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German Pages 142 Year 2016
Zhengmi Zhouhuang Der sensus communis bei Kant
Kantstudien-Ergänzungshefte
Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme
Band 187
Zhengmi Zhouhuang
Der sensus communis bei Kant
Zwischen Erkenntnis, Moralität und Schönheit
ISBN 978-3-11-045017-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045191-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045048-4 ISSN 0340-6059 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die der Vernunft unterlegene Sinnlichkeit und die der Subjektivität entgegengesetzte Intersubjektivität, in jüngerer Zeit immer mehr im Mittelpunkt des philosophischen Interesses, werden in dieser Studie in Bezug auf den sensus communis bei Kant untersucht und erfahren hier eine Aufwertung bezüglich seiner gesamten Philosophie. Es wird gezeigt, wie die Sinnlichkeit durch ihre Passivität und Empirie der Vernunft einerseits dienen und sie andererseits in die Irre führen kann, und wie die Intersubjektivität in Kants Philosophie einerseits auf der transzendentalen Ebene von der Subjektivitäts-Philosophie ausgeschlossen wird und andererseits auf der empirischen Ebene für Subjektivität und Humanität unentbehrlich ist. Kants eigentümliche Konstruktion des sensus communis beinhaltet nicht nur die zwei Elemente, Sinnlichkeit und Vernunft, sondern verbindet auch Apriori und Aposteriori sowie Interund Intrasubjektivität miteinander. Die Vermittlungsfunktion des Begriffs verkörpert sich sowohl in seiner ersten und zweiten Variante – dem theoretischen und dem praktischen Gemeinsinn – als auch, noch intensiver, in der dritten Variante, dem ästhetischen Gemeinsinn, bei dem Erkenntnis, Moralität und Schönheit miteinander kommunizieren. Diese Arbeit wurde im Jahr 2013 als Dissertation von der Ludwig-MaximiliansUniversität München angenommen und für den Druck gründlich überarbeitet. Ich möchte mich besonders bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Günter Zöller, für die zahlreichen und erhellenden Diskussionen, für seine vielfältige und sorgfältige Unterstützung sowie für seine beständige Geduld und Ermutigung herzlich bedanken. Ohne ihn hätte ich diese Arbeit nicht bewerkstelligen können. Herrn Prof. Dr. Ives Radrizzani an der LMU danke ich für die Mühe des Zweitgutachtens und zahlreiche Anregungen. Herr Prof. Han Shuifa an der Peking Universität hat mich von meinem Masterstudium an nicht nur wissenschaftlich betreut, sondern auch meinem akademischen Leben Orientierung gegeben. Dafür sei ihm herzlich gedankt. Herrn Prof. Deng Xiaomang an der Huazhong Universität für Wissenschaft und Technologie verdanke ich grundlegende Kenntnisse über Kant und wertvolle Kritik sowie hilfreiche Hinweise. Bei Herrn Prof. Dr. Rainer Schäfer (Peking Universität), der meine Arbeit durchgelesen und korrigiert hat, bedanke ich mich sehr für inspirierende Diskussionen und hilfreiche Verbesserungsvorschläge. Nicht zuletzt gilt mein Dank der Beijing Normal University, an der ich seit 2015 als Dozentin für Philosphie arbeite, für die Unterstützung. Ich widme dieses Buch meinen Eltern Zhou Fangkai und Huang Caizhen. Peking, September 2015
Zhengmi Zhouhuang
Inhalt Abkürzungsverzeichnis Einleitung
IX
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Historischer Hintergrund und Worterklärung 5 . Terminologische Erklärung des sensus communis bei Kant . Begriffliche Erklärung zu Kants Verwendung des sensus communis 9 10 .. ‚Communis‘ und ‚gemein‘ .. ‚Sensus‘ und ‚Sinn‘ 11
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13 Erkenntnis – Der sensus communis logicus . Unterschiedliche Bezeichnungen des sensus communis 13 . Die Entgegensetzung zum spekulativen Verstand 14 17 . Funktionsweise des gemeinen Verstandes . Verbesserung des gemeinen Verstandes 20 .. Irrtum und Logik des gemeinen Verstandes 21 23 .. Die Maxime des gemeinen Menschenverstandes . Der gemeine Verstand vs. sensus communis logicus 25 .. Gemeinschaftlichkeit und Allgemeingültigkeit 25 .. Verstand oder Sinn? 28 32 . Gemeiner Menschenverstand und Metaphysik .. Kritik am common sense der schottischen Schule 32 .. Ausgangspunkt und Probierstein der Metaphysik 34 .. Die gemeine Vernunft als ‚Leitungsmittel‘ in der übersinnlichen Welt 35 38 Moralität – Der sensus communis practicus . Der gemeine praktische Verstand 39 .. Beziehung zur reinen praktischen Vernunft 39 .. Funktionsweise des gemeinen praktischen Verstandes 42 . Das moralische Gefühl als ‚sensus moralis‘ 46 .. Das moralische Gefühl in der vorkritischen Zeit 47 .. Die Bedeutung des moralischen Gefühls nach 1770 53 .. Die Funktionen des moralischen Gefühls 56 .. Das Gefühl beim moralischen Gefühl 59 .. Das Gewissen 70
VIII
Inhalt
Schönheit – Der sensus communis aestheticus 77 77 . Problematik und frühere Verwendung des sensus communis . Bedeutungen des Gemeinsinns in der Kritik der Urteilskraft 81 . Positionierung des Gemeinsinns 82 .. Das Geschmacksurteil als reflektierende Urteilskraft 82 84 .. Das vierte Moment: Modalität . Die Begründung für die Einführung des Gemeinsinns 87 93 . Die Funktion des Gemeinsinns beim Geschmacksurteil . Die gemeine ästhetische Urteilskraft 96 .. Die Definition 96 98 .. Die Funktionsweise .. Der sensus communis als ein Reflexionsprozess 100 .. Gemeinsinn als die Idee eines gemeinschaftlichen Sinns 102 106 . Gemeinsinn als eine Verbindung zwischen Ästhetik und Moral .. Die anhängende Schönheit 106 .. Das intellektuelle Interesse am Schönen 109 111 .. Schönheit als Symbol der Sittlichkeit
Zusammenfassung
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123 Literaturverzeichnis Textausgaben 123 Forschungsliteratur 123 Personenregister Sachregister
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Abkürzungsverzeichnis AA ApH Aufklärung Baum.
Akademie-Ausgabe von Kants gesammelten Schriften Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) Erläuterungen Kants zu A. G. Baumgartens Initia philosophiae practicae primae (1760) Bemerkungen Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen Beob. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) EE Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (1790) Entwürfe Entwürfe zu dem Colleg über Anthropologie aus den 70er und 80er Jahren GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) HNL Handschriftlicher Nachlaß Logik HNM Handschriftlicher Nachlaß Metaphysik KpV Kritik der praktischen Vernunft (1788) KrV Kritik der reinen Vernunft (1781/1787) KU Kritik der Urteilskraft (1790) Logik Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hg. von Gottlieb Benjamin Jäsche (1800) MAN Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) MSR Die Metaphysik der Sitten, Metaphysiche Anfangsgründe der Rechtslehre (1797) MST Die Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (1797) Nachricht Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von 1765 – 1766 Orie. Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786) Opus Opus postumum Prolegomena Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) RefA Reflexionen zur Anthropologie RefM Reflexionen zur Metaphysik Religion Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) Streit Der Streit der Fakultäten (1798) Unter. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1762) Vernunftlehre Einleitung in die Vernunftlehre (etwa 1752 – 1778) Vorarbeit Vorarbeit zu den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik
Einleitung Das Interesse am sensus communis wird insbesondere von der zeitgenössischen Übernahme des Begriffs geweckt. Sowohl in Hannah Arendts politischer Transformation der ästhetischen Urteilskraft als auch in Hans-Georg Gadamers Interpretation in humanistischer Tradition spielt der sensus communis eine wichtige und aufschlussreiche Rolle. In beiden Fällen ist Kants Verwendung des Begriffs wesentlich, ihre diesbezüglichen Erklärungen sind aber eher als kreative Anverwandlungen aus den eigenen Perspektiven dieser Autoren anzusehen, wobei jeweils nur eine Seite von Kants Begriff entwickelt wird und sowohl die Komplexität der Bedeutungen als auch die systematische Funktion des Begriffs in Kants Philosophie vernachlässigt werden. Daher ist eine Rückbesinnung auf Kants eigene Konzeption des sensus communis sinnvoll, denn dies kann Missverständnisse aufklären und in zahlreichen Aspekten ein tieferes Verständnis ermöglichen. Seit dem Ende des letzten Jahrhunderts sind auch nicht wenige neue Forschungswerke über den sensus communis erschienen, von denen die meisten den Begriff hauptsächlich in ästhetischer Hinsicht behandeln. In Gustavo Leyvas Die „Analytik des Schönen“ und die Idee des sensus communis in der Kritik der Urteilskraft ¹ wird Kants Analyse des Geschmacksurteils und die Bedeutung des Begriffs in der dritten Kritik vor dem Hintergrund der modernen Ästhetik untersucht. Gundula Feltens Die Funktion des sensus communis in Kants Theorie des äthetischen Urteils ² zeigt nicht nur die Begründungsfunktion des Begriffs für die Allgemeingültigkeit des Schönheitsurteils, sondern auch seine praktisch-kommunitäre Funktion für die gemeinschaftliche Praxis. Mit einer phänomenologischen Interpretation der Idee des sensus communis hebt Edward Eugene Kleist in Judging Appearances ³ den Zusammenhang zwischen Erscheinung und Beurteilung hervor und rekonstruiert Kants Positionierung in der Geschichte der Philosophie – insbesondere von der humanistischen Tradition bis zu den mordernen phänomenologischen Konzeptionen. Erhellend ist das neu erschienene Werk von Robert Nehring, Kritik des Common Sense. ⁴ Mit einer umfassenden Untersuchung stellt dieser die komplexe Bedeutung und mannigfaltige Funktion, sowohl Nutzen Gustavo Leyva: Die „Analytik des Schönen“ und die Idee des „sensus communis“ in der Kritik der Urteilskraft. Peter Lang, Frankfurt am Main . Gundula Felten: Die Funktion des „sensus communis“ in Kants Theorie des ästhetischen Urteils. Wilhelm Fink, München . Edward Eugene Kleist: Judging Appearances: A Phenomenological Study of the Kantian Sensus Communis. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht . Robert Nehring: Kritik des Common Sense. Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn – der Sensus communis bei Kant. Duncker&Humblot, Berlin .
