Der unsichtbare Text, der erschöpfte Leser: Eine Methodenkritik der Inhaltsanalyse und eine Einführung in die Kunst des Schreibens und Lesens [1 ed.] 9783205216568, 9783205216544


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Der unsichtbare Text, der erschöpfte Leser: Eine Methodenkritik der Inhaltsanalyse und eine Einführung in die Kunst des Schreibens und Lesens [1 ed.]
 9783205216568, 9783205216544

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DER UNSICHTBARE TEXT DER ERSCHÖPFTE LESER Eine Methodenkritik der Inhaltsanalyse und eine Einführung in die Kunst des Schreibens und Lesens

CHRISTIAN MOSER-SOLLMANN

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Christian Moser-Sollmann

Der unsichtbare Text, der erschöpfte Leser Eine Methodenkritik der Inhaltsanalyse und eine Einführung in die Kunst des Schreibens und Lesens

Böhlau Verlag Wien Köln

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Modern Society, Wien, und des Amtes der Tiroler Landesregierung, Innsbruck.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Anja Borkam, Jena Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21656-8

Für Janina, Sebastian und Cheyenne

Madame, Man wird bei der zweiten oder dritten Lektüre des Werkes bemerken, daß der Chevalier Zanobi nicht ein Wort von all dem, was er sagt, glaubt oder denkt, daß er der größte Skeptiker und der größte Akademiker der Welt ist. Daß er an nichts glaubt, an nichts, nichts, nichts. Aber, bitte, bitte, Madame, lassen Sie dieses Wort, das der Schlüssel des Geheimnisses ist, nicht verlauten! (Ferdinando Galiani, Brief an Madame d’Epinay am 27. Januar 1770) EXOTÉRIQUE & ESOTÉRIQUE, adj. (Hist. de la Philosophie.) Le premier de ces mots signifie extérieur, le second, intérieur. Les anciens philosophes avoient une double doctrine; l’une externe, publique ou exotérique; l’autre interne, secrete ou ésotérique. La premiere s’enseignoit ouvertement à tout le monde, la seconde étoit reservée pour un petit nombre de disciples choisis. (Denis Diderot, Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres)

Inhaltsübersicht

Vorbemerkungen ...........................................................................

9

2. Liberale Lebenswelten ................................................................... 2.1 Öffentlichkeit und öffentliche Meinung.............................................. 2.2 Die Frage nach der Wahrheit und ihre Funktionalisierung in der Marktkommunikation................................................................ 2.3 Verkaufen als Dienst an der Allgemeinheit ......................................... 2.4 Strategien zur Primärquellenerzeugung .............................................

15 34

1.

3.

44 54 64

Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst- und Sammlermärkte ..... 79

4.

Disruption der Medienbranche, Aufstieg der Daten- und Wissenskonzerne........................................................................... 89 4.1 Der Computational Turn und seine Auswirkungen auf Selbstverständnis und Methodik der Wissenschaft .............................. 98 4.2 Der Computational Turn als neue Welle des Positivismusstreits und der Versozialwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften...................................................................... 105 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt .. Geheimnis und Inhalt...................................................................... Schweigen und Inhalt ...................................................................... Agenda-Setting und Inhalt ............................................................... Gerücht und Inhalt ......................................................................... Esoterik und Inhalt .........................................................................

117 127 136 140 143 146

6.

„Bad and Boujee“ – uneigentliches Sprechen im Hip-Hop ................ 171

7.

Die Bedeutung des esoterischen Schreibens ................................... 199

8.

Literatur ........................................................................................ 203

9.

Personenregister ........................................................................... 218

10. Sachregister .................................................................................. 221

1.

Vorbemerkungen

Ein instrumenteller Vernunftbegriff habe die Erkenntnisfähigkeit der Sozial- und Kulturwissenschaften eingeschränkt, beanstandet der IT-Vordenker und Technologiekritiker Joseph Weizenbaum. Der Computer als universelle Maschine und Alleskönner hat zu einem Klima der technischen Zwangsläufigkeit und zu einer Kultur des unhinterfragten Technikdeterminismus geführt. Der Computer hat sich einerseits als neue Universalmetapher etabliert, mit der die Wissenschaft bestimmte Aspekte der Welt leichter verstehen kann, andererseits verdrängt er durch seinen Totalitätsanspruch aber auch nichtnaturwissenschaftliches Denken. Die Digitalisierung und der Siegeszug der Naturwissenschaften haben einen instrumentellen Vernunftbegriff ganzheitlich durchgesetzt. Dieser formalwissenschaftlich verengte Vernunftglaube hat laut Weizenbaum erkenntnistheoretisch blinde Flecken, da er an der Unterscheidung zwischen Entscheidung und Wahl scheitere. In seiner Wissenschaftskritik bemängelt er das Vertrauen in die unbegrenzte Erkenntnisfähigkeit der modernen Hochleistungsrechner. Für Weizenbaum, der 1966 das Sprachprogramm „ELIZA“ entwickelte, mit dem der Nutzer eine Unterhaltung führen konnte, lässt sich der fatale Glaube an die Unfehlbarkeit der Maschinen auf einen einfachen Nenner bringen: „Der Glaube an die Gleichung ‚Vernunft = Logik‘ hat die prophetische Macht selbst der Sprache untergraben. Wir können zwar zählen, aber wir vergessen immer schneller, wie wir aussprechen sollen, bei welchen Dingen es überhaupt wichtig ist, daß sie gezählt werden, und warum es überhaupt wichtig ist.“1 Die binäre Logik und das Wissen der Computerwissenschaft sind laut Weizenbaum nicht exakter als das Wissen der Geistes- und Kulturwissenschaften und haben für ihn zudem den Nachteil, die Gültigkeit des impliziten und nichtformalen Wissens zu bestreiten, zu ignorieren und systematisch zu verdrängen. Der Kern seiner Technologiekritik ist einfach: Weizenbaum hält daran fest, dass nicht alle Aspekte der Realität mithilfe von Maschinen berechenbar seien. Das Internet hat sich durch die Abwesenheit eines redaktionellen Prinzips in einen Supermarkt und eine marktaffine Wunscherfüllungsmaschine verwandelt, wo Petabytes von Datenmüll dem algorithmischen Gebot der Popularität und nicht dem Gebot der Wahrheit folgen. Als Ausweg aus diesem selbst verschuldeten Dilemma, das Weizenbaum in einer Technologiegläubigkeit begründet sieht, wünschte er sich einen Kulturwandel, dem sich auch die vorliegende Arbeit verpflichtet fühlt. Der Internetnutzer sollte, nach Weizenbaums Überzeugung, den Daten der Computer

1 Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a.M. 1977, S. 33.

10

Vorbemerkungen

misstrauen. Der sich selbst als „ungebildeter Ingenieur“ bezeichnende Weizenbaum warnte vor allem vor einer unkritischen Verwendung des Begriffs Information: „Die Signale im Computer sind keine Informationen. Es sind ‚nur‘ Signale. Und es gibt nur einen Weg, aus Signalen Informationen zu machen, nämlich die Signale zu interpretieren.“2 Der Gesellschaftskritiker vermutete den Schlüssel zum richtigen Umgang mit der Omnipräsenz maschineller Daten nicht im unkritischen Technologiedeterminismus, sondern sah die genuin menschliche Fähigkeit des Fragens als wichtigste Kulturtechnik des Menschen. Nur wer die richtigen Suchanfragen stelle und richtig lese,3 könne einen emanzipatorischen Umgang mit dem Computer erlernen. Und das Erlernen dieser für das 21. Jahrhundert nützlichen Kulturtechnik begann für Weizenbaum in der Tradition des Sokrates mit der Kunst, die richtigen Fragen zu stellen.4 Eine skeptische Grundeinstellung ist gegenwärtig für jeden Leser und Rezipienten und nicht mehr nur für Empiriker und Wissenschaftler geboten. Fragen zu stellen und langsam und kritisch zu lesen, das steht am Beginn jeder wissenschaftlichen Reflexion. Die Alten beherrschten diese Kunst, zwischen den Zeilen eines rein formalen und manifesten Textverständnisses zu lesen, und beugten so einer zu engen Auslegung vor. Ein solche esoterische Interpretation müsste am Beginn jeder Lektüre von Texten der liberalen Massengesellschaft stehen, wird aber als Methode von den Lesern und der Wissenschaft heute kaum mehr gekannt und angewandt. Selbst das „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“ verbindet mit dem Terminus esoterisch keine wissenschaftliche Arbeitsweise mehr, sondern definiert ihn ausschließlich als „innerlich“ und „nur für den Gebrauch im Inneren (einer Schule, einer Gemeinde) bestimmt“.5 Diese Selbstbeschränkung auf das Geschriebene und auf manifeste Bedeutungsebenen von Texten führt den Rezipienten und die Wissenschaft oft zu voreiligen, falschen und epistemologisch dürftigen Schlussfolgerungen. Denn, wie der Wiederentdecker dieser antiken Verfahrensweise, Leo Strauss festgehalten hat, die große Gefahr der Inhaltsanalyse bestehe darin, Texte und Autoren „too literally“ zu interpretieren, weil der Wissenschaftler „did not read […] literally enough“.6 Die vorliegende Arbeit möchte diese blinden Flecken der empirischen Methodik offenlegen und den lange verges-

2 Weizenbaum, Joseph/Wendt, Gunna: Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom?, Freiburg im Breisgau 2006, S. 25. 3 Zum sorgfältigen Lesen gehören Quellenkunde sowie das Beachten von Eigentümerinteressen und Nachrichtenselektionskriterien und vieles mehr. 4 Zum hermeneutischen Vorrang der Frage vergleiche Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 2010, S. 368ff. 5 Siehe Regenbogen, Arnim/Meyer, Uwe: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 202. 6 Strauss, Leo: Vorwort zur amerikanischen Ausgabe, in: Strauss, Leo: Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften, Stuttgart/Weimar 2008, S. 54.

Vorbemerkungen

senen Lektüreschlüssel wieder für die Wissenschaft und den einzelnen Rezipienten urbar machen, da esoterische Schreib- und Lesetechniken die Eintrittskarte zur umfassenden „Computer Literacy“ im digitalen Zeitalter bieten. Ganzheitliches Verstehen von Texten und Gedanken beginnt für Strauss on an exact interpretation of his explicit statements. […] By interpretation we mean the attempt to ascertain what the speaker said and how he actually understood what he said, regardless of whether he expressed that understanding explicitly or not. By explanation we mean the attempt to ascertain those implications of his statements of which he was unaware.7

Um esoterisch schreiben zu lernen, muss kritische Wissenschaft zuerst wieder lesen lernen. Lesen und Zuhören stehen für Strauss am Beginn jeder Forschertätigkeit. Wissenschaftler wie Leser lernen „to write well by reading well good books, by reading most carefully books which are most carefully written“.8 Nicht alle Texte, aber die interessengebundenen von Politik, Wirtschaft, Marktkommunikation und Kunstkritik benötigen ein esoterisches Textverständnis, um sie ganzheitlich zu verstehen. Dieser Rückgriff auf esoterisches Wissen wird im 21. Jahrhundert auch für nichtphilosophische Texte wichtig, da sich die Hauptakteure der internationalen Medienkonzerne und des Kunstmarktes durch die digitale Revolution in ihrer Morphologie drastisch verändert haben. Digitale Monopolisten wie Google, Apple und Facebook verändern das Geschäft traditioneller Branchenriesen. Die Macht dieser Informationskonzerne ist groß. Sie produzieren, selektieren und framen Inhalte und Unterhaltungsformate. Sie bestimmen, was Thema und Inhalt wird, entscheiden über die Platzierung von Suchergebnissen, sammeln persönliche Daten und vermarkten Benutzerprofile. Die digitale Kultur als Schlaraffenland verspricht den Konsumenten permanente Technologieevolutionen und einen Überfluss an Daten. Die Sozialwissenschaften umschreiben diese tektonischen Veränderungen mit jährlich wechselnden Schlagwörtern wie „Postfaktizität“, „Fake-News“, „Postdemokratie“, „Filter-Blasen“, „Sprechverbote“, „Ökonomisierung von Politik und Kunst“ und so weiter. Medien haben sich vom Speicher zum Verteiler gewandelt. Sie richten sich nicht mehr an ein disperses Publikum (1:n). Jeder Rezipient ist theoretisch auch Sender (n:n), wenngleich meist ohne monetarisierbare Reichweite, weshalb in der Praxis vorgefertigte Inhalte dominieren. Die Globalisierung des Kunstmarktes und die

7 Strauss, Leo: How to Study Spinoza’s Theologico-Political Treatise, in: Strauss, Leo: Persecution and the Art of Writing, Chicago/London 1988, S. 143. 8 Strauss, Leo: How to Study Spinoza’s Theologico-Political Treatise, in: Strauss, Leo: Persecution and the Art of Writing, Chicago/London 1988, S. 144.

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12

Vorbemerkungen

Behandlung von Kunst als Ware haben zu einer Spannung zwischen Kritikern, Sammlern und Händlern geführt. Allzu oft substituieren Hype, Image, Kommerz und Moden das gehaltvolle Schreiben über das Wesen der Kunst. Damit hat sich die (Gatekeeper-)Funktion von Medien, Experten, Sammlern, Wissenschaftlern, Rezipienten und Galeristen verändert und der „lange Sommer der Theorie“ (Felsch) neigt sich seinem Ende entgegen. Nach dem Abgesang auf die Theorie konstatieren die Sozial- und Kulturwissenschaften nun eine Krise ihres etablierten Instrumentariums: Inhaltsanalysen und Marktforschung liegen verdächtig oft falsch, die schwindende Aussagekraft von Statistiken, das schwindende Vertrauen in Institutionen (Politik, Wirtschaft, NGOs) ermüden und erschöpfen die Konsummonaden und machen das Elektorat anfällig für antidemokratische und autoritäre Angebote. Diese Entwicklungen haben zu einer oft diagnostizierten Krise von Massen- und Konsumgesellschaft geführt. Statt der Zensur früherer Jahrhunderte erschweren Markteintrittsbarrieren und von der Kulturindustrie vorgegebene Formate eine ergebnisoffene Kultur- und Kunstproduktion. Diese disruptiven Entwicklungen sind der Ausgangspunkt meiner Untersuchung, in der ich die Umrisse einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Methodenkritik entwerfe. War das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Massenmedien und der angewandten Forschung, bietet die umfassende Digitalisierung die Möglichkeit, postpositivistische Methoden wie die Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens-undSchreibens und des unzuverlässigen Erzählens neu zu entdecken und diese als Navigationsinstrument für Rezipienten und Wissenschaftler zu nutzen. Eine durch die Methode des Zwischen-den-Zeilen-Lesens-und-Schreibens mögliche Kontextualisierung, Hierarchisierung und Kanonisierung wird erarbeitet. Inmitten digitaler Datenberge und homogenisierter Schreibweisen entstehen so neue Kontextualisierungsebenen sowie die Möglichkeit eines emanzipatorischen Schreibens und Lesens. In Ergänzung zum empirisch-sozialwissenschaftlichen Instrumentarium geht meine Abhandlung von der Perspektive der theoretischen Erneuerung aus und verwendet das sokratische Verfahren kritischer Klärung. Diese philosophische Denkschule begründet, warum es in der Wissenschaft Wahrheiten geben muss, die in Texten nicht ausgesprochen werden, und es deshalb einen Unterschied zwischen exoterischer und esoterischer Lehre gibt. Durch die Entbergung eines impliziten Textes wird eine Ergänzung des sozialwissenschaftlichen Methodenportfolios angestrebt. Die vorliegende Arbeit zeichnet nach, wie die Etablierung der empirischen Sozialund Kulturwissenschaften den Methodenkanon beschnitten hat und warum ein Rekurs auf ein geisteswissenschaftliches Fachverständnis für die Publizistik und Kommunikationswissenschaft ertragreich ist und für das Fach bereichernd sein kann. Denn die Repräsentation, das Schreiben, das Verkaufen und Vermitteln von

Vorbemerkungen

Kunst und kulturindustriellen Waren haben sich in der digitalen Kultur verändert, und eine strikt positivistische Wissenschaft verwirrt manchmal mehr, als sie zu klären vermag. Die Globalisierung der Medien- und Datenkonzerne sowie des Kunstmarktes und die Krise der Kritik haben zu mehreren Klüften zwischen (Kunst-)Kritik, Wissenschaft, Sammlern und Rezipienten geführt. In dieser vermeintlichen – oft mit Naturgesetzlichkeiten erklärten – Marktlogik substituieren Hype, Image, Kommerz und Moden das gehaltvolle und ergebnisoffene Schreiben und Nachdenken über Kunst und Kultur. „Wozu also Theorie“, fragen Ideologen, „wenn Big Data eine neue Ära des Zählens, Vermessens, aber auch der Anhäufung irrelevanter Daten, der ‚Materialhuberei‘ und des ‚positivistischen Dogmas‘ (Voegelin) begründet?“ Diese Entwicklungen führen mich zu einem Wissenschaftsverständnis, das sich einer kritischen und nicht einer administrativen (also von kommerziellen Auftraggeberinteressen geprägten) Forschung verpflichtet sieht. In Abgrenzung zu den positiven Wissenschaften, welche ausschließlich „Aussagen über das Seiende und nie über Sein vollziehen“, vollzieht kritische Wissenschaft „diesen Unterschied und gewinnt mit ihm als Thema nicht Seiendes, sondern das Sein des Seienden“.9 Bei den positiven Wissenschaften liegen Gegenstand und Thema immer schon vor, weshalb Heidegger positive Wissenschaften als Wissenschaft vom Seienden begreift. Im Gegensatz dazu ist kritische Wissenschaft „nicht positiv, weil ihr der Gegenstand nicht vorgeben ist, sondern erst entdeckt werden muss. Entdecken, Erschließen, Bestimmen und Fragen nach Sein ist σοφία.“10 Der unbestreitbare technologische und gesellschaftliche Wandel durch die digitale Revolution im Spätkapitalismus wird daher kritisch und nicht positiv untersucht. Durch diesen Perspektivenwechsel wird die (notwendig kritische) Kulturtechnik des Zwischen-den-Zeilen-Lesens-und-Schreibens somit zum Ausgangspunkt einer emanzipatorischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Methodenkritik und nicht länger als Dystopie („neue Unübersichtlichkeit“, „Informationsflut“, „rasender Stillstand“) verortet. In Kapitel 2 wird der Liberalismus als bestimmendes Ordnungsprinzip der digitalen Gesellschaft identifiziert. Das politische Kind der Aufklärung hat bestimmte Lesarten von Öffentlichkeit durchgesetzt und den Wahrheitsbegriff in der Marktkommunikation instrumentalisiert, wie ebenfalls in Kapitel 2 erörtert wird. Diese Camouflage, die das Durchsetzen von Partialinteressen als Dienst an der Allgemeinheit tarnt, und die für den Spätkapitalismus typischen Strategien zur Erzeugung von geschlossenen Primärquellensystemen sind dabei oft wenig beachtete Teilaspekte. In Kapitel 3 werden die Auswirkungen des liberalen Paradigmas auf den

9 Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, Frankfurt a.M. 2004, S. 8. 10 Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, Frankfurt a.M. 2004, S. 11.

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Vorbemerkungen

globalen Kunstmarkt untersucht. Kapitel 4 geht der Frage nach, welche Auswirkungen der Computational Turn und die Ökonomisierung universitärer Lehre auf das Selbstverständnis der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften hatten und wie der darauf aufbauende Neopositivismus zu einem verkümmerten Methodenverständnis führen musste. Kapitel 5 weist die konkreten Schwachstellen der empirischen Sozialwissenschaften anhand des Beispiels Inhaltsanalyse nach. Die Inhaltsanalyse hat methodenimmanente Mängel, die hier diskutiert werden. Zudem werden für ein ganzheitliches Methodenverständnis unerlässliche Kategorien wie Geheimnis, Schweigen, Agenda-Setting, Gerüchte, Esoterik sowie die Bedeutung des Autors systematisch ausgeklammert, was die Nützlichkeit und Validität dieses Erhebungsinstruments bei manchen Untersuchungen einschränkt. Wie belebend und ertragreich esoterische Analysen gegenwärtiger Kulturphänomene sein können, wird abschließend anhand des Sprachgebrauchs im Hip-Hop diskutiert. Das Fallbeispiel Hip-Hop wurde deshalb gewählt, weil dieses Genre die global erfolgreichste Musikrichtung des 21. Jahrhunderts ist und zudem die zentralen Werte, Diskurse und Tabus der liberalen Massengesellschaft in nuce verhandelt.

2.

Liberale Lebenswelten

Ich sagte ihm, […] ich möchte auch gerne liberal sein; denken Sie nicht auch, daß ich es gerne wäre? Aber die Welt ist nicht so, daß man liberal sein kann. Das geht auf Kosten anderer; die Frage ist, wer zahlt das; und die dritte und vierte Welt, die fünfte und sechste Welt, die auf uns zukommt, die werden also gar nicht liberal sein, sondern da werden brutale Forderungen sein.11

Die neuen „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) sind das Ergebnis ständiger Kontrollen und Selektionen einer globalen Marktdynamik, die Menschen in Vertriebene, Deportierte, Ausgestoßene, Nutzlose, Illegale und für das Kapital bis auf Widerruf Verwertbare12 unterteilt. Diese Entwicklungen führen zu einer zunehmenden Paranoia vieler politischer Entscheidungsträger. Aktuell „glauben die liberalen demokratischen Regime, sich nahezu permanent im Krieg mit neuen, schwer zu fassenden, beweglichen und vernetzten Feinden zu befinden. Diese neue Art von Krieg (der das Konzept einer ‚totalen‘ Verteidigung und eine Anhebung der Toleranzschwelle für Ausnahmen und Gesetzesverstöße erfordert) findet im Inneren wie im Ausland statt“.13 Der politische Philosoph Achille Mbembe bewertet diese krisenhaften Entwicklungen nicht als Creatio ex nihilo, sondern als logische Konsequenz aus Moderne und Aufklärung. Mbembe unterteilt in seiner Studie die Geschichte der Moderne (und den damit kausal verbundenen Imperialismus, Rassismus und Kolonialismus) in drei Phasen. Als erste Phase bestimmt er die organisierte Entwertung afrikanischer Menschen in rechtlose Objekte, deren „Wert“ nach merkantilistischer Logik wie bei Waren festgelegt worden sei. Die zweite Phase datiert er mit Ende des 18. Jahrhunderts, als die rechtlosen Sklaven sich politisch organisiert, ihre Anliegen als politische Subjekte verschriftlicht und in revolutionären Bewegungen begonnen hätten, ihren Status als Menschen mit unveränderlichen Rechten einzufordern. Mit der Verkündung der Unabhängigkeit Haitis durch ehemalige Sklaven und der Proklamation einer progressiven Verfassung14 im Jahr 1804 habe diese zweite Phase einen ideengeschichtlichen Höhepunkt erreicht. Als dritte Phase der Moderne nennt Mbembe die Globalisierung der Märkte 11 Taubes, Jacob: Ad Carl Schmitt: Gegenstrebige Fügung, Berlin 2011, S. 52f. 12 Damit verbunden die subkutane Forderung, sich freiwillig und permanent selbst zu optimieren, um den Anforderungen des Marktes entsprechen zu können. 13 Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 52. 14 Die haitianische Verfassung schuf die Unterscheidung zwischen ehelicher und unehelicher Geburt ab, erlaubte die Enteignung der französischen Kolonialisten, proklamierte Religionsfreiheit und verbot Adel und Sklaverei.

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Liberale Lebenswelten

(beginnend mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems),15 die von der Hegemonie des Finanzkapitalismus, dem Imperativ der Privatisierung und dem Aufstieg der digitalen Kommunikationstechnologien gekennzeichnet sei. Die Digitalisierung hat mit High-Frequency-Trading zu einem exponentiellen Mobilitätszuwachs im Kapitalverkehr geführt. Bei Joseph Vogl agiert der kapitalistische Geist nicht rational, mit ruhiger und unsichtbarer Hand, vernünftig und schöpferisch, sondern wird von „Massenwahn, Herdenverhalten und blinden Nachahmungstrieben“16 beherrscht. In dieser dritten Phase komme es zu einer Ausweitung des Kapitalbegriffs, es herrsche der unhinterfragte Glaube, „dass alle Ereignisse und Verhältnisse der Lebenswelt mit einem Marktwert ausgestattet werden könnten“.17 Für Vogl ist diese Epoche gekennzeichnet von dem Bestreben, die ganze Welt auf der Basis der Betriebswirtschaftslehre zu „rationalisieren“. Diese „Rationalisierungsprozesse“ würden von einer Zunahme von Gleichgültigkeit und Apathie in der Bevölkerung begleitet und von den politischen und wirtschaftlichen Funktionseliten „alternativlos“18 abgewickelt, und sie würden von einer erzwungenen Codierung der Alltagswelt begleitet. Das grenzenlose Kapital übernimmt nun die Gestaltung aller zwischenmenschlichen Beziehungen und operiert auf der Basis sich vervielfachender Schulden. Der fordistische, gewerkschaftlich organisierte Arbeiter ist durch den prekär beschäftigten, flexiblen Arbeitsnomaden ersetzt worden. Der „neue Mensch, Subjekt des Marktes und der Schulden“ besitze „als Tier unter Tieren […] angeblich kein eigenes Wesen, das es zu beschützen oder zu bewahren gälte.“19 Dieser „neue Mensch“ hebt sich aus der humanistischen Perspektive von Mbembe vom entfremdeten Subjekt der Industrialisierung ab. Mbembe beschreibt die Individuen gefangen in ihrem eigenen Begehren, und die vereinzelten Konsummonaden böten Privates und Intimes, Berufliches und Öffentliches bereitwillig als handelbare Ware an. Außermarktmäßige Lebensbereiche würden kolonisiert und in die Sphäre der Betriebswirtschaft eingegliedert. Das marktkonforme Subjekt sei bestrebt, sein ganzes Leben und „sein Verhalten an den Normen des Marktes auszurichten, und zögert dabei kaum, sich selbst und andere für die Optimierung

15 Damit wurde die Grundlage für die Einrichtung von Devisenmärkten geschaffen und die Expansion des Finanzkapitalismus begann mit der allmählichen Schaffung und Etablierung eines selbstreferenziellen Marktgeschehens, wo bei Termingeschäften Preise mit Preisen bezahlt werden und es keine Bindung mehr an materielle Waren gibt, vergleiche dazu Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010, S. 94. 16 Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010, S. 23. 17 Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010, S. 110. 18 Diesen Begriff hat die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich zahlreicher Bankenrettungspakete während der Eurokrise geprägt. Im englischen Sprachraum hat sich dafür das Akronym TINA („there is no alternative“) eingebürgert. Mit diesem Wort wird das Wesen der Demokratie, zwischen verschiedenen Wahlmöglichkeiten die beste suchen zu können, unterminiert. 19 Mbembe Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 16f.

Liberale Lebenswelten

seines Anteils am Vergnügen zu instrumentalisieren“.20 In dieser dritten Phase verschmelzen Kapitalismus und Animismus zu einer Einheit, der Neoliberalismus lebt von den und für die beschleunigten Triebenergien. Diese Phase der Moderne – und hier liegt die Pointe in Mbembes Argumentation – sei gekennzeichnet durch eine „tendenzielle Universalisierung der conditio nigra“.21 Eine solche Favelaisierung und Balkanisierung der durchkapitalisierten Welt hat die systemischen Risiken, denen zur Zeit des Frühkapitalismus nur die „Neger“22 ausgesetzt waren, bestimmt nun im liberalen Regime „das Schicksal aller subalternen Menschengruppen“.23 Die systemische Abwertung immer neuer Bevölkerungssegmente auf den Status von rechtlosen Überflüssigen ende für viele Millionen Menschen in einem unentrinnbaren Schicksal, da sie „dazu verurteilt sind, ihren Körper und ihr Denken von außen funktionieren zu sehen und in Zuschauer von etwas verwandelt zu sein, das ihre eigene Existenz war und nicht war“.24 Mbembe zeigt in seinem Buch „Kritik der schwarzen Vernunft“ eindringlich, welche systemischen Gefahren mit diesem allmählichen „Schwarzwerden“ der Welt für das Versprechen universeller Freiheit und Gleichheit verbunden sind, welche Erkenntnisgewinne die Menschheit aus dem Erfahrungsschatz der Sklaven und der schwarzen Vernunft, die die engen Grenzen der europäischen Aufklärung überwindet, gewinnen kann und warum diese bedenklichen gegenwärtigen Entwicklungen ideengeschichtlich auf den Liberalismus zurückzuführen sind. Merkantilismus, Aufklärung und Liberalismus haben in der ersten Epoche des Frühkapitalismus mit der Erfindung des Wortes „Neger“ im 16. Jahrhundert, der Etablierung des transatlantischen Sklavenmarktes und der Abstufung menschlicher Subjekte auf den Objektstatus eine gesellschaftliche Wirklichkeit geschaffen, aus der sich ein ortloses und transnationales schwarzes Bewusstsein entwickelte. Die Fabrikation des „Negers“ erfüllt nach Mbembe die Funktion der Erniedrigung und erfand eine „gesonderte, verachtete Menschheit“, die des „menschlichen Abfalls“.25 Der Liberalismus, vollmundig als Vorreiter der modernen und vernunftbegründeten Freiheit angetreten, „enthält in seinem Zentrum ein Verhältnis der Herstellung/Zerstörung zur Freiheit. […] Mit einer Hand muss die Freiheit hergestellt werden, aber dieselbe Handlung impliziert, daß man

20 Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 17. 21 Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 18; Hervorhebung so im Original. 22 Für Mbembe ist der Begriff „Neger“ – ein von der Iberischen Halbinsel stammender Ausdruck, der erstmals in einem französischen Text zu Beginn des 16. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde – „weniger polemisch, als es erscheinen mag“; vergleiche dazu Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 56 und S. 81. 23 Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 18. 24 Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 21f. 25 Vergleiche Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 243.

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18

Liberale Lebenswelten

mit der anderen Einschränkungen, Kontrollen, Zwänge, auf Drohungen gestützte Verpflichtungen usw. einführt“.26 Mbembe plädiert dafür, auf die Stimme der schwarzen Vernunft zu hören, da nur der moderne Erfahrungshorizont der Schwarzen das „Paradigma der Unterwerfung“ und die „Modalitäten ihrer Überwindung beinhaltet“.27 Was bedeutet dieses bleibende Kainsmal des Liberalismus, dessen manifestes Zeichen der Ausdruck „Neger“ in der gesamten Moderne gewesen ist, für das Versprechen universeller Freiheit und Gleichheit zu einem Zeitpunkt der Geschichte, wo Begriffe wie Flüchtlinge, Rasse, Unterschicht, Migration, Überflüssige wieder zentrale Kategorien der internationalen Politik und Gebiete in Zonen eingeteilt werden? Mit der Neuvermessung des Kapitalismus und der Ausweitung des Marktes auf sämtliche Lebensbereiche ist laut Mbembe auch die „Rassenlogik“ wieder in das zeitgenössische Bewusstsein eingedrungen. Nur werden ethnische Fragen heute stellvertretend mit den Kategorien Religion und Kultur verhandelt. Mbembe entwirft – entgegen der aktuellen, scheinbar naturgesetzlich ablaufenden Entwicklung der transnationalen Märkte – eine alternative Genealogie der Menschenrechte, um die neuliberale Trennlinie zwischen verwertbar und unverwertbar zu durchbrechen, und nimmt eine Gegenposition zu der Logik des Einzäunens und der Logik des Lagers ein. Mbembes postliberale Perspektive denkt zwar die Epistemologie des Klassenkampfes mit,28 wendet sich aber gegen jene ontologische Dimension des Liberalismus, die aus der Fabrikation der Rassensubjekte entstand. Mit der Setzung des Liberalismus als allgemeinen Stil des Denkens und Begründens hat Michel Foucault die liberale Debatte aus ihrer politischen und wirtschaftlichen Begrenztheit befreit und neben einer ausschließlich affirmativen Deutung durch Hagiografen eine kritische Lesart ermöglicht.29 Die dunklen Seiten des Liberalismus, wie von Mbembe eindringlich beschrieben, gehören zu den wenig beachteten Seiten dieses ideengeschichtlichen Kindes der Neuzeit.30 Der Begriff „Liberalismus“ regelte und vermaß ursprünglich das Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat neu. Der Einzelne besaß nun, im Unterschied zum Feudalismus, von Geburt an gleiche Rechte, und es folgte eine strikte Trennung zwischen persönlicher, ökonomischer und politischer Freiheit. Für den politischen Liberalismus ist die Frage der Institutionalisierung der Freiheit und der Notwendigkeit der Begrenzung politischer Macht zentral. Der Staat

26 27 28 29 30

Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M. 2006, S. 98. Vergleiche Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 27. Vergleiche Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, S. 68. Vergleiche Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M. 2006, S. 305. Vergleiche Sandkühler, Hans-Jörg (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, Band 1, A–N, Hamburg 1999, S. 780ff.

Liberale Lebenswelten

garantiert jedem Bürger die gleichen Freiheitsrechte. Der ökonomische Liberalismus betont hingegen die Freiheit des Individuums und begrenzt die Aufgaben des Staates gegenüber dem freien Markt. Für den Libertarismus ist die freie Entfaltung des einzelnen Entrepreneurs zentral und jede Einmischung des Staates in den Wirtschaftskreislauf wird a priori als schädlich betrachtet. Der Antietatismus meint mit wirtschaftlicher Freiheit eine Freiheit von externen Beschränkungen wie Gesetzen und Regulierungen. Angesichts dieser auseinanderlaufenden Traditionen innerhalb des Liberalismus wird in der „Enzyklopädie Philosophie“ dafür plädiert, von „Liberalismen“ zu sprechen anstatt von „Liberalismus“. Dieser Plural, also eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Varianten des Liberalismus, ist aber laut dem französischen Philosophen Jean-Claude Michéa überflüssig. Seine auf den ersten Blick unübliche Denkfigur, nicht zwischen einem „progressiven“ sozialliberalen und einem „regressiven“ Wirtschaftsliberalismus zu unterscheiden, ist nach Michéa notwendig, da der Liberalismus gegenwärtig alle Lebensbereiche der Menschheit kolonialisiert habe. Parteien sind heute linksliberal, nationalliberal, wirtschaftsliberal, sozialliberal, rechtsliberal, altliberal oder neoliberal, aber auf keinen Fall illiberal. Der Liberalismus als alles dominierendes Prinzip der westlichen Wettbewerbsdemokratien hat seine soziologische Basis in der Consumer Culture, und diese findet ihre ontologische Grundlage in der massenkulturellen Positivierung der Kontingenz. Zur Totalität des Liberalismus gehören auch Frontbildungen und vermeintliche Widersprüche zwischen „weichen“ sozialliberalen und „harten“ wirtschaftsliberalen Positionen. Internationalisierung, Globalisierung und durch Asset-Inflation exponential gestiegene privatwirtschaftlich generierte Geldmengenausweitung bilden die Rahmenbedingungen für einen alle Lebensbereiche umfassenden Liberalismus, was zu einer Identifizierung früher unvereinbarer Positionen der kosmopolitischen Linken mit jenen des Liberalismus geführt hat. So lautet etwa der zentrale Befund des neomarxistischen Theoretikers Thomas Frank, der die Impulse der jugendlichen Gegenkulturen unter der Chiffre „1968“ als Triebfeder und Beschleuniger bei der Ausweitung des Marktes auf alle Lebensbereiche sieht.31 Laut Michéa bildet der Liberalismus die bestimmende moderne Ideologie schlechthin, mit dem Ziel einer „radikalen Umwälzung der menschlichen Ordnung“.32 Die Verfasstheit der Welt schlüssig zu erklären, gelingt Michéa mit Rückgriff auf die liberale Ideenwelt. Mit „Liberalismus“ bezeichnet er keine rein defensive Haltung, sondern das aktive Gestalten politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, die die seelenlose Welt des zeitgenössischen Kapitalismus mit seiner radikalen Immanenz kennzeichnen. Michéa behandelt

31 Vergleiche Frank, Thomas: The Conquest of Cool, Chicago/London 1997. 32 Michéa, Jean-Claude: Das Reich des kleineren Übels, Berlin 2014, S. 16.

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den Liberalismus folglich als Strömung, „deren Prinzipien philosophisch nicht nur vereinheitlicht werden können, sondern müssen“.33 Die liberalen Leitlinien, als Nachfolgeordnung des Ancien Régime erfunden, haben sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten weiterentwickelt und wurden nach dem Fall des real existierenden Sozialismus zum einzigen als legitim geltenden Handlungsmaßstab für Politik und Wirtschaft. Dieses liberale Großprojekt stützt sich auf dezidierte staatliche Maßnahmen wie Quoten, um die Gesellschaftsordnung für eine rationale Menschheit aktiv zu gestalten. Mit der Wissenschaft als Autorität und den Begriffen Fortschritt und Vernunft verfügt der Liberalismus über eine metaphysische Grundlage mit unbegrenzten Implikationen. Als Ermöglicher für Gleichheit gelten dabei die Globalisierung und ein permanentes Wirtschaftswachstum. Die erste liberale Prämisse ist das Primat des Ökonomischen,34 dessen Grundlage ein ökonomischer Determinismus ist, der auf dem Gedanken aufbaut, dass Krieg durch Handel vermieden werden kann. Politik wird mit Machtpolitik gleichgesetzt und so als negativer Gegensatz zur (angeblich wesensimmanenten) Friedfertigkeit von Wirtschaft und Kapital konstruiert. Für den griechischen Philosophen Panajotis Kondylis bringt diese Verschiebung auch Veränderungen für das Feld der Politik mit sich. Das Politische im Ökonomischen wird primär über die Verteilungsfrage und nicht mehr über die Produktionsfrage verhandelt. Die wirtschaftliche Globalisierung, davon geht Kondylis aus, verwirklicht aber nicht die materielle Gleichheit der Weltbürger durch die „unsichtbare Hand“ des Marktes, sondern verschärft nur die ungelöste Verteilungsfrage. Dieser weltweite Verteilungskampf wird in das Innere der früheren Wohlstandsoasen Europa und Vereinigte Staaten von Amerika importiert, wo große Teile der Bevölkerung zu Reallohneinbußen und permanentem Wettbewerb genötigt werden, um konkurrenzfähig zu bleiben. Realiter bringt der globalisierte Wettbewerb nicht den ewigen Frieden, sondern die permanente Krise und einen Kampf um Ressourcen und Märkte, wobei der Verteilungskampf durch die wachsenden Konsumwünsche von den Bewohnern der Schwellenländer noch intensiviert wird. Kondylis’ düstere Schlussfolgerung aus dem liberalen Selbstbild und den davon abweichenden realpolitischen Entwicklungen lautet, dass eine wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung die bloße Verwandlung aller Kriege in Bürgerkriege bedingt, nicht aber das Ende des Krieges an sich. Kondylis moniert die Antiquiertheit des politischen Vokabulars seit dem Ende des Kalten Krieges und warnt vor einer Überschätzung des kulturellen Faktors in der Politik. Materielle Verteilungskämpfe verkleiden sich in der neuen Logik gerne als Kulturund Religionskämpfe. Gesellschaftliche Konflikte, die auf harten materialistischen Gegensätzen beruhen, werden kulturalisiert oder eskamotiert. Je weniger nivelliert

33 Michéa, Jean-Claude: Das Reich des kleineren Übels, Berlin 2014, S. 15. 34 Vergleiche Kondylis, Panajotis: Das Politische im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2001, S. 69ff.

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die Mittelstandsgesellschaft (Helmut Schelsky) ist, desto leidenschaftlicher, lauter und bunter verkünden die liberalen Propagandisten ihre Existenz. Die Vorstellung, wonach die Wirtschaft als wichtigster Faktor alle anderen Bereiche des menschlichen Lebens bestimmt und formt, ist eine historisch neue Entwicklung. Das liberale Paradigma präsentiert sich als Projekt einer minimalen Gesellschaft, deren Mitglieder formal durch das Recht und inhaltlich durch die Ökonomie verbunden sind. Die Individuen sind nur durch ihre Eigeninteressen miteinander verbunden. Eine solchermaßen organisierte Gesellschaft kennt aufgrund von Quoten- und Inklusionsgesetzen legistisch keine Grenzen der sozialen Mobilität. In seinem Wesenskern gewichtet der liberale Kapitalismus funktionale Überlegungen höher als substanzielle. Diese leitende Vorstellung von prinzipiell gleichwertigen letzten Elementen oder Atomen, die sich allesamt auf einer flachen Ebene befinden und sich beliebig und unablässig miteinander kombinieren lassen, erfaßte in der Tat eine gesellschaftliche Wirklichkeit adäquat, in der politisch und sozial gleichberechtigte Individuen als solche, d. h. ledig jeder anderen sozialen Voraussetzung, jeweils verschiedene Rollen übernehmen können und dürfen, ohne daß ihrer Mobilität und dem dadurch ermöglichten Kombinationsspiel prinzipielle Grenzen gesetzt worden wären.35

Kondylis beschreibt so die Funktionsweise der massendemokratischen Postmoderne, die Michéa als logischen Schlusspunkt der liberalen Philosophie bezeichnet. Massengesellschaft und Massendemokratie verschmelzen auf der Grundlage einer sämtliche individuellen und institutionellen Ebenen determinierenden Ökonomie miteinander. Dieser massengesellschaftliche Liberalismus benötigt die „sichtbare Hand“ des Gesetzgebers, damit alle sozialen Rollen allen Individuen zugänglich sind. Der Liberalismus erweitert also die formelle Gleichheit seiner Anfangszeit um eine materielle Dimension und entwickelt Individualismus zum materiellen Gleichheitsideal weiter. Der politische Liberalismus verkündet durch Rechtsprechung die Wahrheit über das richtige Leben, während die „unsichtbare Hand“ des freien Marktes daran scheitert, die versprochene Gleichheit im materiellen Sinne zu verwirklichen. Das Gefühl der Gleichheit ist im Liberalismus stärker als ihre Realität. Der Liberalismus hat die Gleichheit des Herrschens ebenso wenig verwirklicht wie die Gleichheit des Konsumierens, hält aber die Ausübung von Konsum und Herrschaft theoretisch all jenen offen, die sich bietende Chancen besser als ihre Konkurrenten nützen. Dieser Widerspruch zwischen den erklärten Gleichheitsprinzipien und der faktischen Herrschaft von Eliten mündet nach Kondylis direkt

35 Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Weinheim 1991, S. 169.

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in der Entwicklung von Populismus.36 Auch wenn immer größere Bevölkerungsteile sich vom Wohlstand ausgeschlossen fühlen, haben erst Industrialisierung und kapitalistische Produktionsmodi die Überwindung der Güterknappheit gebracht. Nur Gesellschaften – darauf weist Kondylis mehrmals eindringlich hin –, die für ihre Mitglieder Konsumgüter in permanent wachsenden Mengen produzieren, sind Massendemokratien. Erst auf dieser materiellen Basis konnte die Consumer Culture entstehen, die die Figur des Bürgers mit jener des Konsumenten verschmilzt. Das Konzept der Consumer Culture bezeichnet das Gleiche wie der Begriff Massendemokratie bei Kondylis und beschreibt alle hochtechnisierten Gesellschaften. Zentrales Charakteristikum für das Verständnis dieser Gesellschaftsform ist die Ware, da sie die ökonomische Struktur der Gesellschaft beherrscht. Um diese alles beherrschende Rolle zu spielen, mussten die Waren „sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft durchdringen und nach ihrem Ebenbilde umformen“.37 Waren gab es auch schon vorher, aber erst im modernen Kapitalismus werden sie zur Universalkategorie. Auch menschliche Arbeit wird jetzt als Ware betrachtet. Neben ihrem Tauschwert verselbstständigen sich Waren auch zu einem sinnlich-übersinnlichen Ding. Als sinnlich-übersinnlich können Waren bezeichnet werden, weil in sie ein gesellschaftliches Verhältnis geheimnisvoll einfließt, wie Marx im „Kapital“ beschrieben hat.38 Waren nehmen eine phantasmagorische Form an, hinter die ihr Gebrauchswert zurücktritt. Die Phantasmagorien von Consumer Culture und Technik bilden eine zweite Natur und lassen „adoptierte Meinungen und Gesinnungen als eigene“ erleben und „die Fiktion der Freiheit und Selbstbestimmung leichter als jede andere durchhalten“39 , so der Soziologe Arnold Gehlen. Waren schaffen also künstliche Welten. Die Inthronisierung der Ware wird mit Glanz und Gloria geschmückt; oder, wie es Walter Benjamin bei seiner Beobachtung der Pariser Weltausstellungen erstmals beschrieb: Die Waren „eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen“.40 Wie Adorno in einem Brief an Benjamin bemerkte, sei „der Fetischcharakter der Ware […] keine Tatsache des Bewußtseins, sondern dialektisch in dem eminenten Sinne, daß er Bewußtsein produziert“.41 Ein der Warenform und dem Wachstum verpflichteter Kapitalis-

36 Vergleiche Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Weinheim 1991, S. 196ff. 37 Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923, S. 96. 38 Vergleiche Marx, Karl: Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Leipzig 2007, Band 1, S. 77f. 39 Gehlen, Arnold: Über kulturelle Evolutionen, Frankfurt a.M. 2004, S. 327; Hervorhebung so im Original. 40 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Frankfurt a.M. 1991, S. 50. 41 Brief Adornos an Benjamin vom 02.08.1935, in: Benjamin, Walter: Briefe 2, Frankfurt a.M. 1966, S. 672; Hervorhebung so im Original.

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mus hat zur Bildung einer neuen Kultur beigetragen, wobei Warenproduktion und Konsum eine bedeutende Stellung einnehmen: To use the term „consumer culture“ is to emphasize that the world of goods and their principles of structuration are central to the understanding of contemporary society. This involves a dual focus: firstly, on the cultural dimension of the economy, the symbolization and use of material goods as „communicators“ not just utilities; and secondly, on the economy of cultural goods, the market principles of supply, demand, capital accumulation, competition, and monopolization which operate within the sphere of lifestyles, cultural goods and commodities.42

Nach dieser Definition besitzen Waren neben ihrem eigentlichen Warenwert einen nichtmateriellen Mehrwert. Dieser symbolische Zeichenwert ist ein affektiver. Die westliche Gesellschaft hat sich von der industriellen Gesellschaft hin zu postindustriellen Dienstleistungs- und Konsumgesellschaften weiterentwickelt. In den industriellen Gesellschaften, die Kondylis „liberale Moderne“ nennt, gab es noch Klassen mit unterscheidbaren Lebensstilen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte der Preisverfall von Massen- und Gebrauchsgütern zu einer Demokratisierung des Konsums. Standardisierte Produkte wie Mobiltelefone und Personal Computer sind für fast alle Bürger leistbar, was laut Kondylis, der in seiner Terminologie einem historischen Materialismus verpflichtet ist, zu einer globalen Einheitskultur führte. Habituelle Unterschiede zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Jungen und Alten, (Bildungs-)Bürgern, Angestellten und Arbeiterschaft verschwinden weitestgehend. Der Klassenbegriff verlor für Politik und Wirtschaft seine ursprüngliche Bedeutung, der Konsum wird zur wichtigen Wertevermittlungsinstanz für den Einzelnen. Die Konsumgesellschaft ersetzt gewachsene Kulturmuster und Traditionen. In der neuen Konsumkultur übernehmen Waren eine Schlüsselrolle und bilden den primären Bezugsrahmen. Eine Kultur, die sich über ihren Konsum definiert, war historisch neuartig und kann mit Don Slater durch sieben grundlegende Prinzipien43 beschrieben werden: 1. „Consumer culture is a culture of consumption“: Kulturelle Werte und Praktiken des Alltagslebens werden durch ihre Interdependenz zur Warenwelt bestimmt. 2. „Consumer culture is the culture of a market society“: Die Konsumgesellschaft ist eine kapitalistische. Waren, Produkte und Dienstleistungen werden am Markt nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage gehandelt. Der Zugang zum freien

42 Featherstone, Mike: Consumer Culture & Postmodernism, London 1991, S. 84; Hervorhebung so im Original. 43 Slater, Don: Consumer Culture & Modernity, Cambridge 1997, S. 24–32.

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Markt ist durch materielle und kulturelle Ressourcen (Geld und Geschmack) geregelt. „Consumer culture is, in principle, universal and impersonal“: Der Zugang zum Warenkorb wird durch Geld beschränkt und bestimmt. Formal sind alle Menschen als Konsumenten frei und besitzen gleiche Rechte. Der Präsident eines börsennotierten Konzerns trinkt dieselbe Cola wie der Sozialhilfeempfänger. Das Recht des Einzelnen, ein Konsument zu sein, bildet ein verbrieftes Geburtsrecht für jedermann. „Consumer culture identifies freedom with private choice and private life“: Der Käufer hat die Wahl zu wählen. Die Wahlfreiheit des Konsumenten verengt den Freiheitsbegriff auf eine Freiheit des Wählens zwischen verschiedenen Waren. Der Akt des Kaufens ist ein ausschließlich von der Privatperson legitimierbarer, wobei der rational agierende Konsument „irrationale“ soziale Autoritäten wie Religion, Tradition und politische Parteien als Einschränkung seiner persönlichen Wahlfreiheit ansieht. Konsumfreiheit ist eine individuelle Freiheit. „Consumer needs are in principle unlimited and insatiable“: Die Maßlosigkeit der Bedürfnisse wird durch steigende Produktion von Waren und beschleunigte Warenzirkulation institutionalisiert. Das Wohl der Konsumgesellschaft ist gleichermaßen von der steigenden Produktivität der Industrie wie vom steigenden Konsum des Einzelnen abhängig. Diese Logik benötigt für ihr Funktionieren einen wachsenden Warenfluss. In dieser Entwicklung sieht Kondylis einen ungelösten Widerspruch. Die Wirtschaft benötigt strategische Planung und eine Arbeitsethik, während der Konsum die hedonistischen Bedürfnisse der Menschen anspricht. „Consumer culture is the privileged medium for negotiating identity and status within a post-traditional society“: Der Status des Einzelnen ist nicht mehr von Geburt an festgelegt. Der Zugang zu Markt und Macht wird über Geld reguliert. „Consumer culture represents the increasing importance of culture in the modern exercise of power“: Die Konsumgesellschaft ästhetisiert ihre Waren durch Design, Verpackung und Werbung, was zu einer Visualisierung der Objektwelt führt. Die Warenwelt kommuniziert vor allem Zeichen und Bilder, die als immaterielle Waren (Information, Software) auch die öffentliche Meinung mitformen.

Die Produktion der Konsumgüter war bis in die 1960er Jahre nach fordistischen Gesichtspunkten organisiert und hat sich dann zum Postfordismus44 weiterentwickelt. Der Fordismus produzierte Massenprodukte und setzte organisationssoziologisch auf strenge Unternehmenshierarchien. Die Rationalisierung der Arbeit durch die

44 Vergleiche dazu Slater, Don: Consumer Culture & Modernity, Cambridge 1997, S. 183ff.

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Erfindung des Fließbands ermöglichte die Produktion standardisierter Güter. Die Ebenen der Arbeit und der Freizeit waren strikt voneinander getrennt; wegen der körperlich anstrengenden Arbeit in den Fabriken erfüllte Freizeit vor allem die Funktion der (passiven) Erholung, um die Menschen geistig und körperlich rege für die Arbeit zu halten. Die Güter waren Massenprodukte und wurden für die Bedürfnisse des Alltags produziert. Standardisierte Gebrauchswaren wie Autos ermöglichten die Mobilität der Arbeiterschaft und dienten eher den Interessen der Produzenten als jenen der Konsumenten und Arbeiter. Der steigende Lebensstandard der Arbeiterschaft bildete das Fundament für das Funktionieren des Wohlfahrtsstaates, die Produzenten verringerten durch Standardisierung ihre Produktionskosten pro produzierter Einheit. In den 1970er Jahren wurde dieser Nachkriegskonsens durch die postfordistischen Paradigmen der Chicagoer Schule, die sich wiederum auf Erkenntnisse der Österreichischen Schule der Nationalökonomie berief, Schritt für Schritt ersetzt. Nutzenmaximierung, eine „Gier-ist-gut“-Mentalität und der Versuch, den Menschen insgesamt als Homo oeconomicus zu deuten, wurden zu neuen Leitbildern.45 Im Mittelpunkt des ökonomischen Vernunftbegriffs steht das subjektive Profitstreben, das die Kategorie Gerechtigkeit verdrängt. Im ökonomischen Denken wird auch die menschliche Arbeit als Grundbestandteil der Kosten berechnet. Menschliches Denken und Handeln wird unter das Primat des Subjekts gestellt. Ökonomisches Denken betrachtet die Welt nur als Objekt zum möglichen Gebrauch. Bei der Frage nach dem Wert eines Menschen zählen materielle, nicht geistige Kategorien. Vernünftig handelt der, der auf seinen eigenen Profit achtet. Politische Schlagwörter wie „Thatcherism“, „Reaganomics“ oder „Blairism“ markieren diese Zäsur, die auch die Rolle des Nationalstaats ändert. Der Postfordismus beruft sich auf die neoklassische Ökonomie,46 argumentiert antietatistisch und sieht freie Märkte als effizientesten Weg der Ressourcenallokation. Die Rolle der Staaten im Wirtschaftsprozess und ihre Beziehungen untereinander werden neu geregelt. Aus souveränen Staaten werden Konkurrenten um Wettbewerbsanteile, die durch niedrige Steuern für ein attraktives Investitionsklima an ihrem Standort sorgen. Der nationale Wettbewerbsstaat kämpft nun wie Unternehmen um Marktanteile. Die Ausweitung des Marktes auf Staaten wird durch einen erhöhten Konkurrenzdruck zwischen Unternehmen verschärft. Neue Technologien, die Digitalisierung und die Roboterisierung der Arbeitswelt flexibilisieren und dezentralisieren die Produktionsprozesse. Der Finanzkapitalismus wächst, während die Realwirtschaft niedrigere

45 Die damit verbundene Verengung des Menschenbilds auf einen rational wählenden Homo oeconomicus beschreibt Reiner Manstetten in seiner Studie „Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith“, Freiburg/München 2002. 46 Vertreter der Chicagoer Schule der Ökonomie wie Milton Friedman berufen sich wiederum auf die Österreichische Schule der Nationalökonomie mit Vertretern wie Carl Menger, Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek.

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Wachstumsraten verzeichnet als in den Nachkriegsjahrzehnten. Flexibilisierung ermöglicht eine schlanke Produktion nach den speziellen Erfordernissen des Marktes. Früher nichtökonomische Lebensbereiche wie Bildung, Gesundheit und soziale Sicherungssysteme werden nun nach betriebswirtschaftlichen Kennzahlen organisiert. Der Sozialstaat wird geschwächt und die Eigenverantwortung des Einzelnen betont. Das ökonomische Leitmotiv der Epoche ist der Shareholder-Value. Der Wettbewerbsgedanke bekommt einen zentralen Stellenwert. Die Grenzen zwischen Inklusion und Exklusion verlaufen entlang der Verwertbarkeit. Überflüssig (zu alt, zu jung, zu unflexibel etc.) ist derjenige, dessen Arbeitskraft in den kapitalistischen Kreisläufen nicht profitabel verwertet werden kann und der kein Geld zum Konsumieren hat. Der Prozentsatz der strukturellen Arbeitslosigkeit steigt – über alle Konjunkturzyklen hinweg – seit den 1970er Jahren in allen Industriestaaten. Das politische Schlagwort der „Zweidrittelgesellschaft“ beschreibt die Tendenz, wonach immer größere Bevölkerungsschichten Gefahr laufen, nicht mehr für den kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozess gebraucht zu werden. Der technische Fortschritt durch Roboter, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz wird seit den 2010er Jahren als Jobkiller, der auch auf jene Berufsfelder übergreift, die bisher als immun gegenüber den Folgen der postfordistischen Automatisierungslogik galten (Journalismus, Medizin, Justiz etc.), beschrieben. Ständig verlautbaren Studien neue Hiobsbotschaften:47 In den USA sind beispielsweise in den nächsten 10 bis 20 Jahren fast 50 Prozent der Arbeitsplätze gefährdet. Durch die Automatisierung schrumpft die Zahl der Arbeitsplätze pro Arbeitsschritt und manuelle Tätigkeiten sind stark gefährdet. Scheitern und Versagen werden aber trotz dieser systemischen Änderungen im politischen Diskurs nach wie vor individualisiert. Das wachsende Heer der Überflüssigen gilt in der Logik des Liberalismus als systemimmanenter Kollateralschaden und hat noch zu keiner grundsätzlichen Kritik an der liberalen Moderne geführt. Solange die verbleibenden Konsumenten mit ihrer Kaufkraft das Weiterbestehen des Systems sicherstellen, bleibt Massenkonsum die spezifische Kultur des Kapitalismus. Neben der historisch-materialistischen Perspektive von Kondylis und dem angloamerikanischen Blickwinkel der Consumer Culture entwickelt Michael Makropoulos in seiner „Theorie der Massenkultur“ einen kulturwissenschaftlichen Ansatz. Auch er wertet die Massenkultur als Mehrheits- und Orientierungskultur des Spätkapitalismus, als „Kultur im strikten Sinne des Begriffs, ein eigenperspektivisch erschlossenes und eigenlogisch realisiertes Weltverhältnis, mit dem ein entsprechendes Selbstverhältnis korrespondiert“.48 Diese Massenkultur bietet

47 Vergleiche https://www.welt.de/wirtschaft/article130570280/Technik-wird-jeden-Zweiten-inDeutschland-ersetzen.html, letzter Zugriff: 28.06.2022. 48 Makropoulos, Michael: Theorie der Massenkultur, München 2008, S. 8.

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den modernen Gesellschaften eine transzendentale Dimension durch die Präsenz artifizieller Wirklichkeiten. Erst diese spezifische Künstlichkeit bedingt ihren Selbstverständlichkeitscharakter und integriert die Massenkultur in den kollektiven Alltag. Makropoulos erweitert die Ansätze von Kondylis und Slater um die Ebenen Kontingenz, Technisierung und Ästhetisierung: Massenkultur ist […] das allgemeine Medium für die gesellschaftliche Einbettung jener epochalen Technisierungsprozesse samt ihrer konstitutiven Verfügbarkeitsmetaphysiken, die artifizielle Wirklichkeiten und konstruktivistische Dispositionen nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Kontingenz gewissermaßen zur ontologischen Basis der modernen Welt haben werden lassen.49

Das massenkulturelle Kontingenzbewusstsein umfasst sowohl individuelles Handeln als auch gesamtgesellschaftliche Wirklichkeitserfahrungen. Kontingenz bedeutet in dieser Lesart eine spezifische Unbestimmtheit, die weder notwendig noch unmöglich und daher wesensmäßig ambivalent ist. Alles, was auch anders denkund machbar ist, fällt unter diesen Kontingenzbegriff. Die Bestimmung der Massenkultur als ästhetische Kultur meint die Ausweitung des Ästhetischen in den Alltag und die damit verbundene Entwertung traditioneller Erfahrungswelten. Die Ästhetisierung unserer Lebenswelt schwächt die inhaltliche Ebene so lange, bis alle Inhalte beliebig austauschbar und somit selbst zu Waren werden. Durch Ästhetisierung werden alle Inhalte und Gegenstände „bewußtlos und apriori immer schon als Waren unter Marketing-Gesichtspunkten konzipiert, was nichts anderes heißt, als daß der Inhalt als bloße Form gedacht und somit zum Gebrauchswert eines Tauschwerts degradiert wird“.50 Die Ästhetisierung der Gesellschaft verwandelt „ausnahmslos alle Inhaltsbezüge in Ästhetik, und zwar in Warenästhetik“51 und führt zu einer „warenförmigen Monadisierung des Individuums“52 . Die Massenkultur synthetisiert Technik, Ästhetik und Ökonomie zu einer selbstbegründeten und alle Lebensbereiche umfassenden Wirklichkeit, wobei die ästhetische Erfahrung als Element der Subjektivierung fungiert. Die Massenkultur hat durch das Primat der Ökonomie, der Ästhetisierung des Alltags, der Digitalisierung und der quantitativen Vermessung die spirituellen und metaphysischen Grundlagen des Abendlands in den Hintergrund gedrängt. Der rumänische Religionswissenschaftler Ioan Petru Culianu glaubt, dass diese Verengung des menschlichen Erkennens auf Vernunft und Messen die magischen und

49 50 51 52

Makropoulos, Michael: Theorie der Massenkultur, München 2008, S. 11. Kurz, Robert: Die Welt als Wille und Design, Berlin 1999, S. 19. Kurz, Robert: Die Welt als Wille und Design, Berlin 1999, S. 23. Kurz, Robert: Die Welt als Wille und Design, Berlin 1999, S. 26.

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spirituellen Sehnsüchte der Menschen nicht zerstört habe, sondern dass sich, im Gegenteil, die Paradigmen der neuzeitlichen Sozialwissenschaften aus der Magie des Mittelalters ableiten ließen. Unter Magie versteht Culianu die Wissenschaft vom Imaginären. Die Magie erforscht die menschlichen Vorstellungswelten mit eigenen Mitteln und gibt in ihrer Methodik vor, Vorstellungsbilder beliebig gestalten und manipulieren zu können. Die mittelalterliche Figur des Magiers werde heute zwar geleugnet, biete aber den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der liberalen Massenkultur, denn zeitgenössische Magier seien „Prototyp der unpersönlichen Massenmedien, der indirekten Zensur, der globalen Manipulation und der Brain Trusts, die ihren geheimen Einfluß auf die Massen des Abendlandes ausüben“.53 Die Magie ist nach Culianu durch die Wissenschaft keineswegs verschwunden: „Der Magier beschäftigt sich heute vielmehr mit Public Relations, Propaganda, Marktforschung, Meinungsumfragen, Werbung, Information, Gegeninformation, Desinformation, Zensur, Techniken der Spionage und sogar der Kryptographie, einer Wissenschaft, die im 16. Jahrhundert einer der Zweige der Magie gewesen ist.“54 Heute versprechen Technologie und Digitalisierung eine demokratische Magie, die jedem ermöglicht, was früher Eingeweihten vorbehalten war. Für Culianu sind Psychologie, Soziologie, Psychoanalyse und Massenpsychologie die modernen Entsprechungen der mittelalterlichen Magie. Die quantitative Wissenschaft habe mit den Naturgesetzen nur einen Zweig der Magie ersetzt, nicht aber den der Magie eigenen Bereich der intersubjektiven Beziehungen, so die These Culianus. Sobald die Sozialwissenschaften menschliches Verhalten untersuchen, stellen sie in ihren Methoden und Präsumtionen unmittelbare Fortsetzungen der Magie der Renaissance dar. Wissenskonzerne, transnational operierende Unternehmen, NGOs und Parteien erhoffen und erwarten sich von ihren Verhaltenssteuerungstechniken eine lenkbare Gesellschaft, wobei Überwachung und Auslese die Kristallisationspunkte der Ordnung darstellen. Sind die liberalen Massendemokratien und Sozialingenieure des 21. Jahrhunderts nun aber wahre Magier oder nur verwirrte Zauberlehrlinge, die anstatt von Information und Fortschritt nur Desinformation und unbeherrschbare Kräfte evozieren? Es spricht einiges für Culianus These, wonach Wissenschaft, Regierungen und Konzerne heute die Funktion eines integralen Magiers übernommen haben, mit dem Ziel, eine gleichförmige Gesellschaft zu schaffen. Um diese für moderne Denkmuster auf den ersten Blick eher abenteuerlich anmutenden Thesen zu prüfen, ist es sinnvoll, sich ein realitätsgetreues Bild vom Wesen und von den Verfahrensweisen der Magie der Renaissance zu machen. Fündig wurde Culianu dabei in der lange verschollenen Schrift Giordano Brunos „Die

53 Culianu, Ioan P.: Eros und Magie in der Renaissance, Frankfurt a.M. u. a. 2001, S. 141. 54 Culianu, Ioan P.: Eros und Magie in der Renaissance, Frankfurt a.M. u. a. 2001, S. 159.

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Fessel der Fesseln“. Dieses Werk befasst sich mit den Funktionsweisen psychologischer Manipulationen und ist aus der wertneutralen Perspektive des Manipulators geschrieben. Ohne sich wie Machiavelli auf das Feld des Politischen zu beschränken oder sich einer Ideologie, Gott, den Menschen oder moralischen und ethischen Prinzipien zu verpflichten, erarbeitete Bruno eine detaillierte Anleitung für Massenmanipulationen, von der sich seitdem Geheimdienste und angewandte Wissenschaften gleichermaßen inspirieren ließen. Als Wissenschaft von der Steuerung, Kontrolle und Manipulation der Vorstellungsbilder untersucht und systematisiert die Magie die menschliche Einbildungskraft. Sie versucht intentional, nachhaltige Eindrücke in den Phantasmen zu verankern. Jene intersubjektiven Vorgänge, deren Vorhandensein die Magie behauptet, sind in den Manipulationen der Bewusstseinsindustrien heute in einem noch nie da gewesenen Ausmaß Wirklichkeit. Culianu erklärt den Übergang von einer magischen zu einer wissenschaftlich geprägten Gesellschaft mit einem Wandel des Imaginären. Vorstellungsbilder (Phantasmen), Einbildungskraft (Fantasie), die Beziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem haben sich in der Konsumkultur verändert und die menschliche Fähigkeit, das eigene Imaginäre55 zu beherrschen, ist laut Culianu durch die Technologie verloren gegangen. Durch die Entzauberung der Welt wird die Manipulation auf dem Rücken der Aufklärung im liberalen Spätkapitalismus reinstitutionalisiert. Rationalismus, Naturwissenschaft und ein von Technik und Wissenschaft geprägter Alltag haben die menschliche Vorstellung des Imaginären unwiderruflich verändert. Magie, Spirituelles und Übersinnliches werden geleugnet und durch ein szientistisches Weltbild ersetzt. Die Magie ist eine Technik der Manipulation der Natur mit ihren Gesetzen. Im Denken der Renaissance war der Naturbegriff noch weiter gefasst und umfasste damals auch Seinsformen wie Götter, Heroen, Dämonen und elementare Geister. Bruno trennte archetypische, physische und vernünftige Welt voneinander und Natur vom Willen. Brunos vormoderner Naturbegriff und das Wort Magie klingen für moderne Ohren schlecht beleumundet – als Ausgangspunkt für irrationalen Nonsens. Dabei bezeichnet der Begriff bei Bruno nicht mehr als einen vom Operator planvoll gelenkten Eros. Aufbauend auf der Gleichung „Eros = Magie“ bestimmt Bruno die Identität der Substanz dieser beiden Techniken zur Manipulation der menschlichen Vorstellungskraft: Eros und Magie sind identisch und haben ihren fixen Platz im universalen Pneuma. Die Liebe ist nach Bruno Magie. Verliebte spannen mit Überredung, Gesten, Gebärden und Gefälligkeiten ihre Netze. Ein Magier hat das Wissen, wie man Netze spannt. Magie als Wissenschaft bedeutet also den strategischen Einsatz eines psychologischen Instrumentariums mit dem Ziel, sowohl

55 Vergleiche Culianu, Ioan P.: Eros und Magie in der Renaissance, Frankfurt a.M. u. a. 2001, S. 20.

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den Einzelnen als auch die Massen zu beeinflussen und zu manipulieren. Culianu übersetzt Brunos Begrifflichkeiten: „Bei Bruno heißt die magische Operation ‚binden, fesseln‘ (vincire) und deren Verfahren werden allgemein mit ‚Fesseln‘ (vincula) bezeichnet“.56 Den Ausdruck „Fessel der Fesseln“ verwendet Bruno für den Eros, die Fantasie und den Glauben. Bruno legt fest: „Im allgemeinen erreicht die Fessel die Seele durch Erkenntnis, bindet sie durch den Affekt, zieht sie an durch Genuß.“57 Das Gute nennt er „das Lockende“, das Schöne die „Fessel der Seele“. So wie der Mensch durch alle Sinne begehrt, wird er auch durch alle Sinne gefesselt. Die Fessel bindet den Geist durch Imagination, Gesichtssinn und das Gehör. Bruno nennt Scham und Glaube als Schutzmaßnahmen gegen Fesseln und Liebe, Hass, Bewunderung, Ehrfurcht und Mitleid als wirksame Fesseln. Fantasie und Meinung sind intensivere Fesseln als die Vernunft, und mit diesen beiden erreicht der Manipulator auch quantitativ mehr Menschen. „Fesseln kann, wer den Bauplan (ratio) des Universums hat und die Natur und Dispositionen des Besonderen kennt, seine Erscheinungen und seine Neigungen.“58 Laut Bruno ist es leichter, dauerhaft die Massen als Einzelne zu beeinflussen. Um den Einzelnen zu manipulieren, ist es unumgänglich, Vorlieben und Ängste sowie seine Interessen genau zu kennen. Jeder Mensch wird entweder manipuliert oder ist selbst ein Manipulator. Die Magie ist nach Bruno ein Kreis, dem niemand entrinnt. Abgesehen vom Manipulator, der seine Imagination (zumindest theoretisch) vollkommen beherrschen muss, sind alle Menschen unbeherrschten Fantasien unterworfen. Der Manipulator muss seine Gefühle und Fantasien kontrollieren können, damit er nicht – wie alle anderen Menschen – von ihnen beherrscht wird. Diese handwerklichen Fertigkeiten lehrt die Magie. Glauben ist die Vorbedingung aller Magie. Die Magie als phantasmatische Operation nützt den Zusammenhang zwischen dem individuellen und dem universalen Pneuma und umfasst die vier Bereiche Geist, Seele, Natur und Materie. Dabei weiß der Magier um die Komplexität der Erwartungen und erzeugt die Illusion, jedem Einzelnen das ihm Zustehende zu geben. Die magischen Tätigkeiten erfordern die vollständige Kenntnis der Rezipienten und deren Wünsche, Erwartungen, Sehnsüchte und Träume, da nur auf dieser Grundlage wirksame Fesseln erzeugt werden können. Die ungleichen Persönlichkeiten müssen dabei berücksichtigt werden, Bruno nennt leicht beeinflussbare Menschen und solche, die unerwartet und anders als geplant auf die Magie der Töne reagieren. Verschiedene Menschen sind mit verschiedenen Strategien ansprechbar. Der eine wird von Schönheit überwältigt, der andere von Macht. Die Menge hat einen anderen Geschmack 56 Culianu, Ioan P.: Eros und Magie in der Renaissance, Frankfurt a.M. u. a. 2001, S. 138. 57 Bruno, Giordano: De vinculis in genere, in: Von Samsonow, Elisabeth/Sloterdijk, Peter (Hg.): Giordano Bruno, München 1995, S. 171. 58 Bruno, Giordano: De vinculis in genere, in: Von Samsonow, Elisabeth/Sloterdijk, Peter (Hg.): Giordano Bruno, München 1995, S. 166.

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als der Einzelne, und Männer haben andere Vorlieben als Frauen. Bruno deduziert aus dem Kanon antiker Schriften Grundlagen einer psychografischen Landkarte, die die Natur des Menschen wesentlich genauer darstellt als die holzschnittartigen Typologien von Soziologie, Psychologie und Markt- und Meinungsforschung. Je mehr Wissen der Manipulator über die zu Beeinflussenden besitzt, desto größer werden seine Erfolgschancen. Bruno zufolge bildet der Eros das mächtigste Manipulationsinstrument. Er führt alle Affekte und Fesseln des Willens auf Abneigung und Begehren und Liebe und Hass zurück. Die Pforte zu allen magischen Operationen bildet die Fantasie, da nur sie zu allen inneren Affekten führt. Fantasie muss nicht auf Wirklichem gründen, sondern nur den Anschein von Wirklichkeit haben. Entscheidend ist nur, dass geglaubt wird, etwas sei wirklich. Die Macht der menschlichen Vorstellungskraft wird durch das Denkvermögen vergrößert. Das Denken ist nach Bruno imstande, die Seele zu unterwerfen. Gesichtssinn und Gehör sind hingegen nur Lockmittel. Den Manipulator leitet bei seiner Arbeit nur ein einziger Grundsatz: Jeder Sachverhalt und jeder Mensch ist manipulierbar, es gibt keinen Menschen, der ohne intersubjektive Beziehungen leben kann. Der Operator beobachtet intersubjektive Beziehungen und arbeitet mit diesem Wissen. Heute agieren Medien- und Datenkonzerne, Politiker und transnationale Konzerne wie Magier, weil sie die Wahrnehmung von Wirklichkeit steuern und fesseln. Fantasie und unbewusste Wahrnehmungen werden von der Consumer Culture des liberalen Zeitalters gelenkt. Mit der Figur des Magiers hat Giordano Bruno einen Sammelbegriff geschaffen, der sich mechanistischen Modellen und auf Naturgesetze reduzierten Menschenbildern entzieht. Die kalte Herrschaft der Zahlen, die vermeintliche Logik von Shareholder-Value findet ihre Ergänzung im weiten Feld der Steuerung und Lenkung von Affektüberschüssen und Wunschmaschinen. Die Priesterkaste des Liberalismus, die Wirtschaftsforscher, Branding-Experten, Marktund Meinungsforscher und Journalisten übernehmen die Rolle der Magier. Die Verwendung von Schlagwörtern wie „Fake-News“ und „Postdemokratie“ ist ein Indiz für das Fortbestehen der phantasmatischen Nebenwelten, welche die kalte Zahlenwelt der binären Logik und der Naturgesetze erweitern. Als Beispiele seien an dieser Stelle die sich im 21. Jahrhundert formierenden neulinken respektive neurechten Protestformationen Occupy Wall Street und Tea Party genannt. Der Cultural-Studies-Theoretiker Lawrence Grossberg glaubt, dass die neue Rechte als Reaktion auf die Gegenkultur und ihre Konsequenzen entstanden sei und sich eine Vielzahl dieser gegenkulturellen Strategien zu eigen gemacht habe.59 Für ihn ist die Tea Party ein auf den Kopf gestelltes „1968“. Nach dem Aufgehen der Gegenkulturen im Konsumpluralismus gibt es kaum noch Rückzugsgebiete außerhalb

59 Vergleiche Grossberg, Lawrence: „Linke und rechte Gegenkulturen. Gedanken zu gegenwärtigen politischen Formationen und ihren Kontexten“, in: „springerin“ 3/2010, S. 23f.

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der Konsumgesellschaft. Diese Mimikry von Aktionsformen der Neuen Sozialen Bewegungen wird auch von anderen Akteuren der Zivilgesellschaft60 und von kommerziellen Unternehmen angeboten. Gegenkulturelle Strategien sind damit auf die Funktion, Waren oder Anliegen zu promoten, reduziert worden. NGOs sind Lobbying-Organisationen, die als bezahlte Vollzeitaktivisten partielle Eigeninteressen als Gemeinwohl verkleiden, egal ob es sich dabei um Atomkraftgegnerschaft, tatsächliche oder selbstdefinierte Minderheiten, Technikverhinderung oder Rechtsberatungen geht. Das Internet spielt bei diesem neuen NGO-Typ eine entscheidende Rolle. Statt der gewohnten Top-down-Struktur inszeniert sich der neue Massenprotest als Graswurzelbewegung von der Straße und des gemeinen Volkes, obwohl er von – (im Unterschied zu Parteienvertretern) demokratisch nicht legitimierten – Kampagnenprofis genauestens geplant und orchestriert wird. Petitionen, Bürgerproteste, Spendenaktionen, Blockaden, Flashmobs und Lichterketten werden zuerst im Internet angekündigt und nach Verbreitung durch virales Marketing gezielt gestreut. Die hochprofessionalisierten Kampagnen vieler NGOs sind sichtbarer Ausdruck für die Professionalisierung affektgetriebener Politikgestaltung. Grossberg bewertet die Funktion der neuen Bürgerbewegungen positiv als populistische Bewegung ohne Führungspersönlichkeit, die sich eine Vielzahl von gegenkulturellen Strategien der 1960er Jahre angeeignet und diese reartikuliert habe. Er bemängelt, dass die Wissenschaft diese Wutbürgerbewegungen nur als falsches Bewusstsein beklage, aber übersehe, dass die Tea Party die Menschen dort abhole, wo sie seien, und es keine legitime Antwort sei, populäre Hoffnungen und Ängste der neuen Protestbewegung zu ignorieren. Die Tea Party, die zwischen den Feldern Politik (gegen Regierung und Steuern) und Kultur (Nationalismus, Konstitutionalismus, oftmals Religion) agiert, handelt affektiv und inszeniert ihr politisches Wollen „eher in und durch kulturelle Formen als durch traditionelle und offenkundig politische Taktiken“.61 Die Tea Party spricht ein „Gefühl von Unmittelbarkeit und Frustration an“, das persönlich und historisch und aus einem „Gefühl der gelebten Unmöglichkeit der gegenwärtigen Umstände“62 argumentiert. Die Bewegung artikuliert sich populär und entfaltet daraus ihr großes Wirkungspotenzial. Die diffuse Gefühlsstruktur der Tea Party:

60 Als Akteure seien hier exemplarisch genannt: Move on (USA) http://www.moveon.org/?skip=1; Campact (Deutschland) http://www.campact.de/campact/home; Bewegungsstiftung http://www. bewegungsstiftung.de/ und #aufstehn (Österreich) https://www.aufstehn.at/, alle letzter Zugriff: 11.07.2022. 61 Grossberg, Lawrence: „Linke und rechte Gegenkulturen. Gedanken zu gegenwärtigen politischen Formationen und ihren Kontexten“, in: springerin – Hefte für Gegenwartskunst 3/2010, S. 24. 62 Grossberg, Lawrence: „Linke und rechte Gegenkulturen. Gedanken zu gegenwärtigen politischen Formationen und ihren Kontexten“, in: springerin – Hefte für Gegenwartskunst 3/2010, S. 24.

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wird gekennzeichnet von einem zunehmenden Gefühl der Angst und Unsicherheit (weitgehend verursacht durch staatliche Liberalisierungen, welche das wirtschaftliche Risiko für den einzelnen Bürger erhöhen), von einer Sakralisierung von Märkten als etwas, das sowohl Freiheit als auch Moral definiert, von einem Gefühl des nationalen Niedergangs mit einem fast schon paranoiden Überlegenheits- und/oder Minderwertigkeitsgefühl und von einer wachsenden Parteilichkeit und Verweigerung von Kompromissen mit und Respekt gegenüber der anderen Seite.63

Die liberale Massenkultur hat den Alltag der Bürger zunehmend prekärer und risikoreicher gemacht; Politik artikuliert sich seitdem auf der Ebene des Affektiven und Alltäglichen. Die Tea Party und andere neue zivilgesellschaftliche Protestkulturen wie Fridays for Future verwandeln Verstimmungen und Erwartungen, gesellschaftspolitische Hoffnungen und Träume der Menschen in neue Formen der politischen Praxis und argumentieren mit Gefühlen, nicht mit Vernunft. Mental so aufgestellte Konsumenten und Bürger sind mit ihren affektiven Prädispositionen meist aufnahmebereite Empfänger für die Botschaften der massenkulturellen Taktgeber. Das Perfide an diesen neuen, spontanen politischen Protestformen ist die Privatisierung des Politischen. Wer hinter die Kulissen der Wutbürger der Tea Party schaute, fand, wie der Wirtschaftswissenschaftler Philip Mirowski,64 nur allzu oft professionelles Astroturfing65 von Konzernen und interessengesteuerten ThinkTanks wie Americans for Prosperity, American Majority Project Research Institute oder FreedomWorks, die den Volkszorn kanalisierten, formten und steuerten. Die Basis der Tea Party wurde bei den Kundgebungen, Konferenzen und Protesten zum aktiven Mittun – durch Spenden oder als Kleinunternehmer (Merchandising, Memorabilia, Verpflegung) – angeregt. Durch diese aktive Einbindung bekam das Fußvolk ein Gefühl des Gebrauchtwerdens. Die liberalen Massendemokratien greifen also sowohl auf Produzenten- als auch auf Rezipientenseite auf phantasmatische Gegenwelten zurück, da Konsumenten nicht (ausschließlich) aus rationalen Gründen kaufen und Wähler genauso oft auf ihr Bauchgefühl wie auf die Kraft des Arguments vertrauen.

