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German Pages [321] Year 1982
Der Sohar Das Heilige Buch der Kabbala
DIEDERICHS GELBE REIHE
DER SOHAR DAS HEILIGE BUCH DER KABBALA
NACH DEM URTEXT AUSGEWÄHLT, ÜBERTRAGEN UND HERAUSGEGEBEN VON ERNST MÜLLER
EUGEN DIEDERICHS VERLAG
Mit 12 Abbildungen. Das Frontispiz zeigt das Titelkupfer zu Knorr von Rosenroths erster lateinischer Sohar-Übertragung, die 1677/84 unter dem Titel »Kabbala
Denudata« erschien. Mit freundlicher Genehmigung der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Der Sohar : d. heilige Buch d. Kabbala nach d. Urtext ausgew., übertr. u. hrsg. von Ernst Müller. Auf d. Grundlage d. Ausg. Wien 1932 neued. Düsseldorf ; Köln : Diederichs, 1982. (Diederichs Gelbe Reihe ; 35 : Judaica) Einheitssacht.: Sefer haz-Zohar (dt.) ISBN 3-424-00695-5 NE: Müller, Ernst [Hrsg.]; EST Auf der Grundlage der Ausgabe Wien 1932 neu ediert © 1982 Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf - Köln Umschlaggestaltung: Eberhart May, Bergisch Gladbach Gesamtherstellung: Graphischer Betrieb Friedrich Pustet, Regensburg ISBN 3-424-00695-5
INHALT
KABBALA UND SOHAR
Einleitung des Herausgebers 11/ Offenbarung der Geheimnisse - Schim’on ben Jochai und seine Schüler 27 / Gleichnis der Rose 29 PREIS DER THORA
Die Schöpfermacht des Thorawortes 33 / Die Thora als Gottes name, als Freiheit, als rechte Seite - Korachs Verwirrungstat 34 / Die untere und die obere Thora 36 / Die Thora und die Erschaf fung des Menschen - Die Geborgenheit in der Thora 36 / Der Thora Liebesoffenbarung 38 / Kleid und Wesen der Thora 39 / Vom Allgemeinen und vom Bestimmten 41 / Die zweifache Weisheit 42 / Von Ich, Freiheit und Thora 44 SCHÖPFUNGSLEHRE, WELTENPLAN
Das Licht des Urquells - Das Mittlerwesen 49 / Das Verborgene Urlicht - Das Stiftszelt - Salomo und Chiram - Zeiten der Enthüllung 52 / Sündhafte Scheidung im Höchsten 55 / Das Furchtbare als das Vollkommene - Vater und Sohn 56 / Der Schutz der Frommen - Zweierlei Arten von Felsen 59 / Vom Sinn des Stiftszelts - Der Grundstein und seine Umkreise 61 / Die Urfesten - Der Baum des Lebens und der Baum der Erkennt 5
Inhalt nis 64 / Gestaltlosigkeit und Gestalt der Göttlichen - Zehn Sefirot und zehn Engelstufen 65 / Die Pfade des Gerichts und die Pfade der Liebe 69 / Subjekt und Objekt der Welt 70 / Zwei Gegensphären 72 / Dreiheit in der höchsten Einheit 73 / Das göttliche Auge 76 / Kommentar zum neunzehnten Psalm 78 / Im Bild der Nuß 83 / Sonne und Mond 84 / Zweierlei Himmelsbo ten 85 / Der Grundstein der Welt - Der Engel Lobgesänge des Nachts und Israels Lobgesang bei Tage 86 / Die oberen und unteren Gesänge 89 / Das Zeichen am Morgenhimmel - Der dreifache Lobgesang 92 / Erläuterung der Thronwagenvision Der Bogen der Urfarben 93 / Die himmlischen Tierwesen und ihre Vollendung im Menschenbild 95 / Nahrung der unteren und oberen Wesen - Die vier Tierwesen des göttlichen Thron wagens als Bild des Urmenschen 96 / Der Urglanz, aus dem alle Worte geschaffen 99 / Die Waage des Lebens 104 / Schöpfungstage und Urväter im Hohelied 104 / Licht und Finsternis, Tag und Nacht 106 / Von der Erschaffung des Lichtes und vom ersten Tage 107/ Vom Schöpfungswerk: Wesensscharen, Wort und Licht - Die Entsprechung des Unteren und Oberen 109 / Zweierlei Wider streit 110/ Die Scheidung im Himmel und auf der Erde 112/ Die Stätte der Einheit - Der Fruchtbaum des dritten Tages 114 / Stufen des siebenten Tages 114 DAS MENSCHENREICH
Vom Ich - Der Urmensch an der Schwelle des Jenseits 119 / Der Mensch als Mittelpunkt der Schöpfung 121 / Die Schechina am Werke der Welt - Die Erschaffung des Menschen in Licht und Finsternis 122 / Vom ersten Menschen 124 / Die Erschaffung der Erde und des Menschen - Die Dreiheit der Seele 126 / Die Leibesgestalt vor der Geburt- Die Stufe der reinen Segensspiege lung 128 / Die Seele des Schlafens - Die drei Seelenstufen 130 / Die Bildung des Menschengeistes 133 / Die Seele, die das Wort besitzt 134 / Niedergang und Wiederaufstieg der menschlichen Seelen - Die Seele und ihr Körper - Der Palast der Liebe 136 / Männlich und Weiblich 139 / Vom Urweiblichen und vom Urzusammenhang der Geschlechter - Vom Sefirotbaum 140 / Weihen der Ehe 142 / Die Einheit des Volkes - Abbild der göttlichen Einheit in der richtigen Liebesvereinigung 144 / Die Trennung des Weibes von Adam - Von Ehe und Ehebruch 145 / 6
Inhalt
Lilie von Scharon und Rose der Tiefen - Der Fall Adams 147 / Der Anfang niederer Furcht 150 / Vom guten als dem neuen und vom bösen als dem älteren Trieb 151/ Dämonen der Verführung 152 / Das göttliche Ichwesen und das Andere - Die doppelte Siebenheit 154 / Das Ende des Dunkelreichs 156 / Die drei Hauptsünden und die drei Organe des Unterleibs 157 / Die Begegnung Adams in der Todesstunde - Die Wirkung des offenen Frevels 158 / Die Notwendigkeit des Bösen 159 / Der gute und der böse Trieb und ihre Vereinigung - Der Engel jhwhs 160 / Das richtige Nährungsopfer - Hiobs einseitiges Erhö hungsopfer - Der böse Trieb als Sauerteig 162 / Hiobs Versu chung - Das Opfer an das Böse 165 / Sünde und Tod - Die drei Welten Gottes und des Menschen 167/ In der Todesstunde 170/ Die Lösung des Blickes im Sterben - Niedere und höhere Leibesgewandung - Vom Bau des menschlichen Körpers 171 / Höllenfeuer 175 / Die drei Seelenglieder nach dem Tode 176 / Das Gewand der Lebenstage 179/ Das höhere Lichtgewand der Seele 180 / Schwagerehe und Verkörperung der Menschenseele 182 / Die vorbestimmten Gatten - Das Andere und das Letzte 183 / Die Urstoffe des Lebens und des Todes 184 / Von den menschlichen Leibesorganen 185 / Milz und Galle 186 / Von Stürmen, Feuer und Wasser im menschlichen Organismus 187 / Der erste Kranke und der erste Genesende - Babylonische Könige 189 / Die Vierheit der oberen und unteren Elemente Der Ursprung der Metalle - Zwölfheitssymbole 191 / Wirksam keit der Sterne 196 / Jakobs Grabstätte - Das Schauen in der Sterbestunde - Das menschliche Auge 198 / Vom Ausdruck der menschlichen Stirn 201 KULTUS UND RITUS
Paarungen zur Einheit: Gott und die Schechina, Israel und die Erde 207 / Bund und Bundeszeichen 208 / Opfermysterien 209 / Urelemente und Engel - Uriel als Opfervision 210 / Das Myste rium der Opferflamme - Das verzehrende Himmelslicht 213 / Die oberen und die unteren Altäre - Die leiseste Stimme und das Band des feinsten Opfers 214 / Die Erfordernisse des Stiftszeltes 217 / Die Reinheit des Mundes - Grund der Speisegesetze 219 / Das Wunder des Tempelbaus - Die Bildung des Wortes 222 / Die Höhe des Hohepriesters - Des Königs und des Hohepriesters 7
Inhalt
Gattin 224 / Niedere Vermischung und höhere Verbindung 226 / Kein Segen auf einem leeren Tisch 230 / Brot und Wein 231 /Das Salz als Symbol des Bundes 232 / Vom Sabbat 233 / Von der Heiligung des Sabbats 238 / Unterer und oberer Sabbat 240 / Elternfurcht und Sabbatheiligung 240 / Der Tag des Gerichts und der Tag der Versöhnung 242 / Der Ursprungsstrom des Gerichts - Die drei Schofartöne 243 / Die Böcke des Versöh nungstages - Die drei Bücher Salomos - Erfüllung der Gnade 247 / Der zu bearbeitende Boden - Der wiederkehrende Segen - Die Mahlzeiten Rabbi Jesses des Alten 249 / Die gehobenen Hän de 251 / Verdienst und höherer Gnadenstrom - Segnung aus den Tiefen 252 / Die zehn Doppelworte 254 / Aus der Deutung der zehn Gebote 257 / Die höchsten drei Sefirot - Die zwölf Stämme - Die Nacht des Zaddik 259 / Von den Gesetzestafeln 261 / Die höhere Tat 262 / Die Leiter des Gebetes 264 / Die Krone der Gebete 265 / Sechs Stufen des Morgengebets 266 / Das Nischmat-Gebet - Die Bewahrung der Gottesnähe 268 / Das Gebet vor der Mahlzeit - Dreierlei Feuer 270 / Hingezogene Erwartung und eintreffender Wunsch 273 / Preis der Frommen 274 / Gottesfurcht der Anfang höherer Weisheit 276 / Gleichmaß im Gericht - Herrschendes und Dienendes in der Seele 277 / Born und Arche 279 / Von Kraft und Nahrung der Seelen 281 / Zwei Stufen des Dienstes - Die höhere Verbindung vor dem Nieder stieg 284 / Aufstieg, Umkehr und höhere Wohnstätten 285 / Der wahre Dienst in der Einigung - Die Antlitze Gottes - Die Macht der Rechten 287 / Wege der Lieblichkeit und Pfade der Vollkom menheit 289 / Das Geheimnis des Schema - Dreieinheit und Menschenlaut 291 / Von der Macht und Reinheit des Wortes Die Spaltung der Sprachen 292 / Die Überwindung der Magie Die Freude Gottes - Malkizedek 294 / Söhne Adams - Zeugung durch den bösen Trieb oder durch den heiligen Geist 296 / Von der Gottesliebe 298 / Die Vollendung in der Freude 302 / Gleichnis von der Flamme 304 / Zeit und Wille 306 / Die Stufe der Zeit 307 / Das Buch in der Höhle. 307 ANHANG
Stimmen zum Sohar 311 / Literaturhinweise 313 / Über den Herausgeber und zur Edition 315 / Verzeichnis der übersetzten Soharstellen 318 8
KABBALA UND SOHAR
Das Sefirot-System
Das Sefirot-System als die zentrale Glyphe der Kabbala. Aus: Athanasius Kircher, Oedipus Aegyptiacus. Rom 1652
Die Kabbala EINLEITUNG
In der Vielgestaltigkeit jener Lebens- und Geisteskomplexe, welche an den Namen des Judentums geknüpft sind, bezeichnet das Wort »Kabbala« ein zunächst entlegenes und schwer faßba res Element. Es wird gewöhnlich sowohl wegen seines »Geheim charakters« als auch wegen seiner zeitlichen Entrücktheit als nicht ganz ebenbürtiges Nebengebiet dessen gewertet, was man als Judentum versteht. Und dennoch trägt es in Wort und Lehre und in bezug auf den unsichtbaren Geist in beiden die tiefsten Elemente jüdischen Wesens in sich. Wert- oder Geringschätzung hängt hier vielfach ab vom Verhältnis zu jenen weder Wissen schaft noch Religion einseitig bedeutenden, sondern beide in gewissem Sinne umspannenden Quellregionen des Geistes, die man als Okkultismus bezeichnen kann. Sicherlich lag es in der Entwicklung der Kabbala, die mit dem Ende der althebräischen Kultur ihre ersten Formungen als Ge heimlehre empfangen haben dürfte, auch manches von den mannigfachen Strömungen jenes synkretistischen Zeitalters in sich aufzunehmen. Doch ändert dies nichts an dem in den tieferen Gründen doch eigenwüchsigen Wesen der Kabbala, das noch mehr für ihren eigenen als für ihren jüdischen Charakter entscheidend ist. Die Existenz einer jüdischen Geheimlehre reicht sicherlich wei ter zurück als die nicht allzu reichhaltige oder doch zum großen Teil immer noch in Handschriften vergrabene kabbalistische Literatur. Denn diese stellt sich selber als Niederschlag einer älteren mündlichen Lehre dar, deren Charakter durch die alten Literaturreste nur gleichsam noch hindurchscheint. So ist auch die hie und da vertretene Anschauung nicht von der Hand zu weisen, daß wir in den frühen kabbalistischen Denkmälern teilweise noch Erinnerungen an eine noch ältere, vielleicht unge schriebene, im ganzen einheitliche, geistunmittelbarere Geheim lehre vor uns haben. In diesem Zusammenhang kann auch das noch nicht aufgehellte ursprüngliche Verhältnis der Kabbala zur Bibel betrachtet wer den. Man kann etwa, im Bemühen es zu verstehen, einerseits auf Philo hinweisen, dem die biblische Überlieferung nichts als eine
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Die Geheimlehre große Allegorie ist, andrerseits auf die frühen agadischen Exege sen und Erweiterungen, worin der Inhalt der Bibel in ein weites Gebiet teils mythologischer, teils legendenhafter, teils mysti scher Betrachtungen eingebettet erscheint. Weil diese letzteren aber zum Teil mindestens so alt sind wie die Kanonisierung der Bibel und weil manche davon Dunkelheiten der biblischen Dar stellung wirklich aufhellen, so schließen dieselben wohl an ur sprüngliche Auffassungen und somit auch an den Sinn der Bibel selber an. Insbesondere die beiden Höhepunkte bildhaft-über sinnlicher Weltanschauung in der Bibel, die Schöpfungslehre einerseits, die Theophanie des Propheten Ezechiel andrerseits, werden zum Gegenstand einer frühesten, im Talmud oft er wähnten Geheimlehre, an welche sicherlich das Geheimnis der Gottesnamen, aber auch die Deutung der sakralen Institutionen samt den aus ihnen entsprungenen und mit ihnen verknüpften Geboten angeschlossen waren. Nach Oskar Goldberg handelte es sich um magische Einrichtungen größten Stils, welche das Schicksal ganzer Völker bestimmten. Man sollte hier jedoch den Begriff der Magie durch den der Heiligkeit ergänzen, um die menschenverwandelnde Macht des mosaischen Religions systems in den Zeiten des alten Tempels richtig zu würdigen. Die früheste Fixierung jener Geheimlehre jedoch, den Erwäh nungen im Talmud zufolge durch strenge Verbote gehütet, ist wohl, wenn wir die engen Beziehungen zwischen Philo, Apokalyptik, Gnosis und Agada in Betracht ziehen, in jenes früh alexandrinische Zeitalter zu verlegen, welches vor dem Unter gang der ganz antiken Geisteswelt eine neue Zeit einleitet: als zur Lehre gewordenes Denkmal uralter und als bleibende Mahnung ewiger Geistverbundenheit. Nur dürftig, teilweise buntfarbig und sonderlich erscheinen die halb midraschischen, halb kabbalistischen Schriften des frühen Mittelalters: Hymnen, Engelanrufungen, Buchstabendeutun gen, Prophetien neben lehrhaftem Inhalt, der zumeist die Form der Bibelexegese trägt. Eine Ausnahme macht das in ebenso lapidarer wie dunkler Kürze abgefaßte »Buch der Formung« (Sefer Jezira). Diese kleine Schrift, die von Anfang an über die der kabbalistischen Tradition zugehörigen Kreise hinaus als tiefe Weisheitsoffenbarung betrachtet und unzählige Male kommen tiert wurde, weist uns, und zwar in Inhalt und Methode, auf zwei
