Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts [1 ed.] 9783428492206, 9783428092208

Rechtsregeln sorgen dafür, daß menschliches Handeln voraussehbarer wird. Aus ökonomischer Sicht sollten sie außerdem die

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German Pages 188 Year 1998

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Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts [1 ed.]
 9783428492206, 9783428092208

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MATTHIAS LEDER

Die siebtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts

Schriften zur wirtschaftswissenschaftlichen Analyse des Rechts herausgegeben von

Heinz Grossekettler, Münster · Bernhard Großfeld, Münster Klaus J. Hopt, Harnburg · Christian Kirchner, Berlin Dieter Rückle, Trier · Reinhard H. Schmidt, Frankfurt/Main

Band 33

Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts

Von

Mattbias Leder

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Leder, Matthias: Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts I von Matthias Leder. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zur wirtschaftswissenschaftlichen Analyse des Rechts ; Bd. 33) Zugl.: Saarbrücken, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09220-1

Alle Rechte vorbehalten

© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5065 ISBN 3-428-09220-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Geleitwort Mit der Evolution von Recht befassen sich seit längerem Rechtswissenschaftler, Soziologen und Historiker. Nun melden sich auch die Ökonomen zu Wort. Im Rahmen der ökonomischen Analyse des Rechts wird die Frage untersucht, ob und wie Recht zu effizientem Recht evolviert. Dieser Frage ist bisher allerdings nur in vereinzelten Artikeln nachgegangen worden. Die vorliegende Arbeit von Mattbias Leder stellt die erste umfassende Auseinandersetzung mit der Thematik dar; und zwar behandelt sie das Recht der unerlaubten Handlungen. M. Leder unterscheidet im 1. Teil seiner Arbeit zwei Arten von Modellen: Unsichtbare-Hand-Modelle und Sichtbare-Hand-Modelle. Bei ersteren ist das Resultat der Evolution in Gestalt von Rechtsregeln zwar das Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht Ergebnis menschlichen Entwurfs. Gerichtsurteile hängen von einem Zufallsmechanismus ab. Bei den Sichtbaren-Hand-Modellen ist die Entwicklung des Rechts das Ergebnis von "echten" Entscheidungen der Richter, die bemüht sind, effizientes Recht zu schaffen. Es zeigt sich, daß effizientes Recht nur im Ausnahmefall zu erwarten ist. Der Wert des 1. Teils der Arbeit besteht in dem klar gegliederten und verständlichen Überblick über den Stand der Literatur und in der Entwicklung eines eigenen umfassenderen Modells auf spieltheoretischer Grundlage. Von noch größerem Wert dürfte jedoch der zweite Teil der Arbeit sein, der sich mit der "stare decisis" Doktrin beschäftigt, nach der Richter ihre Entscheidungen an Präzedenzfällen ausrichten müssen. Hier werden erstmalig präzis Richter als eingeschränkt rationale Entscheider modelliert, und es wird gezeigt, daß "stare decisis" als Entscheidungsregel die Qualität der Entscheidungen verbessert. Unter Rückgriff auf Ronald A. Heiners Theorie "imperfekter Entscheidungen" wird eine neuartige und beeindruckende ökonomische Rechtfertigung für diese Doktrin geliefert. Der Verfasser leitet unter der Annahme eingeschränkter Rationalität der Richter das Ergebnis ab, daß Richter, die Informationen über die Veränderungen von Umweltdaten nur unvollkommen verarbeiten, gesellschaftlich suboptimale Sorgfaltsstandards aufstellen würden, wenn sie sich trotz ihrer eingeschränkten Informationsverarbeitungsfähigkeiten sofort an Umweltveränderungen anpassen würden. M. Leder zeigt am Beispiel der Verschuldenshaftung mit der Einrede der Fahrlässigkeit des Geschädigten, daß eine verzögerte Anpassung der Vorsichtsmaßstäbe die Wohlfahrt der Gesellschaft steigert. "Stare deci-

6

Geleitwort

sis" hat genau diese Eigenschaft der Verzögerung der Anpassung an Umweltänderungen. Die vorliegende Arbeit stellt einen grundlegenden Beitrag zur ökonomischen Analyse der Rechtsevolution dar, der nicht nur den Ökonomen interessieren dürfte, sondern auch den einschlägig arbeitenden Rechtswissenschaftler, Soziologen und Historiker. Saarbrücken, im November 1997 Dieter Schmidtchen

Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Recht, Rationalität und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Gang der Untersuchung . .. . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. .

9 13

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law . . . . . . .

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2.1 Der Common Law Process als ein effizienter unsichtbarer HandMechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Grundmodell: Rubin . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.1 Modelldarstellung . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 2.1.1.2 Modellkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Gradueller Präzedenzwandel: Landes/Posner . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.1 Modelldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.2 Modellkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Teilspielperfekte Gleichgewichte: Leder/Koboldt/Schrnidtchen . 2.1.3.1 Modelldarstellung . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 2.1.3.2 Modelldiskussion.... .... ..... ..... .... ...... ...... . . 2.1.4 Rechtsevolution als ein Markoffscher Prozeß: Priest . . . . . . . . . . . 2.1.4.1 Modelldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4.2 Modellkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Gerichtskosten als endogene Variable: Goodman . . . . . . . . . . . . . .

20 21 21 27 35 35 40 44 45 55 56 56 59 63

2.2 Effizientes Common Law als Ergebnis eines Selektionsprozesses? . . . . 65 2.2.1 Der Mythos vom Herausbilden des effizienten Rechts . . . . . . . . . . 66 2.2.2 Effizientes Common Law als Grenzfall eines stochastischen Prozesses: Das Modell von Cooter/Kornhauser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3 Die sichtbare Hand im Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Das Grundmodell: Brown . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Effizienz durch Lernen der Richter: Cooter/Kornhauser/Lane . . . 3.1.3 Berücksichtigung von Anpassungskosten: Blume/Rubinfeld . . . .

76 76 84 89

3.2 Die Grenzen der sichtbaren Hand bei der Schaffung effizienter Rechtsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.2.1 Motivationale Grenzen bei Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.2.2 Richter als unvollkommener Ersatz von Märkten . . . . . . . . . . . . . . 101 3.3 Unsicherheit und Recht als "weiche Handelnsbeschränkung" ...... ... 104

8

Inhaltsverzeichnis

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln: Beherrschung von Verhaltensunsicherheit ........................ :. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.1 Die Kompetenz - Schwierigkeitslücke als Ausdruck von Verhaltensunsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.1.1 Verhaltensunsicherheit in Entscheidungsprozessen . . . . . . . . . . . . . 106 4.1.2 Ursachen von Verhaltensunsicherheit . . ............... .. . . .. .. 116 4.2 Die Befolgung von Entscheidungsregeln - die Theorie von Ronald Heiner ..................................... . ............. . . .. .. 4.2.1 Die Grundlagen . ........................... . ......... . .. . . 4.2.2 Heiners Grundmodell .................. . ............ . . .... . 4.2.3 Ein Anwendungsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.1 Das Problem ................................. . .. . .. . 4.2.3.2 Die Modeliierung ................................... 4.2.4 Resumee ........ . ................... .. ................. . .

122 122 124 128 128 132 137

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin . . . . . . 139 5.1 Die stare decisis-Doktrin: Gründe ihrer Befolgung aus herkömmlicher Sicht ................. ... ............... . ...................... 140 5.2 Imperfekte Entscheidungen im Recht und die Befolgung der stare decisis-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 5.3 Stare decisis als ein Verzögerungsfaktor in Übergangsprozessen ...... 5.3.1 Vorbemerkungen .. .. ............ .. . .. .. . .... . ... .. . .. ... . . 5.3.2 Ergänzungen zum Heiner-Standardmodell .............. . ..... 5.3.3 Verzögerte Anpassung und die Irrelevanz von Verlusten erster Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Verzögerte Anpassung der Vorsichtsmaßstäbe . ................ 5.4 Resumee

149 149 151 152 154

.. . .............................. . . ........... ...... .. 156

6 Zusammenfassung . . .......................... . . ............ .. .. .. . 158 Anhang A: Zum Blume/Rubinfeld-Modell ... ... . . . . . . ... ... .. .. .. . ... . . 161 Anhang B: Beweis von Theorem 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Literaturverzeichnis .... ........... .. .............. . . . ......... .... . .. . 174 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

1 Einleitung "Economically efficient rules enable rational decision makers to disregard the legal implications of their actions and consider only the economic implications. . . . What would the world be like if most laws were based on something other than economic rationality? Decision making would itself be a very costly activity." (Paul Rubin 1980 [148], 325ff.) "[P]redictable features of behaviour do not arise from optimizing with no uncertainty in choosing most preferred behavior ... Rather, predictable behaviour will evolve only to the extent that uncertainty prevents agents from successfully maximizing." (Ronald Reiner 1983 [78], 561)

1.1 Recht, Rationalität und Evolution

Konträre Auffassungen regen zum Nachdenken an und fordern eine Entscheidung zwischen ihnen heraus: Evolviert das Recht so, daß paretasuboptimale Zustände in paretooptimale Zustände transformiert werden, was im folgenden als Streben zu immer höherer Effizienz bezeichnet wird? Strebt Recht insbesondere zu immer höherer Effizienz, weil die wirtschaftlichen Entscheidungsträger so intelligent sind, stets die effiziente Lösung zu realisieren? Oder dient umgekehrt Recht dazu, daß höchst unvollkommene Entscheidungsträger innerhalb des Rechtssystems wie Richter und die an Streitfällen beteiligten Personen ihr Verhalten an Regeln und Prinzipien ausrichten und hierdurch zu zufriedenstellenden Handlungsergebnissen gelangen können? In diesen zwei Fragen wie auch in den beiden Eingangszitaten spiegelt sich das Spannungsfeld wieder, das sich durch die vorliegende Arbeit zieht und beleuchtet werden soll. Es wird damit versucht, einen weitgehend vernachlässigten Aspekt der ökonomischen Analyse des Rechts und der evolutorischen Ökonomik stärker ins Blickfeld zu rücken: die Evolution von Recht in einer Welt von Menschen, die Entscheidungsfehler begehen können. Bislang hat sich die ökonomische Analyse des Rechts vor allem mit der Frage auseinandergesetzt, wie Rechtsregeln ausgestaltet sein müssen, um allokationseffizient zu sein. 1 Dies ist ein sehr wichtiges Anliegen, wenn 1 Als Gesamtüberblicke sind neben dem Standardwerk von Posner (1986) [133] und dem deutschen Lehrbuch von Schäferlütt (1986) [155] die Darstellungen von

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1 Einleitung

man bedenkt, daß auf unserer Welt jährlich mehrere Millionen Menschen hungern müssen. In einer Welt der Knappheit kann Verschwendung von Ressourcen deshalb auch als unmoralisch empfunden werden. 2 Die Verschwendung von Ressourcen, also Allokationsineffizienz, läßt sich zweifellos dadurch reduzieren, daß die Entscheidungsträger bei ihren Entscheidungen einem Spielregelsy.stem folgen, das den wirtschaftlichen Umgang mit knappen Ressourcen belohnt. Allokative Effizienz einer Rechtsregel wird üblicherweise unter der Annahme hergeleitet, daß die handelnden Akteure rational im Sinne der subjektiven Erwartungsnutzentheorie sind, also ihren Erwartungsnutzen maximieren. Eine Rechtsregel ist dann effizient, wenn sie dem Paretakriterium genügt, also kein Individuum besser gestellt werden kann, ohne daß ein anderes Individuum schlechter gestellt wird. Ob eine Regel diesem Anspruch genügt, wird mit Hilfe des Methode der komparativen Statik geprüft. Dies bedeutet, daß unter der Annahme gleicher Nutzenniveaus aller Beteiligten die mit unterschiedlichen Rechtsregeln verbundenen Kosten berechnet und verglichen werden und der Übergang von der Regel mit dem höheren Kostenniveau zur Regel mit dem niedrigeren Kostenniveau empfohlen wird. Was gilt aber für Entscheidungsträger, denen nicht, wie in der herkönunlichen Entscheidungstheorie, die Budgetrestriktion und die zu optimierende Zielfunktion gegeben ist, sondern die sich die hierfür relevanten Daten beschaffen und auswerten müssen? Rittel ist in seiner Diagnose zuzustimmen, wenn er meint: .,[L]eider gibt sie [die herkömmliche Entscheidungstheorie, Anm. von mir, M.L.] keine Antwort darauf, wie man in einem konkreten Fall zu all diesen .,Input-Daten" konunt. ... Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß diese Theorie mit ihren Methoden erst dann einsetzt, wenn die Schwierigkeiten des Entscheidens bereits überwunden sind, wenn die schwerwiegenden Entscheidungen bereits gefällt sind, wenn es .,eigentlich nichts mehr zu entscheiden gibt" (Rittel 1980 [142], 58)? Recht wirkt Polinsky (1983) [131] und Cooter/Ulen (1988) [41] zu nennen. Einen kompakten Überblick über den neuesten Stand der ökonomischen Analyse des Rechts geben Koboldt/LederI Schmidtchen (1994) [ 104]. 2 Vgl. hierzu Schmidtchen (1991) [159], 329. 3 Diese Kritik Ritteis deckt sich praktisch vollkommen mit der Position Schmidtchens, der traditionelle law and economics-Modelle wie folgt charakterisiert: .,Orthodox law and economics models the influence of law on decisions by stating that it generates implicit prices to which rational economic agents optimally adapt. In fact, people here do not really decide but calculate optimal solutions for given decision models (means and ends). The real decisions take place at a different Ievel: in the construction of the set of available options. The real questions for every decision-maker is what the relevant decision model should Iook like. Mainstream law and economics rarely deals with this problem" (Schmidtchen 1993 [124], 77).

1.1 Recht, Rationalität und Evolution

11

nicht nur handlungseinschränkend, sondern erleichtert Richtern in Form von Rechtsinterpretationsregeln und potentiellen Parteien in Form von Rechtsregeln die Aufstellung eines zutreffenden Entscheidungsmodells. "Recht liefert Regeln, auf die die Menschen bei der Konstruktion von individuellen Weltbildern - sprich: die Konstruktion von Entscheidungsmodellen zugreifen können" (Schmidtchen 1991 [159], 339). Bisher steht die Frage, welche Rolle das Recht spielt, wenn die handelnden Akteure keine "kognitiven Supermänner" (Schmidtchen 1991 [159], 335) darstellen, sondern sich bei der Verarbeitung von Informationen irren können und Fehler begehen, nicht im Mittelpunkt der ökonomischen Analyse des Rechts, sondern eher im Blickfeld benachbarter Disziplinen wie der kognitiven Psychologie oder der experimentellen Entscheidungstheorie.4 Dies veranlaSte Ellickson (1989) [53], 23 zur These "that the law and economics movement has been losing its upward trajectory within law schools, and that its practitioners should increasingly Iook to psychology and sociology in order to enrich the explanatory power and normative punch of economic analysis." Der Diagnose von Ellickson wird hier zugestimmt, wonach die Law-and-Economics-Forschungsrichtung in der Vergangenheit Beschränkungen bei der geistigen Verarbeitung von Informationen viel zu wenig Beachtung geschenkt hat. Allerdings wird seiner Therapie, einem Rückgriff auf Psychologie und Soziologie, nur teilweise gefolgt, und Schmidtchens Anregung aufgegriffen, ökonomische Theorien heranzuziehen, da "die Ökonomie alles liefert, was zu einem neuen Aufschwung [der Law-and-Economics-Bewegung, Anm. von mir, M.L.] gebraucht wird".5 Diese Arbeit verfolgt das Ziel, die Evolution von Recht einmal unter der Annahme perfekt rationaler und zum anderen eingeschränkt rationaler Akteure zu analysieren. Im Teil 1 dieser Arbeit (Kapitel 1 - 3) werden deshalb Modelle unter der Annahme perfekter Rationalität und im Teil 2 (Kapitel 4 - 6) unter der Annahme eingeschränkt rationaler Akteure diskutiert. Das relevante Theoriegebäude, mit dem Irrtümer und Informationsverarbeitungsfehler analysiert werden, baut auf den Arbeiten von Ronald Heiner auf. Seit seiner grundlegenden Arbeit im Jahre 1983 hat sich Heiner in einer Vielzahl von Artikeln mit Entscheidungsfehlern auseinandergesetzt und ein theoretisches Instrumentarium zu ihrer Analyse entwickelt. Ent4 Als wichtige Veröffentlichungen, die sich in jüngster Zeit mit Informationsverarbeitungsfehlem im Recht auseinandergesetzt haben, sind zu nennen Hastie (1993) [70], Heiner (1986b) [82], die Symposien "Legal Implication of Human Error" und "Probability and Influence in the Law of Evidence", veröffentlicht in den Zeitschriften "Southern California Law Review" (1986) [178] "Boston University Law Review" (1986) [21] sowie ein Überblicksartikel von Noii/Krier (1990) [124]. 5 Vgl. Schmidtchen (1991) [159], 317.

I Einleitung

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Scheidungsfehler haben nichts mit "imperfect" oder "incomplete information" zu tun, 6 sondern beruhen auf einer Kompetenz-Schwierigkeitslücke (C-D-gap) des Entscheidungsträgers. 7 Eine Kompetenz-Schwierigkeitslücke liegt immer dann vor, wenn die Schwierigkeit eines Problems die Entscheidungskompetenz eines Akteurs überschreitet. Als Beispiel für eine Kompetenz-Schwierigkeitslücke stelle man sich folgende Situation vor: In einer Schulklasse wird eine Mathematikklausur geschrieben. Alle Schüler erhalten dieselbe Aufgabenstellung, d. h. die ihnen gegebene Information ist gleich. Ziel der Klausurteilnehmer ist es, so viele Aufgaben wie möglich richtig zu lösen. Für einen Schüler, der die Klausur fehlerfrei löst, existiert keine Kompetenz-Schwierigkeitslücke im Gegensatz zu allen anderen Schülern, die trotz gleicher gegebener Information Fehler bei deren Verarbeitung begehen, indem sie sich z. B. verrechnen oder nicht einmal auf den Lösungsansatz kommen. Die aus dem Vorliegen einer KompetenzSchwierigkeitslücke resultierende Unsicherheit wird im folgenden als "Verhaltensunsicherheit" bezeichnet. Läßt man zu, daß Individuen keine "Optimierungsmaschinen" sind (Albach 1980 [3], 2) sondern Entscheidungsfehler begehen können, dann gilt zum einen, daß die Entscheidungsfindung selbst ein ökonotnisches Problem darstellt- also entgegen Rubins Vorstellung im Eingangszitat tatsächlich Kosten verursacht. Zum anderen ändert sich aber auch die Beziehung zwischen Rechtsregel und Individuum. Während üblicherweise angenommen wird, daß perfekt rationale Richter dem Recht mittels Wahl effizienter Rechtsregeln die Richtung vorgeben, dient Recht in einer Welt mit unvollkommen rationalen Akteuren als "equilibrierende Kraft" (Schmidtchen 1993 [160], 74) dazu, zur Entdeckung von Planungsirrtümern beizutragen und die Korrektur von Planungsirrtümern zu ermöglichen. Recht als equilibrierende Kraft läßt sich also als ordnungsstiftende Kraft interpretieren (Schmidtchen 1991 [159], 331). Da die Evolution des Rechts nicht im abstrakten Raum diskutiert werden soll, wird eine Eingrenzung wie folgt gezogen: Gegenstand ist das amerikanische Common Law und hier wiederum nur das Recht der unerlaubten Handlung ("tort law") sowie die zivilprozeßrechtliche "stare decisis-Doktrin". Diese Eingrenzung folgt dem Vorgehen der Vertreter der ökonomischen Analyse des Rechts, die sich formal mit der Evolution des Rechts auseinandersetzen8 und dabei überwiegend auf das Recht der unerlaubten Handlung und die stare decisis-Doktrin Bezug nehmen. 6 7

Vgl. auch Schmidtchen (1994) [161], 22. Vgl. Heiner (1983) [78], (1988d), 148.

1.2 Gang der Untersuchung

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So war es Richard Posner, der im Jahr 1972 in seiner mittlerweile zum Standardwerk gewordenen "Economic Analysis of Law" die Hypothese aufstellte, daß das Common Law im Zeitablauf effizient werde. John Prather Brown (1973) [24] formulierte dazu als erster Ökonom ein formales Modell, das sich mit der statischen Effizienz des Common Law im Recht der unerlaubten Handlung befaßte. 1977 war es dann Rubin, der Posners verbal vorgetragene Hypothese aufgriff, wonach die Evolution des Common Law zu immer höherer Effizienz führe, und sie in ein formales Modell überführte. Rubins Modell bezog sich auf einen Fall aus dem Recht der unerlaubten Handlung ebenso wie die auf Rubin aufbauenden Modelle. Die Doktrin "stare decisis", die im 3. und 5. Kapitel eingehend erörtert wird, ist eine der wichtigsten zivilprozessualen Doktrinen des anglo-amerikanischen Common Law. Sie besagt, "daß im Rahmen eines souveränen Jurisdiktionsbereichs alle Gerichte durch die Entscheidung höherer Gerichte gebunden werden; diese Entscheidungen sind "bindend" ("are binding on the courts"), d. h. sie müssen befolgt werden - und zwar grundsätzlich ohne Rücksicht darauf, ob die Entscheidung dem Untergericht richtig oder falsch erscheint" (Blumenwitz 1990 [19], 23). Für diese Arbeit gewinnt die stare decisis-Doktrin zusätzlich an Bedeutung, weil sie im Rahmen der Modelle, die perfekte Entscheidungsfahigkeit der Individuen unterstellen, nicht aus einem Kalkül abgeleitet werden kann, sondern exogen gesetzt werden muß. In einer Welt perfekt rationaler Akteure ist das Sich-Zurechtfinden in einer komplexen Umwelt überhaupt kein Thema. In einem Ansatz mit beschränkt rationalen Individuen übernimmt stare decisis jedoch die Funktion "der equilibrierenden Kraft", wie sie oben bereits angesprochen wurde. Stare decisis sorgt dafür, daß sich Richter und potentielle Kontrahenten eines Rechtsstreits trotz Informationsverarbeitungsgrenzen in einer komplexen Umwelt zurecht finden, d.h. ihr individuelles Weltbild konstruieren können (Schmidtchen 1991 [159], 339). Das Recht evolviert dann nicht mehr notwendigerweise zu immer höherer Effizienz.

1.2 Gang der Untersuchung Im 2. Kapitel werden "unsichtbare Hand-Modelle" präsentiert, die eine Effizienzzunahme des Common Law im Recht der unerlaubten Handlung behaupten. "Unsichtbare Hand-Modelle" zeichnen sich dadurch aus, daß bei ihnen die Urteilsinhalte - insbesondere die Festlegung von Sorgfaltsni8 Zu den Ökonomen, die die Evolution des Rechts in nichtformaler Weise analysieren, gehören Hayek (1962) [74], (1986) Bd.l, [77] und Hutter (1989) [95]. Sie liefern wichtige Erkenntnisse zur Evolution des Rechts, weil sie nicht von perfekter Rationalität des handelnden Individuums ausgehen.

1 Einleitung

14

veaus, Schadenersatzhöhe und derjenigen Seite, die Schadenersatz zu leisten hat - von einem Zufallsmechanismus abhängen und unabhängig vom Verhalten der Richter sind. Bei den Modellen geht es um folgenden Sachverhalt: Autofahrer A verletzt die Fußgängerio B und verursacht einen Schaden in Höhe von X. 9 Die Streitfrage lautet: Wer soll den Schaden tragen? Richter tauchen neben den beiden Parteien nicht als Entscheidungsträger auf, sondern fungieren als Zufallsmaschinen, die den Ausgang eines Gerichtsverfahrens bestimmen. Die Zufallsmaschinen kann man sich als Apparate vorstellen, die in eine Urne mit roten und schwarzen Kugeln greifen. Wird eine rote Kugel gezogen, bekommt der Kläger recht, wird eine schwarze Kugel gezogen, gewinnt der Beklagte den Prozeß. Anhand der im 2. Kapitel dargestellten Modelle läßt sich zeigen, daß das Recht der unerlaubten Handlung (und im weiteren Sinn somit das Common Law) nur dann zu höherer Effizienz evolviert, wenn die Umwelt der Parteien bereits zugunsten immer höherer Effizienz prästabilisiert ist. Dieses Ergebnis läßt sich zu folgender These zusammenfassen: These 1 In den unsichtbaren Hand-Modellen evolviert das Rechtssystem nur dann zu immer höherer Effizienz, wenn die Welt von vomherein so beschaffen ist, daß das Rechtssystem unabhängig vom Verhalten der Parteien und Richter im Zeitablauf immer effizientere Zustände einnehmen muß. Nicht ihr Verhalten sondern die Umwelt bewirkt einen immer höheren Effizienzgrad des Common Law. Ist die Umwelt nicht auf Effizienzsteigerung programmiert, evolviert das Common Law nicht notwendigerweise in Richtung höhere Effizienz. Im 3. Kapitel wird untersucht, ob die Effizienz des Common Law kontinuierlich zunimmt, wenn eine sichtbare Hand - nämlich Richter - im Rechtsprozeß eine aktive Rolle spielen, indem sie zielorientiert Urteile fällen. Wie im 2. Kapitel wird auf eine Fallproblematik aus dem Recht der unerlaubten Handlung zurückgegriffen: Autofahrer A verletzt die Fußgängerio B und verursacht einen Schaden in Höhe von X. Der Richter hat festzulegen, wer den Schaden tragen soll und wie hoch die Vorsorgemaßnahmen sein sollen, um Verschulden auszuschließen. Es läßt sich zeigen, daß bei perfekter Information der Richter über die Vorsorgetechnologien sowie den damit verbundenen Kosten unter ganz bestimmten Umständen das effiziente Vorsorgeniveau beider Parteien festgelegt werden kann. Dieses Ergebnis erfaßt allerdings noch keinen evoluto9 Korrekterweise müßte es X DM heißen, d.h. die Dimension der Wertgröße genannt werden. Aus Vereinfachungsgründen wird hierauf verzichtet.

1.2 Gang der Untersuchung

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rischen Prozeß: die effizienten Vorsorgeniveaus werden bereits zu Spielbeginn festgelegt und verändern sich nicht. Führt man imperfekte Information in das Modell derart ein, daß die Richter nicht mehr vollständige Kenntnis über die von den Parteien einsetzbare Unfallvermeidungstechnologie haben, dann ist das Erreichen eines effizienten Gleichgewichts nicht mehr gewährleistet. Cooter/Komhauser/Lane (1979) [38] zeigen, wie es doch noch möglich ist, daß auch bei imperfekter Information der Richter der Evolutionsprozeß zu einem effizienten Gleichgewicht führt. Es wird nämlich ein Lemprozeß der Richter über die Kenntnis der Umwelt angenommen, bei der die Umwelt so gestaltet ist, daß der Lemprozeß zu einem effizienten Gleichgewicht führen muß. Der Leser kann sich dies an folgendem Beispiel klarmachen: Die Umwelt entspreche einer nach oben offenen Halbkugel. Nun läßt man vom Rand der Halbkugel eine kleine Kugel in die Mitte rollen. Die Rollbewegung entspricht dem Lemprozeß der Richter, und das effiziente Gleichgewicht entspricht dem tiefsten Punkt der Halbkugel, in dem die kleine Kugel zu liegen kommt. Es läßt sich zeigen, daß ein effizientes Gleichgewicht im Zeitablauf bei den sichtbare Hand-Modellen und bei den unsichtbare Hand-Modellen nur erreicht werden kann, wenn die Umweltbedingungen die für den zeitlichen Anpassungsprozeß wünschenswerten Eigenschaften aufweisen. Der Anpassungszeitpfad ist linearer Struktur, und die zu optimierende Funktion ist eine Liapunow-Funktion, d.h. eine Funktion, deren Minimum ein global stabiles Gleichgewicht des Systems darstellt. Zeichnet sich der Anpassungszeitpfad hingegen durch Nichtlinearität aus, dann ist der Evolutionsprozeß nicht mehr durch eine Bewegung zu immer höherer Effizienz gekennzeichnet. Führt man außerdem eine Unterscheidung zwischen statischer und dynamischer Effizienz ein, so läßt sich zeigen, daß ein dynamisch effizienter Zeitpfad nicht statisch effizient zu sein braucht. Dynamisch effizient ist ein Zeitpfad, "in which the rate of change of legal rules minimizes the social costs placed upon such changes" (Blume/Rubinfeld 1982 (18], 410). These 2 lautet somit:

These 2 Unter der Annahme, daß eine sichtbare Hand (Richter) die Vorsichtsmaßstäbe im Recht der unerlaubten Handlung festlegt, resultiert hieraus nur unter restriktiven Bedingungen ein Evolutionsprozeß, durch den das Recht zu immer höherer Effizienz strebt. Zu dynamischen lneffizienzen kommt es dann, wenn der Zeitpfad, der die Entscheidungen der Richter widerspiegelt, nicht gegen einen global stabilen Extremwert konvergiert oder Anpassungskosten zwischen zwei Gleichgewichten auftreten.

16

1 Einleitung

Teil 2 der Arbeit setzt an den Erkenntnissen von These 1 und These 2 an. Wie in Teil 1 gezeigt, evolviert das Recht der unerlaubten Handlung selbst bei Annahme perfekt rationaler Akteure, also Individuen, die den Axiomen der von Neumann-Morgenstern-Erwartungsnutzentheorie gehorchen, nicht notwendigerweise zu immer höherer Effizienz. Die Funktion von Rechtsregeln (Haftungsregeln im Recht der unerlaubten Handlung) sowie von Rechtsinterpretationsregeln (stare decisis als Verfahrensregel) ist in all diesen Fällen bestenfalls eine dem ökonomischen Handeln untergeordnete Funktion. 10 Läßt man jedoch zu, daß sich Richter bei ihrer Urteilsfindung irren können, gewinnen Rechtsinterpretationsregeln eine neue Qualität: Sie geben dann an, wie Rechtsregeln von Richtern zu interpretieren sind, deren Aufgabe es ist, als benevolente Entscheidungsträger der Gesellschaft in Rechtsstreitigkeiten aufzutreten. 11 Um die Befolgung der Rechtsinterpretationsregel Stare decisis aus einem ökonomischen Kalkül heraus abzuleiten, wird ein zweistufiges Vorgehen in den Kapitel 4 und 5 vorgenommen. Zunächst erfolgt im 4. Kapitel eine Darstellung wesentlicher Gesichtspunkte eingeschränkt rationalen Verhaltens und werden die Unterschiede zur perfekten Rationalität der herkömmlichen Entscheidungstheorie aufgezeigt. 12 Sodann folgt eine kurze Herleitung der grundlegenden Erkenntnis von Ronald Heiner, wonach der Ursprung von vorhersagbarem Verhalten gerade in der begrenzten Informationsverarbeitungsfähigkeit und in Irrtümern der Entscheidungsträger besteht. Entscheidungsregeln dienen dazu, sich selbst gesetzte Anspruchsniveaus auch zu erfüllen. Im Umkehrschluß zu Rubin wird deshalb folgende These aufgestellt. These 3 Perfekt rationale Akteure halten sich nur an solche Beschränkungen, die sich auch bei Aufwendung aller kognitiven Fähigkeiten nicht überwinden lassen. Es handelt sich dabei um natürliche Restriktionen. 13 In dem Maße, in dem sich Individuen bei der Verarbeitung von Information irren Vgl. Rubin (1980) [148], 326 f. Wenn im folgenden von Richtern gesprochen wird, wird immer von identischen Richtern ausgegangen. Wir ignorieren u. a. die Möglichkeit, daß ein Richterkollegium Entscheidungen zu fällen hat und die Richter sich durch ihre Präferenzen unterscheiden. Phänomene wie logrolling werden somit außer Acht gelassen. Komhauser (1992a) [107] und Schwartz (1992) [164] haben Modelle entwickelt, die strategisches Verhalten in Richterkollegien untersuchen. 12 Vgl. Herrnstein/Prelec (1991) [91], Kahneman/Slovic/Tversky (1982) [61] und Frey/Eichenberger (1989) [61] sowie die dort angegebene Literatur. 13 Die Unterscheidung von "natürlichen Restriktionen" und "Verhaltensrestriktionen" wurde von Schrnidtchen (1994) [161] begründet. 1o 11

1.2 Gang der Untersuchung

17

können, werden intern generierte Verhaltensbeschränkungen (Entscheidungsregeln) oder aus Evolutionsprozessen hervorgegangene Handlungsbegrenzungen relevant. Sie helfen dem Individuum, die Umweltkomplexität14 zu reduzieren, sein relevantes Entscheidungsmodell zu konstruieren und sich gesetzte Anspruchniveaus zu erfüllen. Im 5. Kapitel werden die Erkentnisse von Ronald Heiner zur Erklärung der stare decisis-Doktrin herangezogen. Danach beruht das sich Orientieren und Beachten von Präjudizien in einem anstehenden Fall auf der Selbsterkenntnis der Richter, daß sie keine perfekten Entscheidungsträger sind und deshalb gut daran tun, die Menge der Fallentscheidungsmöglichkeiten zu begrenzen. Die Befolgung von stare decisis kann also als Antwort eines Richters auf seine eigene beschränkten Fähigkeiten gesehen werden. 15 Heiner hat sich bereits 1986 in diesem Sinn in einem Artikel geäußert. Seine Position wird rekapituliert und erläutert. Im Anschluß daran werden neuere Erkenntnisse von Heiner herangezogen, um ein Theorem aufzustellen, das den Nutzen der stare decisis-Doktrin untermauert. Es geht dabei um die Frage, ob Rechtsregeln sofort an geänderte Umweltbedingungen angepaßt werden sollten, wenn die für die Anpassungsentscheidung zuständigen Entscheidungsträger imperfekt in der Verarbeitung von Informationen sind. In einer Variante eines aus dem 3. Kapitel zum Recht der unerlaubten Handlung bekannten Modells wird gezeigt, daß Richter bessere Entscheidungen fallen, wenn sie auf neue Informationen verzögert reagieren und somit keine sofortige Anpassung ihrer Entscheidungen an die neuen Informationen vornehmen. In einem Artikel hat Kronman vor kurzem festgestellt, daß der Respekt vor der Vergangenheit keine ausreichende Rechtfertigung für die Ausrichtung gegenwärtiger Entscheidungen an Präjudizien darstelle. Sein Argument für das Festhalten an Präjudizien lautet: "[T]he mere continuation of an existing rule or practice may sometimes increase global utility simply by making it easier for people to plan their future actions .. .But this means that there will sometimes be good reasons for deferring to the past in the name of global welfare" (Kronman 1990 [109], 1041). Auf der Grundlage der Theorie von Ronald Heiner läßt sich Kronmans Gedanke präzisieren und die Ratio von stare decisis in der folgenden These zusammenfassen. 14 Die Komplexität eines Problems läßt sich durch das Ausmaß der auf S. 4 beschriebenen Kompetenz-Schwierigkeitslücke eines Akteurs abbilden. 15 Im Gegensatz zu den Mode11en von Miceli/Co§gel (1994) [118] und v. Wangenheim (1993) [186], die die Befolgung der stare decisis Doktrin auf public choice-Argumente zurückführen, steht hier der kognitive Aspekt im Vordergrund der Analyse. 2 Leder

I Einleitung

18

These 4 Wenn Richter nicht alle auf sie einwirkenden Informationen peifekt verarbeiten können, erhöhen sie ihre Entscheidungszuverlässigkeit, wenn sie ab einem bestimmten Grad an Umweltkomplexizität zusätzliche Information ignorieren. Das sich Orientieren an Präzedenzen stellt ein Veifahren dar, Umweltkomplexität zu reduzieren. Neben der vollständigen Ignorierung von Information dient verzögerte Anpassung an Umweltänderungen als weitere Ausprägung der stare decisis-Doktrin dazu, zuverlässige Entscheidungen der Richter zu gewährleisten.

Im abschließenden 6. Kapitel werden noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit zusammengefaßt und auf Anwendungsmöglichkeiten der Theorie der Entscheidungstindung bei Verhaltensunsicherheit im deutschen Rechtssystem verwiesen.

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law "The life of the law has not been logic: lt has been experience. The feit necessities of the time, the prevalent moral and political theories, intuitions of public policy, avowed or unconscious, even the prejudices which judges share with their fellow-men, have a good deal more to do than the syllogism in determing the rules by which men should be govemed. The law embodies the story of a nation's development through many centuries ... " (Judge Holmes 1963) 1

Ist die Evolution des Common Law dadurch gekennzeichnet, daß das Recht sich im Zeitablauf zu immer höherer Effizienz hin entwickelt? Richard Posner stellte bereits im Jahre 1972 in seiner zum Standardwerk gewordenen "Economic Analysis of Law" die Hypothese auf, daß das Common Law effizient sei. Denn weil sich Richter bei ihren Entscheidungen am Effizienzkalkül orientierten, würden sie bei Rechtsstreitigkeiten nur solche Rechtsregeln heranziehen, die zu einer effizienten Lösung beitragen. Die Heranziehung effizienzfördernder Rechtsregeln sorgt also dafür, daß das Rechtssystem Common Law effizient ist oder zu höherer Effizienz strebt. Posners Hypothese, wonach das Common Law effizient sei, fand in der darauffolgenden Zeit viel Zustimmung, nicht jedoch seine Begründung, mit deren Hilfe er zu seiner Aussage gelangte. 2 Von der Leistungsfähigkeit des Marktsystems überzeugte Ökonomen und Juristen wie z.B. Rubin (1977) [147] und Priest (1977) [134] entwickelten Modelle, in denen die Entscheidungen von Rechtsstreitigkeiten im Bereich des Common Law als Ergebnisse eines unsichtbaren Hand-Prozesses erlaßt wurden. Die Grundannahme dieser Modelle ist, daß der Gerichtsprozeß über einen unsichtbaren Hand-Mechanismus effiziente Ergebnisse liefert. So, wie es in 1 Judge Holmes (1963), 5 in M. Howe (Hrsg.): The Cornmon Law, zitiert nach Elliott (1984) [54], 135. 2 So meinte z. B. Manne während einer Diskussion über "Evolution and the Efficiency of Law": "Dick Posner, for reasons that have been shrouded in mystery ever since, said that one day the common law was econornically efficient. He later offered a couple of rationalizations that did not stand up. However, Pau1 Rubin approached it with a degree of insight that Dick had not previously shown." (Vgl. Research in Law and Economics 1982 [139], 182).

2*

20

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

ökonomischen Austauschprozessen das Ziel der Beteiligten sei, ihren Nutzen zu erhöhen, so liege es auch in einem Common Law-Rechtsstreit im Interesse der Kontrahenten, daß durch Rechtsregeln die effiziente Allokation herbeigeführt werde. Gerichtsverfahren werden als Märkte interpretiert, in denen ineffiziente Regeln unter erhöhten Selektionsdruck geraten, weil der Wert der Beseitigung ineffizienter Regeln den Wert der Beibehaltung derselben übersteigt. Der Gerichtsprozeß zwischen Kläger und Beklagten führt danach über einen unsichtbaren Hand-Mechanismus dazu, daß ineffiziente Rechtsregeln langfristig durch effiziente verdrängt werden. Zu beachten ist bei dieser Erklärung, daß den Richtern in den unsichtbare Hand-Modellen keine Funktion zukommt - die Entwicklung des Common Law in Richtung höherer Effizienz ist unabhängig vom Verhalten der Richter! Wenn im weiteren Verlauf der Arbeit von Common Law gesprochen wird, ist damit immer das Common Law in den Vereinigten Staaten von Amerika und nicht das in England gemeint. Eine Darstellung des amerikanischen Common Law kann in dieser Arbeit nicht erfolgen, hierzu wird auf die entsprechende Literatur verwiesen. 3 Als Rechtsstreitigkeiten vor Gericht werden in dieser Arbeit immer nur Fälle aus dem Recht der unerlaubten Handlung untersucht, die bereits das Stadium der Hauptverhandlung erreicht haben. Das Verfahren bis zur Hauptverhandlung, also die Einleitung des Verfahrens, Klageerwiderung, Parteierweiterung, pretrial discovery und das pretrial-Verfahren bleibt somit unberücksichtigt. 4 Dieses Vorgehen wird gewählt, weil die für die Rechtsfortbildung relevante Phase die Hauptverhandlung ist. 2.1 Der Common Law Process als ein effizienter unsichtbarer Hand-Mechanismus Die folgenden Ausführungen in Kapitel 2 geben einen Überblick über die wichtigsten unsichtbare Hand-Modelle, die die Evolution des Common Law zu höherer Effizienz behaupten. Zunächst werden die Modelle verbal vorgetragen, danach erfolgt die formale Darstellung der Gedanken. Im Anschluß an die Modelldarstellung folgt eine Kritik, in der auf modellspezifische Probleme eingegangen wird, ohne der in Kapitel 2.2 grundsätzlichen Kritik vorzugreifen. 3 Vgl. Blumenwitz (1990) [ 19], Farnsworth (1983) [59], Hay (1987) [72] und Bernstein (1974) [15]. 4 Einen raschen Überblick über das US-amerikanische Zivilprozeßrecht erhält der Leser in Schack (1988) [154]. Cooter/Rubinfeld (1989) [40] gehen auf die einzelnen Stadien eines Gerichtsverfahrens aus ökonomischer Sicht ein.

2.1 Der Common Law Process

21

2.1.1 Das Grundmodell: Rubin 2.1.1.1 Modelldarstellung Wie bereits oben erwähnt, modellierte Rubin als erster Ökonom die Evolution des Common Law als effizienten unsichtbaren Hand-Mechanismus. Sein Modell wird im folgenden besonders ausführlich dargestellt, da es die Grundlage für alle weiteren unsichtbare Hand-Modelle ist, die später von anderen Autoren entworfen wurden. In seiner 1977 veröffentlichten Arbeit "Why is the Common Law Efficient? " untersucht Rubin zwei voneinander getrennt erscheinende Fragen. ( 1) Wann gehen widerstreitende Parteien vor Gericht, und wann einigen sie sich außergerichtlich? (2) Damit das Common Law im Zeitablauf effizient ist, muß es sich veränderten Umweltbedingungen anpassen. Wie werden die veränderten Umweltbedingungen in die Weiterentwicklung des Common Law aufgenommen? Rubin verknüpfte beide Fragen und kam dabei zu folgendem Ergebnis: Die Effizienz des Common Law und die Entscheidung, Gerichte zur Beilegung von Streitigkeiten heranzuziehen, hängen unmittelbar zusammen. Gerichte werden nur in denjenigen Fällen von den Parteien in Anspruch genommen, in denen die bisherigen Präjudizien - also die für einen anhängigen Fall maßgeblichen Vorentscheidungen vorangegangener Gerichtsfalle - auf ineffizienten Rechtsregeln beruhen. Wenn die Präjudizien effizient sind, haben die Parteien keinen Grund, vor Gericht zu gehen, sondern einigen sich durch Vergleich, um die Gerichtsverhandlungskosten zu sparen. Effiziente Präjudizien als Folge bisher ineffizienter Präjudizien verringern den Anreiz zukünftiger Prozesse vor Gericht und bewirken, daß effiziente Regeln im Gegensatz zu ineffizienten Regeln fortdauern. "In short, the efficient rule situation is due to an evolutionary mechanism whose direction proceeds from the utility maximizing decisions of disputants rather than from the wisdom of judges." 5 Rubins Modell behandelt ein Problem des Deliktrechts. Ihm liegt folgender Fall zugrunde: Autofahrer A verletzt mit seinem Auto Fußgängerin B. B erleidet durch den Unfall einen Schaden in Höhe von X.

Die Annahmen von Rubins Modell lassen sich wie folgt auflisten: A 1 Bezeichnen S A die Unfallvermeidungskosten, die A freiwillig aufwendet, wenn

er schadenersatzpflichtig ist und durch Vorsorgemaßnahmen die Zahl künftiger

5

Vgl. Rubin (1977) [147], 51.

22

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law Schadensfälle reduzieren kann. NA sei die Anzahl zukünftig eintretender Unfälle bei Unfallverhütungsmaßnahmen mit Kosten in Höhe von SA. Es gelte also NA= NA(SA)

A 2 Bezeichne TA die Summe aus Unfallvermeidungskosten und den anfallenden zukünftigen Schadenersatzzahlungen, d. h. (2.1)

Wenn A schadenersatzpflichtig ist, dann besteht seine optimale Strategie darin, den Wert von TA zu minimieren. 6 TA wird somit als endogene Variable angesehen. Falls der A keinen Schadenersatz zu leisten hat, sondern die B den Schaden selbst tragen muß, betragen die Unfallgesamtkosten derB: (2.2)

TB=SB+NB·X

A 3 Der Eintritt zukünftiger Schäden kann nur durch Maßnahmen einer Person redu-

ziert werden, d.h. entweder durch den A oder die B.7

A 4 Eine Haftungsregel wird als effizient bezeichnet, wenn A für den Schaden haften muß und TA < TB gilt.

Dieser Annahme liegt die Überlegung zugrunde, daß die effiziente Lösung immer den geringsten bewerteten Ressourcenverzehr erfordert.8 A 5 Bezeichne R die Wahrscheinlichkeit, daß der Kläger einen Gerichtsprozeß

gewinnt. Beide Parteien schätzen den Wert von R, der von bestehenden Präjudizien abhängt, gleich hoch ein.

A 6 Wenn die Präjudizien die Fußgängerin B begünstigen, gilt R

begünstigen sie den Autofahrer A.

> 0,5, für R < 0,5

Angenommen, es gelte T8 > TA, so daß A der least cost avoider ist. Ein bisheriger Präzedenzfall ist damit für R > 0,5 effizient. A 7 Bestechungsmöglichkeiten, die auf eine Suspendierung von geltendem Recht zwischen Kläger und Beklagtem herauslaufen, sind auf Grund zu hoher Transaktionskosten ausgeschlossen.

Wenn eine Haftungsregel ineffizient ist, läßt Rubin also nicht zu, daß die eine Partei ihr Recht an die andere Partei verkauft und beide Seiten eine Kooperationsrente ziehen. Ein Rechteverkauf würde zur Folge haben, daß der Anreiz, vor Gericht zu klagen, nur noch in denjenigen Fällen bestünde, in denen beide Parteien sich nicht außergerichtlich einigen können. Außerdem 6 "If liability is placed on A, the optimal solution for A is to spend SA on accident avoidance and allow NA accidents to occur" (Rubin 1977 [147], 52). 7 "Assume also that this is an either/or situation: the techno1ogy of avoidance in this case is qmch that there is no joint action which A and B could take to further reduce accident and preventation costs." (Rubin 1977 [147], 52). 8 Zur Theorie des eheaper cost avoiders vgl. Calabresi (1970) [39].

2.1 Der Common Law Process

23

würde durch eine private Einigung die Ineffizienz bestehender Rechtsregeln von den beteiligten Parteien nur ausgesetzt, nicht aber rechtsverbindlich für zukünftige Parteien beseitigt werden. 9 A 8 Die Höhe der Gerichtskosten C ist unabhängig vom Streitwert eines Prozesses

und für die Parteien identisch.

- A 8 stellen die Grundannahmen des Modells von Rubin dar. Die nun folgenden Fälle 1 - 3 beziehen sich auf verschiedene Varianten des RubinModells, wobei Fall 1 für die Diskussion in dieser Arbeit von herausragender Bedeutung ist. In Fall 1 wird angenommen, daß beide Parteien ein dauerhaftes Interesse an einer Präzedenzregelung haben. In Fall 2 hat nur eine Partei ein dauerhaftes Interesse, und in Fall 3 sind Bestechungszahlungen zulässig.

A1

Fall] Beide Parteien haben ein dauerhaftes Interesse an einer Präzedenzregelung. Bei den Kontrahenten handele es sich z.B. um Unternehmen, Gewerkschaften oder Versicherungsgesellschaften. Weiterhin sei angenommen, daß A die B verletzt hat und den Schaden tragen muß. Die Haftungsregel sei ineffizient, weil TA den Wert von Ta übersteigt. Beide Parteien stehen vor der Entscheidung, ob sie sich außergerichtlich einigen oder einen Prozeß anstrengen sollen: Während der Geschädigte das Gericht direkt anrufen kann, ist dies dem Schädiger nur indirekt möglich, indem er sich weigert, dem Geschädigten Schadenersatz zu erstatten.

Ob es nun zu einem Prozeß kommt, hängt von einem Vergleich der mit den Handlungsmöglichkeiten Einigung oder Prozeß verbundenen Auszahlungen ab. Geht man vom Status quo aus, wonach A für den Schaden haften muß, beträgt der Wert der Gerichtsverhandlung für A: (2.3)

VA

=

R( -X)+ (1 - R)TA - C

Der Wert VA setzt sich zusammen aus den erwarteten Schadenersatzleistungen an B, den durch eine Änderung der Rechtsprechung zu erwartenden eingesparten Vorsorgemaßnahmen und den mit Sicherheit zu leistenden Kosten des Gerichtsverfahrens. Für B ergibt sich der Wert des Gerichtsverfahrens als Summe aus den erwarteten ihr zugesprochenen Schadenersatzleistungen und den durch eine Änderung der Rechtsprechung zukünftig aufzuwendenden Vorsorgemaßnahmen abzüglich der Gerichtskosten. (2.4)

Va

= R(X) + (1 -

R) (-Ta) - C

9 Zu einer Diskussion von Rubins Annahme A 7 vgl. Cooter/Kornhauser (1980) [39], 152, Fn. 27.

24

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

VA läßt sich als "Beschaffungspreisobergrenze" des A für ein vermiedenes Gerichtsverfahren interpretieren. VB ist analog als "Abgabepreisuntergrenze" der B für einen Verzicht auf einen Prozeß aufzufassen. Übersteigt VA betragsmäßig VB, so kommt es zum Vergleich beider Parteien. A kann der B dann einen höheren Betrag bieten, als diese aus einem Gerichtsurteil erwarten könnte. Zu einem Prozeß kommt es somit nur, wenn VB > -VA gilt. Unter Heranziehung der Gleichungen (2.3) und (2.4) ereignet sich immer dann ein Gerichtsprozeß, wenn die erwarteten Gewinne aus einer geänderten Rechtsprechung die von beiden Parteien zu tragenden Gerichtskosten übersteigen: (2.5)

Aus Ungleichung (2.5) wird sofort erkennbar, daß die notwendige Bedingung für einen Gerichtsprozeß TA > TB ist, d. h. das gegenwärtige Recht muß ineffizient sein. Je größer die Differenz zwischen TA und TB , umso ineffizienter ist das gegenwärtige Recht. Die Metamorphose des ineffizienten Rechts vollzieht sich folgendermaßen: Gemäß Ungleichung (2.5) gehen beide Parteien vor Gericht, wobei beide Seiten annehmen, daß B mit R > 0,5 den Prozeß gewinnen wird. "However, whenever this situation arises in the future A will again go to court. At some point, some court will find in favor of A; at this point, the law has been changed and is now efficient. From that time on, precedents will favor A in comparable cases.'d 0 Rubin erklärt also nicht, wie es zur Änderung von R kommt, sondern geht davon aus, daß zufälligerweise irgendein Gericht die effiziente Lösung wählt. Die unterlegene Partei, d. h. B, hat kein Interesse, das nun effiziente Recht zu ihren Gunsten zu ändern: "Since there is no deadweight loss to party B when he is forced to bear liability (i. e., no term comparable to TA - TB), B will not find it worthwhile to go to court when such an accident occurs ... " 11 Die zentrale Botschaft des Rubin-Modells in seiner Ausgangsform lautet also: Wenn Regeln hinreichend ineffizient sind, dann wird solange vor Gericht prozessiert, bis die Regeln geändert sind. Wenn Regeln effizient sind, werden Gerichte nicht angerufen, so daß die effiziente Regel fortbesteht.