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Einleitung
als auch Nachteil, des common sense für die Wissenschaft und insbesondere für die Philosophie dar. Die vorliegende Arbeit untersucht die Bedeutungen und Funktionen des Begriffs sensus communis in Kants Gesamtwerk, wobei sie nach Kants Einteilung der Philosophie in drei entsprechende Hauptteile gegliedert ist: Sie untersucht den sensus communis logicus im theoretischen Bereich, den sensus communis aestheticus im ästhetischen Bereich und den sensus communis practicus im praktischen Bereich. Der schon in der philosophischen Überlieferung geprägte Begriff des sensus communis wird in Kants Texten häufig nicht klar definiert und zumeist nur funktional und operativ in den unterschiedlichen Textzusammenhängen verwendet. Die Mischung unbewusster Aufnahme und bewusster Prägung in Kants Konzeption des Begriffs verursacht das folgende Phänomen: einerseits hat der Begriff in einer konkreten Verwendung viele Bedeutungsschichten, andererseits verweben die Bedeutungsschichten in unterschiedlichen Kontexten miteinander. Deswegen kann die vorliegende Arbeit strategisch zuerst nur von diesen stark kontextabhängigen Verwendungen ausgehen und die unterschiedlichen Bedeutungsschichten und Funktionsmischungen in den jeweiligen systematischen Situationen unterscheiden. Obwohl Kant in seinem Hauptwerk die drei Arten des sensus communis an keiner Stelle zusammengebracht und vereinigt hat, können wir aufgrund der konzeptuellen Plurivalenz und der Korrelationen zwischen den unterschiedlichen Ausdrucksweisen immer Zusammenhänge (Ähnlichkeiten und Affinitäten sowie Kontraste und Oppositionen) zwischen den dreien finden. Bei der Untersuchung geht es deswegen nicht nur darum, die Bedeutungen zu analysieren und die Funktionen zu differenzieren, sondern auch darum, den Zusammenhang der unterschiedlichen Bedeutungen und die Ähnlichkeit der Funktionen zu untersuchen, damit die unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs sensus communis in den drei Bereichen zusammengebracht werden können und die systematische Funktion des Begriffs in Kants Philosophie ermittelt werden kann. Im ersten Kapitel wird zunächst dargestellt, wie der Begriff sensus communis in den unterschiedlichen philosophischen Traditionen entwickelt wird. Zudem werden hier die wörtlichen Bedeutungen von Kants Verwendungen des Begriffs geklärt. Das zweite Kapitel untersucht die theoretische Verwendung des Begriffs sensus communis als Bezeichnung für den gemeinen Menschenverstand. Einerseits kritisiert Kant den Gebrauch des Begriffs common sense als ein Erkenntnisvermögen in der Metaphysik und andererseits erkennt er seine Verwendung in empirischen und konkreten Situationen an. Durch die Analyse der Funktionsweise des gemeinen Verstandes wird deutlich, wie ein mangelhaftes Erkenntnisvermögen sich selbst verbessern und sich allmählich der Wahrheit annähern kann. Ein Blick auf die Beziehung zwischen dem gemeinen Verstand und der Metaphysik, die auch Kants Kritik
Einleitung
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an der schottischen Tradition des common sense betrifft, ergänzt die Untersuchung der Funktion des gemeinen Verstandes im übersinnlichen Bereich. Im dritten Kapitel werden zwei Termini im Umkreis des Begriffs sensus communis practicus untersucht: der Terminus des gemeinen praktischen Verstandes und der des moralischen Gefühls. Der gemeine praktische Verstand funktioniert als praktisches Beurteilungsvermögen im Alltagsleben und lässt sich mit dem gemeinen theoretischen Verstand in einer verallgemeinernden Denkungsart verbinden. Das moralische Gefühl jedoch hat eine bedeutende Position und Funktion in Kants Moralphilosophie inne, was mit der Entwicklungsgeschichte des Begriffes bei Kant klar gezeigt werden kann. Außerdem bietet das moralische Gefühl auch eine neue intrasubjektive Perspektive der Konstruktion des Begriffs Gemeinsinn an. Durch die Einbeziehung des moralischen Gefühls der intellektuellen Lust wird ein Begriff des Vergnügens des Verstandes als eine Variante des theoretischen Gemeinsinns ins Auge gefasst. Das vierte Kapitel widmet sich hauptsächlich der Untersuchung des sensus communis aestheticus in Kants dritter Kritik. Um die Funktion des sensus communis im Geschmacksurteil festzulegen, werden die Eigenschaft des Geschmacksurteils und die Positionierung des sensus communis analysiert. Um den ästhetischen Gemeinsinn zu begründen, wird die intrasubjektive Dimension des Begriffs hervorgehoben und mit seiner intersubjektiven Dimension verknüpft. Außerdem läßt sich ein Begriff der gemeinen ästhetischen Urteilskraft, der den Begriffen des gemeinen theoretischen und praktischen Verstandes entspricht, in Kants Texten ermitteln. Dieser kann dazu dienen, die ,unreinen ästhetischen Phänomene in empirischen Situationen zu erklären. Die Betrachtung der Beziehung zwischen dem Schönen und der Moral trägt nicht nur zur Herstellung der Beziehung zwischen den beiden Arten des sensus communis (dem moralischen Gefühl und dem ästhetischen Gefühl) bei, sondern ergänzt auch den Begriff sensus communis um eine spezifisch intrasubjektive Dimension. Bei dieser Intrasubjektivität geht es nicht mehr nur um die Übereinstimmung zwischen dem sinnlichen und dem intellektuellen Vermögen, sondern auch um die Übereinstimmung zwischen den unterschiedlichen intellektuellen Vermögen. Das fünfte Kapitel operiert in einer systematischen Perspektive, um die Leistungen der drei Formen des sensus communis auf zwei neuen Bedeutungsebenen – der intersubjektiven und der intrasubjektiven – zusammenzufassen und die Problematik der Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Intellekutalität in der gesamten Philosophie Kants zu positionieren. Der ästhetische Gemeinsinn, der sowohl die intrasubjektive Übereinstimmung (bei der intellektuellen Lust) als auch die intersubjektive Gemeinschaftlichkeit (bei den gemeinen Erkenntniskräften) umfasst, vermag die generelle Problematik des Gemeinsinns sowohl intensiv zu verkörpern als auch kreativ zu lösen. Aufgrund seiner kreativen Kom-
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Einleitung
plexität und kondensierten Konstitution kann der ästhetische Gemeinsinn nicht nur als eine neue Entwicklung, sondern auch als eine Zusammenfassung des Begriffs sensus communis angesehen werden.