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Laut, Wort und Sinn
Hauptgedanken der Kabbala überhaupt hin, mit deren Betrach tung auch bereits Zentrales aus dem Inhalt des Sohar miteinbezo gen wird: auf die schöpferische Macht der Urlaute und auf die Orientierung des ganzen Kosmos nach dem Menschen hin. Die uralte, auch als indisch, altgriechisch, alexandrinisch und christlich auftretende Lehre vom weltschöpferischen »Wort«, Fundament vor allem des biblischen Schöpfungsberichts, wird hier zu einem System entfaltet, das den Sinn des Gottesnamens, die sternenbestimmte Organisation der Welt, die Naturelemente und die mikrokosmischen Geheimnisse des menschlichen Orga nismus einschließt. Eine solche, dem heutigen Bewußtsein fremd gewordene, nur in ernsteren okkulten Richtungen wieder ver standene Weltauffassung aus den Elementen der Sprache heraus kann dem modernen Menschen nähergebracht werden einerseits aus der Besinnung auf dasjenige, was Wilhelm von Humboldt die »innere Sprachform« genannt hat, jene geheimnisvolle Harmo nie von Lautausdruck und Sinn; andrerseits aus jener Tatsache der generellen und individuellen menschlichen Geistesentwick lung, daß der Gedanke erst aus dem Schoße der Sprache geboren wird, diese also bereits die Geistigkeit des Gedankens, zwar dem einzelnen unbewußt, dafür aber in stärkerer objekthafter Reali tät in sich trägt. Der Kabbalist jedoch sucht das Geheimnis der Worte: von jenen Daseinstiefen, die noch nicht einmal im Wort, sondern im Wortelement, dem Laut, und indirekt in dessen sichtbarem Zeichen, dem Buchstaben, sich ausdrücken, bis zu einer Bibelexegese, welche gleichfalls das Wort als solches heilig nimmt, indem sie es als Zentrum vielfältigen Sinnes betrachtet und die Methode liebt, für Gleichlautigkeit verschiedener Bibel stellen auch eine Beziehung der Inhalte herauszufinden. Ergän zend zu solchem »Sinn der Laute« tritt dann noch ein »Sinn der Zahlen«, in welchem sich Offenbarungsformen höherer Da seinsregionen bis in die Elemente des Naturgestaltens hinein aussprechen, entsprechend einer noch als selbstverständlich empfundenen »Bedeutung« der einzelnen Zahlen und einer ural ten Zuordnung des Alphabets zu denselben. Im Zentrum der Weltenwirkungen jedoch steht der Mensch als Konzentrationspunkt der wirkenden Schöpferkräfte, als ein We sen, das, zwischen »oberen* und »unteren« Welten stehend, mit seinem eigenen Erlösungsweg auch eine erlösende Weltmission 13
Urmensch und vollkommener Mensch
zu erfüllen hat. Mächte der Natur und des Geistes begegnen sich in ihm. Mit seinem Körper gehört er jener, mit seinem geistigen Odem diesem an, die Seele bildet sein eigenes Zentrum. Aber auf geheimnisvolle Weise erscheint die ganze Menschheit an einen gemeinsamen Ursprung und an ein gemeinsames Ziel gebunden. Des Menschen Ursprung ist zugleich ein göttlich zu nennendes Vorbild, der Urmensch, dessen irdisches Abbild in der Gestalt des vor dem Sündenfall noch lichtvollen Adam überliefert ist. Sein Ziel ist der vollkommene Mensch, der Zaddik, der wieder um im Messias sein übermenschliches Vorbild hat. Und zwi schen der Verschmelzung des ersten Menschen und des Urmen schen einerseits, des »unteren« und des »oberen« Zaddik andrer seits liegt das Mysterium des Menschenwerdens, welches den Inhalt der Geschichte bildet. Der einzelne Mensch steht in diesem Werden gänzlich darinnen. Die Höhe seiner Bestimmung läßt sein Wesen, das unzerstörbar in wiederholten Lebensfor men durch Erden- und Himmelsreiche wandert, als wichtig für den ganzen Weltprozeß erscheinen. Und wieder bedingt die richtige Offenbarung seiner irdischen Lebensform im Abbild der oberen Welten seine Moralität, die zwar hier, im Gegensatz zum Christentum, an das »Gesetz« stark gebunden erscheint, ihren Sinn aber auch nicht an der äußeren Gesetzeserfüllung erweist, sondern in des Menschen realem Verhältnis zu den guten und bösen Mächten, in deren Kampf er mitten hineingestellt ist. »Freiheit« und »Gnade«, diese oft zum Dilemma verzerrte Pola rität, wird in den Tiefen zur Einheit. Wie einerseits jede Men schentat, ja das Gesetz selber zuinnerst Freiheit bedeutet, so ist andrerseits alle Wesenserfüllung des Menschen nicht sein Eigen werk, er wird erst zur »Quelle«, wenn er zuvor »Zisterne« gewesen, von oben die befruchtende Geistessubstanz empfangen hat. Solche Lehren bilden im wesentlichen das Band der Kontinuität zwischen der gesamten älteren Kabbala und dem Sohar, der sie teils voraussetzt, teils in stärkster Konzentration und weitester Entfaltung ausspricht. Was nun dieses »Buch des Glanzes« (Sefer ha-Sohar) betrifft, so gibt es sich in äußerer Beziehung ebenso problematisch wie die Kabbala selbst. Es taucht in Spanien gegen Ende jenes merkwür digen 13. Jahrhunderts auf, das auch im christlich-europäischen 14
Entstehungsgeschichte des Sohar Geistesleben sehr starke mystische Impulse aufweist. Der Kab balist Mose ben Schemtow de Leon (1250-1305) verbreitet es als ein Werk des auch sonst legendenumwobenen Talmudisten Schim’on ben Jochai, Zeitgenossen des Rabbi Akiba (f 136 n. Chr.), der in der Darstellung des Werkes selbst den Mittel punkt eines Mystikerkreises bildet, ja als der eigentliche Träger der ausgesprochenen Lehren auftritt. Im Hinblick auf die schon aus dem Textinhalt sich ergebende Unmöglichkeit, daß Schim’ on ben Jochai etwa selbst das Buch verfaßt, und auf Grund einer zweifelhaft überlieferten Mitteilung der Witwe des Mose de Leon, wonach dieser das Buch niedergeschrieben hätte, wurde Mose de Leon dann oft in einem Atem als Betrüger und als Verfasser des größten kabbalistischen Werkes bezeichnet. Läßt man aber die Annahme der Autorschaft des Schim’on ben Jochai in ihrer kindlichen Deutung außeracht, so kann angesichts der angedeuteten Zusammenhänge mit einer talmudischen oder noch älteren Geheimlehre die Auffassung nicht so absurd er scheinen, daß die geschichtliche Beziehung der Textdarstellung auf jene talmudischen Persönlichkeiten, wenn auch ausge schmückt und erweitert, dennoch nicht geradezu erfunden sein dürfte, wofür übrigens auch das palästinensisch-realistische Ko lorit der erzählenden Einkleidungen des Textes spricht. In historischer Beziehung merkwürdig ist nun auch neben der Problematik seiner Entstehung die höchst verschiedenartige Ein schätzung des Werkes innerhalb und auch außerhalb des Juden tums. Bei den Kabbalisten gewissermaßen neben Bibel und Talmud als das dritte religiöse Zentralwerk des Judentums gel tend, an welches dann die großen mystischen Bewegungen der Lurianischen Kabbala und des Chassidismus anknüpfen, wurde es, namentlich mit der Erstarrung des orthodoxen und der Rationalisierung des aufklärerischen Judentums, immer mehr vernachlässigt, vergessen, selten mehr verstanden, öfters verun glimpft. In andere Sprachen wurde es bis heute meist nur bruch stückweise aus dem Aramäischen übertragen, wenn auch häufig christliche Theologen oder Missionare auf seine messianistischen oder auf die dem Dreieinigkeitsglauben verwandten Lehren Bezug nahmen und namentlich durch Humanismus und Rosenkreuzertum es manche Fäden mit philosophischen und okkulti stischen Richtungen der Neuzeit verbinden. Merkwürdigerwei-
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Die einzelnen Bücher se wurden gerade die dunkelsten Kapitel aus den »Idrot« im 17. Jahrhundert durch Knorr von Rosenroth ins Lateinische übersetzt. Erst in das Ende des 19. Jahrhunderts fällt eine voll ständige französische Übersetzung des eigentlichen Sohar durch den Konvertiten Jean de Pauly. Mit der problemreichen Geschichte des Werkes hängt nun auch seine problematische Form zusammen, indem es mehrfach wie von verschiedenen Seiten zusammengeschossen erscheint und auch in seiner fertigen Fassung - die übrigens manche Variatio nen aufweist - neben dem Hauptteil mehrere in Stil und Inhalt noch teilweise abweichende fragmentarisch vorliegende Neben schriften enthält. Die wichtigsten, in allen Ausgaben dem Text beigedruckt, sind »Sifra di-Zeniutha« (»Buch der Verborgen heit«), »Idra rabba« (die »große«) und »Idra suta« (die »kleine Halle«), archaisch in Stil und Symbolik, Ra’ja mehimna (der »treue Hirte«), Midrasch neelarn (der »verborgene Midrasch«), Sitre Thora (»Verborgenheiten der Thora«) nebst noch kürzeren Fragmenten (z. B.: »Tossefta«). Als größere, selbständige Wer ke kommen hinzu: »Tikkunim« oder »Tikkune ha-Sohar« (»Er gänzungen«), »Sohar chadasch« (der »neue Sohar«) und »Mi drasch Ruth«. Hinsichtlich der Darstellung der Lehre erscheint auch der Hauptteil systemlos angeordnet. Das ursprüngliche Prinzip sei ner Anordnung ist dasjenige eines »Midrasch«, d. h. eines fort laufenden, nach den Wochenabschnitten gegliederten Pentat euch-Kommentars, bei sehr ungleicher Hervorhebung der ver schiedenen Bibelabschnitte und -sätze. So hat z. B. der Sohar zum dritten, vierten und fünften Buch Moses zusammen unge fähr den Umfang des ersten oder des zweiten Buches allein. Ferner sind immer wieder, teilweise im Sinne der erwähnten Vergleichungsmethode, Stellen aus anderen biblischen Büchern, darunter gewisse Lieblingsstellen der Kabbala überhaupt, heran gezogen, so namentlich aus den Psalmen und dem Hohen Lied, aber auch aus Ezechiel, Hiob, den Sprüchen usw., während zum Buch Ruth ein besonderer Sohartext existiert. Freilich handelt es sich im Sohar nicht in erster Linie um das richtige Verständnis der biblischen Überlieferung als solcher, sondern eben um die mystische Lehre, die entweder durch die besondere Deutungsmethode aus Sinn und Wort des Textes und
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Die Struktur des Sohar
noch mehr aus den Sinn- und Wortbeziehungen geschöpft oder in dieselben erst hineingetragen wird. Durchbrochen wird nun freilich dieses Anordnungsprinzip durch zwei weitere: das des Zusammenhangs der Lehren selbst und der die Persönlichkeit Schim’on ben Jochais umspielenden Legende. Denn diese bildet ja - vergleichbar den platonischen Dialogen - die künstlerische Umrahmung des Ganzen, die hier auch wieder mehr als bloße Umrahmung sein will, nämlich Bericht über die Einweihungs schicksale jenes Mystikerkreises, wobei Einweihung auch wie der nicht in erster Linie als okkulte Seelenentwicklung des Einzelnen gemeint ist, sondern als vertiefte Erkenntnis, die von der anderen Seite her Offenbarung an die Zeit bedeutet. Und all dies spiegelt sich in der Form eines endlosen, in keiner Weise (außer durch die traditionellen Bibelabschnitte) äußerlich geglie derten, auf- und abwogenden Diskurses. Wenn in bezug auf diese der Talmud zum Vergleich herangezogen werden könnte, so ist der Grundcharakter des Diskurses doch hier ein völlig anderer. Geht es doch viel weniger um scharfsinnige Meinungen, die in Gegensätzen aneinanderstoßen, als um harmonische Er gänzungen gemeinsamer Überlieferungen, die in der Einheitlich keit des Geheimnisses ihren Ursprung haben. So erklärt sich einerseits aus der mystischen Beleuchtung, an drerseits aus der oft nur in halben Andeutungen verbleibenden Form der Darstellung und dem Mangel an Architektonik im Ganzen die eigentümliche Struktur des Werkes, das noch durch Einschiebungen, Wortentstellungen und plumpe Abschreibfeh ler verunziert ist. Es erscheint so äußerlich formlos und doch wie aus einem Geiste, von einem starken künstlerischen Zug, ja noch mehr: von einer verborgenen inneren Ergriffenheit getragen, welche immer wieder in mächtigem Enthusiasmus ausströmt. Solch eigentümlicher Mischcharakter haftet auch der Sprache an, welche fast trocken, »talmudistisch« in der Exegese, doch schon in der Fassung einzelner stereotyper Phrasen einen geheimen Unterton trägt, in welchem die Starrheit des verfestigten Über lieferungswortes nach der äußersten Beweglichkeit der geistigen Inhalte hin relativiert wird. So schillert auch das Sprachproblem des Sohar nach verschiedenen Richtungen. Bar jeder künstlerischen Absicht, benützt die Darstellung das Werkzeug der Sprache im Sinne einer bestimmten geheimen 17
