Der Umfang der österreichischen Geschichte: Ausgewählte Studien 1990-2010 9783205791461, 9783205786337


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Der Umfang der österreichischen Geschichte: Ausgewählte Studien 1990-2010
 9783205791461, 9783205786337

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Inhaltsverzeichnis

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Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner · Wolfgang Mantl · Manfried Welan Band 99

Gerald Stourzh

Der Umfang der österreichischen Geschichte Ausgewählte Studien 1990–2010

Böhl au Verl ag Wien · Köln · Graz

4

Inhaltsverzeichnis Gedruckt mit der Unterstützung durch   das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten die Kulturabteilung der Stadt Wien – MA 7 die Universität Wien den Zukunftsfonds der Republik Österreich das Institut für den Donauraum und Mitteleuropa DIE ERSTE Österreichische Spar-Casse Privatstiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78633-7 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, i­nsbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von A ­ bbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf f­ otomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung: Michael Haderer Umschlagabbildung: Die Abbildung auf der Rückseite des Umschlags zeigt das „Kleine Wappen“ der österreichischungarischen Monarchie in der Letztfassung von 1916, gezeichnet von H. G. Ströhl. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Primerate, Budapest

Ich widme dieses Buch Wolfgang und Maria Mantl in langjähriger, herzlicher Freundschaft und großer Dankbarkeit



Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.

Der Umfang der österreichischen Geschichte (1991) . . . . . . . . . . 11

2.

Länderautonomie und Gesamtstaat in Österreich 1848–1918 (1993) .

3.

37

Die Grundrechte in der Paulskirche und im Kremsierer Reichstag: Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Rezeptionen (2001) . . . . . . . . 69

4.

Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in der Entwicklung des österreichischen Verfassungsstaats 1848–1918 (2003) . . . . . . . . . . 85

5.

Die dualistische Reichsstruktur, Österreichbegriff und Österreichbewusstsein 1867–1918 (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . 105

6.

„Aus der Mappe meines Urgroßvaters“. Eine mährische Juristenlaufbahn im 19. Jahrhundert (2000) . . . . . . 125

7. Verfassungsbruch im Königreich Böhmen: Ein unbekanntes Kapitel zur Geschichte des richterlichen Prüfungsrechts im alten Österreich (1992) . . . . . . . . . . . . . . . 139 8.

Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechtsdemokratie – die historischen Wurzeln (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

9.

Die Außenpolitik der österreichischen Bundesregierung gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung (1990) . . . . . . . . . . . . . . . 181

10. Die Entstehungsgeschichte des österreichischen Neutralitätsgesetzes (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 11. Jean Rudolf von Salis – ein Grenzgänger (2003) . . . . . . . . . . . . 231

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Inhaltsverzeichnis

12. Angelo Ara und die österreichische Geschichte (2007) . . . . . . . . 249 13. „Die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“ (2004) . . . 269 14. The Ethnicizing of Politics and “National Indifference“ in Late Imperial Austria (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Textnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .324 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .326

Vorwort In diesem Band werden ausgewählte Arbeiten aus den Jahren 1990 bis 2010 vorgelegt. Der Titelessay will deutlich machen, wie unterschiedlich der Umfang dessen, was als Österreich bezeichnet wurde und wird, gewesen ist, wie unterschiedlich daher auch die Ansprüche sind, die an das Studium der österreichischen Geschichte zu stellen sind. Der Band umfasst überwiegend Arbeiten zur österreichischen Geschichte im 19.und 20. Jahrhundert, mehrheitlich zur Struktur- und Verfassungsgeschichte der Habsburgermonarchie im Zeitalter 1848 bis 1918. Eine biographische Studie aus dem 19. Jahrhundert zeigt exemplarisch den Zusammenhang von vertikaler sozialer Mobilität und Erwerb einer wichtigen Zweitsprache im vielsprachigen Altösterreich. Ein Aufsatz zur Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Bedeutung für die moderne Grundrechtsdemokratie zieht einen weiten Bogen vom Amerika und Frankreich des 18. Jahrhunderts zur Vorreiterrolle Österreichs in der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Zwei zeitgeschichtliche Essays interpretieren die außenpolitische Vorgeschichte des „Anschlusses“ und beschreiben die Entstehung des Neutralitätsgesetzes von 1955. Es folgen zwei Essays mit Portraits eines schweizerischen und eines italienischen Historikers mit sehr engen Bindungen zu Österreich. Der Essay „Die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, fällt inhaltlich aus dem Rahmen; er wurde für die Festschrift zum 65. Geburtstag Wolfgang Mantls geschrieben und soll in einem Wolfgang und Maria Mantl gewidmeten Band ebenfalls seinen Platz haben; er ragt in ein anderes meiner Interessengebiete, die Entwicklung der Menschenrechte und des Gleichheitspostulats in der Geschichte des Westens, hinein. Die letzte und umfangreichste Studie, 2010 verfasst, wird hier erstmals veröffentlicht und kehrt zur Geschichte Altösterreichs zurück. Sie ist in englischer Sprache geschrieben, da sie aus einem in englischer Sprache im April 2010 an der Universität Leiden gehaltenen Vortrag hervorgegangen ist und sich im Hauptteil mit neuen Interpretationen einiger wichtiger amerikanischer Historiker zur Geschichte des späten Habsburgerreiches auseinandersetzt. Einige kleinere Korrekturen sowie einige Ergänzungen bei den Anmerkungen wurden vorgenommen. Einzelne Wiederholungen wurden beibehalten, um die Geschlossenheit der einzelnen Studien nicht zu beinträchtigen. Ich darf den Leser auf die Sammlung meiner wichtigsten Arbeiten in englischer Sprache in dem Band „From Vienna to Chicago and Back“ (Chicago 2007), sowie auf drei mir am Herzen liegende Essays in dem bei Böhlau erschienen Bändchen „Spuren einer intellektuellen Reise“ (2009) aufmerksam machen.

Wie schon so oft, spreche ich mit Freude meinen Dank aus. Birgit Bader-Zaar, Heinz Blechner, Margarete Grandner und Nicolette Mout danke ich für die kritische und hilfreiche Durchsicht der hier erstveröffentlichten Studie, wenngleich ich ausschließlich die Verantwortung für Formulierungen und allfällige Irrtümer trage. Meiner Frau Marlies danke ich für ihre große Hilfe bei der Erstellung des Personenregisters. Peter Rauch, Eva Reinhold-Weisz und Bettina Waringer gilt wie schon so oft mein Dank für ihr immer wieder erneutes Interesse für nun schon eine ganzer Reihe meiner Bücher im Böhlau Verlag, in dem ich mich ganz zu Hause fühle. Last but not least geht mein Dank an Wolfgang und Maria Mantl, die bei der Betreuung der „Weißen Reihe“ und auch meiner Bände die größte Umsicht und Genauigkeit walten ließen und lassen, und denen dieses Buch in herzlicher Freundschaft gewidmet ist. Wien, im Mai 2011

Gerald Stourzh

1. Der Umfang der österreichischen Geschichte

Der niederländische Historiker Johan Huizinga hat – erstmals 1929 – eine bekannte Definition von Geschichte vorgelegt: „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt.“1 Hier und heute ist nicht der Ort, über Huizingas Kulturbegriff zu diskutieren. Es möge genügen anzumerken, welch zentralen Platz der Begriff „Kultur“ im historischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts einnahm; ich erinnere nur beispielsweise an den von Friedrich Meinecke 1907 gängig gemachten Begriff der Kulturnation im Gegensatz zur Staatsnation oder an die Häufigkeit, mit der von der deutschen Kulturmission Österreichs im Frühwerk von Hugo Hantsch und bei anderen Historikern die Rede war.2 Wichtig an Huizingas Definition ist für mich der rückbezügliche, der reflexive Charakter seiner Formulierung: die Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt. Geschichte hat also etwas mit Rechenschaft über das Eigene zu tun. Gewiss, idealiter mag das Eigene das Menschliche schlechthin sein, die Geschichte der Menschheit, des genus humanum, unsere eigene Geschichte sein. Doch wissen wir alle, welch tief greifende Antriebskräfte vorhanden sind, die die Vorstellung vom Eigenen enger fassen; wir wissen, wie tief der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremdem – von August Nitschke als wichtiger Topos des Historischen thematisiert3 – Kollektivmentalitäten beherrscht. Die Suche nach der eigenen Geschichte, den eigenen Wurzeln setzt ungeahnte Kräfte frei, psychologische, intellektuelle – und auch finanzielle; der enorme Anstieg von historischen Gedenkveranstaltungen und Jubiläen sonder Zahl, „die Magie der 1 Johan Huizinga, Über eine Definition des Begriffs Geschichte. Wiederveröffentlicht in: ders., Im Banne der Geschichte, 2. Aufl. Basel 1943, 94–106, hier 104. 2 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Neuherausgabe der 7. Aufl. 1928 eingel. v. Hans Herzfeld, München 1962, 10–15. Zu Hantsch vgl. u.a. Gerald Stourzh, Hugo Hantsch, in: Austrian History Yearbook, 9/10, 1973/74, 507–514, hier bes. 508. 3 August Nitschke, Das Fremde und das Eigene, in: Funk-Kolleg Geschichte, hg. v. Werner Conze. Karl-Georg Faber, August Nitschke, Frankfurt 1981, 236–262.

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1. Der Umfang der österreichischen Geschichte

runden Zahl“ (Adam Wandruszka), all dies hängt ja mit der Rechenschaft, mehr oder minder kritisch, über je eigenes Herkommen zusammen, über die eigene Familie, die eigene Gemeinde, das eigene Volk, die eigene Religionsgemeinschaft, die eigene Klasse, die eigene Partei, das eigene Land.4 Natürlich sind Mehrfach­ identifizierungen möglich, ja üblich, und ebenso Erweiterungen. Das Fremde, das vertraut, weniger gefährlich, friedlicher geworden ist – vielleicht nach Zeiten des Konflikts, der Konfrontation – verbindet sich mit dem Eigenen zum Gemeinsamen. Die Metapher vom „gemeinsamen Haus Europa“ ist heute in vieler Munde. Die Metapher vom Haus hat bekanntlich auch bei Historikerdiskussionen in Österreich eine Rolle gespielt; sie suggeriert eben sehr plastisch die Relevanz von Zugehörigkeiten. Herwig Wolfram hat ganz zutreffend in seinem Buch über die Geburt Mitteleuropas die Suche nach den Wurzeln der eigenen Identität ja durchaus legitim das amerikanische Schlagwort von den „roots“ angesprochen.5 Unsere eigene Geschichte – ich vermeide bewusst noch jedes weitere Adjektivum – von unserer Situation in der Gegenwart in dem Land, in dem wir leben, ausgehend, stellt uns auf Befragen einen ausnehmend stabilen Traditionsstrang zur Verfügung, anhand dessen unser Herkommen in einem räumlich-territorialen Rahmen von begrenztem und überschaubarem Umfang, jedoch in einem Zeitrahmen von beträchtlicher Dauer erfasst werden kann. Ich meine die Länder, aus denen sich die heutige Republik Österreich zusammensetzt, und die Landesgeschichte dieser Länder. Diese Aussage ist gerechtfertigt, unbeschadet der rezenten Schaffung von zweien dieser Länder, des Landes Wien und des Burgenlandes, erst in diesem Jahrhundert, auch unbeschadet des Eintritts Salzburgs in den Verband der habsburgischen Länder erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie ist auch gerechtfertigt trotz verschiedener Veränderungen im Umfang einzelner dieser Länder, vor allem der Steiermark und Tirols. Diese Länder, zumindest die große Mehrzahl dieser Länder haben ihre Identität, wenn das Wort gestattet ist, in bemerkenswerter Weise gewahrt: im Übergang von ständischen zu absoluten, dann zu konstitutionellen und schließlich zu demokratischen Institutionen, im Übergang von der überkommenen landesfürstlich-monarchischen zur republika4 Vgl. Huizingas Äußerung 1929: „Ist eine allgemeine Kultur in verschiedene Nationen diffe­ renziert, diese wieder in Gruppen, Klassen, Parteien, dann folgt von selbst die entsprechende Differenzierung der Form Geschichte. Für jede Teilkultur wird das historische Interesse durch die Frage bestimmt, welches die Dinge seien, um die es für sie geht.“ Huizinga (wie Anm. 1), 102. 5 Herwig Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung 378–907, Wien 1987, bes. 18.



1. Der Umfang der österreichischen Geschichte

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nischen Ordnung, in den Umbrüchen von Reformation und Gegenreformation ebenso wie in jenen der napoleonischen Ära oder der nationalsozialistischen Zeit, im Übergang vom Großreich zum Kleinstaat. Kein Umbruch von Dauer, vergleichbar etwa der Departementalisierung Frankreichs seit dem späten 18. Jahrhundert, ist zu verzeichnen. Der relativ stabile Umfang oder räumliche Rahmen der meisten Länder hat dazu beigetragen, dass die Landesgeschichtsschreibung, bei aller methodischen Innovation zumal der letzten Zeit, eine Art ruhenden Pol der Geschichtsschreibung in Österreich darstellt. Dies bedeutet nicht, dass nicht in Einzelfällen grundsätzliche Optionen zu treffen sind; ich denke etwa an die Entscheidung, in die Darstellungen der Geschichte Tirols die Geschichte Südtirols auch nach der staatlichen Trennung von Österreich miteinzubeziehen.6 Die Erweiterung von landesgeschichtlichen Perspektiven durch Untersuchungen zur komparativen Ländergeschichte einerseits,7 und andererseits durch grenzüberschreitende regionalgeschichtliche Studien, wie sie nicht zuletzt für die der Landesbildung vorhergehenden Epochen von Herwig Wolfram betrieben werden,8 kann für die Darstellung unserer Geschichte nur positiv zu Buche schlagen. Aber auch die Erweiterung, die in den vergangenen Jahren einerseits im burgenländisch-steirisch-ungarisch-kroatischen Bereich (Mogersdorfer Symposien), andererseits im kärntnerisch-slowenischen Bereich9 durch grenzüberschreitende Regionalgeschichtsforschung erfolgte, sei gebührend genannt. Es gibt nun einen zweiten Traditionsstrang, nämlich jenen der gemeinsamen österreichischen Geschichte. Im Unterschied zur Geschichte unserer Länder ist die österreichische Geschichte ein in räumlichem Umfang wie in zeitlicher Kontinuität instabiler Traditionsstrang. Ich weiß: Nur mehr wenige Jahre trennen uns vom 6 Vgl. etwa Josef Riedmann. Geschichte Tirols, 2. Aufl. Wien 1988; ebenso die von Josef Fontana u.a. herausgegebene Geschichte des Landes Tirol, Bd. 4/I (= Südtirol 1918–1970 von Othmar Parteli) und Bd. 4/II (= Das Bundesland Tirol 1918–1970 von Josef Riedmann), Bozen–Innsbruck–Wien 1988. 7 Ich möchte auf den interessanten, von Alfred Ableitinger besorgten Band zur vergleichenden Verfassungs- und politischen Geschichte der Länder in der Frühzeit der Ersten Republik hinweisen: Demokratisierung und Verfassung in den Ländern 1918–1920 (= Studien zur Zeitgeschichte der österreichischen Länder 1, hg. v. d. Österreichischen Forschungsgemeinschaft, St. Pölten–Wien 1983). 8 Vgl. mit weiteren Hinweisen Wolfram (wie Anm. 5). 9 Vgl. u.a.: Helmut Rumpler, Hg., Kärntens Volksabstimmung 1920. Wissenschaftliche Kontroversen und historisch-politische Diskussionen anläßlich des internationalen Symposions in Klagenfurt 1980, Klagenfurt 1981, sowie Helmut Rumpler u. Arnold Suppan, Hg., Die Deutschen in Slowenien, Wien 1988.

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1. Der Umfang der österreichischen Geschichte

Allerheiligentag des Jahres 1996, dem 1000. Jahrestag der Schenkungsurkunde Ottos III. an das Hochstift Freising, betreffend Neuhofen an der Ybbs, mit der ersten Nennung des Namens Ostarrichi.10 Die Geschichtswissenschaft sollte sich dem Jahr 1996 mit strengster Selbstprüfung nähern. Der Druck von Medien und Öffentlichkeit zur Konstruktion allzu direkter Traditionsstränge, allzu harmonisierender Verbindungslinien könnte groß sein.11 Die überzeugendste Einladung zu solcher Selbstprüfung kommt von Erich Zöllner. Seine erstmals 1965 vorgelegten Überlegungen über Formen und Wandlungen des Österreichbegriffs gehören – ich habe dies bereits aus anderem Anlass betont und wiederhole es hier – zur Pflichtlektüre für alle, denen österreichische Geschichte wichtig ist.12 In seinen Studien zum Österreichbegriff 1980, mit besonderem Bezug auf die Spätzeit der Habsburgermonarchie ergänzt und 1988 als Buch erschienen,13 hat Zöllner von den „sehr starken, oft dramatischen Änderungen seines Umfanges“ und den „entsprechenden Metamorphosen seines Inhalts“ gesprochen. Zöllner hat daran die Frage angeschlossen: „Wie weit wurde durch die vielfachen Schwankun10 Vgl. insbes.: Alphons Lhotsky. Ostarrichi, in: ders., Aufsätze und Vorträge, 1: Europäisches Mittelalter, Das Land Österreich, Wien 1970, 221–244. Nützlich der Katalog der Ostarrichi Gedenkstätte in Neuhofen a. d. Ybbs: Ostarrichi Gedenkstätte Neuhofen/Ybbs, Neuhofen/ Ybbs o.J. (1977), mit Beiträgen von Heide Dienst, Anna Maria Drabek, Adam Wandruszka und Max Weltin. 11 Schon 1980 hat Herwig Wolfram, obzwar ohne Bezug auf ein bestimmtes Gedenkdatum und noch weitere Zeiträume einbeziehend, eine Warnung ausgesprochen, die weiterhin relevant ist: „Das legitime Interesse der Öffentlichkeit an einer Vorgeschichte Österreichs im eigentlichen Wortsinn darf selbstverständlich nicht dazu führen, daß man eine deterministische Betrachtungsweise zuläßt, wonach der österreichische Raum gleichsam naturgegeben feststand und sich die heutige Republik darauf und daraus notwendig entwickelte. Ein Vergleich der Grenzen der Austria Romana mit denjenigen des heutigen Österreich zeigt eine erstaunlich geringe Kontinuität und beweist, wie wenig naturgegeben die Grenzen unseres Landes tatsächlich sind. Solche Grenzen, sofern es sie überhaupt gibt, verlaufen innerhalb Österreichs, sind also in unserem Land eher eingeschlossen, als daß sie es umfangen.“ Herwig Wolfram, Die Geschichte Österreichs vor der Entstehung Österreichs, in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 117, 1980, 110. 12 Gerald Stourzh, Vom Reich zu Republik. Studien zum Österreichbewusstsein im 20. Jahrhundert, Wien 1990, 27. 13 Erich Zöllner, Formen und Wandlungen des Österreichbegriffs (1965), in: ders., Probleme und Aufgaben der österreichischen Geschichtsforschung, Wien 1984, 13–38; ders., Perioden der österreichischen Geschichte und Wandlungen des Österreich-Begriffs bis zum Ende der Habsburgermonarchie, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, III: Die Völker des Reiches, hg. v. Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, Wien 1980, 1–32; ders., Der Österreichbegriff – Formen und Wandlungen in der Geschichte, Wien 1988.



1. Der Umfang der österreichischen Geschichte

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gen, durch die oft sehr komplexe Struktur des jeweils als Österreich bezeichneten Gebildes das Österreichbewußtsein bedingt, gefärbt und – beeinträchtigt?“14 Es ist weder meine Absicht noch meine Aufgabe, Zöllners Darstellung der Wandlungen des Österreichbegriffs von der Ostarrichi-Urkunde über die Herrschaft zu Österreich, die domus Austriae, die monarchia austriaca bis in die Gegenwart der Zweiten Republik nachzuzeichnen. Doch vor dem Hintergrund dieser als bekannt vorausgesetzten Wandlungen möchte ich anhand von sieben Reflexionen zur österreichischen Geschichte zwischen 1853 und 1988, in welchen sich sowohl historiographische Bestandsaufnahmen als auch programmatische Leitlinien zur Darstellung österreichischer Geschichte finden, die Problematik des Umfanges der österreichischen Geschichte illustrieren und daraus einige vorläufige Schlussfolgerungen ziehen. Es handelt sich um folgende sieben Schriften zur österreichischen Geschichte: • Josef Alexander von Helfert, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Österreich (1853); • Hans von Voltelini, Die österreichische Reichsgeschichte – ihre Aufgaben und Ziele (1901); • Otto Brunner, Zur Frage der österreichischen Geschichte (1944); • Alphons Lhotsky, Der Stand der österreichischen Geschichtsforschung und ihre nächsten Ziele (1949); • Adam Wandruszka, Zur Problematik der österreichischen Geschichte (1970); • Gerhard Botz, Eine deutsche Geschichte 1938 bis 1945? Österreichische Geschichte zwischen Exil, Widerstand und Verstrickung (1986); und • Ernst Hanisch, Überlegungen zu einer Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert (1988). Josef Alexander von Helfert ging 1853 davon aus, dass die „alte Grenze, welche zwischen den zwei Hälften der Monarchie gelaufen war“, endlich verwischt sei.15 Es gebe nun ein Großösterreich. Während die Heimatkunde der Kenntnis des jeweiligen Kronlandes diene, diene die Vaterlandskunde der Kenntnis des „Gesamtvaterlandes von Groß-Österreich“16. Es verdient hinzugefügt zu werden, 14 Zöllner, Formen und Wandlungen (wie Anm. 13), 13, 14. 15 Josef Alexander von Helfert, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Österreich, Prag 1853, 50. 16 Helfert, ebd. 36. Die enge Verbindung von Vaterland und Herrscherhaus hatte besonders seit den napoleonischen Kriegen und der Annahme des österreichischen Kaisertitels 1804 zu einer

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1. Der Umfang der österreichischen Geschichte

dass diese Konzeption der österreichischen Geschichte als Gesamtstaatsgeschichte, obgleich von Helfert im Neoabsolutismus präsentiert, ihre Wurzeln im späten Vormärz hatte. Die Konzeption der „vaterländischen“ (= österreichischen) Geschichte als Geschichte der Gesamtmonarchie ist deutlich in Joseph Chmels Akademievortrag vom 24. November 1847, wonach die „vaterländische Geschichte“ die „vollständige Kunde der Länder- und Völkerschicksale“ sei17. Sie ist auch deutlich in dem Plan der Akademie – eine „kaiserliche“, also großösterreichische Akademie, wie Alphons Lhotsky zu Recht vermerkt hat18 –, „österreichische Geschichtsquellen“ in fünf verschiedenen Gruppen, Fontes rerum Austriacarum, Bohemicarum, Hungaricarum, Polonicarum et Italicarum, herauszugeben.19 Helfert verstand im Jahre 1853 den Ausdruck „national“ nicht im „ethnografischen“, sondern im politischen Sinn. „Nationalgeschichte“, so Helfert, „ist uns daher nicht die Geschichte irgend einer racenmäßig ausgezeichneten Gruppe aus den vielzüngigen und vielfarbigen Stämmen des Menschengeschlechts, sondern die Geschichte einer territorial und politisch zusammengehörenden, von dem Bande der gleichen Autorität umschlungenen, unter dem Schutze des gleichen Gesetzes verbundenen Bevölkerung. Österreichische Nationalgeschichte ist uns die Geschichte des österreichischen Gesammtstaates und Gesammtvolkes ...“20. Wenngleich sich Helferts am Begriff der Staatsnation, nicht der Sprachnation Ausweitung des Österreichbegriffs geführt. Wichtig ist die Begriffsbildung im kaiserl. Patent vom 11. August 1804, in dem sich Kaiser Franz als „Regent des Hauses und der Monarchie von Österreich“ bezeichnet und ausdrücklich vom „vereinigten Österreichischen Staaten-Körper“ die Rede ist. Quelle abgedruckt bei Edmund Bernatzik, Hg., Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, 2. Aufl. Wien 1911, 49–52. 17 Joseph Chmel, (unbetitelter) Vortrag in der historisch-philologischen Klasse der Akademie der Wissenschaften, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, erstes Heft, Wien 1848, 60. Zu Chmel vgl. bes. Alphons Lhotsky, Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854–1954 (= Erg.-Bd. XVII der Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung), Graz–Köln 1954, 1–3. 18 Alphons Lhotsky, Österreichische Historiographie, Wien 1962, 155. 19 Sitzungsberichte (wie Anm. 17) 33. Dieser Plan wurde vom Präsidenten Hammer-Purgstall am 2. Februar 1848 verkündet. Man merkt die verschiedene Bedeutung von „österreichisch“: Einerseits sollen eben die Geschichtsquellen der österreichischen Monarchie in fünf historischen Ländergruppen herausgebracht werden, andererseits sind die „res Austriacae“ nur einer von fünf Teilen (die häufig als „deutsche Erbländer“ bezeichnete Ländergruppe betreffend); man beachte, dass es keinen Hinweis auf eine südslawische Gruppe gibt – ein Indiz für die historisch-territoriale, nicht etwa ethnisch-sprachliche Bedeutung jener fünf Gruppen! Die Südslawen zählten eben einerseits zu den „deutschen“ Erbländern, andererseits zu den Ländern der Stephanskrone. 20 Helfert (wie Anm. 15) 1–2.



1. Der Umfang der österreichischen Geschichte

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orientierte Vorstellung von Nationalgeschichte nicht erfüllen sollte, ist es doch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten, und zwar noch weit in die Epoche des neuen Dualismus hinein, zu einer gesamtösterreichischen Geschichtsschreibung gekommen, allerdings stärker deutsch-zentralistisch orientiert. Erich Zöllner hat in seiner 1981 vorgelegten Studie über Gesamtdarstellungen der Geschichte Österreichs von Franz Martin Mayer, Franz von Krones und Alfons Huber gesagt, dass sie die Umbildung der Struktur der Monarchie nicht recht zur Kenntnis nahmen und dass sich ihr schwarz-gelber Patriotismus, zu dem sie sich mit einigen Reserven doch bekannten, „auf den Gesamtstaat“ bezog und „nicht bloß auf die im Reichsrat vertretenen Länder Cisleithaniens“21. Dies gilt auch für Hermann Ignaz Bidermann und dessen Geschichte der österreichischen Gesamtstaatsidee, die, Torso geblieben, im Abstand von 22 Jahren 1867 und 1889 erschien. „Denn in einer Zeit, wo die österr. Gesammtstaatsidee ihrer Verwirklichung ferner als je steht“, so schrieb Bidermann verbittert 1889, „wo das Interesse an ihr fast nur in militärischen Kreisen noch sich rege erhält, – gehört Selbstverleugnung dazu, um nicht bei einer Arbeit zu erlahmen, die mit solch’ trüben Betrachtungen verbunden ist.“22 Zu den gesamtösterreichischen Geschichtsdarstellungen möchte ich den gerafften, doch sehr ausgewogenen Überblick hinzufügen, den Heinrich von Zeißberg für das Kronprinzenwerk „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ (Bd. 1, 1887) geschrieben hat. Aus der unter Ferdinand I. erfolgten Verbindung Böhmens und Ungarns mit Deutsch-Österreich, wie Zeißberg – eine ältere und uns ungeläufige Wortbedeutung von Deutsch-Österreich verwendend – die Erblande bezeichnete, erst aus dieser Vereinigung, so Zeißberg, ging „Österreich als selbständiger europäischer Staat hervor, auf ihr beruht seine welthistorische Stellung, und in der Erfüllung der Idee, welche dieser Vereinigung zugrunde lag, erfüllte fortan Österreich zugleich seinen Beruf“.23

21 Erich Zöllner, Bemerkungen zu den Gesamtdarstellungen der Geschichte Österreichs, in: ders., Probleme und Aufgaben der österreichischen Geschichtsforschung (wie Anm. 13) 93. 22 Hermann Ignaz Bidermann, Geschichte der österreichischen Gesammt-Staats-Idee 1526–1804, II. Abteilung 1705–1740, Innsbruck 1889, IV. 23 Heinrich von Zeißberg, Geschichtliche Übersicht, in: Die österreichisch-ungarische Mo­ narchie in Wort und Bild. Auf Anregung und unter Mitwirkung Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Erzherzog Rudolf. Übersichtsband, 2. Abteilung: Geschichtlicher Theil, Wien 1887, 33–256, hier 66.

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1. Der Umfang der österreichischen Geschichte

Ein ganz anderer Geist, ein ganz anderer Österreichbegriff durchweht Hans von Voltelinis Schrift vom Jahre 1901 über die österreichische Reichsgeschichte, ihre Aufgaben und Ziele.24 Mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 war der Österreichbegriff „in eine permanente Krisensituation“ geraten, wie Zöllner es 1980 formuliert hat,25 und es soll hier auf einige Probleme der Ausgleichsära und ihrer historiographischen Bewältigung etwas ausführlicher eingegangen werden. Das Dilemma von 1867 ist am prägnantesten von Alfred von Arneth formuliert worden. Es handelte sich darum, so Arneth, ob Ungarn eine Stellung in Österreich oder neben Österreich einnehmen sollte.26 Es erhielt sie zunehmend neben Österreich. An dieser Stelle möchte ich der Legende entgegentreten – die nicht weiter perpetuiert werden sollte – die westliche Reichshälfte wäre bis 1915, bis zu der bekannten Wappen-Verordnung, namenlos gewesen. Abgesehen davon, dass schon im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom Dezember 1867 eine österreichische, die ungarischen Länder ausschließende Staatsbürgerschaft normiert war, führte die Kurzform des Namens der Doppelmonarchie, „Österreich-Ungarn“ schon recht bald dazu, eben „Österreich“ für die eine und „Ungarn“ für die andere Hälfte zu sagen. Schon 1874 wurde der Vertrag vom 9. Oktober 1874, betreffend die Gründung eines allgemeinen Postvereins, RGBl. Nr. 88/1875, von einem Vertreter für „Österreich“ und ihm folgend einem anderen Vertreter für „Ungarn“ unterzeichnet, ebenso firmieren „Österreich“ und „Ungarn“ als Mitglieder des mit Vertrag vom 1. Juni 1878 gegründeten Weltpostvereins. Den völkerrechtlichen Aspekt der Entwicklung eines gegenüber dem Kaisertum Österreich im Umfang reduzierten Österreichbegriffs bespreche ich an anderem Ort.27 Doch sei hier als Beispiel für das Eindringen einer im Umfang reduzierten „dualistischen“ Österreich-Vorstellung auf das illustrierte Widmungsblatt des 1887 er24 Hans von Voltelini, Die österreichische Reichsgeschichte, ihre Aufgaben und Ziele, in: Deutsche Geschichtsblätter. Monatsschrift zur Förderung der landesgeschichtlichen Forschung, 2, 1900/01, 97–108. 25 Zöllner, Perioden der österreichischen Geschichte. Habsburgermonarchie III (wie Anm. 13), 29. 26 Alfred Ritter von Arneth, Aus meinem Leben, 2, Stuttgart 1893, 199. 27 Dies erfolgt in meiner Abhandlung Die dualistische Reichsstruktur, Österreichbegriff und Österreichbewusstsein 1867–1918 von 1991, abgedruckt in diesem Bande, S. 105–124 [Ergänzung 2010: Ausführlich zur Frage der Vertragsterminologie: Gerald Stourzh, Der Dualismus 1867–1918. Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Donaumonarchie, Abschnitt 3: Ungarn und „Österreich“ neben/anstatt Österreich-Ungarn. Zur Evolution der Vertragspraxis. In: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, hg. v. Helmut Rumpler u. Peter Urbanitsch, Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, 1. Teilband, Wien 2000, 1197–1222.]



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schienenen ersten Bandes des Kronprinzenwerkes „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ aufmerksam gemacht. Das Blatt mit der Widmung an Franz Joseph zeigt rechts bzw. links vom Brustbild Franz Josephs die österreichische Kaiserkrone und die Stephanskrone und zwei einander gegenüberstehende Frauengestalten, die ganz offensichtlich als „Austria“ und als „Hungaria“ zu verstehen sind. Wenn auf diese relativ frühzeitige dualistische Ikonographie hingewiesen wird, so bleibt natürlich unbestritten, dass es – bis zum Ende der Monarchie – ein „schwarz-gelbes“ Großösterreichertum gegeben hat, das „Österreich“ mit der Gesamtmonarchie identifiziert hat, und dass – unter der nachhaltigen Wirkung literarischer Werke von Joseph Roth über Franz Theodor Csokor bis Robert Musil – bis in die Gegenwart im Sprachgebrauch die Identifizierung von „Habsburgerreich“ und „Altösterreich“ – gewissermaßen unter Ausklammerung des dualistischen Halbjahrhunderts – größte Verbreitung findet. Voltelinis Aufsatz war veranlasst durch die 1893 erfolgte Einführung des Prüfungsfaches „Österreichische Reichsgeschichte“ für die (erste) rechtshistorische Staatsprüfung des rechts- und staatswissenschaftlichen Studiums; die „österreichische Reichsgeschichte“ wurde im Gesetz selbst als „Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts“ definiert.28 Voltelinis Aufsatz reflektiert – übrigens in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit Helferts großösterreichischen Auffassungen, die dieser ja auch noch fast 50 Jahre nach seiner Schrift von 1853 eifrig verfocht – eine im Umfang bereits wieder reduzierte, die innere Entwicklung Transleithaniens ausklammernde Konzeption von österreichischer Reichsgeschichte. Voltelini stellte die Frage, „ob die österreichische Reichsgeschichte eine Geschichte der Gesamtmonarchie und der beiden Staaten, aus denen dieselbe besteht, sein soll, wie von mancher Seite betont worden ist,29 oder ob sie neben der Gesamtmonarchie nur die staatsrechtliche Entwicklung der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder vertreten soll“. Er beantwortete die Frage eindeutig im Sinne einer engeren, Ungarn ausklammernden Interpretation: „Ungarn ist nach den Ausgleichsgesetzen von 1867 ein in seinen inneren Angelegenheiten selbständiger und unabhängiger Staat. Die Geschichte seiner Verfassung und Verwaltung kann 28 Gesetz v. 20. April 1893, betreffend die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien und ­Staats­prüfungen, RGBl. Nr. 68/1893. 29 Voltelini bezog sich hier ausdrücklich auf Josef Alexander von Helfert, und zwar auf zwei von dessen Rezensionsartikeln in: Allgemeines Literaturblatt 6 (1897) Sp. 7–9 (Rezension von Arnold Luschins Österreichischer Reichsgeschichte), sowie 8 (1899) Sp. 501–502 (Rezension von Oswald Balzers Österreichischer Verfassungsgeschichte im Grundriß in polnischer Sprache: Historia ustroju Austrii w zarysie, Lemberg 1899).

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daher nur insoweit für die österreichische Reichsgeschichte von Belang sein, als die mit Österreich gemeinsamen Institutionen in Betracht kommen, und als die ungarischen Verhältnisse auf die Entwicklung des österreichischen Staatsrechtes zurückgewirkt haben.“30 Voltelinis reduzierte Auffassung einer österreichischen „Reichsgeschichte“ veranlasst uns, einen Blick auf den Kontext der Situation zu werfen, in der das Fach der „österreichischen Reichs- und Rechtsgeschichte“ an den österreichischen (cisleithanischen) Universitäten vorbereitet wurde. Alphons Lhotsky hat in seiner „Österreichischen Historiographie“ mit Recht bemerkt, die Art, wie der neue Gegenstand von der Unterrichtsbehörde programmatisch gefordert wurde, habe ganz dem Standpunkt der Verwaltungsjuristen entsprochen; sie mute wie ein später Anfall von Josephinismus an.31 Aber – und das halte ich für wesentlich, und das scheint bisher nicht ausreichend beachtet worden zu sein – es war jetzt, post 1867, ein cisleithanischer Josephinismus, es war ein gewissermaßen reduzierter Josephinismus, der nunmehr am Werk war. 1876 setzte das k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht ein Preisausschreiben für ein Lehrbuch der österreichischen Reichs- und Rechtsgeschichte aus. In den Bedingungen des Preisausschreibens wurde wohl die Darstellung der Geschichte des Gesamtreichs insofern erwartet, als die Darstellung „jener öffentlichen Akte und Begebenheiten, durch welche die Monarchie im Laufe der Zeiten zu ihrem heutigen Länderbestande und Machtbesitze erwuchs“, verlangt wurde. Doch dann hieß es weiter, die Geschichte der „verschiedenen, im österreichischen Staate vereinigten Volksstämme“ sei ausführlich erst von dem Momente ihrer Vereinigung darzustellen; es sind allerdings bloß die cisleithanisch-österreichischen Volksstämme gemeint, denn das Unterrichtsministerium betonte ausdrücklich: „Die Reichs- und Rechtsgeschichte der Länder der ungarischen Krone bildet keinen Gegenstand der Darstellung, und ist nur insoferne zu berücksichtigen, als es zur Darstellung der Geschichte der Monarchie als solcher erforderlich ist.“ Noch deutlicher tritt der cisleithanische Josephinismus in dem gleichzeitig redigierten Preisausschreiben für eine systematische Darstellung des öffentlichen Rechts zutage. Da heißt es ausdrücklich, das Recht der Länder der ungarischen Krone sei „zu übergehen, oder doch nur im historischen Teil bis zu dem Zeitpunkt zu verfolgen, wo diese Länder wieder zu politischer Selbständigkeit gelangten“, nämlich 1867. Diese Texte vom Jahre 1876 sind aufschlussreich. 30 Voltelini (wie Anm. 24), 103–104. 31 Lhotsky, Historiographie (wie Anm. 18), 205–206.



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Sie stammen ja keineswegs aus den letzten Jahren des dualistischen Systems, sondern aus dessen erstem Jahrzehnt; sie reflektieren die Teilungsideologie der deutschliberalen Partner des Ausgleichs von 1867.32 Nun erst können wir erkennen, dass Voltelini im Jahre 1901 diese Tendenz durchaus geteilt hat, als er das ungarische Recht aus seiner Konzeption einer österreichischen Reichs- und Rechtsgeschichte weitgehend ausklammerte. „Das Entscheidende ist“, so Voltelini, „daß sich die Rechte der beiden Teile der Monarchie, das gemeinsame Staatsrecht ausgenommen, formell wenigstens und zum guten Teil auch materiell, gerade so selbständig gegenüberstehen, wie die Rechte fremder Staaten, daß die Rechtsbildung und Weiterentwicklung nicht eine gemeinsame, sondern eine durchaus unabhängige ist. Damit entfällt für den österreichischen Rechtshistoriker die Nötigung, sich mit ungarischem Privat-, Prozeß-, Straf-, Verwaltungsrecht usw. zu beschäftigen, Dingen, die er ganz ruhig seinen Kollegen jenseits der Leitha überlassen darf.“33 Voltelinis Aufsatz von 1901 zeigt eine merkwürdige, aber keineswegs auf ihn allein beschränkte Inkonsequenz. Trotz seiner, wie ich es nennen möchte, reduktionistischen Abweisung der Relevanz ungarischer innerer Entwicklungen betonte er gleichzeitig, dass dem österreichischen Historiker ohne Kenntnis der inneren politischen Geschichte die äußere unverständlich bleiben werde.34 Damit ist aber ein bis heute gravierendes Problem der österreichischen Geschichtsschreibung und auch ihrer Lehre angesprochen. Befassen wir uns mit der Geschichte der auswärtigen Beziehungen der Habsburgermonarchie, gehen wir vom Gesamtstaat aus; befassen wir uns mit den inneren Verhältnissen, blenden wir häufig weite Bereiche der Monarchie, vor allem die Länder der ungarischen Krone nach 1867, von mar32 Zu diesem Preisausschreiben vgl. Carl von Lemayer, Die Verwaltung der österreichischen Universitäten. Wien 1878, 207–209. Aus Akten im Allg. Verwaltungsarchiv geht hervor, dass das Preisausschreiben über österreichische Reichsgeschichte mit Verstreichen der Ende 1879 gesetzten Frist resultatlos abgelaufen ist. Österreichisches Staatsarchiv, Allg. Verwaltungsarchiv, Bestand Unterricht, Sammelakt 4167/1881. 33 Voltelini (wie Anm. 24), 104–105 Anm. 1. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Voltelini im Juni 1918 als Dekan der Wiener Juristischen Fakultät einen auf Edmund Bernatzik zurückgehenden Antrag an das Ministerium zu übermitteln hatte, es möge ein Lehrauftrag für ungarisches Staatsrecht an Gustav Turba vergeben werden. Aus der Begründung: „Das, was wir brauchen, ist eine Verbreitung der Kenntnisse über die Geschichte des ungarischen Staatsrechts; denn in dieser Hinsicht fehlt es sehr bei den Gebildeten, selbst bei den juristisch Gebildeten in Österreich.“ Das war allerdings vier Monate vor Auflösung der Doppelmonarchie! Österreichisches Staatsarchiv, Allg. Verwaltungsarchiv, Bestand Unterricht 4, Fasz. 585, Zl. 22386/1918, Dep. VII. 34 Voltelini (wie Anm. 24). 105.

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kanten Ausnahmen abgesehen (z.B. Armeebefehl von Chlopy 1903, Wahlrechtsreformvorschlag Kristóffys 1905) aus35. Als kurzer Exkurs sei hinzugefügt, dass die Problematik einer österreichischen Reichsgeschichtsschreibung im Zeitalter der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht auf die Einbeziehung oder Nichteinbeziehung der inneren Entwicklung der Länder der Stephanskrone beschränkt war. Es gilt, ein Missverständnis auszuräumen, das sich in Fritz Fellners Aufsatz über die Historiographie zur österreichisch-deutschen Frage von 1982 findet. Entgegen Fellners Ansicht waren es nicht nur die Deutschen des Habsburgerreiches, die Handbücher zur österreichischen Reichsgeschichte verfassten.36 1899 legte Oswald Balzer in Lemberg in polnischer Sprache eine Österreichische Reichsgeschichte im Grundriss vor, die übrigens 1908 in zweiter Auflage erschien; Josef Alexander von Helfert hat sie äußerst positiv rezensiert.37 Es gehört zu den Schwierigkeiten nicht nur der österreichischen Reichsgeschichte, sondern der österreichischen Geschichtsschreibung überhaupt, dass Sprachbarrieren die Auseinandersetzung mit Autoren und Werken des gleichen Faches, ja sogar nach gleichen Lehrplänen verhinderten. Voltelini konnte

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Die Ausklammerung der Länder der ungarischen Krone nach 1867 und als Konsequenz davon die Reduktion der Kenntnisse über die andere Reichshälfte oder den anderen Teilstaat der Doppel-Monarchie war bereits ein Problem der Zeitgenossen, und zwar als Ergebnis getrennter Kompetenzen und statistischer Erhebungen. Schon etwa zehn Jahre nach dem Ausgleich erschien ein „Atlas der Urproduction Österreichs“, verfasst und herausgegeben auf Anordnung des k.k. Ackerbauministeriums, redigiert von Josef Ritter Lorenz von Liburnau (o.J., jedoch 1876/77); in dessen Karten sind nur die „cisleithanischen“ Teile der Monarchie voll ausgefüllt, die transleithanischen Teile verbleiben, bei Kenntlichmachung der Grenzen der Gesamtmonarchie, als weißer Fleck! Man beachte, dass bereits zu diesem Zeitpunkt in einer offiziellen Publikation Cisleithanien ohne Weiteres als „Österreich“ bezeichnet wurde! 36 Fritz Fellner, Die Historiographie zur österreichisch-deutschen Problematik als Spiegel der nationalpolitischen Diskussion, in: Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Heinrich Lutz und Helmut Rumpler (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 9), Wien 1982, 33–59, hier 38. 37 Oswald Balzer, Historia ustroju Austrii w zarysie, 1. Aufl. Lemberg 1899, 2. Aufl. 1908; vgl. auch oben Anm. 29. Balzer war seit 1889 Ordinarius für Rechtsgeschichte an der Universität Lemberg und im Studienjahr 1897/98 Rektor. Balzer, der u.a. in Berlin bei Heinrich Brunner, Droysen und Schmoller studiert hatte, war der erste slawische Gelehrte, der öffentlich Theodor Mommsens beleidigenden Äußerungen gegen das tschechische Volk in dessen „Brief an die Deutschen in Österreich“ während der Badeni-Krise 1897 entgegentrat. Zur wissenschaftlichen Bedeutung Balzers mit bibliographischen Hinweisen siehe Berthold Sutter, Theodor Mommsens Brief „An die Deutschen in Österreich“ (1897), in: Ostdeutsche Wissenschaft, 10, 1963, 152–225, hier 183–189.



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sich zu Balzer nur aufgrund von Helferts Rezension äußern.38 Arnold Luschin gab zu, dass er die österreichische Reichsgeschichte Balzers ebenso wie die in tschechischer Sprache geschriebene österreichische Reichsgeschichte des Prager Professors Bohuš Rieger „nach seinen Sprachkenntnissen“ nicht so benützen konnte, wie er es gewünscht hätte.39 Von 1901 bis 1944, von Voltelini zu Otto Brunners Reflexionen „Zur Frage der österreichischen Geschichte“ ist ein großer Sprung. Dazwischen lag der Zusammenbruch Österreichs im bisherigen Wortsinn und Umfang – egal, ob nun die ganze Monarchie oder nur deren nichtungarischer Teil als Österreich bezeichnet wurden –, und zwei Jahrzehnte später das Ende der in ihrem Umfang so radikal reduzierten Staatlichkeit der Ersten Republik Österreich. Die harmonisierenden Kontinuitätstendenzen im Geschichtsbewusstsein der Zweiten Republik haben eher dazu geführt, die Bruchlinien von 1918/19 unterzubewerten. Sie waren stärker, als uns dies in der Gegenwart üblicherweise bewusst ist. Es sei an eine Äußerung Otto Bauers vom Jahre 1923 erinnert: „Der Friedensvertrag raubte der Republik selbst ihren Namen. Wir hatten sie in den Oktobertagen, in den Tagen des Selbstbestimmungsrechts der Völker, Deutschösterreich genannt. ... Der Friedensvertrag zwang uns, der Republik den alten Namen Österreich wiederzugeben; der Imperialismus zwang uns den verhaßten Namen auf ...“40 Wie sehr gerade in den zwei Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch Altösterreichs die österreichische Historiographie im Banne verschiedener Ausprägungen von „Reichsromantik“ stand, wie sehr gerade in der Zwischenkriegszeit die Verbindung der Idee der deutschen „Kulturnation“ mit verschiedenen „Reichs“Vorstellungen und die versuchte Aufarbeitung der Konfrontation zwischen Habsburg und Hohenzollern zu großdeutschen, schließlich bei Heinrich von Srbik zu 38 Voltelini (wie Anm. 24), 103, Anm. 1. 39 Vgl. die Bemerkung bei Arnold Luschin von Ebengreuth, Handbuch der österreichischen Reichsgeschichte 1: Österreichische Reichsgeschichte des Mittelalters, 2. Aufl. Bamberg 1914, S. XV (im Vorwort zur 2. Auflage). Bei der genannten Reichsgeschichte B. Riegers (eines Enkels Palackýs) handelt es sich um folgendes Werk: Bohuš Rieger, Řišské Dějiny Rakouské. Dějiny státního vývoje a veřejneho práva, Prag 1908. Ein weiterer tschechischer Rechtshistoriker, der sich mit der Problematik der österreichischen Reichs- und Rechtsgeschichte befasst hat, ist Jaromir Haňel gewesen, der, seit 1874 an der neu gegründeten Universität Agram tätig, 1881, knapp vor der Teilung der Prager Universität, trotz eines mit 8:6 Stimmen gegen ihn ausge­ fallenen Votums der Prager Juristenfakultät, von der Regierung an die Prager Universität berufen wurde. Zur Auseinandersetzung um die Berufung Haňels nach Prag hoffe ich, aufgrund unveröffentlichter Quellen an anderer Stelle ausführlicher referieren zu können. 40 Otto Bauer, Die österreichische Revolution, 1923, Neuausgabe Wien 1965, 172.

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„gesamtdeutschen“ Interpretationsmustern führte, ist mehrfach analysiert worden und bedarf hier keiner ausführlicheren Würdigung.41 Otto Brunner verfasste seine Reflexionen zur Frage der österreichischen Geschichte aus Anlass des Abschlusses des Uhlirz’schen Handbuchs der Geschichte Österreichs, und zu einem Zeitpunkt, in dem nicht nur das im März 1938 zunächst gebildete Land Österreich, sondern auch schon die „Reichsgaue der Ostmark“ der Sammelbezeichnung der „Donau- und Alpengaue“ weichen mussten42. Brunners Reflexionen43 sind aus zwei Gründen von Interesse. Erstens meinte Brunner, der „einheitliche Rahmen einer österreichischen Geschichte als Geschichte des ,Staates‘ Österreich“ sei „längst sinnlos geworden“. Daher sei das Uhlirz’sche Handbuch „noch einem Typus österreichischer Geschichte zuzurechnen“, der „notwendigerweise einer früheren Zeit“ angehöre.44 Hinter Brunners Kritik steckte aber mehr – nämlich seine Ablehnung der Kategorie des Staates, wie sie ja schon in „Land und Herrschaft“ deutlich geworden war, und seine Befürwortung des Primats des Volkes. Die geschichtliche Leistung der Deutschen in Österreich sei ein dringliches Thema, schrieb Brunner. „Was soll aber hier Österreich heißen?“, fragte er weiter.45 Die Geschichte des österreichischen Deutschtums werde im Wesentlichen als „Landes- und Volksgeschichte“ zu schreiben sein. Man brauche sich nur die Landesforschung der Alpenländer, etwa 41 Nur auf einige Titel von besonderem Interesse, teils aus der Zwischenkriegszeit selbst, teils aus dem Bereich der rezenten historiographischen Analyse, sei eigens hingewiesen: Eine katholisch geprägte Variante des gesamtdeutschen Interpretationsmusters (mit stärkerer Berücksichtigung der „lateinischen“ Komponente der Geschichte der Habsburgermonarchie, doch gleichwohl die deutsche Kulturmission Österreichs in Ostmitteleuropa betonend) ist: Hugo Hantsch, Österreich – Eine Deutung seiner Geschichte und Kultur, Salzburg 1934. Srbiks eigene Interpretation am dichtesten in: Heinrich von Srbik, Österreich in der deutschen Geschichte, München 1936. Zur historiographischen Aufarbeitung in der Gegenwart siehe v.a. Fritz Fellner, Die Historiographie zur österreichisch-deutschen Problematik (wie oben Anm. 36); die (inhaltlich über den Titel weit hinausgehende) Studie von Günther Fellner, Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft. Grundzüge eines paradigmatischen Konflikts (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften XV), Wien–Salzburg 1985, leidet unbeschadet ihres Materialreichtums an einem akkusatorischen Gestus. 42 Hierzu Radomir Luža, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, Wien–Köln– Graz 1977, 253, Anm. 94. 43 Otto Brunner, Zur Frage der österreichischen Geschichte, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 55, 1944, 433–439. Band IV von Mathilde Uhlirz, Handbuch der Geschichte Österreichs, war 1944 in Graz erschienen. 44 Ebd. 439. 45 Ebd. 435.



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der Steiermark oder Tirols, zu vergegenwärtigen, oder die Erforschung der Geschichte der Sudetenländer, um zu sehen, „daß die Zugehörigkeit dieser Gebiete zu Österreich doch nur ein Teilproblem bestimmter neuerer Jahrhunderte und nicht mehr“ ausmache, daß es gar nicht möglich sei, ihre Geschichte in die des „Deutschösterreichertums“ einzuordnen.46 Mit Recht hat also Othmar Hageneder kürzlich bemerkt, dass sich Brunner damals gegen das Konzept einer österreichischen Geschichte ausgesprochen habe.47 In der Studie von 1944 ist – wie schon in den ersten drei Auflagen von „Land und Herrschaft“ (1939, 1942 und 1943) – ein Primat der „Volksgeschichte“ festzustellen. Brunner ging so weit, den Rahmen der österreichisch-ungarischen Monarchie selbst für eine Geschichte des auf ihrem Boden sesshaft gewordenen Deutschtums abzulehnen; er meinte, dass, wenn man nach der höheren geschichtlichen Einheit suche, der die Volksgeschichte der zeitweise in der Habsburgermonarchie zusammengefassten Volkstumsgruppen angehöre, diese eben der Geschichte des deutschen Volkes und vor allem der deutschen „Ostbewegung“ zugeordnet werden müsste.48 Auch für Brunners Skizze zum Problem der österreichischen Geschichte von 1944 gilt, was über den Volksbegriff in der ersten Auflage von „Land und Herrschaft“ gesagt worden ist, dass es sich durchaus um einen Volksbegriff im völkisch-nationalen Sinn gehandelt habe.49 Die Verselbständigung des Volksbegriffs, dessen völlige Lösung von staatlichen Umgrenzungen ist also die wichtigste Voraussetzung und Grundlage von Otto Brunners Ansicht der österreichischen Geschichte anno 1944. Diese Verselbständigung des Volksbegriffs – darauf möchte ich doch hier in Parenthese hinweisen – hatte wichtige, durchaus vornationalsozialistische, in die Zeit vor 1918 zurückreichende Wurzeln in der Auffassung, dass die „Volksstämme“ konstitutive Elemente Altösterreichs wären, als ein tertium weder der Dynastie und ihren Rechten noch den Ländern und ihren ständischen Traditionen unterzuordnen.50 In der Zwi46 Ebd. 436. 47 Othmar Hageneder, Der Landesbegriff bei Otto Brunner, in: Jahrbuch des italienischdeutschen historischen Instituts in Trient, 13, 1987, 163, Anm. 38. 48 Brunner, Zur Frage (wie Anm. 43), 436. 49 Ich teile die diesbezüglichen Auffassungen von Hans Boldt, Otto Brunner. Zur Theorie der Verfassungsgeschichte, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 13, 1987, 39–61, hier bes. 50, Anm. 26. Die Kritik Fritz Fellners an der von Boldt vorgetragenen Argumentation (ebd. 66) vermag ich nicht zu teilen. 50 Zur Bedeutung der „Volksstämme“ verweise ich auf meine Ausführungen – und die diesen zugrunde liegenden Quellenbelege – in: Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, bes. 14–16, 189–240, 244–246. Ich beabsichtige, zusätzliche Quellen zu dieser Frage vorzulegen. [Ergänzung 2010:

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schenkriegszeit kam es – nunmehr auch stärker im Deutschen Reich, ausgelöst durch die Aktualisierung der Minderheitenfrage nach Versailles – zu einer politischen Aufwertung des Volksbegriffs51, die alsbald ihre theoretische Untermauerung in der Lehre vom „eigenständigen Volk“ fand.52 Getrennt von der Geschichte der Deutschen in den Ländern der Habsburgermonarchie sah Otto Brunner ein zweites großes Thema, nämlich die Geschichte der Habsburger als Träger dynastischer Großmachtpolitik; das Problem des „Hauses Österreich“ vom späten 15. bis zum beginnenden 18. Jahrhundert sei ein großes Thema der europäischen Geschichte. Brunner meinte hiezu – durchaus die damaligen Tendenzen zu einer „Neuen Ordnung“ Europas reflektierend – eine gesamtdeutsche Geschichtsauffassung müsse sich notwendigerweise zu einer europäischen Sicht weiten.53 So war also eine merkwürdige Zweiteilung – in Volksgeschichte bzw. Landes- und Volksgeschichte einerseits, in Dynastie- und Großmachtgeschichte andererseits – die Folge von Brunners Überzeugung, dass der einheitliche Rahmen einer österreichischen Geschichte als Geschichte des „Staates“ Österreich längst sinnlos geworden sei. Nur fünf Jahre später, aber doch Lichtjahre entfernt, hat Alphons Lhotsky im September 1949 auf dem ersten österreichischen Archivtag über den Stand der österreichischen Geschichtsforschung und ihre nächsten Ziele referiert.54 Lhotsky vertrat die Ansicht, sich auf eine kleine Arbeit von Alphons Dopsch beziehend, dass die österreichischen Erblande, wie sie um 1500 unter Maximilian bestanden hätten, eine Einheit bildeten, die sich mit verhältnismäßig geringen Korrekturen durch alle die späteren Jahrhunderte hindurchgerettet hätte. „Spinnen wir diesen Gedanken weiter aus“, so Lhotsky 1949, „so erscheinen uns die vierhundert Jahre Hierfür siehe Gerald Stourzh, Ethnic Attribution in Late Imperial Austria: Good Intentions, Evil Consequences, in: The Habsburg Legacy. National Identity in Historical Perspective, hg. v. Ritchie Robertson und Edward Timms (= Austrian Studies, V), Edinburgh 1994, 67–83, sowie Kap. 14 des vorliegenden Bandes. 51 Hierzu vorzüglich Jürgen Kocka, Probleme der politischen Integration der Deutschen 1867 bis 1945, in: Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte und Gegenwart, hg. v. Otto Büsch und James J. Sheehan, Berlin 1985, 118–137, hier bes. 133–134. 52 Hierfür das Buch des nationalsozialistischen Volkstumtheoretikers Max Hildebert Böhm, Das eigenständige Volk, Göttingen 1932. Böhm war ord. Professor für Volkstheorie und Volkstumssoziologie an der Universität Jena. 53 Brunner, Zur Frage (wie oben Anm. 43), 438. 54 Alphons Lhotsky, Der Stand der österreichischen Geschichtsforschung und ihre nächsten Ziele, in: ders., Aufsätze und Vorträge, hg. v. Hans Wagner und Heinrich Koller, III: Historiographie, Quellenkunde, Wissenschaftsgeschichte, Wien 1972, 85–95.



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Großmacht im Verein mit Böhmen und Ungarn von 1526 bis 1918 als ein Zwischenspiel, an dessen Ende neuerdings jenes natürliche Ergebnis des Spätmittelalters, im großen und ganzen räumlich ähnlich, zutage trat und damit seine in sich selbst zurücklaufende echte Wesenhaftigkeit bewiesen hat.“ Liege es da nicht nahe, „die nähere Erkenntnis der historischen Substanz unseres gegenwärtigen Staates zunächst aus dem mittelalterlichen Staatsbildungsprozesse zu gewinnen“55? Lhotskys Idee von der Ähnlichkeit des Umfanges der habsburgischen Erblande am Ausgang des Mittelalters mit dem Umfang der Republik Österreich – nunmehr der Zweiten Republik – ist mehrfach übernommen worden, etwa 1954 von Stephan Verosta, der schrieb, dass das „Gebiet des österreichischen Territorialstaates“ bereits „um 1500 mit dem Gebiet der heutigen Republik Österreich nahezu kongruent“ war.56 1979 hat der englische Historiker Robert Evans in einem bedeutenden Buch über die Habsburgermonarchie zwischen 1550 und 1700 geschrieben, der Begriff „Österreich“ stelle Historiker häufig vor Probleme. Evans verwendet „Österreich“ als Synonym für die nicht-böhmischen und nicht-ungarischen Erblande der Habsburger. „Dies ist allerdings nur eine Konvention“, meint Evans und fügt hinzu, „wenn sie auch durch die spätere Gründung der Republik Österreich, die im wesentlichen dasselbe Gebiet umfaßt, erhärtet wird.“57 Neuestens ist dieser Gedanke wiederaufgenommen und ausgebaut worden in Günther Hödls Buch „Habsburg und Österreich 1273–1493“. Das Wirken der spätmittelalterlichen Habsburger habe „jenen Territorienverband geschaffen, den wir im wesentlichen in unserem heutigen Bundesstaat der Zweiten Republik Österreich wiederfinden (nur Salzburg und das Burgenland sind hinzu, Südtirol, Krain und die istrischen Gebiete sind gegenüber damals weggekommen, wenn man dabei die althabsburgischen Vorlande und den Besitz in Südwestdeutschland und Schwaben unbeachtet läßt)“58. Mit dem Hinweis auf die territorialen Unterscheidungen, 55 Ebd. 92. Man vergleiche Lhotsky 1949 mit Zeißberg 1887 oben bei Anm. 23! 56 Stephan Verosta, Die geschichtliche Kontinuität des österreichischen Staates und seine europäische Funktion, in: Geschichte der Republik Österreich, hg. von Heinrich Benedikt, Wien 1954, 576. 57 R. J. W. Evans, The Making of the Habsburg Monarchy 1550–1700, London 1979; ich zitiere hier nach der deutschen Übersetzung: Das Werden der Habsburgermonarchie 1550–1700, Wien–Köln–Graz 1986, 125. 58 Günther Hödl, Habsburg und Österreich 1273–1493. Gestalten und Gestalt des österreichischen Spätmittelalters, Wien–Köln–Graz 1987, 11. Als Symbol dieses ähnlichen Umfanges wird auf dem Schutzumschlag die Silhouette der heutigen Republik Österreich in Verbindung mit der Habsburg gezeigt. Die bildhafte Rückprojizierung des Umfanges der Republik Österreich auf die spätmittelalterlichen Erblande scheint mir doch problematisch zu sein.

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zu welchen noch der Verlust der Südsteiermark hinzuzufügen wäre und die eben keineswegs geringfügig sind, hat Günther Hödl selbst die Problematik derartiger Zuordnungen aufgezeigt. Wenn man die Republik Österreich „in ihren heutigen Grenzen“ als „nichts anderes als das nur wenig modifizierte ‚Haus Österreich‘ der Zeit Kaiser Friedrichs III.“ bezeichnet, bagatellisiert man die gerade angeführten Änderungen über Gebühr.59 Sind Krain und die Untersteiermark mit Cilli nur marginale Teile des innerösterreichischen Länderverbandes gewesen? Und Vorder­ österreich?60 Doch Lhotsky hat 1949 auch über Probleme, die sich aus dem Umfang Österreichs in der Neuzeit ergeben, gesprochen. Hier ist ausführlicher zu zitieren: „Schwieriger ist die Behandlung der österreichischen Neuzeit, denn dabei haben auch alle diejenigen ein Wort mitzureden und ihre Meinung zu äußern, die einmal mit uns zusammen die Monarchia Austriaca gebildet haben. Um hier sowohl allen anderen als auch uns selbst gerecht werden zu können, gibt es vielleicht ein Mittel, das bereits auch in der Behandlung des spätmittelalterlichen Österreich anzuwenden wäre: in der Trennung der Geschichte der Dynastie von der des Landes bzw. der Länder. Ich kann hierbei nur andeuten, was einer gründlicheren Explikation bedürfte; aber ich kann mir auch ohne weiteres vorstellen, daß eine solche Behandlungsweise ein völlig neues Geschichtsbild Österreichs ergeben könnte, dessen Lineament und Kolorit zur Zeit noch gar nicht genau abzuschätzen ist.“ Lhotsky fügte hinzu, er könne sich ebenso denken, „daß auf diese Art allmählich manches schiefe Urteil des Auslandes über Österreichs Land und Bewohner zurechtgerückt und damit auch unserer Heimat ein wesentlicher Dienst erwiesen würde“.61

Lhotsky hat mit dem Hinweis auf all diejenigen, die einmal mit uns zusammen die Monarchia Austriaca gebildet haben, den Finger auf eine zentrale Frage nicht nur des Umfanges der österreichischen Geschichte, sondern auch der Bearbeitung der altösterreichischen Geschichte in der Neuzeit gelegt. Seine Anregung einer Trennung der Geschichte der Dynastie von der des Landes bzw. der Län59 Ebd. 13 sowie 227. 60 Ich kann mich daher auch nicht als von Herwig Wolfram überzeugt deklarieren, der in einer geradezu hegelianisch anmutenden Aufhebung von Gegensätzen geschrieben hat: „Obwohl Gerald Stourzh recht hat, dass eine allzu schematische Gleichsetzung nicht nur falsch, sondern gefährlich wäre, darf man an der von Alphons Lhotsky vorgetragenen Überlegung ganz allgemein festhalten.“ Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas (wie oben Anm. 5), 15–16. 61 Lhotsky, Stand der österreichischen Geschichtsforschung (wie Anm. 54) 92.



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der halte ich allerdings für problematisch. Eigentümlicherweise drängt sich hier ein Vergleich, wenn auch unter ganz veränderten Vorzeichen, mit Otto Brunners Trennung der österreichischen Geschichte in eine „Volks- und Landesgeschichte“ einerseits, eine Dynastie- und Großmachtgeschichte andererseits auf, über die bereits referiert wurde. Die Trennung von Dynastiegeschichte und Geschichte des Landes bzw. der Länder ist allerdings kaum realisierbar; würde sie versucht werden, wäre sie ein methodischer Rückschritt. Es wäre ein Rückschritt zu einer isolierten Herrscher- und Herrschaftsgeschichte, die mit der zumal seit Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmenden Integration verschiedener Länderkomplexe im institutionellen wie im demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich, schließlich ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch im Bereich der politischen Willensbildung unvereinbar ist. Die Existenz und die wissenschaftliche Pflege zahlreicher „Nationalgeschichten“ auf dem Boden der Monarchia Austriaca, die Dignität und Legitimität dieser Nationalgeschichten sind unbestritten. Dennoch gibt es – mit flexiblem Umfang – eine österreichische Geschichte, die über den Umfang der gegenwärtigen Republik Österreich hinausreicht und mehr ist als „Herrscher- oder Herrschaftsgeschichte“. Die Schicksale und die Sozialisation zu vieler Menschen in zu vielen Lebensbereichen – nicht nur im Bereich der öffentlichen Verwaltung oder des Militärwesens – sind von der Zugehörigkeit zum Institutionengefüge der Monarchia Austriaca geprägt worden, als dass man mit einer Trennung in Dynastiegeschichte einerseits und Landes- oder Ländergeschichte andererseits das Auslangen finden könnte. Man denke etwa an die enormen Wanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts aus den „Ländern der böhmischen Krone“ in das „Erzherzogtum unter der Enns“, man denke an die jüdischen Westwärts- und Südwärtswanderungen innerhalb der Monarchie, und man merkt sogleich, dass hier historische Phänomene eben der österreichischen Geschichte vorliegen, die weder als „Dynastiegeschichte“ noch als „Landes- oder Ländergeschichte“ noch auch als „Nationalgeschichte“ zu verstehen sind.62 62 Weiterführend zu den Sprach- und Landesgrenzen überschreitenden Aspekten der österreichischen Geschichte ist die originelle Studie von Moritz Csáky, Pluralität. Beiträge zu einer Theorie der österreichischen Geschichte, in: Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-JahrJubiläum des Instituts für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, hg. v. Herwig Ebner, Horst Haselsteiner, Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber, Graz 1990, 19–28; allerdings führt Csákys Betonung gemeinsamer „Codes“ als Zeichen gemeinsamer Kultur vielleicht zu einer zu geringen Einschätzung der durchaus unterschiedlichen Stellung verschiedener Sprachen in der Sozial- und Machthierarchie der Habsburgermonarchie. Hierzu eindrucksvoll Josef Peter Stern, Das Wien der Jahrhundertwende aus tschechischer Sicht, in: Österreichische Osthefte 28 (1986) 5–21.

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Alphons Lhotsky mochte allerdings im Jahre 1949 – Besatzungszeit, Nachkriegszeit, Errichtung der kommunistischen Volksdemokratien in den Nachfolgestaaten der Monarchia Austriaca – gute Gründe haben, an eine gemeinsame Bearbeitung der Geschichte des habsburgischen Länderkomplexes noch gar nicht denken zu können. Betrachten wir nun die Wiener Antrittsvorlesung Adam Wandruszkas als Nachfolger Alphons Lhotskys, „Zur Problematik der österreichischen Geschichte“ vom Jahre 1970,63 so tritt uns eine neue Zuversicht entgegen. Diese Zuversicht spiegelt die in der Tat außerordentlichen Erfolge wider, die im Laufe der 60erJahre einer multilateralen Erforschung und gemeinsamen wissenschaftlichen Erörterung des „multinational empire“ beschieden waren. Wandruszka befasste sich ganz überwiegend mit der österreichisch-habsburgischen Geschichte der Neuzeit und ortete die „Aktualität“ der österreichischen Geschichte in den 60er-Jahre gerade in jener Problematik, die in Heinrich von Srbiks Worten darin lag, „wie eine Mehrzahl von Nationen und Nationsteilen in einem Staatsgebilde vereinigt wurde und wie weit sie in ihm zu einem kulturellen und politischen Ganzen mit wechselseitigem Vorteil zusammenwachsen konnten ...“64 Wandruszka hat auch moniert, dass die Erkenntnis stärker ins Bewusstsein treten müsste, dass Freiburg im Breisgau länger „österreichisch“ war – in Anführungszeichen – als Krakau und Czernowitz, Mailand und auch Brüssel weitaus länger als Mostar und Sarajewo, und damit hat er neuerlich die Frage nach dem Umfang der österreichischen Geschichte aufgegriffen.65 Hier wäre auch an die Landstände Schwäbisch-Österreichs zu erinnern, deren Geschichte Franz Quar­ thal geschrieben hat und die ab den 30er-Jahren des 16. Jahrhunderts für über zweihundert Jahre einen gemeinsamen Landtag bildeten. Mit einem Unterton des Bedauerns hat Quarthal geschrieben, dass zusammenfassende und typologische Darstellungen des habsburgischen Ständewesens von österreichischer Seite sich auf den Bereich des heutigen Staates Österreich beschränkten und die vorländischen Stände bei ihren Betrachtungen aussparten.66.

63 Adam Wandruszka, Zur Problematik der österreichischen Geschichte, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 78, 1970, 468–484. 64 Ebd. 474, zit. aus: Heinrich von Srbik, Das Problem der österreichischen Geschichtsschreibung, in: Wissenschaft und Weltbild, 3, 1950, 374–376, 422–425. 65 Ebd. 482. 66 Franz Quarthal, Landstände und landständisches Steuerwesen in Schwäbisch-Österreich, Stuttgart 1980, IX.



1. Der Umfang der österreichischen Geschichte

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An den Schluss dieser Studie habe ich bewusst zwei Reflexionen zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert gestellt. Der Aufsatz von Gerhard Botz, „Eine deutsche Geschichte 1938 bis 1945? Österreichische Geschichte zwischen Exil, Widerstand und Verstrickung“ – auf einen in Bielefeld 1984 gehaltenen Vortrag zurückgehend – ist eine sehr interessante Interpretation rezenter österreichischer Geschichte, umso mehr, da sie vor den polemischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre entstanden ist.67 Botz meint, dass bis in die späten 60er-Jahre die Periode 1938–1945 vielfach als überhaupt nicht zur österreichischen Geschichte gehörig gegolten habe, dass die Geschichte dieser Jahre im österreichischen Geschichtsbewusstsein lange als Teil einer fremden Geschichte, eben der deutschen, angesehen wurde. Sie sei als Periode der „deutschen Fremdherrschaft“ wenn überhaupt nur stark abgekürzt dargestellt worden, ihre Erforschung wurde weitgehend ausländischen Bearbeitern überlassen.68 Andererseits weist nun Botz zu Recht darauf hin, dass die Geschichte der Jahre der Zugehörigkeit Österreichs zum Großdeutschen Reich trotz ihrer rudimentären Rezeption in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik sehr wohl als Teil der österreichischen Geschichte zu thematisieren sei, und zwar besonders unter der Fragestellung „Das Erbe Österreichs an den Nationalsozialismus und die Mitverantwortung der Österreicher am Funktionieren des Dritten Reiches“69. Botz setzt sich in dieser Studie aber auch mit dem Vorherrschen (nicht dem Monopol) einer „deutschen“ Identität der Österreicher in der Zwischenkriegszeit und der Ablöse dieser Identitätsvorstellungen – die er wohl mit Recht als wesentlichen Erklärungsfaktor im Stimmungsumschwung der Märztage 1938 bezeichnet – durch den Primat der österreichischen Identität teils (vor allem in Wien und Ostösterreich) während der NS-Zeit, teils und wohl deutlicher in den Jahrzehnten ab 1945 auseinander. Von Interesse ist Botz’ Feststellung, dass wie bei vielen anderen kleineren Staaten und Nationen Europas im österreichischen Fall „der Staats- und Nationsbildungsprozeß jedenfalls in der jüngsten Zeit nicht durch Einigung, sondern durch Herauslösung aus einem größeren politischen Herrschaftsverband bei Weiterbestehen eines mehr oder weniger starken kulturellen Zusammenhanges mit anderen Nationen, insbesondere der deut67 Gerhard Botz, Eine deutsche Geschichte 1938 bis 1945? Österreichische Geschichte zwischen Exil, Widerstand und Verstrickung, in: Zeitgeschichte 14, 1986/87, 19–38. 68 Ebd. 20. Zu einigen Gründen, die zu dem so späten Einsetzen der intensiven historiographischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Österreich beigetragen haben, vgl. Gerald Stourzh, Einige Überlegungen zur Lage der Zeitgeschichte, in: Wissenschaft und Freiheit, hg. v. Erhard Busek, Wolfgang Mantl, Meinrad Peterlik, Wien 1989, 141–143. 69 Botz, Eine deutsche Geschichte 24.

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schen“, erfolgt sei.70 Festzuhalten aus Botz’ Studie ist für den Gesamtzusammenhang unseres Themas jedenfalls die Überzeugung, dass die Geschichte der Jahre 1938 bis 1945 eben (auch) österreichische Geschichte ist. Ich habe einmal geschrieben: „Die Überlappungen, Berührungen, zeitweise Fusionen der neueren und neuesten österreichischen und deutschen Geschichte sind mannigfaltig; studieren wir sie, erkennen wir sie, verdrängen wir sie nicht. Tun wir dies als gute Nachbarn, und subsumieren wir nicht eine unter der anderen“.71 Es unterliegt keinem Zweifel, dass für die Periode 1938 bis 1945 eine solche Fusion vorliegt. Österreich 1938 bis 1945 ist Teil sowohl der deutschen wie der österreichischen Geschichte. Etwas anderes wäre es aber, eine allgemeine Subsumierung der österreichischen unter die deutsche Geschichte zu postulieren. Hier möchte ich meine Nichtübereinstimmung mit Fritz Fellner in Erinnerung bringen. Fellner vertritt einen Begriff der „deutschen Nation“ als „Überordnung kultureller Gemeinsamkeit“72 in Verbindung mit einem staatlichen Pluralismus und hat geschrieben, dass sich in einer solchen Interpretation „auch die Geschichte Österreichs in allen Phasen ihrer Vergangenheit bis in die Gegenwart unter den Begriff einer deutschen Geschichte subsumieren“ lässt, „so selbstverständlich, wie sie unter den Begriff einer europäischen Geschichte subsumiert werden kann“73. Auch Heinrich Lutz hat sich in einer Punktation aus dem Jahre 198574 Fellners These von der „Subsumierbarkeit“ der österreichischen Geschichte unter die 70 Ebd. 20; eine fast identische Formulierung findet sich bereits bei Gerhard Botz, Das Anschlußproblem (1938–1945) aus österreichischer Sicht, in: Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, hg. v. Robert A. Kann und Friedrich E. Prinz, Wien–München 1980, 179; präziser wäre es allerdings im Falle Österreichs nach 1945, nicht von einem „Staatsund Nationsbildungsprozeß“, sondern nur von einem Nationsbildungsprozess zu sprechen, da es sich ja im Falle des Staates Österreich um die (erstaunlich schnelle) Wiederherstellung eines bereits existent gewesenen Verfassungs-, Institutionen- und politischen Gefüges handelte. 71 Stourzh, Vom Reich zur Republik (wie Anm. 12) 55. 72 Der Begriff der „Kulturnation“ ist deshalb misslich, weil, wie Werner Conze zutreffend bemerkt hat, es einen „von jeher im Nationsbegriff enthaltenen politischen Grundzug“ gibt. Werner Conze, „Deutschland“ und „deutsche Nation“ als historische Begriffe, in: Büsch/Sheehan, Rolle der Nation (wie oben Anm. 51), 30. 73 Fellner, Historiographie (wie oben Anm. 36), 58. 74 Es handelt sich um ein kurzes aus vier Punkten und zwei Schlussabsätzen bestehendes Manuskript, das Heinrich Lutz aus Anlass von Diskussionen mit Karl Dietrich Erdmann vorbereitete, der im Zusammenhang mit seiner 1985 erschienenen Schrift „Drei Staaten – zwei Nationen – ein Volk“ (Kiel 1985) und einem die Thesen dieser Schrift kritisierenden Vortrag von Gerald Stourzh im 9. Institutsseminar des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung am 18. November 1985 nach Wien gekommen war.



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deutsche nicht anschließen können; Lutz hat geschrieben: „Anders als Fellner bin ich nicht der Meinung, daß sich in einer ‚pluristatalen‘ Interpretation ‚auch die Geschichte Österreichs in allen Phasen ihrer Vergangenheit bis in die Gegenwart unter den Begriff einer deutschen Geschichte subsumieren (läßt), so selbstverständlich, wie sie unter den Begriff einer europäischen Geschichte subsumiert werden kann‘. Im Gegenteil. Das soziokulturelle Anderswerden der vom Hause Habsburg beherrschten deutschsprachigen Gebiete ist seit dem 15. Jahrhundert deutlich zu verfolgen, nicht nur die territorialstaatliche Sonderung. Gerade der Frühneuzeithistoriker muss dies betonen, und ich habe in dem Propyläenband 75 als eine zentrale These hervorgehoben, ‚daß Deutschland keine nationale Dynastie an seiner Spitze hatte (...) Die Deutschen hatten und gewannen keine im damaligen Vergleich als national anzusprechende Kaiserdynastie‘. Dieser Aspekt ist durch die Jahrhunderte zu verfolgen und mündet im 19. Jahrhundert bekanntlich in die Aporie von Vielvölkerstaat und Führungsanspruch in Deutschland.“76 Als letzte der unter dem Gesichtspunkt des Umfangs der österreichischen Geschichte zur Diskussion gestellten Reflexionen sei der im Oktober 1988 veröffentlichte Aufsatz von Ernst Hanisch „Überlegungen zu einer Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert“ genannt.77 In jeder Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert findet sich das Problem der radikalen Veränderung des Umfangs Österreichs, des Bruchs von 1918. Ernst Hanisch hat nun sehr überzeugend dargelegt, dass es gerade unter Zugrundelegung eines gesellschaftshistorischen Ansatzes sinnvoll sei, mit einer Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert bereits um die Mitte der 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts zu beginnen. Was aber heißt überhaupt Österreich, fragt Hanisch und gibt zur Antwort, dies sei in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts die westliche Reichshälfte der Doppelmonarchie gewesen. Doch dieser Begriff, so Hanisch, sei zu weit für seine Intentionen. Am ehesten treffe für den von ihm zu bearbeitenden Bereich der auch in der zeitgenössischen Statistik 75 Es handelt sich um das Werk von Heinrich Lutz, Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung (= Propyläen-Geschichte Deutschlands, 4), Berlin 1983. 76 Heinrich Lutz, Zum Gespräch mit Herrn Erdmann. Veröffentlicht als Anhang zu: Stefan Malfèr, Heinrich Lutz und die Geschichte der Habsburgermonarchie im Zeitalter Franz Josephs, in: Die Einheit der Neuzeit. Zum historischen Werk von Heinrich Lutz, hg. v. Alfred Kohler und Gerald Stourzh (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 15), Wien 1988, 203–205, hier 204. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Karl Dietrich Erdmanns Interpretation der österreichischen Geschichte findet sich im Einleitungskapitel von Stourzh, Vom Reich zur Republik (wie oben Anm. 12), 10–18. 77 Ernst Hanisch, Überlegungen zu einer Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, in: Zeitgeschichte, 16, 1988/89, 1–11.

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verwendete Begriff der „Alpenländer“ zu – kurz der Bereich der späteren Republik Österreich; in diesem engeren Sinn solle Österreich im Rahmen des Vorhabens einer Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert verstanden werden.78 Nun möchte ich doch – mit großem Respekt für das Werk Hanischs – zu bedenken geben, dass eine solche Einschränkung des Begriffs Österreich schon für das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und dann natürlich auch für die ersten 18 Jahre des 20. Jahrhunderts gerade vom Standpunkt einer gesellschaftshistorischen Methode problematisch ist. Die vor allem in den letzten Jahrzehnten Altösterreichs in ihrer Bedeutung überhaupt nicht zu überschätzende demographische, soziale und wirtschaftliche Verbindung der böhmischen Länder und der Donauländer (weniger der Alpenländer) erinnert daran, dass hier eine zu frühe Verengung angelegt ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang zu bedenken geben, dass ganz allgemein in manchen Veröffentlichungen, die vom Boden der Republik Österreich ausgehen, Tendenzen einer Rückprojizierung des heutigen Umfangs Österreichs auf ältere Perioden der österreichischen Geschichte merkbar sind.79 78 Ebd., 7. 79 Diese Problematik wird besonders deutlich in dem Band Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs, hg. v. Heimold Helczmanovszki, Wien 1973. In seiner Studie „Die Entwicklung der Bevölkerung Österreichs in den letzten hundert Jahren nach den wichtigsten demographischen Komponenten“ (ebd. 113–165) schreibt Helczmanovszki: „Wenn in der vorliegenden Darstellung die österreichische Bevölkerung; als die Summe der Einwohner des Gebietes der Republik Österreich (kursiv im Original) definiert wird“, werde damit zwar der Forderung an den Demographen, seinen Gegenstand zu bezeichnen und gegenüber anderen Begriffen wie „Volk“ und „Nation“ abzugrenzen, entsprochen, „aber auch ein Schnitt gewissermaßen nachvollzogen“, der 1919 bzw. im Fall des Burgenlandes 1921 aus dem einstigen Großraum den nunmehrigen Kleinstaat schuf. Ausdrücklich betont Helczmanovszki. „Alle Angaben über die Bevölkerungsdynamik auf dem Gebiete der Republik Österreich zwischen 1870 und 1918 beruhen auf nachträglich und künstlich geschaffenen statistischen Grundlagen, auf Rückrechnungen und Schätzungen.“ Die klare Darlegung dieses Sachverhalts ist wichtig und anerkennenswert; sie kann aber nicht verhindern, dass die fortwährende Verwendung des Begriffs „österreichisch“ oder „Österreich“ in ausschließlicher Beschränkung auf das Gebiet der Republik für die Jahrzehnte und Jahrhunderte vor 1918 zu perspektivischen „Verschiebungen“ führt, die „unhistorisch“ sind. Dies ist besonders gravierend im Falle tabellarischer oder graphischer Darstellungen, wo die Bevölkerung „Österreichs nach Bundesländern“ seit dem 16. Jahrhundert angegeben wird, oder Karten zur Bevölkerungsdichte und Bevölkerungsentwicklung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ausschließlich Österreich in den Grenzen der Republik zeigen, wie dies in dem Beitrag von Kurt Klein, Die Bevölkerung Österreichs vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (ebd. 47–112, hier 105–111) der Fall ist.



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Wir stehen allerdings vor einem vermutlich unauflösbaren Spannungsverhältnis zweier Tendenzen der Beschäftigung mit Geschichte, konkret mit der österreichischen Geschichte: Auf der einen Seite drängt uns die Frage nach „dem Land, in dem wir leben“ dazu, vom gegenwärtigen Zustand auszugehen und zu versuchen, in die Vergangenheit dieses Gebiets in seinem gegenwärtigen Umfang vorzudringen.80 Auf der anderen Seite sind, gerade wenn wir ernst nehmen, was der Begriff „Österreich“ jeweils bedeutet hat, andere und vielfach weitere Zusammenhänge zu bedenken, vor allem von Beginn der Neuzeit an, aber – wenn man an die Vorlande denkt – nicht nur und nicht erst seit dem Beginn der Neuzeit. Es ist wohl unmöglich, die historischen Gefüge einer jeweiligen Epoche, eines jeweiligen Zeitraums ohne die vollinhaltliche Berücksichtigung dieser weiteren Herrschafts-, Institutionen- und Lebenszusammenhänge zu sehen. Die Wandlungen des Österreichbegriffs und seines Umfanges im Laufe der Jahrhunderte lassen eine bestimmte Kontinuitätsdimension stärker in den Vordergrund treten: die Dimension des Territoriums oder des Territorienverbands, in der neueren Geschichte die Dimension der Staatlichkeit in ihrer komplexen Form von Länder- oder Staatenverbindungen. Wenn vor kurzem Brigitte Ma­ zohl kritisch vermerkt hat, in Österreich gebe es „nach wie vor unangefochten die liberale staatsteleologische Interpretation der österreichischen Geschichte“81, so ist, ohne den Begriff „staatsteleologisch“ akzeptieren zu müssen, danach zu fragen, was dem Phänomen zugrunde liegt, das Erich Zöllner 1949 mit dem Satz gekennzeichnet hat: „In der österreichischen Geschichte geben offenbar der Staat, seine Bildung, Struktur und Verfassung den Rahmen für das Geschehen; die Epochen der Geschichte Österreichs sind mithin vor allem Epochen seiner staatli80 „Eine bis zu einem gewissen Grade doch am heutigen Staatswesen orientierte Darstellung“ der österreichischen Geschichte, so Erich Zöllner, werde etwa die Geschichte Salzburgs oder des Burgenlandes auch schon zu einer Zeit, als diese noch nicht zum babenbergischen oder habsburgischen Herrschaftskomplex gehörten, stärker zu berücksichtigen haben als etwa das Elsass oder den Breisgau, die „sehr wesentliche Elemente der habsburgischen Herrschaftsstruktur bildeten“. Erich Zöllner, Bemerkungen zu den Gesamtdarstellungen der Geschichte Österreichs, in: ders., Probleme und Aufgaben der österreichischen Geschichtsforschung, Wien 1984, 87–100, hier 98. Zöllner bietet an dieser Stelle auch eine positivere Beurteilung der von Lhotsky 1949 vorgeschlagenen Trennung der Geschichte der Dynastie von der des Landes bzw. der Länder, als ich sie in dieser Arbeit (siehe oben bei Anm. 60 u. 61) zu geben vermag; er fügt hinzu, Lhotsky „erhoffte sich nicht zuletzt ein insgesamt freundlicheres Urteil über Österreich und die Österreicher“ (ebd.). 81 Brigitte Mazohl-Wallnig, Diskussionsbeitrag zum Otto Brunner-Symposion in Trient März 1987, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 13, 1987, 198.

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chen Entwicklung.“82 Da der Vorwurf einer „staatsteleologischen“ Interpretation gerade im Rahmen einer Kritik einer mangelnden Rezeption Otto Brunners in Österreich erhoben wurde, ist die Frage berechtigt, ob die von Otto Brunner in den Jahren bis 1944 vorgelegte Alternative einer Auflösung der österreichischen Geschichte in eine „Volksgeschichte“ einerseits, eine Dynastie- und Großmachtgeschichte andererseits überzeugendere Maßstäbe anzubieten in der Lage war. Was aber die von Otto Brunner (und anderen) nach 1945 so eindrucksvoll vorgelegte Konzeption von Sozialgeschichte als Strukturgeschichte betrifft, stellt sich die Frage nach dem Rahmen, nach dem (räumlichen) Umfang der jeweils zu untersuchenden sozialgeschichtlichen Strukturen (und Prozesse). Bei der Frage nach diesem Rahmen, nach dem Umfang – oder auch dem Radius, der räumlichen Reichweite eines Forschungsansatzes – stößt man gerade in der Geschichte Österreichs bald auf die territorial-staatlichen Rahmenbedingungen eines bestimmten Institutionengefüges. Die vorhin erwähnte Unschärfe eines auf die Alpenländer reduzierten Österreichbegriffs während der Existenz eines viel weiteren (staatlichen) Institutionengefüges Cisleithanien-Österreich (und des noch umfangreicheren Institutionengefüges Österreich-Ungarn) mag als Illustration dafür dienen, dass sozialgeschichtliche Forschungsansätze der adäquaten Berücksichtigung des Umfangs dessen bedürfen, was jeweils als österreichische Geschichte – die nie die Geschichte einer ethnischen oder sprachlichen Einheit war – anzusehen ist. Diese Studie soll – wenngleich unüblich – mit sechs Worten aus einem Gedicht beschlossen werden. Es handelt sich um sechs Worte aus dem Österreich-Gedicht „Dieses Land“ von Gerhard Fritsch: „Österreich mit seiner Geschichte der ganzen“ Die Mahnung des Dichters, Österreich mit seiner ganzen Geschichte zu bedenken, soll Ansporn sein für zukünftige Darstellungen der österreichischen Geschichte.

82 Erich Zöllner, Neuere Gesamtdarstellungen der österreichischen Geschichte (1944–1948), in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 57, 1949, 231–237, hier 235–236.

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I. Im kaiserlichen Patent vom 11. August 1804, in dem die Annahme des österreichischen Kaisertitels durch Franz II. proklamiert wurde, findet sich das schöne Wort vom „ver­einigten österreichischen Staaten-Körper“. Die Annahme des Titels eines erblichen Kaisers von Österreich sei eine Vorkehrung, so heißt es da, die auf die Befestigung des Ansehens des „vereinigten österreichischen Staaten-Körpers“ ziele.1 Der „vereinigte österreichische Staaten-Körper“: Die Wortwahl zeigt einmal mehr, dass die Monarchie des Hauses Österreich, die Monarchia austriaca, eine monarchia composita war, dass sie als solche verstanden wurde; sie ist es, unbeschadet aller Vereinheitlichungs- ­und Zentralisierungsinitiativen, geblieben, auch oder erst recht als Doppelmonarchie bis zu ihrem Ende 1918. Die Vielfalt jener monarchischen Union von Ständestaaten, um das vielberufene Wort Otto Brunners einmal mehr zu evozieren, tritt uns in den unterschiedlichsten Bereichen entgegen.2 Um aber sogleich zu dem Bereich von Verfassung und Verwaltung vorzustoßen, mit dem sich diese Studie befasst, finde ich kein anschaulicheres Exempel für die Vielfalt der monarchia composita als das bis 1918 andauernde Phänomen der mährischen Enklaven in Schlesien. Sämtliche Gemeinden der schlesischen Gerichtsbezirke Hennersdorf und Hotzenplotz, ferner elf Gemeinden im schlesischen Gerichtsbezirk Troppau, schließlich im schlesischen Gerichtsbezirk Wagstadt die Gemeinde Schlatten gehörten zur Markgraf­schaft Mähren. Das heißt: es galt mährisches Landesrecht; die genannten Gemeinden bil­deten einen mähri1 2

Text bei: Edmund Bernatzik, Hg., Die österreichischen Verfassungsgesetze, 2. Aufl. Wien 1911, 49–52, hier 52. Otto Brunner, Das Haus Österreich und die Donaumonarchie, in: Festgabe Harold Steinacker, München 1955, 122–144, hier 126.

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schen Wahlbezirk mit Hotzenplotz als Wahlort und hatten einen Abge­ordneten in den mährischen Landtag zu wählen; ebenso nahmen sie an der Wahl mäh­ rischer, nicht schlesischer Abgeordneter in den Reichsrat teil. Der Gerichtsbezirk Hotzen­plotz bildete einen mährischen Schulbezirk. Aber bezüglich der politischen Verwaltung unterstanden sie der landesfürstlichen Verwaltung in Schlesien und als Gerichtsbezirke unterstanden sie den schlesischen Gerichtsbehörden. Das bedeutete, dass die sprachen­rechtlichen Regelungen Schlesiens, nicht Mährens, angewandt wurden, mit Ausnahme der 1905 neu geregelten Sprachennormen bei den autonomen Behörden Mährens; wo die schlesischen, nicht mährischen Regelungen zutrafen, bedeutete dies in der Praxis eine Schlechterstellung der Tschechen. Schließlich wurden Handel und Gewerbe in den genannten mährischen Enklaven von der schlesischen Handelskammer in Troppau betreut und verfügten daher auch im schlesischen Landtag über eine Vertretung, insofern ja im Rahmen des Kurienwahlrechts die Handels- und Gewerbekammern über eine eigene Kurie verfügten.3 Und wie war es zu diesen komplizierten und unübersichtlichen Verflechtungen gekommen? Ein Aktenvermerk des k. k. Justizministeriums aus dem Jahre 1905, anlässlich einer parlamentarischen Interpellation, hielt fest, die Enklaven seien mährisches Landes­gebiet, „weil nach dem Mongoleneinfalle große entvölkerte Strecken in Schlesien vom Fürstbischofe in Olmütz erworben wurden und dann ein Olmützer Lehen bildeten“ (während, so sei hinzugefügt, das Herzogtum Troppau durch seine ins 14. Jahrhundert datierende Verbindung mit dem Herzogtum Ratibor schrittweise den schlesischen Ständen zugerechnet worden war).4 Der Beamte im k. k. Justizministerium anno 1905, der die Mongolenstürme bemühen muss, um einen Sachverhalt des österreichischen Landesverfassungs- und Verwaltungs­rechts aufzuklären – er bietet uns ein Beispiel für die allenthalben und überall zu ent­deckende Richtigkeit der bekannten Worte Josef von Eötvös’, Österreich sei „ganz als Pro­duct der Geschichte zu betrachten“. Dazu gleich zu Beginn ein grundsätzliches Wort: Die mährischen Enklaven in Schle­sien anno 1905, noch bis 1918 existent, sind sehr wohl ein Teil der Geschichte Österreichs. Ich betone das deshalb, weil es doch starke Strömungen gibt, die Geschichte Österreichs vor 1918, zumindest im späten 19. und frühen 20. Jahr3 4

F. J. Mahl-Schedl, Artikel „Enklaven (mähr.) in Schlesien“, in: Ernst Mischler und Josef Ulbrich, Hg., Österreichisches Staatslexikon, 2. Aufl.,1. Bd., Wien 1905, 855–856. Hierzu siehe Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, 156, Anm. 206.



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hundert, auf das Gebiet der Repu­blik, auf die Alpenländer zu reduzieren oder zumindest zu konzentrieren; die Vergangen­heit der Republikbevölkerung stehe zur Debatte. Diesen Erwägungen kann ich nicht zustimmen.5 Der Umfang der österreichischen Geschichte ist zu verschiedenen Epochen eben ein sehr unterschiedlicher gewesen. Wenn wir, um ein zweites kleines Beispiel zu geben, in einem 1916 erschienenen Band über die Stellung der Kronländer im Gefüge der österreichischen Verwaltung lesen, dass der Flächeninhalt Galiziens allein fast ein Viertel des ganzen österreichischen Staatsgebietes umfasse, dass Galiziens Bevölkerung „schon jetzt über ein Drittel der gesamten österreichischen Volksmasse“ umfasse, so müssen wir das ernst nehmen und in der Tat als ein Faktum der österreichischen Geschichte in ihrem damaligen Umfang betrachten.6 Doch von den Illustrationen zurück zum Grundsätzlichen. Es reicht nicht aus, den Charakter des „vereinigten österreichischen Staaten-Körpers“ als einen aus Königreichen und Ländern unterschiedlichen Ranges und unterschiedlicher ständischer Gliederung zusammengefügten Herrschaftsbereich, Lebensbereich und Verwaltungsbereich zu be­tonen. Zweierlei ist in Erinnerung zu rufen: erstens die Tatsache der dynastischen Initia­tive in der Schaffung der monarchischen Union von Ständestaaten. So sehr das schöne Wort vom „vereinigten österreichischen Staaten-Körper“ Assoziationen an die Bildung der „Vereinigten Niederlande“ oder gar der „Vereinigten Staaten“ wachrufen könnte, gilt es zunächst zu beachten, was der altösterreichische Staatsrechtler Ludwig Spiegel vor dem Ersten Weltkrieg gesagt hat. „Nicht von den Ländern, sondern a u s den Ländern ist Österreich geschaffen worden.“7 Vielleicht wäre, die Zustimmungsbeschlüsse der Stände betreffend die pragmatische Sanktion zwischen 1720 und 1725 bedenkend, nuancierend zu formulieren: „Nicht von den Ländern, sondern mit den Ländern ist Österreich geschaffen worden.“ Diese Nuancierung scheint gerechtfertigt, auch wenn die unter­schiedliche Stellung der ungarischen Stände und jener in den deutschen und 5

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Zu den diesbezüglichen Auffassungsdifferenzen zwischen mir und Ernst Hanisch – für dessen wissenschaftliches Werk ich großen Respekt habe – siehe: Gerald Stourzh, Der Umfang der öster­reichischen Geschichte, in diesem Bande, 33–34, sowie Ernst Hanisch, Überlegungen zu einer Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert: Eine Replik, in: Herwig Wolfram und Walter Pohl, Hg., Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien 1991, 81. Karl Lamp, unbetitelter Beitrag in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Sonderheft: Länderautonomie, Wien 1916, 51–77, hier 53. Lamp kommentiert eindrucksvoll die ungewöhn­liche Gestalt des damaligen Österreich: „Wie mit einem ausgestreckten Arm greift Österreich um das ovalförmig geschlossene Ungarn herum.“ Ebda., 75. Ludwig Spiegel, Artikel „Landesordnungen: C. Autonomie und Selbstverwaltung in der Gegen­ wart“, in: Mischler/Ulbrich, Österr. Staatswörterbuch, 2. Aufl., 3. Bd., 395–430, hier 426.

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böhmischen Erbländern bedacht wird; auch wenn etwa die Stände Böhmens hervorhoben, dass der Kaiser ihnen die pragmatische Sanktion „aus purem Überfluß“ habe eröffnen lassen.8 Allerdings ist auch ein Zweites in Erinnerung zu rufen: Die Dynastie hat trotz aller die Position der Stände reduzierenden, ja deutlicher gesagt, die Macht der Stände – mit Aus­nahme Ungarns – brechenden, absolutistische Herrschafts- und Verwaltungsformen begründenden, vereinheitlichenden Tendenzen „den ständischen Rahmen selbst im großen und ganzen unverändert gelassen“, wie Robert Kann es einmal formuliert hat.9 Es ist in der Monarchia austriaca nie zu einer radikalen Abschaffung der Ständevertretung gekommen wie etwa im dänischen Königsgesetz („Kongelov“) von 1665, jener in Europa einzigartigen „Verfassungsurkunde“ eines schrankenlosen Absolutismus.10 So konnte es gegen Ende der theresianischen Epoche, 1775, zur Gründung eines neuen Ständelandtags für Galizien kommen – eigentlich die Einheit eines Landes der Monarchie stiftend, das ja im alten Königreich Polen gar keine Einheit gebildet hatte.11 Nur weil der Rahmen der Stände- und Landtagsstruktur nicht vollständig zerstört worden war, konnte es nach dem Tod Josephs II. zur ständischen Restauration unter Leo­pold II. kommen, vielfach reaktionär, in Böhmen allerdings das Programm einer Konstitu­tionalisierung, einen Vertrag zwischen dem Souverän und der Nation fordernd.12 Die Beibehaltung des ständischen Rahmens bis 1848 bedeutete allerdings, wie Fried­rich Tezner einmal geschrieben hat, nicht die Beibehaltung des Dualismus von Landes­fürst und Ständen; man müsse eigentlich von „einem Trialismus von Fürst, Ständen und der politisch rechtlosen Masse des Volkes sprechen“. 13 Gewiss, das vormärzliche Postu­latenwesen war kläglich genug. Der Linzer Theaterdirektor Heinrich Börnstein hat um 1835 seinen Spott auf die oberösterreichischen Land8 Ludwig Spiegel, Beitrag in dem Sonderheft „Länderautonomie“ (wie Anm. 7), 153. 9 Robert A. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches 1526–1918, 2. Aufl. Wien 1982, 166. 10 Ernst Ekman, The Danish Royal Law of 1665, in: Journal of Modern History, Bd. 29, 1957, 102–107. 11 Westgalizien hatte zur „Woiwodschaft Krakau“ gehört, Ostgalizien hingegen hatte die „Ruthe­ nische Woiwodschaft“ gebildet. Vgl. Stanislaus Dnistrianskyj, Beitrag zum Sonderheft „Länder­­ autonomie“ (wie Anm. 6), 23. 12 Hans Sturmberger, Der Weg zum Verfassungsstaat. Die politische Entwicklung in Oberösterreich von 1792–1861, Wien 1962, 12. 13 Zit. bei Wolfgang Pesendorfer, Der oberösterreichische Landtag. Historische Entwicklung, Wesen und Bedeutung einer Institution, Linz 1989, S. 39, aus: Friedrich Tezner, Technik und Geist des ständisch-monarchischen Staatsrechts, Wien 1901, 77.



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stände geschüttet, die „sich alle Jahre einmal versammelten und einen Tag von 9 bis 12 Uhr vormittag landtagten, wobei ein Hochamt, die Auf- und Abfahrt, nebst Complimenten und Ceremonien zwei von den drei Stunden wegnahmen, und endlich in der dritten Stunde der Regierungspräsident die kaiserlichen Postulate wegen der Steuerbewilligung verlas, die Stände darauf, secundum ordinem mit den Köpfen nickten, ‚ja‘ sagten und damit der Landtag zu Ende war“.14 Mit den den vormärzlichen Ständen aus kaiserlicher Gnade bewilligten, das heißt verordneten Uniformen verhüllten die Stände, wie Hans Sturmberger scharf, aber treffend geschrieben hat, die Hohlheit ihrer politischen Existenz und zeigten ihre Verbeamtung, „die ein freies Wirken als echte Landesrepräsentanz unmöglich machte“. 15 Die Dominanz des staatlichen Absolutismus im Vormärz zeigte sich auch darin, dass in einer Reihe von Ländern – Vorarl­berg, Salzburg, Görz, Istrien, Dalmatien – keine landständischen Institutionen reaktiviert bzw. geschaffen wurden. In Tirol, Krain und Galizien kam es allerdings in den Jahren 1816, 1817 und 1818 zur neu kodifizierten Wiedererrichtung der Landstände. Die schon 1815 erfolgte Schaffung von Provinzial- und Zentralkongregationen in Lombardo-Venetien – wenn auch nicht ständische Institutionen im eigentlichen Sinne – ist ebenfalls zu nennen. Gegenüber dem in das vormärzlicher Staatsgefüge reibungslos eingebauten „verbeamte­ten“ Ständetum sind allerdings verschiedene Tendenzen zur Stärkung landschaftlich-stän­discher Rechte nicht zu vergessen, die in den letzten Vormärzjahren zumindest in Tirol, Böhmen und Niederösterreich zu verzeichnen sind.16 Die Unterschiedlichkeit des Vorgehens der Regierung in verschiedenen Teilen des Reiches, die Beibehaltung oder Wiederherstellung zumindest der Form ständischer Ver­tretungen in der Mehrzahl der Länder bedeutete aber jedenfalls eines: die Beibehaltung der Länder als jene Einheiten, die erst gemeinsam den „vereinigten österreichischen Staaten-Körper“ des Kaisertums Österreich ausmachten. Denken wir auch an die drei vormärzlichen Königskrönungen Ferdinands: in Ungarn 1830, in Böhmen 1836, in der Lombardei 1838!

14 Sturmberger, Verfassungsstaat, 45. 15 Ebda, 44. 16 Vgl. unter anderem: Viktor Bibl, Die niederösterreichischen Stände im Vormärz, Wien 1911; Karl Hugelmann, Die österreichischen Landtage im Jahre 1848, 1. Teil, in: Archiv für österreichische Geschichte, Bd. 111, 1929, 12. Zu Lombardo-Venetien siehe Brigitte Mazohl-Wallnig, Österreichischer Verwaltungsstaat und administrative Eliten im Königreich Lombardo-Venezien, Mainz 1993.

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Zu Recht hat Josef Redlich gesagt, „ungeachtet der Verkümmerung ihrer praktischen Befugnisse und ihrer politischen Macht“ sei die „öffentlich-rechtliche Persönlichkeit der historischen Königreiche und Länder, aus denen die Dynastie ihr Reich gebildet hatte“, erhalten geblieben bis zum Augenblick des Zusammenbruchs der toten Regierungs­maschinerie des alten Staates.17 Damit gelangten die Königreiche und Länder des Kaiser­tums Österreich an jene Schwelle des Revolutionsjahres 1848, in dem alles, in dem die Fun­damente des Kaiserstaates selbst zur Disposition gestellt wurden.

II. Drei Tendenzen, drei Kräfte, drei Bewegungen könnte man fast sagen, waren es vor allem, die im Revolutionsjahr das Verhältnis von Ländern und Gesamtstaat in neuer Weise berühren und beeinflussen sollten. Erstens war es das neue Selbstgefühl der Völker, der Volksstämme, der Nationalitäten, wie immer man die Gruppen benennt, die sich nun anschickten, nicht als Objekte, sondern als Subjekte an der Neugestaltung des Reiches mitzuwirken und einen Rechtsanspruch anmeldeten: den Rechtsanspruch der Gleichberechtigung. Niemand hat diesem Selbstgefühl klarer Ausdruck gegeben als Franz Palacký in seinem berühmten und viel zitierten Absagebrief nach Frankfurt im April 1848: Als die „eigentliche rechtliche und sittliche Grundlage“ des österreichischen Kaiser­staates bezeichnete Palacký „den Grundsatz der vollständigen Gleichberechtigung und Gleichbeachtung aller unter seinem Scepter vereinigten Nationalitäten und Confessio­nen“. „Das Völkerrecht ist ein wahres Naturrecht“, fuhr Palacký fort, und er meinte nicht das Völkerrecht als zwischenstaatliches Recht, sondern das Recht der Völker in einem nicht staatlichen Sinne. „Das Völkerrecht ist ein wahres Naturrecht; ... Die Natur kennt keine herrschenden, so wie keine dienstbaren Völker.“18 Indem Palacký den österreichischen Kaiserstaat nicht mehr im traditionellen Sinne als „Staaten-Körper“, sondern als Völker­reich betrachtete, tat Palacký das, was Josef Redlich einmal als die „Enthüllung“ von Öster­reichs Pro­ blem im Jahre 1848 bezeichnet hat.19 Damit kam zu dem traditionellen Dualis­mus des dynastischen Gesamtstaats einerseits und der historisch gewachsenen König­ 17 Josef Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem, Bd. 1, 1. Teil, Leipzig 1920, 248. 18 Abgedruckt unter anderem in: Franz Palacký, Österreichs Staatsidee, Prag 1866, 77–86, hier 83. 19 Redlich, Staatsproblem, 1, 1. Teil, 268.



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reiche und Länder andererseits eine dritte, staatsgestaltende, ja staatslegitimierende Komponente hinzu: Das Postulat der gleichberechtigten Rolle und Vertretung der Völker des Reiches. Dieses neue Gestaltungsprinzip konnte, wenn wörtlich genommen, die histo­risch gewachsenen Territorialverbände umwerfen; es wird in fernerer Zukunft, bei den Nationalitätenplänen mit dem Ziel der „nationalen Autonomie“, eine große Rolle spielen. Die zweite vorhin genannte Tendenz oder Kraft bestand in dem alten, aber nunmehr mit neuen Hoffnungen und Erwartungen bestückten Bewusstsein der historischen Rechte historischer Königreiche und Länder, wie es vor allem in Ungarn und Böhmen gegen die verschiedensten Aspekte zentralistischer und absolutistischer Herrschaftspraxis des vor­märzlichen Systems mobilisiert wurde und im Frühjahr 1848 enorme Konzessionen seitens der Dynastie hervorbrachte, wenn man an die Aprilgesetze in Budapest oder an die „Böhmische Charte“ denkt. Die dritte nun zu nennende Tendenz oder Bewegung ist die heute vielleicht am wenig­sten bedachte oder bekannte: Die Autonomie der eine „natürliche Selbstbestimmung“ aus­übenden von den kleinsten Keimzellen der Gesellschaft aufsteigenden Lokalverbände, deren Freiheitsräume dem herrschenden, befehlenden, kontrollierenden Bereich des Staa­tes gegenübergestellt wurden. Eine hervorragend klare, eigentlich unübertroffene Darstellung dieser Autonomievorstellungen und Autonomieforderungen hat der bekannte niederösterreichische Landstand Hofrat Karl von Kleyle dem ständischen Zentral­ausschuss, der im April 1848 auf Einladung des niederösterreichischen Ständepräsidiums in Wien tagte, gegeben: „Die bisherige rein bürokratische Verwaltung muß in der Richtung durchgreifend reformiert werden, daß Organismen, aus welchen der Staat zusammengesetzt ist, die Selbstbestimmung, soweit es mit den Gesamtinteressen des Staates verträglich ist, gesetz­lich zukomme. Das kostspielige, drückende und abstumpfende Vielregieren muß auf­hören, die Familien, die Gemeinde, der Kreis, die Provinz, sie müssen von der unseligen Bevormundung der Staatsbehörden befreit werden, damit nicht Beamtenbesoldungen die Geldkräfte des Landes aufzehren und ein frisches, selbsttätiges Leben in jenen Gliedern des Staates erwache, durch deren kräftige Gesundheit das Wohl des Ganzen bedingt wird. Familienräte, Gemeindeausschüsse, Kreisstände und endlich Provinzialstände werden an die Stelle der Hunderte von Beamten treten, welche bisher bis zum kleinsten Detail herab in das Leben des Volkes eingegriffen haben.“20

20 Zit. bei Redlich, Staatsproblem, 1, 1. Teil, 267.

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Selten ist die Idee der von unten aufsteigenden Selbstverwaltung, von der Familie bis zu den Provinzialständen, also bis zum Land, plastischer geschildert worden als hier, wobei alsbald die Gemeinde als der wichtigste Brennpunkt der „natürlichen“ Selbstver­ waltung, des „natürlichen Wirkungskreises“ hervortrat. Quellen für diese Vorstellungen gehen auf die französische Lehre vom „pouvoir municipal“ in den Anfangsjahren der Französischen Revolution zurück, als dieses „pouvoir municipal“ geradezu als eine eigen­ständige vierte Gewalt, neben pouvoir législatif, pouvoir éxécutif und pouvoir judiciaire gestellt wurde.21 Die Bedeutung der eigenständigen und freien Lokalverwaltung ist ein großes Thema von Tocquevilles Werken gewesen. Französische, nach 1831 auch belgische Entwicklungen wurden aufgenommen und rezipiert von einem so einflussreichen deut­schen Schriftsteller wie Carl von Rotteck.22 Wichtigster österreichischer vormärzlicher Advokat der freien Gemeinde war Viktor von Andrian, der allerdings besonders von den preußischen Reformen des Freiherrn vom Stein beeindruckt war.23 Die bei Kleyle so deutlich hervorkommende Idee der Abstufung von autonomen Ver­bänden von der Familie bis zum Land sieht also das Land nicht als Provinz des Reiches, als Unterteilung des Reiches, wie es ja häufigem Wortverstand entsprach, sondern als die höchste, weiteste Form der von unten aufsteigenden Selbstbestimmung, als höchste Form der Gemeinde an. Die Gegner und Kritiker dieser Vorstellungen haben dies genau erkannt. 1851 hat die den endgültigen Durchbruch zum Neoabsolutismus vorbereitende, unter Kübecks Leitung stehende Verfassungs-Revision-Kommission in ihrer vernichtenden Kritik von Franz Stadions Gemeindegesetz von 1849,24 dem wichtigsten Denkmal der hier besprochenen Autonomievorstellungen, gemeint, nach diesem Gesetze gebe es „Orts-, Bezirks-, Kreis- und Landesgemeinden, die sich stufenweise untergeordnet sind, und also recht eigentlich gestaffelte Republiken darstellen.“25 21

22 23 24

25

Vorzüglich zur Bedeutung der französischen Entwicklung Georg Jellinek, Staat und Gemeinde, in ders., Ausgewählte Schriften und Reden, II, Berlin 1911, 334–360, hier 340–345. Vgl. auch Hein­rich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institu­tionen, Stuttgart 1950, 57 f. Vgl. ebda., 180–182. (Viktor von Andrian-Werburg), Österreich und dessen Zukunft, 2. Teil, Hamburg 1847, Kap. XVI, 195 ff. Zu Stadions Ideen vgl. Ralph Melville, Der böhmische Adel und der Konstitutionalismus. Franz Stadions Konzept einer postfeudalen Neuordnung Österreichs, in: Ferdinand Seibt, Hg., Die Chance der Verständigung. Absichten und Ansätze zu übernationaler Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 1848–1918, München 1987, 135–145. Meine Hervorhebung. Text des Kommissionsberichts („Nachweisende Zusammenstellung



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Nur wenn wir diese letztgenannte der drei Bewegungen kennen, die vorhin genannt wurden, können wir neue Worte im politischen Diskurs der Länder und Ländervertreter 1848/49, die aufhorchen lassen, verstehen. Sowohl im Entwurf der steirischen wie auch der oberösterreichischen Landesver­ fassung vom Sommer 1848 heißt es ausdrücklich im jeweiligen § 2: „Das steiermärkische Volk und seine im Landtage vereinigten Vertreter behalten ihre Selbständigkeit, in so weit diese mit der Verfassung des österreichischen Gesamtstaates vereinbar ist, und als die dar­aus fließenden Rechte nicht durch den allgemeinen österreichischen Reichstag ausgeübt werden.“26 Fast identisch ist die oberösterreichische Formulierung: „Das oberöster­reichische Volk und seine im Landtage versammelten Vertreter behalten ihre Selbständig­keit, in so fern diese mit der Verfassung des Gesamtstaates vereinbar ist, und als die dar­aus fließenden Rechte nicht durch den allgemeinen österreichischen Reichstag ausgeübt werden.“27 Es ist ja eine durchaus „brave“ Formulierung, wenn man will, der Wille zur Einordnung und auch Unterordnung im Gesamtstaat und dessen konstituierenden Gesamtreichstag liegt klar zutage; umso auffallender ist das Betonen der „Selbständigkeit“ des Volkes und seiner Vertreter im Landtag. Eine Spur selbstbewusster, aber in der glei­chen Denk­ tradition, ist der mährische Landesverfassungsentwurf vom September 1848, in dem das Markgraftum Mähren als „ein selbständiges, nur mit dem konstitutionellen Kaiserthume Österreich, und zwar organisch verbundenes Land“ bezeichnet wird, aber ausdrücklich das „Recht der Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung“ betreffend zahl­reiche namentlich aufgezählte Agenden artikuliert.28 Es gab drei verfahrensrechtliche Möglichkeiten, das Verhältnis von Ländern und Gesamtstaat neu zu gestalten: 1. Ausbau der vorhandenen ständischen Institutionen in Richtung Gesamtstaatsrepräsen­tation, 2. Octroi von oben und 3. Anrufung der verfassunggebenden Gewalt des Gesamtstaatsvolkes. der Hauptergebnisse der Berathungen der zum Behufe der Verfassungs-Revision aufgestellten Com­mission“) in Redlich, Staatsproblem, 1, 2. Teil, 140–155, hier 144. Ich verdanke den Hinweis auf diesen bemerkenswerten Text der Arbeit von Helmut Slapnicka, Selbstverwaltung und Natio­nalitätenfrage in den böhmischen Ländern, in: Die Verwaltung, Bd. 20, 1987, 235. 26 Hugelmann, Landtage, L Teil (wie oben Anm. 16), 461–462. 27 Ebda., S. 268. 28 Karl Hugelmann, Die österreichischen Landtage im Jahre 1848, III. Teil, in: Archiv für öster­ reichische Geschichte, Bd. 115, 1940, 188–189.

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Von diesen Möglichkeiten ist die erste nur flüchtig in den Märztagen erwogen worden, hat sich die zweite – der Octroi – sowohl kurzfristig im April 1848 als auch, mit länger­fristigen Folgen, im Verfassungsoctroi vom März 1849 durchgesetzt. Die dritte Möglich­keit, den pouvoir constituant anzurufen, hat uns bekanntlich das bedeutendste Ver­fassungswerk der altösterreichischen Verfassungsgeschichte, den Kremsierer Entwurf, beschert, wenngleich uns das Wissen um sein Scheitern von Anbeginn begleitet. Der neue Gedanke von den „selbständigen“ Ländern fand sich auch im ersten Entwurf eines maßgeblichen Kremsierer Verfassungsvaters, des Deutschmährers Kajetan Mayer, der das Kaisertum Österreich „als eine untrennbare, aus den nachbenannten selbständigen Kronländern bestehende konstitutionelle Erbmonarchie“ bezeichnete; er führte als „selb­ständige Kronländer“ alle historischen Territorien an, allerdings bildeten Vorarlberg mit Tirol sowie Galizien mit der Bukowina je ein Kronland.29 Mayer schlug auch eine „selb­ständige Verwaltung“ für die Länder neben der staatlichen Verwaltung vor.30 Auf Antrag des am zentralistischsten gesinnten deutschen Abgeordneten im Ver­fassungsausschuss, Josef Lasser, wurde das Adjektiv der „selbständigen“ Länder fallen­gelassen, doch normierte § 5 des Kremsierer Entwurfs ausdrücklich: „Jedem Reichslande bleibt die Autonomie innerhalb der durch diese Konstitution festgesetzten Schranken und die Integrität seines Gebietes gesichert.“31 Von da an bleibt die Autonomie der Länder – abgesehen vom neoabsolutistischen Jahrzehnt – auf der Tagesordnung der Verfassungs- u ­ nd Verwaltungspolitik Österreichs, bis 1918. Der Kremsierer Entwurf ist ein Kompromiss jener drei Tendenzen oder Bewegungen, die bereits genannt wurden: Erstens der Tendenz zur Durchsetzung der Gleichberechtigung der Völker im sprach­lich-ethnisch-nationalen Sinn – am direktesten, auch um den Preis der Zerreißung histo­rischer Ländergrenzen, vom Tschechen Palacký und vom Slowenen Kaučič gefordert – von Palacký, der übrigens zwischen sprachlich-ethnischen und historischen Gliederungs­kriterien mehrfach schwankte, aus seinem fundamentalen Einsatz für die Gleichberechti­gung der Völker erwachsen, bei dem Slowenen Kaučič motiviert durch die Verteilung der Slowenen auf eine besonders große Zahl verschiedener historischer Länder;

29 Redlich, Staatsproblem, 1, 1. Teil, 271. 30 Ebda., 311. 31 Bernatzik, Verfassungsgesetze, 116.



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zweitens der Bewegung zur bestmöglichen Anerkennung historischer Königreiche und Länder – am stärksten, mit Ausnahme Franz Palackýs, von den tschechischen Abge­ordneten betrieben, die man am ehesten als Föderalisten bezeichnen kann und die sich auch selbst so bezeichneten, die Josef Redlich aber gleichzeitig nicht ohne Grund als „leidenschaftliche Landeszentralisten“ bezeichnet hat32; drittens der Bewegung zur Wahrung der Länderautonomie im Sinne Andrian’scher und Kleyle’scher Vorstellungen, bei den Deutschliberalen am stärksten zu finden, und durchaus kompatibel mit stärkerer Berücksichtigung gesamtstaatlicher Notwendigkeiten, aber ebenfalls durchaus kompatibel, weil systemkonform, mit der Anerkennung und För­derung von Kreisen innerhalb der Kronländer als autonome Schutz- und Auffangterritorien für nationale Minderheiten innerhalb mehrnationaler historischer Länder. Den Ver­tretern dieser Richtung, besonders dem schon genannten Kajetan Mayer, ist ja die bedeu­tendste Kompromisslösung des Kremsierer Werkes zu danken, die Berücksichtung der Gleichberechtigung der Nationalitäten nicht durch das Auseinanderreißen von sprachlich-­ethnisch gemischten Kronländern, sondern durch das System der autonomen Kreise. Länderautonomie – jenes von 1848 bis 1918 seine ambivalente Attraktivität nie ver­lierende Zauberwort, das vielen den Schlüssel zur Lösung des österreichischen Staats- und Reichsproblems zu enthalten schien –, Länderautonomie war, wie Josef Redlich in seinem bis heute unübertroffenen und unerreichten Meisterwerk geschrieben hat, das gemein­same Lieblingsschlagwort der Reformer in beiden großen Lagern, im tschechisch-pol­nischen ebenso wie im deutschen. Aber es gab einen großen begrifflichen Unterschied: Bei den Deutschen bedeutete es „die rezipierte konstitutionelle Doktrin von der Selbstverwal­tung der Landschaften und Kreise und Gemeinden“, bei den Slawen „von Anfang an Selbstgesetzgebung als staatsrechtliche Autonomie im Sinne der althistorischen Rechts­ansprüche der Tschechen und Polen auf staatlich selbständiges nationales Leben“. Diese zunächst verdrängte oder übersehene tiefe Verschiedenheit musste früher oder später zu Enttäuschungen und Konflikten führen.33 Die bekanntesten Komponenten des Kompromisswerkes der Kremsierer Verfassung – Kreistage zum Schutz von Minderheiten, gleiche Repräsentation aller Länder in einer eigenen Länderkammer des Reichstages, modifiziert allerdings durch Kreisvertreter – brauchen hier nicht weiter genannt zu werden. Hinzuweisen ist jedoch auf die weniger bekannte Regelung der Landesverwaltung, die den 32 Redlich, Staatsproblem, 1, 1. Teil, 310. 33 Ebda., 261.