1 Historischer Hintergrund und Worterklärung 1.1 Terminologische Erklärung des sensus communis bei Kant Der Begriff sensus communis hat schon vor Kant eine lange Geschichte und vielfältige Bedeutungen. Er kommt u. a. in der griechischen Philosophie, in der römischen Philosophie, im Mittelalter, in der schottischen Philosophie und in der klassischen deutschen Philosophie vor. Ins Griechische kann man das lateinische Wort als κοινη αἲσθησις übersetzen, ins Deutsche als Gemeinsinn, ins Englische als common sense, ins Französische als sens commun und ins Italienische als senso commune. ⁵ Bevor wir uns mit Kants Verwendung des Begriffs auseinandersetzen, sollen zuerst die wichtigsten Bedeutungen des Worts in der Geschichte der Philosophie betrachtet werden, um einen Einblick in den Hintergrund zu bekommen. Aristoteles ist der erste Philosoph, der den Terminus κοινη αισυησιξ in philosophisch-systematischer Hinsicht verwendet, und zwar in der Theorie der Sinneswahrnehmung. Er führte die κοινὰ αἰσθητά als Gegensatz zur einzelnen Wahrnehmung ein, um eine gemeinsame Wahrnehmung zu bezeichnen, deren Bezugspunkt die gemeinsam wahrnehmbaren Gegenstände sind – z. B. Bewegungen, Ruhe, Zahlen, Gestalten, Größen und Einheiten. Die κοινὰ αἰσθητά empfängt man nicht durch die Sinnesorgane, sondern durch ein besonderes Wahrnehmungsvermögen, das die Ins Chinesische wird das Wort sensus communis als ‚共通感‘ übersetzt, das es vorher im Chinesischen nicht gab und das durch die Übersetzung von Kants Texten in den er Jahren neu eingeführt wurde. ‚共‘ bedeutet ‚gemeinsam, gemeinschaftlich‘ und ‚通‘ bedeutet als Adjektiv oder Adverb ‚allgemein, gesamt, durchgängig‘ und als Verb ‚verbinden, durchgehen, kommunizieren, mitteilen‘. ‚感‘ bedeutet Gefühl, Empfindung und Sinn. Daher enthält der Ausdruck im Chinesischen nicht nur die Bedeutung der Allgemeinheit, sondern auch die Bedeutung der Vermittelbarkeit. Diese zusätzliche Information bei dieser Übersetzung ist manchmal hilfreich, manchmal aber auch irreführend, denn Allgemeinheit heißt prinzipiell nicht zugleich auch Mitteilbarkeit: Letzteres bezieht sich auf die Intersubjektivität, während das erstere mehr auf die Gültigkeit des Urteils eines Subjektes abzielt. Es gibt drei verschiedene chinesische Übersetzungen der Kritik der Urteilskraft. Die früheste wurde um 1964 von Zong Baihua (宗白华) (Vorrede, Einleitung und erster Teil des Buches) und Wei Zhuomin (韦卓民) (zweiter Teil des Buches) erstellt. Zong übersetzte den sensus communis bereits mit ‚共通感‘. Die zweite Version wurde von Mou Zongsan (牟宗三) 1992 aus der englischen Übersetzung von Meredith übertragen. Er hat den sensus communis mit ‚共感‘ übersetzt,was durch den englischen Text beeinflusst ist. Die dritte und verbreitetste Version wurde von Deng Xiaomang (邓晓芒) 2002 übersetzt und benutzt wieder ‚共通感‘, womit der Terminus zu seiner Bedeutung im Textzusammenhang Kants besser passt. Siehe 康德: 《判断力批判》,宗白华, 韦卓民译,商务 印书馆,1964; 康德:《判断力批判》,牟宗三译,西北大学出版社,2008; 康德:《判断力批判》,邓 晓芒译、杨祖陶校,人民出版社,2004年。
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1 Historischer Hintergrund und Worterklärung
Inhalte der unterschiedlichen getrennten Wahrnehmungen vereinigen und kombinieren kann. Dieses Vermögen wird als das innere Bewusstsein von Wahrnehmung charakterisiert. Aristoteles’ Verständnis des Begriffs ist die wichtigste Verwendung in der griechischen Tradition.⁶ In der römischen Philosophie ist die Verwendung bei Cicero erwähnenswert. Er benutzt den Begriff sensus communis hauptsächlich in seinem Buch De oratore (Über den Redner), und zwar nicht im psychologischen, sondern im sozialen und politischen Sinne. Um ein vollkommener Redner zu sein, muss man nach Cicero sein Publikum gut kennen und sich mit den allgemein geteilten Empfindungen und Meinungen des Publikums auskennen, welche Cicero als sensus communes (allgemeine Empfindungen) bezeichnet. Sofern ein Redner sich damit auskennt, beherrscht er die Bedürfnisse der Bürger und die menschlichen Gepflogenheiten und kann so das Publikum leicht überzeugen. Cicero betrachtet den sensus communis hier also als ein gegebenes Phänomen im sozialen und politischen Umgang.⁷ In der Neuzeit verfolgte der italienische Humanist Giambattista Vico die soziale und politische Richtung der altrömischen Tradition, um die humanistische Rhetorik gegen die moderne Wissenschaft zu verteidigen. Nach Vico müssen wir uns der Grenzen der modernen Wissenschaft immer bewusst sein, da es außerhalb derselben für unser praktisches Leben auch wichtig ist, den sensus communis auszubilden. Hans-Georg Gadamer nennt dies „die Bildung des sensus communis, der sich nicht aus dem Wahren, sondern aus dem Wahrscheinlichen nährt. […] Sensus communis meint hier offenkundig nicht nur jene allgemeine Fähigkeit, die alle Menschen besitzen, sondern er ist zugleich der Sinn, der Gemeinsamkeit stiftet. Was dem menschlichen Willen seine Richtung gebe, meint Vico, sei nicht die abstrakte Allgemeinheit der Vernunft, sondern die konkrete Allgemeinheit, die die Gemeinsamkeit einer Gruppe, eines Volkes, einer Nation oder des gesamten Menschengeschlechtes darstelle“.⁸ Nach Vico ist der sensus communis nicht nur „ein Sinn für das Rechte und das gemeine Wohl, der in allen Menschen lebt, ja mehr noch ein Sinn, der durch die Gemeinsamkeit des Lebens erworben, durch seine Ordnungen und Zwecke bestimmt wird“.⁹ Durch die Erläuterung Gadamers zu Vico werden die folgenden Eigenschaften
Siehe Thomas Leinkauf et al.: „Sensus Communis“. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. . hg.v. Karlfriedrich Gründer. Schwabe, Basel , S. – . Siehe Thomas Leinkauf et al.: „Sensus Communis“. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. . hg.v. Karlfriedrich Gründer. Schwabe, Basel , S. – ; auch Gustavo Leyva: Die „Analytik des Schönen“ und die Idee des „sensus communis“ in der Kritik der Urteilskraft. Peter Lang, Frankfurt am Main , S. – . Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. ., erweiterte Auflage. Mohr, Tübingen , S. . Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. ., erweiterte Auflage. Mohr, Tübingen , S. .
1.1 Terminologische Erklärung des sensus communis bei Kant
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des Begriffs deutlich, die auch für das Verstehen der Texte Kants wichtig sind: 1. Der sensus communis ist eine Beurteilungsfähigkeit in einer konkreten Situation; er ist durch Bildung zu erwerben und ist damit kein natürliches Vermögen. 2. Die Allgemeinheit des Urteils wird durch die mitmenschliche Gemeinsamkeit erreicht. Im 18. Jahrhundert wird die praktische Bedeutung des sensus communis von dem britischen Philosophen Shaftesbury weiter entwickelt. Er versteht unter diesem Begriff den Sinn für das gemeinsame Wohl sowie „love of the community or society, natural affection, humanity, obligingness“.¹⁰ In diesem Sinne ist der common sense auch eine soziale Tugend und ein praktisches Lebensideal.Was bei Shaftesbury auffällt, ist, dass er den Gegensatz von Egoismus und common sense hervorhebt. Einerseits müssen die egoistischen Neigungen der einzelnen Bürger der gemeinschaftlichen Ordnung untergeordnet werden und andererseits kann man auch mit Hilfe des common sense als einem sittlichen Gefühl „die Balance zwischen Eigen- und Gemeinschaftsinteressen […] finden“.¹¹ Fast zur gleichen Zeit wie Shaftesbury entwickelte die schottische Philosophie eine neue Bedeutung des Begriffs, die bis heute die übliche in englischsprachigen Texten ist. Sie führt den sensus communis ein, um ihn dem cartesischen Idealismus, welcher die Realität der Außenwelt negiere, und dem humeschen Skeptizismus, welcher die Kausalität bezweifele, entgegenzuhalten. Sie versteht „human mind“ als „ein eingeborenes Vermögen intuitiver Urteile, das von vornherein mit selbstevidenten Wahrheiten (self-evident truths) als mit Grundsätzen des gemeinen Menschenverstandes (principles of common sense) ausgestattet ist“.¹² Es ist leicht einzusehen, dass der schottische common sense weder ein durch Bildung erworbenes Vermögen ist, wie bei Vico und Shaftesbury, noch ein in der Gesellschaft vorhandenes Phänomen, wie bei Cicero, sondern ein angeborenes und natürliches Vermögen. Der common sense fungiert nicht mehr als Idee eines gemeinschaftlichen Sinns, die als regulatives Prinzip hochgehalten wird, sondern als ein instinktives Beurteilungsvermögen, mit dem man sich in der alltäglichen Situation vor allem im Erkennen, aber auch in der moralisch-politischen Handlung orientieren kann.¹³ Im theoretischen Bereich fungiert nach der schottischen Philosophie des common sense jedoch nicht die Vernunft als die Quelle des
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. ., erweiterte Auflage. Mohr, Tübingen , S. . Gundula Felten: Die Funktion des sensus communis in Kants Theorie des ästhetischen Urteils. Wilhelm Fink, München , S. . Gustavo Leyva: Die „Analytik des Schönen“ und die Idee des „sensus communis“ in der Kritik der Urteilskraft. Peter Lang, Frankfurt am Main , S. . Siehe Gustavo Leyva: Die „Analytik des Schönen“ und die Idee des „sensus communis“ in der Kritik der Urteilskraft. Peter Lang, Frankfurt am Main , S. – .
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1 Historischer Hintergrund und Worterklärung
Wissens: Umgekehrt sind Vernunft und Philosophie vielmehr nur durch das Prinzip des common sense erst möglich und sie dienen dem common sense. Zusammenfassend gibt es in der Philosophiegeschichte also insgesamt drei Perspektiven bei der Verwendung des Begriffs, die mehr oder weniger mit Kants Verwendung zusammenhängen oder sie sogar direkt beeinflusst haben: 1. Die Verwendung durch Aristoteles im psychologischen und erkenntnistheoretischen Sinn: Der sensus communis ist hier ein allgemeines Wahrnehmungsvermögen, welches die verschiedenen Wahrnehmungen der äußeren Sinne vereinigt. Obwohl dies keine unmittelbare Beziehung zu Kants Verwendung hat, ähneln sich beide jedoch hinsichtlich des Punktes der Vereinigung. Bei Aristoteles findet eine Vereinigung zwischen den sinnlichen Wahrnehmungen statt, wohingegen es bei Kant um eine Harmonisierung von Verstand und Einbildungskraft geht. 2. Die römische Tradition im praktisch-gesellschaftlichen Sinne (auch bei Vico und Shaftesbury): Der sensus communis ist hier ein gemeinsames Sozialgefühl. Bei Kant kommt diese Perspektive ebenfalls vor. Der sensus communis muss bei Kant als eine gemeinschaftliche Idee und ein noch zu erwerbendes Beurteilungsvermögen betrachtet werden, durch das wir von unserer subjektiven Beschränkung abstrahieren und eine allgemeine Position einnehmen können. 3. Die schottische Verwendung im theoretischen und auch im praktischen Sinne: Der common sense ist ein natürliches und nicht reflektierendes Erkenntnisvermögen sowohl in Bezug auf Wissen als auch in Bezug auf Moralität. Vom Standpunkt der theoretischen transzendentalen Philosophie aus kritisiert Kant direkt diese Verwendung der schottischen Schule, um die Reinheit und Strenge der Metaphysik zu sichern. In der empirischen Situation unterscheidet Kant den sensus communis bzw. den gemeinen Menschenverstand und den schottischen common sense: Während der common sense ein angeborenes und instinktives Vermögen ist, allgemein urteilen zu können, wird der gemeine Menschenverstand durch empirische Erfahrung geformt und kann nur durch langjährige Kultivierung das Vermögen erlangen, geschickt zu urteilen. Allerdings sieht Kant auch, dass es im moralischen Bereich einen solchen gemeinen Menschenverstand gibt, mit dem man instinktiv beurteilen kann, was gut oder nicht gut ist. Auf der Grundlage der obigen Analyse lassen sich die folgenden Unterscheidungen aus der Tradition ableiten, die es erlauben, Kants Begriff des sensus communis besser zu verstehen: 1. theoretische oder praktische Perspektive; 2. innere oder äußere Ebene eines Subjektes (so ist z. B. die Vereinigung der einzelnen Vorstellungen eine Tätigkeit auf der inneren Ebene des Subjektes, während das mitteilbare Sozialgefühl die intersubjektiven Beziehungen betrifft); 3. angeborenes und natürliches oder erworbenes Vermögen; 4. konstitutives Prinzip, das die Urteile ermöglicht oder regulatives Prinzip, das fordert, die empirischen Urteile auf Vervollkommung zu ordnen.