Kabbalistische Lehre
Terminologie, die uns heute kaum mehr zugänglich ist und deren Starrheit wieder durch ein Prinzip der okkulten Sprache durch brochen wird, verstandesmäßig gleiche Inhalte durch Vielfältig keit des Bildes der Vielfalt ihrer geistigen Hintergründe wieder anzugleichen. Aus dem Zeitschicksal des Sohartextes erklärt sich sein gleichsam zerbrochener Sprachtypus: ein nicht mehr reines Aramäisch, von hebräischen Wörtern einerseits, verstümmelten Fremdwör tern andrerseits vielfach durchsetzt. Eine Lehre, welche noch an das heilige Zentrum aller Laut- und Wortbildung anknüpft, teilt selber in ihrer Sprache neben dem Exilschicksal des Volkes das größere der allgemeinen Verdunklung einstiger Geistverbunden heit. Aber auch der »Inhalt« des Sohar bietet weder ein philosophi sches System noch ein dichterisches Ganzes, auch keine okkul ten Anweisungen, noch viel weniger das manchmal so beliebte mystische Geplätscher. Aber er teilt mit wesenhafter Philoso phie und ernstem Okkultismus Tiefe und Strenge, und man muß dazu noch in seiner eigentümlichen Atmosphäre gewissermaßen atmen können, um über Kritik oder blinde Verehrung hinaus das Wesentliche zu erfassen. Im Verlaufe des gesamten Textes kommen die verschiedensten Elemente der kabbalistischen Lehre überhaupt und ihrer An wendung auf Leben und Auffassung des Judentums zum Aus druck. Zu den zwei zentralen Richtungslinien, welche angeführt wurden, bedürfen zwei weitere spezieller Betrachtung: die der makrokosmischen Weiten und die der volkhaft-geschichtlichen Enge. Mit einer selbst in den mystischen Literaturen kaum erhörten Kühnheit wird hier von höchsten Regionen geistiger, göttlicher Daseinsweisen gesprochen, ohne die letzten Geheim nisse anders als mit ehrfürchtigem Schweigen anzudeuten. Denn ihnen gegenüber trifft nicht nur der Blick der Erkenntnisse eine äußere, sondern das Wesen der Erkenntnis seine eigene, innere Grenze. Als untere Grenzregionen geistigen Daseins hingegen erscheinen, noch immer über der Menschenwelt stehend, jene, welche alle Kräfte und Strömungen der höheren Mächte in sich versammeln, um sie im Menschenwesen fruchtbar zu machen. Und ferner gibt es ein für die himmlischen Welten selbst zentra les Gebiet, das dem göttlichen »Sohnes«prinzip, der Kleingesich18
Der Sefirot-Baum tige genannt, ebenso zugeordnet wird, wie die urschöpferischen Mächte, deren innere Substanz Weisheit ist, dem »Vater« prinzip, der Langgesichtige genannt. Als ebenso wesentlich aber wie diese Unterscheidung eines mehr urwesenhaften und eines stu fenweise in der realen Menschenidee sich offenbarenden Göttli chen erscheint die Scheidung des »Vaters« und der »Mutter«, eines Urmännlich-Geistigen und eines Urweiblich-Naturbe gründenden, was mit der älteren Trinität: Vater, Mutter, Sohn zusammenhängt. Die Kabbala des Sohar bringt das weibliche Gotteselement der Schechina-, d. i. der der Welt »einwohnen den« Göttlichkeit, besonders stark zur Betonung, die Einseitig keit des männlichen Elements in der Tendenz des Mosaismus dadurch paralysierend. Der organische Bau der über dem Menschen waltenden Geistes welt war schon vor der Zeit der Redaktion des Sohar durch das Schema des »Baumes« der zehn Sefirot dargestellt worden, der eine mehrfache horizontale und vertikale Gliederung aufweist: einerseits in eine »rechte«, »mittlere« und »linke Säule«, andrer seits in eine oberste, geistwirkende, eine mittlere, seelenwirken de und eine untere, naturwirkende Triade, wozu noch als unter ste Sefira das »Reich* kommt, welches die Verbindung der Menschenwelt mit der gesamten Geisteswelt bewirkt. Der Sohar setzt diese Sefirotlehre in gewissem Sinne schon voraus, um sie mit seinem eigenen Geiste zu erfüllen. In ihrem Rahmen gestaltet er auch den talmudischen Gedanken von der Polarität des »Ge richtes«, und der »Barmherzigkeit« in der Weltenlenkung aus als den Ausdruck von substantiellen Weltmächten, deren richtiges Gleichgewicht den Bau alles Daseins trägt. In unnennbaren Höhen geht die oberste der Sefirot, die »Kronen (Kether) unmittelbar in das »Unendliche« über. Sie wird hie und da mit demselben für eins gehalten. Die unterste wird durch das Menschenreich gebildet - das »Reich« schlechthin (eigentlich Malchut = Königreich), in verwandtem Sinne, wie dieses Wort auch im christlichen »Vaterunser» gemeint ist, als jene Geistesre gion, welche den Menschen unmittelbar berührt und umgibt. Die Abstufung schließt indessen nicht eigentlich eine Höher und Minderwertung ein, und wie die »Krone« keimhaft den ganzen Baum in sich trägt, so erscheint wieder der ganze Baum im »Reiche« verdichtet. So werden auch gerne die erste und die
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Die zehn Sefira
zehnte Sefira direkt verbunden: in dem Namen »Kether Malchut«. Die oberste Triade enthält außer Kether noch Chochma (»Weis heit«) und Bina (»unterscheidende Vernunft«); die mittlere Chessed (»Liebe«) oder Gedulla (»Größe«), Din (»richtende Gerechtigkeit«) oder Gebura (»Stärke«) und Tifereth (»Herr lichkeit«, in Wirklichkeit die Harmonie von allen), auch Rachamim (»Erbarmen«) genannt; die untere Nezach (»Dauerkraft«), Hod (»Schönheit«) und Jessod (»Fundament«). Die oberste Triade bezeichnet wesentliche Potenzen der Er kenntnis, welche, in sich selbst vertieft, höchste Stufen des Daseins zur Offenbarung bringen (das »Vernunftreich«). Die »Weisheit« bildet erst eigentlich den Uranfang der Dinge und wird als solcher schon im Buche der Sprüche geschildert, in der Gnosis dann mit dem Logos identifiziert und je nach der Auffas sung als erstes Geschöpf oder als der Weltschöpfer selbst be trachtet, hinter dem noch das Ursein zu erahnen ist. Erst »Bina« enthält zur Weisheit auch die Negation, daher die Unterscheidung und Scheidung des Sinnvollen und Sinnlosen, die Begrenzung und Formung des vernünftigen Wesens selbst. Wie in der platonischen Philosophie hat man bei diesen Namen nicht an Abstraktionen zu denken, sondern an Wesenhaftes, dessen Substanz durch Weisheit gebildet wird. Die mittlere Triade bezeichnet die Urmächte des seelischen Lebens, als welche die absolut bejahende Liebe und die scheiden de Gerechtigkeit erscheinen, beide erst verbunden und versöhnt durch ein harmonisierendes Urelement, dessen Name »Barm herzigkeit« nichts von Passivität in sich enthält, sondern eine Sphäre bezeichnet, in welcher Liebe wirken kann, ohne in sich selbst zu zerfließen, gestärkt und geformt durch »Gerechtig keit«, der die Unterschiedlichkeiten des Daseins unterworfen sind. Die untere Triade enthält die Urmächte des vitalen Daseins (des »Naturreichs«): Stärke, Schönheit und als vom unteren Urgrun de her schöpferisches Band die physische Zeugungsmacht, in welcher Kraft und Schönheit auf wunderbare Art keimhaft verschmolzen erscheinen und welche daher das »Fundament« für beide bildet, ja auch für den ganzen Baum, insofern sein Sinn in der Manifestation des Geistes bis in die physische Natur hinein 20
Die Manifestationen Gottes, in denen er aus 1. Kether, die »höchste Krone» der Gottheit; seiner Verborgen heit hervortritt. 2. Chochma, die »Weisheit» im urschöpferischen Sinn; 3. Bina, die unterscheidende Vernunft; 4. Chessed, die göttliche Liebe, oder Gedulla, die Größe; 5. Gebura oder Din, die »Macht» Gottes, die sich als strafende Macht und. richtende Strenge darstellt; 6. Rachamim, die ausgleichende »Barmherzigkeit» Gottes, bzw. Tifereth, die Herrlichkeit, das Herz des Himmels; 7. Nezach, die »beständige Dauer» Gottes; 8. Hod, die Schönheit und Majestät Gottes; 9. Jessod, das Fundament, der »Grund» aller wirkenden und zeugenden Kräfte Gottes; 10. Malchut, das »Reich» Gottes als geistiges Menschenreich. 21
Baum des Lebens gelegen ist. Und in einer gewissen Polarität zueinander stehen »Stärke« und »Schönheit«, wobei im physischen Aspekt die erstere das Primäre, Positive ist, während Schönheit schon eine gewisse den Gegensatz der Stärke miteinschließende Formung bedeutet. Diese Einteilung in drei Dreiheiten, welche in gewisser Bezie hung noch nach oben und unten in Fortsetzungen münden, läßt auch schon eine andere Gliederung erkennen: in rein positive Potenzen (Weisheit, Liebe, Kraft im physischen Aspekt) und in solche, welche einen Gegensatz einschließen und wohl auch ursprünglich begründen (Vernunft, Gerechtigkeit oder Strenge, Schönheit). Es ist aber hierbei nicht etwa an negative Prinzipien zu denken, zu welcher Auffassung die schematische Darstellung leicht verführen könnte, da »Vernunft« offenbar nicht als Ge gensatz von Weisheit, Gerechtigkeit nicht als Gegensatz von Liebe, oder Schönheit als solcher von Kraft gelten kann, wohl aber an ein ursprüngliches Beziehen zu einem Negativen, welch letzeres, etwa im Sinne Spinozas, im letzten Ursprung eigentlich nicht ist, in den »Baum des Lebens« also gar nicht einbezogen werden kann. Oder man denke etwa an eine durch Verdichtung des eigenen Wesens der betreffenden Urpotenz bewirkte Aus schließung all dessen, was diese nicht ist. In diesem Sinne be zeichnet z. B. Bischoff die Prinzipien der rechten Seite als dieje nigen der Expansion oder der Extensivität, die linke Seite als diejenige der Intensität, indem die Konzentration des Eigenwe sens der Urpotenz in ihr die Macht der Scheidung und des Widerstandes erzeugt. So erklären sich die rätselhaften Namen »Gedulla« (Größe) für die Sefira der Liebe, »Gebura« (Stärke) für jene der richtenden Strenge. Während nun der »linken Seite« an sich schon eine gewisse die Positivität und ihren Gegensatz überbrückende, allerdings durch Scheidung überbrückende Funktion innewohnt, treten wieder zwischen jene der rechten und der linken Seite Prinzipien eines gewissen Ausgleichs und mehr: einer gewissen Synthese. In ihnen vereinigen sich die beiden polaren Prinzipien gewisserma ßen in einen höheren Zustand, der, Frucht und Keim zugleich, beide wieder erneuert aus sich erfließen läßt. So bildet denn »Kether« ein Reich des Uber-Vernünftigen, das aus Weisheit und Vernunft sich erzeugt und diese immer wieder aus sich
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Sinnbilder
erzeugt, und gleiches gilt von »Erbarmen« in Beziehung auf Liebe und Gerechtigkeit, von »Fundament« in Beziehung auf Schönheit und Kraft. Nehmen wir aber noch hinzu, daß das höchste Verbindungs prinzip jeder Dreiheit doch wieder nur in seiner reinen Positivität, also in dem jeweiligen Prinzip der rechten Seite zu suchen ist, so ergibt sich eine noch vertieftere Anschauungsweise dieser Gliederung. Und daß schließlich innerhalb derselben auch wie der die mittlere Triade für den Sinn des ganzen Weltenorganis mus die zentralste ist, kommt darin zum Ausdruck, daß die drei Säulen, welche die vertikale Dimension des Baumes bilden, nicht bloß als rechte, linke und mittlere, sondern geradezu als »Säulen der Liebe«, der »Gerechtigkeit«, des »Erbarmens« bezeichnet werden. Verschiedene Namen und Bilder wollen diese Verhältnisse der geistigen Anschauung näher bringen. So wenn die Polarität der rechten und linken Seite hie und da durch das Bild zweier Wagschalen bezeichnet wird, welche eine in der Mitte wirkende Macht im Gleichgewicht hält. Der Gleichgewichtszustand ist überhaupt das Kennzeichen einer Welt, die »Bestand hat«, im Gegensätze zu anderen, vorausgegangenen Welten oder Welt möglichkeiten. Ein die ganze Soharliteratur in zahlreichen Varia tionen durchziehendes Symbol ist jenes der Geschlechter. Im mer gilt das positive Prinzip (also auch dasjenige der Liebe) als das männliche, das negativ gerichtete (also auch dasjenige der richtenden Gerechtigkeit) als das weibliche. In diesem Symbole treffen sich aber die Gegensätze von Rechts und Links mit jenen von Oben und Unten. Aber selbst scheinbar so nichtssagende Bezeichnungen wie die der rechten und linken Seite wollen im Sinne der Kabbala als mehr denn bloße Namen genommen werden. Denn auch die anscheinend indifferenten Gegensätze des Raumes leiten, wie das Buch Jezira ahnen läßt und wie sich aus der alten Bezeich nung Gottes als »Ort« (Makom) ergibt, ihren letzten Ursprung aus der schöpferischen Polarität des geistigen Daseins. Hier ergibt sich aber noch eine höchst bedeutsame, ja im Zusam menhang der kabbalistischen Lehre geradezu fundamentale An knüpfung und Unterscheidung. Was wir nämlich als den Ur grund des Bösen bezeichnen, muß, wie in Bezug auf die Negation 23