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tschechisch-föderalistischen Vorstel­lungen weit entgegenkam. Der Statthalter und allenfalls diesem zur Seite stehende verant­wortliche Statthaltereiräte – de facto Landesminister – hatten Landesgesetze zu kontra­signieren und waren dem Landtag für den Vollzug der Landesgesetze verantwortlich; der Landtag hatte das Recht, allenfalls den Statthalter oder die Statthaltereiräte in den An­klagestand vor dem Obersten Reichsgericht zu versetzen.34 Offen blieben noch Bestim­mungen über die zur Durchführung der Landesgesetze zu bestellenden Beamten. Das Gebiet der zentralisierten Staatsverwaltung bildete allerdings 1848 und auch später, so hat Redlich es brillant formuliert, „gleichsam das unberührbare Heiligtum der monarchischen Gewalt, sozusagen den dunklen Erdteil der liberalen Reformpolitik“.35 Die Revolution von 1848, unbeschadet ihres Scheiterns, hatte Langzeitwirkungen. Ihr bedeutendster und dauernder Erfolg, die Bauernbefreiung, also die Aufhebung der Grunduntertänigkeit mit dem Ende der Patrimonialämter, hatte weitreichende verfas­sungs- und verwaltungspolitische Folgen, wie niemand anderer als der großartige Anton Springer gesagt hat. „Sie verlockte zur Centralisation der Verwaltung und ebnete auf der anderen Seite der Autonomie der Gemeinden und Provinzen den Boden, sie zwang den Gesetzgeber zur Anerkennung der Rechtsgleichheit und führte, wenn auch langsam, das constitutionelle Princip in Österreich ein, welches die Revolution 1848 zwar proclamieren, aber bei der Unreife des Volkes nicht festhalten konnte.“36

III. Mit dem Sieg der Regierung Schwarzenberg fand die Autonomieidee zunächst Zuflucht im provisorischen Gemeindegesetz des Grafen Franz Stadion. Stadion hat richtig erkannt, so zutreffend der tschechische Rechtshistoriker Klabouch, „daß in einem Viel­völkerstaat so mannigfacher ... Struktur, wie Österreich es war, ein zentralisierter bürokratischer Apparat nicht funktionieren“37 konnte, ohne wenigstens bestimmte Kompeten­zen an kleinere Verwaltungsgebilde abzugeben, die ein gewisses Gegengewicht zur zen­tralen Leitung schaffen würden. Über den Ortsgemeinden baute Stadion in den Bezirken und Kreisen Kommunalverbände 34 35 36

§§ 104 und 105 des Kremsierer Entwurfs. Bernatzik, Verfassungsgesetze, 124. Redlich, Staatsproblem, 1, 1. Teil, 240. Anton Springer, Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809. Zweiter Teil, Leipzig 1865, 367. 37 Jiří Klabouch, Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848–1918, Wien 1968, 35.



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mit gewählten Vertretungskörperschaften auf. Diese Struktur sollte totes Papier bleiben, doch theoretisch, so hat der beste deutsche Kenner der Selbstverwaltung des 19. Jahrhunderts, Heinrich Heffter, geurteilt, schuf Stadion in Österreich „das freisinnigste aller Selbstverwaltungsgesetze, das infolge der Achtundvierziger­ revolution zustande kam“.38 Ein Kritiker des 1849 einsetzenden und bald in den Neoabsolutismus übergehenden Regierungszentralismus, Viktor von Andrian, schrieb 1850: Das Bedürfnis nach Auto­nomie der Kronländer sei das „bei weitem stärkste aller gegenwärtigen politischen Bedürf­nisse in Österreich“.39 Die Stunde der Länderautonomie schlug 1859/60, als nach dem verlorenen Kriege in Italien und dem Zusammenbruch des Neoabsolutismus ein regionales Problem alle anderen zu überschatten begann: das Problem Ungarn. Nicht „von Österreich, sondern von Ungarn her ist dem Kaiser und seinen ... Ratgebern die Notwendigkeit einer wenn auch noch so vorsichtigen und unaufrichtigen Annäherung an den Konstitu­tionalismus auferlegt worden“, hat Redlich zutreffend bemerkt; Franz Joseph realisierte, dass die Versöhnung Ungarns mit der Dynastie „die unvermeidliche Vorbedingung zum Wiedererstarken der Monarchie nach außen hin“ bedeutete.40 Um für das 1849 besiegte und jahrelang unterdrückte Ungarn einen neuen, geachteten, aber nicht ganz separaten und exklusiven Platz im Rahmen des Kaisertums Österreich zu erringen, entwickelten bekanntlich ungarische Adelspolitiker gemeinsam mit konservativ antizentralistischen Gesinnungsgenossen diesseits der Leitha das Konzept der „historisch-politischen Indivi­dualitäten“; es hat seinen „locus classicus“ in dem vom Grafen Anton Szécsen verfassten Majoritätsbericht zum Budget im sogenannten verstärkten Reichsrat von 1860: Die Kräfti­gung und gedeihliche Entwicklung der Monarchie, so heißt es da, „erheischt die Aner­kennung der historisch-politischen Individualitäten der einzelnen Länder, innerhalb wel­cher die naturgemäße Entwicklung und Förderung der verschiedenen Nationalitäten ihre Geltung zu finden hat, und die Verknüpfung dieser Anerkennung mit den Anforderungen und Bedürfnissen des gesamtstaatlichen Verbandes: daher – bei prinzipieller Gleich­stellung aller Länder der Monarchie – sowohl die Anerkennung und Begründung ihrer Autonomie in der Administration und inneren Legislation, als 38 Heffter, Selbstverwaltung (wie oben Anm. 21), 313. Vgl. auch oben Anm. 24. 39 (Victor von Andrian-Werburg), Centralisation und Decentralisation in Österreich, Wien 1850, 61–62. 40 Redlich, Staatsproblem, 1, 1. Teil, 468; Sperrung im Original.

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auch die definitive Fest­stellung, Sicherung und Vertretung ihres gemeinsamen staatsrechtlichen Verbandes“.41 Die großartigste schriftstellerische Begründung erfuhr das Konzept der „his­ torisch­-politischen Individualitäten“ in dem Buch des Freiherrn Josef von Eötvös „Die Garantien der Macht und Einheit Österreichs“ von 1859. Eötvös schrieb: „Österreich verdankt sein Entstehen und seine gegenwärtige Größe weder der Einheit seiner Nationalität, noch seinen geographischen Grenzen, sondern ist ganz als Product der Geschichte zu betrach­ten. Das einzige Band, welches den Staat zusammenhält, besteht in dem Prinzip der legi­timen Monarchie.“ Eötvös schrieb weiter: „Auch wenn wir uns Österreich ohne Ungarn denken, so würde dieser Staat, der außer den deutschen Erblanden die Länder böhmischer Krone, Galizien und einige italienische und südslawische Provinzen in sich vereint, einer Verfassung bedürfen, wobei man auf die historischen Rechte der einzelnen Teile und ihre wesentlichen Verschiedenheiten Rücksicht nehmen müßte; eben dieses ist es, was uns von der Notwendigkeit provinzieller Autonomie überzeugen muß.“ Diese Autonomie, so fuhr Eötvös fort, bedürfe aber wiederum der Autonomie kleinerer Verbände, vor allem der Gemeinde.42 Das Oktoberdiplom von 1860 ist das Ergebnis dieser Überlegungen gewesen. Es schei­terte an dem doppelten Widerstand der weitere Freiheiten verlangenden Ungarn und der zentralistisch-bürokratischen deutschen Großösterreicher. Die Folge war bekanntlich binnen weniger Monate das Februarpatent Anton von Schmerlings. Zwei Überlegungen zum Februarpatent sind wichtig: Erstens ist das Februarpatent, das ja auch nominell als Durchführung des Oktober­diploms firmierte, weniger „zentralistisch“, als jahrzehntelange Lehrbuchclichés ver­muten lassen; es war, in seinen Wahlordnungen, deutschfreundlich, aber das ist doch nicht ganz dasselbe, denn die Grundstruktur der Verfassungsordnung des gesamten Februar­patents, das ja eben nicht nur das Grundgesetz über die Reichsvertretung, sondern Lan­desordnungen und Landeswahlordnungen umfasste, behielt in beträchtlichem Maße die Idee der Königreiche und Länder als „historisch-politischer Individualitäten“ bei. Ich teile die „revisionistische“ Interpretation des Februarpatents, die Fritz Fellner 1955 vorgelegt hat, der unter anderem darauf hinweist, dass die Schmerling’schen Landesord­nungen „den Ländern doch ein nicht unbeträchtliches Maß an autono41 Zit. ebda., 523. 42 (Josef von Eötvös), Die Garantien der Macht und Einheit Österreichs, 3. Aufl., Leipzig 1859, 85, 92, 96.



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mer Selbstverwal­tung überließen“.43 Diese Landesordnungen blieben aber in ihren Grundzügen bis 1918 wirksam! Noch zur Zeit der Geltung dieser Landesordnungen, 1909, schrieb der Staats­rechtler Ernst Mischler, „dass die autonomistische LandesVerfassung zwar nicht über den Zentralismus des alten Österreich obsiegte, aber doch den zentralistischen Gedanken merklich in den Hintergrund drängte“.44 Dies führt zum zweiten Punkt: Die Landesordnungen, die das Februarpatent von 1861 für die Kronländer erließ, wurden ausdrücklich als Staatsgrundgesetz für das betreffende Land proklamiert. Das bedeutete: Das Grundgesetz über die Reichsvertretung – deren Abgeordnetenhaus ja übrigens (bis 1873) aus von den Landtagen gewählten Vertretern bestand – war den Landesordnungen nicht übergeordnet, sondern gleichgeordnet. Eine Abänderung der Landesordnungen als Landesverfassungen war nur in den Landtagen selbst, bei Drei­viertelanwesenheit und Zweidrittelzustimmung, möglich. Daraus erhellt ein wesentlicher, meist zu wenig gewürdigter Aspekt der altösterrei­chischen Verfassungsordnung: Die Reichsvertretung konnte zwar, wie wir noch sehen werden, Kompetenztatbestände verändern; sie konnte aber die Landesverfassungen nicht berühren; insofern waren Landesverfassungen und Reichsvertretungsgesetz einander gleichgeordnet. Diese Gleichordnung fand ja ihren oft kritisierten Ausdruck darin, dass im österreichischen Verfassungsrecht keine Norm „Reichsrecht bricht Landesrecht“ vorge­sehen war. Das Fehlen einer solchen Bestimmung, wie sie etwa in der Verfassung des Zweiten Deutschen Reiches sehr wohl zu finden war, führte dazu, dass in Österreich der Grundsatz „lex posterior derogat priori“ angewandt wurde, dass also z. B. späteres Lan­desrecht durchaus früheres Reichsrecht brechen konnte. Die einzige Kontrollstelle zur Ver­ hinderung allfälliger Widersprüche zwischen Reichs- und Landesgesetzen war die Sank­tionsgewalt des Kaisers. Beide, Reichs- und Landesgesetze, wurden Gesetze erst kraft kaiserlicher Sanktion; der Kaiser konnte die Sanktion verweigern; Reichs43 Fritz Fellner, Das „Februarpatent“ von 1861, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 63, 1955, 549–564, hier 560. Von Inter­esse ist auch die ältere Studie von Karl Hugelmann, Der Übergang von den ständischen Landes­verfassungen in den österreichischen Ländern zu den Landesordnungen der konstitutionellen Zeit (1848–1861), in: Monatsblatt des Vereines für Landeskunde und Heimatschutz von Niederöster­reich und Wien, 1, 1926, 118–131. 44 Ernst Mischler, Der Haushalt der österreichischen Landschaften, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 111, 1909, 579–601, hier 579.

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und Landes­gesetze bedurften der Gegenzeichnung des verantwortlichen Ministers; dies ist ja ein wichtiger Grund, warum man trotz neuerer Tendenzen der Historiographie zögern muss, von einem föderalistischen System zu sprechen, so unbefriedigend die Formel vom „dezentralisierten Einheitsstaat“ ist. Ich werde darauf zurückkommen. Von Wichtigkeit ist auch, dass die Landesordnungen keinerlei Notverordnungsartikel kannten, wie im Grundgesetz über die Reichsvertretung zunächst als § 13, ab 1867 als § 14, vorgesehen war. Das Fehlen eines Notverordnungsparagraphen in den Landesverfassun­gen, gegen Ende der Monarchie von manchen Staatsrechtslehrern heftig kritisiert, trug zur Manövrierunfähigkeit einiger Landesverfassungen unter zugegeben extremen Belastun­gen (durch Obstruktion) bei. Als der Kaiser im Juli 1913 wegen Funktionsunfähigkeit die böhmische Landesverfassung suspendierte und anstelle des autonom gewählten Landes­ausschusses eine von ihm ernannte Landesverwaltungskommission einsetzte – ohne Zustimmung des böhmischen Landtages –, gab es großes Wehklagen wegen Verfassungs­bruches, der übrigens von der Regierung gar nicht geleugnet, sondern mit vorhandener Notlage gerechtfertigt wurde. Weder die Gesetzgebungskompetenz des Reichsrats noch das auf Angelegenheiten der Reichsgesetzgebung begrenzte Notverordnungsrecht gemäß dem berühmten § 14 wären in der Lage gewesen, hier eingreifen zu können.45 Neuerlich zeigt sich, dass die von 1861 bis 1918 bestehenden Landesordnungen einen Rang im Verfassungsgefüge einnahmen, der es schwer macht, die übliche Formel von Österreich als „dezentralisiertem Einheitsstaat“ unkritisch zu rezipieren. Die Staatsgrundgesetze von 1867, die gemeinsam als Dezemberverfassung bezeichnet werden, ließen die Struktur der Landesordnungen und Landtage, die ja auch Bestand der gesamtösterreichischen Verfassungsordnung waren, ungeschoren. Die den Ausgleich mit Ungarn durchbringende Regierung Beust hatte im nichtungarischen Bereich der Monar­chie keinen leichten Stand. Vor allem in Böhmen und in Tirol wurde das Argument ver­treten, die einzigen staatsrechtlichen Realitäten innerhalb des Kaisertums Österreich seien die einzelnen Königreiche und Länder, die in einem unmittelbaren Verhältnis zum Kaiser als ihrem Landesherrn stünden, ohne Zwischenschaltung eines „cisleithanischen“ Über­staats. 45 Hierzu ausführlich Gerald Stourzh, Verfassungsbruch im Königreich Böhmen: Ein unbekanntes Kapitel zur Geschichte des richterlichen Prüfungsrechts im alten Österreich, in diesem Band, Kap. 7, 139–155.



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Der Kaiser habe ja auch in Ungarn mit dem Landtag eines seiner Königreiche ver­handelt. So wurde nun als Konzession ein Modus gewählt, dass der Reichsgesetzgebung bestimmte aufgezählte Kompetenzen zugerechnet, alle anderen Kompetenzen den Land­tagen überlassen wurden; ausdrücklich wurde übrigens die Kompetenz der Gemeinde­gesetzgebung vom Reichsrat den Landtagen übertragen. Da allerdings sechs Jahre zuvor die Landesordnungen sehr wohl einen Kompetenzkatalog erhalten hatten, man aber nun an den Landesordnungen, die nur mit Mitwirkung qualifizierter Mehrheiten in jedem ein­zelnen Landtag zu ändern gewesen wären, nicht rühren wollte, ergaben sich für die Zukunft immer wieder offene Kompetenzfragen. Hinzugefügt sei, dass noch 1907 den Landtagen eine neuerliche Kompetenzerweiterung zuteil wurde, und zwar auf Drängen der besonders autonomiefreundlichen Polen, die sogenannte lex Starzyński.46 In Ange­ legenheiten, die zum Wirkungskreis der Landesgesetzgebung gehörten, konnte diese nun auch Regelungen im Bereich der Strafjustiz, Polizeistraf- und der Zivilrechtsgesetzgebung vornehmen; außerdem durfte die Landesgesetzgebung nunmehr in bestimmten Bereichen auch Verfügungen über die staatlichen Verwaltungsbehörden treffen. Julius Ofner hat diesbezüglich 1917 ausdrücklich von der Föderalisierung des Grundgesetzes, von der föderativen Entwicklung der österreichischen Verfassung gesprochen. 47

IV. Zur Verfassungsära von 1867 bis 1918 möchte ich drei Überlegungen vorlegen, die erste ausführlich, die zwei weiteren knapper. Erstens: Ein zentrales Erbstück der Ära Schmerling war – ebenso wie die Landesord­nungen – das Reichsgemeindegesetz von 1862, das im Wesentlichen die liberale Zielrichtung des Stadion’schen Gesetzes von 1849 übernahm. Die freie Gemeinde als wichtigster, wenn auch nicht einziger Kommunalverband 46 § 12 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung in der Neufassung von 1907 (RGBI. Nr. 15/1907), Bernatzik, Verfassungsgesetze, 759. Hierzu siehe: Hans Peter Hye, Ein politischer Preis des allgemeinen und länder- bzw. wahlbezirksweise gleichen Männerwahlrechts zum Abgeordne­tenhaus – die lex Starzyński, in: Čechy a Sasko v promenach dějin – Böhmen und Sachsen im Wan­del der Geschichte, hg. von der J. E. Purkyně Universität Ústí nad Labem/ Aussig/Elbe, 1993, 178–224. 47 Julius Ofner, Äußerung in: Die Länderautonomie. Verhandlungen der Wiener Juristischen Gesell­schaft im Februar 1917. Wien 1917, 71.

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mit ihrem eigenen oder selbständigen Wirkungs­kreis wurde und blieb bis 1918 ein Kernstück der autonomen, oft auch als „staatsfrei“ bezeichneten Verwaltung. Der Bereich der autonomen Verwaltung ging aber – ganz im Sinne der liberalen Auffassung der staatsfreien Selbstverwaltung der Kommunalver­bände, wie sie uns schon im Frühjahr 1848 im Referat des Hofrats Kleyle im ständischen Zentralausschuss entgegengetreten ist – über die Gemeinde hinaus, auf die höhere Ebene von autonomen Bezirksvertretungen, die allerdings nur in drei Ländern, in der Steiermark, Böhmen und Galizien, zum Tragen kamen, bis zur höchsten autonomen Ebene, der des Landes, vertreten durch den aus dem Landtag gewählten Landesausschuss, präsidiert durch einen ebenfalls dem Landtag angehörenden, aber vom Kaiser bestellten Land­marschall oder Landeshauptmann. Der Landesausschuss war in allen Gegenständen des selbständigen Wirkungsbereichs der Gemeinden oberste Berufungsinstanz. Man hat gezeigt, dass gerade die Berufungskompetenz der Landesausschüsse, weit mehr als die eher eingeschränkte Aufsichtskompetenz aus eigener Initiative, den autonomen Landes­behörden, dem „Land“, enorme Entscheidungs- und Einwirkungsmöglichkeiten im Gemeindebereich gab. Der „Obergemeinde“ – und das war das Land! – war „nahezu kein Gebiet des selbständigen Gemeindelebens verschlossen, sobald eine Beschwerde einge­bracht wurde“.48 Und ein Beschwerdeführer fand sich immer oder zumindest oft.49 Dieser von der Gemeinde zum Landesausschuss aufsteigende Bereich der autonomen Verwaltung ist ein viel bestauntes und viel kritisiertes Spezifikum der altösterreichischen politischen Welt gewesen. Neben der kaiserlichen oder auch sogenannten landesfürst­lichen Verwaltung, von den Bezirkshauptmannschaften über die Statthaltereien oder Lan­desregierungen hinauf zu den Ministerien, gab es also den Bereich der autonomen Ver­waltung: deshalb die vielen Hinweise auf Österreichs Doppelverwaltung, oft auch kritisch auf das Doppelgeleise der Verwaltung oder, noch kritischer, das von Rudolf von Herrnritt gebrauchte Bild vom 48 Carl Brockhausen, Die österreichische Gemeindeordnung, Wien 1905, 222. Vgl. auch Florian Gröll, Gemeindefreiheit (= Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien, hg. von Hermann Baltl, Bd. 9, Graz–Köln 1962), 44. 49 Vgl. Brockhausen, Gemeindeordnung, 234–235, Anm. 2. Die große Rolle des Beschwerde- und Rekurswesens hat zu einem Spezifikum der altösterreichisch-cisleithanischen Verwaltung bei­ getragen. Diese Verwaltung, sich vielfach auflösend „in die mehr richterliche Tätigkeit der Er­ledigung von Einzelfällen“, komme zu wenig dazu, die Verfolgung dauernder, großer Ziele zu erreichen. „Diese Methode, mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit über Einzelfälle zu Gericht zu sitzen (ohne aus dieser Arbeit dauernden Nutzen zu ziehen), ist Geist vom Geiste der österreichischen Verwaltung“, ebda., 234.



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einfachen Geleise, auf dem aber Züge bei mangelhaft eingerichteten Weichen in entgegengesetzter Richtung verkehren.50 Karl Renner hat einmal seine Kritik an der Doppelverwaltung, die Schikanen, die für den kleinen Mann entstehen konnten, an einem dem Leben entnommenen Beispiel festge­macht: „Ein Glasermeister stellt an den Rand seines Hausgartens neben die Straße einen Holz­ schuppen, den er unbedingt benötigt. Verbot der Gemeinde aus einer Reihe von Gründen. Der Glaser betritt den Rechtsweg: Er muß zwei Prozesse führen, der eine geht über Bezirkshauptmann, Statthalter, Ministerium, der andere über Landesausschuss, Verwal­tungsgerichtshof. Rechtslage am Ende: Der Schuppen bleibt stehen, aber darf nicht benützt werden.“51

Die Doppelverwaltung präsentierte immer wieder schier unlösbare Probleme, etwa, von Herrnritt berichtet, die Frage, wer Umlagen für einen Friedhof einzubringen hat, der nach Anschauung der autonomen Behörden eine konfessionelle Kultusanstalt ist, nach Anschauung der staatlichen Behörden aber eine Gemeinde-, nämlich Sanitätseinrichtung im Bereich der den Gemeinden obliegenden Sanitätspolizei.52 Es sei erwähnt, dass zur Entlastung der autonomen Verwaltung gerade die Steiermark 1875 ein Landesgesetz beschloss, das den Instanzenzug in ortspolizeilichen Agenden an die staatliche Verwaltung, nämlich die Bezirkshauptmannschaften, leitete. Dieses Gesetz, von Verwaltungsrechtsexperten wie Karl Hugelmann und anderen sehr gelobt, wurde in ande­ren Ländern nicht nachgeahmt.53 Zur Kritik am Doppelgeleise kam spezielle Kritik an der autonomen Verwaltung: sie sei in hohem, in wesentlich höherem Maße als die Staatsverwaltung, ein Tummelplatz der Parteipolitik, des Protektions- und Interventionswesens und damit, in den mehr­sprachigen Gemeinden und Kronländern, ein Tummelplatz hemmungsloser Nationalitätenpolitik. In der großen Enquête der Kommission zur Förderung der Verwaltungs­reform, die 1912 abgehalten wurde, findet sich zahlreiches Anschauungsmaterial hierzu.54 Ein konkreter Bericht sei in 50 Rudolf von Herrnritt, Beitrag in dem Sonderheft „Länderautonomie“ (wie Anm. 6), 47. 51 Karl Renner, Der falsche Grundriß (Sept. 1915), in: ders., Österreichs Erneuerung, 1. Bd., Wien 1916, 82–86, hier 83. 52 Herrnritt (wie in Anm. 50), 47. 53 Zum steirischen Landesgesetz vom 1. April 1875 vgl. Karl Hugelmann, Die Länderautonomie in Österreich, in: Zeitschrift für Politik, 11. Bd., 1918, 168–187, hier 185. 54 Enquête der Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform, veranstaltet in der Zeit vom

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extenso wiedergegeben; er stammt von dem Wiener Rechts­anwalt Dr. Ludwig Schüller: „Wir haben, wie allgemein bekannt ist, kein Expropriationsrecht für elektrische Unter­ nehmungen und industrielle Anlagen überhaupt. Infolgedessen muß man, wenn man in Österreich das machen will, was im Ausland in einigen Tagen möglich ist, indem man zum Beispiel eine elektrische Kraftzentrale errichtet und diejenigen, die damit nicht zufrieden sind, daß man über ihren Grund und Boden Drähte führt oder einen Mast an den Rand des Ackers setzt, expropriiert, mit Tausenden Bauern verhandeln. Jeder einzelne dieser Bauern schlägt – was man ihm nicht verargen kann – aus der Sache Kapital und bekommt in Gottes Namen ein paar Kronen dafür, daß man den Mast dort hinsetzen kann. Teuer wird die Sache dadurch, daß man qualifizierte Beamte mit diesen Verhandlungen betrauen muß. Jetzt ist man mit den Grundbesitzern fertig. Dann kommt man zur Gemeinde. Die Gemeinde hat naturgemäß das Recht, einem die Ausschließlichkeit, über Gemeindegrund zu gehen, zu versagen, man muß sich mit ihr irgendwie vertragen. Schon da beginnt die Unregelmäßigkeit. Das geschieht in der Praxis nicht dadurch, daß die Sache in den Gemeinde- oder Stadtrat kommt und dort erwogen wird, sondern man wendet sich an einen einflußreichen Gemeindeoder Stadtrat, wie das in Österreich schon ist, der richtet einem das. Nun unterliegen die Gemeindeverträge der Genehmigung des Landes­ausschusses. Was geschieht da? Es ist das, was ich anführen werde, nicht ein theoretischer, sondern ein praktischer Fall. Spielt sich die Sache in einem Kronland ab, das national eine Einheit bildet, so geht es eigentlich noch einfach, man muß nur schauen, daß man mit der herrschenden Partei nicht gerade zu böse ist oder jemand findet, der einem die Sache richtet, ganz im guten, nicht gegen Bestechung. Man braucht aber jemanden. Der normale Weg, daß man das Stück einreicht, darauf wartet, bis es in acht oder vierzehn Tagen oder drei Wochen erledigt wird, ist überhaupt nicht mehr gangbar. Aber auch damit würde man sich abfinden. Doch jetzt tritt dort, wo es sich um gemischtsprachige Kronländer han­delt, eine vollständige Abdizierung der regelrechten Verwaltungsbehörden ein. Nicht daß man sich die Sache dadurch richtet, daß man mit dem Landesausschuss verhandeln. Man wird vielmehr einfach an den Nationalrat55 gewiesen, aber nicht 21. Oktober bis 9. November 1912 zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Be­ völkerung in bezug auf die Reform der inneren und Finanzverwaltung. Wien 1913. 55 Zur Einrichtung der um die Jahrhundertwende aufkommenden, keinerlei öffentlich-rechtliche Stellung einnehmenden deutschen und tschechischen „Nationalräte“ vor allem auch in Böhmen, Mähren, Schlesien vgl. exemplarisch die Angaben zur Organisationsstruktur des tschechischen Nationalrats „Národni rada ceská“ in Prag bei: Monika Glettler, Die Wiener



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vielleicht vertraulich, son­dern man bekommt eine Zuschrift, daß man sich gefälligst mit dem deutschen, tschechi­schen oder polnischen Nationalrat ins Einvernehmen setzen solle, wird von ihm einge­laden, erscheint in dem bezeichneten Lokal, in der Regel einem Wirtshause, dort treten einem drei bis vier Politiker gegenüber, die den Nationalrat vorstellen, und mit diesen hat man sich darüber zu unterhalten, ob und unter welchen Bedingungen der Landesausschuß bereit wäre, diese den Interessen der Gemeinde vollkommen entsprechenden Verträge zu genehmigen. Nun werden einem Forderungen gestellt. Diese Forderungen mögen ja vom nationalen Standpunkt im einzelnen Falle berechtigt sein, auf die Existenzmöglichkeit des Unternehmens nehmen sie naturgemäß gar keine Rücksicht. Der eine Nationalrat verlangt, sämtliche Beamte müssen dieser oder jener Nation angehören, die Korrespondenzen oder Bücher müssen in dieser oder jener Sprache geführt werden. Es ist mir vorgekommen, daß der Nationalrat verlangt hat – wenn ich jetzt von einer Elektrizitätsanlage sprechen soll –, daß die Aufschriften nur in der betreffenden Sprache gemacht werden. Und wie ich gesagt habe: Aber um Gottes willen – z. B. die bekannte Warnung: Das Berühren der Drähte ist lebensgefährlich –, das wird doch wenigstens gestattet sein, zweisprachig anzubringen, wurde gesagt, nein, dann soll dieser gewisse Zickzackpfeil gemacht werden, um das Prin­zip hochzuhalten. Ist man nun mit dem einen Nationalrat fertig, so hat man das Vergnügen, sich mit dem anderen zu unterhalten, welcher dieselben Sachen verlangt, so daß zum Schlusse nichts übrigbleibt, als gegen alle kaufmännischen und industriellen Regeln die Sache zu teilen. Man errichtet, wenn ich so sagen darf, eine Betriebsdirektion A und eine Betriebsdirektion B, nur damit man mit dieser Geschichte fertig wird, denn gibt man nicht nach, so ist man bei uns vollständig wehrlos. Bevor das nicht aus dem Nationalrat heraus­gekommen ist, wird es vom Landesausschuß einfach nicht erledigt, und da gibt es nichts. Das Stück ist dort, und die Industrie kann nicht warten. Was ich hier von der Landesverwaltung gesagt habe, geschieht naturgemäß auch bei der Kommunalverwaltung, nur liegt der Fall dort insofern anders, als es ja national­ gemischte Kommunalverwaltungen nicht oder beinahe nicht gibt,56 so daß es sich hier nur um Parteiinteressen handelt, mit denen man leichter fertig wird“.57 Tschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt, München– Wien 1972, 489–493. 56 Dies deswegen, da in Gemeindeverwaltungen das Mehrheitsprinzip herrschte und andersnatio­ nale Minderheiten üblicherweise von der Teilnahme an der Gemeindeverwaltung ausgeschlossen waren. 57 Aus der Stellungnahme Dr. Ludwig Schüller, 22. Oktober 1912, Enquête (wie Anm. 54), 58–59 (durchnumerierte Punkte der Enquête 237 und 238).

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Die autonomen Gremien waren Ort rücksichtsloser Ausnützung von Mehrheits­ situationen. Ein Beispiel aus dem Königreich Böhmen: Von den Landesbeamten waren bei einem tschechischen Bevölkerungsanteil von 62,7 % ganze 90,88 % tschechisch, während bei einem deutschen Bevölkerungsanteil von 37,3% nur 9,12 % Deutsche waren. Bei der Bestellung der Schriftführer im böhmischen Landtag war es den Deutschen nicht möglich, auch nur einen von vier vorgesehenen Posten zu erreichen, die Landtagsmajorität wählte nur Tschechen in diese Posten.58 Fälle mit umgekehrten Vorzeichen sind natürlich eben­falls vorhanden. Meine eigenen Arbeiten zur verwaltungsrechtlichen Lösung von Natio­nalitätenkonflikten im Bereich der beiden obersten Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts, des Verwaltungsgerichtshofes und des Reichsgerichts, haben ergeben, dass Beschwerden wegen Verletzung des verfassungsmäßigen Rechts der Gleichberechtigung der Volks­stämme und landesüblichen Sprachen häufiger gegen Entscheidungen autonomer Behör­den als gegen Entscheidungen staatlicher Behörden erhoben wurden.59 Versuche italie­ nischer Gemeinden – Trient und Triest, deutschen bzw. slowenischen Familien italienische Inschriften auf den Grabsteinen ihrer Familienangehörigen vorzuschreiben, ebenso Ver­suche deutscher Gemeinden in Böhmen, tschechischen Familien tschechische Grab­inschriften zu verwehren, gehören auch in den Bereich der Geschichte der autonomen Ver­waltung in Altösterreich.60 Nicht zu Unrecht hat Friedrich Tezner einmal gesagt, die autonomen Kompetenzen der Gemeinden seien so bedeutend, dass diese „zu staatlich unabhängigen Republiken im monarchischen Staate“ geworden wären, hätte es nicht das staatliche Aufsichtsrecht ge­geben, autonome Beschlüsse zu sistieren, wenn sie den Wirkungskreis der Gemeinde über­schritten oder gegen die bestehenden Gesetze verstießen“.61 Der Staatsrechtler Rudolf von Laun hat 1916 in der großen Untersuchung der öster­reichischen Zeitschrift für öffentliches Recht über Länderautonomie geschrieben, die Landtage und Landesausschüsse hätten „in weiten Gebieten der Verwaltung republika­nische Machtbefugnisse“!62 Man erinnere sich an das Wort von den „gestaffelten Repu­bliken“, das 1851 von den Kritikern der Stadion’schen Kommunalverbände ausgesprochen wurde!63 Auch Josef Redlich hat mehrfach eindrucksvoll die Rolle der autonomen Verwaltung beschrieben. Red58 Slapnicka, Selbstverwaltung und Nationalitätenfrage (wie Anm. 25), 243–244. 59 Stourzh, Gleichberechtigung (wie Anm. 4), 105–124. 60 Ebda., 115–116. 61 Friedrich Tezner, Handbuch des österreichischen Administrativverfahrens, Wien 1896, 389. 62 Rudolf von Laun, Beitrag in dem Sonderheft „Länderautonomie“ (wie Anm. 6), 82. 63 Siehe oben bei Anm. 25.



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lich hat insbesondere die enorme Bedeutung der autonomen Körper­schaften für die politische Entwicklung der nichtdeutschen Nationalitäten hervorgehoben. Vor allem die Gemeinde, so Redlich, habe sich in Hinblick auf die stärkste Kraft des poli­tischen Lebens in Österreich, auf die nationale Bewegung, „als das eigentliche Bollwerk jeder der Nationen in ihren Siedlungsgebieten erwiesen“.64 Die autonome Verwaltung in Land, Bezirk und Gemeinde, so schrieb Redlich rückblickend schon nach dem Ersten Welt­krieg, habe den Weg zu einer tief greifenden Veränderung im Wesen der eigentlichen inneren Verwaltung Österreichs und damit auch der politischen Psyche bei den einzelnen Völ­kern innerhalb der Monarchie, zumal der nichtdeutschen Nationalitäten, eröffnet.65 Zweitens: Die autonome Gesetzgebungsgewalt der Länder erwies sich zunehmend als flexibles Instrument, um nationale und Sprachenkonflikte, die auf der Ebene des Gesamt­staats unlösbar waren, zumindest innerhalb des wesentlich kleineren Bereichs einzelner Kronländer einer Kompromisslösung zuzuführen. Die „nationale Autonomie“, etwa seit der Jahrhundertwende immer stärker zum Hauptschlagwort der „Reformer“ in Österreich werdend, all jener, die an neuen Ideen und Modellen zur Entschärfung, wenn nicht Befrie­dung des Nationalitätenkonflikts arbeiteten, diese „nationale Autonomie“ fand den ihr adäquaten Verwirklichungsrahmen immer häufiger in den Institutionen der Länderauto­nomie. „Nationale Autonomie“ bedeutete das Bestreben, von Organen regiert und verwaltet zu werden, die aus Angehörigen der jeweiligen Nationalität bestanden. Die Kron­länder und deren autonome Gesetzgebungs- und Verwaltungsorgane stellten sich zuneh­mend als die geeignetsten Träger nationaler Autonomie heraus. Wenngleich, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, die Nationalitäten, die „Volksstämme“ und deren wie immer befugten Vertreter mehr und mehr als die wichtigsten Träger der politischen Willens­bildung hervortraten,66 bedienten diese sich doch überwiegend und immer häufiger des „Gefäßes“ der Länderautonomie. Nur einige wichtige Beispiele für den Durchbruch der nationalen Autonomie im Rahmen der autonomen Ländergesetzgebung seien genannt. 1873 wurde im böhmischen Schulaufsichtsgesetz für die örtlichen Schulaufsichtsorgane in Orten, wo es deut64 Josef Redlich, Das Wesen der österreichischen Kommunalverfassung, Leipzig 1910, 61–62. 65 Josef Redlich, Österreichische Regierung und Verwaltung im Weltkriege, Wien 1925, 22 (vgl. auch 27, 47–49). Das erste Kapitel dieses Buches über Regierung und Verwaltung in Österreich vor dem Kriege ist eine bis heute unübertroffene staatsrechtliche und politikwissenschaftliche Ana­lyse des altösterreichischen Verfassungs-, Verwaltungs- und politischen Systems. 66 Vgl. Gerald Stourzh, The Multinational Empire Revisited: Reflections on Late Imperial Austria, in: Austrian History Yearbook, Bd. 23, 1992, 1–22, hier 18–19.

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sche und tschechische Schulen gab, folgende neuartige Regelung vor­gesehen: Die Vertreter der Gemeinde für die jeweiligen Ortsschulräte „müssen, wie auch der Ortsschulinspektor, den Angehörigen jener Nationalität entnommen werden, für welche die Schule, die der Ortsschulrat vertritt, bestimmt ist“. Damit wurde erstmals die Frage aktuell, nach welchen Kriterien und Verfahren in Zweifelsfällen die Angehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität feststellbar wäre. Die im Rahmen der autonomen Landesgesetzgebung erfolgende obligatorische Beset­zung von bestimmten Gremien durch „Angehörige“ einer bestimmten Nationalität machte Schule:67 1890 finden sich analoge Bestimmungen in der Neuordnung des Landesschulrats für Böhmen, 1891 in der Neuordnung des Landeskulturrats für Böhmen; 1892 übernahm das Tiroler Schulaufsichtsgesetz mit einigen Varianten die 1873 und 1890 in Böhmen ein­geführten Regelungen; 1897 imitierte ein mährisches Landesgesetz die 1891 in Böhmen für den Landeskulturrat eingeführten Regelungen. 1905/06 kommt es zu dem oft berufenen Ausgleich in Mähren, einem Bündel von landesgesetzlichen Regelungen, die das Prinzip der nationalen Autonomie umfassender als in jedem anderen Kronland zur Durchführung brachten. Nicht bloß im Bereich der Schulräte auf Orts-, Bezirks- und Landesebene, auch im Bereich der Wählerschaft („Wählerkataster“), der Abgeordneten für Landtag und Reichsrat und im Bereich der wichtigsten Gremien der Landesverwaltung setzt sich das Prinzip der nationalen Zugehörigkeit als Instrument der nationalen Autonomie durch. Weitere „nationale Ausgleiche“ durch Landesgesetz folgten 1910 in der Bukowina und 1914 in Galizien, wenngleich weniger umfassend als in Mähren und teilweise (in Galizien) in anderer Form als in Mähren. Auch die Sprachenrechte der Bevölkerung im Verkehr mit den Landesbehörden wurden in Mähren (1905/06 im Rahmen des Ausgleichs) und in Galizien (1907) landesgesetzlich geregelt. In anderen Kronländern gab es weniger Erfolge, der Entwurf einer neuen Landesordnung für Tirol mit einer „Welschtiroler Autonomie“ wurde im Landtag abgelehnt; erst 1914 beschloss der Landtag eine nationale Teilung der Kurie des adeligen Großgrundbesitzes. Es geht hier nicht darum, Soll und Haben der Lösungs- oder Befriedungsversuche der Nationalitätenkonflikte innerhalb einzelner Kronländer abzuwägen. Es geht darum, fest­zuhalten, dass vor allem seit den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts die „Form der Lan­desgesetzgebung“ zur häufigsten Form der Verwirklichung nationaler Gleichberechti­gung und nationaler Autonomie wurde. Es geht auch darum, festzuhalten, dass das An­steigen der Landesgesetzgebung ein Charakteristikum 67 Zum Folgenden ausführlich Stourzh, Gleichberechtigung (wie oben Anm. 4), 208–240.



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der österreichischen Verfassungs­entwicklung der letzten Jahrzehnte vor dem Ende der Monarchie bildet. Die Versuchung liegt nahe, angesichts der Proliferation der Landesgesetzgebung in dem runden Viertel­jahrhundert zwischen 1890 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges von einem sich ent­wickelnden Föderalismus zu sprechen, wie es etwa Julius Ofner 1917 tat.68 Wilhelm Braun­eder schreibt zu Recht von einer steigenden Bedeutung des Landes in der Epoche 1867–1918 und meint, insgesamt erscheine das Land nicht mehr als „Kommunalverband höchster Ordnung“, sondern als Teilstaat eines Gesamtstaates im Sinne einer „wenngleich schwachen bundesstaatlichen Struktur“.69 Am realistischsten scheint mir, die Ver­ fassungswirklichkeit Altösterreichs als zentralistisch-autonomistischen Dualismus zu bezeichnen. „Staat und Land“, schrieb Carl Brockhausen 1905, seien speziell in Österreich Gegensätze, „wie nicht leicht in einem anderen Staate.“70 Zumindest unter einer gewissen Kontrolle gehalten wurde dieser Gegensatz ja nicht, zumindest nach Einführung der Direktwahl ins Abgeordnetenhaus 1873, durch einen föderalistische Strukturen aufwei­senden Gesamtgesetzgeber wie in föderalistischen Staaten, sondern durch den Kaiser und seine Regierung, insbesondere auch durch die kaiserliche Genehmigungspflicht für prak­tisch alle Landeseinnahmen, die über das in den Landesordnungen zugesicherte auto­nome Besteuerungsrecht von bis zu 10 % der direkten Staatssteuern hinausgingen.71 Die Diskrepanz zwischen steigenden Landesagenden, insbesondere auch steigenden Landes­ausgaben aus nationalpolitischen Motiven (vor allem im Schulwesen!) einerseits und der eng begrenzten Budgetautonomie andererseits war eine Hauptursache für das tiefe Unbe­hagen über den Dualismus Staat/ Länder.72 68 Vgl. oben bei Anm. 47. Ernst Mischler betonte 1909, dass mit der 1861 erfolgten Begründung der modernen Landesverfassung „der Zentralstaat einen so starken autonomistischen, ja geradezu föderalistischen Einschlag erhielt“. Mischler, Haushalt der österr. Landschaften (wie Anm. 44), 583. 69 Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., Wien 1992, 178. 70 Brockhausen, Gemeindeordnung (wie Anm. 48), 236. Georg Jellinek hat 1896 in einer interessan­ ten Studie bemerkt, weder könne Österreich als dezentralisierter Einheitsstaat noch als Bundes­ staat bezeichnet werden. Georg Jellinek, Über Staatsfragmente, Heidelberg 1896, 54–55. 71 § 22 der Landesordnung (von 1861) für das Erzherzogtum unter der Enns, entsprechende Para­ graphen in allen Landesordnungen. Bernatzik, Verfassungsgesetze (wie Anm. 1), 276 (dort auch Kommentar Bernatziks, betreffend den 1896 erfolgten freiwilligen Verzicht der Länder auf Zu­ schläge zur Personaleinkommensteuer im Gegenzug gegen die Gewährung einer Dotation aus den Erträgen dieser Steuer); vgl. auch Mischler, Haushalt der österr. Landschaften (wie Anm. 44), 587. 72 Vgl. ebda., 585–586. 1905 ging in allen österreichischen Ländern der Prozentzuschlag zu den direkten Staatssteuern für Landeszwecke weit über die in den Landesordnungen normierten 10 % hinaus; er ging von einem Minimum von 26,1 % (Görz und Gradiska) über 65,3 % (Böhmen) oder

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Drittens: Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Landtage in den letzten Jahrzehn­ten Altösterreichs eine konservativere Kraft als der Reichsrat waren. Während das Abge­ordnetenhaus des Reichsrats 1906 das alte Kuriensystem abschüttelte, blieb dieses System in allen Landtagen bis zum Ende der Monarchie erhalten. In einigen – keineswegs allen – Landtagen kam es immerhin zu einer Teildemokratisierung mit der Einführung „allge­meiner“, an keinen Zensus mehr gebundenen Wählerkurien (für Männer), analog zur Ein­führung der allgemeinen Wählerkurie für Männer im Reichsrat 1896. Derartige allgemeine Wählerkurien wurden zwischen 1896 und 1909 in allen Kronländern des heutigen Bundes­gebiets mit Ausnahme Tirols eingeführt, weiters in Krain, Görz-Gradiska, Istrien sowie im Zusammenhang mit den nationalen Ausgleichsgesetzen in Mähren und in der Bukowina; in Galizien wurde die allgemeine Wählerklasse mit dem nationalen Ausgleich von 1914 eingeführt, aber in Hinblick auf den Ausbruch des Weltkriegs nicht mehr in die Praxis umgesetzt. Bemerkenswert ist, dass mit der Landtagsreform in Niederösterreich von 1907 für den Bereich der Stadt Wien nur eine allgemeine Wählerklasse galt, das Kurienwahl­recht also auf Niederösterreich außerhalb Wiens begrenzt wurde. Kurienlandtage im alten Sinne ohne allgemeine Wählerklasse verblieben demnach in Tirol, Dalmatien, Böhmen und Schlesien.73 Nach Einführung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts im Abge­ ordneten­haus des Reichsrats 1906 stellte sich die Regierung Beck bewusst allfälligen Bestrebungen entgegen, auch die Landtage in analoger Weise zu reformieren. Das Innenministerium stellte anfangs 1908 „Grundsätze“ für die Reform der Landtagswahlordnungen auf.74 Darin hieß es unter anderem, dass „nur die 81,5 % (Galizien) bis 94,9 % (Bukowina)! Ebda., 589. Bei Mischler auch ein prägnanter Überblick über die im März 1908 abgehaltene Enquête über die Landesfinanzen (ebda., S. 595–597). Zu dieser siehe: Stenographisches Protokoll der Enquête über die Landesfinanzen, 7. bis 12. März 1908, Wien 1908. Vgl. ferner: Hans Rizzi, Die Landeshaushalte und die Landeshaushaltsstatistik der öster­reichischen Länder, in: Statistisches Jahrbuch der autonomen Landesverwaltung in den im Reichs­rat vertretenen Königreichen und Ländern, 12. Jg., Wien 1914, 17–46. 73 Vgl. die vorzügliche kommentierende Zusammenfassung bei Bernatzik, Verfassungsgesetze, 845–852, mit einer Tabelle, S. 847, sowie die umfassende Studie von Felix Klezl-Norberg, Wahl­recht und Wahlstatistik der österreichischen Landtage, in: Statistisches Jahrbuch der autonomen Landesverwaltung in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, 9. Jg., Wien 1910, XIX–XCVI. 74 Auf diese „Grundsätze“, die im Allgemeinen Verwaltungsarchiv Wien erliegen (Min. des Inneren, Präs. 31/in gener. 1906–1909, Nr. 300 ex 1908), hat erstmals meine Schülerin Jutta Martinek in ihrer Dissertation „Materialien zur Wahlrechtsgeschichte der Großgrundbesitzerkurie in den österreichischen Landtagen seit 1861“ (phil. Diss. Wien 1977), 10–12, hingewiesen, der ich hier folge.



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energische Haltung der Regierung, welche der­artigen Bestrebungen mit Rücksicht auf den Charakter der Landesvertretungen entgegen­trat“, es den „gemäßigteren Elementen in den Landstuben“ ermöglichte, „die Reform­bewegung in mildere Bahnen zu lenken“. Es bedürfe wohl keiner weiteren Erörterung, dass „das allgemeine gleiche Wahlrecht von den Landtagen ferngehalten werden muß“. Die Reformbewegung solle in andere Bahnen gelenkt werden, die zwar den Massen der Bevöl­kerung Zutritt zu den Landtagen gewähre (allgemeine Wählerkurie), „diejenigen Klassen der Bevölkerung aber, welchen bisher mit Rücksicht auf ihre erhöhte Bedeutung für das wirtschaftliche Leben des Landes und der im Lande befindlichen autonomen Korpora­tionen der Einfluß in Landesangelegenheiten mehr oder weniger ausschließlich vorbehal­ten war, eine angemessene Anteilnahme an den Geschäften des Landes sichert und sie vor der Majorisierung durch die großen Wählermassen schützt“. Zur Sicherung dieses Ziels müsse fünf Punkten Rechnung getragen werden: Erstens: Wahrung der historischen Kontinuität – daher Aufrechterhaltung der beste­henden Kurien; zweitens: Beseitigung des nationalen Moments aus dem Wahlkampf – daher Sicherung einheitlich nationaler Wahlkörper (wo erforderlich); drittens: Vorsorge für eine entsprechende Vertretung der industriellen und agrarischen Produktionskreise – daher Scheidung der Städte- und LandgemeindeKurien; viertens: Heranziehung aller Schichten der männlichen Bevölkerung zum Wahlrecht – daher Ausdehnung des Wahl­rechts auf eine allgemeine Wählerklasse; fünftens: Sicherung der staatserhaltenden Ele­mente der Bevölkerung vor einer Majorisierung durch das Proletariat – daher Forderung nach einer angemessenen, wenigstens einjährigen Sesshaftigkeit75 oder einer einjährigen Steuerleistung, ferner Pluralwahlrecht für diejenigen Wähler, die an der Produktion und dem wirtschaftlichen Leben des Landes erhöhten Anteil nehmen, ebenso für „Intelligenz­ wähler“ (Geistliche, pensionierte Offiziere, Berufe, die ein abgeschlossenes Hochschul­studium voraussetzten). Die Demokratisierung der Landtage erfolgte erst nach dem Zusammenbruch der Mon­archie. Damit wende ich mich dem abschließenden Abschnitt dieser Studie zu.

75 Zu unterschiedlichen Sesshaftigkeitsbestimmungen und deren arbeiterfeindliche Tendenz siehe­ Bernatzik, Verfassungsgesetze, 850–851.

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V. Was hat die Revolution vom Herbst 1918 den Ländern in ihrem Verhältnis zum Gesamtstaat, dem nunmehr so sehr veränderten und verkleinerten Gesamtstaat, an Neuem gebracht? Ich kann und will nicht, am Schluss dieser Studie, ein umfassendes neues Thema über Entstehung, Entwicklung und Struktur des Bundesstaats in der Republik Österreich anschneiden. Ich möchte aber, zur Abrundung und zum Abschluss dieses Überblicks, drei Erwägun­gen anstellen. Erstens, und sehr kurz: Die Länder – jene, die bei der Republik zunächst Deutsch-­Österreich verblieben, konnten nun erst einen großen Schritt der Demokratisierung nach­vollziehen, der auf der Ebene des Gesamtstaatsparlaments, des Reichsrats, schon 1907 vor­weggenommen worden war: den Abschied vom ungleichen Kurienwahlrecht. Erst nach der Revolution kam also das allgemeine gleiche Wahlrecht in die Länder, allerdings dann auch schon, wie inzwischen auch auf Gesamtstaatsebene – der neuen Gesamtstaatsebene der Republik – als allgemeines und gleiches Wahlrecht der Männer und Frauen. Die Demokratisierung der Landtage ist also ein plötzlicherer und weitreichenderer Schritt gewesen als die Demokratisierung auf der Ebene des Parlaments in Wien. Zweitens, und etwas ausführlicher: Vielleicht die wichtigste Neuerung als unmittel­bare Folge der Revolution war die Unterstellung der alten kaiserlichen oder „landesfürst­lichen“ Verwaltung unter den Landeshauptmann. Kein von der zentralen Staatsregierung entsandter Präfekt, nein, der gewählte Landeshauptmann – zunächst provisorisch, später verfassungskonform gewählt – als Nachfolger des kaiserlichen Statthalters: Das ist, in meinen Augen, eine der ganz großen, der ganz wichtigen Veränderungen, ja Umwälzun­gen des Herbstes 1918. Die „Verländerung“ der staatlichen Verwaltung, von der ja nach 1918 viel gesprochen wurde – diese „Verländerung“ der staatlichen Verwaltung stellt, rückblickend gesehen, einen ganz großen posthumen Sieg der „Länderautonomie“ dar. Ich kann auf die einzelnen Schritte der „Verländerung“, die in der Bundesverfassungs­ novelle von 1925 kulminierten, dem zunächst noch vorhandenen Nebeneinanderbestehen der vormals landesfürstlichen und der vormals autonomen Behörden und Ämter, bis zur schließlichen Fusion von Landesverwaltung und „mittelbarer Bundesverwaltung“ 1925 nicht eingehen. Es steht außer Zweifel, dass die Länder durch die 1925 ihren Höhepunkt erreichende „Verländerung“ der Verwaltung – auch die Bezirkshauptmannschaften sind seit 1925 Landesbehör-



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den – einen außerordentlich bedeutenden Einfluss auf die Bundes­verwaltung erlangt haben.76 Die Bedeutung dieser Verlagerung ist sehr frühzeitig und sehr deutlich gesehen wor­den – in einer denkwürdigen Parlamentsdebatte am 14. November 1918 in der Proviso­rischen Nationalversammlung anlässlich der Beschlussfassung des Gesetzes, betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern. Überhaupt nur drei Personen haben diese wichtige Debatte bestritten, drei hervorragende Persönlichkeiten: Freiherr Paul von Hock, genannt „der rote Baron“, ein linksliberaler, hervorragend qualifizierter hoher Verwal­tungsbeamter, der Sohn jenes Carl von Hock, der vielen Historikern als Autor des Werkes über den altösterreichischen Staatsrat bekannt ist, Karl Renner, der Staatskanzler, und Jodok Fink, der christlichsoziale Vorarlberger.77 Baron Hock begrüßte die Beseitigung des Krebsschadens der altösterreichischen Ver­waltung, der viel zitierten „Doppelgeleise“; doch übte er, vom Standpunkt eines hohen, das gesamtstaatliche Interesse im Auge behaltenden Beamten, vernichtende Kritik an der Autonomisierung der staatlichen Verwaltung in den Ländern, denn Hock erkannte natür­lich, dass in dem Augenblick, in dem der Landeshauptmann als demokratisch legitimierter Mandatar des betreffenden Landes an die Spitze der Verwaltung im Lande trat, die Zen­tralregierung über keine wirklichen Sanktionen mehr verfügen würde. Stellen Sie sich vor, so stellte er die rhetorische Frage, „dass der Staatssekretär des Innern der neuen Regierung“ – Zwischenruf aus den Bänken: „den Schraffl absetzen wird“!78 Baron Hock fuhr also fort: Stellen Sie sich vor, dass der Staatssekretär des Innern ... „den Herrn Landeshauptmann Schraffl von Tirol jemals abzusetzen auch nur im entfern­testen in Aussicht nehmen wird? Der jeweilige Landeshauptmann ist einfach souverän, und wir haben in dem großen Gemeinwesen, das jetzt zu begründen unsere heilige Auf­gabe ist, nichts geschaffen als eine wesenlose Zentralgewalt und eine Reihe von vollstän­dig souveränen Republiken.“79 Hock, ein demokratischer Freund des Anschlusses an Deutschland, meinte – darin ja den Ideen eines Hans Kelsen nicht unähnlich –, man brau­che gar keine „Landesverwaltungen mehr, keine Länder mehr, keine Landesgesetze mehr und 76 Vgl. unter anderem Florian Gröll, Gemeindefreiheit (wie Anm. 48), 14. 77 Zum Folgenden vgl. Stenographische Protokolle der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich, 4. Sitzung, 14. November 1918, 109–114. 78 Ebda., 110. Schraffl war Landeshauptmann von Tirol. Der Zwischenrufer war niemand anderer als Josef Redlich. 79 Ebda.

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natürlich keine Landeshauptleute mehr“, wohl aber Kreise als zweckmäßigste ad­ ministrative Einheit. Für die staatliche Verwaltung in den Ländern fürchtete Hock nun sehr: Er fürchtete, „dass die autonome Verwaltung, die ja denn doch – das soll ganz ohne Gehässigkeit ausgesprochen sein, es liegt in der Natur der Sache – immer eine partei­mäßige ist und sein muss, in allen Belangen den Staat“ durchdringen würde.80 Karl Renner antwortete mit Respekt für den ihm sympathischen Hock. Ohne Zweifel sei „der Beschluss, die ganze staatliche Verwaltung in der Mittelstelle zu autonomisieren und der Selbstregierung des Volkes zu unterstellen“, von ernsten Folgen. Aber, von anderen Gründen abgesehen, war eben die alte Doppelverwaltung zu überwinden. Hier, so Renner, „gibt es nur ein aut-aut, ein Entweder-Oder: entweder ganz bureaukratisieren oder ganz autonomisieren. Und da mussten wir uns, dem Geist der Zeit entsprechend, für das letztere entscheiden, nämlich dort die Volksregierung einzuführen.“ Er fügte hinzu: „Wir müsssen an die Demokratie glauben. An die Bürokratie können wir nicht mehr glauben.“81 Als dritter und letzter sprach Jodok Fink, der Vorarlberger: Auch er stellte sich gegen Hock und meinte im übrigen beschwichtigend, die Alleinregierung irgendeiner poli­tischen Partei sei nicht in Aussicht genommen, die Landesregierungen würden nach dem Proporz gebildet werden.82 Wie dem auch sei: Die „Verländerung“ dessen, was jahrhundertelang die lan­ des­fürst­liche Verwaltung gewesen war, die Übernahme dieser Verwaltung in die Obhut der par­teienstaatlichen Demokratie auf Landesebene nach 1918 bedeutet unter langfristigen histo­rischen Perspektiven eine Gewichtsverlagerung vom „Gesamtstaat“ zur „Länderautono­mie“, die in meinem Urteil schwerer wog als manche Kompetenzfragen; es war dies der bedeutendste Gewinn, den die Länder aus der Revolution von 1918 gezogen haben. Drittens: In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich ein Gelehrtenstreit, vor allem ein Juristenstreit, über den Stellenwert der Beitrittserklärungen der Länder zur Republik abgespielt, wobei traditionell einheitsstaatliche Thesen wie jene Hans Kelsens von Ver­tretern einer originären Selbständigkeit der Länder, insbesondere Peter Pernthaler, kri­tisiert wurden.83 Empirische Forschungen von Histo80 81 82 83

Ebda., 111. Ebda., 112–113. Ebda., 113. Peter Pernthaler, Die Konstituierung des Bundesstaates „Republik Österreich“ aus der Sicht der selbständigen Länder Tirol und Vorarlberg, in: Festschrift Nikolaus Grass, hg. von Louis Carlen und Fritz Steinegger, Innsbruck–München 1974, 725–744; ders., Die Staatsgründungs-



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rikern wie Gottfried Köfner84 und Rechtshistorikern wie Georg Schmitz85 haben viel zur Entschärfung und Klärung beigetra­gen; die ganz enge Zusammenarbeit von Trägern der provisorischen Zentralgewalt der Republik mit den provisorischen Spitzenmandataren der Länder gerade in den späten Oktober- und frühen Novembertagen 1918 ist herausgearbeitet worden.86 Ohne auf die juristischen Kontroversen einzugehen, möchte ich den beträchtlichen politisch-moralischen Stellenwert dieser vom Staatskanzler Renner initiierten Beitritts­erklärungen betonen. Renner selbst hat einmal voller Stolz der dritten Länderkonferenz Ende Jänner 1919 zugerufen: „… die pragmatische Sanktion ist im Wege der Demokratie für die ehemaligen deutschen Erblande tatsächlich erneuert!“87 – Es spricht für das Vorhan­densein von Gemeinsamkeiten in Österreich – auch schon zu Zeiten der innerlich so zer­rissenen Ersten Republik –, dass ein großer parteipolitischer Gegner Renners, niemand anderer als Ignaz Seipel, einmal anlässlich eines Vortrags in München 1929 versöhnlich gesagt hat: „Es war keine schlechte Idee des ersten österreichischen Kanzlers, des alten Großösterreichers Dr. Renner, von den Ländern Beitrittserklärungen zu erlangen – oder wenigstens zu präsumieren. Daß er es frühzeitig tat, daß er dem Friedensdiktat damit zuvorkam, war eine noch bessere Idee. Er hat damit ein Stück österreichisches Staatsgefühl begründet.“88

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akte der österreichischen Bundesländer (= Schriften des Instituts für Föderalismusforschung 14, Wien 1979). Gottfried Köfner, Eine oder wie viele Revolutionen? Das Verhältnis zwischen Staat und Ländern in Deutschösterreich im Oktober und November 1918, in: Jahrbuch für Zeitgeschichte 1979, Wien 1980, 131–167. Georg Schmitz, Die Verfassungsgespräche mit den österreichischen Ländern 1919/20, in: Zeit­ schrift für Neuere Rechtsgeschichte 1979, 21–40; zuletzt ders., Karl Renners Briefe aus Saint Ger­main und ihre rechtspolitischen Folgen (= Schriftenreihe des Hans-Kelsen-Instituts 16, Wien 1991). Demokratisierung und Verfassung in den Ländern 1918–1920, hg. von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (Vorwort von Alfred Ableitinger), St. Pölten–Wien 1983. Zit. aus dem Stenographischen Protokoll der 3. Länderkonferenz vom 31. Jänner 1919 bei Ge­ rald Stourzh, Hans Kelsen, die österreichische Bundesverfassung und die rechtsstaatliche Demokratie, zuletzt in ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, Wien 1989, 315. Ignaz Seipel, Der Kampf um die österreichische Verfassung, Wien–Leipzig 1930, 166.



3. Die Grundrechte in der Paulskirche und im Kremsierer Reichstag: Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Rezeptionen

In seinem Buch über die „Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der frühen Neuzeit“ hat Wolfgang Schmale bemerkt, dass „Frankreich mit der Revolution und der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 eine das Bewußtsein bis heute prägende ‚Urerfahrung‘ gemacht hat, zu der es in Deutschland schlechterdings kein vergleichbares, ähnlich prägendes Phänomen gibt“.1 Das trifft wohl zu, auch für Österreich, und auch das legitime und, wie ich vorwegnehmen möchte, erfolgreiche Bemühen, in den 48er-Grundrechten die Fundamente der „Grundrechtskultur“ der Gegenwart sowohl in Deutschland als auch in Österreich zu erkennen, ändert nichts an Wolfgang Schmales Befund. Warum ist das so? Ich möchte vier Gründe nennen. Erstens ist sowohl vom zeitlichen Verlauf her wie von der Tiefendimension der Umwälzung der Legitimationsgrundlagen staatlicher Herrschaft die Nachhaltigkeit der Revolution von 1789 unvergleichlich größer als jene der 48er-Revolution in Deutschland und zumindest in Teilen des Habsburgerreiches gewesen. Dazu kommt, dass die Interpretationsgeschichte der Französischen Revolution selbst eine Erfolgsgeschichte ersten Ranges der Anpassung an neue gesellschaftspolitische Entwicklungen ist – ich denke an François Furets brillante Entschlackung der französischen Revolutionsgeschichte von ihrer „gauchistischen“ und marxistischen Patina und ihre Neuplacierung im „mainstream“ des westlichen Liberalismus, wie sie rund um den bicentennaire von 1989 deutlich wurde. Zweitens, und um den Texten der Grundrechtserklärungen näherzukommen, war die Erklärung von 1789 von einem mitreißenden naturrechtlichen Pathos erfüllt, das in der Paulskirche schon im Keime erstickt wurde. Georg Beseler hat festgehalten, dass „das ernste Bestreben bestand, sich von der Proklamation allgemeiner 1 München 1997, 30.

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3. Die Grundrechte in der Paulskirche und im Kremsierer Reichstag

Menschenrechte fern zu halten, ein nationales Werk zu begründen“.2 In Österreich war der Menschenrechtstopos zwar stärker und länger als in Frankfurt wirksam, aber noch vor Jahresende 1848 fiel er dem Erstarken der gegenrevolutionären Macht zum Opfer. Die moralische Wirkung von naturrechtlich-menschenrechtlich grundierten Texten ist wohl epochenübergreifend stärker als die ausschließliche Verankerung im positiven Recht – auch wenn, wie der englische Rechtsphilosoph H. L. A. Hart einmal gesagt hat, nie so viel über das Naturrecht geredet wird, wie wenn man sich um die Verankerung naturrechtlicher Postulate im positiven Recht bemüht. Drittens zeichnete sich die Erklärung von 1789 durch ein hohes Ausmaß an generalisierenden Aussagen aus, auch wenn manche dieser Aussagen schon gleichzeitig mit ihrer Verkündung desavouiert wurden – so wurde Art. 6, wonach alle Bürger das Recht hätten, „persönlich oder durch ihre Vertreter“ an der Formulierung des Gesetzes als Ausdruck der volonté générale mitzuwirken, durch die Zweiteilung der Bürger in Aktivbürger und Passivbürger desavouiert. Die 1848er waren da genauer und vorsichtiger, wenn etwa Georg Beseler davon sprach,3 „daß bei der großen socialen Bewegung, die ganz Deutschland ergriffen hat, von hier aus ein Wort darüber gesprochen werde, wo wir die Grenze finden, über welche diese Bewegung nicht hinausgeführt werden soll“. Viertens, und im Anschluss an den vorherigen Punkt, ist zu bedenken, dass die relative Kürze der Erklärung von 1789 es erleichterte, in ihr so etwas wie die zehn Gebote der neuen Zeit zu sehen. Die 48er-Erklärungen waren ja eben viel umfangreicher und detaillierter – obgleich auch die Grundrechte der Paulskirche nach dem Vorbild der mosaischen Gesetztafeln dargestellt wurden.4 Der Vergleich mit 1789 ist insofern nicht fair, als ja die französische Verfassung von 1791 zusätzlich zu der ihr vorgespannten 89er-Erklärung an ihren Beginn eine Reihe von (nicht als Artikel nummerierten) Grundrechtsverbürgungen (Abschaffung des Adels, käuflicher oder erblicher Ämter, Abschaffung von Privilegien, Abschaffung der Zünfte) und eine Reihe von „dispositions fondamentales“ stellte, die von der Verfassung garantiert seien. Vergleiche von Grundrechtserklärungen müssten diese üblicherweise ignorierten zusätzlichen Texte mit enthalten. 2 Georg Beseler, Erlebtes und Erstrebtes, Berlin 1884, 63. Es hat allerdings sehr wohl in Frankfurt einige bemerkenswerte Äußerungen der menschenrechtlich-naturrechtlichen Position gegeben, so von Heinrich Ahrens und dem Grazer Titus Mareck. 3 Franz Wigard, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung, Frankfurt/Main 1848–49, I, 700. 4 Kolorierte Lithographie von Adolf Schrödter, in Katalog der Ausstellung „1848 – Aufbruch zur Freiheit“, hg. v. L. Gall, Frankfurt/Main 1998, 237.



3. Die Grundrechte in der Paulskirche und im Kremsierer Reichstag

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Doch genug der Vergleiche mit 1789 oder 1791. Die Grundrechtserklärungen von 1848, jene der Paulskirche ebenso wie jene des Wiener bzw. Kremsierer Reichstages und natürlich auch die „Charte Waldeck“ (der liberale Verfassungsentwurf der preußischen Nationalversammlung vom Juli 1848, benannt nach dem Abgeordneten Benedikt Waldeck), auf die ich hier nicht eingehe, hatten, wie alle Grundrechtserklärungen, die wir kennen, bestimmte aus ihrem historischen Kontext erkennbare und erklärbare Stoßrichtungen. In den 48er-Grundrechtstexten sind zwei Stoßrichtungen deutlich erkennbar, durchaus miteinander gekoppelt, die ich jedoch getrennt und etwas ausführlicher kommentieren möchte. Die erste Stoßrichtung wandte sich gegen die ständische Gesellschaftsgliederung oder deren Reste. Klassischer Ausdruck dieser Stoßrichtung ist der Kommentar des Frankfurter Verfassungsausschusses zu Art. II seines Entwurfs der Grundrechte des deutschen Volkes: „Die allgemeine Idee des modernen Staates, welcher im Gegensatz zu den Rechtszuständen des Mittelalters statt der Freiheiten die Freiheit, statt der Rechte das Recht gewähren will, ist an die Spitze des § 6 gestellt worden.“5 Dessen erster Satz lautet: „Alle Deutschen sind gleich vor dem Gesetze.“ Drei Folgerungen aus diesem Satz wurden hinzugefügt: „Standesprivilegien finden nicht statt. Die öffentlichen Ämter sind für alle dazu Befähigten gleich zugänglich. Die Wehrpflicht ist für Alle gleich.“6 Der moderne Staat wolle „statt der Freiheiten die Freiheit, statt der Rechte das Recht gewähren“. Damit ist in unglaublicher Kürze die zentrale Botschaft des modernen, des im weitesten Sinne liberalen, manche würden sagen des bürgerlichen Staates zum Ausdruck gebracht. Diese Botschaft, gegen die alten Ordnungen der ständisch gegliederten, auf unterschiedlichen Privilegierungen beruhenden Gesellschaft (wobei es bekanntlich nicht bloß privilegia favorabilia, sondern auch privilegia odiosa gab – man denke an die Judenordnungen!) gerichtet, impliziert – die Grundrechtstexte von Frankfurt oder Kremsier sprachen es aus, andere Texte wie die belgische Verfassung von 1831 hatten es vorher ausgesprochen – die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz.7 5 Zit. u. a. in Heinrich Scholler, Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, 2. Aufl. Darmstadt 1982, 78. 6 Ebd. 73. 7 „Die Belgier sind vor dem Gesetze gleich“ (in Art. 6 der belgischen Verfassung von 1831). Dieser Artikel folgte entsprechenden Artikeln der französischen Charte von 1814 sowie jener von

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3. Die Grundrechte in der Paulskirche und im Kremsierer Reichstag

Ich bin daher geneigt, der Gleichheit vor dem Gesetz und damit einer Ausprägung des Gleichheitsgedankens neben den sonst für 1848 so sehr in den Vordergrund gestellten Begriffen der nationalen Einheit und der bürgerlichen Freiheit einen wichtigen Stellenwert als eine Chiffre der Verfassungsbewegung von 1848 einzuräumen, – einen größeren Stellenwert, als dies etwa Otto Dann in seinen bekannten Studien über den Gleichheitsbegriff getan hat.8 Gewiss trifft es zu, dass die Gleichheit vor dem Gesetz, die von den 48ern an zentraler Stelle – zeitweise an erster Stelle,9 dann an zweiter Stelle nach den die Einheit des Staatsvolkes begründenden Bestimmungen – gesetzt wurde, aus unserer Sicht zahlreichen teils ausgesprochenen, teils unausgesprochenen Einschränkungen unterworfen war. Die Gleichheitssprache der 48er war männlich; sonst wäre die Formulierung „Die Wehrpflicht ist für alle gleich“ unmöglich gewesen. Und wenn es hieß, die öffentlichen Ämter seien für alle dazu Befähigten gleich zugänglich, dann schob die Nichtzulassung von Frauen für zahlreiche nur durch das höhere Studium zu erreichende Qualifizierungen (= Befähigung im juristischen Sinne!) einen großen Riegel vor die Chancen der im natürlichen Sinne gleich Befähigten! Die Gleichheit vor dem Gesetz schloss bekanntlich – obgleich aus heutiger Denkweise in der Tat schwer nachvollziehbar – das demokratische Wahlrecht für Männer (vom Frauenwahlrecht ganz zu schweigen) nicht ein. Der „Grundrechtsstaat“, wie die Staatsvorstellung der Paulskirche wohl zutreffend von Diethelm Klippel bezeichnet worden ist,10 war nicht notwendigerweise eine „Grundrechtsdemokratie“.11 Und Dann ist zuzustimmen, wenn er die Ängstlichkeit aufzeigt, mit der in Frankfurt ebenso wie in Wien einige Abgeordnete vor möglichen „Konsequenzen kommunistischer Art“ warnten. Doch scheint mir Dann die ganz grundlegende Stoßrichtung der „Gleichheit vor dem Gesetz“ – nämlich die Abschaffung einer jahrhundertealten ständischen Rechtsordnung – 1830. Hierzu John Gilissen, Die belgische Verfassung von 1831 – ihr Ursprung und ihr Einfluß, in: Werner Conze, Hg., Beiträge zur deutschen und belgischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1967, 38–69, hier 53. 8 Hier Artikel „Gleichheit“ in O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck, Hrsg., Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1972–1997, Bd. 2, 1036–1037. 9 Von Beseler und Droysen revidierte Fassung des Vorentwurfs des Verfassungsausschusses, bei Scholler, 68. 10 Diethelm Klippel, Artikel „Staat und Souveränität, 7. Rechtsstaat“, in: Geschichtliche Grundbegriffe 6, 75. 11 Ausdruck geprägt von Wolfgang Fikentscher, übernommen in: Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie, Wien 1989.



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zu unterschätzen, wenn er schreibt: „Daß sozialpolitische Entscheidungen jedoch bei der Formulierung des Paragraphen über die Gleichheit gar nicht zu umgehen waren, zeigen die weiteren Debatten, bei denen es vor allem um das Problem der Abschaffung des Adels ging.“12 Die Abschaffung des Adels war weit mehr als eine „sozialpolitische Entscheidung“; es ging um die Ablösung von einer grundlegend hierarchisch geprägten Rechts- und Weltordnung zugunsten einer individualistisch geprägten Recht- und Weltsicht.13 12 Geschichtliche Grundbegriffe 2, 1037. Die Angst vor den kommunistischen Konsequenzen des Gleichheitsbegriffs wurde im österreichischen Reichstag übrigens von niemand Geringerem als František Palacký ausgesprochen. Alfred Fischel, Die Protokolle des Verfassungsausschusses über die Grundrechte, Wien u. Leipzig 1912, 35. 13 Im endgültigen Text der Frankfurter Grundrechte kommt dies noch deutlicher zum Ausdruck als im Entwurf des Verfassungsausschusses: Art. II der Grundrechte des deutschen Volkes (= § 137 der Frankfurter Reichsverfassung) lautet: „Vor dem Gesetz gibt es keinen Unterschied der Stände. Der Adel als Stand ist aufgehoben. Alle Standesvorrechte sind abgeschafft. Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Alle Titel, insoweit sie nicht mit einem Amt verbunden sind, sind aufgehoben und dürfen nie wieder eingeführt werden. Kein Staatsangehöriger darf von einem ausländischen Staat einen Orden annehmen. Die öffentlichen Ämter sind für alle Befähigten gleich zugänglich. Die Wehrpflicht ist für alle gleich. Stellvertretung bei derselben findet nicht statt.“ (Zit. u. a. Scholler, 98). Die anti-ständische Stoßrichtung wird m. E. völlig zu Recht stark hervorgehoben in dem umfassenden Werk von Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, Neuwied 21998, 287 ff.; zur zentralen Stellung und Spannweite des Gleichheitsgebots in den Frankfurter Grundrechten ebd. 327–329. Wolfram Siemann vermerkt in einem höchst instruktiven Werk, dass die österreichischen Abgeordneten in Frankfurt mit einer auffallend vernunftrechtlichen Argumentation hervortraten und dass tatsächlich österreichische Juristen in der Paulskirche erheblich weniger die Aufhebung des Adels ablehnten als Nichtösterreicher. Siemann, Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 zwischen demokratischem Liberalismus und konservativer Reform. Die Bedeutung der Juristendominanz in den Verfassungsverhandlungen des Paulskirchenparlaments, Bern–Frankfurt 1976, 136–138. Der Kremsierer Grundrechtskatalog („Grundrechte des österreichischen Volkes“) beginnt in seiner letzten Fassung (2. Lesung im Plenum) mit den Worten: „Vor dem Gesetze sind alle Staatsbürger gleich.“ Auch hier wird normiert, dass alle Standesvorrechte abgeschafft sind und dass die „öffentlichen Ämter und Staatsdienste“ für „alle dazu befähigten Staatsbürger gleich zugänglich“ sind. Fischel, Grundrechte, 198. Die sehr klare und gedankenreiche Debatte im Verfassungsausschuss zur Bedeutung der Gleichheit vor dem Gesetz, in der ausdrücklich auf die französischen Verfassungen („Charte constitutionelle“) von 1814 und 1830 verwiesen wurde, ebd. 35–36.

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Doch möchte ich auf die große Bedeutung der Verankerung der Gleichheit vor dem Gesetz noch aus einem weiteren, von 1848 in die unmittelbare Gegenwart weisenden Grund aufmerksam machen. Der Gleichheitssatz ist im zeitgenössischen Verfassungsrecht der meisten modernen Grundrechtsdemokratien zu einem zentralen, mit ganz besonderer Häufigkeit in Verfassungsbeschwerden eingeklagten Grundrecht geworden, das andere Grundrechte an Bedeutung weit überflügelt hat.14 In Deutschland ebenso wie in Österreich – in Österreich sogar noch direkter und unmittelbarer als in Deutschland, wie ich zum Schluss zeigen werde – geht der Gleichheitssatz aber eben auf die 48er-Grundrechte zurück. Die zweite Stoßrichtung der Grundrechtserklärungen war gegen jene Gemengelage aus Zensur, Überwachung, Verwaltung „von oben“ und Willkür gerichtet, die die 48er als „Polizeistaat“ brandmarkten. In zahlreichen Äußerungen stellten sie dem „Polizeistaat“ – in Österreich einmal auch dem Machtstaat – den „Rechtsstaat“ gegenüber. Und um den „Rechtsstaat“ zu verbürgen, mussten eben „Grundrechte“ als Verbürgungen unüberschreitbarer Schranken für die Staatsmacht festgelegt werden. „Jedenfalls sei der Schutz der Rechte des einzelnen der Hauptzweck des Staates und vorzusorgen, daß sich der Staat ein mehreres Recht nicht anmaße.“ Dies sagte Bemerkenswert klar kommt der anti-ständische, individualistisch-liberale Grundansatz der Mehrheit der Paulskirche in den Kommentaren des Ausschusses für Volkswirtschaft zur Frage der unbeschränkten Teilbarkeit von Grund und Boden zum Ausdruck. Früher war der „Staat jedes einzelnen“ zunächst „die Familie und dann die Corporation oder der Orden“. In der neuen Zeit, in der sich neben Grund und Boden ein großes bewegliches Nationalkapital entwickelt hat, sind nun alle Individuen „in geordneten Staatsgebäuden vereinigt, welche Jedem Schutz und Sicherheit gewähren. Die Familien sind nicht mehr Sicherheitsanstalten für die einzelnen Blutsverwandten, sondern nur sittliche und geistige Erziehungsanstalten des unmündigen Geschlechts für die Gesellschaft.“ Zit. Scholler, 91. 14 Man bedenke die große Zahl von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zum Gleichheitssatz (USA, 14. Verfassungszusatz, „equal protection clause“; Bundesrepublik Deutschland, Art. 3, Abs. 1 GG; Österreich, Art. 2 Staatsgrundgesetz über die allg. Rechte d. Staatsbürger). Aufschlussreich Alexander v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. Ein systematischer Verfassungsvergleich, 1992, 112–123. – In der Tat ist es so, wie Gerhard Leibholz in seinem klassischen Buch über die Gleichheit vor dem Gesetz geschrieben hat, dass dem Gleichheitsgedanken die immanente Tendenz zu eigen ist, sich zu radikalisieren, weil der Gleichheitsgedanke ein generalisierender und abstrakter Gedanke ist – im Unterschied zu den jeweils konkret umschriebenen Privilegierungen der geburtsständischen Gesellschaft. Gerhard Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1925, 24–29. Hierzu auch Gerald Stourzh, Menschenrechte und Genozid, in: FS Friedrich Koja, Wien – New York 1998, 141. Nunmehr nachgedruckt in: Gerald Stourzh, Spuren einer intellektuellen Reise, Wien/Köln 2009, 124.



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František Ladislav Rieger15, der Hauptentwerfer des ersten Grundrechtsentwurfs im österreichischen Reichstag und einer der führenden Köpfe im Verfassungsausschuss des Reichstags. Und weiters meinte Rieger, bei „Ausarbeitung einer Verfassungsurkunde“, namentlich einem Katalog der Grundrechte, „habe man den Staat nur als Rechtsstaat an sich anzusehen und sich nicht zu kümmern, was er außerdem, wie z. B. der österreichische Staat bei dem gegenwärtigen italienischen Kriege, noch zu seinem Zwecke mache“.16 In der Paulskirche wurde immer wieder vom alten Polizeistaat gesprochen, dessen Wiederkehr zu verhindern sei. Ein Abgeordneter (Carl A. Spatz, Sten. Ber. III, 1584) verlangte einen Grundrechtszusatz, dass „jeder befugt sei, alles zu tun, was durch die Gesetze nicht verboten“ sei, und begründete seinen Antrag damit, „weil wir bisher in einem Polizeistaat lebten, und weil, wenn wir auch jetzt aus dem Polizeistaate in den Rechtsstaat übergehen, doch noch sehr viele Beamte mit hinüber genommen werden, welche die bisherige Übung des Polizeistaats liebgewonnen haben“. Hinzuzufügen ist allerdings, dass der Rechtsstaat im liberalen Sinn eben, um einen bereits verwendeten Ausdruck zu wiederholen, de facto ein „Grundrechtsstaat“ sein musste, da der Begriff des Rechtsstaats, wie Friedrich Julius Stahl demonstrierte, auch in konservativ-monarchischem Sinn interpretiert werden konnte.17 Die vorhin zitierte Äußerung Riegers im Wiener Verfassungsausschuss zeigt in diese Richtung; in Frankfurt äußerte sich der Abgeordnete Wilhelm Adolf Lette ähnlich, als er meinte, wenn die beschlossenen Grundrechte das politische Bewusstsein der Nation und den Staatsorganismus bereits durchdrungen hätten, dann würden somit „die wichtigsten Prinzipien, auf denen wir den neuen Rechtsstaat zu erbauen haben“, feststehen.18 Ging es also in Frankfurt ebenso wie in Wien um die Errichtung eines „Grund­ rechtsstaates“,19 so gab es doch, um ein nur kurz gestreiftes Thema wiederaufzunehmen, bemerkenswerte Unterschiede zumindest im zunächst beabsichtigten und geplanten Begründungszusammenhang. Die menschenrechtlich-naturrechtliche Begründungskomponente war im Wiener Reichstag deutlich stärker aus15 Fischel, Protokolle, 14. Rieger, geb. 1818, Dr. jur., steht als Politiker vielleicht zu Unrecht stets im Schatten seines viel berühmteren Schwiegervaters František Palacký. 16 Ebd. 17 Vgl. Klippel in: Geschichtliche Grundbegriffe 6, 76. 18 Sten. Ber. VII, 5130. Diese und ähnliche Belegstellen in dem bereits zitierten Artikel von Klippel in: Geschichtliche Grundbegriffe 6, 75. 19 „Die Grundrechte sind es, die den formellen Rechtsstaat gleichsam ‚materialisieren‘, ihn mit den jeweiligen Gerechtigkeitsvorstellungen erfüllen“, hat Wolfgang Mantl in einer bemerkenswerten Studie „Menschenrechte und Grundfreiheiten im Verfassungsstaat“ geschrieben, in: Reinhard Rack, Hg., Grundrechtsreform. Wien–Köln–Graz 1985, 26.

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geprägt als in Frankfurt. In Wien wie in Frankfurt setzte der jeweilige Verfassungsausschuss eine Dreiergruppe zur Ausarbeitung der Grundrechte ein. Die Frankfurter Dreiergruppe, bestehend aus Dahlmann, Robert von Mohl und dem Österreicher Mühlfeld, zu der bald als revidierende Persönlichkeiten Beseler und Droysen kamen, war deutlich konservativer als die in Wien eingesetzte Dreiergruppe, bestehend aus dem bereits genannten František Ladislav Rieger, aus Ernst Violand und dem Deutschmährer Franz Hein. Die starke Bindung der bedeutendsten Frankfurter Juristen an die Historische Rechtsschule ist in dem bereits genannten Buch von Wolfram Siemann aufgezeigt worden.20 Siemann hat den sehr großen Unterschied der Juristenausbildung an den führenden deutschen Universitäten einerseits und im Habsburgerreich andererseits sehr präzise herausgearbeitet. In Österreich dominierte die naturrechtliche Begründung des Staates im Gegensatz zu den vor allem in Berlin und Göttingen verkündeten Lehren der Historischen Rechtsschule ganz eindeutig. Österreich war, was die Juristenausbildung betraf, ein „hermetisch abgeschlossener Binnenraum“. Kein einziger der aus Österreich kommenden Abgeordneten der Paulskirche hatte an einer Universität außerhalb des Habsburgerreiches studiert!21 Allerdings ist neuestens gezeigt worden, wie sehr die naturrechtliche Grundlage der österreichischen Juristenausbildung, auf den Lehrbüchern von Joseph von Sonnenfels, Carl Anton von Martini und Franz von Zeiller beruhend, im frühen 19. Jahrhundert „entschärft“ wurde – jedoch keineswegs in Richtung der bis 1848 an den österreichischen Juristenfakultäten unbekannt bleibenden Historischen Rechtsschule, sondern in Richtung einer kaiserlich-katholischen Pragmatik.22 20 Siemann, Frankfurter Nationalversammlung, bes. 80–98, auch 261. 21 Sehr aufschlussreich ebd., 52–53 (Zitat S. 52). 22 Waltraud Heindl hat gezeigt, wie der Wiener Professor Franz Egger schon 1809/10 das Ganze der Staatsphilosophie in zwei Teile spaltete: in einen naturrechtlichen Begründungszusammenhang für Juristen und einen auf das kaiserliche Gottesgnadentum abstellenden Begründungszusammenhang für „Moralisten und Politiker“: Egger schrieb: „Es gibt daher keinen zureichenden Grund, welcher den Juristen nötigt, die Ableitung bürgerlicher Oberherrschaft unmittelbar aus einem Vertrag aufzugeben. Anders ist es mit den Moralisten und Politikern, welche dieselben richtig und zweckmäßig als von Gott herrührend darstellen.“ Zitiert aus Franz Egger, Das natürliche öffentliche Recht nach den Lehrsätzen des Freiherrn von Martini vom Staatsrecht mit beständiger Rücksicht auf das natürliche Privatrecht des k.k. Hofrates von Zeiller, Wien 1809/10, 55 (§ 60), in der sehr aufschlussreichen Studie von Waltraud Heindl, Bildung und Recht. Naturrecht und Ausbildung der staatsbürgerlichen Gesellschaft in der Habsburgermonarchie, in: Geschichte und Recht. Festschrift für Gerald Stourzh zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Thomas Angerer, Birgitta Bader-Zaar u. Margarete Grandner, Wien–Köln– Weimar 1999, 183–206, hier 200–201.



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Die drei mit der Ausarbeitung der Grundrechte im Wiener Reichstag beauftragten Abgeordneten waren andererseits vom naturrechtlichen Ursprung der Grundrechte überzeugt und verteidigten ihn vehement gegen Skeptiker in den Reihen des Verfassungsausschusses.23 In dieser Wiener Dreiergruppe, zumal bei dem federführenden Rieger, fand Gustav von Struves berühmter Artikel über die Menschenrechte vom Jahre 1847 im Supplement zum Rotteck-Welcker’schen Staatslexikon ein starkes Echo. Bei Struve fanden sich auch Hinweise auf die Verfassung des 1845 in die Vereinigten Staaten aufgenommen Staates Texas, und man hat gezeigt, wie manche Formulierungen und Ideen aus der Verfassung von Texas, von Struve zitiert, in Riegers Grundrechtsentwurf Eingang gefunden haben.24 § 1 der österreichischen Grundrechte lautete nach der ersten Lesung im Verfassungsausschuss Ende September 1848, Riegers Erstentwurf leicht modifizierend, wie folgt: „Alle Menschen haben gleiche, angeborene und unveräußerliche Rechte, deren wichtigste sind: das Recht auf Selbsterhaltung, auf persönliche Freiheit, auf Unbescholtenheit und auf Förderung des eigenen geistigen und materiellen Wohles.“25 Erst im Dezember 1848 – nach dem „Wiener Oktober“ und dem Umzug des Reichstags nach Kremsier in Mähren – ereignete sich im Verfassungsaus-

23 Aufschlussreich Fischel, Protokolle, 14–17 (Sitzung v. 24. August 1848). Der Deutschmährer Franz Hein, der von der Hauptstadt Österreichisch-Schlesiens, Troppau, in den Reichstag entsendet wurde, bemerkte, der von der Dreiergruppe vorgeschlagene sich auf die Menschenrechte berufende Einführungsparagraph sollte schon deshalb beibehalten werden, „als wir in Österreich bisher von Menschenrechten nichts wußten und als ja auch die österreichischen Staatsbürgerrechte ihren Grund im Naturrechte haben“. Ebd. 15. Abgesehen von der bereits erwähnten theoretisch-naturrechtlichen Ausrichtung der österreichischen Juristenlehrbücher vor 1848 kannte jeder österreichische Jurist den § 16 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1811: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht wird in diesen Ländern nicht gestattet.“ 24 Fischel, Protokolle, S. XII; insbes. ist der § 14 des Riegerschen Entwurfs, wonach jeder Mensch ein unverletzliches Recht habe, Gott nach seiner Einsicht und seinem freigewählten Bekenntnisse zu verehren, stark von Formulierungen der von Struve zitierten texanischen Verfassung geprägt. Vgl. ebd. 181. Gustav von Struves sehr bemerkenswerter Artikel „Menschenrechte“ in: Supplemente zur ersten Auflage des Staats-Lexikons oder der Encyklopädie der Staatswissenschaften, ... hrsg. von Carl von Rotteck und Carl Welcker, Dritter Band, Altona 1847, 611–622; der (auszugsweise) zitierte Rechtekatalog der Verfassung von Texas (übrigens ebenso wie Virginia, die Heimat der berühmten Virginia Bill of Rights, ein Sklavenstaat!) ebd. 615–616. Art. 4 dieses Grundrechtskatalogs lautet nach Struve wie folgt: „Alle Menschen haben ein natürliches und unzerstörbares Recht, Gott nach den Vorschriften ihres Gewissens anzubeten.“ Ebd. 616. 25 Fischel, Protokolle, 182.

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schuss das, was Wolfgang Mantl als die „positivistische Wende“26 bezeichnet hat: Jene Abgeordneten, die für die Weglassung der menschenrechtlichen Eingangsparagraphen stimmten, „weil“, so der Deutschmährer Kajetan Mayer, einer der bedeutenden Kompromisspolitiker des Reichstags, „wir ein positives Gesetz erlassen, dasselbe also nicht mit philosophischen Spekulationen beginnen sollen“, setzten sich im Verfassungsausschuss durch.27 Es ist übrigens zu bedenken, dass im multiethnischen Staat des Habsburgerreichs eine Hinwendung zu einer als „Ausdruck des Volksgeistes“ historisch begründeten Rechtsordnung auf große Schwierigkeiten gestoßen wäre. Generationen später hat ein Zeuge der letzten Jahrzehnte der Habsburgermonarchie, Hans Kelsen, bemerkt: „Angesichts des österreichischen Staates, der sich aus so vielen nach Rasse, Sprache, Religion und Geschichte verschiedenen Gruppen zusammensetzte, erwiesen sich Theorien, die die Einheit des Staates auf irgendeinen sozial-psychologischen oder sozial-biologischen Zusammenhang der juristisch zum Staat gehörigen Menschen zu gründen versuchten, ganz offenbar als Fiktionen.“28 Die „positivistische Wende“ ist allerdings wohl in erster Linie der veränderten politischen Situation zuzuschreiben; „… seit den Oktobertagen sind wir die Besiegten“, sagte der tschechische Abgeordnete Pinkas im Dezember 1848,29 und im Reichstag hoffte man, zu einer Akkommodation mit der neuen Regierung Felix Schwarzenbergs und mit dem neuen Kaiser Franz Joseph zu kommen. 26 Mantl, wie in Anm. 19, 31. 27 Wortmeldung Mayers am 12. Dezember 1848, Fischel, Protokolle, 74; bereits ähnliche Wortmeldung des Polen F. Smolka Ende August 1848, ebd. 15. Zur Abstimmung vom 12. Dezember, bei der sechs Abgeordnete für die naturrechtlich-menschenrechtliche Einleitung stimmten (die Tschechen Rieger und Palacký, der Pole Ziemialkowski sowie die Abg. Hein, Violand und Vacano), ebd. 75. Von Interesse ist, dass Palacký in seinem berühmten Absagebrief an den Fünfziger-Ausschuss in Frankfurt, in dem er die Teilnahme tschechischer Abgeordneter aus den zum Deutschen Bunde gehörenden Ländern der böhmischen Krone ablehnte, folgenden Satz schrieb: „Das Völkerrecht ist ein wahres Naturrecht, kein Volk auf Erden ist berechtigt, zu seinen Gunsten von seinem Nachbar die Aufopferung seiner selbst zu fordern, keines ist verpflichtet, sich zum Besten des Nachbars zu verleugnen oder aufzuopfern. Die Natur kennt keine herrschenden, so wie keine dienstbaren Völker.“ Franz Palacký, Österreichs Staatsidee, Prag 1866, 83. Der Begriff „Völkerrecht“ in Palackýs Brief bedeutet nicht das Recht der Staaten, sondern das Recht der Völker als ethnisch-sprachlich-kulturelle Einheiten. 28 Aus der (unveröffentlichten) Autobiographie Hans Kelsens zitiert bei: Rudolf A. Metall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969, 42. [Ergänzung 2010: Die längere Zeit verschollene Autobiographie ist in den USA wieder aufgetaucht und nunmehr veröffentlicht in: Matthias Jestaedt, Hg., Hans Kelsen, Werke, Bd. 1, Tübingen 2007, 29–91, hier 59–60.] 29 Fischel, Protokolle, 83.



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Vier weitere Punkte sollen knapp angeschnitten werden. • Erstens kurze Überlegungen zu einigen wenigen inhaltlichen Fragen, die in den 48er-Grundrechtskatalogen enthalten oder nicht enthalten waren; • zweitens die Frage nach der „Rezeption“ ausländischer Grundrechtsbestimmungen, sei es in Frankfurt, sei es in Wien bzw. Kremsier; • drittens die Frage nach den Gewährleistungsmechanismen der Grundrechte; und • viertens und abschließend die Frage nach der Weiterwirkung oder Nachwirkung der Frankfurter und Wien/Kremsierer Grundrechte. Zur ersten Frage: Es ist nicht möglich, in diesem Rahmen eine Inhaltsübersicht, gar eine vergleichende Inhaltsübersicht über die Frankfurter und die Wien/Kremsierer Grundrechte zu geben. Beide Grundrechtskataloge bewegen sich bekanntlich im Rahmen der „klassischen“ Verbürgungen der Freiheitsrechte, und insoweit stehen sie beide auf gleicher Ebene mit den oft zitierten „Rechten der Belgier“ von 1831; die Zahl analoger Bestimmungen in den belgischen, deutschen und österreichischen Grundrechtsdokumenten, bisweilen auch in den Formulierungen sehr nahe, ist beträchtlich.30 Die Grundrechte der Paulskirche zeichnen sich allerdings durch die ausführlicheren, detailreicheren Regelungen aus; in manchen ihrer Bestimmungen spiegeln sich die politischen Prioritäten der Anfänge der Revolutionsbewegung, wie im massiven Schutz der Pressefreiheit und des Zensurverbots (Art. IV, § 143 der Frankfurter Reichsverfassung).31 Die Frankfurter Grundrechte reflektieren überdies die bundesstaatliche Struktur des geplanten Staatsaufbaus und den (im Vergleich zu Belgien) weitaus stärkeren Regelungsbedarf bezüglich der Überreste feudaler Strukturen (Art. IX, §§ 164–173 der Frankfurter Reichsverfassung). Die österreichischen Grundrechte sind ausführlicher als die belgischen, doch knapper als die deutschen Grundrechte ausgefallen. Viel ist über das heiß diskutierte, doch schließlich eben nicht in den Frankfurter Grundrechten aufscheinende Recht auf Arbeit geschrieben worden.32 Aus den Beratungen möchte ich eine Wortmeldung herausgreifen, jene des bereits genann30 Ein systematischer Überblick ist hier nicht möglich. Vgl. u. a. Recht auf Vereinsbildung (fast wörtlich, belg. Verfassung Art. 20, Frankfurter Reichsverf. § 162), große Ähnlichkeiten auch bei Versammlungsrecht u. Petitionsrecht. 31 Theodor Mommsen schrieb: „Die vollständige Freiheit der Presse ist die sicherste Garantie der politischen Freiheit.“ Theodor Mommsen, Die Grundrechte des deutschen Volkes, mit Belehrungen und Erläuterungen, 1849, 34. Zum Stellenwert der Pressefreiheit auch eindringlich Kühne, Reichsverfassung, 178, sowie 388–394. 32 Mit weiteren Hinweisen u. a. Scholler, 44–47.

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ten Berliner Abgeordneten Lette. Lette meinte, dass das Assoziationsrecht künftighin vielleicht gerade dazu benützt würde, „über die materiellen Verhältnisse der Arbeiter unter ihnen selbst sich aufzuklären und durch vereinte Kraft sich gemeinschaftlich die zur Verbesserung ihrer Lage wünschenswerthen Einrichtungen herbeizuführen“. Lette anerkannte, dass die Arbeiter, „wie es in England geschieht, vollkommen berechtigt sind, sich behufs der Bestimmung oder Verständigung über die Lohnsätze zu associiren“, und dass die entgegenstehenden Strafbestimmungen in den Gesetzen gestrichen werden müssen.33 Damit anerkannte Lette die Koalitionsfreiheit, die sich ab den späten 60er-Jahren durchsetzen würde, und deren verfassungsmäßige Verankerung erst im Grundrechtskatalog der Weimarer Republik gemeinsam mit der grundrechtsmäßigen Anerkennung des Tarifvertragswesens erfolgen sollte.34 Ein Sonderproblem stellten für die Paulskirche die nicht deutsch redenden Deutschen dar, also ethnisch-sprachliche Minderheiten, die gleichwohl als deutsche Staatsbürger in die Gewähr der „Grundrechte des deutschen Volkes“ eingebunden waren. Die Spannungen zwischen der Staatsvolksidee und dem ethnischen Volksbegriff entluden sich ja bekanntlich in Frankfurt in der großen Posen- und Polendebatte vom Sommer 1848,35 doch soll nicht vergessen werden, dass sich die Hoffnung der Abgeordneten aus dem Trentino, aus dem deutschen Bundesverband entlassen zu werden, nicht erfüllte.36 In Art. XIII (§ 188 der Pauls33 Sten. Ber. VII, 5132, zit. bei Scholler, 236. 34 Es handelt sich um die berühmten Art. 159 und 165 der Weimarer Reichsverfassung; wesentlichen Anteil daran hatte der große Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer, der Mitglied der Weimarer Nationalversammlung war. Zur Verankerung von Koalitionsfreiheit und Tarifvertragswesen in den Weimarer Grundrechten vgl. auch Stourzh, Zur Institutionengeschichte der Arbeitsbeziehungen und der sozialen Sicherung, in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, 1989, bes. 344 u. 346. 35 Vgl. u. a. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, 3. Aufl. Stuttgart 1988, 641–43; bemerkenswert die im deutschen Sprachraum wenig bekannte Abhandlung des aus Polen stammenden, zu einem der berühmtesten englischen Historiker dieses Jahrhunderts gewordenen Sir Lewis Namier, 1848: The Revolution of the Intellectuals, in: Proceedings of the British Academy, 30 (1944). 36 Antrag v. 3. Juni 1848, vgl. Huber, Verfassungsgeschichte 2, 645; zur Plenardebatte am 12. August, in der sich deutschtiroler und rechtsliberale Abgeordnete „in der Aggressivität des Auftretens überboten“, Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen, Berlin 1985, 287. In einer Autographensammlung von Abgeordneten der Paulskirche, 1980 von Wilhelm Fiedler neu herausgegeben, gibt es einen einzigen Autographen in einer nichtdeutschen, nämlich der italienischen Sprache; er stammt von Antonio Gazzoletti, Abgeordneter für Rovereto im Trentino (damals Teil Tirols). Es ist ein leidenschaftlicher Appell zur Gewährung der nationalen



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kirchenverfassung) wurde festgehalten, dass den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ihre volkstümliche Entwicklung gewährleistet sei, „namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, so weit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem Unterrichte, der innern Verwaltung und der Rechtspflege“. Was für Frankfurt ein Sonderproblem war, war für Wien und Kremsier ein Zentralproblem, eigentlich das Hauptproblem. Der Grundrechtsentwurf des österreichischen Reichstages enthält denn auch in den „Grundrechten des österreichischen Volkes“ folgenden Artikel: „Alle Volksstämme des Reiches sind gleichberechtigt. Jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität überhaupt und seiner Sprache insbesondere. – Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate gewährleistet“ (§ 21). Zur Recht ist von Otto Dann vermerkt worden, wie wichtig die Konkretisierung des Gleichheitsbegriffs als „Gleichberechtigung“ in der Nationalitätendiskussion von 1848 war.37 Der Reichstag von Wien bzw. Kremsier versuchte, das Postulat der Gleichberechtigung der Nationalitäten inklusive des Minderheitenschutzes in seinem Verfassungsentwurf auch institutionell zu lösen – ein heute vielleicht zu wenig bedachtes verfassungspolitisches Experiment multinationaler Verfassungsgestaltung in einer Revolutionsepoche, die sonst so stark vom Primat der nationalen Einheit beherrscht war.38 Zur zweiten vorhin genannten Frage, der „Rezeptionsfrage“, möchte ich Folgendes sagen: Sowohl die Frankfurter als auch die Wien/Kremsierer Abgeordneten waren vorzüglich über zahlreiche ausländische Verfassungen und Verfassungsbestimmungen orientiert. Zitate, Hinweise und auch gar nicht seltene „Anleihen“ im Einzelnen sollten jedoch nicht als „Rezeption“ eines corpus an RechtsbestimFreiheit: Die Provinz Trient wäre stolz, dem großen Deutschland anzugehören, wenn sie nicht unwiderleglich klar der Natur nach und tatsächlich zu Italien gehörte („... se per evidenza incontrovertibile di natura e di fatto non appartenesse ad Italia“). Die Nationalität sei für die Völker eine zweite Religion („È la nazionalità per i popoli una seconda religione“). In: Die erste deutsche Nationalversammlung 1848/49. Handschriftliche Selbstzeugnisse ihrer Mitglieder, hrsg. v. Wilhelm Fiedler, Frankfurt/Main 1980, Blatt 109. 37 Dann, Art. „Gleichheit“, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2, 1037. Ich habe ausführlich die Genesis sowohl des § 188 der Paulskirchenverfassung als auch des § 21 des Kremsierer Grundrechtsentwurfes behandelt in meinem Aufsatz Frankfurt – Wien – Kremsier, in Günter Birtsch, Hg., Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, 437–456. 38 Vgl. Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, bes. 17–28.

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mungen, die aus einer anderen Verfassung übernommen wurden, betrachtet werden. Die amerikanische Bundesverfassung wurde in Frankfurt unzählige Male erwähnt – allerdings nicht im Grundrechtsbereich mit einer Ausnahme –, ohne dass von einer „Rezeption“ des amerikanischen Bundesstaatsmodells gesprochen werden könnte.39 Belgien, wie bereits erwähnt, spielte sowohl in Frankfurt als auch in Wien und Kremsier eine bedeutende Rolle. In Wien und Kremsier gab es zahlreiche Hinweise auf die Frankfurter Grundrechte.40 Ab Dezember 1848 häuften sich die Hinweise auf die oktroyierte preußische Verfassung vom 5. Dezember 1848 (deren Grundrechtskatalog stark an der liberalen „Charte Waldeck“ orientiert war). Ein Abgeordneter (F. Hein) beklagte, „daß durch das so häufige Zitieren der preußischen Verfassung fast ein Abschreiben derselben versucht werde“, ein Kollege (Goldmark) replizierte: „Ich schäme mich nicht, Plagiator irgend einer Verfassungsbestimmung zu sein, wenn sie gut ist.“41 Es war in der Tat so, dass mehrere Verfassungen als „Steinbruch“ benützt wurden, ohne dass von einer Rezeption im umfassenden Sinn gesprochen werden könnte. Belgien, Frankfurt, Preußen sind aber an erster Stelle zu nennen. Drittens sei kurz erwähnt, dass sowohl in Frankfurt als auch in Wien bzw. Kremsier erstmals in Mitteleuropa Vorsorge für die gerichtsmäßige Einklagbarkeit von Verletzungen der verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte getroffen wurde. In der Paulskirchenverfassung war es § 126 lit g), der vorsah, dass zur Zuständigkeit des Reichsgerichts (auch) „Klagen deutscher Staatsbürger wegen Verletzung der durch die Reichsverfassung ihnen gewährten Rechte“ gehörten. In Österreich bestimmte der Kremsierer Verfassungsentwurf (§ 138), dass „wegen Verletzung der durch die Konstitution festgestellten staatsbürgerlichen Rechte durch Bedienstete des Staates in Ausübung ihrer Amtsgewalt“ der Verletzte durch eine Zivilklage 39 Vorzüglich ist Eckhart G. Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution 1848/49, Heidelberg 1958, bes. das Kap. über das Problem einer Übertragung nordamerikanischer Formen in den Verfassungsdebatten der deutschen Revolution von 1848/49, S. 98–133. Die genannte Ausnahme war ein Hinweis auf das amerikanische Vorbild bei der Forderung der Unabhängigkeit der Kirche vom Staat, die von den ultramontanen katholischen Abgeordneten Ignaz Döllinger und Johann Nepomuk Sepp aus Bayern kam. Ebd., 126. 40 Kühne, Reichsverfassung 78–80, sieht zwar zutreffend die Unabhängigkeit des Kremsierer Verfassungsausschusses beim Urentwurf der Kremsierer Grundrechte (insbesondere betreffend die naturrechtliche Konzeption), doch scheint mir insgesamt die Distanz zwischen dem Kremsierer Entwurf und Frankfurt etwas geringer zu sein als bei Kühne angenommen. Eine besonders starke Ähnlichkeit weisen etwa die Bestimmungen zur Gemeindefreiheit auf (§§ 184 und 185 Frankfurter Reichsverfassung, § 25 Kremsierer Grundrechte). 41 Fischel, Protokolle, 107.



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„volle Genugtuung fordern“ könne. Allerdings ist bezüglich der Frankfurter ebenso wie der Kremsierer Grundrechte zu betonen, dass sie, wie Kühne von den Frankfurter Grundrechten gesagt hat, „als eine Mischung von staatsabwehrenden und staatsaufbauenden Aussagen anzusehen“ sind.42 Entsprechendes ist zu Recht auch von den Kremsierer Grundrechten gesagt worden.43 Zum Schluss möchte ich auf die Nachwirkung der 48er-Grundrechte hinweisen. Es ist oft gesagt worden, dass die Paulskirchentradition erst in der Weimarer Reichsverfassung und schließlich, mit einem die Grundrechte erst wirklich „lebendig“ machenden System der Verfassungsgerichtsbarkeit, sogar erst mit dem Bonner Grundgesetz und dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 zum Tragen gekommen sei. Dies trifft wohl zu, doch ist weniger bekannt, dass in Österreich die 48er-Tradition eine weniger lange Unterbrechung erfuhr. 1867, nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen, war die Habsburgermonarchie zum Ausgleich mit Ungarn gezwungen, und die ungarische politische Führung verlangte als Garantie die Einführung verfassungsmäßiger Zustände im nichtungarischen Teil der Mo­ narchie. Dies war die Stunde der deutschen Liberalen und ihrer Verbündeten, und die sogenannte „Dezemberverfassung“ von 1867, aus mehreren Staatsgrundgesetzen bestehend, enthielt auch ein „Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“, das auf dem Umweg über ein kaiserliches Patent von 1849 an den Kremsierer Grundrechten anknüpfen konnte. Außerdem wurde 1867, ebenfalls als „Aktualisierung“ des verfassungspolitischen Erbes von 1848, in Österreich ein Reichsgericht ins Leben gerufen, dem die Entscheidung über „Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte“ zustand. Die hiermit begründete, wenngleich mit bestimmten Einschränkungen versehene individuelle Verfassungsbeschwerde – mit einer in Mitteleuropa vor 1918 eigentlich einzigartigen Judikatur – ging nahtlos in das erweiterte Beschwerderecht vor dem unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg (maßgeblich von Hans Kelsen) geschaffenen Verfassungsgerichtshof über. Da – im Unterschied zu Deutschland – in Österreich weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg ein neuer Grundrechtskatalog zustande kam, ist das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 bis heu42 Kühne, Reichsverfassung, 174. 43 Wilhelm Brauneder, Die Gesetzgebungsgeschichte der österreichischen Grundrechte, in: 70 Jahre Republik. Grund- und Menschenrechte in Österreich. Grundlagen, Entwicklungen und internationale Verbindungen, hrsg. v. Rudolf Machacek, Willibald Pahr u. Gerhard Stadler, Kehl/Rh.-Straßburg 1991, 302, mit Hinweis auf die wegweisende Studie von Friedrich Lehne, Grundrechte achten und schützen?, in: Juristische Blätter (Wien), Jg. 1985, 135ff. u. 216ff.

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te geltendes österreichisches Bundesverfassungsrecht. 1848 ist – verfassungsrechtlich und verfassungsgeschichtlich gesehen – in Österreich erstaunlich nahe. „Gründlich ergründen sie drin des Volks zu begründendes Grundrecht; draußen indes grundschlecht wird es dem Volke zu Mut.“

Franz Dingelstedts Distichon über die Paulskirchenberatungen, von Gustav Radbruch überliefert,44 reflektiert die nicht unbegründete Kritik am Widerspruch zwischen allzu theoretisierender und vor allem allzu langer Verfassungsdiskussion und den „Zuständen“. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde in Europa der Grundrechtsschutz als funktionierendes Normen- und Institutionengefüge (wenn man von dem österreichischen Vorläufer absieht) zu einem erfolgreichen und unverzichtbaren Instrument der rechtsstaatlichen Demokratie. Die „Erfolgsgeschichte“ des letzten Halbjahrhunderts beeinflusst naturgemäß unser Interesse an den Anfängen einer so vielfach unterbrochenen und – in den 30er- und 40erJahren unseres Jahrhunderts – auch so schrecklich gebrochenen Verfassungstradition. Zu Ende des 20. Jahrhunderts geben zweierlei Erfahrungen – die radikale Zerstörung von Grund- und Menschenrechten ebenso wie der Neuaufbau des die menschliche Person umgebenden Rechtsschutzes – berechtigten Anlass, immer wieder neue Annäherungen an die Gedankenwelt der „48er“ zu versuchen.

44 G. Radbruch, Die Frankfurter Grundrechte, in: Deutschland 1848–1948, hrsg. v. Wilhelm Keil, Stuttgart 1948, 80–88, hier 80.

4. Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in der Entwicklung des österreichischen Verfassungsstaats 1848–1918

Akte der Gesetzgebung finden – theoretisch gesehen – in einem von zwei Polen begrenzten Bereich statt. Der eine Pol ist der absolute Wille eines Herrschers „legibus solutus“, dessen Wille allerdings „legis vigorem habet“. Wo das Christentum hinzutritt, gibt es die Vorstellung des „Gottesgnadentums“, das eine Bindung an den Willen Gottes, aber nicht an jenen der Gewaltunterworfenen impliziert. Der andere Pol ist der gemeinsame und auf das allgemeine Interesse gerichtete Wille der ganzen Nation, wie er – idealiter – in Rousseaus Begriff der „volonté générale“ dargestellt wird. Der empirisch vorgehende Historiker findet in der Geschichte des 19. Jahrhunderts Markierungen und Positionen, die von den eben genannten Polen einigermaßen abweichen. Das Gottesgnadentum ist zum „monarchischen Prinzip“ reduziert – ich erinnere an Otto Brunners berühmte Abhandlung „Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip“. Auf der anderen Seite wird die volonté générale der gesamten Nation bloß in mehrfachen Brechungen und Schwächungen realisiert. Rousseau dividiert durch Sieyes, könnte man sagen: Das Prinzip der Repräsentation ist eine solche Brechung, die Teilung in „Aktivbürger“ und „Passivbürger“ (die letztere lange Zeit alle Bürgerinnen einschließend) ist eine andere. Der Typ der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts stellt den Versuch dar, das monarchische Prinzip mit den Willenskundgebungen der Nation zu verknüpfen. Das Wesen des Kompromisses bestand (überwiegend) in der Selbstbindung des Monarchen an die von ihm „gewährte“ – fallweise auch die von ihm „akzeptierte“ – Verfassung einerseits, in der Selbstbeschränkung der volonté générale auf Mitwirkung an der Gesetzgebung andererseits. Das Gesetz wurde Gesetz – im alten Österreich etwa – erst mit der kaiserlichen „Sanktion“, d.h. mit der kaiserlichen Beurkundung der Zustimmung zu den Gesetzesbeschlüssen des Parlaments. Über die Natur dieses Kompromisses und damit über die Natur der konstitutionellen Monarchie (und vor allem ihres „deutschen“ Typs) hat es schon

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4. Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen

vor Jahrzehnten bemerkenswerte Auseinandersetzungen gegeben – zwischen Ernst-Wolfgang Böckenförde einerseits, der von der Brüchigkeit eines Kompromisses überzeugt war, der im Krisenfalle entweder zugunsten des sich durchsetzenden Herrscherwillens oder des sich durchsetzenden Willens der im Parlament repräsentierten (politischen) Nation zerbrechen würde, und Ernst Rudolf Huber andererseits, der in der konstitutionellen Monarchie einen eigenständigen Typ zu sehen glaubte. Ich bemerke bloß, dass ich seit je den Anschauungen Böckenfördes beipflichte.1 Akte der Gesetzgebung im Zusammenwirken von „Souverän“ im alten Sinne (dem Monarchen) und „Souverän“ im neuen Sinne (der Nation beziehungsweise ihrer Vertretung) wurden weiter kompliziert durch die Unterscheidung zwischen Gesetzen und Grundgesetzen – außer in England und in Ungarn, wo es diese Unterscheidung zumindest im formellen Sinne nicht gab und in England auch heute nicht gibt. Ich zeichne hier die Entwicklung der modernen Vorstellung von „Verfassung“ nicht nach; ich habe dies an anderem Ort getan.2 Das Streben nach Verfassungen, wie sie sich im späten 18. Jahrhundert und im Lauf des 19. Jahrhunderts entwickelten,3 hatte stets zwei Ziele im Visier: einerseits die Einschränkung will1 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders., Hg., Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1918), Köln 1972, 146–170. 2 Gerald Stourzh, Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff, in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, Wien–Köln 1989, S. 1–35. 3 Für sehr wichtig halte ich es, bei der Entwicklung moderner, sogenannter „geschriebener Verfassungen“ (written constitutions) zwei voneinander zu scheidende Begriffe nicht zu vermengen, wie dies allerdings häufig geschieht, nämlich a) Verfassung im formellen Sinne, als Inbegriff vorrangiger und gegenüber „gewöhnlichen“ Gesetzen höherrangiger Normen, deren Abänderung nur in erschwerten Verfahren, manchmal sogar überhaupt nicht möglich ist, und b) Verfassung im urkundlichen Sinne, als Dokument, das all jene oder zumindest die wichtigsten jener Regelungen enthält, die herkömmlicherweise als Verfassung im materiellen Sinne angesehen werden, also zentrale Organisationsregelungen einerseits, Grundrechtsnormierungen andererseits. Das albertinische „statuto“ (des Königreichs Sardinien 1848) etwa war eine Verfassung im urkundlichen, nicht jedoch im formellen Sinne. In der Republik Österreich etwa geht die Verfassung im formellen Sinne (erschwerte Abänderbarkeit) weit über die Verfassung im urkundlichen Sinne („Bundes-Verfassungsgesetz“ von 1920 mit diversen Novellierungen) hinaus und umfasst auch „Bundesverfassungsgesetze“ und „Verfassungsbestimmungen“ in gewöhnlichen Gesetzen. Zur Unterscheidung zwischen Verfassungen im formellen und im urkundlichen Sinne vorzüglich Paolo Biscaretti di Ruffia, Les constitutions européennes. Notions introductives, in: ders. u. S. Rozmaryn, Hg., La constitution comme loi fondamentale dans les états de l‘Europe occidentale et dans les états socialistes, Paris 1966, 5 f.



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kürlicher Machtausübung; andererseits den jeweils größtmöglichen Konsens aller politisch Berechtigten über die wichtigsten Regeln eines geordneten und friedlichen Zusammenlebens und eines geordneten und friedlichen Machttransfers. Der pouvoir constituant, die verfassunggebende Gewalt, und die dieser eng anverwandte verfassungsändernde Gewalt – pouvoir de revision – sollten wo immer möglich ein höheres Maß an Konsens erreichen als die „normale“ oder „laufende“ Gesetzgebung. Methoden zur Erreichung eines solchen Konsenses haben in der Verfassungsgeschichte der neueren Zeit bekanntlich stark variiert, von eigenen verfassunggebenden Versammlungen über eigene Ratifizierungskonvente oder Revisionsversammlungen oder auch Referenden bis zu dem relativ leichter zu handhabenden Verfahren der qualifizierten Mehrheit – häufig auch mit höheren Anwesenheitsanforderungen verbunden – in „normalen“ Parlamenten.4 Worin liegt der Zweck einer qualifizierten Mehrheit? Es handelt sich um den Versuch, das einfachste Kriterium der Entscheidungsfindung, nämlich die einfache Mehrheit, zu überwinden. Es handelt sich darum, in fundamentalibus einen über die klassischen „51%“ der einfachen Mehrheitsentscheidung weiter hinausreichenden Konsens zu finden. Das Streben nach diesem weiter reichenden Konsens wird von zwei unterschiedlichen Motiven getragen: Einerseits ist es die größere Annäherung an die (fiktive) Einheit der volonté générale (wo immer die Tradition Rousseau-Sieyes eine Rolle spielt), andererseits – empirischer und nüchterner gesehen – der Versuch, Minderheiten, vor allem größere Minderheiten, in den Prozess der Konsensfindung einzubinden, um eine größere Stabilität des politischen Systems zu gewährleisten. Mithilfe qualifizierter Mehrheitsentscheidungen werden (größeren) Minderheiten de facto Möglichkeiten des Vetos, des Einspruchs, eingeräumt. Hierzu hat vor mehr als einem Jahrhundert Georg Jellinek in seiner kleinen Schrift „Das Recht der Minoritäten“ Grundlegendes geschrieben.5 Jellinek ging davon aus, dass es zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Typen von Minderheiten gebe: einerseits die Minderheit in einem homogenen Staat, die damit rechnen kann, selbst zur Mehrheit zu werden, andererseits religiöse oder nationale Minderheiten – heute würden wir zu letzteren sagen: ethnische Minderheiten –, die nie damit rechnen können, selbst zur Mehrheit zu werden. Für solche Minderheiten müssten Methoden des Vetorechts gefunden werden. Jellinek 4 Diesbezüglich wegweisend waren die 1884 gehaltenen Oxforder Vorlesungen von James Bryce, veröffentlicht in: ders., Studies in History and Jurisprudence, Bd. 1, Oxford 1901. Sehr instruktiv und anregend Leslie Wolf-Phillips, Comparative Constitutions, London 1972. 5 Georg Jellinek, Das Recht der Minoritäten, Wien 1898.