1.2 Begriffliche Erklärung zu Kants Verwendung des sensus communis
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1.2 Begriffliche Erklärung zu Kants Verwendung des sensus communis Der Begriff des sensus communis kommt in Kants Texten sehr häufig vor, jedoch verwendet er ihn an verschiedenen Textstellen mit variierenden Ausdrucksweisen sehr unterschiedlich. Explizit identifiziert Kant an manchen Stellen den sensus communis mit dem Gemeinsinn (KU AA5: 238, ApH AA7: 219), dem gemeingültigen Sinn (Entwürfe AA15: 693, HNL AA16: 160), dem gemeinen Menschensinn (ApH AA7: 145), dem gemeinen Verstand (HNL AA16: 14, 18), dem gesunden Verstand (HNL AA16: 420), dem gemeinen Menschenverstand (Logik AA9: 57, KU AA5: 295), dem bon sens (Entwürfe AA15: 811) und der gemeinen Vernunft (Logik AA9: 17, HNL AA16: 18). Außerdem verwendet Kant auch viele weitere Termini im Sinne des sensus communis, z. B. den geraden Menschenverstand (Prolegomena AA4: 259), den schlichten Menschenverstand (Prolegomena AA4: 259), den Alltagsverstand (AA25: 1049), die natürliche Vernunft (KrV A382, Streit AA7: 61) und die gemeine Erkenntnis (Logik AA9: 27).¹⁴ Trotz solcher expliziten und impliziten Identifikationen können wir die obigen Begriffe nicht überall in Kants Texten mit dem Begriff sensus communis gleichsetzen und sogar gleich lautende Ausdrücke sind je nach Kontext unterschiedlich zu verstehen. In den folgenden Kapiteln wird deutlich, dass Kant die unterschiedlichen Ausdrucksweisen gebraucht, um die unterschiedlichen Funktionen des Begriffs besser erklären zu können. Dass die vorliegende Arbeit dennoch mit dem Begriff sensus communis betitelt ist, liegt in den folgenden Punkten begründet: 1. Der Begriff sensus communis ist der einzige Terminus, der so häufige und so unmittelbare Verbindung mit allen anderen Ausdrücken hat. 2. Er ist auch der einzige Begriff, den Kant sowohl im theoretischen und im ästhetischen als auch im praktischen Bereich verwendet und dessen Verwendungen er auch vergleicht (KU AA5: 295, HNL AA16: 16 ff.). Seine deutschen Übersetzungen wie z. B. ‚Gemeinsinn‘, ‚gemeingültiger Sinn‘ und ‚gemeinschaftlicher Sinn‘ werden überwiegend im ästhetischen und sozialen Bereich verwendet und tauchen nur sehr selten im praktischen Bereich auf. Der sehr ähnlich aufgebaute englische Begriff ‚common sense‘ wird hauptsächlich im theoretischen Bereich mit negativer Bedeutung gebraucht. Die Begriffe ‚gemeiner Verstand‘ und ‚Vernunft‘ werden nur im theoretischen und im praktischen Bereich verwendet, jedoch nicht im ästhetischen Bereich, und sie drücken die Bedeutungsebene der Empfänglichkeit nicht mit aus. 3. Wegen der Mehrdeutigkeit des Siehe auch die umfassende und systematische Sammlung und Sortierung von „Kants Terminologie im Begriffsfeld ,Common Sense‘“ von Robert Nehring, Kritik des Common Sense. Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn der Sensus communis bei Kant. Duncker& Humblot, Berlin , S. – .
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1 Historischer Hintergrund und Worterklärung
Begriffs selbst (‚communis‘ und ‚sensus‘ sowie ‚gemein‘ und ‚Sinn‘ als ihre Übersetzung und Ergänzung) kann er alle anderen Ausdrucksweisen auf unterschiedlichen Ebenen erfassen. Nur durch eine solche Konzentration der unterschiedlichen Ebenen ist die Untersuchung der systematischen Funktion des Begriffs in Kants Philosophie einerseits überhaupt erst möglich und andererseits besonders vielversprechend. Bevor die jeweiligen Funktionen des Begriffs an verschiedenen Textstellen untersucht werden, sollen die wörtlichen Bedeutungen des Begriffs unterschieden und präzisiert werden.
1.2.1 ‚Communis‘ und ‚gemein‘ Das lateinische Wort ‚communis‘ bedeutet 1. allgemein, universal, überhaupt; 2. von oder für die Gemeinde/Öffentlichkeit; 3. demokratisch, die gemeinsame Meinung repräsentierend; 4. (von Art und Weise) üblich und 5. gemein, geläufig, zugänglich.¹⁵ Eine wichtige Quelle des deutschen Wortes ‚gemein‘ ist ebenfalls das lateinische Wort ‚communis‘. Den Wörterbüchern zufolge hat das Wort gemein“ als Adjektiv folgende Bedeutungen, die für unser Thema wichtig sind: 1. allgemein, allgemein geltend (ursprünglich und veraltend); 2. gemeinsam, gemeinschaftlich; 3. durchschnittlich, normal; 4. (abwertend) unfein, ordinär, vulgär und 5. universell, total, ganz.¹⁶ Ein Vergleich zwischen den Worten ‚communis‘ und ‚gemein‘ zeigt, dass die beiden sehr ähnliche Bedeutungen haben und sich nur um eine Nuance unterscheiden: Nur durch seine vierte, abwertende Bedeutung unterscheidet sich ‚gemein‘ von ‚communis‘ und auf der anderen Seite hat ‚communis‘ in politischer Hinsicht die besondere Bedeutung ‚demokratisch‘, welche wir uns vor dem Hintergrund der republikanischen römischen Tradition unschwer vorstellen können. Kant identifiziert den gemeinen Menschenverstand außerdem manchmal mit dem gesunden Menschenverstand, wobei ‚gemein‘ hier so etwas wie ‚natürlich‘ und ‚unverdorben‘ bedeutet. Solche unterschiedlichen Bedeutungen werden in verschiedenen Textzusammenhängen verwendet und es kommt auch vor, dass bei
Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch: Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet. Unveränderter Nachdruck der achten verbesserten und vermehrten Auflage Hahnsche Buchhandlung. Hannover/Leipzig , erster Band, S. – , http://en.wiktionary.org/wiki/communis, http://www.frag-caesar.de/lateinwoerterbuch/communis, abgerufen am . . . Siehe http://www.dwds.de/gemein sowie http://www.dict.cc/gemein, abgerufen jeweils am . . .
1.2 Begriffliche Erklärung zu Kants Verwendung des sensus communis
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einer Verwendung zwei oder drei Bedeutungen gemeinsam vorliegen, wobei eine unter ihnen dann zumeist deutlich stärker betont ist.
1.2.2 ‚Sensus‘ und ‚Sinn‘ Das lateinische Wort ‚sensus‘ bedeutet 1. Gefühl, Sentiment, Empfindung; 2. Empfindungsfähigkeit, wahrnehmende Kraft; 3. Bewusstsein, Besinnung; 4. Meinung, Auffassung, Gedanke und 5. Verstand, Denkkraft.¹⁷ Grimms Deutschem Wörterbuch zufolge liegt die Herkunft des deutschen Wortes „Sinn‘ jedoch nicht im lateinischen Wort ‚sensus‘:¹⁸ Das deutsche Wort ‚Sinn‘ stammt von dem althochdeutschen und angelsächsischen Verb „sinnan‘ bzw. dem mittelhochdeutschen und neuhochdeutschen ‚sinnen‘. Die ursprüngliche Bedeutung seiner Wurzel war augenscheinlich die einer Bewegungsrichtung (streben, reisen und wandern nach) und wurde in die geistige Sphäre (sich um etwas kümmern, auf etwas achten) übertragen. Die einschlägigen Bedeutungen des Begriffs ‚Sinn‘ können wie folgt aufgelistet werden: 1. eine individuelle und eigentümliche geistig-seelische Veranlagung, die eine Besonderheit ausmacht; 2. das Organ und der Sitz alles Strebens, Wollens, Verlangens usw.; 3. der Sitz des Gefühls und der Stimmungen sowie Empfindlichkeit, Empfindungen und Gemütszustand; 4. die intellektuelle und verstandesmäßige Seite des menschlichen Denkvermögens, Gedanken; 5. (in Verbindung mit einem Adjektiv) Gesinnung, Haltung und Charakter; 6. Empfänglichkeit und Rezeptivität für Eindrücke, Auffassungsvermögen; 7. Bewusstsein, Bewusstheit und Besinnung; 8. körperliche Organe der Wahrnehmung. Es ist bei Kants unterschiedlichen Verwendungsweisen des Terminus sensus communis vor allem zu bemerken, dass er den gemeinen Verstand und die gemeine Vernunft dem sensus communis zugeordnet hat, was widersprüchlich scheint: Aus der obigen Untersuchung der Begriffe geht hervor, dass die Wörter ‚sensus‘ und ‚Sinn‘ die Bedeutung von ‚Verstand‘ und ‚Vernunft‘ jeweils schon in sich tragen, weswegen diese Zuordnung eigentlich keine außerordentliche Verwendung impliziert. Jedoch versteht Kant unter ‚Sinn‘ in Bezug auf Sinnlichkeit vor allem ein unteres Erkenntnisvermögen, welches er dem Verstand als oberem Erkenntnisvermögen entgegensetzt. Das erstere als das Vermögen der Anschauung wird von
Georges, Handwörterbuch , zweiter Band, S. – , http://www.frag-caesar.de/latein woerterbuch/communis, http://en.wiktionary.org/wiki/communis, abgerufen am . . . Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. , Sp. – : „Sinn“. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bde. in Teilbänden. Leipzig – .