Die Schechina
überhaupt schon angedeutet, ursprünglich schon im linken Prin zip veranlagt sein, kommt aber erst dadurch zur Entstehung, daß dieses von seinem Zusammenhang mit dem rechten, von seinem positiven Sinn gleichsam, der im rechten Prinzip gelegen ist, sich losreißt und verselbständigt. Hier haben wir das universal kosmische Bild dessen, was z. B. im Christentum als »Abfall der Erzengel« bezeichnet wird. Erst durch diesen Abfall geht aus der »linken Seite« die »andere Seite« hervor, als welche alles Böse, Daseinsfeindliche erkannt wird. Diesen dämonischen Mächten gegenüber erfüllt der Mensch, der einstmals selber durch sie seiner Lichtmacht beraubt wurde, jene Weltmission, welche zugleich für ihn Erlösung und Aufstieg bedeutet. Die biblische Geschichte liefert dem Sohar hierfür das einzige große weltgeschichtliche Beispiel, bis ins Einzelne hinein Ereig nis, Symbol und höheres Geschehen zugleich. So sind zum Beispiel die Stammväter zugleich Weltpotenzen; Israel hingegen bildet den Ausdruck der sich heiligenden Menschheit, als Hüter des »treuen Zusammenhangs«, der im »Bunde« begründet, in der Offenbarung befestigt und in der Gesamtheit des Kultlebens aufrechterhalten wird. Das uralte hermetische Prinzip, daß das Untere dem Oberen entspreche, wird zum Erklärungsgrund des Ritualgesetzes - auch über die Bibel hinaus - erhoben und dieses damit dem Sittengesetz, welches dasselbe Grundprinzip zum Ausdruck bringt, an die Seite gestellt. Im ganzen kosmischen Bild aber ist die Schechina als die Seele Israels in einen besonde ren Zusammenhang mit der Geschichte dieses Volkes gestellt, mit dem sie auch dann noch verbunden bleibt, als im Exil die Macht des Bundes sich unterbrochen, das väterliche Prinzip sich vom Volke abgewendet hat. Dieser Zusammenhang wird ver ständlich, wenn Israel als volklicher Repräsentant der Mensch heit betrachtet wird. Mag dem heutigen Bewußtsein diese Be schränkung des Blickes auf das eigene Volk anstößig erscheinen, sie entsprach der Tatsache, daß gerade Israel in besonderer Weise jenen in der biblischen Geschichte bezeichneten Verbindungsfa den mit der gesamten Urmenschheit in sich bewahrte und ver möge jenes »Bundes« die Idee und Realität eines erneuerten Menschentums (und nicht bloß Judentums) vorbilden konnte, die dann durch das Christentum auch wieder der Menschheit als 24
Absicht dieses Buches solcher zurückgegeben wurden. Für den Zukunftsaspekt der Menschheit jedoch gilt das gleiche Prinzip wie für den einzelnen Menschen, daß ihr Aufstieg von unten und oben bewirkt werden muß, indem die freien Impulse der aufstrebenden Menschenwelt die wirkenden Gnadenmächte von oben heranziehen. Noch bedürfen Absicht und Anlage vorliegenden Buches einiger aufklärender Bemerkungen. Es gibt bis heute noch keine voll ständige deutsche Übersetzung des Sohar; leider war es auch dem Verfasser dieses Buches nicht vergönnt, eine Gesamtübersetzung herzustellen. Er beschränkte sich darauf, im Verlaufe der Lektü re des Werkes eine größere Anzahl von Textstellen zu überset zen, wobei sich ungewollt eine Auswahl aus den verschiedenarti gen Themen ergab. Der vorliegende Band enthält Texte aus dem an die fünf Bücher Moses sich anschließenden Hauptteil. Nun erscheint allerdings schon durch die Herausnahme einzelner Stellen der bloß in weiten Abständen nach den üblichen Wo chenabschnitten der Thoravorlesung geteilte, sonst ganz unge gliederte Text künstlich zerlegt, doch können die hinzugefügten Titel zur Orientierung des Lesers einiges beitragen. Freilich können diese Titel, welche auf das Wesentliche hindeuten wol len, angesichts der Flüssigkeit des Diskurses auf ganz strenge Fixierung des Inhalts keinen Anspruch erheben; es konnte, da die Themen auf mannigfache Weise ineinander übergreifen, nicht auf alles Rücksicht genommen werden, was in noch höhe rem Grade von der Anordnung gilt. Bei den einzelnen Stücken sind links oben diejenigen Penta teuchstellen bezeichnet, an welche der Text fortlaufend sich anlehnt (außer bei denjenigen Stücken, welche zufällig keine solche Pentateuchstelle enthalten), rechts oben die originalen Soharstellen in der Numerierung der Wilnaer Ausgabe (Sefer haSohar, 3 Bde. 1882; fol. verweist auf die jeweilige Doppelseite). Bei der Übersetzung der Bibelstellen ergab sich häufig die Not wendigkeit, dies nach der Deutung des Sohar vorzunehmen, wobei dann die sonst übliche Übersetzung separat angeführt wurde. Textworte, die für die Übersetzung irrelevant erschei nen, sind in runde Klammern, notwendige Ergänzungen des Textwortes hingegen in eckige Klammern eingeschlossen. Aus lassungen sind durch Punkte bezeichnet. Die Anmerkungen bezwecken im allgemeinen keine inhaltliche 25
Zur Übersetzung
Kommentierung des Textes, außer bei solchen Stellen, wo die Deutung nicht aus dem Text oder aus der Einleitung gewonnen werden kann. Gewisse Schwierigkeiten ergaben sich für die Übersetzung ein zelner stereotyper Worte und Wendungen. Die althergebrachte Bezeichnung des göttlichen Wesens: »Der Heilige, Er sei geprie sen« wurde der Schwerfälligkeit wegen durch die der gleichen ehrfürchtigen Grundstimmung entsprechende Bezeichnung »der Allheilige« ersetzt. Das Tetragrammaton als solches wurde durch Schreibung der vier Buchstaben in der Form »jhwh« wiedergegeben, die in üblicher Weise Adonai gelesen wird. Statt der häufig wiederkehrenden Wendung: »Komme und schaue« ist das einfachere »siehe« oder »merke« gesetzt. Manche stereotype Benennungen wurden in wechselnden Zusammen hängen in verschiedener Weise, manche auch nur in ihrer ur sprünglichen Form wiedergegeben. So bedeutet z. B. der »Zaddik«, besonders in der Einzahl, im Sohar nicht dasselbe wie im späteren Chassidismus oder wie im Volksmund, er ist auch nicht einfach als der »Fromme« aufzufassen. Es ist damit manchmal geradezu das göttlich-menschliche Messiaswesen gemeint, manchmal allerdings der »fromme« oder »geläuterte« Mensch. Andere aus dunkler Symbolik bestimmte Ausdrücke bezeichnen teils das göttliche Wesen (der »Langgesichtige«, der »Alte der Tage«, der »heilige Alte«), teils Erscheinungsweisen desselben im Sinne der verschiedenen Sefirotstufen. Als »treuer Hirte« hingegen ist Moses, als »heilige Leuchte« Schim’on ben Jochai gemeint. Der Ausdruck »Friede« (Schalom) steht im Hebrä ischen dem Begriff der harmonischen Vollkommenheit nahe. Endlich bezeichnet der Name »Thora« nicht bloß die ganze Bibel, sondern die Lehre überhaupt, zugleich als Inbegriff der substantiell gefaßten geistigen Weisheit.
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Offenbarung der Geheimnisse III. fol. 127b-128a
Idra rabba
OFFENBARUNG DER GEHEIMNISSE SCHIM'ON BEN JOCHAI UND SEINE SCHÜLER
Es sprach Rabbi Schim’on zu den Gefährten: »Wie lange noch werden wir sitzen auf einem Grund, den eine Säule trägt? Es steht geschrieben: >Zeit ist’s der Tat für jhwh, gebrochen haben sie Deine Lehre< (Psalm 119,126). Der Tage sind wenige, der Gläubiger drängt und jeden Tag ergeht der Ruf; aber die »Schnit ter des Feldes« [d. h. die Eingeweihten] sind gering an Zahl, und sie stehen nur am Rande des Weinbergs. Sie schauen nicht und wissen nicht, wohin die Richtung führt. So sammelt euch, Gefährten, in der großen Halle, fürstlich gewandet, mit Waffen gegürtet. Und seid bedacht in eurer Läuterung, in Beratenheit, in Weisheit, in Verstand, in Erkenntnis wie im hellen Schauen, und in der Hände und Füße Tat! Und wählet zum König auch den, der über Leben und Tod Befugnis hat, den, der das Gericht verhängt! Übt euch, Worte entscheidend zu prägen, wie ihnen der Höhe heilige Wesen lauschen, die sich des Hörens und Erkennens freuen!« Und Rabbi Schim’on saß und weinte und sprach: »Wehe, wenn ich Geheimnisse enthülle, und wehe, wenn ich sie nicht enthül le!« Aber die Gefährten, welche anwesend waren, schwiegen. Nur Rabbi Abba erhob sich und sprach: »Wenn es dem Meister gefällt, sei auf den Schriftsatz hingewiesen: »Das Geheimnis jhwhs ist für jene, die Ihn fürchten« (Psalm 25,14). Und diese Freunde sind ja Gottesfürchtige, sie sind eingetreten in die Halle der göttlichen Wohnstatt. Manche sind eingetreten und manche wiedergekommen.« Es wurden aber dazumal die Gefährten des Rabbi Schim’on gezählt. Es waren Rabbi Eleasar, sein Sohn Rabbi Abba, Rabbi Jehuda, Rabbi Josse, der Sohn Jakobs, Rabbi Jizchak, Rabbi Chiskija, der Sohn des Raw, Rabbi Chija, Rabbi Josse und Rabbi Jesse. Alle gaben sie die Hand dem Rabbi Schim’on und richteten die Finger in die Höhe, betraten den Platz zwischen den Bäumen und setzten sich. Nur Rabbi Schim’on erhob sich und sprach ein Gebet. Dann setzte er sich zwischen sie und sprach: »Es lege 27
Schim’on hen Jochai und seine Schüler
jeder von euch seine Hand auf meine Knie.« Sie taten also und er ergriff ihre Hände. Dann begann er mit dem Schriftsatz: »Verflucht der Mann, der ein gehauenes oder gegossenes Götzenbild errichtet, ein Werk von Künstlerhand, und stellt es im geheimen auf. Darauf falle das ganze Volk ein und spreche Amen« (5. Moses 27,15). Und weiter zog Rabbi Schim’on den Satz heran: »Zeit ist’s der Tat für jhwh« (Psalm 119,126). Warum ist es Zeit? Weil »sie gebrochen haben Deine Lehre«. Nämlich die höhere Lehre, welche sich in nichts verliert, wenn nicht für ihre Steigerung gewirkt wird. Die Worte meinen den »Alten der Tage«. Geschrieben steht: »Heil dir, Israel, wer ist wie du?« (5. Moses 33,29), ganz entsprechend den Worten: »Wer ist wie Du unter den Starken, jhwh?« (2. Moses 15,11). Dann rief Rabbi Schim’on seinen Sohn Eleasar, hieß ihn vor sich sitzen und Rabbi Abba von der andern Seite und sprach: »Wir sind der Inbegriff von allem. Bis zu dieser Zeit sind die Säulen festgestellt.« Alles verstummte. Dann hörten sie eine Stimme, daß ihre Knie aneinanderschlugen. Was für eine Stimme war es? Die Stimme der himmlischen Versammlung. Rabbi Schim’on aber ward von Freude ergriffen und rief: »jhwh, ich habe Dein Hören gehört und ehrfürchte, jhwh, Dein Wirken« (Habakuk 3,2). Und setzte hinzu: »Dort war die Furcht am rechten Platz. Wir aber stehen mit dem Wort im Zeichen der Liebe. Wie es heißt: »Und du sollst lieben jhwh, deinen Gott«, und ferner: »Von der Liebe jhwhs zu euch . . .« (5. Moses 6-8) und wiederum: »Ich liebe euch, spricht jhwh« (Maleachi 1,2). Dann begann Rabbi Schim’on und sprach: »Wer als Verleumder umgeht, verrät das Geheimnis, und wer treuen Geistes ist, verbirgt die Sache« (Sprüche 11,13). »Wer als Verleumder umgeht« - warum heißt es nicht einfach: der Ver leumder? Und wer ist es, von dem gesagt wird, daß er »umgehe« ? Wer nicht beruhigt ward im Geiste und nicht das Band des Glaubens hat, in ihm treibt ein Wort, das er gehört, nur Wirbel auf, wie ein Kreis im Wasser, bis es wieder hinausgedrängt ist. Aus welcher Ursache? Weil sein Geist kein Geist der Beständig keit ist. Wessen Geist aber Beständigkeit hat, von dem gelten die Worte: »Wer treuen Geistes ist, verbirgt die Sache.« Denn der treuen Geistes ist, bildet den Bestand des Geistes. Vom Geiste aber hängt das Wort ab. Und so heißt es: »Gib deinen Mund 28
Gleichnis von der Rose nicht her, dein Fleisch in Sünde zu bringen« (Kohelet 5,5). Es ist aber der Welt kein Bestand als durch das Geheimnis. Wenn nun die Worte der Welt des Geheimnisses bedürfen, um wieviel mehr die Worte der Geheimnisse des »Alten der Tage« selber, die nicht einmal den himmlischen Boten anvertraut sind.« Und Rabbi Schim’on sprach die Worte: »Dem Himmel sag’ ich nicht, daß er lausche, noch der Erde, daß sie horche, denn wir sind Säulen der Welten.« Und wir haben es als tiefstes Geheimnis erfahren, daß, als Rabbi Schim’on seinen Mund öffnete, der Ort erschwankte und die Gefährten erzitterten.
I. fol. la
GLEICHNIS VON DER ROSE
Rabbi Chiskija begann mit den Schriftworten: »Wie die Rose zwischen den Dornen . . .« (Hohelied 2,2). Wer ist die »Rose«? Die Gemeinschaft Israels. Und was bedeutet: »eine Rose zwi schen den Dornen?*. In ihr ist Rot und Weiß - so auch in der Gemeinschaft Israels »Strenge« und »Liebe«. An der Rose sind dreizehn Blätter, ebenso an der Gemeinschaft Israels dreizehn Eigenschaften der Liebe', die sie von allen Seiten umkreisen. So gehen denn auch von der ersten Erwähnung des Namens »Elohim« dreizehn Worte aus, die Gemeinschaft Israels zu umkreisen und zu behüten - bis zur zweiten Nennung. Was ist der Sinn der zweiten Nennung? Daß auf die fünf starken Kelchblätter hinge wiesen sei, welche die Rose umschließen: sie heißen die fünf Heilesweisen und bilden fünferlei Tore. Auf dieses Geheimnis weist der Satz: »Den Kelch der Heilesweisen erhebe ich« (Psalm 116,13). Das ist der Kelch des Segens. Und dieser Kelch bedarf fünf umschließender Finger und nicht mehr - gleichwie auch die Rose auf fünf starken Blättern sitzt, in der Form von fünf Fingern. So bedeutet die Rose den Kelch des Segens. Und es sind auch fünf Worte vom zweiten zum dritten »Elohim«. Da erst wird vom Licht gesprochen, das erschaffen und sogleich verbor gen wurde und beschlossen in jenem Bunde, der in die Rose 1 Gemeint sind die dreizehn »Eigenschaften« Gottes (nach 2. Moses 34,6,7).
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Gleichnis von der Rose
einging und fruchtbaren Samen in sie strömen ließ. Darum heißt es: »Ein Baum, der Frucht bereitet, worinnen der Same bleibt.« Der Same erhält seinen Bestand durch das Bundeszeichen selber. Wie das Urbild des Bundes samend fruchtbar wird durch zwei undvierzig Paarungen, so wird der göttliche Name in seiner Einprägung fruchtbar in zweiundvierzig Zeichen des Schöp fungswerkes.
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PREIS DER THORA
Die 72 Namen Gottes
Die 72 Namen Gottes in der Figur einer symbolischen Sonnen blume. Aus: Athanasius Kircher, Oedipus Aegyptiacus. Rom 1652 - »In zweiundsiebzig Lichtern erhebt sich die Krone aller Heerscharen ...» (l.fol. 229 a-b). 32
Die Schöpfermacht des Thoratvortes I. fol. 4b-5a
DIE SCHÖPFERMACHT DES THORA WORTES
Rabbi Schim’on begann mit dem Schriftsatz: »und Ich lege Meine Worte in deinen Mund« (Jesaia 51,16). Wieviel muß sich der Mensch in der Thora mühen Tag und Nacht, auf daß der Allheilige auf die Stimme derer höre, die sich mit der Thora befassen. Aus jedem Worte aber, das sich erneut durch jene, die sich in der Thora mühen, erschafft Er einen Himmelsraum. So haben wir gelernt: In jener Stunde, da ein Wort der Thora sich erneut aus dem Munde eines Menschen, steigt es auf und stellt sich vor den Allheiligen. Und der Allheilige nimmt das Wort, küßt es und krönt es mit siebzig Kronen aus geprägten und gemeißelten Zeichen. Das Wort höherer Weisheit aber, das sich erneut hat, steigt auf und weilt zu Häupten des Zaddik, des ewig Lebenden, fliegt aus von da und schwebt durch siebzigtausend Welten und steigt auf vor den »Alten der Tage« (vgl. Daniel 7,9). Alle Worte aber des Alten der Tage sind Worte der Weisheit, in verborgenen höheren Geheimnissen stehend. Und jenes ver schlossene Weisheitswon, das sich jetzt erneut hat, verbindet sich, wenn es aufgestiegen ist, mit jenen Worten des Alten der Tage, steigt auf und nieder durch Ihn und geht ein in achtzehn verborgene Welten, die »kein Auge sah, als Du, o Gott, allein« (Jesaia 64,4). Und gehen von dort aus und wandern und kommen voll und vollendet und stellen sich wieder vor den Alten der Tage. In dieser Stunde empfängt der Alte der Tage den Duft des Wortes und hat an ihm mehr Wohlgefallen als an allem. Und Er nimmt das Wort und schmückt es mit dreihundertsiebzigtausend Kronen. Und das Wort schwebt und steigt auf und nieder und es wird aus ihm ein neuer Himmelsraum. So verwandeln sich Wort um Wort der Weisheit in Himmelsräume, die ständig bestehen bleiben vor dem Alten der Tage, und Er nennt sie »neue Him mel«, erneuerte Himmel, verborgen in Geheimnissen höherer Weisheit. Aber auch alle jene anderen Worte der Thora, die sich erneuern, erhalten Bestand vor dem Allheiligen, steigen auf und es werden daraus »Erden des Lebens« (Psalm 116,9), und steigen nieder und erherrlichen sich hin nach einer Erde, die sich erneut, 33
Die Thora als Gottesname, als Freiheit, als rechte Seite
und es wird alles durch jenes Wort, das sich in der Thora erneut hat, zu einer neuen Erde. Davon ist gesagt, »Denn wie der neue Himmel und die neue Erde, die Ich erschaffe, vor Mir stehen« (Jesaia 66,22); . . . »Die Ich erschaffe« und nicht: »Die Ich erschaffen habe«, denn Er erschafft sie beständig aus jenen Erneuerungen und Geheimnissen der Thora, und darum heißt es: »Und Ich lege Meine Worte in deinen Mund, und mit dem Schatten Meiner Hände decke Ich dich, um Himmel zu pflan zen« (Jesaia 51,16) - nicht »den Himmel« - »und Erde zu gründen.«
4. Moses 16,1
III. fol. 176a
DIE THORA ALS GOTTESNAME, ALS FREIHEIT, ALS RECHTE SEITE
KORACHS VERWIRRUNGSTAT
»Und es nahm Korach, Sohn Jizhars, des Sohnes von Kehath, dem Sohne Levis . . .« (Psalm 19,11). Rabbi Abba begann: »Die lieblicher sind als Gold und reicher Goldesfluß, süßer als Honig und Seim . . .« Wie erhaben sind die Sätze der Thora! Sie lenken die Sehnsucht zur Höhe, sie lenken die Sehnsucht zur Allheit, weil sie selbst der heilige Name sind; und wer sich um die Thora müht, müht sich um den heiligen Namen. So wird er gerettet von allem, in dieser wie in der kommenden Welt. Siehe: Wer sich um die Thora müht, ergreift den Baum des Lebens und damit die Allheit - wie es heißt: »Baum des Lebens ist sie denen, die sie fest ergreifen« (Sprüche 3,18). Rabbi Jizchak sagte: Wer sich um die Thora müht, hat die Freiheit gewonnen, Freiheit von allem, Freiheit vom Tode. Hätte Israel sich mit der Thora verschönt, es wäre von allem gerettet und befände sich nicht in der Verbannung. Und dies ist es, was geschrieben ist: »Gemeißelt auf die Tafeln« (2. Moses 32,16), lies nicht »gemeißelt«, sondern »Freiheit«, denn die Freiheit ist in der Thora enthalten. Die Thora ist die Macht der rechten Seite - weshalb es heißt: »Von Seiner Rechten ist ihnen das Feuer des Gesetzes« (5. Moses 33,2): so vollendet sich die 34
Korachs Verwirrungstat linke an der rechten. Wer aber die rechte Seite zur linken macht und die linke zur rechten, ist als ob er eine Welt zerstörte. Und merke: Ahron ist die Rechte, Levi die Linke. Korach aber wollte die Rechte mit der Linken verwechseln - deshalb wurde er bestraft. Aber weil er auch noch die böse Zunge hatte, wurde er an allem bestraft. Rabbi Jehuda sagte: Die Linke vollendet sich immer an der Rechten. Korach aber wollte das Heileswerk des Oberen und Unteren verwechseln, deshalb erfuhr er Vernich tung von oben und von unten. »Und es nahm Korach . . .« Was nahm er? Er nahm bösen Rat für sich selbst. Denn wer dem nachjagt, was nicht das Seine ist, muß schließlich auch das Seine verlieren, ohne das andere zu gewinnen. Korach ging in den Streit ein. Was für eine Art des Streites? Zwietracht: Die Zwie tracht des Oberen und Unteren. Wer aber die Zwietracht brin gen will in das Heileswerk der Welt, wird aus allen Welten vernichtet. Die Zwietracht gegen den Frieden: Wer aber gegen den Frieden die Zwietracht setzt, setzt Zwietracht gegen den heiligen Namen, weil der heilige Name »Friede« geheißen ist. Und siehe: Die Welt hat nur durch den Frieden Bestand. Als der Allheilige die Welt erschuf, konnte sie nicht bestehen, bis der Friede kam und über ihr waltete. Was ist dieser Friede? Der Sabbat, die Harmonie des Oberen und Unteren. So bekam die Welt Bestand, und wer den Sabbat bestreitet, wird aus der Welt vernichtet. So war es mit Zelophchad, welcher »Hölzer sammel te«. Was sind diese Hölzer? Andere Bäume [als der Lebensbaum] - wie gesagt wird, daß es Bäume der Werktäglichkeit waren, die im Heiligen nicht herrschen soll. So bestritt er den Frieden der Welt. Rabbi Josse sagte: Es ist geschrieben: »Friede viel denen, die Deine Thora lieben« (Psalm 119,165). Die Thora ist der Friede, denn es heißt von ihr: »Und all ihre Pfade Friede« (Sprüche 3,17). Korach aber kam, den Frieden des Oberen und Unteren zu verletzen, darum erfuhr er Strafe von oben und von unten.
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Untere und obere Thora - Thora und Erschaffung des Menschen 1. Moses 27,22
I. fol. 151a
DIE UNTERE UND DIE OBERE THORA
Solange die Thora in der Welt ist, hat die Welt Bestand, weil die Thora der Baum des Lebens ist, durch den sie Bestand hat. Solange die Thora unten wach erhalten wird, weicht der Baum des Lebens nicht von oben. Wird die Thora unten unterbrochen, dann kann sich der Baum des Lebens aus der Welt entfernen. Solange daher die Weisen an der Thora ihre Wonne haben, hat Samael keine Macht, denn es ist geschrieben: »Die Stimme ist die Stimme Jakobs und die Hände sind die Hände Esaus«1. Es ist die obere Thora, welche »Stimme Jakobs« genannt wird. Solange diese Stimme nicht unterbrochen wird, hat das Wort die Macht. Darum soll das Studium der Lehre niemals unterbrochen werden. III. fol. 35b-36a
DIE THORA UND DIE ERSCHAFFUNG DES MENSCHEN DIE GEBORGENHEIT IN DER THORA
Rabbi Jizchak begann mit dem Schriftsatz: »Wenn zusammen lobsingen die Morgensterne und aufjubeln alle Göttersöh ne .. .« (Hiob 38,7). Heil Israel, dem der Allheilige die heilige Thora gegeben hat, die Wonne des Alls, Wonne des Allheiligen und Sein vergnüglich Spiel. Wie geschrieben ist: »Und ich bin Ihm vergnüglich Spiel Tag für Tag« (Sprüche 8,30). Die ganze Thora ist nur ein heiliger Name des Allheiligen, und mit der Thora wurde der Mensch erschaffen. Wie es heißt: »Und es sprach Gott: wir wollen einen Menschen machen« (1. Moses 1,26). So sprach der Allheilige zur Thora: Wir wollen einen Menschen machen. Und die Thora antwortete: Dieser Mensch wird vor Dir sündigen und Dich zum Zorne reizen, wenn Du 1 Hinweis auf die reine Scheidung der Regionen.
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Die Geborgenheit in der Thora nicht Langmut übst. Wie kann er in der Welt bestehen? Sprach der Allheilige: Ich und du, wir werden ihn in die Welt stellen, denn nicht zum Schimpf bin Ich langmütig genannt. Rabbi Chija sprach: Die schriftliche und die mündliche Lehre haben dem Menschen in der Welt Bestand gegeben, wie es heißt: »In unserem Ebenbilde, nach unserem Gleichnis« (1. Moses 1,26). Rabbi Jizchak folgert es aus den Worten: »den sie [schon] gemacht haben« (Kohelet 2,12). Und dies ist auch die Zweiheit von Bild und Gleichnis: Bild im Männlichen, Gleichnis im Weiblichen, und deshalb beginnt die Thora mit dem Buchstaben der Zweiheit. Rabbi Jizchak sagte: Warum ist das Beth geöffnet und geschlos sen? Es verhält sich dies so, daß in der Stunde, wenn der Mensch sich mit der Thora zu verbinden kommt, sie geöffnet ist, ihn aufzunehmen und mit ihm Gemeinschaft zu machen. Wenn aber der Mensch vor ihr seine Augen verschließt und andere Wege geht, dann ist sie vor der »anderen Seite« verschlossen. Weshalb es heißt: »Wenn du einen Tag Mich verlassest, so verlasse Ich dich zwei Tage.« Der Mensch findet den Eingang nicht, bis er Umkehr tut, sich mit der Thora Angesicht zu Angesicht zu verbinden, dann kann er sie nicht vergessen. Deshalb öffnet sich die Thora vor den Menschenkindern und ruft ihnen zu: »Zu euch, ihr Menschenwesen, rufe ich« (Sprüche 8,4), und ferner: »An der Spitze der lärmenden Straßen ruft sie, an den Eingängen der Tore in der Stadt spricht sie ihre Worte« (Sprüche 1,21). Rabbi Jehuda sagte: Zwei Striche sind [am Beth] zu sehen und einer, der sie verbindet: einer für den Himmel und einer für die Erde, und der Allheilige faßt sie zusammen. Rabbi Eleasar sagt: Drei obere, heilige Lichtströme sind da in eins gefaßt, sind die Zusammenfassung der Thora, die schaffen Öffnung für alle: Öffnung dem treuen Zusammenhang, dadurch bilden sie das Haus für alles und werden deshalb »Haus« genannt. Aus diesem Grunde beginnt die Thora mit dem Namen des »Hauses«, weil in ihm das Heil der Welt gelegen ist. Wer daher um die Thora sich müht, ist, als ob er um den heiligen Namen sich mühte, und so wird gesagt, daß die ganze Thora ein heiliger, oberer Name sei. Und weil sie ein heiliger Name ist, beginnt sie mit dem Beth, das den heiligen Namen mit drei Knoten der Treue bindet. Und merke: Alle, die sich um die Thora mühen, erlangen 37
Die Geborgenheit in der Thora - Der Thora Liebesoffenbarung
Verbindung zum Allheiligen, sie erherrlichen sich an der Schön heit der Thora und finden Liebe nach oben und unten, der Allheilige streckt ihnen die Rechte zu. Um so mehr, die sich nachts mit der Thora befassen, von ihnen hörten wir, daß sie an der Schechina Anteil haben und sich zur Einheit verbinden. Und wenn der Morgen kommt, verschönt sie der Allheilige durch einen Faden der Liebesgnade, daß sie bekannt werden bei den Oberen und Unteren. Und alle die Morgensterne, in der Stunde, wenn die Gemeinschaft Israels und alle die der Thora Ergebenen kommen, sich vor dem König zu zeigen, dann singen sie zusam men Lobgesänge, wie es heißt: »Wenn zusammen lobsingen die Morgensterne und aufjubeln alle Göttersöhne«.
II. fol. 99a-b
DER THORA LIEBESOFFENBARUNG
Wieviele der Menschen leben in Verwirrung und Torheit und schauen nicht den Wahrheitsweg der Thora! Und die Thora ruft ihnen doch liebend Tag für Tag, und jene wollen nicht das Haupt zu ihr kehren. Freilich, ein Wort entläßt die Thora aus ihrem Schrein nach außen; läßt wenig nur schauen und verbirgt sich sogleich. Und wenn sie aus ihrem Schreine ein Wort für einen Augenblick enthüllt, dann nur denen, welche es kennen und erkennen können. Vergleiche es einer Geliebten, schön an Er scheinung und lieblich an Wuchs, die sich in ihrer Kammer verbirgt. Sie hat einen einzigen Freund, von dem die Menschen nicht wissen, ganz im Verborgenen. Aus Liebe umwandert er immer das Tor ihres Hauses, nach allen Seiten die Augen gerich tet. Und da sie weiß, wie der Geliebte das Tor umkreist, was tut sie? Sie öffnet den Eingang der verborgenen Kammer, enthüllt für einen Augenblick das Antlitz dem Geliebten, verbirgt es wieder. Keiner sah es und nahm es wahr, nur der Geliebte allein, dessen Eingeweide und Herz und Seele es nach ihr zog. Und weiß, daß aus Liebe sie einen Augenblick sich ihm enthüllte. So offenbart sich das Wort der Thora nur dem Geliebten. Es weiß die Thora, daß der Herzensweise täglich ihres Hauses Tor umkreist. Was tut sie? Sie enthüllt ihm aus der Kammer ihr 38
Der Thora Liebesoffenbarung Antlitz und winkt ihm zu und kehrt zurück und birgt sich wieder. Keiner weiß es, nur jene allein, deren Eingeweide und Herz und Seele es nach ihr zog. So offenbart sich und verhüllt sich wieder die Thora dem Freunde, nur um ihm ihre Liebe zu bezeigen. Und merke: So ist der Weg der Thora. Im Anfang, wenn sie sich dem Menschen enthüllen will, gibt sie ihm einen Wink, ob er es gut verstehe, und wenn nicht, sendet sie zu ihm und heißt ihn »Tor«. Und heißt dem Toren sagen, daß er zu ihr komme und sie mit ihm sich vergnüge. Wie geschrieben ist: »Wer töricht ist, kehre hierher ein, wer kein Herz hat - sie spricht zu ihm« (Sprüche 9,4). Kommt er aber zu ihr, dann beginnt sie, mit ihm zuerst hinter dem Vorhang zu sprechen, den sie ausgebreitet hat: Worte, seiner Art entsprechend, bis er ein weniges gewahren kann - das heißt dann »Derascha«. Und weiter spielt sie mit ihm unter einem dünnen Mantel mit Rätselworten, und dies ist »Haggada«. Erst wenn er an sie gewöhnt wird, eröffnet sie sich ihm Angesicht zu Angesicht und spricht mit ihm über alle ihre verborgenen Geheimnisse und alle verborgenen Wege, die seit Urzeit in ihrem Herzen sind. Wird dann der Mensch erst in Vollkommenheit ein Vermählter der Thora, dann offenbart sie ihm alle ihre Geheimnisse, nichts fernend oder bergend vor ihm. Und spricht: Du siehst das Wort, das ich dir erst in feinem Winke zugewinkt, Geheimnisse so und so. Nun sieht er, daß diesen Worten nichts hinzuzufügen, von ihnen nichts wegzunehmen ist. So ist der wahre Sinn der Thora, daß auch nicht ein Zeichen ihr zugetan, von ihr hinweggenommen werden darf. Darum wollen die Menschen dessen achtsam sein, der Thora nachzufol gen, daß sie Geliebte der Thora seien.
III. fol. 152a KLEID UND WESEN DER THORA
Rabbi Schim’on sprach: »Wehe dem Menschen, welcher meint, daß die Thora uns Erzählungen der Welt, törichte Geschichten erzählen will. Denn wäre dem so, dann vermöchten wir eine 39
Kleid und Wesen der Thora andere Thora zu verfassen mit mehr solchen törichten Geschich ten. Ginge es nur um Dinge der Welt, dann gibt es selbst in den profanen Büchern schönere Dinge, dann gehen wir in ihren Spuren und machen aus ihnen eine ähnliche Thora. Vielmehr sind alle Worte der Thora höhere Worte, höhere Geheimnisse. Denn siehe: Die obere und untere Welt sind in ein Gleichgewicht gestellt, Israel unten, die himmlischen Engel oben. Von den letzteren heißt es: »Er macht zu Seinen Boten Geister« (Psalm 104,4). Wenn diese nun herabsteigen, umkleiden sie sich mit der Hülle dieser Welt, sonst könnten sie in dieser Welt nicht beste hen und die Welt vermöchte sie nicht zu tragen. Ist dies bei den Engeln so, um wieviel mehr bei der Thora, welche sie erschaffen, welche alle Welten erschaffen und ihnen Bestand gegeben hat. Wenn sie also in diese Welt eintritt, würde sie sich da nicht mit den Hüllen dieser Welt umkleiden, sie könnte sie nicht tragen. So ist denn die Erzählung der Thora ihr Gewand. Wer da glaubte, daß dieses Gewand die eigentliche Thora sei und nicht etwas anderes, Fluch über ihn, der hat keinen Anteil an der künftigen Welt. Darum sagte David: »Eröffne mein Auge, daß ich Wunder aus Deiner Thora erblicke« (Psalm 119,18): was unter der Hülle der Thora ist. Denn siehe: Es gibt Umhüllungen, die allen sichtbar sind, und jene Toren, wenn sie einen Menschen in einer Umhüllung sehen, die ihnen gefällt, dann schauen sie nicht weiter. Aber die Wichtigkeit des Gewandes liegt im Körper und die Wichtigkeit des Körpers in der Seele. So hat auch die Thora einen Körper, das sind die Gesetze, welche der Leib der Thora genannt werden. Dieser Leib der Thora umkleidet sich mit den Hüllen, welche die Erzählungen aus dieser Welt bilden. Toren, welche nur dies Gewand betrachten, das von der Erzählung der Thora gebildet wird, wissen nicht weiter und betrachten nicht, was unter dieser Hülle wohnt! Diejenigen aber, welche mehr wissen, betrachten nicht die Hül le, sondern den Leib unter ihr. Die Weisen, die Diener des oberen Königs, jene, welche auf dem Berge Sinai gestanden haben, betrachten die Seele, die der Kern von allem ist, die ureigentliche Thora. Und in der Zukunft werden sie an der Thora die Seele der Seele schauen. Merke: In solcher Art gibt es auch im Oberen Hülle und Leib und Seele und Seele der Seele. Die »Himmel und ihr Heer« sind 40
Vom Allgemeinen und vom Bestimmten die Hülle, die »Gemeinschaft Israels« der Leib, welcher die Seele aufnimmt; die Seele, welche »die Herrlichkeit Israels« genannt wird, ist die eigentliche Thora. Die Seele der Seele aber, das ist der »heilige Alte«. Und alles ergreift eines das andere. Wehe jenen Sündern, welche die Thora nur für weltliche Erzählung halten, sie betrachten nur die Hülle und nichts mehr! Heil jenen Frommen, welche die Thora richtig betrachten!«
2. Moses 27,10
II. fol. 176a-b
VOM ALLGEMEINEN UND VOM BESTIMMTEN
»Die Spangen der Säulen und ihre Verbindungen Silber.« Rabbi Jizchak sagte: Unter »Spangen der Säulen« verstehe ich alle jene, die erfaßt sind von den Verknüpfungen der oberen »Ständigen«, und alle unteren, die von jenen abhängen, werden Verbindungen genannt. Was bedeutet das Wort Spange (V/aw)~i Sechs in sechs erfaßt und getränkt vom Mark der Wirbelsäule darüber. Und im »Buch der Verborgenheit« haben wir gelernt: Verbindungsspan gen oben, Verbindungsspangen unten, alles in einem Gleichge wicht. Rabbi Schim’on sagt von diesem Buche, es enthalte fünf Abschnitte1, die umfaßt sind von einer mächtigen Halle und die ganze Erde erfüllen. Sprach Rabbi Jehuda: Wenn diese dort eingeschlossen sind, sind sie denn vorzüglicher als alle anderen? Erwiderte Rabbi Schim’on: So ist es für denjenigen, der dort einund ausgeht, nicht aber für denjenigen, der nicht ein- und auszugehen vermag. Man nehme ein Gleichnis von einem Men schen, der zwischen den Bergen seinen Wohnsitz hat und nichts weiß vom Wohnen in der Stadt. Ein solcher Mensch sät Weizen und ißt die Weizenkörner als solche. Eines Tages kam er in die Stadt, da brachte man ihm feines Brot. Er fragte, wozu das diene, man sagte ihm: zum Essen. Nachdem er es gegessen und es ihm 1 Das »Buch der Verborgenheit«: Sifra di-Zeniutha, schließt sich an dieses Stück unmittelbar an (siehe später), das also als ein Auftakt zu demselben erscheinen kann. Das Buch enthält wirklich fünf Abschnitte und auch die zitierte Wendung.
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Vom Allgemeinen und vom Bestimmten
wohlgeschmeckt hatte, fragte er: Woraus ist das gemacht? Man sagte ihm: Aus Weizen. Ein anderesmal brachte man ihm in Öl gebackene Kuchen. Er kostete und fragte: Woraus ist dies ge macht? Aus Weizen. Dann brachte man ihm königliche Fladen, in Honig und Öl gebacken. Er fragte: Und woraus ist dies gemacht? Man sagte ihm: Aus Weizen. Da rief er aus: Dann bin ich der Herr von all diesem, da ich den eigentlichen Inhalt all dieser Speisen: den Weizen selber esse. Mit dieser Meinung wußte er aber nichts von den Freuden dieser Welt, die gingen ihm verloren. So ist derjenige, der das Allgemeine aufnimmt und alle die einzelnen Freuden gar nicht kennt, die aus diesem Allgemeinen stammen.
I. fol. 141b
1. Moses 26,22
DIE ZWEIFACHE WEISHEIT
Rabbi Schim’on begann mit dem Schriftsatz: »Die Weisheiten raunen draußen, in den Weiten läßt sie ihre Stimme hören« (Sprüche 1,20). Dieser Satz schließt ein höheres Geheimnis ein. Warum nämlich »Weisheiten«? Eine obere große und eine untere kleine Weisheit, die in der oberen vollendet wird und diese herrscht in ihr. Was aber das Wort »draußen« betrifft, so merke: Die obere Weisheit, das ist die verborgenste von allen und nie gewußte, sie steht jenseits aller Offenbarung und von ihr ist gesagt: ». . . und kein Mensch erkannte ihres Wertes Maß« (Hiob, 28,13). Wenn sie sich leuchtend breitet, dann leuchtet sie im Geheimnis der künftigen Welt, denn die künftige Welt ward aus ihr erschaffen. Wie wir gelernt haben: Die künftige Welt ward erschaffen im Zeichen des Jod und so hat sich in ihr jene Weisheit verborgen. Und beide werden dann eine Einheit bilden, wenn alles bereitet sein wird im Geheimnis der künftigen Welt. So haben wir von der Wonne jenes Leuchtens gesprochen, das ganz in der Stille ist und niemals nach außen gehört wird. Dann aber geht von jener Stätte auch aus die Dreiheit von Feuer, Wasser und Luft; wie gesagt wurde, daß da eine Stimme sich 42
Die zweifache Weisheit
bildet, die nach außen geht und hörbar wird. Und von dort das Weitere wird »draußen« genannt; wenn nach innen alles unhör bare, ewige Stille ist, so ist jetzt draußen das Geheimnis hörbar. Von da an beginnt jenes Gebiet, wo der Mensch mitwirken kann am Weltenheil durch Tat und durch Frage [d. i. suchende Er kenntnis]. Was bedeutet aber jenes Wort: »in den Weiten«? Die »Weiten« bezeichnen jenen Himmel, in welchem alle leuchten den Sterne sind, er ist die Quelle jener Wasser, welche nicht versiegen. So wie es heißt: »Und ein Strom geht aus von Eden, um den Garten zu tränken« (1. Moses 2,10), das heißt: aus jenen Weiten. »Und dort läßt sie ihre Stimme hören«, eine obere wie eine untere, denn alles ist eines. In diesem Sinne auch sagte Salomo: »Richte draußen dein Werk und bereite dir Zukunft im Felde, und dann baue dein Haus« (Sprüche 24,27). Das erste entspricht den Worten: »Die Weisheiten raunen draußen«. Denn von da erhält des Menschen Heileswerk Bestand und ebenso das Wort der Frage, wie es heißt: »Denn frage doch nach den Urzeittagen, welche vor dir waren, von dem Tage, da Gott den Menschen auf der Erde erschaffen, und von einem Ende des Himmels zum anderen« (5. Moses 4,32). »Und bereite dir Zukunft im Felde«, das ist das Feld, welches jhwh gesegnet hat. Und endlich, daß der Mensch erkennen lerne das Geheimnis der Weisheit und sich selbst darinnen zur Vollendung bringe darauf deuten die Worte: »und baue dein Haus«, das ist die Seele des Menschen in seinem Körper, auf daß er sich veredle und zum vollkommenen Manne sich bilde. Im Hinblick darauf wird gesagt, daß Isaak in Schalem [d. i. Vollendung; als Ort das spätere Jerusalem] einen Brunnen grub. Dieses »Schalem« eben nannte er auch »Rechowot« (Weiten), in völlig entsprechender Weise. Heil jenen Frommen, deren Werke vor dem Allheiligen die Kraft haben, der Welt Bestand zu geben. Wie es heißt: »Die Gerechten werden die Erde bewohnen« (Sprüche 2,21), wofür es richtiger heißen soll: »Sie werden bewohnbar machen die Erde«.
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Von Ich, Freiheit und Thora 2. Moses 20,2
II. fol. 85a-b
VON ICH, FREIHEIT UND THORA
»Ich bin jhwh, dein Gott, der Ich dich herausgeführt habe aus dem Lande Mizrajim.« Rabbi Eleasar zog hier den Schriftsatz heran: »Höre, mein Sohn, die Zucht deines Vaters, und verlaß die Lehre deiner Mutter nicht!« (Sprüche 1,8). »Die Zucht deines Vaters« - das ist der Allheilige; »die Lehre deiner Mutter« - das ist die >Gemeinschaft Israels«. Was ist die Gemeinschaft Israels? Das Prinzip der »scheidenden Vernunft« - im Sinne der Wendung: »zu unterscheiden die Worte der scheidenden Vernunft« (Sprüche 1,2). Und so meinte auch Rabbi Jehuda: »Zucht deines Vaters«, das ist die »Weis heit«, »Lehre deiner Mutter« die scheidende Vernunft. Rabbi Jizchak aber sagte: Mit diesem und mit jenem ist nur dasselbe Ding gemeint. Denn wir haben gelernt: >Die Thora hat ihren Ausgang genommen von der oberen Weisheit.« Rabbi Josse aber sagte: Von der scheidenden Vernunft. Denn es heißt: »zu unter scheiden die Worte der scheidenden Vernunft« und dann: »ver lasse die Lehre deiner Mutter nicht!« Rabbi Jehuda aber sprach: Die Thora faßt beides: Weisheit und Vernunft in sich, wie gerade der obige Satz bezeugt. Und Rabbi Abba setzte hinzu: Sie faßt alles in sich, indem sie jene zwei in sich faßt, auch Liebe, richtende Strenge, Barmherzigkeit und jegliche Vollkommen heit. Denn wenn der König und die Matrone im Einklang sind, ist alles im Einklang. Rabbi Josse sprach: Das Wort »Ich« bezeichnet die Schechina, in dem Sinne, wie es heißt: »Ich will mit dir hinabsteigen nach Mizrajim« (1. Moses 46,4). Rabbi Jizchak sagte: Daß das »Ich« die Schechina ist, wird dadurch angedeutet, daß dieses Wort einen abschließenden Akzent trägt, »jhwh dein Gott«, das ist der Allheilige - wie es heißt: »Vom Himmel ließ Er dich Seine Stimme hören« (5. Moses 4,36). »Der Ich dich herausgeführt habe aus dem Lande Mizrajim«. Hier bezeichnet das erste Won: »Ascher« die Stätte, die alle glücklich preisen. Die Herausfüh rung aus Mizrajim aber bezeichnet das Jobeijahr. Wie wir gelernt 44
Von Ich, Freiheit und Thora
haben: Nach dem Prinzip des Jobeijahres zog Israel aus Mizrajim. Aus diesem Grunde wird in der Thora der Auszug aus Mizrajim fünfzigmal genannt. Fünfzig Tage verstrichen bis zur Empfängnis der Thora, fünfzig Jahre bis zur Befreiung aus der Knechtschaft. - »Aus dem Hause der Knechtschaft« - wie es heißt: »Er schlug alle Erstgeburt im Lande Mizrajim« (2. Moses 12,29). Auch haben wir gelernt: Es sind damit die »unteren Kronen« gemeint, welche die Ägypter abgöttisch verehrten. Wie es ein »oberes Haus« gibt, gibt es ein »unteres Haus«. Ein heiliges Haus oben, von dem es heißt: »Mit Weisheit wird ein Haus gebaut« (Sprüche 24,3) und ein unteres Haus, ein unheili ges, das »Haus der Knechte« genannt wird. Wir haben gelernt: Überall wo das Wort »Ich« ausgesprochen wird, sind all jene Gebote der Thora, welche sich im heiligen oberen König vereinigen, in diesem Worte zusammengefaßt. Wie wir auch gelernt haben: Alle Gebote der Thora haben ihre Einheit am Leibe des Königs, einige im Haupte, einige im Rumpf, einige in den Händen, einige in den Füßen, und keines, das aus dem Körper des Königs herausträte. Wer darum eines der Gebote der Thora verletzt, ist, als verletze er den Leib des Königs. Wovon es heißt: »Und sie zogen hinaus und sahen die Leichen der Männer, die an Mir gefrevelt haben« (Jesaia 66,24). An Mir leibhaftig. Wehe den Sündern, welche die Sätze der Thora übertreten - sie wissen nicht, was sie tun. Und so sagt Rabbi Schim’on: Jene Stätte, an der eine Schuld begangen wird, enthüllt selber diese Schuld. Und auch die Schuld, die wider den Allheiligen begangen wird, enthüllt der Allheilige, wie es heißt: »Es enthüllen die Himmel seine Versündigung und die Erde erhebt sich gegen ihn« (Hiob 20,27). »Die Himmel« - das ist der Allheilige und ebenso auch »die Erde«. So haben wir gelernt: Zunächst enthüllen die Himmel die Schuld des Menschen. So bald dies aber geschehen ist, übt die Erde Gericht an ihm. Wie es heißt: »Und die Erde erhebt sich gegen ihn«, um nämlich Gericht an ihm zu üben. Rabbi Josse sprach: Wir haben im Namen des Rabbi Schim’on gelernt: In der Stunde, da die Thora gegeben wurde, fanden sich Mutter und Söhne in vollendetem Einklang. Wie es heißt: »Die Mutter der Kinder freuet sich« (Psalm 113,9).
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SCHÖPFUNGSLEHRE WELTENPLAN
Die 22 Pfade der zehn Sefirot
Die zehn Sefirot sind durch 22 Pfade verbunden - entsprechend den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Diese Anzahl der wahren Wege ist vergleichbar den 22 Großen Arkanen des Tarot. 48
Das Licht des Urquells I. fol. 31b-32b DAS LICHT DES URQUELLS - DAS MITTLERWESEN
»Es sprach Gott: Es werde Licht - und werde Licht.«1 Das Sprechen kann nur an andere gerichtet sein. Und zwar ergeht das erste »werde« an die diesseitige, das zweite an die künftige Welt. Es ist dies das Leuchten, das der Allheilige im Uranfang schuf: genannt das Licht des Urquells23.Dieses Licht zeigte der Allheili ge dem Urmenschen und dieser schaute darin vom Anfang bis ans Ende der Welt. Desgleichen dem David, der dies in seinem Hymnus in den Worten bekannte: »Wie reich ist Dein Gut, das Du den Dich Ehrfürchtenden als Schatz bewahrt hust« (Psalm 31,20). Desgleichen auch dem Mose, der darin blicken konnte von Gilead bis Dan. Gott hatte es aber verborgen in Voraussicht der drei sündigen Geschlechter, die erstehen sollten: des Enosch, der Sündflut und des »Geschlechts der Entzweiung«2, damit sie es nicht mißbrau chen können. Und wieder gab Er es dem Mose, der die drei Monate nach seiner Geburt sich seiner bediente - darum heißt es: »Sie hütete ihn [wie einen Schatz] drei Monate lang.« Nach drei Monaten kam er vor Pharao - da nahm der Allheilige das Licht von ihm; bis er auf dem Berge Sinai stand, um die Thora zu empfangen, da kehrte ihm das Licht zurück und er konnte sich dessen alle Tage seines Lebens bedienen. Aus diesem Grunde vermochten die Kinder Israels nicht sich ihm zu nähern, bis er »einen Schleier über das Ange sicht zog« (2. Moses 34,35), so wie es heißt: »Sie fürchteten an ihn heranzutreten« (ibd. 34,30). Und er umhüllte sich mit dem Lichte wie mit einem Mantel, darum heißt es: »Er bedeckt sich mit Licht wie mit einem Kleide« (Psalm 104,2). 1 In der Wendung: »es werde Licht und ward Licht« gibt die völlige Gleichheitdes ersten und zweiten Teiles im Hebräischen dem Sohar die Möglichkeit, beide als Zukunft zu deuten. 2 Oder, was im Hebräischen dasselbe ist: des Auges (so Jean de Pauly). 3 In der rabbinischen Literatur ist mit diesem Terminus das Geschlecht des Turmbaues von Babel gemeint.