1o 11

Vgl. Rubin (1977) [147], 54. Ebenda.

2.1 Der Common Law Process

25

Fall 2 Nur eine der beiden Parteien hat Interesse an Präjudizien. 12 Die bisherige Präjudiz favorisiere den A, so daß beide Parteien annehmen, daß R < 0,5 gilt. Im Gegensatz zu Fall I habe aber nur B ein dauerhaftes Interesse an einer Präjudiz. Dies impliziert, daß nur die B Unfallvermeidungskosten in ihrem Kalkül berücksichtigt.

Rubin kalkuliert VA und V8 wie folgt: Wenn A den Prozeß verliert, muß er den Betrag X an B zahlen. Da A annahmegemäß kein Interesse an zukünftig geltenden Präjudizien hat, fließen auch keine Unfallvermeidungskasten in sein Kalkül ein. Unabhängig vom Prozeßausgang fallen für ihn Prozeßkosten in Höhe von C an. Der Wert eines Gerichtsverfahrens beträgt damit für A: (2.6)

VA =R(-X)-C

Für B ergibt sich der Wert des Gerichtsprozesses als Summe aus dem erwarteten zu empfangenen Schadenersatz und den künftig wegfallenden Vorsorgemaßnahmen abzüglich der Gerichtskosten, d. h. (2.7)

V8

= R(X) + R(T8 )

-

C

Zu einem Prozeß kommt es, wenn der Schädiger A dem Opfer B nicht mindestens einen Betrag in Höhe von V8 bietet. Dies ist dann der Fall, wenn V8 > IVA I gilt, also für (2.8)

R(T8 ) > 2· C

Wenn B's Streitwert nicht sehr gering ist oder die Präjudiz eindeutig zugunsten von A spricht (niedriges R), bleibt ein Prozeß nicht aus. Bekommt B nicht bereits im ersten Prozeß Recht, so wird irgendwann der Zeitpunkt erreicht, an dem die Rechtsprechung zugunsten der B entscheidet. B wird von ihren Verpflichtungen frei, und die neue Rechtsprechung wirkt in die Zukunft fort, da A annahmegemäß kein Interesse an einer Zukunftsregelung besitzt. A wird Rubins Überlegungen zufolge in Unfallvermeidungsmaßnahmen investieren: "[P]arty A will begin spending S A on accident avoidance. When such accidents occur, the A who is involved will pay X to B, rather than litigate, since A has no future interest in the case" (Rubin 1977 [147], 56). Ein zu den voranstehenden Überlegungen analoges Ergebnis würde man erhalten, wenn A statt der B ein fortdauerndes Interesse an einer Präjudiz besäße. In diesem Fall würde das Recht langfristig zugunsten des A geändert werden. 12

Vgl. Rubin (1977) [147], 55.

26

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

Wie die Darstellung von Fall 2 zeigt, spielen hier Effizienzüberlegungen keine Rolle. Es muß lediglich Gleichung (2.8) erfüllt sein. "Thus when one party has an ongoing interest in a type of case there is a tendency for cases to be litigated until a precedent is established which favors this party. There is no tendency for efficiency in this situation." 13 Trifft man die Annahme, daß beide Parteien kein Interesse an einer für die Zukunft geltenden Präjudiz haben, kann man zeigen, daß es bei der gegenwärtig gültigen Rechtslage bleibt und daß sich die Kontrahenten immer außergerichtlich einigen werden und somit keine Aussagen bezüglich der Effizienz des Common Law möglich sind. 14 Fall3 Gemäß Annahme A 7 war Bestechung zwischen den Kontrahenten ausgeschlossen. Diese Annahme hebt Rubin nun auf. Kontrahenten ist es möglich, durch Bestechungszahlungen die Vorsorgemaßnahmen abweichend von der herrschenden Rechtslage auf die nicht dazu verpflichtete Partei zu übertragen. 15 Wie in Fall 1 wird angenommen, daß die gegenwärtige Rechtsprechung das Opfer B begünstige, obwohl TB < TA gilt, d. h. die Unfallgesamtkosten flir B geringer als flir A sind.

A zahlt der B eine Bestechung in Höhe von Tn, wenn für Tn gilt: Tn < TA - T8 . In diesem Fall sind die Kosten der Bestechung niedriger als die Kosten der ineffizienten Allokation von Unfallvermeidungsmaßnahmen. Kommt es zu einem Unfall, stellt A folgende Überlegung an: Nach der bisherigen Rechtsprechung muß er der B Schadenersatz in Höhe von X zahlen. Klagt die B gegen ihn, muß er damit rechnen, mit Wahrscheinlichkeit R zur Zahlung von X verurteilt zu werden. Klagt B nicht gegen den A, muß A Tn + T8 zahlen, d. h. den Betrag, zu dem B bereit ist, Unfallvermeidungsmaßnahmen zu leisten. Mit Wahrscheinlichkeit (1 - R) kannAdamit rechnen, rechtlich nicht mehr für den Schaden aufkommen zu müssen. Der Wert eines Gerichtsverfahrens beträgt für A somit: (2.9)

VA

= R( -X)+ (1 -

R)(Tn + Tn)- C

Für B gilt wie in Fall 1: (2.10)

V8 = R(X)

+ (1 -

R) (- TB) - C

Rubin (1977) [147], 56 Vgl. Rubin (1977) [147], 56f. und Aranson (1986) [10], 58f. Es liegt offensichtlich ein Kollektivgutproblem vor, wenn das nicht offenbarte Interesse an zukünftig geltenden Präjudizien auf der fehlenden individuellen Zahlungsbereitschaft beruht. 15 Vgl. Rubin (1977) [147], 58f. 13

14

2.1 Der Common Law Process

27

Ein Prozeß findet zwischen den beiden Parteien statt, wenn gilt: (2.11)

(1-R)Tn > 2C

Wie nicht anders zu erwarten, sind Gerichtsverfahren im Fall 3 seltener als in Fall 1. Wegen Tn < TA -TB ist nämlich (2.5) auch dann noch erfüllt, wenn dies auf (2.11) nicht mehr zutrifft. In einem Regime, das Bestechungsmöglichkeiten bezüglich der Schadensvorsorge zuläßt, werden ineffiziente Regeln also seltener gerichtlich angefochten, als wenn diese Möglichkeit nicht bestünde. 2.1.1.2 Modellkritik Die nachstehende Modellkritik erfolgt auf zwei Ebenen. Zunächst wird Rubins Modell auf seine interne Konsistenz hin überprüft. Nach der Konsistenzprüfung erfolgt eine Plausibilitätsüberprüfung der Annahmen, wodurch zugleich eine Überleitung zu den anderen unsichtbare Hand-Modellen geschaffen wird. Die Kritik an Rubins Modell, Fall 1, läßt sich thesenartig zusammenfassen: (1) Rubins Modell ist inkonsistent. Die ihm zugrunde liegenden Annahmen und zentrale Gleichungen des Modells schließen sich gegenseitig aus. (2) Rubins abgeleitete Modellergebnisse beruhen in erheblichem Maße auf nicht explizit getroffenen Annahmen. (3) Rubins Modellergebnisse sind unvollständig. Aus den Modellannahmen lassen sich Ergebnisse herleiten, die denen Rubins widersprechen. Zu (1): Kommen wir zum ersten Punkt, der Modellinkonsistenz. Die Unfallgesamtkosten TA bzw. TB werden in A 2 unter der Annahme definiert, daß entweder der A oder die B den Schaden zu tragen haben. Dann werden diese Variablen in den Gleichungen (2.3) und (2.4) sowie Ungleichung (2.5) aber herangezogen, um zu bestimmen, ob ein Gerichtsprozeß stattfindet oder nicht. D. h.: In Annahme A 2 werden TA und TB als Ergebnisse eines Kostenminimierungsproblems angesehen und unterstellt, daß nicht geklagt wird. In den Gleichungen (2.3) und (2.4) wird der Erwartungswert eines Gerichtsverfahrens jedoch unter der Annahme gegebener TA und TB Variablen berechnet, um festzustellen, ob geklagt werden soll. Offensichtlich liegt hier ein Zirkelschluß vor. Um TA und TB zu bestimmen, müßte Rubin die Lösung des Klage-Vergleichsspiels bereits kennen, also wissen, ob geklagt wird und mit welchem Ergebnis. Dann kann Rubin zur Lösung dieses Spiels aber nicht gegebene TA und TB Variablen unterstellen. Ähnliche Einwände beziehen sich auf die

28

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

inkonsistente Verwendung von A 1 innerhalb des Rubin-Modells. Aus A 1 in Verbindung mit A 2 ergibt sich, daß die Unfallvermeidungskosten pro Periode, SA, Ergebnis eines Optimalkalküls sind. SA läßt sich als Ergebnis eines Minimalkostenkalküls auffassen. Gleiches gilt für die Bestimmung von S 8 . Um nun von einem least cost avoider sprechen zu wollen, müßte Rubin S A und S8 als exogene Variablen festlegen. Rubin tut dies aber nicht, sondern endogenisiert SA und S8 . 16 Die endogene Bestimmung von SA erfordert jedoch, daß A weiß, welche Kosten ihm pro Unfall entstehen. Dies ist abhängig davon, ob A den Schaden X aus dem Unfall auf sich nimmt, oder vor Gericht geht, und wie das Gericht dann entscheidet. Soll in die Entscheidung, ob prozessiert wird, auch der Präzedenzcharakter bisheriger Gerichtsurteile eingehen, dann ist diese Entscheidung abhängig von S A. Dieser Kalkül führt somit in einen infiniten Regreß: Die Bestimmung von S A erfordert Kenntnis über die Entscheidung, ob es zum Prozeß kommt, diese Entscheidung erfordert Kenntnis von SA usw. Zu (2): Rubins Gleichungen (2.3) und (2.4) setzen zwingend voraus, daß die Unfallvermeidungskosten S A reversibel sind. Sind die Unfallvermeidungskosten SA irreversibel, gelangt man zu anderen Ergebnissen als Rubin, wie nachstehend gezeigt wird. 17 Rubin wählt den folgenden Ausgangspunkt: "Start with an inefficient rule - A is held liable if accidents occur, so that A is now spending SA on accident avoidance and NAX on darnage payments for those accidents which still occur. An accident has just occured; the parties must decide whether to settle or litigate." 18

Die Antwort auf dieses Problem geben bei Rubin die Gleichungen (2.3) und (2.4). (2.3)

VA= R( -X)+ (1- R)TA- C

(2.4)

VB

= R(X) + (1 - R)(- TB)

- C

Mit Wahrscheinlichkeit R wird A zur Zahlung von Schadenersatzzahlungen in Höhe von X verurteilt, was durch den Term R( -X) in Gleichung (2.3) zum Ausdruck kommt. A weiß, daß er auch in Zukunft wegen der Vgl. hierzu Rubin (1977) [147], 52. Irreversible und damit versunkene Kosten sind diejenigen Kosten, "die verloren sind, wenn eine bereits in Durchführung begriffene Handlungsalternative aufgegeben wird. Es sind diejenigen Kosten, die nicht abgebaut werden können, wenn eine Produktion eingestellt und die eingesetzten Produktionsfaktoren liquidiert werden" (Hauer 1990 [71], 48; Fußnoten im Original wurden weggelassen). Vgl. auch BaumoliWillig (1981) [13], 406. 18 Rubin (1977) [147], 54. 16

17

2.1 Der Common Law Process

29

bisherigen Präzedenzen mit Wahrscheinlichkeit R einen Prozeß verliert und Unfallgesamtkosten TA zu tragen hat. Bei einer oberflächlichen Analyse käme man in Gleichung (2.3) so auf einen Term R ·TA . A hat aber bereits Vorsorgeaufwendungen in Höhe von SA vor Verursachung des Unfalls getätigt, die auch noch in Zeitperioden nach Verursachung des Unfalls fortwirken. Sie müssen nicht mehr getätigt werden, weil sie in der Vergangenheit unter Berücksichtigung zukünftiger Unfälle und der geltenden Präzedenz getätigt wurden. Der Term NAX als weiterer Bestandteil von TA stellt keine Vorsorgeaufwendungen dar, sondern entspricht den zukünftig zu zahlenden Schadenersatzzahlungen, wenn die Präzedenz den A weiter belastet. Die Kosten in Höhe von NAX fallen bei gegebenem R in Zukunft als Schadenersatzzahlung an - und zwar NA mal, falls vorher kein Präzedenzwandel eintritt. Würde man bei der Berechnung von VA den Term NAX berücksichtigen, käme es also zu einer Doppelzählung der Schadenersatzzahlungen. Der Term (1 - R)TA in (2.3) beruht auf folgender Überlegung: Mit Wahrscheinlichkeit (1 - R) gewinnt A den Prozeß. Er muß dann keine Schadensvorsorgemaßnahmen mehr tätigen. Entscheidungsrelevant ist dieser Umstand jedoch nur dann, wenn die bereits getätigten Vorsorgekosten S A vollkommen reversibel sind. Nur wenn die Schadensvorsorgekosten reversibel sind, profitiert A von einer Präzedenzumkehr. Rubin trifft diese Annahme nicht. Sie ist aber zwingend erforderlich, damit (2.3) gültig ist. Zusätzlich entfällt für A bei einem Präzedenzwandel die Notwendigkeit, NA zukünftige Schadenersatzzahlungen in seinem Kalkül zu berücksichtigen. Somit entfallen zukünftige Schadenersatzzahlungen im Wert von (1- R)X ·NA . Der Wert einer Präzedenzumkehr beträgt also: (2.12)

(1- R)SA

+ (1- R)X · NA= (1- R)TA

Unter der Annahme vollkommen reversibler Vorsorgekosten SA besteht Gleichung (2.3) somit aus dem Term, der den Wert einer Präzedenzumkehr angibt, und dem Term R( -X) abzüglich der Gerichtskosten in Höhe von C. Und was gilt, wenn die Vorsorgekosten SA irreversibel sind? Wir haben dann den Fall vorliegen, daß A spezifische Investitionen getätigt hat. Für B ändert sich offensichtlich nichts, so daß wir Gleichung (2.4) nochmals übernehmen können. (2.13)

V8

= R · X+ (1- R)( -T8 ) - C

Für A ist der Wert einer Präzedenzumkehr im Fall spezifischer Investitionen um den Betrag ( 1 - R)S A geringer. A kann dann gemäß Gleichung (2.14) folgende Auszahlung aus einem Gerichtsverfahren erwarten:

30

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

(2.14)

VA= R ·(-X)+ (1- R)NA ·X-C

Zu einem Prozeß kommt es, wenn IVA I < V8 gilt, d. h. wenn RX- (1 -R)(TA- SA)

+ C < RX + (1 -R)(-TB)- C

bzw. (2.15)

Wie ein Vergleich von (2.15) mit (2.5) klar macht, kommt es im Fall spezifischer Investitionen in Höhe von S A seltener zu einem Prozeß als bei voll reversiblen Kosten. Dieses Ergebnis ist nicht weiter verwunderlich, denn durch die Tätigung spezifischer Investitionen erhöht sich die Bereitschaft von A, einen Prozeß mittels Vergleich zu vermeiden. Es bleibt somit festzuhalten: Im Fall irreversibler Vorsorgekosten in Höhe von SA gilt statt (2.5) Ungleichung (2.15). Spezifische Investitionen bewirken, daß seltener unter ineffizientem Recht geklagt wird. Der von Rubin behauptete Selektionsdruck gegenüber ineffizientem Recht wird hierdurch reduziert, so daß ineffiziente Regeln eher fortbestehen. Zu (3): Aus den Modellannahmen von Rubin lassen sich Ergebnisse herleiten, die denen Rubins widersprechen. Fall 1 des Rubin-Modells geht von der Annahme aus, daß TA > T8 gilt, B also least cost avoider ist. Bei der Herleitung von Ungleichung (2.5) wurdeaprioridavon ausgegangen, daß VA < 0 und V8 > 0 sein müßten, so daß als Bedingung für ein Gerichtsverfahren VA < V8 zu gelten habe. Angenommen, es gelte TA > T8 . Ist dann auch VA > V8 möglich, so daß also A einen für sich günstigeren Gerichtsausgang erwarten kann als B? Die Antwort lautet: "Ja!" und läßt sich wie folgt begründen: Wegen (2.3) und (2.4) gilt: VA= -R ·X+ (1- R)TA- C VB= R ·X- (1- R)TB- C VA > VB ~ - RX + (1 - R)TA > RX- (1 - R)TB

(2.16)

(1- R)(TA +TB) > 2RX oder

(TA +TB)

2RX

> 1_ R

Untenstehend 19 findet sich ein Zahlenbeispiel, für das VA > V8 gilt. Die Möglichkeit von VA > B 8 hat einschneidende Konsequenzen. VA > V8

2.1 Der Common Law Process

31

bedeutet, daß die B dem A nicht mit einem Prozeß drohen kann, weil sie genau weiß, daß sie hierbei den Kürzeren ziehen würde. Einen Prozeß würde B in jedem Fall nur dann anstrengen, wenn VB > 0. Weil jedoch VA > V8 und nicht beide Seiten aus einem Prozeß gewinnen können, muß bei VA > V8 der Wert von V8 kleiner als Null sein, so daß sich ein Prozeß für die B nicht lohnt. A kann sich darauf einstellen, daß er keine Schadenersatzzahlungen an B leisten muß. Ohne daß irgendeine Partei geklagt hat, setzt sich im Fall VA > V8 somit das effiziente Recht faktisch durch! Zusanunengefaßt ergibt sich für Punkt 3.: Das Vorliegen von TA > T8 schließt VA > VB nicht aus. Falls beide Ungleichungen bzw. Ungleichung (2.16) erfüllt sind, wird der Geschädigte nicht klagen, sondern auf die Schadenersatzzahlung des Schädigers verzichten. Ineffizientes Recht wird damit zwar noch nicht formell aufgehoben, faktisch entfaltet es aber keine Wirkung, da es nie in Anspruch genonunen wird. Die nachfolgenden Bemerkungen weisen auf weniger grundsätzliche Einschränkungen des Rubin-Modells hin. Nach Komhauser (1980) [105], 629 hängt die Überlebensfähigkeit einer Rechtsregel vor allem von vier Faktoren ab: (1) Der Häufigkeit, mit der Streitigkeiten unter einer bestinunten Rechtsregel auftreten, (2) dem Mechanismus, der bestimmt, ob es zum Prozeß oder zum Vergleich kommt, (3) dem Mechanismus, der die Höhe der Investitionen der Kontrahenten in einem Prozeß bestinunt und (4) dem Entscheidungsprozeß der Gerichte. Während Rubin die ersten beiden Faktoren in seinem Modell ausführlich diskutiert, beschäftigt er sich mit der Einflußgröße Gerichte praktisch gar nicht. Die Gerichte lassen sich im Rubin-Modell als ein Zufallsmechanismus auffassen, der in eine Urne greift, in der sich schwarze und weiße Kugeln befinden. Weiße Kugeln bedeuten: "die effiziente Regel soll gelten", schwarze Kugeln bedeuten "die ineffiziente Regel soll gelten". Annahmegemäß überwiegt die Anzahl schwarzer Kugeln und werden gezogene Kugeln wieder in die Urne zurückgelegt.20 Die Entscheidung, ob eine effiziente Rechtsregel gelten soll oder nicht, hängt somit nicht vom "Entscheidungsverhalten" des Entscheidungsträgers Gericht ab. Sie ist vielmehr zufallsbedingt, Ergebnis einer unsichtbaren Hand, die eine bestinunte Anzahl weißer und schwarzer Kugeln in die Urne gelegt hat! In Rubins Modell können Richter somit auch keine "anti efficiency values" verfolgen, 19 Angenommen folgende Zahlenwerte seien gegeben: TA = 2100, TB= 1000, X= 200, R = 0, 8, C = 100 (wie man anhand von (2.16) erkennt, ist der Wert von C irrelevant). Für VA ergibt sich: VA= - 0,8 · 200 + (1- 0, 8) · 2100- 100 = +160. V8 beträgt: 0, 8 · 200 + 0, 2( - 1000)- 100 = -140. D.h. VA > V8 • 20

Vgl. Annahme A 5 und Fall 1 des Rubin-Modells.

32

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

wie Posner (1986) [133] dies behauptet?' Sie sind zu einer Zufallsmaschine degeneriert. Gleichwohl läßt sich Posners Hypothese in Rubins Modell überführen, wenn man Annahme A 5 aufgibt und den Einwand am Rubin-Modell, daß Rubin der schrittweisen Anpassung ineffizienter Rechtsregeln an effizientes Recht keinen Raum lasse, ernst nimmt. 22 Tatsächlich folgt aus Annahme A 5 des Rubin-Modells, daß die Wahrscheinlichkeit R, mit der ein Kläger einen Prozeß gewinnt, im Zeitablauf konstant ist, solange eine Regel ineffizient ist und vor Gericht bestätigt wird. Der Fall, daß eine ineffiziente Rechtsregel vor Gericht zu Fall kommt und später unter der daraus hervorgegangenen effizienten Rechtsregel vor Gericht geklagt wird, ist im Rubin-Modell ausgeschlossen. Nachstehend wird gezeigt, wie sich graduelle Veränderungen der Rechtsprechung in zeitabhängigen Erfolgswahrscheinlichkeiten R abbilden lassen. Angenommen, die Erfolgswahrscheinlichkeit R sei für einen Kläger in Periode t + 1 abhängig von der Vorgeschichte in Periode t. Sei Z eine binäre Zufallsvariable, wobei Z = I Bestätigung einer ineffizienten Rechtsregel und Z = 0 Aufhebung einer ineffizienten Rechtsregel bedeute. Es gelte, daß eine Bestätigung einer ineffizienten Rechtsregel in Periode t zu einer Erhöhung von R in Periode t + 1 führe, d. h. also: dRr + I(Z) dR, (Z)

{ > 0 für Z = 1 < 0 für Z = 0

Verliert nun ein Beklagter einen Prozeß in Periode t, macht Ungleichung (2.5) ((1 - R)(TA- T8 ) > 2C) deutlich, daß wegen gestiegenem R ein Prozeß in Periode t + 1 unwahrscheinlicher wird und damit eine Beharrungstendenz zugunsten ineffizienter Rechtsregeln existiert. Umgekehrt wird aber auch erkennbar, daß für Z = 0 in t die Wahrscheinlichkeit R in Periode t + 1 sinkt und somit eine Klage unter ineffizientem Recht wahrscheinlicher wird. Abschließend noch eine Anmerkung zum Verhalten des Gerichts in Rubins Modell: Wie stellt sich Rubin den Mechanismus eines Präzedenzwandels vor? 21 "If the rule is inefficient, but stare decisis matters to the court, the effect of frequent Iitigation under the rule may be merely to solidify the rule. And if stare decisis competes with other judicial values, it becomes essential to specify those values.... if they are anti-efficiency values, the effect of more frequent Iitigation of inefficient than of efficient rules will be to aceeierate the march of the law away from efficiency" (Posner 1986 [133], 528). 22 Vgl. Lander/Posner (1979) [111], 261 und Reese (1989) [138], 333. In einem unveröffentlichten Manuskript, das 1993 auf der Tagung der European Association for Law and Econornics (EALE) präsentiert wurde, behandeln Bailey /Rubin den Fall einer graduellen Veränderung der Präzedenzbeibehaltungswahrscheinlichkeit R.

2.1 Der Common Law Process

33

"If parties go to court, B will probably win, since both parties agree that R > 0,5. However, whenever this situation arises in the future A will again go to court. At some point, some court will find in favor of A; at this point the law has been changed and is now efficient. ,m

Unter der Annahme, daß R im Zeitablauf konstant ist, werden die Parteien einen Präzedenzwandel nicht "irgendwann" erwarten. Als rationale Akteure werden sie vielmehr den Erwartungswert der Anzahl der Gerichtsverfahren kalkulieren, bei dem zum ersten Mal ein Präzedenzwandel auftritt. Dieser Kalkül ist identisch mit der Fragestellung, wie oft bei Ziehen mit Zurücklegen in die Urne gegriffen werden muß, damit zum ersten Mal eine weiße Kugel erscheint. Diese Frage läßt sich durch Berechnung des Erwartungswertes der geometrischen Verteilung beantworten. Sei R die Wahrscheinlichkeit, daß eine ineffiziente Präzedenz bestätigt wird, und NA die Anzahl der Prozesse, dann gilt: N E(NA) = ~ ~NA ·R· (I-R) r

NA= I

I

1

= --

I-R

Gilt z.B. R = 0,8, so kommt es nach 5 Prozessen zum Präzedenzwandel, I I - R

I

daE(N) = - - = - = 5 A

0,2

.

Komhausers dritter Faktor, der die Überlebensfähigkeit einer Rechtsregel beschreibt, ist der Mechanismus, durch den die Höhe der Investitionen der Kontrahenten in einem Prozeß bestimmt wird. Im Rubin-Modell fehlt ein solcher Prozeß. Laut Annahme A 8 ist die Höhe der Gerichtskosten C unabhängig vom Streitwert eines Prozesses und für die Parteien identisch. Diese Annahme wurde insbesondere von Goodman (1978) [65] kritisiert.Z4 Im Gegensatz zu Rubin sind bei Goodman die Gerichtskosten der Kontrahenten C 1 und C 2 endogen, und die Wahrscheinlichkeit, einen Prozeß zu gewinnen, hängt dann entscheidend von C 1 und C 2 ab. Rubins Hypothese "Je ineffizienter eine Regel, umso häufiger wird unter ihr geklagt" trifft dann nicht mehr zu. 25 Rubin (1977) [I47], 54. Eine kurze Darstellung des Goodman-Modells folgt in Abschnitt 2.1.5. 25 Eng verbunden mit der Frage der Investition in Gerichtsverfahren ist auch das Problem strategischen Verhaltens auf Seiten des Beklagten. Dieser kann nämlich versuchen, durch Investition in Anwälte die Erfolgswahrscheinlichkeit R des Klägers zu reduzieren, so daß dessen Erwartungswert aus einem Prozeß negativ wird. Vgl. hierzu d' Amato (1983) [8], 29 ff., Cooter/Rubinfeld (1989) [40], 1075ff. und Hirshleifer (1982) [93], 48. 23

24

3 Leder

34

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

Klagen Kontrahenten denn überhaupt immer nur unter ineffizienten Rechtsregeln, wie dies im Rubin-Modell erforderlich ist?26 Landes/Posner (1979) [111] haben ein Modell konstruiert, in dem sie gerade zur gegenteiligen Aussage gelangen: Es wird nur unter effizienten Rechtsregeln vor Gericht geklagt, während für ineffiziente Regeln gilt "that inefficient rules will lie dormant but at the same time will affect behavior - i. e. people will be guided by these rules in their allocation of resources to darnage avoidance but will not litigate when disputes arise" (Landes/Posner 1979 [111], 272).27 Dieser Widerspruch wird in Abschnitt 2.1.2 aufgegriffen. Ein wichtiger Aspekt blieb bei der Diskussion des Rubin-Modells bisher ausgespart: Wie werden Erwartungen über die Erfolgswahrscheinlichkeiten R gebildet, und müssen die Kontrahenten identische Erwartungen bilden? Gemäß Annahme A 5 des Rubin-Modells ist den Parteien die Erfolgswahrscheinlichkeit R des Klägers gegeben und damit auch identisch für beide Seiten. Rubin selbst begründet identische subjektive Wahrscheinlichkeiten auf der Grundlage des neoklassischen informationsökonomischen Ansatzes.Z8 Danach investieren Kontrahenten solange in die Erlangung von Informationen über den wahrscheinlichen Ausgang des Prozesses, bis der marginale Wert zusätzlicher Informationen den marginalen Kosten entspricht. Bei rationalen Akteuren gebe es dann keinen Grund dafür, unterschiedliche Wahrscheinlichkeitseinschätzungen bezüglich eines Prozeßausgangs anzunehmen. Dieser Ansicht wird mit guten Argumenten widersprochen. 29 Priest (1980) [135] zeigt anband eines Modells, daß die Wahrscheinlichkeit eines Prozesses zunimmt, je größer die Differenz der Erfolgseinschätzung der Parteien ist. Zu unterschiedlichen Erfolgseinschätzungen kommt es, wenn ein Dissens darüber besteht, welche Präjudizien zur Beurteilung eines anhängigen Falls entscheidend sind. 30 Genau dieses Problem definiert Rubin per Annahme weg: Welche Präjudizien in einem anhängigen Fall relevant sind, ist für ihn kein Thema mehr. Wie bei unterschiedlichen 26 Vgl. hierzu Kornhausers Kommentar: "Such a fact if true would be stunning. Are there no cantankeraus souls?" (Kornhauser 1989 (106], 629). 27 Zu einer ausführlichen Darstellung des Landes/Posner-Modells sei der Leser auf Abschnitt 2.1.2 verwiesen. 28 In einer Replik auf Priest (1977) [ 134], der unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten zuläßt, geht Rubin kurz auf diese Frage ein. Eine ausführliche Begründung zu Rubins Vorgehen findet man in Reese (1989) [138], 336ff. 29 Vgl. auch Kornhauser (1980) [105], 632. 30 Vgl. hierzu Priest (1980) [134], 410: "[I)f the substantive standard of decisions is efficiency, and if Iitigation costs exceed settlement costs, then Iitigation is likely to occur chiefly when the parties disagree over what the court will find the efficient outcome to be."

2.1 Der Common Law Process

35

Erfolgseinschätzungen der Parteien trotzdem eine Tendenz zu höherer Effizienz des Common Law auftreten kann, hat Priest (1977) [134] zu zeigen versucht. Auf dieses Modell wird in Abschnitt 2.1.4 näher eingegangen. Fassen wir unsere Erkenntnisse, die wir anband der Besprechung des Rubin-Modells über die Evolution des Common Law zu höherer Effizienz gewonnen haben, zusammen, so erkennen wir: Nur im Fall 1, also bei dauerhaftem Interesse beider Streitparteien an einer Präjudiz, evolviert das Common Law zu höherer Effizienz. Wie die Kritik am Rubin-Modell gezeigt hat, weist das Rubin-Modell jedoch lnkonsistenzen auf und lassen sich aus Rubins Modell, Fall 1, ebenso gut Aussagen ableiten, die eine Tendenz zu höherer Ineffizienz behaupten. Im folgenden Abschnitt 2.1.2 stellen wir das Modell von Landes/Posner (1979) [111] dar, die den graduellen Wandel von Präzedenzen und den Einfluß unterschiedlich hoher Prozeßkosten der Parteien erfassen. Im Abschnitt 2.1.3 präsentieren wir dann ein spieltheoretisches Modell, das weitgehend Rubins Annahmen folgt, aber dessen Inkonsistenzen vermeidet. Wir werden zeigen, daß sowohl das Rubin-Modell als auch das Landes/ Posner-Modell Spezialfälle unseres allgemeineren Modells sind. Im Modell von Priest (1977) [134] in Abschnitt 2.1.4 steht die Frage im Blickpunkt, ob Recht auch bei unterschiedlicher Erfolgseinschätzung zu höherer Effizienz konvergiert. Im Abschnitt 2.1.5 wird schließlich noch auf ein weiteres unsichtbare Hand-Modell eingegangen, das die Prozeßkosten als endogene Variable abbildet.

2.1.2 Gradueller Präzedenzwandel: Landes/Posner 2.1.2.1 Modelldarstellung Zwei Jahre nach Veröffentlichung von Rubins (1977) Artikel "Why is the Common Law efficient?" widmeten sich Landes/Posner der Frage, ob das Common Law über einen unsichtbaren Hand-Mechanismus zu höherer Effizienz evolviert. Wie Rubin sind auch Landes/Posner von der Leistungsfähigkeit unsichtbarer Hand-Prozesse überzeugt, nehmen aber im Gegensatz zu Rubin an, daß Präzedenzwechsel nur graduell auftritt. Graduelle Wirkung bedeutet, daß Bestätigung einer bestehenden Präzedenz dieser in Zukunft noch größeres Gewicht verleiht, Nichtbefolgung einer bisherigen Präzedenz nur zu einer Reduktion ihrer zukünftigen Wirkungskraft, nicht jedoch zu ihrer völligen Aufhebung führt. Im Rubin-Modell war der Präzedenzwechsel abrupt: Eine einmal nichtbefolgte, ineffiziente Präzedenz wurde effizient und blieb es dann in alle Zukunft. Außerdem führte die Bestätigung ineffizienter Präjudizien im Rubin-Modell nicht zu einer Veränderung der Erfolgswahrscheinlichkeit R. Landes/Posners zentrales Ergebnis lautet: 3*

36

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

"[L]igitation should arise mainly in areas where there is already a tendency toward efficiency and this tendency will be further strengthened by Iitigation creating additional precedents. Areas dominated by inefficient rules will tend to become dormant in terms of Iitigation activity." 31

Dieses Ergebnis ist höchst bemerkenswert, wenn man es mit dem Ergebnis von Rubin vergleicht: Sowohl Landes/Posner als auch Rubin gelangen zum selben Resultat, wonach das Common Law zu höherer Effizienz evolviert. Während aber bei Landes/Posner unter bereits effizienten Regeln geklagt wird und hieraus ein Anstieg der Effizienz des Rechts resultiert, wird bei Rubin nur unter ineffizienten Regeln geklagt. Uns interessiert hier, worauf dieser Unterschied zwischen Rubin und Landes/Posner zurückzuführen ist. Der Unterschied impliziert das Vorliegen unterschiedlicher Triebkräfte, die für die Evolution des Common Law verantwortlich sein müßten. Weiche Determinanten sind es also, die Landes/Posner veranlassen, anzunehmen, es würde hauptsächlich unter effizientem Recht geklagt, obwohl Rubin gerade das Gegenteil behauptet? Landes/Posner gehen auf diesen Unterschied zum Rubin-Modell nur beiläufig ein. 32 Sie setzen sich im wesentlichen mit der unterschiedlichen Behandlung des Einflusses gegenwärtiger Gerichtsentscheidungen auf die bisherige Präjudiz auseinander. In der weiteren Literatur zur Effizienz des Common Law33 wird diese Frage nicht beleuchtet, was u. a. damit zusammenhängen mag, daß dort die Effizienz (als erwünschtes Ergebnis des Evolutionsprozesses) und nicht der Prozeß, der zum Ziel führt, im Vordergrund steht. Wir werden im Abschnitt 2.1.2.2 folgende Ergebnisse herleiten: (1) Der Widerspruch zwischen dem Rubin-Modell und dem Landes/ Posner-Modell in Bezug auf die Effizienz der Rechtsregeln, unter denen geklagt wird, kann aufgelöst werden. Er beruht darauf, daß Landes/Posner graduellen Präzedenzwandel zulassen und prinzipiell den Übergang von effizienten zu ineffizienten Präzedenzen zulassen. Dies führt durch ihre spezifische Modellierung dazu, daß nur noch unter effizientem Recht geklagt wird. (2) Unter den von Landes/Posner getroffenen Annahmen kann das Common Law nur in Richtung höherer Effizienz evolvieren. Alle Möglichkeiten, die eine Erhöhung der Anzahl ineffizienter Regeln zulassen würden, werden explizit oder implizit ausgeschlossen. Nachstehend stellen wir zunächst das Landes/Posner-Modell vor. In Abschnitt 2.1.2.2 remodeliieren wir das Landes/Posner-Modell aus der Landes/Posner (1979) [111], 261. Vgl. Landes/Posner (1979) [111], 269f. Fn.78. 33 Vgl z. B. die Überblicksartikel von Aranson (1986) [10] und Cooter/Rubinfeld (1989) [40]. 31

32

2.1 Der Common Law Process

37

Rubin-Perspektive, indem wir annehmen, daß sich der Präzedenzwechsel abrupt vollzieht. Das Rubin-Ergebnis wird das Resultat dieser Remodeliierung sein. Danach werden wir den scheinbaren Widerspruch zwischen dem Landes/Posner-Modell und dem Rubin-Modell auflösen. Schließlich werden wir eine interessante Nuance des Landes/Posner-Modells beleuchten Unsicherheit darüber, welche Rechtsregeln in einem anhängigen Fall entscheidungsrelevant sind. Landes/Posner gehen wie Rubin von einem Unfall aus. 34 Allerdings ist nun Person A ein Fußgänger, der vom AutofahrerB verletzt wird. Im Vergleich zum Rubin-Modell werden einige Annahmen geändert. Ai A 1 des Rubin-Modells fällt weg. Ai In die Unfallkosten S gehen sowohl alle zukünftigen Schäden als auch Unfallvermeidungskosten ein. Die Unfallkosten S sind davon abhängig, wie hoch die Wahrscheinlichkeit R ist, daß der least cost avoider B für Schäden und Vorsorgemaßnahmen aufzukommen hat. Es gelte: S = S(R)

wobei

fJS - I fJR I gilt I fJR I< 0. Die hinter dieser Annahme stehenden Zusammenhänge sind graphisch in der Abb. 2.1 zusammengefaßt. A ; A 3 des Rubin-Modells wird beibehalten. 36 A~

Es wird angenommen, daß B der eheaper cost avoider ist. "B is by definition the eheaper cost avoider and therefore the efficient legal rule is for B to be liable." 37

A ; Präzedenzwechsel vollzieht sich nur graduell und symmetrisch?8 R bezeichne die Wahrscheinlichkeit, daß der Kläger A einen Prozeß gewinnt. A6- Ai A 6

-

A 8 des Rubin-Modells gelten analog im Landes/Posner-Modell.

Landes/Posner führen in ihrem Modell drei verschiedene Zustände des Rechts ein. Zustand 0 kennzeichnet eine außergerichtliche Einigung, Zustand 1 ist die Situation, daß A einen Prozeß gewinnt und Zustand 2, daß Vgl. zur folgenden Darstellung Landes/Posner (1979) [111], 263ff. Die Vorsorgekosten sA und S 8 entsprechen den Unfallgesamtkosten TA und Ts im Rubin-Modell. 36 Landes/Posner (1979) [111], 264, Fn. 69. 37 Landes/Posner (1979) [ 111], 267. 38 Vgl. Landes/Posner (1979) [111], 270: "Our analysis, in contrast to Rubin's, assumes that current decisions generate marginal and symmetric changes in precedents - i. e., an inefficient rule becomes more or less durable depending on whether the outcome of the current trial is or is not on conformity with it." 34 35

38

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

s

s

R Abbildung 2.1: Unfallvermeidungskostenfunktionen

B einen Prozeß gewinnt. Gemäß A 5gewinnt A einen Prozeß mit W ahrscheinlichkeit R. S1, Sf kennzeichnen somit in Verbindung mit A; die Vorsorgekosten von A und B in Abhängigkeit davon, welcher Zustand i eintritt.39 Ob es nach einem Unfall zum Prozeß zwischen A und B kommt, hängt von den Auszahlungen ab, die A und B im Vergleich zu einer außergerichtlichen Einigung erzielen. A's erwarteter Nettogewinn GA (Landes/Posners GA entspricht Rubins VA) aus einem Gerichtsverfahren setzt sich aus den Schadenersatzzahlungen und der erwarteten Änderung ·seiner zukünftigen Vorsorgekosten abzüglich der Gerichtskosten zusammen. (2.17)

GA = RX + [s~- (Rs~

+ (1 - R)s1)] - c

S~ - (RS1 + (1 - R)S~) kennzeichnet die Änderung zukünftiger Vorsorgekosten, wenn S~ als Referenzpunkt gewählt wird und A vor Gericht zieht. In einer Fußnote vermerken Landes/Posner, daß sie aA > 0 annehmen, weil sonst A keinen Prozeß anstrengen würde. 40

Analog gilt für die Nettoauszahlung des B aus einem Prozeß im Vergleich zur außergerichtlichen Einigung: (2.18) 39

40

G8

= -RX + [sg - (Rsf + (1 -

Landes/Posner (1979) [111], 267ff. Vgl. Landes/Posner (1979) [111], 268, Fn. 76.

R)S~)J -

c

2.1 Der Common Law Process

39

Zu einem Prozeß zwischen A und B kommt es dann, wenn die Gewinne von A die Verluste von B übersteigen, d.h. B dem A in einem außergerichtlichen Vergleich weniger bietet, als A durch ein Gerichtsurteil erwarten kann. Die Entscheidung, ob es zum Prozeß kommt, hängt somit davon ab, ob der Gruppengewinn bzw. die Kooperationsrente 71' positiv oder negativ ist. 41 (2.19)

Analog zu Rubins Modell, Fall 1, gehen Landes/Posner zunächst auch davon aus, daß beide Parteien gleichermaßen ein hohes Interesse an zukünftigen Präzedenzen haben. Außerdem entspreche für jede Partei die sich im Fall eines Prozeßgewinns ergebende Abnahme zukünftiger Kosten betragsmäßig der Zunahme zukünftiger Kosten aus einem verlorenen Prozeß (Landes/Posner 1979 [111], 271 , Fn. 82). D.h. es gilt (2.20) (2.21)

Setzt man nun (2.17) und (2.18) in (2.19) ein und berücksichtigt man dabei Gleichungen (2.20) und (2.21), so erhält man: 71'

= -2C + [S~ - (RS~ + (1- R)S~)] + [sg- (RSf + (1 - R)S~)] =

-2C + R(S~- S~) + R(Sg- Sf) + (S~- S~)

+ (sg- S~)- R(S~ (2.22)

= - 2C + (R- (1 -

R))(ßSA

S~)- R(sg-

sn

+ ßS 8 ) ~0

Ungleichung (2.22) ist die zentrale Gleichung des Landes/PosnerModells. Der Term (~SA +~SB) ist annahmegemäß positiv, denn die Kostenreduktion bei A ist laut Annahme größer als der Anstieg von B' s Kosten. Es ist offensichtlich, daß 71' nur dann größer null sein kann, wenn (R- (1 - R)) positiv ist, was R > 0,5 impliziert. Landes/Posner ziehen aus Ungleichung (2.22) das folgende Resumee:

A;

(1) "[T]he disputes most likely to go to trial are those where, on balance, the existing precedents already favor an efficient outcome (i. e., the probability that B is liable is greater than .5)." 42 41 Der Fall, daß 71' = 0 gilt, wird von Landes/Posner nicht diskutiert. 71' = 0 läßt sich sowohl der Bedingung für das Zustandekommen eines Prozesses als auch für einen außergerichtlichen Vergleich zuordnen. 42 Landes/Posner (1979) [111], 272.

40

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

(2) "When the legal rules that govem particular disputes are uncertain, disputes will never be litigated if an inefficient outcome is more likely than an efficient one (p < .5)." 43 Während im Rubin-Modell also nur unter ineffizienten Rechtsregeln geklagt wird, findet im Landes/Posner-Modell ein Prozeß nur unter effizienten Rechtsregeln statt. In beiden Modellen wird jedoch eine Erhöhung der Effizienz von Regeln im Zeitablauf postuliert. Wie Rubin zeigen Landes/Posner in weiteren Modellvarianten, daß wenn nur eine Partei dauerhaftes Interesse an zukünftigen Präjudizien hat, diese Partei auch die Evolution der umstrittenen Rechtsregel bestimmt.44 Wenn beide Parteien um das bestehende Recht herum kontrahieren können, d. h. Bestechungszahlungen möglich sind, besteht unter bestimmten Bedingungen eine Tendenz zugunsten der Erhöhung der Effizienz von Rechtsregeln.45 Fassen wir die zentrale Botschaft des Landes/Posner-Modells über die Evolution des Common Law Systems mit deren eigenen Worten zusammen, so gilt: "[I]n the case of strong and symmetric future stakes . . . the Common Law system of rule creation is based in favor of efficiency not necessarily because of any systematic judicial preference for efficient outcomes but as a function of the sample of cases that are likely to be litigated in a system where the decision to sue or litigate and the investment in Iitigation are private. " 46 2.1.2.2 Modellkritik Im folgenden geht es uns zunächst darum, den Widerspruch zwischen dem Rubin-Modell und dem Landes/Posner-Modell aufzulösen. Wir werden in zwei Modellvarianten zeigen, daß das Rubin-Modell in das Landes/Posner-Modell überführt werden kann. Dabei wird ein Sperrklingeneffekt des Rubin-Modells hergeleitet, der es verhindert, daß Common Law-Regeln ineffizient werden, nachdem sie einmal effizient gewesen sind. In Modellvariante 1 stellen wir das Landes/Posner-Modell aus der Rubin-Perspektive vor. Rubin-Perspektive bedeutet, daß der Präzedenzwandel sich abrupt vollzieht und daß die Präzedenz anfänglich die ineffiziente Allokation begünstigt. 43 44 45 46

Ebenda. Landes/Posners p ist mit unserem R identisch. Vgl. Landes/Posner (1979) [111], 279f. Vgl. Landes/Posner (1979) [111], 275f. Landes/Posner (1979) [11 I], 273.

2.1 Der Common Law Process

41

Somit hat der Geschädigte A mit Wahrscheinlichkeit (1 - R) den Schaden zu tragen, obwohl der Schädiger B der least cost avoider ist. Gewinnt B den Prozeß, verändern sich die Vorsorgekosten von A und B nicht gegenüber der Situation, in der sich die Kontrahenten außergerichtlich einigen. Wir können deshalb auch schreiben: S~ = S~ und sg = Wenn wir diese beiden Modifikationen in Gleichungen (2.17) und (2.18) vornehmen, erhalten wir (2.23) und (2.24)

Sf.

GA= -C- [S~- (RS~

(2.23)

= =

+ (1- R) S~)]

-C + R(S~ - S~) -C+Rf:::..SA

(2.24)

Da es zu einem Prozeß nur kommt, wenn die Summe aus GA und GB positiv ist, erfordert dies, daß IGA I < GB. Die Bedingung für einen Prozeß lautet somit: 47 (2.25)

Aus (2.25) wird sofort erkennbar, daß ein Gerichtsverfahren mit zunehmendem R wahrscheinlicher wird. Da R jedoch auch Werte unterhalb von 0,5 annehmen kann - was im Rubin-Modell gerade der Fall ist48 - steigt die Wahrscheinlichkeit für einen Prozeß auch mit zunehmenden Kosten ineffizienter Präzedenzen, die durch den Tenn (~SA +~SB) zum Ausdruck kommen. Man beachte nun, daß im Landes/Posner-Modell aus der Rubin-Perspektive die Erfolgswahrscheinlichkeit R in Ungleichung (2.25) nie größer als 0,5 werden kann. Sobald R einen Wert größer oder gleich 0,5 erreicht, wird es gemäß der Rubin-Logik auf den Wert eins angehoben. Der Ausdruck (~SA +~SB) wird negativ, weil keine Effizienzsteigerung mehr möglich ist, so daß auch Dispute nicht mehr im Interesse der Kontrahenten sind. Vergleicht man nun (2.22) und (2.25), stellt man fest, daß in (2.25) der Tenn - (1 - R) fehlt. Dies ist auf den Umstand zurückzuführen, daß Rubin die Möglichkeit ausschließt, eine effiziente Präzedenz könnte jemals abgeschwächt werden. Rubin führt somit eine Art "Sperrklingeneffekt" in sein 47 Ungleichung (2.25) entspricht der Relation, die Landes/Posner (1979) [111], 269, Fn. 78 herleiten. 48 Im Rubin-Modell ist A der Schädiger, B die Geschädigte, und es kommt zum Prozeß unter ineffizientem Recht für R > 0, 5. Im Landes/Posner-Modell sind die Rollen gerade vertauscht: der B verletzt A und ist eheaper cost avoider. Hier sind Regeln effizient, wenn R > 0, 5 gilt, ineffizient also, wenn R < 0, 5.

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

42

Modell ein, die bewirkt, daß das Common Law nur in eine Richtung evolviert. In einer zweiten Modellvariante nehmen wir an, daß R die Erfolgswahrscheinlichkeit für die Bestätigung ineffizienter Präzedenzen kennzeichnet, A die B verletzt, und das Recht die B begünstigt, obwohl sie eheaper cost avoider ist. Wir nehmen hier also genau die Fallkonstellation an, die im Rubin-Modell, Fall 1, vorliegt. In diesem Fall kommt es zum Prozeß, wenn A der B in einem außergerichtlichen Vergleich zu wenig bietet, d. h., wenn IGAI < GB. Die Bedingung für die Veranlassung eines Gerichtsverfahrens lautet dann: (2.26)

was genau Rubins Bedingung für einen Prozeß entspricht. 49 In Rubins Modell ist diese Bedingung allerdings nur erfüllt, wenn R > 0,5. Andernfalls kommt es gar nicht erst zu einem Disput zwischen A und B. Warum kann das Common Law im Rahmen der Landes/Posner-Weltsicht wie bereits erwähnt nur zu höherer Effizienz evolvieren? Eine Antwort auf diese Frage erhalten wir, wenn wir die Gleichungen (2.17) und (2.18), Ungleichung (2.18) sowie die Annahmen des Landes/PosnerModells genauer ins Blickfeld ziehen. Zu einem Prozeß kann es im Rahmen des Landes/Posner-Modells nur kommen, wenn GA > 0. Wie bereits oben erwähnt, sehen Landes/Posner ein GA > 0 als notwendige und hinreichende Bedingung dafür an, daß A seinen Anspruch gegenüber B auch vor Gericht vorträgt. Ein GA > 0 setzt zwingend voraus, daß G 8 < 0, weil nur eine Seite aus dem Prozeß als Sieger hervorgehen kann, und daß IG 8 1 < GA. Wann gilt nun GA > 0? Aus (2.17) folgt: GA = RX + [S~ - (RS~

+ (1 -

R)S~)] -

c

= RX + R(S~- S~)- R(S~- S~) + (S~- S~)- C (2.27)

= RX- ß.SA- C

RX ist ein positiver Term, t:J..SA ist wegen A~ negativ, also - t:J..SA positiv, so daß -C als einziger negativer Term in (2.27) verbleibt. Unter den getroffenen Annahmen kann der Geschädigte gemäß (2.27) aus einem Prozeß immer nur als Sieger hervorgehen - er wird auf einen Prozeß dann verzichten, wenn die Gerichtskosten seinen erwarteten Gewinn RX- t:J..SA 49

Vgl. Abschnitt 2.1.1.1 , Ungleichung (2.5).