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1 Historischer Hintergrund und Worterklärung
Gegenständen affiziert und fungiert daher nur passiv, während das letztere als das Denkvermögen die mannigfaltigen Vorstellungen spontan vereinigt. In den folgenden Kapiteln werden wir sehen, dass das Wort ‚Sinn‘ in ‚Gemeinsinn‘ kaum als das untere Erkenntnisvermögen betrachtet werden kann.Wenn Kant den gemeinen theoretischen Verstand als die erweiterte Maxime definiert, kann der ‚Sinn‘ in ‚Gemeinsinn“ als Gesinnung und Haltung verstanden werden; wenn er den gemeinen Verstand als ein allgemeines mitteilbares Erkenntnisvermögen erklärt, dann kann ‚Sinn‘ als „eine Empfänglichkeit für Vorstellungen der Einbildungskraft in der Mittheilung“ (ApH AA7: 169) verstanden werden. Beim Geschmacksurteil kann der ‚Sinn‘ in ‚Gemeinsinn‘ als Empfänglichkeit für den Gemütszustand verstanden werden und beim moralischen Gefühl als Empfänglichkeit für das Sittengesetz. Wenn der ‚Sinn‘ in ‚Gemeinsinn‘ als eine Form von Sinnlichkeit verstanden wird, dann bezieht diese sich jedoch nicht unmittelbar auf die Vorstellung des Objekts, sondern auf das Subjekt. Insofern empfindet also der ‚Sinn‘ nicht den äußeren Gegenstand, sondern er reflektiert das innere Erkenntnisvermögen und den inneren Gemütszustand. Angesichts dieser unterschiedlichen Ausdrucksweisen und des Bedeutungskomplexes stellt sich die Frage, ob es sich nur um eine unbewusst konfuse Verwendung bei Kant handelt, wobei man die Bedeutungen in den unterschiedlichen Kontexten streng trennen muss, oder ob er absichtlich die Mehrdeutigkeit der Begriffe genutzt hat und es dahinter eine wesentliche Verbindung gibt, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Bedeutungen zusammengebracht werden können. Diese Frage lässt sich erst beantworten, nachdem in den folgenden Kapiteln die unterschiedlichen Definitionen und Funktionen der Ausdrücke näher untersucht wurden.
2 Erkenntnis – Der sensus communis logicus „Ich bin ein enthusiastischer Vertheidiger des gesunden Menschenverstandes.“ (Vorarbeit AA23: 59)
2.1 Unterschiedliche Bezeichnungen des sensus communis Das vorliegende Kapitel beschäftigt sich mit dem Begriff des gemeinen Menschenverstandes. Kant identifiziert explizit den sensus communis, den gemeinen Menschenverstand (Logik AA9: 57) und den gemeinen Verstand (HNL AA16: 14, 18) miteinander und er bezeichnet ihn als „sensus communis logicus“ (KU AA5: 295), um ihn von dem Gemeinsinn im ästhetischen Bereich, dem „sensus communis aestheticus“ (KU AA5: 295), zu unterscheiden. Es tauchen zudem auch viele Varianten des Begriffs in Kants Texten auf, z. B. gesunder Menschenverstand (ApH AA7: 139, 169, RefA AA15: 173), gesunder Verstand (HNL AA16: 24, 37, ApH AA7: 198, 201), gemeine Vernunft (HNL AA16: 16, 18), gemeine Menschenvernunft (KrV AVIII, A459/B487), gesunde Vernunft (HNL AA16: 16, 17, 18), allgemeine menschliche Vernunft (Briefwechsel 1765 AA10: 55), natürlicher Verstand (ApH AA7: 199, Logik AA9: 17), schlichter Menschenverstand (Prolegomena AA4: 259, Orie. AA8: 133), gerader Menschenverstand (Prolegomena AA4: 259), angewandter Verstand (KrV A499/B527, Opus AA21: 225) und allgemeiner Menschenverstand (Prolegomena AA4: 287, Logik AA9: 19). Es gibt keinen bedeutenden Unterschied zwischen dem gemeinen Verstand und dem gemeinen Menschenverstand (RefA AA15: 174), auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen der gemeinen Vernunft, der allgemeinen menschlichen Vernunft und der gemeinen Menschenvernunft (KrV A VII f.). Die Menschenvernunft unterscheidet sich vom Menschenverstand auch nicht sehr deutlich.¹⁹ Beim gesunden
Als Beispiel sei hier eine Stelle in Kants Texten genannt, wo er die Begriffe ‚der gesunde Verstand‘, ‚die gemeine Vernunft‘ und ‚sensus communis‘ ohne wesentliche Differenzierung wechselnd verwendet: Dies ist in HNL AA: der Fall sowie auch in HNL AA: . An einer speziellen Stelle, die zwischen und datiert wird, unterscheidet Kant jedoch zwischen dem gesunden Verstand und der gesunden Vernunft: „Der Gesunde Verstand ist Ein vermögen, aus viel verglichenen empirischen Erkenntnissen einen allgemeinen habitum ihnen Gemaß und also ein Analogon einer allgemeinen Regel zu ziehen. Die Gesunde Vernunft ist das Vermögen, durch die Begriffe der Vernunft in concreto ein analogon eines axiomatis, d. i. eine fertigkeit zu ziehen, daraus ein axioma kann abgeleitet werden, deren richtigkeit aber nur aus dem Urtheil in concreto kann bewiesen werden“ (RefA AA15: 178).
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2 Erkenntnis – Der sensus communis logicus
Verstand wollte Kant die Richtigkeit und Angemessenheit des gemeinen Verstandes hervorheben²⁰ und beim geraden und schlichten Menschenverstand sowie beim natürlichen Verstand die gewöhnliche Verwendung und den Gegensatz zur Verfeinerung und Apriorität des spekulativen Verstandes (Prolegomena AA4: 259); beim allgemeinen Menschenverstand betont er die Gemeinsamkeit und Allgemeinheit des Beurteilungsvermögens. Mit dem sensus communis und dem Gemeinsinn wird die gemeinschaftliche Gesinnung und Denkungsart hervorgehoben, welche dem Eigensinn und Egoismus entgegenstehen.²¹ Die hier aufgelisteten Bezeichnungen des gemeinen Menschenverstandes weisen auf den komplizierten Inhalt und die vielfältige Anwendung dieser Ausdrücke hin. Zum Begriff selbst gibt Kant viele scheinbar widersprüchliche Erläuterungen: 1. Er ist einerseits fehlbar bei seiner empirischen Verwendung und hat keine objektive Allgemeingültigkeit wie der spekulative Verstand, fungiert jedoch andererseits als eine Maxime, um sich selbst zu überprüfen und zu verbessern. 2. Er ist einerseits ein angeborenes Vermögen, in der konkreten Praxis zu urteilen und seine Regeln sind andererseits nur durch Erfahrung erworben. 3. Er ist allgemein und hat nur eine zureichende Funktion im empirischen Bereich, jedoch fungiert er auch als ein Orientierungsmittel im übersinnlichen Bereich. Durch eine genauere Untersuchung werden wir im Folgenden versuchen, diese scheinbaren Widersprüche zu klären.
2.2 Die Entgegensetzung zum spekulativen Verstand Kant verwendet den Begriff des gemeinen Menschenverstandes in vielen verschiedenen Textzusammenhängen. Am ausdrücklichsten definiert Kant den Begriff als einen Gegensatz zum spekulativen Verstand: „[W]as ist nun der gemeine Verstand? Er ist das Vermögen der Erkenntniß und des Gebrauchs der Regeln in concreto zum Unterschiede des speculativen Verstandes, welcher ein Vermögen Diese Unterscheidung zwischen dem gesunden Verstand und der gesunden Vernunft betont den Unterschied von Verstand als Vermögen der Regeln und Vernunft als Vermögen der Prinzipien: Der Verstand synthetisiert die Erscheinung durch Regeln und die Vernunft bringt die Verstandesregeln unter Prinzipien. Sonst werden der Verstand und die Vernunft im gemeinen Verstand und der gemeinen Vernunft im weiteren Sinne als Vermögen der allgemeinen Regeln verstanden. Prolegomena AA: : „was ist der gesunde Verstand? Es ist der gemeine Verstand, so fern er richtig urtheilt“. Entwürfe AA: : „sensus proprius wird hier dem communi entgegengesetzt. Nur der sensus communis ist bon sens, d. i. der Sinn, der gemeinschaftlich gilt“. ApH AA7: 219: „Das einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit ist der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis) und der dagegen eintretende logische Eigensinn (sensus privatus)“.