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verwies auf die nach 1648 im Reichstag des Heiligen Römischen Reiches eingeführte itio in partes des corpus catholicorum und des corpus evangelicorum und der Notwendigkeit einer amicabilis compositio. In Österreich setzt die moderne Verfassungsentwicklung bekanntlich im Revolutionsjahr 1848 mit der oktroyierten Verfassung vom April 1848 ein, der sogenannten „Pillersdorf ’schen“ Verfassung. „Gesetzesvorschläge, durch welche die Bestimmungen der Verfassungsurkunde ergänzt, erläutert oder abgeändert werden sollen, bedürfen in jeder der beiden Kammern der Zustimmung von zwei Dritteilen der anwesenden Mitglieder“, heißt es in § 50 dieser Papier gebliebenen Verfassungsurkunde.6 Ausführlicher befasste sich der konstituierende österreichische Reichstag von 1848/49, nach seinem zweiten Tagungsort in Kremsier/Kroměříž in Mähren „Kremsierer Reichstag“ genannt, mit der „Revision der Konstitution“. Die Anlehnung an das Revisionsverfahren der belgischen Verfassung von 1831 ist deutlich. Sollte die gesetzgebende Gewalt den Wunsch nach Revision einer Verfassungsbestimmung haben, so müsse der Reichstag (das Parlament) aufgelöst werden und unverzüglich ein neuer Reichstag einberufen werden. Zur Gültigkeit der Verfassungsrevisionsbeschlüsse des neuen Reichstags war die Mindestanwesenheit von drei Vierteln der Abgeordneten – strikter als in Belgien – in jeder der beiden Kammern (Volks- und Länderkammer) sowie die Zustimmung von zwei Dritteln der Anwesenden erforderlich. Bemerkenswert für die Loyalität gegenüber der Dynastie war die Bestimmung, dass bei Änderungen in der Konstitution, durch welche die verfassungsmäßigen Rechte der Krone geschmälert würden, dem Kaiser „das absolute Veto“ zustehe.7 Bekanntlich blieb auch der Kremsierer Entwurf totes Papier. Doch keine der späteren Verfassungsurkunden bzw. Grundgesetze enthielt ein so komplexes Verfahren zur Verfassungsrevision (Auflösung, Neueinberufung des Parlaments) wie dieser Entwurf. Die im März 1849 vom jungen Kaiser Franz Joseph oktroyierte sogenannte Märzverfassung übernahm vom Kremsierer Entwurf das Anwesenheitserfordernis von drei Vierteln der Mitglieder beider Häuser ebenso wie die qualifizierte Zweidrittelmajorität8. Auch dieses Dokument blieb totes Papier. Es folgte ab 1851/52 das System des Neoabsolutismus, das auf den Schlachtfeldern von Magenta und Solferino den Todesstoß erhielt. 6 Edmund Bernatzik, Hg., Die österreichischen Verfassungsgesetze (künftig zit. Bernatzik), Wien 19112, 108. 7 Art. 158–160; Bernatzik, 131 f. 8 § 123; Bernatzik, 166.



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Die Neubelebung der konstitutionellen Monarchie erfolgte nach einem kurzen föderalistisch-neuständischen Zwischenspiel, dem Oktober-Diplom 1860, bekanntlich im Winter 1860/61 mit dem sogenannten „Februar-Patent“ von 1861. Zwei Dokumente dieser ebenfalls oktroyierten Verfassung sind für mein Thema von Belang. Im „Grundgesetz über die Reichsvertretung“ wurde festgelegt (§ 14), dass „Anträge auf Änderungen in diesem Grundgesetz“ in beiden Häusern des Parlaments (Reichsrat aus Abgeordnetenhaus und Herrenhaus bestehend) eine Mehrheit von wenigstens zwei Dritteln der (anwesenden) Stimmen erfordern.9 Genauere Bestimmungen gab es für die Landesordnungen (Landesverfassungen) der einzelnen Kronländer, ebenfalls oktroyiert, die dem Grundgesetz über die Reichsvertretung gleichgeordnet waren (es gab im alten Österreich den Grundsatz „Reichsrecht bricht Landesrecht“ nicht!). Hier wurde (übrigens analog dem Kremsierer Verfassungsentwurf von 1848/49) normiert, dass zu einem Beschlusse über beantragte Änderungen der Landesordnung die Gegenwart von mindestens drei Vierteln aller Mitglieder und die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Anwesenden erforderlich sei.10 Auch die Änderung der Landtagswahlordnungen war an die gleichen Bedingungen geknüpft (mit Ausnahme der ersten sechsjährigen Landtagsperiode, für die die absolute Stimmenmehrheit galt).11 Der Konstitutionalismus geriet bekanntlich sehr rasch im Zuge des Konflikts mit Ungarn ins Stocken. 1865 wurde das Grundgesetz über die Reichsvertretung sistiert, die Landesordnungen blieben allerdings aufrecht. Die Schaffung des österreichisch-ungarischen Dualismus 1867 brachte eine – recht umfangreiche und bemerkenswerte – Neubelebung des österreichischen Verfassungslebens mit sich; die Überlieferungen von 1848, noch nicht so lange zurückliegend, erwiesen sich als wirkungsmächtig. Die ungarische Führungselite machte die Wiederherstellung konstitutioneller Zustände im nichtungarischen Teil der Monarchie zur Bedingung des Ausgleichs mit der Krone; und die kaiserliche Regierung benötigte wiederum die Zustimmung der deutschen Liberalen zum Ausgleich mit Ungarn und war bereit, diese Zustimmung mit einem beträchtlichen Entgegenkommen in Verfassungsfragen zu erkaufen. Eines der ersten Zugeständnisse der Regierung an das Parlament in Wien war eine Neuregelung des sogenannten „Notverordnungsparagraphen“ des Grundgesetzes von 1861. Das diesbezügliche – verfassungsändernde, d.h. eine Bestimmung 9 Bernatzik, 263. 10 Vgl. z. B. § 38 der Landesordnung für Niederösterreich, Bernatzik, 280. 11 § 53, Bernatzik, 294

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des Grundgesetzes von 1861 ändernde – Gesetz wurde mit der hiefür erforder­ lichen Zweidrittelmehrheit beschlossen12. Anlässlich der Debatten über dieses Gesetz im Juni 1867 entspann sich eine ausführliche Diskussion über die Frage, wann im Laufe der parlamentarischen Beratungen die qualifizierte Mehrheit (Zweidrittelmehrheit) anzuwenden sei – ob lediglich bei der endgültigen Beschlussfassung (dritte Lesung) oder bereits bei der Abstimmung über einzelne Artikel im Rahmen der sogenannten „zweiten Lesung“. Der Präsident des Abgeordnetenhauses Dr. Giskra vertrat die Ansicht, es genüge die Konstatierung der Zweidrittelmehrheit anlässlich der endgültigen Beschlussfassung (dritte Lesung). Dagegen erhoben sich zahlreiche Stimmen, die dahin gehend argumentierten, es müsse die Zweidrittelmehrheit auch bei der Abstimmung über die einzelnen (verfassungsändernden) Paragraphen beachtet werden. Der Präsident ließ schließlich abstimmen. Eine Mehrheit des Abgeordnetenhauses entschied sich entgegen der Rechtsansicht des Präsidenten dafür, auch bei den Einzelabstimmungen im Rahmen der zweiten Lesung die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit anzuwenden. Diese Praxis wurde in den folgenden Jahrzehnten beibehalten.13 Die sogenannte „Dezemberverfassung“ des Jahres 1867 in Österreich-Cisleithanien, bis 1918 geltend, bestand aus mehreren Gesetzen, die unterschiedliche Titel trugen und auch in formeller Hinsicht bestimmte Unterschiede aufwiesen. Im engeren Sinne gehörten die folgenden fünf Gesetze zur Dezemberverfassung: 1. Das „Gesetz, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird“. Im Titel lediglich als „Gesetz“ bezeichnet, bezeichnet es sich jedoch selbst gerade in jenem Paragraphen, in dem das Verfahren zur Änderung normiert wird, als „Grundgesetz“, und in einem weiteren Paragraphen, dem berühmten § 14 über das Notverordnungsrecht, als „Staatsgrundgesetz“14. Außerdem wird es in einem gleichzeitig erlassenen Gesetz – jenem „betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten“ – ebenfalls ausdrücklich als „Staatsgrundgesetz“ bezeichnet. 2. Das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger. 3. Das Staatsgrundgesetz über das Reichsgericht. 4. Das Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt. 12 Gernot D. Hasiba, Das Notverordnungsrecht in Österreich (1848–1917), Wien 1985, S. 44. 13 Debatte am 27. Juni 1867. Hierzu K. und O. Neisser, Die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, Bd. 2: Praktische Handhabung (künftig Neisser, Bd. 2), Wien–Leipzig 1909, S. 299–306. 14 Dies übersieht Bernatziks Kommentar in Bernatzik, 390.



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5. Das Staatsgrundgesetz über die Regierungs- und Vollzugsgewalt. Zwei kurze Kommentare sind erforderlich. Erstens: Nur das erste dieser Staatsgrundgesetze entstammte einer Regierungsvorlage. Die anderen vier entsprangen der Initiative des Parlaments, das damit de facto zu einem Träger des pouvoir constituant wurde. Zweitens: Die Grundrechte des österreichischen Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger waren (mit einer Ausnahme, dem nicht als „politisches Recht“ angesehenen Eigentumsrecht) einklagbar, und zwar beim Reichsgericht, das ein Vorläufer des nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Verfassungsgerichtshofs war. Noch gab es bestimmte Schwächen: Die Urteile des Reichsgerichts über Beschwerden (Klagen) wegen Verletzung der verfassungsmäßig gewährleisteten politischen Rechte hatten keine kassatorische Wirkung, sie bedeuteten lediglich eine Feststellung der Verfassungsverletzung, doch hielten sich die Verwaltungsbehörden in der Mehrzahl der Fälle an die Entscheidungen des Reichsgerichts.15 Georg Jellinek schrieb 1885, das Reichsgericht sei eine Instanz, mit welcher Österreich „einzig unter allen monarchischen Staaten dasteht“. Mit seinem Reichsgericht sei Österreich „den übrigen monarchischen Verfassungsstaaten vorangeschritten“.16 Bezüglich der fünf genannten Grund- oder Staatsgrundgesetze heißt es in § 15 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung: „Änderungen in diesem Grundgesetze, sowie in den Staatsgrundgesetzen über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder [das sind die nicht-ungarischen Länder der Monarchie, G. St.], über die Einsetzung eines Reichsgerichtes, über die richterliche, sowie über die Ausübung der Regierungs- und der Vollzugsgewalt können nur mit einer Mehrheit von wenigstens zwei Dritteln der Stimmen gültig beschlossen werden.“

Diese Bestimmung wurde sechs Jahre später neuerlich bekräftigt, und zwar im (Grund-)Gesetz vom 2. April 1873, das die Einführung direkter Wahlen in den Reichsrat (unter Ausschaltung der bisher für die Wahl der Reichsratsabgeordneten 15 Vgl. hierzu Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, 63f. 16 Georg Jellineks Schrift „Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich“, Wien 1885, 65–66, zit. bei Gerald Stourzh, Verfassung und Verfassungswirklichkeit Altösterreichs in den Schriften Georg Jellineks, in: S. L. Paulson und M. Schulte, Hg., Georg Jellinek – Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, 256.

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zuständigen Landtage) zum Gesetz erhob. Gleichzeitig wurde diese Zweidrittelregelung dahin gehend präzisiert, dass es sich um zwei Drittel der Anwesenden (im Abgeordneten- und im Herrenhaus) handelte und dass Änderungen der Staatsgrundgesetze im Abgeordnetenhaus nur bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder gültig beschlossen werden konnten.17 Ein Abgeordneter stellte 1868 im Verfassungsausschuss des Abgeordnetenhauses des Reichsrats den Antrag, noch einige weitere Gesetze mit der Zweidrittelmehrheit auszustatten, fand aber dort keine Mehrheit.18 Neben diesem Kernbestand der Dezemberverfassung von fünf Grund- bzw. Staatsgrundgesetzen gab es eine Reihe weiterer Gesetze vom gleichen Jahre, die in einem etwas lockereren, aber materiell durchaus relevanten Zusammenhang ebenfalls zum Bereich der Dezemberverfassung zu zählen sind. So wurden etwa die Gesetze zum Schutze der persönlichen Freiheit und zum Schutze des Hausrechts von 1862 nachträglich durch Art. 8 und 9 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger ausdrücklich als „Staatsgrundgesetze“ erklärt. Dies hätte, so meinte Edmund Bernatziks Verfassungskommentar, auch Folgen für die eventuelle Novellierung, nämlich Anwendbarkeit der Zweidrittelregel gemäß § 15 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung.19 Weitere Gesetze im Verband der Dezemberverfassung sind zu nennen, so das Gesetz über das Vereinsrecht,20 das Gesetz über das Versammlungsrecht, beide vom 15. November 1867, und auch das Minister-Verantwortlichkeitsgesetz vom 25. Juli 1867. Das letztgenannte Gesetz ist deshalb für unser Thema von Interesse, weil die dort geschaffene Einrichtung der Minister-Anklage vor einem eigenen Staatsgerichtshof an eine Zweidrittelmehr17 § 15 des (Grund-)Gesetzes, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 21. Dezember 1867 abgeändert wird; Bernatzik, 745. Der Text von 1867 ebd., 400. 18 Der liberale Abg. Johann Fux, vgl. dessen Hinweis in einer Parlamentsrede im Jahre 1875, Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses des Reichsrates (künftig: Sten. Prot. AH), VIII. Session, 20. Februar 1875, 4011–12, zitiert bei Neisser, Bd. 2, 311f. Fux dachte an das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit und das Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit von 1867 sowie an die sogenannten Maigesetze von 1868, die – gegenüber den die katholische Kirche begünstigenden Bestimmungen des Konkordats von 1855 – die Ehegesetzgebung wiederum auf den Boden des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1811 stellten. Hiezu vgl. Karl Vocelka, Verfassung oder Konkordat? Der publizistische und politische Kampf der österreichischen Liberalen um die Religionsgesetze des Jahres 1868, Wien 1978. 19 Bernatzik, 453. 20 Hierzu Peter Urbanitsch, Das Vereinsgesetz: Ein Ausführungsgesetz zur cisleithanischen Verfassungsordnung von 1867?, in: Anna Manca und Luigi Lacchè, Hg., Parlamento e Costituzione nei sistemi costituzionali europei ottocenteschi – Parlament und Kontrolle in den konstitutionellen Verfassungssystemen Europas, Bologna/Berlin 2003, 335–356.



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heit in jenem Hause des Parlaments, das die Anklage erhob, gebunden war. Auch die Zurückziehung der Anklage, ebenso wie ein Schuldspruch, war an eine Zweidrittelmehrheit gebunden.21 Unterschiedliche Rechtsansichten herrschten in der Folge darüber, ob bereits die Zuweisung eines Antrags auf Anklageerhebung an den zuständigen Parlamentsausschuss mit Zweidrittelmehrheit zu erfolgen hätte oder erst die formelle Anklageerhebung durch das ganze Haus. Obgleich sich 1892 der damalige Präsident des Abgeordnetenhauses, Franz Smolka, für die erstgenannte Alternative aussprach, erfolgte bei einem anderen – berühmten – Antrag auf Anklageerhebung, jenem gegen den Ministerpräsidenten Grafen Kasimir Badeni 1897, die Zuweisung zum Ausschuss mit einfacher Mehrheit. Der Antrag blieb im Ausschuss liegen, zu einer formellen Anklageerhebung kam es nicht.22 Von Interesse ist der Charakter jener Gesetze, in welchen die Beziehungen zu Ungarn, genauer zu den „Ländern der ungarischen Krone“ geregelt wurden, die Beziehungen zur „anderen Reichshälfte“, wie man in Österreich oft mit einem in Ungarn verpönten Wort sagte, oder die Beziehungen zum „anderen Staat der Monarchie“, wie die in Ungarn zunehmend an Boden gewinnende Diktion lautete.23 Anfang Juli 1867 beriet man im Verfassungsausschuss des Wiener Reichsrates ein Gesetz, betreffend die Entsendung einer Deputation des Reichsrates zu Verhandlungen mit einer Deputation des ungarischen Reichstages; diese Verhandlungen sollten finanzielle Bereiche des Ausgleichs klären. Im Ausschuss wurde die Frage nach der Anwendbarkeit der einfachen oder der Zweidrittelmehrheit diskutiert, ein Abgeordneter (Ignaz von Plener) meldete Zweifel an der Berechtigung einer bloß einfachen Mehrheitsabstimmung an, doch blieb sein Votum in der Minderzahl.24 Das wichtigste der die Beziehungen zu Ungarn betreffenden Gesetze war das gleichzeitig mit der Dezemberverfassung im engeren Sinne am 21. Dezember 1867 vom Kaiser sanktionierte „Gesetz, betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie [gemeint war die Gesamtmonarchie! G. St.] gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung“. Dieses Gesetz wurde auch „Aus21 §§ 11, 14 u. 21, siehe Bernatzik, 374 f. 22 Neisser, Bd. 2, 317 f. 23 Zu dieser Problematik siehe nunmehr Gerald Stourzh, Der Dualismus 1867–1918: zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch, Hg., Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, Wien 2000, 1177–1230. 24 Barbara Haider, Hg., Die Protokolle des Verfassungsausschusses des Reichsrates vom Jahre 1867, Wien 1997, 94 und 177.

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gleichsgesetz“ oder „Delegationsgesetz“ genannt – letzterer Name deshalb, weil darin die Modalitäten der Wahl, Kompetenz und Wirksamkeit der von den beiden Parlamenten in Wien und Budapest zu bestellenden „Delegationen“ zur Beratung der gemeinsamen Angelegenheiten der Doppelmonarchie geregelt wurden. Obgleich „in Ergänzung des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung“ erlassen, zählte es nicht zu denjenigen Gesetzen, zu deren Abänderung eine Zweidrittelmehrheit für notwendig angesehen wird, wie zwei hervorragende Kenner des Parlamentsrechts 1909 urteilten.25 Zu bedenken ist jedenfalls, dass das ungarische Parlamentsrecht, ähnlich dem englischen, qualifizierte Mehrheiten und damit die Unterscheidung von Gesetzen, deren Zustandekommen von unterschiedlich normierten Mehrheiten abhing, nicht kannte. Auch bei der Wahl und Tätigkeit der sogenannten Delegationen wurde stets vom Erfordernis der „absoluten“ – also der einfachen – Mehrheit gesprochen. Nur beim Anwesenheitserfordernis wurde in einem Fall (Plenarsitzungen beider Delegationen) die Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln jeder der beiden Delegationen festgelegt; die Abstimmung hatte jedoch mit absoluter Mehrheit zu erfolgen.26 Drei Erwägungen bezüglich der Anwendung der qualifizierten Mehrheit in den Jahrzehnten nach 1867 – der Geltungszeit der Dezemberverfassung bis 1918 – möchte ich hier vorlegen. Erstens: Bei Anwendung oder Nichtanwendung der Zweidrittelmehrheit zeigten sich – im Vergleich zu der seit 1920 in Österreich dank Hans Kelsen viel stärker formalisierten, terminologisch und verfahrensmäßig stärker standardisierten Rechtstechnik des Gesetzgebungs- und Verfassungsgesetzgebungsprozesses – noch viele Unsicherheiten, begriffliche Unklarheiten sowie ein Mangel an verfassungsrechtlicher Information seitens der Regierung, gleichzeitig jedoch ein bemerkenswerter Spielraum des Parlaments und besonders der Parlamentspräsidenten bei der Entscheidung darüber, ob bei konkreten Abstimmungen über Gesetzesvorlagen nun eine Zweidrittelmehrheit erforderlich sei oder nicht. Üblicherweise nahm der Präsident des Abgeordnetenhauses für sich in Anspruch, ohne Abstimmung des Hauses in Zweifelsfällen zu entscheiden, ob verfassungsmäßig eine Abstimmung mit Zweidrittelmehrheit erforderlich sei oder nicht. 1891 sprach der Präsident Smolka ausdrücklich davon, dass gewissermaßen „eine Gesetzesbestimmung sozusagen im Wege der parlamentarischen Übung zustande

25 Neisser, Bd. 2, 299. 26 § 33; Bernatzik, 450.



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gekommen ist, wonach dieses Recht dem Präsidenten zukommt“.27 Die Regierung hielt sich übrigens bewusst aus dieser Streitfrage heraus.28 Es war eine Ausnahme, als 1878 der Präsident des Abgeordnetenhauses Karl Rechbauer bei der Beratung der Verlängerung zweier Paragraphen des Wehrgesetzes erklärte, er sei zwar der Ansicht, dass bei diesen Paragraphen (§§ 13 und 15) die einfache Mehrheit genüge, er aber bereit sei, sich der Entscheidung des hohen Hauses unterzuordnen. Das Haus entschied mit 177 gegen 72 Stimmen gegen die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit.29 1881 kam es zu einer Kampfabstimmung und einer erbitterten politischen Auseinandersetzung zwischen der konservativen und eher föderalistischen Mehrheit und der liberal-zentralistischen Minderheit um die Frage der Reduzierung der Schulpflicht von acht auf sechs Jahre in einigen stärker agrarischen Kronländern. Die Konservativen befürworteten eine Kompetenzerweiterung des Gesetzgebungsrechts der Landtage, die Liberalen waren dagegen und argumentierten, dies müsse mit Zweidrittelmehrheit entschieden werden. Der Präsident, Graf Franz Coronini, ließ nur mit einfacher Mehrheit abstimmen. Dies führte zum Sieg der Konservativen, zu einem Misstrauensvotum der Liberalen und zum Rücktritt des Präsidenten Coronini.30 Die immer wieder anzutreffende verfassungsrechtliche Unsicherheit kam in der wiederholten Äußerung etwa des Präsidenten Smolka zum Ausdruck, dass „für den möglichen Fall einer irrigen Ansicht meinerseits immerhin das Korrektiv noch in den Beschlüssen des hohen Herrenhauses oder in der Erteilung oder Nichterteilung der Allerhöchsten Sanktion gelegen sein wird“31. Es kam auch vor, dass die Notwendigkeit eines Zweidrittelbeschlusses im Abgeordnetenhaus und sogar von dessen Präsidenten übersehen wurde. Dies war der Fall bei einer Bestimmung des Patentgesetzes von 1896, die der Zweidrittelmehrheit bedurfte, weil sie 27 Sten. Prot. AH, XI. Session, 570, 1. Juni 1891, zitiert bei Neisser, Bd. 2, 295. 28 Äußerung des Justizministers Graf Schönborn am 1. Juni 1891, „daß es der Regierung schlecht anstehen, ja daß es ihr mit vollem Recht verübelt würde, wenn sie sich in diese Frage, welche ein Privilegium und interne Angelegenheit des hohen Hauses betrifft, einlassen würde“: Zitat Neisser, Bd. 2, 296. 29 Hierzu Neisser, Bd. 2, 292 f., sowie Sten. Prot. AH, VIII. Session, 13184–13185, 20. Dezember 1878. 30 Vgl. Helmut Rumpler, Parlament und Regierung Cisleithaniens 1867 bis 1914, in: Rumpler/ Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7, S. 755 f. Zur Zweidrittel-Problematik die Debatte im Abgeordnetenhaus am 25. Februar 1881, Sten. Prot. AH, IX. Session, besonders 4141–4145. 31 Smolka am 21. März 1882 (zitiert bei Neisser, Bd. 2, 297 aus Sten. Prot. AH, IX. Session, 7624); vgl. bereits 23. Februar 1882, Sten. Prot. AH, IX. Session, 6904.

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eine Abänderung des Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt von 1867 zum Inhalt hatte. Das Herrenhaus wies das Abgeordnetenhaus auf diesen Irrtum hin; Präsident Johann Freiherr von Chlumecky konstatierte daraufhin im Nachhinein ausdrücklich die einstimmige (und damit die Zweidrittelmehrheit inkludierende) Annahme dieser Bestimmung im Abgeordnetenhaus.32 1890 machte der ehemalige Präsident Coronini den Vorschlag, bei Fällen, in welchen Unsicherheit darüber herrschte, ob mit einfacher oder qualifizierter Abstimmung vorzugehen sei, eine hochrangig besetzte Konferenz zur Klärung der verfassungsrechtlichen Sachlage einzuberufen. Dieser Konferenz sollten angehören: die Präsidenten beider Häuser des Reichsrates, der Ministerpräsident, die Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, des Reichsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofes oder deren Stellvertreter sowie jenes Parlamentsmitglied, das den Antrag für den Anlassfall gestellt hatte. Coroninis Vorschlag wurde allerdings nicht weiter verfolgt.33 Insgesamt ist im Laufe der parlamentarischen Praxis mehrerer Jahrzehnte eine Schärfung des Blicks für die eigentlichen Grenzen der qualifizierten Mehrheit eingetreten. Als Beleg hierfür gibt es eine sehr klare Äußerung des Präsidenten des Abgeordnetenhauses Freiherrn von Chlumecky im Jahre 1894: „Nicht die Frage, ob irgend ein Gegenstand einen verfassungsrechtlichen Inhalt hat, ist für die Frage der Zweidrittel-Majorität entscheidend, sondern nur die Frage, ob es sich um die Abänderung eines Gesetzes handelt, welches mit einer Zweidrittel-Majorität beschlossen worden ist und bezüglich dessen es ausdrücklich im Gesetze heißt, daß es einer qualifizierten, das heißt der Zweidrittel-Majorität bedarf ... Der Umstand, daß ein Gesetz verfassungsrechtliche Normen enthält, ist – wie gesagt – ganz ohne Belang; ich will nur darauf hinweisen, daß ganz eminent verfassungsrechtliche Normen zum Beispiel in der Reichsratswahlordnung enthalten sind und dieselbe trotzdem mit einfacher Majorität abgeändert werden kann“.34

Hier befinden wir uns bereits, wenn ich das so sagen kann, auf dem Wege in Richtung Hans Kelsens – weg vom materiell-inhaltlichen, hin zum formell-prozeduralen Verfassungsverständnis. Kelsen selbst hat schon 1913 – also noch in der 32 Es handelte sich um einen Ausschluss des Rechtszuges und der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Einzelheiten bei Neisser, Bd. 2, 308 f. 33 Neisser, Bd. 2, 296–297 (vgl. 968 der Beilagen, Sten. Prot. AH, X. Session). 34 Sten. Prot. AH, XI. Session, 17. Nov. 1894, 15642; vgl. auch Neisser, Bd. 2, 296.



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altösterreichischen Epoche! – den „Begriff des formellen Gesetzes“ als „das wichtigste Prinzip des Konstitutionalismus, sozusagen das Allerheiligste der Verfassung“ bezeichnet.35 Ich komme zu einer zweiten grundsätzlichen Erwägung. Die österreichische Dezemberverfassung, wie oben gezeigt, bestand aus einem „Bündel“ von Gesetzen. Auch jene Bestimmung, die die qualifizierte (Zweidrittel-)Mehrheit normierte – der bereits zitierte § 15 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung von 1867 sowie ebenfalls § 15 von dessen Novellierung im Jahre 1873 –, zählte fünf davon betroffene (Staatsgrund-)Gesetze auf. Das bedeutete eine „Zersplitterung“ des Verfassungsrechts. Die Symbolik, die in „einer“ Verfassungsurkunde lag, wie noch 1848/49, war verloren gegangen. Vor allem aber ging die Zersplitterung noch weiter, da in den Jahren und Jahrzehnten nach 1867 nicht bloß Änderungen des Grundgesetzes über die Reichsvertretung zustande kamen – ich erinnere an die Gesetze von 1873, 1882, 1896 und 1907 –, sondern auch zahlreiche Spezialgesetze bzw. Einzelbestimmungen in Spezialgesetzen, die qualifizierte Mehrheit erforderten, insoweit sie Abänderungen von Bestimmungen der Staatsgrundgesetze beinhalteten. Einige Beispiele seien gegeben. 1873 erging ein Gesetz, betreffend die zeitweise Einstellung der Geschworenengerichte in Ergänzung des Art. 11 des Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt.36 1875 wurde ein Gesetz über die Regelung von Kompetenzkonflikten zwischen dem Verwaltungsgerichtshof, den ordentlichen Gerichten und dem Reichsgericht mit Zweidrittelmehrheit beschlossen, weil es eine teilweise Abänderung des Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt bedeutete. 1879 wurde das Gesetz „zur Erhaltung des Allerhöchsten Hofstaates“ beschlossen, das die für den Hofstaat budgetierte Summe für zehn Jahre bis Ende 1889 festlegte – und damit eine Ausnahmeregelung von der im Grundgesetz über die Reichsvertretung vorgesehenen jährlichen Budgetbewilligung bedeutete. Ohne Kenntnis der stenographischen Protokolle und der Abstimmungsmodalität würde der Nichtspezialist nicht ohne Weiteres erkennen, dass hier gewissermaßen 35 In einem ungezeichneten Artikel („von einem Staatsrechtslehrer“) Die böhmische Verwaltungskommission vor dem Verwaltungsgerichtshof, in „Neue Freie Presse“, Nr. 17373, 5. November 1913. Ich verdanke den Hinweis, dass der Autor Kelsen sei, Robert Walter; in der Öffentlichkeit war Bernatzik als Autor vermutet worden. Zum Kontext von Kelsens Artikel vgl. Gerald Stourzh, Verfassungsbruch im Königreich Böhmen: Ein unbekanntes Kapitel zur Geschichte des richterlichen Prüfungsrechts im alten Österreich, in diesem Band, Kap. 7, 139–155. 36 Bernatzik, 434 f.

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eine Teilnovellierung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung vorlag. 1880 wurde das Gesetz über die Verwaltung Bosniens und der Herzegovina mit Zweidrittelmehrheit angenommen, da es eine Veränderung (Erweiterung) der durch Vereinbarung mit den zur ungarischen Krone gehörenden Ländern als gemeinsam festgestellten Angelegenheiten betraf (vgl. § 11 Abs. o des Grundgesetzes über die Reichsvertretung). 1888 wurde ein Gesetz über die Besorgung des Religionsunterrichts in Schulen und den Kostenaufwand hierfür mit Zweidrittelmehrheit beschlossen, weil es eine Abänderung des Art. 17, Abs. 4 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger bewirkte. Auf das Patentgesetz von 1896 bzw. eine Bestimmung dieses Gesetzes habe ich bereits verwiesen. Weitere Fälle wären zu nennen37. Zumindest in einem Falle kam es de facto zu einer Zweidrittelmajorität, obgleich lediglich die Minderheit des Abgeordnetenhauses die Rechtsansicht vertrat, diese qualifizierte Mehrheit sei aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend, während die Mehrheit und der Präsident des Hauses die Ansicht vertraten, es handle sich nicht um die Änderung eines Staatsgrundgesetzes, so dass auch eine einfache Mehrheit ausreichen würde. Es handelte sich um ein Gesetz über die Einführung von Ausnahmegerichten in Dalmatien – im Zusammenhang mit aus der Herzegovina herübergreifenden Aufstandsbewegungen – im Jahre 1882. Nach Ansicht der (liberalen) Minderheit bedeutete ein Paragraph dieses Gesetzes eine partielle Außerkraftsetzung des Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt. Der Präsident Dr. Smolka teilte diese Ansicht nicht, konstatierte jedoch auf Antrag der Minderheit – die bereit war, für das Gesetz zu stimmen –, dass mehr als die Zweidrittelmehrheit für das Gesetz gestimmt habe.38 Das letztgenannte Beispiel zeigt, dass die Frage, ob eine Zweidrittelmehrheit in einem konkreten Falle zwingend war oder nicht, Thema kontroverser politisch motivierter Auseinandersetzungen sein konnte; auch andere Beispiele für kontroverse Verfassungsinterpretationen liegen vor, wie etwa die bereits oben genannte Diskussion um die fakultative Reduzierung der Schulpflicht im Jahre 1881. Die Gefahr einer derartigen Kontroverse war 1914 Anlass für die Regierung, eine – interne – grundsätzliche Darstellung der Problematik der Staatsgrund- und Verfas37 Zahlreiche Hinweise bei Neisser, Bd. 2, 289–316. 38 Sten. Prot. AH, IX. Session, 23. Februar 1882, 6904, sowie die vorhergehenden Debatten dort, 6899–6904; nicht ganz präzise die Darstellung bei Neisser, Bd. 2, S. 294 (einschl. Anm. 2), da zwar Präsident Smolka auf Wunsch des Minderheitssprechers Dr. Sturm das Ergebnis der über die Zweidrittelmehrheit hinausgehenden Annahme feststellte, jedoch ausdrücklich seine entgegengesetzte Rechtsmeinung aussprach.



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sungsgesetzgebung vorzunehmen. Der Anlass – eine geplante kaiserliche Notverordnung gemäß § 14 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung betreffend die Ausübung des Vereinsrechts – ist hier nicht von Interesse; von Interesse ist jedoch die aus diesem Anlass angefertigte Übersicht über die Kategorien „Verfassungsgesetze“, „Staatsgrundgesetze“ und „qualifizierte Gesetze“.39 Der staatsrechtliche Referent des Innenministeriums, Baron Johann Andreas Eichhoff, ging von Art. VI des Februarpatents von 1861 aus.40 Im Februarpatent wurden die „vorausgängigen Grundgesetze“ (gemeint waren Pragmatische Sanktion und das Oktoberdiplom), die wieder ins Leben gerufenen Verfassungen (der Länder der ungarischen Krone) und die mittels der neuen Grundgesetze geschaffenen Verfassungen (d.i. das Grundgesetz über die Reichsvertretung und die cisleithanischen Landesordnungen von 1861) gemeinsam als „Verfassung Unseres Reiches“ bezeichnet. Sowohl das im Februar 1861 erlassene Grundgesetz über die Reichsvertretung als auch die gleichzeitig erlassenen Landesordnungen wurden im Februarpatent aber auch ausdrücklich als „Staatsgrundgesetze“ bezeichnet.41 Eichhoff ging nun zunächst der Frage nach, wie sich „Staatsgrundgesetze“ und „Verfassungsgesetze“ zueinander verhielten. Er kam zum Schluss, dass das „Kriterium des Verfassungsgesetzes ein materielles, jenes des Staatsgrundgesetzes ein formelles“ wäre. Sich am Wortlaut des Februarpatents (Art. VI) orientierend, erblickte Eichhoff das (materielle) Kriterium für ein Verfassungsgesetz darin, dass es mit der Feststellung der staatsrechtlichen Verhältnisse des Reiches, der Vertretung der Völker und der Ordnung ihrer Teilnahme an der Gesetzgebung und Verwaltung zu tun habe. Staatsgrundgesetze waren nach Eichhoff all jene Gesetze, die in der gesetzlichen Terminologie als solche benannt oder ausdrücklich als Ergänzung oder Änderung eines Staatsgrundgesetzes erlassen oder als Bestandteil eines Staatsgrundgesetzes bezeichnet würden. Eichhoff meinte weiter, dass zwar alle Staatsgrundgesetze Verfassungsgesetze, aber nicht alle Verfassungsgesetze Staatsgrundgesetze wären. Verfassungsgesetze waren auch all jene Gesetze wie etwa Wahlordnungen, gegen deren Verletzung Staatsbürger vor dem Reichsgericht we39 Zum Anlassfall und zur Frage des Vereinsrechts vgl. den oben in Anm. 20 genannten Aufsatz von Peter Urbanitsch über das Vereinsrecht. Ich bin Peter Urbanitsch für den Hinweis auf das im Folgenden genannte Aktenstück im Österreichischen Staatsarchiv sehr zu Dank verpflichtet. 40 Österreichisches Staatsarchiv Wien, Abteilung Allgemeines Verwaltungsarchiv, Bestand Ministerium des Inneren: Präsidiale 15, Karton 1615, Zl. 4111/M.I./1914, 18. April 1914. Eichhoff spricht übrigens irrtümlich an einer Stelle vom „Oktoberdiplom (Art. VI)“, doch gibt es im Oktoberdiplom gar keinen Art. VI, sondern lediglich im Februarpatent. 41 Bernatzik, 255–257.

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gen „Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte“ Beschwerde erheben konnten.42 Als dritte Kategorie führte Eichhoff „qualifizierte Gesetze“ an, d.h. Gesetze von besonderer Wichtigkeit, die entweder als unabänderlich bezeichnet wurden (das Oktoberdiplom bezeichnete sich als „unwiderruflich“) oder deren Änderung einer besonderen qualifizierten Mehrheit bedürfe. Alle als Staatsgrundgesetze oder in deren Abänderung beschlossenen Gesetze fielen darunter, aber nicht alle (von Eichhoff so bezeichneten) Verfassungsgesetze; andererseits gab es auch mit qualifizierter Mehrheit behaftete Landesgesetze, die nicht als Staatsgrund- oder Verfassungsgesetz galten (vgl. unten bei Anm. 44 und 45). Eichhoff erstellte eine Liste von 18 (Reichs-)Verfassungsgesetzen (beginnend mit der Pragmatischen Sanktion), von welchen er 14 als Staatsgrundgesetze bezeichnete; dazu kamen die als Staatsgrundgesetze bezeichneten Landesordnungen und Landtagswahlordnungen.43 Allerdings gab es eine Reihe von Gesetzen oder Gesetzesartikeln, die kompetenzändernde Abänderungen vor allem des Grundgesetzes über die Reichsvertretung beinhalteten und die nicht in Eichhoffs Liste aufscheinen. Eine vollständige Erfassung aller mit qualifizierter Mehrheit beschlossenen Gesetze bzw. Gesetzesteile der „Verfassungsära“ liegt unseres Wissens bislang nicht vor. Zum Abschluss dieses zweiten Punktes ist mit Nachdruck auf Folgendes hinzuweisen: Die in der Gegenwart in Österreich so häufig und mit Recht beklagte außerordentlich starke Zersplitterung und Unübersichtlichkeit des Verfassungsrechts, mit vielen Hunderten von „Verfassungsbestimmungen“ in einfachen Gesetzen, hat ihren Ausgangspunkt nicht in der sogenannten „Kelsen-Verfassung“ von 1920. Diese Zersplitterung verfügt über ältere Traditionsstränge, sie verfügt über ältere Wurzeln, eben aus dem Halbjahrhundert zwischen 1867 und 1918. Die Negativeffekte der Zersplitterung und Unübersichtlichkeit von Verfassungsrecht möchte ich – unhistorisch von der Verfassungsgeschichte in die Verfassungsgegenwart abschweifend – kontrastieren mit jener Norm des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland – Art. 79 Abs. 1 des Grundgesetzes –, wonach das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden kann, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Sie bedeutet, wie Konrad 42 Art. 3b) des Staatsgrundgesetzes über die Einsetzung eines Reichsgerichts, Bernatzik, 428. 43 Eichhoff bezeichnete das „Ausgleichs“- oder „Delegations“-Gesetz, betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten, als Staatsgrundgesetz, weil es im Eingang als Ergänzung des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung bezeichnet wurde. Allerdings zählte, wie oben Anm. 25 bereits bemerkt, dieses Gesetz nicht zu den Gesetzen, für deren Abänderung eine Zweidrittelmehrheit für notwendig angesehen wurde!



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Hesse geschrieben hat, dass jeder „ohne Schwierigkeiten“ erkennen soll, „was de constitutione lata gilt“. Denn sonst, so schreibt Hesse weiter, wären der „Primat und die stabilisierende Wirkung der geschriebenen Verfassung, die Rechtsklarheit und Rechtsgewißheit, die sie schafft“, „preisgegeben zugunsten der Zulassung eines notwendig immer unübersehbarer werdenden Konglomerats von Abweichungen ...“44. Ich kehre abschließend zurück zur altösterreichischen Entwicklung im Halbjahrhundert zwischen 1867 und 1918 und komme zu meinem dritten Punkt. Eine neue und sehr interessante Entwicklung der qualifizierten Mehrheit setzte in den ersten Jahren nach 1900 ein. Ich habe bereits vorhin den Namen von Georg Jellinek erwähnt und seine Schrift über das Recht der Minoritäten von 1898. Jellinek plädierte für einen Schutz national-ethnischer Minderheiten vor dem parlamentarischen Mehrheitsdruck der nationalen Mehrheiten – konkret plädierte er für einen Schutz der deutschen Minderheit gegenüber der slawischen Mehrheit im cisleithanischen Österreich. Die Reform des Reichsratswahlrechts von 1906/07 war de facto ein Versuch in dieser Richtung. Die Wahlreform von 1906/07 war ein nationaler Kompromiss, der, grob gesprochen, den Anteil der Deutschen im Abgeordnetenhaus gegenüber den Tschechen im Vergleich zur Bevölkerung begünstigte; andererseits war die Einführung des allgemeinen gleichen Männerwahlrechts ein Desiderat der Slawen, besonders der Tschechen. Nun wurden die Änderungen dieses 1906 erzielten Kompromisses an eine besonders qualifizierte Mehrheit gebunden. Änderungen bestimmter Teile der Wahlreform konnten nur bei Anwesenheit von mindestens 343 der 516 Mitglieder des Abgeordnetenhauses beschlossen werden, wobei Abgeordnete, die gleichzeitig Mitglieder der Regierung oder des Parlamentspräsidiums oder als Schriftführer tätig waren, nicht mitgezählt werden durften.45 Dieses Kalkül sollte das Überstimmtwerden der deutschen Abgeordneten verhindern.46 Der bewusste Einsatz qualifizierter Mehrheiten zum Schutz nationaler Minderheiten bzw. zum Schutz – etwas unfreundlicher gesagt: zur Einbetonierung – erzielter nationaler Kompromisse erfolgte auch in einigen Kronländern im Rahmen der bekannten nationalen Ausgleichswerke in Mähren 1905/06 und in der Bukowina 1909/10. Die mährische Landesordnung von 1906 normierte für national 44 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 19682, 253. 45 § 42 der Reichsratswahlordnung vom 26. Jänner 1907, Bernatzik, 781. 46 Vgl. W. A. Jenks, The Austrian Electoral Reform of 1907, New York 1950, 172–173; vorzüglich auch Bernatzik, 886–889.

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sensible Bereiche die Zweidrittelmehrheit und ein großes Anwesenheitsquorum (121 bei einer Gesamtzahl von 151 Abgeordneten; § 38); die Änderung bestehender Gemeindewahlordnungen wurde überhaupt an die Zustimmung einer Mindestzahl von 93 Abgeordneten gebunden. Auch die Änderung der Landtagswahlordnung wurde einem hohen Anwesenheitsquorum (121 Mitglieder) und einer Zweidrittelmehrheit der Anwesenden unterworfen (§ 75).47 Ähnliche stringente Bestimmungen wurden in der Landtagsordnung und Landtagswahlordnung für die Bukowina von 1910 verankert. Die Intensivierung der nationalpolitischern Agitation führte auch in anderen Kronländern zum verstärkten Einsatz qualifizierter Mehrheiten. Die sogenannten „nationalen Schutzgesetze“ in Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und Vorarlberg, alle am gleichen Tage, dem 1. November 1909 erlassen, normierten den Primat der deutschen Sprache in diesen Ländern (ein symbolischer Akt)48 und setzten die Abänderungsmodalitäten mit jenen für die Landesordnungen (Landesverfassungen) gleich, d.h. Zweidrittelmehrheit bei Anwesenheit von drei Vierteln der Abgeordneten.49 Die – hier nur ansatzweise skizzierte, in Wirklichkeit erst zu erforschende – Geschichte der Rolle oder des Stellenwerts qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der altösterreichischen Verfassungsgeschichte im Zeitalter der konstitutionellen Monarchie fördert vor allem zwei voneinander durchaus zu trennende vorläufige Ergebnisse zutage: einerseits die Anfänge jener Verästelung und Zersplitterung des Verfassungsrechts im formellen Sinne, die in der Verfassungsentwicklung der Republik Österreich bis in die Gegenwart noch unvergleichlich stärker auftreten sollten, andererseits den bewussten und wohlmotivierten Einsatz qualifizierter Mehrheiten als Instrument national- oder ethnopolitischer Schutz- und Kompromissregelungen. Nicht zu vergessen ist allerdings, dass die konstitutionelle Monarchie in Österreich von 1848 bis 1918 stets unter dem Schatten eines zeitweise offenen Absolutismus, in späteren Zeiten unter dem Schatten des von Friedrich Tezner so genannten „subsidiären Absolutismus“ und natürlich unter dem Primat des in wichtigen Ländern, besonders in Böhmen, ungelösten Nationalitätenkonflikts stand.50 Die 47 Bernatzik, 900 f., 937. 48 In Niederösterreich wurden mit Rücksicht auf den reichsgerichtlich festgestellten Minderheitenschutz für einige slawische Gemeinden im Nordosten des Landes gewisse Modifizierungen des Textes vorgenommen. 49 Bernatzik, 1014 f. 50 Hierzu jetzt Stourzh, Der Dualismus 1867–1918 (wie oben Anm. 23), 1229.



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viel zitierte „Selbstbindung“ des Monarchen im monarchischen Konstitutionalismus funktionierte in Altösterreich nicht; sie wurde immer wieder aufgehoben. Auf 1848/49 folgte der Neoabsolutismus; die konstitutionelle Reichsvertretung von 1861 wurde 1865 sistiert; das System der Dezemberverfassung wurde 1871, wenn auch nur vorübergehend und erfolglos, umgeworfen. Noch 1913 wurde die böhmische Landesverfassung außer Kraft gesetzt und ein landesfürstlicher Absolutismus eingeführt. Viele in Österreich erwarteten sich in den Jahren vor 1914 die große Lösung der Nationalitätenkonflikte von einem Octroi des Thronfolgers Franz Ferdinand, wenn er einmal die Nachfolge Franz Josephs antreten sollte. „Der Herr hat die Verfassung gegeben, der Herr kann sie wieder nehmen“ – so skeptischresigniert drückte Friedrich von Wieser 1905 die Befindlichkeit eines kritischen Zeitgenossen aus.51

51 Friedrich von Wieser, Über Vergangenheit und Zukunft der österreichischen Verfassung, Wien 1905, 2 f.



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Wenige Tage nach Königgrätz schreibt József von Eötvös, der große ungarische Staatsmann und Schriftsteller, in sein Tagebuch: „Weder der Kaiser noch seine Völker sind sich dessen bewußt, daß er jetzt eigentlich König von Ungarn geworden ist und dass der Gesamtstaat jetzt in Wirklichkeit ungarisch ist.“1 Vierzehn Tage nach Königgrätz, am 17. Juli, beschäftigt sich Eötvös mit der Möglichkeit, dass die deutschsprachigen Teile Österreichs früher oder später von Deutschland absorbiert würden und dann das Reich wirklich ungarisch werden würde. Österreich sei nun aus Deutschland ausgeschlossen; begehe er eine Inkonsequenz, so fragt sich Eötvös in seinem Tagebuch am 20. Juli, wenn er für Ungarn nicht nur den Dualismus, sondern die Vormacht innerhalb des Habsburgerreiches verlange?2 Fünf Tage nach dem Vorfrieden von Nikolsburg, am 31. Juli, notiert Eötvös, die Entwicklung sei nicht aufzuhalten, Süddeutschland werde sich an den Norden anschließen. Mit der Ausnahme Österreichs werde sich das ganze Deutschtum unter Preußens Hegemonie vereinen. Nach kurzer Zeit würde in einem weiteren Entwicklungsstadium der Abfall der deutschen Provinzen von Österreich eintreten; Österreich sei in seinen Grundfesten erschüttert, die Frage sei nicht mehr, ob es wiedererstehen könne, sondern ob wir bei Beibehaltung der Dynastie anstelle des bisherigen Österreich ein ungarisches Reich aufbauen könnten. Am 5. August 1866 schreibt Eötvös, eine Erneuerung des Gesamtstaates sei nur innerhalb der Länder der ungarischen Krone möglich; die Basis eines starken Staates könne nur Ungarn werden. Am 11. August notiert er, Österreichs Machtstellung sei auf sei1 Zit. aus: Imre Lukinich, Hg., B. Eötvös József, Naplójegyzetek, gondolatok 1864–1868, Budapest 1941, 163 (für die Übersetzung aus dem Ungarischen bin ich Margit Nagy zu Dank verpflichtet), in: Gerald Stourzh, Die politischen Ideen Josef von Eötvös’ und das österreichische Reichsproblem. In: Der Donauraum 11, 1966, 204–220, hier 216. Dieser Aufsatz ist wieder veröffentlicht in: Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie, Wien–Köln 1989, 217–237, hier 234; weitere Verweise folgen dem letztgenannten Titel. 2 Lukinich, 169, 181, zit. Stourzh, Grundrechtsdemokratie, 234–235.

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nem Einfluss in Deutschland und in Italien begründet gewesen. Und drei Wochen nach dem Prager Frieden, am 15. September 1866, notiert Eötvös, Österreich habe aufgehört, in seiner alten Form zu bestehen. An seiner Stelle sei ein anderer Staat getreten, der nur Ungarn sein könne. Ungarn werde ein Reich gründen, wie es seit der Zeit seines größten Ruhms, seit Ludwig dem Großen, nicht mehr existiert habe. Er fügte hinzu, der Staat, den die Ungarn nun gründen wollten, sollte auf Freiheit und Gerechtigkeit, nicht auf der Unterdrückung der Nationalitäten beruhen.3 Es ist dies der gleiche Schriftsteller, der nur siebeneinhalb Jahre zuvor, Anfang 1859, in seinem Buch über die Garantien der Macht und Einheit Österreichs eindrucksvolle Worte über die Geschichtlichkeit Österreichs geschrieben hatte: „Österreich verdankt sein Entstehen und seine gegenwärtige Größe weder der Einheit seiner Nationalität, noch seiner geographischen Grenzen, sondern ist ganz als Produkt der Geschichte zu betrachten.“4 Der Ausgleich des Jahres 1867 hat nicht die Erfüllung der hochgespannten Erwartungen Eötvös’ vom Sommer 1866 gebracht; die hervorragendste Persönlichkeit der ungarischen Politik der 60er-Jahre, Ferenc Deák, hat sich als ein maßvollerer und auch beharrlicherer Staatsmann als Eötvös gezeigt. Der Ausgleich von 1867, eingeleitet ab 1865 zur Konsolidierung der Monarchie angesichts der herannahenden Konfrontation mit Preußen, abgeschlossen Anfang 1867 zwischen der Krone und den führenden Vertretern des ungarischen Landtags oder Reichstags ohne Heranziehung der Vertretung der nichtungarischen Länder, verankerte jene dualistische Struktur der Habsburgermonarchie, die das letzte Halbjahrhundert dieser Monarchie geprägt hat. Wie außerordentlich eilig es die Krone mit dem Abschluss des Ausgleichs hatte – um in der Anfang 1867 von Beust vertretenen Revanchepolitik gegen Preußen gestärkt agieren zu können, illustriert ein merkwürdiges Detail des ungarischen Ausgleichsgesetzes. Wir lernen bekanntlich, dass im Ausgleich die auswärtigen Angelegenheiten gemeinsam mit dem Kriegswesen und dem zur Bestreitung dieser gemeinsamen Aufgaben erforderlichen Finanzwesen die Trias der „gemeinsamen“ Angelegenheiten bildete, zu welchen sich noch die sogenannten paktierten, das heißt eigens auszuhandelnden, und zwar mit Ausnahme der Staatsschuld periodisch neu zu regelnden Angelegenheiten gesellten: insbesondere die Materien des Handels- und Zollwesens, der indirekten Steuern, 3 Lukinich, 191, 199, 217, zit. in Stourzh, Grundrechtsdemokratie, 235. 4 [J. Frh. v. Eötvös], Die Garantien der Macht und Einheit Österreichs, Leipzig 1859, 85 (das Buch erschien zunächst ohne Verfassernamen).



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des Münzwesens und Geldflusses sowie die Angelegenheiten der beide Teile der Monarchie berührenden Eisenbahnlinien. Im ungarischen Ausgleichsgesetz ist nun von den gemeinsamen auswärtigen Angelegenheiten die Rede, der diplomatischen und kommerziellen Vertretung des Reiches im Ausland und den Verfügungen rücksichtlich der internationalen Verträge; doch es folgt ein etwas kryptischer Satz, dass „diese auswärtigen Angelegenheiten auch Ungarn als gemeinsam ansehe“5. Später wurden diese letztzitierten Worte in Ungarn dahin gehend interpretiert, dass es auch andere auswärtige Angelegenheiten gebe, hinsichtlich derer Ungarn nicht an die andere Hälfte der Monarchie gebunden sei. Ursprünglicher Zweck dieser Formulierung war jedoch, die ungarische Partizipation von jenen möglichen Verpflichtungen der meisten übrigen Teile der Monarchie freizuhalten, die sich aus der Mitgliedschaft im Deutschen Bund ergeben könnten. Konzipiert, als der Deutsche Bund noch bestand, vergaß man in der Eile des Ausgleichsabschlusses, diesen Passus herauszunehmen, dem dann Jahrzehnte später eine ganz andere Interpretation unterlegt wurde. 6 Dass dieser Dualismus nicht ex novo geschaffen wurde, sondern seine historischen Wurzeln besaß, soll nicht vergessen sein, auch wenn hier nicht darauf eingegangen werden kann. Was war der Kern dieser dualistischen Struktur? Zweifellos das Prinzip der Parität zwischen zwei Länderkomplexen des Habsburgerreichs, wie es im ungarischen Ausgleichsgesetz, dem berühmten Gesetzesartikel XII aus 1867, artikuliert wurde. Dort hieß es ausdrücklich, dass „einerseits die Länder der ungarischen Krone zusammen, anderseits die übrigen Länder und Provinzen Seiner Majestät zusammen so angesehen werden sollen, wie zwei besondere und vollständig gleichberechtigte Teile“7. Daraus folge, so das Gesetz weiter, „daß zwischen den zwei Teilen, hinsichtlich der Behandlung der gemeinsamen Angelegenheiten eine unerläßliche Voraussetzung die vollständige Parität“ sei.8 Dieser Anspruch auf gleichberechtig5 In § 8 des ungar. Gesetzesartikels XII aus 1867; zit. in: Ivan Žolger, Der staatsrechtliche Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn, Leipzig 1911, 312. 6 Hierzu die sehr informative und materialreiche Studie von Berthold Sutter, Die Ausgleichsverhandlungen zwischen Österreich und Ungarn 1867–1918, in: Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867. Seine Grundlagen und Auswirkungen (= Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 20, München 1968), 71–111, hier 73–74; Sutters Studie ist bis heute die beste Übersicht über die politischen Aspekte der Ausgleichsverhandlungen zwischen 1867 und 1918. Vgl. bereits Louis Eisenmann, Die Zersetzung des ungarischen Ausgleichs vom Jahre 1867. In: Österreichische Rundschau 2 (Februar–April 1905) 435–451, hier 437. 7 In § 28; Text bei Žolger, Ausgleich 172–173 sowie 322. 8 Ebd.

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te Behandlung der zwei genannten Länderkomplexe fand seinen symbolischen Ausdruck in der gleichen Zahl der von den beiden Parlamenten in Budapest und Wien zu bestellenden Delegationen für die Beratung der gemeinsamen Angelegenheiten. Dass der finanzielle Beitrag der beiden Länderkomplexe zur Bestreitung der gemeinsamen Angelegenheiten nicht auf der Basis 50 : 50, sondern zunächst auf der Basis 70 : 30, zuletzt (ab 1907) auf der Basis 63,6 : 36,4, zugunsten Ungarns festgesetzt wurde, steht auf einem anderen Blatt.9 Politisch bedeutete das Paritätsprinzip, dass jene Gruppierungen, die in den beiden nun mehr gleichberechtigten Parlamenten in Wien und Budapest jeweils die Mehrheit kontrollierten, zu den begünstigten Teilhabern des Ausgleichs wurden. Das waren die Magyaren im transleithanischen Länderkomplex, und zwar dank des nie reformierten Wahlrechts auf Dauer.10 Das waren zunächst, wenn auch später zunehmend in eine prekärere Situation geratend, die Deutschen im cisleithanischen Länderkomplex. Die Auswirkungen dieser Situation auf die anderen Nationalitäten der Donaumonarchie – und zumal auf die Tschechen der Länder der Wenzelskrone – sind bekannt. Doch in welcher Weise berührte und veränderte die dualistische Struktur von 1867 die seit Beginn des 19. Jahrhunderts vorwaltende Vorstellung Österreichs als der „Monarchie von Österreich“ oder des „vereinigten österreichischen Staatenkörpers“ – wie es im Patent über die Annahme des österreichischen Kaisertitels von 180411 hieß –, des Kaisertums Österreich, wie es oft und besonders seit 1849 lautete, der „österreichischen Monarchie“, wie es im Oktober-Diplom von 186012 hieß, und zwar jeweils unter Einschluss der Länder der Stephanskrone? In welcher Weise, um es etwas moderner auszudrücken, berührte und veränderte die nunmehr dualistische Struktur den damals vorwaltenden Österreichbegriff? Dass der Österreichbegriff mit dem Ausgleich von 1867 „in eine permanente Krisensituation“ geriet, hat Erich Zöllner 1980 in einem seiner wichtigen Beiträge zu den Wandlungen des Österreichbegriffs festgehalten.13 Auf sein jüngstes, 1988 erschienenes Buch über den 9 Die ausführlichsten Informationen hierzu in der Grazer sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation von A. B. Hölzl, Die wirtschaftlichen Ausgleichsverhandlungen zwischen Österreich und Ungarn 1867–1918 (ms. Diss., Graz 1989). 10 Wahlreformgesetze von 1913 und, in extremis, 1918, wurden nicht mehr in die Praxis umgesetzt; eine vorzügliche prägnante Darstellung der ungarischen Wahlrechtssituation von 1867 bis 1918 findet sich in: Karl Braunias, Das parlamentarische Wahlrecht, Bd. 1, Berlin-Leipzig 1932, 597–602. 11 Text abgedruckt bei Edmund Bernatzik, Hg., Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen (2., sehr vermehrte Aufl., Wien 1911), 49–52. 12 Ebd., 224. 13 Erich Zöllner, Perioden der österreichischen Geschichte und Wandlungen des Österreich-Be­



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Österreichbegriff und dessen Formen und Wandlungen in der Geschichte sei nachdrücklich hingewiesen.14 Die mit dem Ausgleich von 1867 einsetzende krisenhafte Entwicklung des Österreichbegriffs wird treffend dadurch illustriert, dass Kaiser Franz Joseph an ein und demselben Tage, dem 21. Dezember 1867, zwei Gesetze sanktionierte, in welchen der Begriff „österreichisch“ in zwei umfangmäßig ganz verschiedenen Bedeutungen vorkam. Das sogenannte österreichische Ausgleichsgesetz, „betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung“, verwendet den Begriff „österreichisch“ im alten Sinne der Gesamtmonarchie einschließlich der Länder der Stephanskrone. Das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom gleichen Tage spricht in Artikel 1 von einer „österreichischen“ Staatsbürgerschaft, die sich jedoch nur auf die cisleithanischen Länder der Monarchie bezog!15 Die Frage war, ob hinfort Ungarn seinen Platz in Österreich oder neben Österreich einnehmen sollte, wie es der Historiker Alfred von Arneth treffend formuliert hat.16 Arneth selbst zählte zu jenen, die Ungarn eben nicht neben Österreich, sondern weiterhin in der „österreichischen Monarchie“ – verstanden als Gesamtherrschaftsgebiet der österreichischen Monarchen – sehen wollten.17 In einem Memorandum vom Juni 1868 meinte Arneth, damals Direktor des österreichischen Staatsarchivs und vom Reichskanzler Beust zu einer Stellungnahme zur ­Titulaturfrage aufgefordert, die nichtungarischen Länder der Monarchie sollten als „Westösterreichische Länder“ bezeichnet werden. Arneth war sich wohl bewusst, dass in Hinblick auf die Bukowina oder Galizien die Bezeichnung nicht ganz zutraf. „Eine vollkommen richtige geographische Bezeichnung“ werde man bei der eigentümlichen Gestaltung dieses Länderkomplexes fruchtlos suchen, meinte Arneth; er fügte hinzu, dass gerade der Ausdruck „westösterreichisch“ andeuten würde, dass es auch „ostösterreichische“ Länder gebe, „die natürlich keine anderen sind und sein können als diejenigen der ungarischen Krone“18. Der Begriff „Westösterreich“ ist übrigens 1867 mehrfach in der Presse zu finden.19

14 15 16 17 18 19

griffs bis zum Ende der Habsburgermonarchie. In: A. Wandruszka und P. Urbanitsch, Hg., Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 3: Die Völker des Reiches, Wien 1980, 29. Zöllner, Der Österreichbegriff. Formen und Wandlungen in der Geschichte (Wien 1988). Siehe Bernatzik, Verfassungsgesetze, 439, 422. Alfred Ritter v. Arneth, Aus meinem Leben, Bd. 2, Stuttgart 1893, 199. Ebd., 200. Zu Arneths Memorandum ausführlich Eduard von Wertheimer, Graf Julius Andrássy, Bd. 1, Stuttgart 1910, 425–429. Vgl. etwa Die Presse, 8. 10. 1867, Morgenblatt, 1, sowie Abendblatt, 1; 27. 11. 1867, Abendblatt, 1; 30. 11. 1867, Morgenblatt, 2.

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Die Dringlichkeit der Namensfrage wird schlagend in einer der Komik nicht entbehrenden Episode um den Handelsvertrag zwischen dem Norddeutschen Bund und der Monarchie (formell zwischen dem König von Preußen namens des Norddeutschen Bundes und der Mitglieder des deutschen Zollvereins und dem Kaiser) vom Jahre 1868 illustriert. Der erste internationale Vertrag, der dem ungarischen Parlament zur gesetzlichen Behandlung vorgelegt wurde, war ebendieser Handelsvertrag, der im Titel der Warenlisten nur von Österreich (im Sinne der Gesamtmonarchie) sprach. In Budapest wurde dies von der Opposition weidlich ausgenützt, die Situation war schwierig, weil der Vertrag nicht nur schon unterschrieben war, sondern man schon knapp vor Austausch der Ratifikationsurkunden stand. Nach einigem Hin und Her zwischen Budapest und Wien wurde im gemeinsamen Außenministerium schließlich, allerdings nur für den ungarischen Vertragstext, anstelle des Wortes „Österreich“ gesetzt: „Beide Staaten Seiner Majestät.“ Nun wurde noch Bismarck um Zustimmung zur Änderung der Titulatur – es ging auch um jene Franz Josephs –, allerdings eben nur für den ungarischen Vertragstext, ersucht, er erteilte sie mit Blick auf Ungarn gerne; in Budapest war auch die Opposition zufrieden.20 Nun regelte Kaiser Franz Joseph die Titelfrage der Monarchie bald im a. h. Handschreiben vom 14. November 1868 derart, dass „zur Bezeichnung der Gesamtheit aller unter meinem Szepter verfassungsmäßig vereinigten Königreiche und Länder die Ausdrücke ‚Österreichisch-ungarische Monarchie‘ und ‚Österreichisch-ungarisches Reich‘ alternativ“ gebraucht werden.21 Zu dieser Regelung möchte ich zweierlei bemerken: Erstens: Die Bezeichnung „österreichisch-ungarisches Reich“ ist, ganz offensichtlich auf Betreiben von ungarischer Seite, nie gebraucht worden. Zweifelsohne haben zur Zeit der Ausgleichsverhandlungen Kaiser Franz Joseph, seine Ratgeber und selbst die ungarischen Unterhändler mit Ferenc Deák an der Spitze den Gesamtkomplex der Habsburgermonarchie als „Reich“ betrachtet. Dafür spricht etwa die Ernennung Beusts zum „Reichskanzler“, vier Jahre bevor Bismarck diesen Titel errang, aber, was vielleicht wichtiger ist, nur drei Wochen vor der Ernennung Bismarcks zum Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes (23. Juni bzw. 14. Juli); hinzuzufügen wäre allerdings auch, dass im Jahr zuvor der Fürst Gortscha20 Zu dieser Episode Wertheimer, Andrássy 1, 420–425. 21 Text in Bernatzik, Verfassungsgesetze 52–53. Zur Entstehung ausführlich Wertheimer, Andrássy 1, 429–441. Zum (vergeblichen) Widerstand des cisleithanisch-österreichischen Ministerpräsidenten Karl Auersperg und des Unterrichtsministers Leopold Hasner vgl. W. Rudolf, Karl Fürst Auersperg als Ministerpräsident. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung , Bd. 85, 1977, 130–131.



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kow zum Kanzler des Russischen Reichs ernannt worden war. Wie Beust später schrieb, sollte der „Reichskanzler zwischen den beiden Reichshälften wie über den Wassern schweben“22. Zunächst haben auch die ungarischen Verfasser jenes berühmten noch von Mai und Juni 1866 stammenden Elaborats, das dann in großer Eile zum ungarischen Ausgleichsgesetz umfunktioniert wurde, den Begriff des Reiches – das viel umstrittene Wort „birodalom“ – für den Gesamtkomplex der Monarchie verwendet.23 Doch sehr rasch begann die ungarische Opposition gegen den Gebrauch des Begriffs „Reich“ zu polemisieren, insbesondere gegen die Praxis Beusts, bei den ersten Sitzungen der Delegationen der beiden Parlamente zwar gegenüber der ungarischen Delegation vom „gemeinsamen Ministerium“ zu sprechen (Außen-, Finanz- und Kriegsminister), jedoch gegenüber der Delegation des Wiener Reichsrats vom „Reichsministerium“ und den „Reichsministern“ zu sprechen. Einigermaßen sophistisch erklärte Beust der ungarischen Delegation, die Bezeichnung „Reichsministerium“ und „Reichsminister“ wäre nur darum gewählt worden, weil sie dem Geiste der deutschen Sprache homogener sei als „gemeinsames Ministerium“ und „gemeinsame Minister“24. Nach dem Sturz Beusts 1871 ist der Titel eines Reichskanzlers nicht mehr verliehen worden. Die unterschiedliche Bezeichnung der gemeinsamen Finanz- und Kriegsminister in den beiden Teilen der Monarchie hielt lange an. Die Begriffe „Reichshälften“ oder „Reichsteile“ fanden Eingang in die cislei­ thanische Gesetzgebung, nie jedoch in jene Ungarns. Andererseits bezogen auch Institutionen der cisleithanischen Reichshälfte den Begriff „Reich“ auf Cisleithanien allein. Der Reichsrat, ursprünglich für das gesamte Kaisertum Österreich geschaffen, behielt seinen Namen als Parlament der nichtungarischen Königreiche und Länder, ja bekanntlich diente diese Institution als gemeinsamer Namensgeber für die cisleithanischen Länder, eben der „im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“. Auch das Reichsgesetzblatt, obgleich nur mehr für eine Reichshälfte zuständig, behielt seinen Namen, das Reichsgericht wurde als neue Institution 1867 nur für die nichtungarische Reichshälfte geschaffen. Hier wirkte allerdings die Tradition von 1848 nach – das Reichsgericht der Paulskirchenverfassung und des Kremsierer Verfassungsentwurfs von 1848/49. In unzähligen privaten Organi22 Zit. bei Wertheimer, Andrássy, Bd. 1, 415 aus Friedrich Ferdinand Graf von Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten. Erinnerungen und Aufzeichnungen, Bd. 2, Stuttgart 1887, 143. 23 Eingehend zum Begriff „birodalom“ und den ersten Polemiken darüber Žolger, Ausgleich, 96–107. 24 Erklärung Beusts vor der ungarischen Delegation am 31. 1. 1868, zit. Wertheimer, Andrássy, Bd. 1, 417–418; zur Polemik der ungarischen Opposition gegen den Begriff „Reich“ vgl. ebd. 414–417.

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sationen wurde der Vorsatz „Reichs-“ zum Kennzeichen für den ganz Cisleithanien-Österreich umfassenden Charakter dieser Institutionen, ja, wie ich an anderer Stelle einmal gezeigt habe, es blieben Reichsvereinigungen, Reichsverbände und Reichsorganisationen in großer Zahl während der ersten Republik Österreich bestehen – nicht etwa als Vorboten eines Anschlusses, sondern als Überbleibsel der altösterreichischen Überlieferung.25 Zweitens ist zur Namensregelung von 1868 zu bemerken, dass sich im Unterschied zum „österreichisch-ungarischen Reich“ der Begriff „österreichisch-ungarische Monarchie“ bekanntlich sehr wohl durchgesetzt hat. Sehr bald setzte sich auch im Sprachgebrauch der vereinfachte Namen „Österreich-Ungarn“ durch, und dieser Sprachgebrauch war es, der mehr als andere Faktoren dafür verantwortlich war, dass sich der Österreichbegriff in den Jahrzehnten nach dem Ausgleich mehr und mehr auf die nichtungarische, die cisleithanische Hälfte der Monarchie beschränkte. „Österreich“-„Ungarn“, der Doppelstaat – nichts war natürlicher, als „Österreich“ allein eben auf den nichtungarischen Teil der Monarchie allein zu beziehen. Es ist oft zu lesen, erst 1915 sei die Bezeichnung Österreich offiziell auf den nichtungarischen Teil der Monarchie angewendet worden – im Zusammenhang mit einer Neuregelung der Wappen.26 Doch möchte ich dazu die folgenden drei Bemerkungen machen: Erstens ist die Umgangssprache der amtlichen Regelung von 1915 um Jahrzehnte vorangegangen, und zwar, wie zahlreiche Belege aus der Presse, aus dem Parlament zeigen, besonders häufig im Zusammenhang mit der Diskussion der Beziehungen zwischen den beiden Hälften der Monarchie, zwischen Ungarn und, wie eben dann der Sprachgebrauch zeigt, Österreich. Zweitens ist die Frage zu stellen, warum, unbeschadet dieser umgangssprachlichen Entwicklung, die offizielle innerstaatliche Terminologie tatsächlich erst so spät – im Nachziehverfahren gewissermaßen – Cisleithanien als Österreich bezeichnet hat: Der bedeutende Staatsrechtler Edmund Bernatzik hat wohl richtig diagnostiziert, als er 1911 der Frage nachging, warum „der diesseitige Staat“ – dies seine Worte – seine Embleme nicht in ähnlich klarer und einheitlicher Weise geregelt habe wie Ungarn. Dies hätten, so Bernatzik, einerseits „gesamtstaatliche“, andererseits föderalistische Tendenzen innerhalb Cisleithaniens verhindert.27 In der 25 Stourzh, Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewusstsein im 20. Jahrhundert, Wien 1990, 25–27. 26 Kundmachungen des k. k. Ministerpräsidenten vom 3. 11. 1915, RGBl. Nr. 327 und 328 aus 1915. 27 Bernatzik, Verfassungsgesetze, 62.



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Tat sind gerade im Umkreis besonders kaisertreuer, im österreichischen Sprachgebrauch „schwarz-gelber“ Kreise Tendenzen zu orten, Österreich weiterhin im Sinne der Gesamtmonarchie zu verstehen. Ein sogenannter „Groß-Österreicher“ wie der Freiherr Josef Alexander von Helfert wetterte 1876 gegen das vorhin genannte a. h. Handschreiben von 1868 und den dafür verantwortlichen Beust. „Wann hätten je die nicht-ungarischen Bestandteile der Monarchie für sich ,Österreich‘ geheißen?“28 Einer der scharfsinnigsten Staatstheoretiker der ausgehenden Mo­ narchie, Friedrich Tezner, hat in zahlreichen Schriften den österreichischen Kaisertitel als auf die Gesamtmonarchie bezogen interpretiert und sich damit zahlreiche Polemiken von ungarischer Seite zugezogen.29 Der Austro-Rumäne Aurel von Popovici schließlich hat in seinem bekannten 1906 erschienenen Werk „Die Vereinigten Staaten von Großösterreich“ die Länder der Stephanskrone in sein Groß-Österreich einbezogen. Der frühzeitigen, sozusagen offiziellen Konsolidierung der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder als „Österreich“ stand aber auch die Tatsache entgegen, dass vor allem, aber keineswegs nur von tschechischer Seite, der „diesseitige Staat“, um nochmals Bernatzik zu zitieren, „nur als ein Bund der diesseitigen Länder“ angesehen wurde.30 Drittens: Trotzdem war die Tendenz, frühzeitig den nichtungarischen Teil der Monarchie als Österreich zu bezeichnen, stark, und zwar nicht nur im inoffiziellen Sprachgebrauch, sondern auch in einem zu Unrecht vernachlässigten Bereich staatlicher Sprachprägung, dem völkerrechtlichen Verkehr der Monarchie mit anderen Staaten. Das zwischenstaatliche Vertragsrecht der dualistischen Ära bietet eine wahre Fundgrube für die Zusammenhänge zwischen dualistischer Staatsstruktur, deren internationalen Konsequenzen und der Entwicklung des Österreichbegriffs. Dies ist etwas ausführlicher zu erörtern. Anlässlich der Ausgleichsverhandlungen im Jahre 1906 wurden auf österreichischer Seite die vielfältigen und durchaus uneinheitlichen Benennungen sowohl 28 Josef Alexander Frh. v. Helfert, Revision des ungarischen Ausgleichs (Wien 1876) 129–132. 29 Siehe vor allem Friedrich Tezner, Ausgleichsrecht und Ausgleichspolitik (Wien 1907); ders., Der Kaiser (= Österreichisches Staatsrecht in Einzeldarstellungen 1, Wien 1909); ders., Das ­staatsrechtliche und politische Problem der österreichisch-ungarischen Monarchie. In: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 30, 1913, 102–151 und Bd. 31, 1913, 1–52, 157–189. Ungarische Gegenpositionen haben mehrere Regimewechsel überdauert, wie eine Miszelle vom Jahr 1985 zeigt: J. Buzás, Zur Geschichte des österreichisch-ungarischen öffentlich-rechtlichen Verhältnisses: Friedrich Tezner über die Rechtsnatur der dualistischen Staatsverbindung. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanist. Abteilung, Bd. 102, 1985, 269–282. 30 Bernatzik, Verfassungsgesetze, 62.

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der Doppelmonarchie als auch Österreich-Cisleithaniens zusammengestellt. In einem außerordentlich informativen, unveröffentlichten Amtsdruck, auf den erstmals Berthold Sutter hingewiesen hat, tritt eine überraschende Vielfalt in der Terminologie der österreichisch-ungarischen Vertragspraxis zutage.31 Es zeigt sich in der Tat, wie frühzeitig die Doppelbenennung „österreichisch-ungarische Monarchie“ bzw. die Kurzform „Österreich-Ungarn“ zur Bezeichnung der cisleithanischen „im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“ als „österreichisch“ oder als „Österreich“ führte. Ferner zeigt sich, dass die Benennung „Österreich“ für die nichtungarische Hälfte der Doppelmonarchie in der Völkerrechtspraxis dort auftrat, wo Materien geregelt wurden, die der selbständigen Gesetzgebungsund Regelungskompetenz der beiden Teilstaaten Ungarn und „Österreich“ unterlagen. So wurde etwa die Armenrechtskonvention mit dem Deutschen Reiche von 1886 von den Vertragsstaaten „Österreich und Ungarn“ abgeschlossen! Die Unterfertigung völkerrechtlicher Verträge erfolgte in der Regel zwar durch die gemeinsamen Vertreter der österreichisch-ungarischen Monarchie allein, doch wurde die Unterfertigung von Verträgen auch vollzogen: a) durch gemeinsame Vertreter zusammen mit österreichischen und ungarischen Spezialdelegierten oder b) durch gemeinsame Vertreter zusammen mit österreichischen Spezialdelegierten oder c) durch österreichische und ungarische Spezialdelegierte oder d) durch österreichische Spezialdelegierte oder e) durch ungarische Spezialdelegierte oder f ) durch österreichische, ungarische und bosnisch-hercegovinische Vertreter. Schon der Vertrag von 1874 zur Gründung eines allgemeinen Postvereins (eines Vorläufers des Weltpostvereins) wurde getrennt für Österreich und für Ungarn von zwei verschiedenen Vertretern unterzeichnet, und auch die Weltpostvereinskonvention von 1878 wurde von getrennten Vertretern für „Österreich“ und für „Ungarn“ unterschrieben. Ein ergänzender Weltpostvertrag vom Jahre 1895 wurde sogar, da es sich um getrennte Postgebiete handelte, von getrennten Vertretern für Österreich, für Ungarn und für Bosnien-Hercegovina unterschrieben. Die Zu31 Protokolle der Sitzungen des Ministerial-Komitees betreffend die Beratung der wirtschaftlichen Fragen in unserem Verhältnis zu Ungarn. Geheimer Amtsdruck (1906). Eingesehen wurde das Exemplar im Österreichischen Staatsarchiv – Allgemeines Verwaltungsarchiv, Bibl.Signatur B/431. Vgl. Sutter, Ausgleichsverhandlungen, wie oben Anm. 6, 74 u. 100.



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sammenstellung der Modalitäten der Vertragsunterzeichnung bei den genannten Postverträgen verzeichnet zu Vergleichszwecken auch die Art und Weise, in der für die durch Union verbundenen Königreiche Schweden und Norwegen Unterschriften geleistet wurden. Österreich und Ungarn wurden nicht nach dem Alphabet, sondern hintereinander gereiht, Schweden und Norwegen einmal nach dem Alphabet, bei späteren Verträgen jedoch hintereinander.32 Größere Kontroversen in Wien rief die Unterzeichnung der Internationalen Zuckerkonvention von 1902 (sogenannte Brüsseler Zuckerkonvention) hervor, die von drei getrennten Vertretern für „Österreich-Ungarn“, für „Österreich“ und für „Ungarn“ (!) unterfertigt wurde.33 Die Uneinheitlichkeit der Vertragsunterzeichnungspraxis führte schließlich im Ausgleich von 1907 zu der Regelung, dass Verträge, betreffend wirtschaftliche Beziehungen, insbesondere Handels-, Zoll-, Schifffahrts- und Konsularverträge, durch den gemeinsamen Minister des Äußern oder einen gemeinsamen Vertreter und „durch je einen Vertreter der beiden Regierungen unterfertigt werden“ – eine Regelung, die den ungarischen Intentionen entgegenkam.34 Auch in der Frage der Embleme und Symbole (Flaggen, Wappen etc.) sind jahrzehntelang Rivalitäten, Uneinheitlichkeiten und aufgeschobene Lösungsversuche zu verzeichnen. Im Juli 1906 wurde eine eigene Sitzung des Ministerial32 Protokolle 194–197, 205–206. 33 Friedrich Tezner, der der genannten Ministerial-Konferenz als Staatsrechtsexperte in der 22. Sitzung am 18.7. 1906 zugezogen wurde, stellte damals fest, dass in „zahlreichen durch den Reichsrat genehmigten Staatsverträgen für die nichtungarischen Länder die Einheitsbezeichnung Österreich verwendet wird“, ebd. 220. Tezner kritisierte die bei der Brüsseler Zuckerkonvention praktizierte Art der Zeichnung nicht nur als „unzulässig, sondern auch juristisch unhaltbar“, ebd. 219. Die Brüsseler Zuckerkonvention sorgte auch im Wiener Reichsrat für kritische Diskussionen; vgl. B. Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897, II (Graz-Köln 1965) 163; wichtige Materialien zur Unterzeichnungskontroverse in: Bericht der Ausgleichskommission des Herrenhauses (Berichterstatter J. Baernreither) v. 17. 12. 1907 (= 23 d. Beilagen zu den sten. Protokollen des Herrenhauses, XVIII. Session 1907, 17–20); ferner in: E. Mayrhofer u. A. Pace, Hg., Handbuch für den Politischen Verwaltungsdienst in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern, Ergänzungsband 1 zur 5. Auflage (Wien 1909) 1139–1143. [Ergänzung 2010: Zur Zuckerkonvention konnte ich neue, die Gründe der schließlich gewählten Unterzeichnungsmodalität endgültig klärende Quellen verwenden in meiner Arbeit: Der Dualismus 1867–1918: Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch, Hg., Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, 1. Teil, Wien 2000, 1177–1230, hier 1206–1207, bes. Anm. 108.] 34 Bernatzik, Verfassungsgesetze 580, 614 und bes. 649.

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Komitees zur Beratung der wirtschaftlichen Fragen des Ausgleichs der Frage der „Symbole der österreichisch-ungarischen Monarchie“ gewidmet; an ihr nahmen als Staatsrechtsexperten Friedrich Tezner und Ivan Žolger teil. Von Letzterem wurde festgestellt, dass Schiffe der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft „innerhalb des österreichischen Territoriums die Kriegsflagge, innerhalb des ungarischen Territoriums die ungarische Nationalflagge und, sobald sie das gemeinsame Zoll- und Handelsgebiet verlassen, die gemeinsame Handelsflagge“ führen. „Dieser dreimal sich wiederholende Flaggenwechsel“ sei „gewiß ein großer Übelstand“ und sei auch keineswegs mit den internationalen seerechtlichen Grundsätzen vereinbar, wonach ein Flaggenwechsel nur einzutreten habe, wenn ein Schiff in den Besitz des Angehörigen eines fremden Staates übergehe.35 Auch die Ausstattung der Banknoten mit staatlichen Symbolen führte zu jahrzehntelangen Streitfragen.36 Žolger stellte bei dieser Beratung zusammenfassend fest, „daß die ehemaligen gesamtstaatlichen Embleme, Farben, Kaiserkrone, Doppeladler zu spezifisch österreichischen Emblemen herabsinken“37. Friedrich Tezner meinte, dass staatliche Symbole „Versinnlichungen staatlicher Einrichtungen“ seien;38 auch er beklagte, dass die „sogenannten Reichsratsländer“ sich der alten gesamtstaatlich-kaiserlichen Symbole bedienten, weil sie eines verfassungsmäßig festgelegten Namens und Wappens, verfassungsmäßig festgelegter Farben entbehrten. Als Beispiele nannte er den Doppeladler auf den österreichischen (eben nicht österreichischungarischen!) Münzen, die schwarz-gelben Flaggen vor dem (nur den cisleithanischen Ländern dienenden!) Reichsratsgebäude in Wien. „Dadurch, daß ganz dieselben Symbole“ für die gemeinsamen Institutionen und für jene der Reichsratsländer verwendet würden, so Tezner, werde der Schein erregt, „als wäre Ungarn ein Nebenland der namenlosen Reichsratsländer. Damit erklärt sich auch der Hass Ungarns gegen die gemeinsamen Symbole.“ Klagend fügte Tezner hinzu (der Satz ist im Sitzungsprotokoll gesperrt gedruckt): „Deshalb werden die Reichsratsländer in der Frage der Symbolisierung der Monarchie und ihrer gemeinsamen Institutionen so lange nicht mit Erfolg aufzutreten vermögen, als sie nicht den höchst unwürdigen Zustand aufgeben, bei welchem sie in der Welt ohne Namen und verfassungsmäßige Symbole dastehen.“39 Wie bereits erwähnt, kam es zu einer Festlegung eines Wappens für die nunmehr erstmals offiziell innerstaatlich – nicht 35 36 37 38 39

Protokolle, 225. Ebd., 225–226. Ebd., 227. Ebd., 220. Ebd., 219.



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bloß in häufiger Vertragspraxis – „Österreich“ genannten Reichsratsländer ebenso wie eines gemeinsamen österreichisch-ungarischen Wappens erst im Jahre 1915.40 Zwei Aspekte des dualistischen Systems möchte ich abschließend besonders herausgreifen. Der erste bezieht sich auf ein Phänomen, das ich als die Dynamisierung des Ausgleichs bezeichnen möchte. Es handelt sich um die 1867 vorgesehene Neuverhandlung des sogenannten Zoll- und Handelsbündnisses zwischen den beiden Teilen der Monarchie alle zehn Jahre. Schon 1878 brandmarkte der liberale Politiker Ignaz von Plener den „Krebsschaden des Dualismus“, der nicht in seinem Wesen liege, sondern darin, „daß das Übel des Ausgleichs in seiner Periodizität liegt, in der steten Infragestellung des ganzen Bestandes des Ausgleichs“41. Diese Periodizität und die damit eingebaute Dynamisierung – man könnte auch von einer gewissermaßen vorprogrammierten periodischen Destabilisierung des Verhältnisses der beiden Teile der Monarchie zueinander sprechen42 – hatte bedeutende Konsequenzen. Da Ungarn derjenige Teil der Monarchie war, dessen magyarische Führungsschicht konstant ein Plus an Staatlichkeit, an Selbständigkeit begehrte, führten die periodisch erneuerten Ausgleichsverhandlungen häufig zu Junktimierungen von wirtschaftlichen und staatsrechtlichen Fragen. Vor allem ist Folgendes festzuhalten: Die im ungarischen Parlament vertretenen Parteien haben sich vom westeuropäischen Parteiensystem vor allem dadurch unterschieden – wie es der ungarische Historiker István Diószegi einmal formuliert hat43 –, dass das wesentliche Kriterium der Parteienunterscheidung nicht innenpolitische, also gesellschaftspolitische Fragen waren, sondern die Einstellung zum Staatsrecht, das heißt zum Verhältnis zu Österreich, zur Stellung in der Gesamtmonarchie. Die Periodizität der Ausgleichsverhandlungen implizierte selbstverständlich eine Akzentuierung dieser Einstellung und sie implizierte etwas Weiteres, nämlich die periodische Belastung der cisleithanischen Innenpolitik und des cisleithanischen Parlamentarismus mit der Problematik des periodisch neu zur Disposition gestellten Verhältnisses der beiden Teilstaaten der Monarchie zueinander. Die Periodizi40 Hierzu eine Abhandlung von Bernatzik, Unsere neuen Wappen und Titel. In: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, Bd. 2, 1915/16, 616–652. 41 Am 18. 5. 1878 im Herrenhaus, zit. Sutter, Ausgleichsverhandlungen, 87 (dort allerdings Ignaz Pleners Sohn Ernst zugeschrieben). 42 Louis Eisenmann sprach bekanntlich 1905 von der „Zersetzung“ des Ausgleichs von 1867, vgl. Anm. 6. 43 István Diószegi, Hungarians in the Ballhausplatz. Studies on the Austro-Hungarian Common Foreign Policy, Budapest 1983, 261.

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tät der Ausgleichsverhandlungen schuf so etwas wie eine österreichisch-ungarische oder ungarisch-österreichische Innenpolitik – eine Innenpolitik im Rahmen der Gesamtmonarchie, ein Phänomen, dem die österreichische Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, da sie sich ganz überwiegend auf die innere Geschichte des cisleithanischen Österreich konzentriert hat.44 Bedenken wir einmal, dass es die Suche nach Zustimmung der tschechischen Stimmen im Wiener Reichsrat zum Ausgleich mit Ungarn war, die den Grafen Badeni 1897 zu jenen berühmten, den Tschechen entgegenkommenden Sprachenverordnungen veranlasste, die die Deutschböhmen und die sich mit ihnen solidarisierenden Deutschen der Alpenländer in höchste Panik versetzte und zur schwersten, eigentlich irremediablen Krisis des österreichischen Parlamentarismus im Halbjahrhundert der Ausgleichsära führte: Es war ja jene Krise, die zu dem bekannt-berüchtigten Brief Theodor Mommsens an die Deutschen in Österreich mit seiner schweren Beleidigung des tschechischen Volkes führte.45 Der Budapester Historiker Péter Hanák – er ist so etwas wie ein ungarischer Carl Schorske geworden – hat in einem brillanten, vor vier Jahren publizierten Essay über die Parallelaktion von 1898 – die Fünfzigjahrfeier der Revolution von 1848 in Ungarn fiel ins gleiche Jahr wie die Fünfzigjahrfeier des Regierungsjubiläums Franz Josephs, der den Thron während des Krieges gegen die Ungarn bestiegen 44 Besonders wäre hier auf die Rolle Ungarns in der politischen Argumentation und Rhetorik Karl Luegers zu verweisen, die ihren demagogischen Gipfelpunkt in der Phraseologie von den „Judäomagyaren“ erreichte, andererseits auch in dem erstaunlich lange erfolgreichen Druck der ungarischen Regierung auf Franz Joseph, die Zustimmung zur Wahl Luegers zum Bürgermeister von Wien zu verweigern. Von besonderem Interesse zum Thema „Lueger und Ungarn“ ist: John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago 1981, 215, 375–376. 45 Vgl. die umfassende und hervorragende Studie von Sutter, Theodor J. Mommsens Brief „An die Deutschen in Österreich“ (1897). In: Ostdeutsche Wissenschaft 10 (1963) 152–225. Sutter setzt sich auch ausführlich mit den Mommsen entgegentretenden Stellungnahmen dreier bedeutender slawischer, im cisleithanischen Österreich wirkender Gelehrter auseinander: Der an der Universität Lemberg lehrende Rechtshistoriker Oswald Balzer, der an der tschechischen Universität in Prag lehrende Historiker Josef Pekař und der an der Universität Wien tätige, aus Kroatien kommende, weltberühmte Slawist Vatroslav Jagić. Zur Beurteilung des dualistischen Systems durch Theodor Mommsen ist ein Brief Mommsens an den Berliner Korrespondenten des „Budapesti Hirlap“ vom 4. 11. 1897 von Interesse, in dem Mommsen schrieb: „Die zur Zeit bestehende Ehe von Cis- und Transleithanien ist, wie andere Ehebündnisse auch, nicht ungetrübt, aber erträglich. Wenn einmal neben dem sehr konstitutionellen König von Ungarn ein ebenso konstitutioneller Kaiser von Groß-Tschechien stehen wird, so dürfte es mit dieser Erträglichkeit bald vorbei sein.“ Zit. ebd. 207.



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hatte! – eine sehr bedenkenswerte Reflexion zur gegenwärtigen historiographischen Situation angestellt:46 Psychoanalyse, Secession, Atonalität seien normale Begriffe im Vokabular gebildeter Leute geworden, aber kein Mensch mehr kenne die Bedeutung von Begriffen wie „Ausgleichsprovisorium“ „ex lex-Zustand“ oder „Perennierungsklausel“ – alles Worte des täglichen Gebrauchs in der Presse des Fin de Siècle! Kennen wir Kakanien wirklich besser, wenn wir von diesen Dingen keine Ahnung mehr haben? Ich wage dies zu bezweifeln! Eine „Archäologie“ der verschütteten Themen der dualistischen Struktur der Habsburgermonarchie würde zeigen, wie einseitig aus „Wiener Sicht“, wenngleich grandios überhöhend, Robert Musil sein „Kakanien“ gezeichnet hat. „Kakanien“, so hat Musil in der bekanntesten Passage seines Werks geschrieben, „nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt zum Zeichen, daß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten.“ In Budapest sahen die Dinge anders aus; es genügt, Péter Hanáks Darstellung der historischen Parallelaktion von 1898 in Ungarn, des Widerspiels von fünfzigjährigem Revolutionsgedenken und verkrampftem Thronbesteigungsjubiläum Franz Josephs zu lesen, um dies zu sehen!47 Der zweite Aspekt der dualistischen Struktur der Monarchie, den ich zum Abschluss kommentieren möchte, ist schon von Horst Haselsteiner angesprochen worden. Die beiden Staaten der Doppelmonarchie wiesen eine grundsätzlich unterschiedliche Struktur auf: Ungarn war – vom Sonderstatus Kroatiens abgesehen – ein Nationalstaat mit nationalen Minderheiten; Cisleithanien-Österreich war ein Nationalitätenstaat mit dem Rechtsanspruch auf die gleichberechtigte Wahrung von Nationalität und Sprache.48 Österreich-Cisleithanien ist mit seinen stärker 46 Péter Hanák, Die Parallelaktion vom 1898. In: Österreichische Osthefte, Bd. 27, 1985, 366–380, hier 366. 47 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, 34. Eine weitere verzerrende historische Einseitigkeit in Musils Kakanienkapitel: Zum kakanischen Parlamentarismus schreibt Musil: „Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse.“ Aber: den Notstandsparagraphen gab es nur im Wiener, nicht im Budapester Parlament, nur in Cis, nicht in Trans! 48 Horst Haselsteiner, Die Nationalitätenfrage in der österreichisch-ungarischen Doppelmo­ narchie und der föderalistische Lösungsansatz, in: Helmut Rumpler, Hg., Innere Staatsbildung

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entwickelten Rechtsschutzeinrichtungen gegen Verfassungs- und Gesetzesverletzungen der Behörden eine der am höchsten entwickelten Rechtsschutzeinheiten Europas im Zeitalter vor dem Ersten Weltkrieg gewesen.49 Dies war die Folge eines gerade auch für die Historiker der Bundesrepublik interessanten Phänomens. In Österreich war 1867 etwas gelungen, was im Deutschland der Bismarck-Ära nicht gelang: Das liberale Verfassungserbe der 48er-Revolution einschließlich eines Grundrechtskatalogs und einschließlich eines diese Grundrechte judizierbar machenden Höchstgerichts, also das Verfassungserbe der Paulskirchentradition weitgehend zu retten – denn diese rechtsstaatlichen Konzessionen an die deutschen Liberalen Österreichs war der Preis, den die Krone 1867 gerne zu zahlen bereit war, um die Zustimmung zum Ausgleich mit Ungarn zu erlangen!50 Infolge des Postulats der nationalen Gleichberechtigung der österreichischen Dezemberverfassung entwickelte sich aber in Cisleithanien-Österreich etwas Weiteres: die Idee der nationalen Autonomie, der Autonomie der Volksstämme, um das altösterreichische verbum legale zu nennen, als Königsidee zur Befriedigung der ethnischen und sprachlichen Konflikte. Diese Idee der nationalen Autonomie beherrschte im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die politische Diskussion in Österreich wie keine andere,51 und um diese Idee hat sich vor dem Ersten Weltkrieg so etwas wie ein erneuertes Österreichbewusstsein kristallisiert. 1905 wurde und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71 bis 1914, Wien 1991, 21–30, hier 21–23. Hierzu bereits: Stourzh, Das Nationalitätenrecht in der Donaumonarchie. In: József Varga, Hg., Donauraum gestern, heute, morgen, Wien-Frankfurt-Zürich 1967, 129–146, insb. 135. 49 Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918 (Wien 1985) 62–65. Der Rechtsschutz im öffentlichen Recht war aus zwei Gründen in Österreich-Cisleithanien deutlich stärker entwickelt als in Ungarn: Erstens kannte das ungarische Staatsrecht keinen formellen Unterschied zwischen Staatsgrundgesetzen und einfachen Gesetzen, es gab auch im Unterschied zu Österreich keinen verfassungsmäßig (das ist staatsgrundgesetzlich) gewährleisteten Katalog der politischen Rechte der Staatsbürger und auch kein dem Reichsgericht analoges Gericht; zweitens ist ein Verwaltungsgerichtshof in Ungarn erst zwanzig Jahre später als in Österreich errichtet worden (in Österreich 1875, in Ungarn 1896), bei dem es zudem wesentlich beschränktere Beschwerdemöglichkeiten gab; vgl. ebd. 199, Anm. 35. 50 Stourzh, Frankfurt-Wien-Kremsier 1848/49: Der Schutz der nationalen und sprachlichen Minderheit als Grundrecht. In: G. Birtsch, Hg., Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft (Göttingen 1987) 437–456, abgedruckt in: Stourzh, Grundrechtsdemokratie, wie oben Anm. 1, 197–215. 51 Die nationale Autonomie sei im Begriffe, „ein politisches Prinzip von unwiderstehlicher Stoßkraft zu werden“, sei es vielleicht schon geworden, sagte Edmund Bernatzik in seiner Wiener Rektoratsrede 1910: Bernatzik, Über nationale Matriken, Wien 1910, 17.



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in Wien ein Verein „Nationale Autonomie“ gegründet; bei der Proponentensitzung trafen so interessante Leute wie Karl Renner, Thomas Masaryk, der tschechische Dichter Jan Machar, der bedeutende jüdische Publizist Nathan Birnbaum, der die nationale Autonomie für die Juden Österreichs befürwortete, der rumänische Politiker Aurel von Onciul, einer der Schöpfer des nationalen Ausgleichs in der Bukowina, der Historiker und Publizist Richard Charmatz und der Nationalökonom und Publizist Friedrich Hertz zusammen.52 Die Ausgleichswerke in Mähren 1905 und der Bukowina 1909 sind ein Ergebnis der Vereinbarungen von Vertretern der Volksstämme. Sie wurden auch seitens der Regierung als Übereinkommen der Vertreter der Nationalitäten gewertet; in der Regierung hieß es einmal, Sprachenregelungen sollten nur dann erlassen werden, „wenn die berufenen Vertreter der beteiligten Volksstämme sich auf bestimmte Normen geeinigt haben“53. Was bedeutete dies? Es bedeutete, dass der Volksstamm, die Nation im ethnisch-sprachlichen Sinn, als konstituierender Faktor der cisleithanisch-österreichischen Staatlichkeit in den Vordergrund trat und ältere traditionellere Komponenten der altösterreichischen Verfassung – das Land, ja sogar die Krone – hinter die neue Realität der entscheidungsbefugten Volksstämme zurückdrängte. Klar hat dies 1917 Karl Renner ausgesprochen: „Heute sind nicht mehr die Landsmannschaften das Entscheidende, heute können wir nicht mehr sagen: wir Böhmen, wir Mährer, wir Schlesier usw. setzen uns zusammen, jeder gedenkt seiner Rechte und wir gründen eine Gemeinsamkeit. Wo treten denn hier die Steirer, und die Salzburger und die Vorarlberger und die Bewohner der freien Stadt Cattaro getrennt auf? Oder wo treten denn die Böhmen, Mährer und Schlesier, soweit sie Tschechen sind, getrennt auf? Es tritt hier auf: die deutsche Nation, die tschechische Nation, die polnische Nation usw., jede als Nationganzes, ein klares und deutliches Zeichen dafür, daß die Nation heute an die Stelle des Landes getreten ist und daß es heute gilt, eine Verfassung zu geben, welche die Nationen einsetzt als die Unterglieder und Träger, als die Säulen dieses Reiches.“54

52 Salomon Birnbaum, Nathan Birnbaum and National Autonomy. In: Joseph Fraenkel, Hg., The Jews of Austria, London 1967, 131–146, hier 132. Kurzfristig erschien als Organ dieses Vereins die von Friedrich Hertz redigierte Zeitschrift „Der Weg“. 53 Aus einem Aktenvermerk des österreichischen Justizministeriums vom Jahre 1917, zit. bei Stourzh, Gleichberechtigung der Nationalitäten, 154. 54 Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten des Reichsrates, 7. Sitzung der XXII. Session, 15. 6. 1917, 338 (meine Hervorhebung).

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Letzten Endes waren es diese Vorstellungen vom Primat der Nationen als konstitutive Elemente eines radikal reformierten und transformierten Altösterreich, die dem Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918 zugrunde lagen, in dem die Umwandlung Österreichs in einen Bundesstaat „der Völker, auf deren Selbstbestimmungsrecht das neue Reich sich gründen wird“ proklamiert wurde. Doch das Völkermanifest Kaiser Karls kam nicht nur zu spät, es betraf nur die halbe Habsburgermonarchie, denn die Länder der ungarischen Krone wurden ausdrücklich ausgeklammert.55 Der neue Primat der nationalen Autonomie führte in einem Lande, dessen Selbstverwaltung seit 1905 vollständig auf dem Prinzip der nationalen Autonomie beruhte, nämlich in Mähren, zu weitreichenden und bedenkenswerten Folgen. In Mähren führten landesgesetzliche Regelungen und deren Interpretation in verwaltungsgerichtlichen Verfahren dazu, die Entsendung von ausdrücklich als „national empfindend“ oder „national gesinnt“ bezeichneten Personen in Behörden der schulischen Selbstverwaltung als gesetzeskonform anzusehen. Ein tschechischer Hofrat des Verwaltungsgerichtshofs in Wien, Jaroslav Srb, meinte damals, in die lokale Schulbehörde dürfe nur jemand als nationaler Vertreter eintreten, der „Sinn und Herz für die von ihm vertretene Nation besitze“; ein deutscher Kollege meinte, der Grundgedanke des mährischen Schulausgleichsgesetzes sei, dass nur solche Personen in die lokale Schulbehörde kämen, „die eine Gewähr dafür bieten, national gesinnt zu sein“56. Hier klangen Töne an, die kein gutes 55 Zur Entstehung des Manifests vgl. die Monographie von Helmut Rumpler, Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918, Wien 1966. 56 Die zitierten Formulierungen stammen aus einem überwiegend von Jaroslav Srb redigierten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes (Dezember 1910) über eine Beschwerde der Stadtgemeinde Trebitsch/Třebíč in Mähren, betreffend die Wahl von Vertretern in den Ortsschulrat, sowie aus Ausarbeitungen zweier Mitglieder des diesen Fall behandelnden Senats, Srb und Hiller-Schönaich. Hierzu Stourzh, Gleichberechtigung der Nationalitäten, 15–16 sowie 217. Die Frage der nationalen Zugehörigkeit und damit der Modalitäten ihrer Feststellung begann ab 1873 in Böhmen eine Rolle zu spielen, sie errang große Bedeutung in Zusammenhang mit dem Mährischen Ausgleich von 1905; prinzipiell standen zwei Alternativen einander gegenüber: eine „subjektive“ Methode der Zugehörigkeitsfeststellung, basierend auf dem Be­ kenntnisprinzip – offen für Assimilationswillige – und eine „objektive“ Methode der – nötigenfalls behördlichen –, Feststellung aufgrund „fassbarer“ Merkmale. Gegen die Gefahren der letztgenannten Methode, die in zwei aus dem Mährischen Ausgleich folgenden Urteilen des Reichsgerichts (1907) und des Verwaltungsgerichtshofes (1910) als gesetzeskonform erklärt wurde, zog Edmund Bernatzik in seiner bereits genannten Rektoratsrede „Über nationale Matriken“ (Wien 1910) zu Felde. Vgl. ausführlicher Stourzh, Gleichberechtigung der Nationalitäten, 217f. u. 227f.



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Omen für die Zukunft boten, sollte einmal der Rahmen der dem Gleichberechtigungsverbot verpflichteten Autonomien zerbrechen, sollte vor allem die Klammer der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung aller Staatsbürger zerbrechen und das Gespenst jener „postliberalen Apartheid“ auftauchen, von der Werner E. Mosse einmal gesprochen hat.57 Hier werden Entwicklungslinien sichtbar, die nach dem Zusammenbruch der Kaiserreiche 1918 einem „völkisch“ verstandenen Nationalismus Auftrieb geben sollten.58 Wege zum höchst problematischen Begriff des „eigenständigen Volkes“ wurden derart schon vor 1918 geebnet,59 wenn auch noch unter der schützenden Klammer des staatsgrundgesetzlichen Gleichberechtigungsgebots. In der Zwischenkriegszeit sollte die Idee der „Volksbürgerschaft“ im Gegensatz zur Staatsbürgerschaft, aus der Hypostasierung von „Volksstamm“, von „Volk“, von – ethnisch verstandener – „Nation“ gewonnen, die staatsbürgerliche Gleichberechtigung gefährden und im Bereich der studentischen Selbstverwaltung auf Hochschulboden eindeutig diskriminierende, antisemitische Folgen zeitigen.60 Die Idee der nationalen Autonomie suchte den nationalen Kampf durch möglichste „Isolierung, Trennung der Volksstämme“ zu vermindern. Dieser Weg der Befriedung durch Trennung müsse aber, wie ein zutiefst österreichbewusster, doch bekümmerter Kenner der Nationalitätenfrage, Rudolf von Herrnritt, 1914 schrieb, „allmählich zur Entfremdung der Volksstämme untereinander und, was noch schlimmer ist, gegenüber dem einheitlichen Staatsgedanken führen“. Eine Annäherung der Volksstämme und damit eine Kräftigung des Staatsgedankens, so meinte Herrnritt, setzte gegenseitige „Kenntnis und Achtung“ der kulturellen Werte dieser Volksstämme voraus; dies werde aber durch die „der nationalen Autonomie entspre57 Zit. von Peter Pulzer, The Rise of Political Antisemitism in Germany and Austria, revid. Ausgabe, Cambridge Mass. 1988, XIV, aus dem Beitrag von W. E. Mosse über die Juden in der Weimarer Republik in: A. Paucker und B. Suchy, Hg., The Jews in Nazi Germany 1933–1945, Tübingen 1986, 52. 58 Zur Relevanz eines „völkisch“ verstandenen Nationalismus nach 1918 vgl. die wichtigen Feststellungen von Jürgen Kocka, Probleme der politischen Integration der Deutschen 1867 bis 1945. In: O. Büsch und J. J. Sheehan, Hg., Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte und Gegenwart, Berlin 1985, 118–136, hier 133–134. 59 Max Hildebert Böhm, Das eigenständige Volk, Jena 1932. 60 Hierzu vorzüglich die Dissertation meiner Schülerin Brigitte Fenz, Volksbürgerschaft und Staatsbürgerschaft. Das Studentenrecht in Österreich 1918–1932 (phil. Diss. – Universität Wien 1977), sowie dies., „Zur Ideologie der ‚Volksbürgerschaft‘“. Die Studentenordnung der Universität Wien vom 8. April 1930 vor dem Verfassungsgerichtshof. In: Zeitgeschichte 5 (1977/78) 125–145. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hob die Studentenordnung der Universität Wien vom April 1930 als verfassungswidrig auf.

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5. Die dualistische Reichsstruktur, Österreichbegriff und Österreichbewusstsein

chende Abschließung der Volksstämme gegeneinander wesentlich erschwert“61. Hierbei blieb unklar, wieweit sich dieser „einheitliche Staatsgedanke“ auf die Doppelmonarchie als Gesamtmonarchie bezog – der „Gesamtstaatsgedanke“, von dem im 19. Jahrhundert viel die Rede war, bezog sich sicher auf die Gesamtmonarchie – oder nunmehr auf das immer noch von der Bukowina bis Vorarlberg, von Schlesien bis Dalmatien national vielfältige und weitläufige Österreich-Cisleithanien. Die nationale Autonomie machte aus dem Gegeneinander der Nationalitäten bestenfalls ein Nebeneinander, kein Miteinander. Diese Abkapselung mochte der Preis für den Schutz vor Majorisierung sein, jenem Essenziale, das von Kennern wie Georg Jellinek als die wichtigste Voraussetzung des Lebens im Vielvölkerstaat betrachtet wurde.62 Man hat einmal von der „gläsernen Wand“ gesprochen, die Tschechen und Deutsche in Prag trennte. Derartige „gläserne Wände“ bildeten sich, von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, zunehmend auch in anderen Teilen der Monarchie. Gewiss, die „Autonomisierung der Nationen“, von der Karl Renner enthusiastisch sprach, verhieß Befriedung statt Kampf; dem die Idee der nationalen Autonomie vom Standpunkt des Staatsgedankens pessimistisch beurteilenden Rudolf von Herrnritt stand ein optimistischer Vorkämpfer der Autonomie wie Renner gegenüber, der noch 1918 publizistisch die Idee des multinationalen demokratischen Bundesstaates Österreich verfocht.63 Doch das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, das Renner mit seinem Autonomiekonzept in den Rahmen des multinationalen Bundesstaates zu bannen suchte, zielte 1918 nicht mehr nach der Gleichberechtigung im Nationalitätenstaat, sondern nach der Unabhängigkeit im Nationalstaat.

61 Rudolf von Herrnritt, Die Ausgestaltung des österreichischen Nationalitätenrechts durch den Ausgleich in Mähren und in der Bukowina. In: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, Bd. 1, 1914, 583–615, hier 614f., zit. bei Stourzh, Gleichberechtigung der Natio­nalitäten 245f. (Hervorhebungen im Original gesperrt). 62 Georg Jellinek, Das Recht der Minoritäten, Wien 1898. 63 Karl Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich, 1. Teil: Nation und Staat, Leipzig–Wien 1918, bes. 249–253.

6. „Aus der Mappe meines Urgroßvaters“: Eine mährische Juristenlaufbahn im 19. Jahrhundert1

In meinen Familienpapieren liegt ein liniertes Schreibheft mit 88 handschriftlich beschriebenen Seiten, im Jahre 1886 abgeschlossen. Es ist die Handschrift eines Urgroßvaters, des Vaters des Vaters meiner Mutter, der als Achtundsiebzigjähriger seine Lebensgeschichte aufzeichnete. Es möge mir daher gestattet sein, bei Adalbert Stifter eine Titel-Anleihe zu nehmen, wenn ich, weit­gehend den Aufzeichnungen meines Urgroßvaters folgend, dessen Herkunft, Bil­dungsweg und Berufslaufbahn skizziere. Es ist eine sehr charakteristische, fast könnte man sagen „exemplarische“ Geschichte sozialer Mobilität in den böhmi­schen Ländern des 19. Jahrhunderts. Franz Anderle (sen.) erblickte am 15. April 1808 in Řídký im Chru­dimer Kreis, Bezirk Leitomischl/Litomyšl, also in Ostböhmen nahe der mäh­rischen Grenze, das Licht der Welt. Sein Vater Nikolaus Anderle und seine Mut­ter Marianne Anderle, geb. Vokas, waren Besitzer einer „Dominikalansiedlung“ in Řídký, d.h. einer auf ursprünglichem Dominikal-(Herrschafts-)land in Erb­nutznießung errichteten Bauernstelle. Die Dominikalansiedlung der Anderle war mit ackerbarem Land im Umfang von fünf Metzen und einem Garten zu zwei Metzen bestiftet. Das Einkommen aus dieser Besitzung, so schrieb Franz Anderle „war gering und zur Erhaltung der Familie von acht Kindern: Anna, Sofie, Wen­zel, Johann, Franz, Josef, Adalbert und Maria unzureichend. Der Vater betrieb daher noch die Weberei, wobei er von seinen arbeitsfähigen Kindern redlich un­terstützt wurde.“ Die Familie, und damit die Muttersprache, war tschechisch. Mein Urgroßvater verwendet allerdings in seinen Lebenserinnerungen aus­schließlich die deutsche Schreibweise von Vornamen und häufig auch Familien­namen (d.h. ohne Akzente), und 1

Diesen Bericht über eine Juristenlaufbahn in der Markgrafschaft Mähren habe ich meinem Freunde und Kollegen Richard Georg Plaschka (1925–2001) zu seinem 75. Geburtstage gewidmet. Plaschka hing mit allen Fasern des Herzens und der Erinnerung an seinem Geburtslande Mähren. Ich verweise auch auf meinen Nachruf auf Richard Georg Plaschka in: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 152 (2001–2002), 485–498.

