research of the Commission of the Historians of Latvia, Riga: Commission of Historians of Latvia 2005, S. 188–206.

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Abb. 5: Rekonstruiertes Haus aus dem ehemaligen Ghetto

Quelle: Katja Wezel

Die Enge der Lebensbedingungen im Ghetto soll ein auf dem Ausstellungsgelände rekonstruiertes Haus verdeutlichen. Im oberen Geschoß befindet sich eine Wohnung, die eine Vorstellung von den kargen Lebensbedingungen im Ghetto geben soll. Jedem Ghettobewohner standen nur vier Quadratmeter zur Verfügung. Im Erdgeschoss des rekonstruierten Hauses geben Modelle ehemaliger Synagogen Einblick in das jüdische Leben in den verschiedenen Städten Lettlands vor der Vernichtung. Dies ist besonders deshalb wichtig, weil es heute zwar wieder eine jüdische Gemeinde in Lettland gibt, die insgesamt ca. 9.000 Mitglieder zählt – 6.500 von ihnen in Riga –, jedoch nur wenige in den kleineren Städten Lettlands leben, die in der Zwischenkriegszeit teilweise bis zu 50 Prozent jüdische Einwohner/innen hatten. Das Museum füllt eine Erinnerungslücke, denn 65 Jahre lang fehlten Hinweise zum Ghetto in der sogenannten Moskauer Vorstadt fast vollständig. Wenn man sich als Besucher ein Bild von der Lage und Größe des ehemaligen Rigaer Ghettos machen wollte, ging das zuvor nur mit Hilfe einer Führung durch einen der wenigen ortskundigen Guides, die die Geschichte des Ghettos kannten. Daher ist es besonders hervorzuheben, dass das Museum durch seine Offenheit und die Tatsache, dass der Besuch kostenlos ist, Vorbeigehende nun einlädt, sich mit der Geschichte der Judenverfolgung in Riga zu beschäftigen. Die Besu-

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cher/innenzahlen sind mit denen im KGB-Eckhaus zu vergleichen: in den Sommermonaten hat das Museum bis zu 6.500 Besucher/innen im Monat – in den Wintermonaten sind es 1.000 bis 1.500 monatlich.17 Die überwiegende Mehrzahl der Besucher/innen sind Individualtourist/innen aus dem Ausland. Aber auch lettische und ausländische Schulklassen besuchen das Rigaer Ghetto-Museum. Das Museum bietet Führungen in vier Sprachen an: Lettisch, Russisch, Englisch und Deutsch. In der Sowjetzeit waren die Moskauer Vorstadt und das Gelände des ehemaligen Ghettos kein Ort der Erinnerung. Die Einbeziehung jüdischer Opfer in die Gruppe der „Opfer der Sowjetunion im Kampf gegen den Faschismus“ verstellte den Blick auf Jüdinnen und Juden. Während der sowjetischen Herrschaft konzentrierte sich die Erinnerung vollständig auf das Arbeitslager Salaspils, 18 km außerhalb von Riga. Dorthin wurden jahrzehntelang lettische Schulklassen gefahren, um den Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft in Lettland zu gedenken. Salaspils war von deutschen, im Winter 1941-42 nach Riga deportierten Juden gebaut worden.18 Anschließend jedoch diente es vor allem als „Arbeitserziehungslager“ für politische Häftlinge und sowjetische Kriegsgefangene sowie als Durchgangslager für sowjetische Flüchtlinge.19 Die sowjetische, staatlich verordnete Erinnerungspolitik in der lettischen SSR stilisierte Salaspils nichtsdestotrotz zum zentralen Konzentrations- und Vernichtungslager in Lettland. Hingegen verschwieg und negierte sie die anderen Orte der Entrechtung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden in Riga.20 Neben dem Rigaer Ghetto waren das die Erschießungsorte Rumbula und Bikernieki, die Lager Jungfernhof (Jumpravmuiža) und das KZ Kaiserwald (Mežaparks) mitsamt seiner Neben-