2.2 Die Entgegensetzung zum spekulativen Verstand
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der Erkenntniß der Regeln in abstracto ist. So wird der gemeine Verstand die Regel, daß alles, was geschieht, vermittelst seiner Ursache bestimmt sei, kaum verstehen, niemals aber so im allgemeinen einsehen können“ (Prolegomena AA4: 369, siehe auch HNL AA16: 018). Obwohl es in Kants kritischer theoretischer Philosophie hauptsächlich um die spekulative Philosophie geht, erkennt er auch den Wert des gemeinen Verstandes für gemeine Menschen in alltäglichem Leben an: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkentnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren“ (Bemerkungen AA20: 44). An einer anderen Stelle schreibt er: „Ich bin ein enthusiastischer Vertheidiger des gesunden Menschenverstandes.“ (Vorarbeit AA23: 59) Der Unterschied zwischen dem gemeinen Verstand und dem spekulativen Verstand lässt sich im Folgenden konkretisieren: (1) Die beiden unterscheiden sich durch verschiedene Anwendungsbereiche: in concreto und in abstracto – oder anders gesagt im empirischen und im apriorischen (spekulativen) Bereich. Der gemeine Verstand kann nur in konkreten Fällen ein partikuläres Urteil treffen, während der spekulative Verstand allgemein behaupten kann. Deshalb wird der gemeine Verstand auch als angewandter Verstand bezeichnet, der dem reinen Verstand entgegengesetzt ist. Der erstere ist das Vermögen der Erfahrung und der letztere das Vermögen der Erkenntnis a priori (Opus AA21: 225). Da die Regeln des gemeinen Menschenverstandes nur von Erfahrung abstrahiert sind, gilt ihre Verwendung auch nur im empirischen Bereich und in konkreten Fällen. Die Regeln apriori und unabhängig von der Erfahrung einzusehen, gehört nur zum spekulativen Verstand und „liegt ganz außer dem Gesichtskreise des gemeinen Verstandes“ (Prolegomena AA4: 369). In diesem Sinne bezeichnet Kant den gemeinen Verstand als „Mittelmaß des Verstandes“, ganz im Unterschied zum verfeinerten spekulativen Verstand. „Der gesunde Verstand ist klein und richtig, bey ihm wird die Einfalt erfordert und hält sich an dem niederigen Boden der Erfahrung: über diesen erhebt er sich nicht kühn zu abstracten und speculativen Betrachtungen.“²² Die Untersuchung der beiden gehört daher zu unterschiedlichen Disziplinen: Dem reinen Verstand geht es um die Erkenntnis, die nach Kant von der Philosophie und Metaphysik behandelt wird, welche die allgemeinen Regeln untersuchen und
Kant: Logik-Vorlesung. Unveröffentlichte Nachschriften I, Logik Bauch, bearbeitet von Tillmann Pinder. Meiner, Hamburg , S. .
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2 Erkenntnis – Der sensus communis logicus
notwendigerweise Allgemeingültigkeit fordern; dem gemeinen Verstand hingegen geht es um die Erfahrung, welche eher von der Anthropologie und der Psychologie behandelt wird – von Disziplinen also, die nach Kant nur empirische Darstellung sind und zu keiner Wissenschaft im strengeren Sinne gehören. (2) Der gemeine Verstand und der spekulative Verstand gehören beide zum oberen Erkenntnisvermögen ‚Verstand‘, der seine Vorstellungen mit Regeln verknüpft. Obwohl ihre Regeln in unterschiedlicher Weise entdeckt werden – die Regeln des reinen Verstandes sind apriorisch und unabhängig von der Erfahrung und man kann sich der Regeln im Rahmen der Transzendentalphilosophie auch unabhängig ihrer Anwendung bewusst werden, während die Regeln des gemeinen Verstandes durch Erfahrung, d. h. a posteriori, erkannt und bestätigt werden –, haben sie beide das apriorische Vermögen der Regeln oder die allgemeinen Regeln des Denkens. Kant meint, dass die gemeinen Regeln dem gemeinen Verstand schon a priori beiwohnen, obwohl sie erst nach der Ausübung a posteriori durch Abstraktion der Erfahrung gewonnen wurden. Kant differenziert den Ausdruck „von Erfahrung abstrahirt“ von dem Ausdruck „daraus […] entlehnt und derivirt“ (RefM AA17: 657, siehe auch HNL AA16: 033, 034, 036), um zu betonen, dass der gemeine Verstand und der sepkulative Verstand zwar hinsichtlich ihrer Form die gleiche Quelle des apriorischen Verstandesvermögens haben, jedoch sowohl auf unterschiedliche Art und Weise bewusst geworden sind als auch auf unterschiedliche Anwendungsbereiche haben: Man handelt in der Alltagspraxis nach den apriorischen Regeln, ohne sich ihrer bewusst zu sein oder sie zu erkennen. Es ist auch zu bemerken, dass die allgemeinen Regeln des Denkens, obwohl sie als eine unbewusste Bedingung dem gemeinen Verstand vorhergehen und ihre Logik, nämlich die wissenschaftliche Logik, unabhängig vom natürlichen Verstandes- und Vernunftgebrauch in concreto apriori erkannt werden kann und muss, dennoch „zuerst nur durch Beobachtung jenes natürlichen Gebrauchs gefunden werden können“ (Logik AA9: 17). (3) Der gemeine Menschenverstand unterscheidet sich „in ansehung des Grades“ vom spekulativen Verstand (RefA AA15: 173, siehe auch HNL AA16: 67). Der erstere geht immer nur von Erfahrung zu Erfahrung und kann nicht über den empirischen Bereich hinausgehen. „Die gemeine und gesunde Vernunft steigt aus Erfahrung a posteriori zum allgemeinen. […] Der sensus communis macht allgemeine Gesetze aus einzelnen Erfahrungen und subsumirt auch nur in proportion der Erfahrungen, von denen er sie abstrahiert hat“ (HNL AA16: 16, Herv. d. Verf.). Dies besagt, dass die Regeln des gemeinen Verstandes nur insoweit gültig sind, als sie von Erfahrung abstrahiert werden. In Anbetracht der Tatsache, dass die empirischen Erfahrungen niemals komplett vollständig sein können, würden die Regeln des gemeinen Verstandes daher auch nie objektiv und allgemein gültig werden können, wie die apriorischen Regeln des reinen Verstandes. Die aus
2.3 Funktionsweise des gemeinen Verstandes
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einzelnen Erfahrungen abstrahierten Regeln werden nur als „Analogon einer allgemeinen Regel“ (RefA AA15: 178) betrachtet. Diese Analoga nähern sich durch Erfahrung immer mehr ihrem Modell (den allgemeinen Regeln des reinen Verstandes) an, bleiben aber auch immer unvollständig und mangelhaft; sie können nicht über die gegebene Erfahrung hinaus. Während die apriorische Erkenntnis objektive und notwendige Allgemeingültigkeit hat, hat die empirische Erkenntnis des gemeinen Verstandes nur beschränkte Gültigkeit.
2.3 Funktionsweise des gemeinen Verstandes In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen, wie der gemeine Verstand in konkreten Situationen funktioniert. Zuerst werden die Bestandteile des Begriffs untersucht. Nach Kants Definition des gemeinen Menschenverstandes in den Prolegomena, nämlich als „ein Vermögen der Erkenntnis und des Gebrauchs der Regeln in concreto“, lassen sich zwei Elemente herausstellen: ein Vermögen, das die Regeln erkennt und ein Vermögen, das die Regeln in konkreten Fällen gebraucht. Diese Einteilung kann man auch im Handschriftlichen Nachlass Logik aus den 1760er Jahren finden: „Gesunder Verstand ist das Vermögen, nach Gesetzen der Erfahrung zu urtheilen. oder von der Erkentnis in concreto zu der in abstracto oder vom besonderen zum allgemeinen zu steigen“ (HNL AA16: 14). „Wenn die allgemeinen Erkenntnisse aus den besonderen entlehnt werden, ist es der gemeine Verstand (sensus communis). (universale in concreto, folglich in der Erfahrung oder eintzelnen fallen.) (sensus communis.)“. (HNL AA16: 18) Daher kann der gemeine Menschenverstand in zwei Phasen unterteilt werden: erstens das Erkennen und Erlernen der allgemeinen Erkenntnis aus den konkreten Fällen und zweitens das Gebrauchen der universalen Erkenntnis in konkreten Fällen. Zu diesen beiden Phasen passen zwei entsprechende Erkenntnisvermögen: das Vermögen des Begriffs und das Vermögen, zu urteilen – nämlich der Verstand und die Urteilskraft.²³ Kant räumt auch ein, dass in der praktischen Verwendung „[d]er gemeine (gesunde) Verstand […] jederzeit mit Urteilskraft verbunden“ (HNL AA16: 37) ist.
Hier sollten der Verstand im weiteren Sinne (der gemeine Menschenverstand) und der Verstand im engeren Sinne unterschieden werden. Der erstere ist ein intellektuelles Erkenntnisvermögen, das die Regeln nicht nur erkennen, sondern sie auch auswählen und verwenden kann, während der letztere bloß als ein Element des ersteren fungiert, um die Regeln zu erkennen. Der Verstand im engeren Sinn kann daher als eine Vorstufe der reflektierenden Urteilskraft angesehen werden, welche das Allgemeine in concreto findet.
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2 Erkenntnis – Der sensus communis logicus
In einem Brief an Alexander Fürst von Beloselsky schreibt Kant im Sommer 1792 auch über die beiden Elemente des gemeinen Verstandes: „Mit Recht haben Sie Verstand l’intelligence und Urtheilkraft ob sie zwar ganz verschiedene Vermögen sind in eine Sphäre zusammen gezogen weil die Urtheilskraft nichts weiter ist als das Vermögen seinen Verstand in concreto zu beweisen und die Urtheilskraft nicht neue Erkentnisse schafft sondern nur wie die Vorhandenen anzuwenden sind unterscheidet. Der Titel ist bon sens der in der That hauptsächlich auf der Urtheilskraft ankommt. Man könte sagen durch Verstand sind wir im Stande zu erlernen (d.i. Regeln zu fassen) durch Urtheilskraft vom Erlernten Gebrauch zu machen (Regeln in concreto anzuwenden) durch Vernunft zu erfinden Principien für manigfaltige Regeln auszudenken. Daher wenn beyde erstere Vermögen unter dem titel bon sens (eigentlich intelligence und jugement zusammen vereinigt) die erste eigentliche Sphäre des Verstandes ausmachen so ist die Sphare der Vernunft etwas einzusehen mit Recht die Zweyte“ (Briefwechsel 1792 AA11: 346).