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6. Eine mährische Juristenlaufbahn

ich folge hier der Schreibweise meiner Quelle. Franz Anderle beginnt sehr rasch, seinen Bildungsweg zu beschreiben. Per­sönliche, private Erinnerungen tauchen nicht allzu häufig auf. Den Elementarun­terricht erhielt er in der damals so genannten „Trivial“-(Volks-)schule in Cerek­witz/Cerekvice, dreiviertel (Geh-)Stunden vom Heimatdorf entfernt. Schon im Volksschulalter machten sich besonders zwei Eigenschaften bemerkbar, die Franz Anderle – der in seinen Aufzeichnungen als durchaus selbstbewusster Mann erscheint – auszeichneten: hohe Intelligenz, gepaart mit eisernem Fleiß. Dazu ist wohl auch Ehrgeiz gekommen. „In dem Schulbesuche war ich eifriger, als es selbst meine Eltern wünschten. Regen, Sturm, Schneegestöber vermochten nicht, mich von dem Schulbesuche abzuhalten, und selbst die liebevollen Vorstellungen meiner Mutter machten mich in meinem Entschlusse nicht wankend. Mein Fleiß wurde von dem besten Erfolge gekrönt. Ich erwarb mir die volle Zufriedenheit meiner Vorgesetzten, und war in der Lage in meinem eilften Jahre, meinen min­der fleißigen, und vielleicht auch minder befähigten Mitschülern in Rechnen Wiederholungsunterricht zu ertheilen.“ Auch eine musische, und zwar musikalische Begabung zeigte sich. Sein älte­rer Bruder Wenzel erteilte ihm „einen freilich dürftigen Unterricht“ im Violin­spiel; er konnte keine „nennenswerthen Fortschritte machen, da dieser Unterricht sowohl in methodischer als auch in didaktischer Beziehung viel zu wünschen üb­rig ließ“. Doch durch „fortgesetzte praktische Übung“ in seinem Jünglingsalter konnte Franz Anderle die Violine so handhaben, dass er auch bei größeren Pro­duktionen wie der „Schöpfung“ oder den „Jahreszeiten“ Haydns mitwirken konnte. Stark lockte den jungen Franz das Klavierspiel. „Finanzielle Verhältnisse meines Vaters haben es aber nicht erlaubt, diesen meinen inneren Drang zu be­friedigen.“ Sein Bruder Wenzel, damals als Unterlehrer in Moraschitz/Morašice, ebenfalls im Bezirk Leitomischl, tätig, besaß jedoch ein Klavier, auch eine Kla­vierschule, und so brachte er sich im Selbstunterricht einige Fertigkeit im Kla­vierspiel bei, „welches bei tüchtigen Sachkennern wahrscheinlich wenig Aner­kennung gefunden hätte, in den Kreisen der Schullehrer, in welchen mir der Zu­tritt offenstand, einige Bewunderung erregte, da ich erst eilf Jahre alt war“. Mit dem vollendeten zwölften Lebensjahr – im Jahre 1820 – hatte Franz An­derle der damals sechsjährigen Schulpflicht Genüge getan und verließ die (ein­klassige!) Trivialschule von Cerekwitz. Die Erfolge im Schulbesuch und in der Musik veranlassten den älteren Bruder Wenzel, der sich „moralisch verpflichtet fühlte, für meine weitere Erziehung zu sorgen“, Franz eine Ausbildung im Lehr­fach zu ermöglichen. Zum Eintritt in einen sogenannten „Praeparandenkurs“ war es wünschenswert bzw. nötig, Deutsch zu lernen. Und nun trat das Schicksal in der Per-



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son eines jungen Geistlichen, P. Franz Horsky, neu bestellter Kooperator bei der Pfarre Cerekwitz, in das Leben des begabten Buben. Horsky erklärte sich bereit, den schulentlassenen Kindern unentgeltlich Deutschunterricht zu geben. Franz Anderle machte so gute Fortschritte, daß P. Horsky „gegen den Willen meiner Eltern den etwas kühnen und schwer durchführbaren Entschluß faßte, mich auf dem Piaristen-Gymnasium zu Leitomischl studieren zu lassen“. Es sei, so schreibt Franz Anderle, Horskys „eindringlichen Vorstellungen gelungen, meine widerstrebenden Eltern zu veranlassen, eine Wohnung in Leitomischl für mich aufzunehmen“, und Horsky fügte die Versicherung hinzu, für seine Existenz während des Studiums selbst zu sorgen oder auch die Wohltätigkeit anderer in Anspruch zu nehmen. 1822, also mit 14 Jahren, ging Anderle nach Leitomischl. Pater Horsky stellte ihn dem Präfekten des Piaristen-Gymnasiums, P. Florus Staschek, vor. Anderle war zu alt, um einem späteren, berühmten Schüler des Leitomischler Gymnasi­ ums zu begegnen, dem erst 1824 in Leitomischl geborenen Bedřich (Friedrich) Smetana. Zunächst bat Horsky den Präfekten, Anderle zum Übergang in die dritte Klasse der im Rahmen der Piaristen bestehenden Hauptschule aufzuneh­men. Und nun kam es zu einem Vorgang, der die Bedeutung des für die vertikale Mobilität in der Habsburgermonarchie so wesentlichen Erwerbs einer sozial weiterführenden, größere Berufs- und Lebenschancen eröffnenden Sprache illu­striert. Das Sozialgefälle zwischen verschiedenen Sprachen ist ja eines der be­deutendsten, in seiner Relevanz immer noch nicht ausreichend ausgeloteten Ele­mente des Zusammenhangs zwischen nationalen und sozialen Spannungsverhält­nissen im „multinational empire“ gewesen. Der Präfekt der Piaristen meinte, An­derle habe nicht die zur Aufnahme in die dritte Klasse der Hauptschule erforder­lichen Voraussetzungen, da er „in der deutschen Sprache nur ungenügende Vor­bildung besitze“. Pater Horsky erwiderte dem Präfekten, Anderle werde „durch Fleiß alle Schwierigkeiten bewältigen“, worauf seine Aufnahme „unter Achsel­zucken des Präfekten erfolgte“. Voll Stolz berichtet Anderle, er habe die Erwar­tungen des Paters Horsky vollkommen gerechtfertigt und durch seine Leistungen die Befürchtungen des Präfekten „gründlich verscheucht“. Schon im 2. Semester war er unter 120 Schülern der vierte Vorzugsschüler. Anschaulich und mit viel Pathos schildert Anderle, sonst eher ein nüchterner Mensch, welche Mühen zum Erringen dieses Erfolges nötig waren – vielleicht, obgleich dies nicht eigens ge­sagt wird, um jüngeren Generationen seiner Familie vor Augen zu halten, mit welchen Entsagungen der Aufstieg des Vaters oder Großvaters verbunden war. „Wohl habe ich diesen Erfolg“, so schreibt Franz Anderle, „durch außeror­ dentlichen Fleiß und große Anstrengung errungen. Im Winter saß ich bei dem

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matten Schein einer kleinwinzigen Öllampe von fünf bis eilf Uhr nachts bei mei­ nem Studier- oder besser gesagt bei meinem Lerntisch, und um 5 Uhr früh nahm ich meine Schularbeiten wieder auf. Im Sommer bewegte sich meine Thätigkeit durch dieselbe Zeitdauer, nur hat mir die Sonne, und manchmal auch der Mond das nöthige Licht gespendet. Ich mußte eine Katonische Strenge, und eine Demo­ s­tenes-sche (sic) Beharrlichkeit an den Tag legen, um mir jene Kenntnisse der deutschen Sprache zu erwerben, ohne welchen (sic), da die Vorträge ausschließ­lich in der deutschen Sprache abgehalten wurden, an die Fortsetzung meiner Stu­dien nicht zu denken war.“ Im Schuljahre 1823/24 – also mit 15 Jahren! – begann Anderle die eigentli­chen Gymnasialstudien. Im Dezember 1823 starb sein Vater. „Ungeachtet der tie­fen Trauer“, so Franz Anderle, „in welche mich der schmerzliche Verlust ver­setzte, lag ich meinen Studien mit gewohntem Eifer ob, und erhielt am Schluße des Schuljahres als Belohnung für meine unausgesetzte Anstrengung unter 100 Schülern das erste Praemium.“ Im weiteren Verlauf der Gymnasialstudien be­hauptete Anderle den ersten Platz nicht, „obschon mein Fleiß in seiner Intensität nichts einbüßte“, denn – und wiederum stoßen wir auf die zusätzlichen Behinde­rungen des sozialen Aufstiegs in einer multilingualen Gesellschaft – „ich wurde von anderen Mitschülern, welche der deutschen Sprache vollkommen mächtig waren, überflügelt“. Trotzdem wurde Anderle nicht ganz aus dem Feld geschla­gen. Er blieb unter den Vorzugsschülern immer der Dritte. Er merkt an, dass ihn im Obergymnasium die philosophischen Vorträge besonders anregten. 1826, also mit 18 Jahren, verlor Anderle seine Mutter, über die er liebevoll spricht. Als Vollwaise hatte er zunächst die Befürchtung, dass ihm das väterliche Haus, in dem seine „wenn auch ärmliche Wiege stand, nicht jene freundliche Zu­ fluchtsstätte bieten“ würde, die einem verwaisten Kind teuer bleibt. Doch ein äl­ terer Bruder, Johann Anderle, übernahm die elterliche Dominikalansiedlung und dessen Frau Maria Kubiczek, die Schwester eines Jugendfreundes, eine junge Frau von tiefem Gemüt und seltener Herzensgüte, wie Franz Anderle schreibt, bereiteten ihm im elterlichen Hause weiterhin einen freundlichen Empfang. Der Bruder Johann lieferte einen Beitrag zu den „Viktualien“ für den Lebensunterhalt des Leitomischler Gymnasiasten. Pater Horsky sorgte weiter, suchte und fand Wohltäter, und schließlich erhielt Anderle ein kaiserliches Stipendium in Höhe von 80 Gulden jährlich. Die Entdeckung und Förderung durch den Geistlichen, schließlich das kaiserliche Stipendium – ein Lehrstück zum Thema „Armut und Begabung“ im vormärzlichen Österreich – oder ein Glücksfall ? Vielleicht bei­des. Im Alter von 23 Jahren – 1831 – beendete Anderle die Gymnasialstudien, die er



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ja erst 1823 im Alter von 15 Jahren begonnen hatte, mit sehr gutem Erfolg. Und nun begannen zwei Geistliche um die Zukunft des jungen Mannes zu strei­ten. Der Gymnasialdirektor, Dechant Schauer, drängte Anderle zur Theologie. Pater Horsky war aber „entschieden dagegen“ und riet ihm zum Jusstudium. „Ich war jetzt beiläufig Herkules am Scheidewege“, berichtet Franz Anderle. „Herku­les handelte aber selbstbestimmend; ich aber, dessen Lebensanschauung eine sehr beschränkte war, habe mich von anderen bestimmen lassen, und wählte, von der Aufrichtigkeit der Gesinnungen meines Wohltäters P. Horsky überzeugt, die Ju­ risprudenz zu meinem Berufsstudium.“ Von Leitomischl ging es nun nach Prag. Zunächst geriet er in eine Gesell­schaft von Jusstudenten, die offenbar mit dem geringsten Aufwand durch die Prü­fungen kommen wollten, doch Anderle sah bald, „daß die sinnlose Erlernung ei­niger unzusammenhängender Rechtssätze zu einem geistigen Pauperismus auf dem Gebiete der Jurisprudenz führen müsse“. Wie nicht mehr erstaunlich, löste sich Anderle von diesen Kollegen. Die Sorgen ums tägliche Brot waren nicht mehr so drückend, denn er nahm eine Stellung als Hauslehrer in einem „wohlha­benden Bürgerhause“ an, wo er fast volle Verpflegung genoss, sodass er das kai­serliche Stipendium zur Bekleidung verwenden konnte. 1835 beendete er das Jusstudium, genau die „juridisch-politischen Studien“, absolvierte die vorge­schriebene zivilrechtliche Praxis in der Kanzlei des Landesadvokaten Dr. Hoff­meister und die strafrechtliche Praxis beim Prager Kriminalgericht. Sodann trat Anderle als „unentgelt­licher Kanzlei-Accessist“ in den Dienst des Prager Magi­strats, doch sehr bald kam er zur Überzeugung, dass diese Laufbahn „zu meiner Versorgung, die ich doch bei meiner Mittellosigkeit in erster Linie anstrebte“, nicht geeignet wäre. Anderle nahm daher mit 1. Februar 1839 eine Gerichtsprak­tikantenstelle bei der fürstlich Liechtenstein’schen Herrschaft Landskron/Lanš­kroun in Böhmen an – und damit öffnete sich eine erfolgreiche Juristenkarriere. Mit 1. Juni 1839 wurde ihm ein „Adjutum“, bestehend aus 120 Gulden Konventi­onsmünze, freie Wohnung und 6 Klafter Brennholz, zugesprochen, gleichzeitig wurde er nach Eisenberg/Ruda in Mähren versetzt. Von 1839 bis zur seiner Pensionierung als Landesgerichtsrat in Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště im Juli 1880, also volle 41 Jahre, war Anderle nun in Mähren tätig. Während mehr als vier Jahrzehnten diente Anderle zunächst den Fürsten Liechtenstein, und nach 1848 dem Kaisertum Österreich an vielen Orten der Markgrafschaft. Der häufige Wechsel des Dienstortes, besonders in den Anfän­gen der Karriere, bei Beamten kaum weniger als beim Militär, ist ein Charakteri­stikum des öffentlichen Dienstes in Altösterreich, das durch die wesentlich grö­ßere „Orts-

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festigkeit“ des Beamtentums in der Republik eher in Vergessenheit ge­raten ist. Der Anfang muss nicht leicht, zeitweise sogar sehr schwierig gewesen sein. „Obgleich ich in der Liechtenstein’schen Welt keine Freunde hatte (denn ich war ein Eindringling), so habe ich mir doch durch mein bescheidenes Benehmen, meine eifrige und entsprechende Verwendung, welche Anerkennung gefunden hat, das Wohlwollen meiner Vorgesetzten in einem solchen Grade erworben“, dass ihm bereits sehr bald die Substitution der Justizämter Hohenstadt/Zábřeh město und Mährisch Aussee/Úsov übertragen wurde. Die Ämter waren in „ziemlich chaotischer Unordnung“, sein Vorgänger lag mit Typhus darnieder, es waren dort „bei aller Anstrengung keine Lorbeerkränze zu gewinnen“, und „die Stunde der Erlösung aus dem Jammertal“ kam mit der Versetzung nach Posoritz (Pozořice) bei Brünn (Brno). Dort gefiel es Anderle sehr, er fand eine von sei­nem Vorgänger hinterlassene musterhafte Ordnung vor, die Kollegen waren freundlich, besonders der Amtmann Kraupa, „dessen immer wohlbesetzten Tisch ich teilte“. Doch schon nach acht Monaten wurde er nach Böhmisch Eisenberg/Česká Ruda zur Aufarbeitung von Rückständen versetzt. Anderle erwarb sich offenbar das Wohlwollen des damals regierenden Fürsten Alois von und zu Liechtenstein, dem er auf dessen Befehl vorgestellt worden war, und erhielt 1841 eine definitive Anstellung als Justitiär (Leiter des Justizwesens, dem als Leiter der allgemeinen Verwaltung der Amtmann gegenüberstand) in Plumenau/Plumlov bei Proßnitz/Prostějov. Bei dieser Beförderung wurde Anderle älte­ren Beamten vorgezogen. Im Justizbereich fand Anderle in Plumenau schwierige Verhältnisse vor, unter anderem hatte er einen großen Konkursfall abzuwickeln. Er empfand es als „Fügung einer wohltätigen Gottheit“, dass er schon mit Sep­tember 1842 als Justitiär nach Lundenburg/Břeclav berufen wurde, wo er fast acht Jahre, bis 1. Juni 1850, amtieren sollte. Doch in Plumenau erlebte er „den wichtigsten Moment seines Lebens“, die Heirat im Juni 1842 mit Johanna Ne­pomucena Neisser, Tochter nach dem 1832 verstorbenen Amtmann in Aussee in Mähren. Johanna Neisser (1823–1898) war 15 Jahre jünger als ihr Ehemann. Die Familie war deutsch-mährisch. Eine Schwester Johanna Neissers war mit dem (knapp vor Anderles Hochzeit verstorbenen) Steuereinnehmer Johann Roller aus Plumenau verheiratet, dem Großvater des zu Anfang des 20. Jahrhunderts be­kannten, mit Gustav Mahler und Richard Strauß zusammenarbeitenden Bühnen­bildners und Malers Alfred Roller. Die Ehe mit der Tochter eines Amtmannes bedeutete für Anderle de facto die Festigung jenes sozialen Milieus, das er nun­mehr erreicht hatte. „Unsere Ehe“, so berichtet Franz Anderle, „wurde mit sieben Kindern: So­phie, Adolf, Franz, Jaromir, Marie, Pauline und Stefan, gesegnet. Allein, wir er­lebten



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nur die Freude, nur zwei, nämlich Sophie und Franz großgezogen zu ha­ben. Der unerbittliche Tod hat den Adolf in Lundenburg, die Marie in Gaya, den Jaromir, die Pauline und den Stefan in Eibenschitz hinweggerafft. Diese Verluste waren der bittere Kelch, den uns das Schicksal reichte, und den wir mit tief emp­fundenem Schmerz leeren mußten.“ Im Lebensbericht Franz Anderles wird das Berufsleben, auch das gesellige Leben in den verschiedenen Dienstorten, aus­führlicher als die Familiengeschichte nachgezeichnet – aus welchen Gründen immer; weder über das Alter noch die Todesumstände der fünf früh verstorbenen Kinder wird berichtet; es mag da zu viel Schmerzvolles gegeben haben. Die bei­den überlebenden Kinder taten den Schritt von Mähren nach Wien. Die Tochter Sophie heiratete nach Wien. Der Sohn Franz (geb. 1847 in Lundenburg), Bauin­genieur, dem der Vater die Musikalität vererbte, tat den weiteren Schritt von Mähren in die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien; er war ein liberaler Bürger und Bürgerlicher, der seinen beiden Töchtern noch vor dem Ersten Weltkrieg das Studium an der Universität Wien ermöglichte, das diese mit dem Doktorat der Philosophie bzw. der Medizin bereits 1914 und 1915 abschlossen. Die 1915 promovierte Ärztin, zuvor bereits Demonstratorin bei dem Anatomen Julius Tandler, war meine Mutter. Doch zurück nach Mähren und in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Jahre in Lundenburg scheinen beruflich gute Jahre gewesen zu sein, und außerberuflich sorgte Anderle mit viel Freude und Erfolg für die Kirchenmusik in Lundenburg, deren „Gründer und Leiter“ er praktisch war. Die Verbindung von Musik und Geselligkeit in den mährischen Kleinstädten tritt in Anderles Aufzeichnungen deutlich hervor. Viel Vergnügen bereiteten dem musikalischen und geselligen Mann die „musikalischen Winterabende“ beim herrschaftlichen Arzt Anton Sten­ zen. Als es 1850 zum Abschied aus Lundenburg kam, richteten die „Chormusik-­ Dilettanten“ eine Abschieds-Elegie an den scheidenden Musikmeister. Anderle sollte offenbar für höhere Aufgaben im Bereich der fürstlichen Ver­ waltung vorbereitet werden. Ihm wurde zusätzlich die Inspektion eines Maierho­ fes übertragen, er konnte Erfahrungen in der Landwirtschaft und der herrschaft­ li­chen Administration sammeln, um die Befähigung für einen Amtmannposten zu erlangen. Anderle hält es sich zugute, durch die erfolgreiche Vertretung der ob­ rigkeitlichen Rechte die Gunst des Fürsten und durch seine unparteiische Amts­ führung die Achtung der Bevölkerung erworben zu haben. 1847 eröffnete sich die Chance der Beförderung zum Amtmann, die ohne Zweifel 1848 erfolgt wäre, wenn nicht die Revolution dieses Jahres „einen ungeahnten Umschwung der Din­ ge hervorgerufen hätte“. Sie brachte das Ende der Patrimonialgerichtsbarkeit, al­so der Institution, innerhalb derer Anderle seine ganze Laufbahn eingeschlagen hatte.

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Die Revolution von 1848 wird in bemerkenswerter Weise kommentiert, das Widerspiel allgemeiner Interessen und der persönlichen Laufbahn deutlich ma­ chend. „So wohlthätig dieser Akt“ – die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbar­ keit – „für die Menschheit, so wohlthätig er insbesondere für den Landmann war, so niederschmetternd war er für mich, da er meine schönen Beförderungsträume unbarmherzig zerstörte.“ Beim Übertritt in den Staatsdienst erreichte Anderle, wie er fand, nur wenig, er wurde zum Staatsanwalts-Substituten in Gaya/Kyjov, südöstlich von Brünn ernannt. Es wurden zwar nur die „anerkannt fähigeren Be­ amten“ zu dem (neuen) Berufszweig der Staatsanwaltschaft herangezogen, doch mit einiger Selbstironie, die Anderle sonst nicht lag, bemerkt er, „herangezogen“ sei der richtige Ausdruck, weil er sich um eine Stelle bei dem „damals ganz neu­en Institut der Staatsanwaltschaft gar nicht beworben“ hatte, sondern zu diesem Amt gleichsam „kommandiert“ wurde. 1848 bedeutete also einen deutlichem Bruch in Anderles Laufbahn. Mit 1. Juli 1850 wurde das neue Bezirks-Kollegialgericht sowie die Staats­ anwaltschaft in Gaya eröffnet. Anderle hielt an das im Gerichtssaal versammelte Publikum eine Ansprache, die er in seine Aufzeichnungen eingereiht hat. Anderle hob die „Öffentlichkeit und Mündlichkeit“ als die hervorstechendsten Charakteri­stika der neuen Ära der Rechtspflege hervor. Die in der „Charte vom 4. März 1849“ – der sogenannten oktroyierten Märzverfassung – versprochenen Refor­men im Bereich des Justizwesens würden nunmehr verwirklicht, jene Basis sei fest begründet worden, „welche für den Schutz der heiligsten Rechte der Staats­bürger eine sichere Bürgschaft biethet, und die ungeduldige Sehnsucht nach einer besseren Zukunft befriedigt“. Es sei der 1. Juli 1850 „hochwichtig für Österreichs Völker“ – „der unabhängige und unabsetzbare Richter besteigt den Richterstuhl“. Den unabhängigen Gerichten zur Seite stehe nun ein Institut, dessen Name dem österreichischen Kaiserstaat bisher unbekannt war, die Staatsanwaltschaft sei den Gerichten ebenbürtig, sie sei Wächterin des Gesetzes. Sie habe die Pflicht, den­jenigen strafgerichtlich zu verfolgen, „welcher dem Gesetze Hohn sprechend, die bürgerliche Ordnung durch strafbare Handlungen verletzt, und den Staat als einen zum Schutze der persönlichen Freiheit und des Eigenthums gegründeten Verein beleidigt“. Die Staatsanwaltschaft habe aber auch die Pflicht, darüber zu wachen, dass kein Unschuldiger verfolgt werde. Trotz Anderles feierlicher und pathetischer Inaugurationsrede behagte ihm die staatsanwaltliche Tätigkeit nicht; er konnte ihr „keine den Geist fesselnde Seite abgewinnen“. Auch im kleinen Gaya gab es den Versuch, Geselligkeit und Musik zu verbinden, Anderle bemühte sich um die Schaffung eines Quintetts, das alle



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Donnerstage bei ihm in der Wohnung zusammenkommen sollte. Das Quintett trat zwar zusammen „und bot den Teilnehmern eine herrliche Unterhaltung“ (!), doch löste es sich aus Zeitmangel der Teilnehmer wieder auf; der Zweck „der Bildung des ästhetischen Geschmacks durch das Studium angemessener klassi­scher Tonwerke“ – so das hohe Ziel Anderles – konnte nicht erreicht werden. Hatte Anderle zunächst den Bruch in seiner Karriere, den die Revolution von 1848 mit sich brachte, deutlich zu spüren bekommen, so sollte nach den beruflich eher mageren fünf Jahren in Gaya zwischen 1850 und 1855 eine neue Periode be­ ruflicher Erfüllung einsetzen. Sie fällt mit der Durchsetzung neoabsolutistischer Verwaltungsmethoden im Gerichts- und Verwaltungsbereich zusammen. Neuer­ lich wurden bekanntlich auf Bezirksebene Gerichts- und Verwaltungsbehörden zusammengelegt. Zu diesem Zweck wurden neue „Bezirksämter“ geschaffen. Anderle bewarb sich um das Amt eines „Bezirksvorstehers“ und erhielt dieses Amt in der kleinen mährischen Stadt Eibenschitz/Ivančice westlich von Brünn.2 Die fünfzehn Jahre in Eibenschitz – Mai 1855 bis Jänner 1870 – werden von An­derle auch im Rückblick als „Glanzpunkt“ seiner amtlichen Laufbahn bezeichnet. Über das Gebiet der Justiz- und politischen Verwaltung hinaus boten sich An­derle vielfältige weitere Entfaltungsmöglichkeiten und Funktionen – im landwirt­schaftlichen Verein, als Mitglied des Gemeindeausschusses von Eibenschitz und bald auch der vereinigten Gemeinden von Oslawan/Oslavany und Padochau/Padochov. Mögliche Funktionsinkompatibilitäten aus verfassungsstaatlicher Perspektive spielten offensichtlich in den späten Fünfziger- und auch frühen Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts eine geringe oder gar keine Rolle. Ehren­ämter und Ehrenfunktionen, besonders im Bereich der Landeskultur (Landwirt­schaft), auch Ehrenbürgerschaften in Eibenschitz (März 1861), in den vereinigten Gemeinden Oslawan-Padochau (August 1862, Diplom in tschechischer Sprache) und in anderen Gemeinden im Eibenschitzer Bezirk häuften sich. Die früheren Jahre in Eibenschitz waren aber doch offenbar besser als die späteren. Anderle war ein Mann des Kaisers, er hat auch seine tschechische Her­ kunft nicht verleugnet, eine Reihe von tschechischen Texten hat er in seine Le­ bensgeschichte aufgenommen (Lieder, Gedichte, Ehrenurkunden), und der in den frühen Sechzigerjahren aufkommende Nationalitätenstreit goss etliche Wermuts­ 2

Eibenschitz war im 16. Jahrhundert ein wichtiger Sitz der mährischen Brüderge­meinde. Zur Geschichte von Eibenschitz wie auch anderer in diesem Aufsatz genannter mährischer Orte vgl. nunmehr: Handbuch der Historischen Stätten: Böhmen und Mähren, hrsg. v. Joachim Bahlke, Winfried Eberhard und Miroslav Polivko, Stuttgart 1998 (= Kröners Taschenausgabe 329).

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tropfen in die goldene Eibenschitzer Zeit. In Eibenschitz wurde ein „Lese-­Verein“ gegründet – „schlechtweg, ohne jeden ostensiblen Beisatz“, wie Anderle beziehungsvoll hinzufügt. Er wurde zu dessen Vorstand gewählt. Der Verein ge­dieh unter der Ägide der Eintracht, berichtet Anderle, „so lange, als nicht der Nationalitäten-Hader in die Vereinslokalitäten drang, welcher eine Trennung der Slaven von den Deutschen bewirkte“. Zunächst seien die Gegensätze noch nicht so scharf ausgeprägt gewesen, und es herrschte zwischen den Nationalitäten eine „diplomatische Eintracht“. Doch dauerte dies nicht lange. Um 1867, als sich die „sogenannte ,verfassungstreue Partei‘“(!) gebildet hatte, stellte ein deutsches Mitglied des Lesevereins den Antrag, der Verein möge künftig den Namen „ver­fassungstreues Casino“ führen. Der Antrag wurde zum Beschluss erhoben. „Als Bezirksvorsteher“, so Anderle, „hatte ich dasselbe Interesse für die Deutschen wie für die Slaven, und hielt es für klug, mich von dem Verein, resp. ,verfas­sungstreuen Casino‘ fernzuhalten“, wenn er auch den förmlichen Austritt ver­mied. Doch der Konflikt ging weiter. Bei der Wahl der Funktionäre wurde nun­mehr von Anderles Person, „welche im Geruche stand, daß sie mit den Slaven sympathisiere, abgesehen, und es kam aus der Wahlurne ein urdeutscher Vor­stand hervor, den ich, meinen Grundsätzen treu bleibend, nicht im Mindesten molestierte, denn ich habe diesen Zweig des öffentlichen Lebens in Eibenschitz nicht weiter gepflegt“. Die Enttäuschung, hinausgedrängt worden zu sein, konnte Anderle nicht unterdrücken. Der Leseverein hatte den Zweck verfolgt, „das ge­sellige Vergnügen“ zu pflegen. Diesen Charakter streifte das „verfassungstreue Casino“ ab, denn, „wo hohe Politik getrieben wird, da hört bekanntlich alle Ge­müthlichkeit auf“. Anderle suchte andere Gefilde auf. „Ich fand Erholung teils in der freien Natur, teils in dem politischen Bezirk außerhalb der Stadt Eibenschitz, wo ich überall sehr freundschaftliche Aufnahme fand.“ Nur verklausuliert wird erkennbar, dass eben in der Stadt Eibenschitz die Deutschen politisch ein stärke­res Gewicht hatten, in den kleineren Gemeinden der Umgebung jedoch die Tschechen. Anderle schildert die Naturschönheiten in der Umgebung von Eiben­schitz, besonders den Berg Rena, dem er ein Gedicht in tschechischer Sprache widmete. Vypínej se až k blankitu nebe, Kouzelná ty, lesonosná Reno ! Srdce citem vroucím zří na tebe Velebi tvé Žižkou slavné jméno ! ......................................



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(Strecke Dich bis zum azurblauen Himmel, Du zauberhafte bewaldete Rena! Mit im Herzen brennendem Gefühl blick’ ich auf Dich, Und preise Deinen durch Žižka verherrlichten Namen.)3

Weitere Enttäuschungen folgten. Als gegen die Mitte des Jahres 1868 die Be­hörden­ reorganisation aufgrund der vollständigen Trennung der Justiz von der Administration erfolgte und die gemischten Bezirksämter aufgehoben wurden, wurde die Position des Bezirkshauptmanns neu geschaffen und von jener des Be­zirksrichters getrennt; auch hatten die (größeren) Bezirkshauptmannschaften ei­nen anderen Umfang als die (kleineren) Gerichtsbezirke. Obschon „einflußreiche Männer mir ihre Verwendung angeboten“ hatten, wollte Anderle „um den Posten eines Bezirkshauptmanns nicht betteln, und erhielt ihn auch nicht“. Er wurde (nunmehr sechzigjährig) zum Bezirksrichter in Eibenschitz ernannt. Er empfand dies als Zurücksetzung, „murrte aber nicht“, sondern fügte sich in die neu ge­schaffene Situation. Doch nicht lange. Denn Anderle wollte nun doch „dem ungemüthlichen Ei­ benschitz“ den Rücken kehren und sich „eine andere Heimath“ suchen. Es gab die offene Stelle eines Landesgerichtsrats am Kreisgericht in Ungarisch-Hradisch (Uherské Hradiště) in Ostmähren, nahe der ungarischen (slowakischen) Grenze. An „maßgeblicher Stelle“ bedeutete man Anderle, dass er für diese Stelle zu alt sei; er bewarb sich dennoch, und – erhielt sie. So gab es 1870 eine neuerliche Übersiedlung innerhalb Mährens – die letzte. Am Vorabend seiner Abreise aus Eibenschitz , am 31. Jänner 1870, brachten ihm die Eibenschitzer, wie er schreibt, eine Serenade mit Fackelzug. Es waren tschechische Eibenschitzer, die ein vom Schuldirektor Wenzel Nowotny gedichtetes Quartett in tschechischer Sprache vortrugen. ....................... K blahu města vždy Tvé byly kroky, Zdar osvěty vidy Tvé snahy píle. ....................... (Immer zum Glück der Stadt gerieten Deine Schritte, Immer zum Gedeih der Kultur Deine fleißigen Bemühungen.) 3

Für Übersetzungen aus dem Tschechischen danke ich, wie schon so oft, Anna Maria Drabek sehr herzlich. Anderle fügte der Namensnennung Žižkas folgende Fußnote hinzu: „Es geht die Sage, daß Žižka bis auf die Rena vorgedrungen sei“ (Jan Žižka, der hussitische Feldherr, 1360–1424). Das fünfstrophige Gedicht wurde vom dama­ligen Schuldirektor Wenzel Nowotny „ins Singquartett gesetzt“.

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Auch später, so berichtet Anderle, habe er bei Besuchen in Eibenschitz immer wieder ein freundliches Willkommen seitens der Bevölkerung erfahren. Ein Jahrzehnt war Anderle als Landesgerichtsrat in Ungarisch-Hradisch tä­tig.4 Er gibt zu, in den ersten Wochen Schwierigkeiten mit Formalien und mit den Eigenheiten des Gremial-Verfahrens gehabt zu haben, berichtet aber vom Ver­trauen des Gerichtspräsidenten, des Hofrats Anton Halatschka, der ihm zahlrei­che Referate übertrug; bei dem vierzigjährigen Dienstjubiläum Halatschkas 1877 hatte Anderle als erster Rat die Festrede zu halten. Der Kreisgerichtspräsident Halatschka starb schon im folgenden Jahr; Anderle hatte während einiger Monate die Präsidialgeschäfte des Kreisgerichts zu führen. Schon bald nach der Ankunft in Ungarisch-Hradisch wurde Anderle ehren­ amtlicher Vorstand der 1870 gegründeten Sparkasse von Ungarisch-Hradisch. Er gehörte zu den Honoratioren der Stadt. Recht ausführlich wird wiederum die Ge­selligkeit geschildert. Der Leseverein (offenbar weniger politisch als in Eiben­ schitz), auch der Männergesangsverein boten ihm „manche Erholung nach getha­ ner Arbeit“. Im Jahre 1876 vereinigten sich die drei Familien von Schullern, Frodl und Anderle zu Hausunterhaltungen – jede Woche abwechselnd in einer der drei Familien –, wobei vornehmlich Whist gespielt wurde. Anderle hat den WhistAbenden ein Gedicht gewidmet; auch „Phillis und Daphne“, „zwei zarte Wesen“, die im Nebenzimmer „musizieren, spielen, singen, lesen“, werden ge­nannt; Anderle hat die Auflösung dazugeschrieben: Antonia von Schullern (deren Bild noch 1999 in der seinerzeit der Familie Schullern gehörenden Apotheke auf dem Hauptplatz zu sehen ist) und Maria Frodl. Am 20. Juli 1880 trat der Landesgerichtsrat Franz Anderle in den Ruhestand. Bald übersiedelte er nun nach Wien, das inzwischen der Lebensmittelpunkt sei­ner Kinder geworden war. Schon 1879 länger erkrankt, verschlechterte sich An­derles Gesundheitszustand in den Jahren 1885/86, wie er in den letzten Zeilen seines Lebensberichts verzeichnet. Franz Anderle starb am 25. Februar 1888, sechs Wochen vor seinem achtzigsten Geburtstag, in Wien. Vom Kleinstbauernsohn zum Landesgerichtsrat, vom ostböhmischen Dorfe Řídký über die vier Jahrzehnte währende Juristenlaufbahn in Mähren bis zum Ruhestand in der Haupt- und Residenzstadt Wien, wo die Generation der Kinder Fuß gefasst hat, – durch die Herkunft einerseits, durch Heirat und Erziehung der Kinder andererseits an beiden „Volksstämmen“ und Sprachstämmen der böhmi­ 4

Ich danke Herrn Jan Kralik, Uherské Hradiště, der Nachforschungen im Stadtarchiv anstellte und u.a. das Wohnhaus meines Urgroßvaters lokalisieren konnte.



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schen Länder teilhabend –, keine außergewöhnliche, aber eine sehr typische, eine exemplarische Lebensgeschichte aus dem alten Österreich. In der „Mappe“ – im Heft meines Urgroßvaters findet sich der Satz: „Man er­ füllt seine Pflicht als Beamter immer leichter, wenn man seine Tätigkeit nicht als Zwangsarbeit, sondern als Ausfluß der dem Menschen innewohnenden morali­ schen Kraft betrachtet.“ Die „dem Menschen innewohnende moralische Kraft“: ihr begegnet man auch, wenn man der Lebensgeschichte Richard Plaschkas, seinem wissenschaftlichen Werk, der Themenwahl, die diesem Werk zugrundeliegt, nach­spürt.



7. Verfassungsbruch im Königreich Böhmen: Ein unbekanntes Kapitel zur Geschichte des richterlichen Prüfungsrechts im alten Österreich

Am 26. Juli 1913 erließ Kaiser Franz Joseph zwei kaiserliche, von der Gesamtregierung gegengezeichnete Patente. Im ersten Patent wurde der (zuletzt 1908 gewählte) Landtag des Königreichs Böhmen für aufgelöst erklärt. Im zweiten Patent wurde eine Landesverwaltungskommission eingesetzt, der die Aufgaben des vom Landtag gewählten Landesausschusses übertragen wurden. Damit wurde das oberste Organ der autonomen Landesverwaltung, eben der Landesausschuss, von einem neuartigen Gremium ersetzt, das in der geltenden Landesverfassung, der Landesordnung für das Königreich Böhmen von 1861, in keiner Weise vorgesehen war. Zur Begründung dieser außerordentlichen Maßnahme hieß es im Patent, der Landtag habe seit Jahren seine gesetzlichen Aufgaben nicht mehr zu erfüllen vermocht – tatsächlich übte die deutsche Minderheit seit Jahren Obstruktion. Nunmehr vermöge auch der Landesausschuss weder den finanziellen Obliegenheiten der Landesverwaltung gerecht zu werden noch überhaupt die ihm gesetzlich zustehenden Funktionen weiterzuführen. Es sei somit die Gesetzgebung des Königreichs Böhmen sowie die verwaltende und ausführende Tätigkeit der Landesvertretung zum Stillstand gekommen. Tags zuvor, am 25. Juli, hatte der dem Landtag und dem Landesausschuss vorsitzende Oberstlandmarschall von Böhmen, Fürst Ferdinand Lobkowitz, – im Einvernehmen mit der Regierung – in Bad Ischl Kaiser Franz Joseph um Enthebung von seinem Amt ersucht, die ihm auch mit Datum des 26. Juli gewährt wurde. Es kann sich hier nicht darum handeln, die im bitteren Nationalitätenstreit von Tschechen und Deutschen zu suchende Vorgeschichte dieser sogenannten „Annenpatente“ (da am 26. Juli, dem „Annentag“, erlassen) zu skizzieren.1 1 Vgl. u.a. Friedrich Prinz, Die böhmischen Länder von 1848–1914, in: Karl Bosl, Hg., Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd III, Stuttgart 1968, 189–193. [Ergänzung 2010: Ein nachge-

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7. Verfassungsbruch im Königreich Böhmen

Es soll hier ausschließlich dargelegt werden, in welcher Weise die Suspendierung der böhmischen Landesverfassung im Jahre 1913 in beiden altösterreichischen Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts, dem Verwaltungsgerichtshof und dem Reichsgericht, Anlass zu Beratungen über den Rechtscharakter des Julipatents und die Möglichkeiten und Grenzen der richterlichen Normenkontrolle gab. Im September 1913 erreichte den k.k. Verwaltungsgerichtshof in Wien die Beschwerde eines František Kudrnáč, Grundbesitzer in Cihelna im Bezirk Pardubice/ Pardubitz. Die Beschwerde richtete sich gegen den in einer Bauangelegenheit ergangenen Bescheid des Bezirksausschusses Pardubitz. Wieso konnte sich der Beschwerdeführer berechtigt fühlen, gegen eine erst in zweiter Instanz gefällte Entscheidung direkt beim Verwaltungsgerichtshof Beschwerde zu erheben, da doch im autonomen Bereich die letzte Instanz des Administrativverfahrens die Landesbehörde in Prag gewesen wäre? Aus der Begründung des Beschwerdeführers erhellt eindeutig, dass die Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof als verfassungsrechtlicher – und natürlich verfassungspolitischer – Testfall gedacht war. Die Beschwerde – vertreten von dem Advokaten Dr. František Herrmann in Pardubitz – stellte sich auf den Standpunkt, die am 26. Juli eingesetzte Landesverwaltungskommission sei verfassungswidrig zustande gekommen; sie dürfe daher die nach der böhmischen Bauordnung von 1889, LGBl 5, dem Landesausschusse des Königreiches Böhmen eingeräumte Kompetenz der letztinstanzlichen Entscheidung nicht ausüben; sohin sei die Bauangelegenheit des Grundbesitzers Kudrnáč schon durch die in zweiter Instanz gefällte Entscheidung des Bezirksausschusses Pardubitz als administrativ ausgetragen anzusehen; dem Beschwerdeführer stehe daher (nur mehr) der direkte Weg zum Verwaltungsgerichtshof offen. Damit war der Verwaltungsgerichtshof gezwungen, eine verfassungsrechtliche Frage von höchster Tragweite zu untersuchen, um entscheiden zu können, ob die Beschwerde zurückzuweisen oder meritorisch zu behandeln wäre. Der Fall wurde von einem Senat des Verwaltungsgerichtshofs unter Vorsitz des (Ersten) Präsidenlassenes Werk zu den „Annenpatenten“ des tschechischen Historikers Karel Kazbunda (1888–1982), hg. von Zdeněk Kárnik, erschien 1995: Otázka česko-německá v předvečer Velké války: zrušeni ústavnosti země České tzv. annenskými patenty z 26 července 1913 [Die tschechisch-deutsche Frage am Vorabend des Großen Krieges. Die Zerstörung der Verfassungsmäßigkeit des Landes Böhmen durch die sogenannten Annenpatente vom 26. Juli 1913 (Prag 1995.)] Die staatsrechtsgeschichtliche Bedeutung der Julipatente wurde klar erkannt in einem Aufsatz von Walter Goldinger, Fragen der Innenpolitik 1867–1914, in: Österreich in Geschichte und Literatur, Bd 10, 1966, 425–426, dem ich die erste Anregung zu dieser Studie verdanke. Vorzüglich die Sachverhaltsdarstellung in: Friedrich Kleinwaechter jun., Die böhmische Frage, in: Zeitschrift für Politik, Bd. VII, 1914, 644–670.



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ten des Verwaltungsgerichtshofs Olivier Marquis Bacquehem behandelt, dem zunächst als Stimmführer Senatspräsident August v. Popelka und die Hofräte Baron Johann Hiller-Schönaich, Baron Viktor Weiss-Starkenfels und Ferdinand Pantůček angehörten. Die Brisanz des Falles wurde sogleich zu Beginn der Beratungen am 6. Oktober 1913 deutlich, als der Präsident anregte, „mit Rücksicht darauf, daß die Mehrheit des Senates sich möglicherweise für den Verordnungscharakter des Kais. Patentes aussprechen könnte“, die Angelegenheit in einem verstärkten (Siebener-) Senat durchzuberaten.2 Folglich wurde der Senat um den Senatspräsidenten Stephan v. Falser und Hofrat Jaroslav Srb verstärkt. Zu bemerken ist, dass die Herren Popelka, Srb und Pantůček Angehörige des tschechischen Volksstammes waren – um sich der Diktion Altösterreichs zu bedienen –, die alle nach 1918 Funktionen in der tschechoslowakischen Republik übernahmen. Als Referent fungierte Hofrat Dr. Pantůček.3 Ausgangspunkt der verschiedenen Erwägungen waren zwei staatsgrundgesetzliche Bestimmungen: erstens Art. 7 des Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt (RGBl. 144 aus 1867), wonach die Prüfung gehörig kundgemachter Gesetze den Gerichten nicht zustehe, während die Gerichte über die Gültigkeit von Verordnungen in gesetzlichem Instanzenzug zu entscheiden hätten; zweitens Art. 10 des Staatsgrundgesetzes über die Regierungs- und Vollzugsgewalt, demzufolge die Kundmachung der Gesetze im Namen des Kaisers „mit Berufung auf die Zustimmung der verfassungsmäßigen Vertretungskörper“ und unter Mitfertigung eines verantwortlichen Ministers zu erfolgen habe. Auch andere Normen – so das als „beständiges und unwiderrufliches Staatsgrundgesetz“ bezeichnete Oktoberdiplom von 1860 und die Landesordnung für das Königreich Böhmen von 1861 – banden die Erlassung von Gesetzen an die Mitwirkung bzw. Zustimmung der entsprechenden Vertretungskörper.4 Eine Zustimmung von verfassungsmäßigen Vertretungskörpern – im konkreten Fall die Zustimmung des Landtages des Königreiches Böhmen – lag aber jedenfalls beim „Annenpatent“ nicht vor. 2 Dieses Zitat ebenso wie die folgenden sind den hier erstmals ausgewerteten Akten des Verwaltungsgerichtshofs in der Kausa Kudrnáč, einschließlich des Beratungsprotokolls, entnommen, die im Staatlichen Zentralarchiv Prag erliegen: Státní ústřední archiv (jetzt Národni archiv), Bestand „Správní soudní dvůr Víden“ (Verwaltungsgerichtshof Wien) 1898–1918. 3 Zur Person des Referenten Dr. Pantůček (1863–1925) wäre zu bemerken, dass er 1887 an der Prager tschechischen Universität sub auspiciis imperatoris promoviert hatte und nach 1918 erster Präsident des neuen Obersten Verwaltungsgerichts der Tschechoslowakischen Republik wurde. Vgl. Helmut Slapnicka. Die Prager Juristenfakultät in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts, in: Die Teilung der Prager Universität 1882 und die intellektuelle Desintegration in den böhmischen Ländern (hg. vom Collegium Carolinum), München 1984, 55–80, hier 72–73. 4 Auf die beiden letztgenannten Normen wurde verwiesen im Referat Pantůčeks.

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Im Senat wurden drei unterschiedliche Auffassungen über den Rechtscharakter des kaiserlichen Patents vorgebracht. Hofrat Weiss vertrat – auch in einem eigenen, schriftlich vorliegenden Referat – die Auffassung, dass das Patent als kaiserliche Verordnung, nicht als Gesetz, anzusehen sei. Kaiserliche Verordnungen gebe es verschiedentlich; nur die unter Berufung auf § 14 des (Grund-)Gesetzes über die Reichsvertretung erlassenen Verordnungen wären von der richterlichen Überprüfung ausgenommen, da ihnen formell provisorische Gesetzeskraft verliehen worden sei. Die Verordnungen kraft § 14 – es handelt sich um den berühmten „Notverordnungsparagraphen“ der Dezemberverfassung, der sich aber nur auf die Reichsgesetzgebung, nicht auf die Landesgesetzgebung bezog! – kämen aber, so Weiss, auch im Analogieschluss für die Landesgesetzgebung nicht in Betracht. Das vorliegende Patent wäre als Verordnung anzusehen, deren Gültigkeit sehr wohl dem Prüfungsrecht des Verwaltungsgerichtshofs unterliege. Weiss gab zu, dass die in dem Patent geregelten Materien (zusätzlich zur Einsetzung der Landesverwaltungskommission war auch eine Erhöhung der Landesumlagen und eine Landesbiersteuer festgesetzt worden) eigentlich in den Bereich der Landesgesetzgebung gehörten. Er argumentierte allerdings dahin gehend, dass die Funktionsunfähigkeit des Landtages den Monarchen nicht an der Ausübung seiner „Regierungsgewalt“ hindern könne; diese Regierungsgewalt werde im Wege der Verordnung ausgeübt. Der Monarch fülle dadurch „die Lücke aus, welche sich sonst durch die Dispositions-Unfähigkeit des Landtages ergeben würde“5. Ein zweiter, ganz anderer Standpunkt wurde vom Senatspräsidenten Falser vertreten. Das Patent sei ein einseitiger kaiserlicher Akt, der sich weder als Gesetz noch als Verordnung qualifizieren lasse. Es sei kein Gesetz, weil in der Kundmachung die Berufung auf die Zustimmung der verfassungsmäßigen Vertretungskörper fehle (die ja auch nicht vorlag). Zur These von einer gegebenen Notsituation oder einem Notrecht meinte Falser, er wäre allenfalls bereit, ein Notrecht in reinen Verwaltungsangelegenheiten anzuerkennen, falls etwa die Regierung die dem Landesausschuss unterstehenden Landesanstalten in ihre Verwaltung übernehmen würde, oder wenn beispielsweise durch ein Elementarereignis (durch den Tod der Mitglieder eines Landesausschusses) die Regierung gezwungen wäre, die Funktionen für kurze befristete Zeit zu übernehmen. Durch das kaiserliche Patent 5 Zit. aus dem maschinschr. Referat Weiss. Hier sind deutlich Anklänge an die „Lückentheorie“ merkbar, die im Preußischen Verfassungskonflikt von 1862/63 von Bismarck geltend gemacht wurde. Hierzu vgl. u.a. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd III, Stuttgart 1963, 335.



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seien aber nicht nur zahlreiche Kompetenzbestimmungen bestehender Gesetze, „sondern auch die als Staatsgrundgesetze [sic] sich darstellende Landesordnung des Königreiches Böhmen“ sistiert worden. Dies erachtete Falser nicht als zulässig und fand, dass „das kaiserliche Patent als rechtswidriger Akt angesehen werden muß“6. Die dritte Auffassung war jene des Referenten Hofrat Pantůček. Pantůček gelangte zunächst zu dem Schluss, dass das Patent weder seiner Provenienz noch seiner Form noch seinem Inhalt und Zweck nach als Verordnung behandelt werden könne. Das Patent sei nicht von einer für die Erlassung von Verordnungen gemäß Art 11 des Staatsgrundgesetzes über die Regierungs- und Vollzugsgewalt zuständigen „Staatsbehörde“ erlassen worden, sondern vom Kaiser selbst; nicht in der Form und unter der Bezeichnung einer Verordnung, sondern als „kaiserliches Patent“ in der feierlichen Form einer kaiserlichen Kundmachung. Inhaltlich werde eine neue, in den bisherigen Gesetzen nicht vorgesehene Institution geschaffen bzw. würden für eine bestimmte Zeit jene gesetzlichen Bestimmungen geändert, die den Wirkungskreis des Landesausschusses des Königreiches Böhmen festgesetzt hätten. Sei aber das Patent keine Verordnung, so sei der Verwaltungsgerichtshof nicht berechtigt, die Gesetzlichkeit des Patents zu untersuchen. Es verbleibe nur die Prüfung, ob „diese sich als Gesetz darstellende und als Gesetz gedachte7 Emanation des Kaisers“ auch als Gesetz gehörig kundgemacht worden sei. Es fehle die Berufung auf die Zustimmung des verfassungsmäßig zur Mitwirkung berufenen Landtages des Königreiches Böhmen; stattdessen enthalte das Patent die Anführung der Gründe, warum der Herrscher allein diesen in die Legislative fallenden Akt zu treffen befunden habe. Es sei sonach zu untersuchen, ob dieser Umstand dem Patent den Charakter eines gehörig kundgemachten und daher von den Gerichten nicht zu überprüfenden Gesetzes „zu entziehen vermag“. Der Referent verwies nun auf den § 14, der mit Gesetzeskraft ausgestattete kaiserliche Verordnungen im Fall der „dringenden Notwendigkeit“ zulasse. Dieser gelte zwar für die Landesgesetzgebung nicht; dies bedeute aber nicht, dass ein gleiches „Notgesetzgebungsrecht“ in Betreff der Landesgesetzgebung prinzipiell unzulässig wäre. Es folgt nun eine in ihrer Unbedingtheit bemerkenswerte Rechtfertigung einer monarchischen, sich über alle Begrenzungen des Verfassungsrechts hinwegsetzende Notgesetzgebung. „Das Recht des Landesfürsten“, so heißt es im Referentenent6 Zitate aus dem Beratungsprotokoll. Die Worte „rechtswidriger Akt“ sind handschriftlich an Stelle der durchgestrichenen ursprünglichen Formulierung im maschinschriftlichen Protokoll „nicht zu Recht bestehend“ gesetzt. 7 Die letzten drei Worte handschriftlich eingefügt.

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wurf (und endgültigen Erkenntnistext), „die im Interesse des Staates oder eines Teiles desselben zur Abwendung schwerer Nachteile dringend notwendigen legislatorischen Maßnahmen allein zu treffen“, müsse immer als selbstverständlich anerkannt werden, auch wenn dieses Recht nicht ausdrücklich als kodifiziert erscheint. Die einzige positivrechtliche Abstützung wird in dem dem Kaiser „nach der pragmatischen Sanktion zustehenden Rechte, alles zur ‚Conservation der Erblande‘, das ist zur Erhaltung der Integrität aller Kronländer nach außen und innen, Notwendige vorzukehren“, gesehen.8 Für diese Fälle der Not gebe es auch im Königreiche Böhmen eine Notgesetzgebung. „Nur ist dieselbe durch keine ausdrückliche Vorschrift näher geregelt, daher auch bezüglich ihres Umfanges, der Bedingungen ihrer Ausübung an keine kodifizierte Norm gebunden, sondern nur den in dem Wesen der Notlage gegebenen Grenzen unterworfen.“ „Bei Betätigung dieser Notgesetzgebung“ ersetze – ebenso wie bei den § 14-Verordnungen – der Hinweis auf die bestehende Notlage und die Unmöglichkeit, den zuständigen Gesetzgebungskörper zur Mitwirkung zu veranlassen, die in Art 10 des Staatsgrundgesetzes Nr. 145 (über die Regierungs- und Vollzugsgewalt) vorgeschriebene Berufung auf die Zustimmung dieses legislativen Faktors. Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913 stelle sich sowohl formell als auch materiell als ein solches Notgesetz dar. Es war diese Rechtsansicht, die sich im Senat, allerdings nicht einstimmig, durchsetzte. Der Gegenantrag Falsers, das kaiserliche Patent als gesetzwidrig zu erklären, wurde mit allen gegen die Stimme Falsers abgelehnt. „Stante concluso“ schloss sich nun Falser dem Gegenantrag Weiss’ an, der das kaiserliche Patent als Verordnung qualifizierte. Dieser Antrag wurde mit 4:2 Stimmen (jene Weiss’ und Falsers) abgelehnt. Somit war der Referentenantrag mit 4:2 Stimmen angenommen. Die Beschwerde des Grundbesitzers Kudrnáč wurde mit der Begründung zurückgewiesen, die Kompetenz des Landesausschusses als letzte administrative Instanz in Bauangelegenheiten sei an die Landesverwaltungskommission übergegangen; diese sei vom Beschwerdeführer noch nicht angerufen worden, die Sache sei daher noch nicht ausgetragen. Zusätzliche Einzelheiten der Beratung sind nicht von größerem Belang; von Interesse ist allerdings eine Auffassungsdifferenz zwischen zwei Vertretern der Mehrheitsansicht, den Hofräten Hiller-Schönaich und Srb. Hiller-Schönaich vertrat als 8 Zitiert nach dem Referentenantrag. In der pragmatischen Sanktion von 1713 wird diese in Abs. 8 als „immerwehrende Satzung, ordnung und pacta, zu Ehre Gottes, und Conservation aller Erb-Landen“ bezeichnet. Text bei Edmund Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze, 2. Aufl., Wien 1911, 19.



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zusätzliches Argument zur Anerkennung des Patents als Gesetz die Auffassung, man müsse auch die Möglichkeit nicht gehörig kundgemachter Gesetze zugeben, weil nach seiner Auffassung der Kaiser alleiniger Gesetzgeber sei. Hiller-Schönaich verwies auf das Buch Friedrich Tezners „Der Kaiser“, in dem die Anschauung, der Kaiser allein erlasse die Gesetze, vertreten werde.9 Demgegenüber wandte Hofrat Jaroslav Srb – ein national profilierter Tscheche, Mitglied einer im Nationalitätenkampf in Böhmen aktiven Familie – ein, dass unsere ganze Verfassungsgesetzgebung den Standpunkt vertrete, dass der Kaiser einerseits, die Vertretungskörper andererseits als „gleichberechtigte Gesetzesfaktoren“ anzusehen seien. Gerade deshalb müsse in dem Falle, dass ein Teil, hier der Landtag, seine ihm gesetzlich obliegende Pflicht nicht erfüllte (wegen der Obstruktion der deutschen Minorität!), diese Verpflichtung „suppliert werden“. Der in den Beratungen genannte Name Friedrich Tezners ist für unser Thema von größerem Interesse. Tezner war Mitglied des Verwaltungsgerichtshofes, allerdings nicht des erkennenden Senats; vor allem war er einer der bekanntesten Staats- und Verwaltungsrechtler der ausgehenden Monarchie, und er hat den Verfassungsnotstand in Böhmen mehrfach publizistisch kommentiert. Schon zwei Wochen vor Erlass des umstrittenen Annenpatents befasste sich Tezner mit den kommenden und keineswegs unerwarteten Entwicklungen in Böhmen; Tezner bejahte die Berechtigung von Notstandsmaßnahmen der Regierung, ohne sie zu beschönigen: „Jedes Versagen der Funktionen der verfassungsmäßig berufenen Staatsorgane bringt das biologische Recht des Staates, sein Recht, zu leben, zur Entfaltung. Die Formen, die eine solche Entfaltung annimmt, sind verfassungsmäßig nicht vorgesehen, da ja, wenn dies der Fall wäre, von einem Verfassungsnotstand nicht gesprochen werden könnte. Sie passen sich den bestehenden Machtverhältnissen an.“10 Tezner war bemüht, bereits vorbeugend darauf aufmerksam zu machen, dass der Verwaltungsgerichtshof in früheren Judikaten ein Staatsnotrecht in bestimmten Fällen anerkannt hätte. Doch dürfe Notstandsrecht „über die Grenzen der Not nicht ausgedehnt“ werden.11 Vier Tage nach Erlass des kaiserlichen Patents meldete sich Tezner neuerlich zu Wort. Wiederum vertrat er die Ansicht, die Präjudikatur des Verwaltungsgerichtshofes lasse den Schluss zu, dass der Verwaltungsgerichtshof eine Kassation des kaiserlichen Patents ablehnen dürfte, da dieses nicht die Entscheidung oder 9 Friedrich Tezner, Der Kaiser, Wien 1909, 5–6. 10 Friedrich Tezner, Eine Landesverwaltungskommission für Böhmen, in: Neue Freie Presse, Nr. 17559, 12. Juli 1913. 11 Tezner verweist auf die Judikate Nr. 4446-A, 6020-A und 6848-A der offiziellen Sammlung (hg. v. A. Budwinski).

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Verfügung einer Verwaltungsbehörde, sondern ein Regierungsakt des Kaisers sei.12 Die Affinitäten zwischen Tezners Ansichten und dem oben dargestellten Erkenntnis vom 6. Oktober 1913 sind jedenfalls bemerkenswert.13 Die Reaktionen auf die Deckung der verfassungswidrigen kaiserlichen Notgesetzgebung durch den Verwaltungsgerichtshof waren heftig, zumal in der liberalen Presse.14 Eine scharfe, bemerkenswerte Kritik erfolgte in einem lediglich „von einem Staatsrechtslehrer“ gezeichneten Artikel, als dessen Autor Edmund Bernatzik vermutet wurde, der jedoch aus der Feder Hans Kelsens stammt:15 Indem der Verwaltungsgerichtshof das kaiserliche Patent als Gesetz interpretiert habe, „rennt er das wichtigste Prinzip des Konstitutionalismus, sozusagen das Allerheiligste der Verfassung, über den Haufen: den Begriff des formellen Gesetzes ...“. Die vom Verwaltungsgerichtshof versuchte Konstruktion eines allgemeinen ungeschriebenen Staatsnotrechtes gehöre ins Reich der Naturrechtslehre. Tezner trat zur Verteidigung des Verwaltungsgerichtshofes neuerlich in die publizistische Arena, und zwar in einem großen Aufsatz in der „Österreichischen 12 Friedrich Tezner, Das Staatsrecht der Landesverwaltungskommission für Böhmen, in: Neue Freie Presse, Nr . 17577, 30. Juli 1913. 13 Die „Neue Freie Presse“ meldete in ihrer Ausgabe Nr. 17657 vom 19. Oktober 1913 (Morgenblatt, S. 5), das Organ der tschechischen Fortschrittspartei „Cas“ habe geschrieben: „Es war in den höchsten politischen Kreisen bekannt, daß die Regierung die Patente vom 26. Juli vor ihrer Verlautbarung auch dem Verwaltungsgerichtshofe mit der vertraulichen Anfrage unterbreitet hatte, wie sich derselbe verhalten würde, falls er über die Gültigkeit der erwähnten Patente zu entscheiden hätte. Das Gutachten fiel günstig aus und die Regierung entschloß sich auf Grund desselben, die Patente zu publizieren.“ Evidenz hierfür ist bislang nicht bekannt. Doch ist es sicher auffallend, daß Friedrich Tezner in den zwei genannten Aufsätzen, vor Erhebung einer konkreten Beschwerde, ja in seinem ersten Aufsatz sogar vor Erlaß des Patents so sehr zugunsten einer „notrechtsfreundlichen“ Judikatur argumentierte. Ferner ist an die oben bereits erwähnte Erweiterung des erkennenden Senats zu erinnern, die vom Präsidenten mit der Möglichkeit einer zur Anerkennung des Verordnungscharakters des Patents gelangenden Schlussfassung im engeren Senat begründet wurde. 14 „Das Rückgrat der Verfassung ist heute durch ein gerichtliches Urteil angetastet worden.“ Leitartikel der Neuen Freien Presse, Nr. 17656, 18. Oktober 1913 (Morgenblatt, S. 1). (Das Erkenntnis des VwGH vom 6. Oktober wurde am 17. Oktober veröffentlicht.) 15 Die böhmische Verwaltungskommission vor dem Verwaltungsgerichtshof, in: Neue Freie Presse, Nr. 17673, 5. November 1913 (Abendblatt, S. 3). [Ergänzung 2010: Für den Hinweis auf die Autorschaft Hans Kelsens, die mir bei der Erstpublikation dieses Aufsatzes noch unbekannt war, bin ich Herrn o. Univ.-Prof. DDr. Robert Walter zu großem Dank verpflichtet.] Die Vermutung, es handle sich um Bernatzik, wurde nur eine Woche nach Erscheinen des Artikels in einer der Verfassungskrise in Böhmen gewidmeten Parlamentsdebatte vom jungtschechischen Abgeordneten Dr. Fiedler geäußert. Sten. Protokolle des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, XXl. Session, 172. Sitzung, 12. November 1913, 8478.



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Rundschau“16. Der Gerichtshof stand der durch das kaiserliche Patent gestellten Frage gegenüber „mit Entscheidungszwang ohne Entscheidungsnorm“. Tezner legte die Verantwortung für die Notwendigkeit der Ausübung eines kaiserlichen Notrechts vor die Tore der Obstruktion betreibenden parlamentarischen Gruppen und Parteien. Der Verwaltungsgerichtshof habe das Problem der Parlaments- und Organlähmung von zwei Seiten angegangen: „aus dem Wesen des Rechtsstaates unter Anlehnung an die Labandsche Budgettheorie, und aus der mehrhundertjährigen Rechtsgeschichte der Monarchie“. Der deutsche Staatsrechtslehrer Paul Laband hatte dargelegt, dass gerade aus rechtsstaatlichen Gründen unter einem Budgetkonflikt zwischen Regierung und Parlament, der das Zustandekommen des Budgets vereitelt, die Erfüllung rechtmäßiger, vermögensrechtlicher Ansprüche an den Staat nicht leiden dürfe.17 Was nun die „mehrhundertjährige Rechtsgeschichte der Monarchie“ betraf, so berief sich Tezner auf „jenes Lebensgesetz der Monarchie“, jenes Grundgesetz, auf das „Gesetz aller Gesetze“, die Pragmatische Sanktion. Der Verwaltungsgerichtshof sei mit der Berufung auf die Pragmatische Sanktion „der von mir durch fast drei Dezennien vertretenen Lehre von der eigenartigen, dem gemeinsamen Monarchen zukommenden, aus der Struktur der Monarchie fließenden, koerzitiven, konservatorischen, patriarchalischen, kompromissarischen Funktion des Monarchen beigetreten, der die Monarchie des Hauses Österreich ihre Entstehung und ihre Erhaltung verdankt ...“.18 Tezner verwies auf die „universale Subsidiarfunktion“ des Kaisers. Die apologetischen Tendenzen von Tezners Verteidigungsschrift erreichten ihren Höhepunkt in der Aussage, er gehe davon aus, „daß für die Dauer der Funktionsunfähigkeit der Vertretungskörper ein Zustand eintritt, wie in der vorkonstitutionellen Epoche oder, wenn man will, eine durch die funktionelle Lähmung bewirkte Konsolidation der gesetzgeberischen Befugnis des Kaisers, die wegen des abnormalen Zustandes der Vertretungskörper von den normalen Beschränkungen durch ihre Mitwirkung befreit wird. Darum haben Rechtsnormen, die der Kaiser in Ausübung der ihm zustehenden Staatskuratel erläßt, für mich die Bedeutung und Kraft eines konstitutionellen Gesetzes.“19 Auch das Reichsgericht wurde mit der Verfassungsverletzung in Böhmen konfrontiert. Schon knappe zwei Wochen nach Erlassung des „Annenpatents“ erhoben 16 Friedrich Tezner, Der österreichische Parlamentarismus und der Verwaltungsgerichtshof, in: Österreichische Rundschau, Bd. 37, Nr. 13, 1. November 1913, 207–216. 17 Vgl. Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. IV, Tübingen 1914, § 130: „Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ohne Etatgesetz“, bes. 553–554. 18 Tezner, wie Anm. 16, 212. 19 Zitat ebd., 214.

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zwei ihres Amtes verlustig gewordene Landesausschuss-Beisitzer sowie vier tschechische Ersatzmänner Beschwerde beim Reichsgericht wegen Verletzung des ihnen durch die Landesverfassung gewährleisteten „politischen Rechtes zur Ausübung der Funktion und Amtierung in der Eigenschaft als Beisitzer beziehungsweise Ersatzmänner des Landesausschusses des Königreiches Böhmen“. Die Beschwerdeführer20 wurden durch den Advokaten Dr. Vladimir Srb aus Prag vertreten; Vladimir Srb, zwischen 1900 und 1906 Bürgermeister der Stadt Prag, war übrigens ein Bruder des bereits genannten Hofrats des Verwaltungsgerichtshofs Jaroslav Srb. Die Beschwerde wurde bereits am 10. August 1913 eingebracht. Die Beschwerde vertrat die Rechtsansicht, das kaiserliche Patent sei kein Gesetz, sondern eine Verordnung. Das Patent verletze die gültige Landes- und Reichsverfassung.21 Ausführlich werden die Mitteilungen und Verfügungen des Präsidenten der Landesverwaltungskommission Graf Schönborn zitiert (der übrigens selbst Mitglied des Landesausschusses gewesen war), wonach die Funktion und auch die weitere Tätigkeit der Landesausschuss-Beisitzer als beendet angesehen wurde. Die Beschwerdeführer betrachteten ihre Funktion als gewählte Vertreter als politisches Recht, das unter den Schutz des Art 3b des Staatsgrundgesetzes über die Einsetzung eines Reichsgerichts fiel, wonach dem Reichsgericht die Entscheidung „über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte, nachdem die Angelegenheit im gesetzlich vorgeschriebenen administrativen Weg ausgetragen worden ist“, zusteht. Das k.k. Innenministerium erstattete eine Gegenschrift. Das Beschwerderecht gemäß Art 3b des Staatsgrundgesetzes über die Einsetzung eines Reichsgerichtes sei im vorliegenden Fall nicht gegeben, da es sich hier nicht um eine gegen die Beschwerdeführer selbst gerichtete Entscheidung oder Verfügung handle. Die Kundmachung und Vollziehung des kaiserlichen Patents, so hieß es darin, sei vielmehr „die Ausführung eines kaiserlichen Befehls, der eventuell den Gegenstand einer Ministeranklage, keinesfalls aber das Substrat einer Reichsgerichtsbeschwerde bilden“ könne.22 Außerdem argumentierte die Regierung, die Funktionsunfähigkeit 20 Die Beschwerdeführer waren: Karl Adámek, Mitglied des Herrenhauses, Josef Ždársky, Vize­ präsident des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, und die Ersatzmänner Johann Dvořák, Franz Chaloupka, Wenzel Němec und Dr. Ladislaus Pinkas. 21 Und zwar ausdrücklich die Art I und III des Oktoberdiploms 1860, das Februarpatent (das die Landesordnung für Böhmen enthält) und Art 12 des Staatsgrundgesetzes über die Regierungsund Vollzugsgewalt von 1867. 22 Zitiert aus der ausführlichen Tatbestandsdarstellung in der amtlichen Veröffentlichung des Reichsgerichts-Erkenntnisses in der von A. Hye und K. Hugelmann herausgegebenen Samm­



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des Landesausschusses sei bereits mit der Demission des Oberstlandmarschalls gegeben gewesen. Auch ein Stellvertreter im Sinne des § 11 der Landesordnung sei nicht vorhanden gewesen.23 Das Innenministerium verneinte, dass das kaiserliche Patent als Verordnung zu qualifizieren wäre; es sei „von Seiner Majestät als Allerhöchstem Träger der gesetzgebenden Gewalt erlassen worden“; es unterliege daher nicht der richterlichen Prüfung. Wenn – im Gegensatz zum § 14 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung – das Notverordnungsrecht in der Landesgesetzgebung (mit Ausnahme der reichsunmittelbaren Stadt Triest) nicht ausdrücklich vorgesehen und geregelt sei, so vermöge dies „an der Tatsache nichts zu ändern, daß hier eine im Allerhöchsten Namen erlassene, gesetzliche Kraft erfordernde Notverfügung“ vorliege. Bei diesem Patent handle es sich „um einen unabweislichen Akt der Abhilfe gegenüber schweren Gefahren, zu deren Abwendung die verfassungsmäßigen Mittel versagt haben“. Die Gegenschrift setzt fort: „Gegenüber der durch höhere Gewalt, durch Parteihader, durch äußere Feinde, oder durch welche Ereignisse immer verursachten Unanwendbarkeit der Verfassung greift das Staatsnotrecht ein und seine Handhabung ist Pflicht der obersten Staatsgewalt.“24 Mit großer Offenheit bekannte die Gegenschrift, dass in Bezug auf Patente, Notgesetze und sonstige Emanationen des kaiserlichen Gesetzgebungsrechtes, „die außerhalb des Rahmens verfassungsmäßiger Formen unter dem Zwange der Not ergehen müssen, die aber in der Verfassung nicht vorgesehen sind“, naturgemäß auch die „Kundmachungsform in der Verfassung“ nicht vorgesehen sein könne. Die Einhaltung der „im Ausnahmegesetze angeordneten, ihrem Wesen nach gleichfalls außerordentlichen Kundmachungsform“ begründe ebenso „die Eximierung vom richterlichen Prüfungsrechte“ wie die durch materiell bindende Gesetze vorgeschriebene Kundmachung (bei normalen Gesetzen). Hiernach könne sich „das Prüfungsrecht des Richters gegenüber dem Notgesetze in keinem Fall auf den formellen Mangel der Kundmachung ohne „Berufung auf die Zustimmung der verfassungsmäßigen Vertretungskörper“ gründen.25 lung der Erkenntnisse des k.k. Reichsgerichtes, XVI. Teil, 2. Heft, Jg. 1914, Nr. 2065, 203. 23 Es war nämlich nur ein Stellvertreter „für Verhinderungsfälle“ des Oberstlandmarschalls vorgesehen; die Demission des Oberstlandmarschalls galt aber nicht als „Verhinderungsfall“. Überdies waren auch (im Einvernehmen mit der Regierung) die zwei der Kurie des Großgrundbesitzes angehörenden Mitglieder des Landesausschusses zurückgetreten. 24 Zitat ebd. 205. Der Tenor der Gegenschrift entsprach einer Stellungnahme des Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh, wonach auch einem Notstand, „dessen Beseitigung in den verfassungsmäßig vorgesehenen Formen nicht möglich ist“, abgeholfen werden müsse. Sten. Protokolle des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, XXI. Session, 171. Sitzung, 11. November 1913, 8445–46. 25 Sammlung (wie Anm. 22), 206.

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Die mündliche Verhandlung fand erst am 1. April 1914 statt. Der Beschwerdevertreter Dr. Vladimir Srb betonte, die Bezeichnung „kaiserliches Patent“ gehöre der vorkonstitutionellen Zeit an. „Nach Einführung der Verfassung gebe es nur Gesetze und Verordnungen.“ Bezüglich der Demission des Oberstlandmarschalls und des Nichtvorhandenseins einer Stellvertretung meinte Srb, der „Fall der Verhinderung“ beziehe sich sehr wohl auch auf den Fall der Resignation. „Der Landesausschuss bestehe heute noch zu Recht, und wenn er seine Rechte nicht mehr ausüben könne, dann sei ein Verfassungsbruch daran schuld.“26 Srb bemerkte weiters, eine analoge Anwendung des § 14 (des Grundgesetzes über die Reichsvertretung) auf die Länder sei nicht zulässig; selbst wenn eine Notverordnung per analogiam möglich wäre, könnte sie nicht bei Abänderung von Staatsgrundgesetzen (wie es die Landesordnung für Böhmen war) angewendet werden. Das kaiserliche Patent könne auch nicht als Emanation der Krone auf Grundlage „eines ungeschriebenen Staatsnotrechtes, welches in der Verfassung nicht vorgesehen ist, betrachtet werden. Ein öffentliches Verfassungsnaturrecht existiere bei uns nicht.“ Hier sind wohl Anklänge an Kelsens Kritik des Verwaltungsgerichtshoferkenntnisses zu merken. Als Regierungsvertreter sprach Baron Johann Eichhoff27. Er betonte ganz im Sinne der schriftlichen Gegenäußerung der Regierung, dass „im Bereiche des öffentlichen Rechtes die Macht der Tatsachen und der Zwang der Not Pflichten und Rechte der öffentlichen Gewalt auslösen“. Er sprach von der „Staatserhaltungspflicht“ der Regierung und wies im Übrigen auf ein früheres Judikat des Reichsgerichts hin, wonach eine vom Landesausschuss anstatt des nicht versammelten Landtags getroffene Verfügung als dem Geiste der Landesordnung entsprechend angesehen worden war.28 Eichhoff resümierte, das kaiserliche Patent schöpfe „seine Berechtigung aus den überwiegenden Regentenpflichten, beim Versagen der verfassungsmäßigen Einrichtungen unter dem Zwange der Not auch für die Wohlfahrt des Landes, das ist für die Verwirklichung des Zweckes der Verfassung zu sorgen“. Es entspreche demnach dem „Geist der Verfassung“, auf den sich das erwähnte Reichsgerichts-Judikat von 1905 berufe. Das Reichsgericht gab der Beschwerde nicht statt. Soweit die Beschwerde ge26 Ebd., 209. Es werden nur die wichtigsten Argumente Srbs referiert. 27 Eichhoff war Verfassungsexperte im Innenministerium, auch als verfassungsrechtlicher Experte dem Beraterkreis um den Thronfolger Franz Ferdinand angehörend, und nachmals als ranghöchster Beamter der österreichischen Friedensdelegation in Saint-Germain und erster Gesandter der Republik Österreich in Paris tätig. 28 Erkenntnis von 19. Jänner 1905, Sammlung Hye-Hugelmann Nr. 1312.



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gen die Regierung wegen durch die Erlassung des kaiserlichen Patentes und die Ernennung des Präsidenten, der Mitglieder und Ersatzmänner der Landesverwaltungskommission behaupteter Verletzung der politischen Rechte zur Ausübung der Funktionen als Beisitzer bzw. Ersatzmänner des Landesausschusses gerichtet war, wurde sie wegen Unzuständigkeit des Reichsgerichts zurückgewiesen. Soweit sich die Beschwerde gegen bestimmte Entscheidungen, Anordnungen und Verfügungen der Landesverwaltungskommission und ihres Präsidenten richtete (betreffend Einstellung der Bezüge und Unterbindung weiterer Amtstätigkeit), wurde die Zuständigkeit des Reichsgerichts bejaht, jedoch festgestellt, dass eine Verletzung politischer Rechte nicht stattgefunden habe. Wie kam es zu diesem Urteil? Die Protokolle der Beratungen des Reichsgerichtskollegiums geben darüber Auskunft.29 Es sei vorweggenommen, dass die Mehrheit des Reichsgerichts dem Entscheidungs- und Begründungsentwurf des Referenten, Karl von Pelser, im Großen und Ganzen folgte.30 Doch gibt es nicht nur abweichende Minoritätsanträge, sondern auch zusätzliche Kommentare über die rechtliche Problematik und die politische Brisanz des Falles, die den veröffentlichten Entscheidungsgründen nicht zu entnehmen sind. Als wichtigster in der Minorität bleibender Votant trat Anton von Randa auf.31 Randa vertrat die Auffassung, dass die Landesausschussbeisitzer durch die Entscheidungen, Anordnungen und Verfügungen der Regierung und der Landesverwaltungskommission und deren Präsidenten in der Ausübung ihrer Funktion verhindert worden seien und insoweit eine Verletzung des Rechtes zur Ausübung dieser Funktion stattgefunden habe. Zur Begründung seines Antrags führte Randa an, der Kaiser habe sich durch Oktoberdiplom, Februarpatent und 1867er-Verfassung „des selbständigen Gesetzgebungsrechtes dauernd begeben; auch des Rechtes der Sistierung der Verfassung“. Das Patent sei kein Gesetz, nur eine Verordnung; eine Verordnung „bleibe eine Verordnung, auch wenn sie das regelt, was durch das Gesetz geregelt werden soll“32. Auch Graf Leo Piniński, früherer galizischer Statthalter und Herrenhausmitglied, konnte vom Standpunkt des geltenden Rechtes nur „Gesetze 29 Die handschriftlichen Protokolle der nicht öffentlichen Sitzungen vom 1. und 2. April 1914, auf denen das Folgende basiert, befinden sich im Österreichischen Staatsarchiv Wien, Abteilung Allgemeines Verwaltungsarchiv, Bestand Reichsgericht. 30 Karl Pelser von Fürnberg war Hofrat des Obersten Gerichtshofs i.R. 31 Randa, damals bereits neunundsiebzigjährig, war emeritierter Professor des bürgerlichen und Handelsrechts an der tschechischen Universität in Prag sowie Mitglied des Herrenhauses. 32 Randa schloss sich allerdings dem weiter unten genannten Argument des Referenten an, bezüglich eines Teils der Beschwerde die Unzuständigkeit des Reichsgerichts auszusprechen.

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und Verordnungen anerkennen, aber nicht Patente etc. außerhalb der Verfassung“; er war zwar aus anderen Gründen gegen eine Stattgebung der Beschwerde, argumentierte aber wie Randa gegen seinen engeren Landsmann, den Lemberger Professor Stanislaus Starzyński, dass die Rechte als gewählte Landesausschussbeisitzer sehr wohl als politische Rechte der Staatsbürger zu qualifizieren seien. Der Verordnungscharakter des kaiserlichen Patents wurde auch von dem Innsbrucker Oberlandesgerichtspräsidenten Baron Friedrich Call bejaht. „Das Reichsgericht habe daher das Prüfungsrecht des Patents.“ Allerdings fand Call, der Landesausschuss sei nicht erst durch die Regierung abgesetzt worden, er sei bereits durch den vorhergehenden Rücktritt des Oberstlandmarschalls funktionsunfähig geworden. Der liberale Karl von Feistmantel, Präsident der niederösterreichischen Advokatenkammer, fand hingegen wie Randa, es habe eine Verletzung der politischen Rechte der Landesausschuss-Beisitzer stattgefunden. Weitere Diskussionen galten der Frage des Notrechts, dessen Legitimität von Robert Pattai, dem christlichsozialen Politiker, und dem Linzer Rechtsanwalt Hermann Esser bejaht wurde, während der Referent Karl von Pelser meinte, dass das Notrecht nur entschuldige, „aber die Rechtsverletzung bestehen“ lasse. Der Vorsitzende, Karl von Grabmayr33, meinte, man müsse zu dem Schluss kommen, dass das Patent nicht geltendes Recht sei, weil nicht die Zustimmung der Vertretungskörper eingeholt worden sei. „Für den Politiker gebe es natürlich ein Notrecht, aber nicht für den Richter. Es gebe für den Richter nur Gesetze und Verordnungen. Aber ein Drittes gebe es nicht. Eine andere Frage sei es, ob man da hineinsteigen soll und muß.“ Grabmayr fuhr fort: das Reichsgericht lasse sich nicht auf prinzipielle Aussprüche ein, sondern habe sich auf Judikate zu beschränken: „Wenn daher irgendeine Möglichkeit vorhanden ist, auf die Qualität des Patentes nicht einzugehen (Staatsnotrecht, Prüfungsrecht), so solle man es thun.“ Grabmayr vertrat ebenfalls die Ansicht, dass eine Verletzung der Rechte nicht vorliege; die Funktionsunfähigkeit des Landesausschusses sei schon früher eingetreten.34 Man schritt zu den Abstimmungen. 33 Der liberale Südtiroler Karl von Grabmayr war von 1906–1913 Vizepräsident, nach dem Tode Joseph Ungers bis 1918 Präsident des Reichsgerichts. 34 Von Edmund Bernatzik liegt – leider – im Protokoll keine Aussage zu grundsätzlichen Fragen vor. Er verwies auf eine Detailfrage, dass nämlich gemäß § 17 des Reichsgerichtsgesetzes 1869 die Administrativentscheidung, gegen die Beschwerde geführt werde, von der Partei „erwirkt“ worden sein müsse; ihm wurde allerdings von Baron Call entgegnet, dass zumindest in einem Fall – Beschwerde von deutschen Bürgern Prags gegen tschechische Straßentafeln – auch keine „erwirkte“ Entscheidung Grundlage der Beschwerde gewesen sei.



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Der Antrag Randas, der Beschwerde teilweise, nämlich bezüglich der Verletzung der Rechte durch die Verfügungen der Landesverwaltungskommission und ihres Vorsitzenden, stattzugeben, wurde mit zehn Stimmen gegen die beiden Stimmen Randas und Feistmantels abgelehnt. Ein Antrag Pinińskis, vom kaiserlichen Patent überhaupt nicht zu sprechen, wurde mit neun gegen drei Stimmen (Piniński, Starzyński, Call) abgelehnt. Der Antrag des Referenten, das Urteil in zwei Teile zu teilen (Zurückweisung wegen Unzuständigkeit bezüglich Erlassung des Patents und Bestellung der Landesverwaltungskommission – Nichtstattgebung bezüglich der Verfügungen der Landesverwaltungskommission und ihres Vorsitzenden), wurde mit zehn Stimmen gegen zwei (Call und Starzyński) angenommen. Der Referentenantrag bezüglich des ersten Teiles (Unzuständigkeit) wurde mit zehn Stimmen gegen zwei (Call und Starzyński) angenommen. Der zweite Teil (Nichtstattgebung) war bereits durch die Abstimmung über den Antrag Randa entschieden. Es gab noch Beratungen zu einzelnen Punkten der Begründung. Grabmayr sprach den Wunsch aus, bei der Begründung „alles wegzulassen bis auf das Hauptargument“ – dass nämlich schon durch den Rücktritt des Oberstlandmarschalls die kollegiale Beratung des Landesausschusses – und damit dessen Funktionsfähigkeit – unmöglich geworden sei. Nun wurde die Sitzung auf den 2. April vertagt. Graf Piniński wollte das Unbehagen über das Patent deutlicher zum Ausdruck bringen. Er wünschte Hinweise, dass das Reichsgericht keine Veranlassung habe, „auf die Frage des Staatsnotstandes einzugehen“, sowie darauf, dass es sich der Beurteilung des Reichsgerichts entziehe, „ob die Maßregeln der Regierung in Bezug auf Art und Maß das Unentbehrliche getroffen“ hätten. Da sich „gegen diese Zusätze allgemeine Abneigung zeigte“, ließ sie Piniński wieder fallen. Der Vorsitzende, Grabmayr, wandte sich gegen diese Zusätze, „weil sie sehr heikel seien. Die Meinung des Reichsgerichtes könne man zwischen den Zeilen lesen, aber es habe keinen Zweck, ausdrücklich zu sagen, das Reichsgericht wolle nicht hineinsteigen.“ In seinen endgültigen Entscheidungsgründen35 vertrat das Reichsgericht die Auffassung, es sei unzuständig, über die behauptete Rechtsverletzung seitens der Regierung durch Erlassung des kaiserlichen Patentes und die Bestellung der Landesverwaltungskommission zu entscheiden. Eine Beschwerdeführung vor dem Reichsgericht wegen Verletzung von durch die Verfassung gewährleisteten politi35 Vgl. Sammlung Hye-Hugelmann der Erkenntnisse des Reichsgerichts (wie oben Anm. 22), 215–221.

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schen Rechten sei nur dann und insofern statthaft, „als in einem konkreten Falle eine Entscheidung einer Administrativbehörde ergangen“ sei. Als eine solche Entscheidung einer Administrativbehörde könne doch aber sicherlich das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913, „welche rechtliche Natur demselben auch sonst zuerkannt werden mag, nicht angesehen werden“36. Dies war deutlich; man musste gar nicht „zwischen den Zeilen lesen“, wie Grabmayr gemeint hatte. Andererseits vermied es das Reichsgericht, die in den Beratungen vielfach vertretene Auffassung von der Verfassungswidrigkeit des Patents auszusprechen. Bezüglich jenes Teils der Beschwerde, der sich gegen Verfügungen der Landesverwaltungskommission bzw. deren Vorsitzenden wandte, bejahte das Reichsgericht wohl, wie bereits erwähnt, seine Zuständigkeit, gab aber der Beschwerde nicht statt, da „die Unmöglichkeit des Funktionierens des Landesausschusses“ bereits am 26. Juli durch die am selben Tage erfolgte Annahme der Resignation des Oberstlandmarschalls gegeben gewesen sei. Zwei weitere Beschwerden wurden vom Reichsgericht gleichzeitig ebenfalls abschlägig beschieden. Der Prager Anwalt Dr. Ottokar Krousky erhob Beschwerde wegen Verletzung des ihm durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechts, „von den durch die Verfassung statuierten Organen verwaltet zu werden“, weil ein von ihm an den Landesausschuss gerichteter Rekurs nicht von diesem, sondern von der Landesverwaltungskommission beschieden worden sei. Das Reichsgericht verneinte, dass es sich um ein verfassungsmäßig garantiertes Recht handle, da das Rekursrecht nicht in Verfassungsgesetzen, sondern lediglich im Reichsgemeindegesetz und der Gemeindeordnung für Prag statuiert sei. Der ­kaiserliche Rat und Gutsbesitzer Anton J. Salomon aus Reichenberg erhob Beschwerde im Sinne einer Feststellungsklage, die Erhöhung der Landesbierumlage von 55 % auf 65 % durch kaiserliches Dekret sei ungesetzlich und das Land Böhmen sei schuldig, dies anzuerkennen und ihm die Prozesskosten zu ersetzen. Das Reichsgericht wies die Beschwerde wegen Unzuständigkeit zurück; bezüglich allenfalls ungesetzlicher Umlagezahlungen wären die Finanzbehörden und in letzter Instanz der Verwaltungsgerichtshof zuständig.37 Die im Juli 1913 verfassungswidrig eingesetzte Landesverwaltungskommission amtierte bis zum Ende der Monarchie. In der Tschechoslowakischen Republik wurde mit Gesetz vom 13. November 1918 anstatt der Landesverwaltungskommis36 Meine Sperrung. 37 Hierfür Neue Freie Presse, Nr. 17823 v. 8. April 1914 (Abendblatt, S. 2), sowie Allg. Verwaltungsarchiv Wien (wie Anm. 29).



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sion ein Landesverwaltungsausschuss eingerichtet, dessen Präsident und Mitglieder von der Regierung ernannt und entlassen wurden.38 Die extremen Spannungen des Nationalitätenkampfes überforderten die Verfassung, vor allem deshalb, weil ethnische Minderheiten als permanente, von der Erlangung der parlamentarischen Mehrheit ausgeschlossene Minderheiten39 die parlamentarische Obstruktion als verfassungspolitische – und verfassungszerstörende – Waffe anwandten. Ein tief pessimistischer Friedrich Tezner berichtete, schon nach dem Sturz des Ministerpräsidenten Badeni 1897 habe ihm der deutschböhmische liberale Abgeordnete Josef Kopp gesagt: „Die Obstruktionsschlacht haben wir gewonnen, aber die Verfassung, fürchte ich, haben wir verloren“.40 Tezner denunzierte „die verrufene Lauheit des Österreichers in Dingen des Rechts“, die dazu geführt habe, „daß bei uns alle politischen Parteien in verhängnisvoller Kurzsichtigkeit für sich die Verfassung, gegen die anderen den Staatsstreich verlangen“41. Er beklagte auch die Größe des Kreises jener, die vom „Widerwillen gegen die Gestaltung unserer parlamentarischen Verhältnisse, von dem horror parlamenti“ erfüllt waren.42 Die in Vergessenheit geratene Verfassungskrise von 1913 zeigt, wie prekär der endgültig erst 1867, also 46 Jahre zuvor etablierte Konstitutionalismus Altösterreichs war. Sie zeigt auch, wie leicht der vorkonstitutionelle monarchische Absolutismus in Krisensituationen gewissermaßen „subsidiär“ an die Stelle des gelähmten oder auch nur als gelähmt betrachteten Konstitutionalismus eintreten konnte. Sie zeigt schließlich, wie nahe 1913 und 1933 in Österreich beieinanderstehen. Funktionsunfähig machende Rücktritte und verfassungswidrige, mit Notzuständen gerechtfertigte Normsetzungen der Inhaber der Staatsgewalt kennzeichnen die Verfassungskrise von 1913 wie jene von 1933, deren historische Einordnung durch die Wiederentdeckung der Krise von 1913 deutlichere Konturen erhält.43

38 Hierfür und für die folgende Verfassungsentwicklung siehe Ludwig Adamovich (sen.), Grundriß des tschechoslowakischen Staatsrechtes, Wien 1929, 161 ff. 39 Vgl. die hervorragende Studie von Georg Jellinek, Das Recht der Minorität, Wien 1898. 40 Tezner, Der österreichische Parlamentarismus und der Verwaltungsgerichtshof (wie oben Anm. 16), 216. 41 Tezner, Eine Landesverwaltungskommission im Königreiche Böhmen (wie oben Anm. 10). 42 Tezner, Das Staatsrecht der Landesverwaltungskommission für Böhmen (wie oben Anm. 12). 43 Zur Verfassungskrise von 1933 weitaus am eindringlichsten Gustav E. Kafka, Der gesetzgebende Richterspruch, Graz 1967, bes. 12ff.



8. Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechtsdemokratie – die historischen Wurzeln I. Der Historiker, der sich mit Verfassungsfragen befasst, stößt bald auf die Vorträge über Verfassungswesen, die der radikale und aufmüpfige und brillante Ferdinand Lassalle 1862 in Berlin hielt.1 Was eigentlich die Verfassung eines Landes sei, fasste Lassalle in sieben Worten zusammen: „die in einem Lande bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse“.2 In brillanter Rhetorik, nicht ohne ein Quantum Demagogie, rief Lassalle aus: „Sie sehen, meine Herren, ein König, dem das Heer gehorcht und die Kanonen, – das ist ein Stück Verfassung!“ Auch der Adel, „der Einfluß bei Hof und König hat,“ war „ein Stück Verfassung“. Die großen Industriellen waren auch ein Stück Verfassung: „Sie sehen also, meine Herren,“ – Damen waren nicht anwesend, vielleicht auch noch nicht zugelassen – „die Herren Borsig und Egels, die großen Industriellen überhaupt – die sind ein Stück Verfassung.“ Und die Bankiers, die der Regierung Geld zur Verfügung stellen, waren auch ein Stück Verfassung: „Sie sehen also, meine Herren, die Bankiers Mendelssohn, Schickler, die Börse überhaupt – das ist ein Stück Verfassung.“3 Nun, auch heute in Österreich wird von der „Realverfassung“, von der „Verfassungswirklichkeit“ gesprochen. Man spricht von der „Realverfassung“ und meint etwa die Institution der Sozialpartnerschaft, die ohne verfassungsmäßige Verankerung auskommt. Man spricht von „Realverfassung“ und meint die Parteien. In einem ebenso mutigen wie witzigen Beitrag zur Staatsrechtslehrertagung in Wien 1 Festvortrag vor dem Verfassungsgerichtshof am 1. Oktober 1990 aus Anlaß der 70. Wiederkehr der Beschlußfassung über das Bundes-Verfassungsgesetz am 1. Oktober 1920. Die Druckfassung des Vortrags wurde mit Belegen versehen. Der Vortragsstil wurde unverändert beibehalten, doch enthält die Druckfassung einige ergänzende Passagen. 2 Ferdinand Lassalle, Über Verfassungswesen, in: Gesammelte Reden und Schriften, hg. v. Eduard Bernstein, Bd. 2, Berlin 1919, 38. 3 Ebd., 33–37.

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1958 hat der verstorbene österreichische Staatsrechtler und Politologe Gustav E. Kafka die Parteienübereinkunft – z. B. den Koalitionspakt – als die Grundnorm der Verfassung des modernen Parteienstaates bezeichnet.4 Allerdings hat seit 1958 die Einbindung der politischen Parteien in die normative Verfassung Fortschritte gemacht. Ich werde gegen Ende meines Vortrags noch darauf zurückkommen. Doch möchte ich nicht zu lange von Macht und „Realverfassung“ sprechen, sondern vom Recht und der eigentlichen, der normativen Verfassung. Allerdings: der Zusammenhang von Macht und Recht im Bereich der Verfassung ist eng. Niemand hat das besser gesehen als Hans Kelsen, der 1931 schrieb: „Die politische Funktion der Verfassung ist: der Ausübung der Macht rechtliche Schranken zu setzen.“5 Wer ist der eigentliche Nutznießer dieser Schutzfunktion? Wer ist jener, der diese Schutzfunktion am dringendsten benötigt? Es ist der Einzelne, vor allem der einzelne unorganisierte Mensch, der in einer zwar pluralistischen, aber von organisierten Gruppeninteressen verschiedenster Art geprägten Gesellschaft die gefährdetste, weil schwächste Minderheit ist.6 Die Durchsetzung der Schutzfunktion des Rechts für den anderweitig Ungeschützten, die Anerkennung jedes Menschen als Trägers von Rechten und deshalb als Person, – ich erinnere an die weltweit bis heute unübertroffenen Formulierungen der Paragraphen 16 und 18 des ABGB – u n d die Verankerung grundlegender Rechte auf der Ebene des höchstrangigen positivierten Rechts, eben jener der Verfassung, sind die zentralen Errungenschaften des zur Grundrechtsdemokratie ausgeweiteten Rechts- und Verfassungsstaats moderner Prägung. Wie kann eine Verfassung und, wo vorhanden, die zur erhöhten Sicherung ihrer Geltungskraft entstandene Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit die von Kelsen genannte Funktion der Machtbeschränkung und hier vor allem die Funktion des Schutzes der Grundrechte wahrnehmen? Ich möchte mich bewusst nicht auf die Entwicklung in Österreich beschränken, sondern den Versuch wagen, einen weiter ausholenden historischen Überblick zu geben. Es würde allerdings zu weit führen, das dichte Geflecht alteuropäischer Rechtsordnungen auf seine machteinschränkenden, Rechte festschreibenden Komponenten zu durchsuchen. Gewiss, Leges fundamentales, Fundamentalgesetze, spielen seit dem Aufkommen dieses Begriffs im Frankreich im späten 16. Jahrhundert eine bedeutende Rolle in Europa, und auch schon vorher, wenn man etwa an die Goldene Bulle oder 4 Gustav E. Kafka, Mitbericht über „Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat“, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 17, Berlin 1959, 53–102, hier 101. 5 Hans Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein? In: Die Justiz, Bd. 6, 1930/31, 577. 6 Vgl. Mancur Olson, Jr., Die Logik kollektiven Handelns, Tübingen 1968, 163.



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die Magna Charta Libertatum denkt. Doch die „Grundgesetze“ der ständisch-­hie­ rarchischen Rechts- und Gesellschaftsstruktur waren vor allem ein „Gewebe von ständischen Rechtsverbürgungen, Thronfolgeregelungen, Organisationsnormen“ und (überwiegend territorial begrenzten) Religionsfreiheiten.7 Sie waren Teil einer Welt des abgestuften Rechtsstatus einzelner Personengruppen, ob sie an den Privilegia favorabilia ständischer Gruppen und den vorhandenen Aufstiegsmöglichkeiten Anteil hatten oder ob sie an die Privilegia odiosa des Sonderrechts für Sondergruppen – für Juden, für Sklaven, für Leibeigene, für andere – gebunden waren. In der alteuropäischen Gesellschaft waren Berechtigungen vor allem an „Sozialeinheiten“, nicht an „Individuen“ gebunden, wie Wolfgang Mantl einprägsam formuliert hat.8 „Unsere Welt“, in der Verfassungen im modernen Sinne entstanden, „unsere Welt“, in der Grundrechtsdemokratie vorstellbar wurde und sich zumindest schrittweise entwickeln konnte – diese „unsere Welt“ entstand vor etwa 210 bis 220 Jahren. Natürlich mit Präzedenzfällen und vielversprechenden Ansätzen, mit denen die salvatorischen Klauseln der Historiker immer vollgestopft sind! Ich halte Sie und mich damit nicht auf.

II. Folgende zwei Punkte sind von Bedeutung, und auf sie muss ich näher eingehen: 1. Der Durchbruch der Verfassung als vorrangiges positives Recht gegenüber dem einfachen Gesetz, der Durchführung der Verfassung im formellen Sinn, ein Durchbruch, der erst die Möglichkeit zur Messung von Gesetzen und anderen Rechtsakten an der höherrangigen Norm der Verfassung bot und damit eben den Weg zum materiellen richterlichen Prüfungsrecht und der Ausübung von Verfassungsgerichtsbarkeit öffnete. 2. Die Verankerung von subjektiven Rechten – Menschenrechten, Bürgerrechten, das variiert bekanntlich – in der Verfassung als höchstrangigem Normsystem im Staate. Erst mit dieser „Konstitutionalisierung“ von subjektiven Rechten werden diese Rechte zu Grundrechten; erst damit werden die Voraussetzungen 7 Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979, 180, zit. bei: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, München 1988, 177. 8 Wolfgang Mantl, Menschenrechte und Grundfreiheiten im Verfassungsstaat, in: Reinhard Rack (Hg.), Grundrechtsreform (= Studien zu Politik und Verwaltung, hg. v. Christian Brünner, Wolfgang Mantl, Manfried Welan, Bd. 7), Wien–Köln–Graz 1985, 23.

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zum Entstehen einer „Grundrechtsdemokratie“ geschaffen, eine wie ich glaube glückliche Formulierung, die ich dem Münchner Rechtsphilosophen Wolfgang Fikentscher verdanke.9 Zunächst zum ersten dieser zwei Punkte: Die Verfassung als vorrangige Norm im Vergleich zum einfachen Gesetz entwickelt sich im Zuge der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung mit einer Klarheit, die vorher nirgends ihresgleichen fand.10 Ich stimme mit Rainer Wahl11, Klaus Stern12, Christian Starck13 und anderen darin überein, dass die nordamerikanische Verfassungsentwicklung von ausschlaggebender Bedeutung für die Ausprägung der Idee vom Vorrang der Verfassung ist, und ich muss mich daher in Nordamerika und im späten 18. Jahrhundert etwas aufhalten. Warum war der Vorrang der Verfassung gerade in Nordamerika so früh ausgeprägt? Die amerikanische Revolution war, im Unterschied zur Französischen Revolution, in erster Linie eine Revolution gegen ein Parlament, nicht gegen einen absolutistischen König wie in Frankreich. Die Nordamerikaner wehrten sich gegen die als willkürlich, ja tyrannisch empfundene Gesetzgebung des Parlaments in London. In der Agitation gegen ein Gesetz vom Jahre 1765, ein Stempelgebührengesetz, finden wir erstmals in der neueren Verfassungsgeschichte das gehäufte Auftreten des Wortes „verfassungswidrig“ – „unconstitutional“; ja erstmals hat ein Gericht – ein Grafschaftsgericht in Virginia – 1766 ein Gesetz, eben dieses, als „verfassungswidrig“ erklärt – ohne allerdings genau sagen zu können, gegen welche Bestimmung der britischen Verfassung, die ja eine „ungeschriebene“, im formellen Sinne gar nicht existierende Verfassung war, dieses Gesetz verstieß.14 9 Vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, 5 Bde., Tübingen 1975–1977, hier bes. Bd. 4, 510, 615 u. ö.; hierzu Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie (= Studien zu Recht und Verwaltung, hg. Brünner/Mantl/Welan, Bd. 29), Wien–Köln 1989, XI–XII. 10 Hierzu meine erstmals 1974 veröffentlichte Studie „Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert“, nunmehr wiederveröffentlicht in meinem (supra Anm. 9 genannten) Sammelband Wege zur Grundrechtsdemokratie, 37–74. 11 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat, Bd. 20, 1981, 485–516, bes. 489–490. 12 Klaus Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit (= Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 91) Berlin–New York 1984. 13 Christian Starck, Vorrang der Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Christian Starck/ Albrecht Weber (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilband 1: Berichte, BadenBaden 1986, 14–39, bes. 21–23. 14 Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie, 54.



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Weil sie gegen Gesetze eines souveränen, keinerlei Normen über seiner eigenen Gesetzgebung anerkennenden Parlaments rebellierten, empfanden die Amerikaner den Mangel einer „geschriebenen“, vorrangigen Verfassung als gravierend, und sie setzten alles daran, die schweren Mängel des englischen Rechtssystems, in dem das Parlament souverän war, für sich selbst zu sanieren. Sie fanden theoretische Unterstützung bei dem viel gelesenen Völker- und Naturrechtslehrer Emmerich de Vattel, der schon 1758 (sehr schnell ins Englische übersetzt und nach Amerika exportiert) Folgendes über das Wesen einer Verfassung geschrieben hatte: Die Verfassung sei „die grundlegende Regelung der Art und Weise, in der die öffentliche Autorität ausgeübt werden soll“. Aber Vattel setzte Wichtiges hinzu: Die Verfassung, von der Nation selbst fixiert, könne von den Gesetzgebern nicht verändert werden. Die Verfassung entziehe sich dem Auftrag der Gesetzgeber. Vattel fügte hinzu – ich zitierte französisch: „Enfin, c’est de la constitution que ces législateurs tiennent leur pouvoir, comment pourraient-ils la changer, sans détruire le fondement de leur autorité?“ „Immerhin, diese Gesetzgeber erhalten ja von der Verfassung ihre Kompetenzen, wie könnten sie die Verfassung ändern, ohne die Grundlage ihrer eigenen Autorität zu zerstören?“15 Die Amerikaner bildeten tatsächlich sehr rasch Verfassungen in schriftlich vorliegender Form – im bewussten Gegensatz zur „ungeschriebenen“ und deshalb irgendwie unanfassbaren, vor allem uneinklagbaren englischen Verfassung. Sicher ist, dass vom 18. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart der Gesetzgeber – bzw. in Hinblick auf die föderalistische Struktur16 die Gesetzgeber – kaum eines anderen Landes so eindeutig unter der Verfassung stehen wie in den Vereinigten Staaten. In neuester Zeit steht wohl die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland diesem Muster am nächsten. Klassischen Ausdruck fand die Ansicht vom Vorrang der Verfassung in der Urteilsbegründung des Obersten Bundesrichters John Marshall im Gerichtsfall Marbury vs. Madison von 1803; obgleich weit bekannt, ist die zentrale Aussage so wichtig, dass sie zitiert werden muss: „Sicher betrachten all jene, die geschriebene Verfassungen errichtet haben, sie als das fun15 E. de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle, ed. M. P. Pradier-Fodéré, Bd. 1. Paris 1863, 168 (Buch I, Kap. III, § 34). 16 Der Zusammenhang von Föderalisierung und Verrechtlichung ist eindrucksvoll von dem britischen Verfassungsrechtslehrer Albert V. Dicey zum Ausdruck gebracht worden: A. V. Dicey, An Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10. Aufl. London 1965, 174. Ich bin mir der Bedeutung föderalistischer Verfassungsordnungen für die Herausbildung der Verfassungsgerichtsbarkeit bewusst, doch liegt diese Frage außerhalb des in diesem Vortrag behandelten Themas.

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damentale und höchste Gesetz der Nation, und konsequenterweise muß es die Theorie jeder solcher Herrschaftsform sein, daß ein Gesetz der Legislative im Widerspruch zur Verfassung nichtig ist.“17 In John Marshalls Erkenntnisbegründung im Falle Marbury vs. Madison sind die drei Voraussetzungen jedes materiellen richterlichen Prüfungsrechts der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und damit jeder Verfassungsgerichtsbarkeit im weiteren Sinn enthalten; erstens, dass die Verfassung oberste Norm sei; zweitens, dass die Verfassung Recht im Sinne einer von den Gerichten bzw. von eigens zu diesem Zweck eingerichteten Gerichten18 zu erkennenden und durchzusetzenden Norm sei; drittens, dass die richterliche Auslegung – durch die hiefür zuständigen Richter – des geltenden Rechts verbindlich sei, zumindest für jenen Fall, bei dessen Entscheidung sie angewandt werde. Und nun zum zweiten der oben genannten Punkte: Die Amerikaner haben nicht nur die „geschriebene“ Verfassung als normativ vorrangige Grundlage des öffentlichen Lebens eingeführt; sie haben auch Kataloge von subjektiven Rechten in Verfassungsrang erhoben, sie haben subjektive Rechte „konstitutionalisiert“. Das ist ein wichtiger Begriff, denn er kennzeichnet die Verankerung von Personenrechten in einer Verfassung im formellen Sinne wie in Amerika und später in fast allen Verfassungsstaaten der Welt einschließlich Österreichs. Individualrechte haben auch in England schon im 17. Jahrhundert eine große Rolle gespielt, am berühmtesten ist das Recht auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung, das „habeas corpus“-Verfahren. Sicherlich ist das „habeas corpus“Schutzrecht in England „fundamentalisiert“ worden, d. h., es ist zum grundlegenden Bestand der Rechtsüberzeugung geworden, aber es konnte in England nie „konstitutionalisiert“ werden; das „habeas-corpus“-Recht ist mittels einfachem Parlamentsgesetz in England mehrfach suspendiert worden, besonders zur Zeit der Französischen Revolution.19 Der Mangel echter, nämlich konstitutionalisier17 Ausführlicher hierzu Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie, 66–70. 18 Zu den verschiedenen institutionellen Ausprägungen der Ausübung von Verfassungsgerichtsbarkeit siehe neuestens Allan R. Brewer-Carias, Judicial Review in Comparative Law, Cambridge (England) 1989. 19 Zur Unterscheidung zwischen „Konstitutionalisierung“ und „Fundamentalisierung“ von Personenrechten vgl. meine erstmals 1975 veröffentlichte Studie „Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff“, in erweiterter Form vorliegend in dem (supra Anm. 9 genannten) Band Wege zur Grundrechtsdemokratie, 1–35, bes. 29–33.



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ter Grundrechte in England bis zum heutigen Tage hat ja dazu geführt, dass gewissermaßen subsidiär die Europäische Menschenrechtskonvention den Platz des fehlenden britischen Grundrechtskatalogs eingenommen hat und dass der Europäische Gerichtshof der Menschenrechte in Straßburg, pointiert gesagt, subsidiär für Großbritannien jene Funktion wahrnimmt, die in Österreich der Verfassungsgerichtshof mit seiner Kompetenz gemäß Art. 144 B-VG erfüllt.20 Die Gegnerschaft gegen die britische Parlamentssouveränität führte in Nordamerika zu einem bemerkenswerten Primat des Individualrechtsschutzes als Kern der Verfassungsorganisation. Die Verfassungsdefinition, die die kleine Gemeinde Concord in Massachusetts im Jahre 1776 formulierte, ist charakteristisch: „We conceive that a Constitution in its proper idea intends a system of principles established to secure the subject in the possession and enjoyment of their rights und privileges, against any encroachments of the governing part.“21 „The subject“ – wörtlich übersetzt „der Untertan“, frei übersetzt „der Bürger“ – ist der zentrale Bezugspunkt einer Verfassung, die den Einzelnen gegen „Übergriffe seitens der Regierenden“ zu schützen habe. Damit ist in einer höchst aussagekräftigen Formulierung das Individuum als Träger von Rechten in die Mitte der Verfassungsbildung gestellt. Der deutsche Staatsrechtler und jetzige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm hat einmal recht einprägsam gesagt, dass die Amerikaner „einen Staat um den einzelnen und seine Rechte“ gebaut hätten.22 Schriftlichkeit, Festsetzung der Höherrangigkeit der Verfassung gegenüber dem einfachen Gesetz u n d die Konstitutionalisierung der Individualrechte ge20 Ein eindrucksvolles Plädoyer für einen echten Grundrechtskatalog in England wurde schon 1974 von einem der bekanntesten hohen Richter Englands, Lord Scarman (damals Sir Leslie Scarman) gehalten: Sir Leslie Scarman, English Law – The New Dimension, London 1974. [Ergänzung 2010: Im Jahre 1998 hat das britische Parlament das „Menschenrechtsgesetz 1998“ (Human Rights Act 1998 ) beschlossen, das am 1. Oktober 2000 in Kraft trat. Sein Ziel ist die Kompatibilität der englischen Rechtsprechung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Englische Gerichte einschließlich des Höchstgerichts (seit 1. Oktober 2009 der mit dem Verfassungsreformgesetz von 2005 neu geschaffene „Supreme Court of the United Kingdom”, vorher die zwölf „Law Lords“ des House of Lords) erhalten allerdings nicht das Recht, ein Parlamentsgesetz etwa als verfassungswidrig zu erklären – denn es gibt ja weiterhin keine höherrangige Verfassung; sie sind jedoch berechtigt, eine „declaration of incompatibility“ (zwischen der Menschenrechtskonvention und einem Parlamentsgesetz) abzugeben, auf die das Parlament mit einer Gesetzesänderung (oder auch nicht) reagieren kann. Derart wird das Prinzip der Parlamentssouveränität aufrecht erhalten.] 21 Zit. bei Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie, 1. 22 Dieter Grimm, Europäisches Naturrecht und Amerikanische Revolution – die Verwandlung politischer Theorie in politische Techne, in: lus Commune, Bd. 3, 1970, 120–151, hier 149.

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meinsam boten die Bedingungen für die erstmalige Ausübung einer verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz. Der Fall ist in Europa wenig bekannt, er spielte sich im Staate North Carolina in den Jahren 1786 bis 87 ab; er ist jedoch meines Erachtens wegen des erstmaligen Zusammentreffens aller systematisch erforderlichen Elemente ein echter Markstein in der Entstehungsgeschichte der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit in Verbindung mit der Idee der Grundrechtsdemokratie. Es handelte sich in dem Fall Bayard vs. Singleton darum, dass die gesetzgebende Versammlung des Staates North Carolina ein Gesetz verabschiedet hatte, wonach Klagen von Personen, deren Eigentum im Zuge des Unabhängigkeitskrieges konfisziert worden und von Regierungskommissären weiterverkauft worden war – also Englandfreunde, Feinde der Unabhängigkeit! – von den Gerichten nicht angenommen werden dürften. Es handelte sich um ein typisches Ausnahmegesetz. Nun war aber im Grundrechtsteil der Verfassung von North Carolina ausdrücklich vorgesehen, dass Eigentumsklagen mittels „trial by jury“, durch Geschworene im ordentlichen Gerichtsverfahren zu erledigen wären. Ein brillanter aus England gebürtiger Jurist namens James Iredell (1751–1799), später von George Washington zum Mitglied des Obersten Bundesgerichtshofes bestellt, war damals Anwalt der Kläger. In verschiedenen Äußerungen – publizistisch, brieflich – argumentierte er, dass dieses Gesetz verfassungswidrig sei. Iredell argumentierte, dass die Richter des Obersten Gerichts ihre – nicht expressis verbis festgelegte, aber logisch zwingende – Kompetenz, verfassungswidrige Gesetze als nichtig zu erklären, ausüben müssten. Denn die Verfassung sei – ich zitierte wörtlich, – „nicht bloß ein Ding der Vorstellung, über das zehntausend verschiedene Ansichten gebildet werden könnten, sondern ein schriftlich vorliegendes Dokument, auf das sich alle berufen können und das die Richter daher nicht willentlich ignorieren können“. Sicher müssten die Richter in allen zweifelhaften Fällen das Gesetz unterstützen – d. h., es hätte die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit zu gelten. Ein Gesetz müsse „verfassungswidrig jenseits allen Zweifels“ – „unconstitutional beyond dispute“ sein, bevor es als solches erklärt würde. Aber die Richter könnten sich dieser Aufgabe nicht entschlagen.23 Das Gericht erklärte tatsächlich die beanstandete Gesetzesbestimmung als verfassungswidrig. In der Begründung hieß es, wenn sich der Gesetzgeber in diesem Falle über die Verfassung hinwegsetze, dann könnte er es auch in anderen Fällen tun.24 Die Modernität dieses Falles ist beeindruckend; 23 Aus einem Brief vom 26. August 1787; ausführlicher zu Iredell Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie, 62–64. 24 Der Fall Bayard vs. Singleton ist veröffentlicht in der Sammlung (in der üblichen ameri-



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hier befinden wir uns – zwei Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution, zur Zeit der Regierung Josephs II. in Österreich – bereits in „unserer Welt“ – der Welt der „grundrechtsdurchdrungenen Verfassung“, wie Klaus Stern treffend sagt.25 John Locke hatte im Jahre 1689 geschrieben: Inter legislatorem et populum nullus in terris est judex; bei einem Konflikt zwischen dem Volk und dem Gesetzgeber gibt es keinen Richter auf Erden. Und als Antwort auf die Frage „quis erit inter eos judex?“ – sagte Locke: „solus Deus“.26 Aber der Hinweis auf Gott und das Urteil Gottes bedeutete ja nichts anderes als die moralische, die religiöse Legitimierung der Ausübung von Widerstandsrecht, der Ausübung von – zwar nicht positiv-gesetzlich, aber moralisch-religiös legitimierter – Gewalt. Die Einführung der Verfassung als irdische Instanz über dem Gesetzgeber und die Möglichkeit der judiziellen, das heißt friedlichen Austragung der Gegensätze der öffentlichen Gewalten bot die Chance eines friedlichen Substituts für gewaltanwendendes Widerstandsrecht. Schon der vorhin genannte James Iredell hatte 1787 das richterliche Prüfungsrecht als friedlichen und wirksameren Ersatz für das bei der Verletzung der Rechte Einzelner ohnehin kaum in Erscheinung tretende Widerstandsrecht (und auch als wirksameren Ersatz für das traditionelle Petitionsrecht) angesehen.27 Der originellste politische Denker auf dem Boden der Donaumonarchie im 19. Jahrhundert, der Ungar Josef von Eötvös, hatte gezeigt, dass in Staaten mit einem auf dem Boden der Volkssouveränität stehenden Grundgesetz Mandatsüberschreitungen des Gesetzgebers entweder besonderen Gerichten – oder dem Volk übertragen werden müssten; die zweitgenannte Alternative „müßte zur Anerkennung des Rechtes der Insurrection führen“.28 Dass die mit der Verfassungsgerichtsbarkeit gegebene Verfeinerung der Rechtstechnik, die den Schutz gegen den Staat – und eben sogar gegen den Gesetzgeber – in den Raum des positiven Rechts verlege, ein friedliches Substitut für das Widerstandsrecht geschaffen habe, haben u. a. auch René Marcic und Friedrich Lehne aufgezeigt.29 kanischen Zitierweise) 1 Martin North Carolina Reports, 42–48, die entscheidenden verfassungsrechtlichen Argumente hier 44–45. Teilabdruck des Falles bei Bernard Schwartz, The Bill of Rights: A Documentary History, Bd. 1, New York 1971, 429–431. 25 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1 (vgl. supra Anm. 7), 175, vgl. auch ebd., 81, 83, 89, 93, 181–183. 26 John Locke, Epistola de tolerantia (1689), Mario Montuori Hg., den Haag 1963, 86. 27 Hinweise bei Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie, 62–63. 28 Josef von Eötvös, Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat, Bd. 2, Leipzig 1854, 382. 29 René Marcic, Verfassung und Verfassungsgericht, Wien 1963, 61; Friedrich Lehne, Demokratie ohne Illusionen, Wien 1967, 144.

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III. Doch wie steht es mit der Verbindung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechtsdemokratie auf kontinentaleuropäischem Boden? Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 enthält in ihrem Art. 16 eine Aussage, die oft als Inbegriff der modernen liberalen Verfassungsidee zitiert wird: „Eine Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung.“ Der Katalog der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 wurde in der Tat der ersten französischen Verfassung von 1791 vorangestellt. Doch zwei bedeutende Unterschiede zur amerikanischen Verfassungs- und Grundrechtstradition sind zu vermerken: Erstens kommt in den Artikeln der französischen Erklärung den Verweisen auf „la loi“, auf das – noch vom Gesetzgeber zu beschließende – Gesetz oder sogar eine Vielzahl von Gesetzeswerken ganz große Bedeutung zu. In den amerikanischen Rechteerklärungen gibt es mehr Aussagen darüber, was rechtens sei und allenfalls vor Gericht geltend gemacht werden könne; in der französischen Erklärung gibt es mehr programmatische Aussagen, was erst durch Gesetz zu regeln sei. Zweitens hat der Begriff des Gesetzes in der Französischen Revolution eine ganz andere, unvergleichlich höhere Dignität als in Amerika. Zwei Aussagen von kapitaler Bedeutung: Art. 6 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: „La loi est l’expression de la volonté generale.“ Und in der Verfassung selbst: „Il n’y a point en France d’autorité superieure à celle de la loi“ – „Es gibt in Frankreich keine Autorität höher als jene des Gesetzes.“30 Die Souveränität des Gesetzes – weil das Gesetz eben den mit der recta ratio identifizierten Allgemeinwillen zum Ausdruck bringe – als zentrale Aussage der Lehren von 1789 ist zu Recht von bedeutenden Interpreten der französischen Verfassung wie Carré de Malberg, Georges Burdeau, Jean Rivero und anderen hervorgehoben worden.31 Die Verfassungstradition der Französischen Revolution hat im Vergleich zu Großbritannien und zu den Vereinigten Staaten einen dritten Typus des modernen liberaldemokratischen Staates produziert: In Großbritannien Parlamentssouveränität ohne Verfassung 30 Verfassung von 1791, Titel III, Kapitel II, Sektion 1, Art. 3. Der Verfassungstext gut greifbar im französischen Original und in deutscher Übersetzung in: Günter Franz (Hg.), Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung, München 2. Aufl. 1964, hier S. 324. 31 Nachweise in meiner Studie „Zur Konstitutionalisierung der Individualrechte in der Amerikanischen und Französischen Revolution“, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie (supra Anm. 9), 155–174, hier 169–172.



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im formellen Sinn; in den Vereinigten Staaten Souveränität der Verfassung mit eindeutigem Nachrang des Gesetzgebers; in Frankreich De-facto-Souveränität des Parlaments trotz des Vorhandenseins von Verfassungen im formellen Sinn. In der Französischen Revolution, geprägt von der Erinnerung an die absolute Gesetzgebungsgewalt des Monarchen, fehlte die Skepsis gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber, der im Gegenteil als der eigentliche Repräsentant der Volkssouveränität angesehen wurde. Das Ergebnis war, dass sich eine – gar gerichtsförmige – Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung sehr lange Zeit nicht entwickeln konnte.32 So ist es nicht erstaunlich, dass in Frankreich die Stunde zumindest der präventiven Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit erst 1958, mit der Einrichtung des Conseil Constitutionnel, des Verfassungsrats, schlug. Die eigentliche Sensation kam allerdings erst 1971, als der Conseil Constitutionnel in einer Entscheidung vom 16. Juli 1971 erklärte, dass der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Verfassungsrang zukomme.33 Ein davon ganz begeisterter französischer Verfassungsrechtler, Jean Rivero, hat dazu gesagt, dass seit dem Sturm auf die Bastille das französische Volk es liebe, seine Revolutionen im Juli zu machen.34 Und in der Tat ist es eine juristische Revolution im Sinne der Grundrechtsdemokratie gewesen. Weitere Entscheidungen in diesem Sinne folgten. In einer Entscheidung des Conseil Constitutionnel von Jahre 1985 wird ausdrücklich gesagt, dass „das Gesetz die volonté generale nur in Bezug auf die Verfassung“ ausdrücke – (qu’elle „n’exprime la volonté générale que dans le respect de la Constitution“).35 François Luchaire hat daraus gefolgert, dass die traditionelle französische Konzeption des Gesetzes beseitigt worden sei.36 Es soll hinzugefügt werden, dass das zunächst sehr exklusive Recht auf Anrufung des Conseil Constitutionnel, 1974 um das Anrufungsrecht einer 32 Zu dem der Logik der „geschriebenen Verfassung“ entsprechenden, aber politisch nicht durchsetzbaren Projekt des Abbé Sieyes für eine „Jury constitutionnaire“, 1795 vorgeschlagen, vgl. ebd. 172; sehr informativ zu diesem Projekt und seinen Auswirkungen auf die Schweiz während der Französischen Revolution: Alfred Rufer, Das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit während der Helvetik, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Bd. 5, 1955, 273–304. 33 Louis Favoreu u. Loïc Philip (Hg.), Les grandes décisions du Conseil Constitutionnel, Paris 1975, 267–287. 34 Zit. bei Christian Starck, Der Schutz der Grundrechte durch den Verfassungsrat in Frankreich, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 113, 1988, 636. In dieser Rezensionsabhandlung weitere wesentliche Quellen und Literaturhinweise. 35 Zit. ebd. (Entscheidung vom 23. August 1985). 36 François Luchaire, La protection constitutionnelle des droits et des libertés, Paris 1987, 76, bei Starck, loc. cit.

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Minderheit in den beiden Häusern des Parlaments erweitert, laut Ankündigung des Präsidenten Mitterand im Jubiläumsjahr 1989 durch das Individualanrufungsrecht erweitert werden soll; dies wäre in neuer, gerade im Lande der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte doch erstaunlich später Durchbruch zur Verfassungs- und Grundrechtsunmittelbarkeit des Einzelnen.37

IV. Und Österreich? Die Stunde des Konstitutionalismus in Österreich schlug 1848. Grundrechte zählten, in Wien und dann Kremsier ebenso wie im Verfassungswerk der Frankfurter Paulskirche, zu dem es zahlreiche Querverbindungen gab, zu den Prioritäten der Verfassungsgeber. Doch die Effektivität der Grundrechtskataloge, ob des Frankfurter oder des Kremsierer Katalogs, hing von der Einklagbarkeit der Grundrechte ab. Es war daher von überragender und folgenreicher Bedeutung, dass zunächst in Frankfurt in die Zuständigkeit des vorgesehenen Reichsgerichts die Kompetenz aufgenommen wurde, „Klagen deutscher Staatsbürger wegen Verletzung der durch die Reichsverfassung ihnen gewährten Rechte“ zu entscheiden; ein nicht mehr erlassenes Ausführungsgesetz sollte Näheres regeln. Damit ist erstmals die später in Deutschland als „Verfassungsbeschwerde“ oder „Individualbeschwerde“ bezeichnete verfassungsgerichtliche Klagemöglichkeit vorgesehen worden.38 In der wichtigsten Vorform der Verfassungsbeschwerde, der bayrischen Verfassungsbeschwerde der Verfassung von 1818, war den Staatsbürgern lediglich 37 Hierzu „Projet de loi constitutionnelle“ (mit interessantem Motivenbericht) vom 29. 3. 1990 (Drucksache Nr. 1203 der Assemblée nationale). [Ergänzung 2010: Ein – begrenztes – Anrufungsrecht der Bürger wegen behaupteter Verfassungswidrigkeit von Gesetzen – „question prioritaire de constitutionnalité“ – ist erst mit der Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 eingeführt worden, mittels des neuen Artikels 61-1 der Verfassung. Allerdings kann dieses Anrufungsrecht nur im Zuge eines laufenden Prozesses in Anspruch genommen werden.] Der Gedanke der „justice constitutionnelle“ in Frankreich wird in der ersten Nummer der 1990 neu gegründeten „Revue française de droit constitutionnel“ in mehreren Beiträgen dokumentiert. U. a. wird ein 1942 in den USA erschienener Artikel Hans Kelsens (Vergleich der österreichischen und der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit) in französischer Übersetzung neu publiziert! Hans Kelsen, Le contrôle de constitutionnalité des lois. Une étude comparative des Constitutions autrichienne et américaine, in: Revue française de droit constitutionnel, Bd. 1, 1990, 17–30 (erstmals publiziert in englischer Sprache in: The Journal of Politics, Bd. 4, 1942, 183–200). 38 Zur Verankerung dieser Beschwerdemöglichkeit in § 126 g der Frankfurter Reichsverfassung vgl. die Studie von Hans Joachim Faller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Frankfurter Nationalversammlung, in: Festschrift für Willi Geiger, Tübingen 1974, 827–855.



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das Recht gewährt worden, „Beschwerden über Verletzung der constitutionellen Rechte an die Stände-Versammlung“ zu bringen.39 Der Kremsierer Verfassungsentwurf folgte dem Frankfurter Beispiel in einer Weise, die den österreichischen Entwurf von 1848/49 als Vorform des heutigen Art. 144 des Bundes-Verfassungsgesetzes erahnen lässt: Das Oberste Reichsgericht hätte als einzige Instanz das Richteramt „bei Klagen auf Genugtuung wegen Verletzung konstitutioneller Rechte durch Amtshandlungen der Staatsbediensteten“ auszuüben.40 Die Frankfurter Paulskirche scheiterte ebenso wie der Kremsierer Reichstag. Doch bald geschah etwas sehr Interessantes, was außerhalb Österreichs, und vor allem in der staatsrechtlichen Forschung unseres Nachbarlandes Deutschland weitgehend unbekannt geblieben ist. In der deutschen Forschung wird immer wieder gesagt, dass mit dem Scheitern der Revolution von 1848 das liberale Verfassungserbe dieser Revolution jahrzehntelang brachlag,41 sicher nicht in das Zweite Reich Bismarcks Eingang fand, und erst in Weimar, wenn nicht überhaupt erst ab 1949 im Bonner Grundgesetz seine Fortführung und Ausgestaltung fand. Fast unbemerkt bleibt, dass in Österreich eine merkwürdige Fügung schon 18 Jahre nach der gescheiterten Revolution die Rettung und Bergung, besser gesagt die Aktivierung wichtiger Teile des liberalen Verfassungserbes von 1848 ermöglichte, und zwar besonders jener, die den Grundrechtsschutz betrafen.42 1867 be39 Titel VII, § 21 der Verfassung von 1818. Hierzu sehr ausführlich Max Seydel, Bayrisches Staatsrecht, 2. Bd., München 1885, 30–56. Allgemein zu älteren deutschen Traditionen und zur deutschen Problematik im 19. Jahrhundert: Ulrich Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Christian Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, 1. Bd., Tübingen 1976, 1–62. 40 § 140 Abs. 1 des Kremsierer Verfassungsentwurfes, in: Edmund Bernatzik, Hg., Die österreichischen Verfassungsgesetze, 2. Aufl. Wien 1911, 129. 41 Vgl. etwa Rainer Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, in: Der Staat, Bd. 18, 1979, 321–348, hier 340–341; ähnlich auch Diemut Majer, Gerichtliche Kontrolle und politische Macht: Von der Paulskirche zum Bundesverfassungsgericht, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 16, 1987, 135–153, hier bes. 152–153. 42 Auf den so wichtigen Unterschied der deutschen und österreichischen Verfassungsentwicklung verweist Rudolf Hoke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern in der Tradition der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: Christian Starck und Klaus Stern, Hg., Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilband 1, Baden-Baden 1983, 65. Siehe nunmehr Wilhelm Brauneder, Die Gesetzgebungsgeschichte der österreichischen Grundrechte, in: Rudolf Machacek, Willibald P. Pahr, Gerhard Stadler, Hg., 70 Jahre Republik – Grund- und Menschenrechte in Österreich. Grundlagen, Entwicklung und internationale Verbindungen, Kehl a. R. 1991, 191–364.

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nötigte die Krone die Zustimmung der deutschen Liberalen zum Ausgleich mit Ungarn. Diese Zustimmung war nur um den Preis von Verfassungskonzessionen zu erreichen. So kam es zum Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, heute noch geltendes Verfassungsrecht, und so kam es auch zur Errichtung des Reichsgerichtes, des Vorläufers unseres Verfassungsgerichtshofes. Im Staatsgrundgesetz über die Einsetzung eines Reichsgerichts von 1867 wurde in Fortführung der Frankfurter und Kremsierer Verfassungstradition dem Reichsgericht die Kompetenz „über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte, nachdem die Angelegenheit im gesetzlich vorgeschriebenen administrativen Weg ausgetragen worden ist,“ zugewiesen.43 Allerdings war diese Kompetenz mit einem schwächenden Element behaftet; den diesbezüglichen Entscheidungen des Reichsgerichts fehlte noch die kassatorische Wirkung; es war eine der ersten Handlungen Kelsens bei der Überleitung des Reichsgerichts in den zunächst noch provisorischen Verfassungsgerichtshof der Republik 1919, diesen Mangel zu sanieren. Gleichwohl: Im Halbjahrhundert von 1869 bis 1918 war das österreichische Reichsgericht der einzige Gerichtshof in Europa, der über Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte durch die staatlichen (und die autonomen) Behörden urteilte. Das altösterreichische Reichsgericht war insofern trotz seiner Unvollkommenheiten der erste „Grundrechtsgerichtshof“ in Europa. Die in etwa analoge Kompetenz (seit 1874) des einzigen anderen hier in Betracht kommenden Gerichts in Europa, des schweizerischen Bundesgerichts, war auf die Beurteilung der Verletzung verfassungsmäßiger Rechte durch die kantonalen Behörden beschränkt. Die veröffentlichte Judikatur des Reichsgerichts über Verletzung verfassungsmäßig gewährleisteter Rechte ist von Erwin Melichar und in einem Teilbereich von Raoul Kneucker untersucht worden.44 Meine eigenen Arbeiten an den unveröffentlichten Protokollen der vertraulichen Beratungen zur Erkenntnisschöpfung 43 Art. 3 b) des Staatsgrundgesetzes über die Einsetzung eines Reichsgerichtes. Für die Periode 1867–1918 siehe allgemein: Friedrich Lehne, Rechtsschutz im öffentlichen Recht: Staatsgerichtshof, Reichsgericht, Verwaltungsgerichtshof, in: Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. II: Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975, 663–715. 44 Erwin Melichar, Die Freiheitsrechte der Dezember-Verfassung 1867 und ihre Entwicklung in der reichsgerichtlichen Judikatur, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, N.F. Bd. 16, 1966, 256–290; Raoul Kneucker, Die Vereins- und Versammlungsfreiheit in der Judikatur des österreichischen Reichsgerichtes, ebd., 392–404.



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im Bereich des Nationalitätenrechts ergeben ein vielschichtiges Bild eines keineswegs unpolitischen Gerichtshofes, mit häufiger Nichteinstimmigkeit, mit Beratungen auf hohem Niveau juristischen Wissens und juristischen Gewissens. Es ist eindrucksvoll, in einem solchen Beratungsprotokoll die Worte „zwar mit schwerem Herzen, aber nach seiner juristischen Überzeugung“ zu lesen – die Worte eines tschechischen Reichsgerichtsmitglieds, der gegen eine Beschwerde seiner tschechischen Landsleute in Wien votierte.45 Es ist eindrucksvoll, wenn man die Worte des einundachtzigjährigen Freiherrn von Hye, jahrzehntelang die eigentliche Säule des Reichsgerichts, liest, er werde „mit gebrochenem Herzen“ stimmen, weil ein juristischer Gegner eine jahrelang vertretene Rechtsüberzeugung erschüttert hatte.46 Dass das altösterreichische Reichsgericht ein Verfassungsgericht in nuce war, war vielen Zeitgenossen klar. Schon 1885 forderte Georg Jellinek einen „Verfassungsgerichtshof für Österreich“ in einer Schrift gleichen Titels durch Ausbau der Kompetenzen des Reichsgerichts in Richtung Gesetzesprüfung.47 Die enormen Probleme Altösterreichs in Bezug auf das Verhältnis von Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung im Bereich der Kompetenzabgrenzung, das Fehlen ausdrücklicher Kollisionsregeln, die aus dieser Situation für die Lehre des altösterreichischen Staatsrechts kommenden Herausforderungen – die Namen Merkl, Kelsen, Verdroß, des Tschechen Weyr, auch des Slowenen Pitamic seien genannt –, Karl Renners Reformideen für die Umwandlung Altösterreichs in einen Bundesstaat mit einem „Verfassungsgericht des Bundes“ –, all das war der Wurzelboden, auf dem das Gesetzesprüfungsrecht des Verfassungsgerichtshofs im Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 erwuchs.48 Mit Recht hat Manfried Welan jüngst geschrieben: „Zum Ende der Monarchie lag die Normenkontrolle geradezu in der Luft. 45 Das Beratungsprotokoll über diesen Fall (aus dem Jahre 1904) ist erstmals ediert in: Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, 300–306, hier 300. 46 Hierzu siehe ebd., 73 (Beratung am 3. Juli 1888, betreffend eine von der Gemeinde Verbenico/ Vrbnik auf der Insel Veglia/Krk, – zum Kronland Istrien gehörend – anhängig gemachte Beschwerde). 47 Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, Wien 1885. Für diese und weitere altösterreichische Initiativen in Richtung einer gesetzesprüfenden Verfassungsgerichtsbarkeit siehe Herbert Haller, Die Prüfung von Gesetzen, Wien–New York 1979, Kap. 1, bes. 25–28 u. 38–39. 48 Hinweise in meiner Studie „Hans Kelsen, die österreichische Bundesverfassung und die rechtsstaatliche Demokratie“ (1982), wiederveröffentlicht in dem Band Wege zur Grundrechtsdemokratie, 309–334, hier 310–311.

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Theoretisch war sie vorbereitet.“49 Der Name „Verfassungsgerichtshof“ geht bekanntlich, wie ich seinerzeit einer im Verwaltungsarchiv aufgefundenen handschriftlichen Weisung Renners an Kelsen entnehmen konnte, auf Renner zurück, um die Würde dieses Gerichts zu betonen.50 Um die Rolle Hans Kelsens bei der Schaffung des Verfassungswerkes und vor allem der Verfassungsgerichtsbarkeit von 1920 gibt es Auffassungsunterschiede in der Literatur, die uns heute nicht beschäftigen müssen. Ich teile nicht alle Auffassungen einer „revisionistischen“ Richtung, die Kelsens Rolle eher zu relativieren bereit ist. Zu betonen ist, dass alle Varianten der Verfassungsentwürfe Kelsens von Anfang an einen eigenen Abschnitt der „Garantien der Verfassung und Verwaltung“ vorgesehen haben. Allein darin liegt eine wesentliche Leistung Kelsens, denn nur durch den Einbau institutioneller Garantien konnte der Anspruch auf eine verfassungsmäßige Verwaltung und Gesetzgebung durchsetzbar werden. Kelsen ging es bekanntlich in erster Linie um die Wahrung, Durchsetzung und Klärung des objektiven Rechts und vor allem des Verfassungsrechts als der höchsten Stufe positiven Rechts. Seine Idee, einen ständigen Referenten des Verfassungsgerichtshofs mit der Stellung eines Bundesanwalts zur ständigen amtswegigen Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bundes- und Landesgesetzen und Verordnungen zu betrauen, kam nicht zustande.51 Weltweit ist die „Schrittmacherrolle Österreichs“52 mit der Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920 anerkannt und gewürdigt worden.53 Ausländische Gelehrte haben das System der konzentrierten, auf ein eigenes Organ der Gerichtsbarkeit übertragenen Verfassungsgerichtsbarkeit als das „österreichische System“ bezeichnet, im Unterschied zum „diffusen System“, dem amerikanischen, in dem allen Organen der Gerichtsbarkeit ein incidenter aus49 Manfried Welan, Wer wird die Wächter bewachen? In: Nikolaus Dimmel und Alfred-Johannes Noll, Hg., Verfassung. Juristisch-politische und sozialwissenschaftliche Beiträge anläßlich des 70 Jahr-Jubiläums des Bundes-Verfassungsgesetzes, Wien 1990, 291–305, hier 292. 50 Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie, 313. 51 Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie, 328–333. 52 Die Formulierung von Peter Häberle zit. bei Karl Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, in: Starck und Weber, Hg., Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilband 1 (supra bei Anm. 13), 152. 53 Die erste große fremdsprachige Monographie zur österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit erschien 1928 in französischer Sprache, übrigens mit einem Vorwort von Hans Kelsen: Es handelt sich um das Werk von Charles Eisenmann, La justice constitutionnelle et la Haute Cour Constitutionnelle d’Autriche, Paris 1928. Dieses Werk verfügt auch über einen vorzüglichen verfassungsgeschichtlichen, das altösterreichische Reichsgericht mit einschließenden Teil.



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zuübendes Prüfungsrecht der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zusteht.54 Das „österreichische System“ – manche ausländische Kollegen sprechen bewundernd, aber historisch gesehen doch etwas zu vereinfachend vom „Kelsenschen System“ – der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit hat in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts weite Verbreitung und sicher auch manche Ergänzung gefunden – in der neu errichteten Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in Italien, in Jugoslawien, in Spanien, in Portugal; neuestens breitet sich die Verfassungsgerichtsbarkeit in den frei gewordenen ostmitteleuropäischen Staaten mit Ungarn an der Spitze aus. Auch die organisatorisch etwas anders gelagerte Verfassungsgerichtsbarkeit in Griechenland mit dem 1975 geschaffenen Obersten Sondergerichtshof oder in Belgien mit dem seit 1984 existierenden Schiedsgerichtshof soll nicht vergessen werden; auf sehr interessante Entwicklungen außerhalb Europas kann ich nicht eingehen.55 V. Zurück nach Österreich. Im Rückblick auf die 70 Jahre, die seit dem 1. Oktober 1920 vergangen sind, erlauben Sie mir, hohe Festversammlung, zum Schluss drei Überlegungen herauszugreifen. Von Theodor Mommsen stammt das Wort: „Ich ... wünschte, ein Bürger zu sein.“56 Gestatten Sie mir, abschließend als Historiker u n d als Bürger unserer 54 Mauro Cappelletti und Theodor Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N.F., Bd. 20, 1971, 65–109, hier 82. Ebenso Allan R. Brewer-Carias, Judicial Review in Comparative Law (siehe supra Anm. 18), 195, mit weiteren Nachweisen. Vgl. auch den oben in Anm. 37 genannten, 1990 in Paris wiederveröffentlichten Artikel Kelsens aus dem Jahre 1942 über den Vergleich der österreichischen und amerikanischen Verfassungsgerichts­ barkeit. 55 Vgl. den erst 1989 publizierten über Europa hinausgehenden Überblick von Allan BrewerCarias (supra Anm. 18), sowie auf Westeuropa konzentriert: Christian Starck und Alfred Weber, Hg., Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilband 1 (wie supra bei Anm. 13). Von besonderem Interesse ist die Entwicklung in Kanada, das vom „britischen“ System (ohne normative Rangunterscheidung zwischen Gesetzesrecht und vorrangig abgesicherten „Grundrechten“) zu dem – ursprünglich amerikanischen – System von in Verfassungsrang abgesicherten („entrenched“) Grundrechten übergegangen ist. Vgl. hierzu Anne F. Bayefsky, Parliamentary Sovereignty und Human Rights in Canada: the Promise of the Canadian Charter of Rights and Freedoms, in: Political Studies, Bd. 31, 1983, 239–263. 56 In Mommsens Testamentsklausel vom 2. September 1899 heißt es: „Politische Stellung und

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Republik Österreich zu sprechen. Erstens: Jubiläen und Rückblicke wirken harmonisierend; aber man soll Brüche, Krisen, ja Katastrophen, wenn sie da waren, nicht verdrängen. Die krisengeschüttelte Geschichte der Ersten Republik Österreich ist am Verfassungsgerichtshof nicht vorbeigegangen; die Jahre 1927 bis 1933 waren Jahre schwerer Krisen. 1927 ist der Verfassungsgerichtshof mit einem von Hans Kelsen als Referent vorbereiteten Erkenntnis in der Eherechtsfrage in einen vehementen Strudel politischer Polemiken geraten.57 Kelsen selbst, sogar seine Familie wurden persönlichen Anfeindungen ausgesetzt.58 Die Veränderungen in der Ernennungsstruktur des Verfassungsgerichtshofes in der Verfassungsnovelle 1929 sind im Kontext dieser Konflikte zu sehen. Man soll nicht vergessen, dass als Ergebnis der Novelle 1929 die Funktion aller vorher auf Lebenszeit gewählten Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes mit 15. Februar 1930 als beendet galt.59 Derart wurde auch Kelsens Mitgliedschaft beendet, der es dann ablehnte, eine ihm von der Sozialdemokratie angebotene Kandidatur für den neu zu bestellenden Verfassungsgerichtshof anzunehmen.60 Nur wenige Jahre später kam es im Frühjahr 1933, worauf jüngst Manfried Welan wieder hingewiesen hat, zur Lahmlegung des Verfassungsgerichtshofs unter politisch motivierter Mitwirkung einiger Mitglieder dieses Gerichtshofes, worüber in der historischen Literatur nachzulesen ist – ein Vorgang, der jeden, der sich damit befasst, zutiefst erschüttern muss und den dringenden Wunsch „Nie wieder Mai bis Juli 1933“ ausrufen lässt.61 politischen Einfluß habe ich nie gehabt und nie erstrebt; aber in meinem innersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte ein Bürger zu sein.“ Abgedruckt in: Alfred Heuss, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, Kiel 1956, 282. 57 Zum Erkenntnis vom 5. November 1927 sowie zum Problembereich der sogenannten „Dispens-Ehen“, auch nach dem niederösterreichischen Landeshauptmann Albert Sever „SeverEhen“ genannt, vgl. den vorzüglichen Überblick bei Erika Weinzierl, Die österreichischen Konkordate von 1855 und 1933, Wien 1960, 151–180, hier bes. 169. [Ergänzung 2010: Zahlreiche neue Erkenntnisse zu den „Sever-Ehen“ enthält das Buch von Ulrike Harmat, Ehe auf Widerruf? Der Konflikt um das Eherecht in Österreich 1918–1938 (Frankfurt/Main 1999)]. 58 Rudolf A. Métall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969, 49–54. 59 Gemäß § 25 des Bundesverfassungsgesetzes vom 7. Dezember 1929, BGBl. Nr. 393/1929, betreffend Übergangsbestimmungen zur zweiten Bundes-Verfassungsnovelle vom gleichen Tage BGBl. Nr. 392/1929. Vgl. auch die interessanten Hinweise zur damaligen kommentierenden Literatur bei: Robert Walter und Rudolf Thienel, Parlament und Bundesverfassung, Wien 1990, 51 (in Anm. 77). 60 Métall, Kelsen, 55. 61 Hierzu die in ihrer Zurückhaltung beeindruckende Darstellung von Oswald Gschließer, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Ersten Republik, in: Felix Ermacora, Hans Klecatsky, René



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Zweitens: Zu Beginn unserer Zweiten Republik erfolgte eine Grundentscheidung von allergrößter Tragweite – nämlich die Entscheidung, zum Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 zurückzukehren und nicht eine neue Verfassung in Angriff zu nehmen. Diese Entscheidung – sie fiel schon am 13. Mai 1945 – trug entscheidend zur unglaublich raschen politischen, verfassungs- und verwaltungsmäßigen Stabilisierung Österreichs inmitten des materiellen Chaos bei. Diese Entscheidung, politisch besonders von Adolf Schärf forciert, von der Staatsregierung gegen den Willen der kommunistischen Mitglieder durchgezogen, juristisch vom Verfassungsberater der Staatsregierung Ludwig Adamovich senior mit Hilfe verschiedener Übergangsregelungen ausformuliert, schob einen Riegel vor Absichten, mithilfe einer neuen Verfassung Österreich in die Richtung einer Volksdemokratie zu bugsieren.62 Die rasche Stabilisierung der Zweiten Republik mithilfe der Rückkehr zur Verfassung von 1920/29 hatte allerdings ihren Preis, sie hat immer noch ihren Preis. Die Dominanz eines rein rechtstechnischen und speziell verfahrensrechtlichen Verfassungsdenkens in der Tradition Kelsens fördert die oft beklagte, aber nie sanierte Aufsplitterung des österreichischen Verfassungsrechts in die Vielheit von Bundes-Verfassungsgesetz (mit Bindestrich), von Bundesverfassungsgesetzen und von zahllosen Verfassungsbestimmungen.63 Es ist doch schade, dass so zentrale Aussagen wie jene der Verfassungsbestimmung des Art. 1 des Parteiengesetzes 1975 (BGBl. Nr. 404/1975), zumindest der Absätze 1 und 2 – „Die Existenz und Vielfalt politischer Parteien sind wesentlicher Bestandteil der demokratischen Ordnung der Republik Österreich. Zu den Aufgaben der politischen Parteien gehört die Mitwirkung an der politischen Willensbildung“ – noch nicht ihren Platz im Bundes-Verfassungsgesetz selbst gefunden haben, wo sie verfassungssystematisch Marcic (Hg.), Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit – Fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, Wien 1968, 37–39; Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich, Wien 1975, 178–192; Welan (wie supra Anm. 49), 300–301. 62 Dem Verfassungs-Überleitungsgesetz vom 1. Mai 1945, StGBl. Nr. 4/1945, das die Rückkehr zur Verfassung von 1920/29 aussprach, kommt insofern eine größere historische Bedeutung zu als der sogenannten Provisorischen Verfassung vom gleichen Tag (StGBl. Nr. 5/1945). Beide Verfassungsgesetze wurden am 13. Mai 1945 beschlossen und auf den 1. Mai rückdatiert. Wichtig ist die Darstellung bei Adolf Schärf, Zwischen Demokratie und Volksdemokratie, Wien 1950, 26–32. 63 Zu dieser Problematik siehe auch Ludwig Adamovich, Die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit vor dem europäischen Hintergrund, in: Geschichte und Gegenwart, Bd. 8, 1989, 163–178, hier 175.

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sicher hingehörten. Ich denke etwa an den systematisch richtigen Platz des analogen Art. 21 im Bonner Grundgesetz. In einer Zeit, in der die Koalitionsparteien über verfassungsändernde Mehrheiten verfügen und Teiländerungen des Verfassungsrechts zur Disposition der Regierungsparteien stehen, kann der Zusammenhang zwischen „Realverfassung“ und Verfassungsrecht im „formellen“ Sinn besonders eng sein. Der Primat und die stabilisierende Wirkung der Verfassung, die Rechtsklarheit und die Rechtsgewissheit, sollen nicht preisgegeben werden zugunsten eines immer unübersehbarer werdenden Konglomerats von inhaltlich beliebigen „Verankerungsnormen“. Ich darf den in Österreich ja viel diskutierten Fall der Verfassungsbestimmung in der Novellierung des Gelegenheitsverkehrs-Gesetzes, BGBl. Nr. 125/1987, als Beispiel nennen.64 Die Rückkehr zu einer insoweit mit dem Typ der Weimarer Verfassung vergleichbaren Verfassung hat verhindert, was das Bonner Grundgesetz, unter dem schrecklichen Eindruck des Endes von Weimar und des Ermächtigungsgesetzes von 1933, versucht: „Der Bestand des geltenden Verfassungsrechts soll sich aus der Verfassungsurkunde selbst ergeben; jeder soll ohne Schwierigkeiten erkennen können, was de constitutione lata gilt.“65 Es hängt vielleicht mit dem betont formellen Verfassungsverständnis der Kelsen’schen Tradition zusammen, dass, wie Rudolf Kirchschläger vor zehn Jahren bemerkte, das Bewusstsein von der Bedeutung der österreichischen Verfassung nicht so stark verankert sei, wie es wünschenswert wäre, wie etwa die amerikanische Bundesverfassung in den Vereinigten Staaten verankert sei.66 Das von Dolf Sternberger geprägte Wort vom „Verfassungspatriotismus“ lässt sich – man mag es bedauern oder nicht – eigentlich auf Österreich nicht anwenden. 64 Zu den Verankerungsnormen siehe mit Hinweis auf Kelsens, das Wesen der Verfassung ausschließlich in der erhöhten formellen Gesetzeskraft sehenden Auffassung, Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. München 1984, 89–90. Zur Pro­blematik in Österreich vgl. Theo Öhlinger, Verfassungsgesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Österreichische Juristen-Zeitung, Jg. 45, 1990, Heft 1, 2–9. [Ergänzung 2010: Nunmehr ist am 5. Dezember 2007 vom Nationalrat als ein Ergebnis des von 2003 bis 2005 abgehaltenen Österreich-Konvents ein „Erstes Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz“ beschlossen worden. Dieses ist Art. 2 des „Bundesverfassungsgesetzes, mit dem das BundesVerfassungsgesetz geändert und ein Erstes Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz erlassen wird“ (BGBl. I 2/2008).] 65 So die vorbildliche Formulierung von Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hier zit. nach der 6. erg. Aufl. Karlsruhe 1973, 271. 66 Rudolf Kirchschläger, 60 Jahre Bundesverfassung, in: Die Republik, Bd. 16, 1980, Heft 4, 3–6, hier 4.



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Drittens: Ich kehre zur Thematik des Grundrechtsschutzes zurück. Es bleibt festzuhalten: In Österreich gab es bereits durch viele Jahrzehnte, ab 1869, eine grundrechtsbezogene, sonderverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung. Sie wurde ab 1919 und dann ab 1920 mit dem Art. 144 des Bundes-Verfassungsgesetzes verbessert. Es gab, wie Hans Kelsen 1929 schrieb, „die unmittelbare Verbindung zwischen dem in seinen verfassungsmäßig gewährleisteten Rechten durch die Verwaltungsbehörde verletzten Untertan und dem zum Schutz der Verfassung berufenen Spezialgericht“.67 Diese Verbindung war lange in Europa einzigartig und hat erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Siegeszug durch viele Länder Europas anzutreten begonnen, dann allerdings vielfach über das in Österreich vorgegebene Maß hinausreichend. Es lässt sich sagen, dass jenes Verfahren, das in der Individualbeschwerde vor den Institutionen der Europäischen Menschenrechtskonvention seine Krönung erfahren hat, in Europa zuerst, wenn auch mit manchen Mängeln behaftet, in Österreich eingeführt wurde und dass Österreich über die längste Tradition der „Verbindung zwischen dem in seinen verfassungsmäßig gewährleisteten Rechten verletzten Untertan ... und dem zum Schutz der Verfassung berufenen Spezialgericht“ verfügt, um Kelsens einprägsame Worte zu wiederholen. Kelsen fand Anlass zu diesen Worten, als die Regierungsvorlage zur Bundesverfassungs-Novelle 1929 den Zugang des Einzelnen zum Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 144 B-VG abschaffen und individuelle Beschwerdeführer gänzlich an den Verwaltungsgerichtshof verweisen wollte. Die Kompromisslösungen der „Entlastungsnovellen“ von 1981 und 1984, wenn auch in der Lehre nicht unumstritten,68 haben diesen von Kelsen 1929 geforderten unmittelbaren Zugang gewahrt, insbesondere auch durch den Satz 2 von Abs. 2 sowie Abs. 3 des Art. 144 in seiner geltenden Fassung. Der Verfassungsgerichtshof ist weiterhin „Grundrechtsgerichtshof“, und zur zahlenmäßigen Bedeutung der Beschwerden nach Art. 144 – die ja zu diesen Entlastungsnovellen geführt haben – braucht nichts gesagt werden. Die Verankerung des Verfassungsgerichtshofs im Rechtsbewusstsein der Öffentlichkeit, der einzelnen Bürger, ist wohl in besonderem Maße der Eigenschaft des Verfassungsgerichtshofs als „Grundrechtsgerichtshof“ zu verdanken. Und diese Verankerung ist in einer Grundrechtsdemokratie, die Österreich ist und bleiben soll, unverzichtbar.69 67 Hans Kelsen, Die Verfassungsreform, in: Juristische Blätter, Bd. 58, 1929, 453–457, hier 455. 68 Vgl. etwa den Kommentar bei: Hans Klecatsky und Siegbert Morscher, Die österreichische Bundesverfassung, 5. Aufl., Wien 1989, 166 (Anm. 4 zu Art. 144 B-VG). 69 Zur gegenwärtigen Situation siehe: Ludwig Adamovich, Grundrechte heute – Eine Einführung, in: Machacek/Pahr/Stadler, 70 Jahre Republik – Grund- und Menschenrechte in Österreich (supra bei Anm. 42), 7–28, sowie zahlreiche weitere Beiträge dieses Bandes.

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Die Idee der Menschen- und Grundrechte beherrscht das freie Europa seit dem 2. Weltkrieg und heute das ganze Europa wie keine andere. Das Schlussdokument der Kopenhagener KSZE-Konferenz über die „human dimension“ vom Juni 1990 ebenso wie die „Charta von Paris“ vom November 1990 sind zwei eindrucksvolle Dokumente. Die Zweite Republik Österreich kann, so glaube ich, stolz darauf sein, in mehrfacher Hinsicht zur Verbesserung und Vertiefung einer „Grundrechtsdemokratie“ beigetragen zu haben. Ich nenne vier Beispiele: Erstens den Beitritt Österreichs zur Europäischen Menschenrechtskonvention 1957/58 (BGBl. Nr. 210/1958) und vor allem die Transformation der Konvention in Verfassungsrang 1964 (BGBl. Nr. 59/1964, Art. II, Z. 7). Zweitens die Einrichtung der Individualbeschwerde gemäß den Art. 139 und 140 des Bundes-Verfassungsgesetzes seit 1975 (BGBl. Nr. 302/1975). Drittens die Einführung der Volksanwaltschaft 1977 (BGBl. Nr. 121/1977), seit 1981 (BGBl. Nr. 350/1981) als siebentes Hauptstück in das Bundes-Verfassungsgesetz inkorporiert. Viertens das Bundesverfassungsgesetz zur Sicherung der persönlichen Freiheit von 1988 (BGBl. Nr. 684/1988) und die Einführung der unabhängigen Verwaltungssenate mit all den verfahrensrechtlichen Neuerungen, die in die Art. 139, 140 und 144 des Bundes-Verfassungsgesetzes eingebaut wurden und ab 1991 in Kraft treten. Von 1920 bis 1990 ist ein deutlicher Ausbau der Möglichkeiten des verfassungsrechtlichen Individualrechtsschutzes durch die Erweiterungen des Kreises der Antragsteller auf verfassungsgerichtliche Gesetzesprüfung zu verzeichnen: seit 1929 der Oberste Gerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof, seit 1975 auch Gerichte zweiter Instanz, parlamentarische Minderheiten und wie bereits erwähnt Individuen, seit 1988 mit Wirkung von 1991 die unabhängigen Verwaltungssenate. Auch Erweiterungen des Kreises der Antragsberechtigten beim Verordnungsprüfungsverfahren (seit 1975 wie bereits erwähnt Individuen, seit 1977 die Volksanwaltschaft, seit 1988 mit Wirkung von 1991 die unabhängigen Verwaltungssenate) sind zu nennen. Indem schrittweise die Möglichkeit erweitert wurde, im Zusammenhang mit bei anderen Institutionen (ordentliche Gerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Volksanwaltschaft) anhängigen, individuelle Personen betreffenden Verfahren verfassungsgerichtliche Prüfungsverfahren in Gang zu setzen, ist zweifellos der verfassungsgerichtliche, dem Individuum indirekt zugutekommende Rechtsschutz (in Ergänzung des direkten Individualrechtsschutzes seit 1920 gemäß Art. 144 B-VG und seit 1975 auch gemäß Art. 139 und 140 B-VG) beträchtlich



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erweitert worden.70 Wenn Hans Kelsen in seiner Schrift über Wesen und Wert der Demokratie die wesentliche Funktion der „in spezifischer Verfassungsform“ statuierten Grund- und Freiheitsrechte in ihrem Minoritätsschutz sieht,71 so können wir sagen, dass die Verfassung der Republik Österreich 70 Jahre seit dem Inkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes dem Auftrag, die schwächste Minderheit, den einzelnen Menschen, in seinen Grundrechten zu schützen, besser als je zuvor nachzukommen in der Lage ist. Aber auch für die Verfassung gilt: constitutio semper reformanda!

70 Zur Bedeutung der Einführung der Antragsberechtigung des OGH und des Verwaltungsgerichtshofes in der Verfassungsnovelle von 1929 für den Individualrechtsschutz vgl. einprägsam Felix Ermacora, Der Verfassungsgerichtshof, Graz–Wien–Köln 1956, 221f. Die Verbesserung des Rechtsschutzes durch Einführung der Antragsberechtigung der Gerichte zweiter Instanz 1975 betonen Robert Walter und Rudolf Thienel, Parlament und Bundesverfassung, Wien 1990, 96. 71 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. Tübingen 1929, 53–54.



9. Die Außenpolitik der österreichischen Bundesregierung gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung

Professor Gerhard Weinberg hat vor einigen Jahren geschrieben, dass eine der Voraussetzungen für das historische Verstehen des Zweiten Weltkrieges und seiner Ursprünge eine „geistige Selbstbefreiung vom sicheren Wissen seines Ausgangs“ sei – „a mental self-liberation from the certain knowledge of its outcome“1. Genau genommen verlangt Gerhard Weinberg eine Quadratur des Zirkels. Wir als Historiker können dem Wissen darum, wie es ausgegangen ist – zumindest wie es weitergegangen ist, nicht entrinnen. Wir können allerdings, ja wir müssen jene Forderung nach „mental self-liberation“ als den kategorischen Imperativ einer intellektuellen und moralischen Disziplinierung anerkennen, die dem Historiker außerordentliche Anstrengungen abverlangt – Anstrengungen, denen wir keineswegs immer gewachsen sind. Soweit Objekte historischer Analyse Vorgänge der Willensbildung, der Beeinflussung, der Entscheidungsfindung sind – und das ist in der Geschichte der Außenpolitik in hohem Maße der Fall –, obliegt es dem Historiker, im jeweiligen Kontext Vorstellbares von nicht Vorstellbarem zu unterscheiden, Vorhersehbares von nicht Vorhersehbarem, Wissbares von Unwissbarem, aber auch Wahrscheinliches von Unwahrscheinlichem, Plausibles von Unplausiblem. Die letztgenannten Unterscheidungen sind vor allem dort relevant, wo es um die Analyse von Optionen, von Alternativen geht. Dies führt zu einer ersten Frage dieses Themas: Welche Alternativen, welche Möglichkeiten, zumindest Denkmöglichkeiten, waren Gegenstand der Diskussion um Österreichs internationale Position Mitte der 30er-Jahre – jedenfalls nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland? Eine der umfassendsten zeitgenössischen Analysen von Österreichs internationaler Position stammt von Edvard Beneš, langjähriger Außenminister und von 1935 bis 1938 Staatspräsident der tschechoslowakischen Republik. In einem Ex1 Gerhard Weinberg, World in the Balance. Behind the Scenes of World War II, Hannover, New Hampshire–London 1981, xii.

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posé im Prager Parlament vom 21. März 1934 hat Beneš eine systematische, wenn auch von seiner Interessenlage kolorierte Zusammenfassung der verschiedenen Lösungsmöglichkeiten der österreichischen Frage skizziert.2 Er unterschied 1. die deutsche Lösung, 2. die italienische Lösung, 3. die „mitteleuropäische“ Lösung, wobei Beneš drei Varianten unterschied, so dass insgesamt fünf Konstellationen zur Diskussion gestellt wurden. Die drei Varianten einer „mitteleuropäischen Lösung“ waren a) der Zusammenschluss der kleineren Staaten Mitteleuropas gemeinsam mit Österreich zu irgendeiner Art mitteleuropäischer Föderation, b) die Eventualität einer wie immer gearteten österreichisch-ungarischen Vereinigung, unter Umständen verbunden mit einer „Habsburger-Lösung“ – bei den Stichworten Ungarn sowie Habsburg ist Beneš’ Analyse aus verschiedenen Gründen problematisch – und c) die völlige Unabhängigkeit Österreichs von allen seinen Nachbarn mit gewissen internationalen Garantien aller oder der Mehrheit der europäischen Großmächte und vielleicht auch einiger Nachbarn Österreichs. Insgesamt, wenn man etwas vereinfachend rekapituliert, kamen fünf Varianten zur Sprache: deutsche Lösung einschließlich des Anschlusses, italienische Lösung, Donauföderation, Habsburger-Restauration und die multilateral garantierte allseitige Unabhängigkeit Österreichs. Es ist nicht meine Absicht, hier all diese Varianten abzuhandeln; es ist allgemein bekannt, wann in der kurzen Geschichte Zwischenkriegsösterreichs die eine oder andere dieser Varianten oder auch Kombinationen dieser Varianten im Vordergrund standen; es mag die Nennung dieser fünf Varianten gewissermaßen als Raster dienen, vor dessen Hintergrund die Geschichte der Verengung des Handlungsspielraums Österreichs, der zunehmenden Isolierung Österreichs bis zum Finis Austriae von 1938 zu skizzieren ist. 2 Edvard Beneš, Das Problem Mitteleuropa und die Lösung der österreichischen Frage ... Prag 1934; gekürzt abgedruckt auch in: Michael Freund, Hg., Weltgeschichte der Gegenwart in Dokumenten 1, Essen 1936, 256–263. Es handelt sich um ein Exposé des Außenministers vor den außenpolitischen Ausschüssen des Abgeordnetenhauses und des Senats. Vgl. ferner die vorzügliche Studie von Arnold Suppan, Ostmitteleuropa am Wendepunkt. Anschluß und Anschlußfrage in Politik und öffentlicher Meinung Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns und Jugoslawiens, in: Othmar Karas, Hg., Die Lehre: Österreich, Schicksalslinien einer europäischen Demokratie, Wien 1988, 155–236, hier 187–188.



9. Die Außenpolitik der österreichischen Bundesregierung ...

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Der folgenschwerste Wendepunkt in der Geschichte von Österreichs Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit war zweifellos ein Ereignis außerhalb von Österreichs Grenzen: Hitlers Machtergreifung in Deutschland. Die Machtergreifung in Deutschland bewirkte einen Bruch in jenem traditionellen Nahverhältnis zum Deutschland der Weimarer Republik, zu dem sich alle drei politischen Lager der Republik, wenn auch in zeitlich und von Lager zu Lager variierender Intensität bekannt hatten.3 Die österreichische Sozialdemokratie strich bekanntlich 1933 den Anschlussparagraphen aus ihrem Programm. Die Christlichsozialen suchten in nachweisbarer panischer Angst vor der Sogkraft des Nationalsozialismus und in einem wohl allzu engen gruppenpolitischen Selbsterhaltungstrieb verstärkt Schutz in der Vermeidung von Neuwahlen durch Ausschaltung des Parlaments und in der Anlehnung an das Italien Mussolinis; sie wurden in dieser Tendenz wesentlich durch die mit ihnen verbündete Heimwehrbewegung bestärkt. Ich möchte anmerken, dass ich der Interpretation des ungarischen Historikers Lajos Kerekes zustimme, der in seinem Buch „Abenddämmerung der Demokratie“ den Ergebnissen der deutschen Wahlen vom 5. März 1933 und der Reaktion der österreichischen Nationalsozialisten auf Hitlers Erfolge in Deutschland einen bedeutenden Stellenwert für Dollfuß’ Entscheidung zur endgültigen Ausschaltung der Volksvertretung beimisst.4 Die letzten 3 Es wäre unrichtig, dieses Nahverhältnis zur Weimarer Republik nur dem deutschnationalen oder dem sozialdemokratischen Lager zuzurechnen. Von großem Interesse ist eine von Ignaz Seipel approbierte offizielle Schrift von Norbert Bischoff, „Österreichische Außenpolitik 1918– 1928“, in der es heißt: „In engster Fühlung mit dem Deutschen Reich [im Original gesperrt] wünscht Österreich unter Ablehnung aller machtpolitischen Ziele und unter Ablehnung aller einseitigen Gruppierungen ... mitzuarbeiten an der moralischen und wirtschaftlichen Wiederaufrichtung Europas ...“ Veröffentlicht in dem Sammelband: 10 Jahre Wiederaufbau. Die staatliche, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Republik Österreich 1918 bis 1928, hg. unter der Leitung eines Interministeriellen Komitees unter Vorsitz von Wilhelm Exner, Wien 1928, hier 34. Signifikant auch die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Johann Schober vom September 1929, in der es hieß, Österreichs Politik sei eine Politik der Freundschaft mit allen Staaten und besonders seinen Nachbarn, sie sei eine Politik der Neutralität („Wir treten keiner Staatengruppe bei und richten unsere Politik gegen niemanden.“), und sie sei eine friedliche. Diesen drei Punkten setzte Schober unmittelbar hinzu: „Wir wissen uns in dieser Politik eins mit dem Deutschen Reiche, dem wir in guten wie in bösen Tagen brüderliche Treue halten wollen.“ Sten. Protokolle des Nationalrats der Republik Österreich, 3. Gesetzgebungsperiode, 27. September 1929, 2792. Vgl. zu diesen Fragen ausführlich den Exkurs über die Zwischenkriegszeit, nunmehr in: Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955, Wien/Köln/Graz 52005, 241–252, hier 250. 4 Lajos Kerekes, Abenddämmerung einer Demokratie. Mussolini, Gömbös und die Heimwehr, Wien–Frankfurt–Zürich 1966, 133, verweist u. a. auf den offenen Brief des NSDAP-Landes-

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freien Wahlen in Österreich waren die Gemeinderatswahlen in der Stadt Innsbruck im April 1933; ihre Ergebnisse sind wenig bekannt. In Innsbruck wurde jeweils alle zwei Jahre die Hälfte des Gemeinderates neu gewählt. Im Vergleich zu 1931 sanken die Sozialdemokraten von 38,48 % auf 27,29 % der Stimmen, die Christlichsozialen von 31,58 % auf 25,81 %, die Großdeutsche Volkspartei gar von 16,18 % auf nur 2,28 %, die Nationalsozialisten stiegen hingegen von 3,82 % auf 41,21 %! Sie erreichten daher in Innsbruck, sechs Wochen nach den deutschen Wahlen vom 5. März 1933, nur knapp weniger als die ominösen 43,9 % der Wahlen in Deutschland. Hitler selbst pochte immer wieder während des Jahres 1933 auf Neuwahlen in Österreich.5 Mit ihrer Terrorkampagne in Österreich im Frühjahr 1933 – wie auch 1934 – unterschätzten die Nationalsozialisten allerdings die Resistenzfähigkeit des Regimes. leiters Alfred Proksch an Dollfuß vom 6. März 1933, der die unverzügliche Ausschreibung von Neuwahlen zum Nationalrat forderte. Vgl. auch Anm. 5 zu Hitlers eigenem Drängen auf Neuwahlen in Österreich. 5 Zu den Gemeinderatswahlen in Innsbruck (und anderen Orten) vom 23. April 1933 und deren Folgen siehe Bruce F. Pauley, Der Weg in den Nationalsozialismus. Ursprünge und Entwicklung in Österreich, Wien 1988, 92; Details zu den Innsbrucker Wahlen in: Wiener Zeitung, Nr. 96 v. 25. April 1933, 5; ferner Franz-Heinz Hye, Die politischen Kräfte in Innsbruck von 1918 bis 1938, in: Thomas Albrich – Klaus Eisterer – Rolf Steininger (Hgg.), Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen 1918–1938, Innsbruck 1988, 151. Die Gemeinderatswahlen vom April 1933, denen am 10. Mai ein Verbot der Ausschreibung von Neuwahlen für Landtage, Gemeinderäte und andere politische Vertretungskörper zunächst bis Ende Oktober des Jahres folgte, werden merkwürdigerweise völlig übergangen in dem Abschnitt „Die Angst vor Neuwahlen“ in dem wichtigen Buch von Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich, Wien 1975, 194–197. – Zu Hitlers wiederholtem Pochen auf Neuwahlen in Österreich siehe u. a.: Lajos Kerekes, Neuer Aktenfund zu den Beziehungen zwischen Hitler und Dollfuß im Jahre 1933, in: Acta historica academiae scientiarum hungaricae 18, 1972, 153 (Papen über Hitler zum österr. Presseattaché Wasserböck, Februar 1933); ders., Österreichs internationale Lage und die Ereignisse vom 12. Februar 1934, in: Erich Fröschl – Helge Zoitl (Hgg.), Februar 1934 – Ursachen, Fakten, Folgen, Wien 1984, 397 (Hitler zum italien. Botschafter Cerutti, März 1933); Jens Petersen, Hitler - Mussolini. Die Entstehung der Achse Rom – Berlin 1933–1936, Tübingen 1973, 214 (Hitler zum ungar. Minis­ terpräsidenten Gömbös, Juni 1933); ebenda 289 (Hitler zum italien. Unterstaatssekretär Suvich, Dezember 1933); im Gespräch mit Suvich forderte Hitler „die Wiederherstellung der Konstitution“ in Österreich – ein „wahrhaft verwegener Gesprächsgegenstand zwischen den Vertretern zweier totalitärer Systeme“, wie Petersen kommentiert (ebenda). – Von Interesse ist Otto Bauers retrospektive Selbstkritik seiner eigenen Politik 1932/33, Neuwahlen und damit den Einzug der Nationalsozialisten ins Parlament befürwortet zu haben sowie auch im März 1933 nicht bedacht zu haben, welch „unmittelbaren Einfluß die Umwälzung in Deutschland auf Österreich üben könnte“. Otto Bauer, Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. Seine Ursachen und seine Wirkungen, Prag 1934, Wiederabdruck in: Otto Bauer, Werkausgabe 3, Wien 1976, 988.



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Die 1933 eingetretene Veränderung der Einstellung von zweien der drei Lager der österreichischen Politik zu Deutschland – während sich gleichzeitig das deutschnationale Lager radikalisierte – erlaubt es meines Erachtens nicht, eine bruchlose Linie der Anschlussfreundlichkeit vorauszusetzen, wie dies Klaus Hildebrand in seiner bekannten Studie über die deutsche Außenpolitik von 1933 bis 1945, über die Ereignisse von 1938 schreibend, getan hat: „Denn in Wien hatte man seit dem Beschluß der Nationalversammlung im Jahre 1919 den Gedanken nie aufgegeben, das aus der ehemaligen k. u. k. Monarchie als selbständiger Staat hervorgegangene ‚Deutsch-Österreich‘ dem Reich anzuschließen.6“ Hitlers Machtergreifung in Deutschland bewirkte in Österreich sehr verschiedenartige Reaktionen auf Österreichs veränderte – und gefährdete – außenpolitische Position. Zwei dieser Reaktionen – beide in Kontrast zu dem von der Regierung Dollfuß tatsächlich eingeschlagenen Kurs – seien genannt. Die Sozialdemokratie zog außenpolitische Konsequenzen aus der Machtergreifung, indem sie – unter maßgeblicher Initiative Otto Bauers, aber auch mit publizistischer Unterstützung Karl Renners, die Neutralisierung Österreichs forderte.7 Die Neu­ tralisierung Österreichs bedeutete eigentlich eine Weiterentwicklung der fünften vorhin genannten Variante von Lösungsmöglichkeiten der österreichischen Frage – die multilateral garantierte allseitige Unabhängigkeit Österreichs. Es war ja jene Variante, die den vertraglichen Verpflichtungen Österreichs und der Siegermächte, wie sie vom Vertrag von Saint-Germain ausgehend in den Genfer Protokollen von 1922 und dem Lausanner Protokoll von 1932 niedergelegt waren, am ehesten entsprach. Die Neutralisierung Österreichs hätte eine Verstärkung dieser Option bedeutet, aber eben auch eine Verstärkung der Verpflichtungen der Garantiestaaten. Sympathien in Prag findend, wo Beneš selbst verschiedentlich diese Idee lanciert hatte – und auch in Paris, stieß sie auf Ablehnung nicht nur in Berlin und Rom, sondern auch in London. Zu Otto Bauers Vorschlägen äußerte sich das Londoner Foreign Office, zusätzlichen Engagements ablehnend gegenüberstehend, negativ. Ich zitiere aus einer Stellungnahme vom März 1933: „The Czechs are known to favour the neutralisation of Austria because it would scotch the Anschluß. Doubt­ less Dr. Bauer is in favour of the idea, because being a Socialist he doesn’t like 6 Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1933–1945. Kalkül oder Dogma?, Stuttgart 1971, 65. 7 Hierzu siehe Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 244; ferner Otto Bauers Rede auf dem Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie im Oktober 1933, veröffentlicht in: Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 3, 1963, 45–68; weiters eine nicht im Buchhandel vertriebene Broschüre von Karl Renner, Die Wirtschaftsprobleme des Donauraums und die Sozialdemokratie, Wien 1933, bes. 33 und 35.

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Hitler. The suggestion of neutralisation could only prove another apple of discord – at a most unfortunate moment for Europe – ... and we need hardly consider the idea again.8“ Der überzeugendste Einwand gegen die Alternative einer Neutralisierung Österreichs nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland ist von einem Österreicher formuliert worden, Guido Zernatto, allerdings 1938 schon nach dem Ende Österreichs. „Es gab und gibt nur eine beschränkte Anzahl von Möglichkeiten, die für den österreichischen Staat erwogen werden konnten“, hat Zernatto im Exil geschrieben: „Den Anschluß an das Reich, die Schaffung einer Donaukonföderation, die Restauration der alten Monarchie, wenn auch in veränderter Form, und die Verschweizerung ... Die ,Verschweizerung‘ wäre nur durch die kollektive Garantie der Unabhängigkeit des Landes möglich gewesen, eine Garantie, die Deutschland vorbehaltlos hätte mitübernehmen müssen.9“ Damit hat Zernatto die entscheidende Schwäche von Otto Bauers Neutralitätsinitiativen von 1933 aufgezeigt: Ohne Garantie seitens Deutschlands ermangelte das Konzept eines neutralisierten Österreich der wichtigsten Voraussetzung seiner Durchsetzbarkeit. Wie unrealistisch damals der Neutralisierungsgedanke mit dem von sozialistischer Seite mehrfach erwähnten Schweizer Vorbild war, lässt sich aus Äußerungen Adolf Hitlers im Mai 1933 erkennen. In einer Sitzung der Reichsregierung warf Hitler der Regierung Dollfuß vor, es sei ihr Ziel, „den deutschen Nationalgedanken aus Österreich auszutreiben und an seine Stelle den österreichischen Gedanken zu setzen“. Die Gefahr sei groß, „daß Deutschland dadurch endgültig sechs Millionen Menschen verliert, die einem Verschweizerungsprozeß entgegengehen“10. Von großer intellektueller Originalität, wenngleich bar jeder Wahrscheinlichkeit der Durchsetzung, ist das außenpolitische Konzept, das Ernst Karl Winter in einem Brief an Benito Mussolini mit Datum Zürich, 4. Mai 1933, formuliert hat. Winter war bekanntlich Katholik und Monarchist mit dem brennenden Wunsch nach Versöhnung mit der Arbeiterschaft, mit Dollfuß befreundet, doch politisch voll der Kritik an ihm. Winter, vom damals starken Interesse Mussolinis für Österreich ausgehend, plädierte in dem genannten Brief für ein Zusammengehen der „Rechten“ und der „Linken“ in Österreich unter der Ägide von Mussolinis Italien 8 Aktenvermerk von R. M. A. Hankey, Gesch.-Zl. C25/95/420/3 vom 21. März 1933, Public Record Office, Kew, Surrey, Bestand F.O. 371/16636. 9 Guido Zernatto, Die Wahrheit über Österreich, London-Toronto 1938, 50. 10 Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945 (weiter Zit. als ADAP) Serie C, 1/2, Göttingen 1971, 483 (26. Mai 1933). Vgl. auch Gottfried-Karl Kindermann, Hitlers Niederlage in Österreich, Hamburg 1984, 37.



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in einem gemeinsamen Kampf gegen Hitler. „Sie, Exzellenz“, so wandte sich Winter an Mussolini, „stehen ... vor einer eigentümlichen politischen Alternative, um nicht zu sagen, vor einem Dilemma. Sie müssen sich wohl entscheiden, was Sie lieber von Österreich wollen: den Nicht-Anschluß oder den Faschismus. Beides zugleich kann man nicht wollen. Denn der Nicht-Anschluß setzt die Existenz des Föderalismus, der Demokratie und sogar des Sozialismus in Österreich voraus .... Sie werden also, Exzellenz, sich entscheiden müssen: Das Hakenkreuz am Brenner oder aber die Demokratie in Österreich.“ Winter war sich des paradoxalen Charakters seines Ansinnens an Mussolini bewusst: „Sie haben, Exzellenz, in Italien die Linke aus den Angeln gehoben. Nun zeigt es sich, daß Ihr außenpolitisches Konzept in keiner Weise dieses italienische Rezept auch jenseits der Alpen wiederholen muß. Sie wiesen selbst darauf hin, daß der Faschismus kein Exportartikel sei. Es ist Ihr eigenes Interesse, diesen Anspruch am nunmehrigen Falle Österreich zu bewähren ...“ Es ergebe sich das Paradoxon, dass sogar der (italienische) Faschismus der österreichischen Linken als einer Verlängerung der österreichischen Front, der Nicht-Anschluss-Front, bedürfe. Dies sei auch der Grund, so Winter weiter an Mussolini, „warum auch Sie, der Sie die Linke in Italien vernichtend geschlagen haben, kein Interesse haben, dies in der gleichen Weise auch außerhalb Italiens zu tun“. Winter veröffentlichte diesen Brief im Dezember 1933 in seinen „Wiener Politischen Blättern“, die sogleich konfisziert wurden. Es ist nicht bekannt, ob der Brief Mussolini erreicht hat.11 Die Weichenstellungen von 1933 waren nicht jene, für die Winter plädierte. Der deutsche Historiker Jens Petersen, dem wir den Hinweis auf Winters Brief an Mussolini verdanken, hat bemerkt, dass nach Mussolinis Ansicht die einzig erfolgversprechende Methode, die Situation in Österreich gegen die Dynamik des Nationalsozialismus zu stabilisieren, der Versuch wäre, dem Konkurrenten die Waffe des Antimarxismus zu entwinden.12 Derartige Überlegungen sind in Österreich am drastischsten von dem der Heimwehr zugehörigen Abgeordneten und zeitweiligen Regierungsmitglied Odo Neustädter-Stürmer ausgesprochen worden, der im März 1933 meinte: „Wir können den Nationalsozialismus in Österreich schlagen, indem wir ihn ,überhitlern‘.“13 11 Jens Petersen, Konflikt oder Koalition zwischen Christlich-Sozialen und Sozialdemokraten 1933/34?, in: Österreich in Geschichte und Literatur 16, 1972, 431–435, hier 433–434. 12 Ebenda, 432; vgl. auch Petersen, Hitler – Mussolini 188–190. 13 Walter Goldinger, Hg., Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei 1932–1934, Wien 1980, 204 (Mehrheitsparteienbesprechung am 25. März 1933). Kurt Schuschnigg hat Neustädter-Stürmer (in anderem Zusammenhang) „rein faschistisches Denken“ attestiert. Kurt Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler, Wien–München–Zürich 1969, 169.

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Es ist nicht meine Aufgabe, den „italienischen Kurs“ der Regierung Dollfuß, anfänglich fortgeführt von der Regierung Schuschnigg, zu behandeln. Der italienische Kurs, innenpolitisch teuer erkauft, kam der Unabhängigkeit Österreichs so lange zugute, als das Einvernehmen der drei westlichen Siegermächte – Italiens, Frankreichs und Englands, vor allem Italiens und Frankreichs – in Bezug auf Österreich aktiviert oder reaktiviert werden konnte. Dies war im Jänner/Februar 1934, neuerlich nach der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß im Sommer und Herbst 1934, in den sogenannten Donaupaktgesprächen im Winter 1934/35 (die allerdings ergebnislos verliefen) und nochmals in Stresa im April 1935 der Fall.14 Doch hat vielleicht nicht zu Unrecht Friedrich Funder im Rückblick den Oktober 1935 als die Schicksalswende für Österreich bezeichnet, den Beginn des Abessinienkrieges.15 Die westlichen Versuche, auf Kosten Abessiniens Italiens Schutzfunktion für Österreich zu retten – die Absprachen Laval/Mussolini und vor allem Laval/Hoare schlugen fehl. Die Alternative „Abessinien oder Österreich“ ist ganz direkt von Sir Robert Vansittart artikuliert worden, dem entschiedensten Befürworter einer aus antideutschen Befürchtungen gespeisten Politik der Akkomodation gegenüber Italien. „My real trouble was that we should all have to choose between Austria and Abyssinia“, hat Vansittart geschrieben und hinzugefügt: „I 14 Zur Motivation von Dollfuß’ „italienischem Kurs“ ist dessen Äußerung, dass Österreich dank Italien außen- und innenpolitisch „rückenfrei“ sei, charakteristisch. Goldinger, Protokolle 230, 231, 239 (20. April 1933 im Vorstand des christlich-sozialen Parlamentsklubs). Die innenpolitische Aporie der Position Dollfuß’ erhellt aus seiner Äußerung vom 12. Januar 1934 (!): „Ich meine nach wie vor, daß die Sozi interessiert sind, daß das Dritte Reich sich nicht auf Österreich ausdehnt, daß sie als Österreicher die Pflicht haben, den Staat vor der Vernichtung zu verhindern [sic]. Aber wenn heute in einer Form mit den Sozi ein Kompromiß gemacht würde, ist es der beste Nährboden für NS. Wir haben die Bekämpfung des Marxismus durch die ganzen Jahre unsern Leuten eingehämmert, Packeleien würden in der Bevölkerung nur Mißtrauen erwecken“ (ebenda 325). Dazu kam, dass Dollfuß von Gesprächen im Vatikan und mit Papst Pius XI. (April 1933) den Eindruck mitbrachte, Angelpunkt der Politik sei der Bolschewismus und: „Alles, was angrenzt, Marxisten der verschiedenen Bewegungen, sind das Übel“ (ebenda 233). – Zur Donaupaktfrage vgl. Mária Ormos, Ein internationaler Versuch zur Rettung der Unabhängigkeit Österreichs. Der Donaupakt von 1934–1935. In: Gerald Stourzh u. Birgitta Zaar, Hgg., Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses“ von 1938, Wien 1990, 131–142. Die Texte der gemeinsamen italienisch-französisch-englischen Erklärungen zur Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit Österreichs vom 17. Februar 1934, 27. Februar 1934 und 13. April 1935 sind gut zugänglich in: Gerechtigkeit für Österreich. Rot-Weiß-Rotbuch, 1. Teil, Wien 1946, 52–53. 15 Der Hochverratsprozeß gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgericht, Wien 1947, 208 (Zeugenaussage Friedrich Funder).



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was already resigned to choosing Austria, not for old acquaintance but because it was the first point of Hitler’s expansion which, once permitted, would be boundless16.“ Es war die Idee der antideutschen Richtung der britischen Diplomatie, den kleineren Diktator zu beschwichtigen, um dem größeren Diktator um so entschiedener entgegentreten zu können. Mit dem Platzen des Hoare-Laval-Plans im Dezember 1935 wurde diese Politik desavouiert; die Linie der britischen Akkommodation gegenüber dem Deutschen Reich, schon im März 1935 sichtbar in Sir John Simons bekannter Äußerung gegenüber Hitler, England habe an Österreich nicht das gleiche Interesse wie z. B. an Belgien, und viel stärker noch im Flottenabkommen vom Juni 1935, konnte neuerlich an Raum gewinnen.17 Nur Wochen nach dem Scheitern der Vansittart-Hoare-Laval-Politik im Jänner 1936, sagte Mussolini dem deutschen Botschafter von Hassell, dass er nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn Österreich als „formell unbedingt selbständiger Staat praktisch ein Satellit Deutschlands würde“18. Zwischen Jänner und Juli 1936 wurden die Grundlagen für den letzten größeren Abschnitt von Österreichs Außenpolitik vor dem mit Berchtesgaden einsetzenden Finis Austriae gelegt, jenen Abschnitt, der vom Abkommen des 11. Juli 1936 zwischen Österreich und Deutschland beherrscht wird. Der Abbau der italienischen Schutzfunktion, von Mussolini dem deutschen Botschafter am 22. Februar 1936 bestätigt,19 zeigte sich in der 1936 einsetzenden Abwertung der Dreierkonstellation Rom-Budapest-Wien, der Dreierkonstellation der sog. Römischen Protokolle. Indem Mussolini den Wert einer sich steigernden italienisch-ungarischen Zusammenarbeit betonte, die ja auch im Interesse der 16 Lord (Robert) Vansittart, The Mist Procession, London 1958, 522. Zu der prononciert proösterreichischen und vor allem 1933/34 effektiven Linie Vansittarts als leitender Beamter des Foreign Office siehe die ausführlichen und überzeugenden Darlegungen in dem neuen Buch von Siegfried Beer, Der „unmoralische“ Anschluß. Britische Österreichpolitik zwischen Containment und Appeasement 1931–1934, Wien–Köln–Graz 1988, bes. 213–274; zu dem wichtigen Österreich-Memorandum Vansittarts vom 28. August 1933 ebenda 236–239. 17 Zu den Tendenzen, Österreich fallen zu lassen oder verloren zu geben, innerhalb der britischen Diplomatie, vor allem mit dem Namen von Edward H. Carr (dem nachmals bekannten Historiker) verbunden, siehe ebenfalls Beer, Anschluß, insbes. 260–274, 334–338 (Carrs ÖsterreichMemorandum vom 26. Februar 1934), sowie die Entwicklung der britischen Österreich-Politik bis 1938 anhand wenig bekannter Quellen zusammenfassend, 401–408. Zur Äußerung Sir John Simons zu Hitler am 25. März 1935 siehe ADAP, Serie C, 3/2, Göttingen 1973, 1037. 18 Veröffentlicht in: Esmonde Robertson, Zur Wiederbesetzung des Rheinlands 1936, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 10, 1962, 178–205, hier 189, Telegramm des Botschafters von Hassell an das Ausw. Amt, 6. Januar 1936. 19 Ebenda, 199 (Politischer Bericht von Hassells, 22. Februar 1936).

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deutsch-österreichischen Verständigung liege, ließ er erkennen, wie hinter dem verblassenden System der Verbindung Rom-Budapest-Wien die Konturen der aufsteigenden Verbindung Rom-Budapest-Berlin sichtbar wurden – eben jene Allianz Hitler-Horthy-Mussolini, die von Kerekes dokumentiert worden ist.20 Bundeskanzler Kurt Schuschnigg hat versucht, die drohende Bilateralisierung des österreichisch-deutschen Verhältnisses hintanzuhalten.21 Bei der für Österreich schon unter einem ungünstigen Stern stehenden Konferenz der Römer-Protokoll-Staaten in Rom im März 1936 meinte Schuschnigg, ein bilaterales Übereinkommen Wien/Berlin halte er „nicht für möglich, weil er es für ausgeschlossen halte, daß Österreich, allein auf seine eigene Kraft gestützt, mit Deutschland zu einer befriedigenden Abmachung kommen könnte“. 22 Österreich werde nie eine deutschfeindliche Außenpolitik führen und an eventuellen Sanktionen gegen Deutschland im Zusammenhang mit der Besetzung des Rheinlandes – die 14 Tage vor der Römer-Protokoll-Konferenz erfolgt war – werde es sich nicht beteiligen. Der Bundeskanzler bemerkte weiter: „Die deutschösterreichische Aussöhnung könne sich nach seiner Ansicht also nur dann eines Erfolgs schmeicheln, wenn sie auf multilateralen Verträgen basiere.“23 Dreieinhalb Monate später erfolgte die Akkommodation mit Deutschland auf bilateraler Basis. Schuschnigg selbst hat wohl zutreffend die zum Juliabkommen führende außenpolitische Isolierung Österreichs gekennzeichnet, „die sich aus der veränderten Rangordnung der italienischen Großmachtinteressen, der lauwarmen ungarischen Unterstützung – dies ist schon fast ein Euphemismus –, dem lediglich platonischen Interesse Englands und der dadurch verursachten Lähmung Frankreichs sowie der Tatsache ergab, daß der Genfer Völkerbund praktisch nicht mehr ins Gewicht fiel“24. Auf dem Weg zum Juliabkommen ist ein innen- wie außenpolitisch relevanter Vorgang zu verzeichnen, die Ausschaltung des von Mussolini fallen gelassenen Fürsten Starhemberg, dessen ohne Wissen Schuschniggs, jedoch mit Wissen des Außenministers Berger-Waldenegg veröf20 Lajos Kerekes, Allianz Hitler-Horthy-Mussolini. Dokumente zur ungarischen Außenpolitik (1933–1944), Budapest 1966, bes. 21–22 (Einleitung). 21 Dazu diente Schuschniggs Prager Besuch am 16. und 17. Jänner 1936, der sogleich zu heftigen Widerständen von ungarischer wie italienischer Seite führte. Zu Schuschniggs Befürwortung eines multilateralen Abkommens zwischen den mitteleuropäischen Mächten vgl. Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler 184. 22 Kerekes, Allianz 124 (ungar. Tagesbericht über die Verhandlungen vom 21. März zwischen Mussolini, Schuschnigg, Berger-Waldenegg, Gömbös und Kanya). 23 Ebenda 125. 24 Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler 185.



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fentlichtes Glückwunschtelegramm an Mussolini zur Eroberung von Addis Abeba zu den problematischsten Denunziationen dieser Jahre zählt. Ich zitiere: „Im Bewußtsein faschistischer Verbundenheit mit dem Schicksal des faschistischen Italien innigsten Anteil nehmend, beglückwünsche ich im Namen der für den faschistischen Gedanken Kämpfenden und im eigenen Namen Eure Exzellenz von ganzem Herzen zu dem ruhmvollen, herrlichen Sieg der italienischen Waffen über die Barbarei, zu dem Sieg des faschistischen Geistes über demokratische Unehrlichkeit und Heuchelei und zum Sieg der faschistischen Opferfreude und disziplinierten Entschlossenheit über demagogische Verlogenheit. Es lebe der zielbewußte Führer des siegreichen faschistischen Italien, es lebe der Sieg des faschistischen Gedankens in der Welt.“25 Dieses Telegramm hat negative Reaktionen der französischen und britischen Diplomatie ausgelöst.26 Es bot den Anlass für die Entfernung Starhembergs, aber auch des Außenministers Berger-Waldenegg aus der Regierung. In Parenthese sei bemerkt, dass schon zu Beginn des Abessinienkrieges der österreichische Vertreter beim Völkerbund, Gesandter Emmerich Pflügl, eine von Friedrich Funder damals bereits kritisierte Erklärung abgab, die, wie Funder es später formulierte, „eine lyrische Versicherung unserer Treue zu Mussolini-Italien enthielt“; die Schweiz argumentierte weit nüchterner; aus England wie auch aus Holland gab es kritische Stimmen.27 Zum Juli-Abkommen selbst: Ist das Abkommen vom 11. Juli 1936 ein „pactum leoninum“ gewesen, der einen Seite allen Gewinn, der anderen nur Verlust

25 Telegramm v. 13. Mai 1936, zit. ebenda 176. Materialien zu diesem Telegramm einschließlich eines Berichts des Direktors der amtlichen Nachrichtenstelle an den Bundeskanzler über die Modalitäten der Absendung und Veröffentlichung, in: Bundesarchiv Koblenz, Nachlass SeyssInquart, Bd. 5. 26 Vgl. Sir Walford Selby, Diplomatic Twilight, London 1953, 62–63. 27 Hochverratsprozeß Guido Schmidt 208 (Zeugenaussage Funder); zur britischen Reaktion vgl. Selby, Twilight 51. Kommentare sowohl zur Genfer Erklärung Pflügls wie zum StarhembergTelegramm und den Konsequenzen von dessen Ausbootung finden sich in einem interessanten Bericht des französischen Gesandten in Wien, Gabriel Puaux, vom 25. Mai 1936, in: Documents diplomatiques français 1932–1939, 2. Serie, 2, Paris 1964, 372–375. Pflügls Erklärung stellte stark auf Österreichs „Dankesschuld“ für Mussolinis Verhalten im Juli 1934 ab; der ganz dem proitalienischen (allerdings auch antideutschen) Kurs zugetane Außenminister BergerWaldenegg stellte im Ministerrat einmal sogar einen eventuellen Austritt Österreichs aus dem Völkerbund zur Erwägung (Ministerratsprotokoll Nr. 1008 v. 18. September 1935); vgl. Peter Streitle, Die Rolle Kurt von Schuschniggs im Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus, 1934–1936, München 1988, 368–369.

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bringend?28 Ich glaube, nicht ganz, wenngleich die Sollseite für Österreich, wie es eben einem unvergleichlich schwächeren, am kürzeren Hebelarm sitzenden Vertragschließenden entsprach, viel länger war als die Habenseite: Auf der Habenseite war, abgesehen von der materiellen Frage der Beseitigung der Tausendmarksperre, zweierlei zu nennen: Einmal die formelle Anerkennung der Souveränität und der Nichteinmischung. Die Gefahr oder sogar Vermutung der Vertragsunterlaufung oder des Vertragsbruchs konnte so lange kein Grund zum Nichtabschluss sein, solange keine plausible Alternative in Sicht war, solange der gemeinsame Druck Berlins und Roms auf Vertragsabschluss anhielt und von dritter Seite keinerlei Abhilfe kam; es ist ja das Abkommen von einem seiner durchdringendsten Historiker eigentlich als ein Pakt zwischen Rom und Berlin bezeichnet worden.29 Zweitens schien das Abkommen Zeitgewinn zu bringen, wie einer seiner glaubwürdigsten Verteidiger, Theodor Hornbostel, der aus seiner antideutschen Skepsis nie ein Hehl gemacht hatte, immer wieder betonte. Erich Bielka hat in seiner Arbeit über Hornbostel erwähnt, dass für Hornbostel das 28 Zur Vorgeschichte des Juliabkommens liegen seit Kurzem ergänzende neue Forschungsergebnisse vor in der vorzüglichen Münchner Dissertation von Franz Müller, Franz von Papen als Sondergesandter Hitlers in Wien und die deutsch-österreichischen Beziehungen 1934–1938, Diss. München 1987, bes. 126 f., 141, 150 f., 159 f., 165 f. Vor allem macht Müller die Verzahnung zwischenstaatlicher und innenpolitischer Vorgänge deutlich, da Schuschnigg bereit war, im Zuge seiner Politik der Zurückdrängung des Einflusses der Heimwehr „zur Stützung seiner eigenen Position eine von ihm kontrollierte Einmischung des Deutschen Reiches in inner­ österreichische Angelegenheiten zuzulassen“ (ebenda 159); es handelte sich um die deutsche Subventionierung des von Schuschnigg in der Auseinandersetzung mit der Heimwehr eingesetzten Freiheitsbundes. Eine gute Zusammenfassung dieser Arbeit in der Abhandlung von Franz Müller, Franz von Papen und die deutsche Österreichpolitik in den Jahren 1934 bis 1938, in: Albrich – Eisterer – Steininger, Hgg., Tirol und der Anschluß (wie Anm. 5), 357–383. – Der Text des Abkommens vom 11. Juli 1936 („Gentlemen-Agreement“ sowie Deutsch-Österreichisches Kommunique) in: ADAP, Serie D, 1, Baden-Baden 1950, 231–234. 29 Jürgen Gehl, Austria, Germany and the Anschluß 1931–1938, London 1963, 133. Den Faktor der sich wandelnden italienischen (und auch der deutschfreundlichen ungarischen) Haltung betont auch Norbert Schausberger, Der Griff nach Österreich (2Wien 1979) 349; dagegen wendet sich unter Betonung innerösterreichischer Antriebskräfte Müller, Papen als Sondergesandter 362. Die sehr deutliche Unterstützung der Position Schuschniggs durch Mussolini trotz der Tatsache, dass Schuschnigg Starhembergs profaschistisches Glückwunschtelegramm an Mussolini als Anlass zur Entmachtung Starhembergs benützt hatte, ist ein Indiz für Mussolinis seit Jänner 1936 eingeleitete Begünstigung einer Akkommodation Österreich – Deutschland. Ausführlicher italienischer Aktenvermerk („appunto“) über Mussolinis Beurteilung der neuen Situation nach Starhembergs Sturz (dat. 15. Mai 1936) in: Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Seyss-Inquart, Bd. 5.



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Abkommen den „Beginn des Abrutschens“ bedeutete. Trotzdem schien es Hornbostel als der einzige Weg für eine Rechtsbasis gegen Deutschland.30 Auf der längeren Sollseite des Abkommens stand, bis 1938, Gravierendes: Ich nenne drei Punkte: Erstens die problematische Heranziehung der sogenannten „nationalen Opposition“ zur „Mitwirkung an der politischen Verantwortung“, zur „Beteiligung an der politischen Willensbildung“.31 Hier war der Ansatzpunkt für das Einschießen von Kräften gegeben, die unter Kontrolle zu halten sich der Bundeskanzler zutraute, deren schließlich unkontrollierbare Dynamik und Illoyalität von einer Eigenschaft Schuschniggs profitierte, die ja mehrfach hervorgehoben wird: eine mit anderen Aspekten seines Persönlichkeitsbildes nicht ohne Weiteres zu vereinbarende Vertrauensseligkeit, eine „gullibility“, wie Professor Low es einmal genannt hat.32 In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass Schuschnigg im Zuge einer 1955 und 1956 mit mir geführten, noch nicht veröffentlichten zeitgeschichtlichen Korrespondenz es als seinen kardinalen Irrtum bezeichnet hat, bis zuletzt nicht an die Möglichkeit geglaubt zu haben, dass Hitler die Deutschen in einen großen Krieg führen würde.33 Als zweiter Punkt auf der Sollseite ist, wie bereits erwähnt, die Bilateralisierung des deutsch-österreichischen Verhältnisses zu nennen. Schon unmittelbar nach Abschluss des Abkommens hat Hornbostel als eines der Motive der Berliner Machthaber die „Beseitigung der ,Gefahr‘ kollektiver Sicherheitspakte in Mitteleuropa“ angeführt.34 Bilateralisierung ist ein klassisches Instrument des Starken 30 Zu Hornbostel siehe insbes.: Erich Bielka, Theodor (von) Hornbostel, in: Neue österreichische Biographie. Große Österreicher 21 (Wien 1982) 37–46, hier bes. 43; Aussage Hornbostel in: Hochverratsprozeß Guido Schmidt, bes. 168; hier ist zu bedenken, dass Hornbostel nach dem Zweiten Weltkrieg den Guido-Schmidt-Prozess mit Skepsis betrachtete, wofür es Nachweise gibt; doch gibt es bezüglich des Juli-Abkommens auch entsprechende zeitgenössische Äußerungen: Ende Juli 1936 bezeichnete Hornbostel im Gespräch mit einem ungarischen Diplomaten das Juliabkommen als unter den gegebenen Umständen „notwendiges Übel“ und bemerkte, er sei überzeugt, dass die Deutschen trotz des Abkommens danach streben würden, die Österreicher „mit der Zeit zu verschlucken“. Brief Wodianer (ungar. Geschäftsträger in Madrid) an den ständigen Stellvertreter des Außenministers Gábor Apor vom 28. Juli 1936, in: Kerekes, Allianz 128. 31 Worte in Anführungszeichen aus Punkt IX b des „Gentlemen Agreement“ vom 11. Juli 1936. 32 Alfred D. Low, The Anschluss Movement 1931–1938 and the Great Powers, Boulder, Colorado– New York 1985, 190. Auf den Materialreichtum dieses Buches ist nachdrücklich zu verweisen. 33 Brief Schuschniggs an den Verf., 17. April 1956: „Mein kardinaler Irrtum war, daß ich bis zum letzten Moment an die außenpolitische Möglichkeit einer Deutschen [sic] Intervention ebenso wenig glaubte, wie an Hitler’s Möglichkeit[,] die Deutschen in einen großen Krieg zu führen.“ 34 Aktenvermerk Hornbostels vom 12. Juli 1936, veröffentlicht in: Hochverratsprozess Guido Schmidt 474–475, hier 475.

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gegenüber dem Schwachen. Die Österreicher konnten damals immerhin auf das deutsch-polnische Verständigungsabkommen vom Jänner 1934 verweisen, hinter dem sich die polnische Führung – nach dem Tod Marschall Pilsudskis als neuer starker Mann Außenminister Beck – in Sicherheit zu wiegen glaubte.35 In Prag sprach man damals von einem Block Deutschland-Polen-Österreich!36 Als dritter Punkt ist die Verankerung des Prinzips, dass Österreich sich als deutscher Staat bekenne, zu nennen. Hier ist weiter auszuholen. Der Hinweis auf Österreich als zweiter deutscher Staat ist von Dollfuß wie von Schuschnigg häufig gemacht worden, von Letzterem besonders in einer Erklärung vor dem Bundestag vom 29. Mai 1935.37 Kritik an der These des Ständestaats von Österreich als dem zweiten, dem besseren deutschen Staat wurde in der österreichischen Historiographie der vergangenen Jahre mehrfach geübt, leidenschaftlich und sehr eindrucksvoll vom Zeitgenossen Friedrich Heer, auch in Studien jüngerer Historiker, wie Ernst Bruckmüller und Anton Staudinger.38 Doch möchte ich zu bedenken geben, dass diese Kritik die Lager und Ideologien übergreifende Breite eines österreichischen Selbstverständnisses in den 20er- und 30er-Jahren unterschätzt, das sich von unserem Selbstverständnis, wie es sich innerhalb der letzten ein bis zwei Generationen in der Zweiten Republik entwickelt hat, unterscheidet. Aus der Monarchie, in der man von den Deutschen in Österreich im Unterschied zu den Tschechen, Italienern, Slowenen etc. sprach, aus der Monarchie, in der man vom „Ausgleich zwischen den Volksstämmen“ – etwa der Deutschen und der Tschechen 35 Vgl. Zeugenaussage Hornbostel, ebenda 168. 36 Nach dem Juliabkommen drückte der tschechoslowakische Außenminister gegenüber einem ungarischen Diplomaten den Gedanken aus, die von dem nunmehr existenten „deutsch-polnisch-österreichischen Block“ (!) betroffenen Staaten in Mitteleuropa sollten sich enger zusammenschließen. Bericht der deutschen Gesandtschaft Prag vom 30. Juli 1936, zit. in: Günter Reichert, Das Scheitern der Kleinen Entente. Internationale Beziehungen im Donauraum von 1933 bis 1938, München 1971, 94. 37 Von Interesse ist, dass Schuschnigg in dieser Rede, an die Adresse NS-Deutschlands gerichtet, die gleiche Behandlung, gleiches Recht und gleiche Ehre für die Österreicher wie für die deutschen Schweizer (!) verlangte. Zu dieser Rede und deren außenpolitischem Kontext vgl. Karl Stuhlpfarrer, Austrofaschistische Außenpolitik – ihre Rahmenbedingungen und ihre Auswirkungen, in: Emmerich Tálos u. Wolfgang Neugebauer, Hgg., „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938, 3Wien 1985, 267–285, hier 277–278. 38 Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien–Köln–Graz 1981, 385–390; Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung, WienKöln-Graz 1984, 157; Anton Staudinger, Zur „Österreich“-Ideologie des Ständestaates, in: Ludwig Jedlicka – Rudolf Neck, Hgg., Das Juli-Abkommen von 1936. Vorgeschichte, Hintergründe und Folgen, Wien 1977, 198–240.



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in Mähren – sprach, übernahmen die meisten Österreicher ein Selbstverständnis, das stark von der deutschen Sprachkultur über Staatsgrenzen hinweg geprägt war. Ignaz Seipels Buch „Nation und Staat“ ist Ausdruck dieser Tradition39. 1928 etwa sprach Ignaz Seipel ganz spontan von den Aufgaben der Deutschen in Österreich und der Art und Weise, wie die Aufgaben nicht erfüllt worden waren.40 Ein ganz anderes Beispiel, in vieler Hinsicht berührend: Sigmund Freud erklärte 1926 einem Interviewer, seine Sprache sei deutsch, seine Kultur sei deutsch; er habe sich geistig als Deutscher betrachtet, bis er das Anwachsen antisemitischer Vorurteile in Deutschland und Deutschösterreich, wie er sich ausdrückte, bemerkt habe; seither ziehe er es vor, sich Jude zu nennen.41. Weiters ist zu bedenken, dass viele Vorstellungen über Österreich und Österreichs Aufgabe nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie um die Idee des „Reiches“ kreisten; die Traditionen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation spielten eine große Rolle in der katholischen Publizistik. Einen Höhepunkt katholischer „Reichsromantik“ brachte der deutsche Katholikentag in Wien im September 1933, wobei Referate von Anton Böhm und Kurt von Schuschnigg die Aufgabe Österreichs als Hüter der „wahren Reichsidee“ in den Mittelpunkt stellten.42 Autoren wie Alfred Missong, Richard Coudenhove-Kalergi, Ernst Karl Winter, Alphons Stillfried, Hans Karl Zeßner-Spitzenberg, später von ganz anderer Seite Alfred Klahr, zählten in den 30er-Jahren zu den Ausnahmen und Vorläufern eines Österreichverständnisses, das sich erst in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten stärker entwickelt hat.43

39 Ignaz Seipel, Nation und Staat, Wien-Leipzig 1916. 40 In einem Brief an Dr. Wilhelm Bauer, 31. Juli 1928, zit. in: Viktor Reimann, Zu groß für Österreich, Wien–Frankfurt–Zürich 1968, 191. 41 Peter Gay, Freud, Jews and other Germans. Masters and Victims in Modernist Culture, New York 1978, 90. 42 Zu diesem Themenbereich siehe vor allem das quellenmäßig hervorragend dokumentierte Buch von Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929–1934), München 1969, mit ausführlicher Behandlung österreichischer Autoren. 43 Vgl. auch Gerald Stourzh, Vom Reich zur Republik. Notizen zu Brüchen und Wandlungen im Österreichbewußtsein seit 1867, in: Wiener Journal, März 1987, 19–21 und April 1987, 17–19. Ergänzung 2010: erweitert und mit Anmerkungen versehen veröffentlicht in: Gerald Stourzh, Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewußtsein im 20. Jahrhundert, Wien 1990, 25–55; letztere Fassung abgedruckt in: Gerhard Botz – Ernst Hanisch – Gerald Sprengnagel, Hgg., Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, Frankfurt am Main 1994, 287–306, sowie in der erweiterten Neuauflage dieses Bandes, Frankfurt am Main 2008, ebenfalls 287–306.

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Die These von Österreich als dem zweiten deutschen Staat ist jedenfalls in einen breiteren historischen Kontext zu stellen als jenen des Ständestaates; die Sozialdemokraten begannen nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland ebenfalls, Österreich als den zweiten, den besseren deutschen Staat zu bezeichnen. In einem Aufsatz über „Österreichs Mission“, im Arbeiter-Sonntag im Oktober 1933, vermutlich von Otto Bauer, war von Österreich als einem deutschen Land der Freiheit, einem deutschen Land des Geistes und der Kultur die Rede.44 Gleichzeitig unterbreitete Bauer dem sozialdemokratischen Parteitag vom Oktober 1933 einen Text, wonach die Arbeiterklasse jederzeit bereit sei, die Unabhängigkeit und die Freiheit des österreichischen Volkes gegen den deutschen Nationalfaschismus zu verteidigen, wenn – neben Garantien der Demokratie, der Freiheitsrechte und der sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse – „diese Republik für die gesamte deutsche Nation die Mission erfüllt, in einer Zeit, in der das deutsche Volk im Reiche unter die blutige Herrschaft einer barbarischen Despotie gefallen ist, auf einem Teil deutschen Bodens, deutscher Freiheit, deutscher Kultur, dem Aufwärtsringen deutscher arbeitender Volksmassen eine Stätte zu erhalten“45. Die These vom „besseren deutschen Staat“ war also kein Spezifikum des DollfußSchuschnigg-Regimes; schon um den Nationalsozialisten das Wasser abzugraben, hätte sich eine „schwarz-rote“ Kooperation, wäre sie je zustande gekommen, einer solchen These bedienen müssen.46 Das Neue – und Bedenkliche – in der Periode des Juliabkommens zwischen 1936 und 1938 war die politisch-vertragliche Zuordnung des Begriffs von Österreich als deutscher Staat zur Politik, insbesondere zur auswärtigen Politik. Die Formulierung im Juliabkommen, wonach die österreichische Bundesregierung ihre Politik im Allgemeinen wie insbesondere gegenüber dem Deutschen Reich stets auf jener grundsätzlichen Linie halten werde, die der Tatsache entspreche, dass Österreich sich als deutscher Staat bekenne, bedeutete einen weiteren Schritt in der Geschichte der Verengung des Handlungsspielraums, die so charakteristisch für die Entwicklung von Österreichs Außenbeziehungen bis 1938 war.

44 Österreichs Mission, in: Arbeiter-Sonntag (= Beilage zur Arbeiter-Zeitung), 15. Oktober 1933. 45 Arbeiter-Zeitung, 15. Oktober 1933, 3. 46 Von Interesse ist ein nicht gezeichneter Leitartikel in der (im Exil erscheinenden und in Österreich verbotenen) Arbeiter-Zeitung vom 29. September 1937: „Was tun wir, wenn der Krieg kommt?“ Darin heißt es: „Gerade, weil wir Deutsche sind, fühlen wir es als brennende Schmach, daß sich das deutsche Volk der Barbarei der Hitler-Diktatur unterworfen und sich dadurch der Verachtung aller freien Völker preisgegeben hat.“



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Der Verengung des österreichischen Handlungsspielraums in den letzten zwei Jahren vor dem Finis Austriae entsprach eine außerordentliche Erweiterung des deutschen Handlungsspielraums. Klaus Hildebrand hat in einer interessanten Interpretation gemeint, das von Großbritannien mehrfach und unzweideutig signalisierte Desinteresse, im Falle eines deutschen Vorgehens gegen Österreich einzugreifen – Großbritannien werde niemals wegen einer zentraleuropäischen Krise das Risiko eines großen Krieges auf sich nehmen –, habe Hitlers Handlungsspielraum enorm erweitert: „Blickt man auf die Geschichte der Außenpolitik der preußisch-deutschen Großmacht zurück, so läßt sich mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß weder Bismarck noch Bülow, weder Bethmann Hollweg noch Stresemann jemals einen so großen Handlungsspielraum innerhalb des europäischen und Weltstaatensystems besaßen, wie er Hitler im Zeichen der österreichischen Krise im Jahre 1938 zur Verfügung stand“47. Dass von England keine über die verbale Zusicherung des grundsätzlichen Interesses an der österreichischen Unabhängigkeit hinausgehenden Festlegungen zu erwarten waren, bestätigte sich den Österreichern anlässlich des Besuches im Mai 1937 des Außenministers Guido Schmidt in London zu den Krönungsfeierlichkeiten für König George VI. So freundliche Gesten in einer Reihe von Gesprächen mit Neville Chamberlain, Eden und Halifax auch gesetzt wurden, so betrachtete doch der Gesandte Georg Franckenstein die Versicherung Außenminister Edens, „daß Großbritannien weder mit Deutschland noch mit Italien ein Abkommen treffen würde, ohne hierbei neuerlich zu betonen, daß die Wahrung der österreichischen Unabhängigkeit auch ein britisches Interesse sei“, als das Maximum, das erhofft und erlangt werden konnte.48 Die Äußerungen von Lord Halifax zu Hitler in Berchtesgaden im November 1937, dass Änderungen betreffend Danzig, Österreich und die Tschecho47 Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 65. 48 Bericht Zl. 133/Pol. vom 24. Mai 1937, veröffentlicht in Hochverratsprozeß Guido Schmidt 520–521, hier 521. – Zur britischen Einstellung gegenüber der Bedrohung der österreichischen Unabhängigkeit sehr informativ Low, Anschluss Movement 1931–1938, 270–288; am 29. Dezember 1936 schrieb der britische Minister für Verteidigungskoordination, Admiral Sir Ernle Chatfield, an Sir Robert Vansittart, dass britische Militärhilfe für Westeuropa (Frankreich, Belgien, Holland) nötig sei, fügte aber hinzu: „If Germany tried to expand to the Southeast, we must accept it.“ Zit. ebenda 277. Vgl. weiters Beer, Der „unmoralische“ Anschluß 404–408. Manche englische Diplomaten setzten – darin der österreichischen Diplomatie höchst ähnlich! – auf Zeitgewinn, „putting off the evil day“, in den Worten des Diplomaten Ralph F. Wigram; hierzu ebenda 404 sowie Reinhold Wagnleitner, Die britische Österreichpolitik 1936 oder „The Doctrine of Putting Off the Evil Day“, in: Jedlicka – Neck, Hgg., Das Juliabkommen von 1936 (wie Anm. 38) 53–83.

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slowakei möglich wären, wobei sich Halifax’ Wünsche auf die Methode friedlicher Evolution beschränkten, sind bekannt.49 Anlässlich des englisch-französischen Treffens der Premierminister und der Außenminister Ende November 1937 in London trat neuerlich Chamberlains Haltung zutage, lediglich einer gewaltsamen Veränderung von Österreichs Status zu opponieren, wenngleich es der französischen Diplomatie gelang, die Engländer zu der gemeinsamen Stellungnahme zu veranlassen, dass im Falle einer „Generalregelung“ mit Deutschland dieses veranlasst werden sollte, sich neuerlich zu den im Juliabkommen 1936 gegenüber Österreich übernommenen Verpflichtungen zu bekennen.50 Bezüglich der österreichisch-französischen Beziehungen in den Jahren 1936 bis 1938 seien lediglich folgende Hinweise festgehalten. Erstens ist auf die bemerkenswerte Diskrepanz zwischen dem aktiven Einsatz des französischen Gesandten in Wien, Gabriel Puaux, zugunsten der Unabhängigkeit Österreichs und der rela-

49 Unterredung Halifax – Hitler am 19. November 1937, ADAP, Serie D, 1, 46–56, hier 52. Halifax’ Unterredung mit Hitler hatte ein signifikantes Nachspiel. Hitler bediente sich auf dem Obersalzberg am 12. Februar 1938 gegenüber Schuschnigg zu dessen Einschüchterung eines Hinweises auf Halifax. Schuschnigg erwähnte dies gegenüber dem britischen Gesandten in Wien, und im Foreign Office erwog man, Hitler dahin gehend zu warnen, dass er nicht „His Majesty’s Government“ in der Person von Lord Halifax zitieren dürfe, als ob die Regierung Hitlers Absichten auf Österreich gebilligt hätte. Halifax selbst rechtfertigte sich in einer Aktennotiz dahin gehend, dass er Deutschlands Haltung nicht billigen konnte, „when I did not know what it was“. Doch Halifax fügte eine enthüllende Bemerkung hinzu: Sollte die Angelegenheit weiter verfolgt werden – d. h. eine Hitler warnende (und damit Österreich stützende) Stellungnahme abgegeben werden –, dann, so Halifax: „I hope it may be so handled as not to prejudice the other side of our policy – i.e. the broad question of getting onto closer terms with the gangsters“ (Hervorhebung d. Verf.). Quelle publiziert in: Documents on British Foreign Policy 1919–1939, 2. Serie, 19, London 1982, 896 (Dok. Nr. 517, Anm. 3). – Zu dem weiteren Kontext der britischen Politik der Akkommodation NS-Deutschlands, insbesondere auch zu der Haltung, in Hitlers Deutschem Reich ein geringeres Übel als Sowjetrussland zu sehen, vgl. den tief schürfenden Aufsatz von Fritz Fellner, Europa am Vorabend des Anschlusses, in: Geschichte und Gegenwart 7 (1988) 164–174. 50 Zu diesem Treffen vgl. Low, Anschluss Movement 1931–1938, 287 (skeptisch in seiner Einschätzung der dort Österreich gegebenen Chancen); Hanns Haas, Die Okkupation Österreichs in den internationalen Beziehungen, in: Rudolf Neck – Adam Wandruszka – Isabella Ackerl (Hgg.), Anschluß 1938. Protokoll des Symposiums in Wien am 14. und 15. März 1978 (= Wiss. Komm. d. Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österr. Geschichte d. Jahre 1918 bis 1938, Veröffentlichungen 7; Wien 1981), 16–43, hier 23 (optimistisch die verbale Durchsetzung französischer Vorstellungen betonend); neuestens die gründliche Diplomarbeit von Thomas Angerer, Frankreichs Österreichpolitik von der Remilitarisierung des Rheinlands bis zum Anschluß (geisteswiss. Diplomarbeit Wien 1989) 77–78.



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tiven Zurückhaltung des Quai d’Orsay aufmerksam zu machen.51 Der Gesandte Puaux war vielleicht derjenige ausländische Missionschef in Wien, der in der Spätphase der österreichischen Unabhängigkeit die engste Verbindung mit Bundeskanzler Schuschnigg hatte. Die Reaktion Puaux’ auf die Proklamierung der Achse Rom – Berlin im November 1936 verdient es, als klassischer Kommentar zur Situation Europas im Jahr der Rheinlandbesetzung, im Jahr von Hitlers Triumph bei den Olympischen Spielen in Berlin, im Jahr der Polarisierung durch den Spanischen Bürgerkrieg, im Jahr der Achse Rom – Berlin erinnert zu werden: „Au Quai d’Orsay personne ne semble avoir compris que l’Europe juridique est morte et qu’il ne faut plus penser pactes, mais accords d’état-major“ – „Am Quai d’Orsay scheint niemand verstanden zu haben, daß das juristische Europa tot ist und daß man nicht mehr in Verträgen, sondern in Abkommen der Generalstäbe denken muß.“52 Auch über die Distanz von mehr als einem halben Jahrhundert ist den französischen Diplomaten, die aus Wien oder Berlin ihre Einschätzung von Hitlers Politik nach Paris berichteten, größte Klarsicht zu bescheinigen. Die Deutlichkeit, mit der etwa Frankreichs Botschafter in Berlin, André François-Poncet, in seiner Analyse des Juli-Abkommens die Unveränderlichkeit von Hitlers Zielen warnend erkannt hat, verdient in Erinnerung gerufen zu werden: „L’auteur de Mein Kampf ne peut ni abandonner l’idée de l’Anschluß, ni celle de récupérer un jour Dantzig et le Corridor. Je ne croirai pour ma part à un changement dans la pensée du Chancelier que lorsque je l’aurai vu cesser de persécuter les juifs!“ – „Der Verfasser von Mein Kampf kann nicht die Idee des Anschlusses aufgeben, ebenso wenig wie jene, eines Tages Danzig und den Korridor wiederzuerlangen. Ich für meinen Teil werde an eine Änderung des Denkens des Kanzlers erst glauben, wenn ich ihn die Verfolgung der Juden aufgeben gesehen haben werde!“53 51 Diese Diskrepanz wird besonders hervorgehoben in der Abhandlung von Jacques Bariéty, La France et le problème de l’„Anschluß“ mars 1936 – mars 1938, in: Klaus Hildebrand – Karl Friedrich Werner, Hgg., Deutschland und Frankreich 1936–1939 (= 15. deutsch-französisches Historikerkolloquium, Beiheft 10 zu Francia, München 1981), 553–574. Der These von Bariéty tritt entgegen Angerer, Frankreichs Österreichpolitik, der ein deutlich aktiveres, wenngleich sich zunehmend im Verbalen erschöpfendes Österreichinteresse des Quai d’Orsay festgestellt hat. 52 Gabriel Puaux, Mort et transfiguration de l’Autriche, Paris 1966, 87. Zu erwähnen ist in Hinblick auf das enge Verhältnis Schuschnigg – Puaux, dass Puaux keineswegs Katholik, sondern französischer Calvinist war. Weiteres zur Berichterstattung Puaux’ bei Thomas Angerer, Erster Schritt zum Anschluß? Frankreich und das Juliabkommen, in: Geschichte und Gegenwart 7 (1988), 185–194. 53 Bericht François-Poncet an Außenminister Delbos, 15. Juli 1936, in: Documents diplomatiques français, 2. Serie, 2, Paris 1964, 693–701, hier 697 (meine Übersetzung).

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Zweitens sind kurz die Gründe zu nennen, die zur zunehmenden Ineffektivität der französischen Politik der Aufrechterhaltung von Österreichs Unabhängigkeit führten – eine Politik, die von 1919 an einen Eckstein der französischen Europapolitik darstellte. Zu diesen Gründen gehört einmal die Überlegung, dass in der Amtsperiode von Mitte-Links-Regierungen in Frankreich 1936–1938 das Österreich Schuschniggs eine „Autriche mal aimée“ war.54 Dazu kamen die Maginot-LinieMentalität und jene Lähmungserscheinungen, die Frankreichs Reaktion auf die Rheinlandbesetzung erklären. Schwer wog die Abhängigkeit vom akkommodationsbereiteren England und ebenso die wachsende Evidenz des Unwillens der ostmitteleuropäischen Staaten einschließlich der Kleinen Entente, irgendein Engagement zugunsten der Unabhängigkeit Österreichs einzugehen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Zutreffend ist als „Grundlinie“ der französischen Österreichpolitik seit Mitte der 30er-Jahre (1935) bezeichnet worden: „Kein militärisches Eingreifen (es sei denn unter Beteiligung Großbritanniens) – hingegen diplomatische Unterstützung bei der Annäherung Österreichs“ an die übrigen Staaten des Donauraums, vor allem der Tschechoslowakei.55 Der vollkommene Misserfolg diesbezüglicher Hoffnungen – noch vor Torschluss anlässlich der Ostmitteleuropareise des Außenministers Delbos Ende 1937 neuerlich evident56 – reduzierte Frankreichs Österreichpolitik zu einer rein verbalen Linie, wenn auch im Ton entschiedener als jene Englands, wie sich im Februar und März 1938 zeigte.57 Von österreichischer Seite kam die Angst hinzu, die prekäre Politik einer kontrollierten Akkommodation zwischen Italien und Deutschland, wie ich Schuschniggs Außenpolitik bezeichnen möchte, durch eine stärkere Annäherung an die Westmächte aufs Spiel zu setzen.58 54 Diese Überlegung bei Bariéty, La France, a.a.O. 555. 55 Angerer, Frankreichs Österreichpolitik 52, dort auch die sehr bemerkenswerte (und pessimis­ tische) Einschätzung (Anfang 1937) durch den amerikanischen Botschafter in Paris William Bullitt. 56 Hierzu ebenda 80–87, bes. 87. 57 Ebenda 106 ff., 119 ff., sowie Haas, Okkupation Österreichs, a.a.O. 31–42. 58 In dem 1969 erschienenen Buch Schuschniggs „Im Kampf gegen Hitler“ findet sich ein Schlüsselsatz, der, obgleich auf Dollfuß’ Politik 1933 bezogen, auch auf Schuschniggs Außenpolitik von 1934 bis 1938 ein, wie ich glaube, aufschlussreiches Licht wirft: „Die Öffnung der Fenster nach links hätte ihm [Dollfuß] die beiden Türen, die ihm zur Verfügung standen, versperrt. Deren eine führte nach Deutschland, die andere nach Italien. Wäre das Öffnen der Fenster gelungen, dann hätte ihm dies in London, Paris, Prag und New York freundliche Zeitungsartikel eingetragen. Aber die hätten sich bald als Nekrologe herausgestellt, in den Archiven vergessen, bis später einmal Dissertanten sie entdecken würden, um mit ihrer Hilfe Hypothesen zu beweisen.“ Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler 144.



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Drittens sei, nur in Parenthese, auf ein Kuriosum französisch-österreichischer Beziehungen im Jahre 1937 hingewiesen: die Aussprache Karl Renners mit dem Außenminister Delbos Ende Juli 1937.59 Renner, vom französischen Außenminister höflich „M. le Chancelier“ angesprochen – man bedenke: Juli 1937! –, Renner also plädierte für sein altes Lieblingsprojekt einer Donauföderation, wobei Delbos auf die Bedeutung der Tschechoslowakei als in erster Linie in Frage kommender Protagonist einer solchen Lösung verwies. Renner erwähnte natürlich, dass sich Deutschland und Italien mit aller Energie gegen solche Pläne wenden würden – „Italien betrachte ja Österreich und Ungarn als seine Vorposten in Zentraleuropa, Österreich überdies als Austauschprojekt gegenüber Deutschland. Die westlichen Demokratien – womöglich einschließlich Amerika – müßten den günstigen Moment abwarten, in dem sie auf Italien und auch auf Deutschland entscheidend starken Einfluß nehmen könnten, und von ihnen verlangen, daß sie sich der Errichtung einer Donauföderation nicht widersetzen. Dieser Augenblick könne kommen; er müsse dann nur genützt werden.“ Wir sehen: Auch Renner setzte auf Zeitgewinn – und das siebeneinhalb Monate vor dem Anschluss! Von großem Interesse ist ein anderer Punkt, den Renner dem französischen Außenminister sowie dem Chefredakteur der sozialistischen Zeitung „Populaire“ auseinandersetzte: die Anziehung der antiklerikalen Nazipolitik auf Teile der Arbeiterschaft. Die Industriearbeiterschaft, soweit sie die älteren Jahrgänge betrifft, die die alte sozialdemokratische Schule mitgemacht haben, sei der Partei treu, sagte Renner. Die heranwachsende Generation aber sei Nazieinflüssen ausgesetzt. Eine weitere Gefahr der Nazisierung bestehe darin, dass die Industriearbeiterschaft seit jeher antiklerikal eingestellt gewesen ist. Diese antiklerikale Einstellung habe sich seit Seipel und Dollfuß verstärkt. Renner regte bei Delbos an, Frankreich möge im Vatikan intervenieren, der Vatikan möge bei der Regierung in Wien einwirken, dass der Arbeiterschaft Konzessionen gemacht würden. Delbos antwortete, dass dieser Gedanke ihn interessiere und ihm einleuchte; er war durchaus geneigt, Renners Gedanken dem Vatikan bekannt zu geben: „Man würde raten, Schuschnigg davon zu informieren und auf ihn einzuwirken, durch ein Entgegenkommen an die Arbeiterschaft der Gefahr einer Vernazisierung Österreichs, hervorgerufen durch die Sympathien für den antiklerikalen Kurs Hitlers, entgegenzuarbeiten.“60 Ob bzw. 59 Jacques Hannak. Karl Renner und seine Zeit, Wien 1965, 628–639. 60 Zur Verbindung von Antiklerikalismus und Nationalsozialismus im Österreich der 30er-Jahre vgl. die bemerkenswerten Aussagen in Franz Borkenau, Austria and After, London 1938, 272– 274.

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in welcher Weise eine derartige Intervention beim Vatikan erfolgte, müsste von der Forschung noch geklärt werden. Es gilt nun eine Fragestellung zu erörtern, die die Zusammenhänge zwischen innenpolitischer und außenpolitischer Entwicklung Österreichs beleuchtet: Welche Möglichkeiten der erweiterten Unterstützung für eine Politik der Regierung Schuschnigg gab es oder konnte es geben, die als Gegengewicht gegen den Sog der Akkommodation mit sogenannten Nationalen oder Nationalsozialisten wirken konnten, der ein Ergebnis des Juliabkommens 1936 war? Einerseits ist an die Herstellung von Verbindungen zur Arbeiterschaft zu denken, andererseits an die Mobilisierung monarchistischer und legitimistischer Gruppierungen und Sympathisanten. – Zunächst zur Industrie-Arbeiterschaft: Die Frage der „Befriedungspolitik zwischen Antimarxismus und antinationalsozialistischer Konzentration“ – so der Titel eines höchst informativen Abschnitts in Everhard Holtmanns Buch über die sozialistische Arbeiterbewegung und das autoritäre Regime61 – führt zu dem Ergebnis, dass von 1936 an, etwa von den innerbetrieblichen „Werkgemeinschaftswahlen“ dieses Jahres die Durchlässigkeit, die Osmose zwischen bestimmten Institutionen des autoritären Regimes und Gewerkschaftlern sozialistischer, fallweise auch kommunistischer Provenienz, stärker wurde. Ebenso deutlich ist allerdings, dass nicht der Bundeskanzler Schuschnigg, sondern andere Führungspersönlichkeiten des Ständestaates, vor allem wohl der Wiener Bürgermeister Richard Schmitz, die Öffnung zur Arbeiterschaft betrieben oder betreiben wollten; Schuschnigg, und in Hinblick auf seine Entscheidungskompetenz war dies ausschlaggebend, agierte bis unmittelbar vor Berchtesgaden bremsend und ablehnend. Noch am 10. Februar 1938 lehnte Schuschnigg die von ihm selbst theoretisch zur Sprache gebrachte „Zusammenarbeit mit den Marxisten zur Bekämpfung der Nazi“ ab; es dürfe aus der Beteiligung der Arbeiter am Kampf gegen den Nationalsozialismus kein „politisches Geschäft für die Sozi“ werden.62 Schuschnigg verwendete überdies ein interessantes außenpolitisches Argument: „Wir kämen damit an die Seite der ČSR und damit in eine außenpolitische Isolierung.“63 In dieser befand sich Österreich allerdings schon. Hier zeigte sich, noch knapp vor Torschluss, neuerlich Schuschniggs Ablehnung einer stärkeren Annäherung an die ebenfalls von Hitler bedrohte Tsche61 Everhard Holtmann, Zwischen Unterdrückung und Befriedung. Sozialistische Arbeiterbewegung und autoritäres Regime in Österreich 1933–1938, Wien 1978, 232–245. 62 Ebenda 239. 63 Ebenda.



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choslowakei – eine Konstante seiner Außenpolitik unbeschadet seines persönlich guten und relativ engen Verhältnisses zum tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Milan Hodža. Man hat aufgezeigt, dass Schuschnigg wegen der „russophilen Politik Prags eine Entente zwischen den zwei Ländern für unmöglich hielt“ – wie Schuschnigg dem französischen Gesandten Puaux einmal (November 1936) sagte.64 Der Wert der persönlichen Kontakte zwischen dem Bundeskanzler und dem tschechoslowakischen Ministerpräsidenten ist daher politisch für beide Seiten als gering einzuschätzen. Sowohl Österreich wie die ČSR mussten eine Herausforderung des deutschen Nachbarn vermeiden, und zutreffend ist gesagt worden, Österreich und die Tschechoslowakei wären vor dem Dilemma gestanden, „mit Rücksicht auf die ihnen drohende deutsche Gefahr eine vertragliche Bindung gleichzeitig wünschen und doch vermeiden zu müssen“65. Wie stand es mit den außenpolitischen Implikationen einer Mobilisierung jener Gruppierungen, denen gegenüber Schuschnigg keine grundsätzlichen ideologischen Vorbehalte hatte, des monarchistischen und legitimistischen Potenzials? Die Regierung Schuschnigg hatte schon 1935 mit dem Gesetz über die Aufhebung der Landesverweisung der Habsburger und eine teilweise Vermögensrückgabe ein bedeutendes Signal gesetzt, und die Sympathiewelle, die sich in der Verleihung der zahlreichen Ehrenbürgerschaften an Otto von Habsburg äußerte, bedeutete zweifellos eine wichtige Stützung für die Politik der Unabhängigkeit von Deutschland, vor allem eine Stärkung der eindeutig antinationalsozialistischen Gruppierungen 64 Alfred D. Low, Edvard Beneš, the Anschluss Movement 1918–1938, and the Policy of Czechoslovakia, in: East Central European History 10 (1983) 46–91, hier 78 (Bericht Puaux an Delbos vom 16. November 1936, zit. nach Documents diplomatiques français, 2. Serie, 3, 774–775). 65 Kriemhild Goronzy, Vorgeschichte und Durchführung der Vereinigung Österreichs mit Deutschland 1933–1938, phil. Diss. Bonn 1958, 444, zit. bei Reichert, Scheitern der Kleinen Entente 95. Zu den Einschränkungen, unter welchen die Kontakte Schuschnigg – Hodža immer wieder durch die Einsprüche oder Beschwerden von ungarischer, italienischer und deutscher Seite zu leiden hatten, vgl. eindringlich Karl F. Richter, Die österreichisch-tschechoslowakischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit, in: Karl Bosl (Hg.), Gleichgewicht – Revision – Restauration. Die Außenpolitik der Ersten Tschechoslowakischen Republik im Europasystem der Pariser Vororteverträge, München 1976, 355–380, hier 378–379. Wie vorsichtig die Tschechoslowakei auf die Einverleibung Österreichs reagierte, erhellt aus dem Text einer Zirkulardepesche des tschechischen Außenministers Krofta vom 12. März 1938: „Bei der praktischen Passivität des Westens fällt natürlich unser Eingreifen, welcher Art auch immer, überhaupt nicht ins Gewicht; auf Anfragen erklären wir, daß wir unmittelbar nicht betroffen sind, daß es sich um eine Sache Berlins und Wiens auf der Grundlage des Vertrags von 1936 handelt, im übrigen ist das ein Problem ganz Europas, d. h. vor allem der Großmächte.“ In Übersetzung zit. ebenda 379.

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im Regierungslager.66 Die damit aktualisierte Frage einer möglichen Habsburgerrestauration mobilisierte jedoch die leidenschaftliche Gegnerschaft der Staaten der Kleinen Entente, am stärksten Jugoslawiens, aber auch Rumäniens und der ČSR. Das oft zitierte Wort „lieber Hitler als Habsburg“, bisweilen Edvard Beneš zugeschrieben, ist nachweisbar in der Form „lieber der Anschluß als die Monarchie“; es wurde „mit Vehemenz“ vom damaligen tschechoslowakischen Gesandten in Wien, dem Sozialdemokraten Zdeněk Fierlinger, im Gespräch mit Gabriel Puaux im April 1933 verwendet67; im November 1933 hat übrigens Edvard Beneš in Genf den damaligen britischen Abrüstungsbeauftragten Anthony Eden dahin gehend informiert, dass die Tschechoslowakei keine Aktion ergreifen würde, wenn der Anschluss käme.68 Dass die Staaten der Kleinen Entente Generalstabsplanungen nicht für den Fall eines Anschlusses (dem vor allem Jugoslawien seit Langem nicht nur gleichmütig, sondern positiv gegenüberstand), sondern für den Fall einer Habsburgerrestauration unternahmen, ist bekannt. Wichtig ist aber ein Weiteres: Die Eventualität einer Habsburgerrestauration schuf einen – paradoxalen – Interessenkonsens zwischen Hitler und den Staaten der Kleinen Entente – einen Interessenkonsens, den die deutsche Diplomatie zwischen 1933 und 1938 weidlich auszunützen verstand. Die Regierung Schuschnigg war also mit einem weiteren Dilemma konfrontiert: Ein Element der inneren Regimestärkung bedeutete gleichzeitig ein Element außenpolitischer Isolierung! Bundeskanzler Schuschnigg war sich dieses Dilemmas bewusst, und es ist deutlich – zuletzt in seiner Absage an Otto von Habsburg nach Berchtesgaden69 –, dass Schuschnigg zwischen der Förderung eines innenpolitisch relevanten Sympathisantenpotenzials einerseits und der außenpolitischen Todesgefahr einer tatsächlichen Restauration andererseits genau zu unterscheiden wusste. Es muss bezweifelt werden, ob Schuschnigg die optimale Mobilisierung dieses Sympathisantenpotenzials gelang.70 66 Vgl. zum Gesamtproblem die quellenreiche Dissertation von Ingrid Mosser, Der Legitimismus und die Frage der Habsburgerrestauration, geisteswiss. Diss. Wien 1979. 67 Bericht des Gesandten Puaux vom 25. April 1933 in: Documents diplomatiques français, 1. Serie, 3, Paris 1967, 318. 68 Reichert, Scheitern der Kleinen Entente 84. 69 Die Ablehnung von Otto von Habsburgs Angebot, die Regierung in Österreich zu übernehmen, in Schuschniggs Brief an Otto von Habsburg vom 2. März 1938, Text in Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler 22–24. 70 Dies wird deutlich aus einem im Nachlass Seyss-Inquarts im Bundesarchiv Koblenz aufgefundenen Brief von Karl Heinrich Freiherrn von Zeßner-Spitzenberg an Schuschnigg vom 2. März 1938, in dem Zeßner-Spitzenberg sich als Leiter des Traditionsreferats bitter über die monatelange Unmöglichkeit, von Schuschnigg empfangen zu werden, beklagt; ein Memoran-



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Abschließend seien drei Fragenkomplexe zur Diskussion gestellt, teils interpretativer Natur, doch auf den historischen Befund gestützt. 1. Beschäftigt man sich mit den letzten zwei Jahren von Österreichs Unabhängigkeit vor Hitlers Einmarsch, drängt sich die Überlegung auf, dass Österreich viel früher, viel stärker und viel hoffnungsloser isoliert war, als wir üblicherweise annehmen. Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang eben nicht nur oder überwiegend die Politik Italiens, Frankreichs, Englands zu untersuchen, sondern vor allem auch die Politik der mittel- und südostmitteleuropäischen Kleinstaaten, der ČSR, Polens, Ungarns, Jugoslawiens, Rumäniens.71 Erst dann ergibt sich ein Bild, aus dem deutlich wird, wie sehr wirkliche oder vermeintliche nationale Interessen über Ansätze solidarischen Handelns gegenüber einem von manchen erkannten Aggressor dominierten. Charakteristisch ist vor allem der Versuch, die erkannte, jedoch vielfach in ihrer Radikalität verkannte Expansionskraft der Aggressoren jeweils in bestimmte Kanäle zu leiten, möglichst weit weg vom eigenen Haus. Warum stand die polnische Regierung dem Anschluss und der Expansivtendenz des Reiches nach Südosten so wohlwollend gegenüber? Weil dieses dann, so glaubte man in Warschau, vom eigenen Bereich, von der Danziger Frage und der Korridorfrage, abgelenkt würde.72 Sogar die Tschechoslowakei hatte einmal versucht, die revisionistischen Tendenzen Deutschlands bewusst von Wien weg – und auf Danzig zuzulenken, weil eben Danzig weiter weg lag und dies den ungeliebten polnischen Nachbarn stören würde, während der Anschluss natürlich Prags Sicherheitsinteressen viel stärker berührte.73 Ungarn konnte effektivere Hilfestellung für seine revisionistischen Erwartungen vom Deutschen Reich weit eher als von Österreich erhoffen. Im März 1933 bereits hatte der ungarische Ministerpräsident Gömbös Österreich als einen „Kuchen“ zwischen Deutschland, Italien und Ungarn bezeichnet.74 Wie sehr Ungarn Österreich zunehmend abgeschrieben hatte – immerhin noch ein mit gegenseitigen Konsultativverpflichtungen ausgestatteter dum Zeßners zur Aktivierung der altösterreichisch orientierten Österreicher liegt bei; diese Schriften Zeßners scheinen mit anderer noch unerledigter Post Schuschniggs bei der Macht­ übernahme in die Hände Seyss-Inquarts gekommen zu sein. 71 Hierzu neuestens die quellenreiche umfassend informierende Arbeit von Suppan, Ostmitteleuropa, in: Karas (Hg.), Die Lehre (wie Anm. 2). 72 Vgl. nunmehr insbesondere ebenda 168–180. 73 Hierfür siehe F. Gregory Campbell, Confrontation in Central Europe. Weimar Germany and Czechoslovakia, Chicago 1975, Abschnitt „Danzig or Vienna?“, 178–183. 74 Zit. nach einem Bericht der deutschen Gesandtschaft Budapest vom 18. März 1933 von Dieter A. Binder, Der grundlegende Wandel in der österreichischen Außenpolitik 1933, in: Geschichte und Gegenwart 3 (1983) 226–243, hier 232.

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Partner der Römer Protokolle! – zeigt sich in einer Äußerung des Reichsverwesers Nikolaus von Horthy Anfang Dezember 1937, dass er sich trotz „aller Anhänglichkeit an das schöne Wien der Vorkriegszeit“ darüber im Klaren sei, „daß Österreich schließlich deutsch werden müsse, worüber er sich nur freuen würde“75. Warum sah Jugoslawien durch Jahre der Einverleibung Österreichs mit Gleichmut, zunehmend mit Wohlwollen entgegen? Weil dies den Umklammerungstendenzen des Hauptfeindes Italien entgegenwirken würde. Das Österreich der mittleren und späteren 30er-Jahre wurde schließlich aus den verschiedensten Interessen-Perspektiven zum Versatzstück. Sieht man aus den diplomatischen Dokumenten, wie häufig Österreichs Unabhängigkeit als moribund angesehen wurde, dann sind manche Handlungen und Reaktionen der österreichischen Bundesregierung, die Resistenz gegen immer weiter reichende Satellisierung signalisierten, gar nicht so selbstverständlich, wie sie im Rückblick erscheinen mögen. Der österreichische Widerstand gegen den 1937 von Göring betriebenen Plan einer Währungsunion – worüber Karl Stuhlpfarrer vor einigen Jahren publiziert hat76 –, die Abweisung von Ansinnen wie der Austritt Österreichs aus dem Völkerbund – von Hitler an Außenminister Guido Schmidt im November 1936 herangetragen, neuerlich von den Italienern vor dem letzten düsteren Außenministertreffen der Römer-Protokoll-Staaten in Budapest im Jänner 1938 –, die Abweisung des ebenfalls von den Italienern im Winter 1937/ 38 herangetragenen Ansinnens, dem Kominternpakt beizutreten – das waren erfolgreiche Bemühungen, der Satellisierung Widerstand entgegenzusetzen.77 Noch 75 In einem Gespräch mit dem deutschen Gesandten in Budapest am 1. Dezember 1937, in ADAP, Serie D, 2, 172. Ähnlich hatte sich Horthy schon gegenüber Hitler persönlich anlässlich seines Besuchs bei den Olympischen Spielen in Berlin im August 1936 geäußert; vgl. Suppan, Ostmitteleuropa, a.a.O. 203. 76 Karl Stuhlpfarrer, Der deutsche Plan einer Währungsunion mit Österreich, in Neck – Wandruszka – Ackerl (Hgg.), Anschluß 1938 (wie Anm. 50) 271–294. 77 Zu den italienischen Forderungen vor und auf der Budapester Konferenz vom 10. bis 12. Jänner 1938 vgl. Ulrich Eichstädt, Von Dollfuß zu Hitler (Wiesbaden 1955) 231–233; es gelang den Österreichern nicht mehr, eine ausdrückliche Erklärung zugunsten der Unabhängigkeit Österreichs durchzusetzen; Ungarn und Österreich mussten auch ihre Bereitschaft erklären, die Franco-Regierung anzuerkennen. Zur österreichischen Weigerung, dem Anti-Kominternpakt beizutreten, vgl. Hochverratsprozeß Guido Schmidt 33 (Aussage G. Schmidt) und 289 (ders.). Zu dem für den damaligen Quellenstand sehr informativen Buch von Eichstädt vgl. dennoch meine grundsätzliche Kritik: Gerald Stourzh, Deutsche Geschichtsschreibung über Österreich. Kritische Bemerkungen zu Ulrich Eichstädt „Von Dollfuß zu Hitler“, in: Forum 2 (1955) 358–360. Vgl. auch neuestens: H. James Burgwyn, Italy, the Roman Protocols Bloc and the Anschluss Question, 1936–1938, in: Austrian History Yearbook 19/20, 1983/84 Part 2, 1989, 123–147.



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im Jänner 1938 sagte Schuschnigg in einem Interview für den Londoner „Daily Telegraph“, der Nationalsozialismus gehe auf die Zerstörung Österreichs aus.78 2. Zur Haltung der Regierung Schuschnigg, zwischen Berchtesgaden und dem 11. März, und insbesondere zur Entscheidung Schuschniggs, die viel umstrittene Volksbefragung oder Volksabstimmung anzuberaumen, ist Folgendes zu bemerken. Die Entwicklungen einschließlich der wie aus einem geborstenen Ventil strömenden nationalsozialistischen Manifestationen zuerst in der Steiermark, dann in Kärnten und anderen Bundesländern, waren das Ergebnis einer Serie von Ultimaten, vom Block der ultimativen Forderungen des 12. Februar, über das von Norbert Schausberger zu Recht hervorgehobene Ultimatum vom 5. März, die Unterstellung der österreichischen Devisenpolitik unter die Kontrolle der Reichsbank einschließend,79 bis zu den zwei Ultimaten vom 11. März. Die Entscheidung Schuschniggs zur Volksabstimmung, nach der Reichstagsrede Hitlers vom 20. Februar, in der dieser entgegen seiner Zusicherung in Berchtesgaden die Unabhängigkeit Österreichs nicht mehr ausdrücklich bekräftigt hatte,80 und nach der großen nationalsozialistischen Manifestation in Graz anlässlich des Besuches des Innenministers Seyss-Inquart am 1. März entstanden, war eine Herausforderung, ein „défi“ Hitlers, und nicht, wie Nevile Henderson meinte, eine Irrsinnstat, oder, wie Mussolini meinte, ein Irrtum, oder wie häufig gesagt, eine „Flucht nach vorne“. Jede sehr riskante oder aussichtslose Widerstandshandlung ist eine „Flucht nach vorne“. Es handelte sich in der Tat um eine Herausforderung Hitlers, und insofern sind die Worte vom 11. März 1938, dass Österreich der Gewalt weiche, die zutreffende Aussage eines historischen Tatbestandes.81 78 Zum „Daily Telegraph“-Interview vom 5. Jänner 1938 siehe: Neue Freie Presse v. 5. Jänner 1938 (Abendblatt) 8, sowie Reichspost v. 7. Jänner 1938. 3. Vgl. auch Müller, Papen als Sondergesandter 484. 79 Schausberger, Griff nach Österreich 551. Die aus den deutschen Akten hervorgehende Bedeutung der Devisenbewirtschaftungsfrage wird nicht gewürdigt in dem neuen, Schuschnigg sehr freundlich gegenüberstehenden Buch von Anton Hopfgartner, Kurt Schuschnigg, ein Mann gegen Hitler (Graz 1989) 209. 80 Auf die Bedeutung dieser Auslassung verweist Gerhard Weinberg, The Foreign Policy of Hitler’s Germany. Starting World War II, 1937–1939 (Chicago 1980) 293; das der Vorgeschichte des „Anschlusses“ gewidmete Kapitel von Weinbergs Buch (ebenda 261–312) stellt wohl gegenwärtig die wichtigste neuere auf umfassender Quellenerfassung basierende Darstellung von Hitlers Österreichpolitik 1937/38 dar. 81 Von Interesse ist, dass Schuschnigg schon am 2. März in seinem bereits erwähnten AbsageBrief an Otto von Habsburg die Worte, dass wir der Gewalt weichen, vorweggenommen hat: „Selbst wenn daher, was Gott verhüten möge, ein geschichtlicher Rückschlag eintritt und Österreich der Gewalt weichen müßte, der es sich in Ehren lange und hartnäckig widersetzt

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3. Die von Gerhard Botz bereits vor längerer Zeit vorgeschlagene analytische Dreiteilung des Prozesses der nationalsozialistischen Machtübernahme – pseudorevolutionäre Machtübernahme von unten, scheinlegale Machtergreifung von oben, übermächtige Intervention von außen82 – ist gerade in der jüngsten Zeitgeschichtsforschung auf ein positives Echo gestoßen. Das große und berechtigte, durch einen beträchtlichen Nachholbedarf motivierte Interesse der neueren Zeitgeschichtsforschung am Nationalsozialismus in Österreich hat in letzter Zeit zur vermehrten Befassung mit den Komponenten der „Machtübernahme von oben und von unten“ in Österreich selbst geführt83. Dieses Interesse hat aber dazu beigetragen, die Machtübernahme „von außen“ auf den militärischen Einmarsch zu hat, dann ist es immer noch besser, es geschieht, ohne daß die Dynastie dabei mit ins Spiel gezogen wird.“ Text in: Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler 23. Zur Volksbefragung hat Schuschnigg in einem noch nicht veröffentlichten Brief an den Verfasser vom 17. April 1956 geschrieben: „In meiner Meinung war es die Alternative zur vorbereiteten Nazi-Revolte, die, wie ich befürchtete, in Kettenreaktion zum Eingreifen der Deutschen geführt hätte (Tavs-Plan). Außerdem war es ein SOS-Signal für die Mächte. Falsch war meine Überzeugung, daß die Abstimmungsformel Hitler keine Handhabe bieten würde.“ Die nützliche Zusammenfassung in dem Aufsatz von Eduard G. Staudinger, Österreichs außenpolitische Lage im März 1938, in: Geschichte und Gegenwart 7 (1988) 195–212, geht allerdings auf die Volksbefragung und die durch sie ausgelösten Hitler’schen bzw. Göring’schen Gewaltmaßnahmen nicht ein. 82 Gerhard Botz, Wien vom „Anschluß“ zum Krieg (2Wien–München 1980) 107–110. Der von Botz verwendete Begriff „pseudo-revolutionär“ scheint zutreffend und wichtig, wenn man ihn etwa mit der problematischen Verwendung des Begriffs der „inneren Revolution“, der „siegreichen österreichischen Revolution der NSDAP“ vergleicht, wie er sich in einer Aufzeichnung Wilhelm Miklas’ findet, deren Datum – 12. April 1938 – und apologetisch-rechtfertigender Charakter allerdings in Rechnung gestellt werden muss. Diese wichtige Quelle zu Miklas ist veröffentlicht in: Rudolf Neck, Wilhelm Miklas und der „Anschluß“ 1938, in: Helmut Konrad-Wolfgang Neugebauer (Hgg.), Arbeiterbewegung – Faschismus – Nationalbewußtsein. Festschrift zum 20-jährigen Bestand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und zum 60. Geburtstag von Herbert Steiner (Wien 1983) 99–113, hier 105–106. 83 Siehe u. a. zu Salzburg: Ernst Hanisch, Nationalsozialistische Herrschaft in der Provinz. Salzburg im Dritten Reich (Salzburg 1983) sowie zuletzt die von Hanisch verfassten Abschnitte XI und XII in: Heinz Dopsch (Hg.), Geschichte Salzburgs 2 (Salzburg 1988) bes. 1108–1120 u. 1121–1145; zu Niederösterreich: Ernst Bezemek, Zur NS-Machtübernahme in Niederösterreich. Politische, administrative und personelle Aspekte bei der Eingliederung Niederösterreichs in den Verwaltungsaufbau des Dritten Reiches 1938, in: Jahrbuch für Landeskunde von Nieder­ österreich, N. F. 50/51 (1984/85) 181–205; für die Steiermark: Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945 (Graz 1986); zu Tirol vgl. den in Anm. 5 genannten Sammelband: Thomas Albrich – Klaus Eisterer – Rolf Steininger (Hgg.), Tirol und der Anschluß (Innsbruck 1988); für Kärnten Helmut Rumpler (Hg.), März 1938 in Kärnten. Fallstudien und Dokumente zum Weg in den „Anschluß“ (Klagenfurt 1989).



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reduzieren.84 Demgegenüber ist es legitim, die vor dem militärischen Einmarsch (bzw. den diesen teils schon antizipierenden, teils begleitenden Vorgängen des Eintreffens von Polizei- und Gestapofunktionären (und der Beschlagnahme der Reserven der Nationalbank) erfolgenden ultimativen Eingriffe in das Geschehen in Österreich vom 12. Februar bis 11. März 1938 als Teil der Machtübernahme „von außen“ ebenso zu begreifen wie den militärischen Einmarsch selbst. Gerade neuere bundesdeutsche Forschungen haben, in eigenartiger Gegenläufigkeit zu gegenwärtigen Tendenzen in der österreichischen Forschung, diesen Aspekt wieder deutlich gemacht.85 Erst jüngst ist festgestellt worden: „Die Gleichsetzung von Gewaltpolitik und ,friedlichem‘ Anschlußbegriff mag der nationalsozialistischen Propaganda angesichts der jubelnden Menschenmassen beim Einmarsch deutscher Truppen problemlos gelungen sein, die historische Forschung, deren Aufgabe es ist, die Kategorien von Ideologie und Realität gegebenenfalls sauber voneinander zu trennen, kann sich damit allerdings nicht begnügen. Der Begriff Anschluß hatte in seiner ursprünglichen Qualität mit der Aktion vom März 1938 denkbar wenig gemeinsam. Deshalb scheint die Anwendung dieses Terminus in diesem Zusammenhang unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht haltbar zu sein.“86 Wie immer man die Vorgänge vom März 1938 benennen wird, der zur Einverleibung Österreichs in das Dritte Reich führende Sieg Hitlers war, wie Professor Francis L. Carsten geschrieben hat, „nur zum Teil den Anstrengungen der österreichischen Nationalsozialisten zuzuschreiben, und noch mehr deutschem Druck und der militärischen Macht des Dritten Reiches“87. An 84 Botz, Wien 110. Botz selbst hat seine analytische Dreiteilung auf die Woche nach dem 11. März 1938 bezogen, sein Schema wird aber auch auf die vorhergehenden Wochen angewandt, etwa von Ernst Hanisch, Westösterreich, in: Emmerich Tálos – Ernst Hanisch – Wolfgang Neugebauer (Hgg.), NS-Herrschaft in Österreich 1938–1945 (Wien 1988) 439–441. 85 Vgl. etwa Alfred Kube, Pour le mérite und Hakenkreuz. Hermann Göring im Dritten Reich (München 1986) zu Görings „Penetrationspolitik“; zur Entwicklung Februar/März 1938 und zur Rolle Görings bes. 242–249; zu den „Telephoninterventionen“ Görings in Österreich am 11. März 1938 siehe den Wiederabdruck der wichtigsten Telephonate in: „Anschluß“ 1938. Eine Dokumentation, hg. v. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, bearb. v. Heinz Arnberger – Winfried Garscha – Christa Mitterrutzner, Wien 1988, 247–264 passim. Zur Befehlsempfängerposition und Willfährigkeit der österreichischen Nationalsozialisten einschließlich der „betont Nationalen“ viel Material in: Peter Broucek, Hg., Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau 2 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 70, Wien–Köln–Graz 1983), bes. 211–274. 86 Müller, Papen und die deutsche Österreichpolitik, in: Albrich – Eisterer – Steininger (Hgg.), Tirol und der Anschluß 377–378. 87 Francis L. Carsten, Faschismus in Österreich, München 1978, 294.

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dieser Aussage, sie bestätigend oder sie modifizierend, wird sich auch die weitere Zeitgeschichtsforschung zu orientieren haben.

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Ansätze jener Vorstellungen, die im Neutralitätsgesetz von 1955 mündeten, kommen aus zwei, oder genau genommen sogar aus drei Richtungen oder Herkunftsbereichen, wobei ich mich auf die Zeit ab 1945 beschränke. Ausgangspunkt war die geostrategische Lage Österreichs an der Nahtstelle zweier sich herausbildender Macht- und Militärblöcke, gerade in Österreich schon 1946 wahrnehmbar und ab 1947 europaweit spürbar. „Nahtstelle“ ist wörtlich gemeint, ging doch die Demarkationslinie zwischen der Sowjetmacht und den Westmächten quer durch Österreich und machte die „alliierte“ Besetzung de facto zu einer „OstWest“-Besetzung des Landes.1 Der erste Herkunftsbereich ist Österreich. Ich denke an Aussagen österreichischer Politiker in Richtung Neutralität (wie immer umschrieben oder definiert); der zweite Herkunftsbereich ist die Sowjetunion und deren konkrete Wünsche oder Forderungen, betreffend Österreichs internationalen Status, deren Erfüllung erst den Abschluss des Staatsvertrags ermöglichte; der dritte Herkunftsbereich sind – überraschender Weise – die USA bzw. besonders deren Außenminister John Foster Dulles. Was die Österreicher betrifft, nenne ich in unvollständiger Auswahl die Bundespräsidenten Renner und Körner, Außenminister Gruber, Bundeskanzler Raab und Vizekanzler Schärf.2 Karl Renner veröffentlichte im Jänner 1947 einen großen Artikel in der „Wiener Zeitung“, „Die ideologische Ausrichtung der Politik Österreichs“, in dem er gegen die großdeutsch gebliebenen Anschauungen seines im Exil verweilenden heftigen innerparteilichen Gegners Friedrich Adler pole1 Hierzu umfassend Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–19555 (Wien 2005). Der Verfasser ist dem Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten dankbar, dass ihm im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte mehrfach Gelegenheit geboten wurde, noch im Ministerium befindliche Akten aus dem Jahrzehnt 1945–1955 einsehen zu können. 2 Zum Folgenden vgl. Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 240, 258–259, 246, 266–266, 379–380.

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misierte. Renner hob Analogien zur Schweiz hervor und bejahte die These, dass die Republik Österreich für alle Zukunft eine ähnliche Rolle und Bestimmung beanspruche wie die Schweizer Eidgenossenschaft. Renners Nachfolger Theodor Körner wiederum schrieb im Februar 1952 in einer führenden Schweizer Zeitung (dem „Journal de Genève“) Folgendes: „Die Schweiz, deren Wirtschaft uns das Beispiel gibt, wie man starke Initiative mit kluger Solidität verbinden kann, wird einem endgültig befreiten Österreich auch ein Vorbild der politischen Weisheit sein, überall gute Freunde zu haben, aber sich nach keiner Seite hin einseitig zu binden.“ Nur wenig später, im April 1952, sagte Außenminister Gruber in einer Parlamentsdebatte, gegen die ideologisch gefärbte Neutralitätsbefürwortung der Kommunisten polemisierend und davon abgrenzend: „Es ist die Auffassung der österreichischen Bundesregierung, daß wir auf dem Boden der völkerrechtlichen Neutralität stehen.“ Bundeskanzler Raab, der in öffentlichen Äußerungen sehr zurückhaltend und vorsichtig war, hat 1953 nach seinem Amtsantritt keinen Zweifel gelassen, dass er die Neutralität anstrebe, wie sein damaliger Sekretär Ludwig Steiner berichtet hat.3 Bei dem sozialistischen Parteivorsitzenden Schärf war eine Präferenz für den weiter gezogenen Begriff der „Allianzfreiheit“ oder „Paktfreiheit“ stark ausgeprägt, wohl aus zwei Gründen: erstens, um die Sozialisten deutlich von der kommunistischen Neutralitätspropaganda (die übrigens im Frühjahr 1954 abrupt aufhörte) abzugrenzen und auch, weil Schärf den Entzug westlicher, vor allem amerikanischer Unterstützung für Österreich fürchtete. Eine erste – noch bewusst sehr vage gehaltene, übrigens die Bedenken der sozialistischen Führung betreffend den Begriff Neutralität voll berücksichtigende – Festlegung von Regierung und Parlament kam im September 1953, als Außenminister Gruber dem Hauptausschuss des Nationalrats einen außenpolitischen Bericht vorlegte, der in den Worten gipfelte: „Unsere Politik ist: Frei von militärischen Blöcken – aber auch im Inneren frei gemäß unserer demokratischen Verfassung!“ Diese Äußerung wurde als Teil des Berichts der Bundesregierung vom Hauptausschuss „zustimmend zur Kenntnis genommen“ (23. 9. 1953).4 Darauf berief sich Außenminister Figl, als er am 13. Februar 1954 vor der Berliner Außenministerkonferenz die Erklärung abgab, er sei ermächtigt, „die formelle Erklärung der österreichischen Bundesregierung und des österreichischen 3 Ludwig Steiner, Erlebnisbericht über die Moskauer Verhandlungen 1955, in Alois Mock/Ludwig Steiner/Andreas Khol, Hg., Neue Fakten zu Staatsvertrag und Neutralität (= Schriftenreihe der Politischen Akademie, 12), Wien 1980, 33. 4 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 238–239.



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Parlaments zu wiederholen, daß Österreich nicht die Absicht hat, ein militärisches Bündnis mit irgendeinem Staat einzugehen“.5 Im Februar 1954 klang dies viel feierlicher und bestimmter als im September 1953. Damit stehen wir, obgleich erst im Februar 1954, gedanklich schon unmittelbar im Vorfeld der Moskauer Verhandlungen vom April 1955 – denn auf dieser Linie gingen die Österreicher in die Moskauer Verhandlungen – offiziell zumindest, denn Bundeskanzler Raab dürfte schon mit weiter gehenden Vorstellungen im Kopfe nach Moskau gereist sein. Ich komme auf die österreichische Verhandlungsvorbereitung für Moskau noch zurück, denn in diesem Zusammenhang wurden erstmals ausführliche juristische Überlegungen über die rechtliche Gestaltung einer österreichischen Erklärung der Bündnisfreiheit angestellt. Bei den Sowjets, denen die prowestlichen Sympathien der Koalitionsregierung und des ganz überwiegenden Teils der österreichischen Bevölkerung nur zu gut bekannt waren, wuchs in der ersten Hälfte der 50er-Jahre das Interesse an einer Österreichlösung, die den Beitritt Österreichs zum westlichen Militärbündnis, der 1949 gegründeten NATO, auf Dauer hintanhalten sollte. Erstmals machten im Februar 1950 zwei hohe sowjetische Funktionäre in Wien den Vorschlag, Österreich wäre im Staatsvertrag zu verpflichten, „keinerlei militärischen Blocks beizutreten“, doch gewann dies damals noch nicht die Zustimmung des Moskauer Außenministeriums.6 Im September 1952 – nota bene fast ein halbes Jahr vor Stalins Tod! – begann ein sowjetischer Diplomat in Washington Gespräche mit einem Mitglied der österreichischen Botschaft, des Inhalts, dass Österreich sich auch nach dem Abschluss des Staatsvertrags und dem Abzug der Truppen nicht durch andere schützen lassen sollte; dies wurde bald präzisiert durch den Ausdruck der Sorge, Österreich könne dem Atlantikpakt beitreten; der sowjetische Diplomat empfahl eine „strikte Neutralitätspolitik ähnlich Schweden, Schweiz“. Zwei Monate später gelangten inoffizielle, aber wohl sehr gut überlegte Äußerungen des sowjetischen TASS-Korrespondenten in Bern zur Kenntnis des österreichischen Gesandten in Bern: Die Sowjetunion werde erst aus Österreich herausgehen, wenn die volle Gewähr dafür geboten sei, dass Österreich nach dem Abzug der Besatzungstruppen weder ein amerikanischer noch ein deutscher Satellitenstaat und als solcher ein Glied des Atlantikpakts werde. 5 Eva-Marie Csáky, Der Weg zu Freiheit und Neutralität. Dokumentation zur österreichischen Außenpolitik 1945–1955, Wien 1980, Nr. 140, 330. 6 Stourzh, Um Einheit und Freiheit 826 (mit Hinweis auf die Fundstelle bei Peter Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert wurde, in Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx, Hg., Die Rote Armee in Österreich. Beiträge, Wien 2005, 649–726, hier 684.

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Ähnliche Gedanken wurden bald nach Stalins Tod neuerlich in Gesprächen sowjetischer und österreichischer Diplomaten in Washington geäußert.7 Im Vorfeld der Berliner Außenministerkonferenz vom Februar 1954 erwartete man allgemein in den westlichen Staatskanzleien, dass die Sowjetunion mit einer einschlägigen Initiative aufwarten würde. Sie tat dies auch, und zwar in dem Vorschlag des Außenministers Molotow, einen Neutralisierungsartikel im Staatsvertrag zu verankern – wenngleich das Wort „Neutralisierung“ im Text nicht vorkam. Eine vertragliche Neutralisierung war jedoch das rote Tuch für die Westmächte, besonders die Amerikaner, weil sie einen Präzedenzfall für den deutschen Friedensvertrag um jeden Preis vermeiden wollten. John Foster Dulles konterte in origineller Weise: Eine „freiwillig erklärte Neutralität“ und der Hinweis auf das Muster der Schweiz – so konnte man von Deutschland ablenken – waren für Dulles akzeptabel, der sich zuvor grünes Licht bei Präsident Eisenhower geholt hatte.8 In einem Vier-Augen-Gespräch mit Molotow am 13. 2. 1954 sagte Dulles: „Wenn Österreich eine Schweiz zu sein wünscht, werden die Vereinigten Staaten nicht im Wege stehen, aber dies sollte nicht auferlegt werden.“9 Dies ist die Zeugungsminute der Formel des Moskauer Memorandums – „eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“. Dulles wiederholte die Bereitschaft der USA, eine allfällige Neutralität Österreichs anzuerkennen, wenn sie nicht vertraglich auferlegt werde, ebenso wie den Hinweis auf die Schweiz auch öffentlich vor dem Plenum der Außenministerkonferenz. Hinzugefügt sei, dass die Österreicher in ihrer Verzweiflung Andeutungen machten, dass sie sich allenfalls eine Verankerung der Bündnisfreiheit im Staatsvertrag vorstellen könnten, was sogleich zu einer Intervention der Westmächte bei Bundes- und Vizekanzler in Wien führte; sogar im Vorfeld der Moskauer Gespräche im Frühjahr 1955, im März 1955, machte Bundeskanzler Raab in einer Rundfunkrede ähnliche Andeutungen.10 Die österreichische Kompromissbereitschaft in dieser Frage sollte sich als unnötig erweisen, denn 1955 strebten die Sowjets den Konsens mit den 7 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 221–222, 290. 8 Stourzh, Um Einheit und, Freiheit 298. 9 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 309–310. Die diesbezüglichen sowjetischen Aufzeichnungen bestätigen Dulles’ Äußerungen, sind aber etwas ausführlicher. Hierzu siehe Gerald Stourzh, Der österreichische Staatsvertrag in den weltpolitischen Entscheidungsprozessen des Jahres 1955, in Arnold Suppan / Gerald Stourzh / Wolfgang Mueller (Hrsg.), Der österreichische Staatsvertrag 1955. Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität (Wien 2005) 965–995, hier 976, Anm. 31. 10 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 313–315, 351, 354.



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Westmächten an, und für diese kam höchstens eine „freiwillige“ und einseitige Erklärung der Bündnisfreiheit oder eventuell Neutralität infrage. In den Wochen der Vorbereitung auf die Moskauer Gespräche vom April 1955 ließ die sowjetische Führung den Gedanken an eine vertragliche „Neutralisierung“ Österreichs fallen; in den internen Akten wurde der Begriff „neutralizacija“ durch den Begriff „neutralitet“ ersetzt, und bei den Moskauer Gesprächen waren es die Sowjets, nicht die Österreicher, die als erste das Muster der Schweiz ins Gespräch brachten, sich sowohl auf Dulles als auch auf den Bundespräsidenten Körner berufend – auf Letzteren wegen dessen bereits zitierter Stellungnahme über das Schweizer Vorbild.11 Die Österreicher reisten nach Moskau mit diversen Arbeitsunterlagen, darunter einem Papier mit dem Titel „Erklärung über die Bündnisfreiheit Österreichs“; dieses Papier enthielt bereits wesentliche verfassungsrechtlich relevante Fragen und stützte sich auf eine als Beilage beigegebene Ausarbeitung des Bundeskanzleramts – Verfassungsdienst (hinfort BKA-VD).12 Es sei wörtlich zitiert: „Eine einseitige, Österreich verpflichtende Erklärung, keine Militärbündnisse eingehen zu wollen und keine fremden militärischen Stützpunkte auf seinem Gebiet zuzulassen, die von der Bundesregierung abgegeben wird, bedarf nach österreichischem Verfassungsrecht der Sanktionierung durch den Nationalrat. Dies kann erfolgen I. durch einen Beschluß des Nationalrats, II. durch ein Bundes-Verfassungsgesetz [sic] und zwar aa) durch eine Novellierung des Bundes-Verfassungsgesetzes bb) durch ein eigenes Bundesverfassungsgesetz.“

Als Beilage hierzu gab es eine vierseitige, in drei Teile gegliederte Ausarbeitung des BKA-VD (ohne Zahl, Datum und Unterschrift). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist Edwin Loebenstein als Verfasser dieses Papiers anzusehen. Ich möchte hier erstmals daraus etwas ausführlicher zitieren.

11 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 402, 407, 640–641. 12 Diese Unterlagen finden sich u.a. im Nachlaß Kreisky in der Stiftung Bruno-Kreisky-Archiv, Bestand VII/Staatsvertrag 2, sowie in BMAA, Zl. 302.576-6VR/55. Hervorhebungen im Original durch Unterstreichung. Zum Folgenden vgl. bereits den Abschnitt „Die Erklärung und Anerkennung der Neutralität“, in Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 549–567, in dieser Studie durch ausführlichere Zitate und zusätzliche Quellen ergänzt.

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„Eine einseitige, Österreich verpflichtende Erklärung, keine Militärbündnisse eingehen zu wollen und keine fremden militärischen Stützpunkte auf seinem Gebiet zuzulassen, geht wohl über das hinaus, was im Rahmen der vollziehenden Gewalt von der Regierung unter dem Titel der Führung der auswärtigen Angelegenheiten des Staates in einer Österreich verpflichtenden Weise übernommen werden könnte; denn eine solche Erklärung verpflichtet nicht nur die Regierung zu bestimmten Handlungen bzw. Unterlassungen, sie legt vielmehr auch dem Gesetzgeber Verpflichtungen auf, bei künftiger Gestaltung seiner Gesetzgebung und bei Abschluß von Staatsverträgen, soweit sie seiner Mitwirkung bedürfen, auf eine solche Erklärung zu achten und ihr nicht zuwiderzuhandeln. Sie legt sohin der zukünftigen Haltung des Gesetzgebers und der Gestaltung der künftigen Gesetzgebung Fesseln an und muß daher in irgend einer, noch näher zu untersuchenden Form von den gesetzgebenden Organen sanktioniert werden.“ Das Exposé fuhr fort, die Zuständigkeit für eine entsprechende gesetzliche Regelung ausschließlich dem Bundesgesetzgeber zuzuordnen, und führte mehrere Beispiele aus der Schweizer Geschichte an. Die Schlussfolgerung lautete: „Die Mitwirkung der gesetzgebenden Organe des Bundes an einer solchen Erklärung ist daher unerläßlich.“ Im Teil II untersuchte der Verfasser des Exposés mögliche Formen der Beschlussfassung des Nationalrates über eine solche Erklärung. Er kam zum Schluss, dass die in Art. 52 des Bundes-Verfassungsgesetzes (hinfort B-VG) genannten Kompetenzen des Nationalrats, die Geschäftsführung der Bundesregierung zu überprüfen, die Mitglieder der Bundesregierung zu befragen und Auskünfte zu verlangen, schließlich seinen Wünschen über die Ausübung der Vollziehung in Entschließungen Ausdruck zu geben, für den vorliegenden Fall nicht ausreichend wären. Ein Beschluss des Nationalrats, der sich gewissermaßen darauf beschränken würde, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Regierung eine solche Erklärung abgegeben habe, würde verfassungsrechtlich nicht ausreichend sein; er könnte allenfalls als politische Demonstration und Festlegung des derzeitigen Gesetzgebungsorgans eine gewisse politische Bedeutung haben „und würde auch im Hinblick auf die politische Verantwortlichkeit der Regierung dem Parlament gegenüber die österreichische Regierung dem Nationalrat gegenüber binden“. Das Exposé des BKA-VD verwarf auch die Möglichkeit eines einfachen Bundesgesetzes; es wäre im vorliegenden Fall ein Gesetz im formellen Sinn, doch seien derartige Gesetzesbeschlüsse nur in den im B-VG genannten Fällen möglich. Es wäre also der „einzig gangbare Weg, diese Erklärung in die Form eines



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Bundesverfassungsgesetzes zu kleiden“. Es böten sich zwei Möglichkeiten an (wir kennen sie schon), entweder eine Novelle zum B-VG oder aber ein eigenes Bundesverfassungsgesetz zu beschließen. Ein solches Verfassungsgesetz hätte auch normativen Charakter; seine Normadressaten wären einerseits der einfache Gesetzgeber, andererseits die vollziehende Gewalt. „Es wäre daher ratsam, in einem solchen Bundesverfassungsgesetz einerseits die Verpflichtung Österreichs festzulegen, keinen Militärbündnissen beizutreten und keine militärischen Stützpunkte auf seinem Gebiet zuzulassen, anderseits zu normieren, daß die Gesetzgebung und Vollziehung des Bundes und der Länder dieser Erklärung zu entsprechen hat.“ Hinzugefügt sei, dass auch in einer Ausarbeitung des Völkerrechtsbüros im Außenamt (hinfort VRB) vom 17. März 1955 – als Verfasser steht der Leiter des VRB Stephan Verosta außer Zweifel – der Gedanke erwogen wurde, die von Österreich abzugebende Erklärung über die Nichtteilnahme an militärischen Bündnissen und die Nichtzulassung von militärischen Stützpunkten innerstaatlich zu verankern: „Nötigenfalls könnte diese Verpflichtung Österreichs auch innerstaatlich in einem Verfassungsgesetz absolut verankert oder ein Abgehen von dieser Verpflichtung an eine Beschlußfassung des Nationalrates mit besonders qualifizierter Mehrheit gebunden werden.“13 Es bestand also das Gerüst des Neutralitätsgesetzes vom Oktober 1955 eigentlich schon vor den Moskauer Verhandlungen.14 Ein weiterer Absatz des Exposés des Verfassungsdienstes war sozusagen eine Auseinandersetzung mit der Kelsen’schen Rechtserzeugungslehre, die allerdings der Aktualität nicht entbehrt. Ich zitiere wörtlich: „Der möglichen Einwendung, daß auch diese in einem Verfassungsgesetz verankerte Erklärung durch ein späteres Verfassungsgesetz abgeändert, abgeschwächt [vgl. etwa 13 „Grundsätze für das weitere Vorgehen Österreichs“. Es sind mehrere hektographierte Exemplare dieses Dokuments vorhanden (u.a. im Nachlaß Kreisky in der Stiftung Bruno-KreiskyArchiv, VII, Staatsvertrag 2). Es ist abgedruckt in: Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 609–614, hier 610. 14 Die Thematik kam in einer Vorbesprechung zu den Moskauer Verhandlungen im Außenamt am 2. 4. 1955 mit Figl, Kreisky, dem Generalsekretär des Außenamtes Wildmann, dem Politischen Direktor Josef Schöner und dem Leiter des Völkerrechtsbüros Stephan Verosta, zur Sprache. Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 550; ausführliches Protokoll dieser Besprechung abgedruckt in Alfons Schilcher, Hg., Österreich und die Großmächte. Dokumente zur österreichischen Außenpolitik 1945–1955 (Wien/Salzburg 1980) Nr. 111, 2. Dokument, bes. 269–271 (Name des Generalsekretärs Wildmann irrtümlich mit Wildner wiedergegeben).

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Art. 23f neu des B-VG gemäß BVG BGBl. 1998/83!], ja sogar aufgehoben werden kann, ist entgegenzuhalten, daß in einem parlamentarisch-demokratischen Staats­ system durch das Abstellen auf den in freien und geheimen Wahlen zum Ausdruck kommenden Volkswillen eine Selbstbindung des Gesetzgebers auf Jahrzehnte hinaus verfassungsrechtlich nicht durchführbar ist. Das Beispiel der seit 1848 parlamentarisch-demokratischen Schweiz zeigt aber eine größere Beständigkeit innen- und außenpolitischer Grundsätze, als dies in allen totalitären Systemen der Fall ist.“

In einem kurzen Teil III wurde noch festgehalten, dass laut Art. 38 B-VG der Bundesversammlung die Beschlussfassung über eine Kriegserklärung zustehe. Diese Zuständigkeit könne aber keinesfalls extensiv in der Richtung interpretiert werden, dass der Bundesversammlung etwa auch die Zuständigkeit zur Beschlussfassung über eine Erklärung der eingangs erwähnten Art zustehen würde. In Moskau präsentierten die Österreicher ihren sowjetischen Verhandlungspartnern ein Papier, dessen zentraler Passus folgende drei Punkte umfasste. In Hinblick auf die von der Sowjetunion angekündigten Konzessionen werde die österreichische Regierungsdelegation für die Herbeiführung von Beschlüssen der Bundesregierung in folgenden Punkten Sorge tragen:15 „1. Im Sinne der von Österreich bereits auf der Konferenz von Berlin im Jahre 1954 abgegebenen Erklärung, keinen militärischen Bündnissen beizutreten und militärische Stützpunkte auf seinem Gebiet nicht zuzulassen, wird die öster. Bundesregierung eine derartige Erklärung in einer für Österreich international verbindlichen Form abgeben. [Es folgt nun der für unser Thema interessanteste Punkt:] 2. Die österr. Bundesregierung wird die österr. Erklärung in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Bundesverfassung dem österr. Parlament zur Beschlußfassung vorlegen. 3. Die Bundesregierung wird alle zweckdienlichen Schritte unternehmen, um für diese vom österr. Parlament bestätigte Erklärung eine internationale Anerkennung zu erlangen.“

Diese drei Punkte sind die Basis der Punkte I/1–3 des Moskauer Memorandums vom 15. April 1955. Zwei Veränderungen kamen als Ergebnis der Verhandlungen in den zitierten Text hinein. In Punkt 1 wurde nunmehr festgehalten, dass die 15 Ich lasse hier 2 Punkte von insgesamt 5 Punkten aus; das Papier ist publiziert in Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 633–634.



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Bundesregierung „eine Deklaration in einer Form abgeben“ wird, „die Österreich­ international dazu verpflichtet, immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“. Das war die Konsensformel, mit deren Hilfe die Sowjetunion erwarten konnte, die Zustimmung nicht nur Österreichs, sondern vor allem der USA und der anderen beiden Westmächte zur Neutralitätslösung für Österreich zu erhalten. Und in Punkt 2 wurde festgehalten, die Bundesregierung werde „diese österreichische Deklaration gemäß den Bestimmungen der Bundesverfassung dem österreichischen Parlament unmittelbar nach Ratifikation des Staatsvertrages [meine Hervorhebung] zur Beschlußfassung vorlegen“. Mit den Worten „unmittelbar nach Ratifikation des Staatsvertrages“ – die Sowjets wollten ursprünglich, wie Botschafter Verosta berichtete, sogar die Formulierung „gleichzeitig mit der Ratifikation des Staatsvertrages“16 – wurde der politische Zusammenhang zwischen Staatsvertragsabschluss und Neutralitätserklärung noch stärker betont, was ja ganz im sowjetischen Interesse lag. Nach der Rückkehr aus Moskau fanden sich die verantwortlichen österreichischen Diplomaten und Verfassungsjuristen vor dem Problem, eigentlich eine Quadratur des Kreises bewältigen zu müssen. Auf der einen Seite gab es die im Moskauer Memorandum verankerte Festlegung, die Neutralitätserklärung „unmittelbar nach Ratifikation des Staatsvertrages“ – gemeint war die parlamentarische Genehmigung des Staatsvertrages – dem Parlament zur Beschlussfassung vorzulegen. Andererseits wurde immer deutlicher der politische Wille der österreichischen Regierung sichtbar, die verfassungsgesetzlich verbindliche Festlegung der Neutralität erst nach dem Abzug der Besatzungsmächte zu verabschieden. Wie Stephan Verosta gegen Ende April 1955 dem stellvertretenden französischen Hochkommissar Lalouette sagte, solle die Neutralitätserklärung zwar dem Parlament unmittelbar nach der Vertragsratifikation vorgelegt, aber erst wirksam werden, wenn der letzte Besatzungssoldat Österreich verlassen hätte.17 Die Prozedur, die durchzuführen man sich anschickte, war sehr raffiniert. Die Festlegung auf die Neutralität wurde gewissermaßen zweigeteilt. Zunächst – nämlich unmittelbar nach Ratifikation des Staatsvertrages – sollte das Parlament eine Entschließung annehmen, in der die Bundesregierung zur Vorlage eines Verfassungsgesetzes aufgefordert wurde; Letzteres wäre allerdings erst nach Räumung Österreichs durch die Besatzungstruppen zu beschließen. Wie sehr hier die Bundesregierung – in der allerdings die Spitzen der beiden großen Koalitionsparteien saßen – die 16 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 551. 17 Ebd.

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treibende Kraft war und das Parlament eher als das den Regierungswillen ausführende Organ erscheint, zeigt sich in einer Wortmeldung Raabs im Ministerrat vom 17. Mai: „... das Haus muß die Entschließung beschließen, daß die Regierung ein Verfassungsgesetz vorlegt.“ Auch Vizekanzler Schärf schrieb in diesen Tagen an seinen Vertrauensmann an der österreichischen Botschaft in Paris, es sei beabsichtigt, dass „nach Rechtskraft des Staatsvertrages die österreichische Regierung ein Verfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs beschließt ...“!18 Entwürfe für die Entschließung wurden im Außenministerium (Völkerrechtsbüro) ausgearbeitet.19 Textstücke des späteren Neutralitätsgesetzes tauchen bereits in Entwürfen für die zuerst vorgesehene Entschließung des Parlaments auf. In der Vorbereitung des Entschließungstextes wurde auch ein vom amerikanischen Botschafter Thompson ausgesprochener Wunsch berücksichtigt, einen Hinweis auf die von Österreich angestrebte Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen hineinzunehmen.20 Am 14. Mai 1955 überreichte Außenminister Figl den in Wien tagenden Außenministern der Vier Mächte – es war der Vorabend der Staatsvertragsunterzeichnung – einen Entwurf der vom Nationalrat zu beschließenden Neutralitätsentschließung. Er entsprach bereits inhaltlich genau und mit geringen formalen Unterschieden jenem sogleich zu präsentierenden Text, der am 25. Mai von allen vier Parlamentsparteien im Nationalrat eingebracht und am 7. Juni vom Plenum beschlossen werden sollte.21 Sehr bald nach Unterzeichnung des Staatsvertrags drängte die sowjetische Seite auf die parlamentarische Beschlussfassung. Der sowjetische Hochkommissar und Botschafter Iljitschow deponierte schon am 20. Mai bei Raab den Wunsch, die Neutralitätserklärung möge dem Parlament zur Kenntnis gebracht werden.22 Der endgültige Text, der in einem am 25. Mai 1955 von Vertretern aller vier Parlamentsparteien (ÖVP, SPÖ, KPÖ und VdU) vorgelegten Antrag enthalten war, wurde am 1. Juni 1955 vom Hauptausschuss des Nationalrats gebilligt und dem Plenum des Nationalrats zur Annahme empfohlen. Diese erfolgte – in der Tat unmittelbar nach der 18 Raabs Äußerung in Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 553; Schärfs Schreiben an Heinrich Standenat ebd., 551–552. 19 Der erste Referentenentwurf ist mit 27. April 1955 datiert. BMAA, Zl. 302.813-6VR/55. 20 BMAA, Zl. 302.817-6VR/55. 21 Der am 14. 5. 1955 den vier Außenministern überreichte Entwurf ist in englischer Übersetzung veröffentlicht in: Foreign Relations of the United States, 1955–1957, V: Austrian State Treaty; Summit and Foreign Ministers Meeting, 1955, Washington D.C., 1988, 114–115. Der deutsche Text befindet sich als „6. Entwurf“ mit Datum 14. 5. 1955, Zl. 302.819-6VR/55, in den Akten des BMAA. 22 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 554.



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parlamentarischen Genehmigung des Staatsvertrags – noch am Tage dieser Genehmigung, dem 7. Juni 1955. Am 8. Juni verabschiedete der Bundesrat eine gleich lautende Entschließung. Der Text der Entschließung ist interessant und sei hier vollinhaltlich zitiert: „Österreich erklärt zum Zwecke der dauernden und immerwährenden Behauptung der Unabhängigkeit nach außen und der Unverletzlichkeit von Ruhe und Ordnung im Inneren aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität und ist entschlossen, diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen. Österreich erklärt in diesem Zusammenhang, sich in seinen Beziehungen zu anderen Staaten stets an die in der Charter der Vereinten Nationen ausgesprochenen Grundsätze halten zu wollen, und bringt neuerlich seine Bereitwilligkeit und seine Fähigkeit zum Ausdruck, die in der Charter enthaltenen Verpflichtungen anzunehmen und einzuhalten. Darüber hinaus wird die Bundesregierung aufgefordert, * dem Nationalrat den Entwurf eines die Neutralität regelnden Bundesverfassungsgesetzes vorzulegen, * alle Schritte zu unternehmen, um die endliche Aufnahme in die Organisation der Vereinten Nationen, um die Österreich bereits angesucht hat, zu erreichen, * sobald der österreichische Staatsvertrag in Kraft getreten und Österreich von den alliierten Besatzungstruppen geräumt sein wird, dieses Gesetz allen Staaten mit dem Ersuchen um Anerkennung der Neutralität Österreichs mitzuteilen.“23 23 Meine Hervorhebung. Die diesem Text vorangestellten begründenden fünf Präambelsätze (in dem am 14. 5. 1955 den Außenministern übergebenen Textteil des Entwurfs) figurieren als Antragsbegründung sowohl des am 25. 5. eingebrachten Antrags der Vertreter der vier Parlamentsparteien (Maleta, Pittermann, Kraus und Koplenig) als auch des am 1. 6. verabschiedeten Antrags des Hauptausschusses (Berichterstatter Tončić, Obmann Hurdes) an den Nationalrat, sie sind aber nicht Teil der vom Nationalratsplenum am 7. 6. verabschiedeten Entschließung. Vier-Parteienantrag (Präambelsätze und Entschließung) abgedruckt in Csáky, Der Weg zu Freiheit und Neutralität, Nr. 178, 418–419. Der Bericht des Hauptausschusses erliegt in 520 d. Beilagen zu Nationalrat, VII. Gesetzgebungsperiode; die Plenardebatte, die mit der einstimmigen Annahme des Antrages endete, in Sten. Protokolle d. Nationalrats, VII. Gesetzgebungsperiode, S. 3145–3164 (7. 6. 1955). Zur Annahme im Bundesrat vgl. Stenographische Protokolle des Bundesrats. Bd. 103, 218–219 (8. 6. 1955); dort auch neuerlich Text der Neutralitätsentschließung.

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Zwei Dinge sind vor allem von Interesse. Erstens die Formulierung gleich im ersten Absatz, dass Österreich seine Neutralität erklärt – sozusagen in und mit dieser Entschließung –, und zweitens die Formulierung, dass das von der Bundesregierung vorzulegende Bundesverfassungsgesetz die Neutralität regeln, also nicht erst errichten solle.24 In dieser Textierung ist wohl ein Signal an die sowjetische Seite sehen, dass hiermit Punkt 1/2 des Moskauer Memorandums erfüllt sei, der, ich wiederhole ihn, wie folgt gelautet hatte: „Die österreichische Bundesregierung wird diese österreichische Deklaration gemäß den Bestimmungen der Bundesverfassung dem österreichischen Parlament unmittelbar nach Ratifikation des Staatsvertrages zur Beschlußfassung vorlegen.“

Es darf nicht übersehen werden, dass das Moskauer Memorandum – auch – ein subtiler Operationskalender war. Die politische Verzahnung der Schritte, die einerseits über die Unterzeichnung des Staatsvertrags, dessen Ratifizierung durch die fünf Signatarstaaten und dessen Inkrafttreten schließlich zum Ablauf der 90-tägigen Räumungsfrist am 25. Oktober führten, die andererseits durch Vorgaben für das Zustandekommen des Neutralitäts-Verfassungsgesetzes bestimmt waren, zu denen das Moskauer Memorandum, die österreichischen Gesetzgebungsprozedur und der politische Wille, die Neutralität verfassungsgesetzlich erst nach Abzug der Besatzungstruppen zu beschließen, gehörten – diese zwar nicht juristische, aber operationell-politische Verzahnung war sehr eng. Ansonsten sind ja bereits die zentralen Textstücke des Artikels 1 des späteren Bundesverfassungsgesetzes über die Neutralität vorhanden, ohne dass ein Detailvergleich erforderlich wäre. Die Verabschiedung im Nationalrat und im Bundesrat erfolgte einstimmig; die Wortmeldungen der Vertreter des VdU (Verband der Unabhängigen) waren eher zahm und in freundlichen Tönen gehalten – ich betone dies deshalb, weil sich die Haltung des VdU zwischen Juni und Oktober merklich verschärfen sollte.

24 Die Erklärung der Neutralität als Bestandteil bereits der Nationalratsentschließung und nicht erst eines dem Nationalrat von der Bundesregierung vorzulegenden Gesetzentwurfes findet sich erstmals im 3. (im VRB ausgearbeiteten) Entwurf für die Nationalratsentschließung vom 29. 4. 1955, BMAA, Zl. 302.815-6VR/55; der Hinweis auf ein die Neutralität „regelndes“ BVG findet sich erstmals im 5. Entwurf des VRB vom 2. 5. 1955, Zl. 302.818-6VR/55.



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Unmittelbar nach der Entschließung von National- und Bundesrat ging es zügig an die Ausarbeitung der Regierungsvorlage für das Neutralitätsgesetz und die Ausarbeitung der Erläuternden Bemerkungen. Der Text der Regierungsvorlage und die Erläuternden Bemerkungen waren uneingeschränkt das Werk zweier Persönlichkeiten – des Leiters des VRB, Stephan Verosta, und des Leiters des BKA-VD, Edwin Loebenstein. Sowohl der Text des Gesetzesentwurfs als auch die Erläuternden Bemerkungen waren Gegenstand von Besprechungen zwischen Loebenstein und Verosta, u.a. am 11. Juni, als der erste, im BKA-VD ausgearbeitete Entwurf des Neutralitätsgesetzes – wobei die Entschließung des Nationalrats vom 7. Juni als Textvorlage diente – besprochen wurde; einige von Verosta vorgenommene Korrekturen wurden vom BKA-VD in einen zweiten, dem endgültigen Text der Regierungsvorlage schon sehr nahekommenden Textentwurf eingearbeitet.25 Der Entwurf zu den Erläuternden Bemerkungen wurde zunächst im BKA-VD konzipiert, doch schlug Verosta eine Reihe von Abänderungen vor.26 Bei einer Besprechung zwischen Loebenstein und Verosta am 14. Juni einigten sich die beiden, dass das VRB über den völkerrechtlichen Teil eine eigene Ausarbeitung machen würde. Diese geriet zu einem historisch-völkerrechtlichen Text. Der staatsrechtliche Teil wurde im BKA-VD geschrieben.27 Der Ministerratsantrag zur Regierungsvorlage wurde gemeinsam vom Bundeskanzler und Außenminister eingebracht.28 Bei den Erläuternden Bemerkungen, die ja dann auch in die dem Parlament zugeleitete Regierungsvorlage übergingen, ist, wie schon erwähnt, der völkerrechtliche, von Verosta verfasste Teil mit einer historischen Einführung versehen. 25 Vgl. BMAA, Zl. 303.301-6VR/55 v. 11. 6. 1955, Zl, 303.302-6VR/55 v. 13. 6. 1955. 26 Der bei Zl. 303.303-6VR/55 einliegende Durchschlag des Entwurfs eines Vortrags an den Ministerrat enthält zahlreiche mit Bleistift geschriebene Korrekturen bzw. Ergänzungen Verostas. 27 Vgl. BMAA, Zl. 303.303-6VR/55 v. 14. 6. 1955. 28 Gemeinsamer Vortrag des Bundeskanzlers und des Bundesministers für die Auswärtigen Angelegenheiten [sic] an den Ministerrat. Betr: Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes betreffend die Neutralität Österreichs. BKA, Zl. 92.051-2a/55, als Beilage bei Nr. 98 der Ministerratsprotokolle (Regierung Raab 1) v. 28. 6. 1955, Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bestand Ministerratsprotokolle. Dem entspricht der Text der Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage über das Bundesverfassungsgesetz betreffend die Neutralität Österreichs (598 d. Beilagen, Nationalrat, VII. Gesetzgebungsperiode), abgedruckt in Csáky, Der Weg zu Freiheit und Neutralität, Nr. 183, 433–437. Der vom BKA-VD (Loebenstein) ausgearbeitete zweite, staatsrechtliche Teil, nicht eigens als solcher gekennzeichnet, beginnt mit dem Worten: „Der staatsrechtliche und verfassungsrechtliche Wert eines Neutralitätsgesetzes. ..“. Siehe ebd., 436.

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Ich möchte daran erinnern, dass Verosta eine historisch-patriotisch ungemein engagierte und informierte Persönlichkeit war, wovon etwa sein im Jahr zuvor, 1954, veröffentlichter Essay „Die geschichtliche Kontinuität des österreichischen Staates und seine europäische Funktion“ zeugt. Dieser Essay wurde in dem vom Historiker Heinrich Benedikt herausgegebenen Sammelband „Geschichte der Republik Österreich“ publiziert.29 Die historische Einführung der Erläuternden Bemerkungen zum Neutralitätsgesetz sollte im Zusammenhang mit diesem Essay Verostas gelesen werden. Ein Satz im historisch-völkerrechtlichen Teil gibt zu einem Kommentar Anlass. Es heißt dort: „Die nach Moskau entsandte Regierungsdelegation konnte bei ihren Besprechungen [....] mit der sowjetischen Regierung feststellen, daß die von Österreich erwogene Übung einer immerwährenden Neutralität, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird, den raschesten Abschluß des Staatsvertrages zu sichern in der Lage ist“.30 Dies ist historisch insofern nicht ganz zutreffend, als die Österreicher nachweislich mit dem Vorschlag und Text einer Erklärung der Bündnisfreiheit, nicht der Neutralität, nach Moskau gingen. Verosta selbst hatte in einem Positionspapier im März 1955 geschrieben, dass das Wort Neutralität nicht verwendet werden sollte; allerdings hatten sich die Österreicher, und hier federführend Verosta, ganz eng an der von den Großmächten der Schweiz 1815 gegebenen Garantie der Unversehrtheit und Unverletzlichkeit ihres Staatsgebietes orientiert und einen solchen Vorschlag ebenfalls in Moskau präsentiert, der auch von der Sowjetunion angenommen wurde.31 Zu dieser Territorialgarantie 29 Stephan Verosta, Die geschichtliche Kontinuität des österreichischen Staates und seine europäische Funktion, in: Heinrich Benedikt, Hg., Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954, 573–610. 30 Csáky, Der Weg zu Freiheit und Neutralität, 435. Im ersten, noch vom BKA-VD stammenden Text (erliegt bei Zl. 303.303-6VR/55) hieß es, dass die österreichische Regierungsdelegation bei ihren Besprechungen in Moskau feststellen konnte, „daß die von Österreich erwogene Neutralitätspolitik den raschesten Abschluß des Staatsvertrages zu sichern in der Lage ist“. In der späteren, nunmehr vom VRB (Verosta) ausgearbeiteten, wesentlich ausführlicheren Fassung des historisch-völkerrechtlichen Teils wurde dieser Satz zwar übernommen, jedoch das Wort „Neutralitätspolitik“ durch das Wort „Neutralität“ ersetzt (die Buchstaben „spolitik“ wurden mit x-Zeichen übertippt) und eine in Verostas Handschrift geschriebene Ergänzung eingefügt, wodurch der zitierte Satzteil nunmehr lautete, dass die von Österreich erwogene „Übung einer immerwährenden Neutralität, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“, den raschesten Abschluss des Staatsvertrages zu sichern in der Lage sei. Die handschriftliche Ergänzung findet sich auf zwei Textexemplaren in Zl. 303.304-6VR/55. 31 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, 356, 611. Zu diesem Positionspapier vgl. bereits oben bei Anm. 13.



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ist es aber wegen des Widerstands der Westmächte nie gekommen – doch gehört die Garantiefrage nicht unmittelbar zum Thema dieser Studie, – ich habe mich in meinem Buch ausführlich damit beschäftigt.32 Im zweiten, staatsrechtlichen Teil der Erläuternden Bemerkungen, von Loebenstein stammend (aber mit Verosta am 22. Juni besprochen und mit einigen Abänderungen versehen),33 ist besonders auf folgende Formulierung hinzuweisen, die durch die Hineinnahme in Julius Raabs Parlamentsrede am 26. Oktober berühmt werden sollte, sich aber eben schon in den Erläuternden Bemerkungen zum Ministerratsantrag findet: „Die geistige und politische Freiheit des Einzelnen, insbesondere die Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung wird durch die dauernde Neutralität des Staates nicht berührt. Daß die Neutralität nicht zur ideologischen Neutralität verpflichtet, ergibt sich unter anderem daraus, daß die Neutralität den Staat, nicht aber die einzelnen Staatsbürger bindet.“

Eine kleine Merkwürdigkeit des Ministerratsantrags ist zu berichten. Im Ministerratsantrag (der endgültige Text wurde im Verfassungsdienst geschrieben und vom Außenamt zustimmend zur Kenntnis genommen) wird auf die Entschließung des Nationalrats vom 7. Juni verwiesen, in welcher die Bundesregierung aufgefordert worden sei, dem Nationalrat „ehestens den Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes betreffend die Neutralität Österreichs zur Beschlußfassung vorzulegen ...“. In der Entschließung des Nationalrates war jedoch davon die Rede, die Bundesregierung werde aufgefordert, „dem Nationalrat den Entwurf eines die Neutralität regelnden Bundesverfassungsgesetzes“ vorzulegen. Der hier zitierte, von der Nationalratsentschließung abweichende Text findet sich bereits in einem frühen, vom BKA-VD stammenden Entwurf des Vortrags an den Ministerrat.34 Der Ministerrat verabschiedete die Regierungsvorlage schon am 28. Juni 1955, beschloss aber auf Antrag des Vizekanzlers Schärf, die Vorlage dem Parlament 32 Ebd., 567–574. 33 Zl. 303.305-6VR/55. 34 Durchschlag des Entwurfs erliegt bei Zl. 303.303-6VR/55 (undatiert, noch aus dem Vormonat Mai stammend, da das Datum der Nationalratsentschließung noch offen gelassen ist und für die Datumseinsetzung des Ministerratsantrags noch „Mai 1955“ vorgesehen ist). Allerdings ist zu bemerken, dass die Formulierung, betreffend den „Entwurf eines die Neutralität regelnden Bundesverfassungsgesetzes“, bereits in einem Entwurf des VRB vom 2. 5. enthalten war (siehe oben Anm. 24).

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erst zuzuleiten, „wenn von allen vier Staaten die Ratifizierung erfolgt ist“.35 Drei Wochen später, am 19. Juli, berichtete Raab dem Ministerrat, es sei die Meinung ausgesprochen worden, man möge das Gesetz (d.h. die Regierungsvorlage) wegen Behandlung im zuständigen Parlamentsausschuss doch schon herausgeben, also vor Ende des Ratifikationsprozesses und damit vor dem Inkrafttreten des Staatsvertrags. Deshalb reassumierte der Ministerrat seinen Beschluss von 28. Juni, und so wurde mit Datum 19. Juli dem Nationalrat die Regierungsvorlage zugeleitet, genau acht Tage vor der letzten Hinterlegung einer Ratifikationsurkunde im Moskauer Außenministerium – es war die französische – am 27. Juli und damit dem Inkrafttreten des Staatsvertrags am gleichen Tage. Der Text der Regierungsvorlage lautete wie folgt:36 Bundesverfassungsgesetz betreffend die Neutralität Österreichs. Der Nationalrat hat beschlossen: Artikel I. Zum Zwecke der dauernden und immerwährenden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen, zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes sowie im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Inneren erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität und wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen. Artikel II. Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut.

Ich konzentriere mich hinfort nur auf Art. I der Gesetzesvorlage. Am 14. August 1955 erschien in der „Presse“ ein langer und überaus kritischer Artikel zum Text der Regierungsvorlage aus der Feder von Franz Gschnitzer, Professor für bürgerliches Recht in Innsbruck, ÖVP-Nationalratsabgeordneter und nachma35 Protokoll des 98. Ministerrats, Pkt. 3 der Tagesordnung (vgl. oben Anm. 28). 36 Hier zit. nach den Erläuternden Bemerkungen zum gemeinsamen Ministerratsantrag vom 28. 6. 1955, BKA Zl. 92.051-2a/55.



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liger Staatssekretär im Außenministerium. Der Titel lautete: „Neutralität mit Sprachschwierigkeiten“.37 Gschnitzers Kritik war radikal. Zunächst bemängelte er, dass der Gesetzestitel die Worte „betreffend die Neutralität ...“ enthalte. „Ist ,über‘ nicht amtlich genug?“, fragte er mit ätzendem Spott. Gschnitzers Wunsch wurde Genüge getan. Die Begründung für die Neutralität im Text des Art I, so Gschnitzer, errege nichts als Zweifel. Besonders der Hinweis auf die „Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Innern“ ärgerte ihn. Was habe „erst die Neutralität mit der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zu tun? Ich wüßte es nicht.“ De facto waren diese Worte der schweizerischen Bundesverfassung von 1874 entnommen38 – doch auch hier sollte sich Gschnitzer durchsetzen, die Worte wurden bei den Beratungen im Hauptausschuss entfernt. Auch die Worte „aus freien Stücken“ stießen auf Gschnitzers Kritik: „Entweder ist das wie bei Testamenten, daß der Erblasser bei vollem Verstand, frei und unbeeinflußt seinen Willen erklärt, eine völlig überflüssige Klausel; oder es will mehr sagen – dann sagt es zuviel und macht nur mißtrauisch, ob es denn wirklich so ganz aus freien Stücken sei ...“ Gschnitzer wusste wohl nicht, dass ausgerechnet John Foster Dulles bei der Berliner Außenministerkonferenz 1954 eine aus freiem Willen erklärte Neutralität gepriesen hatte, weil Dulles eine Alternative zur damals aktuellen sowjetischen Forderung nach vertraglich auferlegter Neutralisierung suchte. Gschnitzer ging so weit, die „immerwährende“ Neutralität zunächst als nichts anderes als einen frommen Wunsch zu bezeichnen und meinte sogar, sie erinnere „in ominöser Weise an das tausendjährige Reich“. Man möge einfach „groß und kühn“ erklären: „Österreich erklärt seine Neutralität.“39 Auch der Salzburger Rechtsanwalt Berthold Moser plädierte dafür, Begründungen aus dem Gesetzestext zu entfernen.40 Darin konnten sich allerdings weder Gschnitzer noch Moser durchsetzen. Im Hauptausschuss des Nationalrats wurde die Regierungsvorlage am 24. Oktober beraten. Wie bereits erwähnt, wurde die von Gschnitzer gerügte Formel 37 Die Presse, Nr. 2069, 14. 8. 1955, 4. 38 Art. 2 der schweizerischen Bundesverfassung vom 29. 5. 1874 nannte unter den Zwecken des Bundes u.a. die „Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen außen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Inneren ...“ 39 Nach einem – allerdings erst etliche Wochen später – von Loebenstein an Gschnitzer gerichteten Brief kam es am 5. 10. im Völkerrechtsbüro zu einem Gespräch zwischen Gschnitzer, Loebenstein und Verosta, wobei eine „weitgehende Übereinstimmung der Auffassungen hergestellt“ wurde. Zl. 305.463-6VR/55. 40 Berthold Moser, Die Neutralitätsformel soll kurz und klar sein, in: Die Presse, Nr. 2086, 4. 9. 1955, 4.

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„im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Inneren“ fallen gelassen – und zwar auf Antrag des ÖVP-Abgeordneten Eduard Hartmann, dem sich aber der SPÖ-Abgeordnete Ernst Koref anschloss. Der VdU-Abgeordnete Max Stendebach beantragte die Eliminierung der Worte „aus freien Stücken“; hier stieß er auf Widerstand. Raab erklärte im Hauptausschuss ausdrücklich, dieser Beschluss (der Neutralität) sei „ein absolut freiwilliger und kein Zwang“. Nochmals verweise ich auf die 1954 von den Sowjets vorgeschlagene vertragliche Neutralisierung und die totale Ablehnung dieser Vorgangsweise durch die Westmächte, besonders die USA. Historisch gesehen, ist also John Foster Dulles einer der Väter der Formulierung „aus freien Stücken“. Sie entsprach aber auch dem Wunsch und Willen der Koalitionsparteien, die Neutralitätserklärung von den bilateralen Verhandlungen in Moskau „freizuspielen“. Stendebach verwies außerdem darauf, dass Österreich in Hinblick auf die Militärklauseln des Staatsvertrags nicht über seine volle Wehrhoheit verfüge und noch nicht zu einer wirksamen Verteidigung fähig sei. Er schlug folgenden Gesetzestext des Art. 1 vor: „(1) Österreich erklärt seine dauernde Neutralität. Es wird infolgedessen bei im übrigen voller Wahrung seiner völkerrechtlichen Handlungsfreiheit in Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und fremden Staaten die Errichtung militärischer Stützpunkte auf seinem Gebiet nicht gestatten. (2) Österreich wird diese Neutralität auch mit militärischen Mitteln verteidigen, sobald es nach Herstellung seiner vollen Wehrhoheit zu einer wirksamen militärischen Verteidigung in der Lage ist.“

Der VdU-Antrag blieb in der Minderheit.41 Der Hauptausschuss verabschiedete einen Bericht für das Plenum.42 Darin wurde auf die Entschließung des Nationalrats vom 7. Juni hingewiesen, in welcher die Bundesregierung zur Vorlage eines die Neutralität regelnden BVG aufgefordert wurde. Dem Bericht wurde der nunmehr endgültige Text der Gesetzesvorlage beigegeben. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit sei hier der vom Hauptausschuss dem Plenum vorgelegte und vom Nationalrat am 26. Oktober 1955 gegen die Stimmen des VdU beschlossene Gesetzestext neben den Text der Regierungsvorlage gestellt.

41 Parlamentsarchiv Wien. Protokoll der Sitzung des Hauptausschusses am 24. 10. 1955, 16 Uhr. 42 626 d. Beilagen, Nationalrat, VII. Gesetzgebungsperiode.



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Regierungsvorlage Bundesverfassungsgesetz betreffend die Neutralität Österreichs

Gesetzestext Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs

Der Nationalrat hat beschlossen:

Der Nationalrat hat beschlossen:

Artikel I. (1) Zum Zwecke der dauernden und immerwährenden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen, zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes sowie im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Inneren erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität und wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. (2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.

Artikel I. (1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.

Artikel II. Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut.

Artikel II. Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut.

(2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.

Auf die oft zitierte Rede Bundeskanzler Raabs gehe ich hier nicht mehr ein, denn damit betreten wir schon den Bereich der Neutralitätsinterpretation als geltendes Verfassungsrecht der Republik Österreich, ein Bereich, über dessen Evolution und Problematik Gerhard Hafner referiert hat.43 43 Gerhard Hafner, Österreichs Neutralität 1945–2005, in: Thomas Olechowski, Hg., Fünfzig Jahre Staatsvertrag und Neutralität, Wien 2006, 15–44.

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10. Die Entstehungsgeschichte des österreichischen Neutralitätsgesetzes

Abschließend möchte ich den Historiker hinter den Staatsbürger zurücktreten lassen und Folgendes präzisieren. Das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs, was immer die inzwischen doch sehr genau erforschten Motive und politischen Konstellationen seines Zustandekommens waren, verdient sich ein besseres Schicksal als manche immer wieder verschleiernde und der Offenheit ermangelnde Äußerungen im letzten Jahrzehnt. Mehr Offenheit und mehr über den kleinen Kreis der „insider“, der Experten, hinausgehende, sachliche und informierte Diskussionen sind sehr zu wünschen.44

44 Erst nach dem dieser Studie zugrunde liegenden mündlich vorgetragenen Referat erschien das Werk von Michael Gehler, Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik I u. II (Innsbruck 2005), in dem die bisher nur von Fachleuten in wissenschaftlichen Zeitschriften diskutierte Problematik der partiellen Derogierung des Neutralitätsgesetzes durch Art. 23f (neu) der Bundesverfassung (in Kraft getreten am 1. 5. 1999 gleichzeitig mit dem diese Verfassungsnovellierung bedingenden Vertrag von Amsterdam) einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert wurde (ebd., 820–823). [Ergänzung 2010: Seit der sogenannten „Lissabon-Begleitnovelle“ des BundesVerfassungsgesetzes vom 27. Juli 2010, in Kraft getreten mit 1. August 2010, handelt es sich mit einigen textlichen Veränderungen um den Art. 23 j des Bundes-Verfassungsgesetzes. Die seit 1999 im Bundes-Verfassungsgesetz auf Grundlage des Vertrags von Amsterdam verankerte Möglichkeit der Teilnahme an Kampfeinsätzen der EU – in der gegenwärtigen Formulierung von Art. 23 j „im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen“ bedeutet wohl, dass die Bedeutung der immerwährenden Neutralität „erheblich eingeschränkt“ wurde, „nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass nunmehr auch Maßnahmen erfasst werden, die nicht in Durchführung eines Beschlusses des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen erfolgen.“ Zit. aus Christoph Grabenwarter/Brigitte Ohms, Hg., Die österreichische Bundesverfassung, 12. Aufl., Wien 2008, 98, Anm. 3].

11. Jean Rudolf von Salis – ein Grenzgänger1

„… [I]ch war ja stets in Grenzgebieten zu Hause und nie ganz in Einem, nie im Zentrum einer Sache, sondern dort, wo die Übergänge sind: Zwischen zwei Sprachen, zwischen mehreren Kulturen, zwischen den Parteien und Meinun­ gen, zwischen der Ergriffenheit und dem Verstand, zwischen der Liebe und der Selbstgenügsamkeit.“2 So schrieb Jean Rudolf von Salis an Nanny Wunderly­ Volkart im Oktober 1937. Nanny Wunderly-Volkart war Rainer Maria Rilkes engste Vertraute in dessen letzten Schweizer Jahren. Salis hat ein ganz außer­ ordentliches Charakterporträt dieser Frau entworfen, das er in den „Notizen eines Müßiggängers“ veröffentlicht hat.3 Also Grenzgebiete – Grenzen und deren Überschreitungen. Frühzeitig also war sich Jean Rudolf von Salis jener Eigenschaften, jener Dispositionen bewusst, die ihn Jahrzehnte später dazu bewegten, seinen Lebensbericht mit „Grenzüberschreitungen“ zu betiteln, und wenn ich heute über den „Grenzgänger“ Salis sprechen will, ist Ihnen daher die Ableitung meines Vortragstitels wohl bekannt. Vier Variationen des Grenzgän­ger-Themas – es gäbe noch mehrere – möchte ich vor Ihnen und mit Ihnen betrachten. Ein Grenzgänger war Salis, zum Ersten, zwischen sozialen Herkunftsbereichen, Traditionssträngen, „Milieus“, wenn Sie so wollen. In Bern geboren und aufge­wachsen, war Jean Rudolf, zunächst Hans Rudolf – das Jean bürgerte sich ja erst bei und nach seinem Montpellier-Aufenthalt ein –, eben nicht ein Sohn des Berner Stadtpatriziats, auch wenn es zahlreiche Berührungspunkte gab, son­ dern Spross aus Bündner, ursprünglich Italienisch-Bündner Uradel einerseits und großbürgerlich-wirtschaftsbürgerlicher Aargauer Herkunft andererseits. Aber diese beiden Traditionsstränge waren ihrerseits bereits vor Jean Rudolfs 1

2 3

Dieser Essay basiert auf einem aus Anlass der 100. Wiederkehr des Geburtstages von J. R. von Salis am 12. Dezember 2001 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich gehaltenen Vortrag. Jean Rudolf von Salis, Grenzüberschreitungen. Ein Lebensbericht, Bd. 1 (1901–1939), Zürich 1975, 473–474. Jean Rudolf von Salis, Notizen eines Müßiggängers, Zürich 1984, 108–112.

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Geburt modifiziert: Der Vater als Arzt gehörte einem akademisch-freiberufli­ chen Stand an, der geburtsständisch ungebunden, wenngleich von hohem Sozi­ alprestige umgeben war. Die mütterliche Familie wiederum hatte sich durch den Ankauf und die Ausgestaltung des Schlosses Brunegg einem aristokrati­schen, wenn auch biedermeierlich gemilderten Lebensstil angenähert. Das Traditionsbewusstsein ebenso wie die Weitläufigkeit der Familie hat Jean Rudolf ja immer wieder beschäftigt. Die alte Adelstradition des Kriegsdienstes – auch und gerade des Kriegsdienstes in anderen Ländern – schlug bis in Jean Rudolfs engste Familie durch – der ältere Bruder trat in die Dienste der deutschen kaiserlichen Kriegsmarine und machte den Ersten Weltkrieg bis zum bitteren Ende in Scapa Flow durch. Jean Rudolf hat selbst geschildert, wie ihn im frühen Jünglingsalter die altadlige Tradition der väterlichen Familie gefangen nahm. „Die eigene Herkunft, vielleicht ein unbewusster Anfang der Selbsterkenntnis durch das Anzestrale, die Welt der Ahnen, beschäftigte mich zutiefst“, so hat er 1986 in „Innen und Außen“ – einem seiner aufschlussreichsten autobiographischen Texte! – geschrieben.4 „Ich erforschte mit fünfzehn, sechzehn Jahren im Familienarchiv und im Stadtarchiv von Chur die Genealogie dieser kämpferischen Sippe, die im 17. Jahrhundert in die Wirren verwickelt war, die Conrad Ferdinand Meyer in seinem Jürg Jenatsch romanhaft geschildert hat.“ Die Schulferien „in meinem Stammland“ – ich zitiere weiter – „verbrachte ich in dem großen, von vier Türmen flankierten Schloss Marschlins.“ Anstöße zur Heilung von der offenbar tief gehenden, aber für den Übergang vom Knaben- zum Jünglingsalter nicht erstaunlichen Passion für eine ruhmreiche aristokratische Vergangenheit kamen von der Familie selbst, in der es ja mancherlei „Grenzüberschreitungen“ gegeben hatte – etwa den zum Katholizismus über­getretenen und in den Benediktinerorden eingetretenen Familienforscher Pater Nikolaus von Salis oder dessen Schwester Meta von Salis, geboren 1855, die erste Graubündnerin, die den Doktortitel der Philoso­phie erwarb, Schriftstellerin und Vorkämpferin der Frauenbewegung. Sie war es, die ihren kleinen Neffen Jean Rudolf einmal „mit spitzer Ironie“ fragte: „Sind wir furchtbar vornehm?“ „Das war ein heilsamer Nadelstich“, hat Jean Rudolf später dazu gesagt. Der ­Präsident des Salis’schen Familienverbandes, der Jurist Louis Rudolf von Salis, machte Jean Rudolfs Vater aufmerksam auf das „Bedenkliche“ von Jean Rudolfs Passion für die genealogische Beschäftigung. Der Vater teilte das seinem jungen Sohn mit; im Rückblick hat Jean Rudolf von einer Art „Trauer“ 4

Zum Folgenden Jean Rudolf von Salis, Innen und Außen, Notizen 1984–1986, Zürich 1987, 155.



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gesprochen, „die ich über den Verfall vergangener Größe und ihre Umwandlung in eine nüchterne bürgerliche Existenz empfand“. Doch dauerte es nicht lange, bis Jean Rudolf von Salis die Grenze überschritt, bis Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit zu einer „Abwendung von der Vor­welt führten“, zu einer entgegengesetzten Einstellung, die „rerum novarum cupidus war“.5 Die Studien- und ersten Berufsjahre, besonders jene in Paris, sein Eintritt in das, was Alfred Weber und Karl Mannheim als das soziologische Stratum der „frei schwebenden Intelligenz“ bezeichnet haben, die Berufswahl des Journalisten und dann des akademischen Berufs, die eigene Familiengründung haben die Grenzüberschreitung in offenere Gefilde verstärkt. Es gehört aber wohl zum Bild des Grenzgängers, dass er auch wieder den Weg in die andere Richtung einschlägt. Jean Rudolf von Salis hat öfters betont, dass er sich auf dem Lande wohler fühle als in der Stadt, auf dem Lande, aber eben vor allem auf dem Schloss Brunegg, dort das Leben eines Landedelmannes mit dem eines Intellektuellen vereinend: Sein Herkommen kann keiner verleugnen, hat Salis in den Grenzüberschreitungen geschrieben. „Ich habe mich auf dem Land und in alten Mauern immer wohler und heimischer gefühlt als in der Stadt.“6 Und noch eine – merkwürdige – mentale Rückkehr über die Grenze in ­alt-salissches Terrain hat Salis 1986 verzeichnet. Er werde den Verdacht nicht los, so notierte er damals, „dass Geschichte, wie ich sie in meinem historischen Werk behandelt habe und wie sie in meinen politischen Kommentaren zum Ausdruck kam, unbewusst an die Tradition der großen Bündner Chronisten in modernem Gewand und Geist angeknüpft hat. ‚Engagement‘ kannten auch diese alten Chronisten, aber sie beherrschten ihren Stoff und gaben redliche Auskunft über die Ereignisse.“7 „Redlich“ – „Redlichkeit“ – hier taucht, keineswegs zum ersten Mal, ein Schlüsselwort von Salis’ Wertekanon, ein Schlüsselwort seines Selbstverständnisses als Mensch und als Historiker auf. Salis hat übrigens eine einfühlsame Studie über einen Salis aus dem 17. Jahrhun­dert, den Marschall Ulysses von Salis-Marschlins (1594–1674), verfasst. Sie wurde 1959 als Vortrag in Basel gehalten, 1962 publiziert. Ulysses von Salis-Marschlins hat seine Denkwürdigkeiten – Memorie, sie sind in italienischer Sprache verfasst – nach dem Dreißigjährigen Krieg geschrieben. Wie charakte­risiert sie der Historiker des 20. Jahrhunderts? „Weder pathetisch noch phan­tasievoll, aber erfahren und weltklug, 5 6 7

Ebda., 156. Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 1, 197. Salis, Innen und Außen, Notizen 1984–1986, 156.

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von nüchternem Verstand und solidem Urteil, nicht selten witzig, wohl auch nachsichtig lächelnd über menschliche Schwächen, ein wenig skeptisch denkend über den Erfolg menschlichen Bemü­hens: So blickt der alternde Kriegsmann auf sein bewegtes Leben, auf die Bündner Wirren und den Dreißigjährigen Krieg zurück … Er war ein Mann des Maßhaltens und daher ohne Anmaßung.“8 Aber so blickt doch vielleicht auch Jean Rudolf von Salis – übrigens im Jahr des Abschlusses seiner „Weltgeschichte der neuesten Zeit“, eben 1959, auch auf sein Werk und seine Person! Und auch damals, 1959, gedachte Salis bewusst der Sehnsüchte seiner Knabenzeit: Ein Bildnis des Ulysses von Salis befindet sich in Schloss Marschlins, „wo ich als Knabe oft in Betrachtung versunken vor diesem eindrücklichen Bildnis stand“.9 Ein Grenzgänger war Salis, zum Zweiten, zwischen den Sprach- und Kultur­ räumen der deutschen und der französischen Sprache. Sicher nahm Bern bezie­ hungsweise die Berner Oberschicht bezüglich der französischen Sprache eine Sonderstellung innnerhalb der deutschen Schweiz ein. Salis hatte eine günstige­re Ausgangsposition, als er begann, im Ausland zu studieren – Montpellier, dann aber Berlin, in einer großen Zeit der Berliner Universität, und dann, nach einem Zwischenspiel in Bern – in das allerdings, wie ein coup de foudre, die Begegnung mit Rilke im Wallis fiel – die Sorbonne. Wenn Salis selbst von den Grenzräumen zwischen zwei Sprachen und mehre­ ren Kulturen gesprochen hat, dann ist wohl auch an die kulturellen Verschie­ denheiten innerhalb des deutschen Sprachraums zwischen dem altrepubli­ kanischen Bern und dem neurepublikanischen, aber noch durch und durch mit preußisch-wilhelminischer Obrigkeitsstaatlichkeit durchsetzten Berlin zu den­ken. Aus Anlass seiner Mitwirkung an einem nach dem Zweiten Weltkrieg von der britischen Besatzungsmacht eingesetzten Gremium zur Reform der deut­schen Universitäten kritisierte Salis noch das eigentümliche Missverhältnis zwi­schen dem berechtigten Stolz auf wissenschaftliche Leistungen und der Unter­würfigkeit unter den Willen der Obrigkeit, ein Missverhältnis, das in dem Wort des berühmten Mediziners Dubois-Reymond zum Ausdruck gekommen war, die Universität Berlin sei das geistige Leibregiment des Hauses Hohenzollern.10 Der junge Salis hatte das Glück, aber eben auch die Spürnase, an der 8

Jean Rudolf von Salis, Im Lauf der Jahre, Über Geschichte, Politik und Literatur, Zürich 1962, 13–36. 9 Ebda., S 34. 10 Jean Rudolf von Salis, Grenzüberschreitungen. Ein Lebensbericht, Bd. 2 (1939–1978), Zürich 1978, 324.



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Berliner Universität mit großen Gelehrten zusammenzutreffen, die gegen die Mehrheit ihrer Kollegen zumindest als „Vernunftrepublikaner“ zur Weimarer Republik standen – Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke. Troeltsch, Verfasser eines epochemachenden Werkes über die Soziallehren der christlichen Kirchen, war von einem theologischen Lehrstuhl in Heidelberg auf einen philosophischen Lehrstuhl in Berlin berufen worden. „Den stärksten Eindruck empfing ich von Ernst ­Troeltschs Vorlesung über die Geschichte der neueren Philosophie“11, hat Salis über sein Berliner Jahr gesagt. Peter Stadler hat im „Buch der Freunde“ für Salis über Tröltschs Publizistik in den frühen Jahren der Weimarer Republik berichtet.12 Doch Friedrich Meinecke, der Historiker, war schließlich von weitreichenderer Bedeutung für Salis’ Zukunft. Meinecke war gerade an der Arbeit für sein Buch „Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte“ – jenes seiner Werke, das ihn wohl am längsten überdauert hat und überdauern wird. Im Zusammenhang damit befasste sich Meinecke mit der Geschichte der italie­nischen Stadtrepubliken, und er machte Salis darauf aufmerksam, dass Eduard Fueter, der bedeutende Zürcher Historiker, in seiner Geschichte der neueren Historiographie kein Werk über den Genfer Autor Sismondi, Verfasser eines großen Werks über die italienischen Stadtrepubliken, nenne. Damit war in Friedrich Meineckes Berliner Sprechstunde das Thema von Salis’ Pariser Doktordissertation geboren – ein bemerkenswerter Fall von Kulturtransfer von Humboldts Universität zur Sorbonne, via Bern! Die historische Persönlichkeit, die für ein gutes Jahrzehnt Salis’ Begleiter wer­ den sollte (wenn auch nach der Rückkehr von Berlin nach Bern das SismondiProjekt zunächst zur Seite gelegt werden musste), war allerdings hervorragend für einen Grenzgänger zwischen Sprach-, Kultur- und Landesgrenzen geeignet. JeanCharles-Léonard de Simonde, 1773–1842, Sohn eines Genfer Pastors, stammte aus einer Refugiantenfamilie des Dauphiné. Die Familientradition leitete ihre Herkunft von einer Patrizierfamilie aus Pisa, den Sismondi, ab, deren Name Jean Simonde annahm. Sismondis Leben spielte sich ab zwischen Genf, England – er nahm auch eine Engländerin zur Frau –, Italien, wo die Familie in der Toscana nach der Flucht aus Genf eine neue Heimat fand, Frankreich, wo Sismondi unter anderem in Napoleons hundert Tage hineinge­riet, und Coppet, wo Sismondi dem Kreis um Mme de Staël angehörte; er begleitete sie auf ihren Reisen nach 11 Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 1, 139. 12 Peter Stadler, „Ernst Troeltsch und die deutsche Revolution“, in: Buch der Freunde für J. R. von Salis zum 70. Geburtstag, Zürich 1971, 178–187.­

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Italien und Deutschland. Allein die Befassung mit Sismondi war eine Art éducation européenne für den jungen Berner. Man­ches in Sismondis Persönlichkeit und Werk konnte den jungen Salis für Sismondi einnehmen. Salis nennt Sismondi wohl zutreffend „einen späten Spross des Aufklärungszeitalters“.13 Sismondi: La vie et l’oeuvre d’un cosmopolite philo­sophe erschien zweibändig in Paris 1932.14 Zu Recht hat Herbert Lüthy ge­meint, dass der Untertitel des Buches auch eine geistige Wahlverwandtschaft antöne.15 Es sei übrigens daran erinnert, dass das Doctorat d’Etat, das Salis mit dieser thèse de doctorat d’Etat in Paris erwarb, der Habilitation im deutschen Sprachraum entsprach. Im intellektuellen Ertrag der Pariser Jahre von 1926 an ist die Tätigkeit in Henri Berrs Centre de Synthèse historique nicht gering zu veranschlagen. Die inter­ disziplinäre Arbeit an diesem Zentrum, Berrs universalhistorische Interessen und Initiativen (besonders die seit 1920 von Berr herausgegebene Reihe Évolu­tion de l’Humanité) gehören mit zu dem Nährboden, auf dem später die „Weltgeschichte der neuesten Zeit“ entstehen sollte. Charles Seignobos, Salis’ Dissertationsbetreuer in Paris, gehörte allerdings eher einer traditionellen Historikerschule an. Salis hat selbst zugegeben, dass er historiographisch damals „zwischen den Fronten“ stand. Im Gegensatz zum politikgeschichtlichen Schwerpunkt eines Seignobos und – im Bereich der Geschichte der internatio­nalen Politik – des brillanten und tiefschürfenden Pierre Renouvin standen Lucien Febvre, mit dem Salis im Kreis um Berr viel zusammenkam,16 und Marc Bloch. Doch in die beginnende Schule der „Annalen“, die bald den ersten Platz in der französischen Historikerlandschaft für sich beanspruchen sollte, stieg Salis nicht ein. Dazu war er damals schon, als Studierender der Geschichte ebenso wie als junger Publizist, einerseits zu sehr cupidus rerum politicarum, worauf ich noch zurückkommen werde, und andererseits auch schon zu sehr homme de lettres. Jedenfalls waren die Pariser Jahre von 1926 bis 1935, ab 1930 als Korrespondent des Berner „Bund“, eine ideale Vorbereitung für die Ernen­nung auf den französischsprachigen Geschichts-Lehrstuhl der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich 1935. Wie sehr Salis ein feinfühliger und profunder Kenner der jeweils anderen Sprache war, zeigt aber wohl am besten sein 1936 erschienenes Buch über „Rainer Maria Rilkes 13 Im Lauf der Jahre (Essay über Sismondi), 62–92, hier 67. 14 Jean Rudolf von Salis, Sismondi 1773–1842, La vie et l’œuvre d’un cosmopolite philosophe, 2 Bde., Paris 1932. 15 Herbert Lüthy, „Statt einer Festrede“, in: Buch der Freunde für J. R. von Salis, 11–18, hier 14.­ 16 Vergleiche auch Salis, Notizen eines Müßiggängers, 307 (Eintragung von 5. Juli 1982), und dort den eher distanzierten Kommentar zu Fernand Braudel.



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Schweizer Jah­re“ (1919–1926). Die Kapitel über Rilke, Gide und Valéry, über Rilkes Gide- ­und vor allem Valery-Übersetzungen, über Rilkes französische Gedichte konn­ten so nur von jemandem geschrieben werden, der wie Rilke selbst tief in das Wesen der französischen Sprache eingedrungen war. Ein entzückendes kleines Kabinettstück ist Salis’ Bericht von Rilkes Aufregung – die Episode ist einer Notiz Andre Gides entnommen –, dass es im Deutschen keinen adäquaten Ausdruck für la paume, das Innere der Hand, ganz ungenügend als Handfläche oder Handteller wiedergegeben, gebe. „Dieses kleine Augenblicksbild, das hier Gide von Rilke berichtet hat, ist von einer überwältigenden Authentizität“ – so hat Salis geschrieben; denn es wurde zehn Jahre später bestätigt in Rilkes französischem Gedicht „Paume“.17 Salis ist, zum Dritten, Grenzgänger zwischen Journalistik, Publizistik und Essayistik einerseits, der historischen Wissenschaft andererseits gewesen. „Eine Unvereinbarkeit meiner wissenschaftlichen Interessen mit einer journalisti­schen Tätigkeit konnte ich nicht entdecken“, hat er in seiner Autobiographie geschrieben. Um Beispiele war er nicht verlegen. Eduard Fueter, der Zürcher Historiker, habe jahrelang seine Tätigkeit zwischen der Universität und der Redaktion der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) geteilt. Er nannte weiter den Lausanner Historiker Edmond Rossier, seine Lehrmeister Hans Delbrück, Troeltsch, Meinecke, Seignobos und Jakob Burckhardt, auf den er sich immer am besten berufen konnte: „Als Mensch in seiner Zeitlichkeit“ müsse auch der Historiker „etwas Bestimmtes wollen und vertreten“.18 Trotzdem bleibt vielleicht ein Rest offen – ein Rest, der mit dem manchmal positiv, manchmal negativ besetzten Wort „Zunft“ zu tun hat. Die Historikerzunft an den Universitäten – hier gab es vielleicht da und dort Reserven, aber, wie das bei Reserven so zu sein pflegt, drückten sie sich eher im Nichtausgesprochenen als im Ausgesproche­nen aus. Dazu kam, dass Salis Zeitgeschichte – angefangen mit dem Buch über Motta – betrieb, bevor die Zeitgeschichte einen akademisch gesicherten Platz zumindest an den Hochschulen des deutschen Sprachraums einnahm. Sicher ist zu verzeichnen, dass in Salis’ eigenen Lebenserinnerungen, nach dem Abschluss der Studienzeit in Paris, die Namen von Zunftgenossen eher spärli­cher fallen. Ob dies Salis kümmerte oder bekümmerte, kann ich nicht sa17 Jean Rudolf von Salis, Rainer Maria Rilkes Schweizerjahre. Geschrieben zum zehnten Jahrestag seines Todes am 29. Dezember 1936, Frauenfeld/Leipzig, 3. neubearb. Aufl, 1952, 149–150. Vergleiche auch Salis, „Zu Rilkes Lebensgeschich­te, Ein biographischer Essay“, in: Im Lauf der Jahre, 319–377, hier 359. 18 Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. I, 333–334.

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gen. Vielleicht nicht so sehr; denn Salis war zu sehr homme de lettres, Intellektueller, um sich von Zunftrücksichten allzu sehr einfangen oder beengen zu lassen. Eine Tagebucheintragung des Siebzigjährigen vom 10. Juli 1971, in einem Arti­kel von Sibylle Birrer in der NZZ im Dezember 2001 veröffentlicht, bestätigt dies: „Endlich detachiert vom ‚Fach’. Nicht mehr Wissenschaft, sondern freie Gedankengänge, Bilder und Erlebnisse aus der Vergangenheit.“19 Unbeküm­mert hatte Salis nach Sismondi über Rilke, nach Rilke über Motta, nach Motta über Fritz Wotruba geschrieben – ehe er sich dem opus magnum zuwandte. Im Grenzgängertum zwischen Publizistik und Wissenschaft ging es nicht so sehr um prinzipielle Unvereinbarkeit, sondern um die zeitliche Belastung. Die Position an der ETH, und zwar an deren Freifächerabteilung, an einer „Fakul­ tät des Fakultativen“, wie es Herbert Lüthy so witzig in seiner Einleitung zum „Buch der Freunde“ für J. R. von Salis von 1971 formuliert hat, „ohne Fach­ studenten, Examina und Abschluss, dementsprechend auch ohne Hilfsmittel, Personal und Apparat“20 – bot mehr Zeit zum Schreiben – oder während des Zweiten Weltkriegs zum Sprechen im Radio Beromünster21 – als eine Professur an einer normalen Philosophischen Fakultät. Das hohe Maß an publizistischer Beanspruchung durch die Freitagsendungen von Radio Beromünster und zahl­ reiche Aktivitäten auch im Ausland in den allerersten Nachkriegsjahren hatten ihren Zoll verlangt. „Ich brauchte Distanz zum Nur-Aktuellen“, hat Salis später geschrieben22. Der Wendepunkt kam im Frühsommer 1947 während eines Gastsemesters an der Universität Wien. Am 28. Mai 1947 notierte Salis in seinem Tagebuch: „Wenn dieses Wiener Semester dazu beiträgt, mich zum Mittelpunkt meiner eigentlichen Aufgabe zurückzuführen, dann hat es seinen Zweck erfüllt: Von der Tagesschriftstellerei weg zur Geschichtsdarstellung, vom Artikel und Vortrag zum Buch.“23 Der Entschluss zum großen Werk war gefasst. Daraus entstanden in zwölfjähriger Arbeit die drei Bände der „Weltgeschichte der neuesten Zeit“, deren erster 1951, deren zweiter 1955 und deren letzter 1960 erschien. Sie umfasst bekanntlich die dreiviertel Jahrhunderte von 1870/71 bis 1945. Ein weiteres Vierteljahrhundert, jenes von 1945 bis 1970/71, hat Salis in seiner Studie 19 Sibylle Birrer, „Die ‚Stimme der Nation‘ und ihr Nachklang“, Neue Zürcher Zeitung, 8./9. 12. 2001. 20 Herbert Lüthy, „Statt einer Festrede“ (wie oben Anm.15), 16. 21 Jean Rudolf von Salis, Weltchronik 1939–1945, 3. neubearb. Aufl., Zürich 1985. 22 Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 352. 23 Salis, „Wiener Sommer 1947“, in: Im Lauf der Jahre, 240 (Tagebucheintragung vom 28. Mai 1947).



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„Kalter Krieg und Entspannung zwischen Ost und West“24 umspannt, wenngleich thematisch konzentrierter und weniger detail­reich, doch hat er selbst diese Arbeit „gleichsam als einen Nachtrag“ zur „Weltgeschichte der neuesten Zeit“ betrachtet.25 So umfasst Salis’ systematische Betrachtung der Weltgeschichte das ganze Jahrhundert von 1871 bis 1971. Doch zurück zur „Weltgeschichte der neuesten Zeit“. Sie ist ein Klassiker der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts und wird dies, nachdem das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen ist, auch bleiben. Sie ist in einer klaren, eminent lesbaren Sprache geschrieben, heute würde man das Modewort „transparent“ verwenden – ohne irgendwelche Gefälligkeitskonzessionen auf Kosten der Prä­zision der Aussage und der Komplexität der Problemstellungen. Salis kann neben Golo Mann als der eindringlichste Prosaschriftsteller unter den deutsch­ sprachigen Historikern des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Die Klarheit der Gliederung ist vom ersten zu den zwei folgenden Bänden gestiegen, wie etwa die großen Blöcke im zweiten Band – „Der Aufstieg Amerikas“, „Das Erwachen Asiens“, „Die Krise Europas“ und „Der Erste Weltkrieg“ – zeigen. Salis ist einer der ganz wenigen Historiker des Jahrhunderts im deutschen Sprachraum, der den Mut zu einer großen Synthese aufgebracht hat. Obgleich an prominenter Stelle von Herbert Lüthy zitiert, scheinen mir des jungen Salis’ Überlegungen zur historischen Synthese im Sismondi-Buch wert, auch heute in Erinnerung gerufen zu werden: „Es ist immer zu früh für die Synthese, doch sie entspricht einem tiefen Bedürfnis des Geistes, und sie kann und soll in jeder Situation des Standes der Forschung entworfen werden, mag sie auch tags darauf korrigiert und übermorgen umgestoßen werden […]. Wir neigen zu sehr dazu, den Versuch der Synthese nur als Endergebnis langer analytischer Arbeit zu verstehen und zu vergessen, dass sie vor allem als Grundlage und Gerüst begrenzterer Untersuchungen dient […].“26 Allerdings ist eines festzuhalten: In erster Linie schreibt Salis politische Ge­ schichte, und während des Schreibens an dem opus magnum ist in ihm ein Prozess der Vergewisserung vorgegangen, der in deutlich voneinander unter­schiedenen Formulierungen des Vorworts zum ersten und der Vorbemerkung zum dritten Band seinen Niederschlag gefunden hat. Im ersten Band schrieb Salis: „Es gibt 24 Veröffentlicht in: Jean Rudolf von Salis, Geschichte und Politik, Betrachtungen zur Geschichte­ und Politik, Beiträge zur Zeitgeschichte, Zürich 1971, 257–370. 25 Jean Rudolf von Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 445. 26 Herbert Lüthy, „Statt einer Festrede“ (wie oben Anm. 15), 12.

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aber in der Geschichte, wenn man nicht vorgefasste Meinungen in sie hineinträgt, nicht schlechterdings einen Primat der Außenpolitik oder der Innenpolitik, ebensowenig wie es einen Primat der Wirtschaft oder einen solchen der Politik, einen Primat des Ideellen oder des Materiellen gibt. Es gibt nur Wechselbeziehungen […].“27 Das war 1951. Neun Jahre später, den letzten Band den Lesern übergebend, schrieb Salis: „Die politische Geschichte bildet das Rückgrat aller Geschichtsschreibung. Politik ist Völkerschicksal, im Zeital­ter der totalen Erfassung des Menschen durch Staat, Wirtschaft und Technik auch Einzelschicksal. Die Politik kann daher füglich den Primat in der histori­schen Darstellung für sich in Anspruch nehmen. Daran hat sich seit Thukydides nichts geändert.“28 Damit nahm Salis klar Position gegen jene Tendenz, die etwa von der Mitte der 60er- bis Ende der 80er-Jahre vor allem in Frankreich und Deutsch­land, weniger im anglo-amerikanischen Sprachraum, übermächtig werden soll­te, die vom Primat des Sozialen und Wirtschaftlichen, später auch des Kulturellen, gegenüber dem Politischen ausging und die politische Geschichte abwertete. Nicht bloß der ganz unleugbare Nachholbedarf im Bereich der Sozialgeschich­te, auch nicht bloß die Marxismus-Renaissance der späten 60er- und der 70er-Jahre, sondern auch eine sehr lange Friedenserfahrung oder besser Nichterfahrung des Krieges sind wohl für diese Tendenz maßgebend gewesen. Salis ist aber vom „Dreißigjährigen Krieg“ zwischen 1914 und 1945, den er als Dreizehn- bis Vierundvierzigjähriger „aus nächster Ferne“ erlebte, zutiefst ge­prägt gewesen. Es gibt eine Würdigung des Historikers Salis von sehr prominenter Seite, erstmals 1971 veröffentlicht im „Buch der Freunde“ und wiederabgedruckt zum 90. Geburtstag im Katalog der vom Schweizerischen Literaturarchiv in Bern veranstalteten Ausstellung „Zeitgenosse J. R. von Salis“ – im Französischen viel besser betitelt mit „J. R. de Salis, Témoin du siècle“. Friedrich Dürrenmatt betitel­te seine Würdigung als „Anmerkung zu einem Lächeln“.29 Dürrenmatt berich­tet, dass Salis auf seine Frage, wen unter den deutschen Geschichtsschreibern er bevorzuge, Mommsen nannte, während er, Dürrenmatt, lieber Ranke lese. Dürrenmatt vergleicht Salis eher mit Ranke als mit Mommsen. Gewiss, Salis hatte nicht das juristische Rüstzeug, über das Mommsen verfügte. Aber bei aller Epik ist im Hauptwerk, schon um den ungeheuren Stoff zu zähmen, eine Ökonomie der 27 Jean Rudolf von Salis, Weltgeschichte der neuesten Zeit , Bd. 1, Zürich 1951, 3. 28 Jean Rudolf von Salis, Weltgeschichte der neuesten Zeit, Bd. 3, Zürich 1960, 1. 29 Friedrich Dürrenmatt, „Anmerkung zu einem Lächeln“, Buch der Freunde für J. R. von Salis, 33.­



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Darstellung, eine straffe Architektur vorhanden, die mich, mit großem Respekt, zu einem anderen Urteil als jenem Dürrenmatts bringt. Dürren­matt erzählt weiter, eines Nachts habe Salis ihm „liebenswürdig lächelnd“ gesagt: „Deine Kunst ist doch eigentlich oft sehr gnadenlos.“ Dürrenmatt meinte, wo gäbe es einen gnadenloseren Stoff als in der Geschichte; und im weiteren Gespräch habe Jean eingeräumt, „keinen Sinn hinter der Geschichte zu sehen, weil er, wie alle Menschen, ein Teil der Geschichte sei, eingewoben in ihr Geschehen, nicht außerhalb“. Vermittelt Salis’ Geschichtsschreibung den Eindruck von Gnadenlosigkeit des historischen Geschehens? Ich möchte bei Betrachtung von Salis’ Geschichtsauffassung eher von Illusionslosigkeit spre­chen – doch das Schlimmste muss nicht immer zutreffen. Bei Salis findet sich auch eine innere Anteilnahme an den Entscheidungen, den Erfolgen oder Miss­erfolgen von Staatsmännern, die ihn einmal von der „unerklärlichen Begnadung und Berufung“ des Staatsmanns sprechen ließen.30 Sein skeptisches Denken komme, so hat Salis selbst im Alter gemeint, wie bei einem Erasmus, einem Montaigne, einem Jakob Burckhardt aus Menschen­ freundlichkeit, „aus der schwierigen Liebe zum Menschen“.31 Es ist auch ein Quantum aufklärerischer Aufmüpfigkeit bei Salis vorhanden – etwa in seiner wiederholten Kritik an den weit rechts stehenden Ansichten eines Gonzague de Reynold,32 der einer seiner Lehrer in Bern war – und es ist auch immer wieder ein Quantum Hoffnung bei Salis zu spüren. In den 30er-Jahren, in einem von antidemokratischen Strömungen unterspülten Europa, identifizierte sich Salis mit der Ansicht, die Thomas Mann seinem Settembrini in den Mund legt: „Die Demokratie hat keinen anderen Sinn, als den einer individualistischen Korrektur jedes Staatsabsolutismus.“33 1958 hatte er in seiner Schrift „Niedergang oder Wandlung der Kultur?“ (von Carl Burckhardt kritisch, von Herbert Lüthy positiv beurteilt) gegen allen Kulturpessimismus postuliert, es sei „nötig, den Menschen Vertrauen entgegenzubringen“.34 Und noch als Achtzigjähriger will Salis das Missverständnis ausräumen, wonach er ein „konservativer Geist“ sei: Es habe 30 Jean Rudolf von Salis, „Der Staatsmann“ (Vortrag vom Mai 1943), in: Kriege und Frieden in Europa, Politische Schriften und Reden 1938–1988, Zürich 1989, 38–53, hier 41. 31 Jean Rudolf von Salis, Notizen eines Müßiggängers, 338 (Eintragung vom 30. Juli 1982). 32 Vergleiche etwa Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 1, 241–243; Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 466; Notizen eines Müßiggängers, 176. 33 Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 1, 337. 34 Zit. bei Herbert Lüthy, „Statt einer Festrede“ (wie oben Anm. 15), 15. Zu C. J. Burckhardts Kritik siehe Salis, Notizen eines Müßiggängers, 139–140 (Eintragung vom 8. November 1981).

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ihm – ich zitiere wörtlich – „nie der Glaube gefehlt, dass Wandel notwendig, Fortschritt möglich, die Zukunft offen sind“.35 Salis als Grenzgänger, und dieses wäre die vierte Variation meines Themas, zwischen Historie und Publizistik einerseits, Politik andererseits: Hier errei­ chen wir ein Terrain, wo der Grenzgänger, trotz passionierten Hinüberlugens in den anderen Bereich, eine Schwelle nicht überschreiten kann oder will. Wie Mommsen konnte Salis von sich sagen, er sei zeitlebens ein „animal politicum“ gewesen.36 Andere, wie sein Nachfolger als Präsident von Pro Helvetia, alt Bundesrat Willy Spühler, haben es ihm bestätigt, er sei „ein durch und durch politischer Mensch“.37 In der wunderbaren Betrachtung „Innen und Außen“ von 1986 hat Salis darüber reflektiert: „Was mich heute erstaunt, ist diese Passion für das Äußerlichste, was es gibt, für die Politik, Tatsachen der äußeren Wirklichkeit, das heißt für Geschichte und ihre sozialen, ethnischen, ideologi­schen und wirtschaftlichen Implikationen, ist mein Bedürfnis, darüber zu schrei­ben und zu reden.“38 Diese Distanz des Fünfundachtzigjährigen war so nicht immer da. Nun meinte er, die Politik sei das Äußerlichste, was es gebe. Aber die res publica oder die res publicae hatten ihm viel bedeutet, und deren Bedro­hung durch Faschismus und Nazismus. „Halsbrecherisch engagiert war ich in den zwölf Jahren Nazi- und Kriegszeit“, meint er selber.39 Und auch in den Jahren danach, man sieht es in seinen Berichten aus der unmittelbaren Nach­kriegszeit, war das ganz wache Engagement für den Wieder- und Neuaufbau der europäischen Länder, Frankreichs, Deutschlands, der Tschechoslowakei, Österreichs, mit Händen zu greifen, an der Hilfe der Schweiz mitzuhelfen in diesen Jahren war ihm innerstes Bedürfnis, wie etwa sein Engagement für die Ausstellung der österreichischen Kunstwerke in Zürich zeigt; die zwölf Jahre an der Spitze von Pro Helvetia, das Engagement für die UNESCO sind nicht zu vergessen. „Ich stelle fest“, so sagte er 1986, „dass Politik, die ich nie selber ‚machte‘, aber oft kommentiert habe, für mich eine Leidenschaft, eine ‚Passion‘ war.“40 Willy Spühler hat in feiner Art, doch mit bemerkenswerter Offenheit Grenzen der Grenzüberschreitungen in Richtung Politik festgestellt: „Die ro­buste Streitbarkeit liegt Ihnen nicht. Trotz allem würde es mich keineswegs wundern, wenn Sie nicht gelegentlich Nostalgie 35 36 37 38 39 40

Salis, Notizen eines Müßiggängers, 139 und 146 (Eintragung vom 8. November 1981). Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 352. Ebda., 447. Salis, Innen und Außen, Notizen 1984–1986, 148. Ebda.

Ebda., 150–151.



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nach höchsten Würden in der Eidgenossenschaft beschlichen hätte, vielleicht auch ein wenig um des epheme­ren Glanzes willen, sicher aber im Hinblick auf die Wirkungs- und Gestaltungs­kraft, die sich im Dienst an der Öffentlichkeit daraus ergeben hätte.“41 Es gab eine Schwelle, eine Schranke, die der Grenzgänger nicht überschritt: „Das Engagement hört dort auf, wo man von anderen gezwungen wird, sich an ein Programm, an eine Doktrin zu binden. Dafür wäre ich zu unabhängig, zu kritisch, wohl auch zu rebellisch gewesen.“42 Dazu kam seine (vielleicht erst in Laufe eines langen Lebens gewonnene) Überzeugung, Professoren wären schlechte Staatsmänner; sie sollten nicht Politiker werden.43 Aber noch etwas, vielleicht das Wichtigste, kam dazu: Die direkte Ausübung von Macht war ihm zuwider. „Mir stand der Sinn nie nach Macht oder nach Teilhabe an der Macht.“44 Der handelnde Politiker, auch der demokratische Politiker, muss, will er seinen Willen durchsetzen, andere Menschen instrumentalisieren, er muss sie als Mittel zu seinen Zielen einsetzen. „Der Staatsmann ist ein großer Menschenbraucher“ – so sagte es Salis in seinem Vortrag über den „Staats­mann“ von 1943.45 Ich meine, dass Widerwille, andere Menschen zu instrumen­talisieren, hinter seinem Bekenntnis, der Sinn sei ihm nie nach Macht gestanden, verborgen liegt. Ein Grenzgänger war an seine Grenzen gestoßen. Zum Abschluss seien einige Bemerkungen über das Verhältnis Salis’ zu Öster­ reich sowie einige persönliche Worte gestattet, warum ich mich seit Langem, obgleich um 28 Jahre jünger, zu Person und Werk von Salis hingezogen fühle. Vor dem Zweiten Weltkrieg hat Salis Wien im Herbst 1936 besucht. Er suchte den prominentesten Neuhistoriker, Heinrich von Srbik, auf und war tief be­troffen von dessen süffisant-negativer Einstellung gegenüber Friedrich Meinecke.­ Salis verließ das Schloss Schönbrunn, wo Srbik seine Wohnung hatte, niedergeschlagen; er verstand nicht, dass der Biograph Metternichs wenig oder nichts am „Dritten Reich“ auszusetzen hatte. Auch sonst begegnete er Vorah­nungen des Anschlusses.46 Ein ganz außerordentliches Engagement für das wiedererstandene 41 42 43 44 45 46

Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, S. 447. Salis, Innen und Außen, Notizen 1984–1986, 148–149. Ebda., 149–150. Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 263. Salis, Kriege und Frieden in Europa (wie oben Anm. 30), 42. Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 1,162, 484–485. In Jean Rudolf von Salis, Giuseppe Motta. Dreißig Jahre eidgenössische Politik, Zürich 1941, 449, kommentierte Salis den „Anschluss“ vom März 1938 eher pragmatisch im Sinne des Abschlusses einer längeren Tendenz zur natio-

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unabhängige Österreich setzte sogleich 1945 ein. Schon am 5. Juli 1945 wurde in Zürich die „Gesellschaft zur Förderung der kulturellen Beziehungen zwischen Österreich und der Schweiz“ gegründet, deren Präsi­dentschaft Salis übernahm.47 Zu den ersten österreichischen Wahlen vom 25. No­vember 1945 reiste Salis für Radio Beromünster nach Vorarlberg. Am Vorabend der Wahlen sprach Salis in Radio Bregenz, das seine Ansprache über alle österreichischen Sender ausstrahlte.48 Salis’ „Rede an Österreich“ vom 24. No­vember 1945 ist ein eindrucksvolles Dokument und verdiente, vor allem in Österreich, mehr Bekanntheit, als sie gefunden hat.49 Salis, der damals in Verbindung mit Angehörigen der österreichischen Wider­ standsbewegung in Westösterreich stand, stellte sich voll und ganz hinter den Neubeginn des von der NS-Herrschaft befreiten Österreich, den Gewaltaspekt des Anschlusses vom Jahre 1938 betonend. Salis arbeitete die Tugenden und Vorteile der Kleinstaatlichkeit heraus, und auf das Beispiel der Schweiz verwei­send, hob er hervor, dass es nicht in erster Linie auf die Muttersprache ankom­me, „um einen Staat, ein Vaterland, ja sogar ein Nationalbewusstsein zu haben“.50 Im Februar 1946 fuhr Salis nach Innsbruck, im April 1946 nach Wien, zur Vorbereitung der seinerzeit berühmten Ausstellung österreichischer Kunst­schätze „Meisterwerke aus Österreich“ im Zürcher Kunsthaus, die am 25. Ok­tober 1946 im Beisein

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nalstaatlichen Konsolidierung: „Der Zusammenschluss der Kleinstaaten Italiens und Deutschlands zu mächtigen nationa­len Einheiten war das Werk des 19. Jahrhunderts gewesen. Diese Entwicklung hatte nun ihren logischen Abschluss gefunden; das nach der Aufteilung der österreichisch-ungari­schen Doppelmonarchie übriggelassene Deutsch-Österreich hatte sich dem Deutschen Reich angeschlossen.“ 1945 und in den Folgejahren war die Akzentsetzung eine deutlich andere – siehe insbesondere die in Anm. 49 genannte „Rede an Österreich“ vom November 1945. Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 198–199. Ebda., 194–195. Jean Rudolf von Salis, „Rede an Österreich“, veröffentlicht als Nachwort zur Schweizer Ausgabe zweier Schriften des Staatskanzlers (und ab Dezember 1945 des Bundespräsidenten) Karl Renner; Karl Renner, Denkschrift über die Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Österreichs und Bericht über drei Monate Aufbauarbeit, Zürich 1946, 97–114. Ebda., 100–101, 103. Aus Vorarlberg nach Zürich zurückgekehrt, richtete Salis mit Datum 29. November 1945 ein berührendes Dankschreiben an Dr. Max von Riccabona, einen leitenden Vertreter der Widerstandsbewegung in Vorarlberg. Die beiden Tage in Vorarlberg seien ihm und seiner Frau unvergesslich. „Sie lieferten uns den Beweis des Lebens- und Selbständigkeitswillens Österreichs, der auch für mein Land und für Europa so wichtig ist.“ Salis’ Brief erliegt im Nachlass Max Riccabona im Brenner-Archiv der Universität Innsbruck (Standort FIBA), dem ich für die Zurverfügungstellung einer Xero­kopie zu herzlichem Dank verpflichtet bin.



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des Bundesrates Philipp Etter und des österreichischen Unterrichtsministers Felix Hurdes feierlich eröffnet wurde.51 Vor der Liga der Vereinten Nationen sprach Salis im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses über die Vereinten Nationen. Bald kam es zur Einladung, im Sommersemester 1947 als Gastprofessor an der Universität Wien zu lesen. Am 1. Mai 1947 kam Salis in Wien an, anfangs Juli verließ er es wieder. Die Bedeutung des Wiener Semes­ters als Wendepunkt zur Inangriffnahme seines magnum opus habe ich bereits erwähnt; Salis selbst hat vom Wiener Gastsemester als einer „Sternstunde in meiner akademischen Laufbahn“ gesprochen.52 In den Wiener Monaten inten­sivierte sich auch die wirklich enge Freundschaft mit dem frühzeitig aus der Schweizer Emigration nach Wien zurückgekehrten Ehepaar Fritz und Marian Wotruba; ein Büchlein über Wotruba wurde in Aussicht genommen, das auch bereits 1948 in Zürich erschien53 – ein bemerkenswertes Beispiel für noch ein weiteres Grenzgängertum, jenes zwischen Wissenschaft und Künstlertum, das allerdings den Rahmen dieses Essays sprengen würde. Hier sei auch an eine weitere Künstlerfreundschaft, jene mit dem in Zürich lebenden österreichischen Dramatiker Fritz Hochwälder, erinnert. Über Salis’ Wien-Semester 1947 kann man sich mehrfach gut orientieren, am besten wohl in seinen Tagebuchnotizen, unter dem Titel „Wiener Sommer 1947“ veröffentlicht im Sammelband „Im Lauf der Jahre“,54 aber auch in den „Grenzüberschreitungen“55 und von der Seite eines begeisterten Hörers, in dem wunderschönen und fein nuancierenden Beitrag Günther Hamanns, meines leider schon 1994 verstorbenen Freundes und Kollegen, im „Buch der Freunde“ von 1971,56 in den „Grenzüberschreitungen“ ausführlich zitiert. Ich war leider 51 Salis schildert die Vorbereitung der Zürcher Ausstellung ausführlich in: Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 200–203. Die Ausstellung in Zürich sollte lediglich die erste Station einer jahrelangen Ausstellungstätigkeit im westli­chen Ausland sein – in Brüssel, Amsterdam, Paris, Stockholm, Kopenhagen, schließlich drei Jahre lang in den USA, und zum Abschluss in Oslo. Über die (bisher nur unvollständig bekannten) politischen Hintergründe dieser Aktion, die bedeutende Werte des öster­reichischen Staates in Zeiten der teilweisen sowjetischen Besetzung Österreichs und des Kalten Krieges im westlichen Ausland beließ, vergleiche Hugo Portisch, Österreich II: Der lange Weg zur Freiheit, Wien 1986, 303–307. 52 Salis, Notizen eines Müßiggängers, 148 (Eintragung vom 14. November 1981). 53 Jean Rudolf von Salis, Fritz Wotruba, Zürich 1948 (Text in deutscher und französischer Sprache). Zu Wotruba vergleiche auch Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, S. 302–315, sowie Salis, Notizen eines Müßiggängers, 28–29 (Eintragung vom 6. August 1981). 54 Salis, Im Lauf der Jahre, 229–262. 55 Salis, „Wiener Semester“, in: Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 276–289. 56 Günther Hamann, „Schweizer Weltbürgertum und österreichische Selbstbesinnung – J. R. von Salis im Wien des Jahres 1947“, Buch der Freunde für J. R. von Salis, 92–104.

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ein Semester zu jung; als Salis in Wien las, machte ich gerade Matura. Heute nehme ich nur ein Wort Günther Hamanns heraus, und einen Satz, genau drei Sätze, von Salis. Hamann spricht von der „Suggestivwirkung der Nüchternheit“, die Salis ausstrahlt.57 Treffender lässt sich’s nicht sagen! Und Salis notierte zum 21. Mai 1947: „Es ist Historiker-Nachwuchs da. Bloß sind diese Leute fast nur über die Dinge Zentraleuropas und des Balkans unterrichtet. Das offene Fens­ter nach Westen fehlt noch.“58 Salis hat es aufgerissen, und Wiens Historiker haben versucht, ihm dafür zu danken, 1981 mit dem philosophischen Ehren­doktorat der Universität Wien59 und 1992 mit der Wahl zum Ehrenmitglied der Philosophisch-Historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wis­senschaften.60 Ich erwähne Salis’ Wort vom offenen Fenster nach Westen auch deshalb, weil ich mich bei meiner Abschlussvorlesung an der Universität Wien im Juni 1997 ausdrücklich darauf berief und der Hoffnung Ausdruck gab, dass ich das Fens­ ter nach dem Westen in den Jahren meiner Lehrtätigkeit in Wien (von 1969 bis 1997) noch ein Stück weiter geöffnet hätte.61 Dutzende und Aberdutzende mei­ ner Diplom- und Doktoratsstudenten haben sich auf ihre Schlussprüfungen mit Salis’ „Weltgeschichte der neuesten Zeit“ vorbereitet. Salis kam auch später oft nach Österreich, etwa im Sommer 1958 nach Salzburg, wo er beim Diplomatenseminar auf Schloss Klessheim über „Geschichte und Diplomatie“62 sprach – dort lernte ich Salis persönlich kennen. 1961 trafen wir uns wieder beim Österreichischen Historikertag in St. Pölten, wo Salis über „Erforschung und Darstellung der Geschichte der neuesten Zeit“ referierte. 1971 fuhr er zur Staatsopernaufführung von Gottfried von Einems Vertonung von Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ nach Wien,63 ebenso zur Festauf­ führung im Burgtheater zu Fritz Hochwälders 70. Geburtstag im Mai 1981.64 Die 57 Buch der Freunde für J. R. von Salis, 96; Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 285. 58 Salis, Im Lauf der Jahre, 238. 59 Vergleiche hierzu Salis, Notizen eines Müßiggängers, 147–148 (Eintra­gung vom 14. November 1981). 60 Hierzu siehe auch Gerald Stourzh, „Jean Rudolf von Salis, Nachruf“, Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 148, 1998, 433–440. 61 [Ergänzung 2010:] Die Abschlussvorlesung ist veröffentlicht in: Gerald Stourzh, Spuren einer intellektuellen Reise, Wien 2009, 103–155, zu Salis 108–111. 62 Erstveröffentlichung in Karl Braunias und Gerald Stourzh (Hrsg.), Diplomatie unserer Zeit, Beiträge aus dem Diplomaten-Seminar Klessheim, Graz 1959, 13–36; wiederveröffentlicht in Salis, Im Lauf der Jahre, 109–127. 63 Jean Rudolf von Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 424. 64 Jean Rudolf von Salis, Notizen eines Müßiggängers, 27 (Eintragung vom 5. August 1981).



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Verleihung des Ehrendoktorats in Wien im November 1981 wurde bereits erwähnt. Leider konnte Salis nicht zu einem Symposion über die Schweiz und Österreich in Salzburg im Frühjahr 1984 kommen, als dessen Mitveranstalter ich fungierte,65 doch sandte mir Salis eine Grußbotschaft, in der er seine Ver­bundenheit mit Österreich zum Ausdruck brachte.66 Salis hat sich vielfach positiv zur Entwicklung der Zweiten Republik Österreich geäußert.67 Er hat sich in den „Notizen eines Müßiggängers“ mit dem Phänomen Kreisky befasst – Kreisky tauchte auch einmal auf Schloss Brunegg auf – und damals gemeint, die Österreicher, so schiene es, erinnerten sich gar nicht mehr, dass sie an den Judenverfolgungen beteiligt waren.68 Dies hat sich inzwischen grundlegend geändert. Salis fehlte jene zum Heiligen Römischen Reich oder auch zum Habsburger­ reich zurückgehende Nostalgie, die manche Wien-Besucher beseelte, obwohl ja Angehörige der Familie Salis im k. u. k. Militärdienst zahlreich vertreten waren. Jean Rudolf erzählt in den „Grenzüberschreitungen“ von einem Besuch in Chur bei dem damals schon über neunzigjährigen k. u. k. Feldzeugmeister Baron Daniel von Salis-Soglio (1826–1919), einem bedeutenden Festungsbaumeister, nach dessen Namen ein Fort der Festung Přzemyśl benannt war. Zu den Nostalgikern gehörte Reinhold Schneider in seinem Buch „Winter in Wien“, zu dem sich Salis in den „Notizen eines Müßiggängers“ mit ausnehmender Schärfe äußerte: „Bei Schneider steht kein Wort von der neuen Wirklichkeit dieses freien und geordneten Kleinstaates […], nichts in seinem Österreich ist Gegenwart und Zukunft, alles nur Vergangenheit und Trauer um das Gewesene.“69 Wenngleich 28 Jahre jünger als Jean Rudolf von Salis, fand ich doch in seiner und meiner Lebensgeschichte manche Berührungspunkte. Hermann Hesses Demian spielte für mich eine ähnliche Rolle wie für den jungen Salis. Der sechzehnjährige Salis sah Werner Krauss in Bern als Saint-Just in „Dantons Tod“,70 der zehnjährige Stourzh sah Werner Krauss als Wilhelm Tell im Wiener Burgtheater – allerdings wirkte ich, im Unterschied zu Salis, nicht als Statist mit. Und ich darf mich 65 Die Ergebnisse sind publiziert in Friedrich Koja und Gerald Stourzh (Hrsg.), Schweiz – Österreich: Ähnlichkeiten und Kontraste, Wien/Köln/Graz, 1986. 66 Brief Salis’ an den Verf. dat. 21. Mai 1984, im Besitz des Verfassers. 67 Salis, „Das neue Österreich“, Grenzüberschreitungen, Bd. 2, 194–203; auch Salis, Notizen eines Müßiggängers, 147–151 (Eintragungen vom 14. u. 16. November 1981). 68 Jean Rudolf von Salis, Notizen eines Müßiggängers, 376–380 (Eintragung vom 12. September 1982). 69 Ebda., 131–134 (Eintragung vom 30. Oktober 1981). 70 Jean Rudolf von Salis, Grenzüberschreitungen, Bd. 1, 87–88.

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11. Jean Rudolf von Salis – ein Grenzgänger

glücklich schätzen, jenes Erlebnis, das Salis als stärksten Eindruck in seinem Leben bezeichnet hat, ebenfalls erlebt zu haben, jedenfalls ein ganz ähnliches: Es handelt sich um den legendären Nachkriegs-«Figaro“ der Wiener Staatsoper. Ich sah „Figaros Hochzeit“ mit Irmgard Seefried als Susanne und Sena Jurinac als Cherubin im zerbombten, noch immer von Gewalt er­schütterten, aber eben im befreiten Wien, im wiedererstandenen Österreich, am 3. Mai 1945, im Gebäude der Volksoper – die Staatsoper war ja ausgebrannt.71 Es war ein unglaubliches Erlebnis. Salis sah den „Figaro“ ein oder zwei Jahre danach. Er erinnert sich in den „Notizen eines Müßiggängers“: „Im halbzerstörten, hungernden Wien nach dem Kriege hörte ich eine vollkommene Aufführung von ‚Figaros Hochzeit‘. Als ob es nichts anderes auf der Welt gäbe. Frisch wie am ersten Tag. Etwas, das alles überdauert. Das war der stärkste Eindruck.“72

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Vergleiche auch die Photos bei Hugo Portisch, Österreich II: Die Wiedergeburt unseres Staates, Wien 1985, 324–325. 72 Salis, Notizen eines Müßiggängers, 420 (Eintragung v. 13. November 1982).

12. Angelo Ara und die österreichische Geschichte

Angelo Ara, der am 2. Mai 2006, viel zu früh von uns gegangen ist, hat uns ein Gesamtwerk von großer Reichhaltigkeit und von großer Dichte hinterlassen. Dabei hat Angelo Ara gar nicht als Historiker begonnen, sondern 1965 als Dreiundzwanzigjähriger (geboren am 1. Dezember 1942) eine juristische laurea in Mailand erworben – allerdings mit einer verfassungsgeschichtlichen Dissertation über das „statuto fondamentale“ des Kirchenstaates vom März 1848, die alsbald (1966) als Buch veröffentlicht wurde.1 Ara folgte jedoch schon unmittelbar nach dem Doktorat seinen historischen Interessen, die ihn zunächst für ein Jahr (1965/66) nach Neapel führten, an das berühmte von Benedetto Croce gegründete und lange von Federico Chabod geleitete „Istituto italiano per gli studi storici“. Chabod war allerdings ein paar Jahre vor Aras neapolitanischem Jahr gestorben. In Neapel war Ara besonders von Ernesto Sestan beeindruckt, dem Historiker istrianisch-trentinischer Herkunft, dem er Jahre später eine umfangreiche Studie widmen sollte, auf die ich noch zurückkommen werde. Doch sehr bald, nämlich schon von 1967 bis 1969, folgte ein zweijähriger Archivaufenthalt in Wien. Dem war bereits ein kurzer Wien-Aufenthalt 1965 vorhergegangen, anlässlich des Internationalen Historikerkongresses. Ara hat später geschrieben, dass ihn damals schon Wien an Triest erinnerte, und fügte hinzu: „Gia da un primo sguardo si coglievano i caratteri communi di quella Mitteleuropa allora in Italia non ancora di moda“ – auch wenn das Magris-Buch über den „mito asburgico“ schon 1963 herausgekommen war.2 Ara besuchte damals in Hietzing eine austro-triestinische Dame, Magda Frankfurter-Caputo, die Tochter von Albert Frankfurter, dem letzten Generaldirektor des Österreichischen Lloyd Tries1

Lo Statuto fondamentale dello Stato della Chiesa (14 marzo 1848). Contributo di uno studio delle idee costituzionali nello Stato pontificio nel periodo delle riforme di Pio IX, Milano 1966. 2 Claudio Magris, Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna, Torino 1963.

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12. Angelo Ara und die österreichische Geschichte

tino, und Ara entdeckte, dass „oltre alla Mitteleuropa delle pietre esisteva quella degli uomini“3. Bereits damals begann Wien Aras wichtigster Bezugsort außerhalb Italiens zu werden. Und auf die zwei Forschungsjahre 1967/69 folgten zahlreiche oder eigentlich zahllose kürzere Aufenthalte aus Anlass von weiteren Forschungen, Vorträgen, Tagungen oder Sitzungen – Ara war u.a. Mitglied des Beirats des Internationalen Zentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien und von 1994 bis 1997 Mitglied des Kuratoriums der österreichischen Universitäten. Vor allem gab es aber auch zwei Jahre als Gastprofessor an der Universität Wien, im akademischen Jahr 1978/1979 und im akademischen Jahr 1988/89. 1993 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Bevor ich auf den wichtigen Ertrag von Aras zwei Wiener Archivjahren zu sprechen komme, möchte ich noch biographisch ergänzen, dass Ara unmittelbar darauf, nämlich 1969/70, ein Jahr in den USA verbrachte, als Instruktor an der State University of New York in Buffalo, und für Quellenforschungen in den National Archives in Washington sowie in Archivbeständen an der Yale University in Connecticut. Ergebnis dieser Forschungen war sein Buch L’Austria-Ungheria nella politica americana durante la prima guerra mondiale4, das 1973 publiziert wurde. Ich werde darauf noch zurückkommen. Nur stichwortartig die weiteren Schritte von Aras Biographie nach der Rückkehr aus Amerika: Ein Jahr an der Universität von Macerata; 1971 die Privatdozentur für Geschichte des Risorgimento, dann von 1971 bis 1981 die Stufenleiter des akademischen Aufstiegs bis zum Ordinarius an der Universität Parma, aber wohl am wichtigsten in den Jahren von Parma – die Begegnung mit seiner späteren Frau Marcella, ja selbst Historikerin, und die Heirat 1977. Wir können nur ahnen, wie viel die Liebe und moralische Unterstützung von Frau Marcella, und später auch der beiden Töchter Francesca und Nicoletta, für Angelo in den guten und in den schweren Jahren bedeutet hat. 1981 schließlich kam die Berufung als Ordinarius an die Universität Pavia, seine endgültige akademische Heimstätte. Doch nun zu Aras Werk. Ich möchte versuchen, dieses wie schon gesagt reichhaltige Werk thematisch in sechs Gruppen zu gliedern, ohne mich an die chronologische Entwicklung zu halten, und in jeder dieser Gruppen werde ich 3 Angelo Ara, Vienna vissuta da un italiano, in: Studi Goriziani, 70, Juli – Dezember 1989, 8. Siehe auch ders., Amputazione e riappropriazione della storia. Note minime su alcuni episodi recenti, in: N. Dacrema, Hg., Felix Austria – Italia infelix ? Tre secoli di relazioni culturali italoaustriache, Roma 2004, 197. 4 Roma 1973.



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auch nur jeweils einige Arbeiten herausgreifen können. Natürlich gibt es Überschneidungen, manche Arbeiten könnten in mehreren dieser Gruppen genannt werden, es gibt auch eine Reihe von Arbeiten, die außerhalb dieser Gruppierung stehen, ich hoffe aber, mit meiner Gliederung einen besseren Überblick über Aras Werk, vor allem zur österreichischen und mitteleuropäischen Geschichte, geben zu können. Die zwei Archivjahre in Wien 1967 bis 1969 trugen reiche Frucht. Sie bedeuteten den Einstieg Aras in die österreichische Geschichte, zunächst in die Geschichte der Habsburgermonarchie, und hier wiederum in die Geschichte der italienisch bewohnten Gebiete der Monarchie. Ricerche sugli austro-italiani e l’ultima Austria5 – das ist der Titel von Aras drittem Buch – von 1974 –, aber gleichzeitig auch die beste und knappste Bezeichnung des ersten großen Bereichs oder Schwerpunktes von Aras Forschungen, und eines ganz wichtigen und zentralen Schwerpunktes. Noch vor Wien hatte Ara seinen ersten Aufsatz über eine politische Grundsatzdebatte im Triestiner Gemeinderat von 1913 geschrieben – Triest also noch in den Zeiten der Monarchie.6 Triest – die Stadt seiner väterlichen Vorfahren, Triest, das ihn nie losgelassen hat, obwohl er nicht in Triest, sondern in Stresa Borromeo geboren wurde und ja auch nie in Triest gelehrt hat. In diesem Aufsatz begegnen wir auch Camillo Ara, einem Bruder seines väterlichen Großvaters, dem unbestrittenen Führer der liberalnationalen Partei vor dem Ersten Weltkrieg. Angelo Ara selbst hat in einem autobiographischen Text, den er für die Österreichische Akademie der Wissenschaften nach seiner Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Akademie 1993 verfasst hat, die Anfänge seiner historischen Forschungen (nach seiner Dissertation) wie folgt beschrieben und motiviert: „Nachher [d.h. nach der Dissertation über den Kirchenstaat] widmete ich mich der Erforschung der österreichischen Politik in Italien im 19. und 20. Jahrhundert, der Geschichte Triests, der italienischen Politik in Südtirol, der Frage der nationalen und religiösen Minderheiten. Es handelte sich vielleicht um einen unbewußten Versuch, meine eigenen Wurzeln und jene meiner Familie zu vertiefen.“ Ich werde auf Triest später noch zurückkommen. Der junge Ara ging in seinen Studien sehr bald über Triest hinaus, auch wenn er immer wieder zurückkehren sollte.7 Aufgrund des Wiener Archivmaterials schrieb er eine umfangreiche Ab5 Roma 1974. 6 Angelo Ara, L’avvenire di Trieste in un dibattito al Consiglio communale di Trieste nel gennaio del 1913, in: ders., Ricerche sugli austro-italiani e l’ultima Austria, 141–171. 7 Eine feinsinnige Interpretation der Geschichte Triests unter österreichischer Herrschaft gab Ara in einem Vortrag in London im September 1992, der 1994 publiziert wurde: Angelo Ara,

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handlung über Istrien, genauer über die Verhandlungen um einen nationalen Ausgleich in Istrien zwischen 1900 und 1914, Verhandlungen, die Ara eben auch in die vergleichende Perspektive der gelungenen Ausgleiche in Mähren und der Bukowina, des erfolgreich verhandelten Ausgleichs in Galizien stellte, während in Istrien, ähnlich wie in Böhmen, der Ausgleich letztlich scheiterte. Die Härte der Auseinandersetzungen zwischen Italienern einerseits, Slowenen und Kroaten andererseits im istrianischen Landtag sucht ihresgleichen in ganz Cisleithanien, wobei Ara auch die Spannungen zwischen gemäßigten und radikalen Vertretern innerhalb der sprachlich-nationalen Lager untersuchte und nicht unerwähnt ließ, wie sehr die Bemühungen der Italiener darauf gerichtet waren, ihre ursprüngliche Hegemonie in der politischen Landschaft Istriens, wenn auch mit bestimmten Einschränkungen, zu bewahren, während die slawischen Politiker auf den Grundsatz der Parität als Ausdruck der Gleichberechtigung der Nationalitäten pochten.8 Die Ergebnisse von Aras Studie, lange Zeit in Österreich wenig beachtet, sind vor einigen Jahren voll rezipiert worden in der Arbeit von Harald Krahwinkler über die Landtage von Görz-Gradisca und von Istrien in dem im Jahre 2000 veröffentlichten Band 7 der „Habsburgermonarchie“9. Neben Triest und Istrien untersuchte Ara damals auch Reformvorschläge für das Trentino gegen Ende des 19. Jahrhunderts anhand von unveröffentlichten in Wien gefundenen Quellen aus dem Jahr 1892, insbesondere einem Memorandum des Hofrats Benedikt Giovanelli, eines komplett austrifizierten Staatsbeamten Trientiner Herkunft, der die Trientiner Abteilung der Tiroler Statthalterei (Luogotenenza) leitete.10 Etwas später komplettierte Ara die Arbeiten über die von den „Austro-Italiani“ bewohnten Kronländer mit einer Studie über „Dalmatien und die österreichische Wahlreform von 1906/07“11. Noch umfangreicher als die Istrien-Arbeit, fast ein Buch im Buche, und noch wichtiger vom Standpunkt der österreichisch-cisleithanischen „GesamtstaatsgeThe „Cultural Soul“ and the „Merchant Soul“: Trieste between Italian and Austrian Identity, in: Ritchie Robertson – Edward Timms, Hg., The Habsburg Legacy. National Identity in Historical Perspective, Edinburgh 1994, 58–66. 8 Angelo Ara, Le trattative per un compromesso nazionale in Istria (1900–1914), in: ders., Ricerche sugli austro-italiani e l’ultima Austria, 247–339. 9 Harald Krahwinkler, Die Landtage von Görz-Gradisca und Istrien, in: Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch, Hg., Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, Wien 2000, 1873–1918. 10 Angelo Ara, Proposte di riforma nel Trentino sul finire dell’Ottocento, in: ders., Ricerche sugli austro-italiani et l’ultima Austria, 229–245. 11 Angelo Ara, Dalmazia e la riforma elettorale austriaca del 1906/1907, in: Atti e Memorie della società dalmata di storia patria, 13, 1985, 27–45.



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schichte“ ist Aras Arbeit La questione dell’università italiana in Austria, ebenfalls enthalten in den Ricerche sugli austro-italiani e l’ultima Austria12. Indem Ara die Frage der italienischen Universität – konkret ging es ja zunächst vor allem um eine juridische Fakultät – vom Zentrum der Wiener Archivalien bearbeitete, kam er unvermittelt und unvermeidlich mitten in die cisleithanische Nationalitätenpolitik hinein, in die tschechische Forderung nach einer Universität in Brünn, slowenischen Forderungen nach einer Universität in Laibach, und sogar Transleithanien spielte herein, mit der Frage der Anerkennung von Prüfungen an der Agramer König Franz Joseph-Universität. Die altösterreichische Verwaltung war bekanntlich in zwei deutlich voneinander unterschiedene Zweige geteilt – einerseits in die sogenannte „autonome“ Verwaltung in den Kronländern mit ihren Landtagen und Landesausschüssen und den Gemeinden, andererseits in die kaiserlich-landesfürstliche „staatliche“ Verwaltung, die in den Ländern durch den Statthalter und die Bezirkshauptleute vertreten war. Während die Studie über Istrien vorwiegend im Bereich der „autonomen“ Verwaltung spielt und Ara zeigt, dass die Statthalter eine vorsichtig vermittelnde und versöhnliche, jedoch nicht entscheidend gestaltende Haltung einnahmen – dies entspricht ja auch der Haltung der Regierung bei den Verhandlungen zwischen Deutschen und Tschechen in Mähren –, gehörten die Universitäten eindeutig in die Kompetenz der Zentralregierung und der staatlichen Verwaltung. In der Diskussion um die verschiedenen Sitze einer italienischen Fakultät oder Universität in Innsbruck oder Wilten oder Rovereto oder Triest oder sogar in Wien kamen die unterschiedlichsten Facetten der österreichischen Nationalitätenkonflikte zum Vorschein. Ara zeigt, wie sehr die Angst vor Präzedenzfällen für ganz andere Regionen des Vielvölkerstaates die Entscheidungsfindung der Zentralregierung immer wieder lähmte. Ara betont auch, wie sehr die Frage des „nationalen Besitzstandes“ die Standortdiskussion bestimmte. Während sowohl in Innsbruck oder Wilten als auch in Triest die Frage des nationalen „Besitzstandes“ – in Innsbruck der „deutsche“ Besitzstand, vorgeblich bedroht von den Italienern, in Triest der italienische „Besitzstand“, vorgeblich bedroht von den Slowenen, – die Auseinandersetzungen prägte, wurde zugunsten einer italienischen Fakultät in Wien argumentiert, dass die Haupt- und Residenzstadt Wien eben der Besitzstand „aller österreichischen Nationalitäten“ sei. Aber auch „gesamtstaatliche“ Erwägungen, an die man zunächst vielleicht nicht denkt – etwa militärische Bedenken gegen eine Fakultät in 12 Angelo Ara, La questione dell’università italiana in Austria, in: ders., Ricerche sugli austroitaliani e l’ultima Austria, 9–140.

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Rovereto, wegen der Lage in einem militärisch sensiblen Grenzgebiet – kamen zur Sprache. Bekanntlich ist schließlich die einzige Universität, die im cisleithanischen Altösterreich zwischen 1848 und 1918 neu gegründet wurde, jene in Czernowitz gewesen. Mit dieser brillanten Arbeit hatte sich Ara ins Zentrum der altösterreichischen Nationalitätenpolitik katapultiert – und ein zweiter wichtiger Bereich von Aras Arbeiten sind eben die Nationalitätenproblematik in der gesamten Habsburgermonarchie und darüber hinausgehend das Nationalismus-Problem im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts überhaupt geworden. Vier Arbeiten aus diesem Bereich möchte ich nennen. Schon die letzten Kapitel von Aras frühem Buch über die amerikanische Politik gegenüber Österreich-Ungarn hatten sich mit dem Durchbruch der zentrifugalen tschechisch-slowakischen und südslawischen Bestrebungen im Laufe des Sommers 1918 befasst.13 In einer späten Arbeit aus 2002, Il tramonto della monarchia asburgica hat Ara das Thema wieder aufgenommen, aber die Auflösung der Doppelmonarchie vor den Hintergrund der inneren Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert gestellt.14 Ara weist darauf hin, dass und wie sehr die dualistische Struktur der Doppelmonarchie durch den Zusammenschluss südslawischer Politiker aus beiden Teilen der Monarchie ab 1905 potenziell aus den Angeln gehoben wurde.15 Er zitiert auch die prophetische Äußerung des Grafen Kasimir Badeni noch vor der Jahrhundertwende, dass ein Nationalitätenstaat keinen Krieg führen könne, ohne seine Existenz aufs Spiel zu setzen.16 In einer Arbeit Nazionalità e nazionalismi nell’Europa delle Potenze aus 1971 hat sich Ara in sehr interessanter Weise mit dem von Fustel de Coulanges und Ernest Renan entwickelten, von Sprache und ethnischer Zugehörigkeit abgekoppelten Nationsbegriff der auf gemeinsamen Traditionen – heute würde man modisch sagen: auf einem gemeinsamen „Gedächtnis“ – aufbauenden Willensnation beschäftigt. Schon damals und auch später hat Ara die Verhältnisse in Elsass-Lothringen zum Vergleich und Kontrast mit der Venezia Giulia herangezogen.17 13 Angelo Ara, L’Austia-Ungheria nella politica americana durante la prima guerra mondiale, Kap. 5 und 6, 119–176. 14 Angelo Ara, Il tramonto della monarchia asburgica, in: M. Allegri, Hg., Rovereto in Italia. Dall’irredentismo agli anni del fascismo (1890–1939), Atti del Seminario (= Memorie dell’Accademia Roveretana degli Agiati, serie II, Bd. 5/1), Rovereto 2002, 7–32. 15 Ebd., 15. 16 Ebd., 17. 17 Angelo Ara, Nazionalità e nazionalismi nell’Europa delle Potenze, in: ders., Ricerche sugli



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Am eindrucksvollsten jedoch ist Aras 64 Seiten starker Aufsatz über „das Problem der Nationalitäten in Österreich von Metternich bis zum Dualismus“, in der „Rivista storica italiana“ von 2004 erschienen.18 Ara zeigt in einem großen weiträumigen Panorama das Verschwinden des alten, sprachlich indifferenten „Landespatriotismus“ zugunsten eines neuen, die Sprachkultur in den Mittelpunkt stellenden Nationalbewusstseins. Besonders ausführlich befasst sich Ara mit der Entwicklung in Ungarn, beginnend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – wie überhaupt die aus der Wiener Perspektive auffallende, aber, wie ich glaube, durchaus richtige stärkere Berücksichtigung der Länder der Stephanskrone ein Charakteristikum von Aras Analyse der Habsburgermonarchie ist. Ich glaube auch, einen nicht unwichtigen Einfluss für diese stärkere Beachtung der „transleithanischen“ Seite bei Ara nennen zu können, nämlich die Kenntnis und große Wertschätzung, die Ara den Arbeiten Leo Valianis entgegenbrachte. Ich komme darauf zurück. Aber Ara befasst sich natürlich auch mit allen anderen Nationalitäten der Donaumonarchie, und neuerlich mit Italienern und Slowenen, und hier geht Ara über den zeitlichen Rahmen seines Aufsatzes hinaus in die zutiefst schmerzliche Konfliktsituation zur Zeit des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges. Von seinen ersten Arbeiten über die „austro-italiani e l’ultima Austria“ angefangen hatte Ara ja eben nicht nur über die „austro-italiani“, sondern auch über jene gehandelt, die ihnen in einer „Konfliktgemeinschaft“ im gleichen Staat, im gleichen Land, sei es in der Habsburgermonarchie oder ihren italienischen und südslawischen Nachfolgestaaten, gegenüberstanden, seien es die Deutsch-Tiroler im Norden oder die Slowenen und Kroaten im Littorale. Das feindselige Gegenüberstehen der anderssprachigen Nachbarn im gleichen Land, in der gleichen Stadt – natürlich denkt Ara an Triest und sein Umland – war für Ara eine Gegebenheit von höchster Tragik. Dies kommt in einem seiner schönsten und wichtigsten Texte, versteckt in einer Fußnote der Arbeit über das Nationalitätenproblem von Metternich zum Dualismus, klar zum Ausdruck. Ich zitiere im italienischen Original: „L’incapacità di trovare, dopo lo sviluppo delle coscienze nazionali, il senso di un’appartenenza comune ad uno stesso spazio fisico-geografico ha rappresentato e forse ancora austro-italiani e l’ultima Austria, 203–227. Siehe auch ders., Introduzione, in: Angelo Ara – Eberhard Kolb, Hg., Regioni di frontiera nell’epoca dei nazionalismi. Alsazia e Lorena / Trento e Trieste 1870–1914 (= Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 41), Bologna 1995, 7–12. 18 Angelo Ara, Il problema delle nazionalità in Austria da Metternich al dualismo, in: Rivista storica italiana, 116, 2004, 409–473.

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in parte rappresenta una delle cause fondamentali dei contrasti nazionali nelle aree mistilingui dell’Europa centro-orientale.“19

Ara bezieht sich dann auf den tragischen Fall eines slowenischen Triestiners, auf den er und Claudio Magris schon in ihrem Triest-Buch Bezug genommen hatten.20 Dieser slowenische Triestiner, Pinko Tomažič, wurde von einem faschistischen Sondergericht 1941 zum Tod verurteilt. Jože Pirjevec hat über diesen Prozess publiziert.21 Aber ich möchte Ara weiter zitieren, im italienischen Original: „Il triestino Pino (Pinko) Tomažič-Tomasi, condannato a morte dal tribunale speciale italiano nel 1941, prima di morire scrive una lettera di addio di straordinaria intensità, nella quale esprime il rapporto che lo lega alla ,sua‘ patria tra il Vipacco e il mare. Sentimenti simili verso la terra tra il carso e il mare ricorrono in tanti scrittori di lingua italiana. Ma nessuno nelle due parti, forse con la sola eccezione di Scipio Slataper, ha chiara la consapevolezza che quella terra e patria commune di italiani e sloveni.“22

Man sieht, hier handelt es sich für Ara um ein Thema von existenzieller Bedeutung. Magris und Ara haben in ihrem Triest-Buch zwei Symbolfiguren für jenen Zustand des Getrenntseins in der Nähe ausgewählt, eben den gerade genannten Slowenen Tomažič, und einen jungen 1943 gefallenen italienischen Triestiner, Falco Marin, der gegen Ende seines jungen Lebens entdeckte, dass er Slowenisch lernen wolle. Von Marin heißt es im Triest-Buch (Alberto Spaini, der über Marin geschrieben hatte, zitierend): „… che arriva da sola, nel momento supremo, a cogliere o a intuire la verità, a desiderare un rapporto di comprensione umana e fraterna con il vicino-lontano, separato da secolari steccati.“23

19 Angelo Ara, Il problema delle nazionalità, 434, Anm. 20. 20 Angelo Ara – Claudio Magris, Trieste. Un’identità di frontiera, seconda edizione ampliata, Torino 1987, 142–143. 21 Jože Pirjevec, La fase finale della violenza fascista. I retroscena del processo Tomažič, in: Qualestoria, 2, 1982, zitiert bei Ara – Magris, Trieste, 143. 22 Ara, Il problema delle nazionalità, 434, Anm. 20. 23 Ara – Magris, Trieste, 144, sich beziehend auf Alberto Spaini, Autoritratto triestino, Milano 1963, 85.



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„Vicino-lontano“ – „benachbart – weit weg“ – ein wunderbares Wort, auf das ich zurückkommen werde. Doch ich muss mich weiteren Themenkreisen von Aras Werk zuwenden. Zunächst als dritte Gruppe Arbeiten, die von der Donaumonarchie ausgehend das republikanische Österreich betreffen, die Erste sowie die Zweite Republik. Hier sind zunächst zwei Arbeiten zu nennen, die über 40 Seiten lange dichte Abhandlung Un identità in trasformazione: l’Austria fra impero e seconda repubblica und eine wesentlich kürzere Arbeit, aus einem Vortrag in Wien hervorgegangen, in deutscher Sprache: Eine Identität im Wandel: Österreich vom Reich in die Republik. Die größere, italienische Studie24 vermittelt dem italienischen Leser viel Faktenmaterial zur Geschichte Österreichs von der Badeni-Krise zu Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Staatsvertrag von 1955. Ara unterstreicht (darin seinem Freunde Magris folgend) den „posthumen Patriotismus“ des nostalgischen Rückblicks auf Altösterreich, der in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit, einer „letteratura postuma“, solch eine Rolle spielt.25 Ara betont mit Recht, wie stark die Vorstellungen des „Großstaats“ und des „Großraums“ noch das österreichische Bewusstsein der Zwischenkriegszeit erfüllte und damit eine Brücke vom Großraum des Habsburgerreiches zur Anschlussideologie herstellte. Er spricht, den amerikanischen Historiker deutsch-österreichischer Herkunft Klemens von Klemperer zitierend, von der „nachimperialen Belastung“ der Ersten Republik.26 Ara betont allerdings ebenfalls zu Recht eine der großen Leistungen der frühen Ersten Republik, „una vasta e innovativa opera di legislazione sociale, che rimane un aspetto definitivo della struttura sociale austriaca“, auch die „Vienna rossa“ mit ihrem „straordinario, innovativo et fecondissimo laboratorio di politica municipale“ kommt nicht zu kurz.27 Die Ära Dollfuß/Starhemberg/Schuschnigg, „la soluzione autoritaria et la versione Austriaca del fascismo“, wird nüchtern analysiert.28 Ara betont zu Recht bei Schuschnigg die Kombination einer sehr stark deutsch fühlenden Komponente mit katholischen und pro-habsburgischen Elementen. Der triumphale Empfang Hitlers und der Ausbruch des fanatischen Antisemitismus unmittelbar nach der Demission Schuschniggs sind, so Ara, „due pagine incancellabili della storia Austriaca“; Ara erwähnt auch das in Österreich nicht so häufig 24 Angelo Ara, Un identità in trasformazione: l’Austria fra impero e seconda repubblica, in: Rivista storica italiana, 110, 1998, 949–984. 25 Ebd., 964. 26 Ebd., 955. 27 Ebd., 957. 28 Ebd., 961.

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kommentierte Phänomen des Anstiegs der Heiraten und der Geburtenzahlen nach dem Anschluss, Anzeichen einer „ritrovata sensazione di stabilità e di sicurezza“29. Ara befasst sich auch mit dem Heranwachsen einer „nazione politica“, des österreichischen Nationsbewusstseins in der Zweiten Republik und betont, dass im Unterschied zu anderen „Nationsentwicklungen“ die österreichische Nation nicht aus einem Prozess der Einigung, sondern der Trennung hervorgegangen sei.30 In der kürzeren deutschsprachigen Arbeit „Eine Identität im Wandel“ kommt noch deutlicher als in der italienischen Studie ein kulturgeschichtlich ganz wichtiger Unterschied zwischen Erster und Zweiter Republik zum Ausdruck. Im Vergleich zum geistigen Humus nicht nur der Jahrhundertwende, sondern auch der „bitteren, aber schöpferischen Jahrzehnte der ersten Republik“ mache sich in der Zweiten Republik „die tragische Abwesenheit der Juden“ bemerkbar. „In dieser Hinsicht“, so Ara, „bedeutete das Jahr 1938, der Zeitpunkt der Diaspora der österreichischen Intelligenz und des Untergangs einer mitteleuropäischen Gesellschaft, die den Zusammenbruch ihrer politischen Einheit überlebt hatte, eine weitaus wichtigere und entscheidendere Zäsur als jene des Jahres 1918“31. Es gibt noch mindestens zwei weitere wichtige Arbeiten Aras zur Geschichte der Ersten und Zweiten Republik, die hier erwähnt werden könnten, die ich aber in der nächsten, der vierten Gruppe, nennen werde: Aras Werk im Bereich der Geschichte der internationalen Beziehungen, der Außenpolitik und Diplomatiegeschichte. Schon Aras zweites Buch, nach jenem über den Kirchenstaat, das bereits genannte L’Austria-Ungheria nella politica americana durante la prima guerra mondiale, befasst sich ja mit Geschichte der Außenpolitik. Es ist ein interessantes Buch, in dem Ara zeigt, dass die Doppelmonarchie kein Hauptthema der amerikanischen Außen- und Weltkriegspolitik war, sondern eher das Objekt taktischer Überlegungen im Zusammenhang mit der amerikanischen Deutschland-Politik – etwa in der Frage, ob die Doppelmonarchie vom Bündnis mit Deutschland abgekoppelt werden könnte. Ara zeigt auch den im Vergleich zu den europäischen Westmächten langsameren Weg der Amerikaner, vor allem den von Präsident Wilson, der dem Drängen seines Außenministers Lansing nur schrittweise nachgab, zum Ziel der Auflösung der Doppelmonarchie.32 29 Ebd., 966, 969. 30 Ebd., 978. 31 Angelo Ara, Eine Identität im Wandel: Österreich vom Reich in die Republik, in: J. PatilloHess – M. Smole, Hg., Die Österreichische Nation, Wien 1997, 38–46, hier 45. 32 Ara, L’Austria-Ungheria nella politica americana durante la prima guerra mondiale, 154–157, 175.



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Ara qualifizierte sich also frühzeitig als Experte der Geschichte der Außenpolitik und wir verdanken ihm einige weitere wichtige Arbeiten zur Geschichte der Außenpolitik. Zunächst möchte ich eine bedeutende Arbeit nennen, deren Inhalt teilweise auch schon in die zwei ersten Gruppen fällt, die ich aber doch lieber hier vorstellen möchte. Es handelt sich um die Studie Die Haltung Italiens gegenüber der Habsburgermonarchie in Band 6 des Werkes Die Habsburgermonarchie 1848–1918, mit dem Titel Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen33. Die gerade für österreichische Leser sehr instruktive Studie setzt Mitte des 19. Jahrhunderts ein und führt bis 1918. Sie hat einen doppelten Aspekt. Einerseits präsentiert sie Analysen und politische Empfehlungen von publizistischer Seite, andererseits befasst sie sich eben mit der staatlichen Politik gegenüber der Habsburgermonarchie. Ara beginnt mit der Gegenüberstellung zweier sozusagen „klassischer“ Alternativen. Die eine Alternative wurde in Cesare Balbos erstmals 1843 erschienenem Buch Delle speranze d’Italia präsentiert, mit dem Programm des „inorientamento dell’Austria“34, das heißt der Ost-Verlagerung Altösterreichs – Räumung der italienischen Gebiete, dafür Kompensationen aus dem damals osmanischen Herrschafts- oder Kontrollbereich, namentlich die beiden Donaufürstentümer Walachei und Moldau, – aber eben nicht der Auflösung oder Zerstörung der Monarchie, sondern deren Bewahrung als Bollwerk Europas gegenüber Russland. Die andere Alternative kam in den Schriften Giuseppe Mazzinis zum Ausdruck, der sich die Emanzipation der europäischen Nationen und deren Vollendung in staatlicher Unabhängigkeit nur auf den Trümmern der Habsburgermonarchie – und des Osmanischen Reiches – vorstellen konnte. Die Habsburgermonarchie und das Osmanische Reich waren für Mazzini die beiden „negativen“ Staaten Europas.35 Mit der Abtretung Veneziens an Italien trat ab 1866 die für die beiden weiteren noch bei Österreich verbleibenden italienischen Gebiete die Formel „Trento e Trieste“ in den Vordergrund, der Irredentismus war geboren, auch wenn der Begriff selbst erst etwa zehn Jahre später in den politischen Sprachgebrauch einzog.36 Die staatliche italienische Politik konnte nie, bei allem Maßhalten und auch nach der Entstehung des Dreibundes, wie der von Ara ausführlich zitierte Gaetano Salvemini gesagt hat, die moralische Grundlage seiner 33 Angelo Ara, Die Haltung Italiens gegenüber der Habsburgermonarchie, in: Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch, Hg., Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 6: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, Wien 1993, 190–246. 34 Ebd., 190. 35 Ebd., 196. 36 Ebd., 199.

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Existenz, das Prinzip der Nationalität, abschütteln, umso weniger, als Italien sich auch gegenüber den enteigneten Herrschern und gegenüber dem Papst dauernd darauf berufen musste.37 Von Interesse ist, dass neben einer gerade von Salvemini repräsentierten demokratischen Risorgimento-Tradition eine dem cisleithanischen Österreich etwas positiver eingestellte Tendenz italienischer Sozialisten (A. Labriola) sichtbar wurde, die auch im Sinne des Nationalitätenprogramms der österreichischen Sozialdemokratie durchaus einen ethnischen Föderalismus als Zukunftsperspektive Altösterreichs für möglich hielten.38 Gerade für die österreichischen Historiker ist diese Studie Aras von besonderem Interesse. Drei weitere Themen in den außenpolitischen Fragestellungen gewidmeten Arbeiten Aras möchte ich nennen. Da ist erstens Aras Behandlung der außenpolitischen Aspekte des Südtirolproblems in den 30er-Jahren – in mehreren Studien seines Buches Fra Austria e Italia – dalle Cinque Giornate alla questione alto-atesina von 1987. Ara macht deutlich, wie sehr die Entwicklung in Deutschland seit der nazistischen Machtergreifung und die Frage der italienisch-deutschen Beziehungen der wichtigste Außenfaktor der Südtirolfrage war und wie gering oder sekundär die Rolle Österreichs.39 Ein Überblicksartikel im gleichen Band, L’Alto Adige come problema della politica interna ed estera fascista, ist ein Musterbeispiel der klaren, den Blick auf die wesentlichen Vorgänge nie verlierenden Darstellungsart Aras – ich finde sie von einer besonderen „limpidezza“40. Vielleicht sollten wir uns gerade bei der Darstellung außenpolitischer Prozesse daran erinnern, dass Ara ja eine juristische Vorbildung hatte. Einem zweiten Thema ist sein Aufsatz Die italienische Österreichpolitik 1936– 1938 gewidmet, aus einem Kolloquium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Februar 1988 hervorgegangen.41 Die hervorragend dokumentierte Studie analysiert das Nachlassen von Mussolinis Interesse an Österreich im ersten Halbjahr 1936 und die Mehrzahl von Motiven, die dahinterstanden, vor allem das Programm der imperialen Expansion, das im Abessinienkrieg kulminierte, aber 37 Ebd., 206. 38 Ebd., 238–239. 39 Angelo Ara, Fra Austria e Italia. Dalle Cinque Giornate alla questione alto-atesina, Udine 1987, siehe Kap.7: „Spirito pubblico e politica italiana in Alto Adige dal plebiscito della Saar alle opzioni“, Teil 1: „Dal plebiscito della Saar all’Anschluss“, 267–313. 40 A. Ara, Fra Austria e Italia, S. 329–338. 41 A. Ara, Die italienische Österreichpolitik 1936–1938, in: G. Stourzh – B. Zaar (Hrsg.), Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses“ vom März 1938, Wien 1990, 111–129.



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auch ein deutlich kühleres Verhältnis Mussolinis zu Schuschnigg als zu Dollfuß. Der stärkste Vertreter einer pro-österreichischen Außenpolitik in Rom, der aus Triest stammende Staatssekretär Fulvio Suvich, wurde im Juni 1936 durch Galeazzo Ciano als Außenminister ersetzt.42 Mussolini hat Schuschnigg zum Abschluss eines akkommodierenden Arrangements mit Hitler-Deutschland geraten – daraus wurde das deutsch-österreichische Juliabkommen 1936. Der Anschluss, so kommentierte Ciano die Ereignisse vom März 1938, ist für uns „kein Vorteil. In der Zwischenzeit aber haben wir uns Abessinien genommen“.43 Einem dritten Thema galt Aras letzte große Arbeit, nämlich dem Abschluss des österreichischen Staatsvertrags und der Errichtung der österreichischen Neutralität im Jahre 1955. Es handelt sich um die sehr umfangreiche schriftliche Ausarbeitung seines letzten Vortrags im Mai 2005 in Wien bei einer internationalen Konferenz der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.44 Ara hat als Erster eine umfassende Präsentation der Akten der Farnesina zu den österreichischen Entwicklungen des Jahres 1955 erarbeitet und die Berichte der italienischen Botschafter vor allem in Moskau und Wien, aber auch in Paris, London, Washington, Bonn, Bern und Stockholm ausgewertet. Es zeigt sich, dass der damalige Botschafter in Moskau, Mario Di Stefano, früher als seine Kollegen in den westlichen Hauptstädten erkannte, dass es den Sowjets im Frühjahr 1955 tatsächlich ernst mit der Lösung der Österreich-Frage war. Gut informiert vom österreichischen Botschafter Norbert Bischoff, berichtete Di Stefano vom Willen Moskaus, mit der Neutralität Österreichs eine neutrale österreichisch-schweizerisch-jugoslawische Zone im Herzen des Kontinents zu Verteidigung der Satellitenstaaten zu schaffen. Di Stefano berichtete auch frühzeitig von der sowjetischen Entscheidung, die österreichische Frage von der deutschen abzukoppeln.45 Besonders möchte ich auf die interessanten Berichte des ab Ende April 1955 in Wien wirkenden Botschafters Angelino Corrias aufmerksam machen.46 Corrias trat sein Amt gerade noch rechtzeitig an, um über die Schlussphase der Verhandlungen zum österreichischen Staatsvertrag berichten zu können, vor allem über die sogenannte „Botschafterkonferenz“, die vom 2. bis 13. Mai in Wien stattfand. 42 Ebd., 118. 43 Ebd., 128. 44 Angelo Ara, Der österreichische Staatsvertrag aus der Sicht der italienischen diplomatischen Quellen, in: Arnold Suppan – Gerald Stourzh – Wolfgang Mueller, Hg., Der österreichische Staatsvertrag 1955/The Austrian State Treaty 1955, Wien 2005, S. 335–370. 45 Ebd., 338–339. 46 Ebd., 342–350.

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In dieser Konferenz waren die vier Großmächte durch ihre Botschafter (damals gleichzeitig auch noch Hochkommissare, da das Besatzungsregime noch bestand), Österreich durch Außenminister Leopold Figl und Staatssekretär Bruno Kreisky vertreten. Am interessantesten für Italien, so berichtete Corrias am 7. Mai nach Rom, wäre die Frage der „Neutralitätsgarantie“; es handelte sich um den übrigens von Österreich ausgehenden und von der Sowjetunion unterstützten Vorschlag einer Garantie der vier Großmächte für die territoriale Unverletzlichkeit Österreichs, die damals und auch noch fast für ein weiteres Jahr die westlichen Staatskanzleien viel beschäftigte. Kreisky habe Corrias erklärt, so berichtete er, dass Österreich seine Pflicht tun und die Neutralität erklären, die weiteren Entscheidungen aber den Großmächten überlassen werde.47 Diese Garantie, gegen welche die Westmächte starke Bedenken hatten, kam übrigens nie zustande.48 Ich wende mich einer fünften Gruppe von Aras Arbeiten zu, die einem ganz anderen Themenkreis zugehören. Eine besondere Stärke von Aras Begabung lag im Verfassen von Profilen oder besser Porträts von Historikerpersönlichkeiten, oft als Nachrufe geschrieben. Diese Schilderungen von Historikerpersönlichkeiten und ihrem Werk zeichnen sich durch ein außerordentlich hohes Ausmaß an Einfühlungsvermögen, an Nuanciertheit und Differenzierungsvermögen aus. Einige dieser Historikerporträts haben, dank des Werkes oder manchmal der Biographie der Porträtierten, Bezüge zur Geschichte Österreichs und Mitteleuropas. Ich mache kurz auf die Studien aufmerksam, die Ara den Persönlichkeiten von Ernesto Sestan, Leo Valiani, Franco Valsecchi, John Rath, Adam Wandruszka und Heinrich Lutz gewidmet hat. Über Ernesto Sestan, 1898–1986, aus Istrien stammend, und zwar aus Albona/ Labin, in Trient geboren, später sein intellektuelles Zentrum in Florenz findend, hat Ara einen 35 Druckseiten langen Aufsatz Ernesto Sestan tra veneti e slavi geschrieben.49 Sestan hat sich mehrfach, und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg und somit nach dem Verlust Istriens und der Westverschiebung der italienischjugoslawischen Grenzen, mit den nordöstlichen Grenzregionen befasst. Das geschah zumal in dem Buch Venezia Giulia. Lineamenti di una storia etnica e culturale, zuerst 1947 und neu aufgelegt 1965 erschienen, und von Ara ausführlich kommentiert. Ara kommentiert die von Sestan behandelte „infiltrazione germa47 Ebd., 346. 48 Zur Garantiefrage ausführlich Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955, Wien 20055, 567–574. 49 Angelo Ara, Ernesto Sestan tra veneti e slavi, in: Rivista storica italiana, 98, 1986, 757–792.



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nica“ und die „penetrazione slava“50. Was das 18. Jahrhundert betrifft, von Karl VI. bis Joseph II., so habe Sestan überzeugend dargestellt „il carattere austriaco et asburgico di questa supposta politica germanisatrice: essa non ha intenti di snazionalizzazione, ma mira a difondere il lealismo asburgico ...“. Die „presenza tedesca ... dell’Austria giuseppina e si una fisionomia germanica, ma di un germanesimo anazionale, burocratico, cameralistico-viennese“51. Was die spät-altösterreichische Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrifft, so kritisiert Ara bei Sestans Behandlung der Austro-Italiener die alleinige Betonung des liberalnationalen Blocks und die fehlende Berücksichtigung der Sozialdemokraten und der Katholiken – Letztere zwar praktisch nichtexistent in Triest, aber durchaus verankert in Istrien und im östlichen Friaul.52 Ara fand auch, dass Sestan die „atmosfera di tensione“ zu sehr verabsolutiert habe; neben der Kultur des Konflikts habe es auch eine Kultur des Dialogs gegeben – in diesem Kommentar kann man wohl Aras eigenes Streben nach dem Dialog „mit den anderen“ erkennen.53 In seinen letzten Lebensjahren hat Ara einmal geschrieben: „La conoscenza dell’altro e la penetrazione della sua realtà nazionale, culturale e sociale sono ... indispensabili non per dare vita a sintesi fittizie e artificiali, a discutabili compromessi e a superficiali unanimismi, ma per cercare di cogliere nella sua interezza la storia drammatica e violenta di una terra di confine, lacerata e sconvolta da dissidi frontali a lungo insanabili.“54

Ich wende mich nun zu Aras Porträt von Leo Valiani, in der „Rivista storica italiana“ vom Jahr 2000: Leo Valiani, uomo e storico della Mitteleuropa55. Die Faszination Valianis für Ara, die Begeisterung Aras für Valiani, die Wärme, die aus Aras Porträt Valianis spricht, machen das Singuläre dieses Porträts aus. Der vielsprachige Fiumaner, einer deutschsprachigen assimilierten jüdischen Familie entstammend, verbrachte Kindheit und Jugend im Budapest der letzten Jahre der Monarchie und während der kommunistischen Revolution, dann ging es wieder in das nicht mehr ungarische 50 Ebd., 763. 51 Ebd., 767. 52 Ebd., 770. 53 Ebd. 54 Angelo Ara, Prefazione, in: M. Kacin Wohinz, Vivere al confine. Sloveni e italiani negli anni 1918–1941, Gorizia 2005, 7–10, hier 9. 55 Angelo Ara, Leo Valiani, uomo e storico della Mitteleuropa, in: Rivista storica italiana, 92, 2000, 921–998.

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Fiume; die Gegnerschaft gegen den Faschismus brachte ihn in die Verbannung und ins Gefängnis, es folgten Exiljahre über Frankreich und das Spanien des Bürgerkriegs bis nach Mexiko, Rückkehr und Teilnahme an der Resistance. Ara schildert voll Sympathie den „humus“ von Valianis Geburtsstadt Fiume (in der übrigens wenige Jahre nach Valiani auch János Kádár – 1912 – geboren wurde) –, ein „humus“, der dazu führte, dass nach den von Magris und Ara überlieferten Worten eines Fiumaners in Fiume „il ‘più stupido uomo’ nasceva con quattro lingue“56. Um mich kurz zu fassen: Ara bezeichnet Valianis Buch La dissoluzione dell’Austria-Ungheria, zuerst 1966 und in Neuauflage 1985 erschienen, als „l’opera migliore in ogni lingua sugli aspetti internazionali e interni del crollo della monarchia“57. Wie bereits früher erwähnt, hat die Befassung mit Valianis Gesamtwerk für Ara ein Eindringen in die ungarische Geschichte bedeutet; Valiani hat sich ja mit zahlreichen Aspekten und Perioden der ungarischen Geschichte und der ungarischen Revolutionen bis einschließlich der Revolution von 1956 befasst. Ara zitiert ein treffendes Wort Valianis, dass sich österreichische Historiker vielleicht zu Herzen nehmen sollten: „La Mitteleuropa ungherese e diversa ... da quella austriaca.“58 Für den österreichischen Historiker ist Valianis Kritik an Hugo Hantschs Buch über Graf Leopold Berchtold von Interesse.59 Ich nenne weitere, kürzere Historiker-Porträts: Eines ist Franco Valsecchi gewidmet, der von 1934 bis 1939 in Wien zuerst als Gastprofessor, dann als Direktor des italienischen Kulturinstituts tätig war und nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Adam Wandruszka zu den Begründern der österreichisch-italienischen Historiker-Zusammenarbeit zählte. Es ist ein vornehm geschriebenes, aber zurückhaltenderes Porträt als jene der beiden vorgenannten Persönlichkeiten.60 Eine kenntnisreiche Skizze ist dem amerikanischen Historiker R. John Rath gewidmet, der sich in seinem ersten Buch und mehreren Artikeln mit LombardoVenezien im Übergang von der napoleonischen zur habsburgischen Herrschaft befasst hat. Rath hat bekanntlich mit der Gründung und langjährigen Herausgeberschaft des „Austrian History Yearbook“ Bleibendes für die Entwicklung der Österreich- und Mitteleuropa-Studien in den USA geschaffen.61 56 57 58 59 60

Ara – Magris, Trieste, 43. Ara, Un identità in trasformazione: l’Austria fra impero e seconda repubblica, 982. Ara, Leo Valiani, uomo e storico della Mitteleuropa, 931. Ebd., 952. Angelo Ara, Franco Valsecchi, storico europeo e docente pavese nel centenario della nascita, in: Bolletino della società pavese di storia patria, 104, 2004, 183–196. 61 Angelo Ara, R. John Rath: in memoriam, in: „Rassegna storica del Risorgimento“, 89, 2002, 273–282.



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Eine sehr persönliche Erinnerung an Adam Wandruszka hat Ara nach Wandruszkas Tod in den „Römischen Historischen Mitteilungen“ veröffentlicht.62Ara ist dem um 28 Jahre älteren Wiener Historiker, der in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mehr zur Verständigung zwischen Österreich und Italien beigetragen hat als jeder andere österreichische Historiker, von 1969 bis zu dessen Tod fast 30 Jahre später eng verbunden gewesen, in der gemeinsamen Arbeit im Interesse der Kooperation italienischer und österreichischer Historiker und besonders auch im Rahmen des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient. Eine bemerkenswerte Studie hat Ara dem 1986 – ebenfalls viel zu früh, und ebenfalls wie Angelo Ara im 64. Lebensjahr! – verstorbenen Heinrich Lutz gewidmet.63 Ara hat die italienische Historikerschaft mit einem autobiographischen Text Lutz’ bekannt gemacht, in dem dieser über seine Jugend als junger Katholik und als junger Wehrmachtsangehöriger in Hitlers Deutschland und über seine erschreckende und erschrockene Begegnung mit der nazistischen Ausrottungspolitik gegenüber den Juden in Lodz, damals Litzmannstadt genannt, reflektierte.64 Es ist eine einfühlsame und behutsame Studie, eine der besten über Heinrich Lutz, die ich kenne, und eine der besten aus Aras Feder. Ich komme zur sechsten und letzten Gruppe von Aras Studien. Ara hat sich mehrfach und, wenn ich recht sehe, in späteren Jahren eher häufiger mit Aspekten der jüdischen Geschichte in Mitteleuropa und auch darüber hinaus beschäftigt. Eine seiner letzten großen Arbeiten, 2002 in der „Rivista storica italiana“ publiziert, galt Carlo Cattaneo und dessen berühmter Schrift von 1835, den Interdizioni israelitiche.65

62 Angelo Ara, In memoria di Adam Wandruszka, in: Römische Historische Mitteilungen, 40, 1998, 21–27. Siehe auch ders., Adam Wandruszka, uno storico fra Austria e Italia, in: Rassegna storica del Risorgimento, 84, 1997, Heft 3, 298–305. 63 Angelo Ara, Heinrich Lutz: La testimonianza di uno storico della generazione della guerra, in: Istituto Lombardo. Rendiconti. Classe di Lettere e Scienze Morali e Storiche, 134, 2000 [aber 2002], 243–275. 64 Die Erfahrungen, die Lutz als 19jähriger während eines studentischen obligatorischen „Ferieneinsatzes“ in Lodz machte, fanden noch vor seinem Militärdienst statt. Der von Ara interpretierte Text ist folgender: Heinrich Lutz, Kirchliche Erneuerung und deutsche Schicksale. Zeitfragen im Spiegel der Erfahrungen des „Jahrgangs 1922“, in: Alfred Kohler – Gerald Stourzh, Hg., Die Einheit der Neuzeit. Zum historischen Werk von Heinrich Lutz (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 15), Wien–München 1988, 83–96. 65 Angelo Ara, Il problema ebraico nella restaurazione. Carlo Cattaneo e le „Interdizioni israelitiche“, in: Rivista storica italiana, 114, 2002, 431–457.

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Eine frühe Studie befasste sich mit „Bemerkungen zum österreichischen Antisemitismus“66. Ara hob die „neuen“ Aspekte des in den 70er- und 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts entstehenden Antisemitismus im Vergleich zum älteren konfessionellen Antisemitismus hervor, den wirtschaftlichen und den „nationalen“ („völkischen“) Antisemitismus. Ara betonte ebenfalls die Tendenz der assimilationsbereiten Schichten des Judentums, sich den jeweils dominierenden Nationalitäten (Deutschen, Magyaren, in Triest den Italienern) zu assimilieren (in Prag etwa zunehmend auch den Tschechen). Er verwies auch auf die Unterschiede zwischen den deutsch-österreichischen Gebieten der Monarchie und Ungarn, wo der magyarische Antisemitismus dank der Bereitschaft des assimilierten und sich assimilierenden Judentums, die Magyarisierungstendenzen in Ungarn mitzutragen, in engeren Grenzen verblieb, andererseits bei bestimmten Nationalitäten, namentlich den Slowaken, umso stärker anstieg. Weitere Studien, teils in italienischer, teils englischer Sprache publiziert, be­­ fas­s­­ten sich mit der jüdischen Bevölkerung Triests.67 Hier hat Ara auch seine eigene Familiengeschichte eingebracht. Wie bereits erwähnt, war Camillo Ara, ein ­Großonkel, zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine leitende Persönlichkeit der ganz nach Italien orientierten liberalnationalen Partei. Damals hatten sich die Aras bereits von der Kultusgemeinde getrennt und waren konfessionslos geworden. Dies ist leicht erklärbar, wenn man die Hinwendung der Triestiner bürgerlich-großbürgerlichen Irredenta zum so bewusst laizistischen, liberalen und antikirchlichen „regno d’Italia“ in Betracht zieht. Angelo Aras väterliche Großeltern waren teils jüdischer, teils nichtjüdischer Herkunft; seine Eltern – seine Mutter stammte übrigens aus Russe, der Stadt Elias Canettis – vollzogen den weiteren Schritt zur Aufnahme in die katholische Kirche. Eine große Tragik liegt über dem Schicksal von Angelo Aras Vater, Eugenio Ara, der im Zweiten Weltkrieg als Offizier der italienischen Armee an der Seite der deutschen Wehrmacht in einen Krieg zog, von dem er überzeugt war, dass ihn die deutsch-italienische Seite nicht gewinnen 66 Angelo Ara, Appunti sull’antisemitismo austriaco, in: Studi in onore di Ugo Gualazzini, Milano 1981, 1–18 (mit einer ausführlichen „nota bibliografica“); wieder veröffentlicht in: ders., Fra Austria e Italia, Kap. 3, 123–135 (ohne den bibliographischen Anhang). 67 Angelo Ara, Gli ebrei a Trieste (1850–1918), in: Andreas Moritsch, Hg., Alpen-Adria-Städte im nationalen Differenzierungsprozeß: Klagenfurt – Ljubljana – Wien, 1997, 141–197 (einschließlich von Zusammenfassungen in deutscher und slowenischer Sprache); Angelo Ara, The Jews in Trieste, in: Max Engman, Hg., Ethnic ldentity in Urban Europe (= Comparative Studies on Governments and Non-dominant Ethnic Groups in Europe 1850–1940, 8), Aldershot 1992, 221–239.



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durfte. Er fiel in Russland nur wenige Wochen nach Angelo Aras Geburt. Angelo Ara hat seinen katholischen Glauben im Geiste eines Johannes XXIII. und des Zweiten Vatikanischen Konzils gelebt. Sein christlicher Glaube ebenso wie sein Interesse an und sein Bekenntnis zu seinen jüdischen Wurzeln haben wohl gemeinsam Anteil an einer hervorragenden, vielleicht der wesentlichsten Eigenschaft von Angelo Aras Persönlichkeit und seinem wissenschaftlichen Werk: die Gabe der Empathie, des Einfühlungsvermögens in den jeweils „anderen“. So war Ara prädestiniert, Historiker eines multinationalen, multireligiösen und multilingualen „Mitteleuropa“ zu werden, dem er sich zutiefst aus eigenen familiären Wurzeln verbunden fühlte. Auch die berufliche Tätigkeit seines Vaters und Großvaters, so hat er einmal in einem für die Wiener Akademie verfassten Text geschrieben, „entwickelte sich in einem mitteleuropäischen Raum“68. Zur Herkunft seiner Mutter aus Russe/Rustschuk in Bulgarien hat er in dem gleichen Dokument geschrieben, dass ihre Familie von der deutschen Sprache und der österreichischen Kultur stark geprägt gewesen sei und dass er selbst die Atmosphäre, die ihm seine Großmutter in seiner Kindheit beschrieben habe, „später in den Memoiren Elias Canettis wiederentdeckt“ habe. Sicher auch von den frühen Werken seines Freundes Magris beeindruckt, hat Ara einmal geschrieben: „L’ebraismo inteso al di là del significato etnico e religioso, come condizione umana del straniero, dell’uomo senza patria, diventa il simbolo che caraterizza I’intellettuale centro-europeo.“69

„La condizione umana del straniero“: Aras Empathie, sein Einfühlungsvermögen, war verbunden mit dem vollkommenen Respekt für die menschliche „Ebenbürtigkeit“ des „anderen“, des „Fremden“, auch wenn im historischen Kontext nicht nur nationale oder konfessionelle, sondern auch soziale Differenzen zu beobachten waren. Dies galt auch für politische oder militärische „Feinde“. Mit besonderer Intensität und tiefer Reflexion ist Ara dem Thema der Bewältigung historischer Feindschaften und Gegnerschaften in einer seiner letzten Arbeiten nachgegangen, Amputazione e riappropriazione della storia. Ara hat dort das 68 Der Großvater, ebenfalls Angelo Ara, war „Direttore Generale Sostituto“ der Assicurazioni Generali, der Vater stand ebenfalls im Dienste der Assicurazioni Generali. 69 Ara, Ricerche sugli austro-italiani e l’ultima Austria, 226.

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lange Zeit „vergessene Gedächtnis“ jener Italiener – und auch der Ladiner von Ampezzo – wieder angesprochen, die im Ersten Weltkrieg auf der Seite Österreich-Ungarns gekämpft hatten und gefallen waren. Erst 2001 hat es eine berührende Gedenkzeremonie in Cortina d’Ampezzo für die auf österreichischer Seite gefallenen Ladiner gegeben – anlässlich der Beisetzung eines in den Bergen aufgefundenen Leichnams eines ladinischen Soldaten.70 Unter den Italienern, die in der österreichisch-ungarischen Armee dienten, war auch der junge Ernesto Sestan.71 Ara hat aber auch die politischen Gegnerschaften angesprochen, die etwa in Triest Italianissimi und Austriacanti trennten, manchmal in den gleichen Familien oder von Generation zu Generation72. Ara hat seine Reflexionen über „amputazione e riappropriazione della storia“ mit der Erinnerung an ein berührendes Symbol abgeschlossen. In Sardinien haben österreichisch-ungarische Kriegsgefangene des Ersten Weltkrieges eine kleine Kirche gebaut, die im Laufe der Jahre verfiel. Vor wenigen Jahren ist dieses Kirchlein auf Initiative der lokalen Bevölkerung wieder renoviert worden. Dazu schrieb Ara: „Credo che queste pagine possano chiudersi proprio con questo gesto commovente e toccante compiuto verso persone che non erano più considerate soldati ,nemici‘, ma uomini venuti da lontano ...“73

Der Historiker Angelo Ara ist sich im Laufe seines Lebens und seiner Entwicklung als Historiker immer stärker der Dialektik von „lontano“ und „vicino“ bewusst geworden. Die „anderen“, auch Gegner oder Feinde – sind „lontani“, aber gleichzeitig „vicini“ gewesen. Der andere, der „Fremde“, der „Ferne“ war eben für Ara als Triestiner im Herzen und als Historiker Mitteleuropas gleichzeitig der „Nächste“ im doppelten Sinne: der „Nächste“ im geographischen Sinne, und der „Nächste“ im christlichen und im humanistischen, menschenrechtlichen Sinne. Angelo Ara als Historiker des „vicino-lontano“: So möge er in unserem Gedächtnis und Gedenken fortleben.* 70 71 72 73 *

A. Ara, Amputazione e riappropriazione della storia, 189–191. Ebd., 192. Ebd., 193–198. Ebd., 198. [Ergänzung 2010: Im Jahre 2009 ist ein umfangreicher Sammelband mit 27 Studien Aras und einem Vorwort von Claudio Magris erschienen, darunter zahlreiche der hier besprochenen Arbeiten: Angelo Ara, Fra nazione e impero. Trieste, gli Asburgo, la Mitteleuropa, 794 S., Garzanti, Mailand 2009.]

13. „Die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“

Es „ist nicht alles gleich, was Menschenantlitz trägt. – Wehe dem, der das vergißt!“ So drohte 1935 eine vom SS-Hauptamt herausgegebene antisemitische Hetz­schrift.1 Die Formel von der Gleichheit oder Gleichberechtigung „alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, rief in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahr­hunderts den besonderen Hass der Anhänger der NS-Ideologie hervor. Ein Wie­ner deutschnationaler Studentenfunktionär, später nationalsozialistischer „Gau­redner“, attackierte 1928 den „liberalen“ Geist, der hinter dieser Formel stand. Unsere Hochschulen, so der Funktionär der „Deutschen Studentenschaft“ in Österreich, Robert Körber, seien ja gar keine nationalen (im Sinne von deutschnationalen) Hochschulen mehr, denn sie ständen „auf dem Boden der in­ ternationalen liberalen Staatsgrundgesetze, von denen das ,heiligste‘ heißt: Gleich­ berechtigung alles dessen, was Menschenantlitz trägt“2. In den Jahren zwischen Erstem Weltkrieg und NS-Machtergreifung tauchen diese Worte im politischen oder im staatstheoretischen Diskurs immer wieder auf. In seiner „Verfassungslehre“ von 1928 setzte sich Carl Schmitt mit dem Be­griff der Gleichheit auseinander und begann seine – kritischen – Bemerkungen über die „allgemeine Menschengleichheit“ sofort mit dem Satz: „Die Gleichheit alles dessen, ‚was Menschenantlitz trägt‘, vermag weder einen Staat, noch eine Staatsform, noch

1

2

Zit. bei Herbert Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalso­ zialistischen Gewaltkriminalität, erstmals publiziert 1967, hier zit. nach der SuhrkampTaschenbuchausgabe­Frankfurt am Main 1982, 310 f. Es handelt sich um die vom Reichsführer SS, SS-Hauptamt, herausgegebene Schrift „Der Untermensch“, Berlin 1935; Auszüge dar­aus in: Walter Hofer, Hg., Der Nationalsozialismus 1933–1945 (überarbeitete Neuaus­gabe). Frankfurt am Main 1982, 280, mit weiteren Quellenhinweisen. Robert Körber, Eine deutsche Antwort dem preußischen 5er-Ausschuß. Zugleich ein Mahnwort an Deutschlands akademische Jugend, Wien 1928, 15. Die Worte „Gleichbe­rechtigung [...] trägt“ sind fett gedruckt. Ich habe auf diese Attacken gegen die Gleichheits­idee bereits hingewiesen in meiner Wiener Abschlussvorlesung von 1997 „Menschenrechte und Genozid“, nunmehr in: Gerald Stourzh, Spuren einer intellektuellen Reise, Wien/Köln/Weimar 2009, 103–155.

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12. „Die Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt“

eine Regierungsform zu begründen.“3 Die Idee der Menschen­gleichheit enthalte, so Schmitt, weder ein juristisches noch ein politisches noch ein ökonomisches Kriterium. Ihre Bedeutung für die Verfassungslehre liege darin, „daß sie zum liberalen Individualismus gehört und dem Prinzip der Grundrechte dient“.4 Jede Gleichheit bekomme ihre Bedeutung und ihren Sinn (erst) durch das Korrelat einer möglichen Ungleichheit. Dieses Korrelat sei bei einer allgemeinen Menschengleichheit nicht gegeben (darauf wird noch zurückzukommen sein!); erst der demokratische Begriff der Gleichheit sei ein „politischer“ Begriff, da er auf die Möglichkeit einer Unterscheidung Bezug nehme, nämlich auf die Unterscheidung zwischen jenen, die einem bestimmten Volk zugehören oder eben nicht zugehören, „wobei diese Zugehörigkeit zu einem Volk durch sehr verschiedene Momente (Vorstellungen gemeinsamer Rasse [!], Glauben, gemeinsames Schicksal und Tra­dition) bestimmt sein kann“.5 Acht Jahre vor Carl Schmitt hatte sich Othmar Spann in seinen Vorlesun­gen an der Wiener Universität im Sommersemester 1920 über „Abbruch und Neu­bau der Gesellschaft“, 1921 in dem Buch „Der wahre Staat“ veröffentlicht, eben­falls kritisch, doch stärker differenziert, mit der „Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“ befasst. Er sei ausführlicher zitiert: „Ein so wunderlicher und widerspruchsvoller Begriff, wie, theoretisch betrachtet, die Gleichheit ist, könnte keinen Tag lang Ansehen und Geltung bewahrt haben, wenn nicht im Geheimen unserer Brust etwas für ihn spräche: ‚Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt‘ – ist es nicht, als ob das Reinmenschliche es sei, das nun erst ganz in die Erscheinung träte, als ob eine Grundforderung menschlicher Gerechtig­ keit damit erfüllt würde? Und in der Tat! Welch große Wahrheit liegt in diesem Gedanken – aber in welch selt­ samer Vermischung mit grellstem Irrtum! ,Gleichheit alles dessen, was Menschenant­litz trägt‘, kann, wenn man es näher prüft, immer nur heißen: Wir alle sind zuletzt doch nur Menschen, Menschen, die alle gleich sehr verantwortlich sind einem höch­sten, sittlichen und göttlichen Gesetz. Aber was liegt in d i e s e r Gleichheit, die für hoch und niedrig, reich und arm, groß und klein, Gültigkeit hat? Nicht mehr als: Daß Menschenwürde allen zukommt, dem Verbrecher wie dem Heiligen, dem Genie wie dem Einfältigen.“6 3 4 5 6

Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, 226 (Nachdruck 1965). Schmitt, Verfassungslehre. Schmitt, Verfassungslehre, 227. Othmar Spann, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesell­schaft, Leipzig 1921, 59 (unverändert auch in der 4. Aufl., Jena 1938, 44).



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Spann räumt ein, dass der Verbrecher wie der Heilige ein letztes, gleiches Min­ destmaß von Menschlichkeit in sich haben, einen unverletzlichen Kern „Mensch“. Daraus schließt Spann: „Niemals den Menschen zu vergessen, auch nicht dort, wo vieles von edler Menschlichkeit (in Verbrechern und tierischen Naturen) ver­loren ging, und in diesem Mindestmaße sonach allen gleiche unverlierbare Menschlichkeit zuzuschreiben, ist wohl ein Gebot der Gerechtigkeit, ist Humanität im wahren Sinne dieses Wortes; aber es heißt nicht: Allen gleich hohe und edle Menschenwürde zuzuerkennen, es heißt mit einem Worte nicht: Gleichheit“! Und alsbald beginnt Spann, seine antiindividualistische Lehre von der abgestuften Gliederung der Menschen und die daraus folgende hierarchische Ordnung von Staat und Gesellschaft – deutlich an platonischen Vorbildern orientiert – zu skiz­zieren: „Überall sehen wir durch Ungleichheit, durch die von ihr bedingte Führung und Nachfolge, durch die von ihr bedingte Überordnung und Unterordnung, Glie­ derung und Entsprechung, durch Aufrücken und Hinabsinken die menschlichen Lebensformen bestimmt.“7 Doch woher kam jene Formel, die uns in den 20er-Jahren des vorigen Jahr­ hunderts immer wieder – wir werden weitere Beispiele bringen – mit großer Selbst­verständlichkeit im Sprachschatz des politisch-philosophischen Diskurses im deut­schen Sprachraum begegnet, die jedoch in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, wie mehrfache Erkundungen ergaben, nicht mehr gängig und kaum mehr bekannt war. Ein Hinweis im Internet führte auf die Spur Johann Gottlieb Fichtes, des heute wohl am wenigsten bekannten Philosophen in der Trias des deutschen Idealismus, Kant-Fichte-Hegel; die nunmehr in einem näher ab­ grenzbaren Umkreis fortgeführte Suche führte zu konkreteren Ergebnissen. In Fichtes Schriften aus der Zeit der Französischen Revolution findet sich mehr­fach der Ausdruck „Menschenantlitz“ als Inbegriff des Menschen, des Menschlichen schlechthin, jedoch ohne die ausdrückliche Verbindung mit dem Gleichheitsbegriff.8 Der Krieg, so heißt es in einer Schrift von 1793, erhebe unsere Seelen „[...] zum innigeren Mitgefühl mit allem, Was Menschen-Antliz [sic] trägt, 7 8

Spann, Staat, 59–60 (4. Aufl. 45, ohne die Worte „Überordnung und Unterordnung“). Der Begriff „Antlitz“ findet sich bereits häufig in Luthers Übersetzung des Alten Tes­taments, während im Neuen Testament stets von „Angesicht“ gesprochen wird (Grimms Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, Sp. 501). Für eine Reihe von Hinweisen bin ich Frau Dr. Maria Mantl, Graz, und Herrn Univ.-Prof. Dr. Johannes Baptist Bauer, Graz, sehr zu Dank verpflichtet. Der Begriff „Menschenantlitz“ ist zuerst in dem Drama „Golo und Ge­noveva“ des Schriftstellers und Malers Friedrich Müller (1749–1825) von 1778 nachge­wiesen; für diese Information danke ich Herrn Univ.-Prof. Dr. Werner Welzig, Wien.

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13. „Die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“

weil gemeinschaftliche Gefahr oder Leiden sie enger an uns andrängen“.9 Wenig später heißt es in der gleichen Schrift im Zusammenhang mit den Rechten neu­ geborener Kinder: „Wenn einer, der menschlich Antliz trägt, unfähig ist, seine Menschenrechte zu behaupten, so hat die ganze Menschheit Recht und Pflicht, sie statt seiner auszuüben.“10 Im April 1794 hielt Fichte die Abschlussrede seiner philosophischen Vorlesungen in Zürich, und zwar „Über die Würde des Men­ schen“. Er beschwor die Gemeinsamkeit aller Menschen welcher Art auch immer, des Sklaven, des Wilden, des Verbrechers: „... jeder, der mir sagen kann: Ich bin. – Wo du auch wohnest, du, der du nur Menschenantlitz trägst; – ob du auch noch so nahe gränzend mit dem Thiere, unter dem Stecken des Treibers Zuckerrohr pflan­zest, oder ob du an des Feuerlandes Küsten dich an der nicht durch dich entzün­deten Flamme wärmst, bis sie verlischt, und bitter weinst, daß sie sich nicht selbst erhalten will – oder ob du mir der verworfenste, elendste Bösewicht scheinest – du bist darum doch, was ich bin: denn du kannst mir sagen: Ich bin. Du bist darum doch mein Gesell und mein Bruder ...“11 In seinen Vorlesungen über „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ hat sich Fichte ausführlich mit dem Problem der menschlichen Gleichheit befasst. Die Hauptbestimmung im Begriff der „guten Sitte“ (als Grundlage menschlichen Zusammenlebens) sei folgende: „dass schlechthin jedes Individuum, bloss als sol­ches, und dadurch, dass es menschliches Angesicht trägt [meine Hervorhebung], ohne Ausnahme eines einzigen, – fürs erste, falls es nicht durch eigene Handlun­gen dieses Urtheil verwirkte, – für ein Mitglied der Gattung und einen Repräsen­tanten derselben anerkannt werde; das heißt mit anderen Worten, dass die ur­sprüngliche Gleichheit aller Menschen die herrschende und allem Verkehr mit Menschen zu

9

Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution, Erster Theil. In: Johann Gottlieb Fichte: Werke 1791–1794 (= J. G. FichteGesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Rein­hard Lauth und Hans Jacob, Bd. 1, 1), Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, 244. 10 Fichte, Beitrag, 285. In dieser Schrift finden sich, im Rahmen der Kritik an der hierar­chisch gegliederten alteuropäischen Gesellschaft, in der es „Staaten im Staate“ gebe (etwa den Adel), hasserfüllte und von Vorurteilen strotzende Worte gegen das Judentum, von Fichte als gefährlichster „Staat im Staate“ bezeichnet. Fichte, Beitrag, 292–294. 11 Über die Würde des Menschen, beym Schlusse seiner philosophischen Vorlesungen ge­ sprochen von J. G. Fichte. In: Fichte, Werke 1793–1795 (= J. G. Fichte-Gesamtaus­gabe, Bd. 1, 2), Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, 89. Es wäre nicht ganz auszuschließen, in der oben bei Anm. 6 zitierten Passage aus Othmar Spanns „Der wahre Staat“ Anklänge an diese Passage aus Fichtes „Über die Würde des Menschen“ zu finden.



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Grunde liegende Auffassung sey.“12 Fichte fuhr fort, die Gleich­heit aller Menschen als das „eigentliche Prinzip des Christentums“ zu charakteri­sieren. Um die Gleichheit vor Gott, die Gleichheit nach dem Tode, im Leben der Gesellschaft einzuführen, bedürfe es allerdings der Hand des Staates.13 Fichtes grundlegende Abneigungen gegen ständische Ungleichheiten und Privilegierung tritt in diesen Vorlesungen deutlich zutage. Er kommt zum Schlusse: „Die voll­kommen gute Sitte besteht sonach darin, daß man die Gleichheit der Rechte aller voraussetzte wenigstens als etwas, zu dem es kommen solle und müsse, und jed­weden Fall also behandle, als ob es dazu kommen müsse. Es ist eben durchaus klar, daß die Ungleichheit der Rechte die eigentliche Quelle der schlechten Sitte und die stillschweigende Voraussetzung, daß es bei dieser Ungleichheit bleiben müsse, die schlechte Sitte selbst ist.“14 Doch erst in den spätesten Schriften (Fichte starb 1814), in der nachgelasse­ nen „Staatslehre“ (Vorlesungsmanuskript) von 1813 sowie in einem ebenfalls nach­ gelassenen politischen Fragment vom Frühjahr 1813, findet sich jene Formel, die im frühen 20. Jahrhundert so häufig verwendet werden sollte. Es erstaunt zunächst, sie in Schriften zu finden, die in übersteigerter Weise die Berufung der Deutschen zur Begründung eines die Menschheit erlösenden „Reiches der freien Persönlich­keit“, eines „Reiches des Rechts“ verkünden. In den Jahren ab 1800 zeichnete sich immer deutlicher Fichtes Hinwendung zu einem die besondere Mission der deutschen Nation hervorhebenden Patriotismus, ja Nationalismus ab, auch wenn zutreffend gesagt worden ist, dass Fichtes „Deutschland in Utopien“ liege.15 Fichte postulierte gegen Ende seines Lebens einen alle erblich/ständische Schranken und auch jede Vielstaaterei abgestreift habenden republikanischen, auf Freiheit in Gleichheit gegründeten Einheitsstaat.16 Friedrich Meinecke hat im 12 Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. VII, Berlin 1846, 220. 13 Fichte’s sämmtliche Werke, VII, 220–221. 14 Fichte’s sämmtliche Werke, VII, 221. 15 Wilhelm Windelband, Fichte und die Idee des deutschen Staates, 12, zit. bei Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. 6. Aufl., München-Berlin 1922, 100. 16 Im Frühjahr 1813 notierte Fichte in dem erwähnten Nachlassfragment, unmittelbar nach dem Aufruf des Königs von Preußen „An mein Volk“ vom 17. März 1813 geschrieben: „Da wird mir freilich ganz klar, dass es zu einem deutschen Volke gar nicht kommen kann, aus­ser durch Abtreten der einzelnen Fürsten. – Überhaupt ist Erblichkeit der Repräsentation ein völlig vernunftwidriges Princip; denn die Bildung, zumal die höchste, hier erforderliche, hängt durchaus von individueller Anlage und Bildung ab, und führt gar nichts Erbliches bei sich.“ „Aus dem Entwurfe zu einer politischen Schrift im Frühlinge 1813!“. In: Fichte’s sämmtliche Werke, VII, 547. Die besondere Berufung der Deutschen zu einem solchen Staat der Zukunft

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Fichte-Kapitel seines Werks „Weltbürgertum und Nationalstaat“17 die Ansicht vertreten, dass es „immer noch die Sprache der Menschenrechte und der ersten Revolutionsjahre“ gewesen sei, die aus der „großen Verheißung“ von Fichtes Text in der „Staatslehre“, wörtlich übernommen im sogenannten „politischen Fragment“ von 1813, spricht: „Und so wird von ihnen [den Deutschen] aus erst dargestellt werden ein wahrhaftes Reich des Rechts, wie es noch nie in der Welt erschienen ist, in aller der Begeisterung für Freiheit des Bürgers, die wir in der alten Welt erblicken, ohne Aufopferung der Mehrzahl der Menschen als Sklaven, ohne welche die alten Staaten nicht bestehen konnten: für Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt. Nur von den Deutschen, die seit Jahrtausenden für diesen grossen Zweck da sind, und ihm langsam entgegenreifen; – ein anderes Element für diese Entwicklung ist in der Menschheit nicht da.“18

Festzuhalten ist vor allem: die „Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt“ – hier also nicht „Menschenantlitz“ – wird im Kontrast zur Antike postuliert. Die „alten Staaten“, d.h. jene der Antike, kannten wohl die „Begeisterung für die Freiheit des Bürgers“, doch sie ruhten auf der Institution der Sklaverei. Die Frei­heit des Staates der Zukunft soll gegründet sein auf der Gleichheit aller Menschen. Der übersteigerte Gedanke der besonderen Berufung der Deutschen muss uns hier nicht weiter beschäftigen, doch werden wir auf das Thema „Fichte und eine deut­sche Republik“ noch zurückkommen. Wie ist nun diese Phrase zur gängigen, zumindest bekannten Münze des politi­ schen Diskurses im frühen 20. Jahrhundert, zumal zur Zeit der Weimarer Repu­ blik, geworden? Eine zahlreiche Leserschaft gerade jener zwei Schriften Fichtes, die den zitierten Passus enthalten, ist wohl nicht anzunehmen. Ich möchte drei Punkte zur Erwägung stellen. Erstens: Einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller und Politiker der frühen 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts, Ferdinand Lassalle, hat in zwei Aufsätzen deduzierte Fichte aus dem „merkwürdige[n] Zug im Nationalcharakter der Deutschen“, ihre „Existenz ohne Staat und über den Staat hinaus, ihre rein geistige Ausbil­dung“. In: Fichte’s sämmtliche Werke, VII, 572. 17 Meinecke, Weltbürgertum, 93–127, hier 126. 18 „Aus dem Entwurfe zu einer politischen Schrift im Frühlinge 1813“, Fichte’s sämmtliche Werke VII, 573, wörtlich übernommen aus: „Die Staatslehre, oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche“. In: Fichte’s sämmtliche Werke, IV, Berlin 1845, 423.



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über Fichte gerade die uns interessierende Stelle zitiert und damit zu deren weiterer Verbreitung beigetragen. Für Lassalle war der „glorreiche“ Name Fichtes der „des größten deutschen Patrioten und eines der gewaltigsten Denker aller Zeiten“.19 Der erste dieser Aufsätze, datiert vom Jänner 1860, über „Fichtes politisches Vermächtnis und die neueste Gegenwart“, war für die in Buch­form erscheinende Zeitschrift „Demokratische Studien“ des demokratischen Schriftstellers Ludwig Walesrode, die im Sommer 1860 herauskam, geschrie­ben.20 Er ist ganz auf der ausführlichen Wiedergabe von Passagen aus Fichtes politischem Fragment von 1813 aufgebaut und von Lassalle als Kampfschrift zum Vorantreiben einer republikanischen deutschen Einheit anno 1860 intendiert. Am Schluss steht der oben bereits zitierte Absatz mit der Vision eines wahrhaften Reiches des Rechts, in Freiheit gegründet „auf Gleichheit alles dessen, was Men­schengesicht trägt“.21 In einem Brief an Karl Marx hat Lassalle seine Mo­tive für die Publikation dieses Artikels deutlich gemacht. Er wollte „wieder einmal einen echt republikanischen Feldruf ertönen [...] lassen“.22 Anspruchsvoller ist Lassalles Festrede „Die Philosophie Fichte’s und die Bedeutung des deut­schen Volksgeistes“, gehalten in der Berliner Philosophischen Gesellschaft aus An­lass von Fichtes 100. Geburtstag.23 Auch diese Rede ist jedoch von einer in der Gegenwart nicht mehr nachvollziehbaren nationalistischen Rhetorik geprägt. Das Fichte-Fest bezeichnete Lassalle als eine nationale „Selbstbeschauung des deutschen Geistes“,24 und er stellte die Frage, was nach Fichte „die Mission und Bedeutung des deutschen Volksgeistes in der Weltgeschichte“ sei.25 Wichtiger noch als Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ war ihm die Staatslehre, wiederum zitierte er den uns schon gut bekannten Absatz von der Freiheit gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt, und die Bestimmung der Deut­schen, das zukünftige Reich des Rechts und der 19 Ferdinand Lassalle, Fichtes politisches Vermächtnis und die neueste Gegenwart, hier zit. nach Ferdinand Lassalles Gesamtwerke, hg. v. E. Schirmer, Bd. X, Leipzig o.J. [1909], 327–368, hier 331. 20 Eduard Bernstein, Ferdinand Lassalle. Eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers. Berlin 1919, 99. Lassalles Fichte-Aufsatz kam später auch als eigene Broschüre her­aus. 21 Lassalle, Fichtes politisches Vermächtnis, 367. 22 Lassalle an Marx, 14. April 1880, zit. bei Bernstein, Ferdinand Lassalle, 102. Lassalle schickte übrigens Marx einen Abzug seines Fichte-Artikels und bat Marx, den Artikel auch an Engels weiterzugeben. 23 Ferdinand Lassalle, Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volks­geistes. In: Ferdinand Lassalles Gesamtwerke, X, 279–325. 24 Lassalle, Die Philosophie Fichtes, 313. 25 Lassalle, Die Philosophie Fichtes, 314.

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Freiheit „darzustellen“. Und Lassalle fügte hinzu: Als habe Fichte gefühlt, „daß die ergreifende Gewalt die­ser Worte durch nichts, auch durch ihn selbst nicht weder übertroffen noch erreicht werden könne“, zitiere Fichte diese Worte als „Schluß einer staatsphilosophi­schen fragmentarischen Schrift“ kurz vor seinem Tode.26 Lassalles Festrede gipfelte in dem Ruf nach der deutschen Einheit. Lassalles Schriften sind in den folgenden Jahrzehnten in mehreren Ausgaben zusammengefasst worden. Seine Bedeutung als Politiker und eines Ahnherren der deutschen Sozialdemokratie hat daher wohl zur Verbreitung und Popularisierung gerade auch der von ihm tradier­ten Fichte’schen Botschaften beigetragen. Zweitens: Stärker auf das deutsche Bildungsbürgertum wirkte das bereits genannte ­Werk eines großen Historikers, Friedrich Meinecke. „Weltbürgertum und Nationalstaat – Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates“, erstmals Ende 1907 publiziert, wurde Meineckes erfolgreichstes Buch; der ersten Auflage folgten allein bis 1922 fünf weitere Auflagen – 1911, 1915, 1917, 1918 (Vor­wort datiert 8. November 1918!) und 1922.27 Wie bereits erwähnt, handelte ein eigenes Kapitel von „Weltbürgertum und Nationalstaat“ über „Fichte und die Idee des deutschen Nationalstaates 1806–1813“. Wir haben bereits gezeigt, wie Meinecke auf das Fortwirken der Sprache der Menschenrechte und der ersten Revolutionsjahre in Fichtes Spätschriften und ganz besonders in dem von ihm wörtlich zitierten Text,28 der im Mittelpunkt unseres Interesses steht, hingewiesen hat. Die Tatsache, dass Fichtes Text als Teil eines zwischen 1907 und 1922 so überaus erfolgreichen Werkes tradiert wurde, stellt wohl ebenfalls einen wichtigen Faktor der Weiterverbreitung dar. Drittens: Die Gründung der deutschen Republik im Jahre 1918, eben der Wei-­ marer Republik, führte in Hinblick auf die neue Position der Sozialdemokratie im Staate zu einer Renaissance des Interesses am Staatssozialisten Lassalle – aber auch an Fichte selbst. Eduard Bernstein, der revisionistische Sozialdemokrat, der bereits 1892/93 eine Lassalle-Werkausgabe herausgebracht hatte und 1904 ein Bändchen über Lassalle folgen ließ, erkannte die Gunst der Stunde. 1919/20 gab er eine verbesserte Werkausgabe von Lassalles Schriften heraus und publizierte neuerlich eine Lassalle-Monographie, unter dem Titel „Ferdinand Lassalle – eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers“. Ausführlich handelte Bernstein von Lassalles erster Fichte-Schrift – „Fichtes poli­tisches Vermächtnis und die neueste Ge26 Lassalle, Die Philosophie Fichtes, 316. 27 Meineckes 1924 erschienenes Meisterwerk „Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte“ brachte es vor dem Zweiten Weltkrieg lediglich auf drei Auflagen (die letzte bereits 1929). 28 Zit. in: Meinecke, Weltbürgertum, 126.



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genwart“. Bernstein betonte, dass Fichtes politisches Vermächtnis, wie Lassalle auf Grundlage von Fichtes Fragment (von 1813) dargelegt habe, „der Gedanke der Einheit Deutschlands als unitarische Republik“ gewesen sei. Und wiederum gibt es aus dem Fichte’schen Zitatenfundus den Hinweis auf „Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“. Von Interesse ist allerdings, dass aus dem „Men­schengesicht“ der früheren Zitierungen nunmehr ein „Menschenantlitz“ geworden ist – nicht jedoch in der im gleichen Jahre 1919 von Bernstein besorgten Neuausgabe der zwei Fichte-Aufsätze in Band VI von Lassalles Gesammelten Reden und Schriften.29 Erinnern wir uns, dass Fichte selbst verschiedentlich vom „Menschenantlitz“, vom „Menschenangesicht“ und schließlich vom „Men­schengesicht“ gesprochen hat, jedoch stets dasselbe, nämlich das menschliche We­sen an sich, im Sinne hatte. Lassalle als Multiplikator für Fichtes Gleichheitspostulat tritt uns auch in dem zwischen 1920 und 1926 in drei Auflagen erschienenen Werk von Karl Vorländer, „Marx, Engels und Lassalle als Philosophen“ entgegen.Vorländer gibt den Inhalt von Lassalles beiden bereits genannten Fichte­-Aufsätzen wieder und zitiert aus Lassalles erstem Fichte-Aufsatz ausführ­lich Fichtes Nachlassfragment von 1813, einschließlich der Formel von der Freiheit, gegründet auf „Gleichheit alles dessen, was Menschenangesicht [sic] trägt“.30„Menschenangesicht“ ist eine neuerliche Variante in der Zitatenüberlie­ferung; auch bei Darstellung von Lassalles zweiter Fichte-Schrift verzich­tet Vorländer nicht auf Fichtes Gleichheitspostulat – auf „die uns bereits aus dem ersten Fichte-Aufsatz bekannten erhebenden Worte von der ,Gleich­heit alles dessen, was Menschenantlitz trägt‘“.31 Eine interessante Arbeit aus der späten Weimarer Republik zu Lassalles Geschichtsphilosophie, aus der Feder des später in die USA emigrierten MannheimSchülers Hans Speier, kam zum Schlusse: „Die unausgesprochene Voraussetzung seiner Theorie ist das Dogma von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt.“32 29 Eduard Bernstein, Ferdinand Lassalle: Gesammelte Reden und Schriften, Berlin 1919–20, 6. Bd., Berlin 1919, 102 und 143. 30 Karl Vorländer, Marx, Engels und Lassalle als Philosophen, 3.Aufl. Berlin 1926, 100. 31 Vorländer, Marx, Engels und Lassalle, 102. Ich möchte auch nachdrücklich auf die nach dem Zweiten Weltkrieg 1956 erschienene Monographie von Thilo Ramm, Ferdinand Lassalle als Rechts- und Sozialphilosoph. Meisenheim am Glan 1956, hinweisen; auch dort wird Lassalles Zitierung von Fichtes „Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz [sic] trägt“, wiederholt. Ramm, Lassalle, 104. 32 Hans Speier, Die Geschichtsphilosophie Lassalles. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 61, 1929, Teil 1: 103–127, Teil II: 360–388, hier 376 f.

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Doch Fichte wurde auch unmittelbar zur philosophischen Legitimierung der jungen Weimarer Republik herangezogen. In der Schrift „Der demokratische Ge­danke“ von Carl Gebhardt, erschienen 1920 in der Reihe „Philosophische Zeitfragen“, versuchte der Autor, die Philosophen des deutschen Idealismus, ins­ besondere Kant und Fichte, als ideelle Gründungsväter der neuen, auf Grundlage der sozialen Demokratie gesehenen Republik darzustellen. War der Staat für den Kosmopolitismus des frühen Fichte noch „künstliche Anstalt,“ so wird er „ihm immer mehr das Mittel zur Erreichung höchster Menschheitszwecke und darum Sittlichkeit, und wie er den Staat dann von der Nation her erlebt, selbst ein Lebendiges, selbst Persönlichkeit“.33 Damit das Individuum sich zur Persön­lichkeit entwickle, schreibt Gebhardt, muss der Staat jedem die Sphäre freier Entfaltung schaffen. „Die erste Voraussetzung dafür ist die Gleichstellung des Rechts aller.“ Und nun kommt – wir erwarten es schon – Fichtes Gleichheits­postulat: „Eindringlich wie Kants kategorischer Imperativ der Menschenwürde ist Fichtes Forderung, ‚daß man in jedem Individuum die menschliche Gattung aner­kenne und ehre‘: die Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt.“ Gebhardt setzt fort, dass der Staat sich mit der absoluten Forderung nicht begnü­gen dürfe; er müsse dafür Sorge tragen, dass jeder das Eigentum besitzt, dessen er zur Selbstbehauptung und Selbstentfaltung bedürfe, und dass jeder vom Ertrage seiner Arbeit leben könne. Der Autor kommt zum Schlusse: „Die staatliche Form für die Gleichheit aller ist Demokratie; die ökonomische Gewähr des Staates für Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen Sozialismus. Der organi­sche Staat des deutschen Idealismus ist die soziale Demokratie.“34 Schon zwei Jahre später erschien eine weitere Arbeit, die in Fichte den in­ spirierenden Philosophen der Weimarer Demokratie erblickte. Ihr Autor war nie­ mand anderer als der damals erst einundzwanzigjährige Gerhard Leibholz (1901– 1982), nachmals berühmt gewordener Staatsrechtslehrer und Verfassungs­jurist, nach der Rückkehr aus der englischen Emigration auch Bundesverfassungs­richter der zweiten, der Bonner Republik. 1922 erschien seine Dissertation „Fichte und der demokratische Gedanke“ im Druck.35 Neben und nach Fichtes Frei­heitslehre befasste sich Leibholz ausführlich mit Fichtes Gleichheitslehre, insbesondere auch mit der Entwicklung der Gleichheitslehre in den „Grundzügen des gegen33 Carl Gebhardt, Der demokratische Gedanke. Schriftenreihe Philosophische Zeitfragen, Leipzig 1920, 20. [Ergänzung 2010: Der Philosoph Carl Gebhardt (1881–1934) ist vor allem als Spinoza-Forscher hervorgetreten. Ausführliche Eintragung in Wikipedia (dt.)] 34 Gebhardt, Gedanke, 21 (letzter Satz im Original gesperrt). 35 Gerhard Leibholz, Fichte und der demokratische Gedanke, Freiburg im Breisgau 1922.



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wärtigen Zeitalters“, auf die weiter oben bereits verwiesen wurde. „Un­ter dem metaphysischen Prinzip der Gleichheit alles dessen, was Menschenange­sicht [sic] trägt“, werde von Fichte die Berechtigung politischer Bewegungen be­urteilt. Die Geschichte werde „gefaßt als der Fortgang der von der Ungleichheit zur Gleichheit sich entwickelnden Menschheit“. Der Zustand der politischen Un­gleichheit sei für Fichte unerträglich.36 Eine nur durch äußere Momente ge­schiedene Gemeinschaft in Klassen und Geschlechter vertrage sich nicht „mit der Fichteschen Forderung der Gleichheit alles dessen, was Menschenangesicht trägt“.37 Leibholz betont auch die sich daraus für Fichte ergebenden sozial­politischen Konsequenzen. Es ist die Pflicht des Staates, das Recht auf Arbeit und das Recht auf Existenz derartig zu sichern, dass „vorerst alle satt werden und fest wohnen, ehe einer seine Wohnung verziert, erst alle bequem und warm gekleidet werden, ehe sich einer prächtig kleidet“.38 Leibholz kommt zu dem Schlusse, dass in Fichtes Verfassungsvorstellun­gen „ein sozialer Einschlag sich herauskristallisiert, der die Demokratie zu einer spezifisch sozialen stempelt“.39 Leibholz fand, dass „die soziale Demokratie die einzige vernunftgemäße Staatsform“ sei, die der Bestimmung des Menschen ge­recht werde.40 Leibholz stimmte dem bereits erwähnten Carl Gebhardt sowie der Autorin eines Fichte-Büchleins, Gertrud Bäumer, zu, dass, soweit Fichtes System in Frage stehe, „der organische Staat des deutschen Idealismus die soziale Demokratie“ sei.41 Leibholz wurde noch deutlicher: „So betrachtet, erscheint die heutige Reichsverfassung den Fichteschen Ideen weitgehend kon­ form oder umgekehrt Fichte in der Tat als der Staatsphilosoph der in der heutigen Reichsverfassung zur Verkörperung strebenden Ideen“42 – so der einundzwanzigjährige Leibholz, der auf den letzten fünf Seiten seiner Dissertation wichtige Bestimmungen der Weimarer Verfassung auf ihre Übereinstimmung mit dieser Feststellung überprüfte und, nicht überraschend, zu einem positiven Ergebnis kam. 36 Leibholz, Fichte und der demokratische Gedanke, 57. 37 Leibholz, Fichte und der demokratische Gedanke, 58. Vgl. auch 64 – dort der bekannte Passus aus Fichtes politischem Fragment von 1813, wobei „Menschengesicht“ nicht ganz genau als „Menschenangesicht“ wiedergegeben wird. 38 Leibholz, Fichte und der demokratische Gedanke, 59, zit. nach Fichtes „Der ge­schlossene Handelsstaat“ von 1800. In: Fichte’s sämmtliche Werke, III, 409. 39 Leibholz, Fichte und der demokratische Gedanke, 65. 40 Leibholz, Fichte und der demokratische Gedanke, 93. 41 Gertrud Bäumer (1873–1954) war eine bekannte bürgerliche Frauenrechtlerin und ver­fasste das Büchlein „Fichte und sein Werk“, Berlin 1921. Sie war Mitglied der Weimarer Na­ tionalversammlung für die Deutsche Demokratische Partei. 42 Leibholz, Fichte und der demokratische Gedanke, 95.

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Wie sehr Fichtes Staatsdenken in der Weimarer Republik geläufig war, zeigt sich auch in den Schriften eines aus dem alten Österreich kommenden Staats­ lehrers, dessen schriftstellerische Wirksamkeit bis zu seinem frühen Tode beinahe ganz mit der Dauer der Weimarer Republik zusammenfällt – Hermann Heller.43 Hellers erstes Buch über Hegel und den nationalen Macht­staatsgedanken in Deutschland von 1921 polemisierte u.a. gegen Heinrich von Treitschke, der Fichte für die „nationalen“ Ideen der frühen 60er­-Jahre proklamiert hatte: Heller hielt dagegen: „Fichtes Ziel blieb immer: für Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt.“44 Hellers auch heute noch lesenswerte populärwissenschaftliche Schrift von 1926 über „Die politischen Ideenkreise der Gegenwart“ befasste sich im Abschnitt über den „demokratischen Ideenkreis“ ausführlich mit Fichte.45 Dies zeigt neuerlich, wie stark das demokratische Staatsdenken der Weimarer Republik – Heller, Leibholz – der Philosophie des deutschen Idealismus verbunden war. In der Bonner Republik sollte dies anders werden; denn nach 1945 kam der angloameri­kanischen Verfassungs- und Demokratietradition ein neuer, prägender Einfluss zu. Hingegen verblasste die Tradition des deutschen Idealismus; dazu kam, dass der Nachhall von Fichtes übersteigertem Deutschtum stärker war als die Erinne­rung an seine republikanischen (und sozialistischen) Ideen. All dies erklärt wohl, dass eine stehende Formel des Weimarer Staatsrechtsdiskurses – eben Fichtes oft zitierte Worte – nach 1945 aus dem Wortschatz so vollkommen verschwand, dass selbst ihre Herkunft in Vergessenheit geriet. Im doppelten Sinne posthum – nach dem Tod der Weimarer Republik und nach Hellers Tod – erschien 1934 gleichsam als Abgesang auf das Weimarer Staats­ denken Hellers „Staatslehre“ – in Holland, in Leiden (ein Ort übrigens, der Wolfgang Mantl viel bedeutet!). Wiederum kam Heller auf Fichte zu sprechen: Für Fichte seien die „Bestimmung des ganzen Men­schengeschlechts“ und die „Gleich43 Hermann Heller starb, nur 42 Jahre alt, als Flüchtling aus Nazi-Deutschland in Madrid am 5. November 1933. 44 Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, Leip­zig-Berlin 1921, hier zitiert nach: Hermann Heller, Gesammelte Schriften, hg. v. Martin Drath u.a., Bd. 1, Leiden 1971, 41–42. Heller (Machtstaatsgedanke, 28) verweist übrigens auf das „ausgezeichnete Werk“ des im Ersten Weltkrieg jung verstorbenen Philosophen Wilhelm Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus, Heidelberg 1917; in dem bemerkenswerten Abschnitt über Fichtes Lehre vom Staate fin­den sich – fast unvermeidlich – die Worte von der „Gleichheit alles dessen, was Men­schenantlitz [sic] trägt“. Metzger, op. cit., 186. 45 Hermann Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart (1926). In: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 267–412, hier 313–317.



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heit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, die Grundpfeiler seiner Staatsphilosophie gewesen.46 Die christlichen und menschenrechtlichen Wurzeln von Fichtes Staatslehre betonend, schrieb Heller, dass Fichte noch 1813 das ersehnte Reich der Deutschen nicht anders rechtfertigen konnte denn als „wahrhaftes Reich des Rechts“, wie es noch nie in der Welt erschienen sei: „für Freiheit gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt“.47 In der Tat: Für die Exponenten und Befürworter des Glaubens an die demo­ kratische Republik waren die Worte von der Gleichheit alles dessen, was Men­ schenantlitz trägt, „erhebende Worte“, wie Karl Vorländer sagte.48 Für die Verächter und Zerstörer der demokratischen Republik waren sie das Gegenteil, wie wir an den Beispielen zu Beginn dieses Essays gezeigt haben. Auch von der höchsten juristischen Autorität im NS-Staate, dem Reichsgericht in Leipzig, kam im Jahre 1936 die explizite Absage an das Postulat der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trug. „Die frühere liberale Vorstellung vom Rechtsinhalte der Persönlichkeit machte unter den Wesen mit Menschenantlitz [meine Hervorhebung] keine grundsätzlichen Wertunterschiede nach der Gleichheit oder Verschiedenheit des Blutes; sie lehnte deshalb eine rechtliche Gliederung und Abstufung der Men­ schen nach Rassegesichtspunkten ab.“ Der nationalsozialistischen Weltanschau­ ung dagegen entspreche es, nur Deutschstämmige (und gesetzlich ihnen Gleichge­ stellte) als rechtlich vollgültig zu behandeln.49 Carl Schmitt – dem immer wieder die stets sachliche, doch kompromisslos kritische Aufmerksamkeit Wolfgang Mantls gegolten hat50 – meinte in seiner Verfassungslehre, die Gleichheit alles 46 Hermann Heller, Staatslehre, hg. v. Gerhart Niemeyer (1934), hier zit. nach der 4. unveränderten Auflage, Leiden 1970, 6. 47 Heller, Staatslehre, 219 (hier „Menschengesicht“ korrekt zitiert aus Fichte’s sämmtli­ chen Werken, IV, allerdings mit der irrigen Seitenangabe 523 statt 423). 48 Vorländer, Marx, Engels und Lassalle, 102. 49 Zit. nach. Juristische Wochenschrift, Bd. 65 (1936), H. 36, 2529–2531, hier 2530. Urteil im sog. Charell-Fall. Auf die große prinzipielle Bedeutung der Rasse-„Rechtsprechung“ in die­ser Entscheidung vom 27. Juni 1936 (wenige Wochen, bevor die Sportler der Welt bei Eröff­nung der Olympischen Spiele in Berlin Hitler ihre Reverenz erwiesen) hat als erster Ernst Fraenkel in seinem genialen Buch „Der Doppelstaat“ (dt. Ausgabe Frankfurt am Main 1974), 126 f. hingewiesen. Ich habe den Charell-Fall ausführlich in einem Rezensions­essay in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, Bd. 38, 1990, 400 ff., sowie in meinem Aufsatz „Menschenrechte und Genozid (oben Anm. 2), 140–142, besprochen. 50 Wolfgang Mantl, Repräsentation und Identität. Demokratie im Konflikt. Ein Beitrag zur modernen Staatsformenlehre. Wien-New York 1975; ders., Carl Schmitt und die liberal-­ rechtsstaatliche Demokratie. In: Thomas Angerer/Birgitta Bader-Zaar/Margarete Grandner,

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dessen, „was Menschenant­litz trägt“, kenne keine spezifischen Unterscheidungen und Abgrenzungen, sie sei politisch unbrauchbar.51 Sie kennt jedoch sehr wohl die Unterscheidungen und Aus­grenzungen, die Ungleichheiten, die durch – nennbare und auch in den großen Menschenrechtsdokumenten nach dem Zweiten Weltkrieg genannte – Diskrimi­nierungsmerkmale erkennbar und juristisch bekämpfbar geworden sind.52 Die For­mel von der „Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, ist so sehr in Ver­gessenheit geraten, dass ihre Herkunft und ihre Entwicklungsgeschichte erst freigelegt werden mussten. Doch die Menschenrechte, durch die Diskriminie­rungsverbote unzähliger internationaler, supranationaler und nationaler Rechts­normen konkretisiert und durch zahlreiche „NonGovernmental Organisations“ im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit verankert, haben in den letzten Jahrzehnten eine Gestalt angenommen wie nie zuvor in der Geschichte. Noch ist es so. Ist es noch so?

Hg., Geschichte und Recht. Festschrift für Gerald Stourzh zum 70. Ge­burtstag, Wien-KölnWeimar 1999, 99–143. 51 Schmitt, Verfassungslehre, 226–227 (wie oben Anm. 3). 52 [Ergänzung 2010: Theodor Adorno hat sich in den „Minima moralia“ von 1951 (Nr. 66) kritisch zum Satz von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, geäußert und die „Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen“ beschworen, jedoch die rechtlichen Aspekte, die Forderung nach Gleichberechtigung und der Abschaffung rechtlicher Diskriminierungen, gar nicht in Betracht gezogen. Theodor Adorno, Minima moralia, 2. Aufl. (= Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 4), Frankfurt/Main 1996, 115–116]

14. The Ethnicizing of Politics and “National Indifference” in Late Imperial Austria*

I. During the last half century of its existence, precisely from 1867 to 1918, the Habsburg Monarchy was a dual state – a dual monarchy, consisting of Hungary on the one hand, that is Hungary in the narrower sense including Transylvania, Croatia and the separate city of Fiume, today Rijeka. On the other hand, there was a conglomeration of 17 crownlands, so-called, reaching from Bohemia in the North to Dalmatia in the South, and from Vorarlberg in the West to Galicia and the Bukovina in the East. The official name of these 17 crownlands which were represented in one Parliament in Vienna, the Reichsrat, was “The Kingdoms and Lands represented in the Reichsrat”. Fairly soon two unofficial names were used for the 17 lands: “Cisleithania” – literally meaning “on this side of the Leitha river”, a small river which formed actually only a small part of the border to Hungary. But increasingly, the name of Austria was used for the non-Hungarian half of the monarchy, first unofficially, and later also on various official occasions, and the dual monarchy of the Habsburgs was quite officially known as “Austria-Hungary”.1 *



1

This paper originated in a lecture given at the University of Leiden in April, 2010 and has been considerably enlarged. I would like to dedicate it to Professor Nicolette Mout, now emerita of the University of Leiden, in admiration for her scholarship and teaching, combining work on Netherlands and general European history with work on the history of Habsburg East central Europe, notably the Bohemian lands. I also am deeply grateful to Professor Mout for her unfailing and successful efforts for two decades from 1990 to 2010 to invite Austrian visiting professors to her university within the program of the foundation “Austrian Studies”. See Gerald Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1918. Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch, eds., Die Habsburgermonarchie 1848–1918, vol. VII: Verfassung und Parlamentarismus, vol. 1: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften, Vienna 2000, 1177–1230, especially section 2: „Vom Kaiserstaat zur Doppelmonarchie: Namens- und Titeländerungen im Zeichen der Parität“, 1183–1197.

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14. The Ethnicizing of Politics

The two halves of the Habsburg monarchy were states of a radically different structure. The kingdom of Hungary conceived of itself as a Magyar national state. There were national/linguistic minorities to be sure, yet nevertheless the state embodied a political nation une et indivisible, as was explicitly stated in the “nationality law” of 1868. Accordingly the Magyar language was proclaimed as the official state language. Successively in the decades to follow, the primacy of the Magyar language was pushed to the level of national chauvinism. In 1908, the prime minister of the time, Kálmán Széll, said: “We have only one single categorical imperative, the Magyar state-idea, and we must demand that every citizen should acknowledge it and subject himself unconditionally to it. … The Magyars have conquered this country for the Magyars and not for others. The supremacy and the hegemony of the Magyars is fully justified …”2 In Cisleithanian Austria, on the other hand, the principle of the equality of nations had been proclaimed in the Constitution of 1867. That Constitution actually did not consist of a single document, but rather of a bundle of basic or fundamental laws.The most important of them was the Fundamental Law on the General Rights of the Citizens, in force up to this present day. This law proclaimed the equality of citizens before the law – and thus it did away with the legal discrimination of the Jews.1867 is thus the year of the legal emancipation of the Jews, and the Parliament which passed this law and the Emperor who signed and enacted it were praised by generations of Jews in Austria.3 This law became the charter of individual rights in Austria, notably the rights of citizens, but it also introduced – after several short-lived attempts in the revolutionary era of 1848/49 – the category of ethnicity into constitutional law.4 This law – more precisely its famous article 19 – stipulated that all “Volksstämme”of the State – an old-fashioned word – had equal rights. Now a few comments on the word “Volksstamm – Volksstämme”: If it is rendered als “people”, which sometimes is the case, we must be attentive 2 3

4

Oscar Jászi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, Chicago 1929 (unchanged paperback ed. 1961), 321. More details in: Gerald Stourzh, The Age of Emancipation and Assimilation: Liberalism and its Heritage. Reprinted in: idem, From Vienna to Chicago and Back. Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America, Chicago 2007, 204–223. I first spoke of the ”Ethnicizing of Austrian Politics” – ”Die Ethnisierung der österreichischen Politik” – in my Robert A. Kann Memorial Lecture at the Center of Austrian Studies at the University of Minnesota on April 5, 1989. This expression was at that time rather new; I am not aware of an exact precedent. The Kann lecture entitled “The Multinational Empire Reconsidered: Reflections on Late Imperial Austria” was published in: Austrian History Yearbook, vol. 23, 1992, 1–22, here 18; reprinted in: Stourzh, From Vienna to Chicago and Back, 133–156, here 153.



14. The Ethnicizing of Politics

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to the fact that the word “Volk” – “people” - has two very different connotations, both best rendered by Greek words: on the one hand, “people” as “demos”, the people as the sum of citizens, the people as a political community, and, on the other hand, people as “ethnos”, as an ethnic group distinguished by common cultural and sometimes religious and most frequently linguistic traits. The most frequent rendering of “Volksstämme” was and is “Nationalität” or nationality;5 with the increasing self-awareness and political organization of the “nationalities” in the period from 1867 to 1918, the word nation came into more frequent use, notably in the last years of the monarchy. The law I refer to also proclaimed that the languages spoken in the various lands were entitled to equal treatment in school, in public offices and in public life. There was a third provision on schooling to which I shall turn later. Several comments are necessary, provoked by the introduction of the ethnicity factor into the constitution of 1867 and the consequences deriving from this. I shall deal with them in three points. Point one. With the recognition of the equal rights of the nationalities – the “Gleichberechtigung der Volksstämme” – , the rights of collective entities were introduced into a law entitled “Law on the General Rights of Citizens” – on the rights of individuals, in other words. But who were as a matter of fact the bearers of the right protecting the equality of the “Volksstämme”? These collective ethnic entities had no organization of their own. Most interesting debates ensued in the years and decades following the 1867 constitution, notably after the creation of a kind of constitutional court, the “Reichsgericht” or Imperial Court in 1869, which was competent to render judgment on suits concerning the violation of the constitutionally guaranteed rights of citizens. Sometimes it was argued that these provisions could not be applied at all unless and until a new law settling in more detail the organization and the organs of these nationalities would be enacted. This never­happened, yet a quite generous and liberal practice of adjudication of suits in the field of nationality and language rights developed over the decades in the two highest courts of public law of the realm, the Imperial Court just mentioned 5

I am aware of the ambiguity of the word “nationality” in English, since it also means citizenship; yet in the context of the Habsburg empire, it refers to ethnic/linguistic groups officially marked as “Volksstämme” or (chiefly later) “nationalities”. I have reservations about translating the word “Volkstamm” by “race”, as does Jeremy King, Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848–1948, Princeton 2003, 37, or by translating it by “tribe”, as does Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands 1900–1948, Ithaca and London 2008, 46.

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and the highest Administrative Tribunal, named “Verwaltungsgerichtshof ”, created in 1875 and beginning to operate in 1876. Individual citizens claiming that their language or nationality rights had been violated, were recognized by the courts as bearers of the constitutional right mentioned, but it turned out that even collective bodies like associations and even municipalities were recognized as bearers of rights according to article 19. Point two – a long one: the question of language and language rights, or rather a few aspects of it. In the first place, we have to be mindful that multilingual communities or states are not merely a construct of law, but of social and political relations, and that different languages within a community may display higher or lower degrees of prestige, of recognition, of social standing, of dominant or non-dominant status. There is no doubt that notwithstanding legal and constitutional equality, there existed various kinds of social and political inequalities among the languages of imperial Austria, yet these inequalities were not stable but changed in various ways over time. German was, traditionally, a dominant language due to the dominant role of German Austrians in the government, the bureaucracy and the army of the Habsburg empire, and it remained dominant in the Austrian part of the empire even after 1867 in the central administration and the highest courts of the land, and also at least up to 1917, in Parliament.Yet in the Bohemian lands for instance, above all in the city of Prague, the German language became less dominant within the last three or four decades of the Habsburg empire,where as the social and political status of the Czech language was on the rise. It has been shown, in the excellent book by Gary Cohen “The Politics of Ethnic Survival”, that in connection with the absolutely dominant political position of the Czechs in the city of Prague, between 1880 and 1910 the percentage of the German-speaking population, including the Jewish population, declined considerably, most of this decline due to pro-Czech assimilation, and most of this assimilatory movement concerning the lower strata of the population, Jewish and non-Jewish, who were more dependent on city jobs or jobs offered by adherents of the Czech majority. While in 1880 15.3 % of the population indicated the German language in the census, in 1910 only 7.0 % indicated German.6 Let me add at this place that the German language lost its monopolistic role in university education in the Bohemian 6

Gary B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague 1861–1914, first published Princeton 1981; references are to the second revised edition, West Lafayette, Indiana 2006, 69; also 75–76, 80–82, 137, 159–160.



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lands when in 1882 the University of Prague was split into two halves – a Germanspeaking university and a Czech-speaking university.7 In Galicia, the influence of the German language waned notably after 1867/68, as was illustrated by the replacement of German by Polish as language of instruction at the University of Lemberg/L’viv, the country’s capital. Polish was, and became ever more, the regionally dominant language in Galicia.The Ukrainian or Ruthenian language, as it was called then, never made it to the level of the dominant language. – Similarly, Italian was the regionally dominant language in the northern Adriatic area, in Trieste, in Istria and Dalmatia. While the regional Slavic languages, the Slovene and Croatian languages, particularly the latter one, made some social progress, neither language up to 1918 really broke the social prestige of Italian. To look for a moment across the dualistic border into Hungary, after 1867 the dominant position of the Magyar language, as shown by the progress of pro-Magyar assimilation, including the Magyarization of family names, increased over the decades.8 The different social and political standing of various languages and changes of social or political standing had important consequences. In addition, it must be kept in mind that social and political standing are two different things. As to social standing: Languages of a high social standing exert great attraction on persons or families on the rise, on people moving from the countryside and farming to towns and cities holding out the hope of a better life, young people looking for a great career, parents wishing to open up for their children ways of social and economic advancement. Thus, as has been shown by a few examples, a series of linguistic assimilations took place in the multinational empire, but these assimilatory 7

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The Catholic church in Bohemia resisted ethnic splitting as much as possible, and the Archbishop of Prague, Cardinal Friedrich Schwarzenberg , blocked the splitting of the Catholic Theological faculty of the university up to his death in 1885; it was finally split in 1891. Cohen, Ethnic Survival, 160. Among older publications still very informative: Ludwig von Gogolák, Zum Problem der Assimilation in Ungarn 1790–1918, in: Südostdeutsches Archiv, vol. 9 (1966), 1–44. Recently see the excellent book by Joachim von Puttkamer, Schulalltag und nationale Integration in Ungarn: Slowaken, Rumänen und Siebenbürger Sachsen in der Auseinandersetzung mit der ungarischen Staatsidee 1867–1914, Munich 2003. Puttkamer stresses the fact that Hungarian policy was not based on the exclusion or rejection of persons of different ethnic origins. Ibid., 449–450. On dualist Hungary as a “nationalizing state”, with reference to Transsylvania, see recently the most interesting work by Rogers Brubaker, with Margit Feischmidt, Jon Fox and Liana Grancea, Nationalist Politics and Everyday Ethnicity in a Transsylvanian Town, Princeton 2006, 63–67.

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trends were bitterly combatted by organizations wishing to maintain the integrity and strength of ethnic/linguistic groups threatened, or who felt to be threatened by the attraction of other groups holding forth the promise of better advancement. The census statistics reported every ten years on the “Umgangssprache” – the “language of communication” or “language of everyday use”, and the results were increasingly taken to reflect the growing or decreasing strength of the various nationalities. The census results not infrequently were contested by the “losers” of the census, for instance on one occasion in 1910 by the Slovenes in Trieste confronting the “victorious” Italians, with the result that the language census had to be repeated, as shown in the book ( by now a classic) on the language census by the historian and diplomat Emil Brix.9 Thus contests concerning the language census, becoming more frequent over the decades around 1900, were a significant element of what I call the “ethnicizing” of politics, the growing relevance of ethnic/linguistic issues. By 1900, the then Prime Minister Ernest von Koerber wrote in a memorandum submitted to Emperor Francis Joseph that the nationalities “put the language conflicts before everything else, even their most important interests”.10 The extent to which everyday life and literally “life and death” might be affected by “ethnicizing” activities may be illustrated by the following example: Several local communities and municipalities prohibited the use of minority languages on the gravestones on municipal cemeteries.The city of Trento with a strong Italian majority forbade German inscriptions on gravestones; the German-dominated town council of Dux/Duchcov in northwestern Bohemia prohibited Czech inscriptions, the city of Trieste forbade inscriptions in the Slovene language. In all these cases, the “Verwaltungsgerichtshof ” invalidated these decisions and inscriptions and made way for the local minorities to use their own language in the municipal cemeteries.11 9

Emil Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation, Vienna et al. 1982, on the 1910 census in Trieste 191–202. 10 Report („Vortrag“ ) Koerber’s, introducing several draft laws including one on languages to be used by the public authorities, not dated, but presumably submitted in the summer of 1900. The archival material (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Vienna, Kabinettsarchiv, Geheimakten, Karton 20), has been closely analyzed by Alfred Ableitinger, Ernest von Koerber und das Verfassungsproblem im Jahre 1900, Vienna et al., 1973, here 198. 11 Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Vienna 1985, 115–116. Henceforth cited as Stourzh, Gleichberechtigung. In this paper I draw some materials from this book as well as from an article „Ethnisierung der Politik in Altösterreich”, published in a journal for the general public without notes or



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A center of language conflict was schooling. Article 19 on equal rights for nationalities and languages, already mentioned, had a third and last paragraph to the effect that in provinces inhabited by several nationalities (“Volksstämme”), everyone of these nationalities should obtain public means for the education of their youth in their own language, without being obliged to learn a second language of that province (emphasis mine). This meant that for instance in Bohemia Germans would not be forced to learn the Czech language, and the Czechs would not be forced to learn the German language in school. The driving force behind this provision were the German-speaking politicians from Bohemia, who did not wish to have their youngsters learn the Czech language, considered at that time by many German Bohemians as a socially inferior language. This constitutional provision was a slap in the face of bilingualism, and a most unwise decision. Be it noted that in 1867, when the new constitution was debated and passed, Parliament in Vienna was boycotted by the Czech deputies, a boycott that was to last for many more years. While Czech deputies from Moravia returned to Parliament by 1874, Czech deputies from Bohemia returned only in 1879. The question arose how to put this rule into practice in communities with a mixed population, with a majority language and a minority language. Who spoke for the nationalities, for the “Volksstämme” entitled to obtain public means for the schooling of their children in their own language only? No new organization, no new institution was created to represent the nationalities. The government relied on existing institutions, chiefly on the communes who traditionally had the responsibility for the establishment and maintenance of “Pflichtschulen”, schools for the age of obligatory schooling from age 6 to age 14. In the councils of these communities, the majority principle prevailed, and it turned out that in questions of ethnic/linguistic import, majorities representing one language group ruthlessly exploited their majority position and ignored the claims of the minority language – and that for two reasons: first because putting up a second school was a costly affair, and secondly because the majority feared that a school for the minority would strengthen the latter and consequently be a menace for the majority language. Thus even major cities fought against the obligation to put up a school for the minority with all means at their disposal. Prague, with a Czech majority, fought against the establishment of a German school; Brünn/Brno, with a German majority on the city council, fought against putting up a Czech school. references (Wiener Journal, No. 228, September 1999, 35–40). Neither of these publications is available in English.

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Members of minorities like parents of children of school age, frequently filed suits at the Verwaltungsgerichtshof in Vienna, and that tribunal, since precise legislative rules were lacking, decided to step in to fill that gap. The Verwaltungsge­ richtshof developed an overwhelmingly minority-friendly adjudication. First, in the great majority of cases submitted to the court, it decided that communal or municipal councils were indeed obligated to establish minority schools, and second, the Court developed precise rules on the conditions entitling the minority population to get a school in their language. Many requests for the establishment of minority schools (or “nationality schools”, as they were also called) came from northwestern Bohemia with a German majority, where Czech families having moved into this coal mining area from inner Bohemia doggedly and often successfully fought for minority schools.12 Concluding these comments on various battle places of the language battle let me emphasize the following: Austria had something like a double administration. On the one hand, there was the imperial government, with a central government and various agencies in Vienna, and with resident governors (“Statthalter”) in every crownland to execute the laws passed by Parliament and decrees issued by the government or government ministries. But there was also a socalled “autonomous” administration on two levels. There was the level of the crownlands, with crownland constitutions of their own, provincial diets with legislative competences, and a crownland administration. And there was the level of the communes, also with a considerable pouvoir of autonomous decision-making. In provincial diets and notably in communal or municipal councils, whenever there existed two or more ethnic/linguistic groups, the majorities time and again used their majority ruthlessly in language issues and did not care too much about the “equal rights” provision of the imperial constitution of 1867. Agencies of the imperial administration were more careful about the “equal rights” provision than agencies of provincial or municipal government. The two highest courts dealing with language conflicts (Reichsgericht and Verwaltungsgerichtshof ) were more often called to decide on conflicts arising out of the “autonomous” administration than out of the “state” administration.13 Also, the considerable number of cases originating in small communities shows 12 See Stourzh, Gleichberechtigung, 166–189. Also the excellent book by Hannelore Burger, Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen, 1867–1918, Vienna 1995, 96–105. 13 See my conclusions on this question in Stourzh, Gleichberechtigung, 126–127.



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that language conflicts were by no means a specifically urban problem.14 The very first case reaching the Reichsgericht concerning the violation of language rights as established in art. 19 of the Fundamental Law on the General Rights of Citizens originated in three very small communities in northeastern Lower Austria as early as 1877 (Ober-Themenau, Unter-Themenau, Bischofswarth/Charvatská Nová Ves, Poštorná, Hlohovec).15 Point three: Quite different from the language question was another issue which arose first in Bohemia in 1873 and was apt to ethnicize areas of public and personal life which had not been touched by ethnic problems before. It is the issue of ethnic attribution or ethnic ascription of individual persons. To which nationality or as we would perhaps rather say today, to which ethnic group did Mr. X or Mrs.Y belong? Why was it important to know this? And if there were doubts to which nationality a person belonged, how to solve the problem of national or ethnic belonging? The problem first arose in Bohemia in 1872/73, when the Bohemian diet passed a law on school boards. Such school boards, with competence of supervising schools as well as participating in the appointment of teachers, existed on three levels – on the level of the crownland as a whole, on the level of districts (“Bezirke”), and on the local level (“Ortsschulrat”). In order to avoid the classic problem of majority rule – the majority ignoring the claims or rights of the minority – , on the level of districts separate school boards were established for Czech and German schools, and in the city of Prague, a separate school board for Czech schools and a separate one for German schools was established. On the local level, if there existed both Czech and German schools, separate local school boards were to be established. The most important point was the following: The representatives of the local communal or municipal council for the local school boards (as well as the chairman of the board), had to be members16 of that nationality17 for 14 Ibid., 105–124; for an exemplary case from a small community, also of great interest because of the fundamental constitutional problems discussed by the Reichsgericht, the complaint of Vrbnik (Verbenico) on the island of Krk (Veglia) in the Adriatic, belonging to Istria (1887– 1888), ibid., 71–74, and the source material published ibid., 263–269. 15 Ibid., 66–70. I emphazise this point on small communities, because the recent book by Pieter Judson, Guardians of the Nation, concentrating on select rural areas in southwestern Bohemia, in southern Styria and in the Trentino rather tends to stress ethnic/linguistic harmony than conflict (in contrast to ethnic/linguistic agitation coming from outside), though I certainly do not question the evidence presented by Judson for the areas he has studied. 16 Singular: Angehöriger/příslušník. Plural: Angehörige/příslušníci. 17 Nationalität/národnost.

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which the school board was to be set up – Czechs for the school boards for Czech schools, Germans for the school boards for German schools.18 For the first time, the notion of a “member” – “ein Angehöriger” – had crept into Austrian legislative and administrative language, and this I see as a major step in the ethnicizing process going on in Austria. The opening of the issue of national belonging or ethnic belonging created a new quality, a new dimension of the ethnicizing process.In the moment when persons charged with specific duties by law were legally ascribed to a certain nationality, the idea of national autonomy in its pure form entered the legal make-up of Austria. Territorial autonomy in its various forms from municipal autonomy to provincial autonomy, in those territorial units inhabited by at least two ethnic groups, had served as a substitute for national autonomy for those nationalities that commanded a majority in municipal councils or provincial diets – for instance the Czechs in Prague, or the Poles in Galicia. But autonomy exercised explicitly by members of a national group in their legal quality as members of a nationality, was a new, a more direct form of national autonomy. What happened if doubts arose as to the national belonging of such a school board member? A doubtful case occurred soon enough, in the city of Pilsen/Plzeň. In 1879 the municipal council of Pilsen, with a Czech majority, elected one Alois Formanek to the German school board of Pilsen (there were two school boards in that city, a Czech and a German one). A group of German representatives had doubts that Mr. Formanek was really a German. They thought that he was actually a Czech, mischievously elected by the Czech majority to the German school board as a kind of Trojan horse – and the Germans went as far as the Verwaltungsgerichtshof in Vienna to contest Mr. Formanek’s German nationality. Mr. Formanek affirmed his belonging to the German nationality, while his German political enemies maintained that he was notoriously a Czech and had sympathies for the Czech party in Pilsen. Now the Verwaltungsgerichtshof, who for the first time had to deal with such a question, came up with an interesting conclusion, incidentally beautifully worded, and I quote some parts of it in English translation: 18

Bohemian Law No. 17 of 1873 of February 24, 1873, § 7. This law is republished in part (including the important § 7) in: Edmund Bernatzik, ed., Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, second much enlarged edition, Vienna 1911, 989–991. It was passed in the Bohemian diet on December 6, 1872. At that time, Czech deputies boycotted the diet. The deputy reporting on the bill emphasized the separation of German and Czech school districts as an innovation “of special significance”, and of benefit to the Bohemian Germans. Steno­ graphische Berichte des böhmischen Landtages, Erste Jahres-Session 1872, 25. Sitzung, 9 and 11 (on p. 11 full German and Czech text of the paragraph in question).



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“… Belonging to a definite nationality will be essentially a matter of consciousness and feeling. … Therefore, if in a specific case the nationality of an individual is in doubt and if external manifestations of national consciousness are lacking, it will be necessary to question him concerning his nationality and to treat him as a member of that nationality to which he belongs according to his own declaration.”19

With that judgment of 1880, the “subjective” theory of national belonging (“nationale Zugehörigkeit”) was born.20 For more than a quarter of a century, this “subjective” principle prevailed. Quite a few cases involving doubtful “belonging” to a nationality reached the Supreme Administrative Court, who resoundingly reaffirmed the “subjective“ principle in a decision concerning Karlín/Karolinenthal near Prague in 1907. By that time, the ethnic or national splitting of institutions and organizations was reaching an ever increasing range of institutions in state and society, particularly in the Bohemian lands, thus compelling an ever increasing number of people to make up their minds to which nationality they belonged – because traditionally there were quite a few people who for whatever reason were not quite decided where they really belonged or wished to belong. There were mixed marriages, and children from mixed marriages; there were tradespeople who did not wish to lose their clientele from either the German or the Czech side; there were persons who though rooted for instance in a Czech background wished to send their children to German schools in order to give them wider career chances and therefore declared they were German; there were people, as I have shown at the beginning, who decided to change their national affinities by assimilating to a more promising or more powerful ethnic group. The ethnicizing process was an increasingly pre-dominant feature of Austrian 19 I have quoted the full text of this key passage both in the original German and in English translation in: Gerald Stourzh, Ethnic Attribution in Late Imperial Austria. Good Intentions, Evil Consequences, in: Ritchie Robertson and Edward Timms, eds., The Habsburg Legacy. National Identity in Historical Perspective (= Austrian Studies V), Edinburgh 1994, 67–83, here 70–71. The English translations follows, with slight modifications supplied by myself, the translation by Robert A. Kann in his book The Multinational Empire, New York 1950, vol. 2, 331. 20 The first scholar to point out the great significance of this case and the „subjective principle“ – though his book is somewhat biased in a German-national direction – was Wolfgang Steinacker, Der Begriff der Volkszugehörigkeit und die Praxis der Volkszugehörigkeitsbestimmung im altösterreichischen Nationalitätenrecht, Innsbruck 1932. Steinacker was a legal scholar, he did not use or had no access to archival material. On this case based on archival material see Stourzh, Gleichberechtigung, 203–205.

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political and social life from the late sixties and seventies of the 19th century onward, reaching its apogee in the period between about 1897 and 1914. The ethnic (national) splitting of institutions and organizations progressed considerably toward the end of the 19th and at the beginning of the 20th centuries. In 1890 the provincial school board for Bohemia was split into a Czech and a German section, with mandatory provisions on the national attribution – the national belonging – of several members. Another Bohemian board, on agricultural matters, followed in 1891. As early as 1881, in the Tyrol the council on agricultural matters had been split, however on territorial lines, with a German section in Innsbruck and an Italian section in Trento. In 1892, a Tyrolian law on school boards, following the Bohemian example of 1873, provided for the election of “members of both nationalities” – German and Italian – to certain school boards. To return to the Bohemian lands: School and agricultural boards in Moravia were split along ethnic lines in 1897. In 1894, the College of Physicians in Bohemia was split into two sections. Individual physicians had the right to elect representatives either to the Czech or to the German section – the danger of one section being stronger than the other and thus getting a majority/minority situation was eliminated by limiting both the Czech and the German section to 25 members each. Members could choose to which section they wished to belong – but there was no “neutral” section as it were. Choose you could, ethnic ascription did not come from above, but compelled to choose you were. Before turning to the largest operation of ethnic ascription in Austria – the Moravian compromise of 1905, I shall first sketch the advance of ethnic/national splitting elsewhere, and I shall also, in section II, deal with a new school of interpreting the history of late imperial Austria aiming at defusing the pervasiveness of ethnic/national matters, which has produced in the United States some most interesting books and articles which merit close attention. In Silesia in 1910, the provincial council on agricultural matters was split into three ethnic sections – German, Czech and Polish. When Colleges of Engineers (“In­ genieurskammern”) were created by law for the whole of Austria in 1913, ethnically separate sections were created in Bohemia, Moravia and Silesia, in the Tyrol, and in Trieste (the latter covering Carniola, Gorizia and Gradisca, the city of Trieste itself, Istria, and Dalmatia); there, three sections, an Italian one, a “Slavic” one and a German one, were established. Again, choose you could but not choose you could not. Thus in an ever increasing number of institutions, rules pertaining to ethnic matters and notably to ethnic “belonging” or ascription were introduced by law. The significance of this process was brilliantly grasped and formulated by Josef



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Lukas, a law professor teaching at the University of Czernowitz in the Bukovina. In 1908 he wrote that the personality principle (organization or representation of ethnic groups/nationalities by personal ascription) “had conquered areas of law, where in former times nationality law had nothing to seek, for nationality legislation.” Thereby, he said, the confines of nationality law have been extended. The laws regulating the organization of school boards have intrinsically nothing to do with nationality law. In the moment, however, in which membership in these boards requires adherence to a certain nationality and the activity of these boards is nationally limited, the organizational norms of school legislation pertaining to these matters have become part of nationality law.21 Thus it is possible to speak of the “ethnicizing of law” – “Die Ethnisierung des Rechts” – a term which I gratefully borrow from a recent work by Benno Gammerl, as a movement accompanying and interlinking with the ethnicizing of politics.22 The list of ethnically split institutions and organizations is by no means complete. It spilled over more and more into the area of non-official organizations, from government and administration into society and private life. The association of apothecary assistants (“Apothekergehilfen”) in Bohemia was split along ethnic lines in 1912. There were voluntary fire brigades splitting among ethnic lines in Moravia and elsewhere. The Czech historian Jan Křen has sketched, in a book full of sadness entitled “Die Konfliktgemeinschaft” – “The community of conflict”, the progress of ethnic separation in many fields. Parishes were organized along ethnic/linguistic lines, in local restaurants the division in “Czech” and “German” restaurants increased, people drinking there a beer of either Czech or German production.23 Banks and saving institutes also developed along ethnic lines.24 There grew in the early 20th century mutual boycotts of trade and industry, there 21 Josef Lukas, Territorialitäts- und Personalitätsprinzip im österreichischen Nationalitätenrecht, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, vol. 2, 1908, 333–401, here 363. I have published the original quotation in German in Stourzh, Gleichberechtigung, 208–209. 22 Benno Gammerl, Untertanen, Staatsbürger und andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918, Göttingen 2010, notably ch. 6, „Die Ethnisierung des Rechts im frühen 20. Jahrhundert“, 285–326. 23 Jan Křen, Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918. Aus dem Tschechi­ schen von Peter Heumos, Munich 1996, 208, describing the situation in the nineties of the 19th century; for the beginnings of this segregation in the eighties, cf. ibid., 179–181. This book, the Czech edition of which was published in 1990, is masterful. 24 See Thomas Winkelbauer, Wer bezahlte den Untergang der Habsburgermonarchie? Zur nationalen Streuung der österreichischen Kriegsanleihen im Ersten Weltkrieg, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, vol. 112, 2004, 368–398.

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developed what Jan Křen has called an imaginary “customs line” between Czech and German products and stores. Around the turn of the century there sprung up German and Czech “umbrella organizations” entitled “people’s councils”, like the “Deutscher Volksrat für Böhmen” or the “národní rada česká”, and analogous organizations in Moravia, Silesia and Lower Austria including Vienna. In 1912, a report on the activities of these organizations was presented at a hearing of an official commission for administrative reform set up by the central government in Vienna by a lawyer, Dr. Ludwig Schüller, representing some firm building an electricity transmission network. He sketched the procedures encountered when setting up this eletricity network in a crownland with mixed population, presumably Bohemia or Moravia. The autonomous provincial government, the socalled “Landes­ ausschuss” referred the representative of the electricity firm to the “people’s councils”, the Volksrat and the národní rada česká. Meeting usually in some restaurant, the politicians representing these people’s councils put forward various demands like employment of workers belonging to their own nationality; at least on one occasion a perfectly ridiculous claim was put forward, namely to put danger warnings only in one language, their own, limiting the danger warning for the other nationality to a “lightening” sign without words. Only when a compromise had been reached in these informal negotiations with the “people’s councils”, the official provincial authority could be approached. The speaker diagnosed a “complete abdication of the regular administrative authorities” in favor of these “people’s councils”.25 This again is an instance of what I call the ethnicizing of politics in Austria.

II. Recently a new school of historians has developed in the United States who emphasize the role of “national indifference” in late imperial Austria and who tend to defuse the primacy or the pervasiveness of ethnic issues. Three American historians have written important books (and articles) in this new interpretative direction – Pieter Judson, Jeremy King, and Tara Zahra. Without denying the evidence these historians have submitted, and greatly respecting not merely the empirical research, 25

Enquête der Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform, veranstaltet in der Zeit vom 21. Oktober bis 9. November 1912 zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung in Bezug auf die Reform der inneren und der Finanzverwaltung, Wien 1913, 58–59, testimony Dr. Ludwig Schüller. This testimony, as well as many others by highly qualified experts (Bernatzik, Herrnritt, Tezner et al.), bears close and extensive reading.



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but also the thoughtful and sometimes brilliant theoretical reflections that have gone into the making of these studies, I would like to question some of the underlying assumptions, of the terminological propositions and of the interpretations made in these publications. My comments address individual works by individual authors, not a collectivity of scholars. I would like to make three major points. 1. One underlying assumption, posited with particular emphasis by Jeremy King, is the dominance of a nation-oriented, “ethnicist”, if not nationalist, historiography in East Central Europe, a region by which he means “the territories that formed a part of the Habsburg Monarchy for at least three centuries, including the nineteenth”.26 His critical target is the imagined “partitioning of the whole of the population into mutually exclusive groups”27 by East Central European historians writing about the 19th and 20th centuries. To a great number of them, listed in two extensive notes, the label “ethnicism” is attached.28 Historians allegedly regarding ethnic groups/nationalities/nations as stable groups are considered, with a term stemming from Rogers Brubaker who has greatly influenced King, as affected by “groupism”; they are close to “groupness”.29 Without being possibly able or know­ ledgeable enough to discuss the merits or demerits of all works listed, let me mention only three historians where I have considerable doubts that they belong to this list. First: Oszkár Jászi, in his masterly work of 1929 “The Dissolution of the Habsburg Monarchy”, dealt explicitly with the “centripetal forces” counteracting the centrifugal “nationalist” forces within the Habsburg empire,30 thus anticipating to some extent an analysis of those persons whom King in his book on Budweis has named the “Habsburg loyalists” - people not, or not yet affected by the trend to identify with an ethnic entity about to be transformed into a “nation”.31 Sec26 Jeremy King, The Nationalization of East Central Europe. Ethnicism, Ethnicity, and Beyond, in: Maria Bucur and Nancy M. Wingfield, eds., Staging the Past. The Politics of Commemoration in Habsburg Central Europe, 1848 to the Present, West Lafayette, Indiana 2001, 112–152, here 143, note 1. 27 Ibid., 128. 28 Ibid., 146, notes 28 and 29; in a third note (147, note 30), “primordialist” ethnicist historians, mostly of an earlier (pre-1945) generation, are listed. 29 Ibid. 128. I may be allowed to say that terms like “groupism” or “groupness” are aesthetically abhorrent; one can do very well with the word “group” alone. This in no way diminishes my respect for the work of Rogers Brubaker. 30 Jászi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, part III on the „centripetal forces“: the dynasty, the army, the aristocracy, the Roman Catholic Church, bureaucracy, capitalism and Jewry, and socialism. 31 Jeremy King, Budweisers (supra note 5), 210; see also 6–7, 135, and more often.

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ond: The book by Emil Brix of 1982 on the Austrian census between 1880 and 1910 “between agitation and assimilation”32 has so much material on the flexibility and fluidity of census developments as to make language groups (and ethnic groups – on connections see below) parts of communicating vessels rather than stable and “mutually exclusive groups”. Third: Gary Cohen’s book on “The Politics of Ethnic Survival”33 also deals most sensitively with the question of assimilation and changing linguistic/ethnic affiliations in Prague by reason of quite pragmatic considerations (social status, job situation) and seems to me to stand outside the categories critically listed by King. In his book on Budweis, Jeremy King has argued that a consequence of the nationalist perspectives of so much of East Central European historiography, has been to misinterpret the Habsburg state and Habsburg loyalties. He mentioned that in 1966 at the conference on the Nationality Problem in the Habsburg Monarchy (at Bloomington, Indiana), a critical comment was made that though there were papers on the slavic nationalities there was “none at all explaining the government’s position”.34 King adds (in 2003): “Writ large that criticism still applies today”.35 Now this is an oversight. As early as 1973 the vast enterprise of “Die Habsburgermonarchie 1848–1918” began to appear, of which by 2003 seven huge volumes had been published, where innumerable materials on the Habsburg state apart from the nationality problem have been dealt with, including volumes on “Religion” (“Die Konfessionen”, 1985) and on the “Armed Forces” (1987). By 2010, two additional huge volumes have been added, the most recent one (2010) on “Social Structures”. This enormous enterprise included, and continues to include, important contributions from historians of the successsor states. Only one of these volumes, vol. III on the nationalities, available since 1980, seems to have been taken note of in the studies I am discussing here. The close linkage between East Central European historiography and national, or even nationalist perspectives has also been stressed in a recent important article by Tara Zahra on national indifference as a category of analysis.36 In a section on 32

See above note 9. This book grew out of a doctoral dissertation written under my supervision at the University of Vienna. 33 See above note 6. Cf. chiefly the section on “Attrition by Assimilation”. Cohen, op. cit., second ed., 75–83, and elsewhere. 34 The critical speaker in 1966 was Arthur Haas. King, Budweisers, 6. 35 Ibid. 36 Tara Zahra, Imagined Noncommunities: National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review, vol. 69 , no 1 (Spring 2010), 93–119.



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“Indifference and the Denationalization of History” Tara Zahra criticizes the record of East Central European historiography “as faithful accomplice in nation-building projects” and extols the task to “rescue History from the Nation”.37 The close linkage of historiography and national, if not nationalistic bias has already been broken, I assert, in the case of much of Austrian post-World War II historiography on the Habsburg empire. The pro-German bias in much of Austria’s pre-1938 historiography on the Habsburg empire has, apart from some exceptions, disappeared. In the very great majority of the contributions to the vast “Habsburgermonarchie” project or in the writings of Robert A. Kann, Richard Plaschka, Moritz Csáky, Helmut Rumpler, of younger historians like Emil Brix, Hannelore Burger, Peter Haslinger or Thomas Winkelbauer, or in my own work, there may be interpretations of the nationality problem that followers of the “national indifference” school may label however they wish – but a “national” or even nationalistic perspective they will not find there.There is in the writings of at least some of these Austrian authors a rather sympathetic approach toward the non-German nationalities of the Habsburg empire. The “prison of nations”, from which the citizens of Habsburg central Europe should be finally rescued, according to the rhetorically brilliant concluding words of Tara Zahra’s article, with the help of the new “national indifference” category of historical analysis,38 has been opened historiographically, I dare say, by some of the Austrian historians just mentioned and a number of colleagues from neighboring ex-Habsburg countries. I merely mention Péter Hanák,39 Sergij Vilfan,40 Angelo Ara,41 Otto Urban,42 Jiří Kořalka,43 or Jan Křen.44 These six scholars have displayed quite exemplary transnational sensibility and empathy. 37 Ibid., 94. Tara Zahra refers to the title of a book “Rescuing History from the Nation” on interpretations of Chinese history by Prasenjit Duara. 38 Zahra, Imagined Noncommunities, 119. 39 Péter Hanák, The Garden and the Workshop. Essays on the Cultural History of Vienna and Budapest, Princeton NJ 1998. 40 Sergij Vilfan, An Ethnic Mosaic – Austria before 1918, in: Sergij Vilfan, ed., Ethnic Groups and Language Rights (= Comparative Studies on Governments and Non-dominant ethnic groups in Europe, 1850–1940 vol. III), Aldershot 1993, 111–134. 41 Angelo Ara, Fra nazione e impero. Trieste, gli Asburgo, la Mitteleuropa, Milan 2009. On Ara see my study Angelo Ara und die österreichische Geschichte, in this volume, ch. 12. In Italian: Angelo Ara e la storia austriaca, in: Rivista storica italiana, vol. 119, 2007, 686–705, 42 Otto Urban, Die tschechische Gesellschaft 1848–1918 (= Anton Gindely-Reihe zur Geschichte der Donaumonarchie und Mitteleuropas, ed. Gerald Stourzh, vol. 2), 2 vols., Vienna-CologneWeimar 1994. 43 Jiří Kořalka, Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815–1914, Vienna-Munich 1991. 44 Křen, Die Konfliktgemeinschaft (supra note 23).

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2. “National indifference”, though originally used with some hesitation – ­ ieter Judson first spoke of “national flexibility (or indifference)”45 –, in the meanP time has become the rallying notion for beginning a sweeping reinterpretation of late Habsburg history. In 2008 a conference on “Sites of Indifference to Nation in Habsburg Central Europe” took place in Edmonton, Canada,46 and in 2010, Tara Zahra has published her paper already mentioned, “Imagined Noncommunities: National Indifference as a Category of Analysis”. Tara Zahra asks questions as to whether “national indifference” may be too broad a term, or a term suggesting a pejorative connotation. She mentions various terms that have been suggested as alternatives: national apathy, ambivalence, lability, or binationalism.47 I could suggest some additional alternatives: national passivity, national pragmatism, national non-commitment, national disinterestedness. I would be rather reluctant to employ the term of opportunism.48 Switching sides for reasons of better job possibilities, or for offering one’s children the chance of social and economic advancement, reveals a “pragmatic” attitude toward ethnic groups and was, in a world full of social, economic and political inequalities a perfectly understandable move, even if scorned by the high priests of ethnic (or national) groups.49 Tara Zahra has said in her book of 2007 that “national indifference” is a term that describes “several different kinds of behavior”50, and in her article of 2010 she has reaffirmed that the term “can also apply to many different kinds of behavior and people”.51 I have doubts about the usefulness of a term that points to at least three different kinds of behavior – not “over time”, not “historicized”,52 but at the same time – in late imperial Austria. a) “National indifference” may refer to people who are not, or not yet, in the necessity or willing to adhere to a “nationality”. Loyalty to the “land” – Bohemia, Moravia, Styria, Tyrol etc. – and loyalty to the Emperor (simultaneously “Landesherr”) was the double loyalty that prevailed. The imperial royal shipmaster Adalbert/Vojtěch Lanna, the hero of Jeremy King’s Budweis-book, is a case in 45 46 47 48 49

Pieter M. Judson, Guardians of the Nation, 5. I am grateful to Pieter Judson for supplying information on this conference. Zahra, Imagined Noncommunities, 98. Judson, Guardians of the Nation, 3. Cf. Zahra, Imagined Noncommunities, 100, a worker’s voice: “It is a matter of who is giving more.” 50 Zahra, Kidnapped Souls, 4. 51 Zahra, Imagined Noncommunities, 98. 52 I refer to the discussion in Zahra, ibid.



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point. To another person, born of poor Czech peasant parents im Bohemia, rising professionally to respected judicial positions in Moravia, retiring as “Landesge­ richtsrat” in Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště in Moravia, rising socially by marrying into a German Moravian middle class family, refusing to be drawn into the rising German/Czech quarrels of the 1860s, Franz Anderle (1808–1888), I have dedicated a short study.53 He was the father of my maternal grandfather. A third one, better known in the Habsburg empire and even today than the two just named persons, was Anton/Antonín Gindely (1829–1892). Born in Prague in humble circumstances from a German-Hungarian (“Donauschwaben”) father, a carpenter, and a Czech mother, a maid-servant, Gindely rose professionally and socially to become one of Bohemia’s leading historians. He became archivist of the kingdom of Bohemia, teacher of Archduke Rudolf and Professor at the University of Prague. Regarded by German nationalists as Czech, he incurred the wrath of the Czechs when he refused, upon the splitting of Prague university into a German and a Czech one in 1882, to join the Czech University; he was, however, boycotted by his German colleagues and, though supported by the government in Vienna, found no other solution than early retirement. Gindely is an excellent example for a “nationally indifferent” Habsburg loyalist.54 His “Bohemismus” and “Landespatriotismus” was well compatible with his “Austrian state patriotism”, Jan Havránek has written.55 It should perhaps be added that with members of the imperial bureaucracy or the army, loyalty to the emperor would definitely be the stronger element, all the more so as in the course of the late nineteenth and early twentieth century the role of the “Länder”, the provinces as centers of loyalty weakened in front of the newly rising loyalty centers of the “nationalities”, inspite of the considerable legislative powers assigned to the provinces within the Austrian constitutional set-up.56 53 Gerald Stourzh, „Aus der Mappe meines Urgroßvaters“, in this volume, ch. 6, 125–137. 54 See Brigitte Hamann, Anton Gindely – ein altösterreichisches Schicksal, in: Erhard Busek and Gerald Stourzh, eds., Nationale Vielfalt und gemeinsames Erbe in Mitteleuropa, Vienna and Munich 1990, 27–37. 55 Jan Havránek , Anton Gindely, ein Historiker zwischen zwei Nationen, in: Idem, University, Historiography, Society, Politics. Prague 2009, 151–157, here 153. 56 One should be aware that the cases of the army and of the bureaucracy are not quite alike. The army was an instrument of the “dual monarchy”; so was the bureaucracy to the extent that it worked in the foreign service and in the common ministry of finance which was also charged with the administration of Bosnia-Hercegowina. But the greater part of “Habsburg” bureaucracy was divided into the Cisleithanian bureaucracy on the one hand and the Hungarian bureaucracy on the other. There were various hues of “Habsburg loyalty” that would deserve

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b) “National indifference” also points to a second direction. Research under this aegis is very much interested in people who, for whatever reason – most often social or economic ones including migration, sometimes reasons of inter-marriage –, were willing , or, and this is not unimportant, were under pressure to pass from one – let us prudently say – language group to another. There was, as I have pointed out before, more flexibility and fluidity among different groups than the image of an “exclusive” ethnic or national entity suggests. Therefore I much prefer Pieter Judson’s original term “national flexibility” to “national indifference”. “Indifference” is a static concept; “flexibility”suggests movement – and thus seems more adequate to historical processes. One also might speak of “national pragmatism”. That flexibility or pragmatism more often than not went into the direction of privileged or dominant language groups.57 c) “National indifference” may also point to a third direction, namely “indifference to nationalism”.58 Indifference to nationalism is not, I take it, identical with indifference to nationality or nation. Taras Zahra, who employs “national indifference” (also) as “indifference to nationalism” in her book “Kidnapped Souls” rightly says that quite apart from fluid national loyalties, “[e]ven more individuals may have considered themselves nominally Czechs or Germans but rejected the all-encompassing demands of nationalist politics”.59 I agree. But this seems to me closer attention, like the “Greater Austrian” loyalty covering the entire Habsburg monarchy and a (perhaps feebly developed) “cisleithanian” loyalty or patriotism, to be found particularly in the higher Cisleithanian bureaucracy and the higher judiciary; Rudolf von Herrnritt, judge at the Verwaltungsgerichtshof and noted writer on nationality questions, may have been an example for the latter. A brilliant case study of Hungarian dilemmas on loyalty was presented by Péter Hanák, Die Parallelaktion von 1898. Fünfzig Jahre ungarische Revolution von 1848 und fünfzigjähriges Regierungsjubiläum Franz Josephs, in: Österreichische Osthefte, vol. 27, 1985, 366–380. 57 Tara Zahra, Imagined Noncommunities, 106, rightly criticizes devices giving support to nationalist narratives, and among them color-coded ethnographic maps privileging the majority population in a given territory. May I point out that the most minority-friendly ethnographic map known to me was published as early as 1980 in vol. III of “Die Habsburgermonarchie”, breaking with the monopoly of the majority color, and replacing it, for every Hungarian Komitat and every Austrian “Bezirkshauptmannschaft” (district) as well as for the large cities, with discs, whose sectors reflected the various linguistic groups – and also the proportion of the Jewish population! This map was designed by Peter Urbanitsch. I am aware of course that the census results on which the map is based, are themselves open to the danger of majority bias or bias in favor of the dominant language, and again I refer to the standard work by Brix. 58 Zahra, Kidnapped Souls, 4. 59 Ibid., 5.



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a different kind of “national indifference” than the kinds of “national indifference” referred to in points a) and b). Different terms for different types of behavior would seem preferable. I suggest “national non-commitment” for the behaviour described under a), “national flexibility” or “pragmatism” for the behavior sketched under b), and simply “antinationalism” for the behaviour mentioned under c), concerning those members of nationalities who “rejected the all-encompassing demands of nationalist politics”. 3. “National indifference” in several of the meanings just discussed may exist, and “sites” of it have been looked for. But what certainly does not and cannot exist, is “linguistic indifference”. Communication by language comes first. Languages are tools of communication before they may become tools of nationalist agitation, about which Tara Zahra has written her most interesting book.60 People need to communicate, and in the Habsburg monarchy there were millions and millions of people living in one state (or after 1867 in two states) unable to communicate with one another. Discussion notably in Anglo-American scholarship has concentrated in an extraordinary way on the construction of nations, on nation-building and nationalism.The works of Miroslav Hroch, Benedict Anderson, Ernest Gellner, Eric Hobsbawm and more recently Rogers Brubaker have been extraordinarily influential. “Imagined Communities” (Benedict Anderson) has become one of the most successful catch-words of historical discourse within the last quarter century, and now the discussion has arrived, with Tara Zahra’s recent paper, at “Imagined Noncommunities”. I suggest that it may be useful to turn away for a while from the fascination of constructed ethnic or national communities and to look at the Habsburg empire as a multilingual empire. Tara Zahra says that rather than “assuming that people in Europe belonged to nations, perhaps we should assume indifference and investigate how and why people allied themselves politically, culturally, and socially from the ground up.” 61 But one word is lacking: “linguistically”. Why?

60 Tara Zahra, Kidnapped Souls. 61 Tara Zahra, Imagined Noncommunities, 118. Zahra, ibid., 97, apparently is quite impressed by Rogers Brubaker’s theme in his book Ethnicity Without Groups, Cambridge, Mass., 2004. If one looks at his presentation of the present day Hungarian language school system in Cluj, it is, however, very much “ethnic group” schooling. Brubaker et al., Nationalist Politics and Everyday Ethnicity in a Transsylvanian Town, 269–277.

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Jeremy King has said that before becoming a multinational empire, the Habs­ burg empire was “nonnational”.62 Other recent authors have spoken of the originally “ethnically neutral” Habsburg empire.63 The Habsburg Empire was, before proclaiming “equal rights” (“Gleichberechtigung”) for ethnic groups (“Volksstämme”) and for languages (“landesübliche Spachen”, “Landessprachen”) first in 1848/49 and definitively after 1867, a multilingual empire with extreme status inequalities of the languages spoken. I refer to my reflections on the unequal social and political standing of languages in section I of this paper. German was the most privileged language, and remained it in the western part of the empire even after the proclamation of “Gleichberechtigung”: Italian was a privileged language in parts of the empire with decreasing importance due to the loss of Lombardy and Venetia. Hungarian became a privileged language in 1867 in the eastern part of the empire. Polish became a privileged language in Galicia after 1868. The Czech language won a parity position in the decades after 1867 and a privileged position in the city of Prague before the turn of the century. All this means that access to privileged languages for professional and social advancement was important. One consequence was that lower class people having a privileged language as maternal language (like German) were privileged as compared with lower class people speaking a less privileged language like (initially) the Czech language, or the Slovene or Rumanian or Ukrainian languages. A second consequence was that bilingualism,64 though in some places like Budweis it came by easily, was a tough achievement for very many people: there were many and large blocs of monolingual populations in the Habsburg empire – central Bohemia65 or Western Galicia or rural Carniola or Hungary notably east of the Danube, not to speak of the large 62 King, Budweisers, 114. See for additional comments below at note 69. 63 Gammerl, Untertanen, ch. 5, notably ch. 5 on ethnic neutrality in the late 19th century, 246– 265, 315. 64 Zahra, Imagined Noncommunities, 107, says that bilingualism “has no intrinsic relationship to national indifference”. It has an intrinsic relationship, however, to a multilingual empire with basic needs of communication and varieties in the social and political standing of different languages. I fully share the regret of Zahra (ibid.), King (Budweisers, 57–60) and others about the unfortunate decision of the Austrian and Hungarian authorities not to accept bilingual or multilingual information in the language censuses. Most informative is Brix, Umgangssprache, ch. III, 67–115; also recently (much briefer) Benno Gammerl, Untertanen, 143–146. 65 Zahra, Kidnapped Souls, 6, and idem, Imagined Noncommunities, 107, gives various examples of remarkable bilingualism in various Bohemian cities, all of them, however, on the periphery; she may underestimate the monolingual rural Czech population in the Bohemian center. The situation in Moravia, and even more, in Silesia was different.



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German-speaking parts that subsequently formed the Austrian Republic. Bilingualism had to be conquered the hard way in various places. Franz Anderle, poor country boy from eastern Bohemia, tells in his autobiography how at the age of twelve he began to learn German.66 He received German instruction free of charge from a local priest convinced of the boy’s intelligence. Anderle describes how he continued to study German to be admitted to the Gymnasium in Leitomischl (Litomyšl) with “a severity like Cato and a persistence like Demosthenes”. The director first did not want to take him for lack of adequate knowledge of German, but his priestly patron argued that “through diligence he would overcome all difficulties”. Anderle was admitted by the doubting director at the age of 15 (!) and through great effort made it to be No. 1 among 100 students. But he lost this place in the coming years (though he never went below No. 3 among the best students). “I was overtaken by students who were fully fluent in the German language”. Anderle finished the Gymnasium at the age of 23, but he went on to study law in Prague and embarked on a distinguished judicial career in Moravia. That was, I repeat, getting bilingual the hard way, and it is a good case study for the importance of gaining access to a privileged language. Bilingualism in Budweis or on the Czech-German language frontier, so-called, with practices like “Kinder-Wechsel” in parts of that frontier and elsewhere in the empire,67 may have had a certain symmetry. King himself has spoken of the “unusually bilingual population” of Budweis.68 I would like to point to the considerable asymmetry of bilingualism elsewhere in the monarchy. In general, more Czechs learned German than Germans learned Czech.69 More Slovenes learned German than Germans learned Slovene. More Slovaks learned Hungarian than Hungarians learned Slovak, etc. This asymmetrical, “lop-sided” bilingualism deserves more attention than it has received, with notable exceptions.70 It should be added that the achievement of bilingualism by no means erased the problem of the social inequality of various languages, because accent-free and perfect speaking 66 For the following, see Stourzh, „Aus der Mappe meines Urgroßvaters“, 150–152. 67 Judson, Guardians, 3, 46. “Kinder-Wechsel” notably took place in the southern Moravian/ Lower Austrian region, in Upper Hungary (today Slovakia) or in Western Hungary (today Burgenland). Csáky, Gedächtnis der Städte, 84–85. 68 King, Budweisers, 210. 69 On German attitudes of superiority as bitterly reflected by the Czech writer Jan Machar, who worked for several years in Vienna, see the excellent article by Josef Peter Stern, Das Wien der Jahrhundertwende aus tschechischer Sicht, in: Österreichische Osthefte 28, 1986, 5–23. 70 Rogers Brubaker, Nationalist Politics and Everyday Ethnicity in a Transylvanian Town, 240– 241, is excellent on asymmetrical bilingualism.

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of two or more languages was rare indeed. Pronounciations or accents, including the impact of dialects in the original or the acquired language, more often than not revealed the linguistic origins of the speaker.This kind of “detection” was an everyday occurrence in the Habsburg empire and contributed to “placing” the speaker (sometimes no doubt erroneously) in certain social categories.71 In stark contrast, the utopian vision of a kind of “egalitarian” polylingualism was conjured up by the Moravian scholar Jan Evangelista Purkyně in 1867. Everybody within the monarchy should be obliged to learn all major languages of the empire in order to create “love among the peoples”, he wrote in his book “Austria Polyglotta” – a utopia of which Purkyně himself was quite aware that it never was to be.72 Both philosophic currents and educational theory in Germany and German-speaking Austria, extolling “Muttersprache” and “linguistic purity”, increasingly favored monolingualism.73 To conclude this section: I believe that the nonexistence of linguistic indifference may have consequences for the pursuit of “national indifference”as an analytic category, but it will be up to followers of the “national indifference” theorem to pursue these suggestions.

71 A young linguistic scholar in Vienna, Katharina Brizić, has developed a “Linguistic Capital Model”, correlating the either more developed or more limited capacities in the original language(s) to the acquisition of second languages and the transmission of the first or second (or third) language to children. Though her brilliant socio-linguistic and psycho-linguistic analysis concentrates on contemporary migratory movements, it could usefully be applied when studying the connections between migration and bilingualism within the Habsburg monarchy. Katharina Brizić, Das geheime Leben der Sprachen: gesprochene und verschwiegene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration, Münster et al., 2007. 72 I am indebted to the most interesting description by Csáky, Gedächtnis der Städte, 82–84: Purkyně surrounded his plea for polylingualism by the fairy-tale of a peaceful realm consisting of seven countries in which seven languages were spoken; but no one knew how this realm had come to be and how it disappeared … – An earlier advocate of polylingualism in the Habsburg empire was the orientalist scholar Joseph Baron Hammer-Purgstall in his “Vortrag über die Vielsprachigkeit” of 1852, in: Die feierliche Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 29. Mai 1852, Vienna 1852, 87–100. Cf. also Csáky, Gedächtnis der Städte, 84. Hammer-Purgstall called the statute book of the empire, then being published in ten languages, “a school of polylingualism and an incentive for learning the languages of the empire”. Ibid., 98. For the varied linguistic history of the imperial statute book, see Stourzh, Gleich­ berechtigung, 34–36, 41, 93. 73 On this see the excellent study by Hanna Burger, Die Vertreibung der Mehrsprachigkeit am Beispiel Östereichs 1867–1918, in: Gerd Hentschel, Über Muttersprachen und Vaterländer. Zur Entwicklung der Standardsprachen und Nationen in Europa, Frankfurt/Main 1997, 35–47.



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III. The most thorough attempt to transform a whole crownland’s political and educational structure on the principle of ethnic “belonging” was the Moravian Compromise of 1905/06, one of the best researched topics of recent decades in the area of ethnic conflict and conflict resolution.74 I shall also briefly touch two further crownland compromises of 1909/10 and 1914 respectively, in the Bukovina and in Galicia, and a local compromise in Bohemia concerning the town of Budweis/ Budějovice. The settlements in Moravia and Bukovina were put into practice, the other two compromises were not. These four settlements, most notably the Moravian settlement, certainly were important elements of the ever more powerful ethnicizing processes going on – and speeding up – in Austria. They did not, however, mark the transition from a “nonnational constitutional order” to a multinational one, as stated by Jeremy King.75 Pieter Judson has accepted this and says: “In 1905, as Jeremy King has argued, the anational state took a big step toward becoming a multinational state – one that recognized the legal existence of ‘nations’ when it sanctioned the Moravian Compromise.”76 Now I must put on record my disagreement. Austria up to around 1900/1905 was not a “nonnational” or “anational” state. The Habsburg monarchy turned from a multilingual state by various steps into a multinational state well prior to the turn of the century. I must omit here the developments in the lands of the Crown of Saint Stephen.77 There were three decisive steps. First, various pro­ clamations of equal rights (“Gleichberechtigung” – unfortunately there exists no corresponding noun in the English language) during the Revolution of 1848/49 and up to 1850, which turned out to be of a nonpermanent nature in view of the ensuing period of neo-absolutism. Second, and most importantly, the entrenchment of equal rights for the nationalities and languages spoken in the various 74 Among more recent publications: T. Mills Kelly, Last Best Chance or Last Gasp? The Compromise of 1905 and Czech Politics in Moravia, in: Austrian History Yearbook, vol. 34 (2003), 279–301; see particularly 280, note 2. Also: Hannelore Burger, Der Verlust der Mehrsprachigkeit. Aspekte des mährischen Ausgleichs, in: Bohemia, vol. 14, 1993, 77–89; idem, Sprachen­ recht und Sprachgerechtigkeit, 189–200. 75 King, Budweisers, 114–115. 76 Judson, Guardians, 13. 77 Tara Zahra, Imagined Noncommunities, 112, observes that until 1918 “in Habsburg Central Europe, nationalists typically did not have state power at their disposal, except at the local or provincial levels.” Perhaps the case of Hungary was atypical, but surely one large enough to deserve mention.

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lands in the constitution of 1867, more precisely in article 19 of the Fundamental Law on the Equal Rights of Citizens.78 The third paragraph of this article specifically promised every nationality (“Volksstamm”) in provinces with more than one nationality the right to educate its youth without obligation to learn a second language of the land, and to grant it the means necessary to accomplish this goal.79 This third paragraph of article 19 had substantial consequences in the rise of publicly funded “nationality schools” or “minority schools” notably in the decade 1880 to 1890, which have been discussed above in section I.80 Third, in 1873 there was introduced in Austrian legislation (in Bohemia) for the first time the obligation of national ascription for persons charged with certain tasks in the school system, again with quite a number of contested cases leading up to judicial decisions by the Supreme Administrative Tribunal in Vienna, as has also been shown in section I. In view of these three points, and most importantly of article 19 of 1867, King’s assertion of a “nonnational constitutional order” prior to the turn of the century is untenable. The guiding principle of the national compromise in Moravia could be entitled “pacification by separation”.81 The perpetual haggling between national majorities and minorities should be replaced by a more peaceful “side by side”.Tara Zahra has written that “the Moravian compromise emerged from the fundamental principle that good fences make good neighbors”. I would perhaps say that good fences do not necessarily make good neighbors, but perhaps less aggressive neighbors by taking away at least one battlefield, namely that of provincial and national electoral contests. Tara Zahra adds that the good fences principle was a misreading of the nationality conflict “in that it presumed not only that ordinary Bohemians and Moravians [why Bohemians?] were nationalized but also that nationalist tensions were so explosive that the only solution was an administrative separation of the two populations.”82 I do not think that there was a misreading of the nation78 Some scholars are off the mark by referring to article 19 “of the constitution” of 1867 or of the “Staatsgrundgesetz” of 1867. This constitution was a bundle of five Fundamental Laws (“Staatsgrundgesetze”), each of which had a separate numbering of articles. Cf. Judson, Guardians, 267, note 7, Zahra, Kidnapped Souls, 14; also Csáky, Gedächtnis der Städte, 122. 79 On this so-called “Sprachenzwangsverbot” see Zahra, Kidnapped Souls, 24–25, and earlier Stourzh, Gleichberechtigung, 56. 80 Stourzh, Gleichberechtigung, 166–189. 81 I have taken this idea from an interesting, even moving article by Rudolf von Herrnritt, Die Ausgestaltung des österreichischen Nationalitätenrechtes durch den Ausgleich in Mähren und der Bukowina, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, vol. 1, 1914, 583–615. 82 Zahra, Kidnapped Souls, 34.



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ality conflict in the compromise negotiations. Two comments: First: If tensions have become truly explosive, it is usually too late for compromise negotiations. Compromise solutions require a certain balance of interests and a certain balance of forces – and that perhaps was the case in Moravia by 1905. Were tensions so explosive when negotiations on the compromise in Budweis/Budějovice (on which more below) were begun in 1906? Second: What Zahra calls “administrative separation” was in fact a political victory for national autonomy – the most popular reform idea of the Cisleithanian half of the Habsburg empire since the turn of the century. Gone were the fears about constituencies going to the “other” nationality; gone were the bitter electoral contests between candidates of ethnic majority and ethnic minority. The fundamental principle of the compromise was stated correctly by Václav Perek when he said that “each nationality should be protected from being imposed upon by a majority [of the other nationality].“83 Fear of “Majorisierung”, fear of being imposed upon by the majority is the key to the compromise proposals, successful or unsuccessful, of the years between 1905 and 1914. In ethnic issues, majority/minority conflicts are fundamentally different from “normal” majority/ minority conflicts in democratic countries. In a “normal” democratic process, minorities may have the hope of becoming majorities or at any rate parts of majority coalitions. In ethnic conflicts, there exist minorities which for demographic reasons may have reason to expect that they will forever depend on the power of the majority group, or there may be majorities who for demographic (and political, e.g. suffrage) reasons may expect to fall into the position of a permanent minority. This predicament was masterfully exposed by the legal scholar Georg Jellinek in a lecture in Vienna on the right(s) of minorities, published in 1898 under the title “Das Recht der Minoritäten”, where Jellinek favored a system protecting (permanent) minorities by creating a parliamentary mechanism making impossible absolute majority decisions in cases of nationality conflicts. 84 This predicament 83 In the original German it reads better: “… daß jede Nationalität vor einer eventuellen Majo­ risierung geschützt werden sollte.” Václav Perek in a hearing before the Verwaltungsgerichtshof in Vienna in the “Hussowitz/Husovice” case on October 14, 1910; Perek’s statement is published in toto from the archival source in the Státni ústřední archiv (now Národní archiv) in Prague, Fonds Správní soudní dvůr ve Vídni [Administrative Court in Vienna] 1898–1918 (1919), carton 84, II/103/1909, in Stourzh, Gleichberechtigung, 306–310, here 307. 84 Vienna 1898. This booklet was translated between 1900 and 1912 into Polish, Russian, Czech and English! On Jellinek, see Gerald Stourzh,Verfassung und Verfassungswirklichkeit Altösterreichs in den Schriften Georg Jellineks, in: Stanley L. Paulson and Martin Schulte, eds., Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, 247–260, here 259. Between 1897 and

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was, of course, known in practice by the experience of ruthless exploitation of ethnic majority positions in the diets and the municipal and communal councils of Cisleithanian Austria. The “pacification by separation” principle did not work so badly on the parliamentary level, as even a quite critical analyst of the Moravian compromise, with reference to Jeremy King, has admitted.85 And a look to the neighboring “non-compromise” country, Bohemia, which was to lose its autonomous government by an unconstitutional coup of the imperial government in 1913, would suggest that Moravia may have been better off in the post-1905 period than Bohemia. This is not to deny that in Moravia, perhaps more than in Bohemia, there was a certain amount of “national flexibility” or “national pragmatism” among the population – not all of it voluntary, however, as will be shown shortly. And this is not to deny that the Moravian compromise had serious flaws, some of which will be pointed out below. The most significant feature of this compromise was the creation of two completely independent nets of constituencies, a German net and a Czech one, each one covering the whole province. In the Czech net of constituencies, Czech candidates to be elected to the Moravian Diet or to Parliament in Vienna, should be elected by Czech voters only, listed in a special electoral register containing the names of Czech voters. In the German net of constituencies, German candidates should be elected by German voters only, listed in the electoral register for German voters.These electoral registers were called “Wahlkataster”. Complications arose from the following provision.The local authorities were supposed to enter voters into either of the two registers according to their knowledge. The persons registered had the right to claim a transfer to the other national list, if they felt they had been put down in the wrong national register. But, more peculiarly, persons entered in one list also had the right to claim that other persons on the same list of whom they thought that they belonged to the other nationality, be transferred to the electoral register of the other nationality. Persons thinking that they had been registered in the wrong list had the right to appeal to the next higher government agency. The ultimate decision was not, however, the individual’s free declaration – as we have seen was the case earlier in Bohemia in 1880 – but the government’s finding. 1902, a whole spate of works on new methods of putting “national autonomy” into practice by separating territorial and national organisation appeared, the best known author being Karl Renner. See Stourzh, Gleichberechtigung 211–212. 85 Kelly, Last Best Chance or Last Gasp?, 300–301.



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It must be added that in the complicated system of various classes (“Kurien” in the official German) of diet membership, the class of great landowners and the two bishops of the province were excluded from the system of ethnic/national splitting. The small class or group of deputies elected by the two chambers of commerce of the province (6 persons) were free to elect either one of the two national groups in the diet. The deputies to be elected by the classes of urban communities, of rural communities and by a newly created class of “general electors” (without a taxation census as distinguished from the classes of the urban and rural communities) were elected on the basis of nationally separate constituencies and by nationally separate electorates. The employees of the autonomous administration in institutions having to deal with both nationalities were supposed to be appointed according to ethnic proportion as indicated by the linguistic census.86 The second grand area of “ethnicizing” innovations, in addition to electoral and parliamentary (diet) reform, was the educational system. Within it, three targets of reform have to be distinguished: first, a reform actually antedating the main compromise legislation of November, 1905 by ten months, concerning the rather specialized field of disciplinary action against teaching personnel; second, reform of the supervisory bodies of the schooling system, the socalled school boards, on the local, district, and provincial level; and third, new regulations for the language of instruction in elementary schools. In January 1905, new regulations for the disciplinary boards (Disziplinarsenate) entitled to take disciplinary action in case of misdemeanors by teachers were enacted. To ensure the ethnic/linguistic/national unity of the two disciplinary boards set up, a Czech and a German one, it was explicitly stated that a representative of the autonomous Moravian government in the senate “must belong” to the nationality in question; concerning the representative of the school board for the whole 86 Moravian law No. 1 of 1906 (amended “Landesordnung” – provincial constitution), § 32a: “… auf beide Nationalitäten nach der Zahl der Bevölkerung im Lande Rücksicht zu nehmen” – “to take account of both nationalities according to the number of the population of the Land.” Zahra, Kidnapped Souls, 6, sharply differentiates between language use and national loyalties or ethnicity; she rightly adds that the census asked about the “language of daily use” and deliberately refrained from questioning citizens about their nationality. Nevertheless, the tendency to turn, de facto, the language census into a declaration of ethnic/national “belonging” grew in the decades from 1880 to 1910 and ended in the decision of the Galician compromise of 1914 to use the census rather than special national registers as the basis of the settlement between Poles and Ruthenians/Ukrainians. Cf. Brix, Umgangssprache, 64–66, 114–115, 147 and more often. The provision of the Moravian compromise referred to is a little known step in that direction.

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of Moravia (Landesschulrat), it was stated that this person must be “a member [!] of the nationality in question” (“Mitglied der betreffenden Nationalität”). This was clear language indeed.87 Concerning the school boards, following the example of Bohemia, ethnically separate boards were set up on the local level, and again as in Bohemia as early as 1873, the representatives of the communes had to be adherents or members (“Angehörige”) of the nationality in question. The new district school boards had to include four representatives of school communes (Schulgemeinden) to be nominated by members of the provincial autonomous government (Landesaus­ schuss) “of the nationality in question”. For the city of Brünn/Brno, two separate district school boards were set up, a German and a Czech one. The school board for Moravia consisted of a Czech and a German section. The most controversial innovation dealt with the language of instruction in elementary schools. Based on the motive that children should not be alienated from their ethnic group, the compromise legislation settled the principle that children “as a rule” were to attend only those schools whose language of instruction they were speaking. The principle itself favored the Czech ethnic group, since it meant to prevent Czech parents from sending their children to German schools. This was the famous – or infamous – “lex Perek”, which now has found an excellent and detailed treatment in the English language in Tara Zahra’s book on “Kidnapped Souls”.88 The formula “as a rule” was an escape clause providing exceptions which were not defined – an escape clause de facto favoring German schools. Enrolment in German schools was assiduously and jealously watched by members of Czech school boards or Czechs active in nationalist organizations like the Národní rada česká, who wished to prevent Czech children to be alienated from the Czech nationality.89 The chief motive of Czech parents to send their children to German schools was the wish to

87 Bernatzik, ed., Verfassungsgesetze (see supra note 18), 994 (Moravian law No. 27 of 1905). 88 Zahra, Kidnapped Souls, 13–48 (ch.1, “Czech schools for Czech Children”). Tara Zahra refers to the “lex Perek” as paragraph 20 of the compromise. The compromise, however, was a bundle of four laws passed by the Moravian diet (laws No. 1 to 4 of 1906), each of which had a separate numbering, and the law containing the rule called the “lex Perek” (“Schulaufsichtsgesetz”, law regulating the control of the schooling system, Moravian law No. 4 of 1906) had two parts again with separate numbering. The “lex Perek” is § 20 of part II of the Schulaufsichtsgesetz. On the “lex Perek” and some of the important law cases deriving from it see already Stourzh, Gleichberechtigung, 215–222, as well as source materials from the State Archives in Prague edited there, 306–316. 89 This is amply documented in Zahra’s “Kidnapped Souls”.



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secure wider career chances;90 yet there were also cases of pressure exerted by German employers on Czech workers to send their children to German schools. This pressure was called “Kinderfang” – (“capturing children”) – a not very nice word employed for a phenomenon that was recognized and criticized not merely on the Czech side, but by German high officials or politicians as well, among them the governor of Moravia, Baron Karl Heinold, and the German-Moravian politician and publicist Alfred Fischel. According to the governor, “Kinderfang” seems to have been practiced particularly by the (large) textile enterprise of Hermann Brass91 in Northern Moravia as well as in the environs of Brno/Brünn.92 The government in Vienna was aware that the Moravian Compromise limited the right of parents to send children to the school of their choice, which was in principle provided by the Austrian Civil Code. The government justified the infringement on the Civil Code by Moravian law by the fact that the Moravian legislation was a compromise negotiated between the two nationalities of Moravia – a political recognition of “nationalities” as legally legitimized actors in public affairs.93 Out of the Moravian compromise legislation there arose numerous legal battles – court proceedings partly before the Imperial Court (Reichsgericht), partly and much more frequently before the Supreme Administrative Court in Vienna. Though I have dealt with some of these cases elsewhere,94 I would like to evoke here those court pronouncements which contributed most to the ongoing process of enlarging the “ethnic” dimensions of Austrian law and politics. I would like to make four points.

90 A “classic” example is the case of Johann Lehar, who strenuously yet unsuccessfully attempted to send his daughter Anna to a German school. I have dealt with this case in my book on “Gleichberechtigung”, including editing an important appeal by Lehar directed to the Verwaltungsgerichtshof in Vienna, taken from the Národní archiv in Prague. Stourzh, Gleichberechtigung, 228, note 112 and 311–316. Now see Zahra, Kidnapped Souls, 44–45. 91 Brass sat in the Moravian diet, as one of the deputies elected by the Chamber of Commerce of Olmütz/Olomouc, strongly attacked in 1909 by Czech deputies for the practices in his textile factory. Stourzh, Gleichberechtigung, 211, note 87. 92 Information contained in a letter by governor Heinold to the scholar and politician Josef Redlich in the summer of 1911; for more details see Stourzh, Gleichberechtigung, 211. Zahra, Kidnapped Souls, 46, touches only marginally the “victimization of parents by German overlords”, not mentioning the very strong condemnation of this practice by the German deputy Alfred Fischel in the very meeting cited on p. 46, note 95. 93 Stourzh, Gleichberechtigung, 221 and 315, note 4. 94 Stourzh, Gleichberechtigung, 12–16, 216–222, 226–228, 306–316; idem, Ethnic Attribution, 74–78.

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1. There occurred a reversal of the methods used to settle the question of ethnic “belonging” in cases of doubt. The declaration of the person in question had been, since the Budweis case of 1880/81 reported earlier in this paper, the definitive reply as to ethnic/national “belonging”(“Zugehörigkeit”). One contemporary author has said that one could speak, as it were, of a “Wahlnationalität” – elected nationality – in Austria.95 In October 1907 the Reichsgericht reversed this traditional method respecting the individual’s choice as criterion of last resort and held that in cases of doubt the investigations of the public authorities had to take account of “objective moments” – “sachliche Momente” – in addition and possibly in contradiction to the person’s declaration as to his nationality. This judgment was based on one of the Moravian compromise laws of 1905/06, which indeed provided a complicated procedure for investigations by the authorities in cases of doubt, the ultimate decision (by the governor – Statthalter) based on the finding of the investigating authorities.96 Though a considerable number of the justices of the ­Reichsgericht were of the opinion that a personal declaration should be the criterion of last resort, the great majority came to the conclusion that the wording of the Moravian law left no choice but to accept the ruling of the public authorities as definitive verdict.97 The reversal of the traditional “subjective principle” of settling questions of national belonging was now replaced by the “objective” method of the authorities’ obligation to decide on someone’s national belonging.98 The governor’s office (Statthalterei) in Moravia, in view of this judgment and prior to the parliamentary elections of 1911, issued questionnaires to be submitted by the subordinate authorities to persons of doubtful national belonging. The 95 Alfred von Skene, Der nationale Ausgleich in Mähren, Vienna 1910, 4. Quoted by the judge of the Verwaltungsgerichtshof Jaroslav Srb in a handwritten „Promemoria“ written in 1910 in connection with the case referred to below at note 103. 96 Moravian law No. 2 of 1906 (Landtagswahlordnung), § 32, §§ 67–73. Bernatzik, Verfassungsgesetze, 918, 934–937. 97 This case, arising out of contested nationality declarations in Brünn/Brno, had scurrilous, even grotesque aspects, since its origin was a “Trojan horse” operation of the Czech National Council, who managed to get some of its followers onto the German electoral register, where these persons had the opportunity to claim that around 3000 persons were (allegedly) falsely registered in the German rather than the Czech register. The governor’s office in Moravia, the “Statthalterei”, had not finally acted on these claims, and the Czech initiators, represented before the Reichsgericht by a Czech lawyer, won their case against the government. For details Stourzh, Gleichberechtigung, 226–228, and idem, Ethnic Attribution, 74–75. The judgment is published in: Sammlung der … Erkenntnisse des k. k. österreichischen Reichsgerichtes, ed. by Anton Hye von Glunek, continued by Karl Hugelmann, Vienna 1874 and following, Nr. 1531 (October 15, 1907). 98 On this contrast see already Steinacker, Volkszugehörigkeit, 36–49.



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questionnaire had nine questions, inquiring about the questioned person’s declaration of nationality, parents’ names and nationality, school attendance (whether Czech or German), language(s) used in the family and in social life, language “of daily use” (Umgangssprache) as indicated in the census of 1910, membership in German or Czech associations, activity in public life on national matters, school attendance of children, and finally “other factors” relevant to national attribution.99 Prying into people’s private lives is not too strong an expression for what the government was willing to do in Moravia. Almost identical questionnaires were also prepared a few months later for parents who wished to send their children to German schools, but whose liberty to do so was contested (as was legally possible) by local Czech school boards. To the nine questions just mentioned, two new questions were added – in which electoral register . Czech or German – had the father been registered for the parliamentary elections of 1911? And had his national attribution been challenged on that occasion?100 Eminent scholarly advocates of the older – liberal – method like Edmund Bernatzik bewailed the trend set in motion in direction of “snooping” by the state’s authorities or even worse, toward trials that would remind one of the heresy tribunals of the inquisition.101 It is ironic that the last ringing declaration of the older principle of individual choice was issued by the Supreme Administrative Court exactly one month after the Reichsgericht had for the first time enunciated the opposite principle of determination by the authorities.102 99 The questionnaire is quoted fully in Stourzh, Ethnic Attribution in Late Imperial Austria (above note 16), 75. The original text, both in German and Czech, including some explanations addressed to the district offices – Bezirkshauptmannschaften, is a document of the Moravian Statthalterei-Präsidium, Z. 2935 Praes., dated April 18, 1911. Österreichisches Staatsarchiv Vienna, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Mähren in genere, 18 A, Karton 4625, Ministerium f. Kultus und Unterricht, Zl. 33621 of July 29/30, 1911. 100 Zahra, Kidnapped Souls, 43–44, brings some interesting replies to the questionnaires on school attendance; the tendency seems to me to be mainly one of “national pragmatism”. 101 Bernatzik, Über nationale Matriken. Inaugurationsrede an der Universität Wien, Vienna 1910, 29–30. See also King, Budweisers, 143, and Zahra, Kidnapped Souls, 48. Earlier Stourzh, Gleichberechtigung, 208, note 58. It must be added that the “subjective” method favored the German nationality, the “objective” method the Czech one. 102 Judgment of November 14, 1907, case from Karolinenthal/Karlín, Bohemia, in: Erkenntnisse des k.k. Verwaltungsgerichtshofes, ed. by Adam Budwinski, Vienne 1878 following, Nr. 5492/A; see Stourzh, Gleichberechtigung, 207–208. The above mentioned case before the Reichs­gericht had been decided on October 15, 1907.

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But three years later, the Supreme Administrative Court had to reverse its traditional judicature completely. Based on the (new) Moravian compromise legislation, the Court now enunciated, in a case coming from the Moravian town of Trebitsch/ Třebíč and concerning the contested national adherence of several persons elected into a number of local school boards, the priority of “tangible signs” – “fassbare Merkmale” – of nationality rather than personal declarations of national membership. The court held that in cases of doubt about national belonging (“Zugehörigkeit”), “this attribution has to be determined by tangible signs”, and that it was admissible for this purpose to include in the evidence “activities in the private, social and public life which are credible and serious manifestations of national attribution”.103 The minutes of the confidential deliberations reveal the discussions in the five men senate.104 Under the presiding judge Truxa, about whom little is known, there were four exceptionally interesting members of the senate: Two wellknown legal scholars were among them, Rudolf von Herrnritt, author of a book on “Nationality and Law” (1899) who very much favored language as chief criterion for the determination of a person’s national belonging, and Friedrich Tezner, author of many widely known books on the constitutional order of the double monarchy,105 as well as two notably nationally-minded jurists, the Czech Jaroslav Srb and the German-Austrian Johann Baron Hiller-Schönaich. The judgment bears very much the handwriting of Jaroslav Srb, who among the members of the court was the most decisive champion of the “objective” method to settle the question of national attribution. He first wanted to write the need for “objective signs” to determine national belonging into the court’s opinion, Tezner suggested to replace the word “objective” (objectionable to the mostly pro-German advocates of the “subjective approach”) by the word “tangible” – “fassbar” – and so did the term “tangible signs” – “fassbare Merkmale” enter Austrian legal history, where it was to remain beyond the end of the Habsburg monarchy, with disastrous consequences after World War 103 Judgment of December 30, 1910, in: Budwinski, ed., Erkenntnisse, Nr. 7846/A. Stourzh, Gleichberechtigung, 217; case also discussed in: idem, Ethnic Attribution, 176–177. The extensive unpublished confidential deliberations of the Court as well as written proposals and statements by Srb and Hiller-Schönaich are in Národní archiv Prague, fonds Správni soudní dvůr ve Vídni 1898–1918 (1919), carton 85, No. 11.019. Copies are in possession of the author. 104 The Verwaltungsgerichtshof had cases decided by “senates” normally consisting of five judges, sometimes enlarged to seven judges. 105 I have written comments on Tezner’s views on the constitutional order of the Habsburg monarchy in my essay “Verfassungsbruch im Königreich Böhmen”, supra ch. 7, as well as in my study on “Der Dualismus 1867–1918”, (supra note 1), section 4, “Rechtsnatur und politische Struktur der Doppelmonarchie.Versuch einer politischen Phänomenologie”, 1225 and 1229.



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I for Jews from Galicia (ex-Austrian citizens) wishing after World War I to acquire the citizenship of the Republic of (German-)Austria.106 2. In a decision of December 1910 concerning the application of the “lex Perek” in Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště, the Verwaltungsgerichtshof judged that the local school boards of Moravia were instituted as “organs of national local units [“nationaler Lokalverbände”], which are called to present the legal claim of their nationality with the intent that the children appertaining according to law to the schools of this nationality may not be alienated from it.”107 This statement is probably one of the most important ones in the history of the ethnicizing process going on in Austrian law and Austrian politics since 1867. For the first time, the function of local school board members as representatives of an ethnic/national group was explicitly pronounced as part of Austrian law, though that role had implicitly been recognized since 1873, when for the first time local school boards (in Bohemia) were obligated to have among their members persons who belonged to the nationality for which the school to be supervised had been created.108 We know that among the members of the senate rendering judgment there was again Friedrich Tezner, who very much recommended the recognition of the local school boards as organs of the respective nationality. The institution of national – or more precisely nationally separate – local school boards in Moravia “has emerged from a national compromise and wanted to create organs entitled to raise claims for national rights.”109 Several years later and after the end of the Habsburg monarchy, 106 For this, see Stourzh, Ethnic Attribution, 76–77, 79–81. Kelly, Last Best Chance, 295, wrongly attributes to this article that I discuss there “in detail” consequences of administrarive data collected in connection with the determination of national membership like “ferreting out” Jews from Czech and German residents of Moravia after the Nazi takeover and after World War II locating German citizens for expulsion. I have written nothing about this, neither in the article cited by Kelly nor elsewhere. 107 Local school boards (Ortsschulräte) were instituted not merely as public authorities (Behörden) in a technical sense, but also “als Organe nationaler Lokalverbände …, die berufen sind, den Rechtsanspruch ihres Volksstammes in der Richtung zur Geltung zu bringen, dass die nach dem Gesetze den Schulen dieses Volksstammes zustehenden Kinder diesem nicht entzogen werden.” Decision of December 11, 1910, concerning application of the “lex Perek” in Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště published on December 30, 1910, in: Budwinski, ed., Sammlung …, No. 7843/A. 108 See above pp. 291–292. 109 The institution of national local school boards “sei aus einem nationalen Kompromisse hervorgegangen und habe Organe schaffen wollen zur Geltendmachung nationaler Rechte.” Tezner in a confidential deliberation of the senate on June 22, 1910. The minutes of the deliberations

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Tezner referred to the pronouncement of the Court in which he himself had actively taken part as a “daring construction” – which indeed it was.110 3. In the Trebitsch/Třebíč case mentioned above, the court had also ruled that the law setting up local school boards (within the Moravian compromise) had included the right to file complaints with the school boards of a higher level, the district school boards, in cases of the contested national belonging of local school board members. The Court held that the right to file complaints had been instituted in order to create “a sufficient guarantee for the real election of nationally-minded members of the local school board.” The important – and alarming – word is “nationally-minded” – “national empfindend”. This sentence goes back to Jaroslav Srb, who was himself a Czech nationally-minded member of the Verwaltungsge­ richtshof. In confidential papers written both by Srb and the German-Austrian judge Johann Hiller-Schönaich these two judges concurred heartily in extolling the importance of school board members who not merely belonged to the respective nationality, but who were “nationally-minded”. The expression had in fact been used in the deliberations of a committee of the Moravian diet preparing a national compromise as early as 1902. Judge Srb, in an extensive handwritten “Promemoria” in preparation of the decision in the Trebitsch/Třebíč case, referred to the 1902 discussions when anxiety was expressed that no sufficient guarantee existed for the “real election of nationally-minded members of the local school boards”.111 He inserted these words literally into the court decision of 1910. The affirmation by the Verwaltungsgerichtshof in 1910 concerning nationally-minded local school board members shows that nationalist thinking by 1910 had begun to penetrate one of the highest courts of Habsburg Austria. It illuminates the dangers inherent in proceedings (even informal ones) where candidates for that position might be tested for the strength and sincerity of their “national” convictions. It is, seen in retrospect, an alarm signal of worse things to come once a constitutional order with very strong ethnic elements, yet controlled by the constitutional principle of equal rights – “Gleichberechtigung” – would break down and give way which lasted over half a year are in the Národní archiv in Prague, fonds Správní soudni dvůr ve Vídni 189–1918 (1919), carton 82, No. 6727/1910. Copies of the court deliberations in possession of the author. 110 Friedrich Tezner, Die rechtsbildende Funktion der österreichischen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, II. Teil: Die Rechtsquellen des österreichischen Verwaltungsrechtes, Vienna 1925, 172. 111 „Promemoria“, part of the papers in the Národní archiv, see supra note 103.



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to the dominance of nationalist forces no longer under control of that principle. It is difficult, in retrospect, not to think of “ethnic cleansing” that was to ravage East Central Europe and South-eastern Europe during the course of the twentieth century. 4. Finally, the principle that children at elementary school level literally “belong” to a nationality, deduced from the “lex Perek” discussed above, has probably been the most terrible flaw of the Moravian compromise. It was embodied in one of the most important and controversial decisions of the Verwaltungsgerichtshof, the Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště case of December 1910, mentioned above in connection with the role of local school boards as “national organs”. The court held that the public elementary schools of Moravia had become schools for the respective nationalities. A child was to be enrolled in a particular school by virtue of being considered a member of that nationality for which the school served. Knowledge of the language of instruction of that school was taken by the court as “sign” – “Merkmal” – of the nationality of the child. The court literally spoke of the “right of each nationality of the land on its members”.112 This illustrates the very high level which the ethnicizing process had reached at least in one of the empire’s crownlands. The court was rather strict as to possible exceptions from the rule, much stricter than a decree of the Vienna Ministry of Public Instruction of 1907, which now had to be reconsidered.113 The court’s ruling strengthened the Czech position in the school issue and produced outrage on the German side, where the restriction on the freedom of parents to choose their childrens’ education was sharply criticized. The very rare, perhaps unique case happened that the presiding judge, Rudolf von Alter, felt called to justify the court’s decision in an article in a prominent newspaper.114 The legal battles around the lex Perek, on its rule and the exceptions to the rule went on for years; they and the loopholes open for parents wishing bilingual education have been described very expertly and in detail in Tara Zahra’s recent book.115 I briefly turn to three additional “national compromises”, though only one of these was put into practice. Very soon after the Moravian compromise was settled, talks began in the city of 112 Das Recht “jedes Volksstammes des Landes auf seine Angehörigen”. Budwinski, Sammlung, Decision No. 7843/A. 113 Cf. Zahra, Kidnapped Souls, 38. 114 On the exchange of articles in the “Neue Freie Presse” between the Moravian deputy Johann Jarolim and Alter see Stourzh, Gleichberechtigung, 221, and now also Zahra, Kidnapped Souls, 38–39. 115 Zahra, Kidnapped Souls, 39–48.

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Budweis/Budějovice on a local national compromise.116 Negotiations between local representatives of both nationalities, time and again enlarged by the participation of the Cisleithanian/Austrian government in Vienna, finally led by 1913 to an agreed text which was unanimously accepted by the municipal council of Budweis in February 1914. The moderate stance of the Czech leader in the negotiations, August Zátka, merits special consideration.117Various factors, including the repeal of the Bohemian constitution in July 1913118 and above all the outbreak of World War I, which led to radically changing perspectives on domestic developments, prevented the enactment of the compromise text, drafted in the form of three bills to be passed by the Bohemian diet or possibly in the absence of a functioning diet by imperial decree. Following the Moravian example, the population was to be divided into two ethnic/national units by registration in national registers. The decision of individuals was, however, more strongly respected in the Budweis texts than in the Moravian model. As different from Moravia, the ethnic/national sections of the municipal council were entitled to obtain financial means for the benefit of their own ethnic/national community by way of charging an additional amount up to ten percent of municipal taxes. The school question was also dealt with following the Moravian model, and inspite some criticism of the “lex Perek” on the grounds that it produced considerable psychological damage to young children, a rule analogous to the “lex Perek” crept into the final text. The Budweis compromise plans found considerable attention elsewhere in the Bohemian lands; particularly the Czech minority in Olmütz/Olomouc in Moravia seems to have looked at the Budweis provisions as a model for their own town.119 In the Bukovina, Austria’s easternmost crownland, a compromise settlement was achieved in 1909/10 and put into practice. The Bukovina was inhabited by Rumanians, Ukrainians, Germans, Poles – and Jews. Jews were according to the 1910 census 12,86 % of the population of the Bukovina; more than 90 % of this group indicated German as language of everyday use. This means that German was the preferred language of assimilation for an originally Yiddish-speaking population. There was a certain balance among the population groups – 38 % Ukrain116 Detailed research and descriptions of the negotiations have been presented by Emil Brix, Der Böhmische Ausgleich in Budweis, in: Österreichische Osthefte, vol. 24, 1982, 226–248, and King, Budweisers, 137–147, 150–152. 117 Brix, Ausgleich, 236–237, and King, 137–140, 143–146. 118 See Gerald Stourzh,Verfassungsbruch im Königreich Böhmen, in this volume supra ch. 7. 119 Brix, Ausgleich, 238.



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ian, 34% Rumanian; among the 21 % German-speaking people more than half Jewish, and about 5 % Polish. This rather balanced situation favored compromise negotiations according to the Moravian example.The provincial diet worked out a compromise proposal that for the first and only time in Austria recognized the Jews as an ethnic group/nationality; thus, a separate national electoral register for the Jewish population was envisaged. However, the government in Vienna vetoed the proposals coming from the Bukovina. In Vienna, assimilationist Jewish organizations, presenting the great majority of Jews living in the western part of Austria, were afraid of the Jews being proclaimed an ethnic group of their own – they feared, not without reason, anti-Semitic reactions, the possible separation of Jewish and non-Jewish pupils in schools etc. Thus a new compromise was worked out which did not mention the Jews as a separate entity. The Jews were counted among the German group, yet constituencies and the number of deputies per constituency were construed in such an adroit way that normally non-Jewish Germans would be able to elect non-Jewish Germans, and the Jews would be able to elect Jewish deputies. The diet of the Bukovina had to accept this settlement, yet it affirmed in a resolution its recognition of the Jews of the Bukovina as a “Volks­ stamm” – an ethnic entity of its own – a unique event in Austrian history.120 Four years later in 1914, a compromise between Poles and Ukrainians was worked out for Galicia, on a somewhat different basis. There would be a system of double constituencies following the Moravian (and Bukovinian) example for the eastern part of Galicia. However, there would be no special electoral registers; ethnic/national attribution would follow the language census in combination with the religious census as far as the Jews were concerned: The more prosperous segments of the Jewish electorate were assured of a special representation. The Galician settlement obtained imperial approval on July 8, 1914, yet in view of the outbreak of the war, the Galician compromise was never applied in practice.121 120 An excellent study on the Bukovina compromise was written by the late British historian John Leslie: Der Ausgleich in der Bukowina von 1910: Zur österreichischen Nationalitätenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, in: Emil Brix, Thomas Fröschl, Josef Leidenfrost, eds., Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung. Gerald Stourzh zum 60. Geburtstag, Graz 1991, 113–144. On the Jewish question in connection with national autonomy see also: Gerald Stourzh, Galten die Juden als Nationalität Altösterreichs? In: Anna Drabek, Mordechai Eliav, Gerald Stourzh, eds., Prag-Czernowitz-Jerusalem (= Studia Judaica Austriaca vol. 10), Eisenstadt 1984, 73–117. 121 On the Galician compromise, see Stourzh, Gleichberechtigung 238–240, and in great detail, Stanislaus Ritter von Starzyński, Eine neue Konstruktion der Minoritätenvertretung, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, vol. 3, 1918, 419–433.

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To come to conclusions: “National autonomy” was the last hope of political and constitutional reform in late imperial Austria in the early 20th century up to 1918.122 The new emphasis on the “Volksstämme”, the nationalities, tended to deemphasize the position of the state and also of the historically grown provinces, the Länder. In 1917, Karl Renner, social democratic politician and an important theoretician of reform along the lines of national autonomy, put this well in a speech in Parliament: “The nation today has assumed the position of the ‘Land’.” The nation, of course, here referred to the ethnic entities, the nationalities of the empire. Austria needed a constitution, Renner added, that would invest the nations with the position of the bearers of the empire.123 And indeed, along these lines the last announcement of fundamental reform, the manifesto issued by Emperor Charles in mid-October 1918, promising the transformation of Austria – not of Hungary! – into a federal state of nationalities, followed these lines of thought. But it was too late.124 One consequence of the ethnicizing process in late imperial Austria is even more important than the trend of replacing the historical Länder by ethnically defined entities. I mean the consequence for individual human beings, because that consequence became most effective after the end of the Habsburg monarchy. The ethnicizing process tended to deemphasize the position of individual persons as citizens, as “Staatsbürger”, as citizens with equal rights - “gleichberechtigte Staatsbürger”. Instead, the individual’s position as member of an ethnically defined unity, alternatively called “nationality”, “Nation” or “Volk” became more important. 122 In 1905, an association („Verein“) with the name of “National Autonomy” was founded in Vienna. At the constituent meeting, as interesting personalities as Thomas Masaryk, Karl Renner, the Jewish advocate of diaspora nationalism and the revival of Jiddish, Nathan Birnbaum, the Rumanian reform politician Aurel von Onciul from the Bukovina, the Czech writer Jan Machar, the liberal historian Richard Charmatz and the economist and journalist Friedrich Hertz gathered together. For a short while, the association published a periodical, „Der Weg“, edited by Friedrich Hertz. See Salomon Birnbaum, Nathan Birnbaum and National Autonomy, in: Joseph Fraenkel, The Jews of Austria, London 1967, 131–146, here 132. 123 Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses des Reichsrats, 7. Sitzung der XXII. Session, June 15, 1917, 338. For the full text in German, see above ch. 5, Die dualistische Reichsstruktur, Österreichbegriff und Österreichbewusstsein 1867–1918, 121. 124 Supplementing the monograph by Helmut Rumpler, Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918, Vienna 1966, new source materials on the origins of the manifesto have been supplied in: Peter Broucek, ed., Theodor Ritter von Zeynek: Ein Offizier im Generalstabskorps erinnert sich, Vienna etc. 2009, 321–328 (extracts from the unpublished memoirs of Johann A. Baron Eichhoff).



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Austria in 1867 had proclaimed the equal rights of all citizens. But increasingly, ethnic or national “belonging”, ethnic or national “attribution” or “ascription”, ethnic or national “membership”, stepped into the foreground. The time would come, 1933 in Germany and 1938 in Austria, when ethnic membership would break the barriers of equal citizenship. The member of the “Volk”, the “Volksgenosse” in the new vocabulary of racial superiority, replaced the citizen with equal rights, and we all know the dreadful consequences for those who were to be denied membership in the ruling ethnos.

Textnachweis (Erstveröffentlichungen) Der Umfang der österreichischen Geschichte, in: Herwig Wolfram/Walter Pohl, Hg., Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Deutung, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien 1991, 3–27. – Länderautonomie und Gesamtstaat in Österreich 1848–1918, in: Bericht über den neunzehnten österreichischen Historikertag in Graz, Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine Bd. 28, Wien 1993, 38–59. – Die Grundrechte in der Paulskirche und im Kremsierer Reichstag: Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Rezeptionen, in: Martin Kirsch/Pierangelo Schiera, Hg., Verfassungswandel um 1848 im europäischen Vergleich, Duncker & Humblot Berlin 2001, 269–283. – Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in der Entwicklung des österreichischen Verfassungsstaats 1848–1918, in: Anna Gianna Manca/Luigi Lacchè, Hg., Parlamento e Costituzione nei sistemi costituzionali europei ottocenteschi – Parlament und Verfassung in den konstitutionellen Verfassungssystemen Europas (= Contributi/Beiträge 13 des Jahrbuchs des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient), Il Mulino, Bologna/Duncker & Humblot Berlin 2003, 29–48. – Die dualistische Reichsstruktur, Österreichbegriff und Österreichbewusstsein 1867–1918, in: Helmut Rumpler, Hg., Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71–1914, Verlag für Geschichte und Politik/Oldenbourg Verlag München 1991, 53–68. – „Aus der Mappe meines Urgroßvaters“. Eine mährische Juristenlaufbahn im 19. Jahrhundert, in: Horst Haselsteiner, Emilia Hrabovec, Arnold Suppan, Hg., Zeiten Wende Zeiten; Festgabe für Richard Georg Plaschka zum 75. Geburtstag, Peter Lang Verlag Frankfurt/Main 2000, 149–160. – Verfassungsbruch im Königreich Böhmen: Ein unbekanntes Kapitel zur Geschichte des richterlichen Prüfungsrechts im alten Österreich, in: B. Ch. Funk, H.R. Klecatsky, E. Loebenstein, W. Mantl, K. Ringhofer, Hg., Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels. Festschrift für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag, Springer Verlag Wien/ New York 1992, 675–690. – Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechtsdemokratie – Die historischen Wurzeln, in: 70 Jahre Bundesverfassung. Herausgegeben vom Verfassungsgerichtshof der Republik Österreich, Wien 1991, 17–39. – Die Außenpolitik der österreichischen Bundesregierung gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung, in: Gerald Stourzh/Birgitta Zaar, Hg., Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses“



Textnachweis 325

vom März 1938,Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien 1990, 319–346. – Die Entstehungsgeschichte des österreichischen Neutralitätsgesetzes, in: Thomas Olechowski, Hg., Fünfzig Jahre Staatsvertrag und Neutralität, WUV Universitätsverlag Wien 2006, 67–93. – Jean Rudolf von Salis – ein Grenzgänger, in: Pierre Ducrey/Hans Ulrich Jost, Hg., Jean Rudolf von Salis, die Intellektuellen und die Schweiz, Chronos Verlag Zürich 2003, 113–129. – Angelo Ara und die österreichische Geschichte, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen Historischen Instituts in Trient, Bd. 32, 2006 (Bologna 2007), 381–401. – „Die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, in: Hedwig Kopetz/Joseph Marko/Klaus Poier, Hg., Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat (Festschrift zum 65. Geburtstag von Wolfgang Mantl), Verlag Böhlau Wien/Köln/Graz 2004, 183–196. – The Ethnicizing of Politics and „National Indifference“ in Late Imperial Austria: Erstveröffentlichung in diesem Band. Allen Personen und Institutionen, die liebenswürdigerweise die Nachdruckgenehmigungen erteilt haben, sei hiermit herzlich gedankt. G. S.

Personenregister (Entsprechend dem Akademiewerk „Die Habsburgermonarchie 1848–1918“ werden im Personenregister keine Adelstitel oder akademischen Titel angezeigt. Personennamen im Anmerkungsteil, die sich unkommentiert ausschließlich auf bibliographische Angaben und Hinweise beziehen, sind im Register nicht enthalten) Ableitinger, Alfred 13, 288 Adámek, Karl 148 Adamovich, Ludwig (sen.) 175 Adler, Friedrich 212 Adorno, Theodor 282 Ahrens, Heinrich 70 Alter, Rudolf 319 Anderle, Franz 125–137, 301, 305 Anderle, Franz (jun.) 131 Anderle, Johann 128 Anderle, Marianne 125 Anderle, Nikolaus 125 Anderle, Sophie 131 Anderle, Wenzel 125 Anderson, Benedict 303 Andrian, Viktor 44, 47, 49 Angerer, Thomas 199 Apor, Gábor 193 Ara, Angelo 267 Ara, Angelo (Enkel des Vorigen) 249– 268, 299 Ara, Camillo 250, 266 Ara, Eugenio 266 Ara, Francesca 250 Ara, Marcella 250 Ara, Nicoletta 250 Arneth, Alfred 18, 109 Auersperg, Karl 110 Bacquehem, Olivier 140 Badeni, Kasimir 93, 118, 155, 254

Balbo, Cesare 259 Balzer, Oswald 19, 22–23, 118 Bariéty, Jacques 199 Bauer, Otto 23, 184, 185–186, 196 Bauer, Wilhelm, 195 Bäumer, Gertrud 279 Beck, Józef 194 Beck, Max Vladimir 62 Benedikt, Heinrich 224 Beneš, Edvard 181–182, 204 Berchtold, Leopold 264 Berger-Waldenegg, Egon 190–191 Bernatzik, Edmund 21, 61, 63, 90, 92, 97, 113, 120, 122, 146, 152, 315 Bernstein, Eduard 276–277 Berr, Henri 236 Beseler, Georg 69, 70, 72, 78 Bethmann Hollweg, Theobald 197 Beust, Friedrich 52, 106,109, 111 Bidermann, Hermann Ignaz 17 Bielka, Erich 192 Birnbaum, Nathan 121, 322 Birrer, Sybille 238 Bischoff, Norbert 183, 261 Bismarck, Otto 110, 120, 142, 169, 197 Bloch, Marc 236 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 86 Böhm, Anton 195 Boldt, Hans 25 Börnstein, Heinrich 40 Botz, Gerhard 15, 31–32, 208, 209



Personenregister 327

Brass, Hermann 313 Brauneder, Wilhelm 61 Brix, Emil 288, 298, 299, 320 Brizić, Katharina 306 Brockhausen, Carl 54, 61 Brubaker, Rogers 297, 303, 305 Bruckmüller, Ernst 194 Brunner, Otto 15, 23–26, 29, 36, 37, 85 Bryce, James 87 Bullitt, William 200 Bülow, Bernhard 197 Burckhardt, Carl, 241 Burckhardt, Jakob 237, 241 Burdeau, Georges 166 Burger, Hannelore 299 Call, Friedrich 152–153 Canetti, Elias 266, 267 Carr, Edward, 189 Carré de Malberg, Raymond, 166 Carsten, Francis 209 Cattaneo, Carlo 265 Cerutti, (Botschafter) 184 Chabod, Federico 249 Chaloupka, Franz (František) 148 Chamberlain, Neville 197, 198 Charfield, Ernle 197 Charmatz, Richard 121, 322 Chlumecky, Johann 96 Chmel, Joseph 16 Ciano, Galeazzo 261 Cohen, Gary B. 286, 298 Conze, Werner 32 Coronini, Franz 95, 96 Corrias, Angelino 261–262 Coudenhove-Kalergi, Richard 195 Croce, Benedetto 249 Csáky, Moritz 29, 299

Csokor, Franz Theodor 19 Dahlmann, Friedrich 76 Dann, Otto 72, 78 Deák, Franz (Férenc) 106, 110 Delbos, Yvon 200–201 Delbrück, Hans 237 Di Stefano, Mario 261 Dicey, Albert V. 161 Dingelstedt, Franz, 84 Diószegi, István 117 Dollfuß, Engelbert 183, 184–186, 188, 194, 196, 200, 201, 257, 261 Döllinger, Ignaz 82 Dopsch, Alphons 26 Drabek, Anna Maria 135 Droysen, Johann Gustav 72, 76 Dubois-Reymond, Emil 234 Dulles, John Foster 211, 214, 215, 227, 228 Dürrenmatt, Friedrich 240–241, 246 Dvořák, Johann, 148 Eden, Anthony 197, 204 Egger, Franz 76 Eichhoff, Johann Andreas 99–100, 150 Eichstädt, Ulrich 206 Einem, Gottfried 246 Eisenhower, Dwight D. 214 Eisenmann, Charles 172 Eisenmann, Louis 117 Engels, Friedrich 275 Eötvös, Josef (József ) 38, 50, 105–106, 165 Erasmus von Rotterdam 241 Erdmann, Karl Dietrich 32, 33 Esser, Hermann 152 Etter, Philipp 245 Evans, Robert J.W., 27

328 Personenregister

Falser, Stephan 141, 142, 143, 144 Febvre, Lucien 236 Feistmantel, Karl 152 Fellner, Fritz 22, 25, 32–33, 50 Fellner, Günther 24 Ferdinand I., röm.-deutscher Kaiser 17 Fichte, Johann Gottlieb 271–281 Fiedler, Jan 146 Fierlinger, Zdeněk 204 Figl, Leopold 212, 217, 220, 262 Fikentscher, Wolfgang 72, 160 Fink, Jodok, 61, 66 Fischel, Alfred 313 Formanek, Alois 292 Fraenkel, Ernst 281 Franckenstein, Georg 197 François-Poncet, André 199 Frankfurter, Albert 249 Frankfurter-Caputo, Magda 249 Franz II./I., röm.-deutscher bzw. österr. Kaiser 16 Franz Joseph I., österr. Kaiser 19, 49, 78, 88, 102, 109, 110, 118, 119, 139, 288 Franz Ferdinand, Erzherzog 103 Freud, Sigmund 195 Fritsch, Gerhard 36 Frodl, Maria 136 Fueter, Eduard, 235, 237 Funder, Friedrich 188, 191 Furet, François 69 Fustel de Coulanges, Numa Denis, 254 Fux, Johann 92 Gammerl, Benno 295 Gazzoletti, Antonio, 80 Gebhardt, Carl 278, 279 Gehler, Michael 230 Gellner, Ernest 303

George VI, (englischer) König 197 Gide, André 237 Gindely, Anton (Antonín) 301 Giskra, Karl 90 Glettler, Monika 56 Goldmark, Josef 82 Gömbös, Gyula 184, 205 Göring, Hermann 206, 209 Gortschakow, Alexander 110–111 Grabmayr, Karl 152–153 Grimm, Dieter 163 Gruber, Karl 211–212 Gschnitzer, Franz 226–227 Habsburg, Otto 203–204, 207 Hafner, Gerhard 229 Hageneder, Othmar 25 Halatschka, Anton 136 Halifax, Irwin 197, 198 Hamann, Günther 245–246 Hammer-Purgstall, Joseph 16, 306 Hanák, Péter 118, 119, 299, 302 Haňel, Jaromir 23 Hanisch, Ernst 15, 33–34, 39, 209 Hantsch, Hugo 11, 24, 264 Hart, Herbert L. A. 70 Hartmann, Eduard, 228 Haselsteiner, Horst 119 Haslinger, Peter 299 Hasner, Leopold 110 Hassell, Ulrich 189 Havránek, Jan 301 Heer, Friedrich 194 Heffter, Heinrich 49 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 271, 280 Hein, Franz 76, 77, 78, 82 Heindl, Waltraud 76



Personenregister 329

Heinold, Karl 313 Helczmanovszky, Heimold 34 Helfert, Josef Alexander 15–16, 19, 22–23, 113 Heller, Hermann 280–281 Henderson, Nevile 207 Herrmann, František, 140 Herrnritt, Rudolf 54–55, 123–124, 308, 316 Hertz, Friedrich 121, 322 Hesse, Hermann 247 Hesse, Konrad 101 Hildebrand, Klaus 185, 197 Hiller-Schönaich, Johann 122, 141, 144– 145, 316, 318 Hitler, Adolf 181, 183, 184, 187, 185–187, 189, 190, 197, 198, 199, 201, 204, 205, 207, 209, 257 Hoare, Samuel 188–189 Hobsbawm, Eric 303 Hochwälder, Fritz 245, 246 Hock, Carl 65 Hock, Paul 65–66 Hödl, Günter 27–28 Hodža, Milan 203 Hoffmeister, böhm. Landesadvokat 129 Holtmann, Everhard 202 Hornbostel, Theodor 192–193, 194 Horsky, Franz 127–129 Horthy, Nikolaus (Miklós) 190, 206 Hroch, Miroslav 303 Huber, Alfons 17 Huber, Ernst Rudolf 86 Hugelmann, Karl 51, 55 Huizinga, Johan 11, 12 Humboldt, Wilhelm 235 Hurdes, Felix 221, 245 Hye, Anton 171

Iljitschow, Iwan I., 220 Iredell, James, 164 Jagič, Vatroslav 118 Jarolim, Johann 319 Jászi, Oszkár 297 Jellinek, Georg 61, 87, 91, 101, 124, 309 Johannes XXIII., Papst 267 Joseph II., röm.-deutscher Kaiser 263 Judson, Pieter 291, 296, 302, 307 Jurinac, Sena 248 Kádár, János 264 Kafka, Gustav E. 158 Kann, Robert A. 284, 299 Kant, Immanuel 271, 278 Karl I., österr. Kaiser 122, 322 Karl VI., röm.-deutscher Kaiser 263 Kaučič (Kautschitsch), Mathias 46 Kelly, T. Mills 310, 317 Kelsen, Hans 65, 66, 78, 83, 96–97, 100, 146, 150, 158, 168, 170, 171–177, 179, 217 Kerekes, Lajos 183, 190 King, Jeremy 285, 296, 297–298, 300, 304, 305, 307–308, 310, 320 Kirchschläger, Rudolf 176 Klabouch, Jiří 48 Klahr, Alfred 195 Klemperer, Klemens 257 Kleyle, Karl 43–44, 47, 54 Klippel, Diethelm 72 Kneucker, Raoul 170 Koerber, Ernest 288 Köfner, Gottfried 67 Koplenig, Johann 221 Kopp, Josef, 155 Kořalka, Jiří 299

330 Personenregister

Körber, Robert 269 Koref, Ernst 228 Körner, Theodor 211–212, 215 Kraupa (Amtmann) 130 Kraus, Herbert 221 Krauss, Werner 247 Kreisky, Bruno 217, 247, 262 Křen, Jan 295–296, 299. Kristóffy, József 22 Krofta, Kamil 203 Krones, Franz 17 Krousky, Ottokar 154 Kübeck, Karl 44 Kubiczek, Maria (verehel. Anderle) 128 Kudrnač, František, 140, 141, 144 Kühne, Jörg-Detlev 73, 82, 83 Labriola, Arturo 260 Lalouette, Roger 219 Lamp, Karl 39 Lanna, Adalbert (Vojtěch) 300 Lansing, Robert 258 Lassalle, Ferdinand, 158, 274–276 Lasser, Josef 46 Laun, Rudolf 58 Laval, Pierre 188–189 Lehar, Anna 313 Lehar, Johann 313 Lehne, Friedrich 83, 165 Leibholz, Gerhard 74, 278–279, 280 Lette, Wilhelm Adolf 75, 78 Lhotsky, Alphons 15, 16, 20, 26–28, 30 Liechtenstein, Alois 130 Lobkowitz, Ferdinand 139 Locke, John 165 Loebenstein, Edwin 215, 223, 227 Low, Alfred 193 Ludwig der Grosse, (ungar.) König 106

Lueger, Karl 118 Lukas, Josef 295 Luschin, Arnold 19, 23 Luther, Martin 271 Lüthy, Herbert 236, 238, 239, 241 Lutz, Heinrich 32–33, 262, 265 Machar, Jan 121, 305, 322 Magris, Claudio 249, 256, 257, 264, 267 Mahler, Gustav 130 Maleta, Alfred 221 Mann, Golo 239 Mann, Thomas 241 Mannheim, Karl 233 Mantl, Wolfgang 75, 78, 159, 280, 281 Marcic, René 165 Mareck, Titus 70 Marin, Falco 256 Marshall, John 162 Martinek, Jutta 62 Martini, Carl Anton 76 Marx, Karl 275 Masaryk, Thomas (Tomáš) Garrigue 121, 322 Maximilian I., röm.-deutscher Kaiser 26 Mayer, Franz Martin 17 Mayer, Kajetan 46–47, 78 Mazohl, Brigitte 35 Mazzini, Giuseppe 259 Meinecke, Friedrich 11, 235, 237, 243, 273, 276 Melichar, Erwin 170 Mendelssohn (Bankhaus Mendelssohn u. Co.) 157 Merkl, Adolf 171 Metternich, Clemens Lothar 243, 255 Metzger, Wilhelm 280 Meyer, Conrad Ferdinand 232



Personenregister 331

Miklas, Wilhelm 208 Mischler, Ernst 61, 62 Missong, Alfred 195 Mohl, Robert 76 Molotow, Wjatscheslaw 214 Mommsen, Theodor 79, 118, 173, 240, 242 Montaigne, Michel 241 Moser, Berthold 227 Mosse, Werner E. 123 Motta, Giuseppe 238 Mout, Nicolette 283 Mühlfeld, Eugen 76 Müller, Friedrich 271 Musil, Robert 19, 119 Mussolini, Benito 183, 186–187, 188–191, 192, 207, 260–261 Namier, Lewis 80 Napoleon I., franz. Kaiser 235 Neisser, Johanna 130 Němec, Wenzel (Václav) 148 Neustädter-Stürmer, Odo 187–188 Nitschke, August 11 Nowotny, Wenzel (Václav) 135 Ofner, Julius 53, 61 Onciul, Aurel 121, 322 Otto III., röm.-deutscher Kaiser 14 Palacký, Franz (František) 42, 46, 47, 78 Pantůček, Ferdinand 141, 143 Papen, Franz 184 Pattai, Robert 152 Pekař, Josef 118 Pelser, Karl 151–152 Perek, Václav 309, 312 Pernthaler, Peter 66

Petersen, Jens 184, 187 Pflügl, Emmerich, 191 Pillersdorf, Franz 88 Pilsudski, Józef 194 Piniński, Leo 151, 153 Pinkas, Ladislaus (Ladislav) 148 Pirjevec, Jože 256 Pitamic, Leonidas 171 Pittermann, Bruno 221 Pius XI., Papst 188 Plaschka, Richard Georg 125, 137, 299 Plener, Ernst 117 Plener, Ignaz 93, 117 Popelka, August 140 Popovici, Aurel 113 Proksch, Alfred 184 Puaux, Gabriel 191, 198–199, 203, 204 Purkyně, Jan Evangelista 306 Puttkamer, Joachim 287 Quarthal, Franz 30 Raab, Julius 211–212, 213, 214, 220, 225, 226, 228, 229 Radbruch, Gustav 84 Ramm, Thilo 277 Randa, Anton (Antonín) 151–153 Ranke, Leopold 240 Rath, R. John 262, 264 Rechbauer, Karl 95 Redlich, Josef 42, 47, 48, 49, 58–59, 65, 313 Renan, Ernest 254 Renner, Karl 55, 65–67, 121, 124, 171–172, 185, 201, 211–212, 310, 322 Renouvin, Pierre 236 Reynold, Gonzague 241 Riccabona, Max 244

332 Personenregister

Rieger, Bohuš 23 Rieger, František Ladislav 74, 75, 76, 77, 78 Rilke, Rainer Maria 231, 234, 236–237, 238 Rivero, Jean 166, 167 Roller Johann 130 Roller, Alfred 130 Rossier, Edmond 237 Roth, Joseph 19 Rotteck, Carl 44 Rousseau, Jean-Jacques 85, 87 Rudolf, Kronprinz 301 Rumpler, Helmut 299 Salis, Jean Rudolf 231–248 Salis, Louis Rudolf 232 Salis, Meta 232 Salis, Nikolaus 232 Salis-Marschlins, Ulysses 233–234 Salis-Soglio, Daniel 247 Salomon, Anton J. 154 Salvemini, Gaetano 259–260 Scarman, Leslie 163 Schärf, Adolf 175, 211–212, 220, 225 Schauer, (Dechant) 129 Schausberger, Norbert 207 Schickler (Bankhaus Gebrüder Schickler) 157 Schmale, Wolfgang 69 Schmerling, Anton 50, 53 Schmidt, Guido 193, 197, 206 Schmitt, Carl 269–270, 281 Schmitz, Georg 67 Schmitz, Richard, 202 Schneider, Reinhold 247 Schober, Johann 183 Schönborn, Adalbert 148

Schönborn, Friedrich 95 Schöner, Josef 217 Schorske, Carl 118 Schraffl, Josef 65 Schüller, Ludwig 56, 296 Schullern, Antonia.136 Schuschnigg, Kurt 187, 188, 190, 192 193, 194, 195–196, 198, 199, 200, 201–203, 204, 207–208, 257, 261 Schwarzenberg, Felix 48, 78 Schwarzenberg, Friedrich 287 Seefried, Irmgard 248 Seignobos, Charles 236, 237 Seipel, Ignaz 67, 183, 195, 201 Sepp, Johann Nepomuk 82 Sestan, Ernesto 249, 262–263 Sever, Albert 174 Seyss-Inquart, Arthur 205 Siemann, Wolfram 73, 76 Sieyes, Emmanuel 85, 87, 167 Simon, John 189 Sinzheimer, Hugo 80 Sismondi, Jean-Charles-Léonard, 235– 236,238, 239 Slapnicka, Helmut 45 Smetana, Friedrich (Bedřich) 127 Smolka, Franz (Franciszek) 93, 95, 98 Sonnenfels, Joseph 76 Spaini, Alberto 256 Spann, Othmar 270–271, 272 Spatz, Carl A. 75 Speier, Hans 277 Spiegel, Ludwig 39 Springer, Anton 48 Spühler, Willy 242 Srb, Jaroslav 122, 141, 144–145, 148, 314, 316, 318 Srb, Vladimir 148, 150



Personenregister 333

Srbik, Heinrich 23–24, 30, 243 Stadion, Franz 44, 48, 53 Stadler, Peter 235 De Staël, Germaine, 235 Stahl, Friedrich Julius 75 Stalin, Josef 213–214 Starck, Christian 160 Starhemberg, Rüdiger 190–192, 257 Starzyński, Stanislaus 53, 152–153 Staschek, Florus 127 Staudinger, Anton 194 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom 44 Steinacker, Wolfgang 293 Steiner, Ludwig 212 Stendebach, Max 228 Stern, Klaus 160, 165 Sternberger, Dolf 176 Stifter, Adalbert 125 Stillfried, Alphons 195 Strauss, Richard 130 Stresemann, Gustav 197 Struve, Gustav 77 Stuhlpfarrer, Karl 206 Stürgkh, Karl 149 Sturm, Eduard 98 Sturmberger, Hans 41 Sutter, Berthold 107, 114, 118 Suvich, Fulvio 184, 261 Szécsen, Anton (Antal) 49 Széll, Kálmán 284 Tandler, Julius 131 Tezner, Friedrich 40, 58, 102, 113, 115, 116, 145–147, 155, 316, 317–318 Thompson, Llewellyn 220 Tocqueville, Alexis 44 Tomažič, Pinko 256 Tončić, Lujo 221

Troeltsch, Ernst 235, 237 Turba, Gustav 21 Uhlirz, Mathilde 24 Urban, Otto 299 Urbanitsch, Peter 99, 302 Vacano, Emil 78 Valéry, Paul 237 Valiani, Leo 262, 263–264 Valsecci, Franco, 262, 264 Vansittart, Robert 189, 197 Verdroß, Alfred 171 Verosta, Stephan 27, 217, 219, 223–224, 227 Vilfan, Sergij 299 Violand, Ernst 76 Voltelini, Hans 15, 18–23 Vorländer, Karl 277, 281 Wahl, Rainer 160 Waldeck, Benedikt 71 Walesrode, Ludwig 275 Walter, Robert 97, 146 Wandruszka, Adam 12, 15, 30, 262, 264–265 Washington, George 164 Wasserböck, Erwin 184 Weber, Alfred 233 Weinberg, Gerhard 181, 207 Weiss-Starkenfels, Viktor, 141, 142, 144 Welan, Manfried 171, 174 Weyr, František 171 Wieser, Friedrich 103 Wigram, Ralph 197 Wildmann, Karl 217 Wildner, Heinrich 217 Wilson, Woodrow 258

334 Personenregister

Winkelbauer, Thomas 299 Winter, Ernst Karl 186, 195 Wodianer, Andor 193 Wolfram, Herwig 12, 13, 14, 28 Wotruba, Fritz 238, 245 Wotruba, Marian 245 Wunderly-Volkart, Nanny 231 Zahra, Tara 285, 296, 298–299, 300, 302– 303, 304, 307, 308–309, 311, 312 Zátka, August 320 Ždársky, Josef 148 Zeiller, Franz 76 Zeißberg, Heinrich 17 Zernatto, Guido 186 Zeßner-Spitzenberg, Hans Karl 195, 204–205 Ziemialkowski, Florian 78 Žižka, Jan 135 Zöllner, Erich 14, 15, 17, 18, 35

studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 1

korruption und kontrolle. Hg. von CHristian Brünner. 1981. 726 s. mit 8 taB. Br. isBn 3-205-08457-8 (vergriffen)

2

unBeHagen im parteienstaat. Jugend und politik in ÖsterreiCH. von fritz plasser und peter a. ulram. 1982. 208 s., Br. isBn 3-205-08458-6 (vergriffen)

3

landesverfassungsreform. Hg. von reinHard raCk. 1982. 255 s.

4

nation ÖsterreiCH. kulturelles Bewusstsein und gesellsCHaft-

Br. isBn 3-205-08459-4 (vergriffen) liCH-politisCHe prozesse. von ernst BruCkmüller. 2. erweiterte auflage 1996. 472 s., zaHlr. graf. Br. isBn 978-3-205-98000-1 5

krise des fortsCHritts. Hg. von grete klingenstein. 1984. 172 s., Br. isBn 3-205-08461-6 (vergriffen)

6

parteiengesellsCHaft im umBruCH. partizipationsproBleme von grossparteien. von anton kofler. 1985. 132 s., 58 taB. Br.



isBn 3-205-08463-2 (vergriffen)

7

grundreCHtsreform. Hg. von reinHard raCk. 1985. 302 s. Br.



isBn 3-205-08462-4 (vergriffen)

8

aufgaBenplanung. ansätze für rationale verwaltungsreform. von Helmut sCHattovits. 1988. 220 s. Br.

9

isBn 3-205-08464-0 (vergriffen) demokratierituale. zur politisCHen kultur der informationsgesellsCHaft. Hg. von fritz plasser, peter a. ulram und manfried welan. 1985. 291 s., 91 taB. Br. isBn 978-3-205-08467-9

10 politik in ÖsterreiCH. die zweite repuBlik: Bestand und wandel.

Hg. von wolfgang mantl. 1992. Xv, 1084 s. gB.



isBn 978-3-205-05379-8 (vergriffen)

11 fleXiBle arBeitszeiten. eine fiXe idee. von rudolf BretsCHneider, rupert dollinger, JoaCHim lamel und peter a. ulram. 1985. 133 s., 33 taB. Br. isBn 3-205-08469-1 (vergriffen) 12 verfassungspolitik. dokumentation steiermark. von CHristian Brünner, wolfgang mantl, dietmar pauger und reinHard raCk. 1985. 294 s. Br. isBn 3-205-08465-9 (vergriffen)

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com

studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 13 krisen. eine soziologisCHe untersuCHung. von manfred prisCHing. 1986. 730 s., zaHlr. taB. und graf. Br.

isBn 978-3-205-08468-6

14 sCHweiz – ÖsterreiCH. äHnliCHkeiten und kontraste. Hg. von friedriCH koJa und gerald stourzH. 1986. 279 s. Br.

isBn 3-205-08902-2 (vergriffen)

15 was die kanzler sagten. regierungserklärungen der zweiten repuBlik 1945–1987. von maXimilian gottsCHliCH, oswald panagl und manfried welan. 1989. vi, 325 s. Br. isBn 3-205-08900-6

(vergriffen)

16 teCHnikskepsis und neue parteien. politisCHe folgen eines „alternativen“ teCHnikBildes. von eriCH reiter. 1987. 167 s. Br. isBn 3-205-08904-9 (vergriffen) 17 demokratie und wirtsCHaft. Hg. von JosepH marko und armin stolz. 1987. 367 s. Br. isBn 3-205-08905-7 (vergriffen) 18 soCiety, politiCs and Constitutions. western and east european views. von antal adam und Hans g. HeinriCH. 1987. 212 s. Br. isBn 3-205-08907-3 (vergriffen) 19 usa: verfassung und politik. von franCis H. Heller. 1987. 120 s. Br. isBn 3-205-08906-5 (vergriffen) 20 umweltsCHutzreCHt. von BernHard rasCHauer. 2. aufl. 1988. 304 s. Br. isBn 3-205-05143-2 (vergriffen) 21 verfall und fortsCHritt im denken der früHen rÖmisCHen kaiserzeit. studien zum zeitgefüHl und gesCHiCHtsBewusstsein des JaHrHunderts naCH augustus. von karl dietriCH BraCHer. 1987. 348 s. Br. isBn 3-205-08909-X (vergriffen) 22 das ÖsterreiCHisCHe parteiensystem. Hg. von anton pelinka und fritz plasser. 1988. 800 s. Br. isBn 978-3-205-08910-0 (vergriffen) 23 parteien unter stress. zur dynamik der parteiensysteme in ÖsterreiCH, der BundesrepuBlik deutsCHland und den vereinigten staaten. von fritz plasser. 1987. 344 s. Br.

isBn 3-205-08911-1 (vergriffen)

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com



studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 24 ideologie und aufklärung. weltansCHauungstHeorie und politik. von kurt salamun. 1988. 142 s. Br. isBn 3-20505126-2

(vergriffen)

25 die neue arCHitektur europas. refleXionen in einer BedroHten welt. Hg. von wolfgang mantl. 1991. 332 s. gB. isBn 978-3-205-05412-2 26 die grosse krise in einem kleinen land. ÖsterreiCHisCHe finanz- und wirtsCHaftspolitik 1929–1938. von dieter stiefel. 1989. X, 428 s. Br. isBn 3-205-05132-7 (vergriffen) 27 das reCHt der massenmedien. ein leHr- und HandBuCH für studium und praXis. von walter Berka. 1989. ii, 356 s. Br.

isBn 3-205-05194-7 (vergriffen)

28 staat und wirtsCHaft. am Beispiel der ÖsterreiCHisCHen forstgesetzgeBung von 1950–1987. von werner plesCHBerger. 1989. 579 s. Br. isBn 3-205-05204-8 (vergriffen) 29 wege zur grundreCHtsdemokratie. studien zur Begriffs- und institutionen-gesCHiCHte des liBeralen verfassungsstaates. von gerald stourzH. 1989. XXii, 427 s. Br. isBn 978-3-205-05218-0 (vergriffen) 30 geist und wissensCHaft im politisCHen aufBruCH mitteleuropas. Beiträge zum ÖsterreiCHisCHen wissensCHaftstag 1990. Hg. von meinrad peterlik und werner waldHäusl. 1991. 268 s. Br.

isBn 978-3-205-05464-1

31 finanzkraft und finanzBedarf von geBietskÖrpersCHaften. analysen und vorsCHläge zum gemeindefinanzausgleiCH in ÖsterreiCH. Hg. von CHristian smekal und engelBert tHeurl. 1990. 307 s. Br. isBn 3-205-05237-4 (vergriffen) 32 regionale ungleiCHHeit. von miCHael steiner. 1990. 258 s. Br. isBn 978-3-205-05281-4 33 BürokratisCHe anarCHie. der niedergang des polnisCHen „realsozialismus“. von august pradetto. 1992. 156 s. Br.

isBn 978-3-205-05421-4

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 34 vor der wende. politisCHes system, gesellsCHaft und politisCHe reformen im ungarn der aCHtziger JaHre.

Hg. von sándor kurtán. aus dem ungar. von aleXander klemm. 1993. 272 s. Br. isBn 978-3-205-05381-1 (vergriffen)

35 Hegemonie und erosion. politisCHe kultur und politisCHer wandel in ÖsterreiCH. von peter a. ulram. 1990. 366 s. Br.

isBn 3-205-05346-X (vergriffen)

36 geHorsame reBellen. Bürokratie und Beamte in ÖsterreiCH 1780–1848. von waltraud Heindl. 1991. 388 s., 12 sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-05370-5 37 kultur und politik – politik und kunst. von manfred wagner. 1991. 367 s. Br. isBn 978-3-205-05396-5 38 revolution

und

vÖlkerreCHt.

vÖlkerreCHtsdogmatisCHe

grundlegung der voraussetzungen und des inHalts eines waHlreCHts in Bezug auf vorrevolutionäre vÖlkerreCHtliCHe reCHte und pfliCHten. von miCHael geistlinger. 1991. 554 s. Br. isBn 978-3-205-05414-6 (vergriffen) 39 slowenien – kroatien – serBien. die neuen verfassungen. Hg. von JosepH marko und tomislav BoriC. 1994. 467 s. Br.

isBn 3-205-98283-5 (vergriffen)

40 der Bundespräsident. kein kaiser in der repuBlik. von manfried welan. 1992. 119 s. Br. isBn 978-3-205-05529-7 41 wege zur Besseren finanzkontrolle. von HerBert kraus und walter sCHwaB. 1992. 167 s. Br. isBn 3-205-05530-6 42 BruCHlinie eiserner vorHang. regionalentwiCklung im ÖsterreiCHisCH-ungarisCHen grenzraum. von martin seger und pal Beluszky. 1993. Xii, 304 s., 16 s. farBaBB. gB. isBn 978-3-205-98048-3 43 regierungsdiktatur oder ständeparlament? gesetzgeBung im autoritären ÖsterreiCH. von Helmut woHnout. 1993. 473 s. Br. isBn 978-3-205-05547-1 44 die ÖsterreiCHisCHe Handelspolitik der naCHkriegszeit 1918 Bis 1923. die HandelsvertragsBezieHungen zu den naCHfolgestaaten. von Jürgen nautz. 1994. 601 s. Br.

isBn 978-3-205-98118-3 (vergriffen)

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 45 regimeweCHsel. demokratisierung und politisCHe kultur in ost-mitteleuropa. Hg. von peter gerliCH, fritz plasser und peter a. ulram. 1992. 483 s., zaHlr. taB. u. graf. Br.

isBn 978-3-205-98014-8

46 die wiener JaHrHundertwende. Hg. von Jürgen nautz und riCHard vaHrenkamp. 2. aufl. 1996. 968 s., 32 s. sw-aBB. gB.

isBn 978-3-205-98536-5

47 ausweg eg? innenpolitisCHe motive einer aussenpolitisCHen umorientierung. von anton pelinka, CHristian sCHaller und paul luif. 1994. 309 s. Br. isBn 978-3-205-98051-3 48 die kleine koalition in ÖsterreiCH: spÖ – fpÖ (1983–1986). von anton pelinka. 1993. 129 s. Br. isBn 3-205-98052-2 (vergriffen) 49 management vernetzter umweltforsCHung. wissensCHaftspolitisCHes leHrstüCk waldsterBen. von maX krott. 1994. 325 s. Br. isBn 978-3-205-98129-9 (vergriffen) 50 politikanalysen. untersuCHungen zur pluralistisCHen demokratie. von wolfgang mantl. 2007. 345 s. Br. isBn 978-3-205-98459-7 51 autonomie und integration. reCHtsinstitute des nationalitätenreCHts im funktionalen vergleiCH. von JosepH marko. 1995. 632 s. Br. isBn 978-3-205-98274-6 52 grundzüge fremder privatreCHtssysteme. ein studienBuCH. von williBald posCH. 1995. XXviii, 205 s. Br. isBn 978-3-205-98387-3 53 identität und naCHBarsCHaft. die vielfalt der alpen-adria-länder. Hg. von manfred prisCHing. 1994. 424 s. Br.

isBn 978-3-205-98307-1 (vergriffen)

54 parlamentarisCHe kontrolle. das interpellations-, resolutions- und unter suCHungsreCHt. eine reCHtsdogmatisCHe darstellung mit HistorisCHem aBriss und em pirisCHer analyse.

von andreas nÖdl. 1995. 198 s. Br. isBn 978-3-205-98161-9

55 alfred missong. CHristentum und politik in ÖsterreiCH. ausgewäHlte sCHriften 1924–1950. Hg. von alfred missong Jr. in verBindung mit Cornelia Hoffmann und gerald stourzH. 2006. 476 s. gB. isBn 978-3-205-77385-6

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 56 staat und gesundHeitswesen. analysen HistorisCHer fallBeispiele aus der siCHt der neuen institutionellen Ökonomik.

von engelBert tHeurl. 1996. 302 s. Br. isBn 978-3-205-98461-0

57 eliten in ÖsterreiCH. 1848–1970. von gernot stimmer. 1997. 2 Bde., 1151 s. 38 sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-98587-7 58 frankreiCH – ÖsterreiCH. weCHselseitige waHrneHmung und weCHselseitiger einfluss seit 1918. Hg. von friedriCH koJa und otto pfersmann. 1994. 307 s., 19 sw-aBB. Br.

isBn 978-3-205-98295-1

59 faHnenwÖrter der politik. kontinuitäten und BrüCHe. Hg. von oswald panagl. 1998. 351 s. Br. mit su.

isBn 978-3-205-98867-0

60 avantgarde des widerstands. modellfälle militärisCHer aufleHnung in ostmittel- und osteuropa im 19. und 20. JaHrHundert. von riCHard g. plasCHka. 1999. 2 Bde., 1062 s. 32 sw-aBB. gB.

isBn 978-3-205-98390-3

61 Bernard Bolzano. staat, nation und religion als Herausforderung für die pHilosopHie im konteXt von spätaufklärung, früHnationalismus und restauration. Hg. von Helmut rumpler. 2000. 423 s. Br. isBn 978-3-205-99327-8 62 um einHeit und freiHeit. staatsvertrag, neutralität und das ende der ost-west-Besetzung ÖsterreiCHs 1945–1955. von gerald stourzH. 5., durCHgeseHene aufl. 2005. 848 s., 19 sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-77333-7 (vergriffen) 63 ÖsterreiCH unter alliierter Besatzung 1945–1955. Hg. von alfred aBlei tinger, siegfried Beer und eduard g. staudinger. 1998. 600 s. isBn 978-3-205-98588-4 64 evaluation im ÖffentliCHen sektor. von evert vedung. 1999. Xviii, 274 s. 47 grafiken u. taBellen. Br. isBn 978-3-205-98448-1 65 liBeralismus. interpretationen und perspektiven. Hg. von emil BriX und wolfgang mantl. 1996. 320 s. gB. isBn 978-3-205-98447-4 (vergriffen)

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 66 HerBert stourzH – gegen den strom. ausgwäHlte sCHriften gegen rassismus, fasCHismus und nationalsozialismus 1924–1938. Hg. von gerald stourzH. 2008. 186 s. Br. isBn 978-3-205-77875-2 67 die universität als organisation. die kunst, eXperten zu managen. von ada pellert. 1999. 346 s. 5 sw-aBB. Br.

isBn 978-3-205-99080-2

68 gemeinden in ÖsterreiCH im spannungsfeld von staatliCHem system und lokaler leBenswelt. Hg. von doris wastl-walter. 2000. 248 s. 18 graf. 17 karten. 71 taB. 1 faltk. Br.

isBn 978-3-205-99212-7

69 noCH einmal diCHtung und politik. vom teXt zum politisCH-sozialen konteXt, und zurüCk. Hg. von oswald panagl und walter weiss. 2000. 462 s. Br. isBn 978-3-205-99289-9 70 politik, staat und reCHt im zeitenBruCH. symposion aus anlass des 60. geBurtstags von wolfgang mantl. Hg. von JosepH marko und klaus poier. 2001. 197 s. 3 sw-aBB. gB.

isBn 978-3-205-99259-2

71 QualitätssiCHerung und reCHensCHaftslegung an universitäten. evaluierung universitärer leistungen aus reCHts- und sozialwissensCHaftliCHer siCHt. von eva patriCia stifter. 2002. 410 s. Br. isBn 978-3-205-99317-9 72 kulturgesCHiCHte des Heiligen rÖmisCHen reiCHes 1648 Bis 1806. verfassung, religion und kultur. von peter Claus Hartmann. 2001. 510 s. zaHlr. sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-99308-7 73 minderHeitenfreundliCHes meHrHeitswaHlreCHt. reCHts- und politikwissensCHaftliCHe üBerlegungen zu fragen des waHlreCHts und der waHlsystematik. von klaus poier. 2001. 379 s. 18 taB. 8 graf. Br. isBn 978-3-205-99338-4 74 reCHtsentwiCklung im Bannkreis der europäisCHen integration. von HuBert isak. Br. isBn 3-205-99326-8. in vorBereitung.

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 75 gigatrends. erkundungen der zukunft unserer leBenswelt. Hg. von franz kreuzer, wolfgang mantl und maria sCHaumayer. 2003. Xii + 339 s. 13 sw-aBB. und 2 taB. gB. isBn 978-3-205-98962-2 76 autonomie im Bildungswesen. zur topograpHie eines BildungspolitisCHen sCHlüsselBegriffs. von walter Berka. 2002. 213 s. Br. isBn 978-3-205-99309-4 77 HoCHsCHulzugang in europa. ein ländervergleiCH zwisCHen ÖsterreiCH, deutsCHland, england und der sCHweiz. von elisaBetH HÖdl. 2002. 227 s. Br. isBn 978-3-205-99421-3 (vergriffen) 78 forsCHung und leHre. die idee der universität Bei HumBoldt, Jaspers, sCHelsky und mittelstrass. von Hedwig kopetz. 2002. 137 s. 4 sw-aBB. Br. isBn 978-3-205-99422-0 79 europäisCHe kulturgesCHiCHte: geleBt, gedaCHt,

vermittelt. von manfred wagner. 2009. 922 s. gB.



isBn 978-3-205-77754-0

80 kultur der demokratie. festsCHrift für manfried welan zum 65. geBurtstag. Hg. von CHristian Brünner, wolfgang mantl, alfred J. noll und werner plesCHBerger. 2002. 383 s. zaHlr. taB. und 1 sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-77005-3 81 okkupation und revolution in slowenien (1941–1946). eine vÖlkerreCHt li CHe untersuCHung. von dieter Blumenwitz. 2005. 162 s. Br. isBn 978-3-205-77250-7 82 der konvent zur zukunft der europäisCHen union. Hg. von wolfgang mantl, sonJa puntsCHer riekmann und miCHael sCHweitzer. 2005. 185 s. Br. isBn 978-3-205-77127-2 83 art goes law. dialoge zum weCHselspiel zwisCHen kunst und reCHt. Hg. von dietmar pauger. 2005. 269 s. 9 sw-aBB. Br.

isBn 978-3-205-77128-9

84 direkte demokratie. von klaus poier. in vorBereitung 85 HoCHsCHulreCHt – HoCHsCHulmanagement – HoCHsCHulpolitik. symposion aus anlass des 60. geBurtstages von CHristian Brünner. Hg. von gerHard sCHnedl und silvia ulriCH. 2003. 258 s. 7 graf. und 5 taB. gB. isBn 3-205-99468-X

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 86 das zerrissene volk. slowenien 1941–1946. okkupation, kollaBoration, Bürgerkrieg, revolution. von tamara griesser-pečar. 2003. 583 s. gB. isBn 978-3-205-77062-6 87 zur Qualität der BritisCHen und ÖsterreiCHisCHen demokratie. empirisCHe Befunde und anregungen für demokratiereform. von e. roBert a. BeCk und CHristian sCHaller. 2003. XXii + 620 s. zaHlr. taB. Br. isBn 978-3-205-77071-8 88 die ÖsterreiCHisCHe akademie der wissensCHaften. aufgaBen, reCHts stellung, organisation. von Hedwig kopetz. 2006. XX + 457 s. 8 sw-aBB. Br. isBn 978-3-205-77534-8 89 raumfaHrt und reCHt. faszination weltraum. regeln zwisCHen Himmel und erde. Hg. von CHristian Brünner, aleXander souCek und editH walter. 2007. 200 s. 66. farB. aBB. Br.

isBn 978-3-205-77627-7

90 soziokultureller wandel im verfassungsstaat.

pHänomene politisCHer transformation. festsCHrift für wolfgang mantl zum 65. geBurtstag. Hg. von Hedwig kopetz, JosepH marko und klaus poier. 2004. 2 Bde. im sCHuBer. XXiv + 700 s., X + 1000 s. zaHlr. taB., graf. und aBB. gB.



isBn 978-3-205-77211-8

91 nationales weltraumreCHt. national spaCe law. development in europe – CHallenges for small Countries. Hg. von CHristian Brünner und editH walter. 2008. 231 s. zaHlreiCHen aBB. Br. isBn 978-3-205-77760-1 93 karl lueger (1844–1910). CHristliCHsoziale politik als Beruf. von JoHn w. Boyer. aus dem englisCHen üBersetzt von otmar Binder. 2009. 595 s. 19 sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-78366-4 94 der ÖsterreiCHisCHe mensCH. kulturgesCHiCHte der eigenart ÖsterreiCHs. von william m. JoHnston. BearBeitet von Josef sCHiffer. 2009. 384 s. gB. isBn 978-3-205-78298-8 95 funktionen des reCHts in der pluralistisCHen wissensgesellsCHaft. festsCHrift für CHristian Brünner zum 65. geBurtstag. Hg. von silvia ulriCH, gerHard sCHnedl und renate pirstnereBner. 2007. XXiv + 696 s. gB. isBn 978-3-205-77513-3

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 97 demokratie im umBruCH. perspektiven einer waHlreCHtsreform. Hg. von klaus poier. 2009. 329 s. mit zaHlreiCHen taB. Br. isBn 978-3-205-78434-0 98 die freiHeit der politisCHen meinungsäusserung. iHre entwiCklung im ÖsterreiCHisCHen und BritisCHen verfassungsreCHt und iHre staatspHilosopHisCHen wurzeln. von stepHan g. HingHofer-szalkay. 2011. 307 s. 2 taB. und 3 grafiken. Br.

isBn 978-3-205-78622-1

99 der umfang der ÖsterreiCHisCHen gesCHiCHte. ausgewäHlte studien 1990–2010. von gerald stourzH 2011. 344 s. Br.

isBn 978-3-205-78633-7

101 skurrile Begegnungen. mosaike zur ÖsterreiCHisCHen geistesgesCHiCHte. mit einem vorwort von william m. JoHnston. von norBert leser. 2011. 254 s. 2 s/w-aBB. gB. mit su. isBn 978-3-205-78658-0 103 europaspraCHen. HerausgegeBen von peter CiCHon und miCHael mitterauer. 2011. 166 s. Br. mit su.

isBn 978-3-205-78608-5

105 leBenszeugnisse ÖsterreiCHisCHer vizekanzler. das politisCHe system ÖsterreiCHs im europäisCHen vergleiCH. 2012.

isBn 978-3-205-77759-5

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