17 Gespräch der Autorin mit einem Mitarbeiter des Rigaer Ghetto-Museums am 14.4.2019 in Riga. 18 Vgl. hierzu die Erinnerung eines Überlebenden des Transports, Oskar Benedikt aus Brno, der am 19. Januar 1942 aus Theresienstadt in Riga ankam. Alle Männer zwischen 18 und 40 Jahren wurden nach Salaspils gebracht, um das neue Lager zu errichten. Vgl. Makarova, Elena/Makarov, Sergej: 3000 Schicksale. Die Deportation der Juden aus dem Ghetto Theresienstadt nach Riga, 1942, Riga: Shamir 2015, S. 47. 19 A. Angrick/P. Klein: Die Endlösung in Riga, S. 253. 20 Erst seit 2005 erinnert ein Gedenkstein an das KZ Riga-Kaiserwald. Vgl. Vestermanis, Marģers: „Die Konzentrationslager für Juden während der nationalsozialistischen Besatzungszeit in Lettland 1943 bis 1944“, in: Stefan Karner et al. (Hg.): Österreichische Juden in Lettland. Flucht – Asyl – Internierung, Innsbruck: Studienverlag 2010, S. 149–162, hier S. 149.

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lager.21 Die Folge dieser sowjetischen Erinnerungspolitik ist, dass viele Menschen, die ihr ganzes Leben in Riga verbracht haben, die Orte der Judenverfolgung und -vernichtung in ihrer Stadt nicht kennen. Dies ist ein entscheidender Unterschied zum KGB-Eckhaus, das im kollektiven Gedächtnis der Rigaer Bevölkerung fest als Ort des sowjetischen Terrors verhaftet ist. Die jetzige jüdische Gemeinde in Riga ist gespalten. Es handelt zum einen um zugewanderte russischsprachige Jüdinnen und Juden aus den verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion und zum anderen um Nachfahren lettischer Jüdinnen und Juden – ca. 10 Prozent der lettischen Jüdinnen und Juden gelang es, gemeinsam mit der abrückenden sowjetischen Armee in die Sowjetunion zu fliehen, oft indem sie sich freiwillig zum Dienst in der Roten Armee meldeten. 22 Der Initiator des Rigaer Ghetto-Museums, Rabbi Menachem Barkahan, ist ein Nachfahre einer lettisch-jüdischen Familie, der 1941 die Flucht in die Sowjetunion gelang. Sein Großvater hingegen fiel 1941 den Massenerschießungen von Rumbola zum Opfer. Rabbi Barkahan und der von ihm gegründete Verein Shamir haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an die beinahe totale Vernichtung der jüdischen Minderheit in das kollektive Gedächtnis der Lett/innen einzuschreiben. Das Museum finanziert sich vor allem aus Spenden und Unterstützungen ausländischer NGOs. Der Rigaer Stadtrat unterstützte 2010 die Errichtung der ersten, kleinen Ausstellung im Außenbereich. Aber die Unterfinanzierung bleibt spürbar. Die Witterung hinterlässt Spuren, vor allem an den im Außenbereich angebrachten Informationswänden. Es mangelt außerdem teilweise an ausreichender Beschriftung des verwendeten Bildmaterials. So findet sich in dem Waggon, der den aus dem Deutschen Reich nach Riga deportierten Jüdinnen und Juden gewidmet ist, bekanntes Bildmaterial aus anderen Kontexten. Nur zwei der hier gezeigten Bilder sind tatsächlich in Riga aufgenommen bzw. zeigen Jüdinnen und Juden, die nach Riga deportiert wurden. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass es sich bei dieser Ausstellung – ähnlich wie dem KGB-Eckhaus – um ein work-in-progress handelt. Das Ghetto-Museum wird seit 2010 stetig erweitert. Jedes Jahr kommen neue Teile der Ausstellung hinzu und es ist zu erwarten, dass weitere Änderungen und Ergänzungen vorgenommen werden.

21 Zum KZ Kaiserwald und seinen Nebenlagern siehe Jahn, Franziska: Das KZ RigaKaiserwald und seine Außenlager. Strukturen und Entwicklungen, Berlin: Metropol Verlag 2018. 22 Zu den Gründen warum nicht mehr Jüdinnen und Juden vor der heranrückenden deutschen Armee flohen vgl. Eglitis, Daina/Bērziņš, Didzis: Portal threat: Latvian Jews at the Dawn of Nazi occupation, in: Nationalities Papers 46/6 (2018), S. 1063–1080.