Der Verstand ist „das erste und vornehmeste“ unter den drei intellektuellen Vermögen (Verstand, Urteilskraft und Vernunft), weil er die Begriffe und Regeln erkennt und damit die Voraussetzung für die Beurteilung der Urteilskraft bietet. Die Urteilskraft funktioniert nur bei Anwendung des Verstandes und bringt weder neue Regeln noch neue Erkenntnisse hervor. Mit Kants Worten: „Dieses Vermögen [die Urteilskraft], welches nur auf das geht, was thunlich ist, was sich schickt, und was sich geziemt (für technische, ästhetische und praktische Urtheilskraft), ist nicht so schimmernd als dasjenige, welches erweiternd ist; denn es geht blos dem gesunden Verstande zur Seite und macht den Verband zwischen diesem und der Vernunft“ (ApH AA7: 199). In den beiden oben angeführten Absätzen weist Kant auf die Funktion der Urteilskraft im empirischen Bereich hin: nicht nur als die Anwendung des Verstandes, sondern auch als ein Übergang zwischen dem Verstand und der Vernunft. Das heißt, dass durch den Gebrauch des Verstandes in konkreten Fällen die Sphäre des Verstandes der Sphäre der Vernunft näher kommen kann – anders gesagt: Die Urteilskraft hilft dem Verstand, sich der Vernunft zu nähern. Wie kann man dies verstehen? Kant unterteilt die Entwicklung des Erkennens in drei Phasen: „1. de[n] Begriff [zu] verstehen, 2. a posteriori an[zu]wenden, 3. apriori ein[zu]sehen“ (RefA AA15: 171). Er ordnet auch die drei Modalitäten der Urteile – Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit – jeweils der Funktion der drei intellektuellen Vermögen zu, nämlich dem Verstand, der Urteilskraft und der Vernunft (RefA AA15: 172; siehe auch KrV A75/B100). Noch deutlicher beschreibt er die Beziehung zwischen den drei Vermögen wie folgt: „Verstand a priori ist Vernunft (dessen Urtheile nicht unter einem empirischen Erkenntnis stehen). Verstand als ein Vermögen der Anwendung a posteriori: Urtheilskraft“ (RefA AA15: 166).
2.3 Funktionsweise des gemeinen Verstandes
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Wie schon erwähnt wurde, kann der gemeine Verstand keine objektive und apriorische Erkenntnis hervorbringen; deshalb fungiert die Forderung der Vernunft nach apriorischer Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit als ein regulatives Prinzip zum gemeinen Verstand. Die Urteilskraft als „Verband“ lässt sich daher so verstehen, dass der Verstand beim gemeinen Gebrauch sich selbst verfeinert und vervollkommnet – anders gesagt, dass die empirischen Regeln durch die Anwendung auch zur Allgemeinheit und Notwendigkeit gelangen. Nach kontinuierlichem Gebrauch können sie geprüft und bestätigt und damit auch verbessert und erweitert werden. „Der gesunde Verstand aber kann diese seine Vorzüglichkeit nur in Ansehung eines Gegenstandes der Erfahrung beweisen: nicht allein durch diese an Erkenntniß zu wachsen, sondern sie (die Erfahrung) selbst zu erweitern, aber nicht in speculativer, sondern blos in empirisch=praktischer Rücksicht. Denn in jener bedarf es wissenschaftlicher Principien a priori; in dieser aber können es auch Erfahrungen, d. i. Urtheile sein, die durch Versuch und Erfolg kontinuierlich bewährt werden.“ (ApH AA7: 140)
Es ist auch zu bemerken, dass die beiden Elemente, Regeln zu erkennen und sie zu verwenden, nur hier künstlich geteilt werden. In der realen praktischen Anwendung des gemeinen Verstandes lassen sie sich nicht voneinander trennen und nur beide zusammen konstruieren einen zirkulären und sich vervollständigenden Vorgang der Anwendung. Dieser Prozess lässt sich wie folgt darstellen: Aus dem Gebrauch des gemeinen Verstandes in concreto folgt das Erkennen des abstracto und universale (Verstand). Hieraus folgt der Gebrauch des universale in concreto (Urteilskraft) und dadurch auch die Überprüfung und Verbesserung des universale (Verstand), woraus wiederum das Verwenden des abstracto in concreto (Urteilskraft) erfolgt und so weiter. Bei diesem Verbesserungsprozess des gemeinen Verstandes geht es nicht nur darum, die Regeln des Verstandes zu vervollständigen und zu vervollkommnen, sondern auch darum, die Urteilskraft zu verbessern, d. h. in konkreten Situationen jeweils eine angepasste Regel zu verwenden. Nur durch den Gebrauch der Urteilskraft wird das Vermögen selbst auch geprüft und geübt, da die Regeln nur in konkreten Situationen gelten und mithin nur in solchen bestätigt werden können. Anders als der Verstand, der „noch durch Belehrung mit vielen Begriffen bereichert und mit Regeln ausgestattet werden“ kann, der also nicht unmittelbar durch eigene Erfahrung, sondern nur durch Gelehrsamkeit vergrößert und verbessert werden kann, kann die Urteilskraft „nicht belehrt, sondern nur geübt werden“. Das heißt, dass die Vervollkommnung der Urteilskraft ein jeder durch eigene Lebenserfahrung selbst schaffen muss, „daher ihr Wachstum Reife, und derjenige Verstand heißt, der nicht vor Jahren kommt. Dies ist also der Verstand, von dem man sagt, daß er nicht vor den Jahren kömmt; der auf eigener langen Erfahrung
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2 Erkenntnis – Der sensus communis logicus
gegründet ist und dessen Urteil eine französische Republik bei dem Hause der so genannten Ältesten sucht“(ApH AA7: 199). Die Urteilskraft im empirischen praktischen Sinn wird mit einem zu Kants Zeit neu aufgetauchten Begriff, nämlich ‚Mutterwitz‘,²⁴ gleichgesetzt, unter dem man einen natürlichen und angeborenen Klugheit versteht. Ähnlich der Entgegensetzung von Urteilskraft und Verstand wird der Mutterwitz der Gelehrsamkeit (Schulwitz) entgegengesetzt. Letzterer wird durch die Belehrung der Erkenntnis und die historische Wissenschaft erworben, während man den ersteren als eine Naturanlage von Geburt an besitzt und nur durch Erfahrung übt. „Urtheilskraft [ist] aber ein besonderes Talent, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will. Daher ist diese auch das specifische des sogenannten Mutterwitzes, dessen mangel keine Schule ersetzen kann“ (KrV A133/B172). Ein Mangel an Urteilskraft wird Dummheit genannt und dieser kann nicht durch Belehrung abgeholfen werden. Deshalb ist nach Kant ein gelehrter Mann auch nicht unbedingt klug – d. h., obwohl er Regeln im Kopf hat, kann er wegen des Mangels an natürlicher Urteilskraft die allgemeinen Regeln in konkreten Situationen nicht angemessen verwenden. Nur durch Beispiele kann die Urteilskraft geübt und geschärft werden. Zusammenfassend ist der gemeine Verstand ein Komplex aus Verstand und Urteilskraft. Der Verstand erwirbt sich die allgemeinen Regeln aus konkreten Situationen und die Urteilskraft wirkt als ein natürliches Vermögen, die Regeln des Verstandes in konkreten Situationen anzuwenden. Durch Erkennen und kontinuierliche Verwendung der allgemeinen Regeln werden einerseits die Regeln geprüft, bestätigt und vervollständigt sowie andererseits auch die Urteilskraft geübt. Kurz gesagt: Der gemeine Verstand wird durch seine Verwendung in der Praxis verbessert, obwohl er stets ein mangelhaftes Vermögen bleibt.
2.4 Verbesserung des gemeinen Verstandes Der Funktionsweise des gemeinen Verstandes entsprechend besteht auch der gesunde Verstand aus zwei Elementen: dem richtigen Verstand und der geübten Urteilskraft. Prinzipiell sollte der gemeine Verstand seine Beschränkung erkennen, dass er nur im empirischen Bereich Regeln erkennen und verwenden kann. Kant schreibt: „Gesunder Verstand wird dem kranken, aber auch dem feinen Contradistinguirt“ (HNL AA16: 13) und „Gesunder Verstand: a. Einfalt. b. Rich-
Mutterwitz: Dieses Wort „ist erst seit dem . jahrh. nachzuweisen und vor Adelung in den wörterbüchern nicht aufgeführt“. Aus: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. , Sp. .
2.4 Verbesserung des gemeinen Verstandes
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tigkeit. c. Nutzbarkeit. kann klein seyn, aber gut. […] (Falscher Verstand ist groß und unrichtig. Ungeübte, verderbte Vernunft. Unerfahrenheit, Falschheit. e. g. Sinne und Geistererscheinungen.)“ (HNL AA16: 12 f.). Daher besteht die Fehlbarkeit des gemeinen Verstandes in 3 Aspekten: 1. Überschreiten seiner Grenzen (im Gegensatz zum spekulativen Verstand im Sinne der Feinheit); 2. falsche Verwendung des Verstandes; 3. Beschränktheit des Verstandes im Vergleich zum reinen Verstand und Ungeübtheit der natürlichen Urteilskraft. Kants Kritik zum ersten Punkt wird im nächsten Abschnitt (2.5) dargestellt. In Bezug auf den dritten Punkt können Verstand und Urteilskraft nur durch Erfahrung verbessert werden. In den folgenden Abschnitten geht es hauptsächlich um den zweiten Punkt, die falsche Verwendung des Verstandes.