2.1 Der Common Law Process

43

überkompensieren. Der AutofahrerB kann also annahmegemäß nur als Verlierer aus einem Prozeß hervorgehen. Somit bleibt nur noch zu prüfen, ob im Landes/Posner-Modell GA > 0 auch R > 0,5 voraussetzt. Ungleichung (2.22) gibt hierauf die Antwort. Dadurch, daß Landes/Posner den Übergang von effizienten zu ineffizienten Präzedenzen als Denkmöglichkeit zulassen, müssen sie die Komplementärwahrscheinlichkeit von R, also (1 - R), in ihr Modell aufnehmen. Da der Ausdruck (R - (1 - R)) in Ungleichung (2.22) nur dann größer als Null ist, wenn R > 0,5, folgt hieraus zwangsläufig, daß Landes/Posner nur bereits effiziente Rechtsregeln als Basis für einen Gerichtsprozeß ins Auge fassen können. Damit ist der Zirkel geschlossen: Das Recht evolviert zu höherer Effizienz, weil nur unter effizienten Rechtsregeln geklagt werden kann! Abschließend wollen wir auf eine Anmerkung von Landes/Posner zur Bedeutung unterschiedlicher Einschätzungen der Erfolgswahrscheinlichkeit R eingehen. Landes/Posner hatten aus Ungleichung (2.22) den Schluß gezogen, daß wenn "the legal rules that govern particular disputes are uncertain, disputes will never be ligitated if an inefficient outcome is more likely than an efficient one (p < .5)." 50 Unter ineffizienten Regeln wird also nicht geklagt, aber: "[P]eople will be guided by these rules in their allocation of ressources to darnage avoidance .... This surprising result, however, is probably an artifact of our assumption that the parties always agree on p. In fact, different estimates by disputants of the likely outcome of Iitigation are probably a very important, indeed dominant, cause of litigation." 51 So richtig die Erkenntnis von Landes/Posner ist - zu einem Prozeß kommt es, wenn sich die Kontrahenten ein widersprüchliches Bild über den Ausgang eines Prozesses machen, so gravierende Konsequenzen hat dies für ihr eigenes Modell. Welche Annahme halten denn Landes/Posner nun für die plausiblere: identische Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit R oder unterschiedliche Einschätzungen durch die Kontrahenten? Das gesamte Landes/PosnerModell baut auf identischer Einschätzung von R auf - so wie sich das für Akteure mit rationalen Erwartungen auch gehört. Ein gerichtlicher Streit kann zwischen rationalen Akteuren dann aber nur noch auftreten, wenn die Natur sie dazu zwingt, d. h. wenn technologische und nicht verhaltensbedingte Annahmen einen außergerichtlichen Vergleich verhindern. Landes/ Posner erkennen zwar, daß sie mit dieser Logik in der Realität auftretende 50 51

Vgl. Landes/Posner (1979) [lll], 272. Ebenda.

44

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

Gerichtsverfahren nur unzureichend erklären können, ziehen aber nicht die entsprechenden Konsequenzen daraus. Sind es nicht tatsächlich unterschiedliche Einschätzungen der Zukunft z. B. bezüglich des zukünftigen Gerichtsverfahrens - die Menschen zu Gerichtsverfahren statt zu außergerichtlichem Vergleich veranlassen? Viel spricht für Priests Standpunkt: "If the relative costs and benefits of a judgement are clear, the parties are likely

to settle the dispute in order to tak:e advantage of the savings of Iitigation costs . . . . . As long as mutual gains were available from settlement, the parties would be likely to litigate only those disputes for which judge Posner hirnself would have the greatest difficulty in determing the truly efficient outcome." 52

2.1.3 Teilspielpeifekte Gleichgewichte: Leder!Koboldt!Schmidtchen

Das im folgenden dargestellte Modell von Leder/Koboldt/Schmidtchen verfolgt wie das Rubin-Modell das Ziel, die Entscheidung zu klagen und einen Präzedenzwandel herbeizuführen, als unsichtbaren Hand-Mechanismus zu modellieren. 53 Auch in diesem Modell spielen Richter also keine Rolle. Allerdings wird versucht, die Inkonsistenzen des Rubin-Modells zu vermeiden. Die Entscheidung, ob es zu einem Prozeß mit möglichem Präzedenzwandel kommt, wird durch ein allgemeines spieltheoretisches Modell hergeleitet. Die wichtigsten Ergebnisse sind die folgenden: (1) Es sind Situationen modellierbar, in denen entweder unter effizienten

oder ineffizienten Rechtsregeln prozessiert wird. Damit zeigen wir auf, wie sich das Rubin-Modell und das Landes/Posner-Modell (1979) [111) in ein allgemeineres Modell überführen lassen.

(2) Es lassen sich Situationen modellieren, in denen das vorherrschende Recht ineffizient ist, und es trotzdem nicht zu einem Prozeß kommt, weil VA > V8 gilt. Bei Rubin fehlte dieser wichtige Fall. (3) Die Bedingungen dafür, daß das Common Law zu immer höherer Effizienz evolviert, sind sehr restriktiv. Es wird analog zu Rubin und Landes/Posner von einem Problem des Deliktrechts ausgegangen. Autofahrer A verletzt Fußgängerio B, die einen Schaden in Höhe von X erleidet. Wir nehmen folgende Annahmenveränderungen im Vergleich zum Rubin-Modell vor: Priest (1980) [134], 410f. Der Verfasser dankt Roland Kirstein für dessen wertvolle Hinweise und Kritik an der Ursprungsversion des Modells. 52 53

2.1 Der Common Law Process

Ai

45

Die Unfallvermeidungskosten SA, die A freiwillig aufwendet, sind exogen gegeben und folgen nicht aus einem Kostenminimierungskalkül. Dasselbe trifft für S8 zu.

Diese Annahmeveränderung ist erforderlich, um die infinite Regreßproblematik des Rubin-Modells zu vermeiden. In unserem Modell sind die Unfallvermeidungskosten also unabhängig von der Frage, ob es zum Prozeß kommt oder nicht.

Ai

Die Gesamtunfallkosten TA sind vollkommen reversibel und mit den Unfallvermeidungskosten SA identisch, d. h. S A = TA.

Mit dieser Annahme tragen wir zum einen der sonst auftretenden Problematik spezifischer Investitionen Rechnung. 54 Zum anderen läßt sich der infinite Regreß des Rubin-Modells nur vermeiden, wenn auch TA und TB exogene Größen sind. Dies impliziert, daß die Anzahl zukünftiger Schadenersatzzahlungen, die ja davon abhängig sind, wann und ob es zum Präzedenzwandel kommt, nicht in die Größe TA bzw. TB einfließen. Die Annahmen A 3 - A 8 des Rubin-Modells gelten auch für unser Modell. 2.1.3.1 Modelldarstellung Nachstehend befassen wir uns mit folgenden beiden Fragen: (1) Kommt es bei Gültigkeit der Annahmen A;' , Ai sowie A 3 - A 8 des Rubin-Modells zu einem Prozeß, wenn beide Parteien Interesse an einer für die Zukunft geltenden Präzedenzregelung haben (Rubin-Modell, Fall 1)? (2) Ist eine Tendenz des Common Law zu höherer Effizienz diagnostizierbar, wenn es zu einem Prozeß kommt? Wir beantworten diese Fragen anband eines sequentiellen Spiels, indem wir die Strategiewahlen, die zu teilspielperfekten Gleichgewichten führen, bestimmen. Wie im Rubin-Modell gehen wir davon aus, daß Spieler A als Autofahrer die Spielerio B, eine Fußgängerin, verletzt hat. Der B entstand bei dem Unfall ein Schaden in Höhe von X. Die zum Zeitpunkt des Unfalls gültige Präzedenz besage, daß der Autofahrer A der Fußgängerio B den Schaden zu erstatten habe - unabhängig davon, ob nun TA < TB (Fall 1) oder TA > TB (Fall 2) gelte. 54 Wie in 2.1.1.2 dargelegt, ist die Annahme vollreversibler Schadensvorsorgekosten mit einem "pro-efficiency-bias" verbunden, d. h. es wird hierdurch modellimmanent eine Tendenz zugunsten ökonomischer Effizienz eingeführt.

46

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

Dem A stehen zwei Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung: z bedeutet, daß A Schadenersatz in Höhe von X zahlt, -, z bedeutet, daß A sich weigert, Schadenersatz zu zahlen.55 Wenn A sich weigert, derB Schadenersatz zu zahlen, stehen dieser zwei Aktionen zur Verfügung. Sie kann entweder vor Gericht klagen, k, oder auf eine Klage verzichten: -, k. Klagt B vor Gericht, so gewinnt sie den Prozeß mit Wahrscheinlichkeit R. Mit Wahrscheinlichkeit (1 - R) gewinnt der Beklagte A. Für die Spieler ergeben sich hieraus folgende Auszahlungen (vgl. Abb. 2.2). 56 Kommt es zum Prozeß, d. h. klagt B, müssen beide Parteien in jedem Fall Kosten in Höhe von C für Anwälte und das Gerichtsverfahren tätigen. Gewinnt B den Prozeß, so erhält sie von A eine Schadenersatzzahlung in Höhe von X. Verliert B den Prozeß, so muß sie in Zukunft Vorsorgemaßnahmen ergreifen, die zu einer Auszahlung -TB führen. Umgekehrt kann A im Fall eines Prozeßgewinns seine getätigten Vorsorgeaufwendungen in Höhe von TA rückgängig machen - die Annahme reversibler Vorsorgekosten ermöglicht dies. Klagt B nicht, werden keine Auszahlungen in Gang gesetzt. Wenn A in einem Vergleichsverfahren bereit ist, der B den Schaden zu ersetzen, so betrage diese Auszahlung für ihn -X.57 Zur Bestimmung teilspielperfekter Gleichgewichte bedienen wir uns der Methode der Rückwärtsinduktion. Wir betrachten also den Knoten, an dem die B zu entscheiden hat, ob sie klagen will oder nicht. DieB wird dann und nur dann klagen, wenn der Wert VB(k), den sie aus einer Klage erwarten kann, den Wert eines Verzichts auf Klage VB(' k) überschreitet. (2.28)

VB(k)

= R ·(X - C) + (1 = R ·X

(2.29)

+ (1 -R)(VB(·k)

R)( - TB - C)

TB)- C

=0

55 Mit dieser Modellierung haben wir das Settlement-Spiel drastisch vereinfacht sie ist für unsere Zwecke aber ausreichend. Der an der Modellierung von Settlement-Spielen interessierte Leser sei auf Cooter/Rubinfeld (1989) [10], 1075ff. sowie die dort angegebene Literatur verwiesen. 56 Die Auszahlungen des A stehen jeweils links oben, die. Auszahlungen der B rechts unten an den Endknoten des Spielbaums. 57 Es ist nicht zwingend erforderlich, daß die Schadenausgleichszahlung des A im Stadium eines Vergleichs der Höhe des verursachten Schadens entspricht. Im Settlement-Spiel hängt die Höhe der Schadenausgleichszahlung u. a. von der relativen Stärke der Parteien ab. Wir wählen eine Ausgleichszahlung in Höhe des Schadens X, weil dies eine Erleichterung bei der Berechnung der teilspielperfekten Gleichgewichte darstellt.

47

2.1 Der Common Law Process

-X-C X-C

0 0

-X

X

Abbildung 2.2: Spielbaum des Prozeßspiels

Die B wird also klagen, falls R ·X+ (1- R)(-TB) - C > 0

(2.30)

R · X - C > ( 1 - R) · TB

Ungleichung (2.30), im folgenden auch als Klagebedingung (KB) bezeichnet, gibt folgenden Kalkül wieder: Die B wird einen Prozeß anstrengen, wenn der erwartete Nettogewinn die erwarteten Verluste übersteigt. Ist die Klagebedingung KB nicht erfüllt, so wird dieser Fall mit NKB bezeichnet. Der Autofahrer A wird immer dann der B einen Schadenausgleich in Höhe von X zahlen, wenn der Wert dieser Alternative (VA(z)) größer ist als die Auszahlung VA(-,z), die aus einer Nichtzahlung des A resultiert. Der Wert VA (-, z) kann jedoch nicht angegeben werden, ohne vorab die optimale Antwort derB auf die Wahl von -,z zu kennen. Wir wollen die Bedingung, daß der A der B einen Schadenausgleich in Höhe von X zahlt, als Zahlungsbedingung (ZB) bezeichnen. Ist die Zahlungsbedingung ZB nicht erfüllt, so liegt der Fall NZB vor. Um die Zahlungsbedingung abzuleiten, betrachten wir zunächst die strategische Form des extensiven Spiels:

48

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

B

k

A

z

-X

-,z

EA

-,k

-X

X

X

0

EB

0

Für EA gilt: EA

= VA(-,z , k) = R · (-X-C)+ (I =

(2.3I)

R)(TA- C)

-R ·X+ (I - R) ·TA - C

VA(Z) =-X EB

= VB(-,z, k) = R ·(X-C)+ (I

-R)(-TB- C)

A wird also zahlen, wenn - X > - RX + (I - R) TA - C

(2.32)

bzw.

(I - R)( -X) > (I - R) TA- C

Ungleichung (2.32) besagt, daß der A bei einem Vergleich immer dann einer Zahlung in Höhe von X zustimmt, wenn die erwarteten Kosten des Schadenersatzes geringer sind als die erwarteten Nettogerichtskosten. Nachdem wir die mit der Wahl einer bestimmten Strategie verbundenen Auszahlungen jetzt kennen, können wir zur Berechnung der teilspielperfekten Gleichgewichte übergehen. Gleichgewicht 1

Für Gleichgewicht 1 gilt: A zahlt der B einen Schadenausgleich, falls die erwarteten Kosten des Schadenersatzes geringer sind als die erwarteten Nettogerichtskosten bei einer Klage der B. KB und ZB müssen also gleichzeitig vorliegen. Somit stellen (2.32) und (2.30) notwendige und hinreichende Bedingungen dar: (2.33) (2.34)

(1 - R)(- X) > (I - R)TA - C RX- C

> (I - R)TB

49

2.1 Der Common Law Process

{z, k} stellt das teilspielperfekte Gleichgewicht des Spiels dar. Ein Zahlenbeispiel sowie die Darstellung in extensiver Form und Normalform dienen zur Verdeutlichung: X= 50 R =0,9

TA= 100 TB= 10

C=40

Daraus ergeben sich die folgenden VA- und VB-Werte (vgl. (2.31) und (2.28)): VA(•z, k) V8 (•z, k)

= -45 + 10-40 = -75 = 45- 1-40 = 4

Wir erhalten dann die folgende Spielmatrix nebst Spielbaum:

B

k

A

z

•Z

-50 50

-75

·k

-50 0

4

50 0

-75

0

-50 50 4 Leder

4

0

50

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

Das teilspielperfekte Nash-Gleichgewicht ist hier {z, k} mit der Auszahlung (-50, 50).

Gleichgewicht 2 Gleichgewicht 2 beschreibt den Fall, daß die B auf einen Prozeß verzichtet (NKB, vgl. (2.35)): (2.35)

RX - C < (1 - R)T8

Wenn B die Aktion •k wählt, dann ist mit X, C, T8 > 0 die Handlung

•z für den A immer die beste Antwort. Der Gleichgewichtspfad ist also (•z,-.k).

Um diesen Gleichgewichtsfall zu erhalten, verändern wir den Wert von

T8 im Zahlenbeispiel von Gleichgewicht 1. Die Parameter lauten: X= 50

R=0,9 C=40 Für den Spielbaum und die Normalform gilt dann:

-75

-1

0

- 50 50

0

2.1 Der Common Law Process

B

k

A

z

-50

-,z

-75

50

-1

51

·k -50

0

50

0

{z, k} und {--, z, --, k} sind Nash-Gleichgewichte. Wegen NKB aber nur {'Z, --,k} teilspielperfekt.

===} --, k

ist

Gleichgewicht 3 Gleichgewicht 3 stellt den Fall dar, daß es zu einem Prozeß kommt, also KB und NZB gleichzeitig gelten. Als Gleichgewichtspfad stellt sich (--,z, k) ein. Notwendige und hinreichende Bedingungen hierfür sind die Geltung der Ungleichungen (2.36) und (2.37): (1- R)TA- C > (1- R)(-X)

also (2.36)

c

TA > - - - X

1- R

und außerdem RX- C > (1 - R)T8

d.h. (2.37)

Tn
TA oder TA > T8 .

4*

52

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

Fall 1: To >TA

Im Fall I, wonach T8 > TA, müssen folgende Relationen gelten (vgl. auch Abb. 2.3, in der die in (2.38) enthaltenen Relationen graphisch dargestellt sind):

• • • • 18

- 1 (RX1-R

Abbildung 2.3: Parameterrelationen im Klagefall

(2.38)

c 1 1 _ R - X < TA < TB < 1 _ R (RX - C) 1

(2.39)

0

(2.40)

0 < TB - TA
C)

2.1 Der Common Law Process

B

k

A

{--,z, k} R

z

-50

-.z

-49

-.k

-50

50

0

25

53

50 0

stellt das teilspielperfekte Gleichgewicht dar.

Wird in Fall 1 nur unter effizienten Regeln geklagt, also nur, falls

> 0,5? Unter der oben getroffenen Annahme, daß der Autofahrer A unab-

hängig von Effizienzüberlegungen, TA > TB oder TA < TB, schadenersatzpflichtig ist, würde R < 0,5 zu einem Widerspruch führen. Denn ein R < 0,5 würde bedeuten, daß beide Parteien die Erfolgswahrscheinlichkeit

des A vor Gericht für höher halten als für die Geschädigte B - was offensichtlich der Annahme widerspricht, A sei unabhängig von Effizienzüberlegungen TA > TB oder TA < TB schadenersatzpflichtig. Wegen R > 0,5 und TB > TA wird im Fall 1 also nur unter effizienten Regeln geklagt.

Im Fall 2, d. h. TA > TB, stellen die Ungleichungen (2.36) und (2.37) ebenfalls die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Zustandekommen eines Prozesses dar. Es gilt nun: (2.41)

0 < TA- TB >

2C-X I

-R

Fall 2 ist asymmetrisch zu Fall 1. Es läßt sich keine eindeutige Relation

c

1

c

zwischen - - - X und - - (RX - C), - - - X und T8 sowie 1 1-R l-R l-R 1 _ R (RX - C) und TA angeben. Nur TA > T8 steht per Annahme fest. Für Fall 2 gelte folgendes Zahlenbeispiel:

54

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

X=50

R=0,9 C= 10

Als Spielbaum und Normalform erhalten wir dann: -45 34

0

0

-.50 50

B

k

A

z

-50

-,z

-45

50 34

-,k

-,50 0

50 0

{• z, k} ist auch im Fall 2 das teilspielperfekte Gleichgewicht. Analog zu den Überlegungen in Fall 1 gilt allerdings auch in Fall 2, daß nur für R > 0,5 von seiten der Geschädigten B ein Prozeß angestrengt wird. Wegen TA > T8 wird dann aber immer unter ineffizienten Regeln geklagt.

2.1 Der Common Law Process

55

2.1.3 .2 Modelldiskussion Die Herleitung der drei teilspielperfekten Gleichgewichte hat gezeigt, daß in Abhängigkeit davon, ob TB > TA oder TA > TB, im ersteren Fall immer unter effizienten Regeln, im letzteren Fall immer unter ineffizienten Regeln geklagt wird. Unser Modell ist insofern umfassender als das Rubin-Modell, als dort nur unter ineffizienten Recht geklagt werden konnte. Durch die Einführung der Annahmen A ~ und A; vermeiden wir die Inkonsistenzen des Rubin-Modells, ohne jedoch dessen wesentlichen Modellrahmen zu verlassen. Eine Folge hiervon ist, daß auch wir keinen graduellen Wandel der Erfolgswahrscheinlichkeit erfassen und auch nicht untersuchen, welcher Einfluß von unterschiedlich hohen Gerichtsprozeßkosten der Parteien auf die Erfolgswahrscheinlichkeit R ausgeht. Im Gegensatz zum Rubin-Modell erfaßt unser Modell auch den Sachverhalt, in dem das herrschende Recht ineffizient ist, A bei einem Unfall B verletzt und die B trotzdem keinen Prozeß anstrengt. Wir haben diesen Fall durch Gleichgewicht 2 modelliert. Ineffizientes Recht wird hier zwar nicht gerichtlich aufgehoben, kann aber seine Wirkung bezüglich der Schadenersatzzahlung nicht entfalten. Schließlich haben wir gezeigt, daß die Bedingungen, in denen die Effizienz des Common Law durch Gerichtsprozesse zunimmt, als sehr restriktiv anzusehen sind. Während im Rubin-Modell Ungleichung (2.5) notwendig und zugleich hinreichend dafür war, daß es zu einem Prozeß kommt, erfordert unser Modell, daß die notwendigen und hinreichenden Bedingungen (2.36) und (2.37) erfüllt sind. Diese zusätzliche Komplexität in unserem Modell ist u. a. auf den Umstand zurückzuführen, daß bei uns die Schadeuersatzzahlungen nicht zu Null saldiert werden wie im Rubin-Modell, sondern als entscheidungsrelevante Variablen in die Bedingungsgleichungen eingehen. 58 Ein Vergleich des Landes/Posner-Modells mit dem Modell von Leder/ Koboldt/Schmidtchen ergibt, daß es einen Spezialfall des letzteren darstellt. Landes/Posner behandeln die Situation, für die im Leder/Koboldt/Schmidtchen-Modell TB > TA und R > 0,5 gilt: dies ist Gleichgewicht 3, Fall 1.

58 Cooter/Kornhauser (1980) [39], 153 kritisieren zu Recht Rubins Annahme einer Gruppenrationalität "[l]t is our judgement that the asumption of group rationality and others will not provide an adequate foundation for an empirical theory of Iitigation."

56

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

2.1.4 Rechtsevolution als ein Markoffscher Prozeß: Priest 2.1.4.1 Modelldarstellung In einem Kommentar zu Rubins Artikel "Why is the Common Law Efficient?" stimmt Priest (1977) [133] Rubins These zu, wonach das Common Law über einen Evolutionsprozeß zu immer höherer Effizienz konvergiert. Gleichzeitig präsentiert Priest ein Modell, mit dem er die Effizienzhypothese des Common Law bestätigen möchte, und von dem er behauptet, es sei noch allgemeiner als das Rubin-Modell. So hält Priest es für unnötig, anzunehmen, daß beide Parteien in der Einschätzung eines Prozeßausgangs übereinstimmen, oder daß beide Parteien ein dauerhaftes Interesse an einer zukünftigen Präzedenz haben. Neu an Priests Modell gegenüber allen in dieser Arbeit bisher diskutierten Modellen ist außerdem, daß Priest die Evolution des Common Law als stochastischen Prozeß modelliert und nicht nur komparative Statik betreibt. Zum Verständnis des Priestsehen Modells muß man berücksichtigen, daß es Priest nicht nur darum geht, die Effizienz des Common Law aufzuzeigen, sondern daß Priest zusätzlich noch eine Gegenposition zu Posner aufbaut. Posner stellte in der 1. Auflage seiner "Economic Analysis of Law" (1972) [131] die These auf, daß das Common Law effizient sei, weil die Richter effiziente Ergebnisse anstrebten und weil die Richter auch entsprechende Regeln schaffen würden, die die effizienten Ergebnisse gewährleisten. Im Gegensatz zu Posner behauptet Priest, daß das Common Law unabhängig von der Einstellung der Richter zu immer höherer Effizienz konvergiert. Verballäßt sich der Common Law Prozeß nach Priest wie folgt beschreiben:59 Ineffiziente Rechtsregeln verursachen höhere Kosten als effiziente Rechtsregeln. Deshalb nimmt der Wert eines Prozesses mit zunehmender Ineffizienz einer geltenden Regel zu und treten Gerichtsstreitigkeiten häufiger unter ineffizienten als effizienten Regeln auf. Die gerichtlich nicht neu zu überprüfenden Regeln sind somit in der Regel effiziente Regeln. Durch wiederholte Prozesse nimmt dieser Anteil kontinuierlich zu. Nachstehend werden wir das Modell von Priest wiedergeben und in der abschließenden Diskussion folgende Ergebnisse herleiten. (1) Priests Versuch, die Evolution des Common Law zu höherer Effizienz herzuleiten, gelingt nur teilweise. Unter Priests Modellannahmen läßt sich nämlich nicht nur ein Trend zugunsten höherer Effizienz, sondern auch zugunsten immer größerer Ineffizienz herleiten. 59

Vgl. Priest (1977) [133], 67f.

2.1 Der Common Law Process

57

(2) In Priests Modell, das nicht auf einem Individualkalkül basiert, sind

logische Inkonsistenzen enthalten.

Priests Modell weicht in vielerlei Hinsicht von den bisher präsentierten Modellen ab: (1) Priest interessiert nicht die Frage, ob und wann zwei Individuen wegen

konkurrierender Ansprüche vor Gericht ziehen, sondern er will wissen, ob die Klasse effizienter Regeln im Zeitablauf zunimmt oder abnimmt.60

(2) Priest möchte zeigen, daß das Recht mit fortschreitender Zeit zu

höherer Effizienz evolviert. Um den Faktor Zeit zu modellieren, greift Priest auf das Instrument der Differenzengleichung zurück. Da es ihm um die Veränderung der Anteile von effizienten Rechtsregeln zu ineffizienten Rechtsregeln geht, bildet Priest die Veränderung effizienter Rechtsregeln als einen Markoffsehen Prozeß61 ab.

Auch in den Modellannahmen weicht Priest erheblich von denen Rubins ab.62 A 1 - A 3 des Rubin-Modells fallen weg.

A; Eine ineffiziente Regel zeichnet sich gegenüber einer effizienten Regel dadurch aus, daß sie den Parteien höhere Kosten auferlegt. Bezeichne X, den Anteil effizienter Regeln und Y, den Anteil ineffizienter Regeln zum Zeitpunkt t.

A; Es ist irrelevant, ob die Kläger und die Klasse der Beklagten die Erfolgswahrscheinlichkeit R identisch oder unterschiedlich einschätzen. 63

A ~ Sei a der Anteil effizienter Gerichtsentscheidungen, b der Prozentsatz effizienter Regeln und c der Prozentsatz ineffizienter Regeln, unter denen gerichtlich geklagt wird. b und c werden als zeitunabhängig angesehen. 60 "But to understand the effects on Iitigation of the inefficiency or efficiency of rules, it is important to ignore the individual case and to consider the effects on the set of all disputes" Priest (1977) [134], 73. Fußnoten im Original wurden weggelassen. 61 Ein Markoffscher Prozeß ist ein stochastischer Prozeß. Angenommen, es seien Wahrscheinlichkeitsaussagen über eine Zufallsvariable für t = t0 bekannt und für t > t0 gesucht. "Dann heißt ein stochastischer Prozeß {X,, t E ß} ein Markoffscher Prozeß, wenn jede Wahrscheinlichkeitsaussage über die zufällige Variable X, nur von der Realisierung der zufälligen Variablen X10 abhängt und sich nicht ändert, wenn man die Realisierung der zufälligen Variablen X1, (tn < to) berücksichtigt." Dück/Bliefemich (1972) [50], 350. 62 Vgl. Priest (1977) [ 134], 65 ff. 63 "Other characteristics besides the stakes that influence the Iitigation-settlement ratio such as the differences between the parties' expectations of success, aversion to risk, Iitigation costs, settlement costs ... can be ignored because they are unlikely to differ systematically between disputes arising under inefficient and those arising under efficient rules." Priest (1977) [134], 67f.

58

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

A7 des Rubin-Modells feHlt weg (vgl. S. 22 dieser Arbeit).64 As des Rubin-Modells fällt weg.65 A;j Der Wert eines Prozesses nimmt mit zunehmender Ineffizienz einer geltenden Regel zu, weil die Kosten einer ineffizienten Regel höher sind als die Kosten einer effizienten Regel. Je höher die Ineffizienz einer Rechtsregel, umso größer ist der Anreiz, unter ihr zu klagen. Aus diesem Grund gilt c > b.

Priest beginnt die Herleitung der Zunahme des Anteils effizienter Regeln

X, wie folgt:

Sei X, die totale Wahrscheinlichkeit eines diskreten Markoffsehen Prozesses: (2.42)

X, = X, _ 1 ( 1 - b)

+ a (bX, _ 1 + c Y, _ 1)

Der Bestand effizienter Regeln zum Zeitpunkt t besteht aus den gerichtlich nicht angefochtenen effizienten Regeln der Vorperiode sowie den aus der Rechtsprechung hinzugekommenen effizienten Rechtsregeln. Ersetzt man Y, _ 1 durch ( 1 - X 1 _ i), erhält man (2.43)

X,

= X, _ 1 ( 1 - b + ab -

ac) + ac

Der Term (1 - b + ab- ac) wird im folgenden mit z bezeichnet. Wegen 1. Die Lösung der inhomogenen Differenzengleichung (2.43) lautet:

c > b gilt z < (2.44)

X,=A·z

,

ac 1- z

+--,

wobei A eine Konstante sei. Priest bildet nun den Grenzwert von X, für t --+ oo. Dann geht der stochastische Prozeß in einen stationären Zustand über. (2.45)

ac ac lim X , = - - = - - - - 1-z b-ab+ac

, ..... oo

Priest geht davon aus, daß lim X, > X0 gilt, d. h. der Anteil effizienter t ..... 00

Rechtsregeln ist im Gleichgewicht höher als in der Ausgangssituation. 64 Es ist deswegen unverständlich, weshalb Aranson (1986) [I 0], 61 bei seiner Beschreibung des Priest-Modells behauptet, Priest habe genügend hohe Transaktionskosten angenommen, um eine Coasesche Lösung des Rechtetauschs auszuschließen. Transaktionskosten bedeuten für Priest Ineffizienz: "Where there are no transaction costs, there are no inefficiencies." (Priest 1977 [134], 67, Fn. 9). Diese Transaktionskosten oder Ineffizienzen stellen die Ursache für Prozesse dar. 65 Vgl. auch das Zitat in Fn. 63 in diesem Abschnitt.

2.1 Der Comrnon Law Process

59

Anband eines Zahlenbeispiels und unter Verwendung von (2.45) zeigt Priest außerdem, daß der Anteil effizienter Regeln im Gleichgewicht umso höher ist, je mehr die Richter am effizienten Recht interessiert sind (ÖX1 /Öa > 0) und je häufiger ineffiziente Regeln vor Gericht gebracht werden (ÖX1 / Öc > 0). 66 Aus seinem Modell zieht Priest folgendes Fazit: "The tendency of legal rules to become efficient over time is independent of judicial bias or the method of judicial decision making. Efficient rules "survive" in an evolutionary sense because they are less likely to be relitigated and thus less likely to be changed, regardless of the metbad of decision. Inefficient rules "perish" because they are more likely to be reviewed and review implies the chance of change whatever the metbad of judicial decision." 67 2.1.4.2 Modellkritik Priests Behauptung, daß unter den von ihm angegebenen Bedingungen der Anteil effizienter Rechtsregeln im Zeitablauf immer zunimmt, ist nicht zutreffend, wie im folgenden bewiesen wird. Betrachten wir nochmals die Differenzengleichung (2.44) Xr = A

ac

·z1 + -1- -z

Um die Veränderung von X 1 im Zeitablauf vorherzusagen, ist es erforderlich, das Vorzeichen der Integrationskonstante A zu beachten. Wenn A einen negativen Wert annimmt, stellt ac lim X1 = - 1- z

(2.46)

r ~ oo

den Grenzwert der monoton steigenden Funktion (2.44) dar. Wenn A jedoch positiv ist, dann stellt (2.44) eine monoton fallende Funktion dar, und der Anteil effizienter Common Law Regeln nimmt entgegen der Behauptung von Priest ab. Der Mangel des Priest-Modells ist also auf eine fehlende Spezifikation der Integrationskonstante zurückzuführen. Priest bildet ausgehend von (2.44) bloß den Grenzwert von X 1 und geht offenbar davon aus, daß lim X1 das Maximum der inhomogenen linearen Different___,

00

zengleichung darstellt. Die zwei unterschiedlichen Zeitpfade von X1 sind in Abb. 2.4 dargestellt. 66 67

V gl. Priest (1977) [ 134], 71. Vgl. Priest ( 1977) [ 134], 72.

60

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

-----------------------

~

'\ ac

1-z

Abbildung 2.4: Anteil effizienter Regeln im Zeitablauf

Um die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für A < 0 aufzustellen, führen wir die Variable X0 ein, die den Anteil effizienter Regeln in der Ausgangsperiode 0 angibt. Dann beginnen wir mit (2.47)

Xo=A·z

0

ac

+-1- z

und erhalten (2.48)

Xo-

ac =A. b - ab + ac

Damit die Evolution des Common Law effizient ist, muß (2.48) kleiner als 0 sein: Xo-

ac < 0. b-ab+ac

Somit lautet die im Priest-Modell fehlende hinreichende Bedingung für eine Effizienzzunahme des Common Law: (2.49)

Xo
0 für i = j; i, j = 1,2 und 8R;j8Cj < 0 für i =f:. j; i, j = 1,2. Goodmans Hypothese bezüglich der Evolution von Recht lautet: Wenn das Gericht unvoreingenommen (unbiased) ist (auch was die Berücksichtigung vorliegender Präjudizien angeht), dann gewinnt diejenige Partei, die 74

Priest (1980) [135], 412. Fußnoten im Original wurden weggelassen.

64

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

ein höheres Interesse an dem Prozeß hat, mit höherer Wahrscheinlichkeit als der Kontrahent. 75 Das Interesse an einem Prozeß manifestiert sich durch die Höhe der Ausgaben, die eine Prozeßpartei in ein Verfahren investiert. Goodman modelliert seine Hypothese als das Ergebnis eines nichtkooperativen 2 Personen-Spiels und kann zeigen, daß nicht generell eine monotone Beziehung zwischen dem Grad an Ineffizienz und der Übergangswahrscheinlichkeit von einer ineffizienten zur effizienten Regel besteht.76 In einem weiteren Schritt untersucht Goodman die Hypothese von Rubin, wonach mit zunehmender Ineffizienz des herrschenden Rechts die Wahrscheinlichkeit einer Gerichtsverhandlung zunehme. Bei Rubin galt als Bedingung für das Durchführen eines Gerichtsprozesses:

Ersetzt man 2C durch C 1 + C 2 und ( 1 - R) durch R 1 , erhält man als Bedingung dafür, daß Person A gegen Person B gerichtlich klagt: (2.50)

r steht hier für den Wohlfahrtszuwachs, den beide Parteien zusammen aus einem Gerichtsverfahren erzielen können.

Man kann nun beweisen, daß dann, wenn R 1 abhängig von C 1 und C 2 ist, nicht mehr automatisch wahr ist, daß ärjäTA > 0.77 Rubins und Priests These "Je ineffizienter eine Rechtsregel, umso häufiger wird sie vor Gericht gebracht" trifft dann nicht zu. Goodman ist in seinen Aussagen über die Effizienz des Common Law wesentlich zurückhaltender als Rubin und Priest. Er hält folgende Einschränkungen für angebracht: 78 (1) Das Verhältnis der privaten Nutzen der Prozeßparteien muß nicht den sozialen Nutzenverhältnissen der relevanten Bevölkerungsgruppen entsprechen. So wird eine große Unternehmung seine Ressourcen für einen Prozeß eher bündeln können als der einzelne Konsument. 79 Goodman (1978) [65], 395. Goodman (1978) [65], 401. 77 Zum Beweis vgl. Goodman (1978) [65], 404. 78 Vgl. Goodman (1978) [65], 404. 79 Dieser Gesichtspunkt wird auch von folgenden Autoren als Einschränkung gegenüber unsichtbaren Hand-Modellen vorgetragen: Aranson (1986) (10], 72; Elliott (1985) [55], 66; de Alessi/Staaf (1991) [6], 116, Hirshleifer (1982) [93] und Komhauser (1980) [ 105], 632. Ihrer Kritik läßt sich allerdings entgegenhalten, man könne Rubins Modell, Fall 2, auch so interpretieren, daß das Desinteresse einer Partei an zukünftigen Präzeden75

76

2.2 Effizientes Common Law als Ergebnis eines Selektionsprozesses?

65

(2) Das Common Law reagiert u. U. zu langsam auf Umweltänderungen, wenn Präjudizien der Vergangenheit die Gegenwartsentscheidungen zu stark beeinflussen. (3) Lassen sich Kosten und Nutzen einer Rechtsänderung nicht oder nur sehr schwer internalisieren, dann kommt es u.U. gar nicht zu einem Prozeß. 2.2 Effizientes Common Law als Ergebnis eines Selektionsprozesses? "[E]ven if firrns do not understand maximizing behavior, selection pressure will nontheless, Iead to extinction (bankruptcy of firrns which do not behave in a way that approximates profit maxirnization), so that it will be possible to assume that surviving firrns behave as the ecomornic model would suggest. Thus, the results of consumer and producer theories are that we expect firrns and individuals to behave as econornics predicts (as rational, maxirnizing agents) even if they understand nothingabout econornics." Paul Rubin (1980) [148], 324 "[P]rofit-maxirnization is neither a necessary nor a sufficient condition to increase the probability of survival for a firm in a changing market ... the natural selection argument cannot serve as a generally valid device for dispensing with the vast variety of behavioral models of firms' decisionmaking and their possible diverging implications." Ulrich Witt (1986) [194], 288

Für einen Anhänger der Effizienzhypothese des Common Law, der sich auf die Arbeiten von Friedman (1953) [62] und Alchian (1950) [4] beruft, 80 werden die in Kapitel 2.1 dargestellten unsichtbaren Hand-Modelle möglicherweise zu einer gewissen Ernüchterung geführt haben, weil die behauptete Effizienz durch die unsichtbare Hand entweder gar nicht oder doch nur unter sehr restriktiven Bedingungen zustande kam. Gleichwohl wird ihn dies nicht unbedingt von seiner Überzeugung abbringen, daß in einer wettbewerbliehen Umwelt langfristig der Selektionsmechanismus zugunsten der effizienten Rechtsregel wirkt. Der folgende Abschnitt 2.2 legt dar, warum eine solche Hoffnung unbegründet erscheint. Er greift auf Erkenntnisse von Sidney Winter (1964) [191], (1971) [192], (1975) [193] sowie Nelson/Winter (1975) [120] und (1982) [121], Kap. 6 zurück. Winter hat sich sehr grundlegend mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Bedingungen ein Natürlicher Selektionsmechanismus das Ergebnis eines Konkurrenzgleichgewichts hervorbringt. zen der Unmöglichkeit einzelner Konsumenten entspricht, genügend Ressourcen für einen Prozeß aufzubringen. Posner (1986) [133], 536f. zeigt, wie es mit Hilfe der Gruppenklage teilweise möglich ist, marginale Konsumenteninteressen effektiver zu bündeln. 80 Vgl. z.B. Rubin (1980) [148], 323ff., (1986) (149], Kap. 9 oder Terrebone (1981) [181]. 5 Leder

66

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

Winter sowie Nelson/Winter werden von fast allen Law & EconomicsAutoren, die den Zusammenhang zwischen effizientem Common Law und sichtbaren/unsichtbaren Handprozessen untersuchen, ignoriert. Von dieser Einschätzung auszunehmen sind Cooter / Komhauser ( 1980) [39]. In ihrer Arbeit, die den Titel "Can Litigation Improve the Law Without the Help of Judges?" trägt, greifen Cooter/Kornhauser wichtige Ergebnisse von Nelson/Winter und der Theorie endlicher Markoff-Ketten auf und zeigen unter allgemeinen Bedingungen, daß das Rechtssystem über blinde Evolution nicht auf einen besten Zustand hin konvergiert. Die Arbeit von Cooter/ Kornhauser, die selbst wiederum nur geringe Beachtung gefunden hat, wird in Kapitel 2.2.2 ausführlich dargestellt. Zunächst erscheint jedoch ein kurzer Abriß der wesentlichen Gedanken von Winters evolutorischen Modell (1971) [192] zur natürlichen Selektion sinnvoll. Winters Modell zeigt, daß der Rekurs auf Friedmans "Natürliche Selektionsargument" ohne formale Spezifikation ein Glaubensbekenntnis darstellt. Außerdem kann Winters Modell als Vorstufe für das anschließende Cooter/KornhauserModell angesehen werden. Die im folgenden dargestellten Modelle zeigen somit alle die Grenzen von unsichtbaren Hand-Prozessen bezüglich ihrer Fähigkeit, effiziente Ergebnisse zu produzieren, auf.

2.2.1 Der Mythos vom Herausbilden des effizienten Rechts Wie das Zitat von Rubin (1980) [148] zu Beginn des Abschnitts 2.2 verdeutlicht, gehen Anhänger der natürlichen Selektionshypothese davon aus, daß effiziente Marktergebnisse nicht zwingend auf dem bewußten Kalkül der sie hervorbringenden Entscheidungsträger beruhen muß. Es reiche vielmehr aus, daß ein Selektionsmechanismus existiere, der Verhalten aussondere, das nicht gewinnmaximierend sei und nicht nach einer effizienten Lösung zu jedem Zeitpunkt strebe. Die Übertragung dieses Selektionsarguments auf den Evolutionsprozeß des Common Law ist es, die viele Vertreter der Law & Economics motiviert, von der Effizienz des Common Law auszugehen. Als Grundlage für diese Auffassung dient die Argumentation von Friedman, der folgendes Gedankenexperiment aufstellte: "Let the apparent immediate determinant of business be anything at all - habitual reaction, random chance or whatnot. Whenever this determinant happens to Iead to behavior consistent with the rational and informed maxirnization of retums, the business will prosper and acquire resources with which to expand; whenever it does not, the business will tend to lose resources and can be kept in existence only by the addition of resources from outside. The process of "natural selection" thus helps to validate the (maximization of retums) hypothesis - or rather, given natural selection, acceptance of the hypothesis can be based largely on the judge-

2.2 Effizientes Common Law als Ergebnis eines Selektionsprozesses?

67

ment that it summarizes approximately the conditions for survival." (Friedman 1953 [62], 35)

Winter (1971) [192] zeigt: Wenn Verhalten durch "random chance or what not" bestimmt wird, besteht kein Grund für die Annahme, daß Unternehmen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Handlungen ergreifen, die mit Gewinnmaximierung konsistent sind, auch in allen folgenden Entscheidungssituationen solche Handlungen ergreifen werden. 81 Zufälliges Verhalten führt in der Evolution nicht zu systematischen Selektionsergebnissen. Wenn Verhalten, das auf Gewohnheitsreaktionen beruht, in einem evolutorischen Kontext zu effizienten, gewinnmaximierenden Ergebnissen führen soll, ist es erforderlich, die Marktbedingungen genau zu spezifizieren, unter denen die Hypothese gelten soll. 82 Denn wie Winter (1971) [192] zeigt, ist es möglich, daß Anpassungsprozesse auch zu suboptimalen Lösungen mit nicht-negativen Gewinnen führen können. Winters evolutorisches Selektionsmodell zeichnet sich durch folgende Annahmen aus. (1) Die Produktionstechnik83 einer jeden Firma sei dadurch gekennzeichnet, daß: - ein homogenes Gut produziert wird - feste Inputkoeffizienten für variable Inputs vorliegen - jede Firma mit konstanten Skalenerträgen produziert - alle Technologien identische Kapitalproduktivitäten aufweisen. Technologien unterscheiden sich nur durch die Höhe der variablen Inputs. (2) Eine Kapazitätsnutzungsroutine, die die Kapazitätsauslastung auf die erzielten Deckungsbeiträge bezieht, legt fest, ob eine Firma ihren Kapitalstock erhöht, konstant hält, oder reduziert. Aus den Annahmen (1) und (2), die die Enscheidungsregeln (Routinen) einer Firma kennzeichnen, läßt sich ein kurzfristiger Gesamtangebotsvektor herleiten, der zusammen mit einer gegebenen inversen Nachfragefunktion zu einem kurzfristigen Marktgleichgewicht führt. Aus dem kurzfristigen Marktgleichgewicht läßt sich das herkömmliche langfristige Konkurrenzgleichgewicht herleiten, in dem alle produzierenden Firmen mit minimalen variablen Stückkosten produzieren, in dem der gleichgewichtige Kapitalstock dem Gleichgewichtsoutput entspricht und die Nullgewinnbedingung erfüllt ist. 81 82 83 5*

Vgl. Winter (1971) [192], 244; Nelson/Winter (1982) [121], 141 f. So auch Selten (1993) [168], 41f. Vgl. Winter (1971) [192], 248; Nelson/Winter (1982) [121], 144.

68

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

Das Neue an Winters Ansatz setzt mit der Frage an: Gibt es ein Selektionsgleichgewicht, das dem voranstehend beschriebenen orthodoxen langfristigen Gleichgewicht entspricht, und in dem außerdem profitable Firmen expandieren und unprofitable Firmen ausscheiden? Zur Beantwortung dieser Frage zieht Winter die Theorie endlicher Markoff-Ketten heran und trifft u. a. folgende weiteren Annahmen: 84 - die Anzahl der Produktionstechnologien und der Kapazitätsnutzungsroutinen sei endlich - die im Markt vertretene Anzahl an Firmen sei endlich, und die Firmen sind Preisnehmer - Suchroutinen, die auf dem Konzept des "Satisficing" beruhen: 85 Erfolgreiche Firmen ändern ihre Entscheidungsregeln nicht, sondern expandieren. Erfolglose Firmen schrumpfen und suchen nach alternativen erfolgreicheren Entscheidungsregeln. Firmen, die gerade kostendeckend produzieren, ändern ihr Verhalten nicht. - potentielle Konkurrenten betreiben ebenfalls Suche nach erfolgreichen Entscheidungsroutinen und treten bei erfolgreicher Suche in den Markt ein. Sie verwenden dann eine Routine, die den Profitabilitätstest bereits bestanden hat. 86 - das Verhalten aller im Markt vertretenen Firmen sowie aller potentiellen Konkurrenten in Bezug auf ihre Kapazitätsanpassungsentscheidungen läßt sich wahrscheinlichkeitstheoretisch abbilden. Es werden Wahrscheinlichkeitsaussagen über den Kapitalstock einer Firma zu zwei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten getroffen. Diese Wahrscheinlichkeiten werden als Übergangswahrscheinlichkeiten bezeichnet. 87 Ein Selektionsgleichgewicht ist eine Situation, "in which the states of all extant firms remain unchanged, and the roster of extant firms also remains unchanged .. . All firms in the industry with positive capacity are just breaking even; therefore, they are neither expanding nor contracting. Potential entrants continue to search, but no routines can be found that yield a positive profit in orthodox market equilibrium; thus, no actual entry occurs and the orthodox equilibrium values of price and industry output persist indefinitely. " 88 Vgl. Winter (1971) [192], 249f., Nelson/Winter (1982) [121], 147ff. Vgl. Winter (1971) [192], 245. 86 Vgl. Winter (1971) [192], 252; Nelson/Winter (1982) [121], 149. 87 Die Übergangswahrscheinlichkeit pij(t1t2 ) gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der eine Zufallsvariable zum Zeitpunkt t 2 den Zustand j einnimmt, nachdem sie sich zum Zeitpunkt t1 im Zustand i befunden hat. Der (n.xn)-Vektor der Übergangswahrscheinlichkeiten heißt Matrix der Übergangswahrscheinlichkeiten. 88 Nelson/Winter (1982) [121], 149f. 84 85

2.2 Effizientes Common Law als Ergebnis eines Selektionsprozesses?

69

Es läßt sich nun zeigen, daß der Selektionsprozeß gegen das eben definierte Selektionsgleichgewicht konvergiert, wenn man sich in diesem Gleichgewicht noch nicht befindet. Man muß nur beweisen, daß man über eine endliche Anzahl an Zustandsübergängen von irgendeinem Ausgangszustand zu einem Gleichgewichtszustand gelangt, der der Definition des Selektionsgleichgewichts genügt. Winter (1971) [192], 254ff. hat diesen Beweis erbracht. Winter hat damit gezeigt, daß unter ganz bestimmten Annahmen ein unsichtbarer Hand-Mechanismus Selektionsgleichgewichte hervorbringen kann, die dem Konkurrenzgleichgewicht entsprechen. Winter (1971) [192], 253 sowie Nelson/Winter (1982) [121], 150 betonen allerdings, daß mit den Bedingungen eines Selektionsgleichgewichts Routinen vereinbar sind, die nicht zum orthodoxen Wettbewerbsgleichgewicht führen. 89 Der Wert des Modells von Winter in Bezug auf die Frage, ob das Common Law zu höherer Effizienz via unsichtbare Hand evolviert, besteht nun darin: (1) Interpretiert man eine effiziente Common Law-Regel als statisches Selektionsgleichgewicht, so lassen sich präzise die Bedingungen dafür angeben, wann ein solches Selektionsgleichgewicht erreicht wird. (2) Die Bedingungen, die gelten müssen, damit ein Selektionsgleichgewicht effizient ist, sind sehr restriktiv. Die Menge aller Handlungsalternativen muß geschlossen sein, und es muß mindestens eine Handlungsalternative geben, die einem eindeutigen Optimum entspricht. 9 Cooter/Kornhauser (1980) [39] haben ein Modell entworfen, das genau von dieser Überlegung ausgeht. Sie zeigen, daß wenn ein effizientes Selektionsgleichgewicht nicht durch Modellannahmen festgelegt wird, der unsichtbare Hand-Mechanismus nicht dazu führt, daß sich effiziente Rechtsregeln im Zeitablauf durchsetzen.

°

89 Diese Hypothese wird durch neuere Modelle von Witt (1986) [194] und Dekel/Scotchmer (1992) [44] gestützt. Witt zeigt anhand von Simulationen, daß wenn man eine optimierende Firma, eine satisfizierende Firma und eine Firma mit auf operanter Konditionierung beruhendem Lernmechanismus in einer anfänglich unbekannten Marktumgebung konkurrieren läßt, keine Firma unter allen Bedingungen dominiert. Die Überlebensfähigkeit der Firmen hängt vielmehr entscheidend von den gewählten Umweltbedingungen ab. Dekel/Scotchmer untersuchen in einem spieltheoretischen Modell, ob Verhaltensstrategien dauerhaft vererbbar sind, die auf nicht-optimierendem Verhalten beruhen. Sie interpretieren die Replikatordynarnik als Lemprozeß und beweisen, daß unter bestimmten Bedingungen nicht-optimierendes Verhalten überlebt. Sie schließen daraus: "[R]ational choice (in the sense of choosing best replies) is not easily justified as the outcome of evolutionary dynamics or as the Iimit of boundedly rational leaming" [44], 394. 90 Vgl. auch Witt (1987) [l95], 92, der zu Recht darauf verweist, daß Evolution in diesem Kontext als eine geschlossene Entwicklung anzusehen ist.

70

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

2.2.2 Effizientes Common Law als Grenifall eines stochastischen Prozesses: Das Modell von Cooter/Kornhauser In einem sehr grundlegenden Artikel setzen sich Cooter/Kornhauser (1980) [39] mit der Frage auseinander, ob das Common Law ohne die Hilfe von Richtern allein durch das Prozessierverhalten der Parteien im Zeitablauf zu höherer Effizienz evolviert. Sie greifen dabei auch die Ergebnisse von Rubin/Priest und anderer Autoren auf, wonach (1) unter ineffizienten Rechtsregeln häufiger oder auch seltener vor Gericht geklagt wird als unter effizienten und (2) eine Partei mehr in die Aufrechterhaltung effizienter als ineffizienter Rechtsregeln investiert. Allerdings entwerfen sie nicht ein weiteres Modell, das die Entscheidung: Klage oder außergerichtlichen Vergleich zum Gegenstand hat, sondern fragen sich, ob unter sehr allgemeinen Annahmen das Rechtssystem auf einen optimalen Zustand zustrebt oder sich kontinuierlich verbessert. Ihre Fragestellung kann man sich bildlich so vorstellen: Gegeben seien hundert verschieden effiziente Rechtsregeln, und jede der hundert Rechtsregeln lasse sich als numerierte Kugel darstellen. Die Effizienz einer Regel nehme von 1 bis 99 zu. Führt ein unsichtbarer Hand-Mechanismus unter allgemeinen Bedingungen dazu, daß das effiziente Selektionsgleichgewicht, also Kugel 99, erreicht wird? Cooter/Kornhausers These lautet: Gemäß einem Unmöglichkeitstheorem (Theorem 1) bewirkt blinde Evolution nicht, daß das Rechtssystem den besten Zustand erreicht oder sich kontinuierlich verbessert.9 1 Nachstehend stellen wir das Modell von Cooter/Kornhauser dar. Durch Variation einiger Grundannahmen ist es schrittweise möglich, die Modelle von Rubin, Landes/Posner, Priest und Goodman als Spezialfälle des Cooter/Kornhauser-Modells abzuleiten. Das Unmöglichkeitstheorem von Cooter/Kornhauser beruht auf vier Annahmen: 92 A 1 Das Rechtssystem umfasse eine endliche Anzahl n von Regeln s ;, i = 1, . . . n. Eine Regel i werde einer Regel j dann und nur dann vorgezogen, wenn i > j. A 2 Regeländerungen unterliegen einem Markoffsehen Prozeß. Die Wahrscheinlichkeit p;1, daß ein Richter von einer Regel i zu einer Regel j übergeht, sei zeitunabhängig.

Annahme A 2 dient dazu, ein Lernen der Richter aus vergangeneo Entscheidungen auszuschließen. Richter sollen im Modell ja keine aktive Rolle übernehmen, sondern eine Zufallsmaschine repräsentieren. A 3 Die Richter kennen nicht die Güte der Regeln. Auch diese Annahme dient dazu, den Einfluß der Richter auf die Rechtsevolution auszuschließen. Es wird ange91 Zur Herleitung dieses Unmöglichkeitstheorems vgl. Cooter/Kornhauser (1980) [39], 141-144. 92 Vgl. hierzu Cooter/Kornhauser (1980) [39], 157.

2.2 Effizientes Common Law als Ergebnis eines Selektionsprozesses?

71

nommen, daß jede Regel s; durch eine andere Regel ersetzt werden kann. Für alle i gilt also p;; < 1, womit eine reine Form der stare decisis-Doktrin ausgeschlossen ist. Weiter gilt für i f= 1 und i f= n p ;, ; _ 1 > 0 und p ;, ; + 1 > 0: Aus dem Ersetzen einer Regel kann eine Verbesserung oder Verschlechterung resultieren.93 A 4 Es wird mit positiver Wahrscheinlichkeit q; unter jeder beliebigen Rechtsregel s; geklagt, d. h. keine Präzedenz ist von einer erneuten Klage ausgenommen.

Wie im Modell von Winter (1971) [192] können nun Übergangswahrscheinlichkeiten dafür bestimmt werden, daß irgendeine Regel i durch Regel j ersetzt wird. Gesucht wird, ob und wenn ja, gegen welches stabile Gleichgewicht der Markoff-Prozeß strebt. Unter Anwendung eines Theorems von Breiman94 gelangen Cooter/Kornhauser zu Theorem 1. Aus dem Theorem kann gefolgert werden: "The legal system never settles down to a situation in which the best legal rule prevails forever and the inferior rules never recur: the worst legal rule is expected to recur ... the course of evolution does not lead to an equilibrium that is best or nearly best." 95 Im Gegensatz zum Modell von Winter (1971) [192] und den in 2.1 dargestellten Modellen führt das Modell von Cooter/Komhauser nicht per Annahme zu höherer Effizienz. Es ist aber möglich, durch nachträgliche Annahmenveränderungen das Modell so zu trimmen, daß darin die Modellergebnisse von Rubin, Landes/Posner, Priest und Goodman enthalten sind. Zunächst erfolgt eine technische Ergänzung von A 2 , die festlegt, wann eine Wahrscheinlichkeitsverteilung p über die Menge der Regeln s; einer anderen Wahrscheinlichkeitsverteilung q überlegen ist.96 Gemäß Annahme sollen Umwelteinflüsse bewirken, daß die Wahrscheinlichkeitsverteilung über die n verschiedenen Rechtsregeln so verändert werden, daß die Matrix B der neuen Übergangswahrscheinlichkeiten der Matrix A der alten Über-

A;

93 Als technische Annahmen fallen auch Pl2 > 0 und Pn, n-1 > 0 sowie Pu f= 0 für einige i unter Annahme A3. 94 Vgl. Breiman (1968) [22], Theorem 6.27(a). 95 Cooter/Komhauser (1980) [39], 144. Fußnoten im Original wurden weggelassen. 96 Vgl. Cooter/Komhauser (1980) [39], 146f. Die Beschreibung der Kriterien, nach denen eine Wahrscheinlichkeitsverteilung p eine höhere Chance für bessere Auszahlungen verspricht als eine Wahrscheinlichkeitsverteilung q, entspricht den Erfordernissen der stochastischen Dominanz. Stochastische Dominanz läßt sich definieren wie folgt: Sei p 1 die Verteilungsfunktion des Maßes p auf X: p 1 (x)

= .L>(y) y ~ x

Stochastische Dominanz > kennzeichnet dann eine Relation, für die gilt: p > q wenn p f= q und p 1 (x) ::::; q 1 (x) für alle x. Vgl. Fishbum (1988) [60], 19.

72

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

gangswahrscheinlichkeiten vorgezogen wird. Die Umwelteinflüsse können z. B. auf einer höheren Einsichtsfähigkeit der Richter in die Verbesserungsmöglichkeiten einer Regel k bestehen oder darin, daß es zu einem Anstieg von Prozessen unter einer schlechten Regel k kommt. 97 Mit Hilfe dieser Annahme bekommt der Evolutionsprozeß seine Richtung zugewiesen- in Richtung höherer Effizienz. Cooter/Komhausers Theorem 3 besagt deshalb auch: Wenn die Annahmen A 1-A 4 sowie A; gelten, dann strebt der neue Rechtsprozeß gegen einen stabilen Zustand höherer Effizienz als der alte Rechtsprozeß. Im Urnenbeispiel würde dies bedeuten, daß beispielsweise Kugel 70 häufiger und die Kugeln 1-69 seltener gezogen würden. 98 Theorem 3 läßt sich noch weiter ausbauen, indem zwei weitere Annahmen anstelle von A ~ getroffen werden. A 5 Rechtsänderungen unterliegen einer Trägheit, sie finden nur graduell statt:

Gute Regeln werden von Richtern seltener revidiert als schlechte Regeln, sofern die Prozeßparteien einen höheren Betrag in die Beseitigung des ineffizienten Rechts investieren als in die Beseitigung effizienten Rechts: p;;

< Pjj für i < j

A 6 Schlechte Rechtsregeln werden von den Parteien häufiger vor Gericht gebracht

als gute Regeln:

1 > qi > O und qi > qj für i < j. Theorem 4 von Cooter/Komhauser besagt nun: Wenn die Annahmen A 1A 6 erfüllt sind, dann verändert sich der Gleichgewichtszustand des Rechts-

systems monoton zur Güte der Rechtsregeln. Je besser eine Regel ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie vorherrscht.

Auch zur Veranschaulichung dieses Theorems läßt sich das Kugelbeispiel heranziehen: Je höher der Zahlenwert einer Kugel ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie auch gezogen wird. Wenn im Gleichgewicht für Kugel 99 also p;; = 0,7 gilt, dann wird bei zehnmaligem Ziehen sieben mal Kugel 99 gezogen und dreimal Kugeln mit geringerem Zahlenwert.99 So Cooter/Kornhauser (1980) [39], 147. Vgl. Cooter/Kornhauser (1980) [39], l47f., l59f. Theorem 3 beruht auf einem Theorem von Nelson/Winter (1975) [120]. 99 Cooter/Kornhauser (1980) [39], 149. 97

98

2.2 Effizientes Common Law als Ergebnis eines Selektionsprozesses?

73

Theorem 4 erlaßt unmittelbar die Hypothese von Priest, wonach die unterschiedlich häufige Klage unter schlechten (ineffizienten) und guten (effizienten) Regeln dazu führt, daß das Rechtssystem effizienter ist, als dies die Richter selbst beabsichtigen. Auch Goodmans Modell läßt sich Theorem 4 zuordnen: Goodman behauptet, daß das Rechtssystem zu jedem Zeitpunkt mehr effiziente als ineffiziente Regeln beinhält, weil es wahrscheinlicher ist, daß ineffizientes Recht als Folge eines Prozesses revidiert wird. Diese Begründung Goodmans findet sich in Annahme A 5 wieder, wonach gute Regeln von Richtern seltener revidiert werden als schlechte. Das Modell von Landes/Posner läßt sich ebenfalls unter Theorem 4 subsumieren: Es wird nur unter effizienten Rechtsregeln geklagt, wobei die Modellbedingungen dazu führen, daß die Effizienz des Common Law zunimmt. Das Charakteristikum des Landes/Posner-Modells - gradueller Wandel der Präjudizien- ist in Annahme A 5 enthalten. Rubins Modell kann als Spezialfall von Theorem 1 aufgefaßt werden. Hierzu muß man Annahme A 4 dahingehend modifizieren, daß die beste Regel nicht mehr gerichtlich angefochten wird. A ~ lautet dann: qi

> 0 für

i

< n, q n = 0.

Die Überlegungen auf der Grundlage des Ansatzes von Cooter/Komhauser lassen sich mit deren eigenen Worten zusammenfassen: "[l]f legal processes are simple, evolutionary forces can improve the law to what it would otherwise be. In particular, we have shown what consequences to expect if inefficient laws are litigated more frequently and if more is invested in overtuming them than in defending them. However, we have offered no argument to prove that the frequency or intensity of investment in Iitigation varies systematically with the efficiency of the law. We have shown the consequences of evolutionary forces without demonstrating their presence in the law." 100

Cooter/Komhausers Resumee muß sogar noch eingeschränkt werden: Wie unsere Analyse des Landes/Posner-Modells und das Modell von Leder/Koboldt/Schmidtchen gezeigt haben, wird auch unter effizienten Regeln geklagt. Außerdem konnten wir Inkonsistenzen in den Modellen von Rubin und Priest aufdecken. Es ist deshalb ebenfalls möglich, daß das Common Law zu immer höherer Ineffizienz konvergiert. 101 Cooter/Kornhauser (1980) [39], 150; Hervorhebungen im Original. Cooter (1990) [37] hält den Wert der unsichtbaren Hand-Modelle zur Erklärung des Common Law für noch eingeschränkter, als dies in seinem Artikel zusammen mit Kornhauser zum Ausdruck kommt. Seine These lautet: "Litigation competition does not seem to direct the common law towards efficiency, nor is efficiency a pre-eminent value in the mind of judges or juries" [37], 3. 100

101

74

2 Unsichtbare Hand-Modelle und die Effizienz des Common Law

Die Ergebnisse von Kapitel 2 lassen sich abschließend in folgender These zusammenfassen: These 1 In den unsichtbaren Hand-Modellen evolviert das Rechtssystem nur dann zu immer höherer Effizienz, wenn die Umweltbedingungen (z. B. Technolagien oder Modus des Präzedenzwandels) von vomherein so beschaffen sind, daß das Rechtssystem unabhängig vom Verhalten der Parteien immer Zustände höherer Effizienz annehmen muß. Nicht das Verhalten der Parteien und Richter, sondern die Umwelt bewirkt somit einen immer höheren Effizienzgrad des Common Law. Ist die Umwelt nicht auf Effizienzsteigerung programmiert, evolviert das Common Law nicht notwendigerweise in Richtung höherer Effizienz.

3 Die sichtbare Hand im Common Law Wenn das Recht nicht durch eine unsichtbare Hand zu höherer Effizienz evolvieren muß, ist es dann vielleicht die sichtbare Hand der Richter, die das Recht der Logik des Effizienzkalküls empfänglich macht? Von dieser Vorstellung ließ sich, wie bereits in Kapitel 1 dieser Arbeit erwähnt, Posner (1972) [132) leiten, als er die Hypothese formulierte, daß das Common Law im Zeitablauf effizient wird. Wir werden diese Hypothese in den Mittelpunkt dieses Kapitels stellen. Anband formaler Modelle, die im Anschluß an Posner erarbeitet wurden, soll geprüft werden, ob und unter welchen Bedingungen Richter dafür Sorge tragen können, daß das Recht effizient ist oder seine Effizienz im Zeitablauf zunimmt. Wie in Kapitel 2 wird die Rechtsevolution auf das Recht der unerlaubten Handlung (tort law) im amerikanischen Common Law bezogen. Das uns geläufige "Unfall-Beispiel" dient zur Veranschaulichung des Problems: Zwei Parteien werden in einen Unfall verwickelt, und Aufgabe des Richters ist es zu entscheiden, wer den Schaden zu tragen und Schadenersatz zu leisten hat. Sofern sich der Richter am Effizienzkalkül orientiert, sollte er Haftung und Niveaus der Vorsorgemaßnahmen beider Parteien so festlegen, daß deren Gesamtkosten minimiert werden. Von besonderem Interesse für diese Arbeit ist die Frage, wie die Umwelt beschaffen sein muß, damit der Richter, falls er das Effizienzziel verfolgt, auch erfolgreich ist. Die in Kapitel 3.1 vorgestellten Modelle geben hierauf eine eindeutige Antwort. Die zu minimierende Zielfunktion - die Gesamtkostenfunktion beider Parteien muß konvex sein. Ist die Umwelt nicht in dieser Weise "wohlgeformt", evolviert das Recht nicht notwendigerweise in Richtung höherer Effizienz. Aber auch die Festlegung der Beziehung zwischen endogenen (schnellen) Variablen und den Parametern, d. h. den langsamen Variablen des Modells, 1 haben entscheidenden Einfluß darauf, ob im Zeitablauf ein stabiles, effizientes Gleichgewicht erreicht wird. Alle in Kapitel 3.1 vorgestellten Modelle weisen ein einziges, stabiles Gleichgewicht aus. Die langsamen Variablen des Modells werden konstant gehalten, so daß ein geschlossenes System beschrieben wird. Um Evolution als ein offenes System im Sinne der Indeterminiertheil der Zukunft zu erfassen, muß sie notwendigerweise durch ein 1 Zu dieser Terminologie, die aus der Theorie dynamischer Systeme stammt, vgl. Weise (1990) [189], 46.

76

3 Die sichtbare Hand im Common Law

nichtlineares Modell dargestellt werden. 2 Die endogenen Variablen müssen also nichtlinear miteinander verkoppelt sein. v. Wangenheim (1993) [ 186] hat sich diese Erkenntnis zu Nutze gemacht und ein nichtlineares Modell der Rechtsevolution entworfen, in dem sich die Richter bei ihren Entscheidungen auch von Karrieregesichtspunkten leiten lassen. Auf Grund der Nichtlinearität seines Modells kann v. Wangenheim zeigen, unter welchen Bedingungen Recht im Zeitablauf zur Ineffizienz tendiert. Der Schluß dieses Kapitels enthält Überlegungen, die die Begrenztheit herkömmlicher sichtbarer Hand-Modelle zur Erklärung der Rechtsentwicklung unterstreichen.

3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben 3.1.1 Das Grundmodell: Brown Seit Coase (1960) [30] haben sich mehrere Juristen und Ökonomen mit der Frage auseinandergesetzt, welche ökonomischen Wirkungen von Haftungsregeln ausgehen. 3 Brown kann als erster Ökonom gelten, der eine formale Analyse der verschiedenen Effekte von Haftungsregeln ausführte. Er wollte erforschen, ob bestimmte Haftungsregeln sowohl bei vollkommener als auch unvollkommener Information statisch effizient sind. Browns Modell kann uns somit keine Antwort auf die Frage geben, ob das Haftungsrecht im Evolutionsprozeß zu höherer Effizienz strebt. Sein Modell ist für diese Arbeit aber von Bedeutung, weil in der Folgezeit Modelle entwikkelt wurden, die sich mit statischer und dynamischer Effizienz von Haftungsregeln im Zeitablauf auseinandersetzten und dabei das Modell von Brown zum Ausgangspunkt wählten. Brown untersucht die Frage, ob Richter mit Hilfe von Haftungsregeln implizite Preise festlegen können, so daß die Summe aus Schadenersatz und Schadensvorsorgemaßnahmen für Opfer und Schädiger insgesamt minimal ist. 4 Wie in den Modellen in Kapitel 2 geht Brown davon aus, daß in einen Unfall zwei Parteien verwickelt sind. Im Gegensatz zu den unsichtbare Hand-Modellen besteht die Aufgabe des Richters jetzt darin, eine Haftungsregel festzulegen, die effizienten Vorsorgeniveaus zu bestimmen, und die von den Parteien getätigten Vorsorgemaßnahmen dem Maßstab der Haftungsregel zu unterwerfen, um Verschulden festzustellen. Vgl. Erdmann (1993) [57], 36f. Vgl. Calabresi (1970) [26], Demsetz (1972) [45] und Posner (1972) [132]. 4 Zur Funktion impliziter Preise vgl. Koboldt/ Leder I Schmidtchen (1994) [ 104] und Cooter (1984) [34]. 2

3

3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben

77

Browns Modell basiert auf den folgenden Annahmen: 5 A 1 Bezeichne X das Vorsorgeniveau des Schädigers und Y das Vorsorgeniveau des Geschädigten. A 1 Die Kosten der Vorsorge je Vorsorgeeinheit betragen Wx für den Schädigerund Wr für den Geschädigten. Wx und Wr sind konstant. A 3 Die Kosten des Unfalls betragen A.

A 4 P(X, Y) bezeichne die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Unfall vermieden werden kann, wenn Vorsorgemaßnahmen in Höhe von X und Y ergriffen werden. [)p

Für P(X, Y) gelte ßX > 0,

[)1p

axz

[)p

[)2p

[)1p

< 0, EJY > 0, EJY 1 < 0 und EJX EJY < 0.6

1 - P(X, Y) ist dann die Wahrscheinlichkeit, mit der es zu einem Unfall kommt. Unabhängig von irgendeiner Haftungsregel läßt sich unter den gegebenen Annahmen das effiziente Niveau an Vorsorgemaßnahmen X und Y bestimmen. Effiziente Vorsorgeniveaus minimieren die sozialen Kosten Cs(X, Y), d. h. es muß gelten: (3.1)

min Cs(X, Y) X, y

= Wx X+ Wr Y + A[l -

P(X, Y)]

Ein Minimum der sozialen Kosten ist erreicht, wenn die individuellen marginalen Vorsorgekosten dem Grenzwertprodukt der Unfallvermeidung entsprechen: (3.2)

Wx

= A Px(X, Y)

(3.3)

Wr

= APr(X, Y)

Stünden die Vorsorgeniveaus X und Y unter der Kontrolle einer Person, dann würde diese Person aus Eigeninteresse heraus die effizienten Vorsichtsmaßstäbe wählen. Da die aktuellen Vorsichtsniveaus jedoch aus dem Verhalten des Schädigers und des Geschädigten resultieren, muß eine Haftungsregel festgelegt werden. Sie ist effizient, wenn sie die Parteien zu 5

6

Vgl. Brown (1973) [24], 324f. Wie Cooter/Komhauser/Lane (1979) [38], 368, Fn. 3 feststellen, ist die An-

nahme !>02~ < 0 für Browns Modell nicht erforderlich, sondern muß P(X, Y ) konuXuY 2 2 kav sein. Die Annahme

~:z < 0 bzw. ~.: < 0 schließt jegliche steigende Skalen-

02 p .. aus. W egen EJX . d d'1e V orsorgemveaus . be1'der Parte1en . mc . ht unabertrage EJY < 0 sm hängig voneinander.

78

3 Die sichtbare Hand im Common Law

einem Verhalten veranlaßt, das die sozialen Kosten minimiert. 7 Bezeichne Lx(X, Y) den Anteil der sozialen Kosten, den der Schädiger zu tragen hat, und Lr(X, Y) den Anteil des Geschädigten. Beide Seiten stehen dann folgenden Kosten gegenüber: (3.4)

Cx

= WxX + A[I - P(X, Y)J Lx(X, Y)

(3.5)

Cr

= Wr Y + A[I - P(X, Y)J Lr(X, Y)

Wir werden uns im folgenden auf die Anreizwirkungen der Verschuldenshaftung mit der Einrede der Fahrlässigkeit des Geschädigten beschränken. 8 Gemäß dieser Haftungsregel ist der Schädiger immer haftbar, wenn er fahrlässig gehandelt hat und der Geschädigte nicht fahrlässig war. Sonst ist der Geschädigte haftbar. Damit gilt: (3.6)

Lx(X, Y) = {

~

Lr(X, Y)

={

0: l :

wenn X < X* und Y

~

Y*

in allen übrigen Fällen

Um den Unterschied zwischen perfekter und imperfekter Information in ihren Auswirkungen auf die Effizienz einer Haftungsregel zu untersuchen, trifft Brown eine Fallunterscheidung.

FaUl: lncremental Standard nach Brown A 5 Das Gericht sowie beide Parteien haben vollständige Information über die den Parteien verfügbare Unfallvermeidungstechnologie. Das Gericht kann die Fahrlässigkeit einer Partei unter der Annahme feststellen, daß sich die andere Partei volkswirtschaftlich optimal verhält. 9 7 Brown wendet sich damit ausdrücklich gegen das "least cost avoider" Konzept von Calabresi (1970) [26] und Demsetz (1972) [45]. Dieses Konzept lege nicht eindeutig fest ,,how liability should be assigned in order to induce the parlies to take the optimal amount of avoidance action" Brown (1973) [24], 327. Browns Auffassung ist korrekt: Das Konzept des least cost avoider führt nur dann zu effizienten Ergebnissen, wenn noch zusätzlich zu den Annahmen A 1 - A4 entweder strikte Gefährdungshaftung (also eine Haftungsregel) oder Unteilbarkeit der Schadenvermeidungsmaßnahmen (also eine zusätzliche technologische Annahme) unterstellt wird. 8 Neben dieser Haftungsregel untersuchte Brown u. a. auch die Anreizwirkungen der reinen Gefährdungshaftung, der reinen Verschuldenshaftung und der relativen Verschuldenshaftung. 9 "[T]he judicial system can ferret out complete information about the underlying technology of accident prevention so that negligence for one party is determined on that assumption that the other party is already acting in an optimal manner" Brown (1973) [24], 333. Die Annahme, daß neben dem Gericht beide Parteien über vollständige Information bezüglich der Unfallvermeidungstechnologie verfügen, trifft Brown auf S. 335.

3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben

79

Bezeichne das Tupel X 0 , Y!1 das volkswirtschaftlich optimale Vorsorgeniveau. Ohne Spezifikation einer konkreten Haftungsregel aber unter Gültigkeit von Annahme A 5 wird jede Partei ihre privaten Kosten wie folgt minimieren: (3.7)

min Cx(X, Yn)

= WxX +ALx(X, Y)(l- P(X, Yn))

(3.8)

minCr(Xn, Y) y

= WrY +ALr(X, Y)(l- P(Xn, Y))

X

Die unter der Annahme A 5 individuell rationalen Vorsorgeniveaus erhält man aus Umformungen von (3.7) und (3.8). (3.9)

Wx

= APx(X*, Yn)

(3.10)

Wr

= APr(Xn, Y*)

Der Vergleich von (3.9) und (3.10) mit (3.2) und (3.3) zeigt, daß die individuell rationalen Vorsorgeniveaus mit den kollektiv rationalen Vorsorgeniveaus bei Geltung des incremental standard übereinstimmen. Das voranstehende Ergebnis läßt sich auch als Ergebnis einer Interaktion beider Parteien unter der Coumot-Nash-Annahme herleiten. Hierzu muß man in die Gleichungen (3.7) und (3.8) die speziellen Xn- und Yn-Werte durch die Variablen X und Y ersetzen. Aus den so modifizierten Gleichungen (3.7) und (3.8) lassen sich die Reaktionsfunktionen Xf(Y) und Yf (X) herleiten, die in Abb. 3.1 dargestellt sind. Der Schnittpunkt der beiden Reaktionsfunktionen stellt ein Coumot-Nash-Gleichgewicht dar, das unter den Annahmen A 1 - A 5 volkswirtschaftlich effizient ist. So wie der incremental standard bisher beschrieben wurde, war er losgelöst von einer konkreten HaftungsregeL Unterstellen wir die Verschuldenshaftungsregel mit der Eimede der Fahrlässigkeit des Geschädigten, dann lassen sich aus (3.7) und (3.8) modifizierte Reaktionsfunktionen x e und y e herleiten. x e und y e stellen dasjenige Vorsorgeniveau einer Partei dar, das die eigenen Kosten in Abhängigkeit vom Vorsorgeniveau des Kontrahenten unter der Annahme einer bestimmten Haftungsregel und der Informationsannahme A 5 minimiert. Die aus der Verschuldenshaftungsregel mit der Eimede der Fahrlässigkeit des Geschädigten resultierenden individuellen Minimalkostenfunktionen lauten: _ { WxX +A[l- P(X, Y)]: WxX:

(3.11)

Cx(X, Y) -

(3 ·12)

Cr(X, Y)

{

Wr Y:

= Wr y + A[l - P(X, Y)] :

für X < X n und Y 2 Yn in allen anderen Fällen für X < Xn und Y 2 Yn in allen anderen Fällen

3 Die sichtbare Hand im Common Law

80

y

\ Xf(Y)

X Abbildung 3.1: Gesamtkostenreaktionsfunktionen

y

Abbildung 3.2: Gesamtkostenreaktionsfunktion mit Haftungsmaßstab

Die sich hieraus ergebenden Reaktionsfunktionen sind in Abb. 3.2 dargestellt. Innerhalb des schattierten Gebiets ist der Schädiger haftbar. Abb. 3.1 und Abb. 3.2 unterscheiden sich darin, daß in Abb. 3.2 ein Haftungsmaßstab vorgegeben ist: X n und Yn. Die Reaktionsfunktionen X ' und Y ' sind mit XI und yf bis zum Erreichen von (X n, Yn) identisch. Für den Schädiger entfällt für Y < Yn jede Haftung, so daß X' im weiteren Verlauf mit der Ordinate identisch ist. Umgekehrt wird der Geschädigte von seiner Haftung frei, wenn er mindestens das Vorsorgeniveau Yn einhält. Seine Reaktionsfunktion verläuft deshalb für Y 2: Yn parallel zur Abzisse.

3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben

81

Wie nun Brown in einem Beweis gezeigt hat und wie auch Abb. 3.2 verdeutlicht, gibt es unter den getroffenen Annahmen nur ein Gleichgewicht, das zugleich effizient ist: (X n, Yn). Fall 1 (incremental standard) führt damit zu folgendem Ergebnis: Wenn das Gericht perfekte Information über die Unfallvermeidungstechnologie besitzt und die Haftungsregel Verschuldeoshaftung mit der Einrede der Fahrlässigkeit des Geschädigten ist, dann resultiert als Gleichgewicht das soziale Optimum. 10

Fall 2: Limited Information lncremental Standard nach Brown Im Fall der imperfekten Information (limited information incremental standard) kennt das Gericht nicht mehr das soziale Optimum. Annahme A 5 muß deshalb durch folgende Annahme ersetzt werden. A 6 Das Gericht hat keine vollständige Information über die jeweiligen Unfallvermeidungstechnologien der beiden Parteien, sondern kennt nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Unfallvermeidungstechnologie. 11 Es kann nur die partiellen Ableitungen von P(X, Y) in der unmittelbaren Umgebung der aktuellen Vorsorgeniveaus bestimmen. Ein Vorsorgeniveau gilt nun als unzureichend, "if it is less than that which would be optimal given what the other party has in fact done" (Brown 1973 [24], 334).

Der Schädiger hat nur dann für einen Schaden aufzukommen, wenn gilt: (3.13)

Wx

< A Px(X, Y)

wobei X und Y aktuelle beobachtete Niveaus darstellen. Der Geschädigte ist haftbar, wenn für das Niveau (X, Y) gilt (3.14)

Wy < A Py(X, Y)

Brown behauptet in einem zweiten Theorem, daß bei Geltung des limited Information incremental standard und der Haftungsregel Verschuldeoshaftung mit der Einrede der Fahrlässigkeit des Geschädigten das soziale Optimum aus Fall 1 kein Gleichgewicht mehr ist. Es existiere überhaupt kein Gleichgewicht. Der Beweis zu Theorem 2 erfolgt bei Brown (1973) [24] verbal und ist m. E. nicht leicht nachzuvollziehen. Der Grundgedanke von Theorem 2 ist, daß im Fall des "Limited Information Incremental Standard" keine wechselVgl. Brown (1973) [24], 340ff. Man beachte allerdings, daß Brown weiterhin von der Gültigkeit der Annahme A 4 ausgeht, also von konkavem P(X, Y) . Über den Informationsstand der Parteien sagt Brown nichts aus. 10

11

6 Leder

82

3 Die sichtbare Hand im Common Law

Abbildung 3.3: Reaktionsfunktionen bei imperfekter Information

seitig konsistenten Erwartungen der beiden Spieler mehr möglich sind. Die P(X;, }j) Werte sind jetzt nämlich nur noch vom Verhalten der Spieler abhängig, sie wissen aber nicht mehr, welches Vorsorgeniveau der jeweils andere Spieler wählen wird. 12 Ein Gleichgewicht würde erfordern, daß die Reaktionsfunktionen Xf (Y) und yf (X) einen Schnittpunkt besitzen. Brown behauptet, daß ein Schnittpunkt nicht existiert. Browns Ausführungen werden wie folgt interpretiert: Zunächst ist der Bereich festzulegen, innerhalb dessen der Schädiger haftbar ist. War in Fall 1 die Grenze X n eine vertikale Linie, so gilt jetzt X • ( Y) = Xf (Y) und analog Y*(X) = Yf(X). Der dahinterstehende Gedanke ist folgender: Jede Partei muß mindestens soviel Vorsorge treiben, wie sich auf Grund der Reaktionsfunktion ergibt. Die schattierte Fläche in Abb 3.3 stellt die Zone dar, innerhalb derer der Schädiger haftbar ist. Zunächst zeigt Brown, daß Xn, Yn kein Gleichgewicht mehr ist. Bewegt man sich von X n, Yn horizontal zur Ordinate, stellt man fest, daß immer der Geschädigte haftbar ist. Für den Schädiger bestehen also keine Anreize, Schadensvorsorge zu treiben. Seine Kosten sind für X = 0 minimal, und Xn, Yn ist damit kein Gleichgewicht. X = 0 stellt jedoch auch kein Gleichgewichtsvorsorgeniveau für den Schädiger dar. Im Intervall [o,x•(Y) < x•(Yf(O))] muß der Schädiger nämlich alleine Vorsorgemaßnahmen vornehmen, weil der Geschädigte erst ab Yf(O) Vorsorge treiben 12 Wegen Pxr < 0 sind die Vorsorgeniveaus der beiden Parteien nicht unabhängig voneinander.

3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben

83

y

Yf(O)-E y

··C·V .

ye

X Abbildung 3.4: Grenzzyklus bei imperfekter Information

wird (vgl. auch Abb. 3.4). Sobald der Schädiger auf seiner Reaktionsfunktion den Wert x•(Yf (O)) erreicht hat, beginnt in einer beliebig kleinen E-Umgebung die Möglichkeit inkonsistenter Erwartungen. Ab Yf(O) - E wird nämlich der Geschädigte haftbar. Es kommt zu einem Sprung von der Xe-Funktion auf die ye_Funktion, so daß der Geschädigte sein Vorsorgeniveau reduzieren kann. Eine marginale Veränderung des X- Vorsorgeniveaus von der ye_ Funktion aus ergibt, daß der Schädiger gar keine Vorsorge mehr tätigen müßte. Das Y- Vorsorgeniveau bleibt bei einem Sprung konstant. Für alle Yf(O)- E Werte beträgt xe Null. Sobald der Wert Yf (O) erreicht ist, kommt es zu einem Sprung von der y e_Funktion auf die Xe-Funktion, und wir erhalten einen Grenzzyklus. Das Gericht steht also vor der (unlösbaren) Aufgabe, die Konsequenzen aus beobachteten X und Y Werten zu bestimmen, aus denen keine eindeutigen Rückschlüsse mehr möglich sind. Die Ergebnisse des Modells von Brown lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) Wenn das Gericht vollständige Information über die Unfallvermeidungstechnologie hat, stellt sich im Fall der Verschuldenshaftung mit der Einrede der Fahrlässigkeit des Geschädigten das soziale Optimum ein. Schädiger und Geschädigter wählen spontan das effiziente Vorsorgeniveau. Sie wissen, daß andernfalls das Gericht ihre Fahrlässigkeit feststellt und sie dann den gesamten Schaden übernehmen müssen. 6•

84

3 Die sichtbare Hand im Common Law

(2) Kennt das Gericht die Unfallvermeidungstechnologien der beiden Parteien nicht, kommt es bei Geltung des limited information incremental standard und der Verschuldenshaftung mit der Einrede der Fahrlässigkeit des Geschädigten zu gar keiner Herausbildung irgendeines Gleichgewichts. Das erste Ergebnis ist nicht weiter überraschend: Wenn sich die verfügbare Unfallvermeidungstechnologie als konvexe Isoquante darstellen läßt, das Gericht diese kennt und jeden Punkt der X, Y-Ebene in Bezug zur Minimalkostenkombination X n, Yn setzen kann, dann muß als Ergebnis dieser Annahmen individuell rationales Verhalten mit kollektiver Rationalität übereinstimmen. Das zweite Ergebnis ist bemerkenswert: Sobald die Modellannahmen realistischer gestaltet werden, ist die Effizienz einer bestimmten Rechtsregel nicht mehr gewährleistet. Im vorliegenden Fall haben wir es sogar mit dem Problem einer Entscheidungsunfahigkeit des Gerichts zu tun, denn es läßt sich nicht einmal ein ineffizientes Gleichgewicht bestimmen. "Dann muß man eben eine neue Nebenbedingung ins Modell einführen, um das effiziente Resultat zu erhalten!" Genau diesen Weg haben Cooter/Komhauser/ Lane (1979) [38] beschritten. 3.1.2 Effizienz durch Lernen der Richter: CoolerI Kornhauser I Lane

Cooter/Komhauser/Lane setzen an den pessimistischen Schlußfolgerungen von Brown in Bezug auf die Effizienz von Haftungsregeln des Common Law an. Ihr Ziel ist es zu zeigen, daß sich auch bei anfanglieh begrenztem Informationsstand des Gerichts langfristig die effiziente Lösung im Recht durchsetzt: "We cantend that these pessimistic conclusions result in part from neglecting the role of precedent in the behavior of the courts. We show that legal standards of care, and the resulting care taken by victims and injurers, converge to an efficient Ievel when the courts learn over time" (Cooter/Komhauser/Lane 1979 [38], 367). Das Vorgehen von Cooter/Kornhauser/Lane läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Sie modellieren einen Lemprozeß, der zum optimalen Ergebnis führt. Als Zielfunktion suchen sie eine Liapunow-Funktion, denn diese Funktion verfügt über die Eigenschaft, daß sie ein globales Minimum hat - was in unserem Fall mit dem gewünschten effizienten Gleichgewicht identisch ist. Die Abweichungen zwischen dem Cooter/Komhauser/Lane - Modell und dem Brown-Modell ergeben sich im wesentlichen aus einer Änderung von Browns Annahme A 6 • Aus Browns Annahme A 6 folgt, daß die Richter Rückschlüsse von den tatsächlichen Vorsorgeniveaus X und Y der Parteien

3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben

85

ziehen, die wegen Px r -/:- 0 nicht unabhängig voneinander sind. Cooter I KomhauserfLane schlagen vor, nicht vom beobachtbaren Sorgfaltsniveau der beiden Parteien auszugehen, sondern irgendeinen Standard zum Zeitpunkt t = 0 als verbindlich zu erklären. Zu Anpassungen der Sorgfaltsniveaus durch die Gerichte kommt es - wie nachstehend gezeigt wird - wenn in einem Prozeß festgestellt wird, daß die individuellen marginalen Vorsorgekosten einer Partei das Grenzwertprodukt der aktuellen Unfallvermeidung über- oder unterschreiten. Aus diesen Sorgfaltsniveauanpassungen lernt das Gericht solange, bis schließlich die effizienten Sorgfaltsniveaus erreicht sind. Cooter/Komhauser/Lanes Annahmen lauten: A1

-

A 3 des Brown-Modells gelten unverändert.

ß2p

A: Wie Annahme A 4 des Brown-Modells, wobei {)X{)Y < 0 nicht erforderlich ist. Konkavität von P(X, Y) ist ausreichend.

Gerichte legen im Zeitpunkt t = 0 einen Sorgfaltsmaßstab (X*(O), Y*(O)) fest. Wenn es zu einem Prozeß kommt, lernen die Gerichte die Unfallvermeidungstechnologie P(X*(t), Y*(t)) einschließlich partieller Ableitungen kennen. Die bisherige Präjudiz (X*(O), Y*(O)) wird gemäß dem Effizienzkalkül an die Beobachtungen von P(X*(t), Y*(t)) angepaßt.

A~

Die Modellogik ist nun folgende: Es komme zu einem Unfall, in den zwei Parteien verwickelt sind. Haftungsregel sei Verschuldenshaftung mit der Einrede der Fahrlässigkeit des Geschädigten. Eine Präzedenzregel sehe das Sorgfaltsniveau (X*(O), Y*(O)) als verbindlich an. Die Parteien strengen einen Prozeß an, in dessen Verlauf das Gericht aus dem beobachteten (X*(t) , f*(t))-Niveau auf P(X *(t), Y*(t)) schließen kann. Weil das Gericht auch die partiellen Ableitungen

8P ax

und

8P aY

kennt, kann es auf der Grundlage von Browns limited infor-

mation standard folgende Anpassungen vorschlagen. Falls für den Schädiger gilt: (3.15)

Wx > APx(X*(t), Y*(t) )

wird X * reduziert. Ebenso kommt es zu einer Anpassung des Vorsorgeniveaus des Geschädigten, falls gilt: (3.16)

Wr < APr(X*(t), Y*(t) )

Der neue Vorsorgestandard (X • ( t + d t), Y • (t + d t)) wird als neue Präzedenz verkündet. Dieser dynamische Prozeß konvergiert im Zeitablauf gegen

3 Die sichtbare Hand im Common Law

86

ein effizientes Gleichgewicht, wie das folgende Theorem von Cooter I Komhauser I Lane behauptet. 13

Theorem von Cooter!Kornhauser!Lane i)

Sei P(X, Y) eine stetige, strikt konkave Funktion mit strikt positiven Ableitungen.

ii) Sei die Rechtsregel Verschuldeushaftung mit der Einrede der Fahrlässigkeit des Geschädigten.

Dann konvergiert jeder anfängliche Sorgfaltsmaßstab (X*(O) , f *(O)) gegen einen effizienten Vorsorgemaßstab (X 11 , Yn), der zugleich das einzige global stabile Gleichgewicht des Systems darstellt, wenn das Gericht den Sorgfaltsmaßstab wie folgt ändert: dX *(t)

.

(3.17)

~ = X*(t) = APx(X*(t) , Y*(t))- Wx

(3.18)

~

d Y*(t)

.

= Y*(t) = APr(X*(t) , Y*(t)) -

Wr

Der Beweis läuft wie folgt: (X 11 , Yn) stellt ein Gleichgewicht des Systems dar, weil definitorisch

=0

(3.19)

APx(Xn, Yn) - Wx

(3.20)

A Pr(X n, Yn) - Wr = 0

erfüllt sind. Gleichungen (3.19) und (3.20) entsprechen im übrigen (3.2) und (3.3) des Brown-Modells in 3.1.1. Für X* (t) = Xn und f *(t) = Yn nehmen die Gleichungen (3.17) und (3.18) den Wert Null an, so daß X*(t) und f*(t) im Zeitablauf sich nicht mehr verändern. Nun zeigen Cooterl KomhauseriLane, weshalb X*(t) , Y*(t)- Werte, die nicht Xn und Yn entsprechen, im Zeitablauf auf das effiziente Gleichgewicht (X n, Yn) zusteuern. Sie greifen hierbei auf das Konzept der Liapunow-Funktion zurück, das wir hier nur kurz wiedergeben, um dann mit dem Beweis von Cooter I Kornhauser I Lane fortzufahren. Grob gesprochen, zeichnet sich eine Liapunow-Funktion eines dynamischen Systems dadurch aus, daß sie ein global stabiles Minimum besitzt. Sie ist wie folgt definiert: 14 Vgl. Cooter/Komhauser/Lane (1979) [38], 370. Vgl. hierzu Varian (1990) [183], 342, Hirsch/Smale (1974) [92], 192ff. oder Haken (1990) [69], 135ff. 13

14

3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben

87

Es sei ein kompakter Zustandsraum S gegeben, 15 so daß das betrachtete dynamische System immer in einem begrenzten Bereich verbleibt. Bezeichne R die Gerade der reellen Zahlen, die als Zeitgerade interpretiert wird. Angenommen, es lasse sich nun eine Funktion des Zustands des Systems, V : S ___, R finden, die die beiden folgenden Eigenschaften besitzt: (1) V(x) erreicht seinen minimalen Wert bei x*, (2) V(x(t)) < 0 für x(t)

-=1-

x* (d.h. DV(x). x(t) < 0 für x(t)

-=1-

x*). 16

Eine solche Funktion V heißt Liapunow-Funktion. Es läßt sich unter Heranziehung der voranstehenden Definition zeigen, daß die Funktion der sozialen Kosten Cs(X, Y) = WxX + WrY + A (1 - P(X, Y)) bei Anpassung der Sorgfaltsniveaus gemäß (3.17) und (3.18) eine Liapunow-Funktion ist. Daß diese Funktion ihr Minimum in (Xn, Yn) erreicht, haben wir oben gezeigt. Zu beweisen ist noch Cs < 0. Aus Cs(X, Y)

(3.21)

= WxX + WrY +A (1- P(X, Y))

erhält man durch die Ableitung nach der Zeit: .

ßCs

ßt = Cs(X*(t), Y*(t)) =

Wx · X*(t)

+ Wr · Y*(t) + A ( -Px · X*(t)- Pr· Y*(t))

= (Wx -APx) ·X*(t) + (Wr -APr) · Y*(t) =

(3.22)

(Wx -APx) (APx- Wx)

+ (Wr -APr) (APr- Wr)

= -(Wx- APx)2 - (Wr- APr / < 0 q.e.d.

Cooter/Komhauser/Lane (1979) [38] zeigen somit anband ihres Theorems, daß der Pessimismus von Brown, wonach unvollständige Information des Gerichts nicht mehr die Effizienz von Haftungsregeln gewährleistet, nicht immer berechtigt ist. Sie geben Bedingungen an, unter denen das Recht, selbst wenn es anfänglich ineffizient ist, gegen ein effizientes 15 Wenn eine Menge in R sowohl abgeschlossen als auch beschränkt ist, dann heißt sie kompakt. 16 "Der Gradient vonf bei x*, Df(x*) ist als Vektor definiert, dessen Koordinaten

die partiellen Ableitungen von f bei x* sind; d.h. Df(x*) = 0~~*) .. . (Varian 1990 [183], 325.)

{)~~·) ...

88

3 Die sichtbare Hand im Common Law

Gleichgewicht konvergiert. Weil die Annahmen des Cooter I Kornhauser I Lane-Modells denen des Brown-Modells zum Teil sehr ähnlich sind, die Ergebnisse sich im Fall imperlekter Information des Gerichts aber grundsätzlich voneinander unterscheiden, lohnt es sich, die Gründe für die Unterschiede noch einmal klar herauszustellen.

Annahme A6 im Modell von Cooter/Kornhauser/Lane (1979) [38] enthält ein wichtiges neues Element gegenüber dem Modell von Brown: den kontrollierten PräzedenzwandeL Cooter I Kornhauser /Lane erklären nicht, woher eine bestimmte Präzedenz kommt, sondern nehmen sie im Zeitpunkt t = 0 als gegeben an. Für die Zwecke des Cooter/Kornhauser/LaneModells ist eine Erklärung der Entstehung einer bestimmten Präjudiz auch nicht erlorderlich. Ihre zentrale Funktion entfaltet die Präjudiz im Cooter I Komhauser/Lane-Modell dadurch, daß sie die Interdependenz zwischen den Vorsorgeniveaus X und Y aufhebt und das Gericht keine Rückschlüsse mehr von den Vorsorgeniveaus der Parteien ziehen muß.

Während im Brown-Modell die individuellen Vorsorgeniveaus der Parteien den Vorsorgestandard der Rechtsregel unmittelbar beeinflussen, ist der Einfluß der von den Parteien gewählten Vorsorgeniveaus im Cooler/Kornhauser I Lane-Modell nur ein mittelbarer. Die Gerichte lernen über die gewählten Vorsorgeniveaus die Unfallvermeidungstech~ologie kennen und nehmen im Anschluß daran Anpassungen von X*(t) und Y*(t) vor. Neu gegenüber dem Brown-Modell ist im Cooter/Komhauser/LaneModell auch die explizite Dynamik des Vorsorgeniveaus. Daß die Dynamik zu einem effizienten Gleichgewicht führt, ist der Konkavitätsannahme bezüglich der Technologie zuzuschreiben. 17 Diese Annahme ermöglicht es auch, das Konzept der Liapunow-Funktion heranzuziehen und hierauf das Konvergenztheorem zu basieren. Cooter/Kornhauser (1980) [39], 141 verkennen nicht, daß ihre Ergebnisse im Cooter I Kornhauser I Lane-Modell entscheidend vom angenommenen Verhalten "ihrer" Richter abhängt: "Certainly the law can improve over time due to judicial insight. For examp1e, it can be shown that the standard of negligence in liability law would evolve towards efficiency if judges amend it according to a simple calculation of benefits and costs. However, it is difficult to contend that judges have insight beyond that displayed in their written opinions, and these opinions reflect a calculus of econornic costs and benefits only in a narrow dass of cases." Cooter I Kornhauser sprechen damit ein Problem an, das sie im Cooter/Komhauser/Lane17 Cooter/Kornhauser/Lane (1979) [38], 373, Fn. 7 verweisen selber auf diesen Umstand. Nichtkonkave Technologien würden nicht notwendigerweise effiziente Gleichgewichte als Ergebnis eines dynamischen Anpassungsprozesses hervorbringen.

3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben

89

Modell nicht zu thematisieren brauchten: die entscheidungsunterstützende Rolle von Präjudizien, die nicht nur auf Kosten - Nutzen - Überlegungen beruhen. Auf diese Thematik gehen wir ausführlich im 5. Kapitel ein. Implizit unterstellten Cooter/Komhauser/Lane (1979) [38] in ihrem Modell, daß die Kosten des Überganges von einem Vorsorgestandard zu einem neuen Vorsorgestandard für Schädiger wie Geschädigten Null betragen. Welche Veränderungen ergeben sich aus dem einfachen Modell von Brown, wenn wir Anpassungskosten einführen, und damit neben der statischen Effizienz einer Rechtsregel auch auf ihre dynamische Effizienz achten? Blume/Rubinfeld (1982) [18] stellen diese Frage in den Mittelpunkt ihres Modells. 3.1.3 Berücksichtigung von Anpassungskosten: Blume/Rubinfeld "[l]t should be, but often is not apparent to everyone that the process of moving the world from one state to another is itself costly." (Arthur Allen Leff 1974 [113], 460)

Soll man von einem 3000 m hohen Gipfel auf einen 4000 m hohen Gipfel steigen, um eine noch bessere Aussicht zu genießen? - Das kommt darauf an, ob man vorher noch ein tiefes Tal mit sehr viel Mühsal durchschreiten muß oder ob man schnurstracks von einem Gipfel zum anderen hochmarschieren kann. Mit diesem Vergleich läßt sich die zentrale Botschaft des Modells von Blume /Rubinfeld zur Rechtsfortbildung via sichtbare Richterhand beschreiben. In allen bisher diskutierten Modellen von Kapitel 2 und 3 wurde implizit davon ausgegangen, daß der Übergang von einem alten Gleichgewicht zu einem neuen Gleichgewicht nichts kostet: Anpassungskosten oder Kosten, die aus einer positiven Zeitpräferenzrate der Akteure resultieren, spielten keine Rolle. Blume/Rubinfeld greifen in ihrem Modell dieses Manko auf, das in der traditionellen Law and Economics-Literatur weitgehend negiert wird, und verknüpfen es mit einer anderen wichtigen Frage: Gerät die stare decisis-Doktrin unter die Räder, wenn ein dynamisch effizienter Gleichgewichtspfad für einen Rechtswandel spricht? Für Cooter I Komhauser I Lane (1979) [38] stellte die Anpassung einer Präjudiz an neue Umweltbedingungen kein Problem dar- sie war sogar Voraussetzung dafür, daß das statisch effiziente Gleichgewicht (X n, Yn) erreicht wurde. 18 Vor einer detaillierten Analyse und Diskussion des Blume/RubinfeldModells erscheint eine verbale Beschreibung ihres Vorgehens sinnvoll. 18 Vgl. Cooter/Komhauser/Lane (1979) [38], 370: "The adjustment of the standards establishes a new "precedent" from which all future measurements and changes are made. The court eventually reaches the efficient standard by successive revisions."

90

3 Die sichtbare Hand im Common Law

Blume/Rubinfelds Erkenntnisinteresse ist eine normative Analyse dynamischer Rechtsentwicklungsprozesse. Neben Wohlfahrtsgewinnen auf Grund statischer Effizienzvorteile sind die Kosten des Übergangs und die Schnelligkeit des Wandels in der Kalkulation zu berücksichtigen. Nicht die Annäherung an ein statisch effizientes Gleichgewicht, sondern ein dynamisch effizienter Zeitpfad sollte Zielgröße von Entscheidungsträgern im Recht sein: "The socially optimum legal rule is not a single negligence standard which minimizes static social costs." 19 Ein dynamisch effizienter Zeitpfad "is one in which the rate of change of legal rules minimizes the social costs placed upon such changes" (Blume/Rubinfeld 1982 [18], 410.). Blume/Rubinfeld (1982) [18] greifen zur Modeliierung dynamisch effizienter Zeitpfade auf das uns bekannte Modell von Brown (1973) [24] zuriick. Das Modell wird in eine dynamische Version gebracht, denn sonst ließen sich Anpassungskosten nicht erfassen. Der Einfluß zukünftiger Entscheidungen auf die Gegenwart wird durch einen Diskontfaktor erfaßt. Unter Geltung der genannte~ Annahmen kann man nun zeigen, daß der Einfluß von Anpassungskosten und Änderungen des Diskontfaktors sehr unterschiedliche Empfehlungen bezüglich der Änderung von Vorsorgeniveaus nahelegen. Die Anzahl möglicher Vorsorgeniveauanpassungen ist im Modell von Blume/Rubinfeld hoch, und zum Teil sind die Wirkungen einer Parameteränderung nicht mehr eindeutig. Im Anhang A (vgl. S. 161 ff.) wird gezeigt, daß die Blume/Rubinfeld-Ergebnisse noch vergleichsweise überschaubar sind, weil sie eine quadratische und keine kubische Anpassungskostenfunktion wählen. In der Bewertung ihrer Modellergebnisse gelangen Blume/Rubinfeld zu dem Schluß, daß es wenig Grund für die Annahme gäbe, daß sich der in der Realität beobachtbare Zeitpfad von Rechtsentwicklungen dem optimalen Zeitpfad annähert. Außerdem begründen sie, warum es sinnvoll sein kann, Präzedenzen nur langsam zu ändern - nämlich dann, wenn die Kosten des Übergangs zur neuen Rechtsregel zu hoch sind. Wir werden diese Begrundung genau registrieren, denn im 5. Kapitel stellen wir andere Gründe für das Beharrungsvermögen von Rechtsentscheidungsregeln dar. Gegeben sind also ein Schädiger und ein Geschädigter, die beide unter einer Haftungsregel eine Entscheidung über ihre Vorsorgeniveaus X und Y zu treffen haben. Die Annahmen des Modells sind im einzelnen:20 A 1 Wie im Modell von Brown.