63 Grossberg, Lawrence: „Linke und rechte Gegenkulturen. Gedanken zu gegenwärtigen politischen Formationen und ihren Kontexten“, in: springerin – Hefte für Gegenwartskunst 3/2010, S. 21. 64 Vergleiche dazu Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2015, S. 77. 65 Bei dieser PR-Strategie wird den Teilnehmern und der Öffentlichkeit eine spontane, aus der Mitte des Volkes organisch entstehende Graswurzelbewegung vorgetäuscht.

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Öffentlichkeit und öffentliche Meinung

Man muss nicht das radikale Verdikt des Literaturwissenschaftlers Friedrich Kittler teilen, wonach es sich bei der Beschreibung des Strukturwandels der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas um eine „Fiktion“66 handle, mit seiner Spitze gibt Kittler aber einen entscheidenden Hinweis zum Umgang mit dem umstrittenen Begriff Öffentlichkeit. Aufgrund seiner extremen Vielschichtigkeit muss dieser aus mannigfaltien Blickwinkeln erörtert werden, um ideologische Verkürzungen und Verzerrungen zu vermeiden. Die Forderung nach Öffentlichkeit entstand im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, wo sich Publikationsmittel noch zentral steuern ließen. Rede-, Meinungs-, Religions-, Presse- und Versammlungsfreiheit wurden zu Forderungen der bürgerlichen Aufklärung und in Abgrenzung zum absolutistischen Staat, der noch keine Trennung zwischen „öffentlich“ und „privat“ kannte, formuliert und im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich durchgesetzt. Mit dem Übergang der Feudalgesellschaft in eine Industriegesellschaft wandelte sich die Erwerbsstruktur der Gesellschaft, unterschiedliche Gruppen wie Bauern, Arbeiter, Angestellte, Selbstständige, Beamte, Arbeitslose entstanden. All diese Gruppen konnten öffentlich agieren und sich artikulieren. Damit verwandelte sich „Öffentlichkeit“ zu einem sozial-räumlichen Begriff. Von den Aufklärern als rhetorisch positiver Kampfbegriff verwendet, wird „Öffentlichkeit“ häufig mit den Metaphern des Lichts,67 des Forums oder des Netzes umschrieben. Die in Frankreich, Deutschland und Österreich entstehenden Demokratien waren begleitet von sich permanent verschiebenden Grenzziehungen zwischen dem Bereich des Öffentlichen und dem Bereich des Privaten. Demokratie als Staatsform der Gewaltentrennung unterliegt wesensmäßig dem Grundsatz der öffentlichen Kontrolle aller staatlichen Institutionen. Gesetzgebung, Exekutive und Judikative arbeiten transparent und für alle Bürger nachvollziehbar. Die Legitimität demokratischer Herrschaft erklärt sich also aus ihrer Öffentlichkeit, wobei sich die oft genannte Kontrollfunktion von Öffentlichkeit und Medien als vierte Gewalt von Legislative, Exekutive und Judikatur durch ihren fluiden Charakter unterscheidet, der nicht durch die Staatsgewalt exekutiert werden kann. Theorien über den Begriff Öffentlichkeit unterscheiden sich in erster Linie durch ihre normativen Ansprüche. Der Soziologe Friedhelm Neidhardt hat „Öffentlichkeit“ als Kommunikationssystem definiert, „in dem Themen und Meinungen (A) gesammelt (Input), (B) verarbeitet (Throughput) und (C) weitergegeben (Output) werden“.68 Für diese drei Prozessstufen lassen sich nach Neidhardt folgende

66 Kittler, Friedrich: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2001, S. 74. 67 Hanno Kesting hat die Lichtmetaphorik des Begriffs Öffentlichkeit auf die jüdische Kabbala zurückgeführt. Vergleiche dazu Kesting, Hanno: Öffentlichkeit und Propaganda, Bruchsal 1995, S. 27. 68 Neidhardt, Friedhelm: Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, S. 8.

Öffentlichkeit und öffentliche Meinung

drei normativen Ansprüche an Öffentlichkeit69 stellen: Transparenzfunktion, Validierungsfunktion und Orientierungsfunktion. Mit Transparenzfunktion wird der Umstand bezeichnet, dass Öffentlichkeit für alle gesellschaftlichen Gruppen zugänglich und nachvollziehbar sein solle und Intransparenz vermieden werden müsse. Nach der Zugänglichkeit sollten die Akteure der Öffentlichkeit dann das verhandelte Thema in einer ergebnisoffenen Debatte mit allen Pro- und KontraArgumenten diskutieren. Ergebnisoffen heißt, die eigene Position zu überdenken und aufzugeben, wenn die Argumente der Gegenseite stimmiger sind. Des Weiteren ergibt sich durch diesen Meinungsbildungsprozess eine Orientierungsfunktion für das Publikum, welches das in der Öffentlichkeit vorherrschende Meinungsklima als richtig oder falsch bewerten kann. Neben diesen drei Kernfunktionen der Öffentlichkeit schlägt Neidhardt vor, auch noch zwischen drei Ebenen von Öffentlichkeit zu unterscheiden: Spontanöffentlichkeit (etwa öffentliche Kommunikation auf der Straße), Themen- oder Versammlungsöffentlichkeit und Medienöffentlichkeit.70 Mit dieser Unterscheidung versuchte Neidhardt auch, die beiden wichtigen Ebenen neben der Medienöffentlichkeit ins Gedächtnis zu rufen. Zwischen diesen wird von den Gatekeepern in den Medien streng selektiert. Nur wenige Themen, die auf der Encounter- und/oder Versammlungsebene verhandelt werden, gelangen durch das Nadelöhr der Medienöffentlichkeit. Bei der Encounter-Ebene handelt es sich um spontan entstehende Öffentlichkeit auf der Straße, im Treppenhaus, am Arbeitsplatz und so weiter. Öffentlichkeit entsteht hier spontan und ungeplant und ist räumlich und zeitlich begrenzt. Auch diese – eigentlich spontane – Öffentlichkeit wird seit Langem von Nichtregierungsorganisationen und kommerziellen Werbeagenturen durch den strategischen Einsatz von Flashmobs, Direct Actions und dergleichen als Raum für Kampagnen genutzt. Zur Themen- und Versammlungsöffentlichkeit zählt Neidhardt Demonstrationen, öffentlich zugängliche Diskussionsveranstaltungen und Tagungen. Erst auf der Ebene der Medienöffentlichkeit können Themen einer technisch unbegrenzten Öffentlichkeit und einem dispersen Publikum zugänglich gemacht werden. Erst durch ein Publikum bildet sich eine Öffentlichkeit. Öffentlichkeit als – idealiter – allen Bürgern zugänglicher Raum kann auch noch nach den beteiligten Akteursgruppen gegliedert werden. Neidhardt trennt zwischen fünf unterschiedlichen Rolleninhabern in der Öffentlichkeit:71 Repräsentanten (Vertreter von Organisationen), Advokaten (ohne politische Vertretungsmacht), Experten (mit speziellem Know-how), Intellektuellen und Kommentatoren (Journalisten

69 Vergleiche Neidhardt, Friedhelm: Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, S. 8. 70 Vergleiche Neidhardt, Friedhelm: Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, S. 10f. 71 Vergleiche Neidhardt, Friedhelm: Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, S. 14.

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und Öffentlichkeitsarbeiter). Neben dieser Unterscheidung hat Ralf Dahrendorf noch eine weitere Differenzierung in latente, passive und aktive Öffentlichkeit72 vorgeschlagen, wobei die Grenzen zwischen den drei Gruppen dynamisch verlaufen. Die latente Öffentlichkeit setzt sich aus allen nicht an der öffentlichen Debatte Teilnehmenden zusammen. Die Gründe für die Nichtbeteiligung können Zeitmangel, fehlendes Interesse oder ein bewusster Ausschluss aus dem Entscheidungsfindungsprozess durch bestimmte Stakeholder sein. Die passive Öffentlichkeit tritt als Publikum und Wähler in Erscheinung, engagiert sich aber darüber hinaus nicht für das jeweilige Thema. Unter aktiver Öffentlichkeit subsumiert Dahrendorf all jene, die regelmäßig am öffentlichen Willensbildungsprozess teilnehmen. Der Soziologe beziffert den Anteil der Bevölkerung, der in der Öffentlichkeit aktiv wird, sehr grob zwischen 1 und 10 Prozent. Interessant ist seine Unterscheidung deshalb, weil er einen höheren Anteil an aktiver Öffentlichkeit demokratiepolitisch nicht für wünschenswert hält: „Die demokratische Utopie der total aktivierten Öffentlichkeit ist als Entwurf zur Realisierung so totalitär wie alle Utopien; glücklicherweise ist sie auch ebenso unmöglich.“73 Aus liberaler Sicht hält er die Instrumentalisierung der öffentlichen Meinung durch zahlungskräftige Anspruchsgruppen, Lobbyisten, Parteien und Konzerne für „ganz in Ordnung“ und konstatiert: „kein Grund zur Klage“.74 Demokratiepolitische Bedenken, wonach durch den liberalen Blickwinkel subalterne Positionen unterrepräsentiert sein könnten, äußert Dahrendorf nicht. Mit seinem Schluss gibt er einen entscheidenden Hinweis, dass der Begriff Öffentlichkeit immer aus bestimmten Interessenlagen heraus und nicht neutral verwendet wird. Diese interessengeleitete Verwendung setzt sich auch bei der Bestimmung der öffentlichen Meinung fort. Die öffentliche Meinung wird fast ausschließlich von Medien, Eliten oder als Ergebnis demoskopischer Umfragen artikuliert. Sind Medien Träger der öffentlichen Meinung, wird diese mit veröffentlichter Meinung gleichgesetzt. Wird öffentliche Meinung von Eliten kommuniziert, wird diese Meinung als öffentlich relevant eingestuft. Schichtenübergreifender argumentiert hingegen die Demoskopie, die all jene Sachverhalte, die die Mehrzahl der Befragten vertritt, mit öffentlicher Meinung gleichsetzt, wenngleich auch die Demoskopie die Unterdeklaration bestimmter Schichten und Milieus seit Langem als methodologisches und die eigene Repräsentativität einschränkendes Problem erkannt hat. Der Amerikaner Harwood L. Childs hat sich 1965 der Kärrnerarbeit gestellt und rund 50 verschiedene Definitionen des Begriffs öffentliche Meinung gesichtet, gesammelt und verglichen.75 All diese Definitionen weisen Schnittmengen auf, 72 73 74 75

Vergleiche Dahrendorf, Ralf: Aktive und passive Öffentlichkeit, Wien 1986, S. 56–65. Dahrendorf, Ralf: Aktive und passive Öffentlichkeit, Wien 1986, S. 59. Dahrendorf, Ralf: Aktive und passive Öffentlichkeit, Wien 1986, S. 59. Vergleiche Childs, Harwood L.: Public Opinion: Nature, Formation, and Role. Princeton, N.J. u. a. 1965.

Öffentlichkeit und öffentliche Meinung

aufgrund der Heterogenität der Definitionen wurde der Begriff aber innerhalb der Wissenschaftsgemeinde von Autoren wie Jürgen Habermas als nicht operationalisierbar kritisiert. Habermas bemängelte die Unfähigkeit der Wissenschaft, „öffentliche Meinung“ durch präzisere Bestimmungen zu ersetzen.76 Den Begriff zu ersetzen, scheint jedoch weniger zielführend als nach seinen Lesarten und Verwendungszwecken zu fragen. Die Politologin Susan Herbst hat die mehr als 50 verschiedenen Definitionen in vier Kategorien „aggregation, majoritarian, discursive/consensual, and reification“77 unterteilt. Die meisten erklären „öffentliche Meinung“ mit dem Aggregationsprinzip. Jeder Bürger vertritt eine Meinung oder Nichtmeinung, und öffentliche Meinung wird von den Vertretern der Aggregationsthese als die durch Meinungsumfragen ermittelte Summe aller Einzelmeinungen definiert. Das Majoritätsprinzip setzt „öffentliche Meinung“ mit „Mehrheit“ gleich, Minderheitenpositionen werden untergewichtet. Die Vertreter des Diskurs- oder Konsensprinzips, zu denen auch Habermas gehört, sehen die Entstehung von öffentlicher Meinung als Folge und Ergebnis eines sachlichen und ausgewogenen Diskussionsprozesses. Öffentliche Meinung zu diversen Themen gibt es laut Habermas also nicht a priori, sie entsteht erst durch Debatte und die Zutrittsbedingungen zur Debatte: Der Grad der Öffentlichkeit einer Meinung bemißt sich daran: in welchem Maße diese aus der organisationsinternen Öffentlichkeit eines Mitgliederpublikums hervorgeht; und wie weit diese organisationsinterne Öffentlichkeit mit einer externen Öffentlichkeit kommuniziert, die sich im publizistischen Verkehr über die Massenmedien zwischen gesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Institutionen bildet.78

Öffentliche Meinung entsteht erst im Laufe einer öffentlichen Diskussion und kann nicht einfach durch demoskopische Umfragen ermittelt werden. Die vierte Kategorie verneint das tatsächliche Vorhandensein von öffentlicher Meinung und sieht diese als reine Projektion: Öffentliche Meinung entsteht erst durch ihre Behauptung oder durch demoskopische Messung. Den deutschen Soziologen Hanno Kesting hat Habermas’ These nicht überzeugt und er hat daher in seiner erst posthum veröffentlichten Habilitationsschrift „Öffentlichkeit und Propaganda“ eine Gegenposition erarbeitet. Sein Standpunkt ist dem Projektionsprinzip zuordenbar und belegt, warum es sich beim Konstrukt

76 Vergleiche Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 2015, S. 54. 77 Herbst, Susan: The Meanings of Public Opinion: Citizens’ Constructions of Political Reality, London/ Newbury Park/New Delhi 1993, S. 439. 78 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 2015, S. 357f.

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der öffentlichen Meinung um eine wirkmächtige und bis heute bestehende liberale Propagandafigur handelt. Kesting datiert bei seiner begriffsgeschichtlichen Tour d’Horizon die Entstehung der öffentlichen Meinung ins 18. Jahrhundert. Den Terminus Öffentlichkeit ordnet Kesting immer einem konkret bestimmbaren und zahlenmäßig begrenzten Personenkreis zu. Die Herstellung von Öffentlichkeit ist an Publikationsmöglichkeiten und vor allem an die Verbreitung der Inhalte durch Vertriebe und Verschleißstellen gebunden. Nur wer die Produktionsmittel besitzt, kann für sich Pressefreiheit in Anspruch nehmen. Auf dieses Spezifikum der allgemeinen Pressefreiheit hat Paul Sethe, einer der fünf Gründungsherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in einem Bonmot hingewiesen, als er die allgemeine Pressefreiheit auf die „Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten“,79  einschränkte. Gleichbedeutend wie der Medienbesitz ist die Kontrolle der Öffentlichkeit. Publizität wird im liberalen Rechtsstaat zur wirkmächtigsten Waffe, um den politischen Gegner moralisch zu diffamieren. Öffentlichkeit ist eine im Kern liberale Erfindung. Damit stand dem Liberalismus ein Kampfinstrument zur Durchsetzung bürgerlicher Interessen in Abgrenzung zum Ancien Régime zur Verfügung. Mit dem Entwurf von Öffentlichkeit unterstrichen die Liberalen laut Kesting nur ihren politischen Herrschaftsanspruch. Als Illustration für seine These untersucht er die Entstehungsgeschichte der öffentlichen Meinung in England und Frankreich. In England konstituierte sich die öffentliche Meinung als anerkannte innerstaatliche Opposition, während sie in Frankreich als Antipode zum absoluten Staat entstand. In England80 entwickelte der Politiker Henry St. John, Erster Viscount Bolingbroke, das Konzept Öffentlichkeit für das politische Feld. „Öffentliche Meinung“ war der zentrale politische Begriff, den St. John mit den Bedeutungsebenen „Vaterlandsliebe“, „Fortschritt“, „Freiheit“ und „Opposition“ konnotierte. Er setzte alles, was den Partialinteressen seiner Partei, den Tories, nützte, mit der öffentlichen Meinung gleich. In England konnte sich so die legale Opposition in Abgrenzung zur Regierungsmeinung artikulieren. Für seine strategische Gleichsetzung der inhaltlichen Positionen seiner Partei mit der öffentlichen Meinung benötigte St. John verbündete Verlage und Zeitungen. Öffentlichkeit im politischen System Englands nach der Revolution von 1688/1689 stand für die Strategie eines Oppositionspolitikers und seiner Partei, die Parteimeinung zur Meinung des gesamten Volkes umzudeuten. Im absolutistischen Frankreich war die Ausgangsposition für die Opposition ungleich schwerer. Der Staat verfolgte die Regierungsgegner und konnte die Verbreitung der für die Machthaber unliebsamen Inhalte zensieren und unterbinden.

79 Vergleiche dazu https://www.welt.de/politik/article1007047/Mit-Hugo-Chavez-fuer-die-Freiheit. html, letzter Zugriff: 11.07.2022. 80 Vergleiche dazu Kesting, Hanno: Öffentlichkeit und Propaganda, Bruchsal 1995, S. 38ff.

Öffentlichkeit und öffentliche Meinung

Oppositionelle mussten sich im Geheimen treffen, ihre Publikationen geheim und unter Pseudonymen veröffentlichen und verbreiten. Auch im Untergrund waren Oppositionelle von Verfolgung und Bestrafung bedroht. Dadurch entstand die paradoxe Situation, dass sich die formierende liberale Opposition mit ihrer Forderung nach Öffentlichkeit nur in Geheimgesellschaften und unter Ausschluss der Öffentlichkeit artikulieren konnte. Mit dieser Schwierigkeit ist jede Opposition in totalitären Systemen konfrontiert. Wie Kesting ausführlich mit Originalquellen belegt, standen die Regierungsgegner in Frankreich und England also vor komplexen Herausforderungen. In England setzte St. John seine Parteimeinung mit der öffentlichen Meinung gleich, um so einen Wettbewerbsvorteil für seine Partei zu erlangen. In Frankreich hingegen versah die verbotene Opposition ihre Interessen mit den Attributen von Fortschritt und Menschlichkeit und erklärte sich zur Vertreterin der Menschheit. Beide Modelle eint folgender Sachverhalt: Die Öffentlichkeit ist der Raum, in den die – bei voller Pressefreiheit – sofort überwiegend liberalen Blätter ihre Propaganda hineintragen und in dem sie, im Interesse der von ihnen vertretenen sozialen Schicht, ihre Werbung entfalten. Öffentlichkeit ist der der Pressepropaganda schlechthin erreichbare Raum, und öffentliche Meinung ist die Besetzung dieses Raumes mit der Meinung der liberalen Presse.81

Was „öffentliche Meinung“ genannt wird, bezeichnet laut Kesting (als Parteigänger des Projektionsprinzips) nur die Meinung jener Akteure, die aufgrund wirtschaftlicher Voraussetzungen ihre Privatmeinung zur einzig öffentlich gültigen erklären. Wie Dahrendorf weist Kesting darauf hin, dass eine alle Bevölkerungsteile berücksichtigende öffentliche Meinung nur in Diktaturen und totalitären Staaten machbar ist. Nur Regime, die alle Publikationskanäle kontrollieren und Gegenstimmen unterdrücken, sind auch dazu fähig, mit dem Konstrukt der öffentlichen Meinung ihr eigenes Handeln zu legitimieren. Laut Kesting bedingen die historischen Entwicklungen in Frankreich und England zweierlei: Wenn öffentliche Meinung als die öffentliche Meinung also eine Fiktion darstellt, die selbst unter Einsatz brutaler Methoden nur sehr schwer und, wie man weiß, nicht lange aufrechterhalten werden kann, so ergibt sich daraus eine weitere Schlussfolgerung. Öffentliche Meinung ist dann offenbar identisch mit veröffentlichter Meinung, d. h. sie ist ein Mittel, bestimmte Menschen und Menschengruppen in ihrem Verhalten zu beeinflussen, ihr Tun und Lassen zu lenken und auf bestimmte Ziele hin auszurichten. Öffentliche Meinung als veröffentlichte Meinung ist mithin von Anfang an und von vornherein Propaganda. Sie ist ein Versuch der Legitimation – sei es eines Regimes, sei es bestimmter Handlungen einer

81 Vergleiche Kesting, Hanno: Öffentlichkeit und Propaganda, Bruchsal 1995, S. 23.

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Regierung, sei es schließlich oppositioneller Gruppen und ganzer Schichten. Sie zielt darauf, das Handeln politischer Eliten so darzustellen, […] als sei das Handeln kleiner Teile mit dem Wollen großer Massen der Bevölkerung identisch.82

Diese Gleichsetzung des liberalen Öffentlichkeitsverständnisses mit Fortschritt und Menschlichkeit hat eine wesensimmanente Kehrseite. Wer sich nicht mit den liberal-bürgerlichen Werten identifiziert, wird als Vertreter der Reaktion, des Aberglaubens und als Gegner von Recht und Ordnung identifiziert und sanktioniert. Die liberale Öffentlichkeit argumentiert seit ihrem Entstehen diskriminierend, obwohl sie sich als Hort des Edlen, Wahren und Guten inszeniert, der den Menschen erst gefunden habe. Diese dem liberalen Denken innewohnende moralische Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist zuerst bei Max Stirner im Jahre 1844 – auch ausdrücklich in dieser Schärfe – so formuliert worden: „Der gesamte Liberalismus hat einen Todfeind, einen unüberwindlichen Gegensatz, wie Gott und Teufel: dem Menschen steht der Unmensch, der Einzelne, der Egoist stets zur Seite.“83 Der Liberalismus als selbsternannter Hüter der „richtigen“ Seite der Geschichte ermächtigt sich also, zwischen Mensch und Unmensch zu unterscheiden. Die liberale Freiheitsidee hat eine radikale und dunkle Seite. Der Philosoph Stirner droht allen nicht liberal Argumentierenden eindeutig und unverhohlen: „Gehe die Toleranz eines Staates noch so weit, gegen einen Unmenschen und gegen das Unmenschliche hört sie auf.“84 Dieses Absprechen der Menschlichkeit hatte in der Geschichte der Moderne weitreichende Folgen. Aus „Unmenschen“ bei Stirner werden im 20. Jahrhundert „Untermenschen“ und im 21. Jahrhundert Lagerinsassen. Die Gefangenenlager der Guantanamo Bay Naval Base sowie die Flüchtlingslager außerhalb der Grenzen Europas sind sichtbare Belege für die liberale Inklusionsund Exklusionslogik. Aus der liberalen Binnenperspektive sind das Kollateralschäden bei der Entwicklung einer progressiven Gesellschaft. Als Träger des Fortschritts ist der Liberale verpflichtet, die Masse der Unwissenden durch Propaganda zu erziehen. Kestings historische Quellenforschungen sind auch dazu prädestiniert, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen realistisch einzuschätzen. Der Zugang zur Öffentlichkeit wird gegenwärtig von wenigen Daten- und Medienkonzernen kontrolliert. Die Öffentlichkeit selbst hat dabei in den letzten zwei Jahrhunderten ihren Platz gewechselt, und zwar von der Systemopposition direkt ins Zentrum der Macht, wie Botho Strauß festgestellt hat: „Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte. Es braucht keine Köpfe rollen zu lassen, es macht

82 Vergleiche Kesting, Hanno: Öffentlichkeit und Propaganda, Bruchsal 1995, S. 92. 83 Stirner, Max, Der Einzige und sein Eigentum, Ditzingen 2016, S. 154. 84 Stirner, Max, Der Einzige und sein Eigentum, Ditzingen 2016, S. 194.

Öffentlichkeit und öffentliche Meinung

sie überflüssig. Es kennt keine Untertanen und keine Feinde. Es kennt nur Mitwirkende, Systemkonforme.“85 Veröffentlichte und öffentliche Meinung sind Teil des Herrschaftssystems und haben die Aufgabe, Opposition außerhalb des engen binnenpluralistischen Korsetts des massenkulturellen Monopolkapitalismus unmöglich zu machen. Für die Richtigkeit der These von Strauß sprechen die krisenhaften globalen Entwicklungen infolge der Lehman-Brothers-Insolvenz. Wenn Banken trotz grob fahrlässiger Herbeiführung einer Zahlungsunfähigkeit oder vorsätzlichen Betrugs eine „Systemrelevanz“ zugesprochen wird und Politikerinnen wie Angela Merkel ihr Handeln als „alternativlos“ rechtfertigten, werden damit rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien (das Denken in Alternativen) und Konsequenzen für Marktversagen (Konkurs) quasi von oben herab von Funktionseliten für ungültig erklärt und ausgesetzt. Die an die Bevölkerung und Konsummonaden weitergegebenen Informationshäppchen sind –mit Kesting gesprochen – Propaganda. Diese ist in liberalkapitalistischen Systemen omnipräsent und integraler Bestandteil bürokratischer Herrschaft. Propaganda ist weniger Verführung als Mittel zur Herstellung sozialer Kohärenz. Der französische Soziologe und Theologe Jacques Ellul kam schon drei Jahrzehnte vor Strauß zu ähnlichen Schlussfolgerungen und erklärte Propaganda zum primären Herrschaftsinstrument liberaler Wettbewerbsdemokratien: Such propaganda is essentially diffuse. It is rarely conveyed by catchwords or expressed intentions. Instead it is based on a general climate, an atmosphere that influences people imperceptibly without having the appearance of propaganda; it gets to man through his customs, through his most unconscious habits. It creates new habits in him; it is a sort of persuasion from within. As a result, man adopts new criteria of judgement and choice, adopts them sponaneously, as if he had chosen them himself. But all these criteria are in conformity with the environment and are essentially of a collective nature. Sociological propaganda produces a progressive adaptation to a certain order of things, a certain concept of human relations, which unconsciously molds individuals and makes them conform to society.86

Diese liberale Propaganda nennt sich „Publicity“ und ist neben Informationstätigkeit, Überzeugungsarbeit und Dialog eines der vier Grundmodelle87 moderner Public-Relations-Arbeit. Im Unterschied zur „klassischen“ politischen und religiösen Propaganda braucht sie zum Funktionieren kein Feindbild, sondern beginnt

85 Strauß, Botho: Anschwellender Bocksgesang, in: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13681004. html, letzter Zugriff: 11.07.2022. 86 Ellul, Jacques: Propaganda, Toronto 1965, S. 64. 87 Vergleiche Avenarius, Horst: Public Relations, Darmstadt 2000, S. 87.

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mit der Erziehung und findet in der Massenkultur ihre perfekten Lautsprecher und Verstärker. Charakteristisch für die Publicity sind Einwegkommunikation und stark verkürzte Aussagen mit dem Ziel, Anschlusshandlungen, beispielsweise Käufe, auszulösen. Die Komplexitätsreduktion in den an die Publika und Zielgruppen weitergegebenen Informationen bildet die Faktengrundlage. Damit massendemokratische Gesellschaften überhaupt funktionieren können, benötigen sie Propaganda: Propaganda is needed in the exercise of power for the simple reason that the masses have come to particpate in political affairs. […] there is the concrete reality of masses. […] Nowadays the ruler can no longer detach himself from the masses and conduct a more or less secret policy; he no longer has an ivory tower. […] Hence, if the ruler wants to play the game by himself and follow secret policies, he must present a decoy of the masses. He cannot escape the mass, but he can draw between himself and that mass an invisible curtain, a screen, on which the mass will see projected the mirage of some politics, while the real politics are being made behind it.88

Dabei geht es weniger um kurzfristige Manipulation als darum, langfristig zu überzeugen und Verhalten zu verändern. Es wird versucht, „(1) aus der Öffentlichkeit Publika für zweckhaftes Anschlußhandeln zu gewinnen und (2) sowohl sozialzeitliche Publikumsstrukturen (vor allem Normen und Werte) als auch psychische Strukturen (Meinungen, Einstellungen, Motive) zu verändern“.89 Für die Kommunikationswissenschaftler Franz Ronneberger und Manfred Rühl wird aus Persuasion erst dann Manipulation, wenn es monopolartig agierenden Informationsanbietern gelingt, Antwortmöglichkeiten betroffener, aber unorganisierter Teilöffentlichkeiten gezielt zu unterdrücken. Propaganda erfüllt damit in der liberalen Demokratie eine andere Funktion als früher. Im 17. Jahrhundert bezeichnete „Propaganda“ die christliche Mission sowie die gegenreformatorischen Informationstätigkeiten der katholischen Kirche.90 Auch im 18. Jahrhundert fungierte sie als Kommunikationswerkzeug der Gegenaufklärung, was den alltagssprachlich negativen Beigeschmack des Begriffs erklärt. Im 19. Jahrhundert wurden Propagandatechniken von der entstehenden Arbeiterbewegung als wichtiges politisches Instrument eingesetzt.

88 Ellul, Jacques: Propaganda, Toronto 1965, S. 121f. 89 Ronneberger, Franz/Rühl, Manfred: Theorie der Public Relations, Opladen 1992, S. 300. 90 Das Wort Propaganda, lateinisch für ausbreiten und fortpflanzen, stammt von Papst Gregor XV., der 1622 eine Kongregation für die Evangelisierung der Völker (Sacra Congregatio de Propaganda Fide) gründete, mit dem Ziel, den Machtverlust der katholischen Kirche infolge der Reformation zu stoppen.

Öffentlichkeit und öffentliche Meinung

Das 20. Jahrhundert gilt als Epoche der modernen Propaganda.91 Im Ersten Weltkrieg wurde Propaganda essenzieller Bestandteil der Kriegsführung, und auf diese Entwicklungen aufbauend wurde Propaganda zur Sprachnorm in totalitären, nationalsozialistischen, faschistischen und kommunistischen Systemen. Nach Kriegsende wurden Propagandatechniken auch in den liberalen Wettbewerbsdemokratien zur Herstellung und Bewahrung gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Stabilität verwendet. Wie Kesting gezeigt hat, besteht ein kausaler Nexus zwischen öffentlicher Meinung, Liberalismus und Propaganda. Er verbleibt in seiner Analyse aber auf einer deskriptiven Ebene und entwickelt keinen eigenen Ansatz, wie eine nichtliberale Öffentlichkeit konzipiert sein könnte und aus welchen Merkmalen eine unabhängige Öffentlichkeit konstituiert sein müsste. Einen solchen Versuch haben Oskar Negt und Alexander Kluge unternommen. Sie markieren bürgerliche Öffentlichkeit als per se ideologisch und bestimmen mit Kapital und Bildung zwei strukturelle Ausschlussmöglichkeiten für Arbeiter und Besitzlose aus der Sphäre der liberalen Öffentlichkeit. Wenn, so die Ausgangsüberlegung, sich in der öffentlichen Meinungsartikulation des Bürgertums dessen ideologisches Selbstverständnis manifestiert, könnte eine sogenannte proletarische Öffentlichkeit dieselbe Funktion auch für die Arbeiterschaft erfüllen. Negt und Kluge kritisieren, dass öffentliche Meinung gemeinhin als Bezugspunkt für die Interessen aller Klassen ausgegeben werde, in Wirklichkeit aber nur den Standpunkt des Besitzbürgertums vertrete. Die bürgerliche Öffentlichkeit tritt den Arbeitern als staatliches Gewaltmonopol und außerökonomische Herrschaftstechnik gegenüber. Die Herstellung von Gegenöffentlichkeit als Vorform proletarischer Öffentlichkeit könnte daher einen entscheidenden Beitrag zum Emanzipationsprozess der lohnabhängigen Menschen, sprich: seine ökonomische Selbstermächtigung, auslösen. Proletarische Öffentlichkeit durch Selbstorganisation der Arbeiterinteressen zu schaffen, bezeichnen Negt und Kluge als Notwehr und legitimen Widerpart zur liberalen Öffentlichkeit. Diese Gegenöffentlichkeit darf sich dabei nicht auf aufklärerische Inhalte stützen, da deren Ideologeme und Standpunkte bereits von der Bourgeoisie ausformuliert und besetzt sind. Als einziges Mittel, die liberale Öffentlichkeit, die sie „Scheinöffentlichkeit“ nennen, zu stürzen, sehen Kluge und Negt die Schaffung einer proletarischen Öffentlichkeit: „Idee gegen Idee, Produkt gegen Produkt, Produktionszusammenhang gegen Produktionszusammenhang.“92 Nur diese konkrete Gegenöffentlichkeit kann die gesellschaftliche Gewalt, die von

91 Vergleiche dazu die vierteilige britische Fernsehdokumentation „The Century of the Self “ von Adam Curtis. Curtis fragt in seiner Dokumentation, welchen Einfluss die Arbeiten von Sigmund Freud und Edward Bernays auf moderne Propagandatechniken gehabt hätten und wie diese im 20. Jahrhundert von Unternehmen und Regierungen eingesetzt worden seien, um das Verhalten von Menschen zu analysieren, zu instrumentalisieren, zu steuern und zu kontrollieren. 92 Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung, Göttingen 2016, S. 99.

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Kapitalismus, öffentlicher Meinung und öffentlichem Gewaltmonopol ausgeht, angemessen kritisieren und Handlungsalternativen formulieren. Damit Gegenöffentlichkeit – und in der Folge proletarische Öffentlichkeit – entstehen könne, müssten drei Faktoren zusammenwirken: Das Interesse der Produzentenklasse muß treibende Kraft sein; eine Verkehrsform muß herstellbar sein, die die besonderen Interessen der Produktionsbereiche und das Ganze der Gesellschaft aufeinander bezieht; schließlich dürfen die von der zerfallenden bürgerlichen Öffentlichkeit während des Entstehungsprozesses der proletarischen Öffentlichkeit ausgehenden hemmenden und zerstörenden Einflüsse nicht übermächtig sein.93

Proletarische Öffentlichkeit erfüllt also für die Arbeiterschaft die gleiche Aufgabe wie die liberale für das Bürgertum: Durch Öffentlichkeit werden Interessen artikuliert und sichtbar gemacht. Als unmittelbare Konsequenz der Studentenbewegung haben Negt und Kluge die Umrisse einer Gegenöffentlichkeit skizziert, in der Hoffnung, eine die gesellschaftliche Realität transformierende Alternative vorzulegen. Die von ihnen erarbeitete Alternative ist ein reines Gedankenkonstrukt geblieben. Gegenwärtig ist kein echter Gegenspieler auf Augenhöhe zur wirkmächtigen Konzeption der liberalen Öffentlichkeit sichtbar.

2.2

Die Frage nach der Wahrheit und ihre Funktionalisierung in der Marktkommunikation

Der Philosoph Leo Strauss stellte bei seiner Lektüre klassischer Texte den Anspruch, diese so zu verstehen, wie ihre Autoren sie selbst verstanden (wissen wollten), ohne auf die falsche Fährte der historischen Bedingtheit jedes Textes zu gelangen. Die von Strauss angenommene und behauptete überzeitliche Essenz dieser klassischen Werke führt ihn „zur Einsicht in die Differenz, die aus politischen wie aus philosophischen Gründen zwischen den allgemein zugänglichen Lehren und dem Denken jener Philosophen besteht“.94 Diese Erkenntnis bedingte eine „Abkehr von der ‚durch ein mächtiges Vorurteil sanktionierten Prämisse‘, […] daß eine Rückkehr zur vormodernen Philosophie unmöglich sei“.95 Strauss sah mit der Aufklärung und der liberalen Öffentlichkeit das Zeitalter einer zweiten Höhle (unterhalb der

93 Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung, Göttingen 2016, S. 113. 94 Vergleiche Vorwort des Herausgebers Heinrich Meier, in: Strauss, Leo: Gesammelte Schriften, Band 2, Philosophie und Gesetz. Frühe Schriften, Stuttgart/Weimar 2013, S. XVIf. 95 Vorwort des Herausgebers Heinrich Meier, in: Strauss, Leo: Gesammelte Schriften, Band 2, Philosophie und Gesetz. Frühe Schriften, Stuttgart/Weimar 2013, S. XVII; Hervorhebung so im Original.

Die Frage nach der Wahrheit und ihre Funktionalisierung in der Marktkommunikation

platonischen) gekommen. Der deutsch-jüdische Philosoph weigerte sich, das moderne Denken mit Fortschritt gleichzusetzen, und sah die kanonischen Texte der Neuzeit lediglich als „neuen Vorschlag und nicht als neues Wissen“96 und verbindliche Wahrheit für die Philosophie. Strauss kritisierte die Moderne für ihre Blindheit den ersten Fragen gegenüber. Den Auftakt zu diesem Titanenkampf zwischen Antike und Moderne, den der Herausgeber der gesammelten Werke von Strauss, Heinrich Meier, in Anlehnung an die französische Debatte der Aufklärung auch „Querelle des Anciens et des Moderne“97 nannte, liegt im Kern zwischen naturwissenschaftlich-modernem und vormodernem Wissenschaftsverständnis. Diese gegensätzlichen Zugänge zu Wissen, Wahrheit und Wissenschaft bilden auch den zentralen Auffassungsunterschied98 zwischen Leo Strauss und Alexandre Kojève bei ihren Interpretationen von Xenophons Hieron99 ab. Die Aufklärung ließ sich „durch das Scheitern ihres Angriffes auf die Orthodoxie“100 nicht beirren und war zum Aufbau einer neuen Welt gezwungen. Den radikalsten Neubeginn dieses alternativen Denkens datiert Strauss mit Hobbes’ Politischer Wissenschaft. Erst Hobbes habe die moderne Tradition begründet.101 In seiner kritischen Interpretation hat Strauss mit der „Befreiung von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, den eingeschliffenen Denkgewohnheiten, von den zu Vorurteilen geronnenen Grundannahmen und den unbefragten ge-

96 Strauss, Leo: Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genese, in: Srauss, Leo: Gesammelte Schriften, 3, Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften, Stuttart/Weimar 2001, S. XVI. 97 Der französische Gelehrtenstreit der Aufklärung verhandelte die Frage, ob das Menschenbild der Antike noch Gültigkeit besitze und Inspiration für die moderne Literatur und Wissenschaft sein könne. 98 Die begeistere Rezension „Wider die Tyrannis“ aus dem Jahre 1964 empfiehlt die Lektüre als „aufregende Sache“, in: http://www.zeit.de/1964/19/wider-die-tyrannis/seite-2, letzter Zugriff: 11.07.2022. 99 In dieser Abhandlung erörtern der Dichter Simonides von Keos und der Tyrann Hieron I. von Syrakus Vorzüge und Nachteile der Tyrannei und stellen sich die Frage, ob diese Herrschaftsform für Herrscher und Untergebene bestmöglich gestaltet werden könne. In den letzten drei Absätzen beschreibt Simonides die Beschaffenheit einer „idealen Tyrannis“. Diese nur 20-seitige Abhandlung bildete den Auftakt zu einer philologischen Kontroverse zwischen Leo Strauss und Alexandre Kojève, die Strauss nutzte, um das klassische Vokabular der politischen Philosophie zu rehabilitieren und ihren erkenntnistheoretisch bleibenden Wert als gleichrangig mit der Moderne zu behaupten. Strauss begreift dieses verloren gegangene Wissen der Antike als unverzichtbaren Bestandteil jeder Forschung. 100 Strauss, Leo: Gesammelte Schriften, Band 2, Stuttgart/Weimar 2013, S. 20. 101 Diese Einschätzung korrigierte Leo Strauss im neu zugefügten deutschen Vorwort 1964 zur Studie „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis (1935/1965)“. Strauss gesteht einen Irrtum bei seiner ursprünglichen Studie ein. Nicht Hobbes, sondern Machiavelli, so sein nach Jahrzehnten revidiertes Urteil, sei der Begründer der modernen Politischen Philosophie; vergleiche dazu Strauss, Leo: Vorwort, in: Strauss, Leo: Gesammelte Schriften, Band 3, Stuttgart/Weimar 2001, S. 9f.

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schichtlichen Entscheidungen in der Philosophie der Gegenwart“102 seine eigenen philosophischen Gedanken herausgebildet, die in der Tradition einer Philosophia perennis stehen und den Anspruch auf Wahrheit erheben. Strauss versuchte die Erstarrung der Philosophie in der Moderne zu durchbrechen und den Blick wieder auf die bleibenden und fundamentalen Fragen zu lenken. Strauss wollte sich nicht mit der üblichen Zuordnung zu „modern“ oder „ultramodern“ begnügen, denn er sah Hobbes’ „berühmte Klarheit […] auf seine Folgerungen beschränkt; seine Voraussetzungen […] in Dunkel gehüllt“.103 Diese Dunkelheit war Programm und Konsequenz seines Denkens und nicht zufällig. Hobbes philosophierte laut Strauss in jenem fruchtbaren Moment, als der Gegensatz zwischen antikem und naturwissenschaftlichem Denken noch nicht kanonisiert war. Strauss wirft Hobbes vor, die Idee der Politischen Wissenschaft als gegeben und selbstverständlich anzunehmen und eben daher modern zu argumentieren. Die Voraussetzungen seines Denkens setze dieser als vorgegeben und nicht hinterfragbar an und unterziehe sie keiner Kritik. Hobbes vermeide die Nennung und Diskussion der ersten Fragen, weil er diese schon durch die Tradition beantwortet sehe. Hobbes, so die Kritik von Strauss, stellte nicht jene Fragen, ohne deren Beantwortung die Politische Wissenschaft nicht Wissenschaft ist. Hobbes habe beispielsweise nicht nach dem Wesen der Tugend und dem Zweck des Staates gefragt. Strauss belegte die Denkfehler von Hobbes, die auch noch das Wesen des liberalen Rechtstaats im 21. Jahrhunderts unmittelbar prägen, wie etwa auch das allzuoft zitierte Diktum des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach „der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann“.104 Hobbes begann seinen Staatsentwurf nicht mit der Frage nach der Ordnung oder dem Gesetz, weil er die Existenz eines nichtmenschlichen Willens ausklammerte. Laut Strauss kann Hobbes diese Fragen nicht stellen, sondern nur als vorgegeben annehmen, da die moderne resolutiv-kompositive Methode sich fundamental von der genetischen Methode des Aristoteles unterscheidet und dieses genuin moderne Wissenschaftsverständnis Antworten auf die ersten Fragen methodologisch ausschließt. Hobbes leitet seine Politische Wissenschaft von der Naturwissenschaft ab und erklärt Leidenschaften und Wahrnehmung rein mechanistisch und grenzt den Einzelwillen auf die Dimension der mechanistischen Psychologie ein. Mit dieser Selbstbeschneidung des Denkens geht negativ die Leugnung der Willensfreiheit und positiv das Primat der Sinneseindrücke vor der Vernunft einher. Hobbes’ Setzungen wie „der Krieg aller gegen alle“ und der

102 Vorwort des Herausgebers Heinrich Meier, in: Strauss. Leo: Gesammelte Schriften, Band 3, Stuttgart/ Weimar 2001, S. XVI. 103 Vergleiche Strauss, Leo: Gesammelte Schriften, Band 3, Stuttgart/Weimar 2001, S. 8f. 104 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a.M. 1976, S. 60.

Die Frage nach der Wahrheit und ihre Funktionalisierung in der Marktkommunikation

„Naturzustand“ sind für Strauss nur unter indeterministischen Voraussetzungen haltbar. Hobbes verkürzt den Seinsgrund des Menschen auf Nutzenorientierung. Erst durch das Bestreiten der Offenbarung Gottes werden die Grundlagen der Politik und des (modernen) Denkens von Hobbes erklärbar. Die Beantwortung der Frage nach der Herausforderung der Theologie für die Politik und den Konnex der beiden hat die Moderne zu ihrem eigenen Schaden ausgeklammert. Für Strauss konnte die Vernunft nicht das theologisch-politische Problem erklären (obwohl er als Philosoph auf ihrer Seite stand), weshalb er für die Wiederaufnahme von historisch nur oberflächlich entschiedenen Streitfragen eintrat. In dieser noch nicht entschiedenen Auseinandersetzung von theologischen und politischen Alternativen zur Philosophie befindet sich ein weiterer Baustein zur Klärung des politisch-theologischen Problems. Strauss zufolge benötigte die Politische Wissenschaft als nichthistorische Tätigkeit ein kritisches Studium ihrer Geschichte, um die Denkverbote der Moderne zu erkennen, zu vermeiden und zu umgehen. Ein offen gebliebenes Projekt von Strauss blieb, eine kritische Geschichte des Naturrechts zu schreiben, die für ihn notwendig war, da „die alleinige Voraussetzung der heutigen Skepsis gegen das Naturrecht das historische Bewusstsein ist“.105 Angetrieben von seinem eigentlichen Erkenntnisinteresse, verfeinerte Strauss auch seine methodologischen Fertigkeiten und entdeckte dabei die altehrwürdige Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens-und-Schreibens. Strauss maß methodologischen Fragen aber keinen besonderen Stellenwert in seinem Werk bei. Sein wissenschaftlicher Ehrgeiz wollte das Denken der Vormodernen als Bestandteil der Lageanalyse der Moderne rehabilitieren. Die Methode des esoterischen Schreibens diente ihm nur dazu, die Aktualität der Klassiker zu belegen. Nach den von Strauss aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen muss das Verhältnis zwischen Antike und Moderne neu bestimmt werden. Beim epochalen Philosophenstreit zwischen Leo Strauss und Alexandre Kojève wurden anlässlich ihrer Debatte106 über das Wesen der Tyrannis beim griechischen Autor Xenophon eben jene Fragen verhandelt, die uns die Unterschiede zwischen klassischem und modernem Denken zu vergegenwärtigen helfen. In ihrer Kontroverse werden idealtypisch die Unterschiede zwischen ahistorischem und historischem Denken diskutiert. Der hegelianisch argumentierende Kojève sieht das vollkommene Gemeinwesen in der Realität und durch den Fortschritt der Geschichte bereits verwirklicht. Seiner Überzeugung nach sind auch Fragen der Ethik in eine konkrete historische Situation eingebettet und dürfen nicht losgelöst davon in einem luftleeren Raum beantwortet werden.

105 Strauss, Leo: Gesammelte Schriften, Band 3. Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, Stuttgart 2008, S. 396. 106 Vergleiche dazu Strauss, Leo: On Tyranny, Chicago 2013, S. 133–214.

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Strauss weist diese Denkfigur als ideologisch zurück und nennt die dem modernen Denken inhärenten Folgen eines universellen Weltstaats: Konstituiert sich der progressive Weltstaat, kann darüber hinaus kein Fortschritt mehr gedacht werden. Stalin, Hitler und der „totale Markt“ können dann problemlos als Inkarnation des Weltgeistes gedeutet werden. Der Schluss von hier bis zum „Ende der Geschichte“ bei Francis Fukuyama ist dann nicht mehr weit. Der ahistorische Moralismus von Strauss behauptet in Abgrenzung dazu die Möglichkeit und Notwendigkeit einer alternativen Geschichtsschreibung, in der die sokratische Haltung des Fragens die modernen Denkgewohnheiten sprengt. Dieser Dialog zwischen den zwei Denkern markiert also den Beginn des neu aufgelegten Dialogs zwischen der Antike und der Moderne. Zur Neuverhandlung dieser Frage munitionierte sich Strauss mit der Technik des esoterischen Schreibens auf, um die Leitdifferenz Wahrheit und Lüge (Täuschung) mit Rückgriff auf die Bedeutung dieser Begriffe in Platons Idealstaat neu zu denken. Strauss’ Hingabe galt der Klärung inhaltlicher Fragen, die Methode war für ihn nur ein Handwerk, welches er nicht in Lehrbüchern Schritt für Schritt erklären wollte. Strauss setzte die Mündigkeit seiner Leser voraus und verzichtete auf die explizite Erklärung dieser Methode. Dieser verklausulierten Herangehensweise entspricht auch die Anordnung seiner programmatischen Festlegungen. Einander bedingende Argumente werden in unterschiedlichen Abhandlungen, Schriften und Kontexten verhandelt, greifen ineinander und beginnen sich erst allmählich gegenseitig zu erklären. Diese zum Verständnis seines Werks zentrale Systematik ergibt sich aus seiner Selbstverortung als Philosoph. Eine philosophische Lebensweise verpflichtet zum Selbst- und Weiterdenken zentraler Denkfiguren über die engen Grenzen eines abgeschlossenen Einzeltextes und galt Strauss in Anlehnung an antike Traditionen als Voraussetzung des gelebten Philosophierens, zu dem Fragen und Zweifel gehören. Aus dieser Prädisposition leitet Strauss seine Freiheit des Philosophierens gegenüber moderner Forschung ab, und daraus erklärt sich sein Beharren auf die Kategorien Wahrheit und Lüge. Für das Verständnis seines Denkens ist folgende Unterscheidung zu beachten: „What holds true of the difference between truth and lies holds equally true of the difference between esoteric and exoteric teaching; for Plato’s exoteric teaching is identical with his ‚noble lies‘.“107 Der antike Vernunftbegriff unterscheidet sich vom modernen in der Bewertung von Wahrheit und Lüge. Das Insistieren auf die Sinnhaftigkeit eines überzeitlichen Wahrheitsbegriffs war Strauss wichtiger, als ein Handbuch des esoterischen Schreibens zu verfassen. Die Erstellung eines Einführungswerks zum Erlernen dieser

107 Strauss, Leo: Exoteric Teaching, in: Strauss, Leo: The Rebirth of Classical Political Rationalism, Chicago/London 1989, S. 69.

Die Frage nach der Wahrheit und ihre Funktionalisierung in der Marktkommunikation

Hermeneutik war ihm kein forscherisches Anliegen. Strauss genügt ein kleiner Hinweis: In this study [of Spinoza’s Theological Political Treatise] I was greatly assisted by Lessing, especially his theological writings, some of them with forbidding titles. Incidentally, Lessing is also the author of the only improvised live dialogue on a philosophic subject known to me. Lessing was always at my elbow. This meant that I learned more from him that I knew at that time. As I came to see later Lessing had said everything I had found out about the distinction between exoteric and esoteric speech and its grounds.108

Strauss hat die Methode also – quasi en passant – beim Studium von Spinozas Religionskritik entdeckt und hält es, bis auf die Nennung seiner Quelle Lessing, nicht für wesentlich, diese Methodik näher und in allen Einzelheiten durchzudeklinieren. Erst posthum erschien eine nur neunseitige Notiz zur exoterischen Lehre,109 wobei Strauss gleich anfangs anmerkt, dass dieser Methode keinerlei Bedeutung für das Verstehen der antiken Gedankenwelt zukomme. Strauss vertraut auf den denkenden und lernenden Leser, der imstande sei, selbstständig und ohne Anleitung Schlüsse zu ziehen. Bei Leo Strauss findet sich keine genaue Gebrauchsanleitung für die Methode des esoterischen Schreibens: erstens weil er das dafür gebrauchte Kontextwissen nicht als für jeden erlernbar einstufte, zweitens weil er die Funktionsweise dieser Methode unter Nennung des für ihn entscheidenden Schlüsselwerks „Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer“ von Lessing offenlegte und drittens weil ihre Anwendung für ihn nicht die Kernfrage seines Werkes berührte. In Lessings fünf Dialogen zwischen Ernst und Falk, die er mit der Präposition „für“ im Untertitel ergänzt, gibt Lessing nicht nur eine Anleitung zum Wesen der Freimaurer, sondern auch eine meisterhafte Einführung in das esoterische Schreiben. Lessing verfolgt mit der Wahl des Stilmittels Gespräch die Zielsetzung, „stets eine Sache von mehreren Seiten zu beleuchten, um auch in den Argumenten seines Gegenübers nach Spuren der Wahrheit zu suchen“.110 Die Dialoge zwischen Falk und Ernst behandeln unter anderem die Fragilität der Wahrheit. Auf die Aussage von Ernst, „eine Wahrheit, die jeder nach seiner Situation beurteilt, kann leicht missbraucht werden“,111 attestiert ihm Falk, schon ein halber Freimaurer zu sein, da er „schon Wahrheiten“

108 Strauss, Leo/Klein, Jacob: A Giving of Accounts, in: The College, Band 22, 1/1970, S. 3. 109 Siehe Strauss, Leo: Exoteric Teaching, in: Strauss, Leo: The Rebirth of Classical Political Rationalism, Chicago/London 1989, S. 63–71. 110 Keil, Rolf: Lessing und die Freimauer, in: Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst & Falk, Frankfurt a.M. 2011, S. 93. 111 Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst & Falk, Frankfurt a.M. 2011, S. 37.

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erkenne, „die man besser verschweigt“112 . Der Weise verschweige besser, was er nicht sagen könne. Falk unterweist den wissensdurstigen Ernst in die esoterische Welt: Man betreibe „einen Teil seiner geheimen Absichten ganz öffentlich […], um das Misstrauen jener in die Irre zu führen, die immer ganz etwas anderes vermuten, als sie sehen“.113 Der Geheimhaltung weist Falk eine wichtige Funktion zu: „Heimlichkeiten sind Dinge, die sich wohl erzählen lassen und die man nur in gewissen Zeiten, in gewissen Ländern, teils aus Neid verhehlte, teils sich aus Furcht verkniff, teils aus Klugheit verschwieg.“114 Hinter diesen Beschreibungen der Techniken des selektiven Ver- und Entbergens – die auch eine beißende Zeitungskritik enthalten, wo Zeitungen mit der Metapher des Bärenaufbindens als Träger und Erzeuger von Halbwahrheiten abgekanzelt werden – verbirgt sich die entscheidende Frage: Was unter dem Wahren ist brauchbar? Und was unter dem Brauchbaren wahr?115 Die Grundsätze dessen, was man nicht an Außenstehende weitegeben wolle, verstecke man unter „Hieroglyphen und Symbolen“.116 Nur unter Zuhilfenahme von Büchern könne der Einzelne dann sehen und begreifen. Lessings Schrift erörtert also nicht nur das Wesen des Geheimnisses der Freimaurer, sondern gibt dem Leser auch wertvolle Hinweise und eine indirekte Anleitung zur Technik des Zwischen-denZeilen-Lesens-und-Schreibens, wie sie Leo Strauss bei seiner Rehabilitation antiker menschlicher Wahrheiten verwendet hat. Die Wiederentdeckung dieser antiken und mittelalterlichen Schreibtechnik bei der Lektüre Lessings war für Strauss „nur“ ein Nebenprodukt seiner wissenschaftlichen Lebensleistung. Zentral für das Verständnis seines Denkens hält er allerdings das Festhalten an der Differenz zwischen Wahrheit und „nobler Lüge“. Exoterische oder öffentliche Lehre setzt er gleich mit „noblen Lügen“, weil auch die besten Studierenden am Beginn ihrer Ausbildung „noble Lügen“ glauben müssten, da sie esoterische Wahrheiten noch nicht verstehen könnten. Die relative Wahrheit der Marktkommunikation sowie der Vätergeneration sei eine andere als der Anspruch einer absoluten Wahrheit, wie ihn die klassische Philosophie einfordere. Eine „noble Lüge“ wird hier als Teil des philosophischen Argumentierens bei der Suche nach der Wahrheit akzeptiert und ausdrücklich erlaubt. Platon bezeichnet in seinem Werk „Politeia“ „noble Lügen“ und „edle Täuschung“ als in der politischen Kommunikation notwendige, aber falsche Mythen, um den sozialen Frieden in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Die überlieferten Mythen sollten abgeschafft werden und durch

112 113 114 115 116

Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst & Falk, Frankfurt a.M. 2011, S. 38. Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst & Falk, Frankfurt a.M. 2011, S. 57. Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst & Falk, Frankfurt a.M. 2011, S. 65f. Vergleiche Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst & Falk, Frankfurt a.M. 2011, S. 85. Das Wort Hieroglyphe verwendet Lessing, weil er in dieser Textpassage vordergründig den architektonischen Wert der St.-Pauls-Kathedrale – erbaut von Christopher Wren, einem erfolgreichen Baumeister und Freimaurer – bespricht.

Die Frage nach der Wahrheit und ihre Funktionalisierung in der Marktkommunikation

den neuen und erfundenen Mythos „ihr alle im Staat seid Brüder“117 ersetzt werden. Diese erfundene Gleichheit widerspricht dem Faktum einer ständisch organisierten Gesellschaft und wird von Platon „phönikisches Geschichtchen“118 genannt, welches freilich von den Bürgern geglaubt wird. Indem die Menschen das Märchen für wahr halten und somit loyale Bürger werden, ist diese Lüge aus Sicht der Regierenden für die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens richtig und eine erlaubte Herrschaftstechnik.119 Nicht alle Wahrheiten sind allen Menschen zumutbar. Diese Differenz zwischen einer der Allgemeinheit zugänglichen exoterischen und einer nur einer kleinen Zahl von Eingeweihten erkennbaren esoterischen Wahrheit wird als Schreibtechnik auch in anderen Epochen und Schreibkontexten eingesetzt. Welchen Lesern ist die volle Wahrheit und welchen nur ein bestimmter Ausschnitt davon einleuchtend? Hinter der Trennung zwischen Exoterik und Esoterik verbirgt sich die philosophische Frage nach der Wahrheit, die Strauss für sich in Anrufung Platons beantwortete. Die fragende Lebensweise des Philosophen verpflichtet ihn zur Wahrheitssuche, aber diese Wahrheit ist nur dem Stand der Philosophen und nicht der breiten Masse verständlich. Eine Täuschung des Bürgers kann erforderlich sein, um dem Gemeinwesen und damit der Klärung der ersten Fragen zu dienen. Der philosophische Wahrheitsbegriff ist absolut und unterscheidet zwischen wahr und falsch, während der politische Wahrheitsbegriff „noble Lügen“ zur Aufrechterhaltung des Gemeinwesens erlaubt. Die Moderne seit Hobbes hat den Wahrheitsbegriff relativiert und historisiert. An die Stelle einer absoluten Wahrheit treten viele gleichberechtigte Wahrheiten. Diese Entwicklung gipfelte in der Aussage des Wissenschaftstheoretikers und Kybernetikers Heinz von Foerster, der den Begriff Wahrheit als Erfindung eines Lügners bezeichnete. Für von Foerster ist das Wort Wahrheit ein Chamäleon der Philosophiegeschichte, das er gern aus dem wissenschaftlichen Gebrauch verschwinden lassen würde. Von Foerster ging von der gegenseitigen Bedingung von Wahrheit und Lüge aus: „Wer von Wahrheit spricht, macht den anderen direkt oder indirekt zu einem Lügner. Diese beiden Begriffe gehören zu einer Kategorie des Denkens, aus der ich gerne heraustreten würde, um eine ganz neue Sicht und Einsicht zu ermöglichen.“120 Er vertrat die Meinung, dass die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen habe, und befindet sich damit in der Traditionslinie der Moderne.

117 Platon: Der Staat, Ditzingen 2016, (415 a) S. 202. 118 Platon: Der Staat, Ditzingen 2016, (414 c) S. 201. Phönikisch nennt Platon das Märchen wegen einer Andeutung auf die Aussaat der Drachenzähne durch den „Phöniker“ Kadmos, vergleiche dazu Platon: Der Staat. Anmerkungen zu Buch III, Ditzingen 2016, S. 524. 119 Vergleiche Platon: Der Staat, Ditzingen 2016, (414c–415d) S. 201f. 120 Vergleiche von Foerster, Heinz/Pörksen, Bernhard: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, Heidelberg 2016, S. 29f.

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Ein naturwissenschaftlicher Zugang bestimmt seit Hobbes die Form der Anthropologie und deduziert aus dieser Prämisse ihren relationalen Wahrheitsbegriff. An die Stelle einer der absoluten Wahrheit verpflichteten Suche als Beginn jeder Wissenschaft treten als Seinsgrund des Menschen nun die relationalen und zweiten Fragen nach dem Nutzen, der Macht und der Sicherung des menschlichen Lebens. Der Staat als solcher und die Wirtschaft als solche werden als nicht hinterfragbar in den Rang von Naturgesetzen erhoben, von denen aus die wissenschaftliche Suche nach der Wahrheit beginnt. Diese entgegengesetzen Ausgangspunkte bei der Suche nach der Wahrheit (ahistorisch bei Strauss, historisch-kontingent in der Moderne) finden ihre Fortsetzung in den unterschiedlichen Leitmethoden. Das moderne naturwissenschaftliche Fragen arbeitet resolutiv-kompositorisch, während das antike Denken genetisch forscht und fragt. Die antike Frage nach der Entwicklung der Staatsidee wird nun durch die Frage nach Ziel und Beschaffenheit des Einzelwillens ersetzt und der Urgrund dieses Willens mit der Hypothese eines Naturzustands „erklärt“. Dieses mit der veränderten Methodik einhergehende andere Denken erzeugt ein anderes Wahrheitsverständnis, wie Max Planck in seiner „Wissenschaftlichen Selbstbiographie“ dargelegt hat: Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.121

Diese Änderung des Denkens bedingt auch eine andere Betrachtung des menschlichen Bewusstseins, das in der Moderne a priori gesetzt wird: „Bewußtsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.“122 Während der Wahrheitsbegriff relativiert wird und das Bewusstsein gesellschaftlich vorgegeben ist, werden die Axiome der neoklassischen Ökonomie in den Rang eines Dogmas erhoben. In der Marktwirtschaft gelten individuelle Gewinn- und gemeinschaftliche Nutzenmaximierung als ursächlich miteinander verbunden. Marktfreie Lebensbereiche werden laufend in die Logik des Marktes eingemeindet, die Ausweitung der Ökonomie auf sämtliche Lebensbereiche führt zu einer Verengung des Menschenbilds auf ökonomische Blickwinkel. Das neoklassische Dogma verknüpft und vermischt so lange Nichtökonomisches mit Ökonomischem, bis alles vom Markt kolonisiert und beherrscht wird. Der „totale Markt“ wird in den Rang eines Naturgesetzes erhoben:

121 Planck, Max: Wissenschaftliche Selbstbiographie, Leipzig 1967, S. 22. 122 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Band 3, Berlin 1978, S. 31.

Die Frage nach der Wahrheit und ihre Funktionalisierung in der Marktkommunikation

Eine wirtschaftliche Unternehmung kann nur dann Bestand haben, wenn ihre Leitung den eigenen Gewinn und das allgemeine öffentliche Wohl als untrennbar zusammenhängend betrachtet. Es gibt einen vitalen Zusammenhang zwischen privaten und öffentlichen Interessen, zwischen dem Gewinnstreben der Unternehmensleitung und ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.123

Ein solches Menschenbild begünstigt einen Wahrheitsbegriff, der Public Relations und Marketing zur Grundform jeder gesellschaftlichen Kommunikation verklärt, wie Horst Avenarius im Untertitel seines Buches „Public Relations“ vollmundig behauptet. Jede Kommunikation wird zur Marktkommunikation, und alle Meinungen und Diskussionen werden als Teil des Meinungsmarktes betrachtet. Public Relations und Marketing sind die Legitimationswissenschaften eines massendemokratischen Monopolkapitalismus. Ausgehend vom unhinterfragten Markt- und Staatsbegriff werden alle Standpunkte und Inhalte für wahr erklärt, die der argumentativen Selbstvergewisserung im Dienste der Marktanteilsausweitung dienen. Ein solch instrumenteller Wahrheitsbegriff erzeugt mit Akteuren (Experten, Think-Tanks) und angewandter Wissenschaft (Studien, Statistik) ein autopoietisches Subsystem, wo private und interessengeleitete Standpunkte zur Grundlage des Gemeinwesens hochstilisiert werden. Marktkommunikation wird somit als Produzent von Vertrauen begriffen und als verständnisorientierte Dienstleistung interpretiert und nicht als Manipulationsinstrument eines falschen Bewusstseins und bloße Deduktion eines unhinterfragten Paradigmas. Als angewandte Sozialwissenschaften behaupten Marketing und PR, als Dienstleister die Allgemeinheit mit objektiven Informationen zu versorgen, während Wissenschaft nur als selektiver Wahrheitsausschnitt konkret benennbarer Auftraggeber und Quellen begriffen wird, um interessengeleitete Positionen argumentativ abzusichern. Wissenschaftliche Wahrheit versteht sich nicht – wie in der Tradition von Strauss – als ergebnisoffenes Fragen und Suchen, sondern beschränkt sich auf die Präsentation von Antworten, die vom jeweiligen Standpunkt abgeleitet werden. Erst das kritische Quellenstudium nach Auftraggeber und erkenntnisleitende Fragestellung schaffen Gewissheit über das jeweilige Wissenschaftsverständnis: Wird der eigene Standpunkt nur mit Studien, Aussagen und Expertisen untermauert, oder dient die wissenschaftliche Abhandlung einem Erkenntnisinteresse, welches redlich und skeptisch zu nennen ist? Allein der Hinweis auf mögliche Gegensätze im Wissenschaftsverständnis wird vom Gründervater der PR, Edward Bernays, mit einem saloppen Einzeller wegargumentiert: „The only difference between ,propaganda‘ and ,education‘, really, is in

123 Droste, Heinz W.: Public Relations, Wiesbaden 1989, S. 41.

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the point of view.“124 Dienen Bildung und Wissenschaft bei Strauss als lebenslange Hinführung zur Beantwortung der ersten Fragen, werden Wissen und Wissenschaft bei Bernays als Ausgangspunkt, Grundlage und Grundform jeder Handlung in der demokratischen Massengesellschaft begriffen. Wahrheit ist bei Bernays „vague and indefinite“125 und relativ. Relationale Wahrheiten im Dienste eines Auftraggebers „wissenschaftlich belegt“, nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten optimal getimt und mit klaren Vorgaben an die jeweiligen Anspruchsgruppen zu verkaufen, will etwas anderes, als bei der ergebnisoffenen Suche nach der Wahrheit notgedrungen zur Finte der noblen Lüge zu greifen. Diese Leitdifferenz bedingt ein anderes Selbstbild, einen anderen Umgang mit Quellen und ein grundverschiedenes Erkenntnisinteresse. Ein nicht näher definiertes, aber behauptetes Allgemeininteresse und Gemeinwohl ist beim nach außen transportierten Selbstbild und in der für PR und Marketing typischen Ratgeberliteratur klar nachweisbar. Fast wünscht man sich als Beobachter die Zeiten zurück, als Werbung, Vertrieb und Marktkommunikation noch nicht als Dienst an der Demokratie verkleidet wurden.

2.3

Verkaufen als Dienst an der Allgemeinheit

Am Beginn der Legitimationswissenschaften Marketing und Public Relations stehen die Behauptung der eigenen Wichtigkeit und Notwendigkeit sowie die daraus abgeleitete Beteuerung, der Allgemeinheit und den Auftraggebern beim Verstehen der komplexen Gegenwart zu helfen. Gerne wird dieser Dienst an der Allgemeinheit auch an den Anspruch gekoppelt, durch die richtige Kommunikation die Gesellschaft therapieren126 zu können. Public Relations, verstanden als Teil des Marketings mit den Mitteln der Publizistik, wurde von den Taktwortgebern des Fachs nur so lange ignoriert, bis sich das Marketing anlässlich von Wertewandel und Postmaterialismus selbst neu erfand. Auch die Verkaufsförderung sieht sich seitdem als innovative, kreative Kraft, welche Identifikationsangebote, Lebensstile und Sinnangebote produziert. Letztendlich verwandelt sich in der demokratischen Massengesellschaft jede Kommunikation in Marktkommunikation. Soziales Marketing gibt an, nicht mehr nur verkaufen zu wollen. Die Neuentdeckung der Liebe zum Gemeinwohl verlief parallel zum Siegeszug der neoklassischen Ökonomie,

124 Bernays, Edwards: Crystallizing Public Opinion, New York 1923, S. 200. 125 Bernays, Edwards: Crystallizing Public Opinion, New York 1923, S. 201. 126 Die fragwürdige Tradition, mit Kommunikation immer auch therapieren zu wollen, wurde durch die Aufwertung des kommunikationstherapeutischen Ansatzes von Paul Watzlawick zur allgemeinen Kommunikationsfunktion möglich.

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und während das Marketing die Gesellschaft entdeckte, erweiterte sich die gesellschaftsorientierte PR um den Aspekt der Absatzorientierung. Das Marketing erhofft sich mehr Glaubwürdigkeit und eine bessere Reputation, die PR versucht ihre Aktivitäten anhand betriebswirtschaftlicher Kennzahlen messbar zu machen. Gesellschaftsorientierung heißt dann, dass das Unternehmen über die reinen absatzpolitischen Ziele hinaus seine gesellschaftliche Verantwortung anerkennt, daraus entsprechende Maßnahmen ableitet und seine gesellschaftlichen Aktivitäten mit Hilfe der PR sichtbar macht. Durch dieses Engagement will das Unternehmen seine Akzeptanz erhöhen und das eigene Image verbessern – und damit indirekt seine Erträge steigern.127

Die Erfindung der Gesellschaftsorientierung markierte den Beginn des Verschmelzens von Markt, Gesellschaft und Kultur. Die freiwilligen Selbstverpflichtungen und Instrumente (Studien, Umweltpreise, Codices, Institute, Think-Tanks, Preise, Galas, NGOs, Sozialbilanzen, Nachhaltigkeit, Corporate Social Responsibility, Gütezeichen, Pinkwashing, Greenwashing) haben zudem den Vorteil, weniger streng als Redaktionsstatute zu sein und vom Auftraggeber selbst beliebig mit Inhalten und Botschaften bespielt werden zu können. Wenn Unternehmer mit den Konzepten der Nächstenliebe, des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit ihre Produkte verkaufen, ist Vorsicht geboten. Hinter jedem selbsternannten Philanthropen und seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen verbergen sich die primären, den Absatz betreffenden Ziele.128 Das Marketing hat also verspätet eine inhärente Entwicklung vollzogen, die die PR bereits bei ihrer Entstehung unmissverständlich festgeschrieben hat. Mit Selbstbildern wie „to manage conflict for the benefit of all“,129 „Anwälte des öffentlichen Wohls“, „Organizing Chaos“, „Progadanda for Education“, „symbolische Kontrolle der Umwelt“ und „Engineering of Consent“130 haben die US-amerikanischen Gründerväter dieser genuinen Sozialwissenschaft des 20. Jahrhunderts behauptet, mit ihrer Tätigkeit konstitutiv für die Gesellschaft zu sein und Gemeinwohlorientierung auch bei der Kommunikation gewinnorientierter Organisationen zu verfolgen. Besonders Edward Bernays, der auch die Standesbezeichnung „Public Relations Counsel“ erfand (weil ihm dieser Ausdruck seriöser schien als der Begriff „Propagandaberatung“, auch wenn für ihn beide

127 Ruisinger, Dominik/Jorzik, Oliver: Public Relations, Stuttgart 2008, S. 9f. 128 Hinter jeder aufdringlichen Eigen-PR steht meistens ein konkretes Geschäftsmodell. Besonders absurd wird es, wenn sich gesellschaftsorientiertes Marketing auch noch damit brüstet, eine objektive Wahrheit finden zu wollen. 129 So die Überzeugung des amerikanischen PR-Praktikers James E. Grunig. 130 Kernfunktionen der PR laut ihrem modernen Namensgeber Edward Bernays.

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Termini dasselbe bedeuteten), hat in seinen Schriften, die wenig mehr als schamlose Eigen-PR sind, immer wieder geschickt auf die unbegrenzte Wirkmächtigkeit seiner Techniken hingewiesen. Und der Erfinder der modernen Public Relations war wahrhaftig ein Meister im Verknüpfen unzusammenhängender Sachverhalte (z. B. erklärte er Zigarettenrauchen zum Symbol der Frauenemanzipation). Er erfand Pseudoereignisse und verfasste Rezensionen nicht zum Zweck der Kritik, sondern als Mittel zur Verkaufsförderung. Aus seinen höchst fragwürdigen massenpsychologischen Grundlagen131 werden dann Lehrsätze und Anleitungen für eine integrierte Kommunikation erarbeitet, die das Wesen und die Funktionsweise von Marktkommunikation mechanistisch („The Mechanics of Propaganda“) erklären. Neben diesen pseudowissenschaftlichen Bedienungsanleitungen beherrschen die Großen der Zunft auch die Kunst des Wordings und des Reframings von Begriffen: „Reklame“ wird „Werbung“, „Propaganda“ wird „PR“, „Public Relations“ werden „Public Affairs“ und „Lobbying“ wird zur „Verteidigung der Redefreiheit und Demokratie“. Die Libertas philosophandi, die Leo Strauss einfordert, wird ersetzt durch die Freiheit, seinen eigenen Willen durchzusetzen. Verkauf und Überzeugung – nicht Erkenntnisgewinn – sind die Leitziele jeder Marktkommunikation. Die Schaffung von Aufmerksamkeit und die Erzeugung von Glaubwürdigkeit sind die Leitwährungen jedes kommunikativen Aktes. PR-Berater als Prätorianergarde vertrauen auf den Slogan und das Alleinstellungsmerkmal und tauschen Fragen gegen Antworten. Schlagzeilen, Slogans, Inszenierungen treten an die Stelle der Arbeit am Begriff. Argumentiert wird nicht mehr – wie bei Strauss – auf der Grundlage des Naturrechts, auf dessen Basis er das begriffliche Instrumentarium und die Wiedergeburt des klassischen philosophischen Vernunftbegriffs einläutete, sondern mit den Marktgesetzen, die in den Rang eines vermeintlichen, a priori bestehenden und nicht näher zu hinterfragenden Naturgesetzes erhoben werden. Ideologeme wie die „unsichtbare Hand des Marktes“, „schöpferische Zerstörung“, „der rationale Homo oeconomicus“ belegen dieses in den Rang einer urwüchsigen Naturkraft Erheben von kulturellen Leistungen. Die Durchsetzung von Partialinteressen als Dienst am Gemeinwohl zu verkaufen, zeugt von einem profunden Verständnis um die Gesetzmäßigkeiten der Kommunikation. Public Relations und Marketing sehen sich selbst als angewandte Sozialwissenschaften. Mit ihren Studien versuchen sie, alternative, das heißt zu Produkt und Ideologie passende Sachverhalte nachzuweisen. Aus dieser eingeschränkten

131 Bernays schlachtete sogar sein Verwandtschaftsverhältnis zu Sigmund Freud aus, um seine Bücher theoretisch aufzuwerten. Für sein Werk ist es typisch, PR-Maßnahmen mit der Autorität wissenschaftlicher Forschung zu versehen, um deren Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Seine kluge und schamlose Eigenwerbung brachte ihm auch den wenig schmeichelhaften Beinamen „Berufsneffe Sigmund Freuds“ ein.

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Forschungsperspektive ergibt sich die besondere Wichtigkeit einer kritischen Quellenkunde: Wer produziert die Quellen? Auf welchen Kanälen werden sie zu welchen Zielen distribuiert? Und auf welche Akteure können die interessengeleiteten Forschungsergebnisse zurückgeführt werden? Nach James Grunig und Todd Hunt lassen sich vier Modelle132 der Public Relations unterscheiden: Publicity, Informationstätigkeit, asymmetrische Kommunikation und symmetrische Kommunikation. Das Publicity-Modell propagiert das Neue. Diese Art der Einwegkommunikation verkündet das Neue, eben weil es neu ist, und transportiert die Neuigkeiten über Massenmedien oder Owned-Media-Kanäle in die Öffentlichkeit. Der Kulturwissenschaftler Boris Groys hat die Orientierung am Neuen als das ökonomische Gesetz der Moderne beschrieben. Groys zufolge wird das Neue dann zu einer Produktivkraft in der kulturellen und ökonomischen Produktion, wenn alte Werte in Archiven und Museen gespeichert werden und überleben. In Kulturen ohne Archive wird die Weitervermittlung der überlieferten Traditionen der Entstehung von Neuem vorgezogen. Erst wenn die Erhaltung des für das Überleben einer Kultur notwendigen Wissens in Archiven sichergestellt ist, entwickeln Kulturen ein vitales Interesse an der Kategorie des Neuen: Das Neue ist neu im Verhältnis zum Alten, zur Tradition. Das Neue erfordert, um verstanden zu werden, deswegen keinen Verweis auf etwas Verborgenes, Wesenhaftes, Wahres. Die Produktion des Neuen ist die Forderung, der sich jeder unterwerfen muß, um in der Kultur die Anerkennung zu finden, die er anstrebt.133

Das Neue ist aber mehr als nur etwas anderes als die überlieferte Tradition. Es kennzeichnet das Wertvolle einer bestimmten Zeitspanne und präferiert die Gegenwart gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft. Meistens tritt das Neue als Mode auf, als deren zwei wesentliche Eigenschaften Groys das antiutopische und das antitotalitäre Moment nennt. Für ihn hat der Modezwang der Moderne den Traditionszwang vormoderner Kulturen abgelöst. Publicity ist Einwegkommunikation und verwendet stark verkürzte Aussagen mit dem Ziel, eine positive Reaktion beim Rezipienten (einen Wahlakt, Produktkauf oder Ähnliches) auszulösen. Alles, was unter das Publicity-Modell fällt, wurde früher mit Propaganda bezeichnet. Das Modell der Informationstätigkeit dient der Verbreitung von Informationen. Mit umfassenden Dossiers, Kampagnen und Studien sollen Publika über bestimmte Sachverhalte informiert und aufgeklärt werden. Dieses Modell ist typisch für die Öffentlichkeitsarbeit von Behörden, Verbänden und Non-Profit-Organisationen. Bei dieser Art der Einwegkommunikation sind

132 Vergleiche Grunig, James E./Hunt, Todd: Managing Public Relations, New York 1984, S. 22. 133 Groys, Boris: Über das Neue, München/Wien 1992, S. 11.

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Verständlichkeit und die Orientierung an einer inhaltlichen Wahrheit wichtig. Mit asymmetrischer Kommunikation will PR auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse überzeugen. Wenn Informationstätigkeiten oder kurzfristige Kampagnen das Publikum nicht mehr erreichen, wird mittels Zweiwegkommunikation versucht, die jeweils relevante Teilöffentlichkeit zu gewinnen. Diese Art der Kommunikation geht von einem eindeutig bestimmbaren Absender aus, braucht aber zum Funktionieren die aktive Einbindung der Rezipienten und ihrer Reaktionen. Dieses Modell wird in der Praxis eingesetzt, wenn – über die Steigerung von Bekanntheit hinaus – mit einer Kampagne beispielsweise eine neue Produktlinie eingeführt und unterstützt werden soll oder langfristige Veränderungen im Konsumverhalten angestrebt werden.134 Bei dieser asymmetrischen Zweiwegkommunikation muss das Feedback der Publika berücksichtigt werden. Das Modell der symmetrischen Kommunikation setzt auf den Dialog und bezweckt ein wechselseitiges Verständnis. Öffentlichkeitsarbeit orientiert sich hier am Ziel der gegenseitigen Verständigung von Kommunikator und Rezipient. Runde Tische und Mediationsverfahren stellen Versuche dar, einen Konsens zwischen allen beteiligten Gruppen zu ermitteln. Symmetrische Kommunikation mit ihren wesensmäßig offenen Verläufen kann nur bei Kompromissbereitschaft aller Teilpublika gelingen. Ob diese Verläufe tatsächlich offen und nicht nur clevere Werkzeuge talentierter Marketingfachleute sind, die sich damit schmücken, die Vox populi zu hofieren, bleibt fraglich. Handlungsorientierte Dialogführung wird in der Praxis oft von Nichtregierungsorganisationen als Druckmittel eingesetzt, um Verhaltensänderungen von Organisationen135 zu erzwingen. Public Relations und Marketing sehen sich als Übersetzer und Schmiermittel zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Konsumenten. Ihnen obliegt die Koordination von Kaufentscheidungen in der pluralistischen Konsumgesellschaft, der Habermas schon vor über 30 Jahren eine „neue Unübersichtlichkeit“ zugesprochen hat. Als Navigationshilfen für Märkte und Demokratien geben sie vor, mit ihren Techniken verwirrende Heterogenität und Komplexität zu vereinfachen und mit ruhiger Hand einen gesellschaftspolitisch „progressiven“, dem Allgemeinwohl verpflichtenden Konsens herzustellen. Public Relations geben vor, Wahrnehmung, Einstellung und Verhalten gezielt steuern zu können. Die Theoretiker und Hohepriester der Zunft fordern dabei

134 Vergleiche dazu die Bedeutungsveränderung von Mineralwasser: Bis in die 1970er Jahre galt Mineralwasser in Österreich als Getränk für Sanatorien und Kranke. Erst allmählich wurde es als Alltagsgetränk eingeführt. Seit Beginn der 2000er Jahre wurde die Produktkategorie um die Produkte „stilles Wasser“ und „mit Kräuteressenzen angereichertes Wasser“ weiter diversifiziert. 135 Das Verbot von Walfang, die Einführung von Quoten, Etablierung umweltfreundlicher und verbindlicher Standards beim Fischfang etc.