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F AZIT : A UFARBEITUNG

DER NATIONALSOZIALISTISCHEN UND KOMMUNISTISCHEN D IKTATUR IM N EBENEINANDER ? Beide Museen leisten an ihren sehr unterschiedlichen Tatorten einen wichtigen Beitrag zur lettischen Erinnerungskultur. Auf den ersten Blick scheint es zwischen den beiden Museen keinen Zusammenhang zu geben. Sie ergänzen sich und geben ihren Besucher/innen die Möglichkeit, sich zwei wichtigen Perioden der Geschichte Lettlands im 20. Jahrhundert zu nähern. Erst auf den zweiten Blick – zum Beispiel mit der Ausstellung im Hof des KGB-Eckhauses, die die Erschießungen von Opfern der Sowjetdiktatur kurz vor Eintreffen der deutschen Truppen dokumentiert – ergibt sich ein Zusammenhang zwischen den beiden Museen und damit den beiden Diktaturen, die Lettland im 20. Jahrhundert geprägt haben. Aus Sicht der Autorin ist die getrennte Betrachtung der beiden Diktaturen einer ineinander verwobenen Darstellung, wie sie im Lettischen Okkupationsmuseum erfolgt, vorzuziehen, da dies hilft, Opferkonkurrenzen vorzubeugen. Es ist für nachfolgende Generationen wichtig, die Verbrechen beider Diktaturen zu verstehen und sich deren Hintergründe getrennt voneinander bewusst zu machen, ehe die Zusammenhänge, gerade in Bezug auf die nationalsozialistische und kommunistische Propaganda, in den Blick genommen werden können. Die beiden Museen stehen darüber hinaus beispielhaft für Tendenzen in der lettischen Erinnerungskultur. Das KGB-Eckhaus unterstreicht das noch immer starke Bedürfnis, den Opfern der sowjetischen Diktatur eine Stimme zu verleihen und diese (chronologisch betrachtet) letzte dunkle Phase der lettischen Geschichte aufzuarbeiten. Das Ghetto-Museum zeigt hingegen, dass im Umgang mit dem Holocaust Veränderungen spürbar sind. Nachdem Lettland sich lange des Vorwurfs erwehren musste, zu wenig für die Erinnerung des Holocaust zu tun, hat sich dies im neuen Jahrtausend gewandelt. Neben dem Rigaer GhettoMuseum eröffnete ferner 2012 das Žanis-Lipke Museum in Riga-Kipsala, das die Rettung von 40 lettischen Jüdinnen und Juden durch den Arbeiter Žanis Lipke und seine Frau thematisiert. 2018 wurde überdies in Riga der erste Stolperstein verlegt: in Erinnerung an die Familie Brahmane/Brahmans, die bis 1941 in der Stabu iela 59 lebte. Eiziks Brahmans (Brachmann) und seine Frau Maika Brahmane wurden 1941 im Rigaer Ghetto ermordet. Damit ist Lettland Teil dieser europäischen Initiative zur Erinnerung an die Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas geworden.

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L ITERATUR Angrick, Andrej/Klein, Peter: Die Endlösung in Riga, Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. Eglitis, Daina/Bērziņš, Didzis: „Portal threat: Latvian Jews at the Dawn of Nazi occupation“, in: Nationalities Papers 46/6 (2018), S. 1063–1080. „Kas bija Čeka?“ [„Was war die Čeka?“]: http://okupacijasmuzejs.lv/lv/ apmekle/izstade-cekas-vesture-latvija/kas-bija-ceka/ vom 30.3.2019. Kovaļevskis, Pauls/Norītis, Oskars/Goppers, Miķelis (Hg.): Bagais gads. Attēlu un dokumentu krājums par bolševiku laiku Latvijā, Riga: Zelta Abele 1942. Makarova, Elena/Makarov, Sergej: 3000 Schicksale. Die Deportation der Juden aus dem Ghetto Theresienstadt nach Riga, 1942, Riga: Shamir 2015. Michel, Gundega/Nollendorfs Valters: „Das Lettische Okkupationsmuseum. Riga“, in: Volkhard Knigge/Ulrich Mählert (Hg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln: Böhlau 2005, S. 117–129. Museum of the Occupation of Latvia: „Eye-witness accounts about the former KGB building of Riga“, https://www.youtube.com/watch?v=XtyQXC5OB94 vom 17.10.2014. Nollendorfs, Valters (Hg.): Museum of the Occupation of Latvia. Latvia under the Rule of the Soviet Union and National Socialist Germany, 1940–1991, Riga: Okkupationsmuseum 2002. Jahn, Franziska: Das KZ Riga-Kaiserwald und seine Außenlager. Strukturen und Entwicklungen, Berlin: Metropol Verlag 2018. Leggett, George: The Cheka: Lenin’s Political Police. The All-Russian Extraordinary Commission for Combating Counter-Revolution and Sabotage (December 1917 to February 1922), Oxford: Clarendon Press 1981. Lux, Markus: „‚Das Jahr des Grauens‘. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Lettland“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 807–818. Salmanowitsch, Mirjam: „Die Katastrophe der Juden in Lettland“, in: Menachem Barkahan (Hg.): Die Vernichtung der Juden in Lettland 1941–45, Riga: Schamir 2008, S. 36–69. Vestermanis, Marģers: „Die Konzentrationslager für Juden während der nationalsozialistischen Besatzungszeit in Lettland 1943 bis 1944“, in: Stefan Karner et al. (Hg.): Österreichische Juden in Lettland. Flucht – Asyl – Internierung, Innsbruck: Studienverlag 2010, S. 149–162. Vīkse, Rudīte: „Members of the Arājs Commando in Soviet Court Files: Social Position, Education, Reasons for Volunteering, Penalty“, in: Valters Nollen-

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dorfs/Erwin Oberländer (Hg.): The Hidden and Forbidden History of Latvia under Soviet and Nazi Occupations 1940-1991. Selected Research of the Commission of the Historians of Latvia, Riga: Commission of Historians of Latvia 2005, S. 188–206. Wezel, Katja: Geschichte als Politikum. Lettland und die Aufarbeitung nach der Diktatur, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2016.

Autor/innen

Christian Angerer, geboren 1960, studierte Germanistik und Geschichte in Salzburg. Lehramt 1986, Promotion 1994. Er unterrichtet Deutsch und Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich. Bei _erinnern.at_ (Nationalsozialismus und Holocaust – Gedächtnis und Gegenwart) ist er für Oberösterreich zuständig. Seit 2008 arbeitet er in der Pädagogik an der KZGedenkstätte Mauthausen mit. Buchpublikationen u.a.: Aber wir haben nur Worte, Worte, Worte. Der Nachhall von Mauthausen in der Literatur (Hg. mit Karl Schuber, 2007); Nationalsozialismus in Oberösterreich. Opfer – Täter – Gegner (mit Maria Ecker, 22018). Gudrun Blohberger, Studium der Pädagogik in Kombination mit Psychologie und psychosozialer Praxis an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt/Celovec. Bevor Gudrun Blohberger 2015 die pädagogische Leitung an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen übernahm, war sie im Bereich der Gedenkstätten- und Museumspädagogik sowie in der Erwachsenenbildung und als Lehrbeauftragte der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt tätig. Von 2004 bis 2015 war sie Vorsitzende des Društvo/Verein Peršman. Dieser Verein unterstützt die Etablierung einer Gedenkstätte im Süden Kärntens, welche die NS-Geschichte der kärntnerslowenischen Minderheit erzählt. Tobias Ebbrecht-Hartmann ist Kardinal Franz König Chair für Österreichstudien und unterrichtet seit 2014 Filmgeschichte, Visuelle Kultur sowie deutsche und österreichische Sozial- und Kulturgeschichte im Department of Communication and Journalism und im Europäischen Forum der Hebrew University in Jerusalem. Zuvor war er an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf in Potsdam und der Bauhaus Universität Weimar tätig. 2012 war er Fellow am International Institute for Holocaust Studies Yad Vashem. Er ist Autor von Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis: Filmische Narrationen des Holocaust,