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Das Licht des Urquells
Also sprach Rabbi Jizchak: Das Licht, das der Allheilige im Schöpfungswerk geschaffen, sein Strahlen ging von Weitende zu Weitende und dann blieb es verborgen. Aus welchem Grunde? Damit die Sündigen nicht seiner genießen. Es bleibt aber bewahrt für die Frommen, so heißt es ausdrücklich: »Licht ist gesät für den Frommen und für die Geradherzigen Freudigkeit« (Psalm 97,11). So werden die Welten zur Veredlung kommen und schließlich zur Einheit. Aber bis zum Tage jener künftigen Welt bleibt es verborgen und verwahrt. Und jenes künftige Licht muß aus der Finsternis kommen, in deren Hüllenwesen es eingeprägt ist - indem jenes ursprünglich zurückgezogene Licht auf einem verborgenen Pfade sich ein prägte der »unteren Finsternis«, worinnen denn Licht zurück blieb. Diese »untere Finsternis« ist es, welche »Nacht« (Laila) genannt ist, so wie es heißt: »und die Finsternis rief er Laila« (1. Moses 1,5). Hierauf bezogen haben wir auch den Schriftsatz deuten gelernt: »Er offenbart Tiefen aus der Finsternis« (Hiob 12,22). Sprach Rabbi Josse: Soll dies nur heißen, daß sie aus dem Dunkel zur Offenbarung kommen, so haben wir doch gesehen, wie alle jene erhabenen »Kronen« verborgen sind, und darum sind sie »Tie fen« genannt. Mit dem Satze: »Er offenbart Tiefen aus der Finsternis« soll vielmehr gerade darauf hingedeutet sein, daß sie nur aus jener Finsternis heraus zur Offenbarung gebracht wer den können, die im Geheimnis der »Nacht« steht. Beachte auch wohl, wie alle jene verborgenen Tiefen, die aus Gedankenkraft kommen, und diejenigen, welche die Stimme trägt, erst durch das »Wort« offenbart werden. Dieses »Wort« wird auch mit dem Namen »Sabbat« bezeichnet, und darum darf nichts Werktägliches am Sabbat gesprochen werden, weil jenes Wort zur Herrschaft kommen soll, kein anderes. Dasjenige Wort aber, das aus der Region der Finsternis kommen muß, ist bestimmt, die »Tiefen zu offenbaren«. Sprach Rabbi Jizchak: Wenn dem so ist, warum heißt es: »undes schied Gott zwischen Licht und Finsternis« (1. Moses 1,4). Die Antwort lautete: Licht ließ Tag entstehen, Finsternis Nacht. In dieser Form konnte sie Gott wieder in eine Einheit binden, so wie es heißt: »und ward Abend und ward Morgen - ein Tag« (ibd. 1,5) - so daß Tag und Nacht eins genannt werden. Und die 50
Das Mittlerwesen Scheidung von Licht und Finsternis bezieht sich auf die Zeit der Verbannung, darinnen die Scheidung waltet. Sprach Rabbi Jizchak: »Bislang wohnt das Männliche im Licht, das Weibliche in der Finsternis. Später werden sie in eins verbunden sein. Warum dann vorher der Unterschied zwischen Licht und Finsternis?« [Rabbi Schim’on antwortete:] »Es ist ein Unterschied der Stufen und beide sind eins, insoferne es kein Licht gibt als in der Finsternis und keine Finsternis als nur im Lichte; und obwohl sie ihrer Art nach unterschieden sind, bilden sie doch auf diese Weise eine Einheit: »einen Tag«. Rabbi Schim’on sprach: Auf dem »Bunde« beruht der Welt Schöpfung und Bestand, so wie es heißt: »Ohne Meinen Bund von Tag und Nacht - Gesetze von Himmel und Erde hätt’ Ich nicht geprägt« (Jeremia 33,25). Wer ist der Bund? »Der Lautere (Zaddik), die Grundfeste der Welt« (Sprüche 10,25) - er bezeich net auch das Geheimnis des »Eingedenkseins« und so kann denn die Welt vermöge des Bundes von Tag und Nacht als eine bestehen. Und »die Gesetze des Himmels«, die nämlich herab kommen vom oberen »Eden«. Auch begann Rabbi Schim’on einmal [seinen Lehrvortrag] mit folgendem Schriftsatz: »Von der Stimme der in der Mitte Schrei tenden, zwischen den Schöpfenden - dort preisen sie die Lauter keiten jhwhs« (Richter 5,11).' »Die Stimme der in der Mitte Schreitenden« - das ist die Stimme Jakobs. Dieses Wort: »die in der Mitte Schreitenden« (Mechazezim) entspricht auch dem Ausdruck: »ein Mann des zwischen zwei [Welten] Befindlichen« (Samuel I. 17,4). »Zwischen den Schöpfenden«, dieses [Wesen] wohnt nämlich zwischen jenen, die die Wasser der Höhe schöpfen - es faßt aber beide Seiten und nimmt sie in sich auf. »Dort preisen sie die Lauterkeiten jhwhs« (Richter 5,11) - »dort« bezeichnet die Stätte des treuen Zusammenhangs: »dort« saugen und schöpfen sie von den Lauterkeiten jhwhs. Das sind die »Lauterkeiten Seines überreichen Spendens« (ibd.); »in Israel« - es bezieht sich dies auf den Lautersten der Welt, der beständig und heilig ist und 1 Im folgenden wird die Stelle aus dem Deboralied, das überreich ist an schwer verständlichen, archaischen Worten, im Hinblick auf ein Mittlerwesen zwischen Gottes- und Menschenwelt mystisch gedeutet.
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Das Mittlerwesen aus allem schöpft und wieder ausgießt in ein weites Meer die Wasser der Höhen. »In Israel« - denn das ist sein Erbe von Ewigkeiten, solange es das Zeichen des Bundes in richtiger Weise wahrt. Als sie Ihn aber verließen und nicht richtig das Bundeszeichen beobachteten - hiervon ist gesagt: »Damals kamen sie zu den Toren herab mit jhwh« (ibd.) - das sind die Tore der Lauterkeit, vor denen sie sich hielten, ohne aber eintreten zu können. So heißt es auch von jener Zeit: »Und sie verließen jhwh, den Gott ihrer Väter . . .« (Richter 2,12), bis Debora kam und sie be schenkte - wie es heißt: »Als Wildheit war in Israel« (ibd. 5,2), doch »das Volk sich beschenken ließ« und darum auch wieder: »Aufgehört hatte das überreiche Spenden an Israel« (ibd. 5,7), das Spenden nämlich jenes Beständigen und Heiligen. »Bis ich aufstand, Debora, aufstand, eine Mutter in Israel.« Was bedeutet hier »Mutter«? Dieses, als ob sie spräche: »Ich ließ hernieder Wasser der oberen Welten, um festzugründen Welten auf Israel, nach oben und nach unten, und offenbar zu machen, daß die Welt nicht besteht als nur durch solchen Bestand«. Und das Geheimnis des Ganzen ist auch schon in den Worten ausgespro chen: »Der Zaddik ist die Grundfeste der Welt« (Sprüche 10,25). So heißt es auch: Drei gehen aus von Einem, Einer besteht in Dreien; Einer tritt zwischen Zwei - Zwei saugen an Einem und Einer von allen Seiten. So wird alles Eins. Dies ist auch angedeu tet in den Worten: »und ward Abend und ward Morgen - ein Tag« (1. Moses 1,5). Gleichwie der Tag Abend und Morgen umfaßt, so ist es das Geheimnis des Bundes, daß er Tag und Nacht verbindet und alles in ihm eines ist.
1. Moses 1,3
II. fol. 148b-149a
DAS VERBORGENE URLICHT - DAS STIFTSZELT SALOMO UND CHIRAM - ZEITEN DER ENTHÜLLUNG
Geschrieben ist: »Und es sprach Gott: Es werde Licht! und es ward Licht.« Sprach Rabbi Josse: »Jenes Licht wurde wieder verborgen und vorbereitet für die Frommen der künftigen Welt« 52
Das verborgene Urlicht - Das Stiftszelt (analog Midrasch rabba zu 1. Moses 1,3)- Wie wir es auch gelernt haben nach dem Satz: »Licht ist gesät dem Frommen . . .« (Psalm 97,11)- Dem Frommen (Zaddik) im eigentlichsten Sinne. So diente jenes Licht in der Welt nur am ersten Tage, dann wurde es verborgen. »Wäre es nicht verborgen worden vor allem Ding«, so sagte Rabbi Jehuda, »dann könnte die Welt nicht einen Augenblick bestehen bleiben«. So aber war es verborgen und ausgesät, dem Samen gleich, der Generationen Samen und Triebe entstehen läßt, und davon hat die Welt Bestand. Kein Tag, der nicht aus jenem Samen kommt, und so erhält sich alles, denn mit ihm ernährt der Allheilige die Welt. Überall aber, wo man sich zur Nachtzeit dem Thorastudium ergibt, da geht ein Faden aus von jenem verborgenen Lichte und zieht sich über die der Thora Beflissenen. Hiervon ist geschrieben: »Tags entbietet jhwh Seine Liebe, nachts aber singet mit mir« (Psalm 42,9) - so haben wir es gelernt. An dem Tage, da das Stiftszelt unten errichtet wurde, wie heißt es da? »Und es konnte Mose nicht kommen zum Stiftszelt, weil die Wolke darauf lagerte« (2. Moses 40,35). Was bedeutet diese Wolke? Ein Faden der Gnade ist es von jener Seite des Urlichtes, der in Wonne allem sich gesellt, sobald es in das »untere« Stiftszelt eintritt. Seit dem ersten Schöpfungstage kam es nicht zur Offenbarung, wohl aber tut es seinen Dienst in der Welt, indem es tagtäglich das Werk des Ursprungs erneuert. Einst war Rabbi Josse mit der Thora beschäftigt, und mit ihm waren Rabbi Jizchak und Rabbi Chiskija. Da sprach Rabbi Jizchak: »Wir haben gesehen, daß das Werk des Stiftszeltes im Werke des Himmels und der Erde sein Vorbild hat«, und dem stimmten auch die Gefährten bei. »Nun ist aber in jenen Ge heimnissen manches, was der Mensch nicht als Nahrung ver trägt.« Und Rabbi Josse sprach: »Laßt uns mit diesen Dingen zur »heiligen Leuchte< [d. i. Rabbi Schim’on ben Jochai] hinaufstei gen, denn er vermag süße Gerichte zu bereiten, wie sie ihm der heilige Alte, der Verborgene der Verborgenen bereitet hat, und nirgends anderswo vermöchte sie jemand in gleicher Weise zu würzen. Und so kann der Mensch davon essen und trinken und sein Inneres befriedigen mit allen Freuden der Welt und auch wieder übrig lassen, wovon es heißt: »Und er setzte vor sie hin, und sie aßen und ließen übrig nach dem Worte jhwhs« (Könige
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Salomo und Chiram - Zeiten der Enthüllung
II. 4,44). Und weiter zog Rabbi Josse den Satz heran: »»Und gab Weisheit dem Salomo, wie Er zu ihm geredet, und es war Friede zwischen Chiram und Salomo und schlossen beide einen Bund« (Könige I. 5,26). Dieser Satz wurde auf vielerlei Weise erklärt. Insbesondere aber bezeichnet gerade dieser Got tesname die Übereinstimmung des Oberen und Unteren. Die Worte: »Er gab Weisheit« sind gemeint, wie wenn einer wirklich ein Geschenk einem lieben Wesen gibt. »Wie Er zu ihm geredet«, damit ist die Vollendung der Weisheit durch Reichtum, Friede und Herrschaft gemeint. Inwieferne aber war Friede zwischen Chiram und Salomo? Weil sie beide den geheimen Sinn der Worte wußten, die sie sprachen, der den anderen Menschen gänzlich verborgen blieb. Deshalb kehrte Chiram zu Salomo zurück, ihm mit allen seinen Worten zu danken. König Salomo verstand ihn wohl, aber er sah auch, daß selbst in jenem Ge schlecht, dem vollendetsten von allen, mehr Weisheit durch ihn enthüllt wurde als dem Willen des Königs entsprach, daß er der anfänglich verborgen gehaltenen Lehre die Tore öffnete. Gleich wohl bleibt diese Lehre nur jenen Weisen, die dessen würdig geworden, nicht verschlossen: die davon stammeln und kaum den Mund zu öffnen vermögen. Aber in diesem Geschlecht des Rabbi Schim’on ist es der Wille des Allheiligen, daß durch ihn verborgene Dinge enthüllt werden. Und so wundere ich mich nur über die Weisen des Geschlechts, wie sie auch nur einen Augenblick davon ablassen können, vor Rabbi Schim’on zu stehen und der Lehre sich zu befleißen, solange Rabbi Schim’on noch in dieser Welt weilt. In diesem Geschlecht aber wird die Weisheit nicht aus der Welt vergessen werden. Weh dem Ge schlecht, wenn er von hinnen geht, die Weisen sich mindern und die Weisheit aus der Welt vergessen wird.« Und Rabbi Jizchak sagte: »So ist es wohl. Und als ich eines Tages mit ihm des Weges ging und er den Mund zur Lehre öffnete, da sah ich eine Wolkensäule von oben nach unten durchbrechen und einen Glanz aufblitzen in der Säule. Ich zitterte mächtig und sprach: »Heil dem Manne, dem solches in dieser Welt widerfährt!« Wie ist von Mose geschrieben? »Und es sah das ganze Volk die Wolken säule vor dem Zelte stehen. Da erhob sich das ganze Volk und warf sich nieder, jeder am Eingang seines Zeltes« (2. Moses 33,10). Es paßte auf Mose, den Propheten der Treue, den jhwh
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Sündhafte Scheidung im Höchsten
höchsten aller Propheten der Welt, und auf jenes Geschlecht, das die Thora auf dem Berge Sinai empfing, daß sie soviel Wunder und Stärken sahen in Ägypten und auf dem Meere. In diesem Geschlecht aber ist es das hohe Verdienst des Rabbi Schim’on, das uns Wunder schauen läßt durch ihn.«
2. Moses 17,7
II. fol. 64b SÜNDHAFTE SCHEIDUNG IM HÖCHSTEN
Es sprach Rabbi Abba: Was geschrieben steht: »Ist jhwh in unserer Mitte oder nicht?« - waren denn die Kinder Israels so töricht, daß sie dies nicht erkannten? Sahen sie doch die Schechina vor sich und die Wolken der Herrlichkeit, die jene umgaben, über sich, und sprachen dennoch: »Ist denn der Herr in unserer Mitte oder nicht?« Helden, die den kostbaren Glanz ihres Kö nigs auf dem Meere sahen, und wir lernten ja, daß damals eine Magd auf dem Meere sah, was Ezechiel nicht sehen durfte. Und jene sollten so töricht gewesen sein zu fragen: »Ist denn jhwh in unserer Mitte oder nicht?« Vielmehr, sagte Rabbi Schim’on, sie wollten den Unterschied wissen zwischen dem Alten, dem Ver borgensten aller Verborgenen, der »Nichts« genannt ist, und dem Kurzgesichtigen, der jhwh genannt ist. Deshalb auch heißt es nicht: »Ist jhwh in unserer Mitte oder nicht?«, sondern: »Ist jhwh in unserer Mitte oder >Nichts