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immer die Handlungsmaxime „agieren statt reagieren“. Die Ziele der Marktkommunikation unterscheiden die PR-Praktiker Dominik Ruisinger und Oliver Jorzik in kognitive Ziele, emotionale Ziele und aktivierende Ziele.136 Wahrnehmungen gezielt zu steuern, beinhaltet die Bereiche Aufmerksamkeit, Bekanntheit, Informationsgrad und Wiedererkennung. Unter dem Begriff „Einstellungsziele“ fassen Ruisinger und Jorzik Akzeptanz, Sympathie, Image und Reputation zusammen. Mit Verhaltens- und Handlungszielen meinen sie Kaufanreize, die Motivation zu Kontaktaufnahme, Service- und Informationsnutzung, Veranstaltungsbesuch, Response, Berichterstattung und Handlungsverweigerung (Protest, Boykott) sowie Verhaltenskorrektur. Damit niemand durch das Raster der gesellschaftlichen Grundfunktion Marktkommunikation fällt, erfinden PR- und Marketingstrategen immer neue Segmentierungen von Ziel-, Anspruchs- und Dialoggruppen. Aus diesem undurchdringlich erscheinenden Dickicht heterodoxer Bestimmungen haben Ruisinger und Jorzik folgende Kernzielgruppen137 als ideal für die Anforderungen des Tagesgeschäfts herausgefiltert: 1. Kapitalgeber, Eigentümer, Shareholder; 2. Unternehmens- und Betriebsebene (z. B. Mitarbeiter); 3. Kunden, Händler, Lieferanten (Kunden werden in potenzielle Kunden, Neukunden, Bestandskunden und ehemalige Kunden unterteilt); 4. Politik, Institutionen, Organisationen, allgemeine Öffentlichkeit, Behörden, Wirtschaft, Kultur, Umwelt: lokal, regional, national, international; Politik: Parteien, Ministerien, Gemeindevertretungen, Bürgermeister; Wirtschafts- und Branchenvertreter: Wirtschaftsverbände, Branchenverbände, Fachverbände, internationale Wirtschaftsorganisationen, Unternehmerinitiativen; Universitäten; Bibliotheken; Think-Tanks; sonstige zivilgesellschaftliche Organisationen: Verbraucher und Umweltverbände, Bürger- und Stadtteilinitiativen, Kirchen und Glaubensgemeinschaften, Minderheiten- und Volksgruppenvertreter (ethnische und sexuelle Minderheiten, Diversity- und Pressure-Groups); 5. Medien: Printmedien; Hörfunk und TV (öffentlich-rechtliche Sender, Privatsender); Internet: Onlinemedien, Suchmaschinen, Foren, Social Media, Social Communitys; Agenturen: Nachrichtenagenturen, Presse- und Bilderdienste, Fotoagenturen. Diese Einteilungen werden von den Sozialwissenschaften laufend weiterentwickelt und verfeinert. Der Schlüssel liegt in der strategischen Erzeugung von Glaubwür-

136 Vergleiche Ruisinger, Dominik/Jorzik, Oliver: Public Relations, Stuttgart 2008, S. 86f. 137 Vergleiche Ruisinger, Dominik/Jorzik, Oliver: Public Relations, Stuttgart 2008, S. 85, mit eigenen Ergänzungen und Streichungen.

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digkeit und Aufmerksamkeit und nur sekundär in der Vermittlung von Tatsachen, Fakten und Inhalten. Der deutsche Politologe Wolfgang Bergsdorf hat in Anlehnung an Niklas Luhmann fünf zentrale Regeln138 zur Erzeugung von Aufmerksamkeit139 bestimmt. Erstens reglementiert die überragende Priorität bestimmter Hochwertthemen (Gesundheit, Frieden, Krieg) deren Aufmerksamkeitsfaktor. Das zweite Bestimmungsmerkmal von Aufmerksamkeit sind Krisen(signale) und ihre Symptome. Wenn Sachverhalte von der Norm abweichen, genießen sie in der Aufmerksamkeitsökonomie stets Vorrang vor dem Regelmäßigen, Alltäglichen und Normalen. Die dritte Regel zur Generierung von Aufmerksamkeit ist die Neuheit von Ereignissen. Weil das Neue neu ist, gilt es in der Moderne automatisch als wichtig und berichtenswert. Mit dieser (vermeintlichen) Logik arbeitet auch das Publicity-Modell. Als vierte Regel zur Schaffung von Aufmerksamkeit nennt Bergsdorf Signale des publizistischen Erfolgs: Die Zitierhäufigkeit in Medien, Positionen in Rankings und die Frequenz der Namensnennung bedingen mit quantitativer Zunahme eine steigende Aufmerksamkeit. Fünftens bestimmt der Status des Akteurs oder der Quelle die Wichtigkeit. Je höher der Marktwert eines Kommunikators angesetzt wird, desto wahrscheinlicher ist seine Berücksichtigung in der Berichterstattung. Die Korrelation von Zitierhäufigkeit und Status mit Öffentlichkeit erklärt auch die Verengung auf wenige Themen und Akteure am Markt der Meinungen. Die systemimmanente rituelle Berücksichtigung von Newcomern und Pausenclowns kann von der Undurchdringlichkeit dieses geschlossenen Systems nur äußerlich ablenken. Nach diesen Aufmerksamkeitsregeln planen alle Akteure der gesellschaftlichen Kommunikation, egal ob es sich um private, gewinnorientierte Unternehmen, private, nichtgewinnorientierte Unternehmen, öffentliche Körperschaften oder Privatpersonen handelt. Ist die Aufmerksamkeit für ein Thema, einen Sachverhalt oder einen Inhalt gegeben, ist Glaubwürdigkeit die Leitwährung. Gemäß der Erkenntnis des griechischen Philosophen Epiktet verwirren Meinungen und nicht Tatsachen die Rezipienten. Epiktet forderte seine Schüler auf, die Dinge nicht mit deren Vorstellungen zu verwechseln oder gleichzusetzen: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen. So ist z. B. der Tod nichts Furchtbares – sonst hätte er auch dem Sokrates furchtbar erscheinen müssen –, sondern die Vorstellung, er sei etwas Furchtbares, das

138 Bergsdorf, Wolfgang: Politische Kommunikation, Remagen 1990, S. 33f. 139 Ähnliche Kategorien untersucht auch die Nachrichtenwerttheorie, die unter Nachrichtenwert die Einflussfaktoren für Berichterstattung/Nichtberichterstattung fasst. Vergleiche Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, Freiburg/München 1976; oder aus Praktikersicht Lippmann, Walter: Public Opinion, New York 1922, der auch den publizistischen Begriff News mit dem betriebswirtschaftlichen Begriff Wert zum Konzept des News Value (Nachrichtenwert) koppelte.

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ist das Furchtbare.“140 In den Augen der Akteure der Marktkommunikation sind auch Meinungen Tatsachen. Wer Meinungen formt und kontrolliert, bestimmt beim Kampf um die Glaubwürdigkeit das Denken und Handeln der Menschen. Informieren und Überreden funktioniert nur, wenn Glaubwürdigkeit gegeben ist. Indikatoren für die (scheinbare) Glaubwürdigkeit können Autor, Herausgeber, Quelle, Wiederholbarkeit des Gesagten, Aktualität und Logik der Argumentation sein. Den Begriff der Glaubwürdigkeit141 erklären PR-Theoretiker wie Michael Kunczik mit dem kognitiven Bezugsrahmen der avisierten Zielgruppen und nicht mit dem Wahrheitsgehalt der Inhalte. Und in der modernen Instrumentalisierung, Ausdehnung und Neuinterpretation des Wahrheitsbegriffs besteht der Wesensunterschied zwischen dem Wahrheitsbegriff von Leo Strauss und dem der modernen Marktkommunikation. Wahrheit in der Marktkommunikation zeigt nur die besten Seiten der Medaille, baut aber auch strategische Schwächen in den Imagefächer von Unternehmen und Personen ein, um „menschlicher“ zu wirken. Marktkommunikation verschweigt Unerfreuliches, sofern Schwächen sich nicht positiv auf den Imagefächer auswirken, selektiert Inhalte nach Nutzen und Nichtnutzen und bemüht sich um „Truth Well Told“142 beziehungsweise „corriger la fortune“. Die Instrumentalisierung und Relativierung von Wahrheit bezweckt etwas anderes als die „noble Lüge“. Laut Strauss kann im Ringen um Wahrheit das strategische Verschweigen bestimmter Sachverhalte zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Staat geboten sein. Diese „noblen Lügen“ betreffen aber erste Fragen und keine materialistischen Kategorien. Die „noble Lüge“ ist bei Strauss kein instrumentelles Werkzeug, sondern ein Hilfsmittel bei der Suche nach der Wahrheit. Die Lüge ist hier eine Kompetenz, deren Einsatz nur den esoterisch Eingeweihten – und nicht der Allgemeinheit oder für kommerzielle Zwecke – gestattet ist. Die moderne Marktkommunikation arbeitet mit einem anderen, einem relativen Wahrheitsbegriff: Ausgehend von einer unhinterfragten und vorausgesetzten Ordnung (Staat, liberale Wirtschaft) wird Wahrheit je nach den strategischen Vorgaben des Auftraggebers geformt und interpretiert. Das Verbiegen, Verschweigen, Dehnen, Uminterpretieren von Wahrheit ist erlaubt, wenn die kommunizierte Teilwahrheit dem Nachweis eines bereits zu Beginn des Forschungsprozesses festgelegten Ergebnisses dient. Überredung, selektives Fragen und die interessengeleitete Verbreitung von Information sind Merkmale der Marktkommunikation. Zu diesem instrumentellen Wahrheitsbegriff gehört auch die Vermeidung von als Lügen erkennbaren Aussagen in der Argumentation. In der Kriegspropaganda des Zweiten

140 Epiktet: Handbüchlein der Moral und Unterredungen, Stuttgart 1994, S. 24. 141 Vergleiche Kunczik, Michael: Public Relations, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 84ff. 142 So lautet seit 1912 der Claim der Werbeagentur McCANN.

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Weltkriegs wurden falsche Aussagen vermieden, wie Daniel Lerner nachgewiesen hat, diese verwendete allerdings auch keine wahren Informationen, wenn sie die Empfänger als unglaubwürdig bewertet hätten.143 Die Glaubwürdigkeit einer Aussage hängt also in erster Linie vom kognitiven Kontext der Rezipienten und nicht von ihrem Wahrheitsgehalt ab. Diese Sichtweise aus dem Erfahrungswissen der Praktiker bedingt einen speziellen Zugang zur Wahrheit. Durch vorsätzlich selektive Argumentation wird die Zielsetzung des Auftraggebers so lange argumentativ optimiert, bis das gewünschte Ergebnis eintritt. Argumentiert wird also intendiert und intentional, und die Übereinstimmung von Aussage und innerer Meinung wird als entbehrlich erachtet. Damit ist die lehrbuchgemäße Definition der Lüge erfüllt, worunter das „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“ „die bewusst unwahre, eine Täuschung beabsichtigende Aussage, im weiteren Sinn die absichtliche Entstellung der Wahrheit, die Verdrehung der Tatsachen, die gewollte Zweideutigkeit und Unbestimmtheit, die Verstellung und Heuchelei“144 versteht. Das in der Alltagssprache vorherrschende Verständnis der Lüge stammt aus dem Werk von Kirchenvater Augustinus, der die Absicht, etwas Falsches zu sagen, als Wesenskern der Lüge betrachtete. Die Täuschungsabsicht selbst war für ihn nur zweitrangig. Der Lügner lügt nicht, um zu täuschen, sondern aus anderen Gründen.145 Dazu zählte Thomas von Aquin Schweigen und mehrdeutige Aussagen. Somit ebnete der Theologe und Philosoph den Weg zum strategischen Gebrauch der Lüge in Kriegen und zur Absicherung politischer Macht mit der relativierenden Begründung, die Wahrheitspflicht bestehe nicht in jeder Situation. Die Erscheinungsweisen und Nuancierungen von Lügen sind mannigfaltig. Zu unterscheiden sind Notlügen, Falschmeldungen, List, Verschweigen, Verstellung, Illusionen, Täuschungen. Daneben gibt es erlaubte Lügen: zur Wahrung eines Geheimnisses oder gegenüber Kranken, Falschaussaugen wie Scherzlügen oder – aufgrund ihres polyvalenten Bedeutungsinhalts –gesellschaftliche Usancen wie Diplomatie, Alltagsfloskeln146 und so weiter.147 In ihre Vielgestaltigkeit scheint die Lüge somit tatsächlich ursächlicher als die Wahrheit zu sein, wie Friedrich Nietzsche mutmaßte, der Wahrheit lang vor Heinz von Förster relativierte: Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch

143 Vergleiche Lerner, Daniel: Sykewar, New York 1949, S. 195. 144 Regenbogen, Armin/Meyer, Uwe: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 390. 145 Vergleiche Thomas von Aquino: Summe der Theologie, Band 2, Stuttgart 2011, Untersuchung 109 (S. 513ff.) und 113 (522ff.). 146 Lügt jemand, wenn er auf die Frage „Wie geht es?“ mit „gut“ antwortet? 147 Vergleiche dazu Regenbogen, Armin/Meyer, Uwe: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 390f.

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gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt sind und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.148

Diese weitreichenden Begriffs(be)deutungen nützt die PR mit Third-Party-Technik, dem Prinzip des opportunen Zeugen, gelenkten Studien, selektiv interpretierten Statistiken und bewusster Auslassung, um eine „optimierte Realität“ entsprechend den Auftraggeberwünschen faktenreich zu entwerfen, was zu ihrem – analog zum Journalismus – negativen Image als Pariakaste und gewerbsmäßige Lügner geführt hat. Dem Selbstbild der Branche als moralischer Aufklärer und emanzipatorischer Erneuerer der Gesellschaft hat dies freilich keinen Abbruch getan, da sie um den Wankelmut des Publikums und die Offenheit der Rezeptionsgeschichte weiß. Die Faktenlage ändert sich mit der Zeit, und mit der genauen Kenntnis der Conditio humana wird ein flexibler Wahrheitseinsatz gerechtfertigt: „You think we lie to you. But we don’t lie, really we don’t. However, when you discover that, you make an even greater error. You think we tell you the truth.“149 Das Denken und Argumentieren in Alternativen mit abgesicherten, weil selbst entworfenen und kontrollierten Quellen kennzeichnet den branchenüblichen Zugang zur Wahrheit. Die in letzter Zeit so beliebten, weil rechtlich zu nichts verpflichtenden Ehrenkodizes diverser Branchenverbände verzichten daher folgerichtig auf das Einfordern von Wahrheit. Mit diesen freiwilligen Handlungsempfehlungen flüchten ihre Verfasser in diffuse und möglichst offen gehaltene Selbstverpflichtungen, über die „Ehrenräte“ wachen, die keinerlei legistische Entscheidungsbefugnisse haben. Der „PR-Online-Kodex“150 empfiehlt, ethisch korrekt, transparent und objektiv zu kommunizieren, und nennt als acht Leitprinzipien Fairness, Respekt, Verantwortung, Moderation, Klarheit, Transparenz, Höflichkeit und Privatsphäre und kann in seiner Vagheit nicht mehr beanspruchen als mit möglichst unklaren Worten nichts konkret zu wollen. Auch der Public Relations Verband Austria (PRVA) bleibt in seinen Richtlinien für den Berufsstand peinlich darum bemüht, sich auf nichts festnageln zu lassen. Artikel 12 des Ehrenkodex lautet wie folgt: „Es widerspricht seriöser Öffentlichkeitsarbeit, Instrumente der PR dazu einzusetzen, um andere Personen, Unternehmen oder Institutionen herabzuwürdigen, zu diffamieren oder

148 Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, Band 1, S. 880f. 149 Sigal, Leon V.: Reporters and Officials, Lexington (Massachusetts) 1973, S. 131. 150 Vergleiche dazu http://www.prethikrat.at/pr-online-kodex/, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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bewusst Falschmeldungen über sie zu verbreiten.“151 Welchen Umgang mit der Wahrheit das voraussetzt und welche Instrumente der Marktkommunikation das betrifft, bleibt ungeklärt. Auch der Österreichische Presserat ringt sich in seinem Ehrenkodex für die österreichische Presse152 nicht dazu durch, konkrete Gebote und Verbote auszusprechen. In seiner Präambel bekennt er sich zwar dazu, sich der Wahrheitsfindung und Korrektheit zu verpflichten, doch erschöpft sich hier der Wahrheitsbegriff in Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit und Korrektheit in Recherche und Wiedergabe von Nachrichten. Diese freiwilligen Selbstverpflichtungen mit ihren Allgemeinplätzen laden nachgerade dazu ein, eine Arbeitsethik mit flexibler Moral – an deren Beginn die moderne Setzung der Politischen Wissenschaft von Hobbes steht, wie Strauss nachgewiesen hat – und einen relativen Wahrheitsbegriff flächendeckend zu etablieren.

2.4

Strategien zur Primärquellenerzeugung

In den Sozialwissenschaften fällt die Auseinandersetzung mit Quellen stiefmütterlich aus. So finden sich in den Einführungen von Roland Burkart, Werner Patzelt, Heinz Pürer oder Günther Bentele153 weder in den Stichwortverzeichnissen noch in den Lexikonteilen oder als eigenständig abzuhandelndes Kapitel eine Diskussion und Klärung des Quellenbegriffs. In den Einführungswerken von Michael Kunczik und Elisabeth Noelle-Neumann fehlen ebenfalls Hinweise und Einträge.154 Kunczik nennt die strategische Abwertung von Quellen des politischen Mitbewerbers als Strategie von Parteien in Wahlkämpfen. Noelle-Neumann erwähnt Quellenkritik im Zusammenhang mit Umfrageergebnissen. Sie fordert in ihrem Einführungswerk eine Quellenkritik von Umfragen ein, die Angabe der Quelle, Wortlaut der Fragen, Umfragedatum, Sample und Repräsentativität umfassen sollte. Entsprechende Grundsätze für die Darstellung von Umfrageergebnissen in den Medien hat der Branchenverband European Society for Opinion and Marketing Research

151 Vergleiche dazu https://prva.at/itrfile/_1_/d4d06c40110d731e9b73df17cddf9c00/20170323_Ehrenkodex%20des%20PRVA.pdf, letzter Zugriff: 11.07.2022. 152 Vergleiche dazu http://www.presserat.at/show_content.php?hid=2, letzter Zugriff: 11.07.2022. 153 Vergleiche Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft, Grundlagen und Problemfelder, Wien/ Köln/Weimar 1996; Pürer, Heinz: Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch. Konstanz 2013; Patzelt, Werner: Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriß des Faches und studienbegleitende Orientierung, Passau 2001; Bentele, Günter/Fröhlich, Romy/Szyszka, Peter (Hg.) Handbuch der Public Relations. Wissenschaftliche Grundlagen und berufliches Handeln. Mit Lexikon, Wiesbaden 2008. 154 Vergleiche dazu Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid: Publizistik, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 309; Noelle-Neumann, Elisabeth/Schulz, Winfried/Wilke, Jürgen: Fischer Lexikon. Publizistik Massenkommunikation, Frankfurt a.M. 1997, S. 307.

Strategien zur Primärquellenerzeugung

beschlossen.155 Erstaunlich ist die Ausblendung beziehungsweise nachlässige Diskussion der Quellenkunde bei Noelle-Neumann, da sie für Umfragen die gleiche Quellenkritik einfordert, wie sie bei Nachrichten allgemein üblich ist. Nur erläutert sie ebenso wie die anderen Autoren von Einführungen ins Fach nicht, wie eine solche Quellenkunde aufgebaut sein sollte. Diese Nichtthematisierung in den meistverwendeten Einführungswerken und Handbüchern jener sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Inhalten und Nachrichtenerzeugung beschäftigen, ist ein erster Hinweis auf den saloppen Umgang mit Quellen im Bereich von Publizistik und Marktkommunikation. Weniger ignorant zeigt sich hier die Kulturwissenschaft. Die Beschäftigung mit Archiven ist ein zentrales Thema, etwa in der Einführung von Aleida Assman.156 In der vorliegenden Arbeit wird dieser Mangel durch den Rückgriff auf die methodische Quellenarbeit in der Geschichtswissenschaft und im praktischen Journalismus behoben, um zu einer wirklichkeitsgetreuen Einschätzung über den Stellenwert von Quellen und den strategischen Umgang mit ihnen zu kommen, da ihre nachlässige und unsystematische Erfassung in der Sozialwissenschaft einem intentionalen Einsatz in der Marktkommunikation gegenübersteht – mit gravierenden Folgen für beide Teile. In der Geschichtswissenschaft werden Quellen als obligatorischer Bestandteil jeder Forschung betrachtet und sie bilden den Ausgangspunkt jeder empirischen Arbeit. Durch die systematische Arbeit mit Quellen soll der Zugang zu den jeweiligen Ereignissen und Sachverhalten trennscharf und konkret erschlossen werden. Neben Hinweisen zur Quellensuche gibt die Geschichtswissenschaft genaue Anleitungen zur Quellenkritik und Quellenauswertung. Historiker haben Methoden entwickelt, wie die Echtheit einer Quelle zweifelsfrei bestimmt werden kann. Bei dieser strukturierten Quellenarbeit greift die Geschichtswissenschaft ihrerseits auf philologische Methoden zurück, um über den Inhalt einer Quelle Klarheit zu erlangen. Der Historiker Paul Kirn hat den Begriff Quelle sehr allgemein definiert: „Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann.“157 Die Quelle wird als Teil der wissenschaftlichen Forschungsarbeit betrachtet, sollte aber die theoretische Arbeit nicht ersetzen, sondern ergänzen. Peter Borowsky warnt daher in seiner „Einführung in die Geschichtswissenschaft“ vor der Gefahr eines Quellenfetischismus, die immer dann gegeben ist, wenn Quellenfunde die Theoriearbeit ersetzen.158 Quellen bedürfen außerdem einer kritischen Betrachtung und systematischen Bearbeitung, um erlaubte Rückschlüsse ziehen zu können. Denn auch sie werden oft mit einer 155 156 157 158

Vergleiche dazu die Webseite des Branchenverbandes ESOMAR https://www.esomar.org. Siehe Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft, Berlin 2011. Kirn, Paul: Einführung in die Geschichtswissenschaft, Berlin 1969, S. 29. Vergleiche Borowsky, Peter/Vogel, Barbara/Wunder, Heide: Einführung in die Geschichtswissenschaft I, Opladen 1989, S. 123.

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bestimmten Ausrichtung und Zielsetzung erzeugt, verwendet und als wesentlicher Bestandteil einer ganzheitlichen Kommunikationsstrategie betrachtet. Am Beginn jeder wissenschaftlichen Untersuchung eines Textes sollten die benutzten Quellen (Quellenverzeichnis, Fußnoten, Literaturapparat) gesichtet und gesichert werden, um einen ersten Überblick über die Quellenbasis zu bekommen. Diese systematische Materialsuche erlaubt Rückschlüsse, auf welche Studien, Experten, Netzwerke, Institutionen oder sonstige Akteure der jeweilige Kommunikator zurückgreift. Ein geübter Leser kann durch eine Sichtung von Fußnotenapparat und Literaturverzeichnis zu einer ersten Einschätzung über Validität, Tendenz und Ausrichtung der behandelten Inhalte gelangen. Auch die Geschichtswissenschaft warnt davor, bei der Sichtung der Quellenbasis von einer „fiktiven Unvoreingenommenheit“ des Materials auszugehen.159 Stattdessen sollten die in den Quellen zutage tretenden Standpunkte, Meinungen, Urteile und Einschätzungen als Indizien für die eigene wissenschaftliche Arbeit weiterverwendet werden. Gemäß der Erkenntnis, wonach die Sieger die Geschichte schreiben, geht die Geschichtswissenschaft von der Interessengebundenheit von Quellen aus. Und unterschiedliche Quellen können auch unterschiedlich glaubwürdig sein: Handelt es sich bei der Quelle um eine geschönte Eigendarstellung oder um die Ansicht eines unbeteiligten Dritten? Bei der ersten Sichtung des Quellenmaterials empfiehlt sich daher auch eine Einteilung der Quellen nach Glaubwürdigkeitsstufen. Wie viel wusste der Verfasser der Quelle von den Ereignissen, und wie viel davon gibt er davon preis? Der Wert einer Quelle ergibt sich aus ihrer Verwertbarkeit für die forschungsleitende Fragestellung. Im Unterschied zu den Sozialwissenschaften hat die Geschichtswissenschaft Vorgaben für eine streng formalisierte Arbeitsweise bei der Auswertung von Quellen erarbeitet, die sich in Befund und Deutung unterteilt. Die Quellenkritik (oder Quellenbeschreibung) als erster und die Quelleninterpretation (oder Quellenauswertung) als zweiter Arbeitsschritt bilden die zwei Teile der systematischen Quelleninterpretation.160 Für die vorliegende Arbeit wurde auf diese Arbeitstechnik zurückgegriffen, da sie sich gut für die Beschreibung der Quellenverwendung in der Marktkommunikation eignet. Die Quellenkritik umfasst die Arbeitsschritte der Quellenbeschreibung und Textsicherung. Zur Quellenbeschreibung gehört die Bestimmung der Quellengruppe. Es kann sich um Akten, Bildmaterial, Tonbandaufzeichnungen, Testimonials oder Ähnliches handeln. Bei der Quellenbeschreibung muss auch der Fundort angegeben werden (beispielsweise Unternehmensarchiv, Webseite oder White Paper). Nachdem die Quelle bestimmt wurde, folgt als nächster Arbeitsschritt die Textsicherung. Einen Text zu sichern, heißt, die Quelle lesen

159 Vergleiche Borowsky, Peter: Einführung in die Geschichtswissenschaft I, Opladen 1989, S. 161. 160 Vergleiche Borowsky, Peter: Einführung in die Geschichtswissenschaft I, Opladen 1989, S. 162ff.

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zu können und den Text von fremden Einschüben zu befreien. In der Marktkommunikation ist dieser Arbeitsschritt von nachrangiger Bedeutung. Die Textsicherung beinhaltet die äußere sowie die innere Kritik der Quelle. Die äußere Kritik umfasst die genaue Nennung und Beschreibung von Entstehungszeit, Entstehungsort, Verfasser und Adressat der Quellen. Die innere Kritik einer Quelle beinhaltet einerseits die sprachliche und andererseits die sachliche Aufschlüsselung. Sprachliche Aufschlüsselung der Quelle meint die philologische Auswertung derselben, hier geht es also um die Klärung von unbekannten oder polysemen Wörtern, Begriffen, Wortinhalten et cetera. Dabei ist achtsam und mit philologischem Fingerspitzengefühl vorzugehen. Die Bedeutungen von Wörtern sind im Fluss, es finden oft Bedeutungsverschiebungen statt, und jede Epoche, jeder Kulturkreis verfügt über einen bestimmten ideengeschichtlichen Konsens. Auch bestimmte Vorurteile und Modephänomene können Hinweise auf vorherrschende Ideologien geben. Mit dem Begriff der sachlichen Aufschlüsselung werden die auf den Inhalt der Quelle bezogenen Sachverhalte und Themen bezeichnet. Damit kann beispielsweise die Klärung eines unbekannten Themas, auf die ein Text anspielt, gemeint sein. Soziale, kulturelle, rechtliche und wirtschaftliche Erklärungen zu einer spezifischen Quelle sowie (oft erklärungsbedürftige) Anspielungen auf Personen und Ereignisse fallen darunter. Nach der umfassenden Quellenbeschreibung geht es im zweiten Arbeitsschritt um die Quelleninterpretation und -auswertung, die wiederum in die drei Kategorien „Inhaltsangabe“, „Eingrenzung des Aussagebereiches“ und „Bestimmung des Erkenntniswerts“ unterteilt ist. Die Inhaltsangabe ist der letzte Teil der textimmanenten Bestandsaufnahme der Quelle. Die Inhaltsangabe bildet den Ausgangspunkt für die inhaltliche Auswertung. Inhalt meint hier die explizit getätigten Aussagen. Die Eingrenzung des Aussagenbereichs bezeichnet die Kontextualisierung und Kontrolle; hier geht es also um die Einordnung und Auswertung der Quelle über den konkreten inhaltlichen und sprachlichen Bedeutungshorizont hinaus. Unter diese Kategorie fallen etwa die kulturgeschichtliche Einordnung und die Beschreibung des Entstehungsprozesses. Diese Einordnung in ein biografisches, wirtschaftliches, ideengeschichtliches Umfeld erfolgt in der Regel mithilfe von ergänzender Fachliteratur. Im letzten Arbeitsschritt der Quelleninterpretation wird der Erkenntniswert jeder Quelle für die eigene Fragestellung bestimmt. Borowsky betont die Wichtigkeit dieses Arbeitsschrittes,161 da Quellenerschließung beim wissenschaftlichen Arbeiten immer zur Beantwortung von Fragen dient und kein Selbstzweck ist. Das eigene Erkenntnisinteresse während des Quellenstudiums nie aus den Augen zu verlieren, gilt Borowsky als Voraussetzung für effiziente Forschung. Das Quellenstudium bildet also das Fundament. Ergänzend zu den

161 Vergleiche Borowsky, Peter: Einführung in die Geschichtswissenschaft I, Opladen 1989, S. 173.

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methodologischen Überlegungen von Borowsky hat der Historiker Klaus Arnold noch einige grundsätzliche Überlegungen und Fragen für den Umgang mit Quellen vorgelegt. Ein wesentliches Indiz für die Wichtigkeit einer Quelle ergibt sich aus ihrer Nähe oder Ferne zum behandelten Ereignis oder Inhalt. Die Einteilung in Primär- und Sekundärquellen kennzeichnet diesen Unterschied. Primärquellen umfassen beispielsweise Augenzeugenberichte und können unter Umständen eine größere Genauigkeit und bessere Annäherung an die Wahrheit bieten als später erstellte Berichte oder Untersuchungsprotokolle. Es macht bei der Auswertung eines Imageprofils auch einen Unterschied, ob dabei Tagebucheinträge, O-Töne und Reden oder tendenziöse Sekundärquellen (beispielsweise eine von einem Ghostwriter geschönte Autobiografie) ausgewertet werden. Sekundärquellen können allerdings durch zeitlichen und inhaltlichen Abstand zur Versachlichung beitragen und objektiver sein als der subjektive (möglicherweise von eigenen Interessen beeinflusste) Blickwinkel eines Augenzeugen. Die Bewertung einer Quelle muss also von Fall zu Fall vorgenommen werden. Sekundärquellen als „sinngemäße Wiedergabe des Inhalts einer Quelle in einer anderen Quelle“162 erfüllen die Funktion, den Inhalt einer nicht mehr zugänglichen Primärquelle (verloren, unauffindbar) zugänglich zu machen. Beide Quellentypen können außerdem danach unterschieden werden, ob sie unbewusst/unabsichtlich oder absichtlich einen Sachverhalt belegen. Diese Unterscheidung ist von größter Wichtigkeit für die Auswertung von marktkommunikativem und kommerziellem Quellenmaterial, da in diesem Kontext intentional erzeugte Quellen (Testimonials, Pseudoereignisse oder Third Party) gerne als unabhängige Quellen inszeniert werden. Als weitere wertvolle Ergänzungen bei der Quelleninterpretation empfiehlt Arnold die Frage nach der Echtheit, wobei er der Quellenkritik eine Wesensverwandtheit mit der Kriminalistik unterstellt: „Die Tendenz eines Autors (oder Zeugen)“ wird „nicht offen, sondern nur durch subtile Befragung oder durch ein ‚Kreuzverhör‘ der Aussagen erkennbar“.163 Die Authentizität164 und die Tendenz (neutral, positiv, negativ) einer Quelle sollten niemals als gegeben angenommen werden. Bei der Klärung, ob es sich um eine Fälschung oder eine authentische, also echte Quelle handelt, empfiehlt Arnold folgende Leitfragen: „Ist der genannte Autor eines Textes wirklich der Verfasser? Entstammt die Quelle der Zeit, wie sie dies vorgibt? Ist sie möglicherweise ganz gefälscht oder zumindest verfälscht?“165 Fälschungen, Ghostwriting, wissentlich falsche Zeit- und

162 Jordan, Stefan: Einführung in das Geschichtsstudium, Stuttgart 2005, S. 57. 163 Arnold, Klaus: Die Quellen als Fundament und Mittel historischer Erkenntnis, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 57. 164 Der Nachweis der Authentizität von Schriftstücken war der Hauptzweck der Urkundenüberprüfung im Mittelalter. Dieses Verfahren wurde „discrimen veri ac falsi“ genannt. 165 Arnold, Klaus: Die Quellen als Fundament und Mittel historischer Erkenntnis, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 61.

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Ortsangaben sowie die Erfindung von Quellen erfüllen in der Marktkommunikation natürlich andere Funktionen als im Mittelalter, nichtsdestoweniger bleibt die Überprüfung der Quellenechtheit von vordringlicher Wichtigkeit. Arnold ergänzt seine Arbeitsempfehlungen um zwei weitere wertvolle Hinweise: Der Quellenauswerter sollte den Quellenapparat immer auch „wider den Strich“ lesen, weil Quellen neben dem manifesten Inhalt immer auch Rückschlüsse auf das nicht Gesagte, Verschwiegene und absichtlich Ausgeblendete geben. Auch das plötzliche Versiegen von Quellen, ein Phänomen, welches mit der Flüchtigkeit der digitalen Medien zugenommen hat, muss kritisch beleuchtet werden. Wer Quellen auswerten will, um sich der Wahrheit zu nähern, muss sich deshalb damit bescheiden, eine prinzipiell unabschließbare Arbeit zu machen, die wesensmäßig immer „Spielraum für neue Zugänge und neue Erkenntnisse“166 lässt. Diese Überlegungen zur Methodik sind noch um den praktischen Umgang mit Quellen im Journalismus zu ergänzen. Recherche und Quellenüberprüfung gehören zum Rüstzeug des Lohnschreibers. Michael Haller nennt als wichtigste Fehlerquellen im Journalismus einen „saloppen Umgang mit Informanten-Äußerungen“ sowie „unkritische Verwertung von PR-Pressetexten“.167 Als Ausweg aus diesem zeitbedingten Dilemma empfiehlt Haller, als siebte W-Frage168 die Frage „Welche Quelle?“ – zur Überprüfung der Richtigkeit von bisher ungeprüften Sachverhalten – in den täglichen Arbeitsablauf einzubauen. Haller rät, hier aufbauend auf der Leitfrage „Wer ist der Überbringer der Information?“ zu recherchieren. Es ist auch wichtig zu prüfen, ob der Informant interessengebunden oder interessenungebunden spricht. Wenn ein Informant in den Sachverhalt persönlich, beruflich oder emotional eingebunden ist, bestimmt dies auch den Zuverlässigkeitsgrad seiner Aussagen. Zur journalistischen Quellenüberprüfung gehörten folgende Kontrollfragen:169 − Ist der Informant zugleich Primärquelle (Beispiele: Augenzeuge, Testimonial, Experte, Tagungsteilnehmer)? Wenn nein: Wer ist die Primärquelle, und wie verlief der Informationsweg zum Informanten? − In welcher Beziehung steht der Informant zum Urheber des Geschehens (Beispiele: Unternehmenssprecher, Mitbewerber, Opfer)? − Ist die Primärquelle zugleich der Urheber oder Akteur im Geschehen? Wenn ja: Welche Interessen verfolgt der Urheber/Akteur (Beispiele: Marktzugang für

166 Arnold, Klaus: Die Quellen als Fundament und Mittel historischer Erkenntnis, Reinbek bei Hamburg 2007. S. 64. 167 Vergleiche Haller, Michael: Recherchieren, Konstanz 2008, S. 87. 168 Die sechs W-Fragen der journalistischen Berichterstattung lauten: Wer? Was? Wie? Wann? Wo? Warum? 169 Vergleiche Haller, Michael: Recherchieren, Konstanz 2008, S. 88ff.

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ein Produkt, Erfolgsmeldung zur Steigerung des Aktienkurses, Zustimmung zu bestimmten politischen Aussagen, Verhaltens- und Einstellungsänderung)? − Wenn der Informant nicht die Primärquelle ist: Wird sie im vorliegenden Material genannt? Wenn nein: Kann sie der Informant beibringen? Wenn ja: Kann der Informant deren Zuverlässigkeit einschätzen? Zur journalistischen Sorgfaltspflicht gehört das Einhalten der Regel, nicht verifizierte Informationen entweder einer konkreten Quelle zuzuordnen oder zu streichen. Nicht überprüfte Informationen dürfen nicht abgedruckt werden. Das redaktionelle Verifikationsverfahren sieht vor, für jede Tatsachenbehauptung und jedes Zitat eine eindeutige und für den Leser überprüfbare Quelle anzugeben. Des Weiteren nennt Haller die nicht näher konkretisierte Glaubwürdigkeit und die Belegbarkeit der Quelle durch den Verfasser als Bestandteile der journalistischen Faktenkontrolle. Die Überprüfung aller Fakten sollte routinemäßig mit dem altbekannten Dreiklang aus Check, Re-Check und Double-Check erfolgen. Bei seiner Arbeit wird der Journalist vom Gesetzgeber geschützt, der durch das Redaktionsgeheimnis170 den Umgang mit vertraulichen Informationen regelt. Außer dieser gesetzlich geschützten Ausnahme gehört es auch zum Berufsethos des Journalisten, Quellen offenzulegen. Quellentransparenz ist die zentrale Voraussetzung der angestrebten Objektivität. Offenlegung, Nutzung der Originalquellen, Quellenvergleich und Glaubwürdigkeit nennen Dietz Schwiesau und Josef Ohler als wichtigste Kriterien, um Quellen als journalistisch tauglich einzustufen.171 Selbst diese basalen Recherchetechniken und Quellenprüfungsrichtlinien werden im Zeitalter knapper Budgets und sinkender Einnahmen kaum eingehalten. Darüber hinaus sind die PR- und Marketingakteure seit Langem dazu übergegangen, autonome und selbstreferenzielle Quellenapparate zu generieren. Ein kurzer Überblick über diese Techniken zeigt im Folgenden, wie es der Marktkommunikation gelingt, den gesamten Kommunikationszyklus von der Quelle bis zum fertigen Produkt in einer Hand zu bewerkstelligen. Think-Tanks: Think-Tanks sind ein fixer Bestandteil einer autonomen Quellenstruktur. Denkfabriken werden meist von interessengeleiteten Auftraggebern als

170 Das Redaktionsgeheimnis wird in § 31 Mediengesetz geregelt. Es beinhaltet das Recht des Medieninhabers, Herausgebers und von Medienmitarbeitern, Zeugenaussagen betreffend „die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmannes von Beiträgen und Unterlagen oder die ihnen im Hinblick auf ihre Tätigkeit gemachten Mitteilungen“ zu verweigern. Eine Umgehung dieses Rechts durch Zwangsmaßnahmen ist unzulässig. Vergleiche dazu https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000719&ShowPrintPreview=True, letzter Zugriff: 11.07.2022. 171 Vergleiche dazu Schwiesau, Dietz/Ohler, Josef: Die Nachricht in Presse, Radio, Fernsehen, Nachrichtenagentur und Internet, München 2003, S. 32ff.

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Stiftung, Verein, GmbH oder informelle Gruppe gegründet und geben vor, gemeinnützige Zwecke zu verfolgen. Generell werden akademische, der Grundlagenforschung verpflichtete Institute und advokatorische Denkfabriken unterschieden. Durchforstet man die Eigenbeschreibungen der österreichischen Institute172 fällt auf, dass die überwältigende Mehrheit wirtschaftsliberale, auf jeden Fall interessengebundene Agenden verfolgt. Die Existenzberechtigung dieser advokatorischen Denkfabriken besteht in der aggressiven Propagierung und Neuverpackung jener Ideen und Weltbilder, zu denen sich die jeweilige Denkfabrik in ihren Statuten verpflichtet. Diese Think-Tanks beantworten in ihren „Forschungsberichten“ also nur jene Fragen, die im Sinne der Statuten erlaubt sind. Anstatt fragender Forschung wird interessengeleitete Marktkommunikation betrieben. Damit ähneln die Sprechpositionen dieser Institute jenen von Branchenverbänden. Umso erstaunlicher ist es, dass selbst in heimischen Qualitätsblättern wie der Tageszeitung „Die Presse“ oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk „Studien“ von Agenda Austria neutral als „Studie des Think Tanks Agenda Austria“173 genannt und diskutiert werden, ohne auf die marktradikale, ideologische Verzerrung dieses Instituts einzugehen oder seine nicht offengelegte Finanzierung zu thematisieren. Think-Tanks erfüllen in der massendemokratischen Konsumgesellschaft also die Avantgardefunktion einer allmählichen Heranführung extremer Positionen in den Meinungsmainstream und werden im redaktionellen Alltag gerne und unkritisch als Quellen herangezogen. Strategischer Einsatz von Studien: Anhand des Forschungsdesigns werden Ergebnisse in eine gewünschte Richtung gelenkt. Je nachdem, ob der Auftraggeber eine Einzelfallstudie, eine Querschnittstudie, eine Kohortenstudie, eine Fall-KontrollStudie, eine kontrollierte klinische Studie, eine randomisierte klinische Studie oder eine Beobachtungsstudie bestellt, können Ergebnisse in die gewünschte Richtung gelenkt werden. Besonders beliebt ist diese Instrumentalisierung in der Ernährungswissenschaft, wo ein Großteil der Feldforschung sich darauf beschränkt, erkrankte und gesunde Menschen nach ihren Essgewohnheiten zu befragen. Die Aussagekraft solcher Fall-Kontroll-Studien geht gegen null, aber die als exakter geltenden prospektiven Kohortenstudien werden aus Kostengründen seltener durchgeführt. Auch die in der Markt- und Meinungsforschung eingesetzten Panelstudien sind fehleranfällig: Die Validität der Messinstrumente verringert sich über lange Zeiträume, Studienteilnehmer sterben oder fallen durch Umzug aus der Grundgesamtheit heraus, oder Probanden ändern nach einer gewissen Zeit ihre Meinung zu den

172 Als wichtige Institute in Österreich gelten: Academia Superior, Agenda Austria, EcoAustria, Europaforum Wachau, Europäisches Forum Alpbach, Globart, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Institut für Höhere Studien, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Sustainable Europe Research Institute (SERI), Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. 173 Beispielsweise unter http://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/1456998/Agenda-Austria_ Arbeitslosigkeit-in-Wahrheit-hoeher, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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abgefragten Themen. Andere Verzerrungen der Untersuchung ergeben sich aus der Bezahlung der Probanden in der kommerziellen Marktforschung. Neben den Manipulationsmöglichkeiten durch den selektiven, meist durch Kosten determinierten Einsatz des Forschungsdesigns werden in der Praxis Studien auch noch durch den gewählten Zeitpunkt der Veröffentlichung sowie durch die Unterscheidung zwischen veröffentlichten und unveröffentlichten Studien beeinflusst. Vor allem im Wahlkampf werden oft Umfrageergebnisse veröffentlicht, die nichts mit den eigentlichen Zahlen gemeinsam haben. Die Zielsetzung dieser Strategie ist offensichtlich: Mit der selektiven Veröffentlichung von Daten sollen die eigenen Parteigänger motiviert, die Anhänger der Mitbewerber aber demotiviert werden.174 Statistiken: Die statistikkritische Aussage von Winston Churchill „ich traue keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe“ ist diesem nur fälschlich zugeschrieben. Zumindest gibt es Indizien, die für diese Interpretation sprechen. Denn dieses im deutschen Sprachraum gerne verwendete Zitat ist in Großbritannien weder der Bevölkerung noch den Angestellten des Statistischen Zentralamts geläufig. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es deutschen Ursprungs175 und stammt von

174 Neben diesen „diskreten“ Manipulationsmöglichkeiten auf der Ebene des Forschungsdesigns gibt es natürlich noch zahllose inhaltliche Manipulationsmöglichkeiten: Studienergebnisse können auf Anweisung des Auftraggebers gefälscht oder nachgebessert werden, um dessen Erwartungshaltung zu entsprechen. Werden zentrale Datensätze und Aussagen umgedeutet, liegt die Vermutung nahe, dass wissenschaftliche Erkenntnisse als Absicherung für eine politische oder betriebswirtschaftliche Argumentationslinie missbraucht werden. Diese Instrumentalisierung angewandter Wissenschaft wurde im Juli 2017 anlässlich der im Auftrag des Außenministeriums durchgeführten Integrationsstudie des Islamwissenschaftlers Ednan Aslan öffentlich kontrovers diskutiert. Die Authentizität der Word-Dokumente wurde von Aslan bestritten, der sagt, nur die Letztversion der Vorstudie sei von ihm freigegeben worden. Dieser vermeintliche oder tatsächliche politische Eingriff des damaligen Außenministers in das Feld der Wissenschaft hat aber zu einer Entwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse geführt und beschädigt deren Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit. Für die Philosophin Isolde Charim birgt dieser Missbrauch wissenschaftlicher Auftragsstudien drei Gefahren: Erstens werde die heikle Grenze zwischen gefakten und seriösen Nachrichten weiter verwischt. Zweitens werde die Reputation des (muslimischen) Wissenschaftlers und der Wissenschaft wissentlich beschädigt. Und drittens würden durch die Fälschung von Studienergebnissen reale Probleme und Vorurteile, zwei unterschiedliche Dinge, miteinander vermengt; vergleiche dazu http://www.wienerzeitung.at/meinungen/gastkommentare/903265_Die-Causa-Kurz.html, letzter Zugriff: 11.07.2022. In einem Gutachten der Österreichischen Agentur für wissenschaftliche Integrität im Auftrag der Universität Wien wurde die Aslan-Studie untersucht und Kritik an der wissenschaftlichen Güte der Studie geäußert. Rektor Heinz W. Engl forderte daher für die Zukunft spezielle Regeln für Auftragsstudien und Kooperationen mit staatlichen Auftraggebern. Die Kommission bestätigte auch nicht nachvollziehbare Eingriffe seitens des Ministeriums; vergleiche https://cms.falter.at/falter/2017/11/08/aslans-islam-kindergarten-studie, letzter Zugriff: 11.07.2022. 175 Vergleiche dazu http://www.zeit.de/2002/18/200218_stimmts_churchill.xml, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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Joseph Goebbels und seiner NS-Propagandamaschinerie, die Churchill mit dieser ihm zugeschriebenen Aussage als chronischen Lügner diskreditieren wollte. Diese Nazipropaganda überlebte im kollektiven Gedächtnis und wird auch heute noch oft als „Argument“ für die beliebige Interpretierbarkeit statistischer Daten und gegen ihre Exaktheit herangezogen. Das Zitat ist allerdings weniger ein Argument gegen mathematische Methoden als gegen ihre Eins-zu-eins-Anwendbarkeit auf gesellschaftliche Phänomene. Wenn das gefälschte Zitat also irgendeinen Erkenntniswert besitzt, dann jenen, dass Statistiken als Primärquellen von Kommunikatoren oft zur Untermauerung ihres jeweiligen Standpunkts herangezogen werden. Diese Instrumentalisierung ist naheliegend. Statistiken, ihre Kategorien und Ergebnisse hängen „auch von der Art der Fragestellung ab, und das Ergebnis wird oft noch im nachhinein aufgrund arkaner Kriterien modifiziert, bevor es die Öffentlichkeit erreicht. In der Branche nennt man das ‚die Daten massieren‘“.176 Wenn Hans Magnus Enzensberger Demoskopen verächtlich „Klatschbasen der Statistik“ nennt, „deren Aufgabe darin besteht, sich überall umzuhören und weiterzusagen, was ihnen erzählt wird“,177 beschreibt er anschaulich das der Methode inhärente Manipulationspotenzial. Mit der Fälschung und Optimierung von Statistiken können Quelleninhalte im Interesse der Marktkommunikation dargestellt werden. Statistiken, so der Tenor des Artikels „How Statistics Lost their Power“ von „Guardian“-Autor William Davies, verlieren in einer heterogenen, postnationalen Welt nicht nur wegen ihrer Manipulationsmöglichkeiten an Aussagekraft, sondern scheitern auch aufgrund ihrer überholten Methodik und Kategorienbildung immer wieder bei dem Versuch, multiethnische Gesellschaften angemessen zu beschreiben. Vorurteile gegenüber Statistik und Ablehnung gegenüber Experten wurden in den westlichen Demokratien zum bestimmenden Wahlkampfnarrativ diverser populistischer Bewegungen im Jahr 2016 (Brexit, Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten). Zwei Drittel der Trump-Wähler glaubten laut Davies nicht an die Integrität der offiziellen Statistiken der Regierung, und mehr als die Hälfte der Briten sei der Überzeugung, dass die Regierung die Zahlen bezüglich Zuwanderung bearbeite beziehungsweise fälsche. Diese Krise der Statistik verortet Davies als Zentrum des „Post-Truth-Zeitalters“. Die Statistik als Kind der Aufklärung hat lange Zeit für sich – aufgrund ihrer standardisierten mathematischen Methoden – Objektivität beansprucht. Mit ihren Zahlen, Grafiken, Tabellen und Informationsdesigns hat sie komplexe gesellschaftliche Erscheinungen auf überblicksmäßig darstellbare Attribute eingegrenzt. Mit der Komplexitätsreduktion auf spezifische Indikatoren (Arbeitslosigkeit, Geburtenstatistik, Eheschließungen etc.) haben Statistiker Entscheidungsgrundlagen für die Politik und die Wirtschaft geliefert, aber

176 Enzensberger, Hans Magnus: Fortuna und Kalkül, Frankfurt a.M. 2009, S. 20. 177 Vergleiche Enzensberger, Hans Magnus: Fortuna und Kalkül, Frankfurt a.M. 2009, S. 19.

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nicht alle gesellschaftlichen Erscheinungen können mit statistischen Methoden angemessen beschrieben werden, denn: „There is always an implicit choice in what is included and what is excluded, and this choice can become a political issue in its own right.“178 Mit ihrem Fokus auf Nationalstaatlichkeit schaffen es Statistiker immer weniger, die von Migration geprägten Gesellschaften der westlichen Welt wirklichkeitsgetreu darzustellen. Während es Statistikern früher gelang, mit ihrer Arbeit Komplexität sinnvoll zu reduzieren und Politikern vergleichbare Fakten und Grafiken verständlich aufbereitet als Grundlage für ihre Arbeit zu erstellen, verlieren diese etablierten Indikatoren ihre Aussagekraft. Statistical data is only credible if people will accept the limited range of demographic categories that are on offer, which are selected by the expert not the respondent. But where identity becomes a political issue, people demand to define themselves on their own terms, where gender, sexuality, race or class is concerned.179

In einer postnationalen Welt mit schwindenden Markenloyalitäten und abnehmender religiöser und politischer Bindung verlieren die althergebrachten statistischen Kriterien ihre Legitimität. Zusätzlich ist die Disziplin durch den Paradigmenwechsel weg von statistischen Methoden hin zu Big Data geprägt. „First, there is no fixed scale of analysis (such as the nation) nor any settled categories (such as ‚unemployed‘).“180 Big Data bedeutet, dass alle maschinell lesbaren Informationen aufgezeichnet und ausgewertet werden. Mit dieser poststatistischen Methode ändert sich auch das zentrale Erkenntnisinteresse. Waren die Statistikzentren in der Demokratie meist staatliche Institutionen, haben die Big-Data-Konzerne private Eigentümer, die keinen Einblick in die verwendeten Methoden und Analysetools gewähren. Die Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit der aggregierten Daten ist für Dritte kaum mehr gegeben. Pseudoereignisse: Ein Pseudoereignis (erfunden von Edward Bernays) wird nur veranstaltet, um massenmediale Berichterstattung auszulösen. Den Begriff prägte Anfang der 1960er Jahre Daniel J. Boorstin.181 PR- und Marketingfachleute

178 Davies, William: How Statistics Lost their Power – and why we Should Fear what Comes next, in: https://www.theguardian.com/politics/2017/jan/19/crisis-of-statistics-big-data-democracy, letzter Zugriff: 11.07.2022. 179 Davies, William: How Statistics Lost their Power – and why we Should Fear what Comes next, in: https://www.theguardian.com/politics/2017/jan/19/crisis-of-statistics-big-data-democracy, letzter Zugriff: 11.07.2022. 180 Davies, William: How Statistics Lost their Power – and why we Should Fear what Comes next, in: https://www.theguardian.com/politics/2017/jan/19/crisis-of-statistics-big-data-democracy, letzter Zugriff: 11.07.2022. 181 Vergleiche Boorstin, Daniel J.: The Image: A Guide To Pseudo-Events in America, New York 1992.

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inszenieren Pseudo-Events, um mit eigens für das Veranstaltungsformat produzierten Originalquellen ungefiltert in die Medien zu kommen. Pressekonferenzen fallen in diese Kategorie. Damit die Quellen von Pseudoereignissen tatsächlich Teil der Berichterstattung werden, müssen sie nachrichtengerecht aufbereitet werden. Solche Pseudo-Events strukturieren und prägen mittlerweile das ganze Kalenderjahr: Tage der Industrie, Buchmessen, Lange Nächte der Museen, die Verleihung von Industrie- und Kulturpreisen, Branchen- und Prominenten-Rankings und vieles mehr bilden ausgezeichnete Möglichkeiten für geschlossene Quellenproduktionsabläufe. Dieser instrumentelle Charakter der Pseudoereignisse ist heute bereits „naturalisiert“ und wird von Medien und Publikum kaum mehr als künstlich wahrgenommen. Owned Media: Mit dem Siegeszug der digitalen Medien werden auch zu Unternehmen gehörende Medienkanäle wichtiger. Owned Media umfassen sowohl redaktionell arbeitende als auch klassisch marktkommunikative Formate. Unter dem Begriff werden Webseiten, Blogs und Social-Media-Auftritte von Unternehmen, etwa auf Facebook, Instagram oder Twitter, zusammengefasst. Auch klassische Firmenzeitschriften- und Bewegtbildformate gehören in diese Kategorie. Solche betriebseigenen Medienkanäle produzieren und selektieren Quellen und Inhalte immer aus dem Blickwinkel des Eigentümers. Viral Content, Corporate Magazine und Corporate TV sind Beispiele für Kommunikationskanäle von Unternehmen im Rahmen von Owned Media. Experten: Medien leben von O-Tönen und Zitaten. Durch Personalisierung werden abstrakte Aussagen konkret zuordenbar. Diese Mediengesetzlichkeit nutzen PR und Marketing: Sie basteln sich mithilfe von Arbeitsgruppen, Expertenkreisen, Fachexperten, Augenzeugen, Kunden, Testimonials und anderen ein selbstreferenzielles und autonomes Expertensystem, das je nach Bedarf der jeweiligen Anspruchsgruppen aktiviert wird. Der aktive Aufbau einer Datenbank mit jederzeit abrufbaren und zitierfähigen Experten wird in der Marktkommunikation „ThirdParty-Technik“ genannt. Darunter versteht man auch die gezielte Platzierung einer vorproduzierten Botschaft durch Dritte (und deshalb von Öffentlichkeit und Medien als glaubwürdiger eingestuft, weil vermeintlich unabhängig), die im Sinne des jeweiligen Auftraggebers argumentieren. Die zweckmäßige Anrufung Dritter „über die Bande“ zur Durchsetzung eigener Interessen kann in der Marktkommunikation viele Ausprägungen annehmen. Bürgerinitiativen (für oder gegen Rauchverbote, Kraftwerksbauten, Landebahnen etc.), das Zukaufen der Expertise von Wissenschaftlern und die Abhaltung von Expertenrunden zur Erhöhung der eigenen Glaubwürdigkeit verfolgen eine klare Zielsetzung. Der Öffentlichkeit wird durch die Äußerungen der Third Party Gemeinwohlorientierung und demokratische Partizipation vorgegaukelt, während parallel dazu der Auftraggeber seine versteckten Partialinteressen und Agenden verfolgt. Experten werden eingesetzt, weil sie als unabhängig und glaubwürdig gelten. Zitierkartelle und die Verengung der Debatte

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auf wenige marktgängige Namen sind unmittelbare Folgen. Dieser Strategie liegen die Erkenntnisse der News-Bias-Forschung182 sowie das Prinzip des opportunen Zeugen183 zugrunde. Das Prinzip des opportunen Zeugen besagt, dass es einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen den Einstellungen von Journalisten und ihrer Nachrichtenauswahl gibt. Bei Berichten werden in der Regel jene Argumente ausgewählt, deren Inhalte dem Weltbild des Journalisten und/oder der Blattlinie entsprechen. Diese Unschärfe bei der Auswahl führt dazu, dass Redakteure mit jenen Fakten argumentieren, die ihre eigene Werthaltung transportieren. Informationsdesign: Infografiken und sonstige Visualisierungen bieten ebenfalls zahlreiche Möglichkeiten für Verfälschung, Manipulation und strategischen Missbrauch. Aufgrund der herausragenden praktischen Bedeutung der Infografik hat das „Regime systematischer Verdatung aller relevanten massenhaften gesellschaftlichen Handlungen sowie deren wissenschaftlich-statistische Aufbereitung so etwas wie ein historisches Apriori des Normalismus“184 begründet. „Normalität“ in Infografiken meint „mehr oder weniger breite ‚normal ranges‘, die sich zwischen meistens zwei Normalitätsgrenzen an den ‚Extremen‘ um die ‚Mitte‘ der verschiedenen statistischen Durchschnittswerte herum erstrecken“185 . Und diese neue Normalität kann durch die Arbeitstechniken Verfälschung, Differenzierung, Trivialisierung, Ausschnitt/Blickwinkel, Kontext/Zusammenhang, falscher Darstellungstyp, Verzerrung, Fälschen durch Statistik, Unübersichtlichkeit, Infotainment, bewusstes Weglassen und Manipulation gesteuert werden.186 Die hier nur überblicksartig vorgestellten Methoden der gesteuerten Quellenschaffung verfolgen alle das Ziel, mit selbst produzierten und selbst kontrollierten Quellen eine geschlossene Wertschöpfungskette für die eigene Argumentation ohne störende Gatekeeper zu schaffen. Diese weitverzweigten Strategien der PR- und Marketingexperten können aber durch einfache Gegenmaßnahmen ausgehebelt oder zumindest abgemildert werden. Im Internet kann der Ausgangpunkt einer solchen Quellenrecherche eine sogenannte Who-is-Abfrage sein, wo jeder Rezipient nachprüfen kann, auf wen eine Domain registriert ist. Eine solche obligatorische Quellenkritik als basale Kulturtechnik droht im Zeitalter digitaler Kommunikation

182 Vergleiche Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, Freiburg/ München 1976. 183 Vergleiche Hagen, Lutz M.: Die opportunen Zeugen, in: Publizistik, 37. Jahrgang, 4/1992, S. 444–460. 184 Gerhard, Ute/Link, Jürgen/Schulte-Holtey, Ernst: Infografiken, Medien, Normalisierung, Heidelberg 2001, S. 7. 185 Gerhard, Ute/Link, Jürgen/Schulte-Holtey, Ernst: Infografiken, Medien, Normalisierung, Heidelberg 2001, S. 7. 186 Vergleiche Götz, Veruschka/Rigamonti, Anna: 1 + 1 ≠ 2: Informationsvisualisierung, Stuttgart 2015, S. 94ff.

Strategien zur Primärquellenerzeugung

verloren zu gehen, wie die Ergebnisse einer Studie der Stanford History Education Group nahelegt: 80 Prozent der Probanden konnten einen werblichen und gesponserten Beitrag nicht von einer journalistischen Nachricht unterscheiden.187 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Studie der britischen Medienaufsichtsbehörde: Kinder und Jugendliche unterscheiden bei Google-Suchanfragen nicht zwischen Google-Anzeigen und den eigentlichen Suchergebnissen.188 Zusätzlich stuften viele Probanden eine Information als wahr ein, sobald sie im Netz publiziert wurde.

187 Vergleiche https://sheg.stanford.edu/upload/V3LessonPlans/Executive%20Summary%2011.21.16. pdf, letzter Zugriff: 11.07.2022. 188 Vergleiche https://www.ofcom.org.uk/research-and-data/media-literacy-research/childrens/ children-parents-nov-15, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst- und Sammlermärkte

Die Entwicklung des globalen Kunstmarktes hin zu einer von transnationalen Konzernen und Privatinteressen beherrschten Branche datiert die Kunsthistorikerin Chin-tao Wu mit Beginn der 1980er Jahre. Chin-taos Studie „Privatising culture“ zeigt, wie sich Kräfteverhältnisse innerhalb der Kunstwelt zugunsten privater Akteure verschoben haben. Gewinnorientierte Konzerne haben damals zusammen mit Kuratoren und Kunstabteilungen begonnen, eigene Sammlungen aufzubauen. Dieser primär an Gewinnen orientierte Kunstzugang hat die Produktion, Vermarktung und Rezeption von Kunst von Grund auf verändert. In der Amtszeit von Margaret Thatcher und Ronald Reagan verschwamm durch Gesetzesänderungen die Grenze zwischen privat und öffentlich. Spenden von Sponsoren können in Großbritannien seit 1984 durch das „Business Sponsorship Incentive Scheme“ steuerlich abgesetzt werden und die Thatcher-Regierung „used public money to enhance the prerogatives of private capital“.189 Versinnbildlicht wird dieser Paradigmenwechsel durch den Aufstieg der Saatchi Gallery und das Talent Charles Saatchis, Kunst mit marktgängigen Begriffen („Young British Artists“) und Gesichtern (Damien Hirst) zu verkaufen. Die Werbeagentur Saatchi & Saatchi zeichnete auch für den Wahlkampf Margaret Thatchers 1979 verantwortlich, mit dem damals tabubrechenden Wahlplakatsujet, wo eine Schlange Arbeitsloser vor einem Arbeitsamt unter dem Slogan „Labour isn’t working“ abgebildet war. Absetzbarkeit und publikumsaffine Ausstellungsformate gelten seit Thatcher als vorherrschende Paradigmen für Kunst und ihre Vermittlung. Und die globale Businesselite gefällt sich in ihrer Rolle als zeitgenössischer Nachfolger der Medici. Zugleich stellten Politiker – wie zum Beispiel der Amerikaner Patrick J. Buchanan – in den Kulturkämpfen der 1980er Jahre die öffentliche Kunst- und Kulturförderung unter Generalverdacht; öffentliche Förderung gilt seitdem als anrüchig, und entsprechende Gesetzesänderungen wurden auch danach von den Regierungen Blair und Clinton nicht zurückgenommen. Der globale Kunstmarkt wird von wenigen Ländern wie den USA, Großbritannien und Deutschland dominiert. Im Unterschied zu anderen Börsenmärkten verharren die Kurse seit Langem in einer permanenten Hausse und eilen von Rekord zu Rekord. Auch 2014 und trotz globaler Konjunkturflaute im produzierenden Ge-

189 Chin-tao, Wu: Privatising culture, London/New York 2003, S. 6.

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werbe konnte das „Handelsblatt“ für den Kunstmarkt Rekordumsätze vermelden.190 Der weltweite Umsatz betrug 15,2 Milliarden US-Dollar was eine satte Steigerung um 26 Prozent gegenüber dem Jahr 2013 bedeutete. Der Kunstmarkt bildet einen Spezialfall, weil Kunstwerke im Unterschied zu anderen Waren neben dem reinen Material- und Gebrauchswert einen symbolischen, kunsthistorischen Mehrwert haben, der nicht in Zahlen ausgedrückt werden kann. Allerdings herrschen auch im Kunstmarkt ökonomische Sachzwänge vor, was – analog zum Fusionsfieber in der Kfz-Branche und in der Popkultur191  – zu Galeriezusammenschlüssen, einer Pleitewelle von kleinen und unabhängigen Galerien, einer Ausrichtung der Branche am Kalender der Kunstmessen, einer zunehmenden Orientierung an Bestenlisten sowie zu einer Celebrity-Kultur geführt hat. Ranglisten bringen eine vermeintliche Ordnung in die unübersichtliche Kunstwelt, hierarchisieren sie und machen anhand von Zahlen Unvergleichbares zumindest scheinbar vergleichbar. Die Kulturtheoretikerin und Zeitschriftenherausgeberin Isabelle Graw zieht aus dieser Ökonomisierung der Kunst den naheliegenden Schluss, dass der Marktwert eines Kunstwerks zunehmend auch dessen künstlerische Bedeutung bestimme.192 Die Autorität eines Marktpreises höher zu gewichten als die kunsthistorische Bedeutung, wertet Graw als Symptom einer liberalen Doktrin, die den Markt in den Rang einer normativen Instanz erhoben habe, wohingegen Märkte früher als Plattformen für die Ermöglichung von Geschäften gesehen worden seien. Aber, auch wenn der Markterfolg zum wichtigsten Kriterium für Erfolg erklärt worden sei, bleibe der Kunstmarkt laut Graw insofern eigentümlich, als dieser Markterfolg wesentlich von Akteuren der Kunstkritik und Kunstgeschichte abhänge, deren Arbeit und Forschung die Kunstwerke erst mit jener symbolischen Bedeutung auflade, die zur Wertsteigerung führe. Die bleibende Bedeutung der Kunstgeschichte liegt darin, dass ihre Bewertungskriterien auf ästhetischen und werkimmanenten Kriterien, nicht aber auf dem kommerziellen Erfolg beruhen. Zwei Realitäten treffen im Kunstwerk aufeinander: die Preislosigkeit (Symbolwert) und der Preis (Marktwert) des Kunstwerks.193 Dabei sind die Aufstellung des Marktes und die Zugangskriterien für Künstler streng geregelt. Die Kunstmessen in Basel, Köln, New York, Chicago und Madrid verkaufen wertbeständige Klassiker. Daneben gibt es in Berlin, Frankfurt, Miami und London Messen, die sich auf die Präsentation von und den Handel mit zeitgenössischen Werken spezialisiert haben. Kunst hat

190 Vergleiche dazu: http://www.handelsblatt.com/panorama/kultur-kunstmarkt/globaler-kunstmarktwaechst-fast-schon-unverschaemte-wachstumsrate/11462084.html, letzter Zugriff: 11.07.2022. 191 Gegenwärtig kontrollieren die drei Firmen Universal Music Group, Sony Music Entertainment und Warner Music Group mit ihren Unterlabels Capitol, Republic, Motown, Columbia, RCA, Epic, Elektra, Atlantic etc. mehr als 80 Prozent der weltweiten Musikproduktion. 192 Vergleiche Graw, Isabelle: Der große Preis, Freiburg 2008, S. 9ff. 193 Vergleiche Graw, Isabelle: Der große Preis, Freiburg 2008, S. 31.

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sich damit als Bestandteil einer wachstumsorientierten und global operierenden Wirtschaftskultur etabliert. Im Marktsegment der neuesten Kunst sind Preisänderungen für den Sammler und Investor schwerer kalkulierbar, da die Bewertung der Kunstwerke oft Moden folgt. Als Markt höchst seltener oder einzigartiger und wertstabiler Güter wurde er seit den 1970er und 1980er Jahren zur eigenständigen Asset-Kategorie in den Portfolios institutioneller Sammler und Anleger. Seit dieser Epochenwende verkünden die veröffentlichten Auktionsergebnisse jährlich neue Rekordumsätze und eine Stagnation auf hohem Niveau ist vorerst nicht in Sicht. Im Unterschied zum Kunstmarkt befinden sich die meisten anderen Märkte – wie beispielsweise der Tonträgermarkt (als Beispiel für einen Primärmarkt) und Plattenbörsen und Antiquariate (als Beispiele für den Sekundärmarkt) – in einer strukturellen und konjunkturellen Dauerkrise. Seit dem Siegeszug von MP3 und Filesharing sind die verkauften Einheiten jährlich geschrumpft: Von 80 Prozent aller Veröffentlichungen werden weniger als 100 und von 94 Prozent weniger als 1000 Stück verkauft. Seit 2011 gehen nur mehr von 0,5 Prozent der veröffentlichten Tonträger mehr als 10.000 Exemplare über den Ladentisch.194 Der CD-Umsatz (seit 1991 dokumentiert) hat 2016 einen historischen Tiefststand195 erreicht. Auch bei den digitalen Einzelverkäufen sind die Zahlen nicht besser: Von den 8 Millionen erfassten Stücken erzielten 7,5 Millionen weniger als 100 Downloads. Anhand dieser seit 20 Jahren fortschreitenden Entwicklung verwandelt sich eine ehedem für Großauflagen konzipierte Industrie zum Hersteller und Verkäufer von Kleinstauflagen. Auch der Sekundärmarkt für Bücher und Tonträger kämpft ums Überleben. Durch das Internet und die Einführung von sogenannten Preisrobotern und zentralisierten Marktplätzen wird der Markt überschwemmt – mit allen bekannten Folgen. Die Preise befinden sich im freien Fall, und die Lager sind brechend voll mit unverkäuflichen Beständen.196 Im Kunstmarkt gab es, im Unterschied zu den Sammlerbörsen der Buch- und Popkultur, jedoch die eingangs beschriebene Wertexplosion. Auch der Käufermarkt hat sich quantitativ vergrößert, so gehören seit den 1980er Jahren auch große börsennotierte Unternehmen wie Deutsche Bank oder Siemens zu den Sammlern und Förderern von Kunst. Der Kunstmarkt präsen-

194 Vergleiche dazu https://www.riaa.com/wp-content/uploads/2015/09/LabelsAtWork.pdf, letzter Zugriff: 11.07.2022. 195 Vergleiche dazu https://www.musikexpress.de/tontraeger-verkaeufe-fallen-auf-rekord-tiefausnahme-vinyl-591831, letzter Zugriff: 11.07.2022. 196 Die Plattform Discogs ist der weltweit führende Anbieter für Tonträger, und das Zentrale Verzeichnis antiquarischer Bücher (ZVAB) ist Branchenprimus für antiquarische Bücher. Ankaufportale (Momox, ReBuy, Zoxs oder Sellorado) im Internet ersetzen und ergänzen die alten Flohmärkte. Diese Ankaufsportale zahlen den Verkäufern geringe Margen. Zusätzlich beobachten und vergleichen Preisroboter das gesamte digital erfasste Warenangebot, was die Preisspirale weiter nach unten dreht.

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tiert sich als Verkäufermarkt, wo die Nachfrage das Angebot übersteigt; auch das ist ein struktureller Unterschied zum Feld der Populärkultur mit seinem Überangebot. Der besondere Status der Ware Kunst ergibt sich, im Unterschied zu den Waren der Popkultur, aus ihrer Einmaligkeit und aus der Überzeitlichkeit, die Kunst für sich beansprucht. Während Popkultur und ihre Produkte einerseits durch den Zeitgeist in ihrem Wert permanent verfallsbedroht sind, verringert sich andererseits mit der Zeit auch ihr Gebrauchswert.197 Abgesehen von diesen Besonderheiten unterliegt der Kunstmarkt, wie alle anderen Märte auch, bestimmten volkswirtschaftlichen Kennzahlen. So boomen in Niedrigzinszeiten normalerweise Wertpapiere, während im Hochzinsumfeld Aktienmärkte zumeist eher schwächeln. Seit 1970 ediert Willi Bongard den „Kunstkompass“. In Bongards Ranking der 100 bedeutendsten internationalen Künstler der Gegenwart verwendet der Autor zur Bestimmung des Preises der Kunstwerke ähnliche Bewertungskriterien wie Ratingagenturen und Analysten bei der Taxierung von Aktien. Bongard geht in seinem Ranking von der Annahme aus, dass sich nur die Resonanz in der Kunstwelt und nicht die Qualität von Kunst messen lasse. Auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ veröffentlicht in ihren Wochenendausgaben jeweils einen mehrseitigen Kunstmarktteil mit Auktionsergebnissen. Und der seit 2001 erscheinende „Artinvestor“ (2014 eingestellt und durch das Magazin „Artcollector“ ersetzt) informiert ebenfalls über Preise und Wertsteigerungen von Gegenwartskunst. Zeitgleich mit dieser publizistischen Expansion kam es durch das Internet zu einer größeren Markttransparenz. Auf spezialisierten Webseiten werden die globalen Entwicklungen des Kunstmarktes tagesaktuell dargestellt. In diesen Datenbanken198 werden Auktionsergebnisse und Ranglisten über Künstler und Institutionen veröffentlicht. Am Kunstmarkt werden klassische Werke, die Werke der neuesten Kunst (zeitgenössische Werke mit einem Alter von bis zu zwei Jahren) und sogenannte Dutzendbilder gehandelt. Der Kunstmarkt agiert wie alle anderen Märkte der Pop- und Konsumkultur mit ihren Gesetzmäßigkeiten von Hausse, Baisse, Bluffs, Moden199 und Spekulationsblasen,

197 Vergleiche dazu die Bewertungskriterien von Abnutzungserscheinungen bei Tonträgern und Büchern, http://www.plattensammeln.de/—-vinyl-bewertung.html, letzter Zugriff: 11.07.2022. 198 Dazu gehören beispielsweise Artnet, Artprice, ArtFacts, Blouin Art Sales Index, Skate’s Art Market Research. 199 Der Kunstmarkt bringt immer wieder unerklärliche Hypes hervor. Warum und wann ein Künstler plötzlich „in“ und plötzlich „out“ ist, entzieht sich oft rationalen, aus dem künstlerischen Werk und dessen kunsthistorischer Bedeutung ableitbaren Erklärungen. So erlebte der österreichische Maler Christian Rosa durch den „Insidertipp“ einer Galeristin bei der „Viennafair“ 2013 einen rasanten Aufstieg, die ihn als möglichen zweiten Jean Michel Basquiat sah. Seitdem gilt Rosa als internationale Investitionsempfehlung und belegte im „ArtFacts“-Ranking 2017 den beachtlichen 3148. Rang. Warum seine Werke Preise von bis zu 40.000 Euro erzielen, erschließt sich nicht aus werkimmanenten Kriterien. Rosa plagiiert Bildelemente von Miró und Kandinsky – ohne deren Kraft und Ideenreichtum. Seine Technik beschränkt sich auf schnell hingeworfene Linien

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wobei der Kunstmarkt – im Unterschied zu anderen Märkten – für sich ein Surplus in Form eines ideellen Mehrwerts der gehandelten Ware für sich beanspruchen kann. Die klassische Aufteilung des Kunstmarktes zwischen Primärmarkt (Galerien) und Auktionshäusern hat sich überlebt, da auch Auktionshäuser begonnen haben, mit Gegenwartskunst zu handeln. Umgekehrt verkaufen auch Galeristen in ihren Büros oft Werke weiter und agieren somit als Akteure des Sekundärmarktes. Die Wertentwicklung lässt sich bei künstlerischen Arbeiten nicht so gut berechnen wie bei einem bilanzierungspflichtigen Unternehmen, wo verkaufte Stückzahlen, Bilanzen und Abschreibungen die Prognostizierung zukünftiger Gewinne und Verluste einfacher machen. Zu den weiteren Besonderheiten des Kunsthandels zählen der Second-Hand-Markt, Mäzenatentum, staatliche Kontrolle sowie der Tausch von Geschenken. Für den Kunsthandel konstatiert die Kunsthistorikerin Ursula Frohne eine Neuorientierung des Kunstbegriffs.200 Bis in die 1970er Jahre sei die Werthaltigkeit eines Werks nach dem Materialwert und ästhetischen Ansprüchen bestimmt worden. Gegenwärtig erfolge die Bewertung nach Originalität der Idee, konzeptueller Komplexität, moralisch-ethischem Anspruch oder tabuverletzender Realität, so Frohne, was sie als prinzipiellen Wandel hinsichtlich der Anerkennung des Kunstcharakters ästhetischer und antiästhetischer Formulierungen begreift. Dabei treten Sammler, Multiplikatoren, Geldgeber und Kritiker als wertindizierende, Künstler und Institutionen als wertproduzierende Akteure auf. Früher haben Kuratoren und Kunstkritiker die Preisentwicklung mitbestimmt, während heute die primären Player Galerien und Auktionshäuser sind. Seit dieser Machtverschiebung verringerte sich die Gewinnmarge zwischen Verkauf und Wiederverkauf für den Verkäufer um die Hälfte. Schon im Kunsthandel des 15. Jahrhunderts wurde in Italien der Wert eines Bildes nach den Prinzipien „Material und Technik“ sowie „Material und Arbeit“201 ermittelt. Mit den Produktionskosten (Materialwert) und den Arbeitsstunden gibt es Kennzahlen, mit denen die Gesamtkosten annähernd beziffert werden können. In der Objekthaftigkeit eines Kunstwerks verbindet sich ein ideeller (qualitativer) mit einem monetären (quantitativen) Wert. Der entscheidende Unterschied zu anderen Waren von Konsum- und Popkultur, wenngleich auch dortige Sammlerszenen für ideelle Preise sorgen, besteht in der „Hervorhebung von deren Surplus, also von ästhetischen Qualitäten und künstlerischer

und Farbflecken in Ölkreide, Bleistift, Kohle, Collage, Tempera und Acryl und ist meilenweit davon entfernt, ein genuines oder auch nur eigenständiges Vokabular zu entwickeln. Selbst sein Wiener Galerist, Christian Meyer, erklärt Rosas erstaunlichen Erfolg mit Pop-Appeal und nicht mit dessen malerischen Fertigkeiten. 2021 wurde der Wiener wegen mutmaßlicher Fälschungen festgenommen. 200 Vergleiche Frohne, Ursula: New Economies: Das Surplus der Kunst, in: Kunstmarkt, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 17. Jg., 2&3/2006, S. 11. 201 Vergleiche Baxandall, Michael: Die Wirklichkeit der Bilder, Frankfurt a.M. 1984, S. 28f.

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Originalität“.202 Bei der Wertermittlung eines Kunstwerks unterscheidet sich der kunsthistorische Wert bisweilen vom Verkaufswert. Der Philosoph Robert Stecker hat den Wertbildungsprozess von Kunstwerken in eine metaästhetische, eine ontologische und eine normative Kategorie unterteilt: The first of these concerns the nature of judgement of artistic value, the second concerns the nature of such value itself. The last concerns the core question of what is artistically valuable about art, and how one brings the various valuable features of a work of art to bear in arriving at an evaluation of the work.203

Kunstwerke werden in der vorliegenden Studie also von Waren der Konsumgesellschaft unterschieden. Werke der Popkultur stellen in der Regel keine Höchstentwicklung des kreativen Potenzials dar, sondern werden in einem arbeitsteiligen Prozess und nach bestimmten marktgängigen Schemata204 hergestellt. Für den Kunstbereich hat der Kulturwissenschaftler Manfred Wagner folgende These erarbeitet: „Kunst ist die Höchstentwicklung des kreativen Potentials des Menschen in der Versinnlichung seines intellektuellen, emotionalen und sozialen Vermögens.“205 Dabei unterteilt Wagner fünf Phasen der kreativen Entwicklung:206 die expressive, produktive, inventive, innovative und emergentive Phase. Die fünfte Stufe stellt dabei die Höchstentwicklung des schöpferischen Potenzials dar, verändert das Denken der Menschheit über sich selbst und geht als stilbildend in die Geschichte ein. Neben dieser Unterscheidung finden sich im Kunst- und Populärmarkt aber auch strukturelle Gemeinsamkeiten; in beiden Märkten werden Geschäfte von sozialen Interaktionen begleitet und aufgewertet: Kontakte, Netzwerke, kunst- und populärhistorisches Wissen, formelles und informelles Know-how207 (der Austausch

202 Vergleiche Frohne, Ursula: New Economies: Das Surplus der Kunst, in: Kunstmarkt, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 17. Jg., 2&3/2006, S. 12. 203 Stecker, Robert: Value in Art, in: Levinson, Jerrold (Hg.): The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford/New York 2003, S. 307; Hervorhebung so im Original. 204 Die automatisierte, streng arbeitsteilig organisierte Komposition von Hits wurde in den USA durch das Soullabel Motown sprichwörtlich. Durch Fortschritte in der Aufnahmetechnik und die Digitalisierung der Produktion wurden diese Produktionsstandards weiter ausdifferenziert. Einen realistischen Einblick in das Geschäft der zeitgenössischen High-End-Popproduktion mit zahlreichen Fallbeispielen gibt die Reportage „So werden Hits gemacht“ unter http://www.deutschlandfunk.de/die-pop-fabrik-so-werden-hits-gemacht.807.de.html?dram:article_id=383749, letzter Zugriff: 11.07.2022. 205 Wagner, Manfred: Stoppt das Kulturgeschwätz, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 19. 206 Vergleiche Wagner, Manfred: Stoppt das Kulturgeschwätz, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 33ff. 207 Wer stellt wo aus? Wer bekommt wo welche Titelblätter? Wer wird von wem gekauft? Etc.

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zwischen Sammlern und Verkäufern) entscheiden über Erfolg und Misserfolg. Zusätzlich strahlt von Künstlern und dem Kunstbetrieb auf die Teilnehmer auch ein gewisser Glanz ab. Es gilt als prestigeträchtiger, mit Kunst zu handeln als mit Aktien, Gummireifen, Briefmarken oder Fußballbildchen. Wer sich in der Kunstwelt bewegt, ist Teil einer exklusiven Gemeinschaft. Erfolgreiche Sammler tauschen sich gerne über den Markt und seine aktuellen Entwicklungen aus. Ob man Kunstwerke oder Platten- und Büchersammlungen als Investment oder Wissensarchive sieht oder aus Geschmacksgründen erwirbt, ist zweitrangig. Der Kunstmarkt ist also, noch mehr als die traditionellen Wertpapiermärkte, ein Kommunikationsmarkt,208 dessen Entwicklung davon abhängt, über welche Informationen welche Akteure des Kunstgeschehens zu welchem Zeitpunkt verfügen, das heißt wie eingeweiht sie in langfristige Planungsperspektiven sind. Kunstmärkte sind, so wie alle Aktienmärkte, Insidermärkte und nur die Happy Few verfügen über ausreichende Informationen.209 Die Kunstwelt hat sich aber nicht nur durch ihre Marktförmigkeit gewandelt. Als zweite strukturelle Veränderung wird auch dieser Bereich durch das Internet neu aufgestellt. Digitale Datenbanken (mit ihrer Vorliebe für Rankings) und soziale Plattformen (mit ihrer Affektlogik) haben den Produktionsprozess und die Rezeption von Kunst verändert. Kunstwerke für die Onlinewelt zu schaffen, verlangt heute auf allen Kanälen eine marktaffine Ästhetik. Das heißt: Für den Künstler ist es wichtig, sich aktiv auf Social-Media-Plattformen zu präsentieren, um Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit zu erlangen. Das Internet wurde im Kulturund Kunstmarkt zu einem Kanonproduzenten. Kanonisierung bedeutet hier „das Versprechen einer Sichtbarkeit, die sich laufend neu aktualisiert“.210 Das Internet sammelt dabei ahistorischer als Bibliotheken oder Museen. Aber nicht nur die Arbeit der Künstler, auch die Sammler sowie die Präsentationsmodi der Museen haben sich verändert. In Präinternetzeiten war die Abwesenheit des öffentlichen Blicks noch konstitutiv für die künstlerische Arbeit, wohingegen der zeitgenössische Künstler nicht nur mit dem Internet arbeitet, sondern seine Werke auch ins Internet stellt, wie Boris Groys festhält:

208 Vergleiche Frohne, Ursula: New Economies: Das Surplus der Kunst, in: Kunstmarkt, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 17. Jg., 26, 3/2006, S. 33 (Fußnote 41). 209 Vergleiche dazu die alte Börsenregel „Kleinanleger verlieren immer“. Weitere allgemeingültige Anlegerweisheiten sowie Wissenswertes über das Wesen und die unveränderliche Funktionsweise der Börse enthält das mehr als 300 Jahre alte Buch „Die Verwirrungen der Verwirrungen“ des Philosophen und Spekulanten Joseph de La Vega. Damals wetteten die Anleger auf Tulpen und auf den „Emerging Market“ Indien wie heute auf Finanzderivate, Kryptowährungen oder Kunst. Das Buch ist in der philosophischen Tradition Platons als Gespräch zwischen einem Kaufmann, einem Philosophen und einem Spekulanten aufgebaut. 210 Vergleiche Magauer, Hanna: Post-Internet, in: Texte zur Kunst. The Canon, 25. Jg., 100/2015, S. 109.

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Die Werke eines bestimmten Künstlers lassen sich finden, wenn ich seinen Namen google – und sie werden mir im Kontext anderer Informationen gezeigt, die ich im Internet über diesen Künstler finden kann: Biografie, andere Werke, politische Aktivitäten, Kritiken, Details aus dem Leben usw.211

Auch Gebräuche, Rituale und Arbeitsweisen von Sammlern gehorchen einer neuen Logik. War früher jahrelanges Suchen, Recherchieren und Stöbern nötig, um eine repräsentative Sammlung zu erwerben, reicht heute ein Blick ins Netz und jeder bekommt Zugriff zum gesamten Musikarchiv (YouTube) sowie eine realistische Einschätzung des Wiederverkaufswerts einer Sammlung (Discogs). Auf Sammlerbörsen werden in Echtzeit Informationen über Preise, Tourneen, Gesamtwerk und viele weitere Merkmale gelistet, und was früher Geheimwissen war, ist für jeden Interessierten auf Knopfdruck verfügbar. Zusätzlich haben das Internet und die damit verbundene Demokratisierung der Produktionsmittel zu einer Vervielfachung der Massenproduktion geführt. Die Leitfigur des digitalen Zeitalters ist das Produktionsindividuum ohne zahlendes Publikum und Reichweite, während Rezipienten zunehmend den Überblick im nie versiegenden Warenstrom verlieren. Auch Groys kommt in seinem Essay „Über das Neue“ zu der Schlussfolgerung, dass man eher von kulturindustrieller Massenproduktion als von kulturindustriellem Massenkonsum sprechen müsse. Die sozialen Netzwerke geben jedem Bürger mit Internetanschluss oder Smartphone die Möglichkeit, seine Fotos (Instagram), Videos (YouTube), Texte (Blogsoftware, Facebook) weltweit zugänglich zu machen – ohne Vertrieb oder Label. Groys übersieht bei seiner technikeuphorischen Darstellung allerdings, dass der Großteil dieser Waren im Internet versandet, ohne von Rezipienten und potenziellen Kunden je entdeckt zu werden. Dennoch prägt die Digitalisierung gleichermaßen Produktion und Rezeption, ohne dass dieser technische Paradigmenwechsel in den einzelnen Kunstwerken explizit genannt wird. Der Begriff Postinternet bezeichnet eher die technische Determiniertheit einer Künstler- und Rezipientengeneration als eine durch spezifische Techniken geprägte Kunstgattung. „Postinternet“ geht für die Kunsthistorikerin Hanna Magauer noch weiter: Die primären Institutionen der Wissensorganisation sind ihr zufolge gegenwärtig die Daten- und Wissenskonzerne und nicht mehr die Universitäten. Personen und Inhalte werden vergessen, wenn nicht mehr (online) über sie diskutiert wird. Jene Inhalte, die nicht gegoogelt werden können, verlieren an Relevanz, Suchergebnisse, die ab der vierten Seite erscheinen, werden kaum wahrgenommen. Das Internet beeinflusst also auch die Kanonisierung und Archivierung, nicht aber

211 Vergleiche Groys, Boris: Die Wahrheit der Kunst, in: https://www.nzz.ch/feuilleton/kunst_architektur/boris-groys-ueber-kunst-die-wahrheit-der-kunst-ld.110732, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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den Begriff des Kanons212 selbst. Nur wer zum Kanon gehört, bleibt langfristig sichtbar und grenzt sich von den kurzen Halbwertszeiten der Hypes und Trends ab. Der Kanon ist also Bühne des aktiven Ringens um haltbare Positionen. Dabei ist der Kanon nichts Starres und Unabänderliches; ein lebendiger Kanon sortiert laufend Ein- und Ausschlussbewegungen. Diese Definition umfasst mehr als konservative Vorstellungen zum Begriff Kanon, die aus der Gegebenheit eines Traditionszusammenhangs dessen verpflichtenden Charakter ableiten. Die Diskussion um den aktuell gültigen Kanon ist also mit aktuellen Werturteilen unterlegt und definiert sich über eine aktive Beziehung zur Tradition. Auch diese Position der Kritik kann sich nie gänzlich von der Tradition freimachen, gegen die sie sich wendet. Dabei bleibt aber „der Anspruch auf die Dimension der Allgemeinheit, die der Begriff ‚Kanon‘ impliziert, stets zurückgebunden […] an je spezifische Situiertheiten, deren Geltungsanspruch keine andere Grundlage haben kann als eben diese: dass er sich argumentativ exponiert und der Möglichkeit des Gegenarguments aussetzt“.213 Was das für die Kanondiskussion der Kunstwelt im Zeitalter ihrer digitalen Darstellbarkeit bedeutet, hat die britische Künstlerin Josephine Pryde prägnant formuliert: Ein Rätsel, ein Geist, ein Verschwinden. Ob man für oder gegen einen Kanon ist, darum geht es nicht. Wie sich der Kanon formt – Er formt und formt sich neu um Individuen.214

Die Crux dabei: Ohne Individuation kann es keine antikanonischen Bewegungen geben. Der Kulturtheoretiker Axel Stockburger hat in seiner Habilitationsschrift „Manifold Destiny“ die wichtigsten Transformationen innerhalb der westlichen Kultur nachgezeichnet, beginnend mit der Antike über den modernen Kanon bis hin zur gegenwärtigen Debatte, die immer stärker um die Frage der Digitalität kreist. Stockburger unterscheidet einen klassischen, einen modernen und einen zeitgenössischen Kanon.215 Das Wort Kanon hat seinen Ursprung im hebräischen und griechischen Wort für einen Stock mit Einkerbungen, der beim Hausbau verwendet wurde. Ursprünglich als Werkzeug für die Standardisierung eingesetzt, bezeichnet er heute einen Korpus von Gegenständen, die einem Maßstab entsprechen und daher positiv konnotiert sind. Die dem Kanon zugrunde liegenden Selektionsprozesse sind solche des Hierarchisierens (kanonisch versus apokryph)

212 213 214 215

Vergleiche dazu Vorwort, in: Texte zur Kunst. The Canon, 25. Jg., 100/2015, S. 5. Vergleiche dazu Vorwort, in: Texte zur Kunst. The Canon, 25. Jg., 100/2015, S. 5. Pryde, Josephine: Das Individuum, in: Texte zur Kunst. The Canon, 25. Jg., 100/2015, S. 113. Vergleiche Stockburger, Axel: Manifold Destiny, Wien 2016.

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und solche des Überlieferns und Tradierens (erinnern versus vergessen).216 Der Kanon fungiert zudem als Leitfaden, als Orientierungshilfe, als Regelwerk und als Referenzpunkt.217 Stockburger zählt in seiner Arbeit als maßgebliche Gatekeeper für die Erstellung eines Kanons Kunsthochschulen, Museen, den Markt, Kunstöffentlichkeit, Experten (mit den Unterkategorien Kunstkritiker und Kunsthistoriker) und Künstler auf. Diese personalen und institutionellen Gatekeeper beeinflussen einander, konkurrieren am Meinungsmarkt und bringen divergierende fachliche Perspektiven und Denksysteme ein, um einen ganzheitlich argumentierenden Kanon zu erstellen. Für die Gegenwart bestimmt Stockburger folgendes bestimmendes Charakteristikum des Kanons: It is embedded in digital culture, which means that the artworks themselves are increasingly referential and speculatively generating their own canons. Canonisation takes place in the global co-presence of countless spatio-temporal frameworks, often based on machinic assemblages, where algorithmic processes provide temporary order and normativity.218

216 Vergleiche Lauer, Gerhard/Ruhrberg, Christine (Hg.): Lexikon Literaturwissenschaft, Stuttgart 2011, S. 140. 217 Vergleiche Locher, Hubert: The Idea of the Canon and Canon Formation in Art History, Leiden/ Boston 2012, S. 3. 218 Stockburger, Axel: Manifold Destiny, Wien 2016, S. 209.

4.

Disruption der Medienbranche, Aufstieg der Datenund Wissenskonzerne

Im Jahr 2017 waren 20 der internationalen Medienkonzerne, die 1995, bei der Erstauflage von Lutz Hachmeisters globaler Branchenübersicht,219 noch im Ranking der 50 größten Medienkonzerne der Welt aufschienen, nicht mehr in der Rangliste vertreten. Der Grund für diese geradezu tektonischen Verschiebungen sind nicht länger die brancheninternen Hochs und Tiefs mit feindlichen Übernahmen und strategischen Fusionen, sondern technologiegetriebene Veränderungen und Innovationen, die von den sogenannten disruptiven Technologien ermöglicht und ausgelöst wurden. Durch den Siegeszug der digitalen Revolution haben sich Medien vom Speicher zum Verteiler gewandelt. Ein Sender richtet sich nicht mehr an ein disperses Publikum (1:n).220 Jeder Rezipient kann heute auch Sender (n:n) sein, wenngleich meist ohne monetarisierbare Reichweite, weshalb in der Praxis vorgefertigte Inhalte (Content-Marketing) und kommerziell geschaffene Öffentlichkeiten dominieren. Hachmeister sah sich deshalb 2017 gezwungen, sein Werk anders zu betiteln und zu erweitern. Nicht mehr Medienkonzerne, sondern in erster Linie die neuen Wissens- und Datenkonzerne entscheiden gegenwärtig darüber, welche Inhalte heute dem Rezipienten via Suchmaschinen, Streamingplattformen oder ganz klassisch als Waren angeboten werden. Zu den großen Medienkonzernen wie Sony Entertainment, Time Warner, Viacom und Bertelsmann (2017 erstmals seit 1995 nicht mehr unter den Top Ten)221 sind im 21. Jahrhundert neue Wissens- und Datenkonzerne gestoßen, die bisherige Usancen auf den Kopf gestellt haben. Die großen Vier der Onlineindustrie (Google, Apple, Facebook und Amazon) – von den akronymverliebten Akteuren des Silicon Valley oft auch „GAFA“ genannt – machen den traditionellen Anbietern der Bewusstseinsindustrie – durch das Sammeln von Nutzerdateien sowie durch neue Produkte (Serverfarmen, Streamingportale) – nicht nur Marktanteile auf dem Werbemarkt streitig, indem sie das Freizeitbudget der Rezipienten anknabbern, sondern sie bauen auch massiv die Produktion von eigenen Inhalten aus. So erweitert beispielsweise Facebook sein Portfolio und positioniert sich als offener Nachrichtenkanal und beschränkt sich nicht mehr auf Social Media. Auch Google hat sich von einem Suchmaschinenanbieter zu einem

219 Vergleiche Hachmeister, Lutz/Wäscher, Till: Wer beherrscht die Medien?, Köln 2017. 220 Vergleiche Bunz, Mercedes: Die Geschichte des Internet, Berlin 2008. 221 Vergleiche Hachmeister, Lutz/Wäscher, Till: Wer beherrscht die Medien?, Köln 2017, S. 183ff.

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onlinebasierten Medienkonzern weiterentwickelt. Mit YouTube Red betreibt Google einen globalen Quasikabelkanal, der Inhalte Dritter gegen Bezahlung anbietet, während Gratisinhalte durch Werbung finanziert werden. Traditionellen Medienund Inhalteanbietern droht das Schicksal, zu Zulieferern digitaler Monopolisten degradiert zu werden. Der Kultur- und Medienkonsument kann bereits heute ohne Zugriff auf traditionelle Medienkanäle sein Leben gestalten: Er hört Musik via YouTube,222 verfolgt Trends und aktuelle Moden der Kunstwelt auf Instagram, sieht sich Serien auf Streamingplattformen an oder lädt sich Filmklassiker über illegale Filesharing-Plattformen herunter. Die traditionellen Medienanbieter beklagen Cord-Cutters beziehungsweise Cord-Nevers,223 das sind Rezipienten, die Kabelanschlüsse abmelden und zu Streamingplattformen abwandern beziehungsweise nie (mehr) lineares Fernsehen konsumieren werden, da diese Kulturtechnik für sie obsolet ist. Die Strategien und Geschäftsmodelle von Medienunternehmen (Inhalteerstellern), Infrastrukturbetreibern (Netzbetreibern, Providern, Serverfarmen) und Mediatoren (Plattformen) konkurrieren miteinander.224 Dabei stellen die Netzbetreiber die physische Infrastruktur für Unternehmen und Endverbraucher gegen Entgelt zur Verfügung. Die Anbieter digitaler Inhalte vertreiben ihre Waren über das Netz, wobei es ihnen wegen der One-Copy-Economy immer schwerer fällt, mit Inhalten Geld zu verdienen. Plattformen wie Facebook und YouTube produzieren selbst keine Inhalte, sondern überlassen das ihren Nutzern. Die rezenten Entwicklungen verlaufen offen, dennoch führt die Verzahnung der traditionellen Medienindustrie mit den Wissens- und Datenkonzernen zu einer neuen Morphologie. Diese Transformation hin zu einem digitalen Kapitalismus hat Endgeräte wie Personal Computer und Mobiltelefone zur Massenware gemacht und durch die Erfindung des Internets die nun vernetzten Endgeräte als Metastruktur einer globalen digitalen Ökonomie etabliert.225 Die Daten- und Wissenskonzerne ope-

222 Vergleiche dazu die Nielsen-Studie „YouTube-wichtigste-Musik-Quelle-fuer-Jugendliche“, in: http://www.musikmarkt.de/Aktuell/News/Nielsen-Studie-YouTube-wichtigste-Musik-Quelle-fuerJugendliche, letzter Zugriff: 11.07.2022. 223 Vergleiche zu diesen Begriffen die Artikel http://www.npr.org/sections/alltechconsidered/ 2015/10/14/448579937/what-do-we-know-about-people-who-dont-and-never-did-have-cable beziehungsweise https://clearbridgemobile.com/the-cord-nevers-how-millennials-are-driving-themobile-video-revolution, beide letzter Zugriff: 11.07.2022. 224 Vergleiche die zehnteilige Artikelserie „Understanding Digital Capitalism“ der Onlinezeitschrift „Das Filter“, in: http://dasfilter.com/gesellschaft/tcp-ip-politics-content-carrier-und-plattformunderstanding-digital-capitalism-teil-16, letzter Zugriff: 11.07.2022. 225 Vergleiche Daum, Timo: In was für Zeiten leben wir? – eine Einführung, in: http://dasfilter.com/ gesellschaft/introducing-understanding-digital-capitalism-in-was-fuer-zeiten-leben-wir, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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rieren dabei weltweit als neue Gatekeeper226  – mit einer Tendenz zum Oligopol oder Monopol. Digitaler Kapitalismus wird jene Wirtschaftsform genannt, die den Austausch digitaler Informationen über Datennetze in den Mittelpunkt der ökonomischen und gesellschaftlichen Aktivitäten stellt. Die Erzeugung, Auswertung und der Handel mit Informationen bilden die Grundlage der Wirtschaft. Der Begriff digitale Revolution hat sich als Synonym für die Fortschritte der Computertechnik eingebürgert. Von einer Revolution zu sprechen, ist insofern angebracht, als jedem digitalen Datentransfer die Faktoren Kopie, Kommunikation und Ökonomie wesensmäßig zugrunde liegen.227 Erstens ist jede digitale Informationseinheit, egal ob Bild, Schrift oder Ton, leicht kopierbar. Daten ohne Qualitätsverlust zu kopieren und zu vervielfältigen, ist eine der Grundoperationen jedes Personal Computers. Original und Kopie sind qualitativ identisch, und die Datei nutzt sich durch Gebrauch nicht ab. Zweitens ist jeder Kommunikationsakt dezentral organisiert. Das bringt mit sich, dass weltweit jeder PC-User zugleich Empfänger und Sender sein kann. Drittens sind viele Informationen im Internet gratis oder de facto kostenlos. Diese Faktoren haben in den westlichen Kulturindustrien ein Erdbeben ausgelöst. Nach der kurzen Blütezeit des illegalen Filesharings zu Beginn des Jahrtausends geht auch die Ära der Digitalkopie (CD, DVD, USB) zu Ende. Die Notwendigkeit, digitale Information physisch zu besitzen, fällt durch Streaming on Demand und Cloud Computing weg. Die ständige Verfügbarkeit eines einzigen Originals reicht aus und ersetzt den speicherplatzintensiven Erwerb von Kopien. Streaming und Cloud Computing machen auch die klassischen Vertriebswege der Tonträger-, Bücher- und Filmindustrie überflüssig. Diese neue Informationsökonomie formt mit ihren Geschäftsmodellen und Produkten die infrastrukturelle, ideologische und technische Weiterentwicklung unserer Welt. Das Internet ist die Basisinfrastruktur aller Dienstleistungen der netzwerkbasierten Wirtschaft, was für viele Menschen eine hohe Eintrittsbarriere darstellt. Nur wer eine stabile Internetverbindung hat, kann an der neuen Netzwerkökonomie teilhaben. Es scheint der Digitalisierung

226 Die Metapher vom Gatekeeper stammt aus der Nachrichtenselektionsforschung. Der Gatekeeper bestimmt und entscheidet, welche Themen zu Nachrichten werden und welche nicht. Diese Gatekeeper-Funktion ist heute zumindest partiell von Journalisten und traditionellen Medien zu den Suchmaschinenanbietern und Datenkonzernen abgewandert. 227 Vergleiche Spiegel, André: Die Befreiung der Information, Berlin 2006, S. 149ff.

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eine Tendenz zur Monopolisierung228 inhärent zu sein.229 Bei den Suchmaschinen (Google), bei den Sozialen Medien (Facebook), beim Einkaufen (Amazon) – in diesen drei Bereichen setzte sich jeweils ein Anbieter durch und verdrängte seine Konkurrenten, was sich durch den Netzwerkeffekt erklären lässt. Das Netz kennt keine nationalen Wettbewerbsvorteile und Gesetze, und je größer die Zahl der aktiven Nutzer ist, desto attraktiver wird der Dienst für die Benutzer. Die wirtschaftliche Potenz der vier dominierenden Daten- und Wissenskonzerne ist nicht ihre wahre Stärke, sie erwirtschaften weniger als 1 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Die Daten- und Wissenskonzerne haben die globale Wirtschaft auf einer anderen Ebene nachhaltig revolutioniert: Sie haben die etablierten Erwerbsmodelle und Verwertungsketten der Nachrichten- und Unterhaltungsindustrie und das Rezipientenverhalten komplett verändert. Zudem ist die Macht der Unternehmen im Internetzeitalter oft extrem kurzlebig. Die 1990er Jahre bestimmende Konzerne wie AOL und Yahoo sind zu Fußnoten degradiert worden; Konzerne wie Sony, Bertelsmann und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter kämpfen um ihre Legitimität. Von den Top 50 in Hachmeisters Ranking haben nur noch Bertelsmann, Lagardère Media und Advance Publications230 Printhäuser, die für die Geschäftsgebarung dieser Unternehmen entscheidend sind, in ihren Portfolios. Ihre kulturwissenschaftliche Bedeutung erhalten die Daten- und Wissenskonzerne nicht durch brancheninterne Portfoliobereinigungen und -umschichtungen, sondern einerseits durch die Endgeräte und Services und damit die Art, wie Rezipienten Informationen kaufen und nutzen, und andererseits durch das von diesen Unternehmen transportierte Menschenbild. Fast das gesamte Führungspersonal im Silicon Valley vertritt einen spirituell unterfütterten Anarchokapitalismus, der den US-amerikanischen Gründungsmythos des „Go West“ der Siedler im 21. Jahrhundert fortschreibt. Die Patin dieser Bewegung, die „Pulp“-Autorin Ayn Rand,231

228 Wenn ich über den Zentralverband antiquarischer Bücher im Buchhandel vergriffene Bücher bestelle, verbleibe ich in der Onlinewelt, da der Bücheronlinemarkplatz des Unternehmens AbeBooks 2008 von Amazon übernommen wurde. Wenn ich für diese Arbeit „wiso“, die wissenschaftliche Datenbank für Hochschulen, nutze, verwende ich ein Produkt der Genios Deutsche Wirtschaftsdatenbank GmbH, einem kommerziellen Anbieter von elektronischen Presse-, Unternehmensund Wirtschaftsinformationen. Selbst die wissenschaftliche Recherche ist mittlerweile also quasi monopolisiert. 229 Die Frage, ob das technologisch oder politisch determiniert ist, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Es ist aber erstaunlich, dass die Politik keine funktionierenden Kartellgesetze beschließen konnte. 230 Vergleiche Hachmeister, Lutz/Wäscher, Till: Wer beherrscht die Medien?, Köln 2017, S. 38. 231 Vergleiche Freedland, Jonathan: The New Age of Ayn Rand: How she Won over Trump and Silicon Valley, in: https://www.theguardian.com/books/2017/apr/10/new-age-ayn-rand-conquered-trumpwhite-house-silicon-valley, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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entwarf in ihren Romanen und ihrer „philosophischen“ Lehre des Objektivismus einen libertären Totalitarismus. Rand erklärte Egoismus zur Tugend, Märkte für unfehlbar und Individualität für wichtiger als Gemeinschaft. Sie wurde zur entscheidenden Stichwortgeberin der Freien-Märkte-Philosophie der Reagan-/ Thatcher-Jahre, hatte mit Alan Greenspan einen US-Notenbank-Vorsitzenden als Parteigänger ihrer Ideen und auch im Kabinett von Präsident Trump befanden sich zahlreiche Fürsprecher Rands,232 die mit ihrer Ideenwelt neben der Politik und der Wirtschaftswissenschaft (Chicagoer Schule der Ökonomie, Österreichische Schule) auch das Wertefundament des Silicon Valley wesentlich mitbestimmt hat. Der Begriff Silicon Valley wurde als Name für das nur etwa 4000 Quadratkilometer große Gebiet nördlich von San Francisco geprägt und gilt mittlerweile als Überbegriff für alle Hochtechnologiefirmen dieser Region. Der von Richard Barbrook und Andy Cameron „kalifornische Ideologie“ genannte Glaube ist eine verstörende Mischung aus Kybernetik, Technikgläubigkeit, Marktpropaganda und libertären Versatzstücken der Gegenkultur der 1960er Jahre, welche die behaupteten emanzipatorischen Effekte der Technologie mit einer generellen Staatsskepsis233 verbindet.234 Der Text erschien 1995, also lange vor der Gründung von Google und Facebook und als Amazon erst ein Jahr alt war. Die Mitglieder der „virtuellen Klasse“235 haben Marktradikalismus, Technologiedeterminismus und die Werte der Gegenkultur zu einem Hybrid amalgamiert, die dem einzelnen Bürger und Konsumenten in den technologieeuphorischen 1980er und 1990er Jahren „Vorsprung durch Technik“ predigte. Diese Weltanschauung ist weniger emanzipatorisch als neoreaktionär, wie die Schlussfolgerung von Josephine Armistead236 in ihrem Artikel „Silicon Ideology“ lautet. Folgende acht Kernwerte sieht die Verfasserin im Zentrum dieser Bewegung:237 1. Transhumanismus (Ray Kurzweil) und der Glaube an Technologie; unter Transhumanismus versteht die Verfasserin eine Bewegung, die mittels Technologie das menschliche Leben verbessern, erweitern und veredeln will;

232 Vergleiche Hohmann, James: Ayn Rand-acolyte Donald Trump stacks his cabinet with fellow objectivists, in: https://www.washingtonpost.com/news/powerpost/paloma/daily-202/2016/12/13/ daily-202-ayn-rand-acolyte-donald-trump-stacks-his-cabinet-with-fellow-objectivists/584f5cdfe9b69b36fcfeaf3b/?utm_term=.a7fd66a576b7, letzter Zugriff: 11.07.2022. 233 Entgegen dem Selbstbild basiert die wirtschaftliche Macht des Silicon Valley auf staatlicher Grundlagenforschung und militärischer Förderung von Forschung und Entwicklung. 234 Vergleiche Barbrook, Richard/Cameron, Andy: The Californian Ideology, in: http://www.metamute. org/editorial/articles/californian-ideology, letzter Zugriff: 11.07.2022. 235 Vergleiche Barbrook, Richard/Cameron, Andy: The Californian Ideology, in: http://www.metamute. org/editorial/articles/californian-ideology, letzter Zugriff: 11.07.2022. 236 Dieser Name ist ein Pseudonym. 237 Vergleiche Armistead, Josephine: The Silicon Ideology, in: https://archive.org/details/the-siliconideology, S. 9, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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2. Befürwortung einer autoritären Regierung und eines schlanken Staats;238 3. Anfeindung eines behaupteten linksliberalen Mainstreams (Feminismus, Quoten) und Ablehnung von politischer Korrektheit; 4. Eugenik, Sozialdarwinismus und biologischer Determinismus; 5. Glaube an die Österreichische Schule der Ökonomie; 6. latente und manifeste Frauenfeindlichkeit; 7. popkulturelle Bezugnahme auf Computerspiele (Kriegsspiele, Ego-Shooter etc.) und auf Filme wie „Matrix“; 8. gezielte Einschüchterung durch Onlinekampagnen (Breitbart, Desinformationskampagnen, Fake-News). Die inhaltlichen Schwerpunkte dieser oft widersprüchlichen und sprunghaften radikal-libertären Ideologie verfolgen für Hachmeister eine klare Strategie: „eine spirituell unterfütterte, anarchokapitalistische Weltherrschaft der USA“, welche die „unbedingte Durchsetzung digitaler Distributions- und Berechnungstechnologien“ anstrebe.239 Die „Auserwählten“ der technologischen Intelligenz und Unternehmenseliten entwerfen und planen das Internet „als frei schwebende Sphäre, entkoppelt von der Realität, außerhalb von Raum und Zeit, losgelöst von traditionellen Mächten, Regeln und Strukturen“.240  Dem Anspruch, ein besseres Gemeinwesen als Staaten und Regierungen planen und gestalten zu wollen, stehen in der Realität Intransparenz und Steuervermeidung241 und neue Monetarisierungsmodelle gegenüber. Nicht mehr nur der Inhalt, sondern auch – und vor allem – das Wissen über die Nutzer wird gewinnbringend verkauft. Die drohenden negativen Auswirkungen dieses transhumanistischen Weltbilds hat eine Gruppe von Wissenschaftlern dazu veranlasst, in der „Neuen Zürcher Zeitung“ ein Manifest „Wider den Transhumanismus“ zu veröffentlichen. Die eindringliche Warnung deckt die Irrationalität transhumanistischer Ideen auf und begründet deren Gefährlichkeit mit dem reduktionistischen Menschenbild der Technikapologeten, welches auf drei verheerenden Grundannahmen aufbaut: „1. Die Wirklichkeit ist die Totalität aller Information.

238 Donald Trump wurde von Vertretern der Silicon-Ideology wie dem Investor Peter Thiel während seines Wahlkampfes unterstützt. 239 Vergleiche Hachmeister, Lutz/Wäscher, Till: Wer beherrscht die Medien?, Köln 2017, S. 16. 240 Vergleiche Daum, Timo: Kritik der Kalifornischen Ideologie I, in: http://dasfilter.com/gesellschaft/kritik-der-kalifornischen-ideologie-i-understanding-digital-capitalism-teil-7, letzter Zugriff: 11.07.2022. 241 Vergleiche Neuhaus, Carla: Streit um mehr Transparenz für Großkonzerne, in: http://www. tagesspiegel.de/wirtschaft/steuervermeidung-durch-google-amazon-und-co-streit-um-mehrtransparenz-fuer-grosskonzerne/13644964.html, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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2. Menschen sind Informationsobjekte. 3. Künstliche Intelligenz ist Intelligenz im menschlichen Sinne.“242 Die Grundlagen für diese überbordende Technikeuphorie haben die rasante Entwicklung der IT und die Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche durch das Internet geschaffen. Das Web als zentrale Plattform für alles, was mit Information und Kommunikation zu tun hat, wird gegenwärtig durch den Trend zur Zentralisierung der Infrastruktur in Datenzentren geprägt. Anstatt einer oft vorhergesagten Dezentralisierung werden Daten in von kommerziellen Unternehmen kontrollierten Datenbanken tendenziell immer zentraler verwaltet. Diese Strategie der Bündelung des Netzes in Datenzentren könnte ironischerweise doch noch die oft belächelte Aussage des ehemaligen IBM-Chefs Thomas Watson, wonach die Welt nur fünf Computer brauche, wahr werden lassen.243 Im Netz als Adressraum für den Zugang zu Dokumenten ist jede Informationseinheit über einen Uniform Resource Locator (URL) abrufbar. Das Internet mit den Merkmalen Aktualität, Interaktivität, Hypertextualität und Speicherkapazität hat kein eigenes Index- und Katalogsystem. Inhalte und ihre Organisation, Suche und Speicherung werden durch die Technik vorstrukturiert. Erst Suchmaschinen bringen für die Anwender Ordnung in die unübersichtliche Architektur.244 Mit ihren komplexen Algorithmen sind sie für den Anwender leicht und ohne spezielle Kenntnisse benutzbar. Jeder Suchmaschine liegt ein Algorithmus zugrunde. Der Informationswissenschaftler Ted Striphas beschreibt die Geschichte und Funktion dieses Begriffs: Algorithm comes to modern English from Arabic by way of Greek, medieval Latin, Old French and Middle English. Historically, it has maintained close ties to the Greek word for number, arithmós (αριθμóς), from which the English form arithmetic is derived. Algorithm’s most common contemporary meaning – a formal process or set of step-bystep procedures, often expressed mathematically – flows from this connection. […] In fact, the word is a „mangled transliteration“ of the surname of a 9th century mathematician, Abū Jafar Muh.ammad ibn Mūsā al-Khwārizmī, who lived much of his life in Persia.245 242 Vergleiche Franck, Georg/Spiekermann,Georg/Hampson, Peter/Ess, Charles M./Hoff, Johannes/Coeckelbergh, Mark: Wider den Transhumanismus, in: https://www.nzz.ch/meinung/ kommentare/die-gefaehrliche-utopie-der-selbstoptimierung-wider-den-transhumanismus-ld. 1301315?utm_content=buffera774a&utm_medium=social&utm_source=facebook.com&utm_ campaign=buffer, letzter Zugriff: 11.07.2022. 243 Vergleiche Lovink, Geert: Die Gesellschaft der Suche, in: Becker, Konrad/Stalder, Felix (Hg.): Deep Search, Innsbruck/Wien/Bozen 2009, S. 62. 244 Vergleiche Rieder, Bernhard: Demokratisierung der Suche?, in: Becker, Konrad/Stalder, Felix: Deep Search, Innsbruck/Wien/Bozen 2009, S. 152f. 245 Striphas, Ted: Algorithmic Culture, in: European Journal of Cultural Studies 4–5/2015, S. 403; Hervorhebung so im Original.

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Algorithmen stehen am Beginn jeder Suchanfragebearbeitung. Der Nutzer schreibt ein oder mehrere Schlagwörter in eine Suchmaske und bekommt dann eine geordnete Liste von Seiten, welche die gesuchten Begriffe enthalten. Der Anbieter Google verwendet dabei das sogenannte PageRank-Verfahren, das der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Rieder wie folgt definiert: PageRank is the mechanism by which the Web is no longer treated exclusively as a document repository, but additionally as a social system. Every document in the corpus is already projected as a member of a stratified network/society before the searching even begins. The classic IR (information retrieval) idea of relevance – always conceived in relation to a specific „informational need“ – is complemented by the sociometric concepts of status and authority. More precisely, because linking is framed as the rational attribution of importance, the social system can be seen as a legitimate „source“ of a singular and universal understanding of authority.246

Die Ergebnislisten der Suchmaschinen werden nach Häufigkeit und soziometrischen Kategorien und nicht nach inhaltlichen Qualitätsmerkmalen sortiert, auf editorische und/oder redaktionelle Auswahl wird verzichtet. Durch das Ranking der Ergebnisse teilt sich das Netz in Haupt- und Nebenstraßen, wobei es von wenigen hochgerankten Seiten dominiert wird, ein Umstand, der durch den Anglizismus „Googlearchy“ konzis ausgedrückt wird. Neben diesem offiziellen Index werden in einem zweiten Index von den Suchmaschinenanbietern persönliche und statistisch auswertbare Informationen über die Nutzer gesammelt. Diese Daten werden von den Unternehmen für die Verhaltensvoraussage und das Targeting247 verwendet. Dieser zweite Index zeichnet Standard-Login-Informationen wie IP-Adresse, Suchanfragen, Klickverhalten, Verlaufsdaten, Ort, Datum, Zeit, Browser et cetera auf und ist nicht öffentlich zugänglich. Diese Metadaten liefern Informationen über die Kommunikation in Netzwerken, ohne auch die Inhalte dieser Kommunikation zu erfassen. Die Wissenskonzerne verwenden Metadaten, um Daten zu unterscheiden, zu vergleichen, zu listen und zu gruppieren.

246 Rieder, Bernhard: What Is Page Rank?, in: Computational Culture. A Journal of Software Studies, 2/2012, S. 5; Hervorhebung so im Original. 247 Vergleiche Grasegger, Hannes/Krogerus, Mikael: Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt, in: https://www.dasmagazin.ch/2016/12/03/ich-habe-nur-gezeigt-dass-es-die-bombe-gibt/ beziehungsweise die Kritik an diesem Ansatz von Ebbinghaus, Uwe: Wer bändigt Big Data in der Politik?, in: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/digitalewaehlerbeeinflussung-wer-baendigt-big-data-in-der-politik-14578115.html und Christl, Wolfie: An ihren Daten sollt ihr sie erkennen, in: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/big-data-imwahlkampf-ist-microtargeting-entscheidend-14582735.html?printPagedArticle=true, alle letzter Zugriff: 11.07.2022.

Disruption der Medienbranche, Aufstieg der Daten- und Wissenskonzerne

Je nach Verwendungszusammenhang und Verwertungsinteresse können dabei Typ des Datums (Text, Zahl, Bild, Programm), die möglichen Werte des Datums (Alphabet, Numerik, Kontraste, Funktionen), der Definitionsbereich des Datums (Gegenstandsbereich, Domain), die Zugänglichkeit des Datums (Code) und nicht zuletzt die möglichen Aktionen des Datums (Operationen) bestimmt und unterschieden werden.248

Anbieter von anderen Dienstleistungen verwenden Algorithmen mit anderen Funktionalitäten. Amazon nutzt auf seiner Verkaufsplattform das sogenannte kollaborative Filtern, welches auf Verkaufsempfehlungen aufbaut und als aktivierendes Marketingwerkzeug beim Endkunden eingesetzt wird. Greg Linden und Jeremy York haben das Spezifische dieses Algorithmus bestimmt: „Rather than matching the user to similar customers, item-to-item collaborative filtering matches each of the user’s purchased and rated items to similar items, then combines those similar items into a recommendation list.“249 Hieraus wird deutlich, welche entscheidende Rolle Algorithmen beim Filtern, Auswählen und Verknüpfen von Informationen zukommt. Der Algorithmus von Google baut auf der bibliometrischen Methode auf, auf deren Grundlage der Informationswissenschaftler Eugene Garfield den Science Citation Index (SCI) entwickelt hat. Die Bibliometrie250 analysiert bibliografische Informationen und wertet vorhandene strukturierte und leicht zugängliche Daten aus. Zu diesen gehören Autor, Erscheinungsjahr, Schlagwörter und Zusammenfassungen. Die Bibliometrie befasst sich also in erster Linie mit dem Output und nicht mit den Inhalten der Wissensproduktion. Die Bibliometrie wiederum leitet sich von der Soziometrie251 ab, die Jacob L. Moreno als mathematische Darstellung der psychischen und sozialen Strömungen innerhalb einer Bevölkerung definierte, um menschliches Verhalten exakter zu erforschen. Ihre sozialethische Bedeutung erhalte die Soziometrie durch ihre Exaktheit, womit sie zur Befreiung der Menschen tendiere. Die Soziologie bilde die These, der Sozialismus die Antithese und die Soziometrie die Synthese. Die Soziologie werde erst durch die Soziometrie zur Wissenschaft. Der Glaube an die universelle Anwendbarkeit dieser neuen Methode war

248 Vergleiche Becker, Dirk: Metadaten, in: Geiselberger, Heinrich/Moorstedt, Tobias: Big Data, Berlin 2013, S. 161, weiterführend: Cormen, Thomas A.: Algorithms, Unlocked, Cambridge (Masachussetts) 2013; Mc Cormick, John: Nine Algorithms That Changed the Future. The Ingenious Ideas That Drive Today´s Computers, Princeton 2012. 249 Vergleiche Linden, Greg/York, Jeremy: Amazon.com Recommendations: Item to Item Collaborative Filtering, in: IEEE Internet Computing 7, 1/2003, S. 78. 250 Vergleiche Havemann, Frank: Einführung in die Bibliometrie, http://www.wissenschaftsforschung.de/Havemann2009Bibliometrie.pdf, letzter Zugriff: 11.07.2022. 251 Vergleiche Moreno, Jacob: Die Grundlagen der Soziometrie, Opladen 1974, S. XIXff.

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enorm. Moreno erwartete sich von ihr einen Beitrag zur Lösung der Konflikte zwischen kommunistischen und demokratischen Gesellschaften. Er war überzeugt, mit der Soziometrie ein Maß für die Beziehungen zwischen den Menschen gefunden zu haben. Die Soziometrie vermöge es, die allen Gruppenhandlungen zugrunde liegenden Gefühle aufzudecken, mit mathematischer Genauigkeit zu messen und neu zu ordnen.252 Die Soziometrie befasst sich also mit dem mathematischen Studium psychologischer Eigenschaften der Bevölkerung, wobei das Qualitative stets im Quantitativen enthalten ist – mit den experimentellen Methoden und den Ergebnissen, die aus der Anwendung quantitativer Prinzipien resultieren. Um den Charakter soziometrischer Daten zu erwerben, müssen psychologische, soziologische, kulturelle, ökologische, biologische und andere Kategorien in ein Soziogramm verpackt und innerhalb dieses Zusammenhangs analysiert werden. Moreno hatte damals kaum absehen können, dass die Soziometrie eines Tages zur Grundlage von Bibliometrie und den Google-Algorithmus werden und damit die Architektur des Netzes prägen würde.

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Der Computational Turn und seine Auswirkungen auf Selbstverständnis und Methodik der Wissenschaft

Die Petabytes von Daten, gelistet und jederzeit abrufbar im ersten und zweiten Index einer einzigen Datenbank, waren für den „Wired“-Autor Chris Anderson der Ausgangspunkt, um in einem Artikel vollmundig das „Ende der Theorie“ zu verkünden.253 Vor 60 Jahren machten Computer Informationen maschinell lesbar, heute sind diese für jeden mit Netzanschluss zugänglich. Durch Suchmaschinen und den damit unbegrenzten Zugang zu maschinell lesbaren Informationen beginnt das Zeitalter von Big Data, wobei der Begriff verwendet wird, um die Bearbeitung, Auswertung und Monetarisierung von Informationen zu beschreiben. Auch der Begriff Computational Turn254 beschreibt die zunehmende Messbarkeit aller menschlichen Tätigkeiten und ihre Transformation in quantifizierbare Daten: „Datafication as a legitimate means to access, understand and monitor people’s behaviour is becoming a leading principle, not just amongst techno-adepts, but also amongst scholars

252 Diese Datengläubigkeit ist heute noch weit verbreitet, wie die monatelangen Diskussionen, ob die US-Wahl 2016 durch den Einsatz von psychografischen Methoden entschieden worden sei, belegt. Vergleiche zu dieser Diskussion beispielsweise Beuth, Patrick: Big Data allein entscheidet keine Wahl, in: http://www.zeit.de/digital/internet/2016-12/us-wahl-donald-trump-facebook-big-datacambridge-analytica, letzter Zugriff: 11.07.2022. 253 Vergleiche dazu https://www.wired.com/2008/06/pb-theory, letzter Zugriff: 11.07.2022. 254 Vergleiche Berry, David M. (Hg.): Understanding Digital Humanities, New York 2012, und Braidotti, Rosi: The Posthuman, Cambridge 2013.

Der Computational Turn und seine Auswirkungen auf Selbstverständnis und Methodik

who see datafication as a revolutionary research opportunity to investigate human conduct.“255 Der unbegrenzte Zugriff auf Daten verändert die Arbeitsweisen von kommerziellem Marketing und Grundlagenforschung. Der Zugang zu den Daten wird an Marktteilnehmer verkauft, die diese erwerben, um Zielgruppen und ihr Verhalten besser vorhersagen zu können. Für die Sozial- und Kulturwissenschaften werfen diese grundlegenden Veränderungen die Frage auf, wie Technologie die Forschung beeinflusst und wie die neuen Technologien in das wissenschaftliche Arbeiten eingebaut werden können. Rob Kitchin hat vier mögliche Fehlerquellen eines Big-Data-gestützten Empirismus identifiziert: 1. Big Data can capture the whole of a domain and provide full resolution; 2. there is no need for a priori theory, models or hypotheses; 3. data can speak for themselves free of human bias or framing; 4. meaning transcends context or domain-specific knowledge.256

Die leichtere Verfügbarkeit von Daten verändert die Industrie, das Konsumverhalten und das wissenschaftliche Denken. Die Modewörter Big Data und Computational Turn wurden zum Ausgangspunkt für einen neuen Methodenstreit. Wie bei der Kritik am eindimensionalen Menschenbild der kalifornischen Ideologie hat auch diese Debatte ein Journalist angestoßen: Anderson behandelte in seinem Essay257 aber nicht nur Fragen bezüglich sich verändernder Methoden durch computerunterstützte Forschungsdesigns und der damit einhergehenden ethischen Fragen, er erklärte angesichts der tendenziell unendlichen Datenmengen kurzerhand die gesamte wissenschaftliche Theoriebildung für obsolet. Anderson plädierte aufgrund der Vermessung des Alltags für die Verbannung von Theorie und Theoriebildung aus sämtlichen Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit menschlichem Verhalten beschäftigen, und begründete seine Forderung mit einer abenteuerlichen Erklärung: „Wer weiß schon, warum Menschen sich so verhalten, wie sie sich gerade verhalten? Der springende Punkt ist, dass sie sich so verhalten und dass wir ihr Verhalten mit einer nie gekannten Genauigkeit nachverfolgen und messen können. Hat man erst einmal genug Daten, sprechen die Zahlen für sich selbst.“258 Diese These ist aus mehreren Gründen beachtlich. Laut Anderson versetzt das Vorhandensein von großen Datenmengen Wissenschaftler in die Lage, folgende Aussage zu tätigen:

255 Vergleiche Van Dijck, José: Datafication, Dataism and Dataveillance, in: Surveillance & Society 12, 2/2014, S. 198; Hervorhebung so im Original. 256 Kitchin, Rob: The Data Revolution, London 2014, S. 133–137. 257 Vergleiche dazu Anderson, Chris: Das Ende der Theorie, in: Geiselberger, Heinrich/Moorstedt, Tobias: Big Data, Berlin 2013, S. 124–130. 258 Vergleiche Anderson, Chris: Das Ende der Theorie, in: Geiselberger, Heinrich/Moorstedt, Tobias: Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenheit, Berlin 2013, S. 126.

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„Korrelationen reichen aus“.259 Die Wissenschaft brauche Modelle und Theorien nicht länger, da aufgrund der vielen Daten auf induktivem Wege menschliches Verhalten exakt prognostiziert werden könne. Der Prototyp dieses Forschers untersucht Daten, ohne auf Thesen und/oder Theorien zu vertrauen. Er hat kein Ziel, fährt aber los und wartet darauf, dass die Algorithmen Muster aufspüren, wo der menschliche Verstand und/oder die Theoriebildung versagen. Die Verfügbarkeit von Daten und statistischen Hilfsmitteln verleitet den technikgläubigen Anderson zu der Aussage, dass die Wissenschaft dank Big Data nun in der Lage sei, die Welt „auf vollkommen neue Weise zu verstehen. Korrelationen machen Kausalitäten überflüssig, und die Wissenschaft kann auch ohne kohärente Modelle, ohne Große [sic] vereinheitliche Theorien Fortschritte machen“.260 Anderson glaubt also daran, dass die Datenschwemme wissenschaftliche Methoden überflüssig mache, und er schließt seinen Essay mit der Aufforderung an die Wissenschaft, von Google zu lernen. Big Data steht also nicht nur für neue quantitative und qualitative Datenanalyse auf Grundlage der exponentiell ansteigenden Speicher- und Auswertungskapazitäten, sondern auch für das Versprechen, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Mit großen Datenmengen, so das Versprechen der neuen Technikwelt, ließen sich Studien wirklichkeitsnäher und trennschärfer planen, Ressourcen effizienter einsetzen, und der gesamte Forschungsprozess könne für die Wissenschaftsgemeinde transparenter dargestellt und durchgeführt werden. Große Datenmengen werden mittlerweile also als Heilsbringer und nicht mehr, wie in den Jahrzehnten zuvor, als Gefahr und Belastung – Stichwort „Informationsflut“261  – gesehen. Diese Begeisterung für Rohdaten und Data-Mining führt bisweilen zu bizarren Forschungsergebnissen. So hat etwa der Informatiker David Kriesel bei seiner Rede anlässlich der Jahrestagung des Chaos Computer Clubs 2016 gezeigt, wie er anhand von Metadaten „Spiegel“-Artikel „auswerten“ könne, ohne ihre Inhalte zu lesen.262 Sein Vortrag bietet zahlreiche eindrucksvolle Lehrbeispiele für Scheinkorrelationen. So „belegt“ Kriesel anhand der Veröffentlichungszeiten der Artikel, dass Redakteure des Kulturressorts später mit der Arbeit begännen als ihre Kollegen, fragt aber nicht nach, ob das mit der Tatsache zu tun haben könnte, dass Vernissagen, Konzerte, Veranstaltungen und Theateraufführungen meistens am Abend stattfinden. Auf 60 Folien untersucht er Rubriken, Veröffentlichungszeitpunkte und Keyword-Verwandtschaften und zeigt,

259 Vergleiche Anderson, Chris: Das Ende der Theorie, in: Geiselberger, Heinrich/Moorstedt, Tobias: Big Data, Berlin 2013, S. 128. 260 Anderson, Chris: Das Ende der Theorie, in: Geiselberger, Heinrich/Moorstedt, Tobias: Big Data, Berlin 2013, S. 130. 261 Den Begriff hat 1970 der US-amerikanische Futurologe Alvin Töfler geprägt. 262 Vergleiche Kriesel, David: Spiegel Mining, in: http://www.dkriesel.com/_media/blog/2016/ spiegelmining-33c3-davidkriesel.pdf, letzter Zugriff: 11.07.2022.

Der Computational Turn und seine Auswirkungen auf Selbstverständnis und Methodik

dass mittels Rohdatenanalyse auch quantitative Daten (Ressort A veröffentlicht X Artikel, Ressort B veröffentlicht Y Artikel) generiert werden können, ohne sich mit dem jeweiligen Artikel und seinem Inhalt auseinanderzusetzen. Dieser vergnügliche Vortrag des Technikdeterministen Kriesel ist Fanal für den Glauben an die Segnungen der Rohdatenanalyse. Wenn es technisch möglich ist, wird jeder Sachverhalt untersucht, wenngleich weder Erkenntnisinteresse noch Forschungsdesign oder Fragen vorliegen. Die Kultur- und Sozialwissenschaften sind durch die hier beschriebenen Entwicklungen mehrfach herausgefordert. Erstens haben sich durch die disruptiven Technologien die Geschäftsmodelle der Anbieter sowie das Nutzungsverhalten der Rezipienten verändert, zweitens haben sich die Daten- und Wissenskonzerne als globale Gatekeeper etabliert, die den Zugang (mittels Suchmaschinen), Verteilung (auf Plattformen und Streaming) und Speicherung (in zentralisierten, von privater Hand betriebenen Serverfarmen und in der Cloud) regeln, und drittens hat der Computational Turn zu einer neuen Blüte des Positivismus und zur Etablierung neuer Wissenschaftszweige wie jenem der Data Science geführt. Neben Straffung und Digitalisierung der Methoden im Feld der angewandten Forschung (SurveyMonkey, SoSci Survey) begünstigten diese Entwicklungen auch einen prinzipiellen und grundlegenden „neuen“ Methodenstreit. Aufgrund der allumfassenden Digitalisierung von Inhalten stellt sich die Frage, wer diese Informationen verteilt und die Weltbilder prägt. Der Besitz von Informationen und (neuen) medialen Formaten bedeutet digitale Macht. Hier haben sich, wie oben beschreiben, global agierende Monopolisten etabliert. Macht bedeutet heute allerdings auch, die Suche nach Informationen zu dominieren. Auch diese Macht ist janusköpfig. Werbung kann in diesem Umfeld positioniert und virales Marketing betrieben werden. Diese Entwicklungen legen für den Kulturwissenschaftler Johannes Domsich den Schluss nahe, dass die „Magischen Kanäle“ von McLuhan heute nicht „die Synopsen zu den Rezipienten, sondern Distributionswege zu selektiven Endverteilern“ seien.263 Die Wissenschaft und ihre Methoden werden revolutioniert, der Rezipient kann aus einem unbeschränkten und ortlos gewordenen Angebot wählen und ist emanzipiert, die Macht der traditionellen Gatekeeper der Bewusstseinsindustrie wurde durch die Digitale Revolution beschnitten. Um den Ist-Zustand der digitalen Kultur zu skizzieren, wählt Domsich die Schlaraffenlandmetapher, da das Schlaraffenland „in pointierter Weise den üppig wuchernden Verheißungen, die über die Zeiten der Technologieevolutionen hinweg den Konsumenten angekündigt wurden und werden“264 entspreche. Die Sehnsucht, die Mühen des persönlichen Kaufens, der körperlichen Präsenz und der

263 Vergleiche Domsich, Johannes: Metapher Kommunikation, Wien 2009, S. 4. 264 Domsich, Johannes: Metapher Kommunikation, Wien 2009, S. 148.

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materiellen Barrieren abzuschütteln, welche die Technikkreativität so sehr anspornt, bildet die Grundlage der meisten technikaffinen Utopien. Die Vorstellung des Fantasielandes Schlaraffia entsprang der Wunschwelt der Bauern im 15. Jahrhundert, deren Alltag von Mangel und Hunger bestimmt war. In der digitalen Kultur wird der Hunger von damals mit fehlendem oder unzureichendem Zugang zum Netz und mangelnder Information gleichgesetzt. Schaltet der Nutzer sein Smartphone oder seinen Computer ein und betritt somit das mediale Schlaraffenland, kann er sich der totalen und ewigen Passivität hingeben; ein Mausklick reicht aus, um Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. „Keine Strafe droht, und permanenter Genuss ist oberstes Gebot“, digitales Schlaraffenland bedeute, dass sich „sowohl […] die Individuen als auch die Gesellschaft […] in den medialen Abbildern wie in endlosen Spiegelungen verlieren. Milch und Honig verwandeln sich in die liquide Metapher der Datenströme, und gebratene Tauben visualisieren die Konsumgüter, die nicht in unserer Wunschkreation, sondern in den Fokusgruppen der Werbeagenturen entstanden sind“.265 Domsischs Schlussfolgerung, dass die Weltbilderfinder der Silicon Ideology bei ihren Versprechungen digitaler Seligkeiten Anleihen beim mittelalterlichen Märchen genommen hätten, ist richtig und mit weitreichenden Konsequenzen für die westliche Kultur verbunden: Wirklichkeit und Wahrheit sind vollständig individualisiert, also nicht mehr kommunizierbar oder universell und damit banal. […] Die Differenz zwischen Schlaraffenland und Paradies entspricht der Disposition passiv und aktiv. Im Schlaraffenland zu sein bedeutet, in den Medien versunken zu sein und deren Virtualität nicht mehr verlassen zu wollen.266

Den Verdacht, dass das digitale Schlaraffenland die Konsummonaden aber weniger glücklich als depressiv macht, legen Studien nahe.267 Die Kulturwissenschaft mit ihrem Anspruch, eine Systematik in kollektive technische und kulturelle Entwicklungen zu bringen, birgt daher für den Kulturtheoretiker Manfred Wagner mit ihrer Einschränkung von Kultur auf ein Methodenund Querschnittstableau auffälliger Phänomene das „Gefahrenpotential, eigenes Erleben auf historische Epochen zu projizieren oder Individualitäten auf die Allgemeinheit hochzurechnen“.268 Wagner plädiert dafür, diese Gefahr zu umschiffen,

265 Domsich, Johannes: Metapher Kommunikation, Wien 2009, S. 148f. 266 Domsich, Johannes: Metapher Kommunikation, Wien 2009, S. 149. 267 Vergleiche dazu (nicht repräsentativ, aber durchaus gehäuft mit dieser Grundaussage auftretend): http://worldtimes-online.com/news/447-facebook-macht-depressiv.html; http://erichorvitz.com/ depression_populations_websci_2013.pdf; http://research.fit.edu/sealevelriselibrary/documents/ doc_mgr/1006/O’Keeffe_and_Pearson._2011._The_Impact_of_Social_Media_on_Children,_ Adolescents,_and_Families.pdf, alle letzter Zugriff: 11.07.2022. 268 Wagner, Manfred: Stoppt das Kulturgeschwätz, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 129.

Der Computational Turn und seine Auswirkungen auf Selbstverständnis und Methodik

indem sich der Forscher „auf den Vorrang der Methodik stützt, die eigene Position unzweifelhaft kennzeichnet, in der Ausdrucksweise mehr von ‚kann sein‘ als von ‚ist‘ spricht und jene Liberalität zuläßt, die in den Geschichtswissenschaften längst Alltag ist“.269 In Gestalt des Computational Turn erwächst dem „langen Sommer der Theorie“ (Felsch) ein mächtiger Gegenspieler. Der Kulturhistoriker Philipp Felsch hat mit dieser Metapher die Epoche zwischen 1945 und dem Fall der Berliner Mauer beschrieben, als das Interesse an Theorie im deutschsprachigen Raum über den engen Verbreitungsradius der Universitäten hinausragte und sich viele Leser eine Revolution des Alltags aufgrund von überzeugenden Theorien erwarteten. Felsch zeichnet in seiner Studie „Der lange Sommer der Theorie“ den Erfolgslauf der Nachkriegstheorie überzeugend nach und zeigt, wie sich Theoriearbeit damals mit dem Anspruch verwob, die Welt verändern zu können – Theorie als Glaubensartikel und Lifestyle-Accessoire,270 das man aufgrund der neuen Produktkategorie Taschenbuch praktischerweise auch immer gleich in die Tasche stecken und mitnehmen konnte. Felsch führt den Triumph der Theorie auf das neue Medium Taschenbuch zurück, wodurch mehr Menschen als früher Bücher kaufen konnten. Erst Paperback-Bücher271 sorgten für die nennenswerte Verbreitung von Ideen, die gegen die herrschenden Systeme gerichtet waren und für die Revolution warben. Adorno proklamierte: Nur Theorie („die nicht unmittelbar auf Veränderung abziele, sei zur Veränderung überhaupt in der Lage“)272 und die theoretische Praxis – erdacht von Louis Althusser – bereiteten den Boden für eine Studentengeneration, die sich als „revolutionäres Subjekt“ verstand und mit ihren Theorien die Welt mikro-, meso- und makropolitisch verändern wollte. Die Lektüre verlagerte sich von der Universität in neue Räume (Lesekreise, Wohngemeinschaften, Sit-ins) und folgte nicht länger den Vorgaben der Ordinarien und des überlieferten Kanons. Ein Gegenkanon wurde erarbeitet und neben der Kritischen Theorie wurde das – damals für gefährlich gehaltene – Denken des italienischen Marxismus und des französischen Poststrukturalismus von Verlagen wie Merve oder Suhrkamp in den deutschen Sprachraum importiert. Der kleine Berliner Theorieverlag Merve etablierte mit seiner die damals üblichen akademischen Standards negierenden Buchauswahl außerdem „Theorie als Pop“. Die neue Theorie setzte auf die „Poesie der Begriffe“, zielte statt auf „ewige Wahrheiten […] auf Kritik der Verhältnisse“, verwandelte „Theorie in ein ästhetisches Ereignis“273 und wollte die Gesellschaft revolutionieren. Die Studentenbewegung entdeckte die Theoriearbeit und verpflichtete sich dem Practical Turn. Der Suhrkamp Verlag etablierte mit 269 270 271 272 273

Vergleiche Wagner, Manfred: Stoppt das Kulturgeschwätz, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 129. Vergleiche Felsch, Philipp: Der lange Sommer der Theorie, München 2015, S. 12. Vergleiche Felsch, Philipp: Der lange Sommer der Theorie, München 2015, S. 36ff. Felsch, Philipp: Der lange Sommer der Theorie, München 2015, S. 48. Vergleiche Felsch, Philipp: Der lange Sommer der Theorie, München 2015, S. 12f.

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seiner Theorie-Reihe ein neues Segment, mit welchem er den Markt flutete. Das Merve-Herausgeberkollektiv wollte das Urheberrecht abschaffen und dachte darüber nach, Besitzbücher durch Gebrauchsbücher zu ersetzen. Die französischen Theoretiker der Postmoderne ordneten das Politische neu, entdeckten Mikropolitik und Mikrogeschichte, und Jean-François Lyotard verkündete das Ende der großen Erzählungen und den Beginn des Patchworks der Minderheiten. Mit den gescheiterten Revolutionen und dem Fall der Berliner Mauer verschwand auch der Glaube an die Macht der Theorie. Der Anspruch des Merve-Verlags, neue Theorien und Begriffe zu erfinden, wurde nicht weiterverfolgt. Das Selbstverständnis der Theoretiker kriselte; das ehedem gefährliche Denken wurde im Laufe der 1990er und 2000er Jahre kanonisiert und in den akademischen Normalbetrieb eingemeindet. Das Denken von Michel Foucault wird nicht mehr von einer Aura des Neuen umgeben, sondern auch von bürgerlichen Historikern wie Paul Nolte wie selbstverständlich verwendet. An den Universitäten, so Felschs Schlussfolgerung, sei das Zeitalter der „Herrschaft der gut abgesicherten Fallstudie“274 angebrochen und weit und breit keine neue Theorie in Sicht. Auch Terry Eagleton verkündete deshalb 2003 gleich das Ende der Theorie und begründete das mit dem Verschwinden der großen Theoriewürfe. Die Pionierwerke von Foucault, Deleuze, Kittler, Lacan, LéviStrauss, Barthes, Baudrillard, Hall und anderen liegen weit zurück, und obwohl Eagleton systematische Theorieentwürfe als Lebenselixier für die Wissenschaft erachtet, sieht er gegenwärtig keine tauglichen Ansätze. Das ewige Wiederkäuen strukturalistischer, poststrukturalistischer, neoliberaler und neomarxistischer Gemeinplätze275 verströme nur mehr Langeweile und passe gut in das geistig träge Klima der liberalen Wettbewerbsdemokratien.276 Er erklärt diese Theoriemüdigkeit mit der für die Postmoderne und den Neoliberalismus typischen Verachtung von Normen, Hierarchien, Autoritäten und gemeinschaftlich gelebten Traditionen. Mit dem Gerede vom Ende der Theorie beschreibt Eagleton nicht nur das Versiegen reflexiver Gedanken über die Besonderheiten der Conditio humana, sondern auch den Umstand, dass bestimmte – alte und neue – Denktraditionen an den Universitäten nicht mehr gelehrt würden. Gleichzeitig erklärt Eagleton die Postmoderne für beendet – jene Theorie, die ihrerseits die großen Erzählungen abschaffte. Eben diese großen Theorieentwürfe abseits der ausgetrampelten Pfade von Klasse, Ethnie und Geschlecht müssen aber aufgespürt und gefunden werden. Seit Eagleton zu suchen begann, ist wenig passiert. Nicht nur eine generelle Theoriemüdigkeit, das Vergessen auch für die Gegenwart ertragreicher antiker Theorieschulen und das

274 Felsch, Philipp: Der lange Sommer der Theorie, München 2015, S. 239. 275 Eagleton, Terry: After Theory, London 2003, S. 29. 276 Eagleton, Terry: After Theory, London 2003, S. 29.

Der Computational Turn als neue Welle des Positivismusstreits

Fehlen neuer und überzeugender großer Erzählungen erschweren die zeitgenössische Theoriebildung. Die Zukunft der Theorie ist auch deshalb ungewiss, weil sie durch den Computational Turn wieder einmal generell für veraltet und überflüssig erklärt wird.

4.2

Der Computational Turn als neue Welle des Positivismusstreits und der Versozialwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften

Wissenschaftshistorisch betrachtet gab es bereits im 20. Jahrhundert einen folgenreichen Methodenstreit, in dessen Verlauf sich die im deutschen Sprachraum noch heute gültige Unterteilung in Fachdisziplinen und ihre präferierten Arbeitsweisen entwickelte. Dabei orientierten sich die einzelnen Teildisziplinen am Vorbild der Physik und versuchten, menschliches Verhalten als Sozialphysik zu deuten. Die Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf das Feld der Sozialwissenschaften sollte durch die Verwendung exakter Methoden zu intersubjektiv nachprüfbaren Ergebnissen und in der Folge zu einer Theorie der modernen Gesellschaften führen. Die Ausrichtung der sozialwissenschaftlichen Forschung am hypostasierten Vorbild der Naturwissenschaften begünstigte eine empirische Herangehensweise zuungunsten heuristischer, phänomenologischer und historisch-kritischer Methoden. Die alten europäischen Arbeitsweisen wurden als unwissenschaftlich diskreditiert und gingen nach dem Zweiten Weltkrieg einher mit dem Aufstieg der USA zum globalen Zentrum der Wissenschaft. An diesem Vorbild orientierten sich auch die Kriegsverlierer Deutschland und Österreich, wobei für den Soziologen Christian Fleck ungeklärt bleibt, ob sich diese Hegemonie aus innerwissenschaftlichen Gründen oder aus ökonomischen und militärischen Erfolgen ergab. In seiner Studie „Transatlantische Bereicherungen“ beschreibt Fleck die Entstehung der empirischen Sozialforschung im deutschsprachigen Raum und welche Rolle die finanzielle Förderung und der Wissenstransfer durch amerikanische Stiftungen dabei spielten.277 Er datiert die Fixierung der noch heute geltenden sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf das Ende der 1950er Jahre und weist für diese Epoche auch das normative Verbindlichwerden statistisch unterlegter Methoden nach. Die szientistische Deutung der Sozialwissenschaften funktioniert seitdem als unhinterfragtes Paradigma, während die früheren Forschungstraditionen als „Lehrstuhlforschung“ und „unwissenschaftlich“ abgekanzelt wurden. Die Übernahme der Fakultäten durch die Empiriker fand leise und fast ohne erkennbaren Widerstand statt. Nur wenige Wissenschaftler – wie der hier exemplarisch genannte Friedrich Tenbruck – kritisierten damals diese komplette Neuorientierung. Das vorschnelle Opfern des eta-

277 Vergleiche Fleck, Christian: Transatlantische Bereicherungen, Frankfurt a.M. 2007, S. 11ff.

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blierten Instrumentariums am Altar des Zeitgeistes bezeichnet er als Abschaffung des Menschen. Tenbruck begründete als Ausweg aus den empirisch orientierten Sozialwissenschaften die Kultursoziologie, die allerdings nicht mehr als eine Nischenexistenz für sich beanspruchen kann. Für die vorliegende Arbeit interessanter ist seine Kritik an der empirischen Sozialforschung. Tenbruck bemängelt, dass die Soziologie keines der vollmundigen Versprechen, mit denen sie angetreten sei, habe einlösen können. Ihr Anspruch, die säkulare Orientierungskrise durch eine Positivierung des Wissens zu überwinden, erklärt er nicht nur für gescheitert, sondern nachgerade als Beschleuniger und Begründer einer noch schlimmeren Krise. Folgende Fehlschlüsse278 wirft Tenbruck den Parteigängern des Empirismus vor: Anstatt wertfrei zu argumentieren, sei die Wissenschaft selbst zum Träger eines Weltbilds geworden, welches Macht über das Denken und Handeln des Einzelnen beanspruche. Indem die Sozialwissenschaften die menschliche Wirklichkeit auf Gesellschaft reduziert habe, sei das Verständnis für die Eigenart und das Eigenrecht der Geisteswissenschaften weitgehend verloren gegangen. Den empirischen Sozialwissenschaften, die vorgäben, die Gesellschaft nur zu beobachten, wirft Tenbruck vor, Wirklichkeit selbst zu schaffen und zu gestalten. Er forderte damals eine Aufklärung über die Sozialwissenschaften und erklärte sein Anliegen für realitätsnäher als den Anspruch der Sozialwissenschaften, die Gesellschaft durch die Sozialwissenschaften aufzuklären. Tenbruck verdächtigte die Sozialwissenschaften außerdem, den Menschen von innen verwandeln und die menschliche Gedankenwelt gleichsam kolonisieren zu wollen. Mit dieser Einschätzung blieb Tenbruck in der Minderheit. Der Großteil der Autoren und Institute sieht in der Positivierung eine „historisch notwendige […] Öffnung der Kommunikationsforschung hin zur Empirie“,279 die maßgeblich durch das Werk von Paul F. Lazarsfeld geprägt wurde. Laut Thymian Bussemer besteht Lazarsfelds Verdienst in der Etablierung der vorher gering geschätzten empirischen Forschung als gleichberechtigten Zweig neben der Theorie der Sozialwissenschaften.280 Bussemer bewertet Lazarsfelds Werk – aufgrund dessen Erfindung neuer Forschungsmethoden wie Paneluntersuchung und multivariater Analysen sowie seiner Beiträge zum mathematischen Denken in den Sozialwissenschaften –

278 Vergleiche Tenbruck, Friedrich H.: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Graz 1984, S. 7, 15, 22, 29f. 279 Vergleiche Bussemer, Thymian: Paul Felix Lazarsfeld und die Etablierung der Kommunikationsforschung als empirische Wissenschaft, in: Medien & Kommunikationswissenschaft 55, 1/2007, S. 80. 280 Vergleiche Bussemer, Thymian: Paul Felix Lazarsfeld und die Etablierung der Kommunikationsforschung als empirische Wissenschaft, in: Medien & Kommunikationswissenschaft 55, 1/2007, S. 98.

Der Computational Turn als neue Welle des Positivismusstreits

als hochmodern. Erst Lazarsfeld sei es damit gelungen, logisch281 wissenschaftliche Entwicklungen zu formulieren und sich nicht in abstrakten Spekulationen282 über die Natur zu verlieren. Seine induktive Methodik exponiere ein Problem und nütze statistische Verfahren, um so eine Diagnose zu erstellen. Dieser Ansatz der ständigen Prüfung sei keine Erfindung von Lazarsfeld, sondern entspringe Denktraditionen der europäischen Aufklärung, die sich „in spezifischer Weise als Rahmenvorstellungen in epistemologischen Konzepten der Natur- und der Geistes- bzw. Sozialwissenschaften niedergeschlagen haben“.283 Auf eine konkrete Nennung von Autoren und Thesen dieser Denktraditionen verzichtet der Soziologe Anton Amann. Lazarsfelds naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Ausbildung habe ihn befähigt, an einer Methodologie zu arbeiten, die vom Einzelnen zum Allgemeinen gehe. Bedenken, dass Lazarsfelds Ansatz eine einseitige Quantifizierungsmethode sein und einen abstrakten Empirizismus begünstigen könne, habe dieser positiv mit dem Hinweis auf den „oecumenical spirit“284 seiner Arbeit entkräftet. Dieser ökumenische Geist richte sich sowohl auf die Genese als auch auf die systematische Suche nach der Struktur einer sozialwissenschaftlichen Sprache. Für jedes Phänomen, das Lazarsfeld untersuchte, habe er objektive Verfahren wie introspektive Beobachtungen gewählt, worunter Amann versteht, dass Fallanalysen mit statistischen Informationen kombiniert werden. Lazarsfelds Forschung hat sich „im Spannungsfeld zwischen akademisch-universitärer Tradition und aus Drittmitteln finanzierter Forschung einerseits und der in diesen Projekten betriebenen methodischen Dauerinnovation andererseits“285 bewegt. Für die kommerzielle Forschung war es aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen geboten, „Verfahrensweisen zu standardisieren, Methodenanwendung und Forschungsorganisation zu schematisieren und die neuen Techniken der Datenanalyse verbindlich zu verankern“.286 Lazarsfelds Ansatz eines „Administrative Research“ (einer auftraggeberorientierten Forschung) erfordert eine straffe Organisationsform und die Übernahme von Organisationsprinzipien, wie sie in Industrie, Militär

281 Erstaunlicherweise setzt der Autor die philosophische Teildisziplin „Logik“ mit „Zahlen“ und „Statistik“ gleich. 282 Vergleiche Amann, Anton: Zur Aktualität Paul F. Lazarsfeld, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien 2008, S. 4. 283 Vergleiche Amann, Anton: Zur Aktualität Paul F. Lazarsfeld, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk, Wien 2008, S. 6. 284 Vergleiche Amann, Anton: Zur Aktualität Paul F. Lazarsfeld, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk, Wien 2008, S. 7. 285 Amann, Anton: Zur Aktualität Paul F. Lazarsfeld, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk, Wien 2008, S. 12. 286 Amann, Anton: Zur Aktualität Paul F. Lazarsfeld, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk, Wien 2008, S. 12.

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und Politik üblich sind: Genaue Anweisungen, hierarchische Beziehungen, Arbeitsteilung und Spezialisierung der Arbeitsgruppenmitglieder kennzeichnen diesen Forschungstyp. Lazarsfelds Arbeitsweise nahm für sich in Anspruch, die Trennlinie zwischen politischer und wissenschaftlicher Betätigung287 aufzuheben – mit weitreichenden Folgen für die Realität. Wurde Politik vorher als intuitives Tun und Überzeugen verstanden, wird sie zunehmend als „‚wissenschaftliche‘ Aufbereitung von und Wahl zwischen alternativen Lösungen zu Einzelproblemen“288 begriffen. Lazarsfelds Konzeption der Sozialwissenschaften begreift sich laut Michael Pollak als „Bestandteil eines politischen Weltplans, der darauf abzielt […], die Konvergenz der politischen Systeme zu fördern und die dominierenden ideologischen Erklärungsmodelle durch eine rationale Sehweise zu ersetzen“.289 Diese Herangehensweise beansprucht für sich, ein wissenschaftliches Bild der sozialen Welt zu schaffen und mittels eines technokratischen Masterplans Gesellschaften und Staaten zu modernisieren. In diesem Umfeld entstand das Selbstverständnis des Wissenschaftlers, der sich als Sozialingenieur und Weltenlenker begreift. Lazarsfeld begnügt sich also nicht mit einer grundlagenorientierten Forschung, sondern will aktiv den Weltenlauf mitgestalten. Trotz der oft geäußerten Kritik, dass Lazarsfelds kommerzielle und gewinnorientierte Studien meist nur Vorgaben der Auftraggeber wiederkäuten, veränderte er damit das Selbstverständnis des Wissenschaftlers: vom Analytiker zum Gestalter. Den Unterschied zur Kritischen Soziologie der Frankfurter Schule erklärte Lazarsfeld der amerikanischen Öffentlichkeit mit folgendem Vergleich: Die Verbraucherbewegung kämpfe gegen irreführende Werbung, und moralisierende Wirtschaftswissenschaftler beklagten die Verschwendung, die in der Werbung betrieben werde, während der Kritische Ansatz die Position vertrete, „dass jede Art von Werbung die Leute davon abhält, ihre eigenen Maßstäbe der Beurteilung zu entwickeln“.290 Für die Parteigänger einer empirischen Sozialwissenschaft verfügt die Kritische Soziologie über kein taugliches Instrumentarium, die Wirklichkeit zu interpretieren, sondern verharrt im Stadium reiner Spekulation. Wenn der Kritische Ansatz den Status der Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchen möchte, müssten seine Thesen empirisch und statistisch überprüft werden.

287 Vergleiche Pollak, Michael: Paul F. Lazarsfeld – Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk, Wien 2008, S. 165. 288 Pollak, Michael: Paul F. Lazarsfeld – Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk, Wien 2008, S. 164f. 289 Pollak, Michael, Paul F. Lazarsfeld – Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk, Wien 2008, S. 189. 290 Lazarsfeld Paul F.: Die Forschungsstelle für Rundfunkforschung – Kulturelle Kontakte, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk, Wien 2008, S. 81.

Der Computational Turn als neue Welle des Positivismusstreits

„Wo ist der Beweis?“, lautet die Frage an die Kritische Soziologie, auf die sie keine Antwort geben kann, da die Frage falsch gestellt ist. Der Widerspruch ergab sich in Wahrheit aus dem Missverhältnis zwischen einer epistemologischen Konzeption, bei der die verschiedenen Methoden dadurch Legitimation erhalten, dass sie neue theoretische Erklärungen hervorzubringen vermögen, und einer anderen, derzufolge die Methoden nichts weiter sind als Untersuchungstechniken, mittels derer Informationen gewonnen werden sollen.291

Die sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen haben die theoretischen Fragen verdrängt und einen empirischen Mainstream292 herausgebildet. Die einzelnen Fächer sind der administrativen – sprich: einer von kommerziellen Auftraggeberinteressen geprägten – Forschungslogik gefolgt. „Kommerziell“ bedeutet, die Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen der Rezipienten in Hinblick auf die Optimierung des Warenangebots hin zu erforschen. Im Unterschied dazu nannte Lazarsfeld Kommunikationsforschung dann kritisch, wenn sie „verlangt, dass jeglicher zweckorientierten Analyse eine Untersuchung über die allgemeine Rolle unserer Kommunikationsmedien innerhalb des gegenwärtigen sozialen Systems vorausgehen und parallellaufen muß“.293 Adorno, den Lazarsfeld in den USA zeitweilig engagierte und von dessen kritischem Denken er sich anfänglich Inspiration und Weiterentwicklung für seine administrative Forschung erwartete, hat in seinem auf persönlichen Erfahrungen basierenden Essay auf die Inkompatibilität beider Forschungsansätze hingewiesen. Er sah es beim wissenschaftlichen Arbeiten als „objektiv geboten, Phänomene zu deuten, nicht Fakten zu ermitteln, zu ordnen, zu klassifizieren, gar als Information zu Verfügung zu stellen“.294 Adorno rügte den Konkurrenzkampf und den Druck, den Wünschen der Auftraggeber zu entsprechen und nicht dem wissenschaftlichen Gebot nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Er beschreibt seine Mitarbeit bei Lazarsfeld als nicht gangbare Gratwanderung zwischen akademisch-universitärer Tradition und aus Drittmitteln finanzierter Forschung. Adorno kritisierte die Arbeitsaufteilung, die methodischen Dauerinnovationen um der Innovation willen, die Standardisierung der Verfahrensweisen

291 Pollak, Michael: Paul F. Lazarsfeld – Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk, Wien 2008, S. 173. 292 Vergleiche Löblich, Maria: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik und Zeitungswissenschaft, Köln 2010, S. 11. 293 Vergleiche Lazarsfeld, Paul F.: Bemerkungen über administrative und kritische Kommunikationsforschung, in: Prokop, Dieter (Hg.): Kritische Kommunikationsforschung, München 1973, S. 16. 294 Adorno, Theodor W.: Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in: Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt a.M. 1977, S. 703.

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und die Verankerung dieser neuen Techniken als vermeintlich allgemein verbindlich. Adorno wunderte sich darüber, dass sein auf objektiven Implikationen und nicht auf messbaren Reaktionen aufbauendes Wissenschaftsverständnis mit den US-amerikanischen Denkgewohnheiten inkompatibel war. Adorno vermutete und erklärte seine Schwierigkeiten mit einem uneinheitlichen Methodenverständnis von Alter und Neuer Welt. Adorno verwendete den Begriff Methode in einer europäischen, erkenntniskritischen Tradition, während in den USA „Methodik“ nicht mehr als „praktische Erhebungstechnik“295 bedeute. Dieses Methodenverständnis begünstige Standardisierung, verwandle Kunst in Konsumgüter und erschaffe die Kategorie Pseudoindividualisierung, was zu einem leicht manipulierbaren, verdinglichten und der spontanen Erfahrung kaum mehr zugänglichen Bewusstsein bei Rezipienten und Probanden führe. Nicht kritisiert wurde von Adorno hingegen, dass Lazarsfeld den Anspruch erhob, mit seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen aktiv den Weltenlauf mitzubestimmen. Nicht zu untersuchen, was ist, sondern was sein soll, war sein Selbstverständnis als Sozialforscher; auf Grundlage von Zahlen und Studien gestaltete er die Gesellschaft. Lazarsfelds Forschungsansatz hat damit auch die Trennlinie zwischen politischer und wissenschaftlicher Betätigung aufgehoben. Wer administrativ forscht, der plant die Gesellschaft auf Grundlage seiner Studienergebnisse. Dieser Selbstwiderspruch von Lazarsfeld – einerseits vorzugeben, mit den Studien die Gesellschaft nur objektiv zu beobachten, sie aber gleichzeitig auf Grundlage der Daten dann auch zu schaffen und zu formen – führt zu einem neuen Rollenverständnis der Wissenschaft als Sinnvermittlerin. Mit diesem Berufsethos befindet sich Lazarsfeld in der Tradition Auguste Comtes, dem Gründervater des Positivismus und Schöpfer des Begriffs Sozialphysik, der „den Glauben an die Wissenschaft zur Religion erhob“, dabei aber die „Beschädigung der Glaubensgewißheit durch die Wissenschaft“ nicht verkraftet habe.296 Der Positivismus in der Auftragsforschung verabsolutierte im Szientismus die jeweils vorhandenen empirischen Wissenschaften als Rationalitätsmodell und veränderte durch die gewinnorientierte Forschung mit ihren automatisierten Untersuchungsdesigns (Meinungsbarometer, Sonntagsfrage usw.) auch die Art, wie Politik gemacht wurde. War Politik früher das Geschäft des Überzeugens mit Argumenten, Weltanschauungen und Ideologien, wird das aktive Vertreten und Formulieren von Parteiprogrammen schrittweise ersetzt durch das „Policy-Making“ der Sozialingenieure. Gesellschaftliche und politische Problemstellungen werden wissenschaftlich

295 Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt a.M. 1977, S. 707. 296 Vergleiche Tenbruck, Friedrich H.: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Graz 1984, S. 127.

Der Computational Turn als neue Welle des Positivismusstreits

aufbereitet, in Fokusgruppen und mittels Umfragen wird anschließend die öffentliche Mehrheitsmeinung ermittelt und auf Grundlage dieser Daten entscheiden sich Politiker dann für Variante A oder B. Der politische Willensbildungsprozess und die Verantwortung wurde seit Lazarsfeld „verwissenschaftlicht“, divergierende Weltanschauungen wurden auf Wahlmöglichkeiten zwischen den Ergebnissen von Auftragsstudien reduziert, was die bisweilen arbiträr anmutenden Verläufe im politischen Willensbildungsprozess erklärt. Lazarsfelds neuer Forschungstyp, der planende Sozialingenieur, nahm entscheidungsschwachen Politikern das Denken ab, indem er die Trennlinie zwischen Politik und Wissenschaft aufhob und das „Policy-Making“ zur Grundlage der Politik machte. Diese bemerkenswerten Veränderungen blieben gemeinhin Randnotiz im sogenannten Positivismusstreit, den Hans-Joachim Dahms als deutsche Neigung bezeichnet, „Richtungsstreitigkeiten durch Methodendiskussionen zu bearbeiten“.297 Dahms’ Monografie geht nicht auf das veränderte wissenschaftliche Rollenbild seit Lazarsfeld und die Funktion des Sozialingenieurs ein, sondern zeichnet die Konfliktlinien zwischen der Frankfurter Schule, dem logischen Positivismus des Wiener Kreises und dem amerikanischen Pragmatismus in den 1930er und 1940er Jahren nach, die dann auf die Sozialwissenschaft übersprangen. Die Frankfurter Schule warf dem Positivismus eine „Apologie des Bestehenden“ und ein „‚Akzeptieren des Gegebenen‘ (im Sinne des Einverständnisses mit den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Zuständen)“ vor,298 weil dieser die Gesellschaft eben nur auf Grundlage empirisch abgesicherter Studien planen und verändern, aber nicht durch eine historische materialistische Grundlage von Grund auf erneuern wolle. Methodisch werteten die Frankfurter die Positionen des logischen Positivismus und des amerikanischen Pragmatismus als Angriff auf die Metaphysik,299 weil der Wiener Kreis die Physik als Vorbild empirischer Wissenschaft und die Logik als Grundlage für die analytischen Wissenschaften nahm. Diese grundsätzliche Kritik übersah mit voller Absicht, dass der Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath auf die Grenzen sozialwissenschaftlicher Prognosebildung aufgrund der Unvorhersehbarkeit zukünftiger Wissenszuwächse hinwies.300 Neurath bemängelte auch die formalistische Verengung des Wiener Kreises und das nicht vorhandene Interesse an Fragen der Empirie und den Sozialwissenschaften. Erst vor diesem Hintergrund wird Dahms’ These verständlich: Die mangelnde Ausarbeitung der sozialwissenschaftlichen und politischen Vorstellungen des logischen Empirismus wurden dann im zweiten Positivismusstreit, der in den 1960er Jahren stattfand,

297 298 299 300

Dahms, Hans-Joachim: Positivismusstreit, Frankfurt a.M. 2016, S. 323f. Vergleiche Dahms, Hans-Joachim: Positivismusstreit, Frankfurt a.M. 2016, S. 16f. Vergleiche Dahms, Hans-Joachim: Positivismusstreit, Frankfurt a.M. 2016, S. 16. Vergleiche Dahms, Hans-Joachim: Positivismusstreit, Frankfurt a.M. 2016, S. 225.

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mit den thematisch passenden Versatzstücken der Philosophie Karl Poppers gefüllt, dessen wissenschaftstheoretische Positionen nicht mit den Ansichten des logischen Empirismus vereinbar sind.301 Popper lehnte die Übertragung des Erkenntnismodells von den Naturwissenschaften auf die Sozialwissenschaften ab, trennte Wahrheit von Gewissheit und kritisierte die Vorstellung von theoriefreien Sinnesdaten sowie das Verifikationsprinzip. Außerdem hatte Popper – im Unterschied zu Adorno, der beim „Princeton Radio Research Project“ mitarbeitete – keine Berufserfahrung auf dem Gebiet der empirischen Sozialforschung. Warum Popper, dessen Positionen mit jenen des logischen Empirismus unvereinbar waren, dennoch von Ralf Dahrendorf als Repräsentant des zweiten Positivismusstreits zur Tübinger Tagung 1961 eingeladen wurde, bleibt ein Rätsel. Abgesehen von solchen Kuriositäten war der Positivismusstreits wichtig, da er das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik und die Frage nach der Theoriegebundenheit sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung diskutierte, weshalb Dahms folgende bleibende Verdienste des Positivismusstreits aufzählt: Das Insistieren auf einer substantiellen, antirelativistischen Konzeption der Moral, die Kritik an der positivistischen Vorstellung, man könne sich mit allerlei Sinnkriterien griffige Zauberformeln zur Bereinigung der meisten im Laufe der Menschheitsgeschichte aufgekommenen philosophischen Probleme zurechtlegen, und schließlich die Kritik an der naiven Technikgläubigkeit und Wissenschaftshörigkeit der Positivsten.302

Diese Daten- und Technikgläubigkeit ist durch den Computational Turn in eine neue Ära getreten, wobei dessen Parteigänger die „alten Fragen“ für ohnehin überwunden erklären. So sieht der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Rieder etwa für digitale Methoden die Opposition zwischen qualitativen und quantitativen Methoden aufgehoben: Computation, quantification, algorithm, visualization, graph, data analysis, statistics, software, and so forth, are terms that point to concepts – but also to objects, practices and skill sets – that we consider to have considerable internal heterogeneity and variation. That does not mean that they are not caught up in particular configurations and constellations that are productive in very specific ways in terms of knowledge and power; but it means that the spaces of design and „appropriation“ […] of computational methods afford considerable leeway and do not translate into or perform singular logics. Even if „the digital“ has become a dominant passage point, it works like a meat grinder: the shredded material does not come out as a single thread, but as many. To connect back to the

301 Vergleiche Dahms, Hans-Joachim: Positivismusstreit, Frankfurt a.M. 2016, S. 259ff. 302 Dahms, Hans-Joachim: Positivismusstreit, Frankfurt a.M. 2016, S. 401.

Der Computational Turn als neue Welle des Positivismusstreits

Methodenstreit: computational methods can be both deductive and inductive […], both quantitative and qualitative in outlook, both critical and administrative.303

Rieders Inanspruchnahme eines Methodenpluralismus innerhalb der digitalen Wissensgenerierung argumentiert auf einer niedrigen, der bloßen Meinung verhafteten Ebene, die epistemologische Grundlagen ausspart, wie sie Eric Voegelin in Ausweitung von Adornos wissenschaftstheoretischer Kritik erarbeitet hat. Während Auguste Comte, Max Weber und Paul Lazarsfeld die Entwicklung der Menschheit von der Theologie über die Metaphysik zur Rationalität des Positivismus als Fortschritt bewerteten und als Entzauberung der Welt, verursacht diese Position für Voegelin neue Aporien, da sie nicht sinnlich wahrnehmbare Dimensionen wie Ideen, Affekte, Begierden sowie die magische und spirituelle Welt ausblende. Die Nachahmung naturwissenschaftlicher Methoden nennt Voegelin „Zeitvertreib für Dilettanten“. Laut Voegelin begann die fatale Entwicklung mit dem Fehlschluss, wonach die Fortschritte der Naturwissenschaften und ihrer Methoden Vorbild für die Geisteswissenschaften sein könnten. Damit sei die Unterordnung der theoretischen Relevanz unter die Methode verbunden gewesen, was den Sinn der Wissenschaft verkehrt habe: Wenn nicht die Adäquanz einer Methode an ihrer Brauchbarkeit für den Zweck der Wissenschaft gemessen wird, sondern umgekehrt die Verwendung einer bestimmten Methode zum Kriterium des Wissenschaftscharakters einer Untersuchung gemacht wird, dann ist der Sinn der Wissenschaft als wahrheitsgemäßer Aussage über die Struktur der Wirklichkeit, als der theoretischen Orientierung des Menschen in seiner Welt und als des großen Werkzeugs, mit dessen Hilfe der Mensch zum Verständnis seiner eigenen Stellung im All gelangt, verloren.304

Wenn die Methode als Kriterium der Wissenschaftlichkeit herangezogen wird, wird ihre theoretische Relevanz aufgehoben. Die Fokussierung auf induktive Methoden führt nach Voegelin lediglich zur Anhäufung irrelevanter Fakten. Dabei kann das geistfreie Ansammeln von irrelevantem Material neben statistischen Methoden auch in der Hermeneutik stattfinden, solange sich die ideengeschichtlichen Begriffe nicht aus den übergeordneten theoretischen Bezugsgrößen ableiten. Auch die Behauptung von Wertfreiheit, wie von Max Weber begründet, ist laut Voegelin unsinnig. Wertfreiheit definierte Weber als Erforschung von Ursachen

303 Rieder, Bernhard/Rohle, Theo: Digital Methods, in: Schäfer, Mirko T./van Es, Karin (Hg.): The Datafied Society, Amsterdam 2017, S. 110f.; Hervorhebung so im Original. 304 Voegelin, Eric: Die neue Lehre der Politikwissenschaft, München 2004, S. 23.

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und Wirkungen, „die Konstruktion von Idealtypen des Handelns und der Institutionen und insbesondere die Konstruktion typischer Kausalbeziehungen“.305 Damit rekurriere die Ratio für Weber nicht auf Prinzipien, sondern verharre auf der Stufe der Kausalität des Handelns. Der Objektivitätsbegriff Webers leitet sich selbst nur aus den entdeckten und erarbeiteten Ordnungsprinzipien der menschlichen Geschichte her. In der Folge des Primats von Wertfreiheit, Positivismus und des eindimensionalen Menschenbilds der Sozialphysik verbleibe Wissenschaft auf der Stufe der bloßen Meinung. Wenn Wissenschaft „über bloße Meinungen (doxai) zur Wissenschaft (episteme) von der Ordnung vordringen will“, sei eine Ontologie notwendig, „die alle Seinsbereiche, vor allem den welt-jenseitigen, göttlichen, als real anerkennt und nicht versucht, die höherstufigen Seinsbereiche durch Kausalerklärungen auf niederstufige zu ‚reduzieren‘“.306 Rationalität ist für Voegelin „die Anerkennung der Seinsverfassung“ und „Irrationalität jeder Versuch, Teile der Seinsverfassung von der Betrachtung auszuschließen oder ihre Existenz zu bestreiten“.307 Die Ratio des Menschen beinhaltet auch die Ordnung seiner Seele, welche durch die Teilhabe seiner weltjenseitigen, göttlichen Ratio bestimmt sei. Da das positivistische Wissenschaftsideal diese Episteme aber leugnete und zerstörte, lässt sich auch der wertneutrale Wissenschaftler bei der Auswahl und den Interpretationen seiner Thesen oft unbewusst vom Zeitgeist, von seinen politischen Vorlieben oder von Idiosynkrasien leiten. Werturteile gab es weder in der klassischen noch der christlichen Ethik, die als philosophische Disziplinen empirisch und kritisch jene Ordnungsprobleme abhandeln, die sich aus der Philosophischen Anthropologie als Teil der allgemeinen Ontologie herleiten. Als Ausweg aus dieser selbstverschuldeten positivistischen Unmündigkeit schlägt Voegelin Grundlagen für eine neue Ordnungswissenschaft vor, die er methodologisch folgendermaßen ableitet: Theoretische Begriffe und solche Symbole, die Teil der Realität sind, müssen sorgsam auseinandergehalten werden; beim Übergang von der Wirklichkeit zur Theorie müssen die beim Klärungsvorgang angewandten Kriterien genau definiert werden; und der Erkenntniswert der gewonnen Begriffe muß daran geprüft werden, ob sie sich in größere theoretische Zusammenhänge einfügen lassen. Die hier umrissene Methode ist im wesentlichen das aristotelische Verfahren.308

305 306 307 308

Vergleiche Voegelin, Eric: Die neue Lehre der Politikwissenschaft, München 2004, S. 30. Voegelin, Eric: Die neue Lehre der Politikwissenschaft, München 2004, S. 15. Voegelin, Eric: Die neue Lehre der Politikwissenschaft, München 2004, S. 15. Voegelin, Eric: Die neue Lehre der Politikwissenschaft, München 2004, S. 46.

Der Computational Turn als neue Welle des Positivismusstreits

Die Ordnungswissenschaft von Voegelin greift also Techniken der klassischen Philosophie auf, um die systemischen Mängel positiver Wissenschaft sichtbar zu machen. Dass der Siegeszug der empirischen Sozialwissenschaft den Erkenntnishorizont des Forschens und Denkens verengt und zu einer Verkümmerung des Methodenkanons geführt hat, wird im Folgenden anhand der Publizistik und Kommunikationswissenschaft nachgewiesen. Die empirische Wende des Fachbereichs Publizistik hat schleichend über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten stattgefunden. Der sozialwissenschaftliche Mainstream bezieht sich mit dem Kritischen Rationalismus auf ein mehr oder weniger explizites wissenschaftstheoretisches Fundament und orientiert sich in seinem Selbstverständnis an der US-amerikanischen Kommunikationsforschung.309 Die Kommunikationswissenschaftlerin Maria Löblich beschreibt die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende als dreistufigen Evolutionsprozess mit den Phasen Variation, Selektion und Stabilisierung. In der ersten Phase zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1960er Jahre trat das empirischsozialwissenschaftliche Fachverständnis neben das geisteswissenschaftliche, um dieses anschließend institutionell ganz zu verdrängen. Diese empirische Wende wurde von den meisten Fachvertretern euphorisch begrüßt. Die Disziplinen seien damit laut Roland Burkhart einem zu „engen Korsett“310 entwachsen und hätten damit laut Hans Bohrmann die „babylonische Gefangenschaft in der philologischhistorischen Methode“ aufgebrochen; damit gehe das Ende der „biedermeierlichen Auffassungen“ einher und es beginne „‚eine realistische Einordnung‘ des publizistischen Prozesses“.311 Analytisch zerlegende, quantifizierende und Hypothesen prüfende Verfahren galten fortan als einzig gültige Methoden, und die Empiriker versprachen sich davon einen unmittelbaren Gebrauchswert ihrer Forschungsergebnisse.312 Dass die Verabsolutierung und Einengung der Methodik als Fortschritt gefeiert wurde, ist eine der seltsamsten Aporien dieser sozialwissenschaftlichen Wende. Dass die Verbannung geisteswissenschaftlicher Verfahrensweisen wie Hermeneutik, Phänomenologie und historische Methode sowie der Verzicht auf einen normativen Anspruch den geistigen Horizont auf „die Sichtweite von Exprimanern“313 verengt, blieb ein ungehörter Einwand. Vertreter der historischen, der deskriptiven sowie der normativen Methode wurden emeritiert und Lehrstühle

309 Vergleiche Löblich, Maria: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Zeitungswissenschaft, Köln 2010, S. 306ff. 310 Vergleiche Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft, Wien/Köln/Weimar 1995, S. 16. 311 Bohrmann, Hans: Das Verschwinden der Publizistik, in: Schäfer, Ulrich P./Schiller, Thomas/Schütte, Georg (Hg.): Journalismus in Theorie und Praxis, Konstanz 1999, S. 110 und S. 114. 312 Vergleiche Wagner, Hans: Kommunikationswissenschaft – ein Fach auf dem Weg zur Sozialwissenschaft, in: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, 38. Jg. 4/1993, S. 493. 313 Haacke, Wilmont: Wege und Umwege zur Kommunikationsforschung, in: Publizistik, 9. Jg. 3/1964, S. 195.

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Disruption der Medienbranche, Aufstieg der Daten- und Wissenskonzerne

nicht nachbesetzt, sodass historische und hermeneutische Verfahren nur mehr intuitiv und außerlehrplanmäßig als Geheim- oder Nischenlehre weitergegeben werden und ein marginalisiertes Dasein fristen. Durch Gleichsetzung von Methodik mit standardisierten, kontrollierten und nachprüfbaren Verfahren wurde ein alltagsweltlicher, subjektiver Erfahrungsbegriff, der über sinnliche Wahrnehmung hinausgeht, aus den Forschungsdesigns verbannt. Mit dieser freiwilligen Abwertung und dem Verzicht auf geisteswissenschaftliche Ansätze ging auch eine systematische Verkümmerung der generellen Methodik sowie – daraus folgend – der Medieninhaltsforschung einher. Die zeitgenössische Kommunikationsforschung lässt sich daher auf lediglich vier Einflussströme314 einschränken: auf die Umfrageforschung (Sample Survey Approach) mit Höreranalysen, Wahlkampfanalysen, Untersuchungen des Verhältnisses von personalem Einfluss und Massenmedien; auf die Propagandaforschung (Political Approach) mit Untersuchungen zum Einfluss politischer Kommunikation; auf die experimentalpsychologische Forschung (Experimental Approach) mit der Erforschung von Kommunikation und Gesinnungswandel und deren Bedeutung für die wissenschaftlich begründete Rhetorik; auf die Kleingruppenforschung (Small Group Approach), die die Erforschung von Kommunikation in Gruppen zum Gegenstand hat. Die wichtigsten Methoden sind Befragung, Experiment und Inhaltsanalyse.

314 Vergleiche Pürer, Heinz: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Konstanz 2003, S. 43.

5.

Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

Die Inhaltsanalyse wird als Technik, Methode oder Modell (beispielsweise in der Lasswell-Formel)315 verwendet und will die soziale Wirklichkeit erheben. Die Inhaltsanalyse untersucht Merkmale von Texten und ermittelt Inhalte und Botschaften. Gegenstand inhaltsanalytischer Verfahren können verschiedene Textsorten sein. Inhalte und ihre relevanten Merkmale (wobei diese in einem Kategorienschema codiert werden) in Bezug auf eine definierte Problemstellung zu beschreiben, ist eine komplexe Aufgabe. Empirische Inhaltsanalysen gewinnen durch die Systematik des Forschungsdesigns intersubjektiv nachvollziehbare und überprüfbare Erkenntnisse über die analysierten Texte. Untersucht werden die Deskription des Textes316 (Textanalyse) nach relevanten Merkmalsausprägungen (univariat) und die Inferenz vom Text auf den Kontext (bivariat). Die Deskription oder Textanalyse leistet die Rekonstruktion einer dem Text zugrunde liegenden Ordnung und analysiert den Inhalt. Die Inferenz317 hingegen untersucht die Korrelationen eindeutig definierter inhaltsinterner (Text) Merkmalsausprägungen mit ebenfalls eindeutig definierten inhaltsexternen (Kontext) Merkmalsausprägungen. Auf einer semiotischen Ebene der Analyse lassen sich eine syntaktische (Verständlichkeitsanalyse), eine semantische (Assoziationsanalyse) und eine pragmatische (Wirkungsanalyse) Ebene318 unterscheiden. Klaus Merten bestimmt in seinem Standardwerk zur Inhaltsanalyse diese wie folgt: „Inhaltsanalyse ist eine Methode zur Erhebung sozialer Wirklichkeit, bei der von Merkmalen eines manifesten Textes auf Merkmale eines nichtmanifesten Kontextes geschlossen wird.“319 Dass die Definition des Begriffs weder statisch noch eindeutig ist, wird klar, wenn man Mertens Begriffserklärung mit jener von Werner Früh, dem Verfasser des zweiten Standardwerks zum Thema, vergleicht: „Die Inhaltsanalyse ist eine empirische Methode zur systematischen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von Mitteilungen, meist mit dem Ziel einer darauf gestützten interpretativen Inferenz auf mitteilungsexterne Sachverhalte.“320 Früh verzichtet in seiner Definition auf das Wort „manifest“, gibt aber an, dass neben primärsinnlicher

315 316 317 318 319 320

Who says what in which channel to whom with what effect? Vergleiche Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 19. Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 23. Vergleiche Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 32. Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 15. Früh, Werner: Inhaltsanalyse, Konstanz/München 2011, S. 29.

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Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

Wahrnehmung wie dem Sehen, Riechen, Hören und Tasten auch „innerpsychische Vorgänge, Erlebnisse und Vorstellungen“321 als empirische Sachverhalte gelten und daher als Datensätze erfasst werden. Der Kern der Methode besteht nach Früh in einem Selektions- und Klassifikationsprozess. Die Inhaltsanalyse erfasst Strukturen von Textmengen als Aggregatdaten, was ihre computerunterstützte Anwendung attraktiv macht. Die Vereinfachung der Textgenerierung (maschinenlesbarer Originaltext, Datenbanken) und die Verfeinerung der Analyse (geeignete Software wie „CoAn“, „INTEXT“/„TextQuest“, „KEDS“, „TEXTPACK“, „WordStat“) haben die Möglichkeiten der Datenanalyse stark verbessert. Als Vorteile der computerunterstützten Inhaltsanalyse nennt Merten Wandelbarkeit der Zeichen, Speicherbarkeit, höhere Rechengeschwindigkeit und höchste Präzision bei der Datenbearbeitung. Allerdings weist Merten auch auf die Beschränktheit aller von Computern durchgeführten Analysen hin, da diese „intern nur auf der syntaktischen Ebene arbeiten“322 (Feststellung von Identität oder Nichtidentität von Zeicheneinheiten) und nicht lernfähig seien. Die durch den Computereinsatz gestiegene Bereitschaft, das Denken an die Maschine zu delegieren, hat, bei gleichzeitiger Inflation der Studien, deren Erkenntniswert eingeschränkt. Die Qualität der Daten, die man aus der computerunterstützten Inhaltsanalyse erhält, kann niemals besser sein als die Qualität der Daten, die man eingibt. Ist sich der Forscher dieser Gefahr bewusst, haben computerunterstützte Analysen den Vorteil, Sekundär- und Metaanalysen leichter und exakter zu machen. Das Einsatzfeld der Inhaltsanalyse ist weit. Merten hat eine Synopsis aller inhaltsanalytischen Verfahren323 erstellt und legt insgesamt vier hauptsächliche Aufgabenbereiche324 fest: Inhaltsanalysen leisten erstens eine Informationsbeschreibung; sie suchen nach Themen, Wertungen und Argumenten in den Inhalten und trennen

321 Früh, Werner: Inhaltsanalyse, 9. Auflage, Konstanz/München 2011, S. 30. 322 Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 340. 323 Vergleiche Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 121. Mertens Typologie unterteilt bei der Analyse in Kommunikator, Rezipient und Situation. Unter die Kommunikatoranalyse subsumiert er die Autorenanalyse, die Persönlichkeitsanalyse, die Wortanalyse, die Themenanalyse, die Kontingenzanalyse, die Bedeutungsanalyse, die frequentielle Lesbarkeitsanalyse, die strukturelle Lesbarkeitsanalyse, die Wertanalyse, die Einstellungsanalyse, die Motivanalyse, die Persönlichkeitsanalyse, die Verständlichkeitsanalyse (Close Procedure) sowie die Objektivitätsanalyse. Auf Rezipientenebene werden frequentielle Lesbarkeitsanalyse, strukturelle Lesbarkeitsanalyse, Auffälligkeitsanalyse, Verständlichkeitsanalyse und Resonanzanalyse unterschieden. Bei Situationsanalysen unterscheidet Merten syntaktische Komplexitätsanalyse, Themenanalyse, Symbolanalyse, Wirklichkeitsanalyse, Interaktionsanalyse und Interviewanalyse. Insgesamt zählt Merten 20 verschiedene inhaltsanalytische Verfahren auf, die er in seinem Grundlagenwerk nach der Entwicklung des Verfahrens, der Logik des Schlusses vom Text auf den Kontext, der Vorgehensweise, der Kritik der Methode, Variationen und Weiterentwicklungen sowie möglicher Anwendungen diskutiert. 324 Vergleiche Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 354f.

Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

diese in quantitativ und qualitativ. Zweitens leistet die Methode eine Informationsraffung und -beschleunigung. Durch die Nennung zentraler Aussagen und Argumente kann die vorhandene Information gekürzt und verdichtet werden. Drittens generieren sie neue Informationen, indem von Indikatoren des manifesten Inhalts auf Indikatoren des Kontexts geschlossen wird. Viertens ermöglichen Inhaltsanalysen Prognosen, wenn sie über längere Zeit erstellt und aus ihnen empirisch unterfütterte Trends abgeleitet werden. Merten spricht der Inhaltsanalyse ein steigendes methodisches Niveau zu, unterschlägt aber beispielsweise den bemerkenswerten Umstand, dass die empirische Forschung nach wie vor nicht trennscharf zwischen den Begriffen Information und Unterhaltung differenziert325 und kaum eine Studie zwischen der Definition der Grundgesamtheit und der Samplebeschreibung unterscheidet,326 sich also eine als empirisch definierende Disziplin den Luxus leistet, nach Belieben zwischen Intuition und Definition zu oszillieren. Auch der zentrale Punkt des Datenerhebungsprozesses weist viele Schwachstellen auf, zumal die Tätigkeit des Codierens in der Praxis der profitorientierten Forschung oft von angelernten studentischen Hilfskräften und nicht von ausgebildeten Forschern durchgeführt wird. Codierer, die lehrbuchmäßig sorgfältig, gründlich und systematisch Inhalte verarbeiten und mit dem Codebuch abgleichen sollten, haben in der gewinnorientierten Sozialforschung mit ihren strikten Zeitplänen oft erstaunlich große Interpretationsspielräume. Solche menschlichen Codierschwächen kann die computerunterstützte Inhaltsanalyse umgehen, doch auch Computercodierung ist anfällig für mehrere Fehlertypen wie Mehrdeutigkeit, fehlende Wörterbucheinträge, fehlende Kategorien und Wiederholung. Disambiguierungsroutinen in der Software bestimmen zwar die zutreffende Bedeutung eines Wortes im Kontext, bleiben aber nach wie vor fehleranfällig.327 Trotz dieser Fehleranfälligkeit sind die Vorteile computerunterstützter Inhaltsanalysen offensichtlich. Die Erfassung von Kriterien wie Text- und Satzlängen, Wortfrequenzen, die Anwendung von Wortartanalysen, Wortstammbestimmungen und die Lemmatisierung der Wörter kann, so wie der Einsatz von lexikalischen und semantischen Informationen, durch Automatisierung beschleunigt und verbessert werden. Ironischerweise ist eine solche Beschränkung der Inhaltsanalyse auf formale und manifeste Kriterien bereits von deren Gründervätern Paul Lazarsfeld und Bernard Berelson vor mehr als einem halben Jahrhundert gefordert

325 Vergleiche Hüning, Wolfgang: Standardisierung von Inhaltsanalysen für Fernsehnachrichten?, in: Wirth, Werner/Lauf, Edmund (Hg.): Inhaltsanalyse, Köln 2001, S. 22. 326 Vergleiche Schmid, Ingrid. A/Wünsch, Carsten: Definition oder Intuition?, in: Wirth, Werner/Lauf, Edmund (Hg.): Inhaltsanalyse, Köln 2001, S. 31. 327 Vergleiche Geis, Alfons: Konventionelle versus computergestützte Codierung offener Fragen, in: Wirth, Werner/Lauf, Edmund (Hg.): Inhaltsanalyse, Köln 2001, S. 332.

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Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

worden;328 ironischerweise deshalb, weil durch den Computational Turn zweifellos eine neue Blütezeit für quantitative Verfahren ermöglicht und das Verfahren in den letzten Jahrzehnten immer weiter auf qualitative Aspekte ausgeweitet wurde. Auch diese wissenschaftliche Debatte, ob denn nun die Stärke der Inhaltsanalyse im quantitativen oder im qualitativen Verfahren liege, kann auf eine lange und kontroverse Geschichte zurückblicken. So erwiderte Berelson auf die Kritik Siegfried Kracauers, wonach die Inhaltsanalyse nur vordergründige und formale Kriterien auswerten könne, dass genau in dieser vermeintlichen Schwäche ihre Stärke liege. Berelson grenzte die Inhaltsanalyse auf den manifesten Textinhalt329 ein und legte als ausschließliche Analyseeinheiten explizite und eindeutig zuordenbare Inhalte fest. Die Stärke der Inhaltsanalyse als „statistische Semantik“330 besteht für Berelson eben genau darin, keine Bedeutungslehre zu sein, sondern durch Quantifizierung mathematisch nachweisbare Objektivität zu gewährleisten, womit er den Wirkungsbereich seiner Methodik auf Textgattungen wie Mitteilungen und Sachberichte einschränkte. Diese methodische Selbstbeschränkung und philologische Genügsamkeit bemängelte Kracauer und verlangte, den quantitativen Ansatz um einen qualitativen zu ergänzen, weil bei beiden Methoden „Ursprung und Ziel“ auf „qualitative Überlegungen“331 zurückzuführen seien. Kracauer monierte Berelsons Methodenverständnis mit dem Hinweis, dass die Beschränkung auf unzweideutige Textelemente die – allen Texten immanenten – multiplen Konnotationen ausblende und die Bestimmung und Auswertung atomisierter Bestandteile nie exakt die Gesamtbedeutung eines Textes wiedergeben könne. Die quantitative Methode ist für Kracauer impressionistischer, als sie sich selbst mit ihrer pseudowissenschaftlichen Strenge den Anschein gibt. Er kritisiert folglich auch den saloppen Umgang mit den Wörtern objektiv und intersubjektiv. Ein subjektiver Forschungsansatz hindert den Wissenschaftler nicht daran, genau und exakt zu arbeiten, und auch bei quantitativen Analysen kann nicht bestimmt werden, welche Einschätzung der Wahrheit am nächsten kommt. Kracauer ging davon aus, dass auch quantitative Studien auf qualitativen Kriterien aufbauen. Jeder Forscher zu jeder Zeit rekurriere bei seinen Studien zwangsläufig auf eine „begrenzte Anzahl an wichtigen philo-

328 Vergleiche Berelson, Bernard: Content Analysis in Communications Research, New York 1952, S. 16. 329 Vergleiche Berelson, Bernard: Content Analysis in Communications Research, New York 1952, S. 19. 330 Kaplan, Abraham: Content Analysis and the Theory of Sign, in: Philosophy of Science, 10. Jg. 1943, S. 231. 331 Kracauer, Siegfried: Für eine qualitative Inhaltsanalyse, in: Ästhetik und Kommunikation, 7. Jg. 1973, S. 56.

Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

sophischen Doktrinen, moralischen Tendenzen und ästhetischen Präferenzen“.332 Möchte Forschung nicht „auf dem Niveau bloßen Meinens“333 verharren, sind diese erkenntnistheoretischen Prämissen in das Forschungsdesign einzubauen. Deshalb ist es auch nur folgerichtig, dass valide qualitative Studien zu denselben Schlüssen kommen wie quantitative. Texte werden erst durch ihre Ambivalenzen für die Forschung interessant. Zudem wächst die Latenz jedes Textes mit seiner zeitlichen Distanz. Auch wenn quantitative Analyse versucht, die Richtung einer Kommunikation – mit einer abgestuften Skala positiv/neutral/negativ – zu bestimmen, übersieht sie ein Wesenselement jeder Kommunikation: Texte weichen oft von der expliziten Bestimmung der Richtung ihrer Elemente ab und schlagen eine implizite Richtung ein. Oft wird erst in diesen Interrelationen der eigentliche Bedeutungsgehalt des Inhalts nachvollziehbar. Kracauer erarbeitet daher ein weiteres Argument: Was die quantitative Analyse mit ihrer mathematischen Methodik vermag (Wahrscheinlichkeiten und Korrelationen zu bestimmen), bezieht sich nicht notwendigerweise auf den analysierten Inhalt, sondern verbleibt auf der formalen Ebene. Die quantitative Methodik konzentriert sich aber mit Vorliebe auf Merkmale und Interrelationen, bei denen es sinnlos ist, sie auszuwerten. Der Geschichtsphilosoph und Filmtheoretiker Kracauer dreht also den üblichen Vorwurf der Statistiker, wonach qualitative Verfahren rein intuitiv seien, um und wirft mathematischen Textauswertungen vor, wesentliche Textmerkmale zu übersehen und zu ignorieren. Quantitative Methoden sind meinungsgetriebener und impressionistischer, als sie selbst zugeben, da jede Quantifizierung auf qualitativen Vorüberlegungen aufbaut, was Kracauer auf folgende Formel bringt: „Akkuratesse im Approximativen vermag, statistische Elaborate an Präzision zu übertreffen.“334 Auch Merten wertet Berelsons Forderung nach Ausschluss aller uneindeutigen Textelemente als „methodische Grobschlächtigkeit“, da auch bei einer „rein syntaktischen und semantischen Analyse“ der Text als „unvermeidlicher Nebeneffekt interpretiert“ werden müsse.335 Der Hinweis auf den Unterschied zwischen denotativen und konnotativen Bedeutungen wird mit Mertens Definition von nicht manifestem Inhalt nicht zufriedenstellend erörtert, ebenso wenig wie der Hinweis des Politikwissenschaftlers Ole Holsti, „nicht zwischen den Zeilen zu lesen“.336

332 Kracauer, Siegfried: Für eine qualitative Inhaltsanalyse, in: „Ästhetik und Kommunikation“, 7. Jg. 1973, S. 57. 333 Kracauer, Siegfried: Für eine qualitative Inhaltsanalyse, in: „Ästhetik und Kommunikation“, 7. Jg. 1973, S. 57. 334 Kracauer, Siegfried: Für eine qualitative Inhaltsanalyse, in: Ästhetik und Kommunikation, 7. Jg. 1973, S. 58. 335 Vergleiche Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 57. 336 Holsti, Ole R.: Content Analysis for the Social Sciences and Humanities, Reading/Mass 1969, S. 12, zitiert nach Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 57.

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Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

Auch die Gleichsetzung von „qualitativ“ mit „latent“ und „quantitativ“ mit „manifest“ lehnt Merten ab. Der Kommunikationswissenschaftler schlägt folgende Unterscheidung vor: Manifest sind alle absoluten Merkmale (syntaktische Einheiten, syntaktisch-semantische Einheiten) eines Textes sowie die zwischen ihnen herstellbaren Relationen (syntaktische Strukturen, semantische Assoziationen). Latent sind dagegen die Relationen, die sich zwischen den absoluten und relationalen Textmerkmalen und den Benutzern des Textes (Kommunikator, Codierer, Rezipient) ausmachen lassen.337

Mit dieser Definition nimmt er die objektive Beschreibung der latenten Inhalte explizit aus dem Zuständigkeitsbereich der Inhaltsanalyse. Latente Inhalte könnten wegen ihrer Relationalität nicht eindeutig definiert werden, außer wenn es ein „abgeschlossenes Arsenal von Regeln der Interpretation von Texten“338 gebe. Sein Fachkollege Früh sieht hingegen kein Problem dabei, latente Inhalte durch Inhaltsanalysen trennscharf und eindeutig zu bestimmen, da das Kriterium für die Codierbarkeit nicht die direkte, explizite Formulierung der gemeinten Bedeutung ist, sondern die Möglichkeit ihrer intersubjektiv hinreichend evidenten Beschreibung. Wenn verschiedene Leser (oder Codierer) dieselbe „latente“, d. h. implizite Tendenz eines Textes oder einer Äußerung erkennen, dann ist sie „manifest“, ob sie nun explizit ausformuliert war oder nicht.339

Früh fragt anhand des Beispiels „Berichterstattung deutscher Tageszeitungen in ihrer Tendenz für oder gegen Kernkraft ein Jahr nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, […] wie man auch das inhaltsanalytisch erfassen kann, was ‚zwischen den Zeilen steht‘“.340 Unter impliziten Kategorien versteht Früh ausschließlich Stilfiguren. Er beschränkt sich bei der Nennung dieser Stilmittel341 auf Ironisierung, Präsuppositionen/Inferenz, Emotionalisierung/konnotative Bewertung durch Vorund Nachsilben, Herabsetzung der Glaubwürdigkeit der Quelle, Statusaufwertung, Relativierung, Suggerieren von Faktensicherheit, Wiederholung sinngleicher Aussagen, Aufzeigen von Argumentationsmängeln und Sonstiges und erklärt nicht, warum er bei der Auswahl der klassischen rhetorischen Stilmittel so arbiträr und

337 338 339 340 341

Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 57. Merten, Klaus: Inhaltsanalyse, Opladen 1995, S. 57. Früh, Werner: Inhaltsanalyse, 9. Auflage, Konstanz 2004, S. 227. Siehe Früh, Werner: Inhaltsanalyse, 9. Auflage, Konstanz 2004, S. 228. Früh, Werner: Inhaltsanalyse, 9. Auflage, Konstanz 2004, S. 235ff.

Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

stark verkürzend vorgeht.342 Früh scheint geahnt zu haben, dass seine Aufzählung nicht vollständig ist, da er abschließend einschränkt, mit seiner Aufzählung nur exemplarische Anwendungsmöglichkeiten für die Analyse latenter Inhalte aufzeigen zu wollen. Er begrenzt damit in seinem Lehrbuch implizierte Bewertungen auf in die Argumentation einfließende stilistische Mittel. Seine Schlussfolgerung, dass sich alle Inhalte (also auch indirekte oder implizite Nebenbedeutungen) erfassen ließen, sofern sie so exakt codiert würden, dass alle Inhalte von allen Codierern denselben Kategorien zugeordnet würden, liest sich kurios, weil er diese Forderung bei der Erstellung seines eigenen Kategorienschemas missachtet. Zudem spricht er anderen Textinterpretationsverfahren wie der Hermeneutik die wissenschaftliche Gültigkeit ab, da deren individuelle Interpretationen nicht eindeutig definierbar und deren Analyseschritte nicht nachvollziehbar und systematisch seien, was Früh mit mangelnder Objektivität gleichsetzt. Er mahnt allerdings auch bei Inhaltsanalysen zur Vorsicht vor tieferen und idiosynkratisch geprägten Implikationen, da er dem Hermeneutiker und dem Codierer gleichermaßen subjektive Prädispositionen wie Vorwissen, Geläufigkeit bestimmter Assoziationen und das Vorhandensein bestimmter Einstellungen und Vorurteile unterstellt. Mangelnder Codierbarkeit wissenschaftliche Gültigkeit abzusprechen, mutet nur dann exotisch an, wenn „Objektivität“ mit „Codierbarkeit“ gleichgesetzt wird. Früh selbst wendet bei der Erstellung seiner impliziten Stilmittel selektive Auswahlkriterien an, behauptet für diese aber Objektivität, da er sie in ein Kategorienschema presst. Warum der Kommunikationswissenschaftler seine Argumentation „objektiv“ nennt und hermeneutischen Verfahren Intersubjektivität abspricht, bleibt sein Geheimnis. Vielleicht ist diese Aporie eine Erklärung dafür, dass er in seinem Lehrbuch jene Kapitel, die einen Vergleich mit anderen Textanalyseverfahren wie Hermeneutik und linguistische Textanalyse behandeln, in der neunten Auflage ersatzlos gestrichen hat. Auch die Kombination der Inhaltsanalyse mit anderen Methoden wie der Diskursanalyse sowie Fragen nach Agenda-Setting und Frames blendet er aus. Auf einer methodenimmanenten Ebene stellen sich weder Früh noch Merten die Frage nach den Kategorien Schweigen, Nichtagenda, Geheimnis, Gerücht und Zwischenden-Zeilen-Schreiben-und-Lesen. Dabei sind diese Merkmale zentral für das Verständnis von Inhalten. Was in Texten geschrieben steht, ist weder a priori wahr noch für den Großteil der Rezipienten geeignet. Die antiken Autoren haben diese Kriterien gekannt und deshalb zwischen den Zeilen geschrieben, um bewusst und absichtsvoll ihre Überzeugungen vor der Mehrheit zu verbergen und nur einem ausgewählten Personenkreis zugänglich zu machen. Wer die wahre Bedeutung einer

342 Früh hätte sich etwa bei Schopenhauers eristischer Dialektik bedienen können und dort eine umfassende und historisch erprobte Aufzählung codierbarer Stilmittel erhalten.

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Presseaussendung aus dem Pentagon verstehen will, sollte sich daher nicht auf die Inhalte konzentrieren, sondern muss „lesen“, was sie vertuschen, verschleiern, nicht erwähnen.343 Neben werkimmanenten gibt es auch werkübergreifende Kategorien, die bei jeder Analyse berücksichtigt werden müssen. Bevor diese werkübergreifenden Kategorien diskutiert und ausgearbeitet werden, werden die allgemein – um mit Früh zu sprechen – objektiven und intersubjektiv gültigen Interpretationsprinzipien der philosophischen Hermeneutik überblicksartig dargestellt. Denn auch Inhaltsanalysen müssen die epistemologischen Prinzipien der hermeneutischen Billigkeit befolgen, wollen sie Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchen. In seiner ursprünglichen Bedeutung meint der Begriff Hermeneutik eine bestimmte Einheit des Vollzugs des hermeneuein (das Mitteilens), d. h. des zu Begegnung, Sicht, Griff und Begriff bringenden Auslegens der Faktiztiät. […] Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zum machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden.344

Texte, die gelesen werden, können verstanden, missverstanden oder nicht verstanden werden. Wenn es diesen grundlegenden Unterschied zwischen RichtigVerstehen und Falsch-Verstehen nicht gäbe, ergäbe es auch keinen Sinn, Texte inhaltsanalytisch auszuwerten. Verstehen und Interpretieren sind kulturelle Praktiken und lassen sich als anthropologische Konstante bestimmen. Der Anwendungsbereich der Hermeneutik umfasst also mündliche und schriftliche Texte.345 Seit den Anfängen menschlicher Kultur werden Gesetze, heilige Schriften, Kunstwerke, Verträge und sonstige Texte interpretiert, wobei es bei den heiligen Schriften vor allem um die richtige Auslegung geht. Bei der Auslegung von Mythen arbeitet der Interpret apologetisch, durch seine Interpretation werden Wahrheit und Geltung der Texte nachgewiesen. Der Analytiker hat den Text dann verstanden, wenn er die Inhalte richtig versteht. Die Interpreten unterscheiden zwischen dem wörtlichen und dem tieferen, eigentlichen Sinn, was „allegorischer Sinn“346 genannt

343 Vergleiche Misik, Robert: Politik der Paranoia, Berlin 2009, S. 39ff. 344 Heidegger, Martin: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Frankfurt a.M. 1988, S. 15; Hervorhebung so im Original. 345 Vergleiche Jung, Matthias: Hermeneutik zur Einführung, Hamburg 2001, S. 31ff. 346 Vergleiche dazu Jung, Matthias: Hermeneutik, Hamburg 2001, S. 32. Eine zweite hermeneutische Tradition wird von Aristoteles in seinem Traktat „peri hermeneias“ begründet, wo er zwischen Gemeintem, Gesagtem und Bezeichnetem unterscheidet, vergleiche dazu Aristoteles: Gesammelte Werke, Band 1, Hamburg 1995, S. 1–23.

Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

wurde und dann vom jüdischen Philosophen Philon von Alexandria zur Allegorese weiterentwickelt wurde. Anfang des 3. Jahrhunderts erweiterte der Theologe Origenes Philons Methode zu einem dreigliedrigen Schema. Origenes unterschied zwischen dem körperlichen (buchstäblichen), psychischen (seelischen) und dem spirituellen (pneumatischen, geistigen) Sinn der heiligen Texte.347 Verstehen heißt hier unhinterfragtes Akzeptieren des Textkorpus. Das Ziel der Interpretation liegt in der Rettung des Wesens der Heiligen Schrift. Im 13. Jahrhundert wurde dieses Deutungsmuster systematisiert und zu einem Viererschema erweitert. Der Textinterpret unterscheidet zwischen den Ebenen „historia“ („littera“), „allegoria“, „tropologia“ („moralis intellectus“) und „anagogia“.348 Mit dieser Methode arbeitet beispielsweise der Katechismus der katholischen Kirche.349 Hermeneutik war also lange von theologischen und mythischen Vorgaben inspiriert. Die Methoden der Bibel-Auslegung wurden in der Neuzeit säkularisiert. Durch die Erfindung des Buchdrucks veränderte sich die Wahrnehmung des Interpretierens. Johann Conrad Dannhauer prägte den Begriff Hermeneutik für die Textinterpretation, die sich nicht auf die Auslegung von sakralen Texten beschränkt,350 und seitdem gilt die Hermeneutik als Teilgebiet der Logik. Das richtige Verstehen von Texten baut auf allgemeinen Prinzipien oder Metaprinzipien auf, die der Wissenschaftstheoretiker Oliver Scholz festgelegt hat. Diese „allgemeinen Interpretationsprinzipien sind Präsumtionsregeln mit widerleglichen Präsumtionen“.351 Alle von Scholz erarbeiteten Verstehensregeln setzen eine Unterscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“ und zwischen „Richtig-“, „Falsch-“ und „Missverstehen“ voraus; „allgemeine Regeln“ deshalb, weil alle speziellen Auslegungsregeln (wie jene der Inhaltsanalyse) von ihnen abhängen und die allgemeinen Regeln daher Gültigkeit für alle Textgattungen für sich beanspruchen. Der Begriff Präsumtion kommt aus der Rechtswissenschaft, wo Termini wie Unschuldsvermutung und Todesvermutung zu den Grundprinzipien des rechtsstaatlichen Verfahrens gehören. Aufgrund der Unschuldsvermutung muss der Staatsanwalt die Schuld des Angeklagten beweisen und nicht der Verdächtige seine Unschuld. Und die Todesvermutung bescheinigt zum Zeitpunkt eines Beschlusses den Tod einer Person. Eine Präsumtion gilt so lange als wahr, bis das Gegenteil bewiesen wird. Ein

347 Vergleiche Jung, Matthias: Hermeneutik zur Einführung, Hamburg 2001, S. 35ff. 348 Mit dem vierfachen Schriftsinn arbeitet die Bibelauslegung. Dazu gilt der Merksatz: Der Wortsinn lehrt das Geschehene, der allegorische, was du glauben sollst, der moralische, was du tun sollst, der anagogische, wohin du streben sollst; vergleiche dazu Jung, Matthias: Hermeneutik, Hamburg 2001, S. 38 und Scholz, Oliver R.: Verstehen und Rationalität, Frankfurt a.M. 2016, S. 20ff. 349 Vergleiche den „Katechismus der Katholischen Kirche“, in: http://www.vatican.va/archive/ DEU0035/_PW.HTM, letzter Zugriff: 11.07.2022. 350 Vergleiche Scholz, Oliver R.: Verstehen und Rationalität, Frankfurt a.M. 2016, S. 36f. 351 Scholz, Oliver R.: Verstehen und Rationalität, Frankfurt a.M. 2016, S. 248.

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Totgeglaubter kann wieder auftauchen, die Schuld/Unschuld eines Tatverdächtigen bewiesen werden. Solche Argumentations- und Begründungspflichten sind auch auf dem Gebiet der Textinterpretation nützlich, hilfreich und in mehrfacher Hinsicht unverzichtbar. Zunächst einmal (a) sind sie unentbehrliche Mittel zum Verstehen nicht-wörtlicher und sogar wörtlicher Rede. Darüber hinaus (b) sind sie konstitutive Bedingungen für die Praxis der sprachlichen Verständigung und für die Praxis der alltagspsychologischen Erklärung und Voraussage von Verhalten. […] Die Anwendung der Schlüsselprädikate, die beim Verstehen zugeschrieben werden, die Anwendung von Begriffen wie „Meinung“, „Handlung“, „Person“ etc., ist nur in Verbindung mit den allgemeinen Interpretationsprinzipien, allen voran der Rationalitätspräsumtion, möglich.352

Jede einzelne Präsumtion bleibt dabei offen für eine Korrektur oder Widerlegung durch empirische Überprüfung. Die allgemeinen Interpretationsprinzipien sind laut Scholz auch konstitutive Bedingungen für das angemessene Verstehen in einem zweifachen Sinne. Erstens sind sie konstitutiv für die alltagspsychologische Beschreibung, Erklärung und Vorhersage und zweitens sind sie konstitutiv für propositionale Einstellung, Bedeutung und Handlung.353 Mit „propositionaler Einstellung“ wird die innere Haltung oder Beziehung zu einem Sachverhalt bezeichnet. Die allgemeinen Interpretationsprinzipien begründen als unentbehrliche Mittel erst menschliches Verstehen und können dabei drei verschiedene Funktionen erfüllen: (a) Sie können zunächst einmal heuristische Funktionen haben, d. h., sie leiten uns manchmal bei der Suche von geeigneten Interpretationshypothesen. Wollte man diese Funktion explizit machen, könnte man die Prinzipien nach dem Schema formulieren: Suche eine Interpretation I des Interpretandums x, welche eine bestimmte Eigenschaft E hat. (b) Sie können ferner evaluative Funktionen erfüllen, d. h., sie gestatten die bewertende Unterscheidung von konfligierenden Interpretationen, die im Hinblick auf die Daten (Wortlaut, etc.) gleichwertig sind. Steht diese im Vordergrund, kann man die Prinzipien folgendermaßen formulieren: Wähle aus mehreren konkurrierenden Interpretationen diejenige, welche als einzige die Eigenschaft E hat (bzw. in höherem Maße E aufweist als die anderen). (c) Eine dritte Funktion wurde nur selten theoretisch reflektiert und kommentiert, obgleich sie […] seit der Antike beständig ausgeschlachtet wurde: Die allgemeinen

352 Scholz, Oliver R.: Verstehen und Rationalität, Frankfurt a.M. 2016, S. 248. 353 Vergleiche dazu Scholz, Oliver R.: Verstehen und Rationalität, Frankfurt a.M. 2016, S. 316.

Geheimnis und Inhalt

Verstehensprinzipien können den Wechsel oder Übergang von einer Verstehensstufe zu einer anderen erzwingen oder zumindest ermöglichen. Eine Analyse dieser Funktion der Prinzipien ist eine wesentliche Voraussetzung für eine Theorie des Verstehens all dessen, was über das buchstäblich Gesagte hinaus zu verstehen gegeben wird. Dazu gehören Implikaturen im Sinne von H. Paul Grice oder auch die sogenannten indirekten Sprechakte, auf die John R. Searle aufmerksam gemacht hat.354

Dieser dritte Bereich der Hermeneutik erforscht das Implizite eines Textes. Hier prägen eher Verstellungen als manifester Ausdruck den zu untersuchenden Text und der Weg zur entscheidenden Wahrheit führt über Andeutungen, vorsätzliche Fallen und Auslassungen. Die Leitfragen einer solchen Hermeneutik, die Jacob Taubes, der von Leo Strauss Lektüreunterricht erhielt, formuliert hat, sind: „Gegen wen wurde dieser Text geschrieben? oder: Um welchen Kernsatz zu verbergen, wurde dieser Text geschrieben?“355 Dazu gehört auch das Zwischen-den-Zeilen-Lesenund-Schreiben, auf das Scholz in seiner wegweisenden Abhandlung allerdings nicht näher eingeht. Wir wollen daher die Kunst des Schreibens unter die dritte Funktion einreihen. Die von Scholz erarbeiteten Kategorien und Regeln decken als Metaprinzipien auch den Bereich der Inhaltsanalyse ab und werden in der vorliegenden Arbeit zur theoretischen Positionierung verwendet.

5.1

Geheimnis und Inhalt

In keiner menschlichen Kultur werden sämtliche Sachverhalte offen ausgesprochen, sondern überall findet sich die Trennung des Gesagten vom Ungesagten. Geheimnisse sind etwas genuin Menschliches, denn Tiere können sich nur verstellen oder verstecken.356 Der Soziologe Georg Simmel nannte Geheimnisse daher ein strukturierendes Prinzip der Gesellschaft und zählte sie zu den „größten Errungenschaften der Welt“.357 Das Geheimnis eröffnet neben der sinnlich wahrnehmbaren eine zweite Welt und erweitert den menschlichen Horizont. Durch Geheimnisse werden Grenzen gezogen, Gemeinschaften begründet und Menschen nützen sie, um bestimmte Gruppen mit exklusivem Wissen zu versorgen. Das Geheimnis wird durch die Errichtung von Zutrittsbarrieren vor dem Zugriff durch Unwissende ge-

354 Scholz, Oliver R.: Verstehen und Rationalität, Frankfurt a.M. 2016, S. 163; Hervorhebung so im Original. 355 Taubes, Jacob: Vom Kult zur Kultur, München 2007, S. 8. 356 Vergleiche dazu Sommer, Volker: Lob der Lüge, München 1992. 357 Vergleiche dazu Simmel, Georg: Soziologie, Gesamtausgabe Band II, Frankfurt a.M. 1992, S. 406.

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schützt.358 Vom Rätsel unterscheidet sich das Geheimnis durch seine Unlösbarkeit. Zu den Funktionen des Geheimnisses gehört es, Wissen bestimmten Personengruppen (beispielsweise Feinden, Konkurrenten) vorzuenthalten. Geheimnisse trennen also die Eingeweihten von den Ahnungslosen. Exklusiv geteiltes und der Allgemeinheit nicht zugängliches Wissen kann für die Eingeweihten eine Gruppenbildung ermöglichen, Hierarchien schaffen und zum Ausbau von Macht und Einfluss verwendet werden. Geheimnisse können auch Schutz vor Kontrolle bieten. Auf der Ebene des Inhalts bezeichnen Geheimnisse einen mit logischen Argumenten nicht restlos lösbaren Sachverhalt. Im Zeitalter der totalen Transparenz gilt das Geheimnis als schlecht beleumundet. Jede Bewegung des Bürgers kann mittels Geotagging aufgezeichnet, jede Äußerung im World Wide Web nachverfolgt werden. Die Worte und Taten der Menschen werden öffentlich und sind jederzeit von außen nachvollziehbar. Wer Nutzerprofile in den sozialen Netzwerken analysiert, bekommt einen genauen Eindruck über die akzeptierten, erlaubten und erwünschten Selbstpräsentationsmodi der Gegenwart. Auffällig dabei ist, dass, neben dem freiwilligen Öffentlichmachen früher als privat geltender Bereiche, manche Nutzertypen bewusst Sachverhalte ausblenden. Diese Auslassungen und Geheimhaltungen sind keine neuen Entwicklungen. Das „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“ trennt zwischen „Arkanum“ und „Geheimnis“.359 Arkanum bedeutet die Geheimhaltung von religiösen Handlungen beziehungsweise die Geheimlehre von verborgenen Naturkräften. Dieses geheime Wissen kann durch besondere Rituale und Techniken ausschließlich an Eingeweihte weitergegeben werden. Das Wort Geheimnis stammt vom althochdeutschen „heim“ und meint „trauten Umgang“ und „sicheren Wohnort“. Luther übersetzte mit diesem Wort das Mysterium, womit der Begriff sinnverwandt mit dem Arkanum wurde. Neben dem religiösen Geheimnis können Staatsgeheimnisse und Herzensgeheimnisse unterschieden werden. Noch im Mittelalter hatten die Begriffe Öffentlichkeit und Geheimnis360 keine Bedeutung. Erst im 15. Jahrhundert entwickelte sich mit der Konzeption des Fürstenstaats ein positiver Begriff des Geheimnisses, der sich dadurch auszeichnete, dass der politische Entscheidungsprozess vom Volk prinzipiell abgeschirmt war. Das wird schon bei den Berufsbezeichnungen und den Namen für die Orte der politischen Entscheidung offensichtlich. „Heimliche“, lateinisch: „secretarii“, laute die Bezeichnung für die engsten Berater der Herrscher, und die politischen Ent-

358 In der Religion bildet die Offenbarung den Gegenbegriff zum Geheimnis des Glaubens. Dieser Begriff bezieht sich auf der Vernunft unzugängliche Phänomene. 359 Vergleiche dazu Regenbogen, Arnim/Meyer Uwe (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 65 und S. 242. 360 Vergleiche dazu Hölscher, Lucian: Öffentlichkeit und Geheimnis, Stuttgart 1979, S. 124ff.

Geheimnis und Inhalt

scheidungen wurden im „Kabinett“, was ebenfalls „heimlich“ heißt, getroffen.361 Im Laufe des 15. Jahrhunderts institutionalisierte sich der politische Willensbildungsprozess im Geheimen Rat, der per Eid verpflichtet war, bestimmte Inhalte nicht weiterzuleiten. Das Geheimleben der Machthaber war zwar schon beim antiken Historiker Tacitus beschrieben worden, etablierte sich aber erst im 16. Jahrhundert in der – sich auf Machiavelli berufenden – Lehre von der Staatsräson als zentraler politischer Terminus: Verschwiegenheit und Täuschung galten jetzt als Voraussetzungen einer guten Politik.362 Der Jurist Christian Thomasius sah eine generelle Notwendigkeit, bestimmte Sachverhalte im Umgang mit anderen Menschen geheim zu halten.363 Der Bevölkerung konnten auf diese Art unpopuläre Maßnahmen wie Steuererhöhungen und Reformen schmackhaft gemacht werden. Thomasius erweiterte das Geheimhaltungsgebot auf Ärzte und Juristen, deren Schweigepflicht ein Berufsprivileg darstellt. Diese positiven Aspekte der Geheimhaltung sprach er nur seinem Berufsstand und Politikern zu, nicht aber dem Papst. In der Religion sah er als Protestant das vernunftbegabte Individuum, nicht die Vermittlung durch die Kanzel, als letztverbindliche Moralinstanz der Vernunft. Seine Arkankritik des Politischen adressierte das Unfehlbarkeitsdogma des Papstes, der das Geheimnis des Glaubens verwaltet. Aus dieser theologischen Begründung speist sich die Verdrängung des Arkanraums aus der offiziellen Historiografie des Liberalismus. Wer im Politischen etwas geheim hält, macht sich verdächtig. Der Liberalismus verneint die Erfordernis eines Arkanraums. Die Öffentlichkeit wird als einzig legitime politische und soziale Handlungseinheit akzeptiert. Das Individuum, nicht das Geheimnis bildet seitdem den Gegensatz zur Öffentlichkeit. Öffentlichkeit gilt im liberalen Denken als entscheidendes Kriterium der (nicht ausschließlich) politischen Vernunft. Geheimnisse werden nur noch im persönlichen Erleben positiv konnotiert. Liebe und Erfolg sind Beispiele für die Individualisierung und Privatisierung des Geheimnisses. Für die Rechtswissenschaft fand Thomasius Arkanbereiche hingegen geboten und nützlich. Er trennte zwischen „jus publicum theoreticum“, dem exklusiven, nur einer ausgebildeten Elite zugänglichen „Geheimwissen“ und dem „jus publicum prakticum“. Wissen galt ihm als Selbstbehauptung eines als bürgerlich verstandenen Individuums. Sobald Gesprochenes als Text öffentlich werde, verlasse es den Arkanbereich in Gestalt von Gesetz- und Lehrbüchern: „So bald sie aber öffentlich geschrieben werden, höret das Geheimnis auf.“364 Unter notwendigen Arkanräumen verstand Thomasius Techniken und Wissensbestände, die bestimmten Berufsgruppen und Ständen erlaubt, dem durchschnittlichen Privatmann aber

361 362 363 364

Vergleiche dazu Hölscher, Lucian: Öffentlichkeit und Geheimnis, Stuttgart 1979, S. 130. Vergleiche dazu Hölscher, Lucian: Öffentlichkeit und Geheimnis, Stuttgart 1979, S. 131. Vergleiche dazu Hölscher, Lucian: Öffentlichkeit und Geheimnis, Stuttgart 1979, S. 132. Hölscher, Lucian: Öffentlichkeit und Geheimnis, Stuttgart 1979, S. 132.

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verboten seien. Diese positive Lesart von „Geheimnis“ wurde erst durch die Aufklärung hinterfragt: Liberale Vordenker beanstanden nun alle Argumente für eine Geheimhaltung als interessengesteuert. Diese Argumentation ist allerdings selbst widersprüchlich: Das alte Argument, daß politische Entscheidungen vor dem Gegner geheim gehalten werden müssen, um ihren beabsichtigen Effekt nicht zu gefährden, konnte dadurch überspielt werden, daß man die Gegnerschaft leugnete oder aufzuheben trachtete, konnte aber nicht widerlegt werden. Solange Freund-Feind-Verhältnisse sowohl innen- wie außenpolitisch nicht abgebaut werden, blieben und bleiben bis heute auch im liberalen Staat Arkanbereiche erhalten, trotz grundsätzlicher Anerkennung des Öffentlichkeitsprinzips und seiner gesetzlichen Institutionalisierung.365

Obwohl die Aufklärung diesen Widerspruch nicht überwand, verwendete sie den Begriff des Geheimnisses zur Feindbestimmung. Galt bislang die Geheimhaltung als Voraussetzung jeder erfolgreichen Politik- und Berufsausübung, wurde nun ein Gegensatz zwischen Öffentlichkeit und Geheimnis konstruiert. Die beiden Termini, die, wie der Historiker Lucian Hölscher nachzeichnet, von einer uralten Lichtmetaphorik lebten, wurden mit den Gegensatzpaaren klar/unklar, sichtbar/unsichtbar, hell/dunkel beschrieben. Das Öffentliche sei nicht nur sicht- und wahrnehmbar, sondern auch redlich und richtig. Die liberale Staatstheorie bestimmte Öffentlichkeit und Geheimhaltung als dichotome und universale Grundkategorien der Gesellschaft mit eindeutiger Rollenzuteilung: „Öffentlich präsentiert sich der Welt das Gute, das man begrüßt und fördert, heimlich sucht das Böse die gute Ordnung zu zerstören.“366 Öffentlichkeit wurde zum anthropologischen Naturzustand des Menschen verklärt, während die Herrschaft des Geheimnisses als falsche und zeitweilige Verdrängung dieses Naturzustands beschrieben wurde. Der Siegeszug der Aufklärung verlief parallel zu jenem der Abwertung und Verstoßung des Arkanen. Die Öffentlichkeit wurde zum bestimmenden Moment für Gesellschaft und Staat. Der Historiker Reinhart Koselleck datiert diesen Urknall mit dem von John Locke formulierten „Gesetz der öffentlichen Meinung oder des Rufes“,367 welches er neben göttlichem und bürgerlichem Gesetz als gleichberechtigten dritten Teilbereich des menschlichen Urteilens einführte. Diesem Gesetz fehle es an der „Macht, seine Erhaltung zu erzwingen“,368 wenn es als „Gesetz der Mode“369 (als Selbstver365 Hölscher, Lucian: Öffentlichkeit und Geheimnis, Stuttgart 1979, S. 135. 366 Hölscher, Lucian: Öffentlichkeit und Geheimnis, Stuttgart 1979, S. 128. 367 Im Original „Law of Opinion and Reputation“; vergleiche Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 2006, S. 444. 368 Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 2006, S. 447. 369 Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 2006, S. 447.

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gewisserung untereinander und Abgrenzung zu anderen Ständen) menschliches Verhalten in Tugend und Laster – also in moralisch und unmoralisch – trenne. Der revolutionäre Aspekt dieses Gesetzes liegt in seiner Macht, moralisch zu urteilen. Nach Gott und dem Gesetz gehorcht und unterwirft sich der Bürger freiwillig dem Gesetz der Mode und den Handlungen und Urteilen anderer Privatpersonen, die im öffentlichen Dialog Maßstäbe diskutieren und für verbindlich erklären, „nach denen sie beurteilen, ob die Handlungen moralisch redlich sind, und nach denen sie sie auch als gute oder schlechte bezeichnen“.370 Der Bürger spricht nicht Recht und besitzt keine Exekutivgewalt, aber er verfügt über die Macht des moralischen Urteils, und dieses Urteil hat selbst Gesetzescharakter. Das philosophische Gesetz des Urteilens beansprucht für sich denselben Stellenwert wie das Recht. Woraus aber beziehen die neuen Träger der Gesellschaft, die Bürger und Aufklärer, ihre Legitimation? Aus der Geheimhaltung. Mit dieser Denkfigur erklärt Koselleck einen nur scheinbaren Widerspruch. Transmitter und Ermöglicher des öffentlichen Raums sind Geheimgesellschaften, Gegenöffentlichkeiten und Klubs. Am Beginn des liberalen Rechtstaats stehen Geheimbünde. Der Bürger formuliert in den Logen eigene Gesetze, die neben die Gesetze des absolutistischen Staates treten. „Die Selbstgewißheit des moralischen Innenraums liegt in seiner Fähigkeit zur Publizität“,371 schlussfolgert Koselleck, um zu begründen: Öffentlichkeit gehe aus dem Privatraum hervor. Aufklärung und Geheimnis bilden bei Koselleck ein geschichtliches Zwillingspaar. Freimaurerische Geheimorganisationen372 waren eine neue soziale Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft. Das Logengeheimnis tritt in die Fußstapfen der religiösen Mysterien und beerbt die Arkanpolitik des Fürstenstaats. Das Politische der Logen bestand in ihrem Anspruch, frei vom Zugriff des Souveräns zu agieren. Die Freimaurer forderten den Schutz vor dem Staat und keinen Schutz durch den Staat.373 Als selbsternannten „Trägern des Lichts“ werde ihnen die „Freiheit im geheimen zum Geheimnis der Freiheit“.374 Das Geheimnis schafft standesübergreifend Gemeinsamkeit bei den Mitgliedern, und deren Abwesenheit von der realen Staatsmacht nährt ein Selbstbild von ihrer generellen Abwesenheit vom politischen Meinungsbildungsprozess. Bürgerliche Freiheit zu leben, war unter absolutistischen Rahmenbedingungen nur im Geheimen machbar. Erst durch das Geheimnis wird der Zusammenschluss von sich selbst als frei und gleich begreifenden Bürgern möglich und zugleich bietet es auch Schutz vor einer als feindlich wahrgenommenen Außenwelt. Das Geheimnis wird zum Grundbaustein der vierten Gewalt, und John Lockes Gesetz der Meinung und Reputation, 370 371 372 373 374

Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 2006, S. 448. Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise, Freiburg/München 1959, S. 44. Vergleiche dazu Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise, Freiburg/München 1959, S. 57. Vergleiche dazu Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise, Freiburg/München 1959, S. 58. Vergleiche Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise, Freiburg/München 1959, S. 60.

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das Gesetz der Mode und des Urteils, der Tugend und des Lasters der Privatperson beansprucht den gleichen Rang wie das rechtsstaatliche Gesetz. Die Konzepte von Geheimnis und Öffentlichkeit verbindet also eine gegenseitige Abhängigkeit. Jede Demokratie kennt auch bestimmte Formen der Geheimhaltung. Statt anzunehmen, dass die Öffentlichkeit das Geheimnis zurückdrängt, ist es zielführender, von einer strukturellen Interdependenz zwischen Öffentlichkeit und Geheimnis auszugehen. Die Entwicklung der Demokratie brachte neue Formen der Arkanisierung mit sich. Privatheit und Öffentlichkeit entstanden gemeinsam. Die Moderne erfand eine rechtlich definierte Privatsphäre als Schutzraum vor dem Zugriff durch den Staat. Aus Datenschutzgründen wird der einzelne Bürger durch Amtsgeheimnis, Briefgeheimnis und Bankgeheimnis vor dem staatlichen Zugriff geschützt. Geheimnis bedeutet hier den Schutz des Einzelnen vor der Kontrolle durch den Staat. Neben dem Ausbau der Privatrechte wandelte sich auch das Verhältnis zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit durch die Erfindung des Buchdrucks grundlegend. Durch die Drucktechnik verlor die Schrift ihren privaten Charakter und wendete sich an ein disperses Publikum. Schrift wurde erst unter den Voraussetzungen von typografischer Drucktechnologie und Marktökonomie zu einem Medium der Veröffentlichung. Mit der Druckschriftlichkeit entstanden neue Normen für die Wissensvermittlung. Durch die Erfindung des Buchdrucks wurden die Grenzen zwischen geheimem und öffentlichem Wissenstransfer neu vermessen. Der Buchdruck machte das persönliche Gespräch unwichtiger. Um Wissen weiterzugeben, muss man nicht mehr miteinander sprechen, und so verschob sich die Macht vom gesprochenen Wort zum Text. Diese Machtverschiebung wurde zwiespältig kommentiert. Die Parteigänger der neuen Schriftkultur sahen mit dem Buchdruck das Zeitalter der Aufklärung gekommen, welches alle Menschen durch die Macht der Buchstaben aus der „Finsternis“ des Mittelalters befreie. Kritiker befürchteten in der Drucktechnologie und der Ausweitung des Lesepublikums auf alle Schichten hingegen eine Verflachung des Wissens. Durch das gedruckte Wort würden nur die Schamlosigkeit und Tratsch, nicht aber Gelehrsamkeit gefördert. Der Buchdruck demokratisiere, verweltliche und verflache das früher nur Geistlichen und Gelehrten zugängliche Wissen. Diese verhängnisvolle neue Verbindung zwischen Technik und Entbergung von Geheimnissen beschrieb der Universalgelehrte Agrippa von Nettesheim: Es ziemt sich also nicht, Geheimnisse, die unter wenigen Weisen nur mündlich mitgeteilt werde dürfen, schriftlich darzustellen, daß jedermann sie lesen kann, weshalb man mich entschuldigen wird, daß ich viele und die wichtigsten Geheimnisse der zeremoniellen Magie mit Stillschweigen übergangen habe. Ich glaube genug zu tun, wenn ich das Wissenswürdige berichte und ihr beim Lesen dieses Buches jener Geheimnisse nicht ganz unkundig bleibet; aber nur unter der gleichen Bedingung, zu welcher Dionysius

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den Timotheus verpflichtete, wird euch dies mitgeteilt, daß nämlich von denen, welche es verstehen, die Geheimnisse keinen Unwürdigen preisgeben, sondern mit der geziemenden Ehrfurcht unter den Weisen bewahrt werden.375

Die Aufbereitung komplexer Thematiken für ein disperses Publikum konterkariert den früher üblichen mündlichen Wissenstransfer an ein handverlesenes Zielpublikum und geht mit einem Verlust von Tiefe und Qualität einher. Agrippa von Nettesheim rechtfertigt die Drucklegung seines Buches mit dem Argument, dass er seine Niederschrift mit strategischen Auslassungen versehen habe. Damit gibt er einen entscheidenden Hinweis auf den impliziten Zusammenhang zwischen mündlicher Geheimniskultur und schriftlicher Öffentlichkeitskultur. Der Gegensatz von Geheimnis und Öffentlichkeit wird durch den Buchdruck neu organisiert. Produktion, Selektion, Kontrolle und Inhalte der Texte ändern sich. Seit der Antike galt für kanonische und heilige Schriften die Regel, dass sich hinter dem manifesten Sinn der Texte eine tiefere Wahrheit befinde. Bei der Auslegung von philosophischen Grundlagentexten und kanonisierter Dichtung wurden die Texte auf Grundlage von heterogenen Sinn- und Rezeptionsebenen analysiert. Die Interpretationen folgten folgender Logik: Die Texte wurden exoterisch-öffentlich und esoterisch-geheim doppelcodiert. Diese seit der Antike bestehenden Traditionen wurden durch die Aufklärung und den Buchdruck grundlegend verändert. Schreiben und Lesen konnten ab sofort mit anderen Augen betrachtet werden. Die Entstehung von Öffentlichkeitsstrukturen veränderte den Stellenwert des Geheimnisses in den Texten. Diese kopernikanische Wende hat der Dichter Henry Reynolds bereits in seiner Abhandlung „Mythomystes“ nachgezeichnet.376 Reynolds’ Gedanken illustrieren den durch den Buchdruck eingeleiteten Wandel in der Textproduktion und -rezeption. Reynolds nennt die Gründe, warum der Buchdruck die Geheimniskultur vernichte. Er spricht dabei sowohl den modernen Autor als auch den unfähigen Leser schuldig und erklärt beide Verfallserscheinungen zur Folge der technologischen Entwicklungen. Buchdruck und Buchmarkt verändern fundamental die bisher gebräuchlichen Festlegungen des Schreibens und Lesens. Waren Texte bislang dem Geheimnis und der allegorischen Auslegung verpflichtet, verengt sich nun das Textverständnis auf die künstlerische Nachahmung der menschlichen Wirklichkeit. Reynolds positioniert sich mit seiner Parteinahme für das Geheimnis als Gegenspieler zum Aufklärer und Empiriker Francis Bacon, der Fortschritt und Wis-

375 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius: De occulta philosophia, Nördlingen 1987, S. 367; Hervorhebung so im Original. 376 Reynolds, Henry: Mythomystes, in: Spingarn, Joel Elias: Critical Essays of the Seventeenth Century, Oxford 1908 (Reprint 2010), S. 142f.

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senschaft nur auf dem induktiven Weg der Naturwissenschaften für möglich hielt. Verborgene Wahrheiten und geheime Textauslegungen sowie Mythen schloss Bacon explizit aus. Er kritisierte in seiner Abhandlung „The Wisdom of the Ancients“377 die Methode der Doppelcodierung als veraltet und nicht mehr sinnvoll für die modernen Zeiten, obwohl er selbst eine hohe Wertschätzung für die antike Mythologie pflegte. Bacon sprach sich nur dagegen aus, dieses in den Mythen verhandelte Wissen durch Auslegung für die Menschen zu nützen, weil er als Aufklärer jeglichen „intercourse betwixt things divine and human“378 für unwissenschaftlich hielt. Reynolds hingegen sieht im freiwilligen Sich-Beschränken auf einen Wortsinn der Texte einen Kulturverfall. Durch die Selbstbeschränkung und den Zwang zur Öffentlichkeit würden die Menschen von der Überlieferung und der Weisheit der Alten abgetrennt. Reynolds arbeitet mit drei zentralen Argumenten die Änderungen zwischen antikem und modernem Lektüreverständnis heraus: Als ersten Grund nennt er einen konträren Wahrheitsbegriff. Die antiken Texte hätten tiefe, ewige und göttliche Wahrheiten verhandelt, während sich die modernen Empiriker, die er als „illiterate Empyricks“ und leseunkundige „dogleeches“379 verschmäht, mit zeitlich begrenzten und menschlichen Wahrheiten begnügten. Mit ihren Werken vergifteten sie den menschlichen Geist mehr, als ihn zu heilen, stellt Reynolds erregt fest. Durch diese Selbstbeschränkung werde der Mensch von verbindlichen Traditionen entfremdet. Dadurch regrediere die Dichtung auf „a superficiall meere outside of Sence, or gay barke only (without the body) of Reason“.380 Dichtung und Philosophie verhungerten so auf der Oberfläche der Sinneswahrnehmung. Erschwerend komme hinzu, dass sich moderne und antike Texte dem Geheimnis konträr näherten. Moderne Texte haben Reynolds zufolge keine Geheimnisse zu verbergen, weil sie diese nicht mehr kennen: „Modernes empty and barren of any thing rare and pretious in them; who in all probability would not prostitute all they know to the rape and spoile of every illiterate reader, were they not conscious to themselves their treasor deserves not many locks to guard it under.“381 Die Klassiker der Antike hingegen bauten ihre Texte so auf, dass die in ihnen enthaltenen Geheimnisse und Wahrheiten für die Masse der Leser nicht ersichtlich gewesen seien. Geheimhaltung ist bei Reynolds eine zwangsläufige Voraussetzung für die Existenz

377 Bacon, Franics: The Wisdom of the Ancients, Gloucetershire 2008. 378 Bacon, Franics: The Wisdom of the Ancients, Gloucetershire 2008, Vorwort, S. I. 379 In Reynolds’ Zeit übliche Bezeichnung für Quacksalber und Kurpfuscher. Vergleiche dazu Reynolds, Henry: Mythomystes, in: Spingarn, Joel Elias: Critical Essays of the Seventeenth Century, Oxford 1908 (Reprint 2010), S. 154. 380 Reynolds, Henry: Mythomystes, in: Spingarn, Joel Elias: Critical Essays of the Seventeenth Century, Oxford 1908 (Reprint 2010), S. 142. 381 Reynolds, Henry: Mythomystes, in: Spingarn, Joel Elias: Critical Essays of the Seventeenth Century, Oxford 1908 (Reprint 2010, S. 155.

Geheimnis und Inhalt

von Wahrheit. Er unterscheidet zwischen einem antiken und einem modernen Zugang zur Wahrheit. Die antike Dichtung habe kosmische und soteriologische Wahrheiten erörtert, während sich moderne Dichtung mit den ethischen, moralischen und sittlichen Wahrheiten der Menschheit begnüge. Dass sich die Moderne damit freiwillig von der Schrift als Medium für Geheimnisse verabschiede, bedeutet für die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann freilich nicht, dass Texte ihren Bezug zum Geheimnis komplett verlören. Das Geheimnis zieht sich aber in den Text selbst zurück: „An die Stelle kosmischer und metaphysischer Wahrheit tritt die ästhetische Wahrheit, die nicht über den Buchstaben oder jenseits des Textes zu suchen ist, sondern allein in der Konfiguration seiner semiotischen Textur.“382 Dadurch ändere sich auch der hermeneutische Auslegungsprozess. Die moderne philosophische Disziplin Ästhetik tausche das „religiöse Prinzip des verborgenen Sinns (und die Notwendigkeit, ihn zu interpretieren)“,383 gegen das moderne und „kritische Prinzip impliziter Bedeutungen, stillschweigender Bestimmungen und dunkler Inhalte (und die Notwendigkeit, zu kommentieren)“384 . Beide Verfahren eine, dass Schreiben „sich weniger am bedeuteten Inhalt [,signifié‘] als an der Natur des Bedeutenden [,signifiant‘] ausrichtet“.385 Das Geheimnis der Literatur ist wie das Geheimnis der Kunst eines, welches sich nicht restlos aufklären lässt. Das Wesen des Geheimnisses bleibt auch in modernen Texten weiter bestehen; es hat sich zwar von den verborgenen soteriologischen und kosmischen Weisheiten direkt in den Text hineinverlagert, aber auch das werkimmanente Geheimnis der Moderne bleibt unlösbar. Welche Funktion nun das Textgeheimnis der Literatur erfüllt, beschreibt Goethe in der ersten Maxime aus „Makariens Archiv“ in seinem Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“: „Die Geheimnisse der Lebenspfade darf und kann man nicht offenbaren; es gibt Steine des Anstoßes, über die ein jeder Wanderer stolpern muß. Der Poet aber deutet auf die Stelle hin.“386 Das ästhetische Geheimnis der Literatur erfordert aber ein anderes Lesen als die auf Enthüllung angelegte Hermeneutik. Der Philosoph Roland Barthes hat für die angemessene Lektüre des ästhetischen Geheimnisses einen anderen Weg als jenen der klassischen Hermeneutik vorgeschlagen. Er sieht den letzten Zweck der Auslegung nicht darin, den „Grund“ des Werkes zu erreichen, denn dieser Grund ist das Subjekt selbst, also eine Absenz. Jede Metapher ist ein Zeichen ohne „Grund“; gerade dieses Fernsein des Bedeuteten wird durch die Fülle der Symbole bezeichnet. Der Kritiker kann die Metaphern des Werkes allenfalls fortsetzten, nicht aber sie auf etwas zurückführen. […] Es ist kaum

382 383 384 385 386

Assmann, Aleida: Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit, München 1997, S. 276. Foucault, Michel: Was ist ein Autor?, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 2003, S. 241f. Foucault, Michel: Was ist ein Autor?, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 2003, S. 241. Foucault, Michel: Was ist ein Autor?, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 2003, S. 238. Goethe, Johann Wolfgang: Maximen und Reflexion, Berlin 2016, S. 73.

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Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

weniger nutzlos, im Werk das zu suchen, was es sagen würde, ohne es zu sagen, und in ihm ein höchstes Geheimnis zu vermuten, dem, sobald es entdeckt wäre, nichts mehr hinzuzufügen wäre.387

Die textimmanenten Geheimnisse haben im Laufe der Moderne ihre Gestalt geändert, aber weder Publizität noch Öffentlichkeit haben zur Gänze ihre Aura beseitigt. Wissenschaftliche, literarische, alltagspublizistische, antike und moderne Texte, sie alle können Geheimnisse ver- oder entbergen. Auch das massenkulturelle Diktat der totalen Transparenz hat neue Nischen für Geheimhaltungsstrategien und Techniken des Ausblendens geschaffen. Wenn die Urheberschaft eines Eintrags auf einer Whistleblowing-Plattform wie WikiLeaks nicht offengelegt wird, können sich dahinter nicht nur Wahrheiten, sondern gleichermaßen auch absichtlich falsch verbreitete Informationen verbergen, die mehr Fragen aufwerfen als beantworten.

5.2

Schweigen und Inhalt

Am Tor der Athener Akropolis wachte eine Löwin ohne Zunge, was ihre Verschwiegenheit versinnbildlichen sollte. Nach Plutarch ist keine menschliche Eigenheit so gefährlich und unnütz wie leeres und unbestimmtes Gerede und Schwatzhaftigkeit. Während das Schweigen von „tiefer Weisheit und Nüchternheit“388 zeuge, könne alles Gesagte nicht mehr verschwiegen werden. Aus diesem Grund habe die Menschheit „im Reden die Menschen, im Schweigen aber die Götter zu Lehrmeistern, weil uns bei den Einweihungen und Mysterien das Stillschweigen zur Pflicht gemacht wird“.389 Der griechische Schriftsteller Plutarch nennt den Weisen Bias von Priene und den Philosophen Zenon von Elea, der sich die Zunge abbiss, um keine Geheimnisse zu verraten, als Vorbilder für Verschwiegenheit. Während Schweigen als Tugend gilt, wertet Plutarch Schwatzhaftigkeit als gefährliche, verachtenswerte und lächerliche Krankheit. Ein Schwätzer erreiche mit seinem leeren Gerede beim Zuhörer nur Ablehnung, Spott und Widerwillen. Neben diesen für ein gelungenes Gespräch abträglichen Reaktionen könnten Schwätzer sich und ihre Umwelt auch konkret in Gefahr bringen, weil sie Geheimnisse nicht für sich behalten könnten. Imperien seien durch mangelndes Stillschweigen oder ein falsches Wort untergegangen. So habe die Schwatzhaftigkeit eines einzigen Mannes die Befreiung Roms von der Tyrannei Neros verhindert. Und Athen habe von Sulla gestürmt werden

387 Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit, Frankfurt 1997, S. 83f. 388 Plutarch: Über die Schwatzhaftigkeit, München und Leipzig 1911, S. 217. 389 Plutarch: Über die Schwatzhaftigkeit, München und Leipzig 1911, S. 222.

Schweigen und Inhalt

können, weil durch Tratschereien die Späher auf eine Schwachstelle in der Stadtwache aufmerksam geworden seien. Um solche von Geschwätzigkeit ausgehenden Gefahren abzuwenden, empfiehlt Plutarch, der Maxime des Simonides zu folgen, wonach „das Reden, nie aber das Schweigen“390 von Menschen bereut werde. Nur wer schweige, bleibe frei von Problemen und Sorgen. Als Heilmittel gegen die Schwätzerei gilt Plutarch das Zuhören – ein an sich einfacher Akt, an dem aber alle Schwätzer scheiterten. Für Plutarch gibt es nur drei Kategorien von Antworten: eine notwendige, eine höfliche und eine überflüssige. Und Antworten von Schwätzern sind für ihn immer überflüssig. Menschen, die mit wenig Worten viel zum Ausdruck brächten, würden mehr bewundert und geliebt und für weiser gehalten als andere mit ihrem ungehemmten Mitteilungsdrang. Plutarch lobt die kurze und bündige Ausdrucksweise und nennt in seiner Abhandlung Übung und Gewohnheit als Mittel gegen Geschwätzigkeit. Als erste Übung rät Plutarch dem Einzelnen, wenn in Gesellschaft Fragen gestellt würden, so lange zu schweigen, bis kein anderer in der Runde die Frage beantwortet habe. Wer in einer Gesellschaft direkt gefragt werde, solle den Fragenden ganz ausreden lassen und zwischen Frage und Antwort stets eine Pause einschieben. Bei der Antwort selbst solle nur exakt das Gefragte beantwortet und das Gesagte nicht mit zusätzlichen Informationen verwässert werden. Neben diesen klassischen Bedeutungsebenen bekommt das Schweigen in der Mediengesellschaft eine zusätzliche Funktion: Der Lärm der Industriegesellschaft und der stete Fluss von Gesagtem sind oft nur mehr inhaltsleeres Rauschen, hinter dem sich ein Schweigen verbirgt. Die Seltsamkeit, unter mannigfaltigen Schichten von Gerede, Neuigkeiten und Marktschreierei nur mehr Schweigen zu finden, sei gemäß der Literaturwissenschaftlerin Marianne Kesting ein Spezifikum der Moderne. Kesting hat den belgischen Schriftsteller Maurice Maeterlinck als Erfinder der durchgehenden Doppeldeutigkeit des Dialogs bestimmt und diese Schreibtechnik als Ausdruck des modernen Schweigens gedeutet.391 Die durchgehende Doppeldeutigkeit des Dialoges nennt Kesting Dialog zweiten Grades und sie erklärt diese neue Form des literarischen Dialogs mit dem Reflexionsstand des modernen Bewusstseins. Die Gespräche enthielten Chiffren und Andeutungen, blieben aber in sich resultatlos und offen. Die Verästelungen, Manierismen und Anspielungen verharrten im ereignislosen Raum, die Handlung bleibe stehen, nichts passiere. Der Text stehe nur mehr als Fallstudie für den gesamten literarischen Prozess. In der literarischen Moderne beschreibt der Dialog den Zustand vor dem Verstummen. Dieses allmähliche Verstummen nähert sich dem Schweigen. Dieses Schweigen als literarisches Stilmittel interpretiert der Soziologe Arnold Gehlen

390 Plutarch: Über die Schwatzhaftigkeit, München und Leipzig 1911, S. 245. 391 Vergleiche dazu Kesting, Marianne: Vermessung des Labyrinths, Frankfurt a.M. 1965, S. 116ff.

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Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

als Signum des Posthistoire,392 das als – von Technik, Industrie und Massenkultur geprägte – zweite Natur des Menschen in einer Fossilierung im Modus der Beweglichkeit erstarre. Das Schweigen verkörpert nach Gehlen und Maeterlinck den Zustand des unheilvollen Wartens. Die im Endlosen verlaufenden Gespräche verstummten mit ihrer Fortdauer. Hinter all den Andeutungen und Vieldeutigkeiten lichte sich der Nebel hin zum Inhalt; und hier gebe es keine Entwicklung. Nichts geschehe, alles trete auf der Stelle. Die Produkte der Massenkultur folgten dem Gesetz einer „médiocrité générale“, deren Industriestandards in den Kreativbüros der Wissenskonzerne definiert würden. Gehlen erhofft sich von der Technik als zweite Natur des Menschen Entlastung, findet aber nur den Tod des Autors und des Inhalts. Gehlen beklagt eine Selbstfossilierung der Menschheit und beschreibt diese „Termitengesellschaft […], in der sich jedes Individuum für frei hält“,393 als unveränderlichen Bestandteil der Massenkultur. Gehlen scheut sich, in dieses moderne Schweigen hineinzuhören. Über die Funktion des Schweigens denkt er als objektiver Autor nicht nach. Nur als subjektiver Autor394 gibt er Auskunft über die Bedeutung des Schweigens für ihn. Er beruft sich auf Paul Carell und dessen These, wonach es eine „schweigende, aber lesende Mehrheit“395 gebe. Die Mehrheit schweige, weil sie nicht reden wolle. Schweigen als Dethematisierung sei eine entscheidende Erweiterung zu Wittgensteins polemischem Satz „Wovon man nicht sprechen kann, muss man schweigen“396 . Was passiert mit dem Schweigen, wenn man darüber sprechen kann? Wenn es sich eben nicht um Unaussprechliches, sondern im Gegenteil um Inhalte handelt, über die man vortrefflich reden, streiten und schreiben kann? Die Antwort darauf ist aus einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive einfach: Menschen schweigen, und zwar aus der Furcht vor sozialer Isolation. Die Mehrheit schreibt keine Leserbriefe und postet keine Kommentare, weil sie zu faul ist zum Schreiben oder Konsequenzen für das eigene Leben befürchtet. Nur die lärmende Minderheit der Trolle und Forenkönige kommentiert das Gesehene und Gehörte im Netz. Mit dieser originellen These hat Elisabeth Noelle-Neumann das Schweigen als Kategorie bestimmt und von Gehlens Kulturpessimismus weggeführt. Wie Paul Carell, der 392 Zu den Begriffen Posthistoire, Selbstfossilierung und Termitengesellschaft siehe Gehlen, Arnold: Über die gegenwärtigen Kulturverhältnisse, in: Gehlen, Arnold: Die Seele im technologischen Zeitalter und andere soziologische Schriften und Kulturanalysen, Frankfurt a.M. 2004, S. 285ff. 393 Arnold, Gehlen: Über kulturelle Evolutionen: in: Gehlen, Arnold: Die Seele im technologischen Zeitalter und andere soziologische Schriften und Kulturanalysen, Frankfurt a.M. 2004, S. 327. 394 Zum Unterschied zwischen objektivem und subjektivem Autor vergleiche das Kapitel 5.5 der vorliegenden Arbeit. 395 Gehlen, Arnold: Ende der Geschichte? Anhang. Anmerkungen der Herausgeber, in: Gehlen, Arnold: Die Seele im technologischen Zeitalter und andere soziologische Schriften und Kulturanalysen, Frankfurt a.M. 2004, S. 750. 396 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 1963, S. 115.

Schweigen und Inhalt

frühere SA-Mann und spätere Bestsellerautor Nachkriegsdeutschlands, beschäftigt sich auch Noelle-Neumann mit dem Phänomen des Schweigens des Kriegsverlierers. Die Analytiker des Schweigens schöpfen aus dem Erfahrungsschatz eines besiegten Volkes. Wo Wittgenstein das Schweigen in seinem formalistischen Denken nicht als Bestandteil des Sprechens sah, fanden Gehlen und Noelle-Neumann im Nachkriegsdeutschland ein sprechendes Schweigen. Über bestimmte Themen sprach die Öffentlichkeit nicht. Es gab klar definierte Tabus und Diskursgrenzen, die nicht berührt wurden. Welche Funktionen erfüllt nun das Schweigen? Dethematisierung, rituelle Handlung, Ablenkung, Dialogverweigerung, Furcht, Zustimmung, Einverständnis – viele Gründe sind denkbar. Noelle-Neumann erklärt das Schweigen zur „sozialen Haut“. Ihre Theorie des Schweigens beschreibt ein typisch sozialpsychologisches Kommunikationsverhalten von Individuen unter der Voraussetzung, dass die zu besprechenden Inhalte Themen behandeln, die mit den moralischen Kategorien „gut“ und „böse“ und nicht mit den erkenntnistheoretischen „richtig“ und „falsch“ diskutiert werden. Noelle-Neumann registrierte in Wahlkämpfen folgendes Phänomen: Wähler beobachteten ihre Umwelt, und je nachdem, wie sich die Mehrheit in ihrem Umfeld verhalte, entschieden sie, „sich laut zu bekennen oder ihre Ansichten herunterzuschlucken und zu schweigen, bis wie in einem Spiralprozess die einen öffentlich ganz dominierten und die anderen aus dem öffentlichen Bild völlig verschwunden und ‚mundtot‘ waren“.397 Wähler, die ihre Meinung als Minderheitenposition einstuften, zögerten oder schwiegen, statt sich in Gesprächen oder in der Öffentlichkeit zu ihrer Position zu bekennen und diese zu verteidigen. Das umgekehrte Verhalten, nämlich eine gesteigerte Bekenntnisfreude, beobachtete Noelle-Neumann bei Menschen, die die Mehrheitsmeinung teilten. Der Mainstream redet und bekundet in der Öffentlichkeit gerne seine Meinung. Menschen vermeiden aufgrund ihrer sozialen Natur Konflikte mit ihrer Umwelt, solange dies möglich ist. Denn (von der Norm) abweichende Individuen werden vom Gesetzgeber und von der Gesellschaft sanktioniert. Um diese Isolation von vornherein zu umgehen, prüfen Menschen das gerade vorherrschende Meinungsklima auf Übereinstimmungen mit oder Abweichungen von ihrem eigenen Weltbild und verorten ihre Position innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Prozesses. Diese Fähigkeit des Menschen nennt Noelle-Neumann „quasi statistische Wahrnehmung“ oder „quasi-statistischen Sinn“.398 Mit diesem „Sinnesorgan“399 interpretierten

397 Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung, Frankfurt a.M./Berlin 1989, S. 18. 398 Vergleiche dazu Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung, Frankfurt a.M./Berlin 1989, S. 165ff. 399 Noelle-Neumanns Setzung dieser menschlichen Fähigkeit als „quasi statistischem Organ, Häufigkeitsverteilung, Meinungsänderungen in der Umwelt mit großer Empfindlichkeit wahrzunehmen“ weise ich als begrifflich unnötigen Biologismus zurück. Meinungen ein- und ihre Wirkungen

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Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

Menschen ihre Umwelt und reagierten auf gesellschaftliche Entwicklungen. Die Positionierung innerhalb dieses Wahrnehmungsprozesses bestimme in der Folge Auskunftsfreudigkeit, Intensität und Taktung des Gesagten oder Verschwiegenen. Das „Sinnesorgan“ prüfe nicht nur die Position eines Weltbilds im Privaten, sondern werde auch, glaubt Noelle-Neumann, von durch Massenmedien transportierten Inhalten und den darin enthaltenen Meinungsbildern determiniert. Aus makrosoziologischer Sicht formen, festigen und verändern Schweigespiralprozesse also die öffentliche Wahrnehmung. Noelle-Neumann beschränkte die Wirksamkeit ihres vierstufigen Kausalprozesses auf drei Faktoren. Die ausgewerteten demoskopischen Umfragedaten und Inhalte beziehen sich erstens auf Themen, in denen es ein sich permanent änderndes Meinungsbild gibt und unversöhnliche Einstellungen aufeinanderprallen. Es müssen zweitens Themen mit einem starken Involvement der Befragten sein, da sie moralisch als gut oder schlecht bewertet werden können. Wenn es Inhalte betrifft, die unstrittig sind, kann keine Schweigespirale beobachtet werden. Als weitere Einschränkung nennt sie drittens Positionierung und Zuordenbarkeit der Massenmedien. Auch die Selbstverortungsinstrumente Metainhalte, Framing und Agenda-Setting unterscheiden zwischen Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit, zwischen drinnen und draußen und zwischen Thema und Nichtthema. Worüber und mit welcher Leidenschaft geredet wird und worüber nicht, entscheiden und bestimmen in der Massenkultur die Medien- und Wissenskonzerne. Noelle-Neumann zu lesen bedeutet, die gesellschaftlichen Grenzen von Konformität mit einer Kartografie des Schweigens neu zu vermessen.

5.3

Agenda-Setting und Inhalt

Eine weitere Funktion des bewussten Verschweigens liegt in der Nichtthematisierung durch den Kommunikator. Eine spezifische Leistung der Medien- und Wissenskonzerne liegt im Agenda-Setting. Einen synoptischen Überblick über die theoretischen Perspektiven dieses Ansatzes gibt der Kommunikationswissenschaftler Michael Schenk.400 Er spricht den Medien- und Wissenskonzernen auf einer ersten Ebene zu, Denken und Aufmerksamkeit des Publikums zu strukturieren, zu ordnen und zu lenken. Themen und Inhalte werden ihm zufolge in den Massenmedien präsentiert und gewichtet. Manche Themen werden als relevant bewertet, andere als irrelevant. Worüber nicht geschrieben wird, wird geschwiegen. Neben der abzuschätzen gehört zum Hoheitsgebiet des Geistes; vergleiche dazu Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung, Frankfurt a.M./Berlin 1989, S. 165. 400 Vergleiche Schenk, Michael: Die Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien, in: Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen 2002, S. 399–488.

Agenda-Setting und Inhalt

Vermittlung von Themen und deren Relevanz haben Texte spezifische Lebenszyklen und zeitliche Verläufe. Auf einer zweiten Ebene („Second Level Agenda-Setting“)401 können solche Strukturierungsprozesse anschließend mit inhaltlichen Attribuierungen und Bewertungen einhergehen. Mit Framing402 und Priming403 werden Verhaltens- und Einstellungsänderungen erklärt. Diese quantifizierbaren Phänomene der Themenstrukturierung und -setzung und darauf aufbauend das (mögliche) Auslösen kognitiver Veränderungsprozesse werden in der Kommunikationswissenschaft „Agenda-Setting-Konzept“ genannt. Agenda-Setting steuert die Aufmerksamkeit auf vorselektierte Inhalte und Themen. Durch Auswahl, Platzierung und Wiederholung lenken die Medien- und Datenkonzerne die Aufmerksamkeit auf bestimmte Inhalte, während andere – bewusst oder unbewusst – verschwiegen werden. Werden Topoi bewusst und freiwillig dethematisiert oder ausgeblendet (durch selektive Berichterstattung), spricht die Kommunikationsforschung von „Agenda-Cutting“ (in Abgrenzung zur Zensur). Dem Agenda-Setting kommt gegenwärtig deshalb eine zentrale Rolle zu, weil die User, Bürger und Rezipienten den Großteil ihrer Informationen aus einer zweiten, medial vermittelten Realität beziehen. Das Agenda-Setting beruft sich auf folgende lerntheoretische Annahme: Inhalte werden von Rezipienten als wichtig empfunden, wenn darüber ausführlich und oft geschrieben wird. Diese Grundannahme erklärt in weiterer Folge auch die kognitiven Effekte wie den Transfer von Attributen. Nach der Themenselektion und Vorstrukturierung wird mit Priming und Framing die Aufmerksamkeit des Publikums auf vorher festgelegte Teilaspekte gelenkt. Aus dem „Worüber-wir-Denken“ beim Agenda-Setting wird ein „Wiewir-Denken“. Frames sind emotionale und normative Basisvorstellungen. Der Leser soll Inhalte aus einem vom Autor festgelegten Blickwinkel betrachten. Der Rezipient erhält Anreize, die Informationen in eine gewünschte Richtung auszulegen. Verläuft die vom Autor gewünschte Informationsverbreitung allerdings in eine der allgemeinen und offiziellen Lesart entgegengesetzte oder unerwünschte Richtung, indem der Leser eigenständige Schlüsse zieht, kann von „Zwischen-denZeilen-Lesen“ gesprochen werden. Die Frage, wie Themen gerahmt sind, umfasst formale und inhaltliche Merkmale. Unterschieden werden Medien-Frames und individuelle Frames.404 Frames sind typische Interpretationsmuster, sie heben her-

401 Vergleiche Schenk, Michael: Die Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien, in: Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen 2002, S. 477ff. 402 Vergleiche Schenk, Michael: Die Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien, in: Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen 2002, S. 403f. 403 Vergleiche zum Priming-Effekt: Rössler, Patrick: Themen der Öffentlichkeit und Issues Management, Wiesbaden 2008, S. 370. 404 Vergleiche Schenk, Michael: Die Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien, in: Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen 2002, S. 480ff.

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Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

vor, selektieren oder schließen aus. Diese Rahmen sollen dem Leser Orientierung bieten und die Informationsverarbeitung erleichtern. Media-Frames beziehen sich auf den Inhalt des Textes. Sie bezeichnen den roten Faden oder die zentrale Idee. Ein Media-Frame stellt den Inhalt in einen Kontext und unterstreicht diesen durch Selektion, Hervorhebung, Auslassungen und Annotationen. Individuelle Rahmen beschreiben Vorwissen und Prädispositionen der Leser, die beim Verarbeiten der Inhalte abgerufen werden. Agenda-Setting und Framing haben drei Wirkungen: Erstens werden Aufmerksamkeit und Reichweite für ein Thema gewonnen, zweitens werden Themen verschieden gewichtet, hervorgehoben oder verschwiegen und drittens werden Themen in Haupt-, Neben- oder Nichtthemen unterteilt.405 Die Monetarisierbarkeit bestimmt auch die Wichtigkeit und kulminiert in der Logik von Verkaufscharts und Hitparaden. Auch die „private“ Öffentlichkeit von Blogs und Social-Media-Benutzerkonten wird kommerziell ausgewertet. Die Webseite „SocialBlade“ wertet User-Statistiken von YouTube, Instagram, Twitter und anderen aus und vergibt „A-“, „B-“, „C-“, „D-“ und „Nicht-gelistet-Ratings“. Analog zu den Leistungsstufen in der Fußballwelt werden nur Seiten mit dem Rating „A“ oder „B“ als verwertbar eingestuft. Seiten mit Rating „C“ oder „D“ sind Liebhaberei und werden von Amateuren betrieben. Mit Agenda-Setting wird die absolute und relative Wichtigkeit von Themen, Inhalten, Ereignissen und Attributen bestimmt und gesteuert. Allerdings gibt es keinen allmächtigen Akteur des Themensetzungsprozesses. Themen werden im sich wechselseitig beeinflussenden Dreieck von Medienagenda, Publikumsagenda und Policy-Agenda gefunden und geformt. Die Grundannahme des Konzepts ist einfach: Erst Medien- und Wissenskonzerne machen Inhalte öffentlich relevant. Wer in den Sendungen nicht vorkommt und auf den Suchseiten nicht auffindbar ist, existiert nicht in der öffentlichen Wahrnehmung. „Agenda-Setting“ bezeichnet also sowohl ein gesellschaftliches als auch ein individuelles Phänomen. Die Massenmedien entscheiden, worüber gesprochen wird, und der Einzelne ordnet die Themen in sein Weltbild und Leben ein. Die Agenda-Setting-Forschung zeigt also, wie und warum Medien und Rezipienten manche Themen aufgreifen und andere nicht. Neben der Vorstrukturierung werden durch Framing im Text auch Attribute und (implizite oder explizite) Bewertungen mitgeliefert, die in der Wirkungsforschung als Parameter für kausale Verhaltens- und Einstellungsänderungen gelten. Werden Themen und Inhalte von Akteuren mit dem Ziel der Meinungsbildung in die Öffentlichkeit gebracht, spricht die Forschung von „Issue Management“ oder „Themenmanagement“.406 Damit wird die Steuerung und Beeinflussung der öffentlichen 405 Vergleiche Schenk, Michael: Die Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien, in: Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen 2002, S. 412. 406 Vergleiche zur Begriffsbestimmung Merten, Klaus: Determinanten des Issue Managements: Paradigma strategischer Public Relations, Wiesbaden 2001, S. 41ff.

Gerücht und Inhalt

Meinung bezeichnet. Die geplante Durchsetzung von spezifischen Themen wird verwendet, um die eigene Position zu stärken oder ex negativo Schaden abzuwehren. Der Pressesprecher Jan-Peter Hinrichs unterscheidet zwischen „Gewinnerthemen“, „Positionsthemen“, „Hochkonfliktthemen“ und „Niemandslandsthemen“; Niemandslandsthemen bestimmt er als latent vorhandene Hochkonfliktthemen.407 Aufgrund mangelnden öffentlichen Interesses werden sie so lange totgeschwiegen, bis sie infolge eines Ereignisses relevant werden. Ein ganzheitliches Verständnis von Inhaltsanalyse muss also das spezifische Wechselspiel von Inhalten und Nichtinhalten, von Rampenlicht und Schatten sowie von Reden und Schweigen berücksichtigen.

5.4

Gerücht und Inhalt

Seit der Antike werden Menschen mit Gerüchten konfrontiert. Bei der Beschäftigung mit Gerüchten muss sich der Betroffene zwangsläufig fragen, ob es sich um ein wahres oder falsches Gerücht handelt und ob es, durch eine konkret bestimmund rückdatierbare Quelle, zu einer Tatsache werden kann. Idealtypisch für die Entstehung eines Gerüchts erzählt Plutarch in seiner Abhandlung „Über die Schwatzhaftigkeit“ von einem Friseur aus einem Athener Vorort.408 Frisiersalons gelten seit jeher als Zentren für Klatsch und Tratsch und als Orte der flüchtigen Begegnung. Einem Athener Friseur erzählt ein unbekannter Kunde beim Haareschneiden das (wahre) Gerücht, dass die Athener in Sizilien vernichtend geschlagen worden seien. Der Haarschneider erzählt diese Neuigkeit in der Stadt, kann aber weder Namen des Überbringers noch eine sonstige Quelle für seine Nachricht nennen, weshalb er gefoltert wird. Als andere Quellen, das bis dahin unbestätigte Gerücht der militärischen Niederlage als wahr bestätigten, eilte die Menge auseinander, um ihr Unglück zu beklagen, und sie „ließen den Elenden gebunden auf dem Rade liegen“.409 Für das Verbreiten eines wahren Gerüchts wird der Friseur bestraft, weil er keine glaubwürdige Quelle angeben kann. Kriege, Naturkatastrophen und Krisen sind der ideale Nährboden für die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten. Mit seiner – wahren oder erfundenen – Geschichte legt Plutarch ein Spezifikum von Gerüchten offen. „Gerüchte sind Zitate oder Variationen von Zitaten mit einer bedeutenden Auslassung: Wen sie zitieren, bleibt unbestimmt.“410 Nur Inhalte, von denen man sagt, dass sie alle sagen, ohne dieses man jedoch konkret zu benennen, 407 Vergleiche Hinrichs, Jan-Peter: Wir bauen einen Themenpark, in: Althaus, Marco (Hg.): Kampagne!, Münster 2002, S. 54. 408 Vergleiche Plutarch: Über die Schwatzhaftigkeit, München und Leipzig 1911, S. 230. 409 Plutarch: Über die Schwatzhaftigkeit, München und Leipzig 1911, S. 231. 410 Neubauer, Hans-Joachim: Fama, Berlin 2009, S. 12.

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Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

können Gerüchte sein. Gerüchte unterscheiden sich auch von Klatsch und Mobbing. Die zwei Letztgenannten nennt der Soziologe Jörg Bergmann eine „Sozialform der diskreten Indiskretion“.411 Gerüchte unterscheiden sich von Lügen durch ihre Anonymität und ihren nicht überprüfbaren Entstehungsort und Wahrheitsgehalt. Ob ein Gerücht wahr oder falsch ist, ist unerheblich für sein Zustandekommen. Ein Gerücht ist eine Nachricht ohne konkret benennbaren Autor, deren Inhalt der einzelne Rezipient nur vom Hörensagen kennt. Gerüchte provozieren Reaktionen und Handlungen und werden mündlich oder (massen-)medial verbreitet. Als flüchtige Ereignisse existieren Gerüchte nur im Moment ihrer Kommunikation, aber sie verfügen aufgrund ihrer Plausibilität über eine unbestreitbare Wirkmächtigkeit. Leichtgläubigkeit, Neugier, unsicheres Seelenleben, das Verkünden von Niederlagen, Siegen und Neuigkeiten, unsterblicher Ruhm, die Janusköpfigkeit von Gefahr und Liebenswürdigkeit: Die Darstellung von Gerüchten hat die Kunst zu zahlreichen Motiven und Sujets inspiriert.412 Neben der kunsthistorischen Aufarbeitung des Themas spielt die Erforschung der Wirkmechanismen von Gerüchten auch in der Propaganda eine zentrale Rolle. Mit der Erfindung des Buchdrucks werden Gerüchte verschriftlicht und ab dem 20. Jahrhundert in der Kriegspropaganda gezielt eingesetzt, was zu einer zunehmend negativen Auslegung führt. Flugblätter werden aus Flugzeugen abgeworfen und „informieren“ die Bevölkerung des Feindes, und die militärischen Machthaber versuchen in „Gerüchtekliniken“,413 die informelle Rede zu steuern, zu kanalisieren und zu kontrollieren. Gerüchte sind also eine anthropologische Konstante, dennoch wurden sie als wissenschaftliches Grenzgebiet lange Zeit nicht systematisch erforscht. Wie beim Begriff der öffentlichen Meinung herrscht innerhalb der Forschung Begriffswillkür, und es gibt keine fächerübergreifend akzeptierte Definition, was der Betriebswirt Manfred Bruhn kritisiert: Die Forschungsarbeiten zu den unterschiedlichen Ausprägungen von Gerüchten erweisen sich als sehr vielfältig und variantenreich, jedoch hat sich bislang kein einheitliches Begriffsverständnis des Gerüchts entwickelt. Zudem muss die empirische Forschung als unzureichend eingeschätzt werden.414

411 Bergmann, Jörg R.: Klatsch, Berlin/New York 1987. 412 Bekannte Kunstwerke der Kunstgeschichte, die sich mit der Darstellung von Gerüchten beschäftigten, sind z. B. Johannes Sambucus: „Fama und der Buchdrucker“ (1566); Hans Weiger der Ältere: „Das Gerücht mit seiner wunderbaren Eigenschaft“ (um 1546); Georg Pencz: „Rumor“ (1531); Tobias Stimmer: „Fama“ (zweite Hälfte 16. Jahrhundert); Jacopo de’ Barbari: „Sieg und Ruhm“; A. Paul Weber: „Das Gerücht“ (1969); Jean-Jacques Boissard: „Fama virtutis stimulus“ (1593); Hieronymus Greff: „Fama“ (1502). 413 Vergleiche Neubauer, Hans-Joachim: Fama, Berlin 2009, S. 14. 414 Bruhn, Manfred/Wunderlich, Werner (Hg.): Medium Gerücht, Bern/Stuttgart/Wien 2004, S. 35.

Gerücht und Inhalt

Diesen Mangel hat erst der Kommunikationswissenschaftler Klaus Merten behoben und eine Theorie des Gerüchts entwickelt, die in Verbindung mit dem Wissensfundus der Kunstgeschichte eine realistische Einordnung ermöglicht. Die Wahrscheinlichkeit eines Gerüchts steigt mit seiner thematischen Relevanz und seiner inhaltlichen Unbestimmtheit. Entsteht ein Gerücht, verselbstständigt es sich im Laufe seiner Ausbreitung. Merten unterscheidet zwischen natürlichen und künstlichen Gerüchten.415 Unter natürliche fasst er situationale, substitutive und mythische Gerüchte. Situationsbedingte Gerüchte entstünden anlässlich von realen und stark erklärungsbedürftigen Ereignissen zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten. Grund für die Entstehung sei die kollektive Suche der Gemeinschaft nach plausiblen Erklärungen. Als Beispiel nennt Merten den Abtransport eines Chefs von seinem Firmengelände in einem unbekannten Fahrzeug, der von den Arbeitnehmern beobachtet wird, die die Ursachen nicht kennen und daher über mögliche Ursachen (Diebstahl, Betrug, Gewaltdelikt etc.) spekulieren. Das Argument, das in der konkreten Situation am wahrscheinlichsten erscheint, wird dann zum Gerücht. Substitutive Gerüchte entstehen, wenn bei einem konkreten Anlassfall (Unfall, Verbrechen, Naturkatastrophe etc.) der reguläre Informationsfluss durch ein technisches Gebrechen oder Zensur gekappt wird oder nur eingeschränkt nutzbar ist. Gerüchte entstehen in diesem Kontext als Ersatz für den ausgefallenen Informationskanal. Der Inhalt substitutiver Gerüchte orientiert sich an der Wahrheit und klingt einleuchtend. Informationen über Geiselnahmen fallen in diese Kategorie. Den dritten Typ natürlicher Gerüchte nennt Merten mythische Gerüchte. Dazu zählt er Gerüchte, die aufkommen, wenn Normen, Wertvorstellungen oder die Existenz einer Gemeinschaft und Gesellschaft bedroht erscheinen. Bei diesem ortsunabhängigen und im kollektiven Unbewussten auftretenden Typus ist der Wahrheitsgehalt nebensächlich. Geschichten über Kriegsgefangene zählen zu dieser Kategorie. Nach Merten beziehen sich die Inhalte solcher Gerüchte auf letzte Wahrheiten und Archetypen, weshalb diese immer wieder in unterschiedlichen Kontexten und Zeiten auftauchen können. Merten sieht diese drei Gerüchtetypen als naturwüchsige Prozesse, die nicht von einer konkreten Einzelperson ausgelöst werden können. Scharf davon zu trennen sind die Artefaktgerüchte. Damit bezeichnet Merten Gerüchte, die geplant und vorsätzlich verbreitet würden, mit dem Ziel, bestimmten Personen oder Organisationen zu schaden oder bestimmten Sachverhalten einen Spin zu geben. Dieser Gerüchtetypus verlange handwerkliches Können. Zu diesem Typus zählten Wirtschafts- und Börsengerüchte, Propaganda und Fake-News. Diese Gerüchte haben einen unwahren Inhalt, klingen aber plausi-

415 Vergleiche Merten, Klaus: Zur Theorie des Gerüchts, in: Publizistik. Vierteljahresheft für Kommunikationsforschung, 54. Jg., 1/2009, S. 23ff.

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Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

bel und werden von vielen Rezipienten als wahr oder zumindest als wahrscheinlich wahr bewertet. Durch die Sozialen Medien wurde die Verbreitung von erfundenen Nachrichten (Fake-News) zu Zwecken der Beeinflussung und Rufschädigung sehr einfach und zu einer eigenen Textgattung. Nach welchen Kriterien sind nun aber Gerüchte zu analysieren, um nicht auf ihren vermeintlichen Wahrheitsgehalt hereinzufallen? Merten erarbeitet fünf Indikatoren,416 die auf die Existenz eines Gerüchts hinwiesen und anhand derer die Textgattung Gerücht erkannt werden könne: Erstens führe die Frage nach der Quelle eines Gerüchts nie zu einem konkreten Ergebnis. Keine Person, kein Schriftstück, keine Organisation lasse sich eindeutig als Urheber der Aussage bestimmen. Alle Recherchen versandeten im Hinweis, das Gesagte „von Freunden von Freunden“ gehört zu haben. Zweitens trete der Inhalt eines Gerüchts in mehreren Erzählvarianten auf. Drittens passe sich das Gerücht der jeweiligen Situation an. Viertens seien Aussagen nicht falsifizierbar. Die mangelnde Falsifizierbarkeit von Gerüchten immunisiere diese fünftens gegen Widerlegungsversuche. Anhand dieser Merkmale kann die Absenz oder das Vorhandensein von erfundenen Nachrichten bestimmt werden. Auch durch Beendigung kann ein Gerücht nachgewiesen werden; Gerüchte klären sich auf, wenn die behaupteten Sachverhalte falsch sind und alle relevanten Teilöffentlichkeiten über die falschen Annahmen und Inhalte des Gerüchtes informiert wurden.

5.5

Esoterik und Inhalt

Beim esoterischen Schreiben und Lesen handelt es sich nicht um eine philosophische Doktrin oder eine schematisch zu erlernende wissenschaftliche Arbeitstechnik. Wer esoterisch schreibt, beherrscht eine Kunst. Diese Schreibkunst ist mit dem Einzug des modernen Wissenschaftsverständnisses und seinen Forderungen nach Denotation, Eindeutigkeit, Transparenz und intersubjektiver Nachprüfbarkeit im Laufe der Moderne aus dem Bewusstsein der Wissenschaftsgemeinde verschwunden. Während exoterische Texte das öffentlich zugängliche und vulgäre Wissen preisgeben, verhandelt esoterisches Schreiben und Lesen das geheime und enigmatische Wissen. Sich esoterische Schreibtechniken zu vergegenwärtigen und diese zur Analyse von Inhalten der Marktkommunikation heranzuziehen, heißt, dem Leser und dem Autor ein emanzipatorisches Werkzeug zur Entschlüsselung von interessengebundener Kommunikation in die Hand zu geben. Esoterisch zu lesen

416 Vergleiche Merten, Klaus: Zur Theorie des Gerüchts, in: Publizistik. Vierteljahresheft für Kommunikationsforschung, 54. Jg., 1/2009, S. 40.

Esoterik und Inhalt

heißt, Texte von den ökonomischen, rhetorischen und inhaltlichen Abhängigkeiten zu befreien und den Text in seiner Essenz zu betrachten. Texte der Marktkommunikation in der liberalen Massendemokratie weisen eine strukturelle Ähnlichkeit mit den Werken der klassischen Philosophie auf: Sie verbergen mehr, als sie sagen. Was von Zeitungen, PR- und Marketingagenturen an Texten produziert wird, ist neben Interessengebundenheit auch noch durch selektive Argumentation geprägt. Marktkommunikation richtet sich an unterschiedliche Zielgruppen, argumentiert mit restringierten oder elaborierten Sprachcodes und verschweigt mithilfe von Dethematisierung das für das Verständnis Wesentliche. Wer solche Texte verstehen will, muss das Geschriebene zuordnen. Im Unterschied zum antiken Schreiben, das pädagogischen und theoretischen Zwecken diente, ist marktkommunikatives und politisches Schreiben seiner Natur nach praktisches Schreiben. Beim Schreiben im autoritären Liberalismus geht es nicht um die Kommunikation von Wahrheit, sondern um Überzeugen und Verkaufen. Mit Wahlkampfreden gewinnt man Wähler, mit Aktionärsbriefen neue Kapitalgeber. Marktkommunikation orientiert sich an ihrer Wirksamkeit: an Verkaufszahlen, am Wahlergebnis. Diese Kommunikationsinhalte sind also untrennbar mit Spins, rhetorischen Tricks und Propaganda verbunden. Wer inhaltsanalytisch arbeitet, wird bei der Textanalyse oft nur Oberflächliches herausfinden. Wer in die Tiefenstrukturen marktkommunikativer Inhalte eindringen will, sollte sich vergegenwärtigen, dass jedes Wort, jedes Argument und jedes Thema immer eine Folge von Gedanken ist. Texte sind Konsequenz und Ergebnis von kognitiven Entscheidungen und in den Inhalten werden die Vorurteile, Überzeugungen und Weltbilder der jeweiligen Zeit sichtbar. Esoterisches Lesen beginnt dort, wo die Inhaltsanalyse aufhört. Die Kunst des esoterischen Schreibens und Lesens kann durch Übung, Fleiß und langsames Lesen allmählich erlernt, aber nicht durch Lehrbücher vermittelt werden. Wie Witze und Gedichte erschließen sich esoterische Techniken nicht nach einer bestimmten Formel. Vor dem esoterischen Lesen erfolgt die quantitative und die qualitative Inhaltsanalyse. Der zu analysierende Text muss wörtlich und an der Oberfläche untersucht werden: Esoteric interpretation must start from a literal reading, taking the surface text at face value. It acquires the right as well as the means for venturing beyond the surface only if it encounters problems there – contradictions, ambiguities, suprises, puzzles – that compel it to go beyond. The surface itself must point you beyond it.417

417 Melzer, Arthur M.: Philosophy between the Lines, Chicago/London 2014, S. 300; Hervorhebung so im Original.

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Die Methode der Inhaltsanalyse – und was sie nicht berücksichtigt

Unter der Oberfläche von liberalen Vorurteilen und „Alternativlosigkeiten“ verbergen sich implizite Erzählungen, die über die Verfasstheit der Gesellschaft Auskunft erteilen. Esoterisches Schreiben und Lesen wird in der vorliegenden Arbeit als wissenschaftliche Arbeitstechnik und als Kunstform betrachtet, mit deren Hilfe die verborgenen Vorurteile des Spätkapitalismus analysiert werden können. Ob esoterisches Schreiben als wissenschaftliche Methodik für die Sozialwissenschaften ertragreich ist, bleibt umstritten. So akzeptierte der russisch-französische Philosoph Alexandre Kojève zwar die Trennung zwischen esoterischer und exoterischer Deutung, nicht aber die Tauglichkeit und den gerechtfertigten Einsatz einer solchen Leseund Schreibtechnik in demokratischen Massengesellschaften.418 Er kritisierte die Aufteilung des Publikums in eine disperse Masse der Unwissenden, die mit „edler Täuschung“ und „nobler Lüge“419 (Platon) bewusst falsch oder halbinformiert werde, und die wenigen Würdigen, denen die ganze Wahrheit eines Textes und Sachverhaltes zugemutet werden dürfe. Diese Zweiteilung in eine intellektuelle Elite und eine amorphe Masse von Halbgebildeten hält Kojève für ein antikes Vorurteil, das in modernen Demokratien nicht mehr rechtfertigbar sei, da heute erst die Kontrollfunktion der Medien entscheidend zum Funktionieren einer transparenten Demokratie beitrage. Eine asymmetrische Informationspolitik, die wissentlich Sachverhalte verschweigt, ausblendet oder im schlimmsten Fall unwahre „Fakten“ und „Tatsachen“ erfindet, unterminiert also die Demokratie. Kojève bemängelt einen versteckten Standesdünkel im esoterischen Schreiben und Lesen, da diese

418 Vergleiche dazu Kojève, Alexandre: Tyranny and Wisdom, in: Strauss, Leo: On Tyranny, Chicago 2013, S. 135–176. 419 Vergleiche dazu auch die Ausführungen in Kapitel 2.2 der vorliegenden Abhandlung. Bei Plato ist die noble Lüge Finte bei der Suche nach der guten Ordnung. Platon bezeichnet in seinem Buch „Politeia“ noble Lügen und edle Täuschung als in der politischen Kommunikation notwendige, aber falsche Mythen, um den sozialen Frieden in der Gesellschaft aufrechtzuhalten. Er beschreibt die Funktionsweise dieser seiner Ansicht nach erlaubten Herrschaftstechnik im Gleichnis von den Metallen, wo die überlieferten Mythen, die er abschaffen möchte, durch den neuen und erfundenen Mythos „Ihr alle im Staat seid Brüder“ ersetzt wird. Diese erfundene Gleichheit widerspricht dem Faktum einer ständisch organisierten Gesellschaft und wird von Platon „phönikisches Geschichtchen“ genannt, welches freilich von den Bürgern geglaubt wird. Indem die Bürger das Märchen für wahr halten und damit loyale Bürger werden, ist diese Lüge ein für ein funktionierendes Gemeinwesen aus Sicht der Regierenden für die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens richtig und somit eine erlaubte Herrschaftstechnik. In dieser Passage, die Anleihen beim Weltzeitaltermythos von Hesiod nimmt, werden Herkunft und Rangordnung der drei Stände erörtert; Platon: Der Staat, Ditzingen 2016, (414c–415d) S. 201f. Ergänzend dazu gab es bei Texten auch verschiedene Editionen für Lehrer und Schüler. „Ad usum delphini“ (zum Gebrauch des Dauphin (Kronprinz)) bezeichnete am französischen Königshof die pädagogische Praxis, für den Unterricht spezielle bearbeitete und von bestimmten Sachverhalten „gesäuberte“ Versionen der Klassiker zu verwenden.

Esoterik und Inhalt

Technik die Entstehung von Vorurteilen fördere und eine ergebnisoffene Diskussion durch Korpsgeist behindere. Ein Text, der die Vorurteile durch ergebnisoffene Suche nach der Wahrheit beseitigen will, muss laut Kojève danach trachten, eine möglichst große Leserschaft zu erreichen und sich nicht – durch Auswahl eines für würdig erachteten Kreises – in Bezug auf die Anzahl seiner potenziellen Leser selbst beschränken. Was aber, wenn der von Kojève kritisierte (vermeintliche) Elitismus des esoterischen Schreibens bei Leo Strauss gar keiner war, sondern vielmehr ein pädagogischer Anreiz, um Studenten und Leser zu leidenschaftlichen und gründlichen Rezipienten ad fontes zu machen? Diese originelle Frage stellt der Politologe Michael L. Frazer und zieht daraus eine Schlussfolgerung, die auf eine Pointe im Œuvre aufmerksam macht: Strauss hat mit seinen Schriften und Studien zum Thema des esoterischen Schreibens und Lesens eine früher geheim gehaltene Technik all jenen zugänglich gemacht, die sich dafür interessieren und sie durch Lektüre erlernen wollen. Die von Strauss in seinen Werken beschriebene Methodologie „is neither hidden nor obscure, but available to any beginner with sufficient interest and patience to put difficult and demanding techniques of interpretation to work on a classic text“.420 Strauss, der zeitlebens für die vergessenen Standpunkte der klassischen Philosophie eintrat und sie als Kontrapunkt zum seinsvergessenen Empirismus der Neuzeit verstand, nahm mit seinen jedermann zugänglichen Schriften zweifelsfrei eine mit dem antiken Verständnis gänzlich inkompatible Denkweise ein. Frazer leitet aus dem Werk von Strauss die Schlussfolgerung ab, dass Strauss jeden Lernwilligen mit dem theoretischen Rüstzeug ausgestattet habe, wenn dieser bereit gewesen sei, die dafür erforderlichen Anstrengungen auf sich zu nehmen. Allerdings wird diese gelebte Gleichheit durch die menschliche Trägheit und die Verlockungen der Massengesellschaft eingeschränkt. Strauss sah das vordringlichste Problem der Wissensvermittlung tatsächlich in einer der Massenkultur inhärenten Oberflächlichkeit und Stumpfheit begründet. Um Studierende für die verborgenen und ewigen Wahrheiten der antiken Texte zu begeistern, sind charismatische Lehrer und pädagogische Tricks notwendig. Strauss trieb die Sorge an, that the possibility of a philosophical way of life is available to future generations. Most problematically, he must lure young men and women, not only from mass culture as instantiated in popular entertainment, but also from mass culture as instantiated in the fashionable nonphilosophy of certain academic „liberals“ or „scientific“ social scientists.421

420 Frazer, Michael L.: Esotericism Ancient and Modern, in: Political Theory, Band 34, 1/2006, S. 48. 421 Frazer, Michael L.: Esotericism Ancient and Modern, in: Political Theory, Band 34, 1/2006, S. 52.

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Strauss nutzte also esoterisches Wissen als Grundlage für seinen Unterricht, um junge Menschen gegen epistemologisch dürftige Theoriemoden zu immunisieren und Leser für das klassische Philosophieren und die Frage nach der Wahrheit sowie für das Primat der Vernunft zu begeistern. Strauss versuchte also mit der exoterischen Weitergabe esoterischer Wahrheiten, unter den Bedingungen der verschulten Massenuniversität eine Lernmethode zu finden, den philosophischen Wahrheitsanspruch für das 21. Jahrhundert zu retten und dieses Wissen auch für kommende Studentengenerationen, die von diesen Quellen des Wissens abgeschnitten waren, zu bewahren und zu vermitteln. Dabei hielt Strauss freilich an der Prämisse fest, dass es eine unüberbrückbare Differenz zwischen dem Wahren und dem Vulgären gebe, die nur von wenigen Talentierten erkannt werden könne, auch wenn der Zugang zur Bildung in der liberalen Massendemokratie theoretisch und praktisch jedem offenstand.422 Wer sein akademisches Leben der Wahrheitssuche widmet, musste nach Strauss’ Überzeugung auch jene Wahrheiten kennen, über die man am besten schweigen sollte. Dieses Modell der Lehre stößt also auf Widersprüche: In its insistence that students must be seduced to philosophy even if this seduction poses real dangers to the polity, the educational model of esotericism lacks the characteristic conservative virtues of the ancient model, the sense of political responsibility which seeks to protect the existing order from the forces which could destroy it. At the same time, it also lacks the characteristic liberal virtues of the modern model: its fundamental egalitarianism and its emphasis on the widespread propagation of truth.423

Es ist also kein Zufall, dass Strauss zeitlebens heftiger Kritik ausgesetzt war. Seine Anhänger, die Straussianer, wurden als Initiatoren des US-amerikanischen Neoimperialismus der Bush-Regierung denunziert und Strauss selbst wurde fälschlicherweise als maßgeblicher Stichwortgeber der expansiven US-Außenpolitik bezeichnet. Diese Vorwürfe lassen sich durch die Lektüre seiner Schriften eindeutig widerlegen, da Strauss „die Bewahrung einer liberalen Gesellschaft im klassischen Sinne wollte“424 und sich weigerte, „sein Denken in den Dienst politischer Zwecke stellen zu lassen“425 . Der Gelehrte wollte in seinem Werk zur Neuentdeckung der klassischen Philosophie einladen und arbeitete sich an den Vorurteilen und Fehlschlüssen der Aufklärung ab. Strauss, der den Menschen als politisches Wesen betrachtete, erinnerte an die Notwendigkeit des Naturrechts und an die fortbestehende Gültigkeit der Frage nach dem Guten. Gegen die postmodernen Moden von Relativismus 422 Vergleiche dazu Frazer, Michael L.: Esotericism Ancient and Modern, in: Political Theory, Band 34, 1/2006, S. 52ff. 423 Frazer, Michael L.: Esotericism Ancient and Modern, in: Political Theory, Band 34, 1/2006, S. 55. 424 Kinzel, Till: Politische Philosophie und die Frage nach dem Guten, Wien 2006, S. 71. 425 Kinzel, Till: Politische Philosophie und die Frage nach dem Guten, Wien 2006, S. 66.

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und Nihilismus setzte er die bleibenden Wahrheiten über die menschliche Natur, die er durch die (Re-)Lektüre des antiken und mittelalterlichen Kanons gewann. Um ganzheitlich nachdenken und forschen zu können, benötige der Mensch eine umfassende – und nicht ausschließlich auf berufliche Verwertbarkeit orientierte – Bildung. Da der Philosoph klassische Bildungsideale gegen die Absenkung des Bildungsniveaus unter dem Vorwand der Gleichheit verteidigte, war der Vorwurf der Abgehobenheit nicht weit. Diese falschen und unproduktiven Missverständnisse verschöben das Interesse von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit seinem ertragreichen Werk hin zum oberflächlichem Geplänkel und brächten „unnötige Aufmerksamkeit für Demagogen und Halbinformierte, die ohne tiefere Kenntnis groteske Denunziationen verbreiten, aber auch eine anklagende, larmoyante oder apologetische Tendenz bei Strauss-Anhängern“.426 Denn die unkritische Verabsolutierung seines Denkens laufe Gefahr, seine Methode nicht als „knowledge, but as true opinion accepted on authority“427 zu missbrauchen. Die entscheidenden Auseinandersetzungen um sein Vermächtnis entzündeten sich also nicht an einem immer wieder behaupteten Einfluss seines Denkens auf die Realpolitik, sondern an der für die Wissenschaft fundamentalen Frage, ob die Unterscheidung zwischen Exoterik und Esoterik ein „Grundpfeiler seiner politischen Philosophie“ oder ein „notwendiges Korollarium“428 aus dem antiken Philosophiebegriff sei, der, verkürzt gesprochen, die modernen Forderungen nach Transparenz und intersubjektiver Nachvollziehbarkeit ablehne. Für den Literaturwissenschaftler Till Kinzel führt erst die Frage, ob Strauss selbst die Kunst des Schreibens anwandte, direkt zu seinem Selbstverständnis. Die Möglichkeit der Philosophie im ursprünglichen Sinne erweist sich für Strauss dadurch, dass der „Historismus“ d. h. für Strauss die Auffassung, auch die Philosophen seien vollumfänglich Kinder ihrer Zeit, sich als unzutreffend erweisen läßt. Mittels der These von der Kunst des Schreibens wird erklärbar, dass die Anpassung der Philosophen an die herrschenden Gedanken ihrer Zeit nur eine scheinbare ist, die den esoterischen Kern ihres Denkens nicht berührt.429

Strauss nützte die Methode der Kunst des Schreibens also zur Klärung seiner philosophischen Leitfrage nach dem Verhältnis von Philosophie und Offenba-

426 Kinzel, Till: Leo Strauss – neokonservativer Ideologe, amerikanischer Politikwissenschaftler, jüdischer Denker, politischer Philosoph, in: Zeitschrift für Politik, 55. Jg., 2/2008, S. 250. 427 Frazer, Michael L.: Esotericism Ancient and Modern, in: Political Theory Band 34, 1/2006, S. 53. 428 Vergleiche Kinzel, Till: Leo Strauss – neokonservativer Ideologe, amerikanischer Politikwissenschaftler, jüdischer Denker, politischer Philosoph. in: Zeitschrift für Politik, 55. Jg., 2/2008, S. 250. 429 Kinzel, Till: Leo Strauss – neokonservativer Ideologe, amerikanischer Politikwissenschaftler, jüdischer Denker, politischer Philosoph. in: Zeitschrift für Politik, 55. Jg., 2/2008, S. 252.

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rungslauben und der darauf aufbauenden Frage nach dem Primat von „Athen oder Jerusalem“, wie er das theologisch-politische Problem auf eine prägnante Formel brachte. Der Philosoph selbst optierte in dieser Frage für Athen und die Philosophie und nutzte seine Wiederentdeckung als Ausgangspunkt für eine grundlegende Kritik am modernen Wissenschaftsbetrieb. In Abgrenzung zu Aufklärung und Hegel formulierte Strauss ein vormodernes Verständnis vom Zusammenhang zwischen Vernunft und Geschichte. Erst Hegel begrenzte die Gültigkeit von Begriffen auf geschichtliche Perioden und sprach ihnen eine überzeitliche Wahrheit ab.430 Hegel, der Geschichte als „fortschreitende Entwicklung“ fehlgedeutet hat, wies jeder Philosophie daher zu, „Darstellung einer besonderen Entwicklungsstufe“ und „bestimmte Stelle“ zu sein, die „ihrer Zeit“ gehöre und „in ihrer Beschränktheit befangen“ sei, also historisch definiert werden müsse.431 Die Moderne ist von dem Gedanken besessen, Wahrheit freiwillig als Tochter eines jeweils genau definierten Zeitrahmens zu sehen und keine überzeitlichen Wahrheiten und Autoritäten anzuerkennen. Wenn der menschliche Geist – wie von Giambattista Vico behauptet – keine andere Realität als die der Geschichte kennt,432 impliziert das nicht, dass alle Begrifflichkeiten geschichtlich nur begrenzt gültig sind. Der Historismus Hegels mit seinem systematischen und quellenkritischen Ansatz glaubt, Geschichte – im Gegensatz zur Natur – gänzlich geistig durchdringen, verstehen und nachvollziehen zu können, sowie an einen logischen Fortschritt der Geschichte. Es macht einen Unterschied, ob die menschliche Geschichte wie bei Hegel als Fortschritt und positive Entwicklung gedacht wird oder wie bei seinem Gegenspieler Leopold von Ranke, der jede geschichtliche Epoche als gleichberechtigten Bestandteil eines Ganzen sah. Ranke lehnte das Wort Fortschritt für die Geschichte vehement ab: Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint.433

430 Vergleiche dazu Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 64. 431 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 64. 432 Die Grundannahme Vicos lautet: Der Mensch kann nur erkennen, was er selber mit den Werken seiner Kultur geschaffen hat. Am Anfang jeder Kulturwissenschaft steht damit die Frage nach dem Ursprung und den Funktionen der Kultur. Vergleiche dazu Vico, Giambattista: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, Reinbek (1744) 1966, S. 51ff. 433 Von Ranke, Leopold: Über die Epochen der neueren Geschichte, München/Wien 1971, S. 59f.

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Wie Ranke hält Strauss die Erkenntnisse jeder Epoche für betrachtenswert und stellt dem linearen und doktrinären Fortschrittsdenken eine posthistorizistische Denkfigur entgegen, die bestreitet, dass die Geschichte vernünftig und fortschrittlich verlaufe und Wissen zeitlich begrenzt sei. Gegen das Motiv der Einbettung der Vernunft in eine progressiv verlaufende Geschichte setzt Strauss den sokratischen Vernunftbegriff mit dem fundamentalen Zweifeln und Fragen als methodologischen Ausgangspunkt seines Rationalismusverständnisses. Vernunft wird hier normativ als Gegensatz zum Glauben und als Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens begriffen. Dieser naturrechtliche Vernunftglaube befreit sich somit in der Tradition von Sokrates aus dem engen Bedeutungshorizont der modernen Wissenschaft. Dass es einen geschichtlichen Fortschritt gibt, gehört zu den unhinterfragten Denkvoraussetzungen der Moderne, die mit dem Siegeszug des Historizismus begannen, die Alltagswelt und Vorstellungen der Gesellschaft zu determinieren. Wie Jürgen Habermas festhielt, bleibe „für den Diskurs der Moderne […] der Vernunftbezug der Geschichte konstitutiv – im Guten wie im Bösen“.434 Strauss hingegen vermutete, dass die Erfindung von Fortschritt und der Glaube an die Objektivität und Richtigkeit der Geschichte ein Irrweg der Moderne gewesen sei. Für ihn war es die Aufgabe der Philosophie, die überzeitliche Gültigkeit des Naturrechts435 neu zu begründen. Ein überpositives und universell gültiges Recht wurde vom Historizismus geleugnet und bestritten. Anhänger eines geschichtlich verortbaren Wahrheitsbegriffs glaubten mit dem Argument „Geschichtlichkeit“ eine wissenschaftliche Dimension des Erkennens gefunden zu haben, die antike Denker nicht beachtet hatten. Strauss bezweifelte, dass die Entdeckung der Geschichtlichkeit ein Fortschritt war. Im Gegenteil bewertete er die Kategorien Fortschritt, Weltgeist und Sinnhaftigkeit der Geschichte als „arbitrary interpretation of phenomena which had always been known and which had been interpreted much more adequately prior to the emergence of ,the historical consciousness‘ than afterward“.436 Erst ein „nonhistoricist understanding of nonhistoricist philosophy“,437 also eine Rückkehr zum nichthistorizistischen Denken in der Tradition von Sokrates, könne eine epistemologische Kehre einleiten und begründen, was Strauss für unausweichlich hielt. Für Strauss leitete der Siegeszug des Historizismus die Krise des modernen

434 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 2016, S. 69; Hervorhebung so im Original. 435 Strauss bezeichnet Sokrates als „originator of the whole tradition of natural right teachings“, weil er „law with nature“ identifiziert habe, und bei seinen Studien „human things“ und nicht länger „the study of nature“ erforscht habe. Strauss, Leo: Natural Right and History, Chicago/London, S. 120. Seine Lehre ist dann von Platon, Aritstoles, den Stoikern und Thomas von Aquin weiterentwickelt worden. 436 Strauss, Leo: Natural Right and History, Chicago/London 1953, S. 33. 437 Strauss, Leo: Natural Right and History, Chicago/London 1953, S. 33.

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Naturrechts ein, welches im 17. Jahrhundert438 entstand. Strauss’ Kritik am Historizismus beschränkte sich nicht auf seine methodologischen Schwachstellen. Er warf dem Historizismus vor, Wegbereiter der spätmodernen Glaubensrückkehr zu sein, da der Glaube „has slain the Enlightment rationalism that (it was thought) had slain God“.439 Diese dem modernen Denken inhärente Tragik manifestiert sich nach Strauss in einer Tendenz zur Selbstzerstörung, die er an konkreten Irrtümern festmacht: „[…] its dogmatic demand for certainty, realism, historical efficacy, progress, and, above all, its insistence on the harmony of theory and practice, reason and society.“440 Solche Denkfehler bedingten geschichtliche Konsequenzen; religiöse Orthodoxie auf der einen Seite sowie Historizismus und Relativismus auf der anderen verstärkten sich gegenseitig. Der politische Islam des 21. Jahrhunderts sowie die Politischen Religionen441 des 20. Jahrhunderts erhärten diese These von Strauss. Zudem greift auch die „rationale“ Aufklärung in ihren Idealen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf überhistorische Glaubenssätze und Versatzstücke zurück. Mit seiner Wiederentdeckung des esoterischen Lesens und Schreibens glaubt Strauss nun ein wirksames Mittel gegen die Selbstzerstörungstendenzen der modernen Kultur gefunden zu haben: Er fordert das historizistische Paradigma der zeitlichen Bedingtheit von Wahrheit – mit seiner posthistorizistischen Perspektive überzeitlich gültiger Wahrheiten über die menschliche Natur und das Wesen der Menschen – heraus. Diese Wahrheiten werden in den kanonischen Texten „zwischen den Zeilen“ verpackt, wo sie unbemerkt von Moden und vor dem Zugriff von Zensoren geduldig auf ihre Entdeckung warten. Mit seinem Beharren auf einer bleibenden Wahrheit widerspricht Strauss Hegel, wonach die Gültigkeit jedes Vernunftbegriffs historisch begrenzt sei, die Geschichte selbst aber rational verlaufe. Die in den esoterischen Texten enthaltenen überzeitlichen Wahrheiten bilden nach Strauss die erkenntnistheoretische Gegenposition zum Historizismus und haben innerhalb der Wissenschaftsgemeinde durch ihre enorme Quellendichte und philologische Brillanz eine aufklärungskritische Haltung möglich gemacht, die versucht, Auswege aus dem starren, szientistischen Denkgebäude zu finden. Die Erkenntnis, wonach Denker verschiedener Epochen die Essenz ihrer Argumentation verstecken, nutzt Strauss zu einem Generalangriff auf die meist unhinterfragten

438 Für das moderne Naturrecht bestimmt Strauss John Locke, Thomas Hobbes und Niccolò Machiavelli als Meisterdenker. 439 Melzer, Arthur M.: Esotericism and the Critique of Historicism, in: American Political Science Review, Band 100, 2/2006, S. 279. 440 Melzer, Arthur M.: Esotericism and the Critique of Historicism, in: American Political Science Review, Band 100, 2/2006, S. 279. 441 Eric Voegelin bezeichnete mit diesem Begriff Nationalsozialismus, Faschismus und Stalininismus, wobei ich unter diesem Terminus auch noch Marktgläubigkeit fassen möchte.

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Dogmen des Wissenschaftsbetriebs und kommt zu dem Schluss, dass es eine bleibend gültige Essenz von Texten und deren Interpretationen gebe. Diese Behauptung klingt für dekonstruktivistisch und an den postmodernen Sound gewöhnte Ohren ungeheuerlich, da sie an der Trennung zwischen richtig und falsch festhält. Strauss schränkte das esoterische Schreiben nicht auf eine Schule oder eine bestimmte Technik ein, die man – quasi lehrbuchmäßig – lernen könne, sondern differenzierte zwischen weltlichen, religiösen und künstlerischen esoterischen Schreibweisen, die der einzelne Autor je nach Kontext und Zielsetzung einsetze. Kritik an den Denkbewegungen von Strauss wurde meistens an seinen inhaltlichen Präsumtionen („Platon-Exeget“) geäußert. Parteigänger seiner Hermeneutik (Straussianer) und deren Kritiker (Anti-Straussianer), die seine epistemologischen und philosophischen Befunde zur radikalen Aufklärung nicht teilten, halten sich die Waage. Kritik an seiner Methode wird hingegen seltener formuliert. Eine solche, allerdings wenig überzeugende, äußerte der Politologe Adrian Blau, der in Strauss nur einen methodischen Gaukler erkennt. Blau nennt Strauss „interpreter with a career-long tendency to read too much into what he sees and unwillingness to test his claims rigorously. He looks for evidence that fits his hypotheses, finds it, ignores plausible alternative, and states his conclusions without doubt“442 . Dieser Vorwurf ist einigermaßen merkwürdig, sah Strauss sein Werk doch als zeitgenössische Interpretation klassischer und kanonischer Texte. Strauss bezeichnete sich selbst bescheiden als Forscher, der klassische Theoreme der Philosophia perennis für die Anforderungen der liberalen Moderne übersetze. Seine Wiederentdeckung des esoterischen Schreibens leidet für Blau an einer entscheidenden Schwäche: an der Unterdeterminiertheit seiner empirischen Theorie durch die Evidenz und an seinem Unvermögen, „the strengths and weaknesses of the main alternative interpretations“ sorgfältig zu prüfen.443 Blau wirft Strauss konkret einen Bestätigungsfehler vor, den er mit der mangelhaften Prüfung der Hypothesen erklärt. Jede empirische Evidenz könne auf mindestens zwei verschiedene Arten erklärt werden, aber Strauss kümmere sich nicht um alternative Erklärungen, sondern versuche nur Argumente zu finden, die seine Hypothesen stützten, doch „hyopthesis-testing should be about more than just finding evidence that fits a hypothesis“.444 Blau erklärt diese Schwäche im Denken von Strauss damit, dass dieser mit dem esoterischen Schreiben keine hermeneutische Methode formuliert habe, sondern es sich bei seinen Thesen zu diesem Thema lediglich um Hypothesen gehandelt habe, die

442 Blau, Adrian: The Irrelevance of (Straussian) Hermeneutics, in: Schröder, Winfried: Reading between the Lines, Berlin/Boston 2015, S. 30. 443 Blau, Adrian: The Irrelevance of (Straussian) Hermeneutics, in: Schröder, Winfried: Reading between the Lines, Berlin/Boston 2015, S. 30. 444 Blau, Adrian: The Irrelevance of (Straussian) Hermeneutics, in: Schröder, Winfried: Reading between the Lines, Berlin/Boston 2015, S. 36.

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Strauss dann mangelhaft und mit Bias überprüft habe. Der Vorwurf der einseitigen Hypothesenüberprüfung liest sich einigermaßen skurril, zumal Strauss mit seinen Interpretationen ja nur die überzeitliche Gültigkeit der Klassiker nachweisen wollte und nicht vom modernen Originalitätsanspruch getrieben war, vermeintliche Fehler der Klassiker in deren Fußnotenapparaten aufzustöbern. Strauss weist in all seinen Schriften seine Nähe zum sokratischen Denken klar aus; ihm, wie Blau das macht, eine Stichprobenverzerrung bei seinen Hypothesenprüfung vorzuwerfen, ist daher oberflächliche Kritik. Wenn Hermeneutik, wie Blau schreibt, im klassischen Verständnis die Kunst und Theorie der Textinterpretation bezeichne, benötige eine solche Wissenschaft „careful thought about which scientific ideas are relevant (e. g. hypothesis-testing, observable implications) and which are not (e. g. law, quantification)“.445 Dass Blau Inferenzlogik als exakter wertet als Gesetzmäßigkeiten und Vorhersagen, erklärt er mit dem Primat des Hypothesentestens als Kern jeder Hermeneutik. Der Hinweis auf verbindliche Prüfung alternativer Lesarten erscheint methodologisch durchaus stimmig, um Bestätigungsfehler in Textinterpretationen zu vermeiden. Wenn Blau allerdings in seiner Kritik eine völlige Operationalisierbarkeit von Interpretationen fordert und somit grundsätzlich der Hermeneutik ihren Anspruch, eine wissenschaftliche Methode zu sein, abspricht, begeht er den gleichen Fehler wie die empirische Sozialwissenschaft. Nicht jede Kategorie kann sinnvoll operationalisiert werden. Bei der Kunst der Textinterpretation sind persönliche Vorlieben und Abneigungen also kein Bias, sondern integraler Bestandteil der Methode, und sich wie Strauss zu einem Team und einer Tradition zu bekennen, steht nicht im Widerspruch zu ihrer Redlichkeit. Esoterisches Schreiben und Lesen entdeckt also der Autor selbst. Mit diesem Instrument hoffte Strauss, die theoretischen Schwächen der modernen Wissenschaft aufzuheben und das Methodenportfolio auszuweiten. Die Eintrittsbarriere zum esoterischen Wissen liegt ausschließlich im Fleiß und in der Hartnäckigkeit des einzelnen Studierenden begründet. Nur wenige Leser und Schreiber sind bereit, die Mühen und die Anstrengung dieser fordernden Technik in allen Facetten zu erlernen, wobei Denkfaulheit nicht mit Elitarismus oder undemokratischer Zugangsbeschränkung gleichgesetzt werden darf. Esoterisches Lesen und Schreiben zu lernen braucht Zeit, Talent und Muße; „Schritt für Schritt“ müssen Leser „von den populären Ansichten […] zur Wahrheit geführt werden“.446 Nicht alles, was in den Texten geschrieben steht, darf als wahr angenommen werden. Eigenheiten wie Widersprüchlichkeiten, formaler Aufbau und Andeutungen können als Hinweise und als „erweckende Stolpersteine“447 fungieren. Exoterische Bücher enthalten 445 Blau, Adrian: The Irrelevance of (Straussian) Hermeneutics, in: Schröder, Winfried: Reading between the Lines, Berlin/Boston 2015, S. 50. 446 Strauss, Leo/Kojève, Alexandre/Kittler, Friedrich: Kunst des Schreibens, Berlin 2009, S. 48. 447 Strauss, Leo/Kojève, Alexandre/Kittler, Friedrich: Kunst des Schreibens, Berlin 2009, S. 49.

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nach Strauss zwei Lehren: vordergründig eine populäre Lehre von erbaulichem Charakter und hintergründig einen nur zwischen den Zeilen angedeuteten Inhalt, der die entscheidenden Fragen stelle. Dieses literarische Versteckspiel hat laut Strauss zwei Ziele: erstens die Essenz des Denkens zu verschleiern und zweitens die Leserschaft in Wissende und Unwissende zu trennen. Diesen Ausleseprozess nimmt jede exoterische Literatur vor, weil sie davon ausgeht, dass „es elementare Wahrheiten gibt, die kein ehrenwerter Mensch öffentlich ausspricht, weil sie viele verletzten würden, die als Verletzte natürlicherweise dazu neigen werden, wiederum den zu verletzen, der die unangenehmen Wahrheiten ausgesprochen hat“.448 Sie setzt, mit anderen Worten, voraus, dass die Freiheit zu forschen und Ergebnisse zu veröffentlichen kein garantiertes Grundrecht ist. Diese Textgattung impliziert also das – in vordemokratischen Gesellschaften wegen Zensur nicht vorhandene – Grundrecht auf Freiheit der Forschung und Veröffentlichung der Ergebnisse, was auch in liberalen Demokratien nur de jure und nicht de facto gegeben ist, weshalb Strauss das esoterische Schreiben in freien Gesellschaften als Werkzeug zur Steigerung des Lesegenusses wertet: „Sichtbare Schönheit“ bleibt „schiere Hässlichkeit, verglichen mit der Schönheit jener verborgenen Schätze, die sich nur nach sehr langer, nie leichter, jedoch immer angenehmer Arbeit offenbaren“.449 Die Angst vor Verfolgung und die Umgehung der Zensur waren historische Gründe für die Entstehung des esoterischen Schreibens. Auch als die Aufklärer Publikationsfreiheit als verbrieftes Recht für jedermann durchsetzten, bestand laut Strauss nach wie vor die Möglichkeit, ja sogar die Pflicht für dazu befähigte Autoren, die altehrwürdige Technik des esoterischen Schreibens weiterzuführen. Zudem gibt es in der von Oligopolen beherrschten Publikationslandschaft seit Langem eine Tendenz zur Marktzensur. Was als zu anspruchsvoll, schwierig oder gehaltvoll gilt, wird von vornherein nicht publiziert. Anstelle der Unterdrückung freier Forschungsergebnisse hat sich allmählich fast flächendeckend eine marktwirtschaftliche Zensur etabliert. Esoterisches Schreiben verbindet den Vorzug der Öffentlichkeit ohne deren negative Konsequenzen wie Strafe, Ächtung, Verbot und Zensur. Strauss weist ausdrücklich auf den Umstand hin, dass die tatsächliche Meinung eines Autors nicht identisch sein müsse mit dem geschriebenen Inhalt. Das implizit Gesagte erschwere, wie er einräumt, die Interpretation. Folgende hermeneutische Regel empfiehlt er zur Entschlüsselung von esoterischen Inhalten: Jeder Autor muß, soweit wie möglich, aus sich selbst gedeutet werden; für die Interpretation eines Autors darf kein Begriff herangezogen werden, der nicht wörtlich in seine

448 Strauss, Leo/Kojève, Alexandre/Kittler, Friedrich: Kunst des Schreibens, Berlin 2009, S. 49. 449 Strauss, Leo/Kojève, Alexandre/Kittler, Friedrich: Kunst des Schreibens, Berlin 2009, S. 50.

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Sprache übersetzt werden kann, nicht von ihm benutzt wurde oder in seiner Zeit nicht allgemeine Verwendung fand. Nur solche Darstellungen der Ansichten eines Autors sind als zutreffend zu erachten, die letztlich von seinen eigenen eindeutigen Aussagen erhärtet werden. Der letzte Grundsatz ist entscheidend: Er scheint a priori solche Ansichten älterer Autoren aus dem Bereich menschlicher Erkenntnis auszuschließen, die lediglich zwischen den Zeilen angedeutet werden. Denn wenn ein Autor nicht müde wird, auf jeder Seite seines Buches unmißverständlich zu erklären, a sei b, jedoch zwischen den Zeilen andeutet, daß a nicht b sei, wird der moderne Historiker dennoch explizite Belege einfordern, die beweisen, daß der Autor der Meinung war, daß a nicht b sei. Da solche Belege schlechterdings nicht beizubringen sind, behält der moderne Historiker recht: er kann jedes Zwischen-den-Zeilen-Lesen als willkürliches Rätselraten abtun, oder, wenn er träge genug ist, als intuitive Erkenntnis gelten lassen.450

Damit entlarvt Strauss die Schwachstellen empirischer Inhaltsanalysen. Was nicht geschrieben steht, existiert nicht, selbst wenn es implizit exakt beschrieben wird. Diese Selbstbeschränkung quantitativer Analysen wertet das ganze Erhebungsinstrument ab. Strauss gibt dem Forscher genaue Anweisungen, wann und unter welchen Umständen das Zwischen-den-Zeilen-Lesen methodologisch ratsam ist und wann nicht: Zwischen-den-Zeilen-Lesen ist immer dann strengstens untersagt, wenn es weniger genau wäre, als wenn man darauf verzichtete. Zwischen-den-Zeilen-Lesen ist nur dann gerechtfertigt, wenn ihm eine genaue Erörterung der expliziten Aussagen des Autors vorausgegangen ist. Man muß den Zusammenhang, in dem eine Aussage steht, und den literarischen Charakter als auch den Aufbau des gesamten Werkes vollständig verstanden haben, ehe man begründeterweise behaupten kann, daß die Deutung einer Aussage angemessen oder gar zutreffend sei. Man ist weder berechtigt, eine Stelle zu streichen, noch ihren Wortlaut zu verbessern, bevor man nicht jede sinnvolle Möglichkeit, die Stelle so zu verstehen, wie sie dasteht, sorgfältig geprüft hat, – wobei eine dieser Möglichkeiten darin besteht, daß die Stelle ironisch gemeint sein könnte.451

Strauss nennt als mögliche Gründe, warum Autoren zum esoterischen Stil gezwungen werden oder sich freiwillig dafür entscheiden, unter anderem Verfolgung, Subversion und politische Opposition. Muss ein Autor wegen seiner radikalen Thesen mit negativen Konsequenzen wie Zensur, sozialer Ächtung, Berufsverbot oder

450 Strauss, Leo/Kojève, Alexandre/Kittler, Friedrich: Kunst des Schreibens, Berlin 2009, S. 31f.; Hervorhebung so im Original. 451 Strauss, Leo/Kojève, Alexandre/Kittler, Friedrich: Kunst des Schreibens, Berlin 2009, S. 37f.

Esoterik und Inhalt

Rufmord rechnen, bietet sich als Tarnung die Flucht in eine esoterische Schreibweise an. Neben diesen offensichtlichen Gründen nennt der Politikwissenschaftler Arthur Melzer auch ein pädagogisches Motiv als Grund für das esoterische Schreiben. Esoterisches Schreiben ist der effizienteste und beste Weg, um philosophisches, also vernunftbasiertes Argumentieren zu erlernen: Reality is hidden from us by a cave of opinion or convention, as Plato maintains, and if philosophy largely consists, not in a science of geometric deduction, but in the delicate art of freeing oneself from received opinion by detecting its subtle flaws and contradictions, then the art of esoteric interpretation might well be the best possible training for philosophy.452

Wer esoterisch lesen lernt, lernt gleichzeitig, die Beschaffenheit der Welt besser zu verstehen. Wer die zwei Ebenen eines exoterischen Buches in mühsamer Kleinarbeit entziffert, stellt damit den klassischen Pfad des Zweifelns und Fragens in den Mittelpunkt seiner Denkarbeit. Esoterische Texte erschöpfen sich nicht in den formalen Gesetzmäßigkeiten der Logik und offenbaren sich nicht in konzentrischen Kreisen. Die sich immer neu formierenden Verästelungen und sich erschließenden Sinnzusammenhänge waren nach der Überzeugung Platons die beste Übung für ein philosophisches Leben, das sich ganz in den Dienst der Wahrheitssuche begab. Die Hingabe zur Suche steht am Beginn jeder Lektüre, und die Alten wussten um die Anziehungskraft von Rätseln und Versteckspielen für das Lernen. Das Tarnen und Täuschen, das Sprechen in Zungen und in Rätseln sind die literarischen Entsprechungen der sokratischen Methode: The right kind of obscurity – the kind that, with the proper effort, can be deciphered and penetrated – turns out, in fact, to be the greatest stimulus to thought. Everyone loves a secret. Mystery is alluring. Hide something and we will seek it. This simple fact is the first premise of all pedagogical esotericism.453

Bleiben die Dunkelheit und die Anspielungen eines Textes undurchdringbar und ohne Auflösung, stirbt esoterisches Denken ab. Diese beiden Stilelemente müssen also konkrete Hinweise enthalten, um Schritt für Schritt das Verstehen des Textes zu ermöglichen. Zu viele Auslassungen und Gedankensprünge können das Textver-

452 Melzer, Arthur: On the Pedagogical Motive for Esoteric Writing, in: The Journal of Politics, Band 69, 4/2007, S. 1029. 453 Melzer, Arthur: On the Pedagogical Motive for Esoteric Writing, in: The Journal of Politics, Band 69, 4/2007, S. 1022.

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ständnis für den Leser erschweren, ja verunmöglichen, zumal nur der Leser selbst und nicht der Lehrer die letztgültige Antwort geben kann: The Socratic teacher leaves the most important things unsaid or at least unclear. Yet, second, there is also something positive that the teacher or writer can do: he can stimulate the student to think for himself – while subtly guiding that thinking – by making artful use of questions, hints, and puzzles of the right kind.454

Diese dialektische Art zu denken, zu schreiben und zu fragen benötigt „Love of the Hidden and Reverence for the Obscure“.455 Die Forderungen nach buchstabengetreuer Interpretation, Transparenz, intersubjektiver Nachvollziehbarkeit und Objektivität und die Verbannung von Doppel- und Mehrdeutigkeiten beginnt laut dem Soziologen Donald Levine mit der Aufklärung, und er bewertet dies als Verlust.456 Für Levine ist der Siegeszug des modernen Wissenschaftsverständnisses vom manischen Streben begleitet, ein eindeutiges Sprachsystem zu etablieren. Dieser Rationalisierungsprozess – mit seiner Tendenz, sprachliche Ambivalenzen auszumerzen und Genauigkeit nur in denotativer Präzision zu verorten – hat einen aseptischen Sprachgebrauch begünstigt. Die Versuche, Sprache in einen mathematisch exakten Modus zu zwingen, hätten wissenschaftliches Schreiben mit dem Anspruch verbunden, die Exaktheit der Sprache auf der Grundlage von Aussagen- und Prädikatenlogik zu erhöhen: „The wish to strip language of its allusions, figures, and ambiguities – in short, its poetic character – became a passion.“457 Dieser Kreuzzug, beanstandet Levine, bedinge auch eine Abneigung gegenüber Mehrdeutigkeiten und eine Ablehnung gegenüber der Tatsache, dass es für bestimmte Sachverhalte mehr als eine richtige Interpretation geben könne. Levine bewertet dieses „movement against ambiguity“458 westlicher Intellektueller seit der Aufklärung als einzigartige Entwicklung der Weltgeschichte, da Ambiguität ein Merkmal aller natürlichen Sprachen darstelle. Levine benennt die vier wesentlichen Funktionen von mehrdeutigem und eindeutigem Sprachgebrauch, die er jeweils in kulturelle und soziale Funktionen unterteilt. Als kulturelle Funktionen des ambigen Sprachgebrauchs gibt er „enlightenment through intuited indeterminancy (mysticism)“ und „expressivity through evocative allusions (metaphor)“, als soziale Funktionen „bonding through diffuseness (solidaristic

454 Melzer, Arthur: On the Pedagogical Motive for Esoteric Writing, in: The Journal of Politics, Band 69, 4/2007, S. 1021. 455 Melzer, Arthur: On the Pedagogical Motive for Esoteric Writing, in: The Journal of Politics, Band 69, 4/2007, S. 1024. 456 Vergleiche dazu Levine, Donald N.: The Flight from Ambiguity, Chicago/London 1985, S. 20ff. 457 Levine, Donald N.: The Flight from Ambiguity, Chicago/London 1985, S. 3. 458 Levine, Donald N.: The Flight from Ambiguity, Chicago/London 1985, S. 21.

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symbolization)“ und „self-protection through opaqueness (secrecy, deception)“ an; Funktionen des univokalen Sprachgebrauchs seien kulturell „cognitive mastery through determinateness (secular science)“ und „disciplined expression through literalness (prosaic language)“ sowie sozial „discrimination through specificity (specification of claims)“ und „self-disclosure through transparency (publicity, honesty)“.459 Levines Studie hält am erkenntnistheoretischen Mehrwert von Polysemie, Metaphern, Allegorien, esoterischem Schreiben und Allusionen für die Wissenschaft fest und fordert deshalb, diese Begrifflichkeiten als wertvollen Bestandteil des modernen Rationalitätsbegriffs mitzudenken. Dass Wahrheiten hinter rhetorischen Finten versteckt werden, war unhinterfragter und gelebter Konsens aller Gelehrten in der Antike und im Mittelalter. Erst die Neuzeit brach mit diesem Konsens und sprach sich gegen die Doppelsinnigkeit als Mittel zum Erkenntnisgewinn aus. Mit dieser Neubewertung begann die Transformation der gesamten Wissenskultur. Erst die moderne Wissenschaft glaubte, intellektuellen Erkenntnisgewinn mit dem Abbruch der überlieferten Wissensbestände und der Forderung nach begrifflicher Trennschärfe neu zu begründen. Diese Hoffart stellt laut Levin eine weltgeschichtlich einzigartige Entwicklung dar. In allen traditionellen Kulturen – sei es in Griechenland, Afrika, China oder indigenen Kulturen – galt die ungeschriebene Regel: „It is the characteristic way of the wise to speak indirectly, to talk in figures, proverbs, and puzzles. All the sages of premodern cultures seem to share a belief in the ineffectiveness of open statements, the superficiality of direct communication.“460 Die Moderne etablierte den Mythos, wonach Weisheit weder ein seltenes Gut noch schwer zu erlangen, sondern einfach durch direkte Weitergabe von Person zu Person erreichbar sei. Der klassische Standpunkt wurde von den Aufklärern als primitiv, irrational, oberflächlich und unwissenschaftlich gebrandmarkt, womit wichtige Traditionsstränge gekappt und willentlich zerstört wurden. Melzer klagt nun seinerseits das moderne Wissenschaftsverständnis als zu eng und dogmatisch an, um exoterische Bücher überhaupt als solche zu erkennen. Das Paradigma der Trennschärfe führt für Melzer beim Leser zur geistigen Trägheit und Passivität, weil sie die Neugierde und die Freude am Rätsellösen abtöteten.461 Außerdem bedingt der Ruf nach Klarheit und Eindeutigkeit ein vorbehaltloses Vertrauen in die Figur des Autors; der moderne Glaube an dessen alleinige Urheberschaft und die schöpferische Kraft des Individuums kommen damit auf die Landkarte und

459 Vergleiche Levine, Donald N.: The Flight from Ambiguity, Chicago/London 1985, S. 37. 460 Melzer, Arthur: On the Pedagogical Motive for Esoteric Writing, in: The Journal of Politics, Band 69, 4/2007, S. 1017. 461 Wer als Lehrender einmal in die leeren Gesichter von Studierenden im Zeitalter nach dem BolognaProzess geblickt hat, wird diese Einschätzung bestätigen können. Der Drang nach Bildung und die brennenden Herzen sind dem blinden Befolgen vermeintlich quantifizierbarer Bildungsstandards und unhinterfragter Kompetenzorientierungen gewichen.

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begründen eine (fatale) „dependence on the author“.462 Um den Leser aus dem modernen Gefängnis vermeintlicher Klarheit zu befreien, ist eine Rückbesinnung unerlässlich. Die Liebe zum Versteckten, Dunklen, Rätsellösen und Verborgenen steht am Beginn jeder forscherischen Tätigkeit. Dieser Paradigmenwechsel von einem neuzeitlichen zu einem die gesamte Geistesgeschichte umfassenden Textverständnis muss nach Ansicht der Linguistin Annabel Patterson nicht zwingend in der jüdischen Eschatologie von Jacob Taubes oder im philosophischen Traditionalismus von Leo Strauss münden, sondern kann als Interpretationsmethode auch für demokratische Gesellschaften und jeden Leser nutzbar gemacht werden. Das esoterische Prinzip kann hier als „writing differently for different audiences“463 verstanden werden. Für Patterson ist es wichtig, die Aussagen kanonischer Texte nicht zu wörtlich zu nehmen und aus diesen durch die sorgfältige Relektüre auch Antworten auf die heute relevanten Fragen zu finden. Sie plädiert dafür, Texte als sich mit Alltags- und Popkultur, Politik und Wirtschaft und funktionalem Analphabetismus befruchtende Entitäten zu denken und nicht isoliert zu betrachten. Diese Interdependenzen könnten helfen, „the cracks and contradictions in the ideological structures of the society that gives rise to it“464 zu enthüllen, die Unmöglichkeit einer abschließenden Interpretation zu akzeptieren und sich stattdessen bei der Textanalyse auf „the inadequacies of the signifier and problems of representation“ zu konzentrieren.465 Außerdem kann eine esoterische Interpretation die psychologische Tiefenstruktur eines Textes freilegen und nachweisen, was der Autor schreibt und was er bewusst oder unbewusst offenlässt. Mit anderen Worten enthält die esoterische Textexegese auch neomarxistische, dekonstruktivistische und psychoanalytische Dimensionen. Nach Pattersons Überzeugung bietet nur eine esoterische Lektüre die Grundlage für einen kompetenten und selbstreflexiven Umgang mit Texten und den Einstieg in ein Reich, welches „asylum to those who choose freedom“466 gewährt. Der Einstieg in dieses Reich wird gegenwärtig freilich durch Markteintrittsbarrieren, Angst, soziale Zensur,467 freiwillige Selbstbeschränkung,

462 Melzer, Arthur: On the Pedagogical Motive for Esoteric Writing, in: The Journal of Politics, Band 69, 4/2007, S. 1020. 463 Patterson, Annabel: Reading between the Lines, London 1993, S. 7. 464 Patterson, Annabel: Reading between the Lines, London 1993, S. 319. 465 Vergleiche Patterson, Annabel: Reading between the Lines, London 1993, S. 319. 466 Patterson, Annabel: Reading between the Lines, London 1993, S. 324. 467 Soziale oder gesellschaftliche Zensur definierte die ägyptische Theaterkritikerin Nehad Selaiha als Werkzeug der Öffentlichkeitsarbeit, um systematisch und geplant Druck auf die veröffentlichte Meinung aufzubauen. Personen, kommerzielle und nichtkommerzielle Vereine und Institutionen versuchen durch den Aufbau sozialer Zensur inhaltlich gegen ihnen nicht genehme Produkte so lange vorzugehen, bis diese verboten werden. Vergleiche dazu https://static1.squarespace.com/static/550c93a2e4b0567de63a74a4/t/582cde843e00be5c0f1d2664/1479335558024/ 2014+On+Censorship-Seiten+aus+RZ_HAUPTTEIL.pdf, letzter Zugriff: 11.07.2022.

Esoterik und Inhalt

marktliberale Selbstoptimierung, Kontrollmechanismen digitaler Gatekeeper, Forenregeln sowie ein Mittelschichtbias der Kulturindustrie erschwert und nicht mehr durch staatliche Zensur. Als Leitlinie für esoterisches Lesen schlägt Patterson eine öffentliche und eine private Lesart vor. Der öffentliche Text enthält Vorurteile und hält sich genau an die Grenzen des gesetzlich Erlaubten und des (vermeintlich) guten Geschmacks. Der implizite Text richtet sich diskret und unaufdringlich an die wenigen, die ihn zu entschlüsseln wissen; er enthält die wahre Botschaft, die sich geschickt und kunstvoll hinter einer nur für den kundigen Leser sichtbaren Fassade verbirgt. Dass es eine wahre und implizite Botschaft in Texten gibt, wird von „objektiv“ argumentierenden Wissenschaftlern bestritten. So bescheidet sich Alexandre Kojève in seiner Xenophon-Interpretation mit der Welt des Manifesten und konkret Beobachtbaren. Was nicht gesagt, sondern nur gedacht wird und sich für den Leser aus dem Kontext des Gesagten erschließt, ist für ihn nicht weiter beachtenswert. Weil er das Zwischen-den-Zeilen-Lesen nur als Kulturtechnik ohne Erkenntniswert für die Interpretation akzeptiert, erklärt Kojève das Verhalten des am Tyrannendasein leidenden Hieron kurzerhand zum Leitbild der liberalen Moderne: „Like a good liberal, he leaves it at remaining silent: he does nothing, decides nothing.“468 Nach der Wahrheit des Xenophon-Textes zu suchen, hält er für eine ziellose hermeneutische Spitzfindigkeit, weil Strauss dem Leser nicht sage, „what to think about, but only what to think about when speaking of the relations between tyranny or government in genereal on the one hand, and Wisdom or philosophy on the other“.469 Nach der Wahrheit eines Textes zu fragen, wenn Hieron schweigt, sprengt für Kojève den Rahmen des interpretatorisch Zulässigen. Und exakt hier beginnt esoterisches Analysieren. Es geht nicht darum, was der Leser denken soll, sondern worüber wir nachdenken können, und darum, dass Interpretation immer ein ambiger, ergebnisoffener und durch permanentes Nachfragen geleiteter Prozess ist. Ein solches Wissenschaftsverständnis befindet sich in Analogie zur Kunst – auch diese wirkt erst durch permanente Interpretation. Dieser offene Interpretationsmodus findet im Materialismus und im Empirismus nicht statt, weil eine auf die resolutivkompositive Methode reduzierte Wissenschaft sich mit manifesten Erklärungen bescheidet und so das weite Feld impliziten Wissens brachliegen lässt. Die liberale Moderne basiert auf unhinterfragten Prämissen ihres Denkens, sei es in der Politik, sei es in der Wissenschaft. Der moderne Geist muss von seinen Voraussetzungen, Grundannahmen und Vorurteilen her kritisiert werden. Bis heute krankt die wertfreie, objektive Wissenschaft am „Vorurteil der Zunft, daß mythische Bilder oder

468 Kojève, Alexandre: Tyranny and Wisdom, in: Strauss, Leo: On Tyranny, Chicago 2013, S. 138. 469 Kojève, Alexandre: Tyranny and Wisdom, in: Strauss, Leo: On Tyranny, Chicago 2013, S. 136; Hervorhebung so im Original.

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mystische Termini nur vage Orakel seien, biegsam und jedem Willen gehorsam, während die wissenschaftliche Sprache des Positivismus die Wahrheit gepachtet habe“.470 Nichts – so deutet der Philosoph, Judaist und Religionssoziologe Jacob Taubes – sei ferner von den wirklichen Verhältnissen entfernt als dieses Vorurteil. Und dieses wirkmächtige Vorurteil bildet für den Philosoph Michael Polanyi den „Ursprung verheerender Trugschlüsse“,471 da es implizite Gedanken nicht für einen unentbehrlichen Bestandteil allen menschlichen Wissens halte. Probleme zu erkennen, heißt nach Polanyi immer auch, etwas bis dahin Verborgenes zu erkennen. Auf den Sachverhalt, dass Menschen Dinge wissen, ohne dieses Wissen in Worte fassen zu können, hat schon Sokrates im Menon-Paradox von Platon aufmerksam gemacht: „Daß nämlich ein Mensch unmöglich suchen kann, weder was er weiß, noch was er nicht weiß. Nämlich weder was er weiß, kann er suchen, denn er weiß es ja, und es bedarf keines Suchens weiter; noch was er nicht weiß, denn er weiß ja dann auch nicht, was er suchen soll.“472 Erst implizites Wissen vermag dieses Paradoxon zu lösen. Wissenschaftler können nur dann latente Inhalte entdecken, wenn sie sich auf ihre Gabe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens rückbesinnen und in den Texten nach Andeutungen eines verborgenen Inhalts Ausschau halten. Platon deutet in seinem Anamnesis-Konzept Wissen als von Erfahrung unabhängig und a priori vorhanden, welches durch Fragen und Interpretation der Vergessenheit entrissen werden könne. Wenn implizites Wissen aber zur Conditio humana gehört, so läuft das Ideal exakter, nur manifester Kategorien als wissenschaftlich zu akzeptieren, „auf die Zerstörung allen Wissens hinaus“.473 Implizites Wissen wird also bei jedem interpretatorischen Akt benötigt um „1) ein Problem richtig zu erkennen 2) diesem Problem nachzugehen und sich bei der Annäherung an die Leistung von seinem Orientierungssinn leiten zu lassen und 3) die noch unbestimmten Implikationen der endlich erreichten Entdeckung richtig zu antizipieren“.474 Implizites Wissen steht also am Anfang jeder wissenschaftlichen Fragestellung. Der Stellenwert des Autors

Bei der Prüfung der Reliabilität spielt der Codierer eine wichtige Rolle. Die lehrbuchmäßig angenommene Objektivität des Codierers wird durch die Komplexität der Realität oft verzerrt. Hinter jedem Codierer verbirgt sich ein Mensch, und jeder Mensch bringt Vorwissen, mentale Prädispositionen und einen Habitus in den Codierprozess mit ein. Das Codieren selbst wird oft durch Routinen und Ermüdungserscheinungen aufgrund der Monotonie der Arbeit beeinträchtigt. Diese 470 471 472 473 474

Taubes, Jacob: Ad Carl Schmitt: Gegenstrebige Fügung, Berlin 2011, S. 26. Polanyi, Michael: Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 2016, S. 27. Platon, Menon, in: Sämtliche Werke, Band 1, Reinbek bei Hamburg 2015, S. 472. Polanyi, Michael: Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 2016, S. 27. Polanyi, Michael: Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 2016, S. 30.

Esoterik und Inhalt

Tätigkeit bedingt also bestimmte Codiereffekte, die die Ergebnisse von Inhaltsanalysen wesentlich mitbestimmen. Während über die Rolle der Codierer in den Handbüchern zur Inhaltsanalyse genau reflektiert wird, bleibt die Rolle des Autors unhinterfragt. Dabei ist auch die Position des Autors nicht immer eindeutig bestimmbar. Zu dieser Festlegung kommt der deutsche Schriftsteller Hubert Fichte in seiner meisterhaften Interpretation von Henry James’ Roman „Washington Square“.475 Oberflächlich verhandelt der Text die Sorge eines erfolgreichen Arztes um seine Tochter, von der er glaubt, dass sie Opfer eines Mitgiftjägers wird, weswegen er ihr eine Vermählung verbietet. Fichte nimmt diese nur auf den ersten Blick eindeutige Handlung als Ausgangspunkt, um über die vielfältigen Rollen eines Autors nachzudenken. Bei seiner Lektüre fielen Fichte in der Argumentation von James Widersprüche auf zwischen dem allwissenden Autor, der oft ungenau beschreibt, übertreibt und Anführungsstriche setzt, wo keine hingehören, und einem subjektiven Autor, der den objektiven im Text immer wieder berichtigt und zurechtweist. Hinter diesen formalen Konventionsbrüchen vermutet Fichte einen zweiten Autor, was ihn unweigerlich zu der Frage führt: Welcher Autor ist nun der authentische und legitime Autor? Ist die Autorenschaft nicht immer eindeutig festlegbar, weil Autoren selbst oft unlogisch und widersprüchlich arbeiten und argumentieren? Diese Problemstellungen sind für die vorliegende Arbeit von einiger Dringlichkeit. Gibt es neben dem bewussten immer auch einen unbewussten Autor, der den logischen Aufbau eines Textes konterkariert und den Leser absichtlich oder unbeabsichtigt in ein unentwirrbares Labyrinth aus Assoziationsketten abseits der manifest erzählten Inhalte führt? Welcher Autor ist nun der, dem der Leser vertrauen sollte? Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen verweigert Fichte. Seine Textauslegung dient dem Nachweis einer Koexistenz von objektivem und subjektivem Autor als Wesensmerkmal der klassischen Moderne. Die Spaltung der Autorenexistenz in eine bewusste und eine unbewusste Ebene deutet Fichte als „Sprachsituation des bürgerlichen Zeitalters selbst“, wo Verdrängung mit „differierenden Erzählpositionen zum Kunstmittel“ erhoben wird.476 James’ Schreibweise war eine indirekte, was – und hier liegt der Überraschungseffekt in der Interpretation Fichtes – seiner unterdrückten, nicht öffentlich ausgelebten Homosexualität geschuldet war. James verwendete laut Fichte eine uneigentliche, indirekte Schreibweise mit Andeutungen, Verfremdungen, Übertreibungen und Ironie, um dem Leser Einblick in eine zweite Wahrheit des Textes – die des Autors – zu geben, die sich hinter der Wahrheit des manifesten Textes verbirgt. Bei James war diese zweite Wahrheit eine verleugnete Sexualität und eine verdrängte Kindheit, die zu folgendem Paradoxon führt: „Eine 475 Vergleiche Fichte, Hubert: Der objektive und der subjektive Autor, in: Fichte, Hubert: Homosexualität und Literatur 1, Frankfurt a.M.1987, S. 431–468. 476 Fichte, Hubert: Der objektive und der subjektive Autor, in: Fichte, Hubert: Homosexualität und Literatur 1, Frankfurt a.M. 1987, S. 439.

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Klasse von Arrivierten verständigt sich über die Wahrheit – oder die Wirklichkeit – mit Hilfe von Lügen.“477 Die Romanfiguren bei James lügen, und hinter ihren Lügen verbirgt sich die Fährte zum bestimmenden Thema hinter dem manifesten Inhalt: die Natur und ihre Verdrehung zum Schein. „Washington Square“ handelt auf der expliziten Ebene vom vergeblichen Kampf einer tollpatschigen, naiven und unansehnlichen Tochter um die Liebe ihres Vaters, während auf der impliziten Ebene der Autor seine selbst erlebten Leiden mit den verlogenen Konventionen der New Yorker Upperclass im 19. Jahrhundert und seine eigene unausgelebte Sexualität aufarbeitet. Hinter James’ gebildeter, kompetenter und ironischer Beschreibung gesellschaftlicher Konventionen verbirgt sich laut Fichte die im richtigen Leben des Autors nie geäußerte Verachtung gegenüber dieser Enge. James affirmierte und beherrschte die damals herrschenden Konventionen und lebte ein auf den ersten Blick angepasstes Leben. Die Leiden des Autors werden im Subtext verhandelt. Das verdrängte sexuelle Begehren schleicht sich – in der subkutanen Menschenverachtung des Vaters, die hinter seinem aufgeklärten Humanismus spürbar wird – im Text immer wieder in den Vordergrund, und aus dieser Spannung zwischen Gesagtem und Ungesagtem, Ausgelebtem und Verdrängtem ergibt sich die Meisterschaft dieses nur auf den ersten Blick konventionellen Romans. Der Dichter lügt, so die Erläuterung Fichtes, um die Wahrheit zu betonen: „Always be sincere whether you mean it or not.“478 Oder aber – was im Fall James ebenfalls möglich wäre – der Autor gibt dem Leser unfreiwillig Einblicke in sein Innenleben, weil er die Trennung zwischen objektiver und subjektiver Sprechposition technisch nicht durchhält. Hinter der Fassade des neutralen und allwissenden Autors bricht immer wieder ein verdrängtes Ich durch, welches sich mit den im Text vorkommenden Figuren verbündet, geheime Allianzen schmiedet, also vom manifesten Text losgelöste Lesarten und Schlussfolgerungen ermöglicht. Der subjektive Autor erhöht mit seinen schreiberischen Finten den Lesegenuss, und er belegt mit seinem uneigentlichen Schreiben handwerkliche Meisterschaft. Fichte führt uns mit seiner Interpretation zu einer entscheidenden Frage bei der Analyse von Inhalten: Inwieweit kann der Leser den angeführten Argumenten des Autors trauen? Der Literaturwissenschaftler Wayne C. Booth hat zur Beantwortung dieser Frage die Unterscheidung in „zuverlässige“ und „unzuverlässige“ Autoren vorgeschlagen. Ein Autor schreibe dann „reliable, when he speaks or acts in accordance with the norm of the work (which is to say, the implied author’s norms), unrealiable, when he does not“.479 Booth nennt Ironie, Täuschung und Lügen als mögliche, aber nicht ausreichende Hinweise auf einen unzuverlässigen Autor und 477 Fichte, Hubert: Der objektive und der subjektive Autor, in: Fichte, Hubert: Homosexualität und Literatur 1, Frankfurt a.M. 1987, S. 440. 478 Fichte, Hubert: Der objektive und der subjektive Autor, Frankfurt a.M. 1987, S. 462. 479 Vergleiche Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction, Chicago/London 1961, S. 158f.

Esoterik und Inhalt

bestimmt wie Fichte das Einfließen von Unbewusstem in den Text als wesentliches Merkmal eines unzuverlässigen Autors. Das absichtliche In-die-Irre-Führen des Lesers ist laut Booth ein typisches Stilmittel moderner Romanciers. Unzuverlässige Autoren verlangen vom Leser mehr Aufmerksamkeit und eine genauere Lektüre, um die richtigen Schlussfolgerungen aus einem Text zu ziehen. Booth schlägt Folgendes vor, um die Zuverlässigkeit des Autors zweifelsfrei bestimmen zu können: „Unreliable narrators thus differ markedly depending on how far and in what direction they depart form their author’s norms.“480 Ein objektiver Erzähler liegt falsch und führt den Leser – unbeabsichtigt oder beabsichtigt – in die Irre, wenn er seinen Figuren Eigenschaften und Attribute zuschreibt, die der subjektive Autor verneint oder ausschließt. Unzuverlässige Autorenschaft kann mit Täuschungsabsicht als Stilmittel eingesetzt werden oder als Eingriff des Unbewussten in den Text einfließen und so Hinweise auf verborgene Motive, Idiosynkrasien und Anliegen des Autors geben. Wenn Autoren unzuverlässig schreiben, liegt das am Wesen des Schreibens, das nicht immer informieren wollen oder auf Verständigung und Verständlichkeit ausgerichtet sein muss. Der Autor kann mit seinem Schreiben dezidiert das Ziel verfolgen, not to spread knowledge to a given ignoramus but to maintain his ignorance; not to profess feelings but to hide or feign them; to lead astray rather than to guide the perplexed; not to give the best advice but the next best; not to enlighten but to obscure, to explain inadequately, to oversimplify, to slant, to popularize, to tell only part of the truth, to mask it, or simply to lie.481

Der Soziologe Hans Speier weist in dieser Beobachtung auf die simple Tatsache hin, dass mit Sprache Sachverhalte immer auch verborgen, nicht thematisiert, verschleiert oder zurückgehalten werden könnten. Die Technik des unzuverlässigen Schreibens kann wie bei Fichte und Booth als literarisches Stilmittel der bewussten Selbstpräsentation und der unbewussten Selbstentblößung verwendet werden oder als Strategie des Autors, um sich und seine Leser vor dem Zugriff der Zensur und politischer Verfolgung in totalitären Systemen zu schützen. Die Verschleierung der Autorenschaft und bestimmter Inhalte kann vom Autor aus politischen Gründen gewollt sein, wie Speier in seiner Untersuchung über Schreibtechniken zur Umgehung der Zensur in verschiedensten vormodernen und modernen totalitären Systemen nachzeichnet: „In repressive situations common words may be used to convey covert meanings according to advance agreements so that ,insiders‘ may

480 Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction, Chicago/London 1961, S. 159. 481 Speier, Hans: The Truth in Hell, New York/Oxford 1989, S. 189.

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protect themeselves against censors and other dangerous ,outsiders‘.“482 Speier nennt die Sprache solcher Texte in Anlehnung an den russischen Dichter Michail Saltykow-Schtschedrin „äsopische Sprache“. Die Verwendung von verschleierter Sprache durchdringt die Alltagssprache bestimmter Schichten und Kreise, die ihre revolutionären Inhalte hinter Euphemismen verstecken, um dem Zugriff der Zensur zu entgehen. Die versteckte Botschaft solcher Texte offenbart sich nur den Insidern der jeweiligen Gruppe und schließt ungewollte Adressaten und die Zensur vorsätzlich aus. Speier sieht auch die Ober- und Unterschicht als Träger solcher codierter Botschaften, um gesellschaftliche Unterschiede zu verschleiern und/oder zu perpetuieren. Autoren verwenden innerhalb verschiedener historischer Kontexte Techniken des unzuverlässigen und/oder esoterischen Schreibens, um die Decodierung bestimmter Sachverhalte auf einen genau definierten Rezipientenkreis einzuschränken: Hidden meaning is conveyed to certain recipients in preliterate and literate societies, and particularly, though not exclusively, in illiberal regimes; among those who wield power as well as those who live under its sway; among victims, critics, and detached observers; in high and low social classes. Nor are the efforts to find a way from the overt sense to a deeper „real“ meaning confined to everyday political and nonpolitical discourse; they are rather regularly required in the exegesis of sacred texts, the understanding of myths, allegories, parables and poetic imagery, in the interpretation of philosophical writings, the critical appreciation of fine art and literature.483

Die Zielsetzungen des Autors können dabei nicht in jedem Fall zweifelsfrei nachgewiesen werden, sondern sich erst durch besonnene Lektüre erschließen. Als in der Geschichte effizientestes Genre für Autoren, politische und gesellschaftliche Missstände an der Zensur vorbei, zwischen den Zeilen zu beschreiben, bestimmt Annabel Patterson in Übereinstimmung mit Speier die Fabel in der Tradition Äsops, von dessen Namen Saltykow-Schtschedrin auch den Begriff „äsopische Sprache“ abgeleitet hat. Die Fabel wurde von Äsop, dem freigelassenen phrygischen Sklaven und Philosophen als Textgattung für die Emanzipation der Sprach- und Wehrlosen erfunden, um zu zeigen, wie mit Intelligenz und Sprachwitz auch die subalternen Schichten zu ihrem Recht kommen können und wie abseits der offiziellen Geschichtsschreibung alternative Aussagen an der Zensur vorbei zur Aufklärung der Rezipienten beitragen können. Patterson sieht die Fabel als Medium zur politischen Lageanalyse für all jene, denen die offiziellen Zugänge zur Artikulation (Geschichtsschreibung, Philosophie, Wissenschaft, Religion, Medien) verwehrt

482 Speier, Hans: The Truth in Hell, New York/Oxford 1989, S. 199. 483 Speier, Hans: The Truth in Hell, New York/Oxford 1989, S. 207.

Esoterik und Inhalt

bleiben. Mit ihrer gattungsimmanenten Offenheit und Unbestimmtheit ist die Fabel dazu prädestiniert. Beginnend mit Äsops abenteuerlichem Leben, das selbst die Grundlage für viele Fabeln bildete, bis zur politischen Literatur im England der Tudor-Dynastie entwirft Patterson eine Gegengeschichte der Literatur, wo Autoren in der Tradition Äsops die Fabel als Waffe in ihrem politischen Kampf gegen die Obrigkeit einsetzen. Die Fabel hat als Textgattung ihren Ursprung in der Sklavenkultur, was Hegel zum Anlass für eine Abwertung dieser Kunstform nimmt: „Im Sklaven fängt die Prosa an, und so ist auch diese ganze Gattung prosaisch.“484 In dieser Aussage offenbart sich die geballte Ignoranz des Sprachrohrs der Mächtigen für die alternativen Wahrheiten und Lebenswelten der Marginalisierten. Hegel junktimiert die Herkunft des Genres aus dem Staub, dem Blut und dem Schweiß der Subalternen mit ihrer künstlerischen Nachrangigkeit und missdeutet Fabeltiere als „höchst matte, weniger als nichts bedeutende Erfindungen“,485 weil er nicht versteht, warum Äsop „seine Lehren nicht offen sagen darf, sondern sie nur versteckt, in einem Rätsel gleichsam, zu verstehen geben kann, das zugleich immer gelöst ist“486 . Der Meisterdenker des deutschen Idealismus wundert sich, warum Äsop seine klugen Ansichten, nicht dazu nützt, „freie Gestalten aus freiem Geiste zu erschaffen“.487 Es scheint außerhalb von Hegels Erfahrungshorizont zu liegen, dass bestimmte Autoren (Sklaven, Oppositionelle, Flüchtlinge, Minderheiten) für bestimmte offen getätigte Aussagen bestraft oder getötet werden. Hegel reduziert die Fabel auf platte Naturbeobachtung, die tierische Eigenschaften eins zu eins auf menschliche Verhaltensweisen übertrage und vordergründigen Witz ohne „Tiefe der Einsicht und substanzielle Anschauung, ohne Poesie und Philosophie“.488 Auf die Idee, dass ein „missgestalter, buckeliger Sklave“489 nicht alles frei von der Leber weg sagen darf, kommt Hegel nicht. Hegels Ignoranz ist ein gutes Beispiel dafür, wie und warum äsopisches Schreiben in seiner Mehrdeutigkeit meist unbehelligt Verbreitung fand. Äsopisches Schreiben bildet eine Ergänzung zur Tradition des esoterischen Schreibens. Während bei Platon und Strauss esoterische Wahrheit auf einen schmalen Kreis Eingeweihter beschränkt wird, dient Schreiben bei Äsop als Sprachergreifungsstrategie und als informelle Beschreibung und Kritik der tatsächlichen Machtverhältnisse. Indem Äsop die Fabel als politische Waffe nützt, agiert er aus einer abhängigen Perspektive heraus als Aufklärer und etabliert neben dem Skeptischen und dem Rationalistischen mit dem Ironischen einen Schreibstil sui generis, auf den die Machthaber keinen Zugriff haben, weil Äsop an der Zensur

484 485 486 487 488 489

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a.M. 2016, S. 497. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a.M. 2016, S. 499. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a.M. 2016, S. 497. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a.M. 2016, S. 497. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a.M. 2016, S. 497. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a.M. 2016, S. 497.

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und an den Konventionen vorbeischreibt. In einer Fabel gibt es mehr als nur ein Ende und mehr als nur eine richtige Schlussfolgerung, und in dieser Offenheit sieht Annabel Patterson die Stärke und das zeitlos revolutionäre Element dieser Textgattung. Sie erkennt Äsops Werk als philosophische und schriftstellerische Leistung ersten Ranges und reduziert die Fabel nicht vorschnell auf die Oberflächenstruktur von Witz und Naturbeobachtung. Eine äsopische Schreibweise erfüllt nach Patterson fünf Funktionen: 1. literature, in its most basic form, has always spoken to unequal power relations; 2. those without power in those relations, if they wish to comment upon them, must encode their commentary; 3. writing is authorized by authorship, texts needing a name to cling to if they are to acquire cultural resonance; 4. wit (literary ingenuity) can emancipate; 5. basic issues require basic metaphors; when, as in the fable, the role of metaphor is to mediate between human consciousness and human survival, the mind recognizes rock bottom, the irreducibly material, by rejoining the animals, one of whom is the human body.490

Die Position und Selbstverortung des Autors ist in der Fabel also eine andere als bei Platon. In einer Fabel muss der (machtlose) Autor seinen Text verklausulieren, wenn er die politischen, sozialen und kulturellen Missstände aufdecken und kritisieren möchte. Bei Strauss verschlüsselt der Autor hingegen bestimmte Sachverhalte und Themen, weil er der Meinung ist, dass bestimmte Wahrheiten nur für bestimmte Personen geeignet sind. Während in der Fabel also an der Zensur vorbei unbequeme Wahrheiten für alle verständlich aufgeschrieben und für verschiedene Interpretationen offengehalten werden, arbeitet der esoterische Autor mit dem Stilmittel der bewussten Auslassung.

490 Patterson, Annabel: Fables of Power, Durham/London 1991, S. 15f.

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„Bad and Boujee“ – uneigentliches Sprechen im Hip-Hop

Bei der Beschäftigung mit Pop- und Konsumkulturen sollte sich der Forscher nicht von persönlichen Vorlieben leiten lassen. Wer Sympathie und Antipathie zu Leitlinien seines Erkenntnisinteresses macht, läuft Gefahr, in den Jargon der in den 1990er Jahren beliebten Cultural Studies abzugleiten. Solche von persönlichen Geschmacksvorlieben prädisponierte Forschungsperspektiven führen dann zu tragikomischen Erkenntnissen wie beim Medienwissenschaftler John Fiske, der Einkaufszentren zum Fluchtort aus der häuslichen Enge491 hochstilisiert oder die hypersexualisierte Inszenierung der Sängerin Madonna als unkonventionell und autonom verkennt. Wird dieser affirmative Duktus konsequent weitergedacht, landet der Forscher zwangsläufig irgendwann beim Trugschluss von Matias Faldbakken in dessen Roman „Macht und Rebel“, wo das Tragen von Produkten des Sportartikelherstellers und Weltmarktführers Nike aus Sicht des Konsumenten besonders subversiv und systemdestabilisierend ist. Wenn hier also die Sprachstrategien des Hip-Hop untersucht werden, geschieht das nicht aus ästhetischen Motiven, sondern weil eine Beschäftigung mit der kommerziell erfolgreichsten Popkultur des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts überfällig ist; und zwar deshalb, weil Hip-Hop den alles bestimmenden und – im Gegensatz zum musealisierten und vergangenheitsbesessenen Rock ’n’ Roll – lebendigen Soundtrack der liberalen Massendemokratie bildet. In den 40 Jahren seines Bestehens hat das Genre zahllose regionale Subgenres herausgebildet und weltweit eigenständige Interpretationen dieses ehedem autochthonen US-amerikanischen Stils hervorgebracht. Hip-Hop wurde gleichzeitig zur Lingua franca der Überflüssigen und milliardenschweres Geschäftsfeld der Unterhaltungsindustrie. Solche Widersprüchlichkeiten begleiten das Genre seit seinem Aufstieg. Hip-Hop gilt gleichermaßen als Sprachrohr unterdrückter Minderheiten, als Türöffner zu Ruhm, Geld und Macht und als direkte künstlerische Antwort auf die Deregulierungen und „survival of the fittest“-Mantras der 1980er Jahre, die von einer Verfestigung und weiteren Ausbreitung der Armut begleitet waren. Diese gesellschaftspolitischen Entwicklungen kommen auch in der Polemik zum Ausdruck, wonach der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan als Erfinder und Pate von Gangsta-Rap gilt – erst durch den von Reagan exekutierten Abbau etablierter sozialstaatlicher

491 Vergleiche Fiske, John: Reading the Popular, Boston 1989, S. 20.

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Mindeststandards492 und ideologisch motivierter Scheingefechte wie dem „War on Drugs“493 entstand der gesellschaftliche Humus für den neuen Musikstil. Darüber hinaus erfolgt die Analyse nicht aus der Perspektive einer Afroamerikanophilie, womit die „wertschätzende Aneignung und Wahrnehmung von kulturellen Formen, die ‚schwarz‘ codiert sind“,494 gemeint ist. Eine solche Aneignung „schwarzer“ Ästhetik durch Weiße beinhaltet meines Erachtens ebenfalls einen impliziten Irrtum. „Gute Schwarze“ werden von den Nachfolgern Rousseaus zu „edlen Wilden“ verklärt, verkitscht und essentialisiert. Diese paternalistischen Zuschreibungen übersehen den Synkretismus und die Hybridität innerhalb des Genres. Hip-Hop wird als postethnische, globale Kultur mit afroamerikanischem Ursprung und nicht als exklusiv „schwarzes“ Hoheitsgebiet betrachtet. Entscheidend für die vorliegende Abhandlung sind der Umgang mit Sprache und der Einsatz esoterischer Arbeitsweisen, was nur auf den ersten Blick einen Widerspruch zur Omnipräsenz des Genres in der Populärkultur bildet. Der Aufstieg des Hip-Hop beginnt parallel zum Aufstieg des globalen Finanzliberalismus und dem damit einhergehenden Abbau des Sozialstaats. Inmitten der Ruinen der South Bronx begannen Jugendliche Mitte der 1970er Jahre, in stillgelegten Fabriken und verlassenen Häusern Partys zu organisieren, und definierten mit Graffiti, Breakdance, DJing und MCing die Grundlagen der Hip-Hop-Kultur. Hip-Hop ist für den Liberalismus das, was Rock ’n’ Roll für die Industriegesellschaft war. 2004 erwirtschaftete die Hip-Hop-Industrie erstmals mehr als 10 Milliarden US-Dollar Umsatz, und auch wenn man statistische Angaben von Branchenverbänden mit Misstrauen und der gebotenen Vorsicht begegnen sollte, muss man zur Kenntnis nehmen, dass sich der Marktanteil von Rap- und R&B-Musik am gesamten Tonträgermarkt bis 2016 auf über 26 Prozent495 gesteigert hat. Solche Wachstumsraten sind insofern beachtlich, als sich die Tonträgerumsätze durch die Digitalisierung (MP3 und Streamingplattformen) seit der Jahrtausendwende im freien Fall befinden. Hip-Hop erfreut sich nicht nur wachsender Marktanteile in einer schrumpfenden Industrie, sondern hat auch gänzlich neue Erlösmodelle erfunden. Hatte die Branche bislang Tonträger und Konzerte vertrieben, verkaufen Rapper einen Lifestyle und begnügen sich nicht länger mit den niedrigen Margen

492 Ironischerweise begleitet vom Wahlslogan „Make America Great Again“, den 2016 Donald Trump recycelte. 493 Johann Hari zeichnet in seinem Buch „Drogen“ den vergeblichen Kampf gegen den illegalen Drogenhandel nach. Die Geschichte des Hip-Hop verläuft symbiotisch mit dem Aufstieg illegaler Drogen. Mit Geldern aus dem Drogenhandel wurden Labelgründungen ermöglicht und Cannabis und Crack gelten als Inspirations- und Finanzierungsquelle. 494 Ege, Moritz: Schwarz werden, Bielefeld 2007, S. 11. 495 Vergleiche dazu http://www.oljo.de/blog/musikmarkt-usa-2016-rb-hiphop-boom, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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des Tonträgermarktes. 1986 legten Run DMC mit ihrer Ode an den Turnschuh „My Adidas“ den Grundstein für die Vermarktung eines Lifestyles, der neben Schuhen und Kleidung auch Autos, Essen und Getränke umfasst. Der deutsche Designer Karl Lagerfeld verkaufte seine Chanel-Kollektion 1991 mithilfe von Reimen und seitdem sind Mode und Musik immer wieder ertragreiche Geschäftssymbiosen eingegangen. Rapentrepreneure entwerfen eigene Modemarken (Sean John, FUBU, Wu-Wear etc.) und nutzen ihre Songs, um für Produkte zu werben. So verwenden 73 Prozent aller Rapper Namen von Modelabels und Schuhen in ihren Liedern;496 Rapsongs werden von der Werbeindustrie als glaubwürdiges Werkzeug für ProductPlacement geschätzt. Es gibt Statistiken, welche die Namensnennung von Schuhen, Modemarken, Autos, alkoholischen Getränken, Softdrinks, Schmuck oder Uhren in Rapsongs auswerten und so den steigenden oder sinkenden Wert diverser Marken messen.497 Nachdem Hip-Hop als effizientes Werkzeug zur Verkaufsförderung entdeckt wurde, hat 2005 auch der Fast-Food-Konzern McDonald’s498 begonnen, das Genre für seine Werbung zu nutzen. Nicht enthalten sind in diesen Rankings Anspielungen und Verweise auf illegalen Drogenkonsum, aber auch für diese Geschäftsfelder der informellen Ökonomie gibt es aussagekräftige Statistiken.499 Logischer Höhepunkt dieser Symbiose aus Musik, Geschäft und Werbung ist die vom Wirtschaftsmagazin „Forbes“ seit 2007 laufend erhobene Liste der reichsten Rapper. Hier werden Geschäftsfelder und Businessdeals der einzelnen Musiker gelistet und eine 2017 häufig gestellte Frage war, wer denn nun das Wettrennen um den Titel „erster Hip-Hop-Milliardär“500 gewinnen könnte. Aus diesen Statistiken lässt sich die typische Verbindung zwischen Musik und Verkaufsförderung ableiten, die Rap seit den 1970er Jahren durchlebt und die für andere Genres wie Rock ’n’ Roll, Schlager und Klassik nicht im gleichen Ausmaß gilt. Warum gerade für Hip-Hop der Akt des Verkaufens und die Ausweitung der kommerziellen Sphäre auf außermusikalische Bereiche genrebestimmend wurden, lässt sich am besten

496 Vergleiche dazu http://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10496491.2016.1267679, letzter Zugriff: 11.07.2022. 497 Vergleiche dazu für Autos https://nextshark.com/most-named-cars-hip-hop-music; für Modelabels http://www.huffingtonpost.com/entry/the-most-name-dropped-designers-in-hip-hop_us_ 560d8416e4b0dd85030b2b0f; für Schmuck http://www.ranker.com/list/rap-songs-about-gold/ ranker-hip-hop; für Alkohol https://hyphyhiphop.wordpress.com/2013/02/12/top-6-booze-brandsmentioned-in-rap-songs; für Turnschuhe http://www.complex.com/sneakers/2013/01/the-50greatest-sneaker-references-in-rap-history, alle letzter Zugriff: 11.07.2022. 498 Vergleiche dazu http://adage.com/article/news/mcdonald-s-buying-hip-hop-song-lyrics/45413, letzter Zugriff: 11.07.2022. 499 Vergleiche dazu http://www.dailymail.co.uk/sciencetech/article-2624237/How-rap-reveals-trendsDRUGS-Graphs-hip-hop-lyrics-plot-rise-fall-illegal-substances.html, letzter Zugriff: 11.07.2022. 500 Vergleiche dazu https://www.forbes.com/sites/zackomalleygreenburg/2017/05/10/the-forbes-fivehip-hops-wealthiest-artists-2017/#76a21cef2273, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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aus seiner Entstehungsgeschichte begreifen. Hip-Hop entwickelte sich als „Something from Nothing“,501 als die Auswirkungen der Deregulierungspolitiken für die Angehörigen der urbanen Minderheiten in den USA spürbar wurden. Mit der Deindustrialisierung und der Verlagerung des produzierenden Gewerbes von den USA nach Asien gingen Arbeitsplätze unwiederbringlich verloren und zugleich kam es zu Kürzungen und Streichungen im sozialen Wohnbau, wurde das Arbeitslosengeld gekürzt und Bildung nach betriebswirtschaftlichen Kennzahlen und Vorgaben502 reformiert. Zwei Generationen später hat sich dieses Wirtschaftsmodell auf der ganzen Welt etabliert. Steigende Jugendarbeitslosigkeit, niedrige Wachstumsraten, Finanzkrisen, zunehmende Ungleichheit und ausbleibende Investitionen in die Realwirtschaft sind die Begleitmusik zum Siegeszug des Hip-Hop. Aus diesem strukturellen Mangel heraus entwickelte sich Hip-Hop zum Medium der Marginalisierten und erklärt sich seine schon manisch zu nennende Orientierung am materiellen Erfolg. „Ran an das Geld“503 nennt der Musikjournalist Nik Cohn in seinem Buch „Triksta“ als wahre Triebfeder des Genres. Ein unbedingter Wille zum Aufstieg, die Suche nach Ausweitung der kommerziellen Sphäre und die Verschränkung von Hip-Hop/Rap und Entrepreneurship prägen diesen Lebensstil. Wie keine andere Kunstrichtung verkörpert und lebt Rap Kampf um Markanteile, Eigenpromotion, Denken in Verkaufszahlen und Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Der permanente Wettbewerb um den besten Reim, die originellste Punchline504 und den tanzbarsten und mitreißendsten Beat prägen das Genre. Begonnen hatte Hip-Hop als reine Instrumentalmusik. Kool DJ Herc loopte sogenannte Breakbeats505 und erfand mit dieser Technik die rhythmische Grundstruktur des neuen Musikgenres. Um die Tänzer und das Publikum zu unterhalten, engagierte der DJ Party-Conférenciers, die zum Tanzen und Feiern animierten, die Platten ansagten und mit markigen Sprüchen versuchten, die Tänzer für sich zu gewinnen. Diese Partyanimateure wurden MCs, kurz für „Masters of Ceremonies“, genannt und huldigten anfänglich nur der Zelebrierung der Party an sich: „throw your hands up in the air. wave’em like you just don’t care! if you like the sounds that are going down, somebody say oh yeah“.506 Bald bemerkten die MCs die Wirkung

501 So der Titel einer 2012 erschienenen Rapdokumentation mit Ice T: Something from Nothing: The Art of Rap. 502 Vergleiche dazu http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/die-erste-inkompetenzkonferenzin-frankfurt-15100595.html?GEPC=s2, letzter Zugriff: 11.07.2022. 503 Cohn, Nik: Triksta, New York 2007, S. 96. 504 Punchlines sind ein Stilmittel im Hip-Hop. Damit wird eine originelle und pointierte Zeile eines Textes bezeichnet, deren Inhalt meist eine andere Person angreift. 505 Er mischte ein (als Schlagzeugsolo angelegtes) Break von der gleichen Platte auf zwei Plattenspielern nahtlos ineinander. 506 Verlan, Sascha: Rap-Texte, Stuttgart 2012, S. 9.

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ihrer Worte auf das Publikum und begannen, ihre einfachen Reimschemata zu verfeinern. Frühe MCs wie DJ Starski, Kurtis Blow und DJ Hollywood begeisterten mit ihren Reimen schnell das Publikum. In ihren „Call-and-Response“-Reimen, ihren Aufforderungen zum Tanzen und Trinken warben die MCs für sich selbst und die Veranstaltung. Der Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums steht somit am Beginn des Reimens.507 1979 erscheint mit „Rappers Delight“ von der Gruppe Sugarhill Gang der erste Rapsong auf Platte und 1982 mit „The Message“ von Grandmaster Flash der erste sozialkritische Rap. Innerhalb von nur drei Jahren erweiterte sich das Themenspektrum um (Alltags-)Politik. Neben dem Wettkampf fand „das eherne Gesetz des Wilden Westens, wie Hollywood es immer propagiert hat, nämlich dass sich alle Probleme mit einer Knarre lösen lassen“,508 im Hip-Hop seine zeitgenössische Heimat. Hip-Hop als Sprache der Sprachlosen brachte die real existierende Kehrseite des liberalen Kapitalismus zurück in das Zentrum der Kulturindustrie: „Wenn sich die Stadt weigert, zu den jungen Schwarzen und Puertoricanern zu kommen, dann mussten sie zu ihr kommen.“509 Dieses Element der Sprachergreifung und Selbstermächtigung bestimmt seitdem das Selbstverständnis vieler Rapper. Im Ghetto als Stadt innerhalb der Stadt, als abgeschlossene Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft, als Ort mit eigenen Regeln und Gesetzen ist der tägliche Kampf um das materielle Überleben die Triebfeder der Bewohner. Um dieses sicherzustellen, sind viele der von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung Betroffenen gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt mit informeller Arbeit zu sichern. Der Begriff informelle Ökonomie wird in der Literatur gleichbedeutend mit den Begriffen Parallelwirtschaft und illegale oder alternative Ökonomie verwendet oder als „Schwarzmarkt“ bezeichnet und umfasst sowohl legale als auch illegale Geschäftsfelder. Unter legale fallen Haushaltshilfe, Schwarzarbeit, Kinderbetreuung, während Drogenhandel, Prostitution, Glücksspiel und Waffenhandel zu den illegalen zählen. Optisch sind Ghettos durch eine baufällige Infrastruktur, schlechte Schulen und den für diese Wohngegenden typischen Branchenmix aus Likörstuben, Kiosken, Imbissbuden, Wettbüros und Ramschläden geprägt. In solchen strukturell benachteiligten Wohngegenden westlicher Großstädte wohnen meistens Menschen mit einem niedrigen Haushaltseinkommen (unter 15.000 US-Dollar pro Jahr) sowie viele Migranten und Angehörige von ethnischen Minderheiten. Der Soziologe Sudhir Venkatesh schätzt in seiner Studie „Off the Books“ den Anteil der informellen Wirtschaft an der gesamten Ökonomie auf 25 Prozent.510 Die 507 Vergleiche dazu Forman, Murray/Neal Mark Anthony (Hg.): That’s the Joint!, New York/London 2004, S. 41. 508 Toop, David: Rap Attack # 3, Höfen 2000, S. XVIII. 509 Toop, David: Rap Attack # 3, Höfen 2000, S. 20. 510 Siehe Venkatesh, Sudhir: Off the Books, Cambridge/London 2008, S. 12.

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Lebensrealität in diesen Vierteln ist durch materiellen Mangel und strukturelle Vernachlässigung seitens der Politik geprägt. Venkatesh beschreibt die Mentalität der Einwohner als „world born of poverty and desperation“,511 wo kleine Meinungsverschiedenheiten oft ohne ersichtlichen Grund in Gewalt münden können. In dieser Schattenwelt des halblegalen und illegalen Nichtstuns werden Geschäfte unter dem Tisch und am Finanzamt vorbei abgewickelt, um das eigene Überleben zu sichern. Das informelle Wirtschaften von der Hand in den Mund bildet das ökonomische Rückgrat der meisten Bewohner. Venkatesh begreift den Alltag dieser Problemviertel als „product of perpetual negotiations, of collusion and compromise, of the constant struggle to survive – to find a purpose for your life, to fulfill your desires, to feed your family“.512 Er beschreibt die Schattenwirtschaft als gefährlichen, aber nicht primär von organisierter Kriminalität beherrschten Raum, wo herkömmliche Moralvorstellungen missachtet würden und das Gesetz nicht gelte. In der informellen Ökonomie herrschten ein „element of necessity“ und eine „pragmatic logic“ mit unklaren und schnell wechselnden Rollen, wo jeder Bewohner abwechselnd als „entrepreneur, client or broker“513 agiere. Venkatesh erklärt in seiner teilnehmenden Studie die Untergrundökonomie als so alltäglich, dass sich diese Wirtschaftsform einer systematischen und lückenlosen Dokumentation entziehe. Als innerstädtischer Ballungsraum, wo Verzweiflung allgegenwärtig ist, dient das Ghetto zugleich als Mahnmal und Abschreckung (für die Mittelschicht) und als Dystopie und Erzähltableau. Als zentraler Ort des Hip-Hop wurde seine störende und nicht verschwinden wollende Präsenz immer wieder zum Ausgangspunkt erbitterter akademischer und politischer Debatten. Da das Ghetto und mit ihm die Geschäftspraktiken der informellen Wirtschaft nicht nur negativ beschrieben, sondern auch als gesetzloser und hyperkapitalistischer Raum affirmiert und gepriesen wurde, kam Hip-Hop bald unter den Generalverdacht, eine Kultur der Gewalt zu beschwören, mit verheerenden Folgen für die dort lebende Bevölkerung und die Moral der Mehrheitsgesellschaft. Mit zunehmender Kommerzialisierung514 sei die Erzählperspektive der Rapper auf das Stereotyp des Drogendealers reduziert und die Offenheit und Themenvielfalt der Anfangstage zurückgedrängt worden, so der Vorwurf der Kulturwissenschaftlerin Tricia Rose. Die Erschaffung von „Niggaword. A virtual ghetto, where killing and bitch baiting scored bonus points“515 habe zum kommerziellen Aufstieg geführt, der vom Siegeszug expliziter Texte

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Venkatesh, Sudhir: Off the Books, Cambridge/London 2008, S. xvii. Venkatesh, Sudhir: Off the Books, Cambridge/London 2008, S. xv. Venkatesh, Sudhir: Off the Books, Cambridge/London 2008, S. 7. Das Jahr 2000 markierte den Beginn der Hip-Hop-Hegemonie. Erstmals waren sechs der zehn Top-Ten-Hits in den Billboard Charts Hip-Hop-Lieder. 515 Cohn, Nik: Triksta, New York 2007, S. 96.

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begleitet gewesen sei: „nigganigganigga fuckthisfuckthat bitchbitchbitch suckmydick“.516 Derbe Sprüche wurden von jugendlichen Mittelschichtsangehörigen aller Ethnien begeistert aufgegriffen und erhielten durch das Parents Music Resource Center indirekte Werbung. Diese von Mary Elizabeth „Tipper“ Gore gegründete Lobbyorganisation zur Erhaltung traditioneller amerikanischer Werte erfand den „Parental-Advisory“-Aufkleber, der, auf Platten und CDs geklebt, den Hörer auf die explizite Sprache aufmerksam machen sollte. Eine bessere unbezahlte Produktwerbung hat es in der Geschichte der Populärkultur nie gegeben. In den 1990er Jahren galt folgende Gleichung: Je öfter ein Künstler die Wörter „Fuck“ und „Nigga“ verwendet, desto mehr Einheiten verkauft er. Diese seitdem mit Hip-Hop kausal verbundene Gewalttätigkeit und die ihm zugeschriebene Rohheit haben seine Beliebtheit bei Halbstarken weiter beschleunigt. Der Journalist Dan Charnas zeigt in seinem Buch „The Big Payback“ eindrucksvoll, wie ein Haufen Taugenichtse die Gunst der Stunde nutzte und basierend auf dem Verkauf schmuddeliger Reime Wirtschaftsimperien aufbaute. Hip-Hop als zeitgenössische Version des „American Dream“ erzählt in immer neuen Varianten die Geschichte des Werdegangs vom Tellerwäscher zum Millionär. Akademisch gebildete Afroamerikaner haben diese thematische Verengung mit kritischen Worten kommentiert. Laut Tricia Rose hat die Kommerzialisierung zu einer Entpolitisierung und Verflachung der Kunstform geführt. Die vor allem in den USA hitzig geführten Debatten um die angebliche Gefährlichkeit und Asozialität von Hip-Hop hat Rose auf insgesamt zehn Argumentationsstränge517 eingegrenzt. Werde Hip-Hop wegen seiner Gewaltaffinität, seiner expliziten Sprache und seiner damit verbundenen Jugendgefährdung kritisiert, werde auf folgende fünf Argumente zurückgegriffen: − Hip-Hop verursacht Gewalt. − Hip-Hop reflektiert die von den ethnischen Minderheiten selbst verschuldete dysfunktionale Ghettomentalität. − Hip-Hop verletzt die Gefühle schwarzer Menschen. − Hip-Hop zerstört amerikanische Werte. − Hip-Hop erniedrigt systematisch Frauen. Die Fürsprecher des Hip-Hop verwendeten ebenfalls fünf Argumente: − Hip-Hop erzählt ungeschönt und ungeschminkt die Realität. − Hip-Hop ist als Kunstgattung nicht für Sexismus verantwortlich. − Es gibt auch im echten Leben leichte Mädchen und Prostitution. − Rapper sind Künstler und Entertainer und keine Vorbilder. − Kritiker blenden die positiven Aspekte der Hip-Hop-Kultur aus.

516 Cohn, Nik: Triksta, New York 2007, S. 92. 517 Rose, Tricia: The Hip Hop Wars, New York 2008, S. 25f.

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Rose attestiert beiden Seiten mangelnde Komplexität und die Ausblendung des Einflusses der Kulturindustrie. 25 Jahre nach Erfindung des Subgenres GangstaRap haben die Tötungsdelikte ihren Neuigkeitswert518 und Schrecken verloren und „fierce joy in being alive, compulsive embrace of death“519 inspiriert auch noch 2018 einige der talentiertesten Rapper. Neue Subgenres wie Trap oder Drill haben „sex and killing, the more graphic the better“520 als einzig verbliebene Topoi, weshalb Rose vorschlägt, die Diskussionen über Hip-Hop zu kontextualisieren und zu entmoralisieren. Am Beginn des Hip-Hop stehen Armut und chronische Arbeitslosigkeit, wovon vor allem ethnische Minderheiten betroffen sind. Während Ronald Reagans Präsidentschaft stieg die Arbeitslosigkeit unter schwarzen Teenagern auf 43,6 Prozent. Zusätzlich erhöhte sich auch der Anteil der Geringverdiener: Mehr als ein Drittel aller schwarzen Familien erwirtschaftete trotz Arbeit nur ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze.521 Seit den 1980er Jahren hat sich die ökonomische Spaltung weiter vertieft. Seit Jahrzehnten ist die Arbeitslosigkeit unter Schwarzen doppelt so hoch wie unter Weißen, und Angehörige der schwarzen Minderheit schließen seltener eine Schul- oder Universitätsausbildung ab.522 Auch beim Wohnungseigentum gibt es getrennte Lebensrealitäten: 73 Prozent der Weißen, aber nur 45 Prozent der Schwarzen besitzen eine Eigentumswohnung. Ein durchschnittlicher schwarzer Haushalt kann nur ein Zehntel jener Summe sparen, die weiße Familien zur Seite legen. Und der Abstand zwischen den Durchschnittsvermögen ist seit Reagan gewachsen. Unter ihm gab es eine Vermögensdifferenz von 83.000 USDollar, die sich bis zum Jahr 2013 fast verdreifacht hat (245.000 US-Dollar). Diese Unterschiede ergeben ein explosives Gebräu: unterbezahlte Dienstleistungsjobs, verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit, das Erlöschen der Möglichkeit auf sozialen Aufstieg durch Arbeit, das Wissen um die mangelnde Durchlässigkeit zwischen den Schichten. Diese Mischung aus Hoffnungslosigkeit und realem Abstieg ist mittlerweile auch Teil der europäischen Lebensrealität geworden. Die neu entdeckte Minderheit der weißen Arbeiterklasse523 wird von der Politik und den Medien kaum mehr angesprochen. Jährlich neue Statistiken weisen Reallohnverluste für die Arbeitnehmer nach, aber die Politik hat gegen diese Abwärtsspirale kein Rezept gefunden, und Themen wie Armut, Abstieg und Prekariat werden kaum mehr im –

518 Als Mitte der 1990er Jahre die Rapper Notorious B.I.G, Tupac Shakur und Big L erschossen wurden, gab es noch öffentliche Debatten. 519 Cohn, Nik: Triksta, New York 2007, S. 9. 520 Cohn, Nik: Triksta, New York 2007, S. 10. 521 Vergleiche Rose, Tricia: The Hip Hop Wars, New York 2008, S. 43. 522 Vergleiche dazu http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-07/usa-weisse-schwarze-diskriminierungoekonomische-unterschiede/komplettansicht, letzter Zugriff: 11.07.2022. 523 Vergleiche dazu Gest, Justin: The New Minority, New York 2016.

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auf die Agenden und Vorlieben der Mittelschicht zugeschnittenen – politischen und medialen Diskurs thematisiert. Der Perspektive der Ausgeschlossenen eine Stimme zu geben, ist für Tricia Rose das bleibende Verdienst von Hip-Hop. Diese lyrische Form als vielstimmige und zeitgenössische Dichtung von Lumpenproletariat und Prekarisierten zu begreifen, ist naheliegend, wenn man Inhalte und Sprache dieses Musikstils abseits soziologischer Gemeinplätze untersucht. Rose sieht Hip-Hop als gegenkulturelle Stimme zum Mainstream, der alternative Perspektiven entwerfe. Das Besondere an diesen Stimmen ist ihre Widersprüchlichkeit. Rapper, so die Kernthese von Rose, nutzten und verpackten öffentliche und versteckte Botschaften in ihren Texten. Sie verwenden diese Doppelcodierung, um Polizei, Regierung und Medien fernab liberaler Mittelschichtkonventionen zu kritisieren. Die Rückkehr des Ghettos als zentraler Ort des Kapitalismus markiert die Demarkationslinie zwischen unterschiedlichen Wahrheiten. Hip-Hop verwendet in seinen Texten doppelte Transkripte: ein öffentliches und ein verstecktes, wo die (inoffiziellen) Wahrheiten der unfreien Schichten erzählt werden. Rose übernimmt mit dieser Unterscheidung ein Konzept des Anthropologen James C. Scott, um die Machtverhältnisse zwischen herrschender Elite und Untergebenenen zu beschreiben. Scotts These baut auf der Beobachtung auf, dass Sklaverei, Knechtschaft, Kolonialismus und generell die asynchrone Machtverteilung zwischen Besitzenden und Besitzlosen zu einer mehrdeutigen Sprechweise geführt hätten. Die Dienenden sind in Anwesenheit der Machthaber gezwungen, strategisch mit diesen zu kooperieren. Abseits dieser offiziellen Geschichtsschreibung, wo sich die Knechte und Dienstmägde symbolisch unterordnen, verständigen sie sich untereinander aber auch durch versteckte Transkripte, in denen sie die Machtverhältnisse kritisieren und in Frage stellen. Diese Widerstandstechniken umfassen Gerüchte, Tratsch, Mythen und Witze und werden von Scott „infrapolitics of the powerless“524 genannt; darunter versteht er die täglichen Kleinkriege, den passiven Widerstand, das Tarnen und Täuschen und generell alle mikropolitischen Tätigkeiten, mit denen Untergebene versuchen, die Position der Machthaber einzuschränken, zu unterminieren und zu bekämpfen. Scott hat einen Zusammenhang von Machtverhältnissen und Diskurs nachgewiesen. Machthaber und Machtlose sprechen verschiedene Sprachen, und die Werte, Überzeugungen und Themen des liberalen Establishments sind die in den Medien und in der Öffentlichkeit präsenten. Davon abweichende Wahrheiten und Perspektiven werden systematisch ausgeblendet und können nur über den Umweg eines versteckten Transkripts in den herrschenden Diskurs eingeschleust werden. Wenn nun der versteckte mit dem offenen Text verglichen wird, ergeben sich daraus Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und ein sozialwissenschaftlich ertragreicher Weg, um die Widerstandspraktiken

524 Scott, James C.: Domination and the Arts of Resistance, New Haven/London 1990, S. xiii.

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der Machtlosen besser einordnen zu können. Die sprachlichen Muster, mit denen Rapper ihren Protest verkleiden, weisen für Rose strukturelle Ähnlichkeiten mit jenen früherer Tagelöhner, Landstreicher und Sklaven auf. Mit öffentlichem Transkript bezeichnet Scott „the open interaction between subordinates and those who dominate“.525 Unter „öffentlich“ versteht Scott alle für die jeweils andere gesellschaftliche Gruppe nachvollziehbaren Handlungen, Worte und Taten, zu denen er auch Rituale wie Verbeugungen und stilles Einverständnis zählt. Der Begriff Transkript umfasst sämtliche aufgezeichneten Aussagen. Nach Scott weist das öffentliche Transkript eine Schlagseite zuungunsten der subalternen Bevölkerungsgruppen auf, weil wesentliche Aspekte der Machtverhältnisse ausgeblendet würden. Die Perspektive der Machtlosen stillschweigend auszublenden, liege im Interesse beider, wie Scott schlussfolgert. Öffentliche und nachvollziehbare Handlungen zwischen Untergegebenen und Vorgesetzten folgen Konventionen. Wer bei der Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse ausschließlich auf der Ebene des öffentlichen Transkripts verbleibt, bekommt zwangsläufig einen falschen Eindruck. Scott nennt als Beispiele einen rituellen Gruß und ein freundliches Lächeln, welches nur aus taktischen Gründen eingesetzt wird. Freundliche Worte und Gesten werden oft nur zu performativen Zwecken eingesetzt, und hinter dieser Maske verbirgt sich das eigentlich Gemeinte. Wer also bei der Textanalyse nur öffentliche Transkripte analysiere, werde nur „convincing evidence for the hegemony of dominant values, for the hegemony of dominant discourse“526 finden. Auf dieser Ebene sind also nur die manifesten Machtbeziehungen nachvollziehbar und für Scott bleibt offen, ob die sprachlichen Äußerungen der Unfreien echt oder nur gespielt sind. Um den Diskurs ganzheitlich zu erfassen, hat Scott den Begriff verstecktes Transkript eingeführt, „to characterize discourse that takes place ‚offstage‘, beyond direct observation by powerholders“.527 In solche versteckten Transkripte verpackten Rapper ihre eigentliche Meinung und Kritik, vorbei an den Werten der hegemonialen Gesellschaft. Dieser Kunstgriff erlaubt es ihnen, alternative Codes zu verwenden und die Aufmerksamkeit des Publikums auf sonst ausgeblendete Themenkreise zu lenken. Hier wird Negatives zu etwas Positivem und Erstrebenswertem umgedeutet, Statushierarchien werden umgedreht und untergraben und es werden eigenständige Inhalte und Themen in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft formuliert. Diese versteckten Transkripte werden im Rap „often expressed openly – albeit in disguised form“.528 Die versteckten Transkripte unterliegen anderen Gesetzmäßigkeiten als die öffentlichen.

525 526 527 528

Scott, James C.: Domination and the Arts of Resistance, New Haven/London 1990, S. 2. Scott, James C.: Domination and the Arts of Resistance, New Haven/London 1990, S. 4. Scott, James C.: Domination and the Arts of Resistance, New Haven/London 1990, S. 4. Rose, Tricia: Black Noise, Middletown 1994, S. 100.

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Tarnen und täuschen, sich dumm stellen und die Imitation von Konsens gehören zum Grundrepertoire. Während die Untergebenen im öffentlichen Transkript Einverständnis und Ehrerbietung suggerieren, werden die wahren – und für den Machthaber gefährlichen – Absichten und Gefühle versteckt. Um Äußerungen von untergeordneten Gruppen also adäquat einschätzen und verstehen zu können, ist es wichtig, neben dem offenen Transkript auch das versteckte zu analysieren. In den versteckten Transkripten des Hip-Hop werden die Widersprüche zwischen der eigenen Lebensrealität und den dominanten Werten diskutiert. Mangelnde Chancengleichheit, strukturelle Diskriminierung, Polizeigewalt, die Gefängnisindustrie, ein erzwungener Lebensstil des halblegalen Nichtstuns – Rap bietet vielfältige Möglichkeiten und eine zeitgenössische Bühne, um die Anliegen der Sprachlosen sichtund vor allem hörbar zu machen. Die revolutionäre Kraft des Hip-Hop erklärt sich aus seiner gesellschaftlichen Notwendigkeit. Rap ist aus der Alltagswelt der Protagonisten entstanden, weshalb seine Sprechposition profan ist und seine Akteure von einem unbedingten Aufstiegswillen angetrieben werden. Neben den versteckten Transkripten verwendet Rap noch andere esoterische Werkzeuge. Die Polysemie des Genres leitet sich aus der afroamerikanischen Herkunft ab. Rap ist wie alle afroamerikanischen Musikstile von bestimmten Parametern geprägt. „Metronism […] is present in all Negro sacred and secular styles, as is the importance of percussion […] and the overlapping call-and-response pattern.“529 Mit dem Neologismus „Metronism“ bezeichnet der Musikwissenschaftler Richard Alan Waterman eine typische, am menschlichen Pulsschlag orientierte Wärme der Musik, die ihren Reiz – im Unterschied zur europäischen Harmonielehre – in erster Linie aus der Rhythmik zieht. Auch die Stimmen der Sänger übernehmen in afroamerikanischen Stilrichtungen wie Blues, Jazz und Soul instrumentale und perkussive Funktionen. Die Rede-und-Antwort-Muster vieler Gesänge sind auf den Baumwollplantagen der Südstaaten entstanden, wo Vorarbeiter und Plantagenarbeiter Arbeitsbefehle und Antworten sangen, um die Arbeit erträglicher zu machen. Auf den Baumwollplantagen entstand auch Gullah, eine Mischung aus Englisch und afrikanischen Sprachen. Diese auf dem Englischen basierende Kreolsprache entwickelte spezifische Merkmale, die seitdem für alle Lyrics afroamerikanischer Musikstile prägend ist, wie der Jazzhistoriker Alyn Shipton die sprachwissenschaftlichen Forschungen des Südstaatenhistorikers Charles Joyner zusammenfasst: If there were forces at work on the plantations to discourage retention of their native languages, there were also circumstances that had an opposite effect. While the social dominance of the masters served as a strong incentive to learn English, the numerical

529 Shipton, Alyn: New History of Jazz, London/New York 2007, S. 20.

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dominance of the blacks facilitated their retention of African patterns of speech. While they lacked a common linguistic heritage, through trial and error, Africans increasingly became aware of common elements in their diverse tongues. […] Out of these opposing tendencies – to learn English and to retain African speech patterns – they created a new language: Gullah.530

Gullah ist eine sprachliche Folge von Sklaverei und Kolonialismus, eine neue synkretische Sprache, auf der seither alle afroamerikanischen Musiksprachen aufbauen. Die Jazzsänger entwickelten neue Gesangstechniken für die westliche Welt, die sich an afrikanische Traditionen anlehnten. Ironie, Doppeldeutigkeiten, Slang und sprachliche Subtilitäten bereicherten kunstvoll die englische Sprache. Ebenso prägend für afroamerikanische Musik – und auf (weiße und schwarze) Mittelschichtangehörige oft befremdlich wirkende Elemente– sind ein unbedingter gesellschaftlicher Aufstiegswille, eine starke Sehnsucht danach, wenigstens zur Mittelschicht, besser aber noch zur Oberschicht zu gehören. Dieser aus dem Mangel geborene Hang zum Materialismus und zum Zeigen von Statussymbolen zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte afroamerikanische Musikgeschichte. Im Jazz entstanden in New Orleans und Chicago unterschiedliche lyrische Traditionen, die dann in New York wieder eine neue sprachliche Mutation durchlebten: Im Harlem der 1930er und 1940er Jahre war der Jive Talk531 der Slang der Jazzszene, der einen eigenen Sprachkosmos schuf. Die wohl bekanntesten – und bis heute mit zahlreichen Umdeutungen versehenen – Begriffe dieser Ära sind das Adjektiv hip und das Substantiv Hipster. Hip zu sein bedeutete, breite Kenntnisse über Kleidung, Musikstile und Slang des Jazz zu haben und sich mit Gleichgesinnten im selben Idiom auszutauschen. Dieses informelle kulturelle Kapital mit anderen Szenegängern auszutauschen, erfüllte die Funktion, „to be ,in the know‘, to possess a certain kind of knowledge, not legitimately acquired of course, but linked to practices of high art and scholarship through a respectful but mock imitation of their institutions“.532 Unzählige und immer neue Standardvarietäten des amerikanischen Idioms herauszubilden und die Bedeutungen von Wörtern permanent neu zu definieren, ist ein Spezifikum afroamerikanischer Musik, die für die Popkultur stilbildend und global nachgeahmt wurde. Nachdem die Stimmen im Jazz im Laufe der 1960er Jahre verstummten und im Hard Bop und Free Jazz instrumental wurden, hat Rap seit Mitte der 1970er Jahre die große afroamerikanische Tradition des kreativen Umgangs mit Sprache aufgegriffen und weiterentwickelt. 530 Shipton, Alyn: New History of Jazz, London/New York 2007, S. 26–27. 531 Der Musiker Cab Calloway, der als Sänger für den innovativen Einsatz von Nonsenssilben und -wörtern im Gesang stilprägend war, veröffentlichte 1939 das „Hepster’s Dictionary: Language of Jive“, wo in Wörterbuchform die gängigsten Vokabeln dieser Kunstsprache erklärt werden. 532 Ross, Andrew: No Respect, New York/London 1989, S. 81.

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Die Grundlage für diese Neuerung liegt in der formalen Beschränktheit des Genres. 3 Strophen mit jeweils 16 gerappten Zeilen, ergänzt mit gesungenen Hooklines – das sind eingängige Textzeilen und Refrains, die im Ohr hängen bleiben und den Wiederkennungswert moderner Popmusik wesentlich bestimmen. Musikalisch untermalt werden die Texte von repetitiven Melodiefragmenten, dominanten Bassläufen und einprägsamen Trommelrhythmen im Viervierteltakt. Rap ist als Partyanheizer- und Straßensprache von Natur aus kompetitiv angelegt. Der Wettbewerbscharakter wird auch durch Praktiken wie Cypher und Formate wie Battle-Rap unterstrichen. Mit Cypher wird eine spontane Zusammenkunft mehrerer Musiker im öffentlichen Raum bezeichnet, wo Rapper einen Kreis um den jeweiligen Performer bilden und sich dort einen spontanen Kampf um den besten Reim liefern. Dieses Wettbewerbsmoment, der Kampf um den besten Reim und die überzeugendste Phrase, begünstigt neben einer Ausweitung der Kampfzone auch eine Verkürzung der Halbwertszeiten einzelner Moden und Trends. Während im Rockgeschäft Bands oft jahrzehntelang touren und es eigene Märkte für Sammler sowie Subgenres gibt, zeigt man im Hip-Hop wenig Verständnis für Traditionspflege und den Aufbau langer Karrieren. Aufstieg und Fall sind Bestandteile dieser Kultur der Beschleunigung. Rap als „CNN für die schwarze Bevölkerung“, wie es Chuck D, Frontrapper der Hip-Hop-Formation Public Enemy, in den 1980er Jahren einprägsam formulierte, spricht den Jargon der Straße, der Hinterhöfe, der Sozialbausiedlungen und der Arbeiterklasse. Um die Direktheit, Übertreibungen, Protzereien und Derbheiten einer mit Schimpfwörtern und Flüchen angereicherten Sprache angemessen zu verstehen, ist es erforderlich, sich die Entstehungsgeschichte zu vergegenwärtigen. Wer gegen den Straßenlärm und ein ignorantes Publikum reimt, muss sich Gehör verschaffen. Diese laute Selbstpräsentation erzählt und erklärt die Welt aus der Ich-Perspektive. Hip-Hop ist das Musikgenre des Ich-Erzählers und wie in der Betonung des Wettbewerbs zeigt sich auch in dieser Verengung der Erzählperspektive die Wesensverwandtheit dieses Musikstils mit neoliberalen Werten: Egoismus statt Altruismus, Durchsetzungskraft statt Kooperation, die große Geste und Marktschreierei statt Zwischentönen und Dialektik. Die laut in den Raum geworfenen Verse sind Megafone. Die Raps werden mit Bedeutung angereichert, verdreht, verrätselt, einfach nur als Plattitüden herausgebrüllt oder lautmalerisch eingesetzt und bleiben daher meist für mehrere Interpretationen offen. Das erklärt teilweise, warum Rap als Auslöser von Gewalt, Homophobie und Sexismus, aber zugleich auch als Selbstermächtigungsstrategie und Emanzipationsinstrument strukturell benachteiligter Bevölkerungsgruppen gilt. Diese Polysemie des Genres führt der Musikjournalist Adam Bradley auf einen spezifischen Umgang mit Wörtern zurück: „Rap is finally less about those words whose meanings are obvious

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and more about those words whose meanings are not readily apparent.“533 Ob die einzelnen Wörter und Texte Sachverhalte erklären, hängt vom Ausdrucksvermögen des einzelnen Rappers ab. Nur den Besten gelingt es, unerwartete Einsichten und Gefühle beim Hörer hervorzurufen. Diese Fähigkeit, Sprache für vielfältige Interpretationen offenzuhalten und diverse Lesarten als gleichwertig zu akzeptieren, ist neben der Intertextualität eine weitere Besonderheit afroamerikanischen Redens. Der Literaturwissenschaftler Henry Louis Gates nennt dieses rhetorische Prinzip der afroamerikanischen Umgangssprache, die sich aus dem Gullah entwickelte, Signifyin(g). Signifyin(g) ist eine afroamerikanische Trope, die Gates als „Trope der Tropen“ bezeichnet, weil darunter rhetorische Figuren wie Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie, Hyperbel, Litotes und Metalepse zusammengefasst werden können. Wer Signifyin(g) betreibt, bemächtigt sich in kreativer Weise bestimmter rhetorischer Figuren. Zusätzlich zu den genannten europäischen Stilfiguren zählt Gates noch „marking, loud-talking, testifying, calling out (of one’s name), sounding, rapping, playing the dozens“534 zu den Techniken des Signifyin(g). Beim Akt des Signifyin(g) wird eine Botschaft oder ein Wort auf der Grundlage eines gemeinsamen kulturellen Wissens encodiert und auf vielfältige Art und Weise (re-)interpretiert. Signifyin(g) als Sprachstrategie funktioniert auf einer metadiskursiven Ebene, unterminiert die Eindeutigkeit der „weißen Sprache“ und will die Sprache zum Schwingen bringen. […] Signifying versucht, Sprache aus der Eindeutigkeit der weißen Herrschaft zu reißen und die Wörter in einen neuen Kontext zu werfen, um zu sehen, was dann noch überlebt. Signifying ist Spiel und gleichzeitig Selbstsetzung, die über den Gewinn einer eigenen Sprache Selbstbewusstsein schafft. Der Signifying Monkey ist eine „Folklorefigur“ […] und taucht in einem Mythos auf, der die Fremdheit des Schwarzen im weißen Sprachkörper „Englisch“ repräsentiert. Der nachäffende Affe ignoriert mit Sprachverdrehungen, Wiederholungen und Spielereien die Bedeutung der Wörter und benützt die Signifikanten als Spielmaterial.535

Die Bedeutung der Wörter wird durch Überarbeitung und Verfremdung verändert, statt Denotation werden Konnotationen gesucht. Dadurch wird die Herrschaftssprache aktiv herausgefordert: „Black people vacated this signifier, then – incredibly – substituted as its concept a signified that stands for the system of rhetorical strategies peculiar to their own vernacular tradition.“536 Die scheinbare

533 534 535 536

Bradley, Adam: Book of Rhymes, New Haven/London 2010, S. 91. Gates, Henry Louis Jr.: The Signifying Monkey, New York 2014, S. 57. Poschardt, Ulf: DJ Culture, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 191f. Gates, Henry Louis Jr.: The Signifying Monkey, New York 2014, S. 52.

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Gewissheit und Eindeutigkeit auf der denotativen Ebene wird angezweifelt und verneint, um die vermeintliche Natürlichkeit der Sprache bloßzustellen und zu hinterfragen. Die Bedeutung eines Wortes wird im Standardenglisch und im „schwarzen“ Englisch anders erzeugt:537 Standardenglisch: signification =

signified signifier

=

concept sound−image

Schwarzes, umgangssprachliches Englisch: signification =

rhetorical figures signifier

Gates definiert Signifyin(g) als emanzipatorisches Sprachritual der Neu- und Umbenennung scheinbar fixer und vorgegebener Bedeutungen. Dazu gehören Taktiken wie Um-den-heißen-Brei-Herumreden, Parodie, Sich-lustig-Machen über eine Person oder über eine Situation sowie Anspielungen. Signifyin(g) argumentiert indirekt, ist Sprechen über die Bande. Als implizite Sprache verwendet sie Stilmittel wie Übertreibungen, Anspielungen, Stänkereien, gespielte Unterwerfungsgesten, Spitzen, Spötteleien, Drohungen und Reden über Dritte. So nennt Gates als Beispiele für Signifyin(g) Parodien über Polizisten hinter ihrem Rücken oder auch die Frage, ob man ein Stück Kuchen für seinen Bruder bekommen könnte, wenn man selber ein Stück will. Signifyin(g) als bestimmendes rhetorisches Prinzip afroamerikanischer Umgangssprache wird in Rededuellen wie „The Dozens“ und „Toast“ seit Jahrhunderten praktiziert. Bei „Playing the Dozens“ geht es um den rituellen, möglichst blumigen und wortreichen Austausch von Beschimpfungen, und als „Toasts“ werden Gedichte bezeichnet, die sich Männer an der Straßenecke, beim Friseur oder bei sonstigen informellen Zusammenkünften gegenseitig spontan vortragen. Wie Rap zeichnen sich auch die früheren afroamerikanischen Traditionen durch einen Wettbewerb aus. In den Toasts werden Legenden und Fabeln wie die Abenteuer des „Signifying Monkey“ oder von „Br’er Rabbit“ (Meister Lampe) immer neu variiert. Wenn sich der Affe mit dem Löwen und dem Elefanten streitet, entstehen in jeder Episode neue Verwirrungen, weil der Löwe die Beleidigungen, Schmeicheleien und Übertreibungen des Affen wörtlich nimmt. Der Held dieser Volksmärchen ist der Trickster, und in die Eigenschaften und Handlungen dieser Figur wird der kulturelle Widerstand von Untergebenen verpackt. Der Trickster zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: Er ist seinem Widersacher körperlich unterlegen und kann im direkten Kampf gegen seinen Gegner nicht bestehen. Indem er

537 Vergleiche dazu Gates, Henry Louis Jr.: The Signifying Monkey, New York 2014, S. 53.

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aber die Lebensweise seiner Kontrahenten genau studiert und deren Schwächen (Gier, Plumpheit, Leichtgläubigkeit) zu seinem Vorteil nutzt, kann er den vorerst unbesiegbar scheinenden Gegner schlussendlich bezwingen. Der Trickster ist eine Variante des David-gegen-Goliath-Mythos, nimmt aber in Erweiterung zum biblischen David auch Anleihen aus der Halbwelt. Er schwindelt, betrügt, gaukelt, um sein Ziel zu erreichen. Der Trickster kämpft nie mit offenem Visier. Wie Till Eulenspiegel stellt auch er sich oft dumm, um zu seinem Ziel zu gelangen. Der Handlungsverlauf dieser Volksmärchen ist immer derselbe, erst aus der gekonnten Variation der Motive erklärt sich der Reiz der Textgattung: „The trickster makes his successful way through a treacherous environment of enemies out to defeat him – or eat him – not by his strength but by his wit and cunning.“538 In dieser Parallelwelt werden die Realitäten der Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt. Der Außenseiter nimmt Rache an seinem Peiniger: Mäuse fressen dann beispielsweise Katzen und Kinder verprügeln ihre Eltern. Solche Erzähltraditionen finden sich auch in europäischen Märchen und als Thema in der bildendenden Kunst; sie ziehen ihre Faszination aus der Umkehrung realer Machtverhältnisse. Wie diese aussehen, hängt auch vom der Lebensrealität des Erzählers ab. Die „Gegenkultur“ der Hippies der 1960er Jahre war kleinbürgerlich geprägt und richtete sich deshalb in erster Linie gegen Mittelschichtskonventionen. Die Perspektive des Hip-Hop ist eine andere: Sie ist von Mangel, Diskriminierung und Entbehrungen geprägt. Die Helden und Archetypen der Rapper sind „Hustler“ (Gauner, Schwindler, Lebenskünstler), „Pimps“ (Zuhälter, im afroamerikanischen Sprachgebrauch auch Frauenhelden), Lehrer und Prediger, Geschichtenerzähler, Entrepreneurs und „Gangstas“. Auch das Rappen über das Rappen gehört zu den Standards. Eine häufig variierte Figur nimmt dann eine Gegenposition zur Figur Rapper ein, wie Jay Z 2005 deutlich machte: „I’m not a businessman, I am a business, man!“539 Die Vorurteile gegenüber dem Sprechgesang entstehen durch das Wörtlichnehmen solcher Stereotype. Junge Männer, oft Angehörige von ethnischen Minderheiten, lobpreisen Gewalt, Waffen und Drogen, protzen ungeniert mit ihrem Reichtum und reduzieren die Rolle der Frau auf schmückendes Beiwerk. Die überzeichnete Darstellung wörtlich zu nehmen, heißt – wie Hegel bei der Fabelwelt Äsops –, die Essenz des Genres zu verkennen, wie Bradley anhand eines Zitats des Südstaatenautors William Faulkner erklärt: „To start with the stereotype, accept it as true, and then seek out the human truth which it hides.“540 Rap findet die menschliche Vielfalt hinter den Stereotypen. Und erst hier, entlang der unscharfen Grenze zwischen 538 Scott, James C.: Domination and the Arts of Resistance, New Haven/London 1990, S. 162. 539 Jay Z rappt diese Zeilen im Remix des Songs „Diamonds From Sierra Leone“ von Kanye West, vergleiche https://genius.com/Kanye-west-diamonds-from-sierra-leone-remix-lyrics, letzter Zugriff: 11.07.2022. 540 Bradley, Adam: Book of Rhymes, New York 2009, S. 199.

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uneigentlichem und eigentlichem Sprechen, zwischen den Demarkationslinien Kunstform/Lebensrealität, Plutokratie/Gosse, harmlose Popkultur/Anstiftung zu Verbrechen entfaltet das Genre seine proteische Wandelbarkeit. Um Raptexte zu verstehen, ist es erforderlich, zwischen den Zeilen zu lesen. Verdrängte Wahrheiten auszusprechen und in das öffentliche Bewusstsein einzuschleusen, von der Gesellschaft erfahrene Abwertungen in etwas Begehrenswertes umzudeuten, Verbotenes zu verklausulieren – alles vorgetragen mit dringlichem Gestus –, trägt zur Polysemie, Intertextualität und Offenheit des Rappens bei. Der Literaturwissenschaftler Paul Edwards unterteilt die Inhaltsebenen in Inhalte-Themen, Inhalte-Formen und Inhalte-Werkzeuge.541 Diese Dreigliederung überzeugt innerhalb der Forschung am meisten, weil sie sämtliche Aspekte des Genres umfasst und in Kriterien gliedert, die sonst in der Literatur nur en passant und unsystematisch diskutiert werden. Zu den fünf Themenfeldern zählt Edwards „Real-life content“, „Fictional content“, „Controversial content“, „Conscious content“ und „Club/Party content“. „Real life“ umfasst autobiografische Erzählungen sowie Texte aus der Alltagswelt. Dabei ist es unerheblich, ob man die Situationen tatsächlich selbst durchlebt hat. Entscheidend ist eine authentische und glaubwürdige Darstellungsweise, wobei der Unterschied zwischen Fake und Realität oft für den Rezipienten schwer bis gar nicht erkennbar ist. Der Herkunftsort spielt dabei eine zentrale Rolle; die Straße, der Block, der Stadtteil, die Stadt, die Freunde und Familie bilden weitere Referenzpunkte dieser Erzählungen. Fiktionale Inhalte bezeichnen im Unterschied dazu alle frei erfundenen Geschichten. Unter kontroversiellen Inhalten versteht Edwards Gewalt, Drogenhandel und organisierte Kriminalität. Aus Künstlersicht kann mit diesen Themen leichter Aufmerksamkeit, Reichweite und Erfolg erzielt werden als mit sozialkritischen Inhalten. „Conscious“ meint das weite Feld bewusstseinsschärfender Themen. Religion, Politik, Sozialarbeit, Ökologie, Weltverbesserung und die beschworene Einheit aller Afroamerikaner fallen unter dieses Schlagwort. Wie im Gospel spielen Spiritualität und Religion eine große Rolle. Im Unterschied zu „weißer“ Popmusik werden Gott und Religion häufig als Inspirationsquelle genannt. In den späten 1980er Jahren übernahmen Rapper das Schlagwort „Afrocentricity“. Dieser Begriff kennzeichnet eine Tradition afroamerikanischen Denkens, bei der es darum geht, sich zur afrikanischen Ursprungskultur zu bekennen. Die Nation of Islam und deren militanter Flügel, die Five Percenter, predigen in ihren Texten die Vorzüge eines schwarzen Nationalismus und befürworten den Aufbau einer ethnisch getrennten Gesellschaft. Sozialkritische Texte fanden wenige Käufer, weshalb politische Texte heute nur mehr eine untergeordnete Rolle spielen. So verspottet der Rapper Tyga sozialkritische Künstler als verbitterte, verarmte und

541 Edwards, Paul: How to Rap, Chicago 2009, S. 3–59.

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abgehalfterte Rapper, die unfähig seien, mit ihrer Musik Geld, Ruhm und Macht zu erlangen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit agierten: „Like conscious rappers, mad cause we winning.“542 Partytexte huldigen dem Fest als solchem; Tanzen und Feiern sind zentrale Topoi. Zu den fünf Formen der Präsentation der Texte zählt Edwards „Braggadocio/ Battling“, konzeptuelles Erzählen, Storytelling, abstrakte Darstellung und Humor. Selbstüberhöhung und Eigenwerbung gelten Rappern als Tugenden und nicht als Charakterdefekte. Angeben, Aufschneiden („bragging and boasting“) und das Beschimpfen, Schmähen und Abwerten anderer Rapper und Personen – das sogenannte Dissen543  – sind beliebte Vortragsvarianten. Das Angeben erfüllt keine narrative Funktion, es geht nur um die blumige Darstellung des Egos. „Shit-Talking“ ist uneigentliches Sprechen, es wird als Zeitvertreib oder zur Unterhaltung betrieben. Je gemeiner und witziger die Beleidigungen vorgetragen werden, desto besser. Die Grenzen des guten Geschmacks werden absichtlich überschritten. Der häufige Gebrauch von Schimpfwörtern hat diesen viel von ihrer früheren Schärfe genommen, und die Vulgarität der Kulturindustrie ist mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen.544 Bei der konzeptuellen Präsentation stehen – analog zur Rockmusik – alle Titel eines Albums untereinander in einer thematischen Beziehung. Beim Storytelling wird ein Plot verwendet und die Geschichte meist in Strophenform erzählt. Die abstrakte Darstellungsform Shit-Talking verzichtet hingegen auf Narration, nachvollziehbare Dramaturgie und einen logischen Handlungsablauf. Sachverhalte werden absichtlich kryptisch formuliert, um für den Hörer schwer verständlich zu sein. Selbstironie ist zwar im Hip-Hop selten anzutreffen, dennoch gelingt es vereinzelten Interpreten, Inhalte humorvoll zu präsentieren. Als meistverwendete sprachliche Ausdrucksmittel des Genres nennt Edwards Vergleich, Metapher, Analogie, Slang, Wortschatz, Wortspiel und Punchline. Die Bedeutung des Slangs ist für den esoterischen Gehalt der Raptexte von herausragender Bedeutung. Slangwörter und Phrasen wie „187, no homo oder one love“ erneuern die Sprache permanent.545 Aufgrund der Verwendung bestimmter Idiome können Raptexte auf einen Ort und eine Zeit datiert werden. Manche Ausdrücke repräsentieren den Zeitgeist und können in verschiedenen Epochen dasselbe ausdrücken. Hieß es in den 1960er Jahren „groovy“, beschrieb das Wort „dope“ dasselbe Ge-

542 Rapper Tyga im Song „Lap Dance“, in: https://genius.com/Tyga-lap-dance-lyrics, letzter Zugriff: 11.07.2022. 543 Abgleitet von „disrespect“. 544 Vergleiche dazu Prantner, Christoph: Fick dich! Die Kultur der Vulgarität, in: http://derstandard.at/ 2000061316654/Fick-dich-Das-Prinzip-Vulgaritaet, letzter Zugriff: 11.07.2022. 545 Edwards, Paul: How to Rap, Chicago 2009, S. 47.

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fühlsspektrum in den 1980er und 1990er Jahren, während Bobby Shmurda sich 2014 kurzerhand als „hot“ bezeichnete. Der Einfluss des Rapslangs auf den allgemeinen Sprachgebrauch ist sehr groß. Ausdrücke wie „Bling-Bling“ „dissen“ und „swag“ haben Eingang in die Alltagssprache – auch in die deutsche – gefunden. Ihre Faszination erklärt sich aus ihrer Mehrdeutigkeit und ihren versteckten, teils obskuren Referenzen. Viele Rapper arbeiten vorsätzlich mit mangelnder Verständlichkeit. Obfuskation verringert Klarheit absichtlich, und Slangausdrücke werden erfunden, um bekannte Sachverhalte und Dinge neu zu umschreiben. Die verschlüsselte Kommunikation ist vergleichbar mit dem Rotwelsch im deutschsprachigen Raum. Auch Rotwelsch als schichtspezifischer Sonderwortschatz veränderte sich von Region zu Region. Durch die Umdeutung bekannter Worte (um bestimmte Inhalte von Gesprächen geheim zu halten oder als Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft) veränderte sich deren Bedeutung durch Bedeutungsübertragung und Bedeutungsverschiebung. Diesen Jargon sprachen vor allem Außenseiter wie Bettler, Prostituierte, Handwerksburschen, Vagabunden und Diebe. Als typische Funktion dieser Vernakularsprache sieht der Soziologe Roland Girtler eine gewollte Distanzierung von der bürgerlichen Welt. Für ihn sind „Wortbildungen, mit denen bestimmte Dinge oder ein bestimmtes Tun in witziger und oft auch poetischer Weise umschrieben werden“, und „Sprachwitz“546 subkulturelle Sprachstrategien, die über Alltagsprobleme hinweghelfen sollen und Ausdruck der eigenen Menschlichkeit. Für Girtler ist Rotwelsch eine lebende Sprache, die sich beständig verändert. Darin gleicht dieser Jargon strukturell dem Slang der Rapper – beide leben von ihrem synkretischen Charakter. Rotwelsch verwendete, neben jiddischen auch französische, italienische und slawische Wörter, Ausdrücke aus der Sprache der Sinti und Roma sowie Wörter aus den verschiedenen deutschen Dialekten. Diese Offenheit und Durchlässigkeit bestimmt auch das Rapvokabular. Ein gemeinsamer Slang wirkt identitätsstiftend und stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe. Unterschiede im verwendeten Vokabular lassen sich auf regionale und individuelle Stilvariationen zurückführen. Im deutschen Sprachraum hat sich durch die Einwanderung der letzten Jahrzehnte ein Straßendeutsch entwickelt. Die großen Migrantengruppen aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien und den afrikanischen und arabischen Ländern sprechen in vielen deutschen Raptexten ein Multikultideutsch, dass wie Gullah und Rotwelsch einem kreolischen Prinzip folgt. Dabei läuft die Sprache auf Vereinfachung hinaus, wobei Fälle und Endungen verändert werden und Artikel verschwinden. Wortformen werden nicht regelkonform gebildet. Statt Fälle zu verwenden, werden im Deutschen Sätze nach der grammatikalisch falschen Regel „Präposition plus x“ gebildet. So reimt Rapper LX von der 187 Strassenbande im Lied „Compton“

546 Vergleiche Girtler, Roland: Rotwelsch, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 23.

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im einprägsamen Binnenreim: „Haribo-Colaflaschen auf ’m Sofa naschen.“547 Und in Imbissbuden wird gerne „mit alles und scharf “ bestellt. Der Genetiv ist nahezu unbekannt, auch der Dativ wird kaum verwendet. Der Kasusabbau geht einher mit dem Weglassen der korrekten Endungen. Silben am Wortanfang (Aphäresen), am Wortende (Apokopen) oder im Wortinnerem (Synkopen) werden verschluckt, und es werden aus sprachökonomischen Gründen unbetonte Laute oft weggelassen (Elisionen): „Ich vertrau’ nur mir selbst, zieh’ was auf in mei’m Zelt und blas’ Rauch in die Welt.“548 Wörter aus verschiedenen Einwanderersprachen finden Eingang in die Liedtexte und werden dort oft als Füllwörter oder Interjektionen verwendet. Unreine Reime und Ellipsen evozieren beim Hörenden den Eindruck eines gebrochenen Deutsch. Das multiethnische Pidgin-Deutsch der Dresdner Musikgruppe KMN Gang549 hört sich so an: „Nie mehr Kilos, choya. Packen im Renault, choya.“550 Das Wort „choya“ ist arabisch, heißt „Bruder“ und steht auch für „Kumpel“. In der 15-zeiligen Strophe des Liedes „Kartell“ verwendet Rapper Nash das Wort 11-mal als letztes Wort. Zusätzlich werden in diesem Lied noch die libanesisch-arabischen Wörter „chaye“ (ebenfalls „Bruder“) und „wallah“ („ich schwöre bei Gott“) eingesetzt. Wörter aus dem Türkischen, Serbischen, Russischen, Arabischen, Kurdischen und Spanischen werden in den Songs als Interjektionen oder zur Obfuskation verwendet. Beliebt sind dabei Ausdrücke und Sortenbezeichnungen für Cannabis (Ott, Jibbit, Nouga, Sattla, Saruch, Kush, Haze), harte Drogen (Abiat, Baida, Flex, Yayo), abwertende und negativ konnotierte Begriffe für Polizisten (Amcas, Muftara, Iba’ash, Shurta), Geld (Para), informellen Handel (Tijara), Geschlechtsteile (Yarak), Ausrufewörter (Eowa, Abow/Aboow), Prostitution (Kahba, Chaya), Problembezirke (Chabolas), Denunziant (Chivato, Snitch) sowie Bruder/Freund/Kumpel (Brate, Choya, Dadash, Abi, Arkadaş, Bira). Dazu kommen noch regionale deutsche Dialektwörter wie Lelleck (einfältiger, dummer Diener), Digga (Kumpel) oder Patte (Geld). Erstaunlicherweise finden sich nach einem 40-jährigen säkularen Interregnum auch wieder vermehrt religiöse Bezüge und Ausdrücke (Şeytan, Allah, Gott, Wallah, Inschallah) in den Texten. Dieses populär

547 Rapper LX im Lied „Compton“ der 187 Straßenbande, in: https://genius.com/187-strassenbandecompton-lyrics, letzter Zugriff: 11.07.2022. 548 Rapper LX ebenfalls im Lied „Compton“ der 187 Straßenbande, in: https://genius.com/187strassenbande-compton-lyrics, letzter Zugriff: 11.07.2022. 549 Die vier Musiker sind alle Flüchtlingskinder und stammen aus Albanien, Marokko, Libanon und Irak. 550 Rapper Nash im Lied „Kartell“, in: https://genius.com/Zuna-kartell-lyrics, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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gewordene Hybriddeutsch wird oft „kanakisch“ oder auch „Azzlack-Deutsch“551 genannt. Rap erhält seine Inspiration, sein Weltbild und seine Werte aus der Konsumkultur. Konsumgüter prägen die Vorstellungswelt, was sich auch anhand der verwendeten Sprachfiguren nachweisen lässt. Die Vergleiche in den Texten beziehen sich meist auf Luxusgüter und sonstige Waren. Das lyrische Ich hyperaffirmiert dabei den Wertekanon des gewinnorientierten Kapitalismus. Geld und Durchsetzung der eigenen Interessen sind dabei zentrale Elemente. Die Figur, die die kapitalistische Jagd nach dem Mehrwert am konsequentesten verkörpert ist der „Nigga“. Dieses aus der Zeit der Sklaverei stammende Wort, welches einen Menschen zur Ware degradiert und ihm nur einen ökonomischen Wert bei gleichzeitiger Absenz seiner Menschlichkeit zuspricht, hat im Hip-Hop eine erstaunliche Bedeutungsverschiebung durchlebt: A nigga is that which emerges from the demise of human capital, what gets articulated when the field nigger loses value as labor. The nigga is unemployed, null and void, walking around like […] a nigga who understands that all possibility converts from capital, and capital does not derive from work.552

Als popkulturelle Figur lebt der „Nigga“ am konsequentesten die kapitalistischen Werte von Erfolg, Reichtum und Durchsetzungskraft. In einem Kapitalismus ohne Arbeit für die Unterschicht etabliert er als kommodifiziertes Objekt eine Schattenwelt. Mit der Umfunktionierung dieser rassistischen Beleidigung zum Helden und Gesetzlosen des Spätkapitalismus dient dieses umstrittene, in den Songtexten allgegenwärtige Wort als „expression of angry, self-destructive violence, the armed and insatiable beast of capitalism that knows only exchange-value and the endless pursuit of greater pleasure“.553 Wie das Handelsobjekt Sklave reduziert sich der „Nigga“ als Gesetzloser auf den Status einer Ware, für den nur Umsatz und Gewinn zählen. Dieses verzerrte Loblied auf den Entrepreneur zeigt dem politischen und wirtschaftlichen System, welches für ihn keine Verwendung hat, den Stinkefinger. Seit dem systematischen Missbrauch der Justiz durch die weißen Gesetzesvollzieher während der Zeit der Sklaverei gelten der Widerstand und die Ignorierung von Gesetzen als positive Werte, und noch mehr als die zwielichtigen Figuren Hustler und Pimp verkörpert der „Nigga“ Stolz, Schläue, Wildheit und

551 Das Kunstwort Azzlack wurde vom Rapper Haftbefehl popularisiert und setzt sich aus der Vorsilbe Azz (für asozial) und der Endsilbe Lack zusammen und bezeichnet einen „asozialen Kanaken“. 552 Judy, R.A.T.: On the Question of Nigga Authenticity, in: Forman Murray/Neal Mark Anthony (Hg.): That’s the Joint!, New York/London 2004, S. 107. 553 Judy, R.A.T.: On the Question of Nigga Authenticity, in: Forman Murray/Neal Mark Anthony (Hg.): That’s the Joint!, New York/London 2004, S. 108.

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Wille (zum Überleben). Die von den Segnungen der Warenwelt und der Arbeitswelt Ausgeschlossenen erklären das System für irrelevant: „And government, fuck government, niggas politic theyselves“.554 Seine systematische Entmenschlichung bekämpft er, indem der „Nigga“ als rebellisches Eigentum einen unzerstörbaren autonomen Willen für sich beansprucht. Die Figur des „Niggas“ ist also weniger ein Indiz für die Absenz von Moral und den schädlichen Einfluss von Hip-Hop, wie Kritiker des Genres glauben, sondern erklärt sich mit dem Siegeszug des transnationalen Kapitalismus.555 Ausbeutung, Gewalt und Diskriminierung stehen im Zentrum des Akkumulationsprozesses, und die Illusion von Widerstand ist keine politische Option mehr für die Black Community. Im Zeitalter der Hyperkommodifizierung personifiziert er „commodity affect“556 und umfasst Wut, Gewalt und intensive Triebbefriedigung. Der Kulturwissenschaftler R.A.T. Judy schließt seinen provokanten Essay „On the Question of Nigga Authenticity“ daher mit der Festlegung: „to be nigga is ontologically authentic, because it takes care of the question of how human really is among things“.557 Im Umgang mit den systemisch Überflüssigen zeigt sich der Grad der Humanität im totalitären Liberalismus. Das Schimpfwort „Nigga“ ist das nicht wegargumentierbare, sichtbare Zeichen der Krise der kapitalistischen Verwertungslogik. Der „Nigga“ verwandelt das Mikrofon im täglichen Kampf um das materielle Überleben in eine Waffe: „Exaggerated and invented boasts of criminal acts should sometimes be regarded as part of a larger set of signifying practises.“558 Das Ghetto als wilde Alternative und der „Nigga“ als außerhalb des Gesetzes Stehender bieten zahlreiche Projektionsflächen. Der Reiz des verbotenen N-Wortes ergibt sich aus der Sterilität der sonstigen, peinlich genau auf Diversität, Korrektheit und ethnische Ausgewogenheit bemühten liberalen Diskursgewohnheiten. Das N-Wort bleibt ein Ärgernis für Sprachpolizisten und zivilgesellschaftliche Pressure-Groups. Sein Siegeszug begann erst im Laufe der 1990er Jahre. Die Herausgeber der ersten Rapanthologie im universitären Umfeld, Adam Bradley und Andrew DuBois, weigern sich, solche Provokationen nur auf den Aspekt der Verkaufsförderung zu reduzieren oder als Bürgerschreckstilmittel zu verharmlosen. Beide sehen in der Explizitheit – wie R.A.T. Judy in ihrer pro-

554 Rapper Jay Z im Song „Where I’m From“, in: https://genius.com/11710327, letzter Zugriff: 11.07.2022. 555 Vergleiche dazu Judy, R.A.T.: On the Question of Nigga Authenticity, in: Forman Murray/Neal Mark Anthony (Hg.): That’s the Joint!, New York/London 2004, S. 113. 556 Judy, R.A.T.: On the Question of Nigga Authenticity, in: Forman Murray/Neal Mark Anthony (Hg.): That’s the Joint!, New York/London 2004, S. 113. 557 Judy, R.A.T.: On the Question of Nigga Authenticity, in: Forman Murray/Neal Mark Anthony (Hg.): That’s the Joint!, New York/London 2004, S. 115. 558 Kelley, Robin D. G.: Looking for the „Real“ Nigga: Social Scientist Contruct the Ghetto, in: Forman Murray/Neal Mark Anthony (Hg.): That’s the Joint!, New York/London 2004, S. 130.

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vokanten, aber konsequent kapitalismuskritischen Interpretation – eine politische Funktion: „[…] Rap’s explicit language and content is about more than simply causing a stir. Rap was born as a form of necessary speech. It provides young people from difficult and impoverished backgrounds with a voice and a means of vivid expression.“559 Weil der Klassenkampf und die soziale Frage aus der postdemokratischen Politik verbannt worden sind, verwenden Rapper aggressive, verletzende und kontroversielle Wörter, um eine gesellschaftliche Teilrealität zu beschreiben. Anders ausgedrückt: Nur weil in den Medien schön gesprochen wird, verschwindet die neue Armut nicht. Freilich sind nicht alle Raptexte hohe Dichtkunst und Fundgruben für ausgeklügelte Reime. Durch den Aufstieg zur dominanten Popkultur ist es sogar schwer, inmitten der Dutzendware talentierte Künstler ausfindig zu machen. Wie schnelllebig diese Kultur ist, zeigt sich auch in der nach wissenschaftlichen Kriterien zusammengestellten Rapanthologie. Dort wird das Genre im Jahr 2010 in vier historische wichtige Epochen (Old School, New School, Mainstream, New Millennium) gegliedert, eine Kategorisierung, die sich schon dreizehn Jahre später komplett überlebt hat. Denn weitgehend unbeobachtet von der Wissenschaft und sehr zum Missfallen der Erfinder haben sich die Kreativitätszentren des Genres verschoben. Galten die New Yorker Stadtteile Bronx, Brooklyn und Queens lange als Garanten für lyrische Finesse, dominierten Westküstensounds die frühen 1990er Jahre. Von der Öffentlichkeit und dem Feuilleton lange ignoriert etablierten sich die Südstaaten als weiteres Kraftzentrum des Hip-Hop: In den Ballungszentren New Orleans, Atlanta, Memphis, Houston und Miami entstanden die bis heute dominierenden Sounds. Diesen Rapstil beschreibt Nik Cohn als merkwürdigen, faszinierenden Hybrid aus Rapreimen und Gospel-Roots.560 Musikjournalisten und Rapper aus New York verspotteten den Südstaatenrap anfänglich als „simplistic, crude, lowbrow, insubstantial“561 und die Texte als dumm, einfältig, langsam und bäuerlich. Rapper drosselten ihr Sprechtempo, rappten „slowly and breathily, dragging out the vowels and filling in empty spaces with interjections“.562 Auch der massive Einsatz von „Auto-Tune“, einer Software zur automatischen Tonhöhenkorrektur, ist hier akzeptiert. Die Hektik der Metropole wich einem entspannten und von ländlicher Langsamkeit geprägten Flow. Dieser Rapstil prägt seit zwei Dekaden das Feld.563 Wer die hochpreisigen Bildbände „Houston Rap“ und „Atlanta“ durch-

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Bradley, Adam/DuBois, Andrew (Hg.): Anthology of Rap, New Haven/London 2010, S. XXXVIII. Vergleiche dazu Cohn, Nik: Triksta, New York 2007, S. 96. Schmelling, Michael: Atlanta, San Francisco 2010, S. 16. Schmelling, Michael: Atlanta, San Francisco 2010, S. 46. Seit dem Jahr 2016 taucht in Musikzeitschriften immer öfter die Frage auf, wie lange das Zeitalter der Südstaatenvorherrschaft ästhetisch und musikalisch noch andauern werde. Für ein kurzlebiges Genre wie Hip-Hop ist der bleibende Einfluss des Südens höchst erstaunlich; vergleiche dazu

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blättert, bekommt einen Eindruck, wo die Grenze zwischen dem auf Hochglanz polierten Industrierap und den regionalen, autark organisierten Subszenen verläuft. Auf der einen Seite gibt es Plutokratie und nach Industrieschablonen vorprogrammierte Stangenware, auf der anderen Seite den Mangel und die Derbheit der Gosse; das Genre fasziniert durch die Gleichzeitigkeit von Gossenrap und Industrierap. Die Armenviertel von Houston und Atlanta haben autonome, von der Industrie zunächst wenig beachtete Subszenen hervorgebracht, wo mit Drogengeldern Plattenlabels gegründet werden und die Musik aus dem Kofferraum heraus verkauft wird. Neben der Musik gibt es in Houston eigene Drogen („lean“, ein codeinhaltiger Hustensaft, der mit Sprite getrunken wird), eine eigene Autotuningszene, eigene Fashioncodes und eine Parallelwelt mit eigener musikalischer Tradition bis zurück zur Hochblüte des Blues. Die Plattenverkäufe dieser regionalen Szenen übersteigen selten die 5000er-Marke. Armut und eine von Generation zu Generationen weitervererbte Hoffnungslosigkeit bilden den Ausgangspunkt der Alltagsbeschreibungen: „When you’re poor, what can you do? I mean, most poor people don’t wanna do nothing. Most poor people don’t even know they can do something. A lot of poor people don’t even know that that’s the reason why they dying. They just think, ‚Oh shit. I’m dyin‘.“564 Diese Absenz von Hoffnung bildet die Grundlage eines allgegenwärtigen Nihilismus, der aber gleichzeitig von Lebensfreude, Kreativität und dem Wettrennen um Aufstieg gekennzeichnet ist. Rappen gilt neben Drogenverkauf oder einer Karriere als NBA-Profi als einziger Ausweg aus dem ewigen Kreislauf der Armut, ausgelöst durch schlechte Schulbildung, fehlende Berufsausbildung und zerrüttete Familien – „Rappin’, it was either that or sellin’ dope, shit, let the dice roll“.565 Diese vitalen Straßenrapszenen haben mit „Snap“, „Chopped and Screwed“, „Trap“, „Swag“, „Drill“, „Hyphy“, „Hotlanta“ immer wieder neue Reim- und Sprechmoden herausgebildet, wobei zunehmend die Grenzen zwischen Gesang und Rap verschwinden und sich die junge Generation eher als Rockstar denn als Rapper sieht: Lil Uzi Vert inszeniert sich als „Rock ’n’ Roll Persona“, um damit die „engen“ Genregrenzen zu überwinden. Substile wie „Cloud Rap“ holen in ihrer lyrischen Dringlichkeit längst vergessene Rockklischees aus der Mottenkiste.566 Die Rap-

auch http://hiphopgoldenage.com/south-still-talking-south-still-reigning-section-hip-hop, letzter Zugriff: 11.07.2022. 564 Willie D, in: Kugelberg, Johann (Hg.): Houston Rap, Los Angeles 2013, S. 1; Hervorhebung so im Original. 565 Rapper T. I. in „Iced Out My Arms“, in: https://genius.com/Dj-khaled-iced-out-my-arms-lyrics, letzter Zugriff: 11.07.2022. 566 Vergleiche dazu die Reportage „The Rowdy World of Rap’s New Underground“ in der „New York Times“, wo Jugendliche auf einem Hip-Hop-Konzert sich wie Jugendliche auf einem Grungerockkonzert der 1990er Jahre bewegen und stylen, https://www.nytimes.com/2017/06/22/arts/music/ soundcloud-rap-lil-pump-smokepurrp-xxxtentacion.html, letzter Zugriff: 11.07.2022.

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gruppe Rae Sremmurd packt die Playbackrockgitarre aus und nennt sich Black Beatles. Zehn Jahre nachdem schwarze Südstaatenjugendliche begonnen hatten, ironisch den Kleidungsstil der weißen Oberschicht und von Privatschülern (Preppy Style) nachzuahmen, war 2017 die Übernahme von Rockstargesten der Dernier Cri: Mit dem „Weißen-Buben-Swag“ wird eine zeitgenössische Hip-Hop-Interpretation des Rockschicks abgeliefert. Wenn Migos in ihrem Superhit „Bad and Boujee“ das Adjektiv „bad“ in etwas Erstrebenswertes umdeuten und mit dem absichtlichen Falschschreiben und Abkürzen das Wort Bourgeoisie aus seiner sonst negativen Konnotation befreien, stehen „bad and boujee“ als Attribute für schön, reich und ökonomisch unabhängig. Bürgerlich zu sein ist nicht länger peinlich. Zahllose Regiolekte sowie nur auf den ersten Blick kontextlose Rekontextualisierungen sind weitere Belege für die proteische Wandelbarkeit des Rap. Als Metagenre der Popkultur nutzt Hip-Hop musikalische Komponenten anderer Stile für sich und hat, wie der Neoliberalismus, seine Existenzkrise 2008/2009 überlebt. Kurz bevor die Pleiten von Lloyds Bank, Anglo Irish Bank, Lehman Brothers, Bear Stearns, Northern Rock und Hunderten anderen Geldhäusern die größte Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren auslösten, erklärte der New Yorker Rapper Nas 2006: „Hip Hop is dead.“567 Die Raplegende bemängelte im Chor mit dem Erfinder des Gangstarap, Ice-T, die lyrische und inhaltliche Verflachung, verpackte aber fernab aller historischen Verdienste in seiner Kritik nur seine eigene künstlerische Irrelevanz im aktuellen Rap-Game. Wie der Neoliberalismus hat der Hip-Hop die Krise ökonomisch und ideell gestärkt überlebt. Wenn Jay Z in seinem 2017 erschienenen Album „4:44“ rappt: „Financial freedom my only hope. Fuck livin’ rich and dyin’ broke“,568 adressiert er den kausalen Nexus zwischen Hip-Hop und totalitärem Liberalismus. So wie sich das in der Politik diskutierte Spektrum akzeptierter Wahrheiten weiter verengt, hat sich auch das Themenfeld des Hip-Hop verkleinert. Der Rapper Lil Wayne umschreibt die Hip-Hop-Trinität affirmativ mit „Pussy, Money, Weed“, die Kulturwissenschaftlerin Tricia Rose aus ihrer aufklärerischen Position heraus negativer als „Gangsta, Bitches, Hoes“. Die im liberalen Einheitsdenken vorherrschenden Werte (Triebbefriedigung, Durchsetzungskraft, Geld, Macht) werden gleichermaßen karikiert, überzeichnet, affirmiert und kritisiert. Die Allgegenwart des Geldes befreit Hip-Hop aus seiner Narrativität und macht C.R.E.A.M.569 zum unhinterfragten Seinsgrund der menschlichen Existenz und zur Conditio sine qua non allen Handelns. Der Wirtschaftswissenschaftler Philip Mirowski beschäftigt

567 Das achte Studioalbum des Rappers NAS hieß „Hip Hop Is Dead“, vergleiche https://de.wikipedia. org/wiki/Hip_Hop_Is_Dead, letzter Zugriff: 11.07.2022. 568 Rapper Jay-Z im Song „The Story of O.J.“; vergleiche dazu http://www.gq.com/story/jay-z-444review, letzter Zugriff: 11.07.2022. 569 Akronym für „Cash rules everything around me“ (C.R.E.A.M.), dem gleichnamigen Hit des WuTang Clan. Diese Redewendung wurde und wird seitdem im Hip-Hop immer wieder verwendet.

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sich mit der Frage, warum nach der Weltwirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 der Liberalismus noch stärker und unhinterfragter von der Politik als Allheilmittel betrachtet wird.570 Statt die entfesselten Finanzmärkte zu zähmen und die Krise als „im Kern eine Krise des Kapitalismus“571 zu begreifen, haben die westlichen Regierungen die kollabierenden privaten Sektoren, die sie für systemrelevant erklärten, mit Steuergeld gerettet. Durch die daraus resultierende steigende Staatsverschuldung wurde das Haftungsprinzip außer Kraft gesetzt. Gleichzeitig untergraben die wachsenden Schulden der Staatshaushalte den Charakter des Staates als Hort der Sicherheit und gipfeln in dem absurden Narrativ, wonach die Krise erst durch zu viel staatliche Regulierung ausgelöst worden sei. Der zu Trägheit verleitende Sozialstaat, die faulen Arbeitslosen, die zu teuren Pensionen, zu viel Urlaub, die unverantwortliche Politik und nicht mehr die Banken und Hedgefonds gelten als Verursacher der Krise. Märkte gelten der Politik wieder als „zeitlose Wesen mit zeitlosen Gesetzen“, gleichsam als „undefinierte Urbilder“.572 Mirowski verwendet den Begriff Neoliberalismus als Brille, durch welche die meisten Menschen ihr prekäres Leben betrachteten, sprich: als vorherrschende Ideologie. Mirowski erkennt im Neoliberalismus ein Klassenprojekt mit der Aufgabe der Umverteilung von unten nach oben. Der Liberalismus ist, wie weiter oben in Kapitel 2 beschrieben, eine „verbindliche Weltanschauung“,573 aus der auch Hip-Hop seine Inspiration schöpft. In der Aufforderung zum Handeln sieht Mirowski den Kern liberalen Denkens. In seiner konstruktivistischen Orientierung gilt dem Liberalismus der Entrepreneur als Leitfigur und die Marktwirtschaft als natürlicher Zustand. Die Ökonomie „erklärt“ den Menschen, der Begriff Humankapital ersetzt den der Conditio humana; die Klassen und das moderne Subjekt verschwinden, und selbst der Freiheitsbegriff wird auf seine Marktgängigkeit verengt. Dabei gilt Liberalen wirtschaftliche und politische Ungleichheit als „notwendige und funktionale Eigenschaft ihres idealen Marktsystems“574 und es gilt der exoterische Lehrsatz, wonach nur der Markt den Einfluss des Staates begrenzen könne. Die esoterische Lehre hingegen behauptet eine Deckungsgleichheit von „Ökonomie und geistiger Welt“.575 Ungleichheit zählt dabei als Antrieb für Fortschritt, und der Markt findet Lösungen für all jene Probleme, die er selbst verursacht hat. Auch der Ausbau der privaten Gefängnisindustrie und explodierende Inhaftiertenzahlen sind politisch gewollt, wobei das Strafrecht für Arme und Bagatelldelikte strengere Maßstäbe

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Vergleiche dazu Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2015. Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2015, S. 25. Vergleiche Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2015, S. 24. Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2015, S. 54. Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2015, S. 69. Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2015. S. 112.

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als für Leistungsträger und systemrelevante Institutionen wie Banken anlegt. Dieses Amalgam liberaler Glaubenssätze wird als Moralkodex verwendet und deutet den Markt als unfehlbar. Besonders frech ist dabei die „Doktrin der ‚doppelten Wahrheit‘“.576 Marktradikale Think-Tanks beanspruchen für sich die „Befugnis, Theorien über die ‚Gesellschaft‘ als Ganzes aufzustellen […,] und anderen die eigenen Auffassungen durch ein nahezu totalitäres politisches Projekt aufzuzwingen“.577 Jede ontologische Unterscheidung zwischen Markt und Leben wird verneint, und alle marktkritischen Positionen werden bekämpft. Die Wirtschaft wird als einzig akzeptable Instanz für Wahrheit und Erkenntnis monadisiert, wobei nur der Markt selbst – als Schiedsrichter über Politik und Menschen – von seinem Urteilsspruch ausgenommen wird, weil er immer eine Lösung parat hat; als „spontane Ordnung“ (Hayek) und mithilfe von „schöpferischer Zerstörung“ (Schumpeter) tritt er als monolithische, unhinterfragbare Entität mit dem Anspruch auf Autorität auf. Dieses Menschenbild hat zur schleichenden Kommodifizierung von früher marktfreien Zonen wie Erziehung, Bildung und Umweltschutz geführt. Die Ware Mensch ist leicht regier- und steuerbar. Für dieses Leben der radikalen Immanenz bedeutet „Revolution“ nur mehr „Umschichtungen im Portfolio“, nicht aber eine Gesellschaft ohne obszönen Reichtum und Armut. Die Unterschicht und die Armen gelten dabei als Chiffre für alle jene, die sich weigern, erfolgreiche Markteilnehmer zu werden, oder bei dem Versuch scheitern. Während die von realen und eingebildeten Abstiegsängsten geplagte Mittelschicht sich weiterhin im Job und in der Freizeit um Selbstoptimierung und Erhöhung des individuellen Marktwerts bis zur Grenze der Selbstverleugnung abmüht, versanden diese Appelle bei der Unterschicht. Der Abfall des Marktes reagiert schamhaft, erklärt sein Scheitern zur Privatsache, arrangiert sich mit seiner eigenen Überflüssigkeit oder inszeniert sich in der Figur des „Niggas“ als das „unbezähmbar Wilde des Kapitalismus“, als sein böses, triebhaftes und unbewusstes Spiegelbild. Der „Nigga“ als „totale Ware“ affirmiert mit Geld, Bitches und Triebbefriedigung die gleichen Werte, aber – und hier liegt die Pointe – der Appell zur Selbstoptimierung erreicht ihn nicht. Der „Nigga“ ist die gesetzlose, unbezähmbare Black Box der marktradikalen Ideologie. Aber auch hier, in den Wohnsilos der Überflüssigen, gelten die Gesetze des (informellen) Marktes und das Recht des Stärkeren. Im Ghetto manifestiert sich der permanent gewordene Ausnahmezustand des Liberalismus. Dieser Ausnahmezustand definiert den Normalfall der Überflüssigen. Schon Walter Benjamin konstatierte: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist.“578 Da dieser Ausnahmezustand den liberalen Souverän und 576 Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2015, S. 93 577 Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2015, S. 94. 578 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt a.M. 2015, S. 697.

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„Bad and Boujee“ – uneigentliches Sprechen im Hip-Hop

Gesetzgeber nicht mehr tangiert, klaffen Legalität und Legitimität weit auseinander. Souverän579 ist hier der psychisch Stärkere und nicht der Gesetzgeber wie bei Carl Schmitt. Der „Gangsta“ und nicht der Staat entscheidet im Ghetto über den Status der Souveränität. Man kann sich als Wissenschaftler die Beschäftigung mit seinem Material nur bedingt aussuchen, und in den comichaften Übertreibungen des Hip-Hop liegt der Schlüssel zum Verständnis seiner Wahrheiten. Der „Gangsta“ als Rächer der Überflüssigen entschädigt für die Schikanen des Alltags, wo Risiko als Tugend gehandelt wird. Er lagert Rachefantasien für niedrige Löhne, unsichere Arbeitsplätze, unbezahlbare Wohnungen und schlechte Schulen in die Gegenwelt „Ghetto“ aus. Rein moralisch und soziologisch kann sich daher die innere Wahrheit des Hip-Hop mit seiner unentwirrbaren Verschränkung mit dem doktrinären Neoliberalismus nicht erschließen.

579 Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, in: Schmitt, Carl: Politische Theologie, Berlin 2015, S. 13.

7.

Die Bedeutung des esoterischen Schreibens

Neben der Allegorie580 und der Metapher581 bildet das esoterische Schreiben und Lesen eine dritte Form der indirekten Aussage. Während Allegorien und Metaphern gut erforscht sind, ist die Kenntnis dieser in der Antike allgegenwärtigen Form indirekten Schreibens weitgehend verloren gegangen. Erst der Philosoph Leo Strauss hat diese altehrwürdige Kulturtechnik wiederentdeckt und daraus seine These von der Kunst des esoterischen Schreibens entwickelt, wobei weniger diese These, sondern eher die Frage nach dem (nicht nur esoterischen) Stellenwert seines philosophischen Werks die größte Hürde bei der Interpretation582 darstellt. Abseits der Klärung dieser philosophiegeschichtlich relevanten Frage hat Strauss mit der Wiederaufnahme des esoterischen Schreibens wertvolle Impulse für die Methodenlehre hinterlassen. Die Unterscheidung zwischen exoterischen und esoterischen Texten ist eben nicht nur ein kurioses Faktum einer längst untergegangenen Hochkultur, sondern eine nützliche Methode, um Inhalte zu interpretieren und zu verstehen. Esoterisches Schreiben und Lesen war in der Antike und im Mittelalter ein Werkzeug, um die Essenz eines Textes vor dem Zugriff durch Zensur oder unfähige Leser zu retten und die wesentlichen Aussagen zwischen den Zeilen zu verstecken. Strittig blieb dabei die Frage, ob diese Technik überhaupt lehrbuchmäßig vermittelt werden könne. Gibt es für den aufmerksamen Leser einen kontinuierlichen Weg hin zum esoterischen Lesen, der sich über die Jahre und Jahrzehnte für ihn automatisch öffnet, oder gibt es eine unüberbrückbare Kluft zwischen exoterischem und esoterischem Inhalt? Glaubte etwa Friedrich Schleiermacher an eine Erlernbarkeit583 dieser Kulturtechnik, war Platon der Überzeugung, dass jeder Philosoph eine echte Konversion584 durchleben und mit seinen früheren Überzeugungen brechen müsse,585 wenn er diese Methode, die selbst für talentierte und fleißige

580 Vergleiche Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 2004. 581 Vergleiche Lakoff, George/Johnson, Mark: Leben in Metaphern, Heidelberg 2003. 582 Vergleiche Tanguay, Daniel: Leo Strauss: An Intellectual Biography, New Haven and London 2011, S. 49ff. 583 Vergleiche dazu Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Philosophie Platons, Hamburg 1996, S. 25–69 bzw. Strauss, Leo: Exoteric Teaching, in: Strauss, Leo: The Rebirth of Classical Political Rationalism, Chicago/London 1989, S. 68. 584 Vergleiche dazu Strauss, Leo: Exoteric Teaching, in: Strauss, Leo: The Rebirth of Classical Political Rationalism, Chicago/London 1989, S. 68 bzw. Platon: Der Staat, Ditzingen 2016, (427c, 470e und 499c–e) S. 215, 273 und S. 309f. 585 Vergleiche dazu Platon: Der Staat, Ditzingen 2016, (517b–e und 619c–e) S. 331 und S. 465.

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Die Bedeutung des esoterischen Schreibens

Forscher nur mit Mühe erkennbar sei, anwenden und beherrschen wolle. Ob esoterisches Wissen in exoterischen Büchern nun durch ein Damaskuserlebnis oder durch tägliche Forschungspraxis in einem kontinuierlichen Prozess vermittelt werden kann, muss offenbleiben. Entscheidend sind die prinzipielle Erlernbarkeit der Methode und ihre Sinnhaftigkeit für die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung. Analog zur Unterteilung des Kunsthistorikers Erwin Panofsky in primäres (oder natürliches) Sujet, sekundäres (oder konventionales) Sujet und ikonologische Interpretation586 bietet sich auch für Inhaltsanalysen eine Dreigliederung an. Als erster Schritt wird der Text quantitativ untersucht, in einem zweiten Schritt wird eine qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt und in einem dritten erfolgt dann eine esoterische Lektüre, wenn es der Text und seine Beschaffenheit erfordern. Das esoterische Schreiben und Lesen als hermeneutisches Prinzip ist mehr als eine kritische (Re-)Lektüre der quantitativen und qualitativen Ergebnisse und ist keineswegs automatischer Bestandteil jeder Inhaltsanalyse. Im Gegenteil: Esoterisches Schreiben und Lesen ist nur dann sinnvoll, wenn für den Forscher nach einer exakten quantitativen und qualitativen Analyse noch offene Fragen bleiben und er feststellt, dass eine abermalige Sichtung des Materials neue Erkenntnisse bringt. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Akteure der Marktkommunikation selektive Wahrheiten als ganze Wahrheit funktionalisieren (vgl. Kapitel 2.2 und 2.3), Strategien der Primärquellenerzeugung anwenden (vgl. Kapitel 2.4) oder den Inhalt durch Geheimnisse (vgl. Kapitel 5.1), Schweigen (vgl. Kapitel 5.2), AgendaSetting (vgl. Kapitel 5.3) und Gerüchte (vgl. Kapitel 5.4) so verändern, dass eine esoterische Prüfung des Textes und des Autors (vgl. Kapitel 5.5) notwendig wird, will der Forscher zur Essenz des Textes vorstoßen und sich nicht mit einer Analyse der Oberfläche bescheiden. Erst durch eine tiefenhermeneutische Interpretation kann bei vielen Texten ihr ganzer Inhalt freigelegt werden; diese Methode erfordert „mehr als nur eine Vertrautheit mit bestimmten Themen und Vorstellungen, wie sie durch literarische Quellen übermittelt wurden“.587 Dafür brauche es neben erlernten Fertigkeiten und autorisierten Wissen auch „synthetische Intuition“,588 wie Panofsky diese wissenschaftliche Tugend nennt. Eine esoterische Inhaltsanalyse erfolgt erst als Synthese der vorhergehenden zwei Schritte. Als dritte Stufe hält die zetetische Hermeneutik an einem ahistorischen Vernunftbegriff fest, der sich dem Streben nach Wahrheit verpflichtet fühlt. Panofsky warnt freilich davor, die unvermeidlich subjektiven Schlussfolgerungen des esoterischen Schreibens und Lesens als Allheilmittel zu betrachten, da die synthetische Intuition immer auch von der Psychologie und der Weltanschauung des

586 Panofsky, Erwin: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 2002, S. 50. 587 Panofsky, Erwin: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 2002, S. 47. 588 Panofsky, Erwin: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 2002, S. 48.

Die Bedeutung des esoterischen Schreibens

Interpreten geprägt werde. Daher sind auch quantitative und qualitative Verfahren unerlässlich – als Korrektiv und Kontrolle für die esoterische Methode. So wie sich computerunterstützte oder vollautomatisierte Textanalysen oft in unergiebiger Erbsenzählerei erschöpfen und auf eine gänzlich falsche Spur führen können, bergen auch esoterisches Schreiben und Lesen ein vielfältiges methodeninhärentes Fehlerpotenzial. Wer esoterisch liest, benötigt also nicht nur eine genaue Kenntnis von Methodik sowie Hypothesen- und Kategorienbildung quantitativer und qualitativer Textauslegungsverfahren, sondern neben Fingerspitzengefühl auch eine skeptische Grundhaltung. Warum und mit welchem Interesse wurde ein Text geschrieben? Welchen Sachverhalt will ein Text verdunkeln oder aufdecken? Warum werden manche Argumente betont und manche verschwiegen? Die Publikationskanäle werden im Monopolkapitalismus weltweit von wenigen Daten- und Wissenskonzernen kontrolliert, die als Gatekeeper des 21. Jahrhunderts darüber entscheiden, was, wie (mit welcher Reichweite) und wo veröffentlicht wird. Abseits einer allgegenwärtigen Rhetorik der Freiheit hat sich längst eine liberale Zensur etabliert, die sperrige und nicht als marktgängig kategorisierte Bücher von vornherein aussortiert. Solche Texte inmitten der digitalen Müllhalden zu finden, braucht Zeit, Wissen, Geduld, Hartnäckigkeit und Leidenschaft. Diese – für das Verständnis der Kulturgeschichte grundlegenden – Texte aufzustöbern und sie gemeinsam mit den offiziellen (von den Datenkonzernen legitimierten) Texten aufbauend auf einer Inhaltsanalyse esoterisch zu lesen, heißt, dem Forscher und dem Rezipienten gleichermaßen ein emanzipatorisches Werkzeug an die Hand zu geben, mit dem er Schneisen durch das digitale Dickicht schlagen kann. Mit diesem antiken Lektüreschlüssel gibt es ein kulturgeschichtlich erprobtes Analyseinstrument, mit dem der Rezipient die zweite Höhle – unterhalb der platonischen – von Aufklärung und Digitalisierung hinter sich lassen kann. Esoterisch denken und forschen bedeutet also, einen impliziten Text zur Kolonisierung der Lebenswelt durch eine totalitäre Ökonomie zu schreiben, der uns hilft, das Menschliche inmitten von Big Data zu finden und an ihm festzuhalten.

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8.

Literatur

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Literatur

Loenhoff, Josef (Hg.): Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, Weilerswist 2012 Loseff, Lev: On the Beneficence of Censorship. Aesopian Language in Modern Russian Language, München/Berlin/Washington D.C. 1984 Lovink, Geert: Die Gesellschaft der Suche. Fragen oder Googeln, in: Becker, Konrad/Stalder, Felix (Hg.): Deep Search. Politik des Suchens jenseits von Google, Innsbruck/Wien/Bozen 2009, S. 53–63 Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, London 2000 (Reprint der Berliner Erstausgabe von 1923) Lury, Celia: Consumer Culture, Cambridge 1996 MacCormick, John: Nine Algorithms That Changed the Future. The Ingenious Ideas That Drive Today’s Computers, Princeton 2012 Magauer, Hanna: Post-Internet. Die neue Post-Net-Ordnung, in: Texte zur Kunst. The Canon, 25. Jahrgang, 100/2015, S. 105–109 Makropoulos, Michael: Theorie der Massenkultur, München 2008 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Mit Illustrationen von Klaus Waschk. Ausgabe in zwei Bänden, Band 1, Leipzig 2007 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Band 3, Berlin 1978 Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014 McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, London/New York 1964 Melzer, Arthur M.: Esotericism and the Critique of Historicism, in: The American Political Science Review, Band 100, 2/2006, S. 279–295 Melzer, Arthur: On the Pedagogical Motive for Esoteric Writing, in: Journal of Politics, Band 69, 4/2007, S. 1015–1031 Menke, Christoph: Ein anderer Geschmack. Weder Autonomie noch Massenkonsum, in: Texte zur Kunst, 19. Jahrgang, 75/2009, S. 38–46 Merten, Klaus: Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis, Opladen 1995 Merten, Klaus: Zur Theorie des Gerüchts, in: Publizistik. Vierteljahreshefe für Kommunikationsforschung, 54. Jahrgang, 1/2009, S. 15–42 Merten, Klaus: Determinanten des Issue Managements: Paradigma strategischer Public Relations, in: Röttger, Ulrike (Hg.): Issue Management. Theoretisches Konzept und praktische Umsetzung. Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2001, S. 41–57 Michéa, Jean-Claude: Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft, Berlin 2014 Mirowski, Philip: Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist, Berlin 2015 Misik, Robert: Politik der Paranoia. Gegen die neuen Konservativen, Berlin 2009 Moreno, Jacob Levy: Die Grundlagen der Soziometrie, Wege zur Neuordnung der Gesellschaft, Opladen 1974 Moser-Sollmann, Christian: Der Flyer – innovatives Kommunikationstool der Rave- und Clubkultur, Wien 1998

Literatur

Moser-Sollmann, Christian: Image und Popkultur - Imagedifferenzen als vorherrschendes Narrativ der Popmusik der neunziger Jahre?, Wien 2000 Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Göttingen 2016 Neidhardt, Friedhelm: Einleitung. Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, in: Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 34), Opladen 1994, S. 7–41 Neubauer, Hans-Joachim: Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin 2009, S. 12 Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. Kritische Studienausgabe, Band 1, München 1999, S. 873–890 Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale, Frankfurt a.M./Berlin 1989 Noelle-Neumann, Elisabeth/Schulz, Winfried/Wilke, Jürgen (Hg.): Fischer Lexikon. Publizistik Massenkommunikation, Frankfurt a.M. 1997 Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung, in: Jarren, Otfried/Sarcinelli, Ulrich/ Saxer, Ulrich (Hg.): Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 81–94 Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften: Kunstmarkt, 17. Jahrgang, 2&3/ 2006 Panofsky, Erwin: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 2002 Patterson, Annabel: Fables of Power. Aesopian Writing and Political History, Durham/ London 1991 Patterson, Annabel: Reading between the Lines, London 1993 Patzelt, Werner J.: Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriß des Faches und studienbegleitende Orientierung, Passau 2001 Peters, Bernhard: Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinungen, soziale Bewegungen (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 34), 1994, S. 42–76 Planck, Max: Wissenschaftliche Selbstbiographie, Leipzig 1967 Platon: Menon, in: Sämtliche Werke, Band 1, Reinbek bei Hamburg 2015 Platon: Der Staat, Ditzingen 2016 Plutarch: Über die Schwatzhaftigkeit, in: Plutarch: Vermischte Schriften, Band 2, München/ Leipzig 1911, S. 213–245 Plutarch: Die Kunst zu leben, Frankfurt a.M./Leipzig 2000 Polanyi, Michael: Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 2016 Pollak, Michael: Paul F. Lazarsfeld – Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns, in: Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien 2008 S. 157–193 Poschardt, Ulf: DJ Culture. Diskjockeys und Popkultur, Reinbek bei Hamburg 1997

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Literatur

Prokop, Dieter: Das Nichtidentische der Kulturindustrie. Neue kritische Kommunikationsforschung über das Kreative der Medien-Waren, Köln 2005 Pryde, Josephine: Das Individuum, in: Texte zur Kunst. The Canon, 25. Jahrgang, 100/2015, S. 110–113 Pürer, Heinz: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch, Konstanz 2003 Regenbogen, Armin/Meyer Uwe (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998 Reynolds, Henry: Mythomystes, in: Spingarn, Joel Elias (Hg.): Critical Essays of the Seventeenth Century Band 1. 1605–1650, Oxford 1908 (Reprint 2010), S. 141–179 Rieder, Bernhard: Demokratisierung der Suche. Von der Kritik zum gesellschaftlich orientierten Design, in: Becker, Konrad/Stalder, Felix (Hg): Deep Search. Politik des Suchens jenseits von Google, Innsbruck/Wien/Bozen 2009, S. 150–169 Rieder, Bernhard/Rohle, Theo: Digital Methods. From Challenges to Bildung, in: Schäfer, Mirko Tobias/van Es, Karin (Hg.): The Datafied Society. Studying Culture through Data, Amsterdam 2017, S. 109–124 Robinson, Cedric J.: Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill/London 2000 Ronneberger, Franz/Rühl, Manfred: Theorie der Public Relations. Ein Entwurf, Opladen 1992 Rose, Tricia: Black Noise. Rap Music and Black Culture in Contemporary America, Middletown 1994 Rose, Tricia: The Hip Hop Wars. What We Talk About When We Talk About Hip Hop – And Why It Matters, New York 2008 Ross, Andrew: No Respect. Intellectuals & Popular Culture, New York/London 1989 Rössler, Patrick: Themen der Öffentlichkeit und Issues Management, in: Bentele, Günter/ Fröhlich, Romy/Szyszka, Peter (Hg.): Handbuch der Public Relations. Wissenschaftliche Grundlagen und berufliches Handeln. Mit Lexikon, Wiesbaden 2008, S. 362–378 Ruisinger, Dominik/Jorzik, Oliver: Public Relations. Leitfaden für ein modernes Kommunikationsmanagement, Stuttgart 2008 Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. Band 1, A–N, Hamburg 1999 Schenk, Michael: Medienwirkungsforschung, Tübingen 2002 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Philosphie Platons, Hamburg 1996 Schmelling, Michael/Sanneh, Kelefa/Welch, Will: Atlanta. Hip-Hop and the South, San Francisco 2010 Schmid, Ingrid A./Wünsch, Carsten: Definition oder Intuition? Die Konstrukte „Information“ und „Unterhaltung“ in der empirischen Kommunikationsforschung, in: Wirth, Werner/Lauf, Edmund (Hg.): Inhaltsanalyse. Perspektiven, Probleme, Potentiale, Köln 2001, S. 31–48 Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2015 Scholz, Oliver R.: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt a.M. 2016

Literatur

Schopenhauer, Arthur: Die Kunst, Recht zu behalten, Frankfurt a.M. u. a. 1995 Schröder, Winfried (Hg.): Reading Between the Lines. Leo Strauss and the History of Early Modern Philosophy, Berlin u. a. 2015 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung, Freiburg/München 1976 Schwiesau, Dietz/Ohler, Josef: Die Nachricht in Presse, Radio, Fernsehen, Nachrichtenagentur und Internet. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, München 2003 Scott, James C.: Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts. New Haven/ London 1990 Shipton, Alyn: New History of Jazz. Revised an Updated Edition, London/New York 2007 Sigal, Leon V.: Reporters and Officials. The Organization and Politics of Newsmaking, Lexington, Massachusetts/Toronto/London 1973 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band II, Frankfurt a.M. 1992 Slater, Don: Consumer Culture & Modernity, Cambridge 1997 Sommer, Volker: Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, München 1992 Sontag, Susan: Against Interpretation, London 1994 Speier, Hans: The Truth in Hell and Other Essays on Politics and Culture, 1935–1987, New York/Oxford 1989 Spiegel, André: Die Befreiung der Information. GNU, Linux und die Folgen, Berlin 2006 Spingarn, Joel Elias: Critical Essays of the Seventeenth Century, Band 1, 1605–1650, Oxford 1908 (Reprint 2010) Stecker, Robert: Value in Art, in: Levinson, Jerrold (Hg.): The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford/New York 2003, S. 307–324 Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, Ditzingen 2016 Stockburger, Axel: Manifold Destiny. Tracing Canonisation from Antiquity to Digital Culture, Wien 2016 Strauss, Leo: Persecution and the Art of Writing, Chicago/London 1988 Strauss Leo: Exoteric Teaching, in: Strauss, Leo: The Rebirth of Classical Political Rationalism. An Introduction to the Thought of Leo Strauss, Chicago/London 1989, S. 63–71 Strauss, Leo: Gesammelte Schriften. Band 3. Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften, Stuttgart/Weimar 2001 Strauss, Leo: Gesammelte Schriften. Band 1. Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften, Stuttgart/Weimar 2008 Strauss, Leo/Kojève, Alexandre/Kittler, Friedrich: Kunst des Schreibens, Berlin 2009 Strauss, Leo: Gesammelte Schriften. Band 2. Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften, Stuttgart/Weimar 2013 Strauss, Leo: On Tyranny. Corrected And Expanded Edition, Including The Strauss-Kojève Correspondence, Chicago 2013

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Literatur

Striphas, Ted: Algorithmic Culture, in: European Journal of Cultural Studies 18, 4–5/2015, S. 395–412 Tanguay, Daniel: Leo Strauss: An Intellectual Biography, New Haven/London 2011 Taubes, Jacob: Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft. Gesammelte Aufsätze zur Religions- und Geistesgeschichte, München 2007 Taubes, Jacob: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 2011 Taubes, Jacob: Apokalypse und Politik. Aufsätze, Kritiken und kleinere Schriften, München 2017 Tenbruck, Friedrich H.: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Graz 1984 Texte zur Kunst: The Canon, 25. Jahrgang, 100/2015 Thomas von Aquino: Summe der Theologie. Band 2, Die sittliche Weltordnung, Stuttgart 1985 Toffler, Alvin: Future Shock, New York 1970 Toland, John: Clidophorus, or: Of The Exoteric and Esoteric Philosophy, London 1720 Toop, David: Rap Attack #3. African Jive bis Global HipHop, Höfen 2000 Trawny, Peter: Adyton. Heideggers esoterische Philosophie, Berlin 2010 Van Dijck, José: Datafication, Dataism and Dataveillance: Big Data between Scientific Paradigm and Ideology, in: Surveillance & Society 12, 2/2014, S. 197–208 Vasari, Giorgio: Künstler der Renaissance. Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance, Berlin 1923 Venkatesh, Sudhir Alladi: Off the Books. The Underground Economy of the Urban Poor, Cambridge/London 2008 Verlan, Sascha: Rap-Texte. Texte und Materialien für den Unterricht, Stuttgart 2012 Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 2004 Voegelin, Eric: Realitätsfinsternis, Berlin 2010 Voegelin, Eric: Die Natur des Rechts, Berlin 2012 Voegelin, Eric/Strauss, Leo: Glaube und Wissen. Der Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Leo Strauss von 1934 bis 1964, München 2010 Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010 Von Foerster, Heinz/Pörksen, Bernhard: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, Heidelberg 2016 Von Ranke, Leopold: Über die Epochen der neueren Geschichte, München 1971 Von Samsonow, Elisabeth/Sloterdijk, Peter (Hg.): Giordano Bruno. Ausgewählt und vorgestellt von Elisabeth von Samsonow, München 1995 Wagner, Hans: Kommunikationswissenschaft – ein Fach auf dem Weg zur Sozialwissenschaft. Eine wissenschaftsgeschichtliche Besinnungspause, in: Publizistik. Vierteljahreshefe für Kommunikationsforschung, 38. Jahrgang, 4/1993, S. 491–526 Wagner, Manfred: Stoppt das Kulturgeschwätz! Eine zeitgemäße Differenzierung von Kunst und/oder Kultur, Wien/Köln/Weimar 2000

Literatur

Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a.M. 1977 Weizenbaum, Joseph/Wendt, Gunna: Wo sind sie die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? Auswege aus der programmierten Gesellschaft, Freiburg im Breisgau 2006 Wirth, Werner/Lauf, Edmund (Hg.): Inhaltsanalyse. Perspektiven, Probleme, Potentiale, Köln 2001 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a.M. 1963 Wyss, Beat: Die Welt als T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichte der Medien, Köln 1997 Zerfaß, Ansgar/Welker, Martin/Schmidt, Jan (Hg.): Kommunikation, Partizipation und Wirkungen im Social Web. Grundlagen und Methoden. Von der Gesellschaft zum Individuum, Köln 2008 Weiterführende Literatur zum esoterischen Schreiben und Lesen Cicero: De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut und das größte Übel, Ditzingen 2015 Crosson, Frederick J: Esoteric versus Latent Teaching: in: The Review of Metaphysics, a philosophical quarterly 59/2005–2006, S. 73–93  Ferber, Rafael: Warum hat Platon die „ungeschriebene Lehre“ nicht geschrieben?, München 2007 Gabriel, Gottfried (Hg.): Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990 Gaiser, Konrad: Platonische Dialektik – damals und heute, in: Gymnasium: Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung, Heft 9, Antikes Denken – Moderne Schule, Heidelberg 1988, S. 77–107 Gellius, Aulus: Die attischen Nächte. Zwei Bände, 1875–1876, Nachdruck WBG, Darmstadt 1981 Iamblichos: Pythagoras. Legende – Lehre – Lebensgestaltung, Zürich und Stuttgart 1963 Jordan, Mark D: Esotericsm and Accessus in Thomas Aquinas, in: Philosophical Topics, Band 20, 2/1992, S. 35–49 Krämer, Hans: Kritik der Hermeneutik. Interpretationsphilosophie und Realismus, München 2007 Krämer, Hans Joachim: Arete bei Platon und Aristoteles,. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Philosophie, Heidelberg 1959 Lefèvre, Eckard: Cicero als skeptischer Akademiker. Eine Einführung in die Schrift Academici libri, in: Gymnasium: Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung, Heft 9, Antikes Denken – Moderne Schule, Heidelberg 1988, S. 108–132 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Siebenter Band. Theologiekritische Schriften I und II, München 1976 Lukian: Die Versteigerung der philosophischen Sekten, in: Lukian. Werke in drei Bänden, Band 1, Berlin 1981, S. 211–229

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Literatur

Mulsow, Martin: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Band 1, Moderne aus dem Untergrund, Göttingen 2018 Mulsow, Martin: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Band 2, Clandestine Vernunft, Göttingen 2018 Plutarch: Alexander Caesar, Reclam 1986 Szlezák, Thomas Alexander: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil 1, Berlin/ New York 1985 Szlezák, Thomas Alexander: Platon lesen, Stuttgart 1993 Trawny, Peter: Adyton. Heideggers esoterische Philosophie, Berlin 2015 Weichert, Ulrike: „Von der Geschichte zur Natur“ – Die Politische Hermeneutik von Leo Strauss, Berlin 2013 Yaffe, Martin D./Rudermann, Richard S. (Hg.): Reorientation. Leo Strauss in the 1930s, New York 2014 Zagorin, Perez: Ways of Lying. Dissimulation, Persecution, and Conformity in Early Modern Europe, Cambridge Massachusetts 1990 Onlinequellen Davies, William: The Long Read. How Statistics Lost their Power – and why we Should Fear what Comes next, in: https://www.theguardian.com/politics/2017/jan/19/crisis-ofstatistics-big-data-democracy, letzter Zugriff 11.07.2022 Dormal, Michel: Von Gallup zu Big Data. Rekonstruktion und Neujustierung der Debatte über Meinungsforschung und Demokratie., in: Zeitschrift für Politikwissenschaft (2021) https://doi.org/10.1007/s41358-021-00252-9, letzter Zugriff 11.07.2022 Drösser, Christoph: Zahlenschwindel, in: http://www.zeit.de/2002/18/200218_stimmts_ churchill.xml, letzter Zugriff 11.07.2022 Groys, Boris: Die Wahrheit der Kunst, in: https://www.nzz.ch/feuilleton/kunst_architektur/ boris-groys-ueber-kunst-die-wahrheit-der-kunst-ld.110732, letzter Zugriff 11.07.2022 Havemann, Frank: Einführung in die Bibliometrie, in: http://www.wissenschaftsforschung.de/Havemann2009Bibliometrie.pdf, letzter Zugriff 11.07.2022 Kriesel, David: Spiegelmining. Vortrag beim Chaos Communication Congress am 28. Dezember 2016 in Hamburg, in: http://www.dkriesel.com/_media/blog/2016/spiegelmining33c3-davidkriesel.pdf, letzter Zugriff 11.07.2022 Ofcom: Children and Parents: Media Use and Attitudes Report 2015, in: https://www.ofcom. org.uk/research-and-data/media-literacy-research/childrens/children-parents-nov-15, letzter Zugriff 11.07.2022 Österreichischer Presserat: Ehrenkodex des österreichischen Presserates, in: http://www. presserat.at/show_content.php?hid=2, letzter Zugriff 11.07.2022 PRVA-Ethikrat: PR-Online-Kodex des PRVA Ethikrates, in: http://www.prethikrat.at/pronline-kodex, letzter Zugriff 11.07.2022

Literatur

Public Relation Verband Österreich: Ehrenkodex des PRVA, in: https://prva.at/itrfile/_1_/ d4d06c40110d731e9b73df17cddf9c00/20170323_Ehrenkodex%20des%20PRVA.pdf, letzter Zugriff 11.07.2022 Rieder, Bernhard: What is in PageRank? A Historical and Conceptual Investigation of a Recursive Status Index, in: Computational Culture. A Journal Of Software Studies, Issue 2, http://computationalculture.net/what_is_in_pagerank, letzter Zugriff 11.07.2022 Stanford History Education Group: Evaluating Information: The Cornerstone of Civic Online Reasoning, in: https://sheg.stanford.edu/upload/V3LessonPlans/Executive%20Summary%2011.21.16.pdf, letzter Zugriff 11.07.2022

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9.

Personenregister

A Adorno, Theodor W. 22, 103, 109–112 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 132–133 Anderson, Chris 98–100 Äsop 168–170 Assmann, Aleida 135

F Felsch, Philipp 103, 104 Fichte, Hubert 165–167 Fleck, Christian 105 Foucault, Michel 18, 104, 135 Frank, Thomas 19 Frazer, Michael L. 149–151

B Bacon, Franics 34 Barbrook, Richard 93 Barthes, Roland 104, 135 Benjamin, Walter 22, 198 Berelson, Bernard 119–121 Bernays, Edward 53–55, 74 Bias von Priene 136 Blau, Adrian 155, 156 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 46 Bongard, Willi 82 Bruno, Giordano 28–31 Buchanan, Patrick J. 79 Bunz, Mercedes 89

G Gadamer, Hans-Georg 10 Gates, Henry Louis 184, 185 Gehlen, Arnold 22, 137–139 Girtler, Roland 189 Goethe, Johann Wolfgang 135 Graw, Isabelle 80 Grossberg, Lawrence 31–33 Groys, Boris 57, 85, 86

C Childs, Harwood L. 36 Cohn, Nik 174–178, 193 Culianu, Ioan Petru 27–30 D Domsich, Johannes 101, 102 E Eagleton, Terry 104 Ellul, Jacques 41 Enzensberger, Hans Magnus 73 Epiktet 60

H Habermas, Jürgen 34, 37, 58, 153 Hachmeister, Lutz 89–94 Hari, Johann 172 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 152, 169, 186 Heidegger, Martin 13, 124 Hirst, Damien 79 Hobbes, Thomas 45–47, 51, 52, 64 Hölscher, Lucian 128–130 Holsti, Ole R. 121 I ibn Mūsā al-Khwārizmī, Abū Jafar Muh.ammad 95 Ice-T 195

Personenregister

J James, Henry 165, 166 Jung, Matthias 124, 125 K Kesting, Hanno 34, 37 Kinzel, Till 150, 151 Kitchin, Rob 99 Kittler, Friedrich 34, 104 Kojève, Alexandre 45–47, 148, 163 Kondylis, Panajotis 20–24 Koselleck, Reinhart 130, 131 Kracauer, Siegfried 120, 121 Kurz, Robert 27 Kurzweil, Ray 93 L Lazarsfeld, Paul Felix 106–111 Lessing, Gotthold Ephraim 49, 50 Lil Wayne 195 Locke, John 130 Lukács, Georg 22 LX 189 M Magauer, Hanna 85 Makropoulos, Michael 26, 27 Marx, Karl 22, 52 Mbembe, Achille 15–18 Melzer, Arthur M. 147, 154, 159–162 Merten, Klaus 117–123, 145 Michéa, Jean-Claude 19–21 Migos 195 Moreno, Jacob 97, 98 N Neubauer, Hans-Joachim 143, 144 Nietzsche, Friedrich 62 Noelle-Neumann,Elisabeth 64, 65, 138–140

P Panofsky, Erwin 200 Patterson, Annabel 162–170 Planck, Max 52 Platon 48–51, 85, 148, 159, 164, 169, 199 Plutarch 136, 137, 143 Pryde, Josephine 87 Public Enemy 183 Pürer, Heinz 64, 116 R Rand, Ayn 92 Ranke, Leopold 152 Reagan, Ronald 25, 79, 171, 178 Reynolds, Henry 133, 134 Rieder, Bernhard 96, 112 S Schelsky, Helmut 21 Schenk, Michael 140–142 Schleiermacher, Friedrich 199 Scholz, Oliver R 125–127 Scott, James C. 179–186 Sethe, Paul 38 Shipton, Alyn 181, 182 Simmel, Georg 127 Stirner, Max 40 St. John, Henry 38 Stockburger, Axel 87, 88 Strauss, Leo 10, 11, 44–54, 56, 61, 64, 104, 127, 149–158, 162, 163, 169, 170, 199 T Taubes, Jacob 15, 127, 164 Thatcher, Margaret 25, 79 V Venkatesh, Sudhir 175, 176 Voegelin, Eric 13, 113, 154 Vogl, Joseph 16

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Personenregister

W Weizenbaum, Joseph 9, 10 Wittgenstein, Ludwig 138, 139 Wu, Chin-tao 79

Z Zenon von Elea

136

10. Sachregister

A Administrative Forschung 107, 109 Agenda-Setting 14, 140–143 Algorithmen 95, 97, 100 Allegorese 125 Allegorie 161, 199 Alleinstellungsmerkmal 56 Ambiguität 160 Ancien Régime 20, 38 Archiv 57, 65, 85, 135 Äsopische Sprache 168 Asset-Inflation 19 Ästhetik 27, 85, 135, 172 Ästhetisierung 27 Aufmerksamkeit 56, 60, 140–142, 151 Authentizität 68 Autor 82, 97, 106, 123, 138, 141, 144, 155, 157–161, 164–170 B Bewusstseinsindustrie 29, 101 Bibliometrie 97, 98 Big Data 13, 74, 98–101, 201 Buchdruck 125, 132, 133, 144 C Celebrity-Kultur 80 Computational Turn 98–120 Conditio Nigra 17 Cypher 183 D Data-Mining 100 Dethematisierung 138, 147 Dialektik 183 Dialogverweigerung 139

Digitalkopie 91 Disambiguierungsroutine 119 Diskursanalyse 123 Disruption 89–116 Doppelcodierung 134, 179 Drill 193 E Einbildungskraft 29 Eros 29–31 Erzählperspektive 176, 183 Esoterik 14, 51, 147–169, 199 Exoterik 51, 151 Experte 12, 31, 35, 53, 66, 69, 75, 88 F Fabel 168–170, 185 Fake 11, 94, 145, 187 Fantasie 29–31, 102, 198 Feldforschung 71 Framing 99, 140, 141, 142 Fußnotenapparat 66, 156 G Gangsta-Rap 171, 178 Gatekeeper 12, 35, 88, 91, 163, 201 Gebrauchswert 22, 27, 80, 82, 115 Gegenöffentlichkeit 43, 44, 131 Geheimnis 50, 70, 123, 127–136,137, 200 Geheimniskultur 133 Gemeinwohlorientierung 55, 75 Gerücht 123, 143–146, 179, 200 Gewaltmonopol 43 Ghetto 175–179, 192 Glaubwürdigkeit 55–62, 75, 122 Googlearchy 96

222

Sachregister

Greenwashing 55 Gullah 181–184 H Happy Few 85 Hermeneutik 113, 115, 123–127, 135, 155, 156, 200 High-Frequency-Trading 16 Hip-Hop 171–198 Historismus 151, 152 Hustler 186, 192 I Identität 29, 118 Informant 69, 70 Information 70, 77, 85, 91, 95–97, 102 Informationsdesign 73, 76 Informelle Ökonomie 175 Interpretationsprinzipien 124–126 Intertextualität 184, 187 Isolation 138, 139 J Jargon 171, 183, 189 Jive Talk 182 K Kalifornische Ideologie 93 Kanon 85–88, 103 Kasusabbau 190 Konsumgesellschaft 12, 22–32, 58, 84 Konsummonaden 12, 41, 102 Konsumpluralismus 31 Kunstmarkt 79–85 L Legitimationswissenschaft 53, 54 Lektüreschlüssel 11, 201 Liberalismus 17–22, 40, 129, 147, 172, 192, 195–197 Libertas philosophandi 56

Lingua franca 171 Literaturverzeichnis 66 Lüge 48–51, 61–63, 144, 148, 166 M Machtpolitik 20 Magie 28–31, 132 Mainstream 71, 94, 108, 115, 139 Manipulation 28–31, 42, 53, 72, 76 Massendemokratie 21, 28, 33, 147, 150 Materialhuberei 13 Meinungsklima 35, 139 Menon-Paradox 164 Menschenbild 31, 52, 114 Metapher 34, 50, 63, 101, 135, 161, 184, 188, 199 Methodenstreit 99, 105, 113 Mittelstandsgesellschaft 21 Monadisierung 27 Mündigkeit 48, 114 N Narrativ 188, 196 Naturrecht 47, 56, 150, 153, 154 Naturzustand 52, 57, 130 Nichtidentität 118 Noble Lüge 50, 61, 148 Nutzungsverhalten 101 „Nigga“ 177, 191, 192, 197 N-Wort 192 O Öffentliche Meinung 24, 34–41, 139 Ordnungswissenschaft 114 Orthodoxie 45, 154 Owned Media 57, 75 P PageRank 96 Perspektivenwechsel 13 Phantasmagorie 22

Sachregister

Philosophia perennis 46, 155 Polysemie 161, 181, 187 Positivismus 101, 110–114, 164 Positivismusstreit 105, 111, 112 Postfordismus 24 Post-Internet 85 Postmaterialismus 54 Presseaussendung 124 Priming 141 Prinzip des opportunen Zeugen 63, 76 Product-Placement 173 Propaganda 28, 37–43, 55–57, 73, 116, 144 Pseudoereignis 56, 74

Statistik 63, 72–74, 121, 142, 173 Suchmaschine 59, 89, 95, 98 Südstaaten-Rap 193 Sujet 79, 144, 200 Synkretismus 172 Synthetische Intuition 200

Q Quellenkritik 64–68, 76 Quellenkunde 57, 65

T Tea Party 31–33 Technikdeterminismus 9 Technikeuphorie 95 Think Tanks 33, 53, 59, 70, 71 Third Party 63, 75 Transhumanismus 93 Transkript 179–181 Transparenz 35, 63, 82, 94, 128, 136, 146 Trap 178, 194 Trickster 185, 186

R (Re-)Lektüre 151, 200 Reaganomics 25 Rufmord 159

U Umfrageforschung 116 Unsichtbare Hand 20, 56 Unterhaltung 9, 119, 188

S Sammler 12, 79, 86–88 Schlaraffenland 11, 101,102 Schwatzhaftigkeit 136, 137, 143 Schweigen 61, 123, 132, 136–140, 150 Selbstbeschränkung 10, 120, 134, 158 Shareholder-Value 26, 31 Signifyin(g) 184, 185 Silicon Valley 89, 92, 93 Σοφία 13 Sorgfaltspflicht 70 Sozialingenieur 28, 108, 110, 111 Soziometrie 97, 98 Sprachstrategie 171, 184, 189

V Verschweigen 61, 140 Vorwissen 123, 142, 164 W Wertfreiheit 113 Wettbewerbsstaat 25 Z Zensur 12, 28, 141, 157–170 Zitierhäufigkeit 60 Zwischen-den-Zeilen-Lesen 13, 47, 127, 141, 158, 163

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