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Bielefeld 2011 und Übergänge: Passagen durch eine deutsch-israelische Filmgeschichte, Berlin 2014, sowie zahlreicher Aufsätze zur filmischen Erinnerung an den Holocaust und politische Gewalt im 20. Jahrhundert. Derzeit forscht er über Formen der Erinnerung an den Holocaust im digitalen Zeitalter. Deborah Hartmann, geboren 1984, studierte Politikwissenschaft und Zeitgeschichte in Wien und Berlin (Magisterarbeit: „Europa und die Erinnerung an die Shoah. Zwischen universellem Gedächtnis und partikularen Erinnerungen“). Guide im jüdischen Museum Wien, pädagogische Mitarbeiterin beim American Jewish Committe Berlin und an der Freien Universität Berlin („Zeugen der Shoah“). Seit 2007 lebt sie in Israel und ist pädagogische Mitarbeiterin der International School for Holocaust Studies Yad Vashem. Seit 2015 leitet sie dort die Abteilung für die Kooperation mit Deutschland und Österreich. Monika Heinemann ist Forschungskoordinatorin am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow in Leipzig. Sie hat Osteuropäischen Geschichte, Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Bamberg, München und St. Petersburg (Russland) studiert. 2017 erschien ihre Dissertationsschrift Krieg und Kriegserinnerung im Museum. Der Zweite Weltkrieg in polnischen historischen Ausstellungen seit den 1980er-Jahren (Vandenhoeck & Ruprecht). Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Collegium Carolinum, München, u.a. als Koordinatorin des internationalen Forschungsprojekts „Musealisierung der Erinnerung. Zweiter Weltkrieg und nationalsozialistische Besatzung in Museen, Gedenkstätten und Denkmälern im östlichen Europa“. Zwischen Dezember 2012 und September 2015 betreute sie das Wissenschaftliche Sekretariat der deutschen Sektion der Deutsch-Tschechischen und DeutschSlowakischen Historikerkommission. Hanno Loewy, geboren 1961 in Frankfurt am Main, seit 2004 Direktor des Jüdisches Museum Hohenems, Österreich. Er ist Literatur- und Filmwissenschaftler, Ausstellungsmacher und Publizist. Von 1990 bis 2000 Aufbau des Fritz-BauerInstituts in Frankfurt am Main als Gründungsdirektor. Promotion über Medium und Initiation, Filmtheorie und Märchen bei Béla Balázs. Lehrbeauftragter an der Universität Konstanz. Von 2012 bis 2017 Präsident der Association of European Jewish Museums. Zahlreiche Publikationen über Mediengeschichte, Jüdische Gegenwart und Vergangenheit, u.a. Holocaust. Grenzen des Verstehens, Reinbek 1992, Béla Balázs: Märchen, Ritual und Film, Berlin 2003, Jukebox. Jewkbox! Ein jüdisches Jahrhundert auf Schellack & Vinyl, Hohenems 2014.

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Daniel Logemann studierte von 2000 bis 2007 Osteuropäische Geschichte, Polnische Literaturwissenschaft und Südosteuropastudien in Jena, Lublin und Krakau. Mit einem Stipendium der Volkswagenstiftung promovierte er im Projekt „Schleichwege. Inoffizielle Begegnungen und Kontakte sozialistischer Staatsbürger 1956-1989. Zwischen transnationaler Alltagsgeschichte und Kulturtransfer“ über Alltagskontakte zwischen Deutschen und Polen in Leipzig 1972 bis 1989. Für das Manuskript erhielt er 2010 den Wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen. Von 2010 bis 2015 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Kurator im Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk tätig. Danach war er von Februar 2015 bis März 2018 Wissenschaftlicher Geschäftsführer des „Europäischen Kollegs Jena. Das 20. Jahrhundert und seine Repräsentationen“. Seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora im Bereich NS-Zwangsarbeit/ Topographie der Moderne. Andrea Mork ist Chefkuratorin am Haus der Europäischen Geschichte, Brüssel und hat zusammen mit dem Akademischen Projektteam das Konzept und das Narrativ für die Dauerausstellung entwickelt. Sie studierte Geschichte und Politische Wissenschaften an der RWTH Aachen und schrieb ihre Doktorarbeit über „Richard Wagner als politischer Schriftsteller. Weltanschauung und Wirkungsgeschichte“. Sie war Projektleiterin verschiedener Ausstellungen am Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn („Ungleiche Schwestern. Frauen in West- und Ostdeutschland“; „Verfreundete Nachbarn. Deutschland – Österreich“; „Leni Riefenstahl“ und „Skandale in Deutschland seit 1945“) und Mitglied verschiedener Beratungsgremien, unter anderem des Wissenschaftlichen Beirats für die Ausstellungsreihe „Karl der Grosse – Macht, Kunst, Schätze“ (2014). Ljiljana Radonić leitet am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften das durch einen ERC Consolidator Grant finanzierte Projekt „Globalized Memorial Museums. Exhibiting Atrocities in the Era of Claims for Moral Universals“. Sie verfasste ihre Habilitation über den Zweiten Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen – von 2013–2017 im Rahmen eines APART-Stipendiums, 2018/19 als Elise-Richter-Stipendiatin des FWF. Seit 2004 lehrt sie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien über Antisemitismustheorie und (ostmittelund südost-)europäische Erinnerungskonflikte seit 1989. 2015 war sie Gastprofessorin für kritische Gesellschaftstheorie an der Universität Gießen, 2017 am Centrum für jüdische Studien der Universität Graz. Ihre Dissertation über den

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Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards (Frankfurt: Campus 2010) wurde mit dem Michael Mitterauer-Preis für Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte in Wien ausgezeichnet. Dirk Rupnow, geb. 1972 in Berlin. Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an der FU Berlin und in Wien. Seit 2009 an der Universität Innsbruck, 2010–2018 Leiter des Instituts für Zeitgeschichte, seit 2018 Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät. Gründungskoordinator des Forschungszentrum „Migration & Globalisierung“ (2015) und Gründungssprecher des Doktoratskollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“ (2016). Zahlreiche Gastaufenthalte an Forschungseinrichtungen in Österreich, Deutschland, Frankreich, Israel und den USA. 2017 Distinguished Visiting Austrian Chair Professor an der Stanford University. 2009 Fraenkel Prize in Contemporary History der Wiener Library, London. Zahlreiche Forschungs-, Sammel- und Ausstellungsprojekte im Bereich der Migrationsgeschichte („Migration sammeln“, „Arbeitsmigration in Südtirol seit dem Zweiten Autonomiestatut“, „Deprovincializing Contemporary Austrian History“, „Spurensuche: Hall in Bewegung“, „Transnationale Geschichtsbilder“). Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Dokumentationsarchivs Migration Tirol und des Hauses der Geschichte Österreich. Martin Sabrow, geb. 1954 in Kiel, promoviert 1993 an der Universität Freiburg mit einer Dissertation über den Rathenaumord, habilitiert 2000 an der Freien Universität Berlin mit einer Studie zur DDR-Geschichtswissenschaft; seit 2004 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Potsdam, seit 2009 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Politische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Diktaturforschung, Historiographie- und Erinnerungsgeschichte. Seine jüngste größere Publikation Erich Honecker. Das Leben davor – 1912-1945 erschien 2016 und wurde 2017 mit dem Golo-Mann-Preis ausgezeichnet. Barbara Staudinger studierte Geschichte, Theaterwissenschaft und Judaistik in Wien und promovierte 2001 mit einer Arbeit über Judenfeindschaft und jüdische Rechtsstellung am Reichshofrat, 1559–1670. 1998 bis 2013 arbeitete sie mit Unterbrechung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für jüdische Geschichte Österreichs (St. Pölten). 2005–2007 war sie Kuratorin am Jüdischen Museum München, 2013–2018 freiberufliche Kuratorin und seit 2014 ist sie im

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kuratorischen Team der neuen österreichischen Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Seit September 2018 ist sie Direktorin des Jüdischen Museums Augsburg Schwaben. Georg Traska studierte Kunstgeschichte an den Universitäten Wien und Trier. Seit 2007 arbeitet er an zeitgeschichtlichen Forschungsprojekten, die ihre gesellschaftliche Wirksamkeit in unterschiedlichen Publikationsformen umsetzen. Oral History, Video-Dokumentation, die Konzeption von Ausstellungen und multimedialen Web-Darstellungen sind zentrale Instrumente dieser Arbeit. Die Projekte sind bevorzugt transnational ausgerichtet und untersuchen – in unterschiedlichen institutionellen Kooperationen – individuelle und kollektive Positionen in kulturell sowie ethnisch komplexen Gesellschaften. Georg Traska war Mitbegründer des Instituts für historische Intervention (2008). Er realisierte mehrere Projekte als Mitarbeiter des IKT der ÖAW. Wichtige Kooperationspartner der letzten Jahre waren die Österreichische Mediathek, Antikomplex (Prag), das Österreichische Museum für Volkskunde, erinnern.at und die Wienbibliothek im Rathaus. Heidemarie Uhl ist Historikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Graz. Gastprofessuren an der Hebrew University Jerusalem, der Universität Strasbourg, der AUB Andrassy University Budapest und an der Stanford University CA. Uhl ist Mitglied der Austrian Delegation to the IHRA International Holocaust Remembrance Alliance und Mitglied (stv. Vorsitzende) des Internationalen wissenschaftlichen Beirats und wissenschaftliche Konsulentin des Hauses der Geschichte Österreich, stv. Vorsitzende der Militärhistorischen Denkmalkommission am Verteidigungsministerium, Vorsitzende des Beirats zur Errichtung von Gedenk- und Erinnerungszeichen der Stadt Wien und Mitglied der Fachkommission der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Katja Wezel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Osteuropäische Geschichte der Universität Göttingen. Von 2013 bis 2018 war sie DAAD Visiting Assistant Professor am Department of History der University of Pittsburgh. Ihre Forschung konzentriert sich auf Geschichtspolitik, Erinnerungskulturen und Nationalismus, sowie Wirtschaftsgeschichte, Stadtgeschichte und Digitale Geschichte. Ihr regionaler Schwerpunkt sind die Baltischen Staaten. Ihre Promotion zu Geschichte als Politikum. Lettland und die Aufarbeitung nach der Diktatur ist 2016 im Berliner Wissenschafts-Verlag erschienen. Aktuell arbeitet sie an einem

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Forschungsprojekt zum Thema „Die kosmopolitische Stadt. Riga als globaler Hafen und internationale Handelsmetropole (1861–1939)“, gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien der Bundesrepublik Deutschland (BKM). Regina Wonisch studierte an der Universität Wien Geschichte/Germanistik und absolvierte den Fakultätslehrgang für Museums- und Ausstellungsdidaktik. Von 2003 bis 2006 war sie im Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung im Arbeitsbereich Museologie tätig und kuratierte freiberuflich Ausstellungen. Seit 2007 ist sie Mitarbeiterin des Instituts für Wissenschaftskommunikation und Hochschulforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (Standort Wien) und leitet das Forschungszentrum für historische Minderheiten in Wien. Sie hat gemeinsam mit Roswitha Muttenthaler die Publikation Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen verfasst. Mirjam Zadoff ist seit Mai 2018 Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München und war bis Sommer 2019 Inhaberin des Alvin H. Rosenfeld Chair in Jewish Studies und Professorin für Geschichte an der Indiana University Bloomington. Sie hat Geschichte, Zeitgeschichte und Judaistik an der Universität Wien studiert, an der LMU München promoviert und sich dort habilitiert. Zadoff ist Autorin zahlreicher Artikel und der in mehrere Sprachen übersetzten Monographien Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem und Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne.

Museum Ann Davis, Kerstin Smeds (eds.)

Visiting the Visitor An Enquiry Into the Visitor Business in Museums 2016, 250 p., pb., numerous ill. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3289-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3289-1

Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hg.)

Das Museum als Provokation der Philosophie Beiträge zu einer aktuellen Debatte Januar 2018, 286 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4060-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4060-5

Andrea Kramper

Storytelling für Museen Herausforderungen und Chancen 2017, 140 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4017-5 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4017-9 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4017-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Museum NÖKU-Gruppe, Susanne Wolfram (Hg.)

Kulturvermittlung heute Internationale Perspektiven 2017, 222 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3875-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3875-6

Carmen Mörsch, Angeli Sachs, Thomas Sieber (Hg.)

Ausstellen und Vermitteln im Museum der Gegenwart 2016, 344 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3081-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3081-1

Robert Gander, Andreas Rudigier, Bruno Winkler (Hg.)

Museum und Gegenwart Verhandlungsorte und Aktionsfelder für soziale Verantwortung und gesellschaftlichen Wandel 2015, 176 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3335-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3335-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de