2.4.1 Irrtum und Logik des gemeinen Verstandes Bei der Anwendung des gemeinen Verstandes geht es darum, wie wir im alltäglichen Leben denken und urteilen. Das betrifft nicht nur die richtige Verwendung des Verstandes, sondern auch seine mangelhafte Verwendung, z. B. bei Gemütsschwächen und Gemütskrankheiten, durch die Fehler entstehen. Die LeibnizWolff-Schule rechnet diese Fehler der Verworrenheit der Erkenntnis der Sinnlichkeit zu, aus der unsere undeutlichen Vorstellungen resultieren. Nur die intellektuelle Erkenntnis kann deutliche und richtige Erkenntnisse hervorbringen. Kant stimmt dem logischen Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand nicht zu, da dieser nur die Form der Erkenntnis betrifft. Stattdessen weist er die unterschiedlichen Rollen von Inhalt und Ursprung der Erkenntnis jeder der beiden Erkenntnisarten zu und beide Erkenntnisarten können deutlich oder undeutlich sein. Die Sinnlichkeit fungiert dabei passiv und rezeptiv, der Verstand aktiv und bestimmend; Erkenntnis wird als eine Verbindung von sinnlichem Inhalt und intellektueller Form aufgefasst. Der Grund eines irrigen Urteils liegt nach Kant weder im Verstand allein noch in den Sinnen allein, denn der Verstand fungiert nach seinen Gesetzen und das Urteil muss mit den Gesetzen notwendig übereinstimmen. Die Sinne haben überhaupt keine Befugnis, zu urteilen. Der Irrtum entsteht vielmehr „durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand, […] wodurch es geschieht, daß die subjektiven Gründe des Urteils mit den objektiven zusammenfließen und diese von ihrer Bestimmung abweichend machen“ (KrV A294/B350).Wenn wir den Erkennensprozess als eine physikalische Bewegung metaphorisieren, hält der Verstand als eine Kraft den bewegten Körper in gerader Linie in einer Richtung, während die Sinnlichkeit als eine andere, eingemengte Kraft in einer anderen Richtung auf ihn einwirkt und ihn in eine krumme Bewegung bringt. Das irrige Urteil ist daher als „die Diagonale zwischen
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zwei Kräften anzusehen, die das Urtheil nach zwei verschiedenen Richtungen bestimmen, die gleichsam einen Winkel einschließen, und jene zusammengesetzte Wirkung [ist] in die einfache des Verstandes und der Sinnlichkeit aufzulösen“ (KrV A295/B351). Die falsche Anwendung des Verstandes wird von den Disziplinen Psychologie und Anthropologie behandelt, worauf wir hier nicht weiter eingehen. Bedeutender ist die Frage,wie wir richtig denken und den Irrtum vermeiden können. Dies betrifft auch die Logik des gemeinen Verstandes. Die Wissenschaft des gesunden Verstandes fokussiert darauf, wie man ihn richtig gebrauchen kann. „Die Logik ist eine Philosophie über die allgemeinen Gesetze des richtigen Gebrauches unseres Verstandes und Vernunft“ (HNL AA16: 20). Die gemeine Vernunft ist keine gesunde Vernunft und nicht einmal eine natürliche, da sie einen Hang hat, zu verderben und oft missbraucht wird. Durch die Logik müssen wir uns noch einmal selbst erziehen. Jedoch gibt die Logik der gemeinen Vernunft keine konkrete Anweisung, wie eine gewisse Erkenntnis zustande gebracht werden soll; sie dient nur dazu, den Missbrauch zu kritisieren und abzuschaffen. Die Logik dient dem gemeinen Verstand nur als Kathartikon (KrV A53/ B78). Hierzu schreibt Kant: „Diese Logic ist keine doctrin, sondern disciplin, kein organon, sondern catarcticon. Wir restituiren den Verstand in seine Reinigkeit“ (HNL AA16: 27, siehe auch RefA AA15: 173 und HNL AA16: 21, 27). „Die gesunde Vernunft gründet sich nicht auf die Logik, sondern diese dient ihr wie (entspringt aus ihr wie die) grammatic zur Verbesserung.“ (HNL AA16: 14)²⁵ Kant bildet hier eine nachvollziehbare Metapher: Die Logik verhält sich zum gemeinen Verstand wie die Grammatik zur Sprache. Wir haben die Sprache ohne ein Bewusstsein der Grammatik erlernt. „Durch bloße Grammactic kan man keine Sprache lernen“ (HNL AA16: 45). Erst nach der Anwendung der Sprache werden als Grammatik die Regeln der Sprache abgeleitet und zusammengefasst. Obwohl wir die Sprache schon verwenden können, müssen wir doch auch die Grammatik lernen, um alltägliche Verwendungsfehler zu vermeiden und die Sprache zu verbessern. Somit fungiert die Grammatik als Kathartikon und Kritik der Sprache. Die Logik verhält sich zum gemeinen Verstand in ähnlicher Weise: Sie ist kein Organon, d. h., sie dient nicht zum Erkenntnisgewinn. Sie nutzt der gemeinen Erkenntnis als Kathartikon und kritisiert die gemeine Anwendung des Verstandes, um dem verdorbenen Verstand abzuhelfen und das Erkennen zu verbessern.
Siehe auch Kant: Logik-Vorlesung. Unveröffentlichte Nachschriften I, Logik Bauch, bearbeitet von Tillmann Pinder, Meiner, Hamburg , S. .
2.4 Verbesserung des gemeinen Verstandes
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2.4.2 Die Maxime des gemeinen Menschenverstandes Um Irrtum zu vermeiden und dem verdorbenen Verstand abzuhelfen hat der Verstand in der empirischen Praxis drei subjektive Prinzipien und „Vorschriften: 1. die Maxime des Verstandes: Selbstdenken; 2. die Maxime der Urteilskraft: sich an die Stelle jedes Anderen zu denken und 3. die Maxime der Vernunft: jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken. Die erste Maxime ist die aufgeklärte, die zweite die erweiterte und die dritte die konsequente (bündige oder folgerechte) Denkungsart (vgl. ApH AA7: 200, 228 ff., HNL AA16: 294, Logik AA9: 57, Entwürfe AA15: 716). Diese drei aufsteigend angeordneten Maximen werden in verschiedenen Kontexten unterschiedlich bezeichnet: als zu Weisheit gelangende „Vorschrift“ (APH AA7: 200), als zur Weisheit führende Maximen und unwandelbare Gebote (APH AA7: 228) und als „allgemeine Bedingungen der Vermeidung des Irrthums“ (HNL AA16: 294).Im Folgenden sehen wir uns diese drei Maximen und ihre Beziehungen untereinander genauer an:
(1) Selbstdenken: Aufklärung Kant setzt einen natürlichen Zustand des Menschen voraus, wobei jeder Mensch in eine Unmündigkeit geraten ist. Der gesunde Verstand ist jedem bereits von Jugend an verdorben. Wegen „Faulheit und Feigheit“ wagt man es nicht, sich des eigenen Verstandes ohne die Leitung der Anderen zu bedienen. Man hat immer den Hang zu einer passiven Verwendung seiner Vernunft, also zum Vorurteil. Daher ist die Aufklärung eine dringende Aufgabe. Positiv gesagt: „Das Bewustseyn seines Vermögens und seines Berufs, selbst zu denken, ist Aufklärung“ (Entwürfe AA15: 822). Negativ gesagt – was bei Kant ebenfalls betont wird – gilt es, die Aufklärung der oben genannten passiven Situation entgegenzusetzen. Aufklärung heißt insofern also „Befreiung vom Aberglauben“ (KU AA5: 294). Genauer schreibt Kant 1784 in seinem Essay Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Aufklärung AA8: 35, vgl. auch KU AA5: 294 f.)
Die erste Maxime des Verstandes ist einerseits ein negatives Prinzip, da sie das negative „Prinzip der Zwangsfreien“ ist, andererseits aber auch ein positives Prinzip, d. h. das Prinzip der Autonomie der Vernunft. „Selbstdenken heißt: den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen“ (Orie. AA8: 146). Angesichts der gestuften Beziehung der drei Maximen
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weist Kant darauf hin, dass Aufklärung nur eine Etappenaufgabe im ganzen Geschäft der Vernunft sei und auf die anderen beiden Maximen vorbereite.
(2) Die erweiterte Denkungsart: Gemeinsinn Nach dem Ausgang aus der Unmündigkeit fängt man an, den eigenen Verstand zu verwenden. Dabei ist es wichtig, den Verstand richtig zu gebrauchen und nicht in Irrtümer zu geraten. Die zweite Maxime lautet daher: Sich an die Stelle jedes Anderen zu denken, um den Verstandesgebrauch zu überprüfen. Die Vernunft als ein regulatives Element fordert vom gemeinen Menschenverstand Allgemeingültigkeit. Die Maxime der Urteilskraft als eine erweiterte Denkungsart erfüllt diese Forderung und fungiert als ein Übergang vom Verstand zur Vernunft. Sich an die Stelle jedes Anderen zu denken ist erst „in der Mitteilung mit Menschen“ (ApH AA7: 200) möglich. Die Unvereinbarkeit anderer Meinungen mit der eigenen gilt als ein äußeres Merkmal des Irrtums und ein Hinweis darauf, dass man nur aus der privaten Situation geurteilt hat und sein Urteilsverfahren daher reflektieren und überprüfen muss. In Anbetracht dessen sind Publikationsfreiheit und Meinungsfreiheit sehr bedeutend, um eine gemeinschaftliche Sphäre aufzubauen: Durch den Meinungsaustausch hat man die Möglichkeit, die Position des Anderen zu verstehen, seinen Standpunkt einzunehmen und ihn mitzudenken. Die erweiterte Denkungsart als Gemeinsinn vollzieht sich jedoch nicht nur in der realen Kommunikation und einem wirklichen Vergleich der mitgeteilten Meinungen jedes Anderen, sondern auch in der Reflexion über jede mögliche andere Position. Diese „Operