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German Pages 189 [190] Year 1976
Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft
S c h r i f t e n r e i h e der Hochschule Speyer Band 59
Der Staatssektor i n der sozialen Marktwirtschaft Vorträge und Diekueeionebeiträge der 43. Staatewieeenschaftlichen Fortbildungstagung 1975 der Hochschule für Verwaltungewiseenechaften Speyer
herausgegeben von Dieter Duwendag
D U N C K E R & H U M B L O T /
B E R L I N
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft: Vorträge u. Diskussionsbeitr. d. 43. Staatswiss. Fortbildungstagung 1975 d. Hochsch. f ü r Verwaltungswiss. Speyer / hrsg. von Dieter Duwendag. — 1. Aufl. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1976. (Schriftenreihe der Hochschule Speyer; Bd. 59) I S B N 3-428-03697-2 N E : Duwendag, Dieter [Hrsg.] ; Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung Gründe erhöht. Die Relation dieser Ausgabearten zum Bruttosozialprodukt beträgt z. Z- knapp 20 °/o, wovon rd. 14 % auf Einkommens4
Vgl. Tabellen 3 und 3 a.
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Karl-Heinz Raabe
Übertragungen an private Haushalte entfallen. Diese sonstigen Ausgaben — insbesondere jedoch die Einkommensübertragungen — werden auf Grund der derzeitigen gesetzlichen Regelungen auch i n Zukunft überproportional zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zunehmen, so daß ihre Relation zum Bruttosozialprodukt weiter steigt; das Sozialbudget 1974 unterstellt eine Erhöhung der Relation der Einkommensübertragungen am Bruttosozialprodukt bis 1978 auf gut 15°/o. Auch wenn die Ubertragungsströme — wie schon gesagt — die Verwendungsstruktur des Bruttosozialprodukts nicht direkt berühren, so ergeben sich aus den indirekten Einflüssen und den Finanzierungsfragen nicht zu unterschätzende Probleme. Umfang und Zusammensetzung der Finanzierung der Ausgaben des „Sektors Staat" müssen mittel- und langfristig mit der anzustrebenden Verwendungsstruktur des Bruttosozialprodukts i n Einklang stehen. Die Finanzierung der für das künftige Wirtschaftswachstum notwendigen privaten Anlageinvestitionen darf durch staatliche Maßnahmen nicht verhindert werden. Das Schwergewicht der Änderungen der staatlichen Finanzierung sollte daher darauf ausgerichtet sein, die Zuwachsrate beim privaten Verbrauch i n Zukunft unterproportional steigen zu lassen. Grundsätzlich bestehen hierfür mehrere Möglichkeiten: 1. Eine Reduzierung der Zuwachsrate des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte durch eine Erhöhung der direkten Zwangsabgabequote (direkte Steuern oder/und Sozial Versicherungsbeiträge). 2. Eine Reduzierung der Zuwachsrate des realen privaten Verbrauchs durch eine Erhöhung der indirekten Zwangsabgabenquote (Mehrwert- oder/und Verbrauchssteuern). 3. Eine stärkere Finanzierung öffentlicher Ausgaben durch spezielle Entgelte (Erhöhung oder/und Ausweitung von kostendeckenden Gebühren und Preisen) wobei gleichzeitig eine Ausdehnung der persönlichen Entscheidungsfreiheit bei individuell nachgefragten staatlichen Leistungen und Nutzungen eintritt. 4. Eine Reduzierung der Konsumquote (Erhöhung der Sparquote) der privaten Haushalte durch massive Sparförderungen einschließlich einer Verbreiterung der Vermögensbildung (Sparprämien, Investivlöhne, Vermögensbildungspläne usw.). Die Rückwirkungen der verschiedenen Finanzierungsformen des Staates auf Wirtschaftskreislauf und -entwicklung sind sehr unterschiedlich. Dabei spielen die Ausgestaltungen i m einzelnen eine erhebliche Rolle, weil neben ökonomischen Problemen auch andere Bestimmungsgründe sozialer und gesellschaftspolitischer Natur zu berücksichtigen
Projektionen eines „Korridors für den Staatssektor"
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sind. Ein großer Teil der Auswirkungen von Änderungen bestimmter Finanzierungsformen des Staates ist darüber hinaus mehr oder weniger psychologisch bedingt und entzieht sich deshalb einer exakten Vorausberechnung, d. h. die Reaktionen der Bevölkerung auf Änderungen i m Finanzierungsgefüge sind häufig sehr schwer i m voraus abzuschätzen. Bei den direkten Zwangsabgaben w i r d nach den bisherigen Erfahrungen eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge noch am ehesten von der Bevölkerung hingenommen. Allerdings scheint sich hier neuerdings auch ein Wandel anzubahnen. Die i n den letzten Jahren ständigen Steigerungen der Sozialversicherungsbeiträge — ihr Anteil am Bruttosozialprodukt wuchs i n den letzten 10 Jahren von rd. 9 V2 °/o auf rd. 13 y2 °/o — w i r d i n zunehmendem Maße auch von der Öffentlichkeit als Belastung empfunden. Nach dem Sozialbudget 1974 würde dieser Anteil der Sozialversicherungsbeiträge bis 1978 nochmals u m 1 °/o-Punkt auf rd. 14 V2 °/o zunehmen. Bei den direkten Steuern ergeben sich für die kommenden Jahre erhebliche Konsequenzen durch die Einkommenssteuerreform vom 1.1.1975. Die Auswirkungen dieser Steuerreform bringen eine Reduzierung der Steuerlastquote von rd. V2 % des Bruttosozialprodukts mit sich. Bei unverändertem Steuerrecht ab 1975 würde — nach den derzeitigen Steuerschätzungen i m Rahmen der mehrjährigen Finanzplanung — dieser Rückgang der Steuerlastquote etwa 1978 wieder ausgeglichen sein. Ob die Auswirkungen von „heimlichen" Steuererhöhungen auf Grund der Progressionswirkungen auf mittlere Sicht nicht doch zu Änderungen i m Gefüge und i n der Zusammensetzung der direkten Steuern führen werden, läßt sich ζ. Z. noch nicht absehen. I n diesem Zusammenhang stehen auch die Fragen eines durchgreifenden Abbaus der vorhandenen Steuervergünstigungen; die bisherigen Versuche in dieser Richtung lassen jedoch keine größeren Erfolge erwarten. Die Reaktionen der Bevölkerung auf Erhöhungen bei den indirekten Steuern hängen i n starkem Maße von den sonstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen i m jeweiligen Zeitpunkt ab. I n jedem Falle ergeben sich hier jedoch Kollisionen m i t der wirtschaftspolitischen Zielsetzung einer „Preisstabilität", da derartige Erhöhungen auf direktem Wege zu Preissteigerungen beim privaten Verbrauch mindestens im entsprechenden Ausmaß führen. Eine stärkere Finanzierung von unmittelbar zurechenbaren öffentlichen Leistungen durch Ausdehnung und Erhöhung von speziellen Entgelten, wie Preise oder Gebühren, würden den privaten Verbrauch der Bevölkerung tangieren. Dadurch würde entweder die Konsumquote — oder andersherum die Sparquote — betroffen, oder aber es müßten andere Ausgabepositionen des privaten Verbrauchs eingeschränkt werden.
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Karl-Heinz Raabe
Maßnahmen zur Förderung der privaten Ersparnis bzw. für eine größere Vermögensbildung i n breiten Bevölkerungsschichten — und damit einer Senkung der Konsumquote — führen nur dann zu einem Erfolg, wenn es zu keinen Umschichtungen bestimmter Sparformen innerhalb der Gesamtersparnis kommt, sondern zu zusätzlichen Steigerungen. Dabei spielen die technischen Ausgestaltungen von Sparförderungen und Vermögensbildungsplänen, wie ζ. B. die Formen von Kapitalsammelinstitutionen (zentrale oder dezentrale Vermögensbildungsoder Investmentfonds auf freiwilliger oder zwangsmäßiger Basis), eine Rolle, wie auch die Gestaltung der Verfügungsgewalt usw. Der Spielraum für eine Verschuldung des Sektors „Staat" ergibt sich letztlich aus dem Finanzierungskreislauf i m Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Bei gegebener Ersparnisbildung der privaten Haushalte (Aufbringung) und der notwendigen Fremdfinanzierung der Unternehmen für ihre Investitionen verbleibt eine Restgröße für die mögliche staatliche Verschuldung übrig, wenn man einmal unterstellt, daß mittel- und langfristig der Finanzierungssaldo gegenüber dem Ausland gleich N u l l ist. Eine über diesen Spielraum hinausgehende Verschuldung des Staates führt zwar zu einer Finanzierung von höheren absoluten Ausgabebeträgen, aber kaum zu einer Ausdehnung des staatlichen Anteils am Bruttosozialprodukt. Die wahrscheinlich damit verbundenen Preissteigerungen würden auch die Bezugsgröße — das nominale Bruttosozialprodukt — aufblähen. Aus dem geschilderten Finanzierungskreislauf der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ergäbe sich für den Sektor „Staat" (Gebietskörperschaften und Sozialversicherung) mittelfristig eine Verschuldungsmöglichkeit von etwa 1 °/o bis 2 °/o des Bruttosozialprodukts. Die sonstigen Einnahmen des Sektors „Staat" betragen ziemlich konstant knapp 3 °/o des Bruttosozialprodukts; beide zusammen also rd. 4 °/o bis 5 °/o. Die entscheidende Frage für eine mögliche weitere Erhöhung des „Staatsanteils" am Bruttosozialprodukt i n der Zukunft besteht darin, in welchem Ausmaß die Zwangsabgaben (Steuern und Sozialversicherungsbeiträge) noch überproportional zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung steigen können. I m internationalen Vergleich ergeben sich für die Belastungsquote der Zwangsabgaben am Bruttosozialprodukt folgende Größenordnungen für den Durchschnitt der Jahre 1969/72:
Projektionen eines „Korridors für den Staatssektor" 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Norwegen Schweden Niederlande Dänemark Frankreich Bundesrepublik Österreich
43,8 41,9 41,1 39,4® 36,9 36,5 36,5
8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
Großbritannien Belgien Finnland Kanada Italien USA Schweiz
45 35,7 34,3 34,2 32,7 30,8 30,0 23,9«
Die Zusammensetzungen nach Arten und Formen der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge ist international jedoch sehr unterschiedlich, wie auch die vom Staat übernommenen Aufgaben 7 . I n den nordischen Staaten — mit Ausnahme Finnlands — und i n den Niederlanden betrugen die Quoten 1972 bereits zwischen 43 °/o und 47 °/o; sie dürften inzwischen i n diesen Staaten noch näher an 50 °/o herangerückt sein. I m Trend haben sich diese Anteile der Zwangsabgaben am Bruttosozialprodukt i n fast allen westlichen Ländern erhöht; i n der Bundesrepublik i m letzten Jahrzehnt ( 0 1974/70 gegenüber Φ 1964/60) u m rd. 3 Prozentpunkte. I m wesentlichen beruht diese Zunahme i m Zeitablauf i n der Bundesrepublik auf höheren Sozialversicherungsbeiträgen; bei trendmäßiger Abnahme des Anteils der indirekten Steuern und einer Erhöhung des Anteils der direkten Steuern veränderte sich die Steuerlastquote insgesamt kaum. W i r d unterstellt, daß eine entsprechende Steigerung der Belastungsquote am Bruttosozialprodukt — bei Berücksichtigung der i n anderen westlichen Staaten bereits erreichten Größenordnungen — auch i m kommenden Jahrzehnt möglich wäre, so ergäbe sich von der Einnahmeseite ein Spielraum für eine Erhöhung des Staatsanteils von rd. 3 °/o bis 5 °/o, wie auch von der Ausgaben- oder Verwendungsstruktur. Bei einer Realisierung dieser denkbaren Entwicklung spielen Zusammensetzung und Gestaltung der Zwangsabgaben nach einzelnen Arten und Bestandteilen eine erhebliche Rolle. Die konkrete Ausgestaltung einer weiteren Ausdehnung des „Staatskorridors" sowohl auf der Ausgabenals auch auf der Einnahmenseite, einschließlich der möglichen Verschuldung müßte daher von Fall zu Fall sorgfältig geprüft werden. Eine entscheidende Bedeutung hat hierbei jedoch die Beurteilung der Grenze der Belastbarkeit der Bevölkerung m i t Zwangsabgaben und einer entsprechenden unterproportionalen Zunahme des privaten Verbrauchs. Nach den bisherigen Erfahrungen aus der Vergangenheit läßt sich hierauf keine eindeutige A n t w o r t geben. s 1968/71. 6 1969. 7 Vgl. Tabelle 4.
46
Karl-Heinz Raabe
Die Verhaltensweisen der am Wirtschaftsprozeß beteiligten Personen und Gruppen w i r d sich nach den bisherigen Erfahrungen kaum kurzfristig entscheidend ändern; ein derartiger dauerhafter Vorgang ist nur auf längere Sicht denkbar. Das gilt hauptsächlich für die Sparneigung der privaten Haushalte und für die Investitionsneigung der Unternehmen, d. h. für Gewinnerwartungen, Selbst- und Fremdfinanzierungsmodalitäten usw. Für eine Umschichtung der Verwendungsstruktur des Bruttosozialprodukts i n Richtung eines weiter steigenden Staatsanteils sind Zeithorizonte und Terminierungen der Realisierung der verschiedenen Maßnahmen von großer Bedeutung. Die bisherigen „Konjunkturzyklen" i n der Nachkriegszeit dauerten i n der Bundesrepublik vier bis fünf Jahre, m i t Ausnahme des letzten. Die Maßnahmen für die Realisierung einer überproportionalen Steigerung der „Ausgaben des Staates" und deren Finanzierung müssen zwar auf mittel- bzw. langfristige Zielvorstellungen abgestellt sein, sie müssen aber auch „konjunkturgerecht" terminiert werden. Diese Mischung zwischen langfristigen Zielvorstellungen und ihrer Realisierung i m Zeitablauf würde prinzipiell darin bestehen, daß die Ausgaben des Staates i m Abschwung eines Konjunkturzyklus überproportional zum Bruttosozialprodukt steigen müßten (expansive Wirkungen des öffentlichen Gesamthaushalts), und daß i m Konjunktur auf schwung Erhöhungen der Zwangsabgaben vorgenommen werden (restriktive Wirkungen des öffentlichen Gesamthaushalts) 8 . Auch die technischen Ausgestaltungen der jeweiligen Maßnahmen i m einzelnen müßten auf die speziellen Voraussetzungen und Bedingungen der jeweiligen Konjunkturphase Rücksicht nehmen. Alles i n allem hängen also die Möglichkeiten einer Erhöhung des Staatsanteils und seiner Finanzierung auch von den wechselnden gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen i m Zeitablauf ab. Die grundsätzliche Strategie einer langfristigen Steigerung des Staatsanteils i m Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung w i r d sich wahrscheinlich nicht ohne das Auftreten von Ziel-, Interessen- und Mittelkonflikten lösen lassen. Eine entscheidende Voraussetzung ist m. E. hierbei, daß die „Erwartungshorizonte" der Bevölkerung und der einzelnen Gruppen auf ein „realisierbares Ausmaß" beschränkt werden können. Die Interessen- oder Zielkonflikte zwischen einer Erhöhung des privaten Lebensstandards einerseits und einer Ausdehnung der staatlichen Leistungen andererseits, sind u. a. auch davon abhängig, i n welchem Ausmaß die verfügbaren Waren und Dienstleistungen i n Zukunft zunehmen werden. Je geringer das reale Wirtschaftswachstum » Vgl. Tabelle 5 m i t Schaubild.
Projektionen eines „Korridors für den Staatssektor"
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i n der Zukunft sein wird, u m so schärfer werden sich diese Konflikte stellen. I m Verhältnis zur Vergangenheit haben sich i n letzter Zeit — insbesondere i m letzten Jahr — für die zukünftige Entwicklung mehrere neue Probleme ergeben, und zwar: — ein zunehmender Teil der Investitionen muß i n Zukunft für die Erhaltung und Verbesserung der Umweltbedingungen u. ä. verwendet werden, — der Energieverbrauch — insbesondere von Rohöl und entsprechenden Produkten — w i r d sich i n Zukunft erheblich verteuern und mengenmäßig wohl nicht i n jeder gewünschten Größenordnung zur Verfügung stehen, — aus generellen politischen Überlegungen heraus kann nicht mehr m i t einer weiteren Zunahme der Zahl der ausländischen Arbeitnehmer gerechnet werden. Alle diese Gründe sprechen dafür, daß das Wirtschaftswachstum in Zukunft erheblich geringer sein w i r d als i n der Vergangenheit. Eine gewisse Verlangsamung ist bereits aus den Zahlen für die Vergangenheit ersichtlich; so waren die durchschnittlichen Zuwachsraten des realen Bruttosozialprodukts seit 1950 wie folgt: 1955/50 1960/55 1965/60 1970/65 1975/70
= = = = =
9,5 °/o 6,5 °/o 5,1 °/o 4,7 °/o 2,5 °/o
pro pro pro pro pro
Jahr Jahr Jahr Jahr Jahr
I m Sommer 1973, d. h. vor Ausbruch der Erdölkrise, wurde für die Bundesrepublik noch m i t einer Zunahme des Wachstumspotentials von 4 % bis 4,5 °/o pro Jahr gerechnet. Mittelfristig dürfte dieser Spielraum nunmehr nur noch 3 V2 °/o bis höchstens 4 °/o betragen. Damit w i r d aber auch eine Umschichtung der Anteile der letzten Güterverwendung zugunsten von staatlichen Leistungen erheblich schwieriger und langwieriger werden als bis vor kurzem noch unterstellt worden ist. Zusammenfassend kann festgestellt werden: 1. Ausgaben und Einnahmen des Sektors „Staat" sind — insbesondere i n den letzten Jahren — i m Verhältnis zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung überproportional gestiegen, ihr A n t e i l am Bruttosozialprodukt hat sich erhöht. 2. Diese Entwicklung war beim Konto „Sozialversicherung" prägter als bei den „Gebietskörperschaften".
ausge-
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Karl-Heinz Raabe
3. Nach dem derzeitigen Informationsstand werden die Ausgaben des „Staates" — insbesondere für Sozialleistungen — auch i n den kommenden Jahren überproportional steigen, so daß sich der „Staatsanteil" tendenziell weiter erhöhen wird. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die relative Preisentwicklung bei den staatlichen Ausgabepositionen i n der Vergangenheit überproportional war und auch i n Zukunft wahrscheinlich überproportional sein wird, d. h. auch wenn die staatlichen Ausgaben i n Zukunft real parallel zur Gesamtentwicklung zunehmen, ergibt sich nominal eine überproportionale Steigerung. 4. Aus theoretischen Überlegungen wäre i n mittel- und langfristiger Sicht ein weiterer Spielraum für die Ausdehnung des „Staatsanteils" von 3 °/o bis 5 °/o des Bruttosozialprodukts denkbar. Voraussetzung wäre jedoch eine entsprechend unterproportionale Entwicklung beim privaten Verbrauch sowie eine weitere Erhöhung der Zwangsabgabenquote. 5. Eine eindeutige und exakte Grenze für eine weitere Ausdehnung des „Staatsanteils" läßt sich i m voraus nicht festlegen, da die Reaktionen der Bevölkerung auf eine entsprechende Erhöhung der Zwangsabgaben aus psychologischen u. a. Gründen nur schwer kalkulierbar sind. 6. Bei einem erreichten „Staatsanteil" von deutlich über 40 % muß jedoch damit gerechnet werden, daß w i r uns einem „Grenzbereich" für eine weitere Ausdehnung der Staatstätigkeit nähern oder ihn bereits erreicht haben, welcher bei der bestehenden Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung nicht mehr unbesehen verschoben werden sollte. 7. Eine kritische umfassende und systematische Analyse der Aufgabenteilung zwischen „Staat" und „privaten Bereichen" nach logischen Kriterien hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit erscheint angebracht.
38,5
8. Summe „Staat" (6. + 7.)
Nachrichtlich: Saldo der Vermögensübertragungen des Staates -
17,8
7. Übertragungen u. ä des Staates
4,0
16,7
6. Staatliche Güter und Dienste (4. + 5.)
5. Staatliche Investitionen
4. Staatsverbrauch
1,6
9,1
0,6
33,1
20,7
3,3 4,8
20,7
9,0 4,4 4,9
3. Sonstige Verwendung4
61,6
16,1
38,2
4,8
5,5
0,9
3,1
6,3
—
45,1
22,7
5,9
24,0
— 0,7 —
15,5
23,9
4,6
8,0
56,5
0,1 —
42,9
22,0 15,4
21,1
2,5
22,1 12,4
9,1
10,2 14,4 17,8 11,0 15,8
62,2
13,8
0,9
-
1,5
43,4
22,0
20,9
8,5
37,5
16,2
63,9
Italien
38,0
15,5
59,6
Frankreich
21,8
28,0
54,7
Schweden
11,3
55,8
Großκ ™ · N i e d e r l a n d e Norwegen Dritannien
17,9 16,5 16,1
10,1
54,2
USA
1. Privater Verbrauch
Bundesrepublik Deutschland
2. Private Investitionen8
A. Ausgaben:
(Durchschnitt der Jahre 1969 - 1972; Anteile am BSP in °/o2)
Tabelle 1: Der Sektor „Staat" im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung1
Projektionen eines „Korridors für den Staatssektor" 49
—
1 4
36,1
5,9
30,0
Groß
15,5
18,2 13,4 15,0
35,5 41,0 44,0 41,9 36,8
8,2 15,0
30,3 25,9 33,3 33,7 21,9
11,4
6,8
30,1
18,5
11,9
6,6
Norwegen
11,6
Niederlande Dritannien
5,2 15,1 10,7
24,1
K
14,8 14,5 15,1 20,3
USA
Schweden
Frankreich
Italien
Quelle: „National accounts of OECD-countries 1961 - 1972".5 — * BSP = Summe 1. bis 5. — 3 Ohne Wohnungsbau und Vorrats Veränderungen. Außenbeitrag, Wohnungsbau, Vorratsveränderungen. — Die Vermögensübertragungen sind nur netto (saldiert) verbucht.
Insgesamt
Sozialversicherungsbeiträge 11,7
Steuern insgesamt 24,4
9,5
10,8 14,5
Indirekte und sonstige Steuern 13,6
Direkte Steuern
Bundesrepublik Deutschland
Β. Gesamtwirtschaftliche Abgabenquote:
Tabelle 1 (Fortsetzung)
50 Karl-Heinz Raabe
4·
1
15,2 15,6 16,4 15,6 15,7
15,9 17,1 17,6 18,1 19,7
1965 66 67 68 69
1970 71 721 731 741
2
12,7 12,7 13,2 13,2 14,3
12,8 13,1 14,3 13,8 13,3
12,4 12,3 12,5 12,5 12,6
3
Vorläufige Ergebnisse, Stand 14. 2. 1975
13,6 14,0 14,9 15,5 14,8
1
1960 61 62 63 64
- hr Jahr
Einnahmen
4,3 4,1 3,7 3,5 3,9
4,4 4,3 3,7 3,8 3,9
3,1 3,4 3,9 4,2 4,6
4
4,6 4,7 4,9 5,2 5,3
4,1 3,8 4,1 4,6 4,7
3,4 4,1 4,5 3,9 3,8
5 (1 - 4)
6
37,5 38,7 39,4 40,0 43,1
36,5 36,8 38,5 37,8 37,6
32,6 33,7 35,7 36,2 35,8
7
23,8 24,2 24,2 25,6 25,6
24,0 24,0 24,3 23,7 25,1
23,6 24,6 24,9 24,8 24,7
8 (6 + 7)
11,4 11,8 12,3 13,2 13,7
9,7 10,1 10,3 10,4 10,8
9,7 9,7 9,8 9,9 9,6
9 10 (8 + 9)
35,3 36,0 36,5 38,8 39,3
33,7 34,1 34,6 34,1 35,9
33,2 34,2 34,8 34,7 34,4
11 (10 7.5)
2,7 2,9 2,7 2,9 2,9
2,5 2,6 2,7 2,8 2,8
2,6 2,6 2,6 2,6 2,6
38,0 38,9 39,3 41,6 42,2
36,2 36,7 37,3 36,9 38,7
35,8 36,8 37,4 37,3 37,0
+ 0,5 + 0,2 - 0,1 + 1,6 - 0,9
- M - 0,1 ~ M - 0,9 + 1,2
+ 3,3 + 3,1 + 1,6 + 1,1 + 1»1
EinkommensEin Staats- übertra- BruttoAusSozialc™c+,cm " *manSo lge S vergungen anlage^f q gaben °£Sntlge nahmen zie™s" s . n versiehe- ZwangsSteuern brauch an investi£usinsrungs- abgaben Λ™' inssaldo 1 (netto) private tionen SaDen gesamt beiträge gesamt Haushalte
Ausgaben
(in jeweiligen Preisen; Anteile am BSP in °/o)
Bundesrepublik Deutschland
Tabelle 2: Konsolidiertes Staatskonto
Projektionen eines „Korridors für den Staatssektor"
51
12,0 12,8 12,9 13,3 14,2
Vorläufige Ergebnisse, Stand 14. 2.1975
2,4 2,4 2,6 2,4 2,5
4,3 4,1 3,7 3,4 3,8
4,4 4,2 3,7 3,8 3,8
1970 71 721 731 741
2,9 2,9 3,0 2,7 2,5
11,9 12,0 12,5 11,7 11,8
4 5 (1 - 4)
1965 66 67 68 69
3
Ein- Finan-
7 8 (6 + 7)
9
10 (8 + 9)
11 (10./.5)
s'
7,0 7,0 7,5 7,7 7,9
25,7 26,4 26,7 26,8 28,5
23,2 23,6 23,6 24,9
— — — — —
23,2 23,3 23,6 23,0 24,4
25, 25 25, 26,
1,6 1,6 24, 1,7 25, 1,9 2,0 — 23,2 1,9 — 23,6 2,0 — 23,6 1,9 — 24,9 1,9 24,9 — 24,9 2,0
6,9 26,1 23,2 6,7 25,8 23,3 7,2 26,4 23,6 7,4 25,6 23,0 7,3 25,4 24,4
6,1 22,4 23,0 — 23,0 1,7 7,5 24,2 24,0 — 24,0 1,7 7,3 25,3 24,3 — 24,3 1,7 6,8 25,5 24,1 — 24,1 1,6 25, 6,7 25,5 24,0 — 24,0 1,6
6
gesamt
ς
versiche na hmen Steuern rungs- abgaben „"τ;" „Eta" ms- - saiao beitrage nanmen gesamt
Sozial-
gaben A ui -ns -
Aus-
10,7 2,6 3,1 11,0 2,4 3,3 11,8 2,4 3,8 12,4 2,2 4,2 11,7 2,5 4,6
1 2
brauch (netto)
ς r
anlag e *unSeninvestit " an ^r private tionen SaDen Haushalte
Brutto-
Einnahmen
Karl-Heinz Raabe
1
Staats-
ver " K
Ausgaben
1960 61 62 63 64
Jahr
Einkommensübertra-
(in jeweiligen Preisen; Anteile am BSP in °/o [Gebietskörperschaften])
Bundesrepublik Deutschland
Tabelle 2a: Konsolidiertes Staatskonto
5
1
Staats-
Sozial0
..
Ein-
Finan-
9
10 (8 + 9)
4
Vorläufige Ergebnisse, Stand 14. 2.1975
7415 4
731
721
71
10,0 10,3 11,4 11,1 10,8
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0
0,1 0,1 0,1 0,1 0,1
13,4 14,0 15,4 15,1 14,9
0,7 0,7 0,7 0,7 0,7
9,7 10,1 10,3 10,4 10,8
10,4 10,8 11,0 11,2 11,5
3 3 4, 3, 3
9,7 10,3 10,3 3,6 9,9 10,5 3 10,0 10,6 3 9,7 10,3 3,
11 (10./.5)
3,9 10,3 0,0 0,1 14,3 0,6 11,4 12,1 3 >3 10,3 0,0 0,1 14,7 0,6 11,9 12,5 3 4 >6 10,7 0,0 0,0 15,3 0,6 12,4 13,0 4 >9 10,8 0,0 0,0 15,8 0,6 13,2 13,9 H»8 0,1 0,0 17,3 0,6 13,7 14,4 3,5
7 8 (6 + 7)
0,1 0,1 12,9 0,6 0,0 - 0,6 12,4 0,6 9,7 0,0 0,1 13,3 0,6 0,0 0,1 13,6 0,6 0,0 0,1 13,3 0,7
6
1970
69
68
67
66
2
9 >9 10,0 10,1 10,3 10,0
4 5 (1 - 4)
3,3 3,6 3,9 3,9 3,9
3
1965
64
63
62
'
Aus-
>9 >9 3,0 3,1 3,1
61
2
1 12
brauch (netto)
oon. Die relative Erhöhung des Ertrags dieser Abgabe lag also über der des Sozialprodukts, m. a. W. ihre Aufkommenselastizität war größer als eins. Da aber das steuerpflichtige Vermögen i m Vergleich zum Sozialprodukt nur eine bescheidene Größe darstellt und lediglich einer mäßigen — indirekten — Progression unterliegt, zeigt sich, daß die eingebaute Flexibilität der Vermögensteuer i m genannten Jahr nur rd. 0,005 betrug. M i t Abstand die größte Flexibilität besitzt bei uns wie i n manchen anderen Ländern die Einkommen-, vor allem die sog. Lohnsteuer. Das erklärt sich großenteils aus der starken Reagibilität der Löhne gegenüber Sozialproduktsveränderungen, aber auch aus der — unter den Wirkungen der Inflation gerade für kleine und mittlere Einkommen immer mehr sich fühlbar machenden — steilen Steuerprogression. Demgegenüber sieht unsere Einkommensteuer für die höchsten Einkommen praktisch Proportionalität vor, und zwar gegenwärtig auf einem Niveau von 56 °/o. Die Lohnsteuer ist i n den letzten Jahren zu der für die Gesamtentwicklung der Steuern entscheidenden Einzelabgabe geworden. Von dem Steuerertragszuwachs für alle Ebenen, der 1973 gegenüber dem Vorjahr nahezu 30 Mdn. D M betrug, entfielen in der Tat rd. 12 Mdn. D M auf die Lohnsteuermehreinnahmen. I n der jüngeren Vergangenheit haben neben der Lohnsteuer die sog. veranlagte Einkommen-, bisweilen auch die Körperschaftsteuer sowie die Mehrwert- und die Mineralölsteuer dazu beigetragen, dem deutschen Gesamtsteuersystem einen beachtlichen Grad an eingebauter Flexibilität zu verleihen. Da demzufolge die Gesamtsteuereinnahmen i n vielen Jahren relativ stärker wuchsen als das Sozialprodukt (z.B. 1972 um 14;3 °/o gegenüber einer Sozialproduktsteigerung von 9,2 °/o), ergaben sich kaum Schwierigkeiten, die absolut wie relativ steigenden Staatsausgaben i m wesentlichen ohne diskretionäre Steuererhöhungen zu finanzieren. I n vielen amtlichen und privaten Verlautbarungen verbreitete sich infolgedessen die optimistische Ansicht (außer i n der Bundesrepublik ähnlich auch i n Großbritannien und Schweden), die Kosten der geplanten großen sozialen und wirtschaftlichen Reformen auf diese Weise quasi „geräuschlos" decken zu können. Neuerdings sind jedoch demgegenüber pessimistische Stimmen laut geworden. So w i r d
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namentlich i n einer vor kurzem vom Münchener Ifo-Institut veröffentlichten Studie 3 die Meinung vertreten, die Aufkommenselastizität der Lohnsteuer werde i n naher Zukunft von etwa 1,8 i n den letzten Jahren so stark sinken, daß für das Gesamtsteuersystem diese Elastizität nur noch 1 ausmachen werde — wobei zu bedenken ist, daß der (nach der Einkommensteuer i. w. S.) zweitwichtigste Pfeiler unseres Steuersystems: die Mehrwertsteuer, zwar eine für die Gesamtflexibilität ins Gewicht fallende Größe darstellt, aber nur eine Aufkommenselastizität von etwas weniger als 1 aufweist. Träfen die Annahmen des Ifo-Instituts zu, so würde unsere Besteuerung immer noch i n der Lage sein, ohne Tariferhöhungen die zur Finanzierung von m i t der gleichen Rate wie das Sozialprodukt steigenden Ausgaben erforderlichen M i t t e l zu liefern — aber für eine „automatische" Deckung einer wachsenden Staats quote bliebe kein Raum mehr, und zwar u m so weniger, je mehr es gelingen sollte, die Inflation zu bekämpfen, bzw. deren Auswirkungen auf die Besteuerung, vor allem: die Einkommensteuer, auszuschalten. Darüber soll sogleich noch ein Wort gesagt werden. Zuvor aber sei abschließend zur Frage der Aufkommenselastizität bemerkt, daß sie m. E. ceteris paribus i n der Bundesrepublik zumindest kurz- und mittelfristig noch leicht über 1 liegen wird, also, wie gesagt, unter den von mir vorausgesetzten gesamtwirtschaftlichen Bedingungen mindestens diejenigen steuerlichen Mehreinkünfte zu erzielen gestatten wird, die zur Aufrechterhaltung der bestehenden Staatsquote — allerdings wohl nur der i m Littmannschen Sinne „mittleren" — benötigt werden. Bei einer ins Gewicht fallenden Verschiebung der Steuersystemstruktur zugunsten der Mehrwertsteuer würde diese Annahme sich allerdings als zu optimistisch erweisen können. Ein kurzer Exkurs über die Beziehungen zwischen Inflation und Besteuerung 4, der hier eingeschaltet sei, erscheint deswegen geboten, weil die bis vor kurzem zu beobachtende sehr hohe Elastizität und Flexibilität moderner Steuersysteme i n erheblichem Maße durch die „trabende" Inflation bestimmt waren. Die Inflationswirkungen machen sich i n erster Linie bei den progressiven Personalsteuern bemerkbar, zu denen neben der Einkommensteuer i. w. S. Vermögen- und Erbschaftsteuern gehören. Abgesehen davon, daß die Vermögensteuer — jedenfalls bei uns — nur indirekt progressiv ist, können w i r die folgenden 3 J. Körner: Die Aufkommenselastizität des deutschen Steuersystems 1950 bis 1973, ifo-Studien zur Finanzpolitik 16, München 1974. 4 Vgl. F. Neumark: I m p ô t et Inflation, i n „Essays en l'Honneur de Jean Marchai, Paris 1975, t. 2, p. 221 ff., sowie die erst während der Drucklegung der vorliegenden Abhandlung erschienene Studie von R. A. Musgrave über „ T a x Structure, Inflation and G r o w t h " (Referat auf dem Barcelona-Kongreß des UFP, Sept. 1973, veröffentlicht i n „Public Finance" 1975).
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Betrachtungen schon u m deswillen auf die Einkommensbesteuerung beschränken, weil nur diese einen hohen Elastizitäts- und Flexibilitätsgrad aufweist. I n aller Kürze ist zu sagen, daß ein erheblicher Teil der Mehreinnahmen aus Einkommen-, insonderheit Lohnsteuer sich aus der Tatsache der sog. „kalten Progression" erklärt, d. h. daraus, daß bei Inflation und gleichem Steuerrecht Einkommensteile, die lediglich einen Ausgleich für die Geldentwertung darstellen, also bloß fiktiv-nominalen Charakters sind, mit steigenden Grenzsteuersätzen belastet werden. Dieser Zustand ist einerseits eine Folge des D M = D M = P r i n z i p s , d.h. einer juristischen Fiktion, die ja auch während der deutschen Hyperinflation der frühen 20er Jahre vom Reichsgericht m i t verhängnisvollen ökonomischen, sozialen und politischen Konsequenzen bis zum bitteren Ende aufrechterhalten wurde, und andererseits der Neigung von Regierung und Parlament, sich auch die auf völlig ungerechter Grundlage erlangten Mehreinnahmen weiter zu sichern, u m steigende Ausgaben „bequem" finanzieren zu können. Diese Haltung stößt jedoch mit zunehmender Dauer und/oder Stärke des Inflationsprozesses auf immer stärkere politisch-psychologische Widerstände. Es ist i n der Tat kaum vorstellbar, daß man abermals, wie bei uns zwischen 1965 und 1974, ein Jahrzehnt verstreichen läßt, ehe man sich dazu aufrafft, i m Rahmen einer Steuerreform wenigstens die schlimmsten inflationsbedingten Verzerrungen vorübergehend zu beseitigen. Vielmehr ist damit zu rechnen, daß entweder häufigere diskretionäre Anpassungen oder eine Indexierung 5 — i m zweiten Falle: automatisch — die inflatorischen Mehrerträge der Einkommensteuer mehr oder minder vollständig und rasch zum Verschwinden bringen werden; das läuft darauf hinaus, daß aus dieser Quelle keine zusätzlichen Ausgaben mehr finanziert werden können, man also entweder letztere reduzieren oder aber zu „offenen" Steuererhöhungen schreiten muß. b) Damit habe ich die zweite mögliche Methode zur Beschaffung zusätzlicher Finanzierungsmittel berührt, eben diskretionäre Steuererhöhungen. Sie sind bei gleichbleibendem Staatsausgabenanteil am Sozialprodukt nur dann erforderlich, wenn — aus welchen Gründen auch immer — die automatisch dank eingebauter Flexibilität sich ergebenden Steuermehrerträge sich als nicht ausreichend erweisen; dagegen w i r d dieser Weg unausweichlich, falls eine beträchtliche Erhöhung der Staatsquote realisiert werden soll. 5
Siehe F. Neumark: Indexbindung u n d Besteuerung, i n W. Ehrlicher (Herausg.): Probleme der Indexbindung, Beiheft 2 zu „ K r e d i t u n d K a p i t a l " , B e r l i n 1974, S. 75 ff.) sowie namentlich den (ebenfalls erst nach meinem Vortrag publizierten) Report des australischen „Committee of I n q u i r y into Inflation and Taxation" über „Inflation and Taxation", Canberra, M a y 1975, insbes. p. 109 ff.
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Die beiden Hauptfragen, die i m folgenden zu erörtern sind, lauten: Wenn Steuererhöhungen, dann bei welchen Abgaben? Und weiter: wie können Steuerer höhungen technisch verwirklicht werden? α) Zum ersten Punkt ist zu bemerken, daß i m Falle des von mir vorausgesetzten relativ erheblichen Mehrbedarfs an Deckungsmitteln selbst Steuern mit hoher Aufkommenselastizität irrelevant sind, sofern sie nicht auch eine starke passive Flexibilität besitzen. I n den meisten heutigen Steuersystemen ist letztere außer für die Einkommensteuer nur mehr für die Mehrwertsteuer gegeben. Daneben sind allenfalls noch die Mineralölsteuer, deren Erträge jedoch meist (mindestens partiell) zweckgebunden sind, sowie die Gewerbesteuer zu erwähnen; diese sollte allerdings nach Ansicht der meisten Finanztheoretiker und sogar mancher Finanzpolitiker eher allmählich abgebaut als noch erhöht werden. Nun könnte man freilich auch an die Einführung neuer Abgaben denken. Aber m i t Ausnahme der Vereinigten Staaten, die als einziges größeres Land der westlichen Welt noch keine allgemeine Umsatz- oder Mehrwertsteuer auf Bundesebene kennen, diesbezüglich also über eine bedeutende Reserve verfügen, sehe ich keine Abgabenart, die, obwohl von hoher Ergiebigkeit und Elastizität, i n einem modernen Steuersystem fehlte, so daß man — auch wenn man den bekannten Ausspruch Canards : „ A l t e Steuern, gute Steuern; neue Steuern, schlechte Steuern" für eine starke Übertreibung hält — w o h l oder übel an eine Erhöhung der bestehenden Steuern denken muß. Praktisch w i r d es sich, wie schon angedeutet, nur handeln können um eine Anspannung der Einkommensbesteuerung oder u m eine solche der Mehrwertsteuer oder schließlich u m eine Kombination beider Maßnahmen. Eine generelle Antwort auf die Frage, welche dieser drei Lösungen den Vorzug verdient, ist offensichtlich nicht möglich, vielmehr kommt es auf die Struktur des Steuersystems, Personalbestand und -qualität der Steuerverwaltung u. dgl. mehr an, die i m Ausgangszeitpunkt i n dem betreffenden Lande vorhanden sind. Die diesbezüglichen Unterschiede variieren nach Zeit und Raum erheblich. Das kann hier nur eben angedeutet werden. Laut „Finanzbericht 1974" (S. 329 ff.) des B M F betrug der Anteü der „Steuern auf das Einkommen und Vermögen" u m das Jahr 1972 in der Bundesrepublik reichlich 55 °/o der Gesamtsteuereinnahmen aller Ebenen, i n Frankreich nur gut 36 °/o, i n Großbritannien, Schweden und der Schweiz dagegen über 60 % und i n den Vereinigten Staaten gar 72,5%. Natürlich entspricht dem eine annähernd umgekehrte Quote bei den „Steuern auf die Einkommensverwendung". Greife ich aus diesen lediglich die Umsatzsteuern heraus, die ja als allgemeine Verbrauchsteuern gedacht sind und praktisch auch überwiegend so wirken, so entfällt auf sie ein Anteil i n der Bundesrepublik von 24 %, i n Frank-
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reich von 44 °/o, i n Großbritannien (wo sich aber durch die jüngste Steuerreform die Lage wesentlich geändert haben dürfte) von rd. 8 °/o, in Schweden (für das das gleiche gilt) von etwa 17 °/o und i n den USA von knapp 7 °/o. Schon diese großen Unterschiede scheinen anzudeuten, daß i n der einen Gruppe von Ländern noch erheblicher Raum für Mehrwertsteuererhöhungen, i n der anderen für Einkommensteuersteigerungen vorhanden ist. Aber diese Feststellung ist zu abstrakt, da sie weder die Psychologie der Pflichtigen — und: der gesetzgebenden Körperschaften — noch die Tatsache berücksichtigt, daß unter dem Namen ein und derselben Abgabe, wie insbesondere der „Einkommensteuer", sich faktisch außerordentlich verschiedene Steuern verbergen können — verschieden namentlich i n bezug auf ihre Reichweite und folglich ihre Ergiebigkeit einerseits, ihre Verteilungswirkungen andererseits, die ihrerseits beide von der Tarifgestaltung und der Effizienz der Steuerveranlagung und -erhebung abhängen. Daß ζ. B. die französische Einkommensteuer seit eh und je relativ sehr viel weniger ertragreich als die deutsche, die englische und die amerikanische ist, liegt ausweislich der i n den letzten Jahren erstatteten Berichte des „Conseil des Impôts" ganz wesentlich daran, daß große Teile der steuerbaren Einkünfte — u m es so auszudrücken — „nicht zur Kenntnis der Steuerverwaltung gelangen", daß i m Bereich der Einkommen aus Gewerbebetrieb und freiberuflicher Tätigkeit eine Pauschalierung stattfindet, die eine gewaltige Unterbelastung impliziert, daß das Prinzip der Familienbesteuerung dank dem sog. „quotient familial" aus populationistischen Motiven überstrapaziert und daß das Betriebsprüfungswesen nicht so ausgebaut ist wie beispielsweise bei uns. Angesichts dessen besagen die höheren Steuersätze so gut wie gar nichts — i n der Tat etwa ebenso wenig wie bei uns, nach der jüngsten Reform, der scheinbar konfiskatorische Erbschaftsteuerhöchstsatz von 70 °/o, da dieser nur Entfernt- oder Nicht-Verwandte des Erblassers i n den Fällen trifft, i n denen der Erbanfall 100 Mio. D M übersteigt; solche Fälle dürften sich aber schon deshalb äußerst selten, wenn überhaupt, ereignen, weil derart wohlhabende Individuen sich rechtzeitig die Assistenz gewiegter Steuerberater zu sichern wissen werden. Nicht ganz so gravierend sind — teilweise wegen der hier relativ erfolgreichen Harmonisierungsbemühungen der EG-Kommission — die qualitativen Unterschiede i n bezug auf Mehrwertsteuern, sofern man von den (allerdings erheblichen) Tarifdifferenzen absieht. Immerhin ist auch bei dieser Abgabe hinsichtlich ihrer fiskalischen und sozialen Wirkungen von großer Bedeutung, wie weit oder eng der Steuergegenstand gesetzlich definiert ist. ß) Damit ist der Ubergang zu einer Erörterung der Frage vollzogen, wie sich diskretionäre Steuererhöhungen technisch verwirklichen lassen. Das Nächstliegende scheint eine Tarifanhebung zu sein. Daneben
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kommt die Ausweitung der Bemessungsgrundlage i n Betracht, und zwar entweder durch eine Einbeziehung bisher steuerfrei gelassener Vorgänge bzw. Gegenstände oder aber durch eine Herabsetzung von Freibeträgen bzw. -grenzen; auch die — wie w i r sogleich sehen werden — fiskalisch und sozial höchst bedeutsame Abschaffung oder Reduktion von Steuervergünstigungen mag hierher gerechnet werden. Und schließlich ist eine Vervollkommnung der Besteuerungstechnik als M i t t e l der Aufkommenssteigerung zu erwähnen- Wiederum ist die Frage, welche dieser Methoden den komparativen Vorzug verdient, je nach den konkreten Situationen verschieden zu beantworten. Nur i n bezug auf einen Punkt dürfte ein generelles Urteil statthaft sein: Grundsätzlich sollte man vor einer Tariferhöhung prüfen, wie sich Veranlagung und Erhebung effizienter gestalten ließen und ob bzw. wo sich Schlupflöcher („loopholes") finden, die i n die Gesetzgebung aus fiskalisch wie gerechtigkeitspolitisch fragwürdigen Motiven hineingekommen sind und deren Schließung daher ohnehin geboten erscheint. Zu diesem letzten Punkt, der bei allen Überlegungen über die Durchführung von Steuererhöhungen an erster Stelle stehen sollte, ist ergänzend folgendes zu bemerken: I n seinem Gutachten zur Reform der direkten Steuern vom 11.2.1967 hat der Finanzwissenschaftliche Beirat beim B M F eine ganze Reihe von Anregungen gegeben, wie durch Beseitigung nicht bzw. nicht mehr berechtigter Vergünstigungen sowohl der Ertrag der Einkommensteuer vergrößert als auch gleichzeitig mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip unvereinbare Bestimmungen, von denen i n erster Linie Bezieher hoher Einkommen profitieren, i n Fortfall kommen könnten. Hierher gehören u. a. degressive und Sonderabschreibungen, die Vorzugsbehandlung landwirtschaftlicher Einkünfte, die praktische Steuerbefreiung von „capital gains" (nicht zuletzt von Grundwertzuwächsen), die großzügige Handhabung gewisser Vorschriften über Betriebsausgaben und Sonderausgaben — man bedenke, daß allein die Abschaffung der Abzugsfähigkeit von Diätkosten (1975) Mehreinnahmen für den Fiskus von etwa 400 Mio. D M zur Folge hat! —, u. dgl. mehr. I n jüngster Zeit hat auch der frühere amerikanische Unterstaatssekretär der Treasury, Professor Stanley Surrey , i n einem (1973 erschienenen) Buch 6 die K r i t i k w ü r d i g k e i t dessen hervorgehoben und anhand amerikanischer Verhältnisse demonstriert, was er als „tax expenditures " bezeichnet, d. h. als Steuervergünstigungen verkleideter Staatsausgaben, die i n den USA dazu führen, daß vor allem wegen der Vorzugsbehandlung von „charitable contributions", von Einkünften aus Ölquellen und von „capital gains" sowie dank der Steuerfreiheit von Zinsen aus einzelstaatlichen und kommunalen Anleihen Dollarmillio6 Stamley S. Surrey: Pathways to T a x Reform. The Concept of *Tax Expenditures, Cambridge, Mass. 1973. (Dazu F. Neumark i m „Finanzarchiv", N.F. Bd. 33, 1974, S. 139 ff.).
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näre keine oder fast keine Bundeseinkommensteuer zu zahlen brauchen. Ganz so schlimm sind die Verhältnisse bei uns (noch) nicht, aber Raum zu Verbesserungen ist genügend vorhanden; man denke nur beispielsweise an die hohen Beträge, die dem Fiskus deshalb entgehen, weil der Quellenabzug nur auf Dividenden, nicht aber auch (jedenfalls für „Inländer") auf Zinsen aus Obligationen Anwendung findet, was neben der Einkommen- natürlich auch die Vermögensteuer beeinträchtigt. Frankreich (und: die Schweiz) kennen bis heute noch nicht einmal den Lohnsteuerabzug! Daß die Lohnsteuer infolgedessen, selbst wenn in voller gesetzlicher Höhe, mit erheblicher Verspätung i n die Kassen des Fiskus fließt, hat für diesen i n Inflationsperioden beträchtliche reale Einbußen zur Folge, die bei einer vor kurzem seitens des St. Galler Finanzwissenschaftlers A. Meier angestellten empirischen Untersuchung über Inflationsgewinne und - V e r l u s t e des Staates 7 m. E. nicht hinlänglich i n Betracht gezogen worden sind. Was i m übrigen durch eine Vertiefung und insbesondere durch eine häufigere Durchführung von Buchund Betriebsprüfungen zu erreichen wäre, geht ζ. B. aus dem zweiten Bericht der französischen „Conseil des Impôts" vom J u l i 1974 hervor 8 ; danach haben solche Prüfungen 1972/73 je Fall durchschnittlich eine Heraufsetzung der Steuerschuld u m 100 000 Fr. zur Folge gehabt, und die Aufgliederung nach Gewerbezweigen zeigt, daß bei Hotels und Restaurants die Einkommensteuer, die nach den Erklärungen der Pflichtigen zu erheben war, verdoppelt werden konnte und daß sich bei Versicherungsagenten immerhin ein „Zuschlag" von 63 °/o, bei Zahnärzten ein solcher von 50 °/o ergab. Schlußfolgerung: Es gibt kaum irgendwelche staatliche „Investitionen", die so „rentabel" sind wie diejenigen, die dank einer zugleich quantitativ und qualitativ besseren personellen Ausstattung der Finanzverwaltung dieser eine intensivere Nachprüfung der Steuererklärungen und eine i n kürzeren Abständen erfolgende Buch- und Betriebsprüfung gerade auch der größeren Mittelbetriebe erlauben würden. Meinen letzten Ausführungen lag die These zugrunde, daß, sofern bzw. soweit durch die Beseitigung von Lücken, die Aufhebung von Vergünstigungen und die Verbesserung der Besteuerungstechnik Mehrerträge bei der Einkommensbesteuerung erzielt werden können, diese 7 A. Meier: Geldwertstabilität aus der Sicht des öffentlichen Sektors (erscheint demnächst i m Tagungsband des Vereins f ü r Socialpolitik „Stabilisierungspolitik i n der M a r k t w i r t s c h a f t " — Tagung Zürich 1974 — ; siehe auch das Korreferat v o n H. Pollak. Eine originelle, von den üblichen A n sichten großenteils abweichende Stellungnahme speziell hinsichtlich der Staatsverluste aus der f ü r die öffentlichen Ausgaben relevanten Preisentwicklung findet sich i n der i m „Finanzarchiv" (N.F. Bd. 33, 1975, H. 3, S. 369 bis 386) erschienenen Abhandlung von J. Starbatty: Der Staat — Inflationsgewinner oder Inflationsgeschädigter? 8 Deuxième Rapport d u Conseil des Impôts, „Statistiques & Etudes Financières", 26e année, No. 311, Novembre 1974, p. 101 ff.
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Maßnahmen den Vorzug vor einer Anspannung der Mehrwertsteuer verdienen. Erst wenn jene Mehrerträge nicht ausreichen sollten, stellt sich die eingangs erwähnte Frage neu, ob man, und dann natürlich via eine Tariferhöhung, sich die dann noch erforderlichen Beträge aus der Einkommen- oder der Mehrwertsteuer beschaffen sollte. I m Prinzip verdient auch bei einer solchen Einengung der Fragestellung die Einkommensteuer den Vorzug, doch gilt das, wie früher schon angedeutet, nur unter bestimmten Bedingungen, die nicht immer bzw. überall erfüllt sind. Wenn m. a. W. die effektiven Einkommensteuersätze bereits eine, die Neigung zu Mehrarbeit bzw. Mehrinvestitionen beeinträchtigende Höhe erreicht haben, wie das i m letzten Jahrzehnt beispielsweise i n Großbritannien und Schweden der Fall war und ζ. T. noch ist (Grenzsteuersatz i n Schweden 1973 einschl. Kommunalzuschläge schon bei mittleren Einkommen 50 - 60 °/o, Höchstssatz 78 °/o; auch der amerikanische Maximalsatz beträgt gegenwärtig noch 75,7 %>, w i r d allerdings nicht immer effektiv), dürfte keine weitere Erhöhung, vielmehr eher eine gewisse Senkung schon aus psychologischen Gründen angebracht sein. Überdies sind neben der Einkommensteuer i. e- S. immer auch daneben bestehende steuerähnliche Verpflichtungen zu berücksichtigen, wie insbesondere Sozialversicherungsabgaben, die ja ζ. B. bei uns ertragsmäßig bereits halb so hoch wie das gesamte eigentliche Steueraufkommen sind und die Hälfte desselben i n Ländern wie Frankreich und Italien sogar überschreiten. Es gibt also Situationen, i n denen eine Anspannung der Mehrwertsteuer angezeigt erscheinen mag, wenn ich auch glaube, daß eine solche Maßnahme jedenfalls i n der Bundesrepublik nicht für sich allein, sondern nur i n Kombination mit einer gleichzeitigen Intensivierung und Extensivierung der Einkommensbesteuerung ergriffen werden sollte. Denn es dürfte kaum bestreitbar sein, daß die Mehrwertsteuer, und zwar je umfassender ihr Gegenstand definiert und je höher ihr Tarif ist um so mehr, sozial unerwünschtere Verteilungswirkungen mit sich bringt als die Einkommensteuer. Davon abgesehen, läßt sich für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer das Argument vorbringen — und es w i r d von extrem liberalen Praktikern einschließlich eines früheren Bundesfinanzministers i n der Tat emphatisch verfochten —, mittels einer derartigen Maßnahme ließen sich sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, nämlich erstens die Beschaffung erheblicher (überdies nur zu Lasten des Konsums gehender) Mehrbeträge, bringt doch die Erhöhung der Steuer um einen Prozentpunkt ein zusätzliches Aufkommen von reichlich 5 Mdn. DM, und zweitens die vorgeblich i m Interesse der Steuerharmonisierung im EG-Raum ohnehin auf die Dauer unvermeidliche Annäherung der deutschen Mehrwertsteuer an das Niveau der französischen „Taxe sur 7*
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la valeur ajoutée". Zu diesem zweiten Punkt ist zu bemerken, daß man kein Nationalist sein muß, u m die Ansicht zu vertreten, die Bundesrepublik habe bereits so viele „Vorleistungen" für die Gemeinschaft erbracht, daß nun auch etwas von Frankreich erwartet werden könne. Konkret: Über eine Angleichung der deutschen an die französischen Mehrwertsteuersätze — die einer Verdoppelung der ersteren gleichkäme! — sollte nur bzw. erst verhandelt werden, wenn die französische Seite sich bereit erklärte, ihre „direkten" Steuern i n Richtung auf das deutsche, holländische und luxemburgische System zu „harmonisieren", d. h. effizienter zu machen. Nur en passant, da für unser eigentliches Thema nicht von Belang, sei noch erwähnt, daß eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, die von mancher Seite zur Verringerung der großen Haushaltsfehlbeträge 1975- 1976 empfohlen wird, gegenwärtig schon u m deswillen nicht i n Frage kommt, w e i l sie echte Mehrkosten implizieren und sich folglich unmittelbar i n einer Steigerung des Lebenshaltungskostenindex niederschlagen würde; das aber könnte die seit einiger Zeit sich abschwächenden Inflationserwartungen wieder verstärken, denn der Durchschnittsbürger vermag kaum zwischen inflations- und steuerbedingten Preisniveausteigerungen zu unterscheiden. Es gibt noch eine andere als die oben erwähnte Argumentation zugunsten von Mehrwertsteuererhöhungen, die ζ. B. auch i m Minderheitsvotum zum Gutachten des Finanzwissenschaftlichen Beirats von 1972 zu finden ist. Sie stützt sich auf — sonst von der modernen Finanzwissenschaft abgelehnte — äquivalenz-theoretische Überlegungen und behauptet, es sei „eher gerechtfertigt, die steuerliche Belastung danach zu bemessen, was der einzelne dem angebotenen Sozialprodukt entnommen, als danach, was er diesem hinzugefügt hat". Ich halte das „eher" nicht für richtig, gebe aber zu, daß u. U- auch für die Bundesrepublik eine Lage entstehen kann, i n der eine Ergänzung der auf dem Gebiete der Einkommensbesteuerung zu ergreifenden Maßnahmen durch eine leichte Anhebung der Mehrwertsteuer sich als zweckmäßig erweisen würde. 2. Damit möchte ich das — zweifellos für unser Thema wichtigste — Gebiet der Besteuerung verlassen und nunmehr die Frage erörtern, ob u n d ggf. w i e d u r c h zusätzliche nichtsteuerliche
laufende
Einkünfte
eine Finanzierung wachsender Staatsausgaben zu bewerkstelligen ist. Hier handelt es sich i n erster Linie u m alle möglichen Arten von Beiträgen, etwa auf dem Gebiet des Umweltschutzes, die, nach dem sog. Verursacherprinzip erhoben, eine gewisse Erleichterung der Finanzierungsschwierigkeiten der öffentlichen Hände bewirken würden; in zweiter Linie ist an eine den steigenden Leistungen entsprechende Erhöhung
der
Sozialversicherungsbeiträge,
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Änderungen
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der Gebührenpolitik im Bildungsbereich und an vierter Stelle schließlich an eine andere Gebührenpolitik der großen öffentlichen Unternehmen zu denken. Was diese betrifft, so ist daran zu erinnern, daß noch i n der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg die Reichspost, vor allem aber die i n Staatshand befindlichen Eisenbahnen nicht nur voll ihre Kosten deckten, sondern darüber hinaus Überschüsse an die öffentlichen Haushalte abführten, die diesen die Deckung eines erheblichen Teils der Ausgaben erlaubten. Eine Rückkehr zu einem solchen Zustand w i r d man realistischerweise nicht erwarten können. Wohl aber sollte es nicht utopisch sein zu verlangen, daß durch eine der Null-TarifIdeologie entgegengesetzte Taxpreispolitik bei Bahn, Post und örtlichen Verkehrsbetrieben die gegenwärtig aus allgemeinen Steuermitteln aufgebrachten Zuschüsse von Bund, Land oder Gemeinden wesentlich verringert werden. Selbst das scheint auf den ersten Blick eine politisch kaum durchsetzbare Forderung zu sein, doch dürfen solche Schwierigkeiten den Wissenschaftler nicht davon abhalten, die langfristigen Konsequenzen der heute befolgten Politik aufzuzeigen — nämlich eine mit einer Verschwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen einhergehende Finanzierungsmethode, die je länger desto stärker eine A n spannung gerade auch sozialpolitisch problematischer Steuern oder/und eine Einschränkung förderungswürdiger allgemeiner Reformprojekte erzwingt. Zum Nulltarif-Postulat ist ergänzend hinzuzufügen, daß es seit einiger Zeit nicht nur von nationalökonomisch wenig geschulten Radikalinskis, sondern auch von ernst zu nehmenden Wissenschaftlern diskutiert w i r d 9 , freilich vorläufig nur i n bezug auf Nahverkehrsanstalten. Obwohl m. E. ein Nulltarif selbst hier — und noch viel mehr natürlich bei Bahn und Post — aus allokationspolitischen Gründen abzulehnen ist, könnte man nicht voll kostendeckende Tarife gemeindlicher Verkehrseinrichtungen doch bis zu einem gewissen Grade mit gesundheits- und/oder sozialpolitischen Argumenten verteidigen und die Finanzierung der verbleibenden Fehlbeträge mindestens teilweise statt durch Steuern durch an speziellen Nutzenerwägungen orientierte Beiträge erfolgen lassen, wie etwa Boley das vorgeschlagen hat. Dennoch aber bleibt schwer einzusehen, warum bei dem heutigen Niveau der Masseneinkommen und den zahllosen sozialen Leistungen der öffentlichen Hand die ganz überwiegende Mehrheit der Benutzer von Straßen- und Eisenbahnen nicht kostendeckende Fahrpreise zahlen sollte — für die Ärmsten wäre eine Milderung von Härten durch Sozialhilfen erwünscht und möglich. Das wichtigste Argument gegen zu niedrige Tarife lautet dahin, daß — bei quasi garantierter Defizitdeckung durch den Staat, 9 Siehe etwa P. Boley: Der N u l l t a r i f i m Nahverkehr, „ K y k l o s " , vol. 26, 1973, S. 113 ff., dazu R. Blankart: Der N u l l t a r i f i m Nahverkehr als kollektive und individuelle Entscheidung, ib., vol. 28, 1975, S. 154 ff.
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wie sie ähnlich ja auch für die Sozialversicherung besteht — der Zwang zur Rationalisierung der öffentlichen Betriebe verringert wird, ja, beim Nulltarif gänzlich entfällt. 3. Als letztes ist noch kurz auf die Frage einzugehen, inwieweit wachsende Staatsausgaben aus kreditären Mitteln finanziert werden können bzw. sollen. Daß unter den diesem Referat zugrunde gelegten Annahmen ein „deficit spending" nicht i n Betracht kommt, liegt auf der Hand· Aber auch i n einer i m Gleichgewicht befindlichen Volkswirtschaft ist eine öffentliche Verschuldung keineswegs generell als anomal oder ökonomisch bedenklich, w e i l inflatorisch, anzusehen. Auf die Frage, wann eine Anleihefinanzierung i n diesem Sinne zulässig ist und wann nicht, haben Theorie und Praxis lange Zeit eine Antwort gegeben, die von der ökonomischen Eigenart der zu finanzierenden Ausgaben ausging. Danach durften sog. „werbende" (sprich: rentable) Anlagen aus Anleihemitteln erstellt werden, dagegen war eine kreditäre Deckung laufender Ausgaben grundsätzlich ausgeschlossen. Wie die Erfahrung gezeigt hat, war diese Regel — die man überdies oft i n der Weise umging, daß man selbst Kriegsschiffbauten als „produktive Anlagen" hinstellte — höchst problematisch. Sie hat in der Tat nicht verhindert, daß einerseits häufig eine vom Standpunkt des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und damit der ökonomischen und monetären Stabilität bedenkliche Überbeanspruchung des Kapitalmarkts durch den Staat stattfand und daß andererseits in Rezessions- bzw. Depressionszeiten eine verhängnisvolle Deflationspolitik betrieben wurde. Hauptsächlich aus diesen Gründen befürwortet die neuere Finanzwissenschaft statt einer „objektbezogenen" eine „situationsbezogene" Kreditpolitik der öffentlichen Hand 1 0 . Gelegentlich der deutschen Haushaltsrechtsreform von 1969 sind leider die beiden Kriterien vermischt worden: Auf der einen Seite muß nunmehr bei der Haushaltsgebarung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht Rücksicht genommen werden, auf der anderen ist die generelle Zulässigkeit der Anleihefinanzierung öffentlicher Investitionen statuiert worden, so daß eine solche Finanzierung auch i n Zeiten eines inflationären Booms legal möglich ist, obwohl sie ökonomisch irrational wäre. Schon wegen möglicher Unterschiede in der Interpretation des Begriffs „Investitionen" ermangelt die neue Regelung der erforderlichen Schärfe. Allerdings: auch für andere Begriffe des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes von 1967 einschließlich des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" gilt, wie von Juristen zutreffend hervorgehoben, Ähnliches; nur sind zahlreiche von Juristen geprägte und laufend verwendete Rechtsbegriffe nicht weniger 10 Vgl. dazu u. a. den reich dokumentierten Übersichtsaufsatz von Kitterer i n „öffentliche V e r w a l t u n g " , 1975, S. 23 ff.
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„unbestimmt" oder unpräzise, wie etwa — u m nur ein Beispiel zu nennen — der der „Verfassungswirklichkeit", der bekanntlich eine große praktisch-politische Bedeutung gewonnen hat, obwohl seine inhaltliche Bestimmung durchaus von höchst subjektiven Beobachtungen und Ausdeutungen abhängig ist. Auch die „Belastbarkeit" der Volkswirtschaft durch öffentliche Schulden ist alles andere denn exakt bestimmbar. Wenn beispielsweise der bekannte Wirtschaftstheoretiker Domar die Ansicht vertritt, die betreffende Belastung — genauer: die Belastung durch die aus der Staatsverschuldung resultierenden Zinsverpflichtungen — sei so lange tragbar, wie die Netto-Neuverschuldung nur proportional dem simultanen Wachstum des Sozialprodukts erfolge, so ist das zwar so lange kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit, wie ein Gleichbleiben des Zinssatzes unterstellt werden kann. Aber gerade das ist doch eine höchst problematische bzw. unrealistische Hypothese, und i m übrigen sind nicht nur Wachstums-, sondern auch stabilitäts- und verteilungspolitische Gesichtspunkte bei der Wahl zwischen mehr Steuern und mehr Schulden zu berücksichtigen. Was Wachstum und Stabilität betrifft, so spricht, wie s. Z. auch der Finanzwissenschaftliche Beirat i n seinem Gutachten von 1972 hervorgehoben hat, manches dafür, daß bei einer Kreditfinanzierung die gesamtwirtschaftliche Stabilität eher gefährdet w i r d als bei einer steuerlichen, was zugleich negative Wirkungen auf das Wachstum hätte, doch kommt es u. a. entscheidend darauf an, aus welchen Mitteln die öffentlichen Anleiheerlöse stammen. Überdies müssen natürlich bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen auch diejenigen Effekte berücksichtigt werden, die von den zu finanzierenden Staatsausgaben ausgehen und die, u m mit Lord Lauderdale zu sprechen, sehr wohl zu einer Vermehrung des „public wealth", also des nichtmeßbaren Teils des Sozialprodukts, wenn auch nicht immer der „private riches" führen können. Und schließlich ist die A r t der alternativ zu ergreifenden steuerlichen Maßnahmen i n diesem Zusammenhang von Bedeutung, wobei insoweit eine Mehrwertsteuererhöhung den Vorzug vor einer Anspannung der Einkommensbesteuerung verdienen dürfte, insbesondere, wenn diese schon vorher „anti-incentive"-Effekte mit sich brachte. Ein weniger verklausuliertes Urteil läßt sich i n bezug auf die Alternative Steuern vs. Anleihen fällen, wenn die verteilungspolitischen Wirkungen zur Diskussion stehen. Zwar kommt es natürlich auch hier u. a. darauf an, welche Steuern erhöht werden sollen bzw. wie sich die Finanzierungsmethoden auf die Zinsentwicklung und damit via funktionelle auf die personelle Einkommensverteilung auswirken. Bei realistischen Annahmen hinsichtlich dieser beiden Tatbestände jedoch kann davon ausgegangen werden, daß distributionspolitisch Steuern
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den Vorzug verdienen. Das gilt ceteris paribus insbesondere dann, wenn inflationäre Entwicklungen unterstellt werden müssen, die im Zweifel durch eine Kreditfinanzierung weniger leicht eingedämmt werden können als bei einer steuerlichen und deren ökonomisch wie sozial negativ zu beurteilende Verteilungseffekte wohlbekannt sind. Daß eine Kreditfinanzierung innenpolitisch leichter durchsetzbar ist als ein Anziehen der Steuerschraube, mag Regierung und Parlament als ein Vorteil erscheinen — der Finanzwissenschaftler neigt eher dazu, darin einen Nachteil zu erblicken, da jene Tatsache dazu führt oder richtiger: verführt, die Abwägung der Nutzen und Kosten zusätzlicher Staatsausgaben auf die leichte Achsel zu nehmen. Daß Staatsmänner oft ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie einen erheblichen Teil ihrer Finanznöte durch Verschuldung zu lösen suchen, ergibt sich daraus, daß sie sich bemühen, anhand internationaler Vergleiche die Größe der eigenen Staatsschuld als relativ gering erscheinen zu lassen. Derartige Vergleiche sind erst kürzlich wieder i n den BMWI-Tagesnachrichten (No. 7037 vom 11.3.1975) i n höchst fragwürdiger Form angestellt worden, indem man die deutschen öffentlichen Schulden denen in England, Frankreich, USA, der Schweiz usw. auf der Basis des Anteils an den öffentlichen Gesamtausgaben, des am Sozialprodukt und der Pro-Kopf-Beträge gegenübergestellt hat. Es ist evident, daß solche Vergleiche schon deshalb irreführend sind, w e i l sie auf die Kapitalbeträge statt auf die Zinsverpflichtungen abstellen und überdies die wesentlichen Unterschiede vernachlässigen, die i n bezug auf die Verschuldung großer Unternehmen i n der Weise bestehen können, daß die Eisenbahnen bei uns i m Staatsbesitz sind, i n manchen anderen Ländern hingegen, wie namentlich den USA, sich i n Privathand befinden. Man verschone die Öffentlichkeit daher m i t solchen Rechenkunststücken und mache sie lieber mit der Tatsache vertraut, daß das Eingehen zusätzlicher öffentlicher Schuldverpflichtungen i n Höhe von 50 - 60 Mdn. DM, wie es für 1975 zu erwarten ist, zwar unter den gegenwärtig obwaltenden Umständen keine großen Schwierigkeiten und Gefahren m i t sich bringen dürfte, wohl aber nicht eben geringe Folgelasten i n Gestalt erhöhter Zinszahlungen von schätzungsweise 4 bis 5 Mdn. D M je Jahr. III. Ich stehe am Ende meiner Betrachtungen. W i r haben gesehen, daß es mannigfache Wege gibt, u m zusätzliche Staatsausgaben beträchtlichen Umfangs zu finanzieren — aber auch, daß generelle Urteile über den „besten Weg" kaum möglich sind, die Entscheidungen über das Wie und Wieviel dieser oder jener Methode
Die Finanzierung wachsender Staatsausgaben
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vielmehr von einer großen Zahl von nach Raum und Zeit variierenden Faktoren abhängen. Immerhin hat sich jedoch gezeigt, daß i n einem Lande wie der Bundesrepublik langfristig die dank eingebauter, allerdings vermutlich tendenziell sinkender Flexibilität des Steuersystems sich automatisch ergebenden Mehreinnahmen nur unter der Voraussetzung ausreichen werden, daß die Staatsquote nicht stark steigt, m. a. W. die öffentlichen Ausgaben lediglich mit etwa der gleichen Rate wachsen wie das Sozialprodukt, und daß die Steuersystemstruktur nicht zu Lasten der Einkommensteuer verändert wird. Das gilt jedenfalls, wenn man sei es dem Inflationsprozeß Einhalt gebietet, sei es seine Wirkungen auf die Besteuerung durch Indexierung ausschaltet. Insoweit wie die dank eingebauter Flexibilität anfallenden Mehrerträge der Besteuerung sich — aus welchen Gründen auch immer — als quantitativ unzulänglich erweisen, muß eine diskretionäre Erhöhung von Steuern erfolgen, wobei i m wesentlichen nur die Möglichkeit einer Anspannung der Einkommen- und/oder einer solchen der Mehrwertsteuer bleibt. Namentlich i m ersten Falle ist technisch der Hauptnachdruck auf eine Beseitigung von Schlupflöchern bzw. ungerechtfertigten Vergünstigungen sowie eine Vervollkommnung der Veranlagungs-, Erhebungs- und Kontrollmethoden zu legen. Eine weitere Finanzierungsquelle stellen gewisse Beiträge sowie tarifpolitische Maßnahmen öffentlicher Betriebe dar. Ein gewisser Teil zusätzlicher Ausgaben schließlich kann, sofern das konjunktur- und stabilitätspolitisch unbedenklich erscheint, durch Anleihen finanziert werden, doch ist es insbesondere aus verteilungs-, aber auch aus anderen Gründen zweifelhaft, ob sich eine Erhöhung der Kredit quote, bezogen auf die Summe der zusätzlichen Finanzierungsmittel, langfristig empfehlen würde. Daß es i m übrigen — unabhängig von Finanzierungsfragen — Grenzen der Steigerung der öffentlichen Ausgaben gibt, dürfte jedenfalls dann unbestreitbar sein, wenn man die bestehende Wirtschaftsordnung als in ihrer Essenz erhaltungswürdig ansieht.
Aussprache zu den Referaten von Konrad Littmann und Fritz Neumark Bericht von Günter Epping Vor Eintritt in die eigentliche Fachdiskussion, die von Prof. Dr. Eichhorn, Speyer, geleitet wurde, bemühte sich Prof. Dr. Morsey, Speyer, aus der Sicht des Historikers den Hintergrund der von Neumark angesprochenen Brüningschen Deflationspolitik zu erhellen. Morsey betonte, Brüning habe sich m i t seiner Politik durchaus i m Einklang mit dem Reichsbankpräsidenten, dem gesamten Vorstand der Reichsbank und auch mit der großen Mehrheit der damaligen volkswirtschaftlichen Theoretiker befunden. Die sog. Deflationspolitik sei i n erster Linie ein erzwungener Anpassungsprozeß an die weltwirtschaftliche Entwicklung und an gesunkene Rohstoff- und Weltmarktpreise gewesen — unausweichlich, da sie der ganz großen Mehrheit der Zeitgenossen als einzige Möglichkeit erschien, sich vom Trauma der Inflation zu befreien; erzwungen aber auch durch den Young-Plan, der vorschrieb, daß die deutsche Währungsparität weder durch Kreditausweitung noch durch Abwertung verändert werden dürfe. Erst danach sei sie dann von B r ü ning bewußt als außenpolitisches Instrument zur Überwindung der Reparationsverpflichtungen eingesetzt worden, u m damit die Krisenlage des Reiches mit ihrer Massenarbeitslosigkeit zu demonstrieren. Neumark versicherte, er habe Brüning als Typus des vollkommen uneigennützigen Politikers geschätzt. Für ihn habe Brüning jedoch den verhängnisvollen Fehler begangen, die innenpolitischen Konsequenzen der Massenarbeitslosigkeit i m Verhältnis zu der außenpolitischen Bedeutung der Reparationsverpflichtungen zu gering einzuschätzen. Zugleich gebe ihm das Beispiel Brüning, der ja auch Nationalökonom gewesen sei, Gelegenheit, einmal die häufig unterschätzten Fortschritte der modernen Nationalökonomie zu unterstreichen. Gegenstand der eigentlichen Fachdiskussion waren zunächst die Ausführungen Littmanns. Prof. Dr. Meißner, Frankfurt, stimmte der These Littmanns zu, es sei illusionär, Reformpolitik lediglich durch eine Erhöhung der Staatsquote realisieren zu wollen, wenn die Entwicklung der realen und der monetären Staatsausgabenquote auseinanderfielen. Für die Personalausgaben habe Littmann dieses Auseinanderfallen demonstriert (Schaubild 8). Er müsse jedoch fragen, wie die Preis-
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bereinigung durchgeführt worden sei. Für die Sachausgaben, die er für interessanter halte, weil hier öffentliche Nachfrage durch private Produktion befriedigt würde, also öffentlicher und privater Sektor unmittelbar aufeinander träfen, fehle dieser Nachweis. I n seiner A n t w o r t wies Littmann darauf hin, daß auch das Statistische Bundesamt preisbereinigte Zeitreihen veröffentliche, jedoch nicht angebe, wie die Preisbereinigung durchgeführt werde. Für die öffentlichen Personalausgaben habe er deshalb ein eigenes Verfahren verwendet. Er sei ausgegangen von der Annahme, seit 1962 seien weder zusätzliche Bedienstete eingestellt worden, noch seien i m öffentlichen Dienst Produktivitätszuwächse zu verzeichnen gewesen. Unter dieser Annahme blieben die realen Personalausgaben seit 1962 i n Höhe der tatsächlichen (nominellen) Ausgaben von 1962 konstant. Diese fiktive Entwicklung müsse allerdings, sowohl in bezug auf die Personalvermehrung als auch i m Hinblick auf den Produktivitätszuwachs i m öffentlichen Dienst korrigiert werden. Die so entstandene preisbereinigte Reihe der öffentlichen Personalausgaben sei jedoch aus zwei Gründen problematisch: Erstens gebe es keine hinreichenden statistischen A n gaben darüber, wie sich die Zusammensetzung des öffentlichen Personals verändert habe. Deshalb hätten solche Struktureffekte vernachlässigt werden müssen. Zweitens sei die Produktivitätsentwicklung i m öffentlichen Dienst nicht bekannt, so daß hilfsweise m i t der durchschnittlichen Produktivitätsentwicklung i m privaten Dienstleistungsbereich gerechnet werden müsse. Feldstudien i n ausgewählten öffentlichen Bereichen in den USA hätten jedoch gezeigt, daß dort die Produktivitätsentwicklung hinter der des privaten Dienstleistungsbereichs zurückgeblieben sei. Deshalb habe er die ermittelte reale Personalausgabenentwicklung auch als die denkbar günstigste Entwicklung bezeichnet. Für die staatlichen Sachausgaben gebe es dagegen Marktpreise, so daß das Statistische Bundesamt dafür einen Preisindex hätte ermitteln können. Es sei bedauerlich, daß ein solcher Index, wie Ministerialdirigent Dr. Raab e ihm erklärt habe, am Widerstand der Finanzminister gescheitert sei. Wissenschaftlicher Assistent Rahmeyer, Augsburg, ging auf das vom Statistischen Bundesamt angewandte Preisbereinigungsverfahren bei den öffentlichen Ausgaben ein. Da die Produktivitätsentwicklung i m öffentlichen Dienst empirisch nicht ermittelt werden könne, unterstelle das Statistische Bundesamt eine Produktivitätssteigerung von 1 % pro Jahr. Da man davon ausgehen müsse, daß die Produktivitätsfortschritte i m privaten Sektor größer als 1 °/o p. a. seien, die Lohnund Gehaltsentwicklung i m öffentlichen und privaten Bereich aber etwa parallel verliefen, folge allein aus dieser Produktivitätsannahme
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schon, daß bei konstanter nomineller Staatsquote die reale Staatsquote sinken müsse. Er halte die Berechnung einer realen Staatsquote daher f ü r wenig sinnvoll. Anschließend verwies Rahmeyer auf die Berechnungen des Sachverständigenrats, der für den Zeitraum 1966 bis 1971 f ü r den öffentlichen Sektor eine Preissteigerungsrate von 30 °/o, f ü r den privaten Sektor dagegen eine Rate n u r von 20 °/o ermittelt habe. Er vert r a t die Auffassung, es sei nachzuweisen, daß diese Differenz zwischen den Preissteigerungsraten i m privaten und öffentlichen Sektor u m so größer sei, j e größer die gesamtwirtschaftliche Preissteigerungsrate sei. Der Staat könne deshalb eine Reformpolitik, die etwa auf eine E r höhung der Staatsquote abziele, n u r dann realisieren, w e n n er dabei das Stabilitätsproblem nicht vernachlässige. Oberrechtsrat Dr. Brandstetter, München, nahm die v o n Littmann dargestellte Kostenentwicklung i m öffentlichen Sektor zum Anlaß, sich für die Schaffung eines Mechanismus zur rationalen Wirtschaftsführung i m öffentlichen Bereich auszusprechen. A l s mögliche Ansatzpunkte dazu nannte er beispielhaft den Ausbau einer permanenten Effizienzkontrolle, Verwendung v o n Nutzen-Kosten-Analysen, Übertragung moderner Instrumente zur Organisationsverbesserung auf den öffentlichen Sektor sowie die Schaffung einer integrierten Aufgaben-, Finanz- und Personalplanung. A u f den seiner Meinung nach vernachlässigten Verteilungsaspekt staatlicher A k t i v i t ä t machte Prof. Dr. Rose, Heidelberg, aufmerksam. Die Entscheidung darüber, ob der Staat eine bestimmte A k t i v i t ä t übernehmen oder sie dem privaten Sektor überlassen solle, könne nämlich nur m i t Hilfe eines konkreten Verteilungszieles getroffen werden. Wenn anhand eines solchen güterorientierten Verteilungszieles die optimale Staatsquote festgelegt sei, komme es auf die entsprechende Kaufkraftfreisetzung an. Dann sei n u r noch die Frage nach der optimalen Zusammensetzung, nicht mehr nach der optimalen Höhe der Steuerquote interessant. Der Teil des Sozialprodukts, über dessen letzte Verwendung der Staat i m Sinne eines solchen Verteilungszieles verfügen könne, lasse sich aber nicht ausreichend m i t den staatlichen Realausgaben quantifizieren; denn ein großer Teil dieser Ausgaben gelange ja wieder i n den Dispositionsbereich der Privaten. I n einer zweiten k r i tischen A n m e r k u n g äußerte Rose die Ansicht, trotz aller Unzulänglichkeiten der Statistik seien internationale Vergleiche der Staatsausgabens t r u k t u r durchaus sinnvoll. Er glaube nämlich, daß solche Vergleiche unter Umständen durchaus als Ersatz kostspieliger Experimente dienen könnten. Die Bemerkung Littmanns über die mangelhafte Publizität der Preisbereinigungsverfahren des Statistischen Bundesamtes veranlaßte Präsident Dr. Nellessen, Bad Ems, zu der Erklärung, daß es i n der amtlichen
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Statistik keine geheimgehaltenen Methoden gibt. W e r sich an die Statistischen Ä m t e r wende, bekomme immer umfassende Auskunft. I n seiner A n t w o r t auf die Diskussionsbeiträge stimmte Littmann der K r i t i k Rahmeyers an der Aussagefähigkeit realer Staatsausgabenquoten nicht zu. Z w a r stehe man erst am Anfang der Forschungsarbeiten, doch halte er diese Forschung für sehr wichtig, da es darauf ankomme, daß der Staat nicht nur nominell die Ausgaben erhöhe, sondern seine Leistungen materiell verbessere. Daß die Verteilung dieser Leistungen einen wesentlichen Aspekt der staatlichen A k t i v i t ä t darstelle, w o l l e er Rose gern zugestehen. Er habe den Verteilungsaspekt aus Zeitgründen i m Referat vernachlässigen müssen. Die Verteilungsfrage jedoch i n den Vordergrund aller Erörterungen über die Staatsaktivität zu stellen, halte er angesichts des geringen Effekts, m i t dem i n der politischen Praxis das Verteilungsziel verfolgt werde, nicht f ü r gerechtfertigt. Z u m zweiten K r i t i k p u n k t Roses bemerkte Littmann, er habe sich n u r da^ gegen ausgesprochen, aus internationalen Vergleichen v o n Staatsausgaben bereits Schlüsse zu ziehen. Wenn man dagegen tiefer i n einzelne Aufgabenbereiche eindringe, seien Rückschlüsse durchaus möglich. Die Vorschläge Brandstetters zur Eindämmung des Ausgabenanstiegs schienen Littmann ergänzungsbedürftig. Stichwortartig nannte er dazu einige Möglichkeiten: Privatisierung öffentlicher Aufgaben bzw. E r stellung öffentlicher Leistungen durch private Unternehmen; bessere Information der Öffentlichkeit nicht n u r über den Nutzen einzelner Bereiche staatlicher Aufgabenerfüllung, sondern auch über deren Kosten; Verbesserung der Koordination zwischen den Trägern verschiedener staatlicher Aufgaben; Wechsel i m Instrumentarium der A u f gabenerfüllung, etwa von Subventionen zu Verboten oder Geboten. Einen Anstoß zu geben, solche Fragen neu zu überdenken, sei die A b sicht seines Referats gewesen. Die Notwendigkeit intensiver zu prüfen, w i e der Staat seine Aufgaben erfüllen solle und welche Aufgaben er überhaupt noch erfüllen könne, so führte D i p l o m - V o l k s w i r t Vogt, Wiesbaden, i n seinem Diskussionsbeitrag zum Referat Neumarks aus, zeige sich besonders dringend in der aktuellen Konjunkturlage. Die Steuereinnahmen blieben w e i t hinter den erwarteten Ansätzen zurück. Auch i n Z u k u n f t dürfte die eingebaute F l e x i b i l i t ä t des Steuersystems keine überproportionalen Einnahmesteigerungen mehr bringen. Die dadurch entstehende Deckungslücke i n den öffentlichen Haushalten sei zwar 1975 noch ohne Schwierigkeiten über den K a p i t a l m a r k t zu finanzieren. I n den folgenden Jahren, wenn die Kapitalmarktfinanzierung schwieriger werde, der Finanzbedarf jedoch durch die steigenden Zins- und Tilgungsbelastungen noch zusätzlich steige, stehe man vor dem Problem, entweder zusätzliche öffentliche Einnahmen durch Steuern u n d Gebühren zu schaffen oder
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neue staatliche Aufgaben nur noch durch Abbau alter Aufgaben übernehmen zu können. Darin, daß für Steuererhöhungen, die zu fühlbaren Steuermehreinnahmen führen sollen, nur die Einkommens- bzw. Ertragssteuern oder die Mehrwertsteuer i n Betracht kommen, stimmte Regierungsdirektor Hannig, Celle, mit Neumark überein. Bedenken habe er jedoch, führte Hannig aus, dabei unter dem Gesichtspunkt steuerlicher Gerechtigkeit der Ertragsbesteuerung den Vorzug zu geben. Die Praxis zeige nämlich, daß Ertragssteuern ebenso wie die Mehrwertsteuer überwälzt würden, eine lückenlose Erfassung — auch ein Merkmal steuerlicher Gerechtigkeit — aber wesentlich leichter bei der Mehrwertsteuer möglich sei. Darüber hinaus hätten hohe Ertragssteuersätze den Nachteil zur Verschwendung oder zur Steuerflucht ins Ausland anzureizen. Bei fortschreitender Inflation müßten sie zudem laufend korrigiert werden, damit Ersatzinvestitionen über Abschreibungen finanziert werden könnten. Diplom-Kaufmann Rittershofer, Frankfurt, ging auf die von Neumark geforderten kostendeckenden Gebühren bei Bahn und Post ein. Das Beispiel der Post zeige, daß für die Gebührenfestsetzungen vor allem politische Kriterien eine Rolle spielten: Gebührenerhöhungen seien ζ. B. nie i n einem Wahljahr vorgenommen worden. Kostendeckende Gebühren seien deshalb politisch kaum durchsetzbar. Sie seien aber auch bedenklich, weil sie einerseits zu Leistungseinschränkungen der Post zu führen drohten, andererseits aber durch das bei steigenden Gebühren zurückgehende Verkehrsaufkommen die bereits erzielten Rationalisierungserfolge, die einen hohen Kapitalaufwand erfordert hätten, gefährdet würden. Neumark unterstrich i n seiner Stellungnahme zu den Diskussionsbeiträgen die von Vogt betonte Bedeutung der Zins- und Tilgungslasten, welche die hohe Neuverschuldung des Staates i n den kommenden Jahren nach sich ziehen werde. Wenn deshalb Steuererhöhungen notwendig seien, spreche er sich unter den gegebenen Bedingungen für eine Einkommensteuererhöhung aus. Den Einwand Hannigs, eine Mehrwertsteuererhöhung sei leichter durchzuführen, halte er nicht für ausreichend. Allerdings habe ihm, als er sich auf einer Tagung zur Steuerreform für die Berücksichtigung verteilungspolitischer Gesichtspunkte ausgesprochen habe, der damalige Bundesfinanzminister und jetzige Bundeskanzler bedeutet, es komme entscheidend darauf an, für größere Einfachheit und Leichtigkeit der Steuerverwaltung zu sorgen. Wie ernst jedoch dieses Ziel verfolgt werde, merkte Neumark ironisch an, zeige die arbeitsamtliche Kindergeldregelung, die von den Länderfinanzministern gegen den Bundesfinanzminister durchgesetzt worden sei.
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Sehr kritisch äußerte sich Neumark zur Gebührengestaltung bei Post und Bahn. Er vertrat die Meinung, daß hier eine außerordentlich starke Kombination von Gebührenerhöhungen m i t Qualitätsverschlechterungen zu beobachten sei. Dabei seien gerade bei Post und Bahn i n besonderem Maße Rationalisierungsspielräume vorhanden. I m übrigen erstrecke sich die politische Einflußnahme ja nicht nur auf die Gebühren, sondern die Politiker hätten ebenso die Möglichkeit dafür zu sorgen, daß die nichtkostendeckenden Bereiche der Postdienste eingeschränkt würden. Abschließend stellte Neumark heraus, daß er keinesfalls für eine konstante Steuerquote votieren wolle. Es sei i h m darauf angekommen, die Reihenfolge der zu ergreifenden Maßnahmen bei öffentlichen Finanznöten deutlich zu machen: Zunächst Ausgabenüberprüfung, dann Steuerfinanzierung, soweit möglich, aus der eingebauten Flexibilität des Steuersystems; dann erst Steuererhöhungen bei der Einkommenssteuer, möglichst durch Abbau ungerechtfertigter Steuervergünstigungen.
Grenzen staatlicher Aktivität unter der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung Von Rupert Scholz
I. Die Frage nach den Grenzen der staatlichen A k t i v i t ä t unter der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung nennt nicht nur ein zentrales Problem der diesjährigen Fortbildungstagung, sondern eine essentielle Problemstellung i m modernen Verfassungsstaat überhaupt: nämlich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, das Verhältnis von staatlicher Zuständigkeit und gesellschaftlicher Autonomie i m System des demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Dieses Verhältnis ist nicht mehr durch die liberal-staatliche Vorstellung einer Trennung von Staat und Gesellschaft mit der Folge prinzipieller Unterscheidbarkeit von staatlichen Zuständigkeiten und gesellschaftlichen (Wirtschafts-) Autonomien definiert. I m System des demokratischen und sozialen Rechtsstaates sind Staat und Gesellschaft verbandsmäßig miteinander identisch und funktional auf das engste miteinander verbunden. Wo der liberale Rechtsstaat auf die gesellschaftlichen Autonomien und ihre politische Prästabilität vertraute, wo der Staat m i t anderen Worten i m — als genuin „gesellschaftlich" vorausgesetzten — Wirtschafts- und Sozialbereich ohne prinzipielle Zuständigkeit blieb (bleiben konnte), dort ist der soziale Rechtsstaat von heute längst zum zentralen Funktionsträger auch i m ökonomischen und sozialen Ordnungsbereich geworden. W i r t schaftliche und soziale Autonomie der Gesellschaft bestehen heute nur noch i n den Grenzen und unter den institutionellen Voraussetzungen staatlicher Ordnung, staatlicher Lenkung und staatlicher Vorsorge. Namentlich der letztere Bereich, die staatliche Vorsorge, spielt i m System der modernen Staatsaufgaben die wohl entscheidende und instantiell primäre Rolle. Es begann mit der Verpflichtung des Staates zur individuellen, d. h. auf das einzelne, sozial oder wirtschaftlich schwache Mitglied der Gesellschaft bezogenen Sozialvorsorge. Aus ihr entwickelten sich die massentypischen Leistungsverhältnisse der Daseinsvorsorge i n allgemeiner abhängigen oder beherrschten Lebensräumen. Wo deren Strukturen aber noch und wesentlich mikroökono8 Speyer 59
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mischen Organisations- und Verhaltensformen verpflichtet blieben, dort wuchsen dem Staat bald und gleichzeitig die gesamtwirtschaftlichen Verantwortungsbereiche makroökonomischer Wirtschaftsvorsorge zu. Angefangen von der sog. Wachstumsvorsorge, die man schon früh i m Koordinatennetz der grundgesetzlichen Sozialstaatsklausel verortete, bis hin zur staatlichen Stabilitätsverantwortung m i t ihren fast omnipotent scheinenden Zielsystemen von Preisstabilität, Beschäftigungsstand, Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht (§ 1 St WG); und weiter: Staatliche Regional- und Strukturpolitik bilden heute den zentralen Pfeiler umfassender staatlicher Wirtschaftsplanung, einer Planung, die nur allzuoft notwendige Voraussetzung ökonomisch gesicherter Existenz und allen optimalen Wirtschaftens bleibt. I n diesem Sinne mag man heute bereits auch von einer staatlichen Planungsvorsorge als derjenigen Instanz sprechen, die nicht nur den makroökonomisch relevanten Datenkranz setzt, sondern die i m Höchstmaß schon zur existentiellen Voraussetzung mikroökonomischer Entfaltung — sprich unternehmenswirtschaftlicher Organisation — im gesellschaftlichen Räume wird. Dies ist, i n grobflächiger Form skizziert, der reale Befund; und er hat für das wirtschaftspolitische Verhältnis von Staat und Gesellschaft außerordentliche Auswirkungen gehabt: Er hat einen breiten Bereich ökonomischer Verantwortung und ökonomischen Verhaltens zur staatlichen und gesellschaftlichen Aufgabe gemacht. Die weitere Folge hiervon ist, daß Staat und Gesellschaft i m ökonomischen Bereich heute nicht allein — so das traditionelle, liberal-staatliche Funktionsmuster — einander gegenüberstehen, sondern nebeneinanderstehen, miteinander operieren, miteinander konkurrieren, sich gegenseitig aber auch substituieren und — auf eine Kurzformel gebracht — jedenfalls eines sind: nämlich absolut und wechselseitig voneinander abhängig. Für die vom liberalen Rechtsstaat als wirtschaftlich autonom vorausgesetzte Gesellschaft hat dies zum weitgehenden Autonomieverlust geführt; an die Stelle einer staatsfreien „Wirtschaftsgesellschaft" ist die wesentlich staatsgebundene und von der staatlichen Vorsorge abhängige „verwaltete Wirtschaftsgesellschaft" getreten. Für den Staat hat diese Entwicklung zum rapiden Anwachsen von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten geführt. Aus dem liberalen Rechtsstaat, der sich auf die funktionellen Primärbereiche von öffentlicher Ordnung und Sicherheit beschränkte respektive beschränken sollte, ist ein sozialer Rechtsstaat geworden, dessen Funktionen weitgehend ökonomischer A r t sind, und der i n vielleicht schon entscheidendem Maße die Züge eines primär wirtschaftenden bzw. wirtschaftsverwaltenden Staates entweder trägt oder — bei gleichbleibender Entwicklungstendenz — doch sehr bald tragen dürfte.
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Instrumenten äußern sich diese wirtschaftspolitischen Zuständigkeiten des Staates auf vielfältigste Weise. Sie erfüllen sich namentlich nicht nur i n den traditionellen Kategorien des wirtschaftspolitischen Interventionismus', d. h. in den Formen von konkret und individuell verhaltenskorrigierender (offensiver) Wirtschaftslenkung und (defensiver) Wirtschaftsaufsicht. Neben und weitgehend auch anstelle dieser klassischen Instrumentarien staatlicher Wirtschaftssteuerung sind die ungleich intensiveren Steuerrungsmechanismen von staatlicher Planung, Subventionierung sowie allgemein von staatlicher Stabilitäts-, Struktur« und Finanzpolitik getreten. Und der nächste, steuerungsmäßig vielleicht einschneidendste Staatsinterventionismus zeichnet sich bereits i n der ökologischen Dimension, d. h. i m verwaltungsrechtlich organisierten Umweltschutz mit seinen zwangsläufig qualitativen Neu- oder Umbewertungen eines bisher mehr quantitativ bewerteten Wirtschaftswachstums ab. Hinzu kommen schließlich schon seit längerem die breiten Zonen staatlicher Eigenwirtschaft sowie staatlicher und gesellschaftlicher Wirtschaftskooperation. Wo der letztere (jüngere) Bereich jedoch noch relativ wenig Probleme aufgibt, dort zeitigt der Komplex der staatlichen Eigenwirtschaft immer gravierendere Problemstellungen. Früher stellte sich die staatliche Eigenwirtschaft zumeist nur unter der Problemkategorie staatliche Erwerbswirtschaft m i t ihrer — gegebenenfalls unzulässigen — Konkurrenz gegenüber dem privaten Wettbewerber dar. Heute spielt dagegen das Problem der staatlichen Erwerbswirtschaft, so häufig es noch beliebten Grundriß- oder sonstig akademischen Anschauungsstoff zu vermitteln mag, keine so wesentliche Rolle mehr. Viel zentralere Bedeutung hat hingegen eine andere Form staatlicher Wettbewerbswirtschaft erlangt: jener Wettbewerb nämlich, den der Staat nicht aus erwerbswirtschaftlichen, sondern aus sozialwirtschaftlichen Gründen führt. Hierbei handelt es sich u m alle die Fälle sozial erforderlicher oder nützlicher Leistungen, die die P r i v a t w i r t schaft — ζ. B. das private Dienstleistungsgewerbe — zwar erbringt, von denen der Staat aber annimmt oder erkennen muß, daß sie i n der privatwirtschaftlich erbrachten Form entweder real nicht ausreichend oder sozial unterentwickelt sind. Wenn der Staat zur Überwindung solcher erkannten oder vermuteten Sozialdefizite eigene Wirtschaften beruft, so t r i t t er nicht nur äußerlich — und dies m i t der manchmal geballten Macht der staatlichen Haushalte — zur Privatwirtschaft i n Konkurrenz; er w i r d zugleich zum häufig übermächtigen Gegenspieler sozialnützlicher Gesellschaftsautonomie. Das Paradebeispiel für die politischen Fragwürdigkeiten solchen sozial wirtschaftlichen Staatswettbewerbs bildet wohl der Bereich der privaten Krankenversicherungen, deren sozialpolitischer Stellenwert außer Streit steht und der 8*
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dem Staate zunehmend dazu dient, nicht nur privatwirtschaftliche Defizite auszuräumen, sondern auch bestehende Leistungsfähigkeiten i n der privaten Versicherungswirtschaft anzugreifen (vgl. zuletzt etwa die symptomatischen Problemstellungen der gesetzlichen Landwirteund Studentenkrankenversicherung). Hierbei bedienen sich Staat und staatliche Leistungskörperschaften manchmal sogar konkurrenzierender Wirtschaftsmethoden, die aus der Sicht des Wettbewerbsrechts unlauter und rechtswidrig wären, die sich unter der Flagge staatlicher Sozialität jenen wettbewerbsrechtlichen Verhaltensregeln aber — und dies m i t einigem Erfolg — zu entziehen suchen. M i t diesen kurzen Bemerkungen über die i m einzelnen außerordentlich komplexen und vielschichtigen Prozesse staatlicher Wirtschaftslenkung, staatlicher Wirtschaftsplanung und staatlicher Wirtschaftsteilhabe muß es i m hiesigen Zusammenhang sein Bewenden haben. Entscheidend ist allein, daß der reale Problemhintergrund gekennzeichnet ist, vor dem sich Normativität und Aktualität der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung heute zu entfalten bzw. zu bewähren haben. II. D e r S t r e i t u m die Wirtschaftsverfassung
des Grundgesetzes
ist alt u n d
scheint i m wesentlichen entschieden zu sein. Dies gilt jedenfalls i n dem Sinne, als die frühere Kontroverse um eine eventuelle ordnungspolitische Fixierung des Grundgesetzes i m negativen Sinne beantwortet ist. Das Grundgesetz hat kein bestimmtes Ordnungsmodell i m Sinne der ökonomischen Theorie aufgenommen bzw. gar als solches zur normat i v verbindlichen Verfassungsentscheidung für die Ordnung und Organisation der Wirtschaft erhoben. Diese Feststellung gilt ebenso für das Ordnungsmodell der Marktwirtschaft wie für das Ordnungsmodell einer sozialistischen oder sonstigen (beispielsweise syndikalistisch organisierten) Zentralv
erwaltungswirtschaft.
Die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes gilt nach heute herrschender und auch vom Bundesverfassungsgericht schon früh i n seiner Entscheidung vom 20. 7.1954 zum Investitionshilfegesetz (BVerfGE 4, 7 ff.) gebilligten Auffassung als „neutral" bzw. wirtschaftspolitisch gestaltbar. Das bedeutet, daß die konkrete Ordnung der Wirtschaft vorrangige Aufgabe des Gesetzgebers und seines demokratisch legitimierten Ordnungsmandats ist. Richtig an dieser These ist zunächst, daß die Ordnung und Organisation der Wirtschaft vornehmlich eine Frage der wirtschaftspolitischen Zweckmäßigkeit ist; und Zweckmäßigkeitsentscheidungen t r i f f t die Verfassung i n richtiger Einschätzung der Situationsbefangenheit, Dynamik und Relativität aller wirtschafts-
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politischen Fragen und Entscheidungen nicht. Das Grundgesetz enthält auch keine Präferenzen i m einen oder anderen Sinne. Eine der wohl wesentlichsten und dauerhaftesten Leistungen des Verfassungsgebers von 1949 liegt vielmehr darin, sich allen ordnungspolitischen Vorstellungen und Ideologien verschlossen zu haben, die noch die Szenerie vieler Verfassungsgebungen auf Länderebene i n den Jahren 1946 - 48 beherrscht haben. Um so wichtiger ist es freilich heute, dies nicht zu vergessen oder gar zu leugnen, wie es zunehmend mehr auf „systemunfreudiger" Seite üblich wird. Das Grundgesetz ist weder ideologisch noch ordnungspolitisch präfixiert und versagt sich demgemäß jedem Versuch zur Imputierung entsprechender Systemvorstellungen oder Ordnungspostulate. Auch hierüber besteht i m Grunde weitgehende Einigkeit. Höchst problematisch und umstritten ist jedoch die weitere Frage nach den Grenzen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit. Bedeutet wirtschaftspolitische „Neutralität" der Verfassung auch ordnungspolitisch freie Gestaltbarkeit? Oder impliziert „Neutralität" nicht umgekehrt auch das Verbot jeder ordnungspolitisch fixierten oder intendierten Gesetzesentscheidung? M i t der Beantwortung dieser Frage steht und fällt zugleich die Beantwortung unserer Frage nach den Grenzen der staatlichen A k t i v i t ä t unter der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung. Daß „Neutralität" nicht Dezisionsverbot heißen kann, liegt bei näherem Zusehen auf der Hand; denn das Grundgesetz steht der W i r t schaft und ihren Ordnungsproblemen, wie sich aus einer Vielzahl von konkret wirtschaftsrelevanten Verfassungsbestimmungen ergibt, keineswegs indifferent oder gar passiv gegenüber. I m Gegenteil; und demgemäß kann „Neutralität" i n Wirklichkeit nur so viel bedeuten, daß das Grundgesetz der Wirtschaftsordnung durch den Gesetzgeber offen gegenübersteht (offene Wirtschaftsverfassung). Solche Offenheit der Wirtschaftsverfassung bedeutet zugleich aber, daß die reale Ordnung der Wirtschaft auch i n Zukunft i n jenem Rahmen offen — sprich flexibel und gestaltungsfähig — zu halten ist, wie ihn das Grundgesetz durch seine allgemeinen Ordnungsentscheidungen für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft insgesamt abgesteckt hat. Betrachtet man die diesen Rahmen füllenden Verfassungsnormen i m einzelnen, so offenbart sich sogar recht schnell, daß die These von der angeblichen „Neutralität" des Grundgesetzes i n wirtschaftspolitischen Fragen viel zu unbestimmt und undifferenziert, wenn nicht insgesamt fragwürdig ist. Denn das Grundgesetz t r i f f t i n Wirklichkeit eine ganze Reihe zentraler Entscheidungen für die Wirtschaft bereits selbst, überläßt dem Gesetzgeber also keinesfalls die gesamte Ordnung und Gestaltung der Wirtschaft, wie dies manche — entweder naive oder manipulative — Lesarten der Neutralitätsthese vorzutäuschen ver-
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möchten. Die Neutralität des Grundgesetzes beschränkt sich vielmehr auf jede dezidierte oder ideologisch fixierte Grundentscheidung für die gesamte Wirtschaft i m Sinne eines ordnungspolitisch geschlossenen Systems. Wirtschaft und Wirtschaftsgestaltung haben sich unter dem Grundgesetz stattdessen als offenes System zu verstehen; und dies bedeutet, daß auch die Gestaltungsmöglichkeiten eines wirtschaftspolitisch aktiven Staates begrenzt sind. Sie enden namentlich dort, wo der Umschlag in ein geschlossenes System droht, sei es, daß dies die Züge eines marktwirtschaftlichen Systems einseitig liberalistischer Deutung trüge, sei es, daß dies die Züge einer sozialistischen oder sonstigen Zentralverwaltungswirtschaft annähme. Offene Wirtschaftsverfassung unter dem Grundgesetz bedeutet mit anderen Worten zweierlei: einmal Offenheit in der Wirtschaftsordnung barkeit, u n d z u m a n d e r e n Offenheit haltens.
im Sinne von konkreter im Sinne eines dauerhaften
GestaltOffen-
Dies ist die verfassungsgesetzlich zwingende Ausgangsposition, an der sich seit 1949 nichts geändert hat. Andererseits darf freilich nicht übersehen werden, daß gerade die wirtschaftspolitischen Zuständigkeiten des Staates i m Laufe der weiteren Verfassungsentwicklung von 1949 bis auf den heutigen Tag laufend mehr und deutlichere Ausprägungen in der Verfassung selbst gefunden haben. Betrachtet man das Grundgesetz i n seiner ursprünglichen Fassung von 1949, so fanden sich diese Zuständigkeiten i m wesentlichen auf die Verfassungsaufträge des Sozialstaatsprinzips und die Gesetzgebungsermächtigungen der A r t . 74 Nr. 11 GG („Recht der Wirtschaft") und A r t . 74 Nr. 16 GG („Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung") beschränkt. Heute stehen daneben aber so ausholende Kompetenzen wie die des Stabilitätsauftrages des A r t . 109 GG und die des finanz- und materiell bundesstaatlichen (nicht nur formell gesetzeskompetenzbegründenden — Art. 72 I I Nr. 3 GG) Auftrages, „die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse i m Bundesgebiet" zu wahren (Art. 106 I I I 4 Nr. 2 GG), wie die verwaltungsstaatlichen Zuständigkeiten zur „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" und „Agrarstruktur" (Art. 91 a I Nr. 2, 3 GG) usw. Diese i n den letzten Jahren i n das Grundgesetz neu aufgenommenen Kompetenzen und Aufgaben besitzen sicher nicht nur deklamatorischen Inhalt Sie sind vielmehr und maßgebend Ausdruck einer enorm gewachsenen Verantwortung des Staates i n und gegenüber der Wirtschaft; und vorerst noch kaum i m Zusammenhang untersucht sehen sich die Fragen, welche Konsequenzen diese i m Wege der Verfassungsergänzung in das Grundgesetz aufgenommenen Wirtschaftskompetenzen des Staates für das Gesamtgefüge der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung ausgelöst haben. Sicherlich haben sie allerdings nicht das
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Grundkonzept des offenen Systems aufgegeben oder inhaltlich relativiert. Dies beweist mit besonderer Deutlichkeit die zur inhaltlichen Ausfüllung und Ausführung des Verfassungsauftrages aus A r t . 109 GG (Wahrung des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts") gleichzeitig ergangene Stabilitätsgesetzgebung, wenn sie i n § 1 StWG die Ordnungsziele und Ordnungsermächtigungen zur Wahrung und Sicherung von Preisstabilität, hohem Beschäftigungsstand, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Wirtschaftswachstum ausdrücklich an den „Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung" und damit an den Vorbehalt einer freien, sprich auch gesellschaftlich autonomen Wirtschaftsordnung binden. M i t diesem Bekenntnis des § 1 StWG zur „Marktwirtschaft" ist zwar, wie überwiegend und m i t Recht anerkannt wird, keine ordnungspolitische Fixierung auf ein marktwirtschaftlich geschlossenes W i r t schaftssystem erfolgt. Umgekehrt wehrt der Vorbehalt der „ m a r k t w i r t schaftlichen Ordnung" aber auch jede staatliche Wirtschaftsordnung ab, die die freie Wirtschaft i m Zeichen stabilitätspolitischer Staatsverantwortung übermäßig beschnitte oder gar zertralverwaltungswirtschaftlichen Ordnungsformen anzunähern suchte. So besitzt die Klausel von der „marktwirtschaftlichen Ordnung", recht verstanden, ihren guten, die Offenheit der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung gerade wahrenden und schützenden Sinn. U m die Richtigkeit dieses Satzes vollends zu belegen, bedarf es freilich noch des weiteren Nachweises, daß der grundgesetzlichen W i r t schaftsverfassung auch gewisse marktwirtschaftliche Strukturen i m manent sind; und dies, obwohl das Grundgesetz nach dem Gesagten ja auch der Marktwirtschaft, sofern diese in der Gestalt des geschlossenen Ordnungssystems aufträte, ablehnend gegenübertreten würde. Näheres Zusehen ergibt jedoch, daß der hier verwandte Begriff der „ M a r k t wirtschaft" rechtlich wie politisch nicht das ordnungspolitisch geschlossene System „Marktwirtschaft" oder auch „soziale Marktwirtschaft" i m Nipperdeyschen Sinne, sondern einen anderen Tatbestand real verfassungsgeschützten Wirtschaftsverhaltens umschreibt. I m einzelnen folgt dieser Tatbestand aus dem Zusammenhang der konkret w i r t schaftsrelevanten Verfassungsentscheidungen, d. h. namentlich aus den Grundrechten und den Grundprinzipien des sozialen Rechtsstaates. III. Soziale
Rechtsstaatlichkeit
u n d d i e Grundrechte
b i l d e n die k o n k r e t e n
Grund- wie Grenzpfeiler der offenen Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes, Aus dem Sozialstaatsprinzip ergeben sich die wichtigsten Ordnungs- und Handlungsermächtigungen des Staates. Denn das Sozialstaatsprinzip fordert und legitimiert staatliche A k t i v i t ä t e n i n
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Rupert Scholz
grundsätzlich allen Bereichen des sozialen Bedarfs, der sozialen Sicherheit und der sozialen Ordnung. Das Sozialstaatsprinzip orientiert sich dabei vorrangig an der Grunddynamik aller gesellschaftlich-sozialen Entwicklung. Es stellt m i t anderen Worten keinen definitiv umrissenen Aufgabenkatalog bereit, aus dem sich für jeden Einzelfall vorab Rang und Rechtfertigung staatlicher A k t i v i t ä t ablesen ließen. Der Funktionsauftrag des Sozialstaatsgrundsatzes ist vielmehr konkretisierungsbedürftig; seinen konkreten Inhalt bestimmen die soziale Situation i n der Gesellschaft und der staatlich-gesetzgeberische Kompetenzentscheid. I n diesem Sinne formuliert das Sozialstaatsprinzip einen permanenten Konkretisierungsauftrag, adressiert vor allem an den Gesetzgeber und sein sozial- oder wirtschaftspolitisches Gestaltungsermessen. So verstanden nivelliert das Sozialstaatsprinzip viel an funktionaler Unterschiedenheit von staatlicher und gesellschaftlicher A k t i v i t ä t . So überläßt es die Verfassung in hohem Maße dem Gesetzgeber, durch seinen Kompetenzentscheid über die Grenzen der staatlichen A k t i v i t ä t selber zu disponieren. Oder anders ausgedrückt: I m System des grundgesetzlichen Sozialstaates läßt sich die inhaltliche Substanz der staatlichen Aufgaben nicht abschließend bzw. nicht vorab definieren. Der Kanon der Staatsaufgaben ist vielmehr weitgehend offen und unterscheidet sich damit evident vom System der liberal-staatlichen Staatsaufgaben (prinzipiell geschlossener Aufgabenkanon). Für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bzw. Staat und Privatwirtschaft folgt daraus wiederum, daß der Gesetzgeber maßgebend auch über die Grenzen zwischen staatlicher und privater Wirtschaft entscheidet. Und von dieser Entscheidungs- oder Kompetenz-Kompetenz hat der Gesetzgeber bisher, wie unschwer auszumachen ist, m i t deutlich expansiven Tendenzen zugunsten staatlicher Aktivitäten Gebrauch gemacht. Die Grenzen der staatlichen Aufgaben und der gesetzgeberischen Kompetenz-Kompetenz gegenüber der Gesellschaft und P r i v a t w i r t schaft liegen i n den Grundrechten und i m Rechtsstaatsprinzip begründet. Grundrechte und Rechtsstaatsprinzip konstituieren die liberale Verfassungskomponente und formulieren damit die definitive Grenze aller staatlichen fauch sozialen) Zuständigkeiten. Dies bedeutet zunächst und vor allem, daß keine staatliche A k t i v i t ä t die prinzipielle Distanz zwischen Staat und Gesellschaft aufheben darf. Namentlich alle grundrechtlichen Freiheiten und Autonomien der Gesellschaft müssen intakt und staatsfrei bleiben; ihre funktionelle „Verstaatlichung" wäre nicht statthaft. Bevor auf die nähere Begründung dieser Feststellung einzugehen ist, bedarf es bei dem Stichwort von der „Verstaatlichung" freilich noch einer weiteren Klärung, nämlich der Auseinandersetzung m i t der
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Sozialisierungsermächtigung des Art. 15 GG. Nach dieser Verfassungsbestimmung können bekanntlich „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel . . . zum Zwecke der Vergesellschaftung . . . in Gemeineigentum oder i n andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden". Obwohl diese Regelung bisher nicht aktuell geworden ist, w i r d sie doch als aktualisierungsfähige Ermächtigung für den Gesetzgeber verstanden. Insoweit besteht i n der Interpretation des A r t . 15 GG prinzipielle Einigkeit. Keine Einigkeit besteht dagegen i n der Frage der materiellen, namentlich wirtschaftsverfassungsrechtlichen Bedeutung der Sozialisierungsermächtigung. Von den Verfechtern einer möglichst extensiven Lesart w i r d gern der Schluß gezogen, daß mit der Möglichkeit einer Sozialisierung der genannten Wirtschaftsgüter auch der Schritt zur sozialistischen Wirtschaftsordnung oder gemeinwirtschaftlich organisierten Zentralverwaltungswirtschaft eröffnet sein müsse. I n Wirklichkeit läßt sich eine solche Interpretation jedoch nicht halten. Denn sie reißt die Ermächtigung des A r t . 15 GG aus dem Zusammenhang m i t der übrigen Verfassungs- und namentlich Grundrechtsordnung heraus und verleiht ihr damit eine wirtschaftsverfassungsrechtliche Eigenbedeutung, die absolut systemwidrig ist. Auch der Art. 15 GG ist der offenen Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes verpflichtet; er ist ein Teil von ihr und nicht ihr potentieller Antipode. Nicht zufällig nämlich ressortiert der A r t . 15 GG i m Grundrechtskatalog; aus gutem Grund steht er sogar in unmittelbarem Zusammenhang mit der Eigentumsgarantie des A r t . 14 GG (zu ihr siehe noch i m folgenden) und ihren Einschränkungsmöglichkeiten (Art. 14 II, I I I GG). Dieser Zusammenhang w i r d zwar häufig übersehen oder doch unrichtig eingeschätzt. Man sieht allein, daß die Sozialisierungsermächtigung Verstaatlichungen von nicht unerheblichem Umfange erlaubt, übersieht dabei aber, daß diese Verstaatlichungen nur gegen Entschädigung erfolgen dürfen, d. h. rechtlich den gleichen Grenzen unterliegen wie die Enteignung des A r t . 14 I I I GG. Der Art. 15 GG ermächtigt m. a. W. ebenso wenig wie die Enteignungsermächtigung zur (sozialistischen) Umgestaltung der Wirtschaf tsverfassung. Er ermächtigt — gleichsam i n quantitativer und qualitativer Steigerung der Eingriffsmöglichkeiten des A r t . 14 I I I GG (Individual- oder Einzelenteignung) — nur zur Kollektiventeignung auf dem Gebiet bestimmter Wirtschaftsgüter, ohne jedoch die W i r t schaftsverfassung gleich m i t umgestalten zu dürfen. Diese Besonderheit der Sozialisierungsermächtigung ließe sich auch dahin umschreiben, daß auch A r t . 15 GG wirtschaftsverfassungsrechtlich „neutral" ist und bleiben muß — so engagiert sich eine zur Sozialisierung greifende Wirtschaftspolitik auch selbst verstehen mag. Keine Sozialisierung darf den Schritt zur (allgemeinen) Zentralverwaltungswirtschaft t u n oder intendieren; denn dies verletzte die ordnungs-
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politische Offenheit der grundgesetzlichen Wirtschaftsordnung insgesamt. Und weiter: Als i n diesem Sinne wirtschaftsverfassungsrechtlich „neutrale" oder besser „offene" Eingriffsregelung untersteht auch die Sozialisierung den allgemeinen Schranken der rechtsstaatlichen Ordnung; denn auch diese sind konstituierender Bestandteil der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung. Dies hat namentlich zur Folge, daß auch die Sozialisierung an die eingriffsbegrenzenden Grundsätze von Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit gebunden ist (rechtsstaatliches Übermaß verbot). A u f die konkretere wirtschaftsverfassungsrechtliche Bedeutung dieser rechtsstaatlichen Grundsätze w i r d i m Anschluß noch näher zurückzukommen sein. A n dieser Stelle sei als Zwischenbilanz lediglich festgehalten, daß der aus dem Sozialstaatsprinzip folgende Funktionsauftrag und die Sozialisierungsermächtigung des A r t . 15 GG der staatlichen A k t i v i tät und Wirtschaftsgestaltung zwar sehr viel Raum gewähren, daß dieser Raum aber nicht unbegrenzt ist. Er findet seine zwingenden Grenzen am Rechtsstaatsprinzip und an den Grundrechten. Wo Sozialstaatlichkeit und gegebenenfalls auch Sozialisierung dem staatlichen Wirtschaftsmandat sozialen Raum geben, dort garantieren Rechtsstaat und Grundrechte die liberalen Freiheiten und Autonomien der Gesellschaft auch i n der Wirtschaft. Sie halten die grundgesetzliche W i r t schaftsverfassung damit i n der Gesamtbalance und sichern ihre Offenheit auch gegenüber jenem Gesetzgeber, der unter Berufung auf A r t . 15 GG gewillt wäre, den Weg zur Zentralverwaltungswirtschaft einzuschlagen. Diesen Weg schließt das Grundgesetz, wie noch einmal resümierend hervorgehoben sei, auf jeden Fall aus; ihn könnte nur eine außerordentliche Verfassungsänderung eröffnen. Andererseits gilt i m System des Sozialstaates die Feststellung der offenen Staatsauf g ab en und damit die Schwierigkeit der funktionellen Abgrenzung von staatlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten. Eine materiale Scheidung a priori läßt sich heute kaum noch vornehmen. Denn mit der realen Breite und Vielfalt sozialer Bedarfslagen und sozialer Ordnungsaufgaben wachsen dem Staat und seinem legitimen Kompetenzentscheid laufend mehr Verantwortlichkeiten zu — Verantwortlichkeiten, die gerade wegen ihres „sozialen" Charakters für den liberalen Staat originäre Agenden der Gesellschaft und nicht A u f gaben des Staates gewesen wären. Gesellschaftliche Agenden sind Ausdruck bürgerlicher Freiheit und wirtschaftlicher Autonomie; staatliche Aufgaben sind Ausfluß gesetzlich-politischen Kompetenzentscheids. Der Gegensatz zwischen bürgerlich-privater Freiheit und staatlichöffentlicher Kompetenz besteht damit fort; seine Lösung ist jedoch nicht für alle Fälle gleichermaßen vorgezeichnet. I m System der offenen Staatsaufgaben findet sich namentlich kein formal einsetzbarer
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Funktionsschlüssel, der abstrakt oder ein für allemal staatliche von gesellschaftlichen Angelegenheiten zu scheiden wüßte. Diese Feststellung gilt auch gegenüber dem sog. Subsidiaritätsprinzip und den m i t ihm verwandten Funktionsverteilungsschemata, obwohl man gerade aus dem Gemeindewirtschaftsrecht seit der Regelung des § 67 DGO und dessen Nachfolgeregelungen i m geltenden Gemeinderecht oft gegenteilige Begründungsversuche unternommen hat. Bei näherem Zusehen ergibt sich jedoch schnell, daß diese Versuche sämtlich — auch wenn sie sich zusätzlich noch mit grundrechtlicher Munition aufzuladen suchten — zum Scheitern verurteilt waren bzw. sind. Denn das Subsidiaritätsprinzip ist m i t seiner Grundvorstellung vom funktionellen Vorrang der jeweils kleineren (gesellschaftlichen?) Einheit vor der jeweils größeren (staatlichen?) Einheit der grundgesetzlichen W i r t schaftsverfassung unbekannt. Der sozialstaatliche Funktionsauftrag ist nicht subsidiär; er ist an keinen Vorrang gesellschaftlicher Aktivitäten gebunden. Von Verfassungs wegen sieht er sich vielmehr m i t ebensoviel oder ebensowenig Prioritäten ausgestattet wie diese. Zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Funktionsanspruch besteht auch insoweit grundsätzliche Konkurrenz. Die Lösung dieser Konkurrenz hat auf dem Boden von Rechts- und Sozialstaat zu erfolgen; und das bedeutet, wie bereits an dieser Stelle hervorgehoben sei, den notwendigen Verzicht auf eine Regelung, die die staatlichen Aktivitäten von den gesellschaftlichen Aktivitäten i n allgemeingültiger bzw. funktionell absoluter Form unterschiede. Eine solche Unterscheidung und die m i t ihr verbundene Begrenzung des staatlichen Funktionsanspruchs kann allein i m konkreten Einzelfall über die konkreten Freiheits- und Funktionsgarantien der grundrechtlichen Ordnung gelingen. IV. Ob die Grundrechte freilich solche Funktionsgarantien — zumindest in allgemeinerer Form — enthalten, könnte bereits fraglich sein. Denn die Grundrechte gewährleisten zunächst nur bestimmte Freiheiten, und das heißt keine definitiven wirtschaftlichen, sozialen oder sonstigen Funktionen als solche, sondern lediglich die freiheitliche Chance zur Funktion bzw. zur funktional bestimmten Freiheitsentfaltung. Andererseits ist dies aber, wie die neuere funktionale Grundrechtstheorie nachgewiesen hat, das Entscheidende. Die Grundrechte sind funktional auf die gesellschaftliche, d. h. auch wirtschaftliche Realität zugeschnitten und empfangen aus ihr ihren spezifisch funktionalen Geltungsgehalt, bzw. umgekehrt: Die real-gesellschaftliche Funktionalität der Grundrechte gehört m i t zu deren (konkretem) Gewährleistungsinhalt.
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Die Grundrechte sind auch objektive Rechtsgrundsätze; sie ermöglichen und organisieren die freiheitlich-autonomen Handlungssysteme der Gesellschaft und benennen damit zugleich diejenigen Funktionen, die von der Gesellschaft dem Staate und seinen Aktivitäten freiheitsrechtlich vorgegeben sind. Allgemeiner ausgedrückt, bedeutet dies, daß die Grundrechte auch funktionelle Garantien für die Gesellschaft m i t der Folge entsprechender Begrenzungen staatlicher A k t i v i t ä t e n zu vermitteln bzw. zu konstituieren vermögen. Grundrechtstheoretisch sehen sich diese funktionalen Grundrechtswirkungen zwar noch nicht allseits aufgehellt. Gerade i m Bereich des Wirtschaftsverfassungsrechts als besonders sensibler Konfliktzone zwischen Staat und Gesellschaft sind aber erste und grundlegende Ergebnisse zu konstatieren. Die für die Wirtschaftsordnung maßgebenden Grundrechtsgewährleistungen finden sich i n der Eigentumsgarantie des A r t . 14 GG, i n der Berufsfreiheit des A r t . 12 GG, in der Koalitionsfreiheit des A r t . 9 I I I GG und i m Generalfreiheitsrecht des A r t . 2 I GG, dem die h. M. auch die wirtschaftlichen Garantien von Wettbewerbs- und Vertragsfreiheit zuordnet. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG schützt neben dem persönlichen Eigentum auch das Produktionseigentum und dessen ökonomische Verfügbarkeit bzw. i m weiteren Sinne des Wortes dessen wirtschaftliche Funktionalität. Diese Funktionalität entfaltet sich wirtschaftsverfassungsrechtlich i n zweierlei Richtung: einmal i n mikroökonomischer Richtung durch Schutz und Garantie der konkreten wirtschaftlichen Einheit, d. h. des Unternehmens und seiner grundsätzlich freien und privaten sowie individualen Nutzung oder Disposition nach den Regeln von wirtschaftlicher Rentabilität und persönlichen Erfolgs sowie Risikos; neben dieser mikroökonomischen Systemfunktion steht zum anderen die wirtschaftsverfassungsrechtlich ebenso bedeutsame makroökonomische Systemfunktion der grundrechtlichen Eigentumsgarantie. I h r zufolge fordert und statuiert das Prinzip des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln notwendig eine Wirtschaftsordnung, die den realen Wirtschaftsablauf nach den Strukturgesetzen von Privatautonomie, tatsächlichem (also nicht ordnungspolitisch oder ordnungstheoretisch „aufgegebenem") Wettbewerb und dezentralisierter Selbstregulation organisiert. Aus der Eigentumsgarantie folgt so ein plurales „System der Dezentrierung und Verteilung von Macht, Chancen, Risiko und Herrschaft" (Rupp, Grundgesetz und „Wirtschaftsverfassung", 1974, S. 35), das, wie erst kürzlich W. Leisner nachdrücklich aufgezeigt hat (BB 75, 1 ff.), als Organisationsform notwendig den privaten, d. h. staatsunabhängigen Markt voraussetzt und das als innere Funktionsstruktur m i t ebensoviel Notwendigkeit ein (auch) wettbewerbliches Handlungssystem fordert sowie begründet.
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Dieses System von M a r k t und Wettbewerb ist jedoch nicht m i t der ordnungspolitischen Vorstellung der Marktwirtschaft als einem ordnungspolitisch geschlossenen System identisch. Markt und Wettbewerb sind hier i m Gegenteil nicht Ausdruck eines ordnungspolitischen Theorems, sondern reale Organisations- und Funktionsmuster für eine Eigentumsverfassung, die anders nicht funktionieren kann bzw. anders den grundrechtlichen Anspruch auf optimale und effektive Freiheitsverwirklichung auch i m ökonomischen Bereich nicht einlösen kann. So mag man Markt und Wettbewerb nicht als institutionell geschützte Grundrechtskategorien verstehen; funktional und instrumentell genießen aber auch sie grundrechtlichen Schutz, vermittelt namentlich durch die Eigentumsgarantie des A r t . 14 GG. Der gleiche Systemeffekt folgt aus der Garantie wahl
und freien
Berufsausübung
gemäß
Art.
der freien Berufs-
12 GG. Dieses F r e i h e i t s -
recht schützt jede sinnvolle wirtschaftliche Tätigkeit und garantiert damit auch die Grundprinzipien von Gewerbe- und unternehmerischer Betätigungsfreiheit. I m Sinne einer wiederum dezentrierten, freiheitlich-pluralen und damit optimalen Funktionsstruktur auch dieses Grundrechts bedarf es i m wirtschaftsverfassungsrechtlichen Bereich erneut einer markt- und wettbewerbsmäßig organisierten Grundordnung. Denn sie bildet die Hauptfunktion entsprechend optimierter Berufsund Gewerbefreiheit; und dies bedeutet, daß sie auch selbst eine entsprechende Funktionsstruktur voraussetzt bzw. — i n die Sprache grundrechtlicher Normativität übersetzt — (mittelbar) gewährleistet. Für die grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung bedeutet dies zusammengefaßt, daß diese auch i n der Gestalt des offenen Systems wesentlich
Züge
einer
marktmäßigen
und
wettbewerblichen
Ordnung
tragen muß. Denn nur diese Ordnung gewährleistet den wirtschaftt e n d e n I n d i v i d u e n e i n System
freiheitlich-pluraler,
dezentraler
und
damit optimaler Freiheitschancen insgesamt. Inhaltlich unterstützt sieht sich dieses Ergebnis durch das Generalfreiheitsrecht des A r t . 2 I GG und seine — von der h. M. angenommene — Gewährleistung auch ökonomischer Handlungsfreiheiten wie der Wettbewerbs- und der Vertragsfreiheit. Dieses grundrechtsfunktionale Markt- und Wettbewerbssystem meint auch die Regelung des § 1 StWG, wenn sie die stabilitätspolitischen Steuerungsmechanismen des StWG an den „Rahmen der m a r k t w i r t schaftlichen Ordnung" bindet. Hiermit ist allein jene grundrechtsfunktional vermittelte, also nicht institutionell vorgegebene „ M a r k t w i r t schaft" gemeint. Eine „Marktwirtschaft" i m ordnungspolitisch geschlossenen Systemverständnis kennt weder das Grundgesetz noch das StWG; i h r puristischer Geltungsanspruch hätte sich nicht zuletzt den
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Lenkungsmechanismen eines StWG und den umfassenden, aber verfassungslegitimen Interventionsmöglichkeiten eines sozialstaatlich aktiven Gesetzgebers entgegengestellt. Versucht man bereits diese staatlichen Eingriffsermächtigungen zum B i l d einer grundrechtsfunktional vermittelten Marktwirtschaft i n bezug zu setzen, so bleibt w i r t schaftsverfassungsrechtlich gesehen eine M a r k t - und Wettbewerbsordnung, die allein das A t t r i b u t „limitierte Marktwirtschaft" verdient. Limitiert schon i m verfassungsrechtlichen Entstehungsgrund (lediglich grundrechtsfunktionale Vermittlung); und limitiert i m weiteren durch die legitimen Einschränkungen einer staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die das System der offenen Wirtschaftsverfassung mit und dauerhaft zu konkretisieren hat. Trotz dieser breiten staatlichen Einschränkungsmöglichkeiten bietet das B i l d der limitierten Marktwirtschaft doch die Grundlage für die nähere Bestimmung der Grenzen staatlicher A k t i v i t ä t . Denn wenn das System einer marktmäßig organisierten und wettbewerblich agierenden Wirtschaft unter grundrechtlichem oder doch grundrechtlich vermitteltem Schutze steht, so darf dieses System auch nicht beseitigt werden, namentlich nicht durch eine Sozialisierungsgesetzgebung nach A r t . 15 GG m i t zentral verwaltungswirtschaftlicher Tendenz. Auch die Sozialisierung hätte eine wirtschaftliche Ordnung zu erhalten, die strukturell markt- und wettbewerbsmäßig, d. h. freiheitlich und dezentral verfaßt wäre. Der Staat hat darüber hinaus den Bestand und die Funktionsfähigkeit eben dieser Wirtschaftsordnung zu achten sowie seinerseits zu sichern. Als Beispiel für solche Sicherungsmaßnahmen sei hier nur auf das Wettbewerbsrecht hingewiesen. Was sich tendenziell schon i n der Kompetenznorm des A r t . 74 Nr. 16 GG abgezeichnet hat, ist i n Wahrheit grundrechtspolitischer Auftrag: m i t den M i t t e l n namentlich des Wettbewerbsrechts dort einzugreifen, wo übermächtige Wirtschaftsmacht die freiheitlich-plurale und wettbewerblich-dezentrale M a r k t struktur bedrohen. I n diesem Zusammenhang darf insbesondere an die anhaltende Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit einer wettbewerbsrechtlichen Fusionskontrolle erinnert werden (vgl. §§ 23 ff. GWB). Bevor der Versuch unternommen wird, anhand einiger aktueller Fragestellungen die Grenzen der staatlichen A k t i v i t ä t i m System der limitierten Marktwirtschaft konkreter zu bestimmen, sei zur weiteren Verdeutlichung noch ein vergleichender Ausblick auf das System der grundgesetzlichen Arbeitsverfassung erlaubt. Die maßgebende Grundrechtsnorm bildet hier die Garantie der Koalitionsfreiheit aus A r t . 9 I I I GG, die funktionell auch die Tarifautonomie und den freien, d. h. staatsunabhängigen Arbeitskampf gewährleistet. Strukturell liegt i n diesen
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Funktionsgarantien nichts anderes als ein besonderes System von kollektiv-rechtlich organisierter Privatautonomie (Tarifvertragsfreiheit) und kollektiv-rechtlich organisiertem, antagonistisch angelegtem Wettbewerb (Arbeitskampf). Dieses System w i r d von der Verfassung i n A r t . 9 I I I GG in der Erwartung vorausgesetzt, daß nur so eine freiheitliche und zugleich sozialgerechte Ordnung des Arbeitslebens erreicht werden kann. Und daraus resultieren für den Staat evidente Einschränkungen seiner sozial- und wirtschaftspolitischen A k t i v i t ä t . Selbst die staatliche Verantwortung für die wirtschaftliche Stabilität findet ihre Grenzen an der Tarifautonomie. Namentlich Lohnstopps und verbindliche Lohnleitlinien wären mit A r t . 9 I I I GG prinzipiell unvereinbar; der Streit um die Rechtsnatur und Wirkung der sog. Orientierungsdaten i m Rahmen der Konzertierten A k t i o n (§ 3 StWG) hat diese strikte Begrenzung der staatlichen Zuständigkeiten i n das allgemeinere Bewußtsein gerückt. Ähnliches gilt für das (wettbewerbliche) System des Arbeitskampfes. So problematisch, j a gefährlich ausufernde Arbeitskämpfe für die Allgemeinheit sein können — eine staatliche Zwangsschlichtung toleriert die grundgesetzliche Arbeitsverfassung m i t der Garantie eines freien Koalitionsverfahrens gem. A r t . 9 I I I GG prinzipiell nicht. V. I m Bereich des Wirtschaftsverfassungsrechts ist es vorerst allerdings kaum möglich, m i t vergleichbarer Begriffsschärfe wie i m A r beitsverfassungsrecht die Grenzen der staatlichen A k t i v i t ä t zu bestimmen. Die Gründe hierfür sind vielfältigster A r t . Sie liegen ebenso i n der außerordentlichen Vielschichtigkeit der staatlichen Interventionen i m wirtschaftlichen Sektor insgesamt wie i n der ungleich geringeren Präzision der grundrechtlichen Funktionsgarantien für die Wirtschaft. Aus diesen Gründen bestehen nach wie vor eminente Schwierigkeiten, über allgemeine Aussagen — wie das Verbot, die markt- und wettbewerbsmäßige Wirtschaftsordnung als solche zu beseitigen oder auszuhöhlen — hinauszugelangen und auch für konkrete Staatsaktivitäten i m wirtschaftlichen Bereich definitiver greifbare Grenzen aufzuzeigen. Aus diesem Grunde können auch hier nur exemplarische Problemstellungen angeschnitten werden. Auszugehen ist dabei von den Formen und Techniken staatlicher Wirtschaftssteuerung,
Wirtschaftsplanung
und
Wirtschaftsteilhabe.
Denn diese formulieren und aktualisieren nicht nur die Ziele der staatlichen Wirtschaftspolitik; sie sind i m System des Rechtsstaates und seiner justiziellen Verfahrensgarantien auch für die rechtliche Kontrolle und inhaltliche Begrenzung maßgebend.
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Vom Gegenstand her bietet sich hierbei die Unterscheidung zwischen mikroökonomischen
u n d makroökonomischen
Steuerungsmitteln
an.
Zum Komplex der makroökonomischen Steuerungsmittel gehören vor allem die gesamte K o n j u n k t u r - und Finanzpolitik (die letztere, soweit sie geeignet ist, wirtschaftlich relevantes Verhalten von Privaten direkt oder indirekt zu beeinflussen). Zum Komplex der mikroökonomischen Steuerungsmittel gehören alle Maßnahmen der Wirtschaftslenkung i m engeren Sinne, der Wirtschaftsaufsicht und der staatlichen Wirtschaftsteilhabe; denn diese Maßnahmen nehmen direkten Einfluß auf das wirtschaftliche Verhalten von Privaten am Markt, setzen i m Unterschied zur makroökonomischen Steuerung also unmittelbar w i r k same sowie individual meßbare Daten für den konkreten Marktablauf (ζ. Β Aufsichtsmaßnahmen gegenüber Unternehmen, Gewährungen von Subventionen, Aufnahme staatlicher Konkurrenz usw.). Die grundrechtliche Kontrolle und Begrenzung solcher staatlicher Steuerungsmaßnahmen sieht sich für den Sektor der mikroökonomischen Lenkungsmittel bereits relativ weit entwickelt, für den Sektor der makroökonomischen Lenkungsmittel bestehen vorerst jedoch kaum praktikable Kontroll- oder Begrenzungschancen. Der Grund dafür liegt i m System der Grundrechte als einem Katalog individualer A b wehrrechte, die erst und prinzipiell auf den unmittelbaren hoheitlichen Eingriff i n eine aktuelle bürgerliche Freiheits- oder sonstige Rechtsposition reagieren. Abwehrreaktionen auf mittelbare Beeinflussungen wirtschaftlichen Verhaltens oder wirtschaftliche Abläufe durch makroökonomische Lenkungsmaßnahmen sind für diese geltende Konzeption grundrechtlicher Gewährleistungen — zumindest vorerst — nur außerordentlich schwer realisierbar. Hierzu bedarf es einiges weiteren Rüstzeugs, über das die bisherige Grundrechtstheorie jedoch noch kaum verfügt. Hierbei geht es vor allem darum, an die Stelle der — insoweit sichtverengenden — Vorstellung vom individualen Rechtseingriff eine Eingriffsvorstellung zu setzen, die auch imstande ist, mittelbar wirksame und zugleich massentypisch wirksame, weil nicht nur das Verhalten einzelner Wirtschaftssubjekte, sondern ganzer Märkte beeinflussende Maßnahmen zu kontrollieren und zu begrenzen. Hierzu bedarf es wiederum eines erweiterten Rechtsgutsverständnisses innerhalb der Grundrechte, d. h. einer Sicht von Grundrechten, die beispielsweise imstande ist, auch gruppenoder markttypische Konstellationen i m gegebenenfalls beeinflußten Wettbewerb, etwa i m Rahmen der Eigentumsgarantie des A r t . 14 GG, m i t zu überprüfen. Ein wesentlicher Ansatz dafür mag ζ. B. i m Begriff der j a vermögensrechtlich kategorisierbaren Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen am Markt und deren potentieller Verletzung durch
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staatliche Lenkungsmaßnahmen auch makroökonomischer A r t liegen. Einen anderen Ansatz bieten die Vorstellungen von Systemgerechtigkeit und Marktkonformität staatlicher Lenkung. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bisher zwar — mit Ausnahme von extrem systemwidrigen oder extrem marktinkonformen Maßnahmen — geweigert, diesen Kriterien rechtliche Maßstabsqualität für eine Begrenzung staatlicher Lenkungsaktivitäten zuzuerkennen. Tatsächlich darf hier aber das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Denn jene Kriterien könnten bei weiterer inhaltlicher Präzisierung doch Maßstäbe oder mittelbare Instrumentarien dafür bieten, auch verfehlte makroökonomische Lenkungsmaßnahmen, wie etwa wirtschaftsschädliche Strukturplanungen, grundrechtlichen Korrekturen näherzubringen. Sie würden zwischen der wirtschaftspolitischen Zielsetzung einer solchen Maßnahme und deren tatsächlich wirksamen Ordnungs- und Systemrelevanz einen ersten juridifizierbaren Sinnzusammenhang herstellen, wie er für eine grundrechtliche Eingriffskontrolle unabdingbar ist. So sehr diese — zwangsläufig mehr andeutenden als schon konkret fallentscheidenden — Überlegungen dem tatsächlichen Entwicklungsstand heute noch vorgreifen und damit nicht ohne spekulativen Beigeschmack sein können, soviel entwickelter ist die Situation i m Bereich der mikroökonomischen Steuerungsmittel. Hier geht es um die Kontrolle und Begrenzung von Maßnahmen, die das Verhalten des einzelnen Unternehmers oder Wirtschaftssubjekts unmittelbar beeinflussen; und solche Kontrollen bereiten den Grundrechten sinngemäß keine prinzipiellen Schwierigkeiten. I m mikroökonomischen, also unmittelbar unternehmensbezogenen Bereich, liegen i m übrigen die eigentlichen Chancen und freiheitsrechtlichen Positionen der wirtschaftlichen Autonomie Privater. Denn der Bürger entfaltet hier seine Rechte am Unternehmen (Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb), agiert hier privatautonom, konkurriert hier am Markt. Folgerichtig ist der grundrechtliche Stellenwert mikroökonomischer Verhaltensweisen erheblich höher als der makroökonomisch relevanter Verhaltensweisen. Und dies bedeutet wiederum, daß die grundrechtlichen Funktionsgarantien auf mikroökonomische Lenkungsmaßnahmen ungleich empfindlicher reagieren müssen bzw. zu reagieren pflegen. Verkürzt ausgedrückt: Gesellschaftliche Autonomie im wirtschaftlichen zunächst Freiheit zum mikroökonomisch
Bereich ist wesentlich relevanten Verhalten;
und denn
hier aktualisieren sich die Grundrechtsgarantien von Eigentum (Art. 14 GG), Berufs- und Gewerbefreiheit (Art. 12 GG) sowie Wettbewerbsund Vertragsfreiheit (Zusammenhalt aus A r t . 14, 12, 2 I GG). Dem sind zumeist auch die staatlichen Lenkungsaktivitäten gerecht geworden. I h r absolutes Schwergewicht hat sich nicht i m mikroökonomischen, 9 Speyer 59
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sondern i m makroökonomischen Bereich entfaltet — m i t der Zielsetzung zwar, auch mikroökonomisches Verhalten zu beeinflussen, dies aber nur mittelbar, indem sich der einzelne Unternehmer auf entsprechend makroökonomisch gesetzte Daten „freiwillig" einrichtet (z.B. steuerlich begünstigte Investitionstätigkeit, subventionsmäßig begünstigte Strukturplanung etc.). Direkt mikroökonomische Daten, wie Subventionsgewährungen, Aufsichtsmaßnahmen, Konzessionen usw., geben den grundrechtlichen Funktionsgarantien nur noch wenig Probleme auf. Hier reagieren die grundrechtlichen Abwehr-, Teilhabe- und Gleichbehandlungsansprüche mit aller überlieferten Selbstverständlichkeit. Eine weitere zentrale Rolle spielt hierbei das rechtsstaatliche Übermaßverbot. Schwierigkeiten bereiten dagegen noch Lenkungsmaßnahmen, wie die neuerdings bekanntlich verstärkt diskutierte Preis- und Investitionskontrolle. Preisbildung und Investitionen sind typischer Ausdruck und Bestandteil autonomen wirtschaftlichen Verhaltens. Dennoch sind beide Verhaltensweisen i n das Rampenlicht der Stabilitätspolitik geraten; beide Verhaltensweisen könnte der Staat — aus stabilitätspolitischen, d. h. makroökonomischen Beweggründen — unter seine Kontrolle zu bringen versuchen; und dies aus Gründen scheinbar höherer Lenkungseffizienz mit den direkten Zugriffsformen nicht nur makroökonomisch mittelbarer Beeinflussung, sondern unmittelbar zupackender Mikropolitik. Uber jene scheinbare Lenkungseffizienz von Preis- und Investitionskontrolle w i l l ich hier nicht rechten, obwohl eigentlich auf der Hand liegen sollte, daß eine staatlich-bürokratische Preis- und Investitionskontrolle m i t allen ihren Unbeweglichkeiten absolut unfähig sein muß, der außerordentlichen Sensibilität und Reagibilität namentlich investorischen Unternehmerverhaltens auch nur annähernd gerecht zu werden. Angestrebte Effizienz heißt hier i n Wahrheit wohl schlichte Scheineffizienz. Aber selbst wenn man die wirtschaftspolitische Lenkungseffizienz von staatlichen Preis- und Investitionskontrollen einmal unterstellen wollte, so stellt sich doch noch die Frage ihrer wirtschaftsverfassungsrechtlichen Zulässigkeit. Und diese Frage wäre grundsätzlich zu verneinen. Denn eine allgemeine Preis- und Investitionskontrolle griffe an die Grundlagen der wirtschaftlichen Privatautonomie schlechthin. Sie implizierte fast zwangsläufig den partiellen Umschlag zur Zentralverwaltungswirtschaft. Denn staatliche Preis- und Investitionskontrolle bedeutete in der Konsequenz auch staatliche Lenkung unternehmenswirtschaftlicher Ziele, bedeutete weiterhin staatliche Setzung von mikroökonomischen Prioritäten, die an sich den Mechanismen des
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Marktes, d. h. den Regeln von Angebot und Nachfrage, überlassen bleiben sollte. Aus diesen Gründen kann eine allgemeine Preis- und Investitionskontrolle vor der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung nicht bestehen. Dies bedeutet zwar nicht, daß nicht u. U. temporär sowie produktoder branchenmäßig begrenzte Preisstopps einmal zulässig sein könnten. Voraussetzung dafür wären aber stets wirtschaftlich überragende Gesamtinteressen, wie bestimmte Versorgungsnotlagen, die ihren Grund außerhalb der gegebenen und grundgesetzlich abgesicherten Wirtschaftsordnung besäßen. Punktuelle Preiskontrollen können darüber hinaus dort statthaft sein, wo sie gerade der Sicherung marktwirtschaftlicher Mechanismen dienen. Ich erinnere hier an die aktuelle Kontroverse, inwieweit die Kartellaufsicht bei der Kontrolle marktbeherrschender Unternehmensstellungen Mißbräuche bei der Preisgestaltung unterbinden darf (§ 22 GWB). I n solchen Fällen kann sich eine Preiskontrolle sogar als systemgerecht und marktkonform i n die geltende Ordnung einfügen. Hier wäre gegen den mikropolitischen Eingriff m i t anderen Worten und grundsätzlich nichts einzuwenden. Uber solche Ausnahmefälle hinaus sind Preis- und Investitionskontrollen aber prinzipiell nicht verfassungsgemäß. Ein weiteres, noch wesentlich ungeklärtes Problem staatlicher Mikropolitik bildet die staatliche Konkurrenzwirtschaft. Da das Grundgesetz keine Marktwirtschaft i m Sinne eines ordnungspolitisch geschlossenen Systems enthält, ist ein grundsätzliches Konkurrenzverbot für die Staatswirtschaft nicht begründbar. Vor allem gegenüber der staatlichen Erwerbswirtschaft ist zwar lange u m diese Einsicht gestritten worden; heute dürfte die grundsätzliche Legitimität staatlicher Wirtschaftsteilhabe und staatlicher Konkurrenzwirtschaft aber kaum noch ernsthaft bestritten werden. Das Problem der staatlichen Eigenwirtschaft ist i n Wahrheit das der konkreten Begrenzbarkeit; ein pauschales Ja oder Nein spricht die grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung nicht. Die allein aus Gründen der Gewinnmaximierung betriebene ErwerbsWirtschaft stellt auch i m System einer limitierten Marktwirtschaft einen tatsächlichen wie rechtlichen Fremdkörper dar. Hier gilt nach wie vor die politische wie rechtliche Forderung auf Abbau und Begrenzung solcher Wirtschaftsbetätigung des Staates. Denn sie liegt, sieht man von akzidentiellen Rechtfertigungen durch das verwaltungsrechtliche W i r t schaftlichkeitsgebot ab (Legitimation von fiskalischen Hilfsgeschäften etc.), eindeutig außerhalb des staatlichen Amtsauftrages. Wie bereits früher erwähnt, steht die staatliche Erwerbswirtschaft heute jedoch nicht mehr i m Zentrum der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundproblematik. Hier steht heute stattdessen die staatliche Sozialwirt9*
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schaft, d.h. die aus sozialen Leistungsgründen vom Staate betriebene Konkurrenz- sowie Monopolwirtschaft. Gegenüber diesen Formen der Staatswirtschaft fehlt es noch sehr an disziplinierenden Grenzmaßstäben. Denn vor allem die Rechtsprechung hat sich bisher noch kaum dazu verstehen können, derartige Staatswirtschaften als Grundrechtseingriff zu qualifizieren. Dies ist jedoch erforderlich. Denn die Konkurrenz eines staatlichen Unternehmens, das die finanziellen Möglichkeiten des Staatshaushalts hinter sich weiß, kann faktisch genauso eingriffswirksam sein wie etwa eine Enteignung oder eine hoheitliche Einstellungsverfügung gegenüber bestimmten privaten (Konkurrenz)Betrieben. I m Unterschied zum letzteren w i r k t die staatliche Konkurrenz zwar nicht m i t voll vergleichbarer Unmittelbarkeit; aus der — allein maßgebenden — Sicht des betroffenen Grundrechtsguts besteht aber kein relevanter Unterschied. Deshalb bedarf es dringend der entsprechenden (begrifflichen) Öffnung der grundrechtlichen Eingriffsvorstellung auch gegenüber staatlichen Konkurrenzmaßnahmen. Die theoretischen Grundlagen hierfür hat die Grundrechtstheorie schon seit längerem gelegt. Sollte eine solche Öffnung des Eingriffsbegriffs nicht auch in der Praxis bald erfolgen, so w i r d die evidente Gefahr unabweisbar, daß ein entstandener rechtlicher Freiraum noch weiter aufreißen kann. Immer dann, wenn der Staat nämlich am Markt aus sozialen Gründen m i t Privaten (z.B. m i t privaten Krankenversicherungsunternehmen) konkurriert, weigern sich die Verwaltungsgerichte i n aller Regel, den betroffenen Privaten grundrechtlichen Schutz zu geben, weil sie aus dem äußeren Tatbestand der wettbewerblichen Staatsbetätigung auf die angeblich alleinige Maßgeblichkeit des von den Zivilgerichten anzuwendenden Wettbewerbsrechts schließen. Damit werden dem Privaten aber Steine statt Brot gegeben. Denn die Zivilgerichte weigern sich mit ebensoviel Beharrlichkeit, das Wettbewerbsrecht anzuwenden, weil die betreffenden Wirtschaftsbetätigungen des Staates als sozialwirtschaftliches Handeln i n der Regel verwaltungsrechtlichen Aufgaben dienen; und i n die diesbezügliche Verwaltungshoheit dürften, wie die Zivilgerichte argumentieren, nicht sie selbst, sondern nur die Verwaltungsgerichte eingreifen. I n Wahrheit haben, wie hier aus zeitlichen Gründen nicht mehr näher ausgeführt werden kann, beide Gerichtszweige unrecht; und der objektiv gegebene Verstoß gegen die grundgesetzliche Wirtschaftsordnung ist beiden Gerichtsbarkeiten anzulasten. Noch gravierender stellt sich das Problem der staatlichen Wirtschaftsbetätigung schließlich i m Bereich der Begründung von wirtschaftenden Verwaltungsmonopolen. Hier hat die Rechtsprechung zwar die prinzipielle Betroffenheit namentlich der Grundrechte aus A r t . 12 und Art. 14 GG anerkannt; zu wirklich effektiven Begrenzungen der staat-
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liehen Monopolwirtschaften hat sich die Rechtsprechung bisher aber kaum bereitgefunden. Auch hier bedarf es noch intensiv klärender Grundrechtsarbeit. Deren Schlüssel liegt erneut i n der Vorstellung des grundrechtlichen Eingriffs; er muß für alle staatlichen Maßnahmen gelten, gleichgültig, ob diese i n den gewohnten Kategorien hoheitlichen Handelns auftreten. Eine effektive Wirtschaftsverfassung fordert gegenüber sämtlichen staatlichen Wirtschaftsmaßnahmen den vollen und uneingeschränkten Grundrechtsschutz; und dies bedeutet, daß auch Maßnahmen staatswirtschaftlicher Eigenbetätigung generell i n ihrer potentiellen Eingriffswirksamkeit erkannt und gewürdigt werden. M i t diesen Bemerkungen darf ich schließen. Ich bin m i r vollauf darin bewußt, daß ich Ihnen keine definitiven und bereits wirklich praktizierbaren Grenzen der staatlichen A k t i v i t ä t unter der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung vorgestellt habe. Uber einige, freilich recht wichtige Topoi ist die bisherige Entwicklung des grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassungsrechts noch nicht hinausgelangt. Die prinzipielle Richtung, die die weitere Entwicklung nehmen muß, sollte aber, wie ich hoffe, etwas deutlicher und plausibler geworden sein.
Aussprache zu dem Referat von Rupert Scholz Bericht von Eugen Paul Die Diskussion stand unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Merten, Speyer. I m ersten Diskussionsbeitrag ging Prof. Dr. Kisker, Gießen, auf die Bedeutung und die Stellung der großen wirtschaftlichen Gruppen i m Rahmen der Wirtschaftsverfassung ein. Diese Gruppen übten de facto eine Doppelfunktion aus, indem sie einerseits als Interessenvertretung einzelner Bürger agierten und andererseits die Steuerung des Wirtschaftsprozesses intensiv beeinfiußten. Man müsse sich daher überlegen, wie man sie i n die Wirtschaftsverfassung einordnen solle, mit welchen Befugnissen man sie ausstatten und welchen Schutz man gegen Gruppenbeschlüsse gewährleisten könne. Scholz erwiderte, die Einordnung der Verbände i n die Wirtschaftsverfassung sei i n der Tat ein wichtiges und bislang nicht gelöstes Problem. Die konzertierte A k t i o n sei ein erster institutioneller Versuch, den Verbänden eine organisatorisch verfestigte Form der Teilnahme an der Wirtschaftssteuerung zuzuweisen. Indessen sei dieser Versuch weitgehend gescheitert, w e i l den dort beteiligten Verbänden eben die verfassungsrechtliche Legitimation für eine verbindliche Lenkung der Wirtschaft durch Orientierungsdaten fehle. Solange dieser Mangel nicht dadurch beseitigt würde, daß der Staat bestimmte Zuständigkeiten, die er aus seiner demokratischen Legitimation ableite, an die Verbände abtrete, würden diese ihren Einfluß lediglich über Beratung und Information des Staates geltend machen können. Das gehe natürlich — wie derzeit bei der konzertierten A k t i o n — dann zu Lasten der Effizienz. Es sei zwar auch aus demokratischer Sicht wünschenswert, aus der Legitimation des Staates heraus bestimmte Kompetenzen bei den Verbänden und dadurch i n der Gesellschaft anzusiedeln, verfassungsrechtlich gebe es jedoch wohl noch keine Möglichkeit. M i t den ökonomischen Implikationen der begrifflichen Unterscheidung zwischen mikro- und makroökonomischen Steuerungsmitteln befaßte sich Prof. Dr. Duwendag, Speyer. Nach seiner Ansicht würden nicht nur mikro-, sondern auch makroökonomische Maßnahmen das Verhalten der Wirtschaftssubjekte direkt beeinflussen. Es sei geradezu
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ein essentielles Element der makroökonomischen Steuerung, eine direkte Verhaltensbeeinflussung herbeizuführen. Dann stelle sich aber die Frage, ob man die Unterscheidung zu mikroökonomischen Steuerungsmitteln noch an den Kriterien von Mittelbarkeit bzw. Unmittelbarkeit treffen könne. Scholz führte diesen scheinbaren Widerspruch auf die unterschiedliche Begriffssprache von Juristen und Ökonomen zurück. Für Juristen sei der makroökonomische Lenkungsmechanismus nicht direkt, w e i l gewissermaßen eine weitere Kausalität zwischengeschaltet sei. Eine bestimmte geld- und fiskalpolitische Maßnahme habe nur selten eine unmittelbar verpflichtende Wirkung. Sie könne zwar das Individuum mittelbar zu einer ökonomischen Verhaltensänderung veranlassen, nehme jedoch nicht hoheitlich direkt auf seine Verhaltensfreiheit Einfluß. Bei mikroökonomischen Lenkungsmitteln indessen sei diese Unmittelbarkeit i m juristisch-eingriffsrechtlichen Sinne i n der Regel gegeben. Merten griff die Fragestellung Duwendag s noch einmal auf. Tatsächlich gebe es — etwa bei der Erhebung eines Konjunkturzuschlags — makroökonomische Maßnahmen, die unmittelbaren Eingriffscharakter hätten und wo dann sehr wohl mit dem grundrechtlichen Schutz anzusetzen sei. Zumindest partiell sei also die Gleichsetzung von Makroökonomie mit Mittelbarkeit und MikroÖkonomie m i t Unmittelbarkeit nicht gerechtfertigt. Der Konjunkturzuschlag sei — so Scholz — nur aus ökonomischer Sicht eine makropolitische Maßnahme. Der Jurist hingegen sehe hier den direkt verpflichtenden Durchgriff auf das einzelne Wirtschaftssubjekt, für ihn sei deshalb die Maßnahme mikroökonomisch. Vom Eingriffsdenken her konzentriere sich die juristische Problematik auf die makroökonomisch-mittelbaren Maßnahmen. Trotz der Mittelbarkeit der Wirkungen könne hier die Konsequenz für den einzelnen letztlich ebenso hart und klar sein wie bei einer vergleichbaren mikroökonomischen Maßnahme. Nur: Die mehrfache Vermittlung der Wirkungen mache es außerordentlich schwierig, einen unmittelbaren Eingriff i n der grundrechtstheoretischen Begriffssprache zu konstruieren. Kisker regte an, für solche Fälle, i n denen es wegen der Mittelbarkeit an der Klagebefugnis fehle, eventuell Verbandsklagen zu ermöglichen. Die Verbände sollten dann nicht subjektive öffentliche Rechte geltend machen müssen, sondern quasi als Popularkläger auftreten. I n seiner A n t w o r t äußerte Scholz Zweifel an der Verbandsklage, wo bestimmte Verbände als Verkörperung eines repräsentativen „markttypisch" betroffenen Interesses legitimiert wären, Abwehrklagen gegen den Gesetzgeber zu erheben. Die Legitimation der Verbände sei
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solange problematisch, wie nicht festgestellt werden könne, an welcher Stelle die Rechte des grundrechtlich allein legitimierten Individuums i n die Position des Verbandes übersetzt würden. Aus prozeßrechtlichen Gründen sei es auch fraglich, ob es genüge, wenn man sage, der Verband sei aktiv legitimiert, weil er sich das Interesse seiner Mitglieder zu eigen gemacht habe. Es sei wohl aussichtsreicher, statt dessen das individuelle Rechtsgut i m Sinne einer Öffnung des subjektiven öffentlichen Rechts weiter zu fassen. Der einzelne müsse dann nicht nur als Träger eines individuellen Rechts anerkannt werden, sondern auch als Repräsentant einer Rechtsstellung, die ihn als Gruppenmitglied oder als Teilhaber an einem bestimmten M a r k t anspreche. Merten wies ergänzend darauf hin, daß sich grundrechtsdogmatisch nicht allein das Problem der Transformierbarkeit von Individualgrundrechten auf Verbände stelle. Sofort tauche auch das korrespondierende Problem auf, inwieweit man das Individuum gegenüber dem Verbandskollektiv grundrechtlich schützen könne. Scholz stimmte dieser Auffassung zu. Das gesamte Problem der Transformation von Grundrechten übersetze sich dann i n den Binnenbereich des Verbandes. Zum Problem der limitierten Marktwirtschaft äußerte sich Dr. Kohl, Düsseldorf. Eine limitierte Marktwirtschaft, die primär auf die Eigentumsgarantie abhebe, begünstige letztlich diejenigen, die bereits Produktionsmittel besäßen. Er frage sich deshalb, ob damit nicht die Parität von Kapital und Arbeit unmöglich wäre, könne doch der Arbeitnehmer nur über kollektive Regelungen zu einer Gleichstellung gelangen. Inwieweit wäre dann überhaupt eine Vertretung von Arbeitnehmerinteressen i m Wege der Mitbestimmung möglich, oder überbetrieblich in Form von Wirtschafts- und Sozialräten? Scholz entgegnete, es sei verfassungsrechtlich unstreitig, daß A r t . 14 GG auch das Produktiveigentum garantierte. Insofern privilegiere das Grundgesetz tatsächlich die Eigentümer von Produktivvermögen. Indessen, m i t dem Hinweis auf die Parität von Kapital und Arbeit könne man nicht das System einer Marktwirtschaft als solches angreifen. Der Satz von der Parität von Arbeit und Kapital sei ein bestimmtes sozialpolitisches Postulat, das i n der Form, wie es i n der Mitbestimmungsdiskussion verstanden würde, nicht i n der Verfassung stehe. Lediglich das Grundrecht der Koalitionsfreiheit i n A r t . 9 Abs. 3 GG sei ein Paritätssatz, der die Koalitionsparität etwa i m Arbeitskampfrecht ausspreche. Würde man nun eine paritätische Mitbestimmung in Unternehmen einführen, dann könnte das sogar die Parität i m Sinne des A r t . 9 Abs. 3 GG stören, da durch Kumulation von zwei Arbeitnehmerberechtigungen (a. i m Mitbestimmungsbereich, b. i m tarifver-
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traglichen Arbeitskampfbereich) plötzlich die Arbeitnehmerseite gegenüber der Kapitalseite i m Übergewicht sei. Den Satz von der Parität könne man sicher nicht schematisch auf alle Teilbereiche der Wirtschaft übertragen. Es komme darauf an, daß das Verhältnis von Kapital und Arbeit i m Hinblick auf die Eigentumsgarantie des A r t . 14 GG ausgewogen sei. Wo das noch nicht so der Fall sei, könne man auch i m System einer limitierten Marktwirtschaft sicherlich diskutieren, ob nicht aus der Sicht des Sozialstaatsprinzips heraus noch eine Stärkung von Arbeitnehmerrechten möglich sei. Die Institutionalisierung von Wirtschafts- und Sozialräten sei hingegen kein unmittelbares Problem unserer Wirtschaftsverfassung. Es müsse jedoch angesichts der Erfahrungen aus der Weimarer Zeit und aus anderen Ländern i m westlichen Bereich bezweifelt werden, ob etwa ein Bundeswirtschaftsund Sozialrat tatsächlich ein effizienter Ordnungsmechanismus wäre. Wenn er überhaupt irgendwelche Kompetenzen haben sollte, müßte man freilich die Verfassung ändern. Denn solche Kompetenzen würden stets zu Lasten der jetzigen gesetzgebenden Körperschaften gehen. Regierungsdirektor Dr. Walter, Mainz, sprach zur verfassungsrechtlichen Begründung der Offenheit der Staatsaufgaben und der W i r t schaftsordnung. Seiner Meinung nach sei es nicht unbedingt erforderlich, die These von der Offenheit der Staatsaufgaben aus dem Sozialstaatsprinzip abzuleiten. Die Haltung des Grundgesetzes zur W i r t schaftsverfassung könne auch dann nicht anders gesehen werden, wenn das A d j e k t i v „sozial" i n A r t i k e l 20 GG fehlen würde. Denn das Grundgesetz enthalte eben keinen numerus clausus der Staatsaufgaben. Für die verfassungsrechtliche Legitimation der These von der Offenheit der Staatsaufgaben gewinne man auch nicht sehr viel, wenn man dem heutigen sozialen Rechtsstaat den Idealtyp des liberalen Rechtsstaates des 19. Jahrhunderts gegenüberstelle. Es hätten damals keine verfassungsrechtlichen Hindernisse bestanden, wenn sich der Staat i n denselben Bereichen betätigt hätte wie heute. Er frage sich weiter, ob es nötig sei, von einer „neutralen" Haltung des Staates zur W i r t schaftsordnung — i m Sinne einer Nichtfestlegung des Grundgesetzes auf eine bestimmte Wirtschaftsordnung — zu sprechen. Entgegen der herrschenden Meinung solle man einfach positiv sagen, daß die offene Wirtschaftsverfassung die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes sei. Zum Abschluß seiner Ausführungen plädierte Walter für die Einrichtung der Popularklage. Es sei ein Ungleichgewicht entstanden zwischen der materiell-rechtlichen Entwicklung und den prozessualen Möglichkeiten. Wenn man das Grundrechtsverständnis von der klassischen Vorstellung der individuellen Abwehrrechte gegen den Staat h i n zum Gedanken der objektiven Wertordnung erweitere, wie es die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ständig betone, dann müsse man auch m i t der Klagebefugnis i m prozessualen Bereich nachziehen.
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Hinsichtlich der Popularklage wies Scholz auf seine bereits zuvor geäußerten Zweifel hin. Darüber hinaus befürchte er, daß die reine Popularklage i n vielen Fällen zu unsinnigen Klagen und damit zur Uberbelastung von Gerichten führen könne. Zum Fragenkomplex „Sozialstaatsprinzip/Offene Staatsauf gaben" antwortete er, es sei sicher richtig, daß das demokratische Prinzip dem parlamentarischen Gesetzgeber die Funktion verleihe, grundsätzlich eigene Kompetenzen zu begründen. Dennoch, das Sozialstaatsprinzip bilde bei aller Unbestimmtheit einen ganz wesentlichen und auch begrenzenden Maßstab bei der Schaffung neuer Aufgaben. Er stimme darin zu, daß man auch i m 19. Jahrhundert einen liberalen Rechtsstaat m i t geschlossenem Aufgabenkanon nicht gehabt habe. I n der Staats- und Verfassungstheorie dieser Zeit habe man aber durchaus materielle Begrenzungen der Staatsaktivität gekannt. Und bei der Auslegung des Grundgesetzes orientiere man sich nicht nur an der Verfassungswirklichkeit jener Zeit, sondern auch ganz entscheidend an der dahinter stehenden Theorie. Insofern sei es schon wichtig, daß i m Grundgesetz die Zielbestimmung des Staates sowohl mit dem Wort „Rechtsstaat" als auch mit dem Wort „sozial" erfolge. Ansonsten hätte man mit ziemlicher Sicherheit aus dem Grundgesetz eine Staatstheorie des rein liberalen Rechtsstaates zu entwickeln versucht. Gerade aus der Antinomie beider Begriffselemente i n der Verfassung, der Liberalität und der Sozialität, ergebe sich diese Offenheit der Wirtschaf tsverfassung; eine Dynamik, die ein permanentes Ausbalancieren nötig mache. Beide Begriffe seien für die Legitimation und für die Begrenzung von Staatsaufgaben erforderlich, da sie immerhin eine gewisse materielle Definition dafür gäben, inwieweit staatliche A k t i v i t ä t unter dieser Verfassung statthaft sei. Beigeordneter a. D. Dr. Imroll, Düsseldorf, äußerte sich zur Frage der staatlichen Preiskontrolle. Wenn eine allgemeine staatliche Preiskontrolle verfassungsrechtlich ausgeschlossen sei, dürfe dies nicht dazu führen, daß bestimmte Arten des Preiswuchers straffrei blieben. Eine derartige Auslegung widerspräche den Grundsätzen eines sozialen Rechtsstaates. I n seiner A n t w o r t stellte Scholz klar, daß Preisstopps und Preiskontrollen immer dann i m Sozialstaat legitimiert seien, wenn es sich um Einzelfälle und konkrete Notlagen handele. Verfassungsrechtlich ausgeschlossen seien hingegen staatliche Preis- und Investitionskontrollen i n allgemeiner Form (etwa aus stabilitätspolitischen Gründen), die unabhängig vom konkreten, individuell nachweisbaren Mißbrauch erfolgen würden. Diktiere man die Preise, dann müsse man notwendigerweise auch Prioritäten i m Investitionsbereich setzen und somit verbind-
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liehe inhaltliche Zwecksetzungen für die Unternehmen. Dann sei der Schritt zur Zentralverwaltungswirtschaft faktisch vollzogen. Wie problematisch die Unterscheidung zwischen Einzelfallmaßnahmen und generellen Eingriffen i n den Marktmechanismus i n der Praxis sein kann, verdeutlichte Duwendag am Beispiel des Mietwohnungsmarktes. Hier gebe es seit Ende 1971 de facto einen Mietenstopp. Die entsprechenden Gesetze seien mittlerweile sogar unbefristet — m i t einigen Modifikationen freilich — verlängert worden. Der Maßstab für Mietenerhöhungen sei die ortsübliche Vergleichsmiete, die nichts mehr m i t einer Marktmiete zu t u n habe, da sie an einer Basis gemessen werde, die selbst Stoppmietencharakter trage. Die unbefristete Verlängerung der Gesetze sei doch weder m i t dem K r i t e r i u m des vorübergehenden Ausnahmetatbestandes zu decken, noch m i t einer Mietwuchervorschrift. Scholz erwiderte, zur Legitimation dieser Maßnahme führe man an, eine begrenzte Form von Wohnraumbewirtschaftung oder sozialer Wohnraumwirtschaft sei nach wie vor erforderlich. Damit sei das Argument der Notlage und des legitimierenden Ausnahmetatbestandes jedenfalls formal gegeben. Eine andere Frage sei natürlich, ob dieser Notstand tatsächlich vorhanden sei. Bei der Einschätzung der realen Situation seien indessen die Gerichte i n solch strittigen und schwierigen Tatsachenfragen überfordert. Das Bundesverfassungsgericht habe deshalb bisher i n derartigen Fällen die Diagnose und Prognose des w i r t schaftslenkenden Gesetzgebers akzeptiert. Entsprechend müßte es auch bei einer Beurteilung der unbefristeten Mietengesetze verfahren. Wenn nach der Prognose des Gesetzgebers din Mietengesetze noch auf unabsehbare Zeit nötig seien, dann würde sich das Bundesverfassungsgericht i n einem Prozeß vermutlich auf den Standpunkt stellen, daß diese Prognose heute noch nicht als eindeutig fehlerhaft zu erkennen sei. Sollte sich dann herausstellen, daß die Prognose falsch war, der Wohnungsmarkt also nach einer gewissen Zeit wieder funktionsfähig geworden sei, dann wäre nach der bisherigen Rechtssprechung der Gesetzgeber verpflichtet, zu diesem Zeitpunkt das beschränkende Gesetz wieder aufzuheben. Es sei zwar fraglich, ob diese Vorgehensweise verfahrensrechtlich und auch grundrechtspolitisch widerspruchsfrei sei. Einen anderen Weg sehe er allerdings nicht. Stadtdirektor Dr. Michaelis, Wunstorf, fragte als letzter Diskussionsredner nach der inhaltlichen Bedeutung der Gleichsetzung von „sozial begründeter" und „verwaltungsmäßig begründeter" Konkurrenzwirtschaft. Ferner sei seines Erachtens mit sozialwirtschaftlicher Konkurrenzwirtschaft des Staates wohl eher die aus dem Sozialstaatsprinzip begründete staatliche Ersatzaktivität insgesamt gemeint. Er bezweifelte,
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ob bei solchen Aktivitäten, bei denen der Staat aus dem Sozialstaatsprinzip heraus die Pflicht zum Handeln habe, für den betroffenen Privaten ein prinzipieller Grundrechtsschutz bestehen müsse. Er befürworte i n diesen Fällen vielmehr eine prinzipielle Grundrechtseinschränkung zu Lasten der Betroffenen. Dann wäre zu klären, wo die Grenze liege zwischen der automatischen — durch das Sozialstaatsprinzip implizierten — Aktivitätsberechtigung des Staates und den Grundrechtsfreiheiten privater Betätigung. Zum Abschluß erläuterte Scholz, der Begriff der staatlichen A k t i v i t ä t umfasse alle Maßnahmen, mit denen der Staat gegenüber der Privatwirtschaft eingreife, bis hin zur staatlichen Eigenwirtschaft. Bei den staatlichen Eigenwirtschaften wiederum müsse man unterscheiden zwischen rein erwerbswirtschaftlichen Maßnahmen und solchen, die sozial — also von der Sozialstaatlichkeit her — begründet seien. Zu letzteren gehöre der gesamte Bereich der Daseinsvorsorge, die regelmäßig durch Wirtschaftsunternehmen der öffentlichen Hand vollzogen würde. Dieser Aktivitätsbereich sei damit materiell öffentliche Verwaltung, aber sozialstaatlich legitimiert. Das sei m i t der verkürzten Gleichsetzung von „sozial" und „verwaltungsmäßig" gemeint gewesen. Konkurrenzwirtschaft sei dies immer dann, wenn die öffentliche Hand solche Unternehmen i n Konkurrenz zur privaten Unternehmerschaft betreibe. Die wirklichen Ersatzaktivitäten habe er als unproblematisch ausgeklammert. Wenn der Staat Sozialdefizite durch eigenes Wirtschaften ausräume, dann stelle sich kein Grundrechtsproblem. Jedoch neige der Staat dazu, derartige Sozialdefizite großzügig zu bejahen, und das Sozialstaatsprinzip i n seiner ganzen Konkretisierungsbedürftigkeit gebe i h m dazu unendlich viel Raum. Von diesem Prinzip her sei deshalb eine materielle Aufgabenbegrenzung kaum möglich. Also müsse von den Grundrechten her eine Begrenzung erfolgen. Wenn der Staat i m Wege der Konkurrenzwirtschaft eine übermächtige Konkurrenz bis hin zum faktischen Monopol aufbaue, dann würde dies letztlich — anders als bei Ersatzaktivitäten — zur Verdrängung Privater vom Markt führen. Obwohl dann die Grundrechte materiell ebenso berührt seien, als wenn ein gesetzliches Monopol m i t direkten Enteignungsfolgen geschaffen würde, stehe man den faktischen Monopolen zur Zeit grundrechtlich noch relativ hilflos gegenüber.
Privater Wohlstand — öffentliche Armut ? Erstes Referat
Von Alfred Krause A m heutigen letzten Vormittag Ihrer 43. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung haben es sich die erfahrenen Regisseure dieses Treffens einfallen lassen, die m i t mancherlei Listen und Tücken behaftete Frage nach dem privaten Wohlstand und der öffentlichen Armut i n diesem Lande i n einer offenen Podiumsdiskussion zu behandeln. Dieser löblichen, zugleich natürlich auch ein wenig provokativen Absicht sind Monologe von Vertretern der Gewerkschaften und Wissenschaften vorangestellt. Ich meine, wohl aus doppeltem Grund: Einmal sollen individuell gefärbte Sachbeiträge als Ausgangsbasis für die Diskussion geliefert werden, zum anderen entspricht es der Lebenserfahrung und dem Erwartungshorizont dieses hier anwesenden Kreises, daß es für Zuhörer immer informativ und anregend zugleich ist, differenzierte, u m nicht zu sagen kontroverse Meinungen über ein Thema zu hören, das uns alle direkt oder indirekt angeht. Ich komme gleich zur Sache und w i l l es m i r allerdings nun nicht so einfach machen wie jener Redakteur einer deutschen Illustrierten, die in Millionenauflage erscheint und i n der man auf die Frage, ob es eine öffentliche A r m u t gebe und wenn ja, wer sie verursacht habe, die schlichte A n t w o r t lesen konnte, daß w i r die öffentliche A r m u t der Verschwendungssucht der Beamten verdankten! Nim, bevor darüber geurteilt werden kann, ob es bei uns so etwas wie öffentliche A r m u t gibt, müssen w i r uns i n Erinnerung rufen, was mit der These von der öffentlichen A r m u t gemeint ist. Der Sachverhalt wurde bekanntlich von John Kenneth Galbraith bereits Ende der 50er Jahre i n die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion eingeführt. I n seiner kritischen Abhandlung „Gesellschaft i m Uberfluß" beklagte Galbraith für Amerika das Fehlen eines „sozialen Gleichgewichts": Während die privatwirtschaftlich gesteuerte, wachsende Versorgung mit Gütern des privaten Bedarfs den privaten Wohlstand fortlaufend mehre, hinke der Staat mit dem Angebot seiner Dienstleistungen dieser Entwicklung hinterher und schaffe eine bedrohliche Diskrepanz zwischen privatem und öffentlichem Versorgungsniveau. So stehe dem Wohlstand auf der einen (privaten) Seite die A r m u t auf
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der anderen, der öffentlichen Seite, gegenüber. Die Gründe hierfür sieht Galbraith i n der schwächeren Position des Staates, der nicht wie ein „Privater" für seine „Gütererstellung" Werbung betreiben kann, in der prinzipiellen Andersartigkeit öffentlicher gegenüber privaten Gütern (womit auch eine denkbare Wahlentscheidung durch die Bürger illusorisch sein dürfte) sowie i n der Unmöglichkeit, individuelle Nutzenzuordnungen für öffentliche Leistungen zu finden, u m darauf ein einigermaßen gerechtes Finanzierungssystem für diese Leistungen aufbauen zu können. Solche K r i t i k mußte natürlich Musik i n den Ohren professioneller Kritiker des kapitalistischen Systems sein, und so überrascht es nicht, wenn aus diesem Lager vernommen werden kann: — der private Konsum entfalte sich stetig zu Lasten der öffentlichen Leistungen, — gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Vernachlässigung der Gemeinschaftsaufgaben resultieren primär aus der Orientierung am Profitinteresse i m kapitalistischen System, — die Folgen aus diesem kapitalistisch-repressiven System träfen vor allem die wirtschaftlich schwächeren Bevölkerungsschichten, die insbesondere auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen seien. Fazit: Man müsse sich fragen, ob unser Gesellschaftssystem überhaupt dazu tauge, die dringenden Aufgaben der Gegenwart und Zukunft bewältigen zu können, ob es sich nicht selbst den Todesstoß infolge selbstzerstörerischer Tendenzen verabreiche. Zugleich war zu hören, jene Thesen Marcuses seien realisierbar, nach denen die Produktionskräfte unserer Zeit bereits eine Entwicklungsstufe erreicht hätten, die bei richtiger, d. h. sozialistisch-kommunistischer Handhabung bereits ein Leben frei von materiellen Einschränkungen garantierten, wenn es nur kein Leistungsprinzip, keinen Konkurrenzkampf, keine Marktwirtschaft mehr gebe. Sofern es gelinge, das Profitinteresse endgültig zu überwinden, mehr Staatstätigkeit durch Ausweitung der Staatsaufgaben zu erzielen — wie man, sprachlich die Wirklichkeit verschleiernd postulierte: „den öffentlichen Korridor zu verbreitern" —, dann, ja dann sei eine Erhöhung der Qualität des Lebens garantiert, worunter man ja wohl i n dieser Sicht die Umwandlung von öffentlicher A r m u t i n öffentlichen Wohlstand zu verstehen hätte. Nun, m i t solchen spekulativen, ideologischen Wunschvorstellungen und Schlußfolgerungen scheint m i r nichts gewonnen zu sein, sie geben m i r aber Anlaß, auf einige problematische Gesichtspunkte hinzuweisen, die i n einer Diskussion u m die sog. öffentliche A r m u t berücksichtigt werden sollten.
Privater Wohlstand — öffentliche Armut? ( t e s
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1. Folgt man Galbraith, hängt zunächst einmal die Chance, öffentliche A r m u t zu vermeiden, von der allgemeinen Einsicht i n die Notwendigkeit bestimmter öffentlicher Leistungen für die Herstellung bzw. Erhaltung des sozialen Gleichgewichts ab. Wenn der Staat immer dann herhalten muß, sobald vorgelagerte private Lösungsmuster, oder besser: Experimentiermuster, versagt haben, darf es nicht verwundern, daß i h m vorgeworfen wird, er erkenne nicht die Zeichen der Zeit, sei innovationsträge und langsam. 2. Damit eine bessere Einsicht i n das aufeinanderbezogene Zusammenspiel von Staats- und Privatwirtschaft Allgemeingut werden kann, benötigen w i r eine akzeptable und plausible ökonomische Theorie der Staatsfunktionen. Sie müßte normative Aussagen darüber vermitteln, welche Belange sinnvollerweise staatlich zu regeln sind und welche privat. Hier ist die Wissenschaft angesprochen. Wenn belegt werden könnte, daß bestimmte Verschiebungen i n der Relation von staatlichen zu privatwirtschaftlichen Aktivitäten meßbare Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt haben, entfällt das Argument, für notwendige öffentliche Leistungen lasse sich schlecht werben. Wer die Wechselbeziehungen zwischen privater und staatlicher Leistungserstellung begreift, von dem darf erwartet werden, daß er auch Staatsleistungen rationaler beurteilt. 3. I n der Realität sind die Leistungen eines politischen Systems Spiegelbild der Erwartungen, die an das politische System gerichtet werden. I n unserer pluralistischen Gesellschaft werden Erwartungen vorwiegend von organisierten Interessengruppen gesammelt, gefiltert und artikuliert. Bedürfnisse, die unangemeldet bleiben, haben keine Chancen, berücksichtigt zu werden — es sei denn, das politische System nimmt sich ihrer aus eigenem Interesse an. Es hängt also maßgeblich von der Wirksamkeit solcher Umsetzung gesellschaftlicher Bedürfnisse i n politische Forderungen durch die organisierten Interessengruppen ab, inwieweit normativ abgegrenzte Staatsfunktionen inhaltlich ausgefüllt und mit Leben erfüllt werden können. Hier kommen den Verbänden, ebenso übrigens wie den Parteien, wichtige Funktionen der Entscheidungshilfe zu. 4. Die Chancen für die Hebung bzw. Erhaltung eines öffentlichen Wohlstands hängen schließlich ab von Umfang und Qualität des Personals, das eingesetzt ist, den über die politischen Prozesse gefaßten Volkswillen zu vollziehen. Interessanterweise pflegt die gängige populäre K r i t i k , wie mein vorher erwähntes Zitat verdeutlicht, besonders diesen Aspekt aufzugreifen und zum Angelpunkt für die Feststellung eines angeblich desolaten Zustands i m öffentlichen Bereich zu machen. Die Begründungen sind dabei durchaus kontrovers. Einerseits w i r d behauptet, öffentliche A r m u t sei wohl unvermeidlich, wenn ein uner-
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träglich hoher Anteil der öffentlichen Ausgaben vom Personalsektor verschlungen werde; da bliebe für die Herstellung eines „sozialen Gleichgewichts" nichts mehr übrig. Auf der anderen Seite heißt es, es sei eigentlich falsch, von öffentlicher A r m u t zu reden, sie entstehe erst durch verschwenderische, unökonomische Verwendung öffentlicher Mittel durch die Beamten. Zunächst zum zweiten Argument: Den Widersinn einer solchen Behauptung sieht jedermann sofort ein, wenn man sich darauf besinnt, daß Verwaltungshandeln durch Beamte nicht erfolgt aufgrund phantasiereicher Selbstinterpretation zu regelnder Sachverhalte, sondern aufgrund von Gesetzesbindung. Und was i m Rahmen der Gesetzesverantwortlichkeit als Handlungsauftrag an Verwaltung und Beamte gerichtet w i r d oder werden soll, ist immer ein Reflex unserer Erwartungen an den Staat! Daß sie ständig wachsen, darauf hat i n aller Deutlichkeit bereits Herr Dr. Raabe hingewiesen. Freilich muß zugestanden werden, daß es nicht immer leicht fällt, die Angemessenheit mancher Erwartungen für das Ziel „weniger öffentliche A r m u t bzw. bessere öffentliche Leistungen" zutreffend bewerten zu können. Dies verweist auf die Schwierigkeit, verschiedenartigste Vorstellungen darüber, womit und zu welchen Kosten öffentlicher Wohlstand gesteigert werden sollte, auf einen Nenner zu bringen. Wie steht es nun m i t dem Argument, das Personal des öffentlichen Dienstes verschlinge zuviele Kosten und enge die Alternativen für die produktive Verwendung öffentlicher M i t t e l übermäßig ein? Ganz abgesehen davon, daß die personellen Zuwachsraten i m öffentlichen Dienst vor dem Hintergrund einer gesellschaftsweiten Verschiebung der Tätigkeitsbereiche i n Richtung auf den tertiären Sektor beurteilt werden müssen und — so gesehen — auch keineswegs außergewöhnliche Entwicklungstendenzen aufweisen, sind Quantität und Qualität der i m öffentlichen Dienst Beschäftigten Ausdruck für die sich häufenden und komplizierenden Probleme, die der öffentlichen Verwaltung heute zu lösen aufgegeben sind. Jedenfalls solange, solange Maschinen die höhere Komplexität menschlicher Denkfähigkeit nicht erreichen. Dessen ist sich auch der K r i t i k e r Galbraith bewußt, wenn er beklagt, daß eine Vernachlässigung des öffentlichen Dienstes eine ungleichgewichtige Entwicklung i m gesellschaftlichen Bereich noch beschleunige. Dabei scheint die Skepsis gegenüber möglichen Verbesserungsmaßnahmen ein allgemeines Problem zu sein. Genausogut könnte unsere Situation gemeint sein, wenn Galbraith schreibt: „Der Vorschlag, unseren Bedarf an öffentlichen Diensten zu überprüfen, u m festzustellen, wo u n d inwiefern durch zahlreichere u n d bessere Dienstleistungen unser Wohlbefinden vermehrt werden könnte, k l i n g t schon reichlich radikal. Selbst solche Institutionen, die f ü r Ruhe u n d Ordnung sorgen, muß m a n ausdrücklich i n Schutz nehmen. Dagegen ist u n d bleibt
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der Mann, der irgendeine Patentmedizin f ü r einen nicht vorhandenen Bedarf ersinnt u n d sie m i t Erfolg propagiert, untadelig u n d ehrenwert."
Doch wie ist die tatsächliche Lage bei der Versorgung mit staatlichen Leistungen einzuschätzen? Ein Blick auf die Statistik der öffentlichen Ausgaben läßt nicht gerade den Eindruck zu, w i r hätten es mit öffentlicher A r m u t zu tun. Ich w i l l nicht darüber werten, ob diese Quantität öffentlicher Leistungen i n jedem Fall auch unseren qualitativen Erwartungen entspricht; insbesondere müßte die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit öffentlicher Güter gestellt werden. Doch hier handelt es sich vorrangig u m politische Entscheidungen über zu setzende Prioritäten, wobei m i t einem Blick auf die Wissenschaft dazu gesagt werden muß, daß w i r i n vielen Fällen noch zuwenig über die sog. Ausgabeninzidenz wissen, d. h. über die Frage, welche Personen bzw. welche Gruppen tatsächlich Nutznießer bestimmter öffentlicher Leistungen sind und ob dies dann auch politisch gewollt ist. Für die Zukunft rechneten Wissenschaftler bisher m i t einer unvermeidlich steigenden Staatsausgabenquote. Dazu zählte auch der Finanzwissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Finanzen. I n seinem Gutachten „ Z u r Finanzierung eines höheren Staatsanteils" wurden zwar die verschiedenen Möglichkeiten zur Finanzierung steigender Staatsausgaben gründlich diskutiert. Auf die politisch kontroverse Frage gingen aber die Fachwissenschaftler kaum ein, ob es nämlich nicht auch möglich sein könnte bzw. sein müßte, öffentliche Ausgaben zu kürzen, ohne öffentliche Leistungen einzuschränken. U m dieses Traumziel zu erreichen, w i r d von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen oft nur recht summarisch empfohlen, — die öffentliche Verwaltung zu rationalisieren, — bestimmte öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren, — die allgemeinen Gebote von Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit strikter als bisher zu beachten und schließlich — auch das Leistungsprinzip i m öffentlichen Dienst zu konkretisieren und — Personalkosten abzubauen! Das sind viele, sehr viele Lösungsmöglichkeiten zugleich, zum Teil wenig konkrete und teilweise irreale Ratschläge. Auch die Erkenntnisse aus einzelnen Vorträgen dieser Tagung haben nach meiner Meinung gezeigt, daß es zwar möglich ist, allgemeine Modellbetrachtungen über den Staatssektor anzustellen, daß aber gepaßt wird, wenn es darum geht, konkret und differenziert zu sagen, was i m einzelnen Fall zu t u n ist, damit die höchste „Produktivität", der größte Nutzeffekt erreicht wird. Wenn es schon nicht möglich ist, wesentliche Leistungen des Staates i n Zahlen zu fassen, muß ich mich fragen, ob es seriös ist, 10 Speyer 59
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Werturteile i n Berechnungen einzubauen, die den öffentlichen Dienst von vornherein schlechter aussehen lassen, als er i n Wirklichkeit ist. Was hilft uns beispielsweise der Hinweis, bestimmte Indikatoren ließen vermuten, die Personalausgaben des Staates hätten sich überdurchschnittlich erhöht, wenn nicht dazu gesagt wird, wie es i m personalintensiven
Dienstleistungsbereich
der privaten
Wirtschaft
aus-
sieht. Zumindest hätte ich erwartet, einige Hinweise auf die Ursachen solcher Entwicklungen zu hören. Wenn w i r beispielsweise an die Vermehrung und Hebung der Stellen i m Bildungsbereich denken, wäre zu fragen, ob die damit verbundenen ungewöhnlich hohen Personalausgaben
n i c h t ebenso als investive
Ausgaben
des Staates
bewertet
werden könnten und nicht lediglich unter dem Titel „unproduktive Personalvermehrung" verbucht werden dürfen. Solche und ähnliche Unsicherheiten i n der Beurteilung der m i t dem öffentlichen Dienst verbundenen Ausgaben führen dann letztlich zu derartig überspitzten Schlußfolgerungen wie den folgenden: Ich zitiere: „ N u r wenige glauben noch an das Märchen von der öffentlichen Armut. Der überwiegenden Mehrheit sticht vielmehr öffentliche Verschwendung ins Auge, die zu einem allgemeinen Ärgernis geworden ist. Aus diesem Grunde fordern w i r einen neuen Straftatbestand, den w i r Amtsuntreue nennen. Der Staatsanwaltschaft soll die Möglichkeit gegeben werden, gegen Verschwender von Steuergeldern Anklage zu erheben." Dies ist ein wörtliches Zitat aus einer V e r ö f f e n t l i c h u n g v o n Prof.
Dr. Willy
Haubrichs
z u r U n h a l t b a r k e i t der
These von der öffentlichen Armut, i n der Monatszeitschrift Bundes der Steuerzahler vom Januar 1975 nachzulesen.
seines
Auch ich bin der Überzeugung, daß das Schlagwort von der öffentlichen A r m u t die unzulässige Vergröberung einer Entwicklung darstellt, die uns allerdings i m Bereich der öffentlichen Verwaltung mit einiger Sorge erfüllen muß. D a b e i ist zu beachten, daß die Versorgung
mit öffentlichen
Leistungen
wesentlich erschwert sein kann aufgrund des wirtschaftspolitischen Steuerungsauftrags des Staates. I n Zeiten konjunktureller Tieflagen verschieben sich vielfach die Wertvorstellungen: Der gesicherte Arbeitsplatz w i r d wichtiger als das öffentliche Freibad. Aus solchen Erwartungen erwächst — wenn ihnen der Staat nachgibt — leicht ein Defizit im öffentlichen Versorgungsstandard. Und in der Tat sehen die Zeichen gegenwärtig nicht günstig aus. Stagnierende losigkeit, teure
Wirtschaft, Energie,
trabende Inflation, relativ Abschmelzen der Handels-
hohe und
ArbeitsZahlungs-
bilanzen, wachsende Milliardendefizite der öffentlichen Kassen, die in diesem Jahr bei 50 bis 60 Milliarden D M liegen werden und die sich
Privater Wohlstand — öffentliche Armut? (Erstes Referat)
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nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bis 1980 sogar auf eine Größenordnung von 90 Milliarden D M steigern werden, das ist die Realität von heute, der Blick auf die Verhältnisse i n absehbarer Zukunft. Was not tut, u m die wachsenden staatlichen Engpässe zu überwinden, die sich weder mit öffentlicher A r m u t noch öffentlicher Verschwendung noch m i t privatem Wohlstand erklären, geschweige denn gar mit solchen Legenden überwinden lassen, was not tut, u m die öffentlichen Infrastruktur-Investitionen künftig wieder stärker wachsen zu lassen als den privaten Konsum, sind drastische politische Entscheidungen. Weitere Reformen i m Sinne von zusätzlichen öffentlichen Leistungen bzw. schon die Aufrechterhaltung des derzeitigen Standards werden ohne Überforderung der Bürger und der Leistungsfähigkeit der W i r t schaft nur möglich sein, wenn u. a. folgende Voraussetzungen erfüllt werden: — Wiedergewinnung der wirtschaftlichen Stabilität — Reduzierung von Reformen auf das politisch und finanziell Tragbare — Setzen von Prioritäten — Durchforstung der Staatsau/gaben, der Staatsausgaben und vornehmlich der Subventionen auf allen Ebenen und i n allen Bereichen sowie — Beschleunigung und Konkretisierung der Funktionalen Verwaltungsreform. Wenn jeder i n seinem Haus für Effektivität, Rationalisierung, Sparsamkeit und Leistung sorgt — und dies gilt natürlich auch für die öffentliche Verwaltung, die als menschliche Institution wie andere mit Fehlern behaftet ist und deswegen durchaus noch verbessert werden kann —, wenn das vorhandene Leistungsangebot nicht durch immer neue Forderungen überstrapaziert wird, brauchen und sollten w i r nicht länger über den Sinn oder Unsinn der These von der öffentlichen A r m u t diskutieren. Sondern vielmehr darüber, welche M i t t e l und Wege hier und heute gewiesen und welche praktischen Maßnahmen ergriffen werden können, um die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung nicht nur an der Funktionserfüllung zu erweisen, sondern auch an der Berücksichtigung der Ziel- und Wertvorstellungen des Bürgers, ohne i h n von staatlicher Seite ständig erneut zur Kasse bitten zu müssen! Die Angehörigen des öffentlichen Dienstes befinden sich hierbei i n einer ausgesprochen fatalen Situation. Sie sollen das „verkaufen", was eine nicht immer einsichtige Politik und Gesetzgebung ihnen 10*
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Alfred Krause
auferlegt und werden dafür dann gescholten. Ein solcher Zustand kann kein günstiges Arbeitsklima schaffen. Mehr Verständnis und Vertrauen von seiten der Öffentlichkeit könnte hier bereits ein erster Schritt sein, die Leistungsmotivation i m öffentlichen Dienst zu erhöhen und insoweit dessen Funktionstüchtigkeit zu steigern. Es ist darüber hinaus ein Aberglaube anzunehmen, der öffentliche Dienst würde sich aus purer Selbstsucht und sturem Beharren auf eingefahrenen Arbeitsweisen jeglichen Rationalisierungsbestrebungen verschließen. Freilich sollten Verbesserungsmaßnahmen stets im Zusammenwirken von politischer Führung und Verwaltung getroffen werden, u m möglichst sachgerechte Lösungen zu erzielen. Davon könnten letztlich auch positive Impulse auf die Qualität der Politik ausgehen. Eine Gesellschaft, die öffentliche A r m u t nicht hinnehmen w i l l , würde sich selbst ein Armutszeugnis ausstellen, wenn sie diese Aspekte unberücksichtigt ließe.
Privater Wohlstand — öffentliche Armut ? Zweites Referat
Von Wolfram Engels A n den Anfang sei die These gestellt, w i r hätten eine Unterversorgung mit öffentlichen Gütern und die Folgerung daraus, man müsse den öffentlichen Korridor verbreitern, also die Steuern erhöhen. Ich teile diese Auffassung nicht — das Gegenteil ist eher zutreffend. I . A u f t e i l u n g auf öffentliche und private G ü t e r
Die Position, die ich vertrete, beruht auf der derzeit herrschenden Meinung der Ökonomen i n der Welt, basiert auf der ganz überwiegenden wissenschaftlichen Uberzeugung der führenden Vertreter unseres Faches. Diese Tatsache wurde verschleiert dadurch, daß i n der Öffentlichkeit i n den letzten Jahren überwiegend NichtÖkonomen zum Wort kamen und daß diejenigen unter den Ökonomen, die die These von der öffentlichen A r m u t vertreten haben, nicht zu den führenden gehören. Um ganz kurz den Einstieg von der Wissenschaft her zu geben: Es gibt natürlich das Problem einer optimalen Aufteilung des Sozialproduktes auf öffentliche und private Güter, und es ist klar, daß der M a r k t keine öffentlichen Güter produzieren kann oder genauer gesagt, daß, falls der M a r k t öffentliche Güter produzieren würde, die Produktion öffentlicher Güter zu kurz käme. Das ist allgemein akzeptiert, öffentliche Güter müssen von Staat produziert werden oder genauer, öffentliche Güter müssen durch Zwangsumlagen — heißen sie nun Steuern, heißen sie Gebühren — finanziert werden. Das ist allgemeine Basis, daran ist nicht zu rütteln. Die Lösung, die für das Problem der optimalen Aufteilung schon i m letzten Jahrhundert von Wicksell gefunden wurde, ist verhältnismäßig einfach. Wenn ein öffentliches Gut produziert werden soll, so legt man die Kosten dieses öffentlichen Gutes auf die Begünstigten um, und zwar nach Maßgabe des Nutzens, den sie haben. Dann läßt man sie abstimmen über die Beschaffung des öffentlichen Gutes. Wenn es vorteilhaft ist, wenn der Nutzen höher ist als die Kosten, dann ergibt sich bei Wickseil Einstimmigkeit der Abstimmung über die Anschaffung des öffentlichen Gutes. Das ist eine Modellvorstellung.
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Wolfram Engels
Immerhin darf ich daran erinnern: die Beschaffung öffentlicher Güter i n schweizerischen Gemeinden kommt diesem Modell verhältnismäßig nahe. Die Lösung von Wickseil wurde i n der Folgezeit von einer ganzen Reihe von Nationalökonomen verfeinert. Lindahl ist einer der weiteren Klassiker; Samuelson, Musgrave, Malinvaud — alles berühmte Namen unseres Faches. I m Prinzip aber haben die Lösungen die WicksellLösung nicht verändert. Sie haben den Prozeß exakter gefaßt und formalisiert, und sie haben nach Wegen gesucht, um den Wicksellschen Abstimmungsprozeß praktikabel zu machen. I n der Allokationstheorie gibt es die Theorie der sogenannten externen Effekte. Das sind Kosten, die ein anderer trägt, als derjenige, der das Gut produziert (externe Kosten), also etwa die berühmte Umweltverschmutzung. Oder es sind Erträge, die jemand anderem zugute kommen, als dem, der sie produziert. Der Waldbesitzer sorgt für den Wasserhaushalt des Landes, ohne daß er den Nutzen, den andere davon haben, diesen i n Rechnung stellen kann (externe Erträge). Die Theorie externer Effekte ist m i t der Theorie öffentlicher Güter identisch. Die Wasserregulierung etwa, die der Waldbesitzer unfreiwillig zugunsten aller anderen vornimmt, ist ein öffentliches Gut. Die Umweltverschmutzung. die eine Fabrik verursacht und nicht zu bezahlen hat, ist ein öffentliches Übel, ein negatives öffentliches Gut. Die Lösung, die man für das Problem der Allokation der Ressourcen bei externen Effekten gefunden hat, ist exakt dieselbe wie die, die Wicksell für die A u f teilung auf öffentliche und private Güter gefunden hat. Wenn externe Effekte vorhanden sind, wenn also irgend jemand Kosten verursacht, die er nicht selbst zu tragen hat, dann muß man i h n i n dem Maße besteuern, wie er anderen Leuten Kosten verursacht, und man muß die Erträge dieser Steuern nach Maßgabe des Schadens auf die Geschädigten umlegen. Wenn ein Unternehmen externe Erträge hat, dann muß man dieses Unternehmen nach Maßgabe der externen Erträge subventionieren, und man muß die Kosten dieser Subvention auf die Begünstigten nach Maßgabe ihres Nutzens umlegen, öffentliche Güter sind externe Effekte, öffentliche Güter sind Güter, die durch das Nichtausschlußprinzip gekennzeichnet sind: Wenn ich ein Rundfunkprogramm höre, dann hindert niemand irgend jemand anderes daran, dasselbe Rundfunkprogramm zu hören. Mein Nutzen w i r d dadurch nicht beeinträchtigt. Ein privates Gut ist durch ein Ausschlußprinzip charakterisiert. Wenn ich ein Schnitzel esse, dann können Sie es nicht mehr essen. Die Theorie öffentlicher Güter geht i n der allgemeineren Theorie externer Effekte auf.
Privater Wohlstand — öffentliche Armut? (Zweites Heferat)
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I I . These v o m öffentlichen L u x u s
Wir können öffentliche A r m u t nicht messen. W i r können allenfalls deduktiv versuchen, an die Frage heranzukommen, ob öffentliche A r m u t herrscht. Diese Deduktion gilt nicht für beliebige Organisationen. Man muß sie für jede Organisation einzeln anstellen. Ich kann über öffentliche A r m u t i n der Bundesrepublik Deutschland sprechen, nicht m i t denselben Argumenten über öffentliche A r m u t i n Frankreich, i n der Schweiz oder i n Amerika. Darin liegt der erste Fehler i m Ansatz der Diskussion. Ich habe die amerikanischen Verhältnisse nicht analysiert. Galbraith hat sie analysiert. Es ist durchaus möglich, daß Galbraith recht hat für Amerika, daß dort öffentliche A r m u t herrscht. Daraus folgt nicht, daß auch öffentliche A r m u t i n Deutschland herrscht. Meine These ist, daß die Bundesrepublik Deutschland zu einer Überproduktion öffentlicher Güter aus institutionellen Gründen neigt (These vom öffentlichen Luxus). Es sei zunächst daran erinnert, daß wahrscheinlich i n den Jahren nach dem Krieg mehr Straßen, mehr Brücken, mehr Schulen, mehr Rathäuser und sogar mehr Kirchen gebaut worden sind, als i n den tausend Jahren vorher. Das ist eine sehr beachtliche Leistung. Beweisen kann man damit noch nichts. Es könnte sein, daß noch mehr Brücken, Straßen und Kirchen gebraucht würden. W i r wollen deduktiv vorgehen und die Einzelelemente des Wicksellschen Prozesses betrachten. Zunächst w i r d das Mehrheitsprinzip untersucht. Wicksell fordert, daß die Entscheidung über die Anschaffung öffentlicher Güter einstimmig sein soll. I n der Realität w i r d m i t einfacher Mehrheit entschieden. Die einfache Mehrheit läßt sich leichter finden als Einstimmigkeit. Daraus folgt noch nicht, daß mehr öffentliche Güter als nach Wicksell produziert werden. Bei Wicksell ergibt sich nämlich Einstimmigkeit auf jeden Fall, sei es für die Ablehnung, sei es für die Annahme des öffentlichen Gutes. Erst wenn w i r von der verteilungsneutralen Finanzierung öffentlicher Güter abgehen, die Wicksell gefordert hat, ergibt sich eine Tendenz zu höherer Produktion öffentlicher Güter. Fast jede Finanzierung öffentlicher Güter hat Verteilungseffekte. Angesichts der Struktur der Einkommensverteilung i n der Bundesrepublik w i r d ein kleiner Teil der Bevölkerung überproportional zur Finanzierung öffentlicher Güter herangezogen, während der größere Teil unterproportional zur Finanzierung beiträgt. Die Produktion öffentlicher Güter hat normalerweise (nicht immer) einen Verteilungseffekt zugunsten der Ärmeren und zu Lasten der Reicheren. Ein zweiter Fall: Ein öffentliches Gut bringt nur einem Zehntel der Bevölkerung Nutzen, w i r d aber durch eine allgemeine Steuer finanziert. Dann ergäbe eine Abstimmung, daß dieses Gut nicht produziert wird.
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Wolfram Engels
Bei zehn öffentlichen Gütern, die jeweils einem anderen Zehntel der Bevölkerung viel nutzen, ergibt sich also bei Einzelabstimmung über die Projekte, daß keines verwirklicht wird, und zwar auch dann nicht, wenn alle zehn Projekte als Einheit realisiert würden. Dieses Ergebnis läßt sich dadurch vermeiden, daß die Gruppen Verhandlungen aufnehmen („unterstütze Du meinen Sportplatz, dann unterstütze ich Dein Altenheim") und auf diese Weise Bündelungen von Entscheidungen Zustandekommen. Während Wicksell von der direkten Demokratie, von unmittelbarer Abstimmung der Bürger über öffentliche Güter ausgeht, haben w i r i n der Bundesrepublik eine repräsentative Demokratie. Repräsentation ist eine institutionelle Bündelung von Entscheidungen. Der Wähler stimmt nicht über die Beschaffung eines Rathauses ab, sondern er wählt eine Partei und das Bündel von Entscheidungen, das diese Partei repräsentiert. Damit ist der Defizienz öffentlicher Güter durch dieses seltsame Abstimmungsparadox Abhilfe getan. Nun t r i t t allerdings ein entgegengesetzter Effekt ein. Es kommt zur Gefälligkeitsdemokratie. Sie beruht darauf, daß öffentliche Güter für eine bestimmte Gruppe wichtig sind, daß die Lasten dieser öffentlichen Güter aber auf alle andern verteilt werden. Die Last für alle andern ist so klein, daß sie unter der Fühlbarkeitsschwelle bleibt. Es gibt keinen politischen Widerstand gegen die Produktion des öffentlichen Gutes. So tendieren Politiker i n der repräsentativen Demokratie dazu, Geschenke an alle möglichen Gruppen auszuteilen, um sich die Unterstützung dieser Gruppen zu besorgen. Die belasteten Gruppen leisten keinen Widerstand, weil die Beträge so klein sind, daß sie unter deren Fühlbarkeitsschwelle bleiben. Absurdes Ergebnis dieser Situation: Jeder bekommt vom Staat Geschenke, und alle zusammen sind anschließend ärmer dran, als wenn sie keine Geschenke bekommen hätten. Jeder finanziert m i t seinen Steuern die Geschenke an hundert andere gesellschaftliche Gruppen mit, und jedem einzelnen dieser Projekte setzt er keinen Widerstand entgegen. Weiter w i r d behauptet, daß der Steuerwiderstand größer sei als die Empfindung eines Mangels an öffentlichen Gütern. Deshalb würden tendenziell zu wenig öffentliche Güter produziert. Diese Hypothese kann man glauben, aber nicht beweisen. Ich selbst neige zu der entgegengesetzten Auffassung. Fast niemand weiß, wieviel Steuern er zahlt. Die einzige Steuer, die man wirklich selber zahlt, ist die Einkommensteuer. Schon die Lohnsteuerzahler wissen oft nicht wieviel sie zahlen. Sie kalkulieren nur m i t dem Nettolohn. A l l e anderen Steuern bleiben dem Bürger verborgen. Über den größten Teil aller Steuern wissen w i r nicht einmal Bescheid. Dagegen sehen w i r die öffentlichen Leistungen, die uns zugute kommen; w i r vermissen die, die uns fehlen. Ich würde deshalb eher zu der These neigen, daß die Klagen über den
Privater Wohlstand — öffentliche Armut? (Zweites
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Mangel an öffentlichen Gütern politisch stärker wiegen, als der Steuerwiderstand. Schließlich haben w i r in der Bundesrepublik eine Finanzverfassung, die in ganz besonderer Weise die öffentliche Verschwendung begünstigt. A u f der Gemeindeebene sieht die Sache so aus, daß die Gemeinden die Zuschüsse des Bundes und der Länder nur dann bekommen, wenn sie ihre eigenen Steuerquellen ausschöpfen, daß aber zu den Ausgaben der Gemeinden in großem Maße Bundes- und Landesmittel eingesetzt werden — Straßenzuschüsse, Kindergartenzuschüsse, etc. Das bedeutet: Die Opfer, die den Leistungen notwendigerweise gegenüberstehen, werden von den Bürgermeistern, von den Parteien i n den Gemeinden ihren Bürgern gegenüber politisch nicht verantwortet. I m Kommunalwahlkampf werden Sie immer die Gleichsetzung von „öffentlichen Leistungen" mit „öffentlichen Ausgaben" finden. „Unsere Partei hat die und die Leistung erbracht", heißt i m Kommunalwahlkampf immer: „unsere Partei hat die und die Ausgaben verursacht". Die Opfer, die diesen Ausgaben gegenüberstehen, treten nicht i m politischen K a l k ü l auf. Der Bürger von K i e l finanziert das Rathaus von Bad Homburg mit. Da aber die Bürger von Bad Homburg den Bürgermeister von Bad Homburg wählen, ist die Last des Bürgers i n K i e l i m politischen K a l k ü l nicht vorhanden. Wer einmal Sitzungen des Gemeindeparlaments erlebt hat, i n denen über die Erhöhung der Gebühren städtischer Wasserwerke beraten wird, der weiß, wie lange sich eine solche Beratung hinzieht — über Wochen und Monate. Wer dann sieht, wie leichthändig das Geld ausgegeben w i r d für Projekte, zu denen Bund oder Länder hohe Zuschüsse leisten — etwa Straßen —, der kann den Unterschied i m Entscheidungsverhalten ermessen. Die politische Verantwortlichkeit i n den Gemeinden ist nicht deckungsgleich m i t der politischen Kompetenz. Dies ist, wie ich meine, ein besonders wichtiger Grund für eine Neigung der öffentlichen Hand, speziell auf Gemeindeund auch auf Landesebene, die öffentlichen Ausgaben zu überziehen. Fazit: A l l e Abweichungen vom Wicksellschen Prozeß, die i n der Realität auftreten, lassen eher eine Uberproduktion öffentlicher Güter vermuten, öffentlicher Luxus ist wahrscheinlicher als öffentliche Armut. I I I . These v o n der gesellschaftlichen Hypochondrie
Meine zweite These ist die These von der gesellschaftlichen Hypochondrie. Die lautet: Obwohl es zuviel öffentliche Güter gibt, herrscht eine allgemeine Empfindung des Mangels an öffentlichen Gütern. Nun dies mag zunächst unplausibel, fast paradox klingen. Aber öffentliche Güter werden normalerweise kostenlos abgegeben. Wenn die Preise niedrig sind, oder gar Null, dann ist die Nachfrage i n der Regel höher
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Wolfram Engels
als bei kostendeckenden Preisen. Beispiel: Wenn w i r uns heute entschließen würden, Mercedes-Autos kostenlos an die Verbraucher abzugeben und sie über Steuern zu finanzieren, dann würden natürlich mehr Mercedes-Autos nachgefragt, als heute bei Preisen von 15 000 oder 20 000 oder 30 000 Mark. Infolgedessen wäre die Nachfrage nach Mercedes-Autos viel größer. Möglicherweise wäre auch die Produktion höher, weil der Staat Mercedes-Wagen als öffentliche Güter empfinden würde und die „inneren Reformen" jetzt eine Erhöhung der Mercedesproduktion notwendig machen. Trotzdem herrschte — wegen der viel höheren Nachfrage — die Empfindung eines Mangels an Mercedes-Wagen. Obwohl viel mehr Mercedes-Wagen produziert werden, als gesellschaftlich richtig wäre, würde doch eine Mehrheit der Bevölkerung unter Mercedes-Mangel leiden. Der Effekt t r i t t bei allen öffentlichen Gütern auf, die kostenlos abgegeben werden. Dieser Empfindung eines Mangels an öffentlichen Gütern kann man nur dadurch abhelfen, daß man öffentliche Güter i n größerem Maß über Preise oder Gebühren, statt über Steuern, oder statt über allgemeine Steuern, über Zwecksteuern finanziert. Ich habe das am Beispiel der Krankenhäuser exemplifiziert. Die beiden mit Krankenhausbetten bestversorgten Länder der Welt sind die Bundesrepublik und Schweden. I n beiden w i r d ständig über Mangel an Krankenhausbetten geklagt, während die USA, bei nur zwei D r i t t e l der Bettenversorgung keine Klagen über den Mangel an Krankenhausbetten kennt. Dies ist nicht darauf zurückzuführen, daß die Amerikaner besonders gesund sind i m Vergleich zu den Schweden oder den Deutschen, sondern einfach darauf, daß das Gesundheitswesen in Amerika anders finanziert wird, als i n der Bundesrepublik.
I V . These von der öffentlichen Verschwendung
Es gibt ein sehr lesenswertes Buch von Albert Hirschman: Abwanderung und AViderspruch. Die zentrale Aussage dieses Buches: Es kommt in einer Organisation viel weniger darauf an, welche Ziele sie verfolgt (in der Ökonomie stand immer die Zieldiskussion i m Vordergrund), es kommt vielmehr darauf an, ob diese Organisation als Ganzes fit gehalten w i r d oder ob sie abschlafft. Wie aber w i r d eine Organisation fit gehalten? Dafür gibt es zwei Mechanismen: Abwanderung und Widerspruch. Abwanderung ist der Mechanismus, der auf Unternehmen einwirkt. Wenn dem Kunden die Güter dieses Unternehmens von schlechter Qualität oder zu teuer erscheinen, dann wandert er ab und sucht sich einen neuen Lieferanten. Wenn dem Kreditgeber die Firma zu unsolide
Privater Wohlstand — öffentliche Armut? (Zweites
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erscheint, dann kündigt er seinen Kredit und wandert ab; er gibt Kredite an jemand anders. Wenn dem Arbeitnehmer die Bezahlung zu schlecht oder die Arbeitsbedingungen zu ungünstig sind, dann sucht er sich einen anderen Arbeitsplatz. Er wandert ab. Diese Möglichkeit der Abwanderung der beteiligten Organisationsmitglieder zwingt die Unternehmensleitung dazu, ständig die Organisation „Unternehmen" fit zu erhalten, ständig sich anzustrengen. Der M a r k t ist nicht die einzige Möglichkeit, um Organisationen fit zu halten. Es gibt auch den politischen Prozeß, den Prozeß des „Widerspruchs", das Heranziehen zur politischen Verantwortung. Ich habe gerade am Beispiel der Gemeinden zu exemplifizieren versucht, daß die Bürgermeister und Gemeinderäte nicht für das zur Verantwortung gezogen werden, was sie tatsächlich an Gutem leisten oder an Schlechtem verbrechen, daß hier die Verantwortlichkeiten verschoben sind. I n vielen Fällen ist nicht nur die Verantwortlichkeit verschoben, sie ist bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Es gibt Organisationen, i n denen es eigentlich überhaupt keine Verantwortlichkeit gibt. Ich nehme die Universität. A n der Universität gibt es niemanden mehr, der verantwortlich ist; hier gibt es eine Herrschaft der Komitees. Es gibt weder Autorität noch Verantwortung. Eine Organisation, i n der Kompetenz und Verantwortung nicht klargestellt sind, sei es die Verantwortung gegenüber dem Markt i m Sinne von Verlusten, sei es die politische Verantwortung, schlafft ab. Wenn die Politiker dazu übergehen, wie bei der Bundesbahn, dem öffentlichen Nahverkehr, völlig auf Kostendeckung zu verzichten, wenn sie Verluste mit Steuermitteln ersetzen, dann lastet auf dieser Organisation kein Leistungsdruck. Das ist, wie ich meine, ein ganz besonders wichtiger Grund für die öffentliche Verschwendung. Ich habe Bahn und Post genannt. Sie wissen, daß die Defizite der Bundesbahn inzwischen höher geworden sind als das Aufkommen der Körperschaftsteuer, also der Gewinnsteuer der Unternehmen. Die Bundesbahn deckt nicht mehr ihre Personalkosten. Die Post ist viel besser dran, aber sie geht denselben Weg. Der Postminister muß sehen, daß er sich eine Klientel schafft, eine politische Gefolgschaft oder, wie man sagt, eine Hausmacht, und die gegebene Hausmacht des Postministers ist die Postgewerkschaft. Das gilt für die SPD nicht weniger als für die CDU, das gilt für alle. So neigt er dazu, nicht allzu hart durchzugreifen und dem Leistungsprinzip nicht allzu wirksam zur Geltung zu verhelfen. Die Forderung nach dem Nulltarif ist nichts anderes als die Flucht aus der Verantwortung. Heilmittel dafür ist die Klarstellung von Verantwortlichkeiten, und Klarstellung von Verantwortlichkeiten i m finanziellen Bereich heißt immer, möglichst unmittelbare Zurechnung von Kosten und Nutzen, möglichst unmittelbare Finanzierung, so unmittelbar wie es geht.
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Wolfram Engels V . These von der öffentlichen Überlastung
Die vierte These von der öffentlichen Überlastung besagt: der Staat habe zu viele Aufgaben an sich gezogen, öffentliche Güter sind Güter, die durch das Nichtausschlußprinzip definiert sind. Wenn öffentliche Güter so definiert sind, dann produziert der Staat überwiegend private Güter. Das ganze Bildungswesen ist ein privates Gut, vom Kindergarten bis zur Universität. Das Gesundheitswesen ist ein privates Gut, die Bahn ist ein privates Gut, die Post ist ein privates Gut. Der Staat vergibt nach A r t von Bankiers Kredite für alle möglichen Zwecke: Landwirtschaft, sozialer Wohnungsbau etc., etc. Er produziert überwiegend private Güter. Daran soll nicht die Forderung geknüpft werden, daß die Universitäten in Aktiengesellschaften und die Kindergärten in GmbHs verwandelt werden. Wenn der Staat unternehmerisch tätig ist, so soll er das nach unternehmerischen Prinzipien tun. Die Formen der Organisation, die Formen der Verwaltung, derer man sich bedient, sind Formen, die angemessen sind, um Gesetze gleichmäßig und gerecht zu exekutieren, nicht Strukturen, die geeignet sind, ein privates Gut zu produzieren. Der Steuerwiderstand wächst m i t der Erhöhung der Steuersätze. Wenn w i r die Steuersätze heute um ein Drittel erhöhen würden, dann würden nicht etwa die Steuern u m ein Drittel steigen, sondern vielleicht um 6, um 8 oder um 10 Prozent — aber jedenfalls um viel weniger, als w i r die Steuersätze erhöhen. Und da w i r die Steuersätze kaum mehr erhöhen können, stehen w i r vor dem Problem, daß der Staat die Aufgaben, die er allein erfüllen kann, nur noch unzureichend erfüllt, deshalb, weil er viele Aufgaben an sich gezogen hat, die nicht nur der Staat, sondern auch jemand anders übernehmen könnte. V I . These von der politischen Insuffizienz
Die letzte These ist die These von der politischen Insuffizienz. Die wichtigsten öffentlichen Güter sind Gesetze. Gesetze werden nicht zu wenig, sondern zuviel produziert. Von 1950 bis 1969 ist der Umfang des Bundesgesetzblattes von 1100 auf 1300 Seiten gestiegen. Von 1969 bis heute (1974) ist das Bundesgesetzblatt von rund 1300 auf rund 3000 Seiten angewachsen. Das hat verschiedene Folgen. Je mehr Gesetze gemacht werden, um so mehr Leute braucht man, u m die Gesetze zu verwalten. Wo der Ausstoß an Gesetzen i n solchem Maße verstärkt wird, wie das i n den letzten Jahren der Fall war, da darf man sich nicht wundern, wenn es einer entsprechenden Vermehrung des öffentlichen Dienstes bedarf. Aber nicht nur die Verwaltung der Gesetze durch die öffentliche Hand absorbiert immer mehr Arbeitskraft, auch
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i m privaten Sektor w i r d ein immer größerer Teil der Arbeit dazu benötigt, die Gesetze zu kennen, sie zu nutzen, sie zu befolgen. Die Zunahme der Zahl der Steuerberater und der Rechtsanwälte ist nur ein kleiner Teil dessen, was i m privaten Sektor durch die Verstärkung der Gesetzgebung absorbiert wird. Das viel Schlimmere aber ist, daß niemand mehr die Zusammenhänge der verschiedenen Teilgebiete durchschauen kann. Selbst auf Teilgebieten von Teilgebieten benötigt man eigens ausgebildete Spezialisten. Je größer der Berg der Gesetze wird, um so schwerer w i r d es auch, dem Bürger sein Recht zu verschaffen, um so mehr w i r d der clevere gegenüber dem einfachen Bürger bevorzugt. Vordergründig liegt die Ursache für die gewaltige Gesetzesproduktion i n einem Verlust des Ordnungsdenkens. Das, was man m i t viel Lob eine „pragmatische Politik" nennt, ist nichts anderes als Politik, der es an einer übergreifenden Ordnungsidee gebricht. Dahinter steht aber ein Fehler der staatlichen Konstruktion, auf den w i r inzwischen an mehreren Stellen gestoßen sind. Das vergangene Jahrzehnt brachte eine außerordentliche Zentralisierung von Entscheidungen m i t sich. Gemeinden wurden zusammengelegt; es wurden Entscheidungen der Gemeinden auf den Kreis, der Kreise auf das Land, der Länder auf den Bund übertragen. Während die moderne Management-Lehre davon ausgeht und fordert, daß mit dem Wachsen der Organisationen immer mehr Entscheidungen dezentralisiert werden sollten, während die moderne Management-Lehre erkannt hat, daß das Größenwachstum der Organisation zu bürokratischen Wasserköpfen führen muß, hat der Staat den Erkenntnissen der Unternehmensführung gerade entgegengesetzt gehandelt. Je stärker aber zentralisiert wird, um so größer w i r d der Bedarf an generellen Regelungen, an Richtlinien. Gesetze aber sind nichts anderes als solch generelle Regelungen. Die Zentralisierung von Entscheidungen i m Staat ist zumindest eine von mehreren Ursachen für das Anschwellen des Stromes der Gesetze. Der Bedarf an Zentralisierung jedoch ergibt sich daraus, daß die Steuerquellen zwischen den einzelnen Gebietskörperschaften so verteilt sind, daß sie ihren Aufgaben nicht entsprechen. Dadurch kommt es dazu, daß es „reiche" und „arme" Gebietskörperschaften gibt. Dieser Reichtum oder diese A r m u t haben sehr wenig m i t dem Wohlstand der Bevölkerung zu tun. Sie resultieren einfach daraus, daß die Verteilung der Steuerquellen den Aufgaben dieser Körperschaften nicht entspricht. Die einfachste, aber auch primitivste Lösung liegt darin, daß man Kompetenzen und Steuerquellen verschiedener Körperschaften zusammenwirft, also darin, daß man zentralisiert. Die vernünftigere und sachgerechtere Lösung wäre es, die Verteilung der Steuerquellen den Aufgaben anzupassen. Damit sind w i r bei derselben Figur, die w i r aus
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Wolfram Engels
den vorangegangenen Abschnitten schon kennen. Bei verteilungsneutraler Finanzierung, also bei institutioneller Trennung von Allokation und Verteilung i m öffentlichen Finanzwesen, wären die Aufgaben der Gebietskörperschaften gleichzeitig ihre Steuerbemessungsbasen. So würde diejenige Kraft aufhören zu wirken, die heute die Zentralisierung von Entscheidungen vorantreibt. V I I . S m a l l is beautiful oder die Schweiz als V o r b i l d
Es war sicherlich unangemessen, dieses umfangreiche Thema in derartig impressionistischer Weise abzuhandeln. Eine Vielzahl von Problemen wurde nicht behandelt. Es wurden weder die Fragwürdigkeit des Paretooptimums angesprochen, noch die Eigeninteressen der Verwaltung oder der Politiker. Die Frage der öffentlichen Heinvermögensbildung und der Finanzierungsformen öffentlicher Güter blieb unerörtert. Die künstliche Privatisierung, wie w i r sie i m Patentwesen haben, wurde vernachlässigt. Ebenso habe ich nicht über den umfangreichen Komplex der meritorischen Güter gesprochen. Mein Vortrag war auf sein Fazit zugeschnitten. Die zentrale Erkenntnis der Wirtschaftstheorie über die Bedingung optimaler Allokation der Ressourcen auf private und öffentliche Güter ist die Forderung nach institutioneller Trennung von Allokation und Verteilung. Ich habe zu zeigen versucht, daß nahezu alle Übelstände, an denen w i r leiden, darauf zurückzuführen sind, daß w i r Allokation und Verteilung vermischen. Während aber die herrschende Theorie die Verteilungsneutralität üblicherweise nur auf die Verteilung zwischen Einzelpersonen bezieht, versuchte ich zu zeigen, daß diese Verteilungsneutralität auch zwischen Gebietskörperschaften gelten sollte. Während die herrschende Theorie lediglich behauptet, daß jedes Abweichen von der Verteilungsneutralität zu einer Fehlallokation der Ressourcen führe, habe ich zu zeigen versucht, daß daraus weitere Folgen erwachsen — die Tendenz zum Abschlaffen staatlicher Organisationen, ob es sich nun um Gemeinden oder Universitäten oder öffentliche Betriebe handelt, die Tendenz zur Zentralisierung von Entscheidungen m i t ihrer Konsequenz wachsender Bürokratisierung. Man sollte lieber über Preise finanzieren, als über Gebühren, lieber über Gebühren als über Zwecksteuern und lieber über Zwecksteuern, als über allgemeine Steuern. W i r sollten die Entscheidungen so weit wie möglich, an die Basis verlegen, denn da werden sie sachverhaltsnäher entschieden. W i r sollten dezentralisieren anstatt zentralisieren. Wenn umverteilt werden soll, dann muß man sich dazu eigener Instrumente bedienen. Solche Grundsätze mögen nicht i m modischen Trend liegen; sie mögen als paläo-liberal gelten. Es sind die Grundsätze, nach denen unser
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Nachbarland, die Schweiz, verwaltet wird. Die Kollegen Finanzwissenschaftler mokieren sich gelegentlich darüber, daß i n der Schweiz kein „Steuersystem" herrscht. Jede Gemeinde, jeder Kanton und auch der Bund haben eigene Steuern, die oft recht verschieden sind. Der Bund wiederum erhebt so seltsame Steuern wie die „Schweizerische Wehrsteuer", also zweckbestimmte, statt allgemeiner Steuern. Immerhin sollte man sich Gedanken darüber machen, w a r u m dieses Land bei knapp der Hälfte der Steuersätze und knapp 2/3 der Steuerlastquote höhere öffentliche Leistungen hervorbringt, als die Bundesrepublik. Es gibt fast keine Zahl, die soziale Verhältnisse kennzeichnet (sogenannte soziale Indikatoren), die für die Schweiz nicht günstiger als für die Bundesrepublik wäre. Es ist doch immerhin eine verblüffende Angelegenheit, daß ein Staat, der wohlstandsmäßig etwa dem unseren entspricht, entwicklungsmäßig und klimatisch dem unseren entspricht — daß ein solcher Staat mit wesentlich niedrigeren Steuern auskommt, u m damit höhere Leistungen zu erbringen. Man w i r f t gelegentlich wegwerfend ein, daß die Schweiz schließlich ein kleines Land sei und eine andere Mentalität habe. Aber gerade dabei sollte man sich fragen, warum denn die Schweiz diese andere Mentalität hat. A n ethnischen oder rassischen Gründen kann es wohl kaum liegen angesichts der Tatsache, daß die Schweiz vier Völker i n ihren Grenzen vereint. Und die Größe oder Kleinheit einer Organisation ist nicht eine Frage der Grundfläche oder Bevölkerungszahl, sondern eine Frage des Grades der Zentralisierung oder Dezentralisierung von Entscheidungen. Man hat sich das Nachdenken über das Phänomen „Schweiz" über Jahrzehnte hinweg erspart. Das aber war ein Sparen am falschen Fleck.
Privater Wohlstand — öffentliche Armut ? Drittes Referat
Von Hans Georg Wehner
I . Galbraiths These, bezogen auf die Bundesrepublik
Erlauben Sie mir bitte zunächst einige Ergänzungen zu der von Herrn Krause ja bereits zutreffend vorgenommenen Charakterisierung der von Galbraith aufgestellten These des privaten Wohlstandes bei gleichzeitiger öffentlicher Armut. Wo liegen nach Galbraith die Ursachen für diesen von i h m behaupteten Tatbestand? Galbraith nennt zwei Ursachen: Erstens: Das i m 19. Jahrhundert entstandene sogenannte Produktionstrauma. Z u einer Zeit, als die Produktion materieller Güter gleichbedeutend m i t der Erhaltung der menschlichen Existenz war, hatten die Menschen gar keine andere Wahl, als konsumierbare Güter u m jeden Preis zu produzieren. Dieses damals entstandene, von Galbraith sogenannte Produktionstrauma habe sich i m Grunde bis i n unsere heutigen Tage erhalten, obgleich w i r bereits i m Zustand einer Überflußgesellschaft leben. Neben dem Produktionstrauma nennt Galbraith als zweite Ursache für die öffentliche A r m u t bei privatem Wohlstand das Festhalten der reichen Bevölkerungsschichten an ihren Privilegien sowie deren Widerstand gegen eine Ausdehnung staatlicher Dienstleistungen, die eben diese Reichen finanzieren mußten bzw. die sie fürchteten, finanzieren zu müssen. Diese Ausführungen von Galbraith müssen — bezogen auf die Bundesrepublik — mit einigen neuen Akzenten versehen werden. Zunächst einmal ist festzustellen, daß die Bundesrepublik rein zahlenmäßig betrachtet eindeutig eine Arbeitnehmergesellschaft ist. Rund 85 o/o aller Erwerbstätigen sind Arbeitnehmer, die mindestens 70 °/o des gesamten Steueraufkommens des Staates aufbringen. Die staatlichen Leistungen werden heute also in der Bundesrepublik ganz überwiegend von den Arbeitnehmern finanziert. Bei den genannten Zahlen sind Überwälzungsvorgänge sogar noch unbeachtet geblieben, so daß es
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bei Berücksichtigung solcher Steuerüberwälzungen i n die Verbraucherpreise sogar wahrscheinlich ist, daß die Arbeitnehmer letztlich weit mehr als 70 °/o des gesamten Steueraufkommens bestreiten. Zur Frage des privaten Wohlstandes oder — wie man's auch ausdrücken könnte — der Erreichung von Bedarfssättigungsgrenzen darf ich darauf hinweisen, daß die Nettolohn- und Gehaltssumme je Arbeitnehmer i m Vorjahr 1265 D M erreichte. Ich glaube nicht, daß hier allgemein von dem Vorhandensein privaten Wohlstandes gesprochen werden kann. Und erlauben Sie m i r bitte noch eine weitere Vorbemerkung i n diesem Zusammenhang: Unterstellt man einmal, die These von Galbraith träfe zu, unterstellt also die Ausstattung des öffentlichen Sektors mit Finanzierungsmitteln und damit die staatlichen Leistungen für die Bevölkerung wären i n der Bundesrepublik unzureichend, wäre es dann eine gerechtfertigte Forderung an die Arbeitnehmer bzw. an deren Gewerkschaften, auf einen Teil der möglichen Realeinkommenssteigerungen zugunsten des Staates zu verzichten? Ich glaube, hier ist ein Hinweis auf die Tatsache am Platze, daß die Arbeitnehmer i n der Vergangenheit ständig stärker mit Lohnsteuern belastet wurden, und so w i r d es auch nach der Einkommensteuerreform i n Zukunft bleiben. Dazu drei Zahlen: 1. Ein Anstieg der Bruttolohnsumme u m 1 °/o führte i n den vergangenen 10 Jahren zu einer Steigerung des Lohnsteueraufkommens beim Staat u m 2 °/o. 2. Bei einem zu versteuernden Einkommen bis zu 16 000/32 000 D M (ledig/verheiratet) beträgt die Grenzbelastung, d. h. also die Belastung zusätzlich verdienten Einkommens m i t Lohnsteuern (22 °/o) und Sozialversicherungsabgaben (rund 15 °/o), immerhin bereits 37 °/o. 3. Bei über 16 000/32 000 D M (ledig/verheiratet) zu versteuerndem Einkommen steigt die Grenzbelastung m i t Lohnsteuer (30,8 °/o) und Sozialversicherungsbeiträgen (rund 15 °/o) bereits auf 45,8 °/o an. Die These vom privaten Wohlstand bei öffentlicher A r m u t soll an dieser Stelle von m i r weder unterstützt noch abgelehnt werden. Eines aber können w i r auf jeden Fall festhalten: Dem staatlichen Sektor w i r d heute i n der Bundesrepublik — wie übrigens i n fast allen westlichen Industriestaaten — ein erheblicher Anteil aus dem privaten Sektor abgezweigt, nämlich rund 36 °/o unseres Bruttosozialproduktes. Die These vom privaten Wohlstand bei öffentlicher A r m u t scheint mir i n sich widersprüchlich zu sein. Sie erweckt den Eindruck, als ob es sich beim staatlichen bzw. privaten Sektor einer Volkswirtschaft u m alternative Größen handeln würde, die scharf voneinander abge11 Speyer 59
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grenzt werden könnten. Dem ist m. E. nicht so. Vielmehr handelt es sich u m komplementäre Sektoren m i t mannigfaltigen Interdependenzen: Diese Wechselbeziehungen werden besonders bei den staatlichen Investitionen offensichtlich, von denen langfristig eine erhebliche produktivitätsfördernde Wirkung und damit letztlich eine Steigerung des privaten Wohlstandes ausgehen kann. Ihre Unterentwicklung müßte strukturelle Unausgewogenheiten entstehen lassen, von denen die Wachstumsmöglichkeiten i m privaten Sektor und damit der private Wohlstand auf lange Sicht ungünstig beeinflußt würden. Man braucht hier nur an Verkehrsinvestitionen, Bildungs-, Gesundheits-, Umweltschutz« oder sonstige Infrastrukturinvestitionen des Staates zu denken. Tatsächlich dient auch der häufig so viel gescholtene „Staatsverbrauch" zu einem erheblichen Teil der Befriedigung individueller Bedürfnisse. A n dieser Stelle w i r d ganz unmittelbar deutlich, daß ein armer Staat über niedrige Gehälter, Pensionen und Renten weite Teile der Bevölkerung und damit des privaten Sektors ebenfalls i n relativer A r m u t belassen müßte. Von dem Schlagwort der öffentlichen A r m u t bei privatem Wohlstand w i r d aber nicht nur die Tatsache verdeckt, daß die finanzielle Ausstattung des Staates sowie die öffentliche Ausgabenstruktur mitentscheidend für privaten Wohlstand, Lebensqualität und Befriedigung von Gemeinschaftsbedürfnissen sind, sondern daß auch innerhalb des privaten Sektors ein zunehmender Teil des dort angeblich vorhandenen Wohlstandes zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse aufgewendet w i r d und auf gewendet werden muß. Beispiel: private Umweltschutzinvestitionen. Der hier behauptete innere Widerspruch des Schlagwortes vom privaten Wohlstand bei öffentlicher A r m u t könnte m. E. nur i n einer Extremsituation aufgehoben werden. Eine solche Situation würde dann gegeben sein, wenn sich jeder Bürger die heute vom Staat angebotenen Gemeinschaftsdienste auf eigene Kosten leisten könnte, d. h. also beispielsweise, wenn die Inanspruchnahme ausreichender medizinischer Dienste i n so gut wie keinem Falle mehr an der Schmalheit des Geldbeutels beim Durchschnittsbürger zu scheitern bräuchte. Bei einer durchschnittlichen Nettolohn- und -gehaltssumme von 1265 D M pro Arbeitnehmer kann aber von einer derartigen „Extremsituation" kaum die Rede sein. Es muß also ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Befriedigung individueller Bedürfnisse über den Markt und der kollektiven Befriedigung sowohl individueller als auch gesellschaftlicher Bedürfnisse hergestellt werden. Nur dann können sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung, also auch des privaten Sektors, optimal entwickeln. A n dieser Stelle stellt sich sogleich das Problem des Maßstabes für die
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Bestimmung eines „ausgewogenen" Verhältnisses von öffentlichen Leistungen und privatem Sektor einer Volkswirtschaft. I I . Quantitatives und qualitatives Wachstum
Ein Blick zu diesem Problem i n die Wissenschaft führt uns i m Grunde genommen zurück zu den Nutzentheoretikern des 19. Jahrhunderts. Sie lehrten, daß i n jedem Augenblick die Überlegung anzustellen ist, i n welchem Bereich der Nutzen zusätzlicher Aufwendungen am größten ist. Die optimale Bedürfnisbefriedigung ist dann erreicht, wenn die Nutzenstiftungen zusätzlicher Aufwendungen i n allen Bereichen sich ausgleichen, d. h. also, wenn beispielsweise der Nutzen, den ich mit dem Aufwand für die Produktion einer Tonne Stahl erziele, nicht durch Einsatz desselben Aufwandes zwecks Produktion eines Radios überboten werden könnte. Man sieht also, das Problem der Nutzenmaximierung bzw. des Maßstabes für sinnvolle Verwendung volkswirtschaftlicher Güter gibt es nicht erst, seit der Begriff „Lebensqualität" besteht, oder seit der These von Galbraith über den privaten Wohlstand bei öffentlicher Armut. Dieses Problem des Maßstabes hat sich jedoch i n dem Maße verschärft, wie das Unbehagen an dem Streben nach möglichst hohen quantitativen Wachstumsraten gewachsen ist. Dazu zunächst einige Anmerkungen: 1. Das Unbehagen
an quantitativem
Wachstum
Bis vor kurzer Zeit waren Zweifel am Streben nach möglichst hohen Wachstumsraten der Volkswirtschaft die Ausnahme. Als Maßstab für den Volkswohlstand wurden das Bruttosozialprodukt bzw. das Volkseinkommen pro Kopf, unterteilt i n die Verwendungskategorien „Privater Konsum — Staatsverbrauch — Investitionen — Außenbeitrag", allgemein akzeptiert. Heute haben sich die Fronten verkehrt. Die Forderung nach „qualitativem" Wachstum ist gleichberechtigt neben das Bestreben nach „quantitativen" Wachstumsraten getreten. Die Erkenntnis, daß unqualifiziertes oder zumindest unkontrolliertes Wachst u m häufig m i t einer Zerstörung der Umwelt erkauft werden mußte, hat das genannte Unbehagen sicherlich sehr stark motiviert. Darüber hinaus wurde deutlich, daß das reale Sozialprodukt als Indikator für die Wohlstandsentwicklung mindestens zwei hauptsächliche Schwächen hat: 1. Die Nichtberücksichtigung der sozialen Kosten bei der quantitativen Erfassung der volkswirtschaftlichen Leistung, 2. die öffentlichen Haushalte, deren Anteil ständig wächst, als Fremdkörper i n Rechnungen, die sich an der Marktpreisbildung ausrichten. 11*
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Soziale Kosten werden oft nicht nur nicht abgezogen, sondern gehen als positiver Beitrag i n die Berechnungen ein. Alle Aufwendungen i m Zusammenhang m i t Autounfällen, beispielsweise (Behandlungskosten der Unfallopfer, Reparaturen an Fahrzeugen usw.) erscheinen als positiver Beitrag zum Wirtschaftswachstum. Öffentliche Haushalte sind i n den Schätzungen ein Fremdkörper, w e i l Sozialgüter nicht auf Märkten angeboten werden und somit keine Preise erzielen, man also die wirkliche Wertschätzung des Konsumenten nicht erkennen kann. Daraus resultiert die praktisch unüberwindliche Schwierigkeit, die nominelle Entwicklung der Staatsausgaben aufzulösen i n eine Mengenund i n eine Preiskomponente. W i r wissen also nicht, i n welchem Umfange w i r wirklich ständig mehr Staatsdienste angeboten erhalten und inwieweit soziale Güter einfach nur teurer werden. Steigende Ausgaben für den Bildungssektor beispielsweise sagen für sich allein genommen noch nichts darüber aus, ob damit mehr Lehrer bei kleineren Klassenfrequenzen finanziert werden oder lediglich eine höhere Besoldung oder alle drei Tatbestände zusammen. Ganz offensichtlich w i r d die Unzulänglichkeit des Bruttosozialproduktes bzw. seiner Wachstumsraten als Indikator für Volkswohlstand dann, wenn ich mit dessen Hilfe unbesehen den Wohlstand zweier verschiedener Staaten messen w i l l . Gesetzt den Fall, der Staat A hätte dasselbe Bruttosozialprodukt pro Kopf wie der Staat B. Bei vordergründiger Betrachtung könnte man durchaus von gleichem Wohlstandsniveau ausgehen. Hinter dieser vordergründigen Übereinstimmung könnte sich jedoch die Tatsache verbergen, daß i n dem einen Staat dasselbe Bruttosozialprodukt i m Rahmen einer 35-Stunden-Woche hergestellt wird, während i n dem anderen Staat 48 Stunden in der Woche gearbeitet werden müssen. Durch Hinzufügung dieses einen Indikators „Freizeit" bzw. „Arbeitszeit" erhält der Vergleich eine ganz andere Aussage. 2. Das Problem
des Maßstabes
zur Messung
von
„Lebensqualität"
Welche Verbesserungen eines Maßstabes zur Wohlbestandsbetrachtung oder — i n den Worten des hier gestellten Themas ausgedrückt — zur Beantwortung der Frage, ob w i r i n privatem Reichtum bei öffentlicher A r m u t leben, bieten sich an? Als erstes könnte man an eine weitgehende Privatisierung öffentlicher Aufgaben denken, d. h. letztlich an eine Ersetzung der heute „kostenlos" angebotenen staatlichen Leistungen durch Leistungen, deren Preise sich am M a r k t nach dem herkömmlichen Muster von Angebot und Nachfrage bilden. Eine solche Lösung schwebt offenbar Herrn Professor Engels vor, der ja glaubt, dadurch die von i h m sogenannte „öffentliche Verschwendung" unter-
Privater Wohlstand — öffentliche Armut? ( i t e s H e f e r a t ) 1 6 5 binden zu können. Die Privatisierung staatlicher Aufgaben und deren Leitung über den Markt bzw. über die Marktpreisbildung m i t dem Ziel, einen Maßstab auch für die Bewertung öffentlicher Güter zu bekommen, und mit dem weitergehenden Ziel, den Preis zum Maßstab für Ausgewogenheit oder Unausgewogenheit des Verhältnisses von privatem und öffentlichem Sektor zu machen, ist m. E. indiskutabel. M i t Sicherheit blieben dabei die materiellen Probleme der weniger Begüterten auf der Strecke, und u m sie geht es ja gerade beim Angebot staatlicher Dienstleistungen. Denn diejenigen, die für den leistungsarmen Staat plädieren, konnten sich seit jeher i n vollklimatisierten Büros und durch das Haus i m Grünen vor Berufs- und Umweltschäden schützen, die beste Heilbehandlung kaufen, dem Verkehrschaos entziehen und eine individuelle Förderung ihrer Kinder leisten. Hier geht es schlicht u m die Forderung, daß der Zustand des sogenannten Sozialdarwinismus („survival of the richest"), der i m 19. Jahrhundert, also zur Zeit unerträglicher sozialer Ungerechtigkeiten, hoch i n Mode stand, überwunden wird. Um das Bruttosozialprodukt als Wertmaßstab für die Wohlstandsmessung aussagekräftiger zu machen, könnte man weiterhin daran denken, soziale Kosten i n Geld zu bewerten und vom Nettosozialprodukt abzuziehen. Auch dieser Ansatz bringt uns der Lösung des Problems nicht näher. Zum einen ist es rein praktisch nicht möglich, ζ. B. die durch den Automobilverkehr verursachten sozialen Kosten statistisch zu erfassen; denn wer wollte schon den durch die Luftverschmutzung und Lärmbelästigung des Kfz-Verkehrs bewirkten Anteil an Herz-, Kreislauf- und Lungenkranken quantifizieren. Zum anderen gibt es beispielsweise i m Bereich des Umweltschutzes einfach keine objektiven Wertmaßstäbe, die i n Geld ausgedrückt werden könnten. Denn wie sollte ich beispielsweise die Verringerung eines Staubausstoßes durch Einbau von Filtern und damit den höheren Grad an Luftreinheit i n Geld ausdrücken. Entscheidende Fortschritte sind deshalb i n einer anderen Richtung zu suchen, nämlich i n einer Ergänzung der traditionellen Sozialproduktsrechnungen durch sogenannte gesellschaftliche Kennzahlen. Diese Kennzahlen können für den Wohlstand positiv zu bewertende Tatbestände oder auch negative darstellen. Soziale Kosten lassen sich durch Kennzahlen besser ausdrücken als durch irgendeine A r t der Geldbewertung. Die meisten Sozialgüter lassen sich relativ leicht durch solche Kennzahlen darstellen. Einige wenige Indikatoren für das Gesundheitswesen (Krankenhausbetten je 1000 Einwohner, Ärztedichte, Häufigkeit von Krankheiten) sagen weit mehr als schwer faßbare Milliardenausgaben, die ohnehin die Frage offenlassen, ob das Gesundheitswesen eines Landes besonders gut ausgebaut oder ob es nur
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besonders teuer ist, vielleicht wegen vergleichsweise wenig produktiver Nutzung der Mittel. Solche sozialen Indikatoren können eine objektiv bessere Uberschaubarkeit des Wohlstandsniveaus bieten, als sie heute auf Grund der traditionellen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen gegeben ist. Für welche Qualität des Lebens — anders gesprochen —, für eine wie geartete Zusammensetzung des Sozialproduktes oder auch — daraus resultierend — für welches Verhältnis von privatem und öffentlichem Sektor sich der einzelne entscheidet, bleibt dann allerdings seine Privatsache, ist sozusagen nur subjektiv zu bewerten. Diese subjektiven Wertentscheidungen müssen sich i m Rahmen unseres demokratischen Systems dann zu politischen Willensentscheidungen verdichten, von denen die Richtung des Wirtschaftsprozesses beeinflußt wird. Weshalb ist der Maßstab hier so wichtig? Das Referat behandelt die Frage, ob i n der Bundesrepublik bei privatem Wohlstand zugleich eine Unterversorgung m i t Kollektivgütern festzustellen ist. U m diese Frage zu beantworten, müssen Maßstäbe her, m i t denen geprüft werden kann, ob i m privaten Sektor M i t t e l zur Güterproduktion verwendet werden, die besser vom Staat zur Bereitstellung staatlicher Infrastrukturdienste genutzt worden wären. U m den Bürgern, den Verbänden und dem Staat, also u m allen am politischen, gesellschaftlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß Beteiligten die Entscheidung zur Bestimmung ihrer Prioritäten zu erleichtern, kann ein Denken i n Kategorien gesellschaftlicher Kennzahlen gute Dienste leisten. I I I . Schlußbemerkungen
Z u m Abschluß soll versucht werden, an Hand einiger weniger Indizien die Frage zu beantworten, ob w i r i n der Bundesrepublik generell von „öffentlicher A r m u t " sprechen können. Eine Prüfung der Ausgabenstrukturen unserer öffentlichen Haushalte i n den Jahren 1970 bis 1973 zeigt, daß die sogenannten Reformausgaben sehr stark forciert worden sind. So sind die öffentlichen Ausgaben für das Schulund Hochschulwesen, für Hochschulkliniken und sonstiges Bildungswesen, für Gesundheit, Sport und Erholung, Wohnungswesen, Raumordnung und Landesplanung, kommunale Gemeinschaftsdienste, Wasserwirtschaft und Schienenverkehr i n dem genannten Zeitraum u m 68,5% gewachsen, während die gesamten Nettoausgaben des Staates nur um 43 °/o zugenommen haben. Ich glaube, man kann heute nicht mehr von einer generellen Unterversorgung m i t vom Staat bereitzustellenden Gemeinschaftsgütern sprechen. Zu dieser Schlußfolgerung kommt i m übrigen auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands
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i n ihrem 2. Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens für die Jahre 1975 bis 1985. Es w i r d i n Zukunft bei dem bereits heute erreichten hohen Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt mehr denn je darauf ankommen, eventuell noch vorhandene Stellen „öffentlicher A r m u t " durch Umstrukturierung der öffentlichen Ausgaben zu beseitigen. Bei allem dürfte der Hinweis wichtig sein, daß sich zumindest langfristig die Zunahme des Bedarfs an öffentlichen Gütern vor dem Hintergrund des bereits seit mehreren Jahren zu beobachtenden Geburtenrückganges verringern wird.
Privater Wohlstand — öffentliche Armut ? A n m e r k u n g e n eines Systemanalytikers Viertes Referat
Von Gert von Kortzfleisch Die Systemforschung als Sammelbezeichnung für computerunterstützte Verfahren zur Analyse der Struktur und des Verhaltens von sozioökonomischen Komplexen ist vor allem durch die vom Club of Rome angeregten Publikationen weithin bekannt geworden. Die erste dieser Publikationen mit dem Titel „Die Grenzen des Wachstums" hat ein weltweites Echo gefunden, und w i r haben heute schon Grund zu der Hoffnung, daß die zweite Publikation m i t dem Titel „Menschheit am Wendepunkt" die gleiche Resonanz bei Wissenschaftlern, bei Politikern und vor allem i n breiten Kreisen der Bevölkerung haben wird. Angesichts dessen erscheint es sinnvoll, vor den Anmerkungen zum Thema „Privater Wohlstand — öffentliche Armut?" drei Besonderheiten der Club of Rome-Aktivitäten herauszustellen, weil so der eigene Standpunkt zur Sicht auf die anzusprechende Problematik deutlich wird. 1. Die Mitglieder des Club of Rome haben sich i n dieser informellen Vereinigung von Wissenschaftlern und Wirtschaftlern zusammengefunden i n der Absicht, solche Probleme zu behandeln, die von der gesamten auf der Erde lebenden Menschheit gelöst werden müssen. Z u diesen Problemen gehören die Überbevölkerung i n weiten Regionen der Welt, die i n den gleichen Regionen dramatischen Hungerkatastrophen, der Aufbrauch von nichtregenerierbaren Rohstoffen, die Zerstörung der natürlichen Umwelt sowie schließlich die ungleiche Verteilung der Kapitalbildung und des Kapitaleinsatzes. N u r i m Blick auf diese weltumfassenden Probleme können — nach Meinung des Club of Rome — Entscheidungen getroffen werden, m i t denen sozioökonomische Subsysteme wie Nationalökonomien, Wirtschaftsgemeinschaften, Branchen, Behörden und Wirtschaftsunternehmen zu gestalten und zu lenken sind. Anderenfalls ist zu erwarten, daß kurzfristig positiv erscheinende Entwicklungen einzelner solcher Subsysteme für das Gesamtsystem verheerende Konsequenzen haben. Aus diesem Grunde wurde auch bei den durch Kooptation gewonnenen Mitgliedern des Club of Rome von Anfang an darauf geachtet, daß diese von allen Kontinenten kommen,
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aus dem politischen Osten ebenso wie aus dem politischen Westen und aus Entwicklungsländern ebenso wie aus Industrienationen. 2. Die Mitglieder des Club of Rome sind sich darüber klar, daß die aufgegriffenen Probleme zu einer Menge gehören, deren Elemente Eigenschaften der Bösartigkeit haben. Eine der Eigenschaften solcher bösartigen Probleme ist, daß niemand sogleich sehen kann, ob er wirklich schon das eigentliche Problem erkannt hat oder ob er erst ein Symptom dieses Problems sieht. Dann gibt es für solche bösartigen Probleme keine Lösungen, die richtig oder falsch sind, sondern allenfalls bessere oder schlechtere Lösungen. Das Erkennen, das Begreifen, das exakte Beschreiben und das Lösen von bösartigen Problemen sind keine abgrenzbaren Phasen der Geistesarbeit, die etwa aufeinanderfolgen, sondern diese gehen ineinander über. Schließlich lassen sich zur Lösung von bösartigen Problemen keine Verfahrensregeln anwenden, wie sie etwa mit den Algorithmen vorgegeben sind, deren sich die Unternehmensforschung bedient. Erst recht sind die vom Club of Rome aufgegriffenen Probleme nicht mit irgendwelchen Ideologien zu lösen, die aus gut formulierten, aber durchweg schlecht fundierten Intuitionen der zeitgenössischen oder älteren Systemkritiker abgeleitet werden. Deshalb verstehen sich die aktiven Mitglieder des Club of Rome als Systemforscher, die sich der begrenzten Fähigkeit des menschlichen Gehirns, i n vermaschten Ursache-Wirkungsbeziehungen zu denken, bewußt sind und dafür Computer einsetzen. 3. Die Ergebnisse solcher computerunterstützter, modellhaft angelegter Denkprozesse über Zusammenhänge und mögliche zukünftige Entwicklungen sind keine Heilslehren und ebenso keine direkten Empfehlungen an Regierende, Unternehmensleitungen, nationale oder internationale Behörden. Die auf Veranlassung des Club of Rome bisher erarbeiteten und veröffentlichten Ergebnisse von Systemforschungen sollen vielmehr alle vernünftigen Menschen, vor allem diejenigen, die der drängenden Existenzsorgen ledig sind, zu individuellen, von Einsichten geleiteten Anstrengungen anregen. Ziele und Umfang dieser Anstrengungen dürfen nicht ausschließlich nach ökonomischen Kriterien beurteilt werden, wenn bei weiterem Wachstum, das zur Lösung der bösartigen Weltprobleme dringend erforderlich ist, das Gesamtsystem i m Zustand eines dynamischen Gleichgewichtes bleiben soll. Uber die Systemgrenzen hinausschießendes Wachstum löst Reaktionen aus, die einen Kollaps des Ganzen herbeiführen können. Derartiges Wachstum innerhalb der unüberschreitbaren naturgegebenen Grenzen bedeutet selbstverständlich kein „Nullwachstum" für das Gesamtsystem Weltwirtschaft oder für dessen Subsysteme, die einzelnen Nationalökonomien. I m Gegenteil: Das Wachstum der Sozialprodukte i n den Entwick-
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lungsländern ist eine conditio sine qua non für die Lösung vieler, die gesamte Menschheit betreffender Probleme. Dieses Wachstum i n den Entwicklungsländern bedarf aber auch größter Anstrengungen derjenigen, die dazu hilfreich beitragen müssen, weil sie gar keine andere Wahl haben. Diese Anstrengungen zur Hilfe, die nur dann effektiv sind, wenn sie ökonomisch rational geleistet werden, also einen echten Leistungszuwachs darstellen, w i r k e n eo ipso mehrend auf die Sozialprodukte der Industrieländer. Nach dieser Kennzeichnung des eigenen Standortes als Systemanalytiker und Mitglied des Club of Rome noch ein Ergebnis bisheriger Arbeiten, das uns helfen kann, konkrete Aussagen zu der fraglichen Antinomie Privater Wohlstand — Öffentliche A r m u t zu finden. Z u derartigen konkreten Aussagen gehört nämlich, daß die Schlüssigkeit der Behauptung, nach der eine Gesellschaft i m Privatbereich reich sein kann, während sie gleichzeitig i m Bereich ihrer öffentlichen Aktivitäten arm ist, m i t Zahlen belegt wird. Reichtum und A r m u t i n Zahlen auszudrücken erscheint sehr einfach, wenn man diesen Zahlen die Geldeinheit als Dimension beifügt. Aber ist denn wirklich reich, wer viel Geld hat, und ist denn wirklich arm, wer m i t seinem Gelde rechnen muß? Wären diese Fragen für das einzelne Individuum, für Familien und i m weiteren für die Gesellschaft m i t einem glatten Ja zu beantworten, dann wäre es einfach, Privaten Reichtum und öffentliche A r m u t m i t der Verteilung des i n Geld ausgedrückten Sozialproduktes einer Volkswirtschaft zu belegen. M i t dem schlichten Gegenüberstellen von Geldsummen oder prozentualen Anteilen, die i n einer Volkswirtschaft von der Gesellschaft privat ausgegeben werden und die von der gleichen Gesellschaft über die öffentlichen Kassen ausgegeben werden, ist aber überhaupt nichts ausgesagt. Es kommt zusätzlich darauf an, wofür die Privatausgaben und die öffentlichen Ausgaben getätigt werden, und es kommt entscheidend darauf an, welchen Nutzen diese Ausgaben für die Gesellschaft stiften. Der Nutzen von privaten oder öffentlichen Geldausgaben oder überhaupt von Aktivitäten i n einer Volkswirtschaft ist nicht so einfach zu messen, denn dazu genügt nicht, nur mit Zahlen i n der monetären Dimension zu rechnen. Deshalb w i r d neuerdings versucht, den Begriff „Qualität des Lebens" m i t Hilfe von Sozialindikatoren quantitativ zu fassen, um diese komplexeste aller Qualitäten an verschiedenen Orten, in verschiedenen Wirtschaftssystemen und zu verschiedenen Zeiten messen und vergleichend beurteilen zu können. Die bisher erfolgreichsten derartigen Versuche bedienen sich ebenfalls der Systemforschung, mit deren Hilfe es ζ. B. gelungen ist, die Lebensqualität der Weltbevölkerung als abhängig von den Variablen Ernährungssituation, materieller Lebensstandard, Bevölkerungsdichte und Umweltbelastung
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darzustellen, d. h. i n einem Kurvenzug über eine Zeitachse zu berechnen. I n einem anderen Beispiel ist die Lebensqualität der Bevölkerung i n der Bundesrepublik berechnet worden als Abhängige von den veränderlichen Größen Bildungsniveau, Bildungsanforderungen, Beschäftigungslose, Integrationsgrad der Gastarbeiter, Nachfrage nach Dienstleistungen und Arbeitszeit: Freizeitrelation. Die Bemühungen um allgemein akzeptierbare Definitionen und Rechenverfahren für die Lebensqualität werden an mehreren Plätzen auf der Welt fortgesetzt, so auch i n unserem Institut, und es kann sicher noch keine Rede davon sein, daß schon Ergebnisse vorliegen, die vollkommen befriedigen. Dennoch w i r d m i t i n den Ingenieurwissenschaften bewährten Methoden auch zu eindeutigen Aussagen zum Thema Privater Wohlstand — öffentliche A r m u t zu kommen sein. Systemanalysen zur Lösung dieser spezifischen, sicher auch bösartigen Problematik liegen bisher aber noch nicht vor. Deshalb kann nur versucht werden, einige Thesen zu formulieren, die selbstverständlich keinen Anspruch erheben können, Theoreme oder gar Theorien i m Sinne der Realwissenschaften zu sein. Deshalb sind die folgenden, lediglich verbal und nicht mathematisch formulierten Aussagen nur die Ergebnisse eines ersten Nachdenkens über Zusammenhänge und Randbedingungen, die eine Systemanalyse zur A n t w o r t auf die Frage: Privater Wohlstand — öffentliche Armut? einbeziehen könnte. 1. These: Weit verbreiteter Privater Wohlstand und gleichzeitig partielle öffentliche A r m u t scheinen ebenso die Ergebnisse freier M a r k t wirtschaften zu sein wie — vice versa — partieller öffentlicher Wohlstand und gleichzeitig weit verbreitete Private A r m u t die Ergebnisse sozialistischer Planwirtschaften zu sein scheinen. Diese erste These ist m i t einigen Fakten leicht zu belegen: I n den sozialistischen Staaten Osteuropas hat die militärische Rüstung den höchsten Stand; hier w i r d ein öffentlicher Wohlstand demonstriert, wie er seinesgleichen i n keinem anderen Land m i t marktwirtschaftlich orientierter Wirtschaft zu finden ist. Dagegen sind die Wohnverhältnisse, die Arbeitsbedingungen und die Konsumgüter für die gesamte Bevölkerung — m i t Ausnahme der Funktionäre als Nutznießer dieser Wirtschaftsordnung — unvergleichlich schlecht. I n den demokratischen Staaten Nordamerikas ist der materielle Lebensstandard für die große Masse der Einwohner — m i t Ausnahme von Randgruppen als Leidtragenden dieser Wirtschaftsordnung — unvergleichlich hoch; Privater Wohlstand demnach allgemein verbreitet. Dagegen sind einzelne Bereiche, i n denen von öffentlichen Betrieben Dienstleistungen zu erstellen sind, gekennzeichnet durch öffentliche Armut.
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2. These: Der gesamte Output einer Volkswirtschaft, also das, was sowohl dem Privaten Reichtum als auch dem öffentlichen Reichtum dienen kann, ist eine Funktion des Inputs an Arbeit, Kapital und Know How, wobei der Verlauf dieser Funktion vom Leistungswillen der Arbeitenden und davon abhängt, nach welchen Kriterien die Produktionsfaktoren kombiniert werden, m. a. W. welche Organisationsprinzipien in der Wirtschaft für die Planung der Produktion und für die Planung des Konsums gelten. Auch diese zweite These ist empirisch belegt: Wo es vielen einzelnen Wirtschaftssubjekten überlassen bleibt, ihren eigenen Konsum nach individuellen Wertvorstellungen zu planen, wo also praktisch jeder zu entscheiden hat, ob er ζ. B. lieber ein größeres Auto oder eine größere Wohnung sein eigen nennen will, und wo gleichzeitig viele Wirtschaftsunternehmen eigenverantwortlich Produktionspläne aufstellen und dafür sorgen müssen, daß ihre Planziele erreicht werden, da ist der Gesamtoutput wesentlich größer als dort, wo nach Zentralplänen verfahren wird, bei deren Aufstellen politische Instanzen politische Kriterien anwenden. Offensichtlich wirken die persönliche Freiheit bei der Konsumwahl und das unternehmerische Risiko stimulierender auf den Leistungswillen aller derjenigen, die irgendwo i n einer Volkswirtschaft tätig sind, als ideologische Agitation für irgendeine kommunistische oder faschistische Spielart des Sozialismus. Von den rd. 200 Regierungen selbständiger Staaten, die w i r jetzt auf unserer Erde haben, lassen nur knapp 30 so etwas wie eine parlamentarische Opposition zu, und das sind genau die sogenannten reichen Länder. 3. These: Der gesamte, je nach Wirtschaftssystem mehr oder weniger große Output einer Volkswirtschaft kann der diese Wirtschaft tragenden Gesellschaft auf drei Wegen zugute kommen: a) als direkter privater Konsum und so zur Mehrung des Privaten Reichtumes, b) als über die öffentlichen Haushalte verteilter privater Konsum und so zunächst zur Mehrung des öffentlichen Reichtums und dann i m weiteren zur Mehrung des Privaten Reichtums, c) als Investition i m privaten oder i m öffentlichen Bereich, d. h. als Vorsorge für späteren Privaten oder Öffentlichen Reichtum. Diese dritte These bedarf keiner Begründung; sie enthält lediglich eine von vielen möglichen Aufteilungen des Sozialproduktes. Bemerkenswert ist lediglich, wie groß die Anteile jeweils sind, die dem Privaten Reichtum sofort oder für später zugeführt werden und über deren Verwenden somit nach ökonomischen Kriterien entschieden wird, und wie groß die verbleibenden Anteile sind, die dem öffentlichen Reichtum sofort oder für später zugeführt werden und deren Verwen-
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den das Ergebnis von sogenannten politischen Entscheidungsprozessen ist. 4. These: Großer Privater Reichtum und gleichzeitig großer öffentlicher Reichtum oder große Private A r m u t bei gleichzeitig großer öffentlicher A r m u t sprechen für sinnvolle Aufteilung und Verwendungen der Sozialprodukte. Große Private A r m u t und gleichzeitig großer Öffentlicher Reichtum sprechen für unsinnige Aufteilungen und Verwendungen der Sozialprodukte ebenso wie großer Privater Reicht u m bei gleichzeitig großer öffentlicher Armut. Diskrepanzen zwischen Privatem und öffentlichem Reichtum oder zwischen öffentlicher und Privater A r m u t sind kurzfristig das Ergebnis falschen Verteilens, langfristig das Ergebnis falschen Verwendens der Sozialprodukte. Sinnvoll und unsinnig, richtig und falsch bedeuten hier Kriterien, die allein aus den sichtbaren Resultaten des Verteilens und Verwendens abzuleiten sind. Üble Begleitumstände oder gute A b sichten, mögen sie noch so eloquent als Entschuldigungen beschworen werden, spielen keine Rolle bei dieser Beurteilung; dafür ist allein der reale Erfolg maßgebend. 5. These: Extremer Privater und öffentlicher Reichtum bergen beide die Gefahr des verschwenderischen Resourceneinsatzes i n sich; extreme Private und öffentliche A r m u t können dazu führen, daß Resourcen überhaupt nicht einzusetzen sind. Verschwendungen führen zu Minderungen des Reichtums; brachliegende Resourcen zur Mehrung der Armut. Verschwendungen von Resourcen einerseits, sowie deren Brachliegen andererseits sind um so seltener, je mehr ökonomische Kriterien bei allen Resourceneinsätzen und bei den Entlohnungen für diese Einsätze gelten. Resourcen, deren Preis künstlich niedrig gehalten wird, wie etwa der Lohn von Zwangsarbeitern, können unökonomisch eingesetzt werden, was nicht nur zur Verelendung dieser Zwangsarbeiter führt, sondern zur Verarmung der gesamten Volkswirtschaft, deren „sozialistisches" Wirtschaftssystem zum Einsatz von Zwangsarbeitern nötigt. Aus diesem Grunde dürfen Abgrenzungen zwischen dem Privatbereich, wo ökonomische Kriterien gelten, und dem öffentlichen Bereich, wo politische Kriterien gelten, i m ganzen und i m einzelnen nur nach sehr tiefgehendem und weitreichendem Nachdenken über die Konsequenzen solcher Abgrenzungen vorgenommen werden. Das Testen der Belastbarkeit der „Wirtschaft", wie i m Jargon der Teil einer Nationalökonomie genannt wird, wo von Privatpersonen und Privatbetrieben ökonomische Prinzipien angewendet werden, ist ein äußerst gefährliches Experiment, weil dies wie jede Belastbarkeitsprüfung zur irreparablen
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Zerstörung und zur Funktionsunfähigkeit des zu prüfenden Objektes führen kann. 6. These: A n o n y m i t ä t des Besitzes an irgendwelchen Gütern u n d Verfügungsgewalt über solche Güter durch Personen, deren Verfügungserfolg sich nicht direkt als persönlicher G e w i n n oder Verlust (im betriebswirtschaftlichen und i m weiteren Sinne) auswirkt, führen zur Verantwortungslosigkeit. Dem ist n u r entgegen zu w i r k e n durch eine spezifisch darauf ausgerichtete Ethik, etwa die E t h i k eines „preußischen" Beamten. Uberwachungs- und Kontrollsysteme, w i e etwa die der Rechnungshöfe, können lediglich einzelne eklatante Mißbräuche verhindern, nie aber Verantwortungsfreude oder gar Risikobereitschaft wecken. Verantwortung gegenüber Gütern i m anonymen Besitz w i r d ausgehöhlt, wo ökonomische K r i t e r i e n f ü r die Gütereinsätze u n d somit objektiv festzustellende Erfolgsmerkmale durch politische Entscheidungen verdrängt werden und wo andere als ökonomische Kriterien, etwa ethischer oder moralischer Kategorie, v o m Zeitgeist verdrängt werden, z . B . indem sie der Lächerlichkeit preisgegeben u n d i m Zuge allgemeiner Abwertungen ethischer oder moralischer Normen außer K r a f t gesetzt sind. Die Verantwortungslosigkeit gegenüber den i m anonymen, öffentlichen Besitz befindlichen Gütern, ist besonders groß, wo beides zusammenkommt: Politische Entscheidungen gegen die ökonomische Rationalität und A m o r a l i t ä t als Ergebnis aufgelöster Bindungen an eine moralisches Verhalten fordernde Religion, w e i l diese einer politischen Ideologie i m Wege steht. 7. These: Fehler beim Mitteleinsatz, durch die Reichtum vergeudet und i n A r m u t verkehrt w i r d , werden i m Privatsektor, wo ökonomische K r i t e r i e n gelten, schneller offensichtlich und sie sind hier auch einfacher, d. h. m i t größerer Elastizität zu korrigieren als i m öffentlichen Sektor, wo politische K r i t e r i e n gelten. Wo die Erfolge — etwa einer Investition oder einer Stellenbesetzung — i n Geldeinheiten zu messen sind, w i r d eine Fehlinvestition oder eine Fehlbesetzung i m allgemeinen bald offensichtlich, und m a n scheut sich nicht, Fehlinvestitionen abzuschreiben und Fehlbesetzungen zu k o r r i gieren, w e i l sonst sehr schnell aus Privatem Reichtum Private A r m u t w i r d . Wo alle Investionen, also auch die Fehlinvestitionen, u n d wo alle Stellenbesetzungen, also auch die Fehlbesetzungen, das Ergebnis politischer Entscheidungsprozesse sind, werden politische Karrieren tangiert, w e n n solche Entscheidungen zu korrigieren sind. Wo demnach ihre politische Karriere zugleich die berufliche Existenzbasis der Politiker ist, w i r d zwangsläufig an Fehlentscheidungen festgehalten, auch wenn dadurch die öffentliche A r m u t vergrößert w i r d . I m Bereich
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der Bildungspolitik gibt es dafür genug Belegungsbeispiele, einschließlich einiger Universitätsgründungen, und ebenso i m Bereich der Personalpolitik, einschließlich einiger Besetzungen von Aufsichtsratspositionen für Unternehmen, die weitgehend zum Bundesvermögen gehören. Soweit i n 7 Thesen m i t kurzen Begründungen bzw. Erläuterungen formuliert, einige Umstände und Zusammenhänge, die ein Systemanalytiker zur Definition der Problematik Privater Reichtum — öffentliche Armut? oder Private A r m u t — öffentlicher Reichtum? zu berücksichtigen hätte. Bleibt eine 8. These, die eine solche Problematik noch bösartiger macht, wenn sie mehr enthält als einen vielleicht zufälligen, subjektiven und deshalb nicht zu verallgemeinernden Eindruck von den Personen, die an solchen Entscheidungen beteiligt sind, m i t denen der Private Reichtum i n öffentlichen Reichtum umgesetzt werden soll. 8. These: Rethorische Eloquenz und Sachverstand sind selten bei einer Person vereinigt. Das Werben um Zustimmung der Wähler für politische Forderungen kann Handlungszwänge auslösen, die der Sachverstand nie zulassen würde. Dies ist eine menschliche Seite der Demokratie, eine der Seiten, die die Demokratie zur menschlichsten Form der Politik macht, menschlich jetzt aber auch i m Sinne von human. Diktaturen müssen inhuman sein. Der Demokratie als Regierungsform entspricht die Marktwirtschaft als Wirtschaftsform; den Diktaturen sind die Planwirtschaften angemessen. Demokratien und Marktwirtschaften sind nie vollkommen; dafür sorgen menschliche Schwächen. Diktaturen und Planwirtschaften können dagegen scheinbar, vor allem für Außenstehende, sehr vollkommen funktionieren; dafür sorgen aber menschliche Eigenschaften, die nicht nur Schwächen sind. Darin liegt nun der Vorteil von systemanalytischen Ansätzen, daß sie bei der Behandlung von bösartigen Problemen menschliche Verhaltensweisen, menschliche Schwächen aber auch menschliches Verhalten mit allen Folgen i n die Überlegungen einbeziehen können. Dies jedoch ist sicher erforderlich, wenn die Frage: Privater Reichtum — öffentliche Armut? als lösbares Problem angesehen w i r d und nicht lediglich als Vorwand zum Aufwärmen von Ideologien. Derartige Ideologien können nämlich sehr leicht dazu mißbraucht werden, diejenigen, die sie vertreten, am volkswirtschaftlichen Output partizipieren zu lassen, ohne daß dafür ein volkswirtschaftlicher Input in Form von persönlichen Leistungen erbracht wird. Wo dies so ist, kann der Weg auch ohne Systemforschung vorgezeichnet werden: Vom Privaten Reichtum führt er über den öffentlichen Reichtum zur Privaten Armut.
Offene Podiumsdiskussion zu den Referaten von Alfred Krause, Wolfram Engels, Hans Georg Wehner und Gert von Kortzfleisch Bericht von Eugen Paul
Die offene Podiumsdiskussion wurde von Prof. Dr. Speyer, geleitet.
Duwendag,
Der Vorsitzende der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft Frickhöffer, Heidelberg, sprach zunächst zu den Verteilungseffekten öffentlicher Aktivitäten. Wehner habe in seinem Referat behauptet, daß 70 °/o der öffentlichen Leistungen inzwischen von Arbeitnehmern finanziert würden. Er selbst sei sogar der Auffassung, daß die breite Masse der Bevölkerung aus ihrem Bruttoeinkommen über Sozialversicherungsbeiträge, direkte oder indirekte Steuern alle Wohltaten, die sie vom Staat erhalte, selbst bezahle. Der öffentliche Umverteilungsprozeß bewirke nicht eine Zusatzversorgung für Ärmere, sondern beinhalte lediglich eine politische Entscheidung über die Einkommensverwendung i m wesentlichen der gleichen Individuen, die dann die Wohltaten bekämen. Wie das Beispiel der Lernmittelfreiheit zeige, würden die Armen sogar oft für die Reichen mitzahlen. Zum Referat von Krause führte Frickhöffer aus, i n der öffentlichen Verwaltung gebe es noch große Produktivitätsreserven. Z u den möglichen Einsparungen i n den öffentlichen Haushalten habe die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft ein sehr konkretes Konzept vorgelegt. Er plädiere für eine Ausgliederung von Funktionen — nicht unbedingt i m Wege von Privatisierungen, aber i n eigene Körperschaften, wenn auch öffentlichen Rechts. A u f jeden Fall solle die Finanzierung dann über Nutzungsentgelte erfolgen statt über Zwangsabgaben. Ζ. B. würde eine Finanzierung des Straßenbaues und der Folgelasten der Motorisierung über Nutzungsentgelte an eine besondere Körperschaft unmittelbar erkennen lassen, daß der Individualverkehr zur Zeit i m Vergleich zu den Kosten, die er hervorruft, viel zu b i l l i g ist. Dann erhalte man auch eine andere Relation zum öffentlichen Nahverkehr, ja sogar Spielräume zur Tariferhöhung, ohne gleich eine Abwanderung zum Individualverkehr befürchten zu müssen. Damit leiste man zugleich einen Beitrag zum Abbau des Defizits bei der Bundesbahn.
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A n die Adresse von Wehner gewandt, bezweifelte Frickhöffer, ob alle politischen Lasten, die die Bundesbahn trage, auch tatsächlich gerechtfertigt seien. M i t extrem niedrigen Tarifen i m Nahverkehr ζ. B. täusche man den Bürgern eine Verbilligung nur vor. I n Wirklichkeit begünstige man das Pendlerunwesen und eine soziologisch ungünstige sowie gesamtwirtschaftlich unrationale regionale Konzentration, die dann wieder zu kostspieligen Förderungsprogrammen für die vernachlässigten Räume verpflichte. Wissenschaftlicher Berater i m Bundeskanzleramt, Dr. Bert Rürup, Bonn, kritisierte die analytische Fundierung der Thesen Engels. Es gebe nicht nur öffentliche Güter auf der einen Seite einer Skala und private Güter auf der anderen Seite, sondern dazwischen gebe es noch eine Grauzone, i n der die meritorischen Güter angesiedelt seien. Diese Güter, für die das Marktausschlußprinzip gelte, habe Engels den privaten Gütern zugeordnet. Die meritorischen Güter seien Kuppelprodukte, bei deren Produktion gleichzeitig ein Individualbedürfnis und ein Kollektivbedürfnis befriedigt werde. Bei diesen Kuppelprodukten sei nun das von Engels vorgeschlagene Konzept der Kostenanlastung nicht anwendbar. Das Problem der Trennung zwischen privaten und öffentlichen Gütern sei nicht lösbar, und deshalb könne es auch keine ökonomische Theorie geben, die ein optimales Budget i m Sinne von Engels bestimme. A n alle Referenten richtete Rürup die Frage nach dem Vergleichsstandard zwischen öffentlicher A r m u t und öffentlichem Reichtum. Nach seiner Meinung müsse man Staat und Gesellschaft als unterschiedliche gesellschaftliche Interaktionssysteme verstehen, i n denen die gleichen Personen versuchten, ihre Präferenzen durchzusetzen. I n der Gesellschaft agierten sie als Produzenten und Verbraucher, i m Staat als Politiker und Wähler. Demnach sei die Frage nach „öffentlicher A r m u t " bzw. „öffentlichem Reichtum" nur i m Rekurs auf die Individualpräferenzen zu entscheiden, deren Träger einmal i m Marktsystem und einmal i m politischen System agierten. Wenn man zudem noch „arm" als relative Eigenschaft begreife, müsse man sich doch fragen, was dann noch „arm" sei, da doch die gleichen Leute öffentliche A r m u t und privaten Reichtum verspürten. Seines Erachtens sei der Staat arm, bei dem die Artikulation von Bedürfnissen i m gesellschaftlichen Subsystem „Staat" weniger effizient sei, als die Artikulation von Individualpräferenzen i m Subsystem „ M a r k t " . Referatsleiter Hoffmann, Hannover, vermißte i n den Ausführungen Engels eine Analyse privater Verschwendung, wie sie sich ζ. B. i n der derzeitigen Situation i n Form von Strukturkrisen — vor allem i n der Automobilindustrie und i m Bausektor — zeige. Daß das m a r k t w i r t schaftliche System erhebliche Funktionsmängel aufweise, würde man 12 Speyer 59
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i n voller Schärfe erkennen, wenn man einmal Konjunkturpolitik und Krisenmanagement des Staates abschaffe. Die These von der öffentlichen Verschwendung und die Forderung nach Privatisierung staatlicher Funktionen müsse auch unter diesen Aspekten einmal beurteilt werden. Darüber hinaus würde die nach der Privatisierung notwendige soziale Absicherung einen gewaltigen Umverteilungsprozeß i m öffentlichen Bereich i n Gang setzen, der sicher personalintensiver sei, als wenn die Leistungsproduktion i m Staatssektor erfolge. Abschließend sprach sich Hoffmann gegen eine allzu starke Dezentralisierung von Entscheidungen aus. Gerade die regionalen Ungleichgewichte seien zum großen Teil nur entstanden, weil es keine Entscheidungszentralisierung gegeben habe. Nach Meinung von Gewerkschaftssekretär Rittershofer, Frankfurt, ist es nicht dem gewerkschaftlichen Einfluß auf die politische Führungsspitze der Betriebsverwaltungen von Bundesbahn und Bundespost anzulasten, wenn es nicht zu Rationalisierung und Kosteneinsparungen komme. Würden ζ. B. an einer Stelle des öffentlichen Haushalts Personalkosten eingespart, weil die hierfür zuständigen Gewerkschaften durch einen freiwilligen Verzicht zustimmten, dann bestünde immer die Gefahr, daß andere Interessengruppen die freigewordenen M i t t e l für sich beanspruchten. I m übrigen verstehe er nicht, warum immer die Post als Beispiel für MißWirtschaft und Rationalisierungsfeindlichkeit zitiert werde. Denn von 1962 bis 1973 seien die Verkehrsleistungen der Post um 94 o/o gestiegen, der Personalbestand habe aber nur um 15 °/o zugenommen. Das seien Produktivitätsgewinne, die weit über vergleichbaren Ziffern der privaten Wirtschaft lägen. Indessen bestreite er nicht die Notwendigkeit eines einheitlichen Dienstrechts, das Beamtenstrukturen und Hierarchien ersetze. Heute verhinderten Stellenkegel und Stellenschlüssel, Einstiegs- und Aufstiegsmodalitäten die notwendige Leistungsmotivation. Zudem stünden behörden- und betriebsbezogene Aus- und Fortbildung der Mobilität innerhalb des öffentlichen Dienstes entgegen und verhinderten die Austauschbarkeit m i t der Privatwirtschaft. Den Vergleich zwischen der Bundesrepublik und der Schweiz, den Engels angestellt habe, halte er wegen der unterschiedlichen Größe dieser Staaten, wegen anderer Strukturen und Traditionen für unwissenschaftlich. A n Engels richte er auch die Frage, wie er sich das soziale Ausgleichssystem vorstelle, wenn er schon die Privatisierung von Teilen des öffentlichen Dienstes propagiere. I n seiner Stellungnahme ging Engels zunächst auf das Referat von Wehner ein. Der Vorwurf des „Sozialdarwinismus" treffe ihn nicht. Er vertrete lediglich, daß man die Instrumente der Verteilung und der
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Allokation trennen solle. Es habe eindeutig Allokationsvorteile, wenn man die Armen nicht über öffentliche Leistungen, sondern durch Geld subventioniere. Dadurch werde auch die Verteilung gerechter als beim heutigen Verteilungssystem. Der Auffassung Rürups widersprach Engels. Er habe meritorische Güter ausgeklammert, weil es sie nicht gebe, sondern nur Werurteile irgendwelcher Leute darüber, was andere konsumieren sollten. Rürup habe so getan, als könne man öffentliche und private Güter an ihrem öffentlichen Nutzen unterscheiden. Das sei nicht möglich, denn jedes Gut sei i n irgendeinem Sinne öffentlich nützlich, da von öffentlichem Interesse. Er gestehe zu, daß man öffentliche A r m u t nicht messen könne. Deshalb habe er alle seine Argumente deduktiv aus irgendwelchen Optimalvorstellungen abgeleitet. Einen Beweis für öffentliche A r m u t oder öffentlichen Reichtum gebe es also nicht. Daß es private Verschwendung gebe, bestreite er ebenfalls nicht. Nur, mit dem Hinweis auf Konjunkturpolitik und Krisenmanagement des Staates entkräfte Hoff mann seine Argumentation nicht. Er habe nie behauptet, daß die staatliche Konjunkturpolitik überflüssig sei. I n bestimmtem Umfang sei die Staatsaktivität unentbehrlich, ansonsten würde man für die A b schaffung des Staates schlechthin plädieren. Er widerspreche jedoch der These, daß bei Zentralisierung bestimmte Raumordnungsprobleme nicht entstanden wären. Die größten Ballungsprobleme Europas habe z.B. Frankreich zu bewältigen, wo die Zentralisierung besonders stark sei. Die geringsten Probleme dieser A r t gebe es i n der dezentralisierten Schweiz. Dieser empirische Beleg ließe sich auch theoretisch untermauern. Z u den Ausführungen Rittershofers entgegnete Engels, er habe der Postgewerkschaft nicht vorgeworfen, daß sie nicht ihre Aufgabe erfülle. Das Problem bestehe freilich hier wie i n anderen Bereichen darin, daß man verschiedenen Instanzen und Institutionen Entscheidungsspielräume zubillige, i n denen sie i n Erfüllung ihrer Aufgaben „Unheil" anrichteten. Der Vergleich mit der Schweiz sei — so Schloß Engels — durchaus wissenschaftlich. Seine A u f gabe verstehe er als Strukturanalyse; eben die unterschiedlichen Strukturen seien es, die der Schweiz bessere Ergebnisse als der Bundesrepublik zuwiesen. Wehner war i m Gegensatz zu Frickhöffer der Ansicht, daß selbst dann, wenn sich die Arbeitnehmer i n ihrer Gesamtheit ihre „Wohltaten" selbst bezahlen würden, über den Umverteilungseffekt wenig gesagt sei. Es komme nämlich i n erster Linie auf die Umverteilung innerhalb der sehr heterogenen Gruppe der Arbeitnehmerschaft an. Grundsätzlich befürwortete auch er, daß die Kosten des Individualverkehrs von den Verkehrsteilnehmern selbst zu tragen seien. Nur sei es 12*
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kaum möglich, die zweifellos vorhandenen externen Kosten zu quantifizieren und zu isolieren. Und schließlich müsse man den Individualverkehr schon über Gebühr belasten, wenn man eine nennenswerte Umlenkung zum öffentlichen Verkehr erreichen wolle. Trotz der gestiegenen Belastung des Individual Verkehrs i n der jüngsten Zeit sei ζ. B. nur ein geringer Prozentsatz auf den öffentlichen Verkehr umgestiegen. Nach Krause gibt es für die These von der mangelnden Produktivität i m öffentlichen Dienst bislang keine konkreten Beweise. Bevor man solche pauschalen Behauptungen aufstelle, solle man zunächst einmal die politischen Kontrollmechanismen auf ihre Funktionsfähigkeit überprüfen. Bei der Leistungsbewertung etwa i m Bereich der Bundesbahn dürfe man nicht nur mit privatwirtschaftlichen Rentabilitätskriterien arbeiten. Es müsse ζ. B. gleichzeitig gesehen werden, welche Bedeutung i n der Vorratshaltung eines nicht krisenanfälligen Verkehrsangebotes liege. Die Stellenvermehrung i m öffentlichen Dienst sei an der inneren und allgemeinen Verwaltung weitgehend vorbeigegangen. Sie habe sich auf die Bereiche „Bildung", „Soziales" und „Innere Sicherheit" konzentriert. I n diesen Fällen sei die Steigerung der Ausdruck politischer Willensentscheidungen gewesen. Der Blick auf die globalen Zuwachsraten verdecke solche Differenzierungen. Dem von Rittershofer vorgeschlagenen Einheitsdienstrecht stehe er skeptisch gegenüber. Er frage sich, ob der Staat seine Leistungen für den Bürger noch kontinuierlich und m i t vorhersehbarer Sicherheit erbringen könne, solange dem Einheitsdienstrecht das Streikrecht immanent sei. Auch sei der Nachweis nicht erbracht, ob das Einheitsdienstrecht kostengünstiger als das duale Dienstrecht sei. Die Diskussion um „öffentliche A r m u t " oder „öffentlichen Reicht u m " habe gezeigt — so schloß von Kortzfleisch die Podiumsdiskussion ab —, daß die Argumentation noch nicht frei sei von ideologischem Ballast. I n der Entideologisierung sehe er eine essentielle Aufgabe der Systemforschung. Den Konflikt zwischen ökonomischer Rationalität und politischer Entscheidung veranschaulichte er an eigenen Forschungsergebnissen. Es genüge nach seiner Ansicht nicht, wenn man sich i n der öffentlichen Verwaltung bei der Begründung irgendeiner Maßnahme auf die politische Entscheidung zurückziehe. Zumindest müsse anhand von Wirtschaftlichkeitsrechnungen offengelegt werden, wieviel eine konkrete politische Entscheidung koste.
Schlußwort Von Dieter Duwendag Ein kurzes Resümee der Tagungsergebnisse kann natürlich nicht mehr bieten als i n den Referaten und Diskussionsbeiträgen bereits gesagt wurde. I m Gegenteil, es w i r d mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Trotzdem ist es vielleicht ganz nützlich, eine solche Bilanz der offenen Fragen, der ungelösten Probleme, zu ziehen. W i r werden uns dabei auf einige grundlegende Fragen des Verhältnisses zwischen dem privaten und dem Staatssektor konzentrieren.
I. I n einer Gesellschaft, die sich nicht m i t der Rolle des bloßen Nachtwächterstaates zufrieden gibt, ist unbestritten, daß der Staat neben der ordnungspolitischen Aufgabe der Setzung von rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen noch eine Reihe weiterer wichtiger Funktionen zu erfüllen hat. Es sind dies — und sie wurden auch i n allen Referaten (je nach Schwerpunkt) mehr oder weniger deutlich angesprochen: — die versorgungspolitischen Aufgaben (insbesondere: Produktion und Bereitstellung öffentlicher Güter; Allokationsaufgabe); — die strukturund stabilisierungspolitischen Aufgaben (Konjunktursteuerung sowie regionale und sektorale Strukturpolitik); — d i e verteilungspolitischen Funktionen (Einkommensmögensbildung bzw. -Verteilung bzw. -Umverteilung).
und
Ver-
Mag hinsichtlich dieses allgemeinen Aufgabenspektrums noch Einigkeit herrschen, so scheiden sich die Geister spätestens bei der Frage nach dem quantitativ erforderlichen bzw. tolerierbaren Ausmaß der Staatstätigkeit bei der Erfüllung dieser Funktionen. A n dieser Stelle w i r d das Problem virulent, denn u m die verfügbaren knappen Ressourcen konkurrieren private und öffentliche Verwendungszwecke. I m System der sozialverpfiichteten Marktwirtschaft befinden w i r uns i m Grunde stets auf einer Gratwanderung zwischen den alternativen Allokationsmechanismen „ M a r k t " oder „Staat": Ein Zuwenig an staatlicher A k t i v i t ä t reißt z.B. Löcher i n die Versorgung m i t öffentlichen
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Schlußwort
Gütern, ein Zuviel an quantitativer Politik aber mag umschlagen i n ein neues Quale und damit das Wirtschaftssystem selbst i n Frage stellen. Gibt es also so etwas wie ein optimales Verhältnis zwischen dem privaten und dem Staatssektor (einen optimalen „Staatskorridor") und — wenn ja — durch welche Kriterien ist es definiert? Bei dem Versuch einer konkreten Beantwortung dieser Frage stößt man rasch an die Grenzen des ökonomischen Wissensstandes. Auch die verfassungsrechtliche Interpretation dieser Frage gibt uns hierzu eher Steine statt Brot: I m sozialen Rechtsstaat gilt danach der Grundsatz der offenen Staatsausgaben m i t der Konsequenz der prinzipiellen Begründbarkeit auch neuer Staatsaufgaben durch den parlamentarischen Gesetzgeber (vgl. das Referat von R. Scholz). Nehmen w i r als Beispiel einmal an, die öffentliche Hand stehe vor der Entscheidung, ob sie eine neue Aufgabe übernehmenn soll oder nicht. Dann läßt sich der „Lebenszyklus" einer solchen Entscheidimg etwa wie folgt charakterisieren: 1. A m Anfang steht die Frage: Warum soll der Staat diese neue A u f gabe übernehmen? Die allgemeine, deshalb nichtssagende, aber gleichwohl häufig anzutreffende A n t w o r t könnte lauten: Weil ein „Bedarf" besteht. Diese A n t w o r t provoziert gleich mehrere Anschlußfragen: Wie läßt sich überhaupt erkennen, ob ein Bedarf besteht? Wie und durch welche Kanäle w i r d diese Erkenntnis „transponiert"? Sind die diesbezüglichen Informationen zuverlässig, orientieren sie sich an den individuellen Bedürfnissen? Ferner: Dient es der gesellschaftlichen Wohlfahrt, wenn diese Bedürfnisse befriedigt werden, und — wenn ja — warum soll gerade der Staat diese Aufgabe übernehmen? Arbeitet die private Wirtschaft aufgrund des Sanktionsmechanismus, der da „ M a r k t " heißt, nicht viel effizienter? Oder handelt es sich um solche Güter, die der private Sektor nicht oder nur i n ungenügendem Ausmaß (oder zu sozial untragbaren Bedingungen) bereitstellen würde? Sind es schließlich vielleicht wähl- bzw. machtpolitische Gesichtspunkte, die es den gerade Regierenden ratsam erscheinen lassen, diese zusätzliche A u f gabe an sich zu ziehen? 2. Unterstellen w i r einmal, die Entscheidung für die Übernahme dieser Aufgabe sei gefallen, nachdem auch die verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte abgeklärt sind. Nunmehr stellt sich die Frage nach den Folgewirkungen dieser Entscheidung: Aufgaben ziehen Ausgaben nach sich (Personal-, Sach- und Transferausgaben), diese wiederum haben Konsequenzen für die Entwicklung und die Struktur der Märkte für Güter und Produktionsfaktoren (Allokation der Ressourcen). 3. Schließlich ist noch über die Finanzierung dieser Ausgaben zu entscheiden. Kann die Finanzierung durch Einsparungen i n anderen Be-
Schlußwort reichen erfolgen? Wenn nicht, soll durch (zusätzliche) Gebühren, Beiträge, Steuern oder durch Aufnahme von Krediten finanziert werden? Welche Finanzierungsform ist aus haushaltsrechtlicher Sicht, welche unter anderen — ökonomischen und politischen — Aspekten zu präferieren? Π.
Stark verkürzt und vereinfacht spiegelt dieser Katalog von Fragen den Kern des Tagungsthemas wider, u m den alle Referate und Diskussionsbeiträge kreisten. Nur wer verbindliche Antworten auf diese Fragen oder gar Patentrezepte erwartet hatte, konnte enttäuscht werden. Grundlegend ist i n diesem Zusammenhang zunächst die Frage nach der „angemessenen" („optimalen") Proportion zwischen privaten und öffentlichen Gütern i m System der sozialen Marktwirtschaft; ihre Beantwortung muß von einer fundierten theoretischen Basis aus erfolgen. Obwohl hierzu bereits verschiedene (partielle) Ansätze existieren, ist es bisher nicht gelungen, eine allgemeine Theorie der „optimalen" Staatsquote bzw. Staatsaktivität — d. h. eine Theorie der öffentlichen Aufgaben — zu entwickeln. Angesichts dieses Theoriedefizits kann es daher nicht verwundern, daß jeglicher „objektive" Maßstab zur Beurteilung der tatsächlichen Entwicklung der Staatstätigkeit fehlt. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb breitet sich Unbehagen über das starke Vordringen des Staatssektors i n den letzten Jahren aus: „Bei einer ungehinderten Fortsetzung der Entwicklung der letzten Jahre . . . ist die Gefahr des allmählichen Erdrückens der Spontaneität und Leistungsbereitschaft des Privatsektors jedenfalls nicht von der Hand zu weisen" (vgl. das Referat von H. Tietmeyer). Bei derartigen Wertungen ist allerdings Vorsicht geboten: Wie insbesondere die Ausführungen von K. Littmann eindringlich gezeigt haben, ist das „Denken i n Staatsquoten" höchst problematisch, ja unter Umständen sogar w i l l kürlich. Welcher Maßstab soll zur Beurteilung herangezogen werden — die „große", die „mittlere" oder die „kleine" Staatsquote? Natürlich ist es möglich, i n politischen Projektionen (unter Konstanthaltung aller übrigen Faktoren) eine saldenmechanische Verrechnung von sinkender privater Konsumquote m i t einer steigenden Staatsquote i m nächsten Jahrzehnt vorzunehmen (vgl. das Referat von Κ.-Ή. Raabe). N u r muß man sich darüber i m klaren sein, daß ein solches Rechenexempel nichts mit der Bestimmung einer optimalen Staatsquote (welche ein theoretisches Konstrukt ist) zu t u n hat. Ein exaktes K r i t e r i u m zur Beurteilung des Angebots an öffentlichen und privaten Gütern wäre eine soziale Wohlfahrtsfunktion, i n die alle privat und öffentlich produzierten Güter und Leistungen (sowie deren
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Schlußwort
Verteilung auf die Individuen) als erklärende Variable eingehen. Daran w i r d — geht man auf die ersten Anfänge zurück — bereits seit mehr als hundert Jahren gearbeitet. Ließe sich für alle Güter und Dienstleistungen ein Maßstab finden, der es ermöglichte, das Angebot objektiv ( = intersubjektiv vergleichbar) zu messen, dann könnte bei Existenz einer sozialen Wohlfahrtsfunktion auch das optimale Angebot an öffentlichen Gütern für jede verfügbare Ressourcenmenge durch mathematische Maximierung des Funktionswertes objektiv abgeleitet werden. Dieser Ansatz ist preis- bzw. nutzentheoretisch (marginalanalytisch) fundiert. Er impliziert, daß die letzte ausgegebene Geldeinheit in allen Verwendungszwecken einen gleich hohen Nutzen stiftet. M. a. W., ist der zusätzliche Nutzen einer D M i n öffentlichen Verwendungszwecken größer als i n privatwirtschaftlichen, so müßte diese D M dem Staatssektor zugeführt werden, soll die gesellschaftliche Wohlfahrt maximiert werden. Die Schwächen dieses — an sich plausiblen — Ansatzes sind nun allerdings evident: Da interpersonale und intertemporale Nutzenvergleiche als objektive Maßstäbe nicht herangezogen werden können, läßt sich eine Bewertung des Angebots an öffentlichen und privaten Gütern nur aufgrund subjektiver Präferenzen vornehmen. Verschiedene Bürgergruppen — i m Extremfall jeder einzelne — werden dabei jeweils eine andere Zusammensetzung des Gesamtangebots für optimal halten. Hinzu kommt, daß der Output staatlicher Tätigkeit i n vielen Fällen überhaupt nicht meßbar ist oder — soweit er quantifiziert ist — lediglich zu Herstellungskosten bewertet in die Sozialproduktsberechnung eingeht. Wie soll beispielsweise der Nutzen des öffentlichen Gutes „Preisstabilität" gemessen werden? U m die empirische Relevanz einer sozialen Wohlfahrtsfunktion ist es daher schlecht bestellt. Sie fristet ein kümmerliches, wenn auch bemerkenswert hartnäckiges Schattendasein allein i n den theoretischen Lehrbüchern. Den Stand der Dinge hierzu faßt Κ . E. Boulding, einer der führenden Wohlfahrtstheoretiker, i n charmanter Weise zusammen: „Ich glaube, dieser Versuch war ein Fehlschlag, wenn auch ein bemerkenswert prächtiger . . A " Die Konsequenz ist, daß der analytische Ansatz einer nutzen- bzw. preistheoretischen Fundierung der öffentlichen Aufgaben i n Vollzug der praktischen Politik i n einen normativen Ansatz transformiert wird. Der Politiker setzt die Normen und entscheidet über Prioritäten. I n Ermangelung einer auch i n verfassungsrechtlicher Hinsicht hinreichend ausgebauten „Staatszwecklehre" behilft er sich mit ebenso hehren wie vagen Prinzipien wie dem „öffentlichen Gemeinwohl" und dem „Subsidiaritätsprinzip". Dabei mag — und das 1 Κ . E. Boulding, Volkswirtschaftslehre als Moralwissenschaft, Wiederabdruck, i n : Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- u n d Gesellschaftspolitik, Bd. 16 (1971), S. 16/17.
Schlußwort soll nicht bestritten werden — bei politischen Entscheidungen auch ein „Hauch" von ökonomischer Rationalität mit i m Spiele sein, aber sie existiert sozusagen nur in den Hinterköpfen der Politiker als vage Leitmaxime der Erzielung des größtmöglichen (sozialen) Nutzens (einer Geldeinheit). Das Fazit hierzu: W i r brauchen eine intensive Weiterentwicklung der Theorie der Nichtmarktsysteme bzw. der nicht-marktlichen Entscheidungslehre, wie sie beispielsweise erst i n jüngster Zeit i n der Theorie der (staatlichen) Infrastruktur entwickelt wurde. Dies erfordert freilich i n diesem Bereich auch ein Umdenken: Die Abkehr von der traditionell einseitigen Lehre von den Marktvorgängen und die Berücksichtigung auch anderer Entscheidungsmechanismen als solcher des Marktes i m Rahmen der „politischen Ökonomie". Dabei geht es jedoch nicht um den so häufig geforderten Ersatz der „Marktrationalität" durch eine (als überlegen angesehene) „Planrationalität". Worauf es ankommt ist vielmehr, die politischen Entscheidungsmechanismen m i t denen des Marktes zu verbinden, d. h. die Steuerungsfunktion der Preise auch i n den politischen Entscheidungsprozeß einzubeziehen. Ob schließlich die zukünftige Orientierung an Sozialindikatoren i n dieser Hinsicht und für die Messung des staatlichen Outputs neue Erkenntnisse erschließt, kann heute noch nicht sicher beurteilt werden. Sollte jedoch dieser Weg verstärkt beschritten werden, so steht bereits zweierlei fest: Ganze „Wälder" solcher Sozialindikatoren müßten neu „aufgeforstet" werden (die Ausführungen von G. von Kortzfleisch lassen derartige Bemühungen erkennen), und — zweitens — auch die Orientierung an derartigen technischen Kennziffern der gesellschaftlichen Wohlfahrt enthebt den Politiker nicht der wertenden, d. h. möglicherweise auch willkürlichen Beurteilung. Selbst wenn es — was höchst unwahrscheinlich ist — gelänge, Ubereinstimmung bei der Auswahl der Indikatoren zu erzielen, würde die Gesamtbeurteilung differieren, da bei knappen Ressourcen höhere Werte eines Indikators immer nur durch niedrigere Werte eines anderen Indikators realisierbar sind. Denn der Beitrag der verschiedenen Indikatoren zur Bedürfnisbefriedigung w i r d mit Sicherheit subjektiv unterschiedlich eingeschätzt werden — womit der Politiker dann wieder vor der Prioritätenfrage stände.
III. U m auf die Podiumsdiskussion zurückzukommen, so mag dieses Thema eher abgedroschen erscheinen, als Stereotype i n der politischen Diskussion und als Leerformel ohne zwingende Beweiskraft. Trotzdem — oder besser — gerade deswegen muß dieses Thema auf dem Tisch bleiben, bedarf es doch noch einer sehr viel gründlicheren Auseinander-
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Schlußwort
Setzung m i t diesem Fragenkreis, u m i h n des bloßen Schlagwortcharakters zu entkleiden. Das Fragezeichen hinter der These „privaten Wohlstand — öffentliche A r m u t " deutet bereits an, daß nicht nur die Aussage als solche angezweifelt, j a sogar als i n sich widersprüchlich bezeichnet w i r d (so i n den Ausführungen von H.-G. Wehner), sondern auch die Möglichkeit einer entgegengesetzten These i n Betracht gezogen werden kann (mit bezug auf die „öffentliche A r m u t " z.B. i m Referat von W. Engels). Vor einer Diskussion dieser Frage muß daher zunächst Übereinstimmung darüber erzielt werden, welcher Inhalt diesen Schlagworten beizulegen ist. Denn „ A r m u t " und „Wohlstand" bzw. „Reichtum" sind relative Begriffe, die nur dann einen Informationsgehalt haben, wenn zugleich die Bezugsbasis angegeben wird. Zwei in der öffentlichen Diskussion in der Bundesrepublik hierzu genannte Argumente mögen dies verdeutlichen 2 : — Der Staat ist „arm", weil die echte Steuerlastquote i n der Bundesrepublik — verglichen etwa m i t den skandinavischen Ländern — relativ niedrig ist. Doch besagt diese These nur, daß die Bundesrepublik i n bezug auf den Anteil der Steuereinnahmen am Bruttosozialprodukt „ärmer" als andere Staaten ist. — Der Staat ist „reich", denn sein Anteil an der Gesamtvermögensbildung seit 1950 lag wegen der nahezu ausschließlichen Steuerfinanzierung von öffentlichen Investitionen i m ersten Nachkriegsjahrzehnt über dem entsprechenden Anteil aller vergleichbaren westlichen Länder. Auch diese These besagt wiederum nur, daß die öffentliche Hand in der Bundesrepublik stärker an der Vermögensbildung beteiligt war als in anderen Ländern. Beide Aussagen können objektiv richtig sein, da sie unterschiedliche Indikatoren zur Messung von „ A r m u t " bzw. „Reichtum" verwenden. Über das Verhältnis von privatem zu öffentlichem Sektor i m Sinne einer anzustrebenden optimalen Relation zwischen beiden Bereichen sagen sie jedoch nichts aus. I m folgenden werden diese Begriffe daher ausschließlich i m Sinne des von J. K. Galbraith behaupteten „sozialen Ungleichgewichts" interpretiert, d.h. „öffentliche A r m u t " soll einen Zustand der Unterversorgung mit öffentlichen Gütern charakterisieren 3 . Dies w i r f t sofort die Frage auf, ob ein solcher Zustand überhaupt meßbar ist. Erforderlich wären Bestandsaufnahmen über ein zu einem 2 Vgl. B. Rürup, öffentliche A r m u t bei privatem Reichtum? — Die falsche Frage —, i n : Steuer u n d Wirtschaft (Zeitschrift f ü r die gesamte Steuerwissenschaft), 50. Jg. (1973), S. 251. 3 Vgl. J.K. Galbraith, The Affluent Society, London 1958. Z u r Interpretation der Thesen von Galbraith vgl. insbesondere R.L. Frey, öffentliche A r m u t i n der Marktwirtschaft?, i n : Hamburger Jahrbuch für Wirtschaftsu n d Gesellschaftspolitik, Bd. 19 (1974), S. 99 ff.
Schlußwort bestimmten Zeitpunkt herrschendes Ungleichgewicht bzw. eine Unterversorgung. Bekanntlich gibt es jedoch keine Statistiken, aus denen dieser Fragestellung adäquate Ist- bzw. Bestandsaussagen abgeleitet werden könnten. Statistisch greifbar sind lediglich Stromgrößen wie ζ. B. die laufenden Ausgaben des Staates für Güter und Dienstleistungen. Aber auch sie reflektieren nur sehr fragmentisch das laufende tatsächliche Angebot an öffentlichen Gütern, da sie zu Herstellungskosten bewertet sind. Aber nicht nur aus diesem Grunde muß der Versuch fehlschlagen, eine „Brücke" von den Strom- zu den Bestandsgrößen zu schlagen. Hinzu kommt, daß nicht nur nicht bekannt ist, ob i m Ausgangszeitpunkt eine Unterversorgung gegeben war, sondern auch, ob eine laufende Erhöhung der Staatsausgabenquote m i t einer realen Steigerung des laufenden Angebots an öffentlichen Gütern gleichzusetzen ist (Probleme der Trennung von Mengen- und Preiseffekten, Entwicklung der Arbeitsproduktivität i m Staatssektor usw.). Aus alledem folgt: Solange der Ist-Zustand, d.h. die tatsächliche Versorgung m i t öffentlichen Gütern, nicht bekannt ist, bleiben auch A r t und Umfang des anzustrebenden „Solls" an öffentlichen Gütern i m Dunkeln. Statistisch verläßliche, umfassende Aussagen über die Existenz einer Unterversorgung m i t öffentlichen Gütern können somit anhand eines Soll-Ist-Vergleiches nicht getroffen werden. Trotzdem gibt es bestimmte — und i m Zeitablauf wechselnde — Bereiche (ζ. B. Wohnungsversorgung, Bildungsbereich, innere Sicherheit, Umweltzerstörung, Gesundheit), i n denen Versorgungslücken so augenfällig zutage treten, daß zumindest eine partielle „öffentliche A r m u t " nicht geleugnet werden kann und die Politiker zu ad hoc-Entscheidungen gezwungen sind. Einige damit verbundene Probleme seien kurz herausgegriffen: 1. Die Artikulation der Bedürfnisse nach (zusätzlichen) öffentlichen Leistungen und ihre politische Durchsetzung gelingt den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen höchst unterschiedlich und hängt ab vom Grad der Organisiertheit und von den Informationen, über die die jeweiligen Gruppen verfügen. Die politischen Entscheidungen über das zu realisierende Angebot weichen daher vom Idealbild, repräsentiert durch die Gesamtheit der Wählerstimmen und -wünsche, mehr oder weniger stark ab. Die Folge ist eine Tendenz zur falschen (im Sinne von einseitig strukturierten) Zusammensetzung des Angebots an öffentlichen Gütern. 2. Die Anpassung des Angebots an öffentlichen Leistungen an neue, dringlichere Aufgaben w i r d durch gewisse Eigengesetzlichkeiten des Verwaltungshandelns erschwert und verzögert. So neigt der Verwaltungsapparat dazu, den (bisherigen) Tätigkeitsbereich des eigenen Ressorts überzubewerten: Ein Verhalten, das häufig dazu führt, Res-
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Schlußwort
sortansätze einfach fortzuschreiben und das R. Jochimsen 4 als „Fortschreibungsideologie und den damit verbundenen Verfahren, allein i n Quoten und Plafonds monetärer Größen zu denken", kritisiert hat. Wenn zudem der subjektive Nutzen der Ressortleiter u. a. durch den Umfang des Budgets bestimmt wird, über das sie verfügen können, besteht eine Tendenz zur Maximierung der Einzelbudgets. Zur Entschärfung oder Minimierung der damit verbundenen politischen bzw. verwaltungsinternen Konflikte w i r d die Budgetentscheidung deshalb meist durch Kompromißlösungen über die Verteilung der Zuwachsraten auf die verschiedenen Ressorts determiniert. Dieser Mechanismus verhindert rasche Anpassungen des öffentlichen Güterangebots an veränderte Gegebenheiten und die problemadäquate Durchsetzung neuer Prioritäten i n der Rangskala der öffentlichen Aufgaben. Die Entwicklung des relativen Anteils einzelner Ausgabenbereiche an den gesamten Staatsausgaben zeigt zwar i m letzten Jahrzehnt einige beachtliche Verschiebungen (ζ. B. Anstieg: Ausgaben für Bildung und Forschung, Gesundheit; ζ. B. Rückgang: Verteidigung, Wohnungswesen und Raumordnung), jedoch hat sich diese Anpassung nur i n „Trippelschritten" vollzogen; besonders deutlich w i r d dies, wenn man die jahresdurchschnittlichen Veränderungsraten des prozentualen Anteils der einzelnen Ausgabenbereiche seit 1950 berechnet. 3. Die demokratische Wahl ist nur bedingt ein Sanktionsmechanismus für falsche (einseitig strukturierte) oder verzögerte Angebotsentscheidungen der Politiker. Der Grund dafür ist, daß den meisten Wählern der Zusammenhang zwischen der öffentlichen Leistungserstellung und deren Finanzierung durch Entzug privater Dispositionsmöglichkeiten (ζ. B. durch Steuern) i m konkreten Einzelfall nicht bewußt ist. Der Wähler entscheidet daher häufig aufgrund eines falschen Informationsstandes über die Konsequenzen seiner Entscheidung für den Grad seiner Bedürfnisbefriedigung. Unabhängig davon neigt der Bürger zu einer systematischen Unterbewertung der öffentlichen Leistungen relativ zu den öffentlichen Ausgaben, ein Verhalten, das der a priori-Einschätzung einer Unterversorgung m i t öffentlichen Gütern Vorschub leistet und/oder auf eine K r i t i k an der Effizienz der öffentlichen Leistungserstellung hinausläuft. 4. Eine häufige Begründung für die Existenz von Versorgungslücken bei öffentlichen Gütern und — daraus folgend — für die zunehmende Ausdehnung der Staatstätigkeit lautet, die Einkommenselastizität der privaten Nachfrage nach öffentlichen Gütern sei größer als die der Nachfrage nach privaten Gütern. D. h., steigt das Sozialprodukt inner4 R. Jochimsen, Z u m A u f b a u u n d Ausbau eines integrierten Aufgabenplanungssystems u n d Koordinationssystems der Bundesregierung, i n : B u l l e t i n der Bundesregierung Nr. 97 v. 16. 7.1970, S. 954.
Schlußwort halb eines Zeitraumes ζ. B. um 10 %, so steigen die Staatsausgaben um mehr als 10%; die Folge ist eine Erhöhung der „Staatsquote" (gleichviel i n welcher Abgrenzung). Die Frage ist jedoch, wer diese angeblich größere Einkommenselastizität der privaten Nachfrage nach öffentlichen Gütern determiniert: Sind es tatsächlich die privaten W i r t schaftssubjekte — oder ist es nicht vielmehr der Staat selbst? Denn die staatlichen Entscheidungsträger sind es doch, die m i t nicht zweckgebundenen Steuern, Gebühren, Beiträgen und Krediten Güter und Dienstleistungen i m „Namen und i n Vertretung" derjenigen — nämlich der Bürger — kaufen bzw. nachfragen, die diese Güter und Dienste konsumieren. Daraus ergäbe sich als sprachliches Paradoxon eine Einkommenselastizität der staatlichen Nachfrage nach öffentlichen Gütern: Der Staat entscheidet mit der Zuteilung und Verwendung von öffentlichen Mitteln über die Höhe der seitens des Privatsektors nachgefragten Menge an öffentlichen Gütern. Da sich diese staatlichen Entscheidungen jedoch letztlich an den Bedürfnissen der Bürger orientieren (sollten), w i r d der private Bedarf an öffentlichen Gütern i n staatliche Nachfrage transformiert. Folgt man dieser Argumentation, so sollte der irreführende Begriff der Einkommenselastizität der privaten Nachfrage durch den präziseren Begriff der Einkommenselastizität des privaten Bedarfs an öffentlichen Gütern ersetzt werden.