Ai 19 20

Die Vorsorgekosten wx und wr sind Zufallsvariablen, so daß sich die Vorsorgekosten von Periode zu Periode ändern. Blume/Rubinfeld (1982) [18], 406f. Vgl. zu folgender Darstellung auch Blume/Rubinfeld (1982) [18], 410ff.

3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben

91

A 3 Wie im Modell von Brown. A; P(X, Y) bezeichne die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Unfalls, wenn VorsorgeßP maßnahmen in Höhe von X und Y ergriffen wurden. Für P(X, Y) gelte -8 < 0, ß 2P ßP 8 2P 8 2P X ßX2 > 0, ßY < 0, ßY2 > 0 und ßX ßY < 0_21

A;

A6

Der Entscheidungszeitraum bezieht sich auf drei Perioden: die Vergangenheit (Periode -I), die Gegenwart (Periode 0) und die Zukunft (Periode 1). Den Parteien und dem Gericht seien alle Variablen der Vergangenheit bekannt. Aus der Gegenwart kennen alle Beteiligten die Ausprägungen der Zufallsvariablen W~ und

wr

Aus der Änderung der Vorsorgeniveaus X und Y resultieren Anpassungskosten. Die Anpassungskosten in der Gegenwartsperiode betragen für den Schädiger '"Y (X 0 - X_ d und für den Geschädigten '"Y ( Y0 - L d, wobei '"Y eine positive Konstante sei.

A.j Entscheidungsträger berücksichtigen den Einfluß zukünftiger Entscheidungen auf gegenwärtige Entscheidungen. Zukünftige Kosten lassen sich durch Einführung eines Diskontfaktors ß (0 :::; ß :::; 1) in Gegenwartskosten überführen. ß-Werte nahe bei Null zeigen eine hohe Gegenwartsvorliebe an.

Ai

Die Haftungsregel ist Verschuldenshaftung mit der Einrede der Fahrlässigkeit des Geschädigten.

Aufgabe des Gerichts sei es nun, in der Gegenwart die optimalen, rechtsverbindlichen Vorsorgeniveaus X 0 und Y0 festzulegen. Das Gericht hat dabei zu beachten, daß die Zukunft ihren Schatten auf die Gegenwartsentscheidungen wirft. Dieser Annahme wird das Gericht dadurch gerecht, indem es ein dynamisches Programmierungsproblem löst. 22 Wie sich aus den Modellableitungen ergibt, lösen Schädiger und Geschädigter ebenfalls das Programmierungsproblem. Alle Beteiligten verfügen über identische Information und identische Erwartungen. Grundsätzlich kann als erstes Ergebnis festgehalten werden, daß es zwei Determinanten gibt, die Anlaß zur Änderung der Vorsorgeniveaus geben: Vgl. Blume/Rubinfeld (1982) [18], 413. Eine Darstellung und Erläuterung dieses Programmierungsproblems findet sich im Anhang A (vgl. S. 161ff.). Sie zeigt, über welch hohe Informationsverarbeitungsfahigkeiten die Gerichte verfügen müssen. Die Darstellung erklärt auch, daß die vorgenommene Fallunterscheidung bezüglich unterschiedlicher Variablenausprägungen absolut zwingend ist, wenn das Gericht nicht dynamisch ineffiziente Standards setzen möchte. Schließlich veranlaßt uns die Komplexität des Programmierungsproblems, in Kapitel 5.3 der Frage nachzugehen, wie Gerichte handeln werden, wenn sie das Programmierungsproblem nicht perfekt lösen können. Wir werden dort ein Theorem aufstellen, das besagt, daß unvollkommene Entscheidungsträger davon profitieren, auf Umweltveränderungen nicht sofort, sondern verzögert zu reagieren. 2I

22

92

3 Die sichtbare Hand im Common Law

(1) Änderungen der marginalen Vorsorgekosten W x und W Y im Zeitab-

lauf.

(2) Änderungen der Vorsichtsmaßstäbe im Zeitablauf. Die einzelnen Lösungen des Programmierungsproblems ergeben sich aus der Beachtung folgender Fallunterscheidungen?3 Fall I:

"f=Ü

Wenn 'Y Null beträgt, können keine Anpassungskosten in der Gegenwart oder Zukunft auftreten. Wir haben dann das Ergebnis des statischen Modells von Brown, Fall I, vorliegen. In jeder Periode sollte das Gericht als Vorsichtsmaßstab das statische Optimum bei gegebenen Werten von W festsetzen. Fall 2: Falls die Parteien davon ausgehen, daß die Vorsichtsmaßstäbe in Zukunft strenger sein werden als die gegenwärtigen, dann hat die Erhöhung des Diskontfaktors zur Folge, daß die gegenwärtigen Vorsorgeniveaus erhöht werden. Diese Reaktion ist unmittelbar einleuchtend: Das zeitliche Vorziehen von Vorsorgemaßnahmen stellt die Ausnutzung einer Arbitragegelegenheit dar. Umgekehrt gilt, daß ein Anstieg des Diskontfaktors bei erwarteten niedrigeren Vorsichtsmaßstäben in der Zukunft zu einem Rückgang der Vorsorgeniveaus in der Gegenwart führt. Komplizierter wird die Angelegenheit, wenn der Parameter 'Y der Anpassungskosten variiert wird. Wie im Anhang (vgl. Anhang A, S. 16lff.) gezeigt wird, kann das eine Mal eine Erhöhung, das andere Mal eine Reduktion des gegenwärtigen Vorsorgemaßstabes angezeigt sein. Zentrale Erkenntnis aus den Resultaten von Fall 1 und Fall 2 ist, daß eine statisch effiziente Regel dynamisch ineffizient ist, sobald Anpassungskosten auftreten. Rechtspolitisch ist diese Erkenntnis äußerst wichtig: Sie legt es nahe, nicht nur auf die statischen Effizienzgewinne von Reformen oder Veränderungen zu schielen. Denn diese Gewinne können durch Anpassungskosten überkompensiert werden. Außerdem folgt aus dem Modell, daß es suboptimal ist, wenn das Recht übermäßig sensitiv auf Umweltveränderungen reagiert. Verstärkt wird dieser negative Effekt, wenn die Zukunft hohe Wertschätzung erfährt, also ß nahe bei eins liegt. 23

Vgl. hierzu auch die Ausführungen im Anhang A, S. 161 ff.

3.1 Festlegung von Vorsorgemaßstäben

93

Blume/Rubinfeld (1982) [18], 418f. äußern die Vermutung, daß die beobachtbare Fortentwicklung von Rechtsregeln nicht einem theoretisch ableitbaren optimalen Zeitpfad entspricht. Sie führen dies auf eigennütziges Verhalten der Richter und Kontrahenten zurück. Profilsüchtige Richter könnten z. B. sehr großes Interesse an der Schaffung eigener Präzedenzen hegen, um ihre Reputation zu erhöhen. Risikoaverse Richter würden hingegen eine zu große Furcht vor Korrekturen durch die Revisionsinstanzen haben, falls sie selber einen Präzedenzwandel herbeiführen würden. In Kapitel 5.3 wird auf der Grundlage des Blume/Rubinfeld-Modells eine alternative Erklärung vorgetragen, warum Richter gegenüber dem optimalen Zeitpfad Rechtsänderungen nur verzögert vornehmen. Einige Anmerkungen zum Modell von Blume/Rubinfeld erscheinen noch angebracht. (1) Blume/Rubinfeld zeigen deutlich auf, warum es eine verengte Sicht-

weise ist, in wohlfahrtsökonomischen Analysen nur auf die statische Effizienz zu achten. Die Gewinne von einem statisch ineffizienten Ausgangspunkt zum statisch effizienten Gleichgewicht können durch höhere Verluste überkompensiert werden.

(2) Blume/Rubinfeld wählen eine quadratische Anpassungskostenfunktion. Falls eine kubische Anpassungskostenfunktion gewählt wird, stellen die Bedingungen erster Ordnung im Modell von Blume/Rubinfeld ein nichtlineares Gleichungssystems dar. Es ist zu vermuten - im Rahmen dieser Arbeit kann ich dies nicht beweisen - daß die Jakobi-Determinante eines approximierten linearen Gleichungssystems unter den getroffenen Annahmen singulär werden kann. Dies würde zur Folge haben, daß sich keine allgemeinen Aussagen über die Veränderungsrichtung der festzulegenden Vorsichtsmaßstäbe treffen lassen. Dynamisch optimales Verhalten wäre dann ein utopisches Ziel. (3) Im Blume/Rubinfeld-Modell ist kein Fall denkbar, in dem eine Partei Veranlassung haben sollte, vor Gericht zu ziehen. Denn dies würde voraussetzen, daß man uneins ist bezüglich irgendeines Sachverhaltes. Wie soll diese Situation aber eintreten, wenn alle Beteiligten dasselbe wissen, dasselbe beobachten und das Gericht immer nur effiziente Vorsorgeniveaus festlegt? Selbst wenn die erwarteten zukünftigen Vorsichtsmaßstäbe X I und r, sich in ihren Realisationen von den erwarteten Größen unterscheiden würden, wäre dies kein Grund zur Klage. Die Parteien rechnen ja mit der Möglichkeit eines Unterschieds zwischen realisiertem und erwarteten Wert einer Zufallsvariable!

94

3 Die sichtbare Hand im Common Law

(4) Blume/Rubinfeld bringen stare decisis mit Unsicherheit bei der Anwendung einer Rechtsregel in Verbindung.Z4 Eine Quelle der Unsicherheit sehen sie darin, daß "[e]ven though the rules relevant for a case may be known by all parties involved, the outcome may still be uncertain due to uncertainty about how the court will view the facts. " 25 Diese Unsicherheit sei statischer Natur und habe nichts mit der Unsicherheit zu tun, die darin bestehe, welche Rechtsgregel in der Zukunft anwendbar sei. Für den Fall, daß Blume/Rubinfeld Richter als perfekte Informationsverarbeiter ansehen, ist dieser Hypothese zuzustimmen. Anders sieht der Sachverhalt aus, wenn sich Richter irren können, und die Unsicherheit "how the court will view the facts" zuläßt, daß Richter imperfekte Entscheidungen fallen. In Kapitel 5.3 wird gezeigt, daß eine derartige Entscheidungsunsicherheit keineswegs nur statischen Charakter aufweist. Eine zweite Quelle der Unsicherheit in der Rechtsanwendung halten Blume/Rubinfeld für bedeutsamer: "[U]ncertainty about future decisions which goes to the heart of the stare decisis discussion. In general, more rapid changes in rules Iead to greater uncertainty about the shape of case law in the future. " 26 Auf das Verhalten von Alltagsmenschen bezogen ist Blume/Rubinfelds Auffassung sicherlich zutreffend. Zunehmender Gesetzeswandel in immer kürzeren Zeitabständen führt dazu, daß normale Menschen das Rechtssystem immer weniger durchschauen und einer immer größer werdenden Unsicherheit gegenüberstehen. 27 Blume/Rubinfeld gehen aber nicht von normalen Menschen aus, sondern von perfekten Optimierungsmaschinen, die auch komplizierte dynamische Programmierungsprobleme ohne Schwierigkeiten lösen können. Worin besteht bei solchen Akteuren Unsicherheit bezüglich zukünftiger Rechtsregelanwendungen? Eine solche Unsicherheit behandeln Blume/ Rubinfeld in ihrem Modell jedenfalls nicht. Blume/Rubinfelds Beitrag besteht darin, auf den wichtigen Unterschied zwischen statischer und dynamischer Effizienz hingewiesen zu haben. Die Existenz von Anpassungskosten bewirkt, daß es rational ist, nicht jedes statisch effiziente Gleichgewicht anzupeilen. Damit wird das zu lösende Entscheidungsproblem komplizierter. Aber für perfekte Entscheidungsträger - und die unterstellen Vgl. Blume/Rubinfeld (1982) [108], 408f. Ebenda 409. 26 Ebenda. 27 Schmidtchen (1994) [ 161] geht von dieser Beobachtung auf dem Gebiet der Steuergesetzgebung aus und zeigt, daß mit zunehmender Rechtsinterpretationsunsicherheit eingeschränkt rationale Individuen immer steuerehrlicher werden. 24

25

3.2 Die Grenzen der sichtbaren Hand

95

Blume/Rubinfeld - resultiert hieraus keine Verhaltensunsicherheit, wie sie in Abschnitt 1.1 definiert wurde. Welche Auswirkungen sich aus der Existenz von Verhaltensunsicherheit auf die Anwendung von Rechtsregeln und Rechtsinterpretationsregeln ergeben, werden wir im 5. Kapitel ausführlich erörtern. 3.2 Die Grenzen der sichtbaren Hand bei der Schaffung effizienter Rechtsregeln Sucht man nach den grundsätzlichen Ursachen, auf Grund derer statische oder dynamische Effizienz in der Evolution des Rechts verhindert wird, sind insbesondere folgende Faktoren zu erkennen: (1) Kognitive Grenzen der Entscheidungsträger: Selbst wenn die Akteure immer effiziente Entscheidungen fällen wollen, gelingt ihnen dieses Vorhaben nur unvollkommen, weil die Schwierigkeit des zu lösenden Problems ihre geistigen Verarbeitungsfähigkeiten übersteigt. Dieser Gesichtspunkt steht im Mittelpunkt von Teil 2 dieser Arbeit und braucht daher hier nicht weiter vertieft zu werden. (2) Umweltbedingte Grenzen: Hier wird davon ausgegangen, daß die handelnden Akteure sich am Effizienzkalkül orientieren, jedes Entscheidungsproblem auch kognitiv bewältigen, die Umweltbedingungen aber eine effiziente Entscheidung nicht garantieren oder ermöglichen. Bei den unsichtbaren Hand-Modellen zeigte uns das Unmöglichkeitstheorem von Cooter I Kornhauser, daß das Recht im Zeitablauf nicht zu höherer Effizienz konvergieren muß. Erst durch Einführung von Annahmen, die eine Verzerrung der Umwelt zugunsten effizienter Ergebnisse bewirkten, konnte ein Trend zugunsten höherer Effizienz in den Entscheidungen diagnostiziert werden. Die voranstehenden Ausführungen in Abschnitt 3.1 entsprechen in dieser Hinsicht ganz den unsichtbaren Hand-Modellen. Auch die sichtbaren Hand-Modelle haben die Grenzen aufgezeigt, inwieweit Richter dazu fähig sind - ihren Willen immer als gegeben vorausgesetzt - effiziente Urteile zu fällen oder dafür zu sorgen, daß die Effizienz von Urteilen im Zeitablauf zunimmt. Unvollständige Information oder nichtkonkave Schadenvermeidungstechnologien können ernsthafte Hindernisse bei der Verfolgung effizienter Urteile darstellen. Zusätzliche Komplikationen ergeben sich durch die Unterscheidung zwischen statischer und dynamischer Effizienz: Die Verfolgung statisch effizienter Standards ist nur in Ausnahmefällen auch dynamisch effizient.

96

3 Die sichtbare Hand im Common Law

(3) Motivationale Grenzen: In den Modellen von Abschnitt 3.1 wurde immer unterstellt, daß sich Richter bei ihren Urteilen allein davon leiten lassen, volkswirtschaftlich effiziente Entscheidungen zu fallen. Selbst wenn Richter immer effiziente Entscheidungen treffen könnten, warum sollten sie nur dieses Ziel verfolgen? Juristen wenden sehr häufig ein, daß der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit mindestens ebenso wichtig ist wie der effiziente Umgang mit knappen Ressourcen? 8 Ökonomen der Public Choice-Schule und der Neuen Institutionenökonomik ziehen hingegen den Individualkalkül heran, um zu erklären, unter welchen Umständen ein Stellvertreter (Agent) andere Handlungen ergreift als diejenigen, die den Nutzen seiner Auftragsgeber (Prinzipale) maximiert hätten?9 Im folgenden Abschnitt 3.1 wird auf die motivationalen Grenzen der sichtbaren Hand bei der Verfolgung effizienter Rechtsregeln eingegangen. Es wird ein Modell von v. Wangenheim (1993) [186] dargestellt, das auf Public Choice-Überlegungen beruht, und die Evolution des Common Law unter Effizienzgesichtspunkten mit Hilfe eines nichtlinearen Modells abbildet. In Abschnitt 3.2.2 werden den Richtern keine motivationale Schranken unterstellt, sondern geprüft, ob Richter aus einer subjektivistischen Sicht überhaupt als Ersatz von Märkten fungieren können.

3.2.1 Motivationale Grenzen bei Richtern In einem vor kurzem erschienenen Artikel stellen Miceli/Co~gel (1994) [118] fest, daß es erhebliche Schwierigkeiten bereitet, zufriedenstellende Modelle von richterlichem Entscheidungsverhalten zu entwerfen. Sie führen dies auf das Fehlen einer wohldefinierten Zielfunktion zurück, die am Eigeninteresse orientierte Richter optimieren könnten. 30 "Analogies to other economic agents are unsatisfactory in this regard, given that the compensation of judges is not dependent on their decisions, and that they are not generally subject to electoral control."31 Landes/Posner (1976) [110] haben zwar untersucht, wie Präjudizien als Kapitalgüter interpretiert werden können, wenn Richter Präjudizien produ28 Die Juristen, die diesen Standpunkt vertreten, sind keineswegs der Law & Econornics Bewegung prinzipiell abgeneigt, sondern plädieren dafür, eine Komplementarität zwischen Gerechtigkeit, Effizienz und anderen Zielen zuzulassen. Vgl. z. B. Chubb (1989) [29], Epstein (1980) [56], 269ff.; Roberts (1980) [144], 192ff.; Wald (1988) [184], 230ff. und Whichard (1988) [190]. 29 Vgl. hierzu Richter (1990a) [140], 15ff. 30 Vgl. auch Posner (1986) [133], 505f. und Cohen (1992) [32]. 31 Miceli/Co~gel (1994) [118], 32. Fußnoten im Original wurden weggelassen.

3.2 Die Grenzen der sichtbaren Hand

97

zieren. Aber: "The independence of the judiciary . . . from the political branches of the government makes it extremely difficult to model judicial behaviour in economic terms; the outcome of a case seems unrelated to the judge's welfare." 32 Landes/Posner lösen diese Schwierigkeit durch die Annahme auf, daß Richter vorangegangenen Präjudizien bis zu einem bestimmten Grad folgen, weil sonst die Geltung eigener Entscheidungen stark reduziert würde. Genau diese Annahme erfassen Landes/Posner aber nicht in ihrem formalen Modell, sie muß zu den Modellgleichungen hinzugedacht werden. Miceli/Co~gel liefern zwar eine motivationstheoretische Erklärung, warum Richter Präzedenzen produzieren, verknüpfen diese Frage aber nicht mit einer Analyse, inwieweit die Präjudizien volkswirtschaftlich effizient sind. Genau mit diesem Problem hat sich v. Wangenheim (1993) (186] auseinandergesetzt.

v. Wangenheims zentrale These lautet: Weder Richter noch die an einem Prozeß beteiligten Personen sind an volkswirtschaftlicher Effizienz des Rechts interessiert, sondern an ihrem Eigeninteresse. Es läßt sich zeigen, daß die Evolution des Rechts bei Befolgung der stare decisis-Doktrin sowohl Phasen effizienten Rechts als auch ineffizienten Rechts durchläuft. Die Aufeinanderfolge dieser Phasen kann sehr unregelmäßig sein. Zu dieser These gelangt v. Wangenheim wie folgt: 33 (1) Inventaren, die durch ineffiziente Rechtsregeln davon abgehalten werden, ihre Erfindungen am Markt einzuführen, haben einen Anreiz, über ihre Firmen oder als Verbandsklage für die Aufheburig der ineffizienten Rechtsregel vor Gericht zu ziehen. 34

Bezeichnen r und z die statischen und dynamischen Nettogewinne, die sich daraus ergeben, daß eine ineffiziente Rechtsregel in eine effiziente Rechtsregel übergeht. Dann läßt sich die Wahrscheinlichkeit, mit der gegen eine ineffiziente Regel vor Gericht geklagt wird, als Funktion fP(r,z) definieren. Die ersten Ableitungen von fP sind positiv. So wie es Personen oder Interessengruppen gibt, die von einem Übergang zu effizientem Recht profitieren, so erzielen andere, weniger innovative Interessengruppen einen Vorteil, wenn eine bisher effiziente Rechtsregel zu ihren Gunsten in eine ineffiziente Regel geändert wird. Die Häufigkeit, mit der gegen eine effiziente Regel geklagt wird, sei mit !P( -r, - z) bezeichnet.

Landes/Posner (1976) [110], 272. Fußnoten im Original wurden weggelassen. Vgl. v. Wangenheim (1993) [186], 383ff. 34 v. Wangenheim nennt als Beispiel Regulierungen im Telekommunikationssektor oder im Arbeitsrecht, vgl. v. Wangenheim (1993) [186], 384. 32 33

7 Leder

98

3 Die sichtbare Hand im Common Law

(2) Der Effizienzgrad aller Rechtsregeln, also des gesamten Rechts, werde durch den Anteil x derjenigen Richter gemessen, die im Verhältnis zur Gesamtheit aller Richter X eine effiziente Rechtsregel in der Rechtsanwendung heranziehen. (3) Es lohnt sich erst, vor Gericht gegen ineffiziente Regeln zu klagen, wenn das ineffiziente Recht eine bestimmte Schwelle q überschreitet. Die zeitliche Veränderung der dynamischen Gewinne von ineffizientem zu effizientem Recht läßt sich dann wie folgt darstellen: (3.23)

dz

-= dt

z= h(q-x)

Übersteigt der Anteil effizienter Regeln x die Mindestschwelle q, so nehmen die dynamischen Gewinne ab. (4) Richter sind eigennutzorientiert und versuchen, möglichst hoch in der Karriereleiter aufzusteigen. In ihren Entscheidungen wirkt sich dies wie folgt aus: (a) Es gibt einen Anreiz, der herrschenden Meinung, vor allem Berufungsgerichten, zu folgen. Man spart sich Zeit bei der Urteilsfindung und läuft nicht Gefahr, daß ein abweichendes Urteil von der höheren Instanz aufgehoben wird. (b) Um Reputation zu erlangen, muß man sich von der Masse seiner Kollegen abheben. Die Möglichkeit dazu besteht, falls es gelingt, Begründer einer neuen Rechtsauffassung zu werden. (a) und (b) werden nun verknüpft. Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Richter eine bestimmte Entscheidung verkündet, nimmt zunächst mit dem Anteil seiner Kollegen, die diese Auffassung teilen, zu. Ist die Zustimmung zu einer Regel jedoch sehr hoch, besteht ein Anreiz, eine abweichende Meinung zu vertreten, in der Hoffnung, eine Präzedenz zu begründen. Das Konzept der Übergangswahrscheinlichkeit wird nun auf die Heranziehung effizienter und ineffizienter Regeln übertragen: nE(x) ist die Wahrscheinlichkeit, auf eine effiziente, np(x) ist die Wahrscheinlichkeit, auf eine ineffiziente Regel überzugehen.35 (c) Wie Goodman (1978) [65] geht v. Wangenheim davon aus, daß sich Richter in ihren Entscheidungen indirekt davon beeinflussen lassen, wie hoch die Honorarzahlungen der Kontrahenten an ihre Rechtsan35 v. Wangenheim macht die Übergangswahrscheinlichkeiten 7rE und 7rp auch noch vom Anteil w der Rechtsprofessoren abhängig, die effiziente Regeln bevorzugen. Der Einfachheit halber wird in dieser Darstellung darauf verzichtet.

3.2 Die Grenzen der sichtbaren Hand

99

wälte sind. Höhere Honorare lassen auf bessere Anwälte schließen. Bessere Anwälte erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Partei, den Prozeß zu gewinnen. Diese Tendenz läßt sich durch Korrekturfaktoren erfassen, mit denen die unter (b) erläuterten Übergangswahrscheinlichkeiten 7rE und 7rp zu multiplizieren sind. Hieraus ergeben sich die Übergangswahrscheinlichkeiten irE und irp. (5) Die totale Wahrscheinlichkeit, daß ein Richter seine Meinung bezüglich einer Regel ändert, entspricht dem Produkt aus der Wahrscheinlichkeit, sich mit der Regel zu befassen (jP(r, z) oder fP( -r, -z)), und der bedingten Wahrscheinlichkeit, seine Meinung zu ändern, wenn man sich mit der bestimmen Regel befaßt. Die unbedingte Wahrscheinlichkeit, von einer ineffizienten zur effizienten Regel überzugehen, lautet dann: (3.24)

Die unbedingte Wahrscheinlichkeit, daß ein Richter von einer effizienten zur ineffizienten Regel übergeht, beträgt: (3.25)

(6) Unter Heranziehung der Mastergleichung36 erhält man die Bewegungsgleichung für den Mittelwert von X = E(x ) · X: (3.26)

X=

((X) - X)IIE(x, z)- X · Ilp(x, z)

Der erste Term von (3.26) gibt den Erwartungswert der Richter an, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auf effiziente Regeln übergehen, der zweite Term kennzeichnet die Anzahl derjenigen Richter, die zu ineffizienten Regeln wechseln. (7) Division von Gleichung (3.26) durch X und Einsetzen von (3.24) und (3.25) in (3.26) führt zu (3.27). x bezeichne dabei den Erwartungswert des Anteils derjenigen Richter, die effiziente Regeln heranziehen. (3.27)

.X = (1 - x) · IIE(x, z) - x · Ilp(x, z)

36 "Die Mastergleichung gibt die Veränderung der Wahrscheinlichkeit an, mit der Zustand na erreicht wird, wenn sich die Zeit infinitesimal verändert" (Hellbrück 1993 [90], 35). Hellbrück wendet die Mastergleichung sehr fruchtbar zur Modeliierung von Nachfrageverhalten bei der Ausbreitung von Innovationen an. Zur Herleitung der Mastergleichung vgl. Haken (1990) [69], Weidlich/Haag (1983) [188] oder Erdmann (1993) [57], 139ff. 7*

100

3 Die sichtbare Hand im Common Law

(8) Die Gleichungen (3.23) und (3.27) stellen die zentralen Gleichungen des Modells von v. Wangenheim dar. Um die Gleichgewichte zu bestinunen, setzt er = 0 und = 0.

x

z

v. Wangenheim kann nun beweisen, daß das nichtlineare Gleichungssystem neben stabilen Gleichgewichten auch Grenzzyklen als Lösungen beinhält Grenzzyklen bedeuten, daß die Richter von ineffizienten zu effizienten Regeln übergehen, aber dann auch wieder zu ineffizienten Regeln wechseln. (9) v. Wangenheim leitet aus seinem Modell die empirisch überprüfbare Hypothese ab, wonach zyklische Entwicklungen umso eher eintreten, je mehr die Entscheidung einfacher Richter von den Auffassungen der Berufungsinstanzen abhängig sind. Umgekehrt wird die Rechtsentwicklung umso stabiler, je geringer der Vorteil ist, den Interessengruppen aus einer Regeländerung ziehen können. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer zyklischen Rechtsentwicklung ninunt ebenfalls ab, wenn eine obere Schranke für die Gewinne besteht, die aus dem Übergang zu ineffizienten Regeln gezogen werden können. 37 v. Wangenheim gelingt es, Grenzen der Evolution des Conunon Law zu höherer Effizienz formal herzuleiten, die auf der Motivation der Richter und der beteiligten Parteien beruhen. Im Gegensatz zu Priest (1977) [134], der die Übergangswahrscheinlichkeiten von effizienten zu ineffizienten Rechtsregeln und von ineffizienten zu effizienten Rechtsregeln im ZeitabIauf konstant hält, 38 endogenisiert v. Wangenheim diese Größen. Die nichtlineare Verkopplung der endogenen Variablen in den Gleichungen (3.23) und (3.27) bewirkt, daß v. Wangenheim ein offenes System39 modellieren kann und nicht - wie die meisten in dieser Arbeit dargestellten Modelle - Evolution mit der zeitinvarianten Konvergenz auf ein einziges stabiles Gleichgewicht gleichsetzen muß. v. Wangenheim erklärt in seinem Modell, warum Richter aus Eigennutzgesichtspunkten Präzedenzen folgen oder nicht folgen. Er liefert keine Erklärung dafür, warum sich Richter überhaupt an Rechtsentscheidungsregeln wie stare decisis halten, und wie es zu ihrer Herausbildung kommt allerdings ist dies für seinen Erklärungszweck auch nicht erforderlich. Im 5. Kapitel werden wir die Existenz und Verwendung von Rechtsentscheidungsregeln auf kognitive Grenzen der Rationalität von Richtern zurückführen. Vgl. v. Wangenheim (1993) [186], 400. Im Priest-Modell bezeichnete a den Anteil der effizienten Regeln, die von Richtern verkündet wurden. Vgl. Abschnitt 2.1.4 dieser Arbeit. 39 Zur Definition offener Systeme vgl. Erdmann (1993) [57], 36. 37

38

3.2 Die Grenzen der sichtbaren Hand

101

3.2.2 Richter als unvollkommener Ersatz von Märkten Bis jetzt haben wir, abgesehen von der Einschränkung, daß Richter auf Grund motivationaler Schranken auch bewußt ineffiziente Entscheidungen fällen können, angenommen, daß sie ihre Entscheidungen nur am Effizienzkalkül ausrichten. Wir sind dabei der Auffassung Posners gefolgt, Richter würden die Funktion von Märkten übernehmen: "The legal process also resembles the markets in its impersonality -in economic terms, its Subordination of distributive considerations. The invisible band of the market has its counterpart in the aloof disinterest of the judge"40 und "the ultimate question for decision in many lawsuits is what allocation of resources would maxirnize efficiency."41 Insbesondere die Vorstellung Posners, Richter könnten als perfekter Ersatz von Märkten dienen und dabei diejenige Allokation, die der tatsächliche Markt im Vergleich zum Nirwana nicht hervorbringt, sicherstellen, erscheint problematisch. Die Prognose einer Allokation eines nichtexistenten Marktes (Nirwana) stellt ein Kontrafaktum dar. Generell gilt für kontrafaktische Aussagen, daß ihnen solange kein Sinn zugeordnet werden kann, wie nicht ein Theoriekonstrukt besteht, der "die Herbeiführung der kontrafaktischen Bedingungen theorieimmanent durch eine Parametervariation erlaubt."42 Posners Richter müßte versuchen, den Markt dadurch zu imitieren, daß er Informationen über die Handlungen von Individuen beschafft, die in einem perfekten Markt vorgenommen worden wären. Dieses Unterfangen gestaltet sich aber als äußerst schwierig: Als Evidenz für individuelle Präferenzen zählen nur Handlungen, die in tatsächlichen Märkten stattfinden und nicht solche, die sich eine dritte Person ausdenkt. 43 Dem Einwand, Transaktionskosten würden in der Realität effiziente Allokationen bei Vertrag verhindern, deshalb müßte jene gerichtlich durchgesetzt werden, wird in der Literatur durch folgende zwei Argumente widersprochen: (1) Mit Calabresi (1991) [27] läßt sich die Auffassung vertreten, daß sich jede Gesellschaft bei gegebenen Transaktionskosten immer in einem pareto-optimalen Zustand befindet. Die Behauptung, eine der Gesellschaft bekannte, pareto-superiore Allokation könne auf Grund von Transaktionskosten nicht erreicht werden, ist nach Calabresi deshalb sinnlos, weil diese Allokation unter Berücksichtigung der Transaktions40 41 42 43

Posner (1986) [133], 493. Posner (1986) [133], 491. Koboldt (1993) [102], 395. Vgl. Coleman (1982) [33], 1109, Fn. 6.

102

3 Die sichtbare Hand im Common Law

kosten nicht mehr pareto-superior ist. Effzienzvergleiche unter Vernachlässigung der Transaktionskosten entsprechen einem Vergleich von Produktionsergebnissen ohne die Berücksichtigung von Produktionskosten. Transaktionskosten sind genauso Kosten, wie Produktionskosten Kosten darstellen. 44 Aus einer subjektivistischen Position heraus vertritt Buchanan die These, daß es irreführend ist, Transaktionskosten als Effizienzbarrieren anzusehen: "There is no meaning of the term "allocative efficiency" in an idealized zero-transactions cost setting under the subjectivist-contractarian perspective." 45 Die Vorstellung von Tauschhandlungen ohne Transaktionskosten sei ein Tausch unter geänderten Spielregeln. Und was effizient in einer Nulltransaktionskostenwelt sei, sage überhaupt nichts aus in einer Welt mit Transaktionskosten.46 (2) Selbst wenn man nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium eine Effizienzsteigerung durch den Übergang von der Allokation A zur Allokation B erzielt, kann eine umgekehrte Bewegung von B nach A ebenfalls effizienzerhöhend sein. Wir haben dann die Situation des Scitovsky-Paradoxon vorliegen, das auftreten kann, wenn unterschiedliche Rechteallokationen mit nichtmarginalen Änderungen der relativen Preise verbunden sind. 47 In derartigen Situationen treffen Richter keine reinen Effizienzentscheidungen mehr, sondern legen fest, wessen Interessen zählen: "Judges may think or believe that they are simulating the market or that they are working with prices given somehow otherwise ... But courts are part of governance, part of the rights identification and assignment process, thus part of the determination of distribution. "48 Wenn man von den grundsätzlichen zu praktischen Fragen in Bezug auf einen Effizienzvergleich übergeht, treten weitere Probleme auf. Angenommen, wir wollen die Effizienz zweier unterschiedlicher Rechtearrangements vergleichen: Wessen Werte und Kosten sollen in den komparativ-statischen Effizienzvergleich eingehen: diejenigen des Richters oder diejenigen der Kontrahenten? Nimmt man die subjektivistische Position ernst, die auf dem 44 Vgl. Koboldt/Leder/Schmidtchen (1994) [104], 20. Eine ähnliche Position wie Calabresi vertreten auch Coleman (1984) [34], Cooter (1987) [35], O'Driscoll (1980) [49] und Schneider (1985) [163]. Zur Sichtweise des Transaktionskostenansatzes durch die neue Institutionenökonomik vgl. Richter (1990b) [141] und Schrnidt-Trenz (1990) [162], 60ff. 45 Buchanan (1983) [25], 15. 46 Ebenso Coleman (1984) [34], 678. 47 Vgl. Scitovsky (1941) [165], Samuelson (1950) [152], Cooter (1988) [36], 153. 48 Samuels/Mercuro [151], 135.

3.2 Die Grenzen der sichtbaren Hand

103

methodologischen Individualismus beruht, dann zählen allein die Bewertungen der Kontrahenten. 49 Würde der Richter z. B. den Marktpreis zur Bewertung eines Schadens heranziehen, dann wäre dieser Preis nur für den marginalen Konsumenten mit dessen subjektivem und durch Zahlungsbereitschaft gedecktem Wert identisch. Inframarginale Konsumenten messen dem zu bewertenden Gegenstand jedoch einen höheren Wert bei, nämlich noch die von ihnen erzielte Konsumentenrente. 50 Die Bewertung eines Gutes mit dem Marktpreis würde also zu einer systematischen Unterschätzung der inframarginalen Einheiten führen. Fassen wir die Ergebnisse der in Abschnitt 3.1 dargestellten Modelle sowie die in Abschnitt 3.2 vorgetragenen Überlegungen zusammen, so können wir feststellen, daß effizientes Recht nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen durch Richter hervorgebracht werden kann: Die Unfallvermeidungstechnologie muß durch eine konkave Produktionsfunktion beschreibbar sein, und die Kosten sind durch den Richter perfekt bestimmbar. Die Richter müssen ausschließlich an volkswirtschaftlicher Effizienz interessiert sein und dürfen nicht eigennutzorientiert handeln. Damit das Recht auch im Zeitablauf zu höherer Effizienz evolviert, muß die zu optimierende Zielfunktion eine Liapunow-Funktion sein, im Fall des Zusammenwirkens mehrerer endogener Variablen muß das Gleichungssystem eine lineare Struktur aufweisen. These 2 läßt sich danach in folgender Form zusammenfassen.

These 2 Unter der Annahme, daß eine sichtbare Hand (Richter) die Vorsichtsmaßstäbe im Recht der unerlaubten Handlung festlegt, resultiert hieraus nur unter restriktiven Bedingungen ein Evolutionsprozeß, durch den das Recht zu immer höherer Effizienz strebt. Zu dynamischen lneffizienzen kommt es dann, wenn der Zeitpfad, der die Entscheidungen der Richter widerspiegelt, nicht gegen einen global stabilen Extremwert konvergiert, oder Anpassungskosten zwischen zwei Gleichgewichten auftreten.

Vgl. de Alessi/Staaf (1989) [5], 562ff., Schmidtchen (1991) [159], 335ff. Auf diesen Gesichtspunkt weisen u. a. de Alessi I Staaf (1989) [5], 564, Rahmsdorf (1987) [137], 495 und Schmidtchen (1991) [159], 336 hin. 49

50

104

3 Die sichtbare Hand im Common Law

3.3 Unsicherheit und Recht als "weiche Handelnsbeschränkung" Eine Arbeit, die nur an der Beantwortung der Frage interessiert ist, ob Recht bei perfekt rationalen Akteuren zu immer höherer Effizienz evolviert, hätte mit dem Ergebnis des letzten Abschnitts beendet werden können: Unter günstigen Umweltzuständen strebt Recht zu höherer Effizienz, sei es durch eine sichtbare oder durch eine unsichtbare Hand. Unter ungünstigen Umständen ist mit dieser Tendenz eben nicht zu rechnen. Unsere Fragestellung ist jedoch umfassender: Sie zielt ab auf eine Weiterentwicklung der Theorie der Evolution des Rechts durch Ersetzen von empirisch unzutreffenden Prämissen. Während üblicherweise immer angenommen wird, daß Richter und am Rechtsverfahren beteiligte Personen vollkommen rationale Individuen sind, die Rechtsregeln als zusätzliche Beschränkungen ihrer Handlungsmöglichkeiten perfekt wahrnehmen und in ihrem Entscheidungskalkül perfekt verarbeiten, stellt sich bei unvollkommen rationalen Entscheidungsträgem die Frage, "welche Rechtsregeln als Handeinsbeschränkung überhaupt in Betracht gezogen werden sollen."51 Einem Richter, aber auch einem normalen Bürger, mögen in einer bestimmten Situation viele Rechtsregeln gegeben sein. Welche konkreten Konsequenzen aus dem Vorliegen dieser gegebenen Rechtsregeln resultieren, bedarf jedoch der Interpretation der die Rechtsregeln anwendenden Person. Wie Schmidtchen schreibt, unterstellt die orthodoxe "Law & Economics" "perfekte Interpretation der als relevant erachteten Rechtsregeln und zwar gleiche Interpretation durch alle! Es gibt in dieser Hinsicht keine subjektiven Unterschiede. "52 Schmidtchen schlägt vor, die Interpretation von Rechtsregeln als ein eigenes Entscheidungsproblem zu untersuchen. Die Auffassung von Schmidtchen wird von anderen, an der Rechtsevolution interessierten Wissenschaftlern geteilt. Johnston etwa urteilt: "The legal process is not perfect, however. Facts are found with error; decisionmakers differ in how they interpret a vague standard such as "unreasonable" care and how they balance the costs and benefits of alternative private choices. " 53 Im zweiten Teil dieser Arbeit greifen wir Schmidtchens Anregung auf und untersuchen, wie Recht evolviert, wenn die das Recht anwendenden Richter nur über eingeschränkte Rechtsinterpretationsfähigkeiten verfügen. Wir ziehen zu diesem Zweck die Theorie eingeschränkter Rationalität von Ronald Reiner heran und wenden diese auf die schon erwähnten FallbeiSchmidtchen (1991) [159], 340. Ebenda. Hervorhebung im Original. 53 Johnston (1991) [98], 358. Vgl. auch Epstein (1980) [56], Noll/Krier (1990) [124], 752ff., Rizzo (1980) [143] sowie Saks/Kidd (1981) [150], 127ff. 51

52

3.3 Unsicherheit und Recht als "weiche Handelnsbeschränkung"

105

spiele aus dem Recht der unerlaubten Handlung an. In der Rechtspraxis des Common Law werden Streitfälle unter Beachtung der Rechtsdoktrin stare decisis entschieden. Obwohl stare decisis eine starke Bindung darstellt, erlaubt sie, unter Umständen eine bisher gültige Präjudiz zu modifizieren oder aufzuheben. Inwieweit diese Änderungen auch von Effizienzgesichtspunkten bestimmt sind, wird von uns besonders zu beachten sein. Bevor wir jedoch auf die stare decisis-Doktrin eingehen, erfolgt im nächsten Kapitel ein kurzer Überblick über die Theorie eingeschränkter Rationalität. Dies ist erforderlich, um den Unterschied zwischen unvollkommener oder unvollständiger Information und unvollkommener Informationsverarbeitung deutlich zu machen. Der Bezug zwischen eingeschränkter Rationalität und Rechtsinterpretationsunsicherheit wird dabei offensichtlich. Heiners Theorie des eingeschränkt rationalen Verhaltens wird im Anschluß daran ausführlich dargestellt.

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln: Beherrschung von Verhaltensunsicherheit "Most economists make the assumption that man is a rational utility maximizer. This seems to me both unnecessary and misleading. I have said that in modern institutional economics we should start with real institutions. Let us also start with man as he is." (Ronald Coase 1984 [31])

4.1 Die Kompetenz - Schwierigkeitslücke als Ausdruck von Verhaltensunsicherheit 4.1.1 Verhaltensunsicherheit in Entscheidungsprozessen

Sie glauben alles, was Sie lesen! 1 Unmöglich: Menschen überlegen doch immer zuerst, ob plausibel ist, was sie lesen, so wie dies uns die Wahrnehmungstheorie auf der Grundlage der Erkenntnisse von Rene Descartes und Bertrand Russelllehrt! Man stelle sich trotzdem folgendes Experiment vor, das tatsächlich durchgeführt wurde: 2 Sie sind ein Teilnehmer eines Laborexperiments und werden in die Rolle eines Richters versetzt. Auf einem Bildschirm bekommen Sie Einzelheiten der Verbrechen eines fiktiven Angeklagten mitgeteilt. Neben richtigen Aussagen werden Ihnen auch falsche Aussagen präsentiert, die Sie aber - anders als im wirklichen Leben - an ihrer roten Schrift erkennen können. Die Aussagen beschreiben entweder mildemde oder taterschwerende Umstände, wie z. B. "Der Täter trug eine Pistole bei sich." Soweit ist an diesem Experiment noch nichts Ungewöhnliches. Doch nun passiere folgendes: Zusammen mit den falschen Aussagen erscheinen Zahlen auf dem Bildschirm. Sie müssen während des Lesens gleichzeitig nach der Zahl Fünf Ausschau halten und immer dann, wenn Sie diese Zahl wahrnehmen, einen Knopf drücken. Als Richter besteht Ihre Aufgabe darin, ein Strafmaß für den fiktiven Angeklagten festzulegen. Die Versuchspersonen von Gilbert et al. produzierten folgendes Ergebnis: Obwohl sie wußten, daß die rot geschriebenen Aussagen falsch waren, verurteilten sie den fiktiven Angeklagten zu doppelt so langer Haftstrafe, wenn 1

2

Vgl. auch den gleichnamigen Artikel von Paulus (1993) [127], 53. Vgl. Gilbert et al. (1993) [64], 223ff. und Paulus (1993) [127], 53.

4.1 Die Kompetenz - Schwierigkeitslücke

107

die Mitteilungen erschwerend klangen. 3 Eine Kontrollgruppe, die nicht durch die Zahlensuche abgelenkt wurde, ließ sich von den Falschmeldungen nicht beirren. Ganz ähnliche Resultate produzierten die Versuchsteilnehmer von Gilbert et al., wenn sie richtige und falsche Nachrichten unter Zeitdruck lesen mußten: Die Wahrscheinlichkeit stieg an, daß die falsche Aussage als wahr abgespeichert wurde. 4 Ein letztes Beispiel für die Streiche, die uns unser Gehirn spielen kann: Wegner, Wenzlaff, Kerker und Beattie (1981) [187] ließen eine Gruppe von Versuchsteilnehmern Negationen lesen wie "Bob Talbert not linked to Mafia". Die Versuchsteilnehmer hatten danach von Bob Talbert eine schlechtere Meinung als andere Versuchsteilnehmer, die die neutrale Behauptung "Bob Talbert celebrates birthday" lasen. 5 Offensichtlich stellte sich die erstgenannte Gruppe von Versuchsteilnehmem Bob Talbert erst einmal als Mitglied der Mafia vor und scheiterte daran, die Vemeinung korrekt aufzulösen. Bei den Amateurrichtern im Experiment von Gilbert et al. lag dasselbe Verhaltensmuster zugrunde: Die abgelenkten Versuchsteilnehmer lasen die Falschmeldungen und glaubten sie zuerst einmal, um sie verstehen zu können. Wegen der Zahlensuche oder auf Grund von Zeitdruck gelang es ihnen nicht, die Falschaussagen im Gedächnis mit dem Zusatz "falsch" abzuspeichem. Vielmehr blieben die Falschaussagen dort als vermeintlich wahre Information haften. Was besagen die Experimente für Ökonomen, die das Entscheidungsverhalten von echten Menschen untersuchen, begreifen und beschreiben wollen? Ganz offensichtlich gibt es Situationen, in denen Individuen Schwierigkeiten haben, sich ein korrektes Bild der sie umgebenden Welt zu entwerfen und anschließend das selbstkonstruierte Weltbild korrekt auszuwerten. Beide Probleme stellen einen zusammenhängenden Sachverhalt dar, werden aber aus analytischen Gründen im folgenden auseinandergehalten. Die Welt ist Entscheidungsträgem nicht einfach gegeben, sondern muß von ihnen erst wahrgenommen werden. Selbst wenn aber die Individuen über perfekte Information verfügen wie alle Versuchsteilnehmer in den obigen Beispielen, bleibt immer noch das Problem der Informationsverarbeitung. Die Versuchsteilnehmer von Gilbert et al. standen vor einem kognitiven Problem, nämlich Nachrichten, die sie unter Zeitdruck oder im abgelenkten Zustand erfuhren, korrekt zu verarbeiten. Für einen kognitiven Supermann6 sind derartige Probleme selbstverständlich lösbar: Er entwirft 3 4 5

6

Vgl. Gilbert et al. (1993) [64], 225. Gilbert et al. (1993) [64], 228. Vgl. auch Gilbert (1991) [63], 113. Schmidtchen (1991) [159], 335.

108

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

immer das richtige Modell der Welt oder - das ist in der herkömmlichen ökonomischen Theorie der häufigere Fall: die Handlungsumwelt ist dem Entscheidungsträger bereits gegeben, und er verarbeitet die ihm verfügbaren Informationen perfekt. Sein Entscheidungsproblem besteht also im Ausrechnen einer ihm gegebenen Aufgabe. Rittel beschreibt das "Entscheidungsproblem" eines perfekten Problemlösers sehr schön wie folgt: "Was ge_sollt werden soll, ist bereits entschieden. Es bleibt das zahme Problem, in vielleicht unübersichtlichen Entscheidungsräumen, zwischen Dickichten von Konstruktionen eine optimale Lösung zu suchen - optimal relativ zu der Beurteilung der Situationen, wie sie in den Eingabedaten zum Ausdruck kommt." 7 An diesem Befund setzt die Theorie eingeschränkter Rationalität an. Sie geht von der Vorstellung aus, daß die Entscheidung eines Problems nicht losgelöst von ihrer Vorbereitung beschrieben werden sollte. Simons Theorie der prozeduralen Rationalität stellt genau auf diesen Aspekt ab: 8 In der Ermittlung von Handlungsalternativen, der Ermittlung und der anschließenden Bewertung von Konsequenzen, die aus den Handlungsalternativen resultieren, liegen die Schwierigkeiten, denen sich reale Entscheidungsträger gegenübersehen. Während der Entscheidungsträger bei "Substantive rationality" zunächst die Lösung eines gegebenen Problems vollständig im Kopf ausrechnet und im Anschluß daran ihre Realisierung vornimmt, stellt "procedural rationality" Verhalten dar, das das Ergebnis "vernünftiger Überlegungen" ist. 9 "Vernünftig" heißt, daß der Entscheidungsträger auf in der Vergangenheit erprobte und bewährte Heuristiken zur Lösung eines anstehenden Problems zurückgreift und nicht mit der Realisierung einer Problemlösung wartet, bis er diese vollständig ausgerechnet hat. Schachspieler handeln in diesem Sinne prozedural rational. Diametral entgegengesetzt zu Sirnon steht die Auffassung von Anhängern der strikten Rationalität, wie sie z. B. von Rubin in einem bemerkenswerten Zitat vertreten wird: "[N]oneconomists sometimes criticize economic analysis since, they argue, people do not behave in the way that economics hypothesizes. Such arguments are, of course, completely erroneous and based on fundamental misconceptions about the economic theory ... economists studying the behaviour of Iabaratory rats as consumers found that in their consumption choices, the animals, behave as the theory of consumer behaviour, based on assumptions of rational calculation, would predict. It is not essential to assume that a rat can invert a bordered Hessian in order to explain its behaviour. Presumably, what is involved is an evolutionary 7

8 9

Rittel (1980) [142], 58. Vgl. Sirnon (1976) [174] und (1979) [175]. Vgl. Sirnon (1976) [174], 131.

4.1 Die Kompetenz - Schwierigkeitslücke

109

mechanism, which has selected animals (including humans) for essentially rational behaviour, independently of the understanding of the rational behaviour." 10 Daß eine konkurrierende Theorie menschliches Entscheidungsverhalten auch erklären könnte, ohne die Natur als einen Selektionsmechanismus anzusehen, der nur als-ob perfekt rationale Lebewesen überleben läßt, scheint Rubin nicht zu anzunehmen. Gilbert liefert jedoch im Anschluß an seine Beschreibung der Versuchsergebnisse eine evolutionstheoretische Erklärung dafür, warum Menschen imperfekte Entscheidungen fallen können, die dem Leser nicht vorenthalten werden soll. 11 Gilbert geht von der wahrnehmungstheoretisch gestützten Hypothese aus, daß der Mensch über seine Sinnesorgane zunächst alles glaubt, was er wahrnimmt, und nur selten seine Sinneswahrnehmungen hinterfragt. 12 Die Natur läßt Sinneswahrnehmungsprozesse deshalb so ablaufen, weil die Korrelation zwischen der über Sinneswahrnehmung erfahrbaren Repräsentation und der Präsenz eines wahrgenommenen Objekts nahezu perfekt ist. So hinterfragen Menschen selten ihre visuellen Sinneseindrücke - es sei denn, sie befinden sich z. B. in der Wüste, wo sie der Gefahr der Einbildung einer fata morgana erliegen könnten, oder im Zirkus, in dem ein Zauberer dem Publikum offensichtlich eine Realität vorspiegelt, die mit der gewöhnlich erfahrbaren Realität nicht übereinstimmt. 13 Gilberts Hypothese (mit Verweis auf Spinoza, dem geistigen Opponenten von Descartes) lautet nun, daß die Natur das Gehirn nicht nur Sinneswahrnehmungen zunächst ungeprüft übernehmen läßt, sondern auch Aussagen: ,,As perception construes objects, so cognition construes ideas. In both cases, the representation of a stimulus (an object or idea) is believed- that is, empowered to guide behaviour as if it were true - prior to a rational analysis of the representation's accuracy." 14 Erst nach der Wahrnehmung eines Ereignisses oder einer Aussage stellt das Gehirn über einen Prüfmechanismus fest, daß Mitteilungen von Mitmenschen falsch sein können. Damit ein solches Sinnesverarbeitungssystem Rubin (1980) [148], 323f., Fußnoten im Original fehlen. Wenn der Entscheidungsträger zwar über ein perfektes Bild seiner handlungsrelevanten Umwelt verfügt, aber eine fehlerhafte Berechnung des Entscheidungsproblems ausführt, wollen wir derartige Fehler im folgenden als imperfekte Entscheidungen bezeichnen. 12 Vgl. Gilbert (1991) [63], 116, mit Verweis auf Bargh (1989) [11]. 13 Der Graphiker M. C. Escher spielte in seinen Vexierbildern mit der aus einem Evolutionsprozeß hervorgegangenen Beobachtungslogik von Menschen, indem er Graphiken entwarf, die offensichtlich mehrere Fluchtpunkte aufweisen. Für den Betrachter resultieren hieraus Paradoxien, weil er eine Realität wahrnimmt, die mit seiner bisherigen Erfahrung(slogik) nicht übereinstimmt. 14 Gilbert (1991) [63], 116, Hervorhebung im Original. 10 11

110

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

in einem evolutorischen Kontext überlebensfähig ist, muß es hinreichend zuverlässig funktionieren. Gilbert geht zusammen mit anderen Wahrnehmungspsychologen15 davon aus, daß Menschen deshalb Mechanismen wie moralische und ethische Prinzipien in die menschliche Kommunikation eingebaut haben: "Thus, just as perceptual systems enable timely action by capitalizing on the fact, that most percepts are faithful, cognitive systems may achieve similar efficiency by capitalizing on the fact that most propositions are true." 16 Gilbert sieht, daß Menschen bei der Verarbeitung von Informationen unterbewußt ein Entscheidungsproblem zu lösen haben, das wie jedes Entscheidungsproblem das Vorliegen von Opportunitätskosten impliziert: Soll eine Information zunächst geglaubt werden (Spinoza-Hypothese), oder erst dann, wenn ihr Wahrheitsgehalt überprüft wurde (Descartes)? "Trying to decide which of these costs is greater is what signal detection theorists know of setting beta." 17 Gemäß Gilbert hat die Natur dieses Entscheidungsproblem derart gelöst, daß Menschen gut damit fahren, Informationen zunächst zu glauben, auch wenn sie sich in einem nachfolgenden Prüfmechanismus als falsch erweisen. Funktioniert der Prüfmechanismus nicht perfekt, etwa weil die Menschen unter besonderem Zeitdruck arbeiten oder durch andere Ereignisse abgelenkt werden, kommt es zu imperfekten Entscheidungen. Damit hat Gilbert eine evolutionstheoretische Erklärung für die Existenz von kognitiven Entscheidungsfehlern 2. Art geliefert! 18 Verhaltensunsicherheit beruht, wie wir gerade gesehen haben, auf unvollkommenen Informationsverarbeitungsfähigkeiten unseres Gehirns. Besonders dann, wenn wir unter Zeitdruck entscheiden müssen oder sich die Umweltveränderungen rasch ändern, begehen Individuen Entscheidungsfehler. Die Schwierigkeit eines Problems überschreitet dann die Entscheidungskompetenz eines Akteurs, so daß eine "Kompetenz - Schwierigkeitslücke" (Competence Difficulty-gap oder CD-gap; Heiner 1983 [78]) vorliegt. 19 Der letztgenannten These wird häufig entgegengehalten, daß sich die handelnden Individuen unter Berücksichtigung von Entscheidungskosten als-ob rational verhalten würden. Anband theoretischer Überlegungen und ihrer Vgl. z.B. Bok (1978) [20] und Dennett (1981) [46]. Gilbert (1991) [63], 116. 17 Gilbert et al. (1993) [64], 232. In Signal-Erkennungsexperimenten müssen Versuchspersonen Signale erkennen, die durch Rauschen überlagert sind. ß gibt die gerade noch zulässige Irrtumswahrscheinlichkeit an. Vgl. Green/Swets (1966) [68]. 18 In der statistischen Entscheidungstheorie versteht man unter Fehler 2. Art die Annahme einer zu testenden Hypothese, obwohl sie falsch ist. Unter einem Fehler 1. Art versteht man die Verwerfung einer Hypothese, obwohl sie wahr ist. 19 Im Abschnitt 4.1.2 gehen wir ausführlich auf weitere Ursachen für das Vorliegen von Kompetenz-Schwierigkeitslücken in Entscheidungsprozessen zusätzlich zu den in diesem Abschnitt dargelegten Ursachen ein. 15

16

4.1 Die Kompetenz - Schwierigkeitslücke

111

empirischen Bestätigung durch Experimente zeigen wir, daß die als-obHypothese zur Beschreibung empirisch gehaltvoller Aussagen in komplexen Entscheidungssituationen nicht haltbar ist. 20 Zu diesem Zweck greifen wir auf das aus der Konsumtheorie bekannte Arbeitszeit-Freizeit-Entscheidungsproblem zurück. 21 Einem Konsument sei ein Zeitbudget von T Zeiteinheiten gegeben, seinen Nutzen ziehe er aus dem Konsum von Freizeit (/) und Nahrungsmitteln (F). Der Preis für eine Einheit Nahrungsmittel betrage P, der Nominallohn pro Zeiteinheit betrage W. Die Arbeitszeit L betrage T - l Zeiteinheiten. Dann läßt sich das Entscheidungsproblem des Konsumenten wie folgt beschreiben: (4.1)

(4.2) (4.3)

max U(l,F) l,F

s.t.

T

= l+L

PF=WL

Bei gegebenem Zeitbudget erzielt der Konsument sein Nutzenmaximum, wenn die Grenzrate der Substitution zwischen Freizeit und Arbeit gerade dem Wert des Reallohns W I P entspricht. Um den Einfluß von Entscheidungskosten zu bestimmen, führen wir als neue Variable die Größe D in das Modell ein. D entspricht der Anzahl an Zeiteinheiten, die für die Arbeitszeit-Freizeit-Entscheidung benötigt wird. Das Nettovermögen beträgt nach dieser Modifikation T- D. Nur ein perfekt rationaler Entscheidungsträger nimmt überhaupt keine Entscheidungszeit in Anspruch. Ihm steht das Zeitbudget T vollständig für Arbeitszeit und Freizeit zur Verfügung. Wie fallt ein Individuum seine Entscheidung, wenn es Zeit für die Entscheidung benötigt? Pingle diskutiert zwei Möglichkeiten: das myopisch rationale Individuum und den rationalen Maximierer höherer Ordnung. 20 Auf der Jahrestagung des Ausschusses für evolutorische Ökonomik des Vereins für Socialpolitik 1993 in Mannheim machte Ulrich Witt die treffende Bemerkung, daß wir unsere homines oeconomici in Experimentalstudien mit "MickyMaus-Problemen" konfrontieren würden und selbst dann nicht sicher sein könnten, daß die Probleme im Sinne des Rationalkalküls gelöst würden. Diese Einschränkurig korrespondiert mit Leijonhufvuds Bemerkung: "[P]ractical men of affairs, if they know anything about economics, often distrust it because it seems to describe the behaviour of incredibly smart people in unbelievably simple situations" (Leijonhuvfud 1993 [114], lf., Hervorhebung im Original.) 21 Vgl. zur folgenden Darstellung Pingle (1992) [129].

112

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

Der myopisch rationale Entscheidungsträger sei dadurch gekennzeichnet, daß er sich eine bestimmte Entscheidungzeit Dm vorgibt, diese als fixe Kosten betrachtet und innerhalb dieser Zeit die ihm verfügbaren Alternativen vergleicht. Sein Entscheidungsproblem lautet also (4.4)

max U(l,F) l,F

(4.5)

s.t.

PF

= WL

T-Dm = l+L

(4.6)

Die Lösung dieses Problems erfordert, daß die Bedingungen erster Ordnung bezüglich der Budgetrestriktion und der Zeitrestriktion sowie bezüglich 8U(l, F) / ßl I 8U(l,F)j8F- W p

(4.7)

erfüllt sind. Dann lassen sich Freizeit, Arbeitszeit und die Menge an Nahrungsmitteln als Funktionen des Lohnsatzes, des Preisniveaus, der Zeitausstattung sowie der Entscheidungszeit bestimmen (vgl. auch Abb. 4.1). Wie Abb. 4.1 zeigt, könnte ·der myopisch rationale Entscheidungsträger innerhalb der schraffierten Region ein höheres Nutzenniveau erzielen als in (im, Fm). Dann müßte er allerdings von seiner bisherigen EntscheidungsF [WIP]· T

[WIP][T-Dm]

T-Dm

T

Abbildung 4.1: Quelle: Pingle (1992), 8

l

4.1 Die Kompetenz - Schwierigkeitslücke

113

regel abweichen und auch bezüglich der Entscheidungszeit ökonomisieren. Er ist dann aber mit einer neuen Schwierigkeit konfrontiert: "The paradoxial difficulty facing the consumer when optimizing is costly is that it is not possible to both make an optimal choice and know that the choice made is optimal [Day and Pingle (1991)]. To know that a choice is optimal, the rational choice method must be applied. lt generates a best choice because all alternatives are compared. However, the rational choice method cannot generate the best choice because its application requires the use of resources which shrinks the budget set." 22 Nur wenn ein myopisch rationales Individuum überhaupt keine Entscheidungszeit in Anspruch zu nehmen braucht, steht ihm das Zeitbudget T vollständig für Arbeitszeit und Freizeit zur Verfügung. "However, when it [rationality, Einfügung von M. L.] cannot be costlessly applied and less expensive choice methods exist, the rational choice method is not necessarily better than any other choice method." 23 Der rationale Maximierer höherer Ordnung weiß, daß er die Entscheidungskosten als variable Kosten aus einem Entscheidungskalkül ableiten muß. Er ist also mit zwei Entscheidungsproblemen konfrontiert: der Bestimmung der optimalen Entscheidungszeit und der Lösung des Arbeitszeit-Freizeit-N utzenmaximierungsproblems. Bei der Bestimmung seiner Wahlentscheidung über Entscheidungskosten und der zu leistenden Arbeitszeit steht der rationale Maximierer höherer Ordnung vor einem trade-off zwischen Entscheidungskosten und Fehlentscheidungskasten (misuse cost)?4 Der Wahl von Tupel (l, F) sind Entscheidungskosten in Höhe von D Zeiteinheiten zugeordnet. Wie man jedoch anband von Abb. 4.2 erkennt, läßt sich das Nutzenniveau u(l, F) auch mit einer geringeren Nettoausstattung erzielen, und zwar durch Wahl des Tupels (l*, F*). Die Menge M, die man ausgehend von (1, F) hergeben könnte, und trotzdem keine Nutzeneinbuße erzielen würde (l*, F*), bezeichnet Pingle als misuse cost. Die optimale Entscheidung für einen rationalen Maximierer höherer Ordnung besteht also darin, die Kosten der Gesamtentscheidung C D + M zu minimieren. In Anlehnung an Baumol/Quandt (1964) [12] bezeichnet Pingle diese Entscheidung als "optimally imperfect decision." 25 Mit dem Übergang vom Modell des myopisch rationalen Akteurs zum Modell des rationalen Maximierers höherer Ordnung sind wir jedoch vom Regen in die Traufe gekommen. Wie Pingle zutreffend bemerkt: "While an

=

22 23 24

2s

Pingle Pingle Pingle Pingle

8 Leder

(1992) (1992) (1992) (1992)

[129], [129], [129], [129],

8. 9. 9. 9.

114

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln F [WIP] · T

[WIP] [T-D] [WIP] [T-D-M]

T-D-M

T-D

T

l

Abbildung 4.2: Quelle: Pingle (1992), 10

optimally imperfect decision can easily be defined, it is not at all apparent that optimally imperfect decisions can easily be achieved. The difficulty is that although moving rationality to a higher Ievel allows the cost of comparing alternatives in the lower Ievel problern to be considered, the cost of solving the higher order problern itself is not considered. This difficulty with strict optimization theory has become k.nown as the ,circularity' problern - there does not exist an optimization problern which can be solved that fully incorporates the cost of decision making." 26 Einen Beweis für Pingles Hypothese liefert Gattinger (1982) [66]. Gattinger greift dabei auf Winter (1975) [193] zurück und beweist ein Unmöglichkeitstheorem, demzufolge die Superoptimierung als Meta-Entscheidungsproblern unmöglich ist, wenn die Lösung des Meta-Entscheidungsproblems selbst etwas kostet. 27 Fassen wir die Erkenntnisse aus den theoretischen Überlegungen Pingles zusammen: Wenn Entscheidungsfindung etwas kostet, ist es sinnlos zu behaupten, Individuen hätten unter Berücksichtung von EntscheidungskoPingle (1992) [129], 10; Fußnoten im Original wurden weggelassen. Vgl. Gottinger -(1982) [66], 229. Neben Gattinger haben u.a. auch Bretzke (1978) [23], Day (1993) [43], 66, Dosi/Egidi (1991) [48], 154 sowie Reiner (1988b) [85], 34 die Fruchtlosigkeit der Superoptimierung erkannt. Sie führt in einen unendlichen Regreß. 26 27

4.1 Die Kompetenz - Schwierigkeitslücke

115

sten die optimale Lösung berechnet. Wenn die Vertreter der als-ob-Rationalitätshypothese sich nicht in logische Widersprüche verstricken wollen, müssen sie die Behauptung aufstellen, daß Entscheidungsfindung kostenlos ist. Aus positiver Sicht ist damit die als-ob-Rationalitätshypothese zur Erklärung von beobachtbaren Entscheidungsfehlern wertlos, aus normativer Sicht ist sie zur Erklärung von Entscheidungsverhalten haltbar, wenn Entscheidungskosten mit Null angesetzt werden. Die Ergebnisse von Pingles Experimenten sind nicht weniger interessant als seine theoretischen Überlegungen. Sie dienen uns in 4.2 zur Untermauerung der Entscheidungstheorie von Ronald Heiner. Der Versuchsaufbau war folgender? 8 51 Personen sollen jeweils die optimale Lösung des Arbeitszeit-Freizeit-Problems über einen Computer berechnen. Ihnen sei die Cobb-Douglas-Nutzenfunktion U(l, F) = 0,3log(/) + 0,7log(F) gegeben. Außerdem verfügen sie über eine Zeitausstattung, und sind ihnen der Lohnsatz und der Preis für Nahrungsmittel bekannt. Das Spiel läuft dann ab wie folgt: Das Individuum tippt die Höhe seiner Arbeitszeit in den Computer ein und gibt das erzielbare Geldeinkommen für den Konsum von Gütern aus. Der Computer zeigt die Höhe der Freizeit und das bisher erzielbare Nutzenniveau an. Das Individuum kann die Freizeit-Arbeitszeit-Kombination akzeptieren oder verwerfen und eine neue Entscheidung treffen. In den ersten fünf Sekunden eines Spiels darf das Individuum Eingaben in den Computer machen, die keine Entscheidungszeit kosten. Es kann in dieser Zeit also kostenlose Erfahrung sammeln. Danach reduziert sich die verfügbare Zeitausstattung um eine Sekunde pro benötigter Sekunde Entscheidungszeit Das Spiel endet mit der Annahme einer Freizeit-ArbeitszeitWahlentscheidung oder wenn die verfügbare Zeitausstattung aufgebraucht ist. Dann erfahren die Individuen auch den von ihnen erzielten Nutzen sowie den maximal möglichen Nutzen. Das Spiel gewinnt seinen Reiz dadurch, daß Pingle nach jeweils 10 Spielrunden entweder die Zeitausstattung, den Lohnsatz oder den Nahrungsmittelpreis variiert. Außerdem läßt er an dem Spiel 6 Spieler in zwei Kontrollgruppen teilnehmen, bei denen in bestimmten Spielrunden keine Entscheidungskosten anfallen. Folgende Ergebnisse konnten beobachtet werden: (1) Die Kontrollsubjekte verglichen viel mehr Alternativen und trafen optimale Entscheidungen, wenn die Kosten der Entscheidungstindung null betrugen. Bei positiven Entscheidungskosten wurde die optimale Lösung verfehlt. 28 8*

Vgl. Pingle (1992) [129], 11.

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4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

(2) Die Kosten der Entscheidungstindung waren umso höher für die NichtKontrollsubjekte, je schwieriger es wurde, einen Alternativenvergleich auszurechnen. Insgesamt verwendeten die Individuen nur wenig Zeit zur Alternativengenerierung. (3) Je komplizierter ein Entscheidungsproblem wird, umso eher ist der typische Entscheidungsprozeß durch Problemvereinfachung und Anpassung gekennzeichnet anstelle zunehmend komplexer Optimierungskalküle. Die Teilnehmer greifen zum Teil auf Daumenregeln zurück, um die Kalkulationen zu vereinfachen.Z9 Einige Anmerkungen zu den Versuchsergebnissen erscheinen angebracht. Individuen vergleichen weniger Handlungsalternativen, weil dies die Komplexität ihres Entscheidungsproblems reduziert. 30 Mit zunehmender Erfahrung innerhalb einer Spielserie sinken die Kosten der Entscheidungsfindung. Kommt es zu Umweltveränderungen (Variation von W, P oder T) erhöhen sich die Kosten der Entscheidungsfindung. D.h.: Solange die Umwelt konstant bleibt, sinken die Kosten von Fehlentscheidungen. Sobald sich die Umwelt ändert, steigen die Fehlentscheidungskosten rapide an? 1 Pingle kommt zu den Ergebnissen, daß: "A decision-maker can choose to apply myopic rationality and varying forms of higher order rationality to any given choice problem. However, unbounded rationality is possible only when the number of alternatives to be considered is small enough or when the problern is rather easy to solve." 32

4.1.2 Ursachen von Verhaltensunsicherheit Nachdem wir uns im voranstehenden Abschnitt ausführlich mit konkreten Ausprägungen eingeschränkt rationalen Verhaltens auseinandergesetzt haben, wollen wir in diesem Abschnitt zunächst eine präzise Definition des Begriffs "eingeschränkte Rationalität" vornehmen. Im Anschluß daran 29 Dieses Ergebnis deckt sich mit Schmidtchens Hypothese, wonach ab einer bestimmten Komplexität des Steuersystems die Steuerzahler davon profitieren, steuerehrlich zu sein und nicht zu versuchen, jede Steuerhinterziehungsmöglichkeit wahrzunehmen. Vgl. Schmidtchen (1994) [161]. 30 Pingle (1992) [129], 16. Pingle zieht daraus u.a. die Schlußfolgerung: "These Observations also support Heiner's theory that an increase in the gap between the subject's competence and the problem's difficulty enhances predictability due to the uncertainty associated with making changes" (Pingle 1992 [129], 19). 31 Heiner (1988b) [85] hat für die Erklärung dieses Phänomens, das er als Entscheidungstindung unter "local information/nonlocal information" bezeichnet, eine Theorie entworfen. 32 Pingle (1992) [132], 23.

4.1 Die Kompetenz - Schwierigkeitslücke

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gehen wir auf die wichtigsten Ursachen von Verhaltensunsicherheit ein, die sich in eingeschränkt rationalem Verhalten der Akteure manifestieren.

Definition Unter eingeschränkter Rationalität wird jedes Entscheidungsverhalten von Individuen verstanden, das nicht den Axiomen der von Neumann/ Morgenstern-Nutzentheorie folgt. Eingeschränkt rationales Verhalten führt zu einem beobachtbaren Unterschied zwischen den Risikopräferenzen eines Akteurs und dem Verhalten, das gemäß der von Neumann/Morgenstern-Axiome zu erwarten gewesen wäre?3 Ein Unterschied zwischen den Risikopräferenzen eines Akteurs und den von Neumann/Morgenstern-Axiomen läßt sich sehr einfach konstruieren.34 Eine Präferenzordnung erfordert nach von Neumann/Morgenstern (1947) [122], daß (l) die strikte Präferenz >-- auf P (P ist eine nichtleere Menge von Wahrscheinlichkeitsmaßen p, q) eine schwache Ordnung darstellt. (2) das Unabhängigkeitsaxiom gilt, also

p >-- q =* )..p + (1

0

- J,.)r >-- )..q + (1 - J,. )r, wobei

< ,\ < I und

p, q, r E P.

(3) das Stetigkeits- bzw. archimedische Axiom gilt:

{p>--q,q>--r} =*(o:p+(I-o:)r>--q und q>--ßp+(l- ß )r für o:,ßE(0,1).35

Immer dann, wenn die Risikopräferenzen des Entscheidungsträgers nicht den Rationalitätsaxiomen 1. - 3. genügen, besteht ein Unterschied zwischen dem Entscheidungsverhalten des Akteurs und dem von Neumann/Morgenstern-Ergebnismaß. Unter Ergebnis (performance) wird ein Bewertungsmaß33 Anstelle der von Neumann/Morgenstern-Axiome hätten prinzipiell auch andere Rationalitätsaxiome und Rationalitätskonzepte als Vergleichsmaßstab dienen können. So listet z. B. Singer (1994) [177] in einem Beitrag über 38 verschiedene Rationalitätskonzepte auf. Apriori kann keine Rationalitätsaxiomatik für sich in Anspruch nehmen, gegenüber anderen Axiomensystemen "die" allumfassende Grundlage für Entscheidungsverhalten darzustellen. Die von Neumann/Morgenstern-Axiomatik dient uns gegenüber Konzepten der eingeschränkten Rationalität als Vergleichsmaßstab, weil sie in der Entscheidungstheorie von allen Axiomensystemen die weiteste Verbreitung gefunden hat. 34 Vgl. zu den nachfolgenden Überlegungen auch Heiner (1984) [79]. 35 Vgl. hierzu auch die rigorose Darstellung in Fishbum (1988) [66], 9ff.

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4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

stab verstanden, der den Entscheidungen eines Individuums gemäß bestimmter Transformationsvorschriften eine Zahl zuordnet. Ein Ergebnismaß stellt eine binäre Relation zwischen verschiedenen Ergebnissen dar. Je nach gewähltem Axiomensystem kann ein und dieselbe Handlung unterschiedlich bewertet werden, d. h. ein unterschiedliches Ergebnis zugeordnet bekommen. Daraus folgt, daß auch das Ergebnismaß, das die Vorzugswürdigkeit einer Handlung a gegenüber einer Handlung b bei gegebenem Axiomensystem 1 anzeigt, nicht notwendigerweise die Vorzugswürdigkeit von Handlung a gegenüber Handlung b in einem Axiomensystem 2 impliziert?6 Was kann man sich konkret unter Abweichungen von den von Neumann/Morgenstern-Axiomen vorstellen? In der herkömmlichen Entscheidungstheorie wird üblicherweise unterstellt, daß sämtliche gegebene Alternativen zumindest theoretisch zu einem Zeitpunkt vergleichbar sind. Dies erfordert, daß das Vollständigkeitsaxiom erfüllt ist. Außerdem wird gefordert, daß paarweise Vergleiche von Objekten a, b der Eigenschaft der Schiefsymmetrie genügen. 37 Schiefsymmetrie benötigen wir, wenn wir eine transitive Präferenzordnung vorliegen haben wollen. Angenommen, paarweise Vergleiche von Objekten a, b sind pfadabhängig von Vergangenheitsereignissen. Dann wird die Eigenschaft der Schiefsymmetrie verletzt. Verletzung der Schiefsymmetrie führt zu einem pfadabhängigen Ergebnismaß, das nur noch den Axiomen der Kontinuität (Stetigkeit) und Konvexität (Dominanz) genügt. 38 Die bekanntesten Beispiele der Verletzung der von Neumann/Morgenstern-Axiome beziehen sich auf das Unabhängigkeitsaxiom. 39 Sie gehören der Klasse der nichtlinearen archimedischen Nutzentheorie an. 40 Nachdem wir voranstehend die Definition von eingeschränkt rationalem Verhalten, das auf Verhaltensunsicherheit beruht, erläutert haben, wollen wir uns im folgenden den Ursachen von Verhaltensunsicherheit zuwenden. Für das Auftreten von Verhaltensunsicherheit sind zwei Faktoren verantwortlich: Der Entscheidungsträger verfügt nicht über eine abgeschlossene Handlungsmenge, oder er begeht Fehler bei der Verarbeitung von Informationen. Vgl. hierzu Heiner (1984) [79], 1f., 20ff. Ein Funktional rj; auf P x P ist schiefsymmetrisch, wenn rj;(q, p) = - rj;(p, q). Vgl. Fishbum (1988) [60], 68. 38 Vgl. Heiner (1984) [79], 36f. Eine solche Präferenzordnung ist also allgemeiner als die von Neumann/Morgenstem-Präferenzordnung, weil sie sowohl transitive als auch intransitive Präferenzen zuläßt. 39 Vgl. Allais (1953) [7] und Machina (1982) [116]. Vgl. auch den Überblicksartikel über die Nichterwartungsnutzentheorie von Machina (1989) [117], Kap. 3. 40 Vgl. Fishbum (1988) [60], Kap. 3. 36 37

4.1 Die Kompetenz - Schwierigkeitslücke

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(1) Nichtabgeschlossene Handlungsmengen beruhen immer auf einer bestimmten Form der Unvollständigkeit. So verweist Sugden darauf, daß Präferenzen eines Individuums keineswegs vollständig zu sein brauchen: "There is no adequate justification for the requirement that preferences are complete." 41 Sugdens Auffassung kann mit dem Phänomen der Knightschen Unsicherheit in evolutorischen Kontexten in Verbindung gebracht werden. In einem evolutorischen Prozeß sieht sich ein Entscheidungsträger einer unbekannten Anzahl von zukünftigen Zuständen gegenüber, so daß keine abgeschlossene Zustandsmenge vorliegt. Es lassen sich dann keine subjektiven Wahrscheinlichkeiten bilden.42 Überzeugte Bayesianer mögen nun einwenden, daß man doch für jede zukünftige Ereigniskonstellation Annahmen formulieren könnte. Binmore entgegnet: "Such an approach automatically discounts the impact that new knowledge will have on the basic model being used to determine beliefs, i. e. it eliminates the possibility of being surprised by an event whose implications have not previously been considered.... It is this very naive argument, the issue of where beliefs come from has been completely overlooked. Naive Bayesian rationality apparently endows its fortunate adherents with the capacity to pluck their beliefs from the air." 43 Als weiterer Grund für eine nichtabgeschlossene Handlungsmenge ist schließlich die Komplexität von Axiomensystemen zu nennen, die es zuläßt, daß ein konkretes Entscheidungsproblem algorithmisch unentscheidbar wird. 44 Die Erkenntnis, daß die Unentscheidbarkeit bestimmter Hypothesen innerhalb eines bestimmten Axiomensystems auf der Unvereinbarkeit von Vollständigkeit und Konsistenz der aus dem System ableitbaren Aussagen beruht, haben Juristen und Mathematiker zu folgender Frage angeregt: Kann ein Rechtssystem vollkommene Sicherheit beinhalten, so daß jedes Rechtsproblem eine eindeutige, richtige und theoretisch ableitbare Lösung hat? Rogers/Molzon (1992) [145] und Farago (1980) [58] zeigen, daß dies nicht möglich ist: "Gödel's theorem strongly suggests that it is impossible to create a Sugden (1991) [180], 782. Vgl. Heiner (1986a) [81], 95, Fn. 31. 43 Binmore (1987) [16], 205f; Hervorhebung im Original. 44 Vgl. Anderlini (1992) [9], 160; Binmore (1987) [16], 181, 201ff; Blaseio (1986) [17], 83ff; Hayek (1962) [74], 339; Koboldt (1993) [102], 399; Leijonhufvud (1993) [114], 3ff. und Sirnon (1983) [176], 7. Eine hervorragende Darstellung unentscheidbarer Probleme sowie zur Beweisbarkeit, daß ein Problem unentscheidbar sein kann, vgl. Nagel/Newman (1964) [119]. 41

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legal system that is "complete" in the sense that there is a derivable rule for every fact situation." 45 Für unsere Arbeit dient die Aussage von Rogers/Molzon als eine weitere Rechtfertigung dafür, Entscheidungsprozesse im Recht nicht nur unter der Annahme perfekter Rationalität wie im Teil I zu untersuchen, sondern auch unter der Annahme eingeschränkter Rationalität. (2) Mit Fehlern bei der Verarbeitung von Informationen als Kennzeichen eingeschränkter Rationalität haben wir uns bereits in Abschnitt 4.1.1 ausführlich auseinandergesetzt Hier sollen deshalb nur die wichtigsten Erkenntnisse von Ökonomen und Juristen wiedergegeben werden, die eingeschränkt rationales Verhalten auf die kognitiven Schranken des Menschen zurückführen. 46 Als erster ist hier Sirnon zu nennen, der durch seine frühe Arbeiten wie z.B. "A Behavioral Model of Rational Choice" (1955) [171] und "Models of Man" (1957) [ 172] zeigte, daß Alternativen zum herkömmlichen Modell der perfekten Rationalität existieren. In den beiden erwähnten Arbeiten präsentiert Sirnon das Satisficing Principle, das sich als Anspruchserfüllungsprinzip ansehen läßt. Das Anspruchserfüllungsprinzip sucht nach einer Lösung, die unter den jeweiligen Bedingungen gerade zufriedenstellend ist und nicht notwendigerweise nach einer optimalen Lösung. Die Kriterien, die festlegen, wann eine Lösung zufriedenstellend ist, ergeben sich aus dem Problemzusammenhang. Sirnon sieht durchaus, daß inkonsistente Wahlentscheidungen möglich sind. 47 Inkonsistenzen ergeben sich z. B. durch Pfadabhängigkeit der Alternativenbewertung. Während nämlich in der von Neumann/Morgenstern-Nutzentheorie alle Alternativen bewertet werden, bevor eine Wahlentscheidung getroffen wird, untersuchen Individuen in tatsächlichen Entscheidungssituationen Alternativen häufig sequentiell.48 Neben einer Variation des Anspruchsniveaus läßt Sirnon es auch zu, daß die Menge der Verhaltensoptionen verändert wird. In seinem Buch Seiences of the Artificial (1969) [173] beschreibt Sirnon den Prozeß der Alternativengenerierung. Mit Entscheidungsprozessen im Sinne der eingeschränkten Rationalität befaßten sich Sauermann I Selten bereits im Jahre 1962. Sauermann I Selten (1962) [153] modellieren, wie Anspruchsgrößen mittels einfacher Anspruchsanpassungsregeln verändert werden. Auch in jüngerer Rogers/Molzon (1992) [145], 992. Vgl. auch Farago (1980) [58], 207ff. Auf die Entscheidungstheorie von Ronald Heiner gehen wir gesondert im folgenden Abschnitt 4.2 ein. 47 Vgl. Sirnon (1983) [176], 23. 48 Vgl. Sirnon (1955) [ 171 ], 110. 45

46

4.1 Die Kompetenz - Schwierigkeitslücke

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Zeit betont Selten (1990, 1991) [166] [167] immer wieder die Bedeutung des Konzepts eingeschränkter Rationalität, um die begrenzten Informationsaufnahme- und Rechenfähigkeiten von Entscheidungsträgem abzubilden. Klopstech/Selten (1984) [101], 12, verweisen darauf, daß bereits von der Struktur her relativ einfache Probleme wie das , Travelling Salesman '-Problem nicht mehr in polynomialer Zeit lösbar sind, sondern bei Einführung einer weiteren Variable die Rechenzeit exponentiell ansteigt. 49 "Das bedeutet, daß die Kontroverse volle Rationalität versus eingeschränkte Rationalität kein technologisches Problem ist. Ungeachtet der Fortschritte in der Computertechnologie wird volle Rationalität nicht nur für die heutige Zeit, sondern für immer undurchführbar bleiben" (ebenda). 50 De Palma/Myers/Papageorgiou (1994) [126] befassen sich ebenfalls mit dem Entscheidungsverhalten von Individuen, die nur über beschränkte Informationsverarbeitungsfähigkeiten verfügen. Die Autoren modellieren, wie ein Entscheidungsträger myopische Anpassungen seiner Wahlentscheidungen vornimmt. Die Anpassungsfehler verhalten sich dabei umgekehrt proportional zur Informationsverarbeitungsfähigkeit. De Palma et al. zeigen schließlich, wie sich das herkömmliche Entscheidungsmodell der Erwartungsnutzenmaximierung als ein Spezialfall ihres Ansatzes erfassen läßt. In einer vor kurzem erschienenen Arbeit untersucht Koboldt (1994) [103] eingeschränkt rationales Verhalten unter dem Gesichtpunkt der Zeitkonsistenz und verknüpft zeitinkonsistentes Verhalten mit der Frage nach selbstauferlegten Handlungsbeschränkungen. Über dieses Vorgehen gelingt ihm eine Ausweitung der ökonomischen Sozialvertragstheorie auf die Analyse rechtlicher Handlungsbeschränkungen, die nicht der Regelung des Zusammenlebens von verschiedenen Individuen, sondern dem Schutz vor Selbstschädigung dienen. Damit lassen sich auch Rechtsregeln, wie z. B. das Verbot von Drogenkonsum, untersuchen, die bisher lediglich patemalistisch begründet wurden. Aus ökonomischer Sicht ist schließlich noch auf die von Richter herausgegebene Artikelserie "Views and Comments on Bounded Rational49 Ein Algorithmus läuft in Polynomialzeit ab, "wenn es zwei konstante ganze Zahlen A und k gibt, so daß für Eingabedaten der Längen (für beliebige Werte von n) die Rechnung nach maximal An k Schritten beendet ist. ... Algorithmen, die nicht in Polynomialzeit laufen, heißen Exponentialzeit-Algorithmen" (Devlin 1992 [47], 299). 50 Schmidtchen (1978) [157], 124, zeigt anhand eines einfachen Beispiels, daß es bereits für eine sehr kleine Anzahl von n Elementen innerhalb eines Marktsystems praktisch nicht mehr möglich ist, jede einzelne Tauschbeziehungskonstellation anzugeben. Auch hier kann es dann nur darum gehen, durch ein sinnvolles heuristisches Abbruchkriterium empirisch gehaltvolle Mustervoraussagen zu gewinnen.

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ity as Applied to Modem Institutional Economics" in der Zeitschrift JITE/ZgS (1990) [97] und auf die Beiträge im Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie (1993) [96], Bd. 12 zu verweisen, in denen nach den Konsequenzen gefragt wird, die sich aus der neueren Kritik am Verhaltensmodell des homo oeconomicus für eine Neue Politische Ökonomie von Normen und Institutionen ergeben. Aus juristischer Sicht haben sich eine Fülle von Arbeiten mit Entscheidungsfehlern auf Grund von Informationsverarbeitungsproblemen auseinandergesetzt. Typischerweise handelt es sich bei den untersuchten Informationsverarbeitungsfehlern um systematische Fehleinschätzungen von Wahrscheinlichkeiten, ungerechtfertigte Analogieschlüsse und die Überschätzung der eigenen Entscheidungsfahigkeiten. 51 Ausgestattet mit so viel theoretischer und empirischer Evidenz für die Existenz von eingeschränkt rationalem Verhalten, wollen wir im folgenden Abschnitt die Grundlagen der Entscheidungstheorie von Ronald Heiner erörtern, die es uns im 5. Kapitel ermöglicht, die Rechtsevolution in einer Gesellschaft eingeschränkt rationaler Individuen zu studieren. 4.2 Die Befolgung von Entscheidungsregeln - die Theorie von Ronald Reiner "Whether formally required by social systems derived from consensus and extended by means of deduction, or pragmatically essential in societies distanced from natural law by the imperfection of human knowledge and the vagaries of revelation, uncertainty is part of our Jives. To deny it is understandable, but to deny its existence or its importance is, quite simply, our most common modern form of hubris." (Farago 1980 [1980], 236)

4.2.1 Die Grundlagen

Wie wird sich ein Akteur in Entscheidungssituationen verhalten, die für ihn neu und schwer überschaubar sind? Wird der Akteur alle Alternativen, die er überblicken kann, einzeln oder in bestimmten Kombinationen verknüpft, auf ihren Zielbeitrag untersuchen und sofort auf Umweltänderungen reagieren, selbst wenn er komplexe Rückkopplungsprozesse mit der Umwelt berücksichtigen muß? Wird der Akteur vor allem damit rechnen können, stets die optimale Lösung zu erzielen? Ronald Heiner entwarf dazu folgende Theorie: Wenn ein Akteur Informationen nicht perfekt verarbeiten kann und dies auch weiß, dann wird er 51 Vgl. z.B. Berkemann (1992) [14], 18f., Noll/Krier (1990) [150], Saks/Kidd (1981) [14] oder die Beiträge zum Symposium "Legal Implications of Human Error" in der Zeitschrift Southem Califomia Law Review (1986) [178].

4.2 Die Befolgung von Entscheidungsregeln

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in Situationen, in denen er sich unsicher ist, auf Erfahrungsregeln zurückgreifen, die sich in der Vergangenheit ziemlich gut bewährt haben. So wird ein Gast in einem Restaurant in westlichen Ländern nach einem guten Essen mit freundlichem Service dem Kellner ein Trinkgeld von etwa 10% des Speisepreises geben. Falls dies nicht nur aus Höflichkeit geschieht, sondern der Gast beabsichtigt, in betreffendes Restaurant wieder einzukehren, so tut er auch gut an dem Trinkgeld. Er könnte sonst beim nächsten Restaurantbesuch unfreundlich behandelt werden und lange auf sein Essen warten müssen. In Belgien wurde jedoch das Trinkgeldgeben vor kurzem gesetzlich abgeschafft, worüber der Verfasser dieser Arbeit sehr erstaunt war. Getreu seiner Erfahrungsregel war er nämlich im Begriff, dem Kellner ein Trinkgeld zu geben, der ihn daraufhin fragend anstarrte. Wie dieses Beispiel zeigt, können Entscheidungsregeln oder Gebräuche auch zu Fehlentscheidungen führen. Insgesamt scheinen sie aber menschliches Zusammenleben gut zu regeln. Reiner geht von den Entscheidungsregeln aus einen Schritt weiter: In Situationen, die wir gut überblicken, in denen wir Experten sind und über viel Routine verfügen, ziehen wir wesentlich mehr Alternativen für unsere Handlungen in Betracht, und kalkulieren wir viel präziser, als dies in ungewohnten Situationen der Fall ist. So rechnen wir z. B. das Produkt aus 2 x 2 exakt aus, während vermutlich viele Menschen das Produkt aus 29 x 61 überschlagsmäßig mit "um die 1800" angeben werden. Wie dieses Beispiel zeigt, greifen wir in Situationen, die uns ungewohnt erscheinen, auf vernünftige Regeln zurück, die im Vergleich zur exakten Berechnung zwar ungenau sind, uns das Leben aber erheblich vereinfachen. Reiner greift die aus den beiden Beispielen ableitbaren Verhaltenstendenzen auf und macht sie zu seinem Thema. Er untersucht die Frage, wie sich Menschen verhalten, die sich irren können - und zwar irren können, nicht weil sie falsche Informationen mitgeteilt bekommen, sondern, weil sie einfach menschlich sind. Seine zentrale These lautet: Regelmäßiges, regelgeleitetes und damit vorhersehbares Verhalten tritt umso eher ein, je weniger ein Akteur auf Grund von Verhaltensunsicherheit geistig in der Lage ist, erfolgreich zu maximieren. "Thus, it is in the Iimits to maximizing that we will find the origin of predictable behavior" (Reiner 1983, 561). Umgekehrtes gilt für das Verhalten eines perfekten Akteurs. Ökonomen sind in der Beschreibung dieser Spezies besonders geübt und unterstellen ihnen die Lösbarkeit jedes noch so komplizierten Entscheidungsproblems. Perfekte Akteure sind nie mit einer Kompetenz-Schwierigkeitslücke konfrontiert. Sie kennen deshalb auch keine Begrenzungen ihrer kognitiven Kapazitäten, sondern nur die Restriktionen, die ihnen die Modellbauer auferlegen. Wir wollen diese Restriktionen im folgenden als "natürliche Restriktionen" 52 bezeichnen.

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Hat ein perfekter Akteur, der jedes Problem bei gegebenen Daten immer richtig löst, einen Grund, sein Verhaltensrepertoir einzuschränken? Nein, für ihn sind "Verhaltensrestriktionen" 53 ohne Funktion. Er reagiert immer perfekt auf Änderungen der Umwelt und findet zu gegebener Information immer "die" optimale Lösung. Heiner (1983) [78] folgert daraus: "Optimizing with no uncertainty in choosing more preferred alternatives does not tend to produce systematic and stable regularity in behavior. Rather, it tends to destroy such regularity as successively more information can be reliably interpreted in guiding more complex behavior" (S. 572). "Therefore, greater uncertainty will cause rule-govemed behavior to exhibit increasingly predictable regularities, so that uncertainty becomes the basic source of predictable behavior" (S. 570). Im Anschluß an die voranstehende verbale Besprechung von Heiners Idee wird im folgenden Abschnitt Heiners Grundmodell in seiner einfachsten Version präsentiert. Nichts demonstriert die Tauglichkeit eines Modells besser als die Anwendung auf bereits bekannte Sachverhalte und die Fähigkeit des Modells, die bekannten Sachverhalte vollständig abzubilden. Aus diesem Grund wird im übernächsten Abschnitt Heiners Grundmodell auf das Arbeitszeit-Freizeitmodell von Pingle (1992) [129] übertragen und getestet, welche Erkenntnisse es uns dort liefert. 4.2.2 Heiners Grundmodell

In seinem Grundmodell eruiert Heiner die Frage, wann es für einen Akteur, der in einer gegebenen Entscheidungssituation mit einer Kompetenz-Schwierigkeitslücke konfrontiert ist, vorteilhaft ist, eine Handlung a zusätzlich in sein bisheriges Handlungsrepertoir A aufzunehmen.54 Die Vorteilhaftigkeit der Berücksichtigung von Handlung a zusätzlich zur bisherigen Handlungsmenge A wird aus einer Beobachterperspektive beurteilt. Dies bedeutet, daß der handelnde Akteur die nachfolgenden Kalkulationen nicht selber bewußt nachvollziehen muß. Nachstehend wird somit eine "alsob"-Rekonstruktion von Verhalten vorgenommen. Bezeichne ra = p(aiX*) die bedingte Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine Handlung a richtigerweise vom Akteur dann ergriffen wird, wenn es die verfügbaren Informationen X * erfordern.5 5 wa = p(a IX - X *) sei die Schmidtchen (1994) [161], 18. Als Beispiele für Verhaltensrestriktionen nennt Heiner Instinkte, ethische Normen, sexuelle Tabus, Riten und rechtliche Beschränkungen von Eigentumsrechten (vgl. Heiner 1990, [89], 22). 54 Vgl. zu einer ausführlichen Darstellung Heiner (1988a) [84]. 55 Unvollständige Information (d. h. falsche oder nicht vollständige Information) wird im Grundmodell nicht abgebildet. Heiner hat aber in späteren Arbeiten ( 1985) [80], (1988a) [84] und (1988b) [85] unvollständige Information explizit modelliert. 52 53

4.2 Die Befolgung von Entscheidungsregeln

125

bedingte Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine Handlung a fälschlicherweise ergriffen wird, obwohl die verfügbaren Informationen dies nicht nahelegen. ga und la stellen die jeweiligen Gewinne bzw. Verluste dar, die mit der Wahl der jeweiligen Handlung ausgehend vom Status quo verbunden sind. 7ra gibt die unbedingte Wahrscheinlichkeit für das Eintreten von X* an. Ein Akteur profitiert dann vom Ergreifen einer Handlung a, wenn gilt: (4.8)

Die Gewinne aus einer Abweichung vom bisherigen Handlungsrepertoire A zum richtigen Zeitpunkt müssen also mindestens so hoch sein wie die drohenden Verluste, die aus einem Abweichen zum falschen Zeitpunkt resultieren. Durch Umformung von (4.8) erhält man Heiners Zuverlässigkeitsbedingung (Reliability Condition):

(4.9)

Ta gibt die Toleranzschwelle an, die von der Verhaltenszuverlässigkeit Pa = ra/wa mindestens erreicht werden muß. Die Verhaltenszuverlässigkeit p steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem aus der Statistik bekannten Konzept Fehler 1. Art und 2. Art: Sei t! = 1 - ra die Wahrscheinlichkeit dafür, einen Fehler 1. Art zu machen und t~ = Wa die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers 2. Art. Dann kann Pa auch als Quotient aus (1 - t!)/t~ angegeben werden. Im Gegensatz zur herkömmlichen Interpretation von Fehlern 1. Art und 2. Art beziehen sich ra und wa hier aber nicht auf ex post Abweichungen von realisierten zu prognostizierten Variablenausprägungen, die mit jeder Verteilung einer Zufallsvariable verbunden sind. Statt dessen beschreiben Heiners ra und Wa, wie groß die Entscheidungsfehler sind, die aus Verhaltensunsicherheit resultieren. Perfekte Informationsverarbeitung, die man üblicherweise in der Entscheidungstheorie annimmt, wird von Hein~rs Zuverlässigkeitsbedingung erfaßt. In diesem Fall gilt nämlich ra = 1 und Wa ----+ 0, so daß Pa gegen unendlich konvergiert und jedes endliche Toleranzlimit überschreitet. D. h., ein perfekter Akteur hat aus Beobachterperspektive nie einen Grund, sein Verhaltensrepertoire einzuschränken, weil er die gegebene Information stets richtig verarbeitet und immer die richtige Handlung ergreift.56 Umgekehrt gilt für eingeschränkt rationale Akteure, daß es für sie vorteilhaft ist, wenn sie ihre Alternativenmenge mit zunehmender Verhaltensunsicherheit redu56

Vgl. auch Reiner (1985) [80], 391 f.

126

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

zieren. Verhaltensunsicherheit stellt somit gemäß Heiners Grundmodell die Hauptursache stabiler Verhaltensregelmäßigkeiten bei Menschen dar. Das Grundmodell von Heiner hat eine derart einfache und elegante Struktur zugleich, daß man leicht das grundsätzlich Neue daran übersieht. Deshalb wird nachstehend der Unterschied zur traditionellen Entscheidungstheorie herausgearbeitet. Ziel einer Wahlentscheidung in der von Neumann/Morgenstern-Nutzeutheorie ist es, immer genau diejenige Handlung a; zu ergreifen, die bei Vorliegen einer Umweltinformation Xi den größten Zielbeitrag liefert. Wenn eine Handlung a; genau bei Vorliegen von Xi den größten Zielbeitrag liefert, gilt: p(a; , XJ)

= p(a; I Xj) · p(Xi) > p(a1, I Xj) · p(Xi)

l'

=

1, ... , i- 1, i + 1, ...

Ein perfekter bayesianischer Akteur wird immer "die" beste Entscheidung fällen, d. h. er wird seinen a posteriori-Erwartungsnutzen in Abhängigkeit von a priori-W ahrscheinlichkeiten maximieren. Wenn also Information Xi einträte, würde ein perfekter Entscheidungsträger Handlung a; mit der Wahrscheinlichkeit eins ergreifen. Sofern Xi nicht eintritt, wird Handlung ai auch nicht in Betracht gezogen. Für einen perfekten Akteur würde also gelten: Xj ===> p(a; I Xj)

=

1

• xi ===> p(a; I Xi) = o Heiner läßt statt dessen zu, daß 0 5o p(a; I X i ) 5o 1 gilt. Bei Heiner können sich Akteure also unabhängig von der Güte der Information irren und Fehler begehen, was ein bayesianischer Akteur nicht kann. 57 Für einen perfekten Entscheidungsträger betragen aus diesem Grund die bedingten Wahrscheinlichkeiten ra und wa in (4.8) immer 1 und 0, so daß die Zuverlässigkeitsbedingung immer erfüllt ist. Interessant aus verhaltenstheoretischer Sicht erscheinen mir jedoch gerade diejenigen Fälle zu sein, bei denen 0 < r a < 1 und 0 < Wa < 1 aus einer Beobachterperspektive festgestellt wird. Die zitierten empirischen Studien in Kapitel 4.1 erfassen genau diese Fälle, insbesondere die Ergebnisse von Gilberts Experimenten. Gilbert zeigt, daß Menschen von Natur aus Fehler 2. Art begehen, d. h. sie akzeptieren falsche Hypothesen, so daß Wa > 0 gilt. Würden Menschen jedoch auf Grund des Wissens über ihre 57 Wie bereits in der voranstehenden Fußnote erwähnt, wird die Güte der Information in Heiners Grundmodell nicht erfaßt.

4.2 Die Befolgung von Entscheidungsregeln

127

Fehlerhaftigkeit 2. Art keinerlei neue Ideen in Handlungen umzusetzen versuchen, würden sie sehr viele günstige Gelegenheiten vorübergehen lassen. Dies entspräche einem hohen Fehler 1. Art, d. h. ra « 1. Bisher wurde noch nicht diskutiert, ob die Entscheidungsträger die Werte für ra, W 0 , La, ga und 7ra kennen. Nach Heiner sind dem Individuum die Wahrscheinlichkeiten generell unbekannt: 58 "The inequality P! > Ta is thus a diagnostic condition which teils how performance will be affected by trying to select more actions in response to potential information. It does not assume agents themselves competent to determine when or how it should be satisfied ..." 59 " . . . because doing so would require them to know whether optimal or nonoptimal information for particular decisions have been received, which is just what they may have great difficulty in doing. However, these probabilities will still result from agents' ongoing decisions irrespective of their attainable decision skills, including possibly severe limitations in inferring information from their experience." 60 Nur auf den ersten Blick kann es den Leser überraschen, daß der Entscheidungsträger die Werte für ra und Wa nicht kennt. Wie sollte eine Person anband auf sich selbst angewandter Entscheidungskriterien entscheiden können, daß sie sich richtig, zum Teil richtig oder falsch entschieden hat? Nur ein außensteheoder Beobachter kann eine solche Entscheidung fällen, indem er den Entscheidungsträger nach Kriterien einer höheren bzw. vorgelagerten Entscheidungsebene beurteilt. Eine solche Sichtweise ist der neoklassischen Sichtweise durchaus nicht fremd. Aus positiver Sicht wird nämlich von Vertretern dieses Ansatzes immer wieder argumentiert, daß sich tatsächliches Verhalten der Entscheidungsträger nicht bewußt an den Axiomen der subjektiven Erwartungsnutzentheorie ausrichten müsse. Es sei vielmehr ausreichend zu unterstellen, daß die Individuen so handeln, als ob sie gemäß der subjektiven Erwartungsnutzentheorie entschieden. Je mehr die Akteure mit bestimmten Verhaltensregeln Erfahrungen sammeln, umso genauer wird ihr Wissen um die o.g. Parameter 10 , ga und 7r0 , bis schließlich bestimmte Verhaltensweisen ganz automatisch ablaufen. Solange es sich nicht um perfekte Entscheidungsträger handelt, können aber im Einzelfall immer wieder Entscheidungsirrtümer auftreten, was die Möglichkeit des Herausbildens evolutionärer Sackgassen als Folge von Fehlentscheidungen und langsamen Selektionsprozessen zuläßt. 61 58 Die l0 - und g 0 -Werte können dem Akteur u. U. bekannt sein, wie Heiner (1986a) [81], 61 andeutet. 59 Heiner (1988a) [84] 29, Fn. 2; P! im Zitat entspricht unserem Pa· 6o Heiner (1986b) [82] 240, Fn. 20. 61 "That is satisfying or violating p! > Ta will respectively raise or lower the probability of survival. But this (,short-run') statistical effect does not guarantee

128

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

Die Tatsache, daß bestimmte Entscheidungs- und Handlungsprozesse nicht auf einem bewußten Optirnierungskalkül, sondern auf Verhaltensroutinen beruhen, deutet auf einen weiteren wichtigen Punkt. Nur ein kleiner Teil der im Evolutionsprozeß entstandenen Verhaltensregeln von Menschen ist auf bewußte, zweckbezogene Entscheidungsprozesse zurückzuführen. Regelgebundenes Verhalten spiegelt sich dann in Verhaltensmustern wider, die von den handelnden Individuen nicht verstanden werden müssen und auch häufig nicht verstanden werden. 62 4.2.3 Ein Anwendungsbeispiel

4.2.3.1 Das Problem Im Grundmodell haben wir die sehr einfache Frage diskutiert, ob eine Handlung a in das bisherige Handlungsrepertoir aufgenommen werden soll oder nicht. Heiners Theorie des regelgebundenen Verhaltens läßt sich jedoch auf weitergehende Fragen übertragen, z. B. auch auf das Problem, ob ein Individuum unter Zeitdruck davon profitiert, seine Suche nach einer vermeintlich besseren Arbeitszeit-Freizeitallokation fortzusetzen oder nicht. Im folgenden werden wir Pingles Arbeitszeit-Freizeit-Entscheidungsproblem aus der Sicht von Heiners Theorie des regelgebundenen Verhaltens neu formulieren. Zuvor sind jedoch noch einige weitere ergänzende Informationen zu Pingles Experimentalstudie nachzureichen. Zunächst ist hier auf Abb. 4.3 zu verweisen, die uns angibt, wie Pingle an den exogenen Variablen T, W und P Veränderungen vorgenommen hat. Jede Gruppe hatte 3 Spielserien mit 10 Spielen durchzuführen. Nach jeder Spielserie wurde entweder das insgesamt zur Verfügung stehende Zeitbudget T, der Lohnsatz W oder das Preisniveau P variiert. Während bei den ungeradzahligen Versuchsgruppen innerhalb der 3 Spielserien vor allem die zur Verfügung stehende Entscheidungszeit T variiert wurde, standen bei den geradzahligen Versuchsgruppen Änderungen des Lohnsatzes W im Vordergrund. Für alle Spieler bestand die Schwierigkeit, daß sich die Budgetbeschränkung im Zeitablauf zum Koordinatenursprung hinbewegte und daher Alterthat only ,optimal' behavior will eventually filter through a long sequence of selection trials" (Heiner 1988d [87], 154). Vgl. auch Heiner (1983) [78], 568ff. 62 Zur Bedeutung von verborgenem Wissen (tacit knowledge) vgl. M. Polanyi (1967) [130]. Zur Evolution von Sprache und Bewußtsein vgl. Hayek (1952) [73], Newell/Simon (1972) [123]. Mit der Bedeutung spontaner Ordnungsprozesse in wirtschaftlichen und rechtlichen Systemen beschäftigen sich Hayek (1981 , 1986) [76][77], Hoppmann (1988) [94], Kerber (1989) [100], Schmidtchen (1978, 1990) [157][158], Sugden (1989) [179] und Witt (1987) [195].

4.2 Die Befolgung von Entscheidungsregeln

129

Die Nichtkontrollgruppen A Spiele

T

w

B

p

T

w

A

p

T

w

Gruppe I 1- 10 11 - 20 21-30

240 120 120

1 1 2

1 1 1

120 240 240

240 60 60

1 1 2

1 - 10 11- 20 21-30

240 30 30

1 1 2

1- 10 11-20 21-30

240 10 10

1 1 2

1 1 1

60 240 240

I 1 2

1 1 1

240 120 120

2 2 4

30 240 240

1 1 2

1 1 1

240 120 120

4 4 8

1 2 2

1 1 1

240 120 120

6 6 12

10 240 240

w

p

1 1 1

120 240 240

2 2 4

1 1 1

1 1 2

1 1 1

240 120 120

8

1 1 1

120 240 240

4 4 8

1 1 1

6 6 12

1 1 1

8 8 16

1 1 1

Gruppe VI

Gruppe VII 1 1 1

T

Gruppe IV

Gruppe V 1 1 1

p

Gruppe II

Gruppe III 1 - 10 11-20 21-30

B

1 1 1

120 240 240

Gruppe VIII

8

16

1 1 1

120 240 240

Abbildung 4.3: Spielserien des Zeitallokationsspiels von Pingle (1993)

nativenbewertungen rasch ihre Gültigkeit verloren. Abb. 4.4 zeigt uns, daß Bündel A kein Optimum darstellt. Der Nutzen könnte durch Erhöhung der eingesetzten Arbeitszeit gesteigert werden. Bündel B, das nach D Entscheidungszeiteinheiten realisiert wird, berücksichtigt dies besser. Allerdings ist der Nutzen in B auf Grund der Inanspruchnahme der Entscheidungszeiteinheiten sogar noch geringer als in A. Der Entscheidungsträger sollte aus Sicht eines außenstehenden Beobachters eine Suchstrategie befolgen, die ihn möglichst rasch zum Optimum führt. Die Strategie sollte zu Beginn des Spiels Alternativen miteinander vergleichen, die möglichst wenig Ähnlichkeiten aufweisen, also z. B. nicht A und B, sondern A und C. Mit zunehmender Spieldauer sollten ähnlichere Alternativen verglichen werden, da die Wahrscheinlichkeit wächst, sich nahe beim Optimum zu befinden. Schließlich sollte die Suchmethode auch über eine Stopp-Regel verfügen, um nicht unnötig viel Entscheidungszeit zu beanspruchen. 9 Leder

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

130

F

A Abbildung 4.4: Suboptimale Konsumbündel eines eingeschränkt rationalen Entscheidungsträgers

Fassen wir die voranstehenden Überlegungen zusammen. Definition Unter einer Entscheidungsregel verstehen wir die unbedingte Zuordnung einer Handlung oder Handlungskombination zu einer Vielzahl von gegebenen Umweltzuständen.63

Wie bereits oben erwähnt, geht es im vorliegenden Abschnitt um die Rekonstruktion von Entscheidungsverhalten mit Hilfe von Heiners Zuverlässigkeitsbedingung. Wir gehen deshalb davon aus, daß ein Entscheidungsträger nicht bewußt gemäß der Zuverlässigkeitsbedingung handelt, sondern daß die Zuverlässigkeitsbedingung eine Entscheidungsregel aus der Beobachterperspektive darstellt. Für unsere Zwecke ist eine weitere Spezifikation der Entscheidungsregel oder Suchstrategie sinnvoll. Die Entscheidungsregel sollte Änderungen der exogenen Variablen erfassen, Aussagen über die Suchrichtung treffen sowie Angaben über die Schrittweite eines Suchschrittes machen. 64 Diese Definition lehnt sich an Rosenthai (1993) [146], 2 an: "Think of a rule of thumb as a strategy (or set of strategies) that is used (or selected from) unquestioningly in a variety of situations." 64 Vgl. zum folgenden Wall (1993) [185], 332ff. 63

4.2 Die Befolgung von Entscheidungsregeln

131

Eine Entscheidungsregel a sei somit als Tripel wie folgt definiert: a

x(t) (4.10)

E

= {x(t),

d(t), a(t)}

Rn stelle den Vektor der Entscheidungsvariablen dar. Es gilt: x(t + 1)

=

x(t)

+ &(t + 1) =

x(t)

+ a(t + 1)d(t + 1)

d(t) bezeichnet die lokale Suchrichtung und a(t) die dazugehörige Schrittweite. Sowohl d(t + 1) als auch a(t + 1) beruhen auf der im Spielverlauf gewonnenen Erfahrung, sind also eine Funktion einer zu interpretierenden Informationsmenge I(t). D.h.: (4.11)

d(t + 1)

= if'I (!(t))

(4.12)

a(t + 1)

= 1P2(l(t))

Die Entscheidungsvariablen im Modell von Pingle stellen die gewählte Arbeitszeit, das Einkommen, das für Konsumzwecke verwendet werden kann, sowie die Entscheidungszeit dar, die man sich für eine Entscheidung nimmt. Für x gilt also: x(t) = (T-1-D,P· [T-1-D]) .

Nachfolgendes Beispiel einer Suchstrategie dient zur Erläuterung: "Gebe in den ersten fünf Sekunden einen hohen Wert für l ein. Wähle in der nächsten Runde einen möglichst geringen Wert für l. Falls weitere Spielrunden erwünscht sind, wähle Werte für l, die zwischen denen der ersten und zweiten Runde liegen." Aus Sicht eines außenstehenden Beobachters stellt die Zuverlässigkeitsbedingung von Heiner eine Stopp-Regel für Entscheidungen bei Verhaltensunsicherheit dar. Ein außenstehender Beobachter kann zu jedem Zeitpunkt genau angeben, ob der Spieler, der eine Arbeitszeit-Freizeitentscheidung fällt, in einer weiteren Spielrunde mit einer gegebenen Suchstrategie noch etwas gewinnt oder ob er besser seine Suche beim gegenwärtigen Niveau abbrechen sollte. Der Spieler selbst kann sein Verhalten nach einer anderen Stopp-Regel ausrichten, etwa der folgenden: "Höre immer nach zwei Spielrunden mit der Suche auf'' oder "Höre auf, wenn das gesetzte Anspruchsniveau erfüllt ist. "65 65 Wenn die Aufgabe der Spieler darin besteht, eine Optimallösung zu finden, wäre die erstgenannte Stopp-Regel stark begründungsbedürftig. Auch für die zweite Stopp-Regel müßten gute Argumente angeführt werden.

9*

132

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

4.2.3.2 Die Modellierung Nachstehend modellieren wir folgenden Sachverhalt: Ein Spieler soll das Arbeitszeit-Freizeitproblem von Pingle (1992) [129] lösen. Wie läßt sich beurteilen, ob ein Spieler davon profitiert, zu einem gegebenen Zeitpunkt seine bisherige Suchstrategie fortzusetzen? Zur Beantwortung dieser Frage gehen wir von einer erweiterten Version des Grundmodells von Reiner aus. 66 Ein Heiner-Pingle-Akteur stehe vor der Entscheidung, ob er eine bestimmte Suchstrategie fortführen oder mit dem bisher erreichten Ergebnis zufrieden abbrechen soll. Die Annahmen des Modells sind: (1) Es existieren die Mengen S, X und A. S repräsentiere die Menge der möglichen Zustände der Welt, X bilde die Menge der wahrgenommenen Weltzustände als Information ab, und A bezeichne die Menge der dem Individuum zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten. Individuelle Handlungsergebnisse resultieren aus der jeweiligen Kombination (a, s), wobei (a, s) E A x S. In unserem Fall stellt S die Menge aller möglichen, von der, Budgetrestriktion abgeschlossenen Linearkombinationen aus Nahrungsmitteln und Freizeit einschließlich des daraus erzielbaren Nutzenniveaus dar. X ist die Menge aller auf dem Bildschirm erscheinenden Informationen über einen bestimmten Weltzustand. Wir gehen davon aus, daß die Abbildung S ---+ X perfekt ist, der Computer also keine Fehler erzeugt. A bezeichne die Menge aller dem Individuum verfügbaren Strategien. (2) Jeder (a, s) - Kombination kann bezüglich der Handlungsergebnisse eine zweidimensionale Verteilung p E P zugeordnet werden, die ihrerseits abhängig ist von folgenden Faktoren: den Eintrittswahrscheinlichkeiten der Zustände p(s), der Wahrscheinlichkeit p(x, s), Informationen bei gegebenen Umweltzuständen zu erhalten, und der Wahrscheinlichkeit p(a, x), spezielle Handlungen als Folge einer Suchstrategie in Abhängigkeit von gegebenen Informationen zu wählen. PA' x S' stelle also die Ergebnis-Verteilung p dar, mit der eine Handlung der Menge A' C A gewählt wird und ein Zustand der Menge S' c S eintritt. PA' x X' ist die Ergebnisverteilung, mit der eine Handlung der Menge A' c A gewählt wird, wenn eine Information X' c X beobachtet wird. 66

Vgl. zur folgenden Darstellung auch Heiner (1988b) [85] und (1988d) [87].

4.2 Die Befolgung von Entscheidungsregeln

133

(3) V(p) repräsentiere eine Wertefunktion, die die mit den verschiedenen Ergebnisverteilungen p E P erzielbaren Werte mißt. 67 V (p) entspricht dem Nutzen, den ein Akteur aus der Wahl einer bestimmten (T- l - D, P · [T- l - D]) - Kombination zieht.

(4) Die Beziehung B(x) E ß: X___. A gebe als Entscheidungsregel an, welche Handlung a als Reaktion auf erhaltene Informationen vorzunehmen ist. Wenn ein Akteur also ein bestimmtes Nutzenniveau per Bildschirm mitgeteilt bekommt, gibt Handlung a an, ob und wie der Spieler weiterspielt Eine optimale Entscheidungsregel B • E ß maximiert das a posteriori erzielbare Ergebnis in Abhängigkeit von der beobachteten Information. Es gilt also für jedes x EX: B*(x) = a dann und nur dann, wenn V({a} , {x}) ~ V({a'}, {x}) für jedes a' E A. Ein Spieler, der bei Spielbeginn sofort die nutzenmaximierende (I, F) Kombination ausrechnen kann, hat die optimale Entscheidungsregel · angewendet.

(5)

x: sei diejenige Informationsmenge, für die die Handlung a den Erwartungsnutzen maximiert, d. h. x: = {x EX: B*(x) = a}. {a'}, {x})} Für x: gilt wegen 4. auch: x: = {x EX: V( {a}, {x}) ~ V(

für jedes a' E B(x).

Wenn der Spieler sich in der ersten Spielrunde befindet, gibt es genau den Erwartungsnutzen maximiert. eine Entscheidungsregel, für die Falls ein Spieler sich jedoch in der dritten Spielrunde befinden sollte und weiteres Suchen aus einer Beobachterperspektive nur noch Nutzeneinbußen mit sich brächte, stellen die auf dem Bildschirm abzulesenden Daten keine Informationen dar, die das Weiterverfolgen einer Suchstrategie a nahelegen. Informationen, die dem Spieler in Bezug auf seine gewählte Strategie ein Weitersuchen nicht nahelegen, werden mit Xbezeichnet.

x:

X:

(6) Die Verhaltenszuverlässigkeit eines Akteurs ist ein Maß für die Informationsverarbeitungsfähigkeiten mit Hilfe von Entscheidungsregeln. Sei r~ = p(B(x) = a IX:) die bedingte Wahrscheinlichkeit, mit der ein Akteur seiner Suchstrategie bei gegebenen Informationen in die kor67 V kann eine herkömmliche Erwartungsnutzenfunktion sein oder eine nichtlineare Nutzenfunktion sein, wie sie z.B. Machina (1982) [116] oder Fishbum (1988) [60] verwenden. Iin Gegensatz zur von Neumann/Morgenstern-Nutzenfunktion läßt sich eine Ergebnisfunktion ~ auch dann noch bestimmen, wenn z. B. die Transitivitätsbedingung für die Präferenzordnung nicht erfüllt ist. Vgl. auch Reiner (1984) [79], 37.

134

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

w:

rekte Richtung folgt und insbesondere die Suche nicht vorzeitig = p(B(x) = a IX- X~) die Wahrscheinlichkeit, abbricht. Bezeichne daß man eine Suchstrategie beibehält, obwohl dies den gegebenen Informationen zufolge nicht ratsam ist, oder (was auf dasselbe hinausläuft) daß man eine falsche Suchrichtung einschlägt.

p: r: /

Der Quotient = w! bezeichne die Verhaltenszuverlässigkeit bzw. Entscheidungskompetenz eines Individuums. Ein Spieler mit hoher Kompetenz zeichnet sich gegenüber einem Spieler mit niedriger Kompetenz dadurch aus, daß er Handlung a häufiger wählt, wenn die Informationslage dies nahelegt, und seltener, wenn die Information dies nicht nahelegt

Aus der Entscheidung, ob eine Suchstrategie a weiterverfolgt wird oder nicht, können vier unterschiedliche Auszahlungswerte resultieren. V 1 = V(A- {a}, X~): Dies ist die Auszahlung, wenn a nicht weiterverfolgt wird, obwohl a der Information X~ zufolge die beste Wahl wäre. Man bricht die Suche also zu früh ab. V2 = V(A- {a}, X- X~): Auszahlung, wenn a nicht weiterverfolgt wird und die Information eine weitere Suche auch nicht anzeigt. Man beendet die Suche zum richtigen Zeitpunkt. V3 = V ( { a}, X~): Auszahlung, wenn Handlung a gewählt wird und die Information dies auch nahelegt Man fallt eine Suchentscheidung, die auf Grund der Bildschirminformationen gerechtfertigt ist.

V4 = V({a}, X -X~): Auszahlung, wenn Handlung a gewählt wird, obwohl die Information dies nicht nahelegt Man sucht also weiter, obwohl effektiv keine Nutzensteigerung mehr realisierbar ist, und bricht die Suche deshalb zu spät ab. V3 - V1 = ga =V( {a}, X~)- V(A- {a}, x :) bezeichnet ausgehend vom jeweiligen Entscheidungszeitpunkt den erzielbaren Nettogewinn durch die Wahl von a, wenn dies durch die gegebene Information als optimal nahegelegt wird. Befinden wir uns in Spielrunde 2, so kennzeichnet ga den zusätzlichen Gewinn, den wir gegenüber Runde 1 erzielen können, wenn wir die Suchstrategie weiterfolgen. V2 - V4 = la = V(A - {a}, X - X~)- V({a}, X - X~) ist der Nettoverlust als Folge der Wahl von a, obwohl die Information die Wahl von a nicht angezeigt hat, la ist also der Verlust gegenüber dem Status quo, wenn man die Suche zu spät abbricht. 7ra = p(X~) sei die unbedingte Eintrittswahrscheinlichkeit dafür, daß Information gesendet wird, wonach zu einem gegebenen Zeitpunkt die Heranziehung der Suchstrategie a von Vorteil ist. Es gilt 0 ~ 7ra ~ 1. Daraus

4.2 Die Befolgung von Entscheidungsregeln

135

folgt p(X - x:) = 1 - 1fa. Man kann 1fa = p(X:) also als Wahrscheinlichkeit dafür ansehen, wann eine Handlung a eine vorzugswürdige Abweichung vom Status quo ist. Ein eingeschränkt rationaler Akteur (0 < r~ < 1, 0 < w~ < 1) wird nicht immer nur seine Suche fortsetzen, wenn dies vorteilhaft ist, sondern auch dann, wenn dies nicht angebracht ist. Er zieht solange einen Vorteil aus dem Ergreifen von Handlung a, wie V(A) > V(A - {a}) gilt. Für V(A) und V(A- {a}) ergibt sich: V(A)

=E(tv) = E{V(a, x:) + V(A- {a}, x:) + V(a, x- x:) + V(A- {a}, x- x:)}

= p(x:) · p(a 1 x;) · V(a, x:) + p(x:) · p(A- {a} 1 x;) · V(A- {a}, x:) + p(X- x:) · p(a 1X- x:) · V(a, X- x:) +p(X -x:) ·p(A- {a} x -x:) · V(A- {a}, x -x:) 1

= 1ra[~V3 + (1 V(A- {a})

-~)VI]+ (1 - 1ra)[~V4 + (1 - ~)V2]

= 1raV! + (1-7ra)V2

Subtrahiert man V(A- {a}) von V(A), so erhält man: V(A)- V(A- {a})

= 1ra[r!V3 + (1- r!)Vl- VI]+ (1 -1fa)[w!V4 +

(1- w!)V2- V2]

= 1ra[r!V3- r!Vd + (1 -7ra)[w!V4- w!V2] Man zieht also einen Vorteil aus einem weiteren Suchschritt mit der Wahl von Handlung a, wenn gilt:

B

T~

Pa= ß

W

a

la 1 - 1fa > - . - - = Ta ga 1fa

Dieses Ergebnis fassen wir als allgemeine Zuverlässigkeitsbedingung zusammen: 68 68

Vgl. z.B. Heiner (1988 a) [84], 29.

136

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

Für jede Handlungsmenge A und a E A gilt V(A) > V(A- {a}) dann B . B r! la 1 - 'lra und nur dann, wenn p a > Ta. wobei p a = - 8 und Ta = - ·---. Wa

ga

'lra

Ein Individuum mit endlicher Verhaltenszuverlässigkeit profitiert von der Fortsetzung seiner Suchstrategie a also nur dann, wenn seine Verhaltenszuverlässigkeit P! die Toleranzschwelle Ta überschreitet. Sofern die Verhaltenszuverlässigkeit geringer als die Toleranzschwelle ist, nützt dem Individuum das Vorliegen von Informationen über eine mögliche Nutzensteigerung nichts. Es kann die Information nämlich nicht mehr zuverlässig genug verarbeiten. Vergleichen wir anband des hergeleiteten Modells die Ergebnisse, die ein perfekt rationaler Akteur erzielen würde mit denen, die die Versuchsteilnehmer von Pingle erzielten. Wie würde ein perfekt rationaler Akteur von unserem Modell abgebildet werden? Für einen solchen Akteur gibt es nur eine einzige Spielrunde: Sobald ihm seine Erstausstattung bekannt ist, rechnet er in seinem Computergehirn die optimale Lösung aus. Für ihn gilt r! = 1 und w! = 0 in Bezug auf die von ihm gewählte Handlungsalternative a*. Die Handlung a* enthält die Angabe der nutzenmaximierenden Menge an Arbeitszeit und die Höhe der zu tätigenden Konsumausgaben. Und wie reagieren Menschen, die sich irren können? Abb. 4.5 gibt uns hierüber Auskunft. Sie stellt einen Ausschnitt der dritten Spielserie (Spiele 21 - 30) der Spieler von Gruppe VIIIB aus Pingles Studie dar. Gruppe VIII B bestand aus vier Spielern. In den Spielen 11 - 20 hatten die Spieler mit einem Lohnsatz von 8 Geldeinheiten pro Zeiteinheit gerechnet. Ab Spiel 21 mußten sie mit einem Lohnsatz von 16 Geldeinheiten pro Zeiteinheit rechnen, was für sie mit erkennbaren Kalkulationsproblemen verbunden war. Um die Schwierigkeit

Spiel Spieler

1 2 3 4

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

200 20 10 200

200 30 11 200

210 200 12 200

210 200 14 240

215 200 14 230

215 200 14 210

212 200 15 215

210 200 15 212

210 100 15 209

200 200 15 209

Abbildung 4.5 : Arbeitszeitwahlentscheidungen der Gruppe VIIIB während der dritten Spielserie

4.2 Die Befolgung von Entscheidungsregeln

137

ihres Entscheidungsproblems zu reduzieren, griffen die Spieler 1, 2 und 4 zur folgenden Suchstrategie: Wähle ein Arbeitszeitniveau in der Nähe von 200, weil 200 x 16 leicht auszurechnen ist. Ein perfekt rationaler Akteur würde über soviel geistige Beschränktheit wohl nur seinen Kopf schütteln. Er kann gar nicht b"egreifen, daß einem Entscheidungsträger simple Rechenaufgaben Probleme bereiten. Und was machte denn der Spieler 3? Der schien wohl der allerdümmste gewesen zu sein! Er wählte die Suchstrategie: Beginne mit einem Arbeitszeiteinsatz von 10 Einheiten, weil 10 x 16 leicht auszurechnen ist. Erhöhe danach die Zahl der Arbeitszeiteinheiten um eine Einheit, dann mußt du nämlich nur 16 Geldeinheiten zum bisher verdienten Geldeinkommen hinzufügen. Es ist wohl nicht weiter erstaunlich, daß alle Versuchsteilnehmer der Gruppe Vli/B weit von der optimalen Höhe der Arbeitszeit entfernt waren. Diese lag bei 168 Zeiteinheiten. Aus der Sicht von Heiners Theorie der unvollkommenen Entscheidungsfindung ist die Erklärung für das beobachtete Phänomen ganz einfach: drei der vier Spieler wichen deshalb nicht weit von 200 Arbeitszeiteinheiten ab, weil sie sonst schwierige Kalkulationen zu lösen gehabt hätten und ihr P! gesunken wäre. Noch schlechtere Entscheidungsresultate wären die Konsequenz gewesen. Dem Leser wird nach den voranstehenden Ausführungen einleuchten, weshalb ein eingeschränkt rationaler Akteur die Werte von r!. w! und 7ra nicht kennen wird. Er. würde dann nämlich über einen Schlüssel zur Behebung seiner eigenen Beschränkungen der Informationsverarbeitung verfügen.

4.2.4 Resumee Eingeschränkt rationales Verhalten läßt sich über einen ökonomischen Kalkül darstellen. Im Gegensatz zur herkömmlichen Theorie der strikten Rationalität vom Typ von Neumann/Morgenstern muß jedoch die Möglichkeit zugelassen werden, daß sich Menschen bei der Verarbeitung korrekter oder falscher Informationen irren. Wir können nun die These 3 dieser Arbeit formulieren:

These 3 Peifekt rationale Akteur halten sich nur an solche Beschränkungen, die sich auch bei Aufwendung aller kognitiven Fähigkeiten nicht überwinden lassen. Es handelt sich dabei um natürliche Restriktionen. In dem Maße, in dem sich Individuen bei der Verarbeitung von Informationen irren können, werden intern generierte Verhaltensbeschränkungen (Entschei-

138

4 Die Rationalität von Entscheidungsregeln

dungsregeln) oder aus Evolutionsprozessen hervorgegangene Handlungsbegrenzungen relevant. Sie helfen dem Individuum, Umweltkomplexität zu reduzieren, sein relevantes Entscheidungsmodell zu konstruieren und sich gesetzte Anspruchsniveaus zu erfüllen. Mit den in diesem Kapitel gewonnenen Erkenntnissen wollen wir im folgenden Kapitel untersuchen, was zur Evolution von Richterrecht ausgesagt werden kann, wenn auch für Richter gilt: "Irren ist menschlich!".

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin "[T]he law is always approaching, and never reaching, consistency. It is forever adopting new principles from life at one end, and it always retains old ones from history at the other ... It will become entirely consistent only when it ceases to grow." (Judge Holmes, zitiert nach Elliott 1985 [55], 55)

In diesem Kapitel wollen wir den Kreis um die Bedeutung der sichtbaren und unsichtbaren Hand in der Evolution des Rechts schließen. In den Kapiteln 2 und 3 hatten wir festgestellt, daß sowohl ein unsichtbarer HandMechanismus als auch die sichtbare Hand der Richter unter der Annahme strikter Rationalität nur unter sehr restriktiven Bedingungen bewirken, daß das Recht in Richtung höhere Effizienz evolviert. In diesem Kapitel erörtern wir die Frage, welche Aussagen wir über die Evolution des Common Law treffen können, wenn wir von eingeschränkt rationalen Richtern ausgehen, die der stare decisis-Doktrin bei ihrer Fallinterpretation und Urteilsbildung folgen. Das neuartige an dieser Fragestellung besteht darin, daß wir im Gegensatz zu herkömmlichen Ansätzen erklären können, warum Richter, die als benevolente Entscheidungsträger der Gesellschaft auftreten, der stare decisis-Doktrin freiwillig folgen: Richter, die sich ihrer Entscheidungsfehler 1. und 2. Art auf Grund von Verhaltensunsicherheit bewußt sind, messen der Vergangenheit ein größeres Gewicht bei, als dies bei strikt rationalen Akteuren der .Fall wäre. Bei strikt rationalen Akteuren, die als benevolente Entscheidungsträger auftreten, muß die stare decisis-Doktrin als eine Begrenzung des Entscheidungsfelds gesetzt werden und ist nicht über einen ökonomischen Kalkül ableitbar. Wie wir im 4. Kapitel gesehen hatten, versuchen eingeschränkt rationale Individuen, Verhaltensunsicherheit dadurch zu bewältigen, daß sie ihren Entscheidungen wenige, sehr einfache Entscheidungsregeln zugrunde legen. Auch in Gerichtsverfahren haben es die daran beteiligten Personen wie Richter oder Juries mit Verhaltensunsicherheit zu tun. Aufbauend auf Ronald Heiner (1986b) [821 wird hier die Auffassung vertreten, daß die stare decisis-Doktrin als Rechtsinterpretationsregel dazu dient, schwierige Entscheidungsprobleme bei der Urteilsfindung zu vereinfachen. Für unser Erklärungsziel ist es nicht erforderlich, daß sich Richter bewußt für die Befolgung von stare decisis entscheiden. Es reicht aus, wenn sich das Ver-

140

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin

halten von Richtern mit Hilfe von Heiners Zuverlässigkeitsbedingung so rekonstruieren läßt, als ob sie der stare decisis-Doktrin folgen würden. Im Abschnitt 5.1 erfolgt zunächst eine Darstellung der wichtigsten Gründe für die Befolgung der stare decisis-Doktrin, die von namhaften Juristen und Ökonomen geltend gemacht werden. In Abschnitt 5.2 geben wir dann die Position Heiners wieder, der 1986 in einem Beitrag die Evolution von Präzedenzfällen im Recht auf das Vorliegen von Verhaltensunsicherheit von Richtern zurückführte. Im Abschnitt 5.3 präsentieren wir ein Theorem, das eine Aussage über die Anpassung von Standards im Recht der unerlaubten Handlung trifft, wenn die Richter der stare decisis-Doktrin folgen. Das Theorem besagt: Wenn Umweltveränderungen eintreten, die die Richter vor große Informationsverarbeitungsprobleme stellen, erhöhen die Richter ihre Entscheidungszuverlässigkeit, wenn sie nicht sofort, sondern verzögert auf die Umweltveränderungen reagieren. Erhöhung der Entscheidungszuverlässigkeit heißt, daß man dem effizienten Standard näher kommt. Die gewonnenen Erkenntnisse aus Theorem 1 geben keinen konkreten Verlauf der Rechtsevolution an, sondern stellen Muster-Voraussagen über die Evolution des Rechts an, wenn die stare decisis-Doktrin herangezogen wird. Unter Muster-Voraussagen verstehen wir empirisch informative Wenn-Dann-Aussagen, bei denen die Dann-Komponente "kein konkretes sinnlich wahrnehmbares Einzelergebnis, sondern ein allgemeines Muster interindividueller Handelnsabläufe" darstellt (Hoppmann 1988 [94], 165). 1

5.1 Diestare decisis-Doktrin: Gründe ihrer Befolgung aus herkömmlicher Sicht Stare decisis - vom lateinischen "stare decisis et non quieta movere", d. h. "bei den Entscheidungen stehen bleiben" - stellt die Grundnorm des anglo-amerikanischen Präjudiziensystems dar. Die Anfänge lassen sich bis zur Regierungszeit von Heinrich II. (1154-1189) zurückverfolgen. 2 Die stare decisis-Doktrin beruht auf dem Grundsatz, "daß im Rahmen eines souveränen Jurisdiktionsbereichs alle Gerichte durch die Entscheidungen höherer Gerichte gebunden werden; diese Entscheidungen sind "bindend" ("are binding on the courts"), d. h. sie müssen befolgt werden - und zwar grundsätzlich ohne Rücksicht darauf, ob die Entscheidung dem Untergericht richtig oder falsch erscheint." 3 1 Zum empirischen Gehalt und Bedeutung von Muster-Voraussagen vgl. auch Hayek (1972) [75], Graf (1978) [67] und Schmidtchen (1978) [157], Kap. 1.6. 2 Vgl. Blumenwitz (1990) [19], 23. 3 Ebenda.

5.1 Die Befolgung der stare decisis-Doktrin

141

Die in einer Entscheidung enthaltene Rechtsregel bleibt solange bindend, wie sie nicht außer Kraft gesetzt wird. Letzteres kann durch eine spätere Entscheidung des erkennenden Gerichts, durch die Entscheidung eines höheren Gerichts oder durch die Gesetzgebung geschehen. Juristen aber auch Ökonomen haben sich über die Bedeutung und den Nutzen, den die stare decisis-Doktrin stiftet, vielfach geäußert. Nachstehend werden diejenigen Argumente beleuchtet, die entweder auf die Reduktion von Unsicherheit verweisen oder aus ökonomischer Sicht relevant erscheinen. Zunächst wollen wir kurz die Public-Choice Argumente rekapitulieren, die eine Befolgung der stare decisis-Doktrin plausibel machen. Miceli/Co§gel (1994) [118] und v. Wangenheim (1993) [186] verweisen, wenn auch mit zum Teil unterschiedlichen Begründungen, auf den Reputationsaspekt. Ein Richter, der nach Reputation strebt, steht vor einem Konflikt: Um zitiert zu werden, muß er neue Präjudizien begründen, wodurch aber das Risiko wächst, daß er von einer höheren Instanz korrigiert wird oder seine Entscheidung einfach ignoriert wird (Miceli/Co§gel 1994 [118], 36). Als weiterer Grund für die Befolgung vorausgegangener Präjudizien werden außerdem Kostengründe genannt, denn die Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechungspraxis reduziert den Aufwand von Richtern bei ihrer Urteilsfindung.4 Von verschiedenen Autoren wird die Reduktion von Unsicherheit sowie der damit verbundenen Kosten als Argument zugunsten der Doktrin stare decisis vorgetragen. Ehrlich/Posner vertreten z.B. die Auffassung: "The rule of stare decisis, which requires that a court adhere to precedent is founded, in part anyway, on an awareness of the costs in uncertainty of changing rules.'' 5 Daß die Unsicherheit darüber, welche Partei im Recht ist, in Streitigkeiten, die vor Gericht kommen, wesentlich höher ist als in denjenigen Fällen, in denen man sich in einem Vergleich einigt, hat Priest (1980) [135] theoretisch gezeigt und wurde von Priest/Klein (1984) [136] empirisch bestätigt. 6 Die Unsicherheit in Rechtsstreitigkeiten kann viele Ursachen haben. Es sind de Alessi/Staaf (1991) [6], 120f.; v. Wangenheim (1993) [186], 387. Ehrlich/Posner (1974) [52], 278. Unklar bleibt allerdings bei den Autoren, was sie unter "cost of uncertainty" verstehen. Posner untersucht in seinen Veröffentlichungen immer nur Phänomene unter Risiko und keiner Unsicherheit. Ungeklärt bleibt die Frage, wie die Unsicherheitskosten bestimmt werden. Offensichtlich handelt es sich um Kosten, die im Übergang von einem Gleichgewicht zu einem neuen Gleichgewicht auftreten. Nicht geklärt ist, welche relativen Preise zur Kostenbestimmung herangezogen werden, und ob sie pfadabhängig sind. 6 Die Priest/Klein-Hypothese, daß diejenigen Fälle vor Gericht gebracht werden, in denen der Ausgang am unsichersten ist, wird u.a. auch von Blume/Rubinfeld (1982) [18], 409, Heiner (1986b) [82], 228, und Johnston (1991) [98], 356 vertreten. 4

5

142

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin

Indizien sowie die Glaubwürdigkeit der Parteien und der Zeugen zu bewerten. Schließlich ist nach der richtigen Präzedenz im anhängenden Fall zu fragen. Priest betont, daß Streitfälle, insbesondere solche auf Berufungsebene, es geradezu erfordern, daß ein Dissenz bezüglich der heranzuziehenden Präjudiz besteht: "[A]ppelate Iitigation will occur principally where there exists greatest conflicts between precedents. Indeed, to the extend that Iitigation costs exceed settlement costs, it will be a precondition for appellate Iitigation that relevant precedents conflict." 7 Priest bezieht die Existenz von Unsicherheit in Rechtsprozessen nicht nur auf das Verhalten der Parteien, sondern auch auf das Verhalten der Richter. Auch Richter, die bewußt den Effizienzstandard im Recht durchsetzen wollten, seien nicht vor dem Schicksal gefeit: "As long as mutual gains were available from settlement, the parties would be likely to litigate only those disputes for which Judge Posner hirnself would have the greatest difficulty in determing the truly efficient outcome." 8 Man kann diese Verhaltensunsicherheit in Gerichtsprozessen, die Priest erkannt hat, dadurch ausschalten, daß man sich die Welt "wohlgeformt" vorstellt, die für die Akteure leichter durchschaubar ist. Diesen Weg beschreitet Komhauser. 9 Ihm geht es auch um die Analyse und Modeliierung der richterlichen Rechtsfindung unter Berücksichtigung vorangegangener Entscheidungen. Damit die Welt für die Richter leichter durchschaubar ist, nimmt Komhauser (1992a) [107], 176 an, daß einem Richter zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen bestimmten Fall eine vollständige, transitive Ordnung über eine Menge an Regeln gegeben sei. Um Pfadabhängigkeiten bei den Entscheidungen auszuschließen, werden Rechtsstreitigkeiten (und damit auch die Ordnungen über Rechtsregeln) als voneinander separabel angesehen. Wie Komhauser (1992b) [108], 449 zugibt, nimmt er damit Ahistorizität von Rechtsentscheidungen und perfekte Voraussicht der Richter über die in der Zukunft auftretenden Rechtsfälle an. Komhausers Argumentation ist in dem von ihm gewählten statischen Modell absolut korrekt. In einer dynamischen Umwelt ist die Annahme einer vollständigen und transitiven Ordnung über eine Menge von Rechtsregeln jedoch unhaltbar (vgl. hierzu Abschnitt 4.1.2). Wie Rogers/Molzon (1992) [145] und Farago (1980) [58] gezeigt haben, ist es unmöglich, ein Rechtssystem zu entwerfen, "that is complete in the sense that there is a derivable rule for every fact situation." 10 Gerade in bisher unbekannten und Priest (1980) [135], 405. Fußnoten im Original wurden weggelassen. Priest (1980) [135], 411. 9 Vgl. Komhauser (1989, 1992a, 1992b) [106], [107] und [108]. 10 Rogers/Mo1zon (1992) [145], 992. 7

8

5.1 Die Befolgung der stare decisis-Doktrin

143

daher schwer zu entscheidenden Fällen ist aber ein Richter gefragt: Er muß entscheiden, welche Präjudiz er als Entscheidungsgrundlage eines anhängigen Falls heranziehen will. Gegebenenfalls muß er eine neue Präzedenz begründen, das heißt also von der Rechtsdoktrin stare decisis abweichen. Zur Befolgung und Produktion von Präzedenzfällen haben sich aus theoretischer und empirischer Perspektive Landes/Posner (1976) [110] geäußert. Sie untersuchen Einflußfaktoren, die für die Produktion neuer und Abschreibung bestehender Präjudizien verantwortlich sind. Sie stellen u. a. fest, daß Präjudizien des Supreme Court einer geringeren Abschreibung unterliegen als Präjudizien rangniedrigerer Gerichte, 11 Ob der höhere Grad der Einhaltung der stare decisis-Doktrin in Bezug auf Präzedenzen des Supreme Court allein auf den höheren Allgemeinheilsgrad höchstrichterlicher Entscheidungen zurückführbar ist, erscheint fraglich. Entgegen der Auffassung von Landes/Pos.ner (1976) [110], 269 vermuten wir, daß Präzedenzen des Supreme Court auch deshalb geringer abgeschrieben werden, weil er die höchste Autorität innerhalb der Jurisdiktion innehat. In unserem Zusammenhang beleuchten die Arbeiten von Kronman (1990) [109], Macey (1989) [115], Schauer (1987) [156] und Shapiro (1972) [170] die wichtigsten Gründe für die Befolgung der stare decisis-Doktrin. Stare decisis veranlaßt den Richter, sich mit der genauen Faktenlage vertraut zu machen und zu prüfen, ob nicht ein gemeinsames "wahres Prinzip" ("true principle") 12 zu vorangegangenen ähnlichen Fällen aufgedeckt werden kann. Die Befolgung der stare decisis-Doktrin kann verhüten, daß aus der Perspektive eines einzelnen Falls suboptimale Entscheidungen getroffen werden. Wären die Beobachtungs- und Interpretationsfähigkeiten von Richtern und der Parteien vollkommen, dann wäre der Bezug zu vorangegangenen Entscheidungen Ausdruck rein konservativen Verhaltens. "But judges and litigants are not, in fact, so prescient, and when one takes their cognitive and other limitations into account, it is easy to see why some deference to precedent may be needed to achieve the greatest amount of welfare overall." 13 Mit einem Modell von Heiner wird im folgenden Kronmans Behauptung abgeleitet.

Vgl. Landes/Posner (1976) [110], 279ff. Shapiro (1972) [170], 133 f. 13 Kronman (1990) [109], 1042. Genau dieselbe Auffassung teilen auch Macey (1989) [115], 95; Schauer (1987) [156], 597 und Schmidtchen (1993) [160] , 78ff. 11

12

144

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin

"Far from merely providing judges with a useful decision-rule, the doctrine of stare decisis reflects the fundamental values of the legal process and the primordial tension within the common law between change and stability." (Jonathan R. Macey 1989 [117], 93)

5.2 Imperfekte Entscheidungen im Recht und die Befolgung der stare decisis-Doktrin In seinem Beitrag "lmperfect Decisions and the Law: On the Evolution of Legal Precedent and Rules" setzt sich Reiner (1986b) [82] mit der Frage auseinander, wie man die Entstehung der Rechtsdoktrin stare decisis und die Rechtsfortbildung von Präzedenzen erklären könne. In seiner Begründung greift Reiner unmittelbar auf seine Theorie des regelgebundenen Verhaltens zurück. Immer dann, wenn die Informationsverarbeitungskompetenz eines Akteurs unterhalb des Schwierigkeitsgrades des zu lösenden Problems liegt, existiert eine Kompetenz-Schwierigkeitslücke (C-D gap). 14 Um die Kompetenz-Schwierigkeitslücke und die daraus resultierende Verhaltensunsicherheit zu meistem, schränkt der Akteur seine Alternativenmenge ein und richtet sein Verhalten an einfach strukturierten Entscheidungsregeln aus. Reiner behauptet nun, daß die Rechtsinterpretationsregel stare decisis eine Entscheidungsregel darstellt, mit Hilfe derer Richter ihre eigene Entscheidungsunsicherheit in den Griff bekommen könnten. Wenn Richter die Fähigkeit besäßen, die Auswirkungen ihrer heutigen Entscheidungen auf zukünftige Rechtsfalle perfekt einzuschätzen und jede Information völlig korrekt interpretieren könnten, wären die Richter so weise wie König Salomon, der sich nicht an vorangegangene Präjudizien zu halten brauchte. 15 Richter, die nicht über salomonische Entscheidungsgabe verfügen, profitieren hingegen, wenn sie bei ihren Entscheidungen nicht versuchen, sämtliche Rückwirkungen zu ermitteln: "The very attempt to imitate Salomon like decisions would then require sensitivity to information that cannot be reliably used, thereby producing worse instead of better results. The complex features of different decisions no Ionger subtly interconnect in ways that improve society's collective welfare. Rather they produce growing conflicts and misaligned incentives that erode the legal system's ability to resolve disputes." 16 Heiner (l986b) [82], 256, Fn. 36. König Salomon spielt bei Heiner die Rolle des perfekten Entscheidungsträgers, die Herkules bei Ronald Dworkin übernimmt. Herkules kann auch die sogenannten "hard cases" knacken, an denen sterbliche Menschen scheitern. V gl. Dworkin (1978) [15]. 16 Heiner (1986b) [82], 243. 14 15

5.2 Imperfekte Entscheidungen im Recht

145

Bei der voranstehenden Aussage handelt es sich um eine unmittelbare Implikation der Zuverlässigkeitsbedingung 8

pa

(5.1)

=

r!

-8

Wa

la

> Ta = -

ga

1-

. --7ra

1ra

Sei Handlung a die Entscheidungsalternative "Weiche von einer bisherigen Präzedenz, die für einen ähnlichen Fall gegolten hat, ab" und ---, a die dem Richter außerdem zur Verfügung stehende Präzedenzentscheidung der Vergangenheit. Solange (5.1) erfüllt ist, profitiert ein Richter aus Sicht eines außenstehenden Beobachters davon, Informationen, die von seiner bisherigen Kenntnis vorangegangener Entscheidungen abweichen, zusätzlich zu berücksichtigen. Heiner bezeichnet derartige Information als "nonlocal information". Je mehr "nichtvertraute Information" von einem Richter in seiner Entscheidungstindung berücksichtigt wird, umso stärker weichen seine gegenwärtigen Entscheidungen von vorangegangenen Entscheidungen ab. Zunehmender Neuigkeitscharakter von Gerichtsentscheidungen führt jedoch dazu, daß die Zuverlässigkeitsbedingung ab einem bestimmten Grad an nichtvertrauter Information verletzt wird. Heiner hat den Einfluß nichtvertrauter Information und den Einfluß der Informationsfülle auf die Entscheidungszuverlässigkeit von Akteuren 1988 formal modelliert. 17 Wir wollen hier den Gedanken aufgreifen, wonach eine begrenzte Informationsverarbeitungsgrenze eine endliche Entscheidungszuverlässigkeit von Akteuren - und damit auch von Richtern - impliziert. Bereits aus der Darstellung der wahrnehmungstheoretischen Versuche von Gilbert im Abschnitt 4.1 .1 ist uns bekannt, daß Menschen, wenn sie unter Zeitdruck Informationen verarbeiten müssen, Verarbeitungsfehler begehen. Diesen Gedanken überführt Heiner unter Zuhilfenahme des informationstheoretischen Konzepts von Shannon/Weaver (1949) [169] in ein Modell. 18 Man definiert die Entropie einer Informationsquelle. H(X) =- LP(X;) inp(X;)

(5.2)

Sie gibt die Menge an übermittelter Information an. X; als Informationsereignisse stellen die Inputs in einen Informationskanal dar. Seien A; die sogenannten Entscheidungsereignisse, die man als Output eines Informationskanals ansehen kann. 17

ts

Vgl. Heiner (1988b) [85]. Vgl. Heiner (1988b) [85], 49f.

10 Leder

146

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin

Die Unsicherheit, welche Information X; erhalten wurde, gegeben, daß Output Ai ausgelöst wurde, beträgt (5.3) (5.4)

Für einen perfekten Entscheidungskanal, der immer nur das optimale Entscheidungsereignis A; auf das Informationsereignis X; auslöst, gilt (5.5)

p(A; jX;)

=

1 für alle i

(5.6)

Für einen imperfekten Entscheidungskanal gilt (5.7)

rf =

(5.8)

wJ = p(Aj jy c X- Xi) > 0

p(Aj jy

c Xj)
HA(X) = 0 für pJ = oo

Fürimperfekte Akteure gilt wegen (5.7) und (5.8) Dies impliziert ein HA (X) > 0.

pf < oo für einige Ai.

Schließlich bezeichne C die Kapazität eines imperfekten Entscheidungskanals.19 C ist definiert als: (5.9)

C

= max(H(X)- HA(X))

Je größer also HA (X), umso geringer ist die Durchflußkapazität Nimmt die zu verarbeitende Information zu, hat dies für einen perfekten Akteur keinerlei Auswirkungen in Bezug auf seine Durchflußkapazität C. HA (X) beträgt immer Null. Anders sieht der Sachverhalt für einen imperfekten Akteur aus. Solange H(X) ::; C gilt, liegt HA in einer €-Umgebung von Null, so daß pf für alle Ai beliebig große Werte annimmt. Sobald jedoch die Entropie der Informationsquelle die Kapazität des Entscheidungskanals übersteigt, offenbaren 19

Vgl. Heiner (1988b) [85], 50.

5.2 Imperfekte Entscheidungen im Recht

147

die Outputentscheidungen A j nicht mehr alle korrekt, ob sie in Bezug auf die eingegangenen Informationen X; tatsächlich die beste Entscheidung gewesen sind. Wir haben dann HA (X) > 0 vorliegen, was pf < oo für einige A j impliziert. Auf unsere Diskussion von stare decisis bezogen bedeutet das voranstehende Ergebnis: Bis zu einer bestimmten Schwelle können Richter in einem anhängigen Fall neuartige Information und neue Gedankengänge gegenüber vorausgegangenen Entscheidungen aufgreifen. Wird diese Schwelle überschritten, treten imperfekte Entscheidungen auf. Um nicht den Informationstod zu sterben, muß der Richter bestimmte Informationen, selbst wenn sie kostenlos sind, ignorieren. Stare decisis stellt den Selektionsmechanismus dar, welche Informationen beachtet werden sollen und welche nicht. Die Grenzen der eigenen Informationsverarbeitungsfähigkeit setzen dem Richter also Schranken in seiner Fähigkeit, flexibel über alle möglichen Entscheidungskonstellationen zu optimieren. 20 Der Leser beachte jedoch, daß es sich bei dieser Handlungsbeschränkung nicht um eine vom Modellierer gesetzte exogene Schranke handelt, wie sie beispielsweise die Budgetrestriktion in der Haushaltstheorie darstellt. Vielmehr ergibt sich die Begrenzung der zu einer Entscheidung herangezogenen Überlegungen und Informationen als selbstgesetzte Schranke, die Schmidtchen (1991) [159], 339 deshalb auch als "weiche Handelnsbeschränkung" bezeichnet. Auf der Grundlage der Theorie von Heiner kann die Evolution der Doktrin stare decisis also als Ergebnis der Selbsterkenntnis von kognitiven Beschränkungen durch die handelnden Richter angesehen werden. Diese Selbsterkenntnis hat nach Heiner nicht nur Auswirkungen auf die Urteilsfindung, sondern auch auf die Ziele, die Richter verfolgen: "[J]udges will in generat not be motivated by explicit striving toward long-run social objectives. Rather they will tend to focus on the immediate "business at band" of resolving particular disputes that come before their tribunals. This implication contrasts with the standard law and economics literature, which analyses judges' decisions "as if' they are motivated by explicit striving to maximize long-run "social welfare" and related efficiency concepts . .. From a social policy perspective, this also means the legal system will not necessarily benefit from judges' trying to guide their decisions with a set of mandated social welfare criteria " (Heiner 1986b [82], 245, Fn. 23). Stellungnahmen zu Heiner (1986b) finden sich bei Miceli/Co~gel und Komhauser. Miceli I Co§gel schreiben: "[R]ecent interest among economists in the judicial practice of stare decisis, or decision by precedent, has focused on the efficiency of the practice without trying to explain why judges 20 10*

Vgl. Heiner (1986b) [82], 243f.

148

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin

rationally follow it [Blume and Rubinfeld (1982), Heiner (1986) and Kornhauser (1989)]." 21 Heinerscheint mißverstanden worden zu sein. Die Tatsache, daß Heiner keine Public Choice-Argumente heranzieht, um die Befolgung von stare decisis zu begründen, schließt nicht aus, daß es nicht noch andere Begründungsmöglichkeiten der Befolgung von stare decisis gibt. Kornhauser (1989) [106), 72f. wendet ein, daß Heiner die Doktrin stare decisis auch auf Erleichterungen bei der Faktenfindung beziehe. Faktenfinder seien aber die Juries und nicht die Richter, die Recht produzieren. Dem kann man entgegnen: Es hängt vom entscheidenden Richter ab, ob z. B. die Haftungsregel "strikte Gefährdungshaftung" oder die Haftungsregel "Verschuldenshaftung mit der Einrede der Fahrlässigkeit des Geschädigten" in einem Fall gelten soll. Beide Haftungsregeln sind mit unterschiedlichen Informationsanforderungen verbunden, die die Jury bei der Faktenfindung und den Richter bei der Urteilsbegründung beeinflussen. War die bisherige Rechtsregel "strikte Gefährdungshaftung", müssen gute Gründe vorliegen, wenn man von dieser Rechtsregel abweichen will. Ein Abweichen von der bisherigen Rechtsregel geht mit der Abkehr von stare decisis einher. Nach Kornhauser kann regelgebundenes Verhalten nur unter folgender Einschränkung als Rechtfertigung von stare decisis fungieren: Jeder Richter müsse das Ziel verfolgen, eine gute Rechtsregel für eine Klasse von Gerichtsfällen statt einer guten Regel für den Einzelfall zu verkünden. 22 Kornhauser hat zwar Recht, wenn er den Ausdruck "rule" im Sinne von Rechtsregel einer Klasse von Fällen zuordnet. Das Befolgen der Entscheidungsregel stare decisis hat dann zur Folge, daß man eine bestimmte Rechtsregel für alle diejenigen Rechtsstreitigkeiten heranzieht, von denen man glaubt, sie ließen sich zu einer Klasse zusammenfassen. Dieses Vorgehen schließt jedoch Abweichungen oder Modifikationen von bestimmten Rechtsregeln im Einzelfall nicht aus. Heiner 'sieht, daß das blinde Befolgen einer Entscheidungsregel Fehler 1. Art zur Folge hat. Wie Heiner schreibt, kann das gehäufte Auftreten von Fehlern 1. Art und deren Selbsterkenntnis dazu führen, daß eine bisher befolgte Regel ausgehöhlt wird: "[S]e1f-recognition of Type 1 errors may itself motivate agents toward realizing the net gains from preferred exeptions, thereby introducing a destabilizing tendency to deviate from previously followed rules. In effect, the very experience generated by following rules underrnines their own continued stability, as agents' ability to self-recognize Type I errors increases." 23 21

22 23

Miceli/Co§gel (1994) [118], 31. Vgl. Komhauser (1989) [106], 73. Heiner (1989b) [88], 27.

5.3 Stare decisis als ein Verzögerungsfaktor in Übergangsprozessen

149

Die Zurückverfolgung der geschichtlichen Entwicklung einer Regel aus einer ex post Beobachtersicht und das Aufzeigen wiederkehrender Fehler 1. Art ist nach Heiner allerdings kein gutes Argument, um einem Regelbefolger versäumte Regelabweichungen vorzuhalten. 24 (1) Angenommen, die Zuverlässigkeitsbedingung von Heiner in Bezug auf stare decisis sei gerade noch erfüllt. Der Fehler 1. Art liege nahe bei eins, und die Toleranzschwelle des zu entscheidenden Falls sei sehr hoch. Dann kann trotz hohem Fehler 1. Art Regelbefolgung vorteilhaft sein, weil andernfalls die Zuverlässigkeitsbedingung verletzt würde. (2) Der Vorwurf einer versäumten Regelabweichung geht von einer kontrafaktischen Behauptung aus: 25 Wenn eine bestimmte Entscheidungsregel aufgeweicht wird, nähmen die zusätzlich auftretenden Fehler 2. Art die nur beobachtbar wären, wenn die Regel bereits früher aufgeweicht gewesen wäre - langsamer zu, als die Fehler 1. Art zurückgehen würden, so daß die Zuverlässigkeitsbedingung immer erfüllt bliebe. Akzeptiert man Heiners Hypothese, wonach Entscheidungsregeln wie stare decisis dazu führen, daß Richter nicht alle Konsequenzen ihrer Entscheidungen auf Rückkopplungseffekte überdenken, wird seine Schlußfolgerung verständlich: "[F]eatures may evolve in the law that were never explicitly foreseen and thereby intended by anyone involved." 26 Die Evolution im Recht muß dabei keineswegs zu einer ziellosen Schlingerbewegung führen. Wie wir in Abschnitt 5.3 vielmehr zeigen werden, ist unter bestimmten Voraussetzungen Heiners nachstehende Behauptung vollauf gerechtfertigt: "Rather it [the lack of conscious direction, Anm. von mir, M. L.] produces a systematic bias that continually directs the whole process toward preserving the substance of past decisions. This bias itself produces a more stable and predictable evolution of legal doctrine than would otherwise occur. " 27 5.3 Stare decisis als ein Verzögerungsfaktor in Übergangsprozessen

5.3.1 Vorbemerkungen Der Grundgedanke des nachfolgend aufgestellten Theorems ist folgender: Richter stehen vor dem Problem, in einer dynamischen Umwelt Vorsorgestandards an Parameteränderungen korrekt anzupassen. Wenn Richter nicht Vgl. Heiner (1986b) [82), 248; (1986c) [83), 323. Mit kontrafaktischen Argumenten und darauf aufbauenden Rationalitätskonzepten hat sich Koboldt (1994) [103) auseinandergesetzt 26 Heiner (1986b) [82), 245. Fußnoten im Original wurden weggelassen. 27 Heiner (1986b) [82), 246. 24 25

150

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin

mit dem Phänomen der Verhaltensunsicherheit konfrontiert sind, werden sie sofort auf die Parameteränderung hin reagieren und die korrekt ausgerechneten Vorsichtsmaßstäbe ihren Gerichtsentscheidungen zugrunde legen. Begehen Richter hingegen Informationsverarbeitungsfehler bei der Berechnung der dynamisch effizienten Vorsichtsmaßstäbe, dann erhöhen sie aus Sicht eines außenstehenden Beobachters ihre Entscheidungszuverlässigkeit, wenn sie verzögert und nicht sofort auf die Umweltveränderungen reagieren. Da wir von Richtern ausgehen, die ausschließlich die Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt verfolgen, bedeutet Erhöhung der eigenen Entscheidungszuverlässigkeit Erhöhung der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Würden also Richter, die in komplizierten Entscheidungssituationen eine positive Kompetenz-Schwierigkeitslücke aufweisen, sofort auf entscheidungsrelevante Parameterveränderungen reagieren, dann hätte dies gesellschaftliche Wohlfahrtseinbußen zur Folge. Es ist also aus gesellschaftlicher Sicht vorteilhaft, wenn eingeschränkt rationale Richter verzögert reagieren. Indem Richter verzögert auf Parameterveränderungen reagieren, bleibt der Einfluß von Vergangenheitsentscheidungen stärker erhalten, als dies bei sofortiger Anpassung der Fall wäre. Ein wesentliches Merkmal der stare decisis-Doktrin besteht darin, gegenwärtige Entscheidungen auf vorangegangenen Präjudizien aufzubauen. Es wird hier die Behauptung aufgestellt: Indem sich Richter verzögert statt sofort an Umweltänderungen anpassen, verhalten sie sich aus einer Beobachterperspektive so, als ob sie sich an der stare decisis-Doktrin orientieren würden. Um diese Hypothese zu modellieren, wird am Modell von Blume/ Rubinfeld angeknüpft und darauf aufbauend in mehreren Schritten ein Theorem hergeleitet. Im Abschnitt 3.1.3 wurde anband des Modells von Blume/Rubinfeld (1982) [18] gezeigt, daß zwischen der statischen und dynamischen Effizienz einer Rechtsregel Unterschiede bestehen können. Die Existenz von Anpassungskosten bewirkte, daß es aus wohlfahrtsökonomischer Sicht suboptimal sein kann, wenn das Recht übermäßig sensitiv auf Umweltveränderungen reagiert, die durch einen exogenen Schock ausgelöst werden. Die Lösung des dynamischen Progranunierungsproblems von Blume/ Rubinfeld weist bereits für den Fall quadratischer Anpassungskosten und einem Untersuchungszeitraum von nur 3 Perioden eine hohe Komplexität auf. Zweifellos nehmen die Problemlösungsschwierigkeiten zu, wenn die Anpassungskosten z. B: durch ein Polynom dritten Grades abgebildet und der Untersuchungszeitraum auf unendlich viele Zeitperioden ausgedehnt wird. Einem Richter mit perfekten Informationsverarbeitungsfähigkeiten würde natürlich auch das komplizierteste Entscheidungsproblem keine Schwierigkeiten bereiten. Die Frage ist jedoch, wie sich ein Richter bei der Anpassung von Vorsorgestandards verhält, wenn er sich seiner begrenz-

5.3 Stare decisis als ein Verzögerungsfaktor in Übergangsprozessen

151

ten Informationsverarbeitung zur Behandlung der anstehenden Aufgabe bewußt ist. Aufbauend auf Heiner (1988 c, d) [86] [87] ist es möglich, das Blume/ Rubinfeld-Modell in ein Modell umzubauen, in dem eingeschränkt rationale Richter versuchen, dynamisch effiziente Vorsichtsmaßstäbe festzulegen. Hieraus wird dann ein Theorem über das Verhalten eingeschränkt rationaler Richter in dynamischen Anpassungsprozessen hergeleitet. Richter erhöhen ihre Entscheidungszuverlässigkeit, indem sie auf Umweltänderungen nur verzögert reagieren, d. h. die optimalen Vorsichtsmaßstäbe der Parteien an Umweltveränderungen nur verzögert anpassen. Die Beweisführung erfordert einige Ergänzungen des Reiner-StandardModells und allgemeine Anmerkungen zu verzögerten Anpassungsprozessen imperfekter Entscheidungsträger. 5.3.2 Ergänzungen zum Heiner-Standardmodell

Zur Modeliierung von Anpassungsverhalten von Richtern, die bei ihren Entscheidungen mit Verhaltensunsicherheit konfrontiert sind, gelten neben den Annahmen des Grundmodells zusätzlich noch folgende Annahmen: (1) Unvollkommene Akteure (Richter) verfügen nur über eine begrenzte Kompetenz, ausgehend von nicht-optimalen Verhaltensmustern noch bessere Entscheidungsresultate zu erzielen. D. h. p~ < oo flir alle a E A und B =/:- B*. Ein Verhaltensmuster B stellt im vorliegenden Kontext eine Klasse von Handlungen dar, die zur Wahl bestimmter Vorsichtsmaßstäbe führen. Wenn ein Richter also anstelle des optimalen Verhaltensmusters B* das Verhaltensmuster B offenbart hat, dann nehme sein p~ einen endlichen Wert an. (2) Die Verluste /~ aufgrund einer fehlerhaften Abweichung vom bisherigen Verhaltensmuster B sind nicht vernachlässigbar klein gegenüber den Gewinnen g~. die durch Abweichungen von B(x) erzielt werden. 1~/g~ ~ .X, oo >> A > 0. Es gelte also: Va,BofB' Mit Hilfe dieser Annahme soll ausgeschlossen werden, daß die Wohlfahrtseinbußen aus der fehlerhaften Festlegung von Vorsichtsmaßstäben vernachlässigbar klein sind. (3) Von B* aus ist es niemals möglich, noch günstigere Handlungsalternativen zu entdecken, denn B * ist gerade so definiert worden, daß es die beste Handlungsmöglichkeit auswählt. Ausgehend von B • gilt deshalb x~· = { } für alle a E A . Demgemäß gilt auch 1r~· = 0 für alle a E A (Heiner 1988d [87], 151).

152

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin

Welche Konsequenzen würden eintreten, wenn ein Richter mit unvollkommenen Informationsverarbeitungsfähigkeiten versucht, sein Verhalten schrittweise dem optimalem B* anzupassen?28 Angenommen, es existiere eine Sequenz Bv E ß, so daß Bv --> B*. Letzteres impliziert --> Aufgrund der Definition von B* unter (3) gilt = 0. D.h., wenn ßV--> B*, dann --> 0 für jedes beliebige a. Wegen z:v fgr > 0 (vgl.

x:•

71':·

Bv

(2)) strebt Ta =

l Bv a

1

~

ga 1T'r --> 0. Da nach (1) ten, wenn Bv --> B*.

·

-

xr x:•.

Bv 7T' a Bv gegen unendlich für Bv--> B* wegen

1T'a

p: < oo für alle a gilt, kann p:v > T:vnicht eintre-

Ab irgendeinem Punkt, bevor Bv gegen B* konvergiert, ergibt sich somit: Richter, die von Bv abweichen, erzielen schlechtere Entscheidungsresultate als diejenigen Richter, die immer dem Verhaltensmuster Bv folgen. 5.3.3 Verzögerte Anpassung und die Irrelevanz von Verlusten erster Ordnung In Theorem 1 unter 5.3.4 wird behauptet, daß Richter in einer komplexen Umwelt ihre Verhaltensunsicherheit meistem können und dadurch bessere Entscheidungen treffen, wenn sie nicht auf jede Umweltveränderung sofort reagieren, sondern Anpassungsprozesse verzögert einleiten. Ihre Aufgabe bestehe darin, die optimalen Vorsichtsmaßstäbe x0 und y 0 aus dem Blume/ Rubinfeld-Modell festzulegen. Zunächst muß gezeigt werden, daß sich VerhaltenstJ:ägheiten nicht durch vernachlässigbar geringe Verluste aus verzögerter Anpassung rechtfertigen lassen. Andernfalls könnte der berechtigte Einwand erhoben werden, auch ein perfekt rationaler Richter könne es sich unter bestimmten Bedingungen leisten, mit Verzögerung zu reagieren. Der Einwand hätte zur Folge, daß unsere Annahme von eingeschränkt rationalen Richtern unnötig wäre und das Theorem keine neue Information beinhalten würde. Um den hypothetischen Einwand zu entkräften, greifen wir auf Überlegungen von Heiner (1988c) [86], 259f. zurück und verknüpfen sie mit dem Modell von Blume/Rubinfeld (1982) [18]. Im Blume/Rubinfeld-Modell sollen die Richter die Vorsichtsmaßstäbe der Gegenwartsperiode x und y so festlegen, daß die sozialen Kosten C(x('y),y('y), -y) über zwei Perioden minimiert werden?9 x und y sind also Eine Ableitung der Ergebnisse findet man bei Heiner (l988d) [87], 152f. Im Modell von Blume/Rubinfeld trat ein zusätzlicher Kontrollparameter ß auf. Wir setzen seine erste Ableitung der Einfachheit halber mit Null an, ohne daß sich hierdurch qualitativ etwas alt unseren Aussagen ändert. Zur Vereinfachung der No28

29

5.3 Stare decisis als ein Verzögerungsfaktor in Übergangsprozessen

153

die Entscheidungsvariablen und '"Y der Kontrollparameter. Seien x*(r) und y * (r) diejenigen Funktionen, die die sozialen Kosten C für beliebige Werte von '"Y minimieren. Angenommen, '"Y entspreche in der Gegenwartsperiode dem Wert '"'( 0 . Ein Richter habe über genügend Zeit verfügt, um optimale Vorsichtsmaßstäbe x 0 = x*(r 0 ) und y 0 = y*(r 0 ) für die Gegenwartsperiode festzulegen. In der Gegenwart trete ein exogener Schock auf, so daß '"Y nicht mehr 1 ° entspricht. Die Wohlfahrtseinbuße D.W, die sich aus der Verzögerung der optimalen Anpassung von x*(r) und y*(r) ergibt, beträgt nach (5.10):

(5.10)

ßW

8[C(x*('r), y*(l),l) _ C(xo('y), yo('r),l)]

= --------------f}y

Unter Berücksichtigung der Kettenregel erhält man aus (5.10) (5.11) ß w

8C(x*('r), 1) 8C(y*(l), 1)) (ox* f)y*)' 8C(x*, y* , 1) =( OX , fJy . -a,-, -a,- + --a,-- (8C(x 0 (1), 1) 8C(y 0 ('r), 1)). (8x 0 f)y 0 ) ' - 8C(x 0 , y 0 , 1) 8x ' fJy f}y ' f}y f}y

Die notwendige Bedingung für das Vorliegen eines Minimum impliziert, daß der Gradient der äußeren (A~~~tun:~)d~n Wert Null annimmt. Außerdem gilt annahmegemäß, daß

&-y , &-y

den Wert Null hat.

Damit verbleiben nur noch der zweite und der letzte Summand in (5.11). Strebt '"Y gegen '"'( 0 , konvergieren x * und y * gegen x 0 und y 0 , ebenso die Differenz der beiden Terme in (5.11). Verzögerte Anpassung führt in einer Approximation erster Ordnung (also die erste Ableitung der Kostendifferenz nach dem Kontrollparameter '"Y) zu beliebig kleinen Wohlfahrtseinbußen (Akerlof/Yellen 1985 a, b [1] [2]). Vernachlässigbar kleine Verluste erster Ordnung können jedoch aus folgendem Grund nicht als Erklärung für verzögertes Anpassungsverhalten perfekt rationaler Akteure herangezogen werden: Auch wenn die Anpassongen zu früh oder zu schnell vorgenommen werden, wären die Verluste erster Ordnung aus den Fehlanpassungen zu vernachlässigen. tation haben Entscheidungsvariablen der Gegenwartsperiode keinen tiefgestellten Zeitindex. Variablen der Zukunft sind durch den Index 1 gekennzeichnet, Variablen der Vergangenheitsperiode mit - 1 indiziert.

154

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin

"Thus, analysis based on negligible first-order Iosses by itself gives no reason for assuming that nonoptimal behavior will take the form of delayed reaction to parameter changes." 30

Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, wie unter Zuhilfenahme von Heiners Theorie der eingeschränkten Rationalität verzögerte Anpassung der Vorsichtsmaßstäbe durch die Richter entscheidungstheoretisch begründet werden kann. 5.3.4 Verzögerte Anpassung der Vorsichtsmaßstäbe

Richter begehen Entscheidungsfehler, wenn sie die Vorsichtsmaßstäbe als Folge eines geänderten Wertes von 1 in die falsche Richtung anpassen. Bezeichne der Zeilenvektor aw = (xw(J),yw(J)) den Wert der Vorsichtsmaßstäbe nach einer Anpassung in die falsche Richtung und der Zeilenvektor a' = (x'(J),y'(J)) den Wert der Vorsichtsmaßstäbe nach einer Anpassung in die richtige Richtung. Die Ableitung dieser Zeilenvektoren nach 1 gibt dann die Anpassungsrate in die falsche oder richtige Richtung an. Um Anpassungsverzögerungen abzubilden, führen wir das Symbol ~ ein, das die Zeitspanne angibt, seitdem 1 nicht mehr den Wert 1° besitzt. Die Wahrscheinlichkeit, daß die laufende Zeit t sich gerade innerhalb des Zeitintervalls t 0 und t 0 + ~ befindet, sei 1r(~) = p(t 0 ::; t ::; t 0 + ~). Wenn ein Richter über eine hinreichend hohe Entscheidungszuverlässigkeit verfügt, die nachstehend noch genauer definiert wird, dann können Anpassungen der Vorsichtsmaßstäbe innerhalb des Zeitintervalls t 0 und t 0 + ~ zu Wohlfahrtsgewinnen führen.

r:

die Wahrscheinlichkeit, daß ein Richter die VorsichtsmaßBezeichne stäbe innerhalb des Zeitintervalls t 0 und t 0 + ~ in die richtige Richtung anpaßt und damit von den bisherigen Vorsichtsmaßstäben abweicht, gegeben, daß eine Änderung des Kontrollparameters 1 stattgefunden hat. ist die entsprechende Wahrscheinlichkeit, daß ein Richter die Vorsichtsmaßstäbe in die falsche Richtung anpaßt.

w:

r: w:,

und die die EntscheidungszuDie bedingten Wahrscheinlichkeilen verlässigkeit des Richters aus der Sicht eines Beobachters kennzeichnen, sind abhängig von f Je länger ein Richter mit der Anpassung von x und y auf geändertes 1 wartet, umso mehr Zeit bleibt ihm, sich über die korrekte Anpassung klar zu werden. Es gilt: (5.12)

30

Heiner (1988 c) [86], 260.

5.3 Stare decisis als ein Verzögerungsfaktor in Übergangsprozessen

Es gelte im folgenden die Annahme 1 aus 5.3.2, Seite 151: alle a E A und B i= B •.

155

P! < oo für

Annahme 2 auf Seite 151 wird leicht modifiziert: Es wird angenommen,

axw;o,

daß- ox'/Öf 2':

)q,-

ayw;o,

ßy'/Öf 2': Az für A[, A2 > 0. Falsche Anpassun-

gen der Vorsichtsmaßstäbe sind also nicht beliebig klein gegenüber korrekten Anpassungen. Der Kontrollparameter 1 sei eine Funktion der Zeit, d. h. 1 = 1(t), wobei t = t 0 + ~- Ähnlich wie in 5.3.2 können wir nun Wohlfahrtsverluste und -gewinne aus Anpassungen der Vorsichtsmaßstäbe berechnen. Zum Zeitpunkt t 0 + ~ beträgt der marginale Verlust auf Grund einer Anpassung von x und y in die falsche Richtung bezogen auf die Ausgangslage (x 0 , y 0 ): (5.13)

la(~)

0 y 0 , /(to + m- C(xw(T(to + ~)), yw(T(to + ~)), l (to + ~)] = _d[C(x _ ,__ __ __ _ d_t _ _ _ _ _ _ __ _

Der marginale Wohlfahrtsverlust la(~) ausgehend vom Status quo ergibt sich also als zeitliche Veränderung der Differenz zwischen Nichtstun und einer Anpassung in die falsche Richtung. Analog läßt sich der marginale Wohlfahrtsgewinn g a ( ~) bestimmen. (5.14)

ga(~)

d[C(x'(T(to + ~)), y'(T(to + ~)),/(t 0 + ~)- C(x 0 , y 0 , 1(t 0 + ~))]

= - - - - - - - - - d - t- - - - - - - - -

Unter Zuhilfenahme von Heiners Zuverlässigkeitsbedingung aus Kapitel 4.2.2 können wir nun die Antwort darauf geben, ob es vorteilhaft ist, wenn Richter auf Umweltveränderungen sofort reagieren und Änderungen der Vorsichtsmaßstäbe vornehmen. Von Vorteil wäre eine solche Maßnahme, wenn die Zuverlässigkeitsbedingung (5.15)

auch für den Übergang von ~ gegen Null erfüllt ist. Wie wir in Abschnitt 5.3.3 allgemein gezeigt haben, konvergieren marginale Wohlfahrtsverluste in einer Approximation erster Ordnung gegen Null. Übertragen wir dieses Ergebnis auf die voranstehenden Größen l a (~) und g a ( Ü so gilt, daß sowohl die Gewinne als auch die Verluste erster Ordnung für ~ gegen Null ebenfalls gegen Null streben. Zum Studium der Effekte zweiter Ordnung (der Ableitung von g a und l a jeweils nach ~)

156

5 Die Evolution von Recht bei Befolgung der stare decisis-Doktrin

ergibt die Anwendung der Regel von de L'Höpital, daß

(dla /d~) (dga /d~

) für

0 gegen ein >. > 0 konvergiert (vgl. den Beweis im Anhang B). Da >. > 0 gilt und 7r a(~) ~ 0, strebt Ta(~) ~ oo für~~ 0.

~ ~

Für endliche Verhaltenszuverlässigkeitsniveaus p~(~) ist dann Ungleichung (5.15) nicht mehr erfüllt, und es ergibt sich Theorem 1.31

Theorem 1: (Stare decisis als Konsequenz eingeschränkter Entscheidungszuverlässigkeit) Bezeichne p~ = oo perfekte Entscheidungszuverlässigkeit eines Richters. Wenn Richter nicht über perfekte Entscheidungszuverlässigkeit verfügen, führen Anpassungen von Standards (Vorsichtsmaßstäbe) innerhalb des Zeitintervalls p(to ::::; t ::::; t 0 + ~) für beliebig kleine zeitliche Verzögerungen 8 > 0 zu einer Verletzung der Zuverlässigkeitsbedingung p~(~) > Ta(~). Stare decisis ist eine Rechtsinterpretationsregel, die im Einklang mit dieser Hypothese steht: Gemäß der stare decisis-Doktrin werden Umweltveränderungen nicht sofort in neue Standards umgesetzt. Theorem 1 liefert eine ökonomische Begründung für die Befolgung der Rechtsdoktrin stare decisis. Eine sofortige Anpassung der Vorsichtsmaßstäbe ist nicht sinnvoll, wenn die Richter nicht über unbeschränkte Informationsverarbeitungsfähigkeiten verfügen. Ein Vorteil der Befolgung von stare decisis besteht also darin, daß die Welt für die Richter dadurch leichter erfahrbar und gestaltbar wird.

5.4 Resumee Theorem 1 in Kapitel 5.3 hat gezeigt, daß die stare decisis-Doktrin, die für die Evolution des Common Law von fundamentaler Bedeutung ist, einer ökonomischen Analyse zugänglich ist. Komplementär zur herkömmlichen Entscheidungstheorie haben wir auf die Theorie der Entscheidungsfindung bei Verhaltensunsicherheit von Heiner zurückgegriffen und uns die Frage gestellt, welche Funktion der stare decisis-Doktrin bei Annahme eingeschränkt rationaler Richter zukommt. Wir haben hergeleitet, daß stare decisis als Rechtsinterpretationsregel dazu dient, die Komplexität schwieriger Entscheidungssituationen zu reduzieren. Stare decisis wirkt bei Entscheidungsprozessen der Richter nicht als exogene Schranke, sondern vielmehr als "weiche Handelnsbeschränkung" 31

Zur Herleitung von Theorem 1 vgl. Anhang B.

5.4 Resumee

157

im Sinne von Schmidtchen?2 Fassen wir unsere Ergebnisse aus 5.2 und 5.3 in folgender These zusammen:

These 4 Wenn Richter nicht alle auf sie einwirkenden Informationen perfekt verarbeiten können, erhöhen sie ihre Entscheidungszuverlässigkeit, wenn sie ab einem bestimmten Grad an Umweltkomplexität zusätzliche Information ignorieren. Das sich Orientieren an Präzedenzen stellt ein Verfahren dar, Umweltkomplexität zu reduzieren. Neben der vollständigen lgnorierung von Information dient verzögerte Anpassung an Umweltänderungen als weitere Ausprägung der stare decisis-Doktrin dazu, zuverlässige Entscheidungen der Richter zu gewährleisten.

32

Vgl. Schmidtchen (1991) [159], 339.

6 Zusammenfassung Die bisherigen Ausführungen befaßten sich aus entscheidungstheoretischer Perspektive mit der Rechtsevolution des amerikanischen Common Law. Bevor wir hierzu unsere Ergebnisse thesenartig zusammenfassen, wird in einem Ausblick auf mögliche Anwendungsgebiete der gewonnenen Erkenntnisse im deutschen Rechtswesen hingewiesen. In einem vor kurzem erschienenen Beitrag stellen Ott/Schäfer (1993) [125] die Hypothese auf, daß der strukturelle Ansatz im deutschen Zivilrecht stark an Bedeutung verloren habe. 1 Gemäß diesem Ansatz ziehen Richter Verhaltensregeln (social norms) zur Urteilsfindung heran, die über einen Prozeß der spontanen Ordnung entstanden sind. An die Stelle des strukturellen Ansatzes seien entweder Gesetze getreten, in die die Gedanken bisher unkodifizierter Verhaltensregeln aufgenommen wurden oder fallspezifische Kosten-Nutzenüberlegungen, die Ott/Schäfer unter dem Begriff "public policy approach" subsumieren. Es wird hier die Ansicht vertreten, daß sich der strukturelle Ansatz und der public policy approach nicht ausschließen, sondern ergänzen. Während der public policy approach von der sichtbaren Hand perfekt rationaler Richter ausgeht, entspricht dem strukturellen Ansatz die Vorstellung der Heranziehung von Rechtsregeln, die als Ergebnis aus einem unsichtbaren HandProzeß hervorgegangen sind. Das Ausfindigmachen der relevanten Rechtsregel in einem Rechtsstreit wie auch deren konkrete Interpretation - z. B. bei einer Kosten-Nutzen-Analyse - erfordern Entscheidungsregeln, die uns der public policy approach nicht liefert. Der public policy approach, den Ott/Schäfer (1993) [125], 299 als "a perspective of economic efficiency" ansehen, geht vielmehr von gegebenen Rechtsregeln und einer gegebenen Interpretation der Rechtsregeln aus. An dieser Stelle setzen wir mit unserer Theorie des Entscheidens bei Verhaltensunsicherheit an. Auch wir betonen die Notwendigkeit von Kosten-Nutzen-Analysen zur Findung eines Urteils. Nur gehen wir davqn aus, daß selbst dann, wenn es eine für einen komplizierten Rechtsstreit anwendbare Rechtsvorschrift gibt, Richter mit dem Phänomen der Verhaltensunsicherheit konfrontiert sind: Der Richter muß die einschlägige Rechtsregel erst einmal erkennen und sie dann auch noch fehlerfrei interpretieren. 1

Vgl. Ott/Schäfer (1993) [125], 287ff.

6 Zusammenfassung

159

Gestützt wird die hier vertretene Auffassung u. a. von Berkemann ( 1992) [14] und Rittel (1980) [142]: ,,Jedenfalls nimmt im öffentlichen Recht, aber auch im Privatrecht der Anteil jener Normen unverändert zu, die versteckt oder ausdrücklich in ihren normativen Strukturen Elemente der Abwägung, der Optimierung, der Individualisierung, sachverhaltsbezogenen Flexibilität, aber auch prozedurale Bedingungen enthalten, die näher zu ermitteln und situativ umzusetzen der Entscheidung der Gerichte überlassen wird. Der Anteil jener Normen wächst, die im Gewande materieller Normen funktional oder doch weitgehend richterliche Ermächtigungen zur Rechtsfindung darstellen ... Waren es ehedem Bestimmungen wie § 242, § 138 BGB, die auf einen Transfer außerrechtlicher Wertungen angelegt waren und die kontrollierend und steuernd eingreifend sollten, bekommt die zunehmende Normoffenheit geradezu Methode. " 2

Die in dieser Arbeit vorgestellte Theorie der Entscheidimgsfindung bei Verhaltensunsicherheit versucht zu beschreiben, wie mit Hilfe von Rechtsinterpretationsregeln die Normoffenheit reduziert werden kann. Während wir die Funktion von Entscheidungsregeln aus einer als-ob-Perspektive modelliert haben, bleibt es zukünftiger Forschung vorbehalten, zu untersuchen, inwieweit Entscheidungsregeln vom entscheidenden Akteur auch über einen bewußten Kalkül gewählt werden. Der Anwendungsbereich unseres Entscheidungskonzepts würde dadurch noch zunehmen. Als weiteren Anwendungsbereich der Entscheidungstheorie bei Verhaltensunsicherheit innerhalb des Rechtssystems kann man sich die Modeliierung von Entscheidungsprozessen vorstellen, die in frühen Phasen von Gesetzgebungsverfahren ablaufen. Wie Hutter ( 1989) [95] am Beispiel des Arzeimittelpatentrechts belegt, ist der Entscheidungsprozeß insbesondere in der Phase der Problemerkennung und der Alternativensuche unstrukturiert. Entscheidungsregeln in Form bewährter Heuristiken führen dazu, daß sich schließlich einige wenige Auffassungen als konkurrierende Alternativen herausbilden. Strebt Recht über eine unsichtbare oder sichtbare Hand im ökonomischen Sinn zu immer höherer Effizienz? Oder dient Recht als weiche Handeinsbeschränkung dazu, daß sich Menschen zur Konstruktion ihrer relevanten Umwelt Regeln auferlegen? (1) Wie wir gezeigt haben, kann das Recht der unerlaubten Handlung unter

bestimmten Bedingungen durch das Verhalten perfekt rationaler Individuen zu immer höherer Effizienz evolvieren. Das Verhalten von Parteien vor Gericht oder die Entscheidungen von Richtern bewirken, daß die Effizienz von Haftungsregeln im Zeitablauf zunimmt.

2 Berkemann (1992) [14] IOf. Hervorhebungen stammen vom Verfasser dieser Arbeit, M.L. Fußnoten im Original wurden weggelassen.

160

6 Zusammenfassung

(2) Es wurde außerdem hergeleitet, daß die Evolution von Recht durch das Verhalten perfekt rationaler Individuen zu einer Zunahme ineffizienter ökonomischer Transaktionen führen kann. Welche Richtung der Evolutionsprozeß einschlägt, hängt ausschließlich davon ab, ob die Umweltbedingungen zugunsten oder zulasten ökonomischer Effizienz vorprogrammiert wurden. (3) Menschen können Fehler bei der Lösung von Entscheidungsproblemen begehen. Nimmt man diese Erkenntnis ernst, kommt man nicht daran vorbei, auf Konzepte eingeschränkter Rationalität zurückzugreifen. Evolution von Recht ist dann nicht mehr nur durch die Festlegung der Umweltbedingungen automatisch vorherbestimmt Sie hängt vielmehr in entscheidendem Maß von den Entscheidungsregeln ab, auf die die Akteure bei der Bewältigung komplexer Entscheidungssituationen zurückgreifen. (4) Auf der Grundlage der Entscheidungstheorie von Reiner wurde gezeigt, welche ·Bedeutung der Heranziehung von Entscheidungsregeln zusätzlich zu Rechtsregeln zukommt. Entscheidungsregeln wie die stare decisis-Doktrin helfen, Rechtsregeln zu finden, was als handlungsrelevante Umwelt der Richter angesehen wird. (5) Die Rechtsinterpretationsregel stare decisis ist einem ökonomischen Kalkül zugänglich, der auf der Theorie eingeschränkter Rationalität beruht. Stare decisis braucht somit nicht nur als exogene Schranke in Entscheidungsprozesse von Richtern eingeführt zu werden, sondern kann endogen als weiche Handeinsbeschränkung hergeleitet werden. (6) Ob Recht auch bei eingeschränkt rationalen Richtern zu höherer Effizienz evolviert, kann eindeutig beantwortet werden. Wenn Richter eingeschränkt rational handeln und damit nicht mehr der Entscheidungstheorie vom Typ von Neumann/Morgenstern folgen, sind ihre Entscheidungen aus der Sicht dieser Theorie nur noch zufällig optimal. Systematische Ineffizienzen stellen hingegen die Regel dar. (7) Weil unsere Welt nicht nur von perfekt rationalen oder als ob-perfekt

rationalen Individuen bevölkert ist, erscheint es sinnvoll, auch das Verhalten von Menschen zu modellieren, das Entscheidungsfehler zuläßt. Die vorliegende Arbeit setzte sich dieses Anliegen zur Maxime.

Anhang A: Zum Blume/Rubinfeld-Modell In diesem Anhang erfolgt eine formale Wiedergabe und Komrnentierung der Herleitung des Blume/Rubinfeld-Modells. 1 Im Vergleich zum Originaltext werden zusätzlich Zwischenschritte eingeführt, um die Nachvollziehbarkeit zu erleichtern. Gegeben seien die Annahmen A1 - A~ des Blume/Rubinfeld-Modells. Ziel des Gerichts ist es, im Zeitpunkt t = 0 verbindliche Vorsichtsmaßstäbe für beide Prozeßparteien für die gegenwärtige Periode festzulegen. Dabei ist zu beachten, daß zukünftige Entscheidungen sowohl über die Anpassungskosten als auch den Diskontfaktor ß von gegenwärtigen Entscheidungen mitbeeinflußt werden. Ausgangspunkt des dynamischen Modells von Blume/Rubinfeld ist die statische Gleichung des Brown-Modells für die sozialen Kosten eines Unfalls: (A.l)

C(X, Y)

= wx X+ wr Y + P(X, Y)A

Zur Lösung des dynamischen Programmierungsproblems beginnen wir in der Zukunftsperiode. Die Vorsichtsmaßstäbe X 0 und Y0 der Gegenwart (Periode 0) seien bekannt und die marginalen Vorsorgekosten W f und W i in Periode 1 bereits beobachtet worden. Aufgabe des Gerichts ist es dann, Vorsichtsmaßstäbe X1 und Y1 so zu wählen, daß die sozialen Kosten der Periode 1 minimiert werden: (A.2)

Versetzen wir uns nun in die Gegenwart. X_ 1 und Y_ 1 sind aus der Vergangenheit her gegeben, und W~, Wl;, W~ 1 und W ~ 1 wurden beobachtet und sind ebenfalls bekannt. Über den Diskontfaktor ß ist Periode 1 mit der Periode 0 verbunden. Die durch die Wahl optimaler Vorsorgemaßstäbe X 0 und Y0 in der Gegenwart zu minimierende Zielfunktion lautet dann: (A.3)

r (Xo- X_l) 2 + r (Yo- Ld + W~ Xo +Wb' Yo + P (Xo, Yo)A + ßC(Xo,Yo)

1

Vgl. Blume/Rubinfeld (1982) [18], 411ff.

II Leder

Anhang A: Zum Blume/Rubinfeld-Modell

162

Die Bedingungen erster Ordnung für ein Minimum von (A.3) erhält man durch partielles Differenzieren nach X 0 und Y0 . (A.4) (A.5)

Um die Ausdrucke für Cx und Cr zu erhalten, differenzieren wir (A.2) partiell nach X o und Yo. Für Cx 0 (X o, Yo) und Cr0 (X o, Yo) ergeben sich2 (A.6) (A.7)

Setzt man (A.6) und (A.7) in (A.4) und (A.5) ein, erhält man: (A.8)

2-y(Xo -X-t)

+ W 0X + Px (Xo,

(A.9)

2-y (Yo- Y_t)

+ W 0y

Yo)A- 2ß -y (Xt -Xo)

=! 0

+Pr (Xo, Yo)A - 2ß r (Yt- Yo)

=! 0

(A.8) und (A.9) stellen ein simultanes Gleichungssystem dar. Mit Hilfe des impliziten Funktionentheorems3 ist es uns möglich, die Veränderung des optimalen Vorsichtsmaßstabs der Periode 0 in Abhängigkeit von ß und 'Y zu bestimmen.

l[ l [ l

Bezogen auf zwei Funktionen F1 und F2 (hier (A.8) und (A.9)) ergibt sich aus dem impliziten Funktionentheorem zunächst in allgemeiner Form: 4 (A.lO)

[

8Ft 8x 8F2

8Ft 8Y 8F2

a,

8x

8x 8ß 8Y

8Y --{)X

ar

a,



a,

-8Ft

-

-8Ft 8ß -8F2 -8F2 ----

a,



Bildet man aus (A.8) und (A.9) die partiellen Ableitungen gemäß (A.lO), erhält man die folgenden Matrixgleichungen: 2 Es ist offensichtlich, daß es sich bei X1 und Y1 in Periode 0 um erwartete Größen handeln muß. 3 Vgl. z.B. Chiang (1984) [28], 210ff. 4 Im folgenden wird bei Xo und Yo der Index weggelassen, um die Notation zu vereinfachen.

Anhang A: Zum Blume/Rubinfeld-Modell (A.ll) 2r+ PxxA

[

AP"

aX

+ 2ßr

l + ßh + APJ ~ {}y

APxr

2 (I

[

163 aß aX] aY

-



2-y(XI-X)] = 2-y (YI- Y)

-2(X-X_I) + 2ß(XI-X) -2 (Y- y_I) + 2ß (YI - Y)

2 [ß(XI -X)- (X -X-I) -y(X1 -X)] ß (Y1 - Y) - ( Y - y_ 1) 'Y ( Y1 - Y) Unter Heranziehung der Cramerschen Regel erhalten wir schließlich die Matrix der Multiplikatoren, die uns angibt, in welche Richtung der Vorsichtsmaßstab in Abhängigkeit von 1 und ß verändert werden sollte.

l

(A.12)

ax]

fii aY

ß(YI- Y)- (Y- y_I)

=~

{}y

= _3_ [ [2 (1 +

lß(X~ - x) - (X - X_I) APxr

2

2(1 + ß)'Y+APyy

I

12(1+ßh+APxx ß(X1-X)-(X-X_I)I APxr

ß(YI- Y)- (Y- f _I)

ß)'Y + A Prr) [ß (X1 - X) - (X - X_ I))

-

APxr [ß (YI - Y)- (Y- y_I))

[2(1 +ß)'Y+APxx] [ß(YI- Y)- (Y- y_I)) -APrx [ß(XI -X)- (X -X-I))

ß (A.l3)

[ ~;] aY aß

=_3_ [[2(1 +ß)'Y+APrr] ß

-y(YI - Y) -A Pxr'Y(XI - X)] [2(1 +ß)'Y+APxx] -y(X1 -X) -APrx-y(Y1 - Y)

ß steht für die Jakobi-Determinante. Damit das Gleichungssystem (A.12) und (A.13) über eine eindeutige Lösung verfügt, muß ß -1- 0 gelten. ß

= 12(1 + APrx

ßh + APxx

APxr I 2(1 +ß)'Y+APrr

= 2(1 + ß)'Y · 2(1 + ß)'Y +APxx · 2(1 + ß)'Y + 2(1 + ß)'Y APrr + A 2PxxPrr- A 2Pir = 4(1 + ß) 2-y2 + 2(1 + II*

ßh A(Pxx + Pyy) + A2 1 Pxx Pxr Prx Prr

I

l

164

Anhang A: Zum Blume/Rubinfeld-Modell

Wegen ß, "' 2: 0 und A > 0 sowie auf Grund der Konvexität5 von P(X, Y) ergibt sich, daß ~ > 0. Aus den Gleichungssystemen (A.l2) und (A.13) läßt sich nun unmittelbar ausrechnen, in welche Richtung die Vorsichtsmaßstäbe bei Veränderung von ß und "' angepaßt werden sollten.

Fallt: "f = 0 Dieser Fall entspricht der Situation, die Brown (1973) [24] in seinem Modell erlaßt hat und die hier nochmals in Gleichung (A.l) wiedergegeben ist. Es treten keine Anpassungskosten auf, und das Gericht sollte in jeder Periode den Vorsichtsmaßstab des statischen Optimum setzen. Setzt man 0 in (A.13) ein, wird das voranstehende Ergebnis bestätigt: {)X

"'=

ßY

----0

aß - aß -

Fall2: Unterfall 1: Variation von

"' >0

ß

Auf Grund der Konvexitätsannahme (impliziert positives Pxx und Pyy) sind sowohl 2(1 + ßh + APxx > 0 als auch 2(1 + ßh + APyy > 0. Die Auswirkungen einer Veränderung des Diskontfaktors hängen damit ausschließlich davon ab, ob für die Zukunftsperiode strengere oder weniger strenge Vorsichtsmaßstäbe als in der Gegenwartsperiode zu erwarten sind. Wie sich aus (A.13) ergibt, führt die Erwartung zukünftig schärferer Vorsichtsmaßstäbe bei einem Anstieg von ß zu einem Anstieg der Vorsichtsmaßstäbe in der Gegenwartsperiode. Es gilt somit:

ax aY

ßß , ßß > 0 für X1 - X > 0, Y1 -

ax ay

ßß , ßß < 0 für

X1 -X

< 0, Y1 -

Y

>0

Y

lo = .91. und 'Bo = 'B, erhalten wir: (B.6)

dt(O) / dt dg(O) / dt

u(ß{u + '13) v(ß{v + '13)

Wie wir nachstehend zeigen, nimmt Gleichung (B.6) entweder immer negative Werte an. 5 Dann ist aber bereits die notwendige Bedingung für die Vorteilhaftigkeit der sofortigen Anpassung verletzt, die wir unmittelbar vor unserer Beweisdurchführung als erforderlich festgestellt haben - oder (B.6) ist positiv. Dann gilt T(O) = oo, so daß die Zuverlässigkeitsbedingung p(O) > T(O) verletzt ist. In beiden Fällen profitieren Akteure - bei uns Richter - also nicht davon, wenn sie auf Umweltveränderungen sofort Anpassungsmaßnahmen ergreifen. Ausgehend von (B.6) wird k (B.7)

=-ujv gesetzt. Man erhält dann:

dt(O) / dt dg(O) / dt

'13-kß{v '13 + .5{ V

_.;....;..;_=k---

Die hinreichende Bedingung für ein Minimum der Funktion C(z, 'Y ) für 'Y = 'Yo impliziert, daß .91. > 0 gilt und v* = 8z* ("f0 )/ßr = -'B/.91.. Wie man auf S. 169 erkennt, sind die Hauptminoren von .91. positiv, so daß .91. > 0 erfüllt ist. Aus v = - 'B/ .91. und .91. > 0 ergibt sich sign v = -sign 'B. Für 'B erhält man wegen k, .91. > 0 und v < 0 immer einen positiven Zähler. Das Vorzeichen von (B.7) hängt dann davon ab, ob v > -'B/ .91. oder 5

Die nachstehenden Überlegungen bauen auf einem Beweis von Heiner (1988d)

[87] auf.

Anhang B: Beweis von Theorem 1

172

v < -'13/ !A gilt. Für '13 < 0 ist der Zähler immer negativ. Auch hier ergibt sich dann das Vorzeichen von (B.7) in Abhängigkeit davon, ob v > -'13/!A oder v < -'13/ !A erfüllt ist. Ausgehend von

lassen sich damit die folgenden vier Fälle unterscheiden:

Fallt:

ß >0

- B/A < v0

-00

- '!Jj J!

p=

'13k-k2 54.v

o+

'Bk- k2 54. v

!im p = - - - !im p =

v ~ -oo

ß

'Bk - k2 54. ( +oo) '13 + 54. ( + oo) '13k-k2 54.v

o+

-->

=-

2

k

+ oo

Anhang B: Beweis von Theorem I

173

Zusammenfassend gilt für die Fälle 1 - 4: Entweder ist p kleiner als null. Dann wird bereits die notwendige Bedingung für die Vorteilhaftigkeit sofortiger Anpassung verletzt, die wir auf Seite 167 definiert haben. Oder p ist strikt positiv. Dann gilt aber lim T(~) --> oo, so daß p(e) > T(~) ver€--->0 letzt wird. Somit profitieren eingeschränkt rationale Richter nie von einer sofortigen Anpassung von Standards auf geänderte Umweltbedingungen. q.e.d.

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Stichwortverzeichnis Allokationsineffizienz 10 als-ob-Rationalitätshypothese 115 Anpassungskosten 89 ff. Anspruchserfüllungsprinzip 120

Gruppengewinn 39

bayesianische Akteure 126 Bestechungszahlungen 26, 40

imperfekte Entscheidungen 109 implizite Preise 76 incremental standard 78 ff. Informationsverarbeitungsfähigkeit 147 Informationsverarbeitungsfehler 110, 122 inframarginale Konsumenten I 03

eheaper cost avoider 22 Conunon Law 20 competence difficulty-gap 110 Cournot-Nash-Gleichgewicht 79 Daumenregel 116 dynamisch effizienter Gleichgewichtspfad 90 effiziente Haftungsregel 22 effiziente Vorsorgeniveaus 77 Effizienz - allokative 10 - dynamische 15, 89 - höhere 9 Effizienzgrad 98 Eigeninteresse der Richter 97 f. eingeschränkte Rationalität 117 Entscheidungskompetenz 134 Entscheidungskosten 110 ff. Entscheidungsregel 130f., 144 equilibrierende Kraft 12 f. Ergebnis 117 Ergebnismaß 118 Evolution 75

Knightsche Unsicherheit 119 kompakte Menge 87 Kompetenz-Schwierigkeitslücke 12, 110, 114 Kooperationsrente 39 Kosten des Übergangs 90 Lemprozeß 84 f. Liapunow-Funktion 86f. limited information incremental standard 81 f. Markoffscher Prozeß 57 Mastergleichung 99 motivationaleGrenzen 96ff. Mustervoraussagen 140 natürliche Restriktionen 16, 123 natürliche Selektion 66 natürlicher Selektionsprozeß 65 ff. nichtabgeschlossene Handlungsmengen 119 nichtlineares Modell 76 nichtvertraute Information 145

Fehlentscheidungskosten 113 Fehler 1. Art 110, 125, 148 f. Fehler 2. Art 11 0, 125 Gerichtskosten 63 Gesamtkostenreaktionsfunktion Grenzzyklus 83, 100

Heiners Zuverlässigkeitsbedingung 125, 135

80

optimale Entscheidungsregel Optimierungsmaschine 12

133

Stichwortverzeichnis Paretakriterium 10 perfekt rationaler Akteur 16 perfekte Informationsverarbeitung 125 pfadabhängiges Ergebnismaß 118 Präjudizien (Präzedenzen) 21, 141 ff. Präzedenzumkehr 29 Präzedenzwandel 32 f. - abrupter 40 f. - gradueller 35 ff. - symmetrischer 37 Prozeßspiel 47 Rationalität - eingeschränkte 108 - myopische 112 - prozedurale 108 - strikte 108 Rationalitätsaxiome 117 Reaktionsfunktion 79 ff. Recht - effizientes 24 - ineffizientes 24 Rechtsinterpretationsregeln 16, 139, 156 reliability condition 125 Satisficing 68, 120 Schiefsymmetrie 118 Selektionsgleichgewicht 68 f. sichtbare Hand 14, 75 Sinneswahrnehmungen 109 soziale Kosten 77 spontane Ordnungsprozesse 128 stare decisis-Doktrin 13, 140 ff. Stetigkeitsaxiom 117 stochastische Dominanz 71 stochastischer Prozeß 57 Stopp-Regel 129ff. Suchstrategie 129 ff. System

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- geschlossenes 75 - offenes 75, 100 teilspielperfekte Gleichgewichte 46 ff. Toleranzschwelle 125, 136 Transaktionskosten 101 f. Übergangswahrscheinlichkeit 68 ff., 98f. Überlebensfahigkeit von Rechtsregeln 31 Umweltkomplexität 17 Unabhängigkeitsaxiom 117 f. Unentscheidbarkeit 119 Unfallvermeidungskosten 21 ff. - irreversible 28 ff. - reversible 28, 45 unsichtbare Hand-Modelle 13, 19 ff. unsichtbarer Hand-Mechanismus 21 ff. Variable - langsame 75 - schnelle 75 verborgenes Wissen 128 Verhaltensmuster 151 Verhaltensrestriktion 16, 124 Verhaltensunsicherheit 12, 106 ff. Verhaltenszuverlässigkeit 133 f. Verschuldeoshaftung 78 ff. versunkene Kosten 28 verzögerte Anpassung 152 ff. Vollständigkeitsaxiom 118 von Neumann/Morgenstern-Axiome 117 weiche Handeinsbeschränkung 104, 147 zeitinkonsistentes Verhalten Zufallsmechanismus 31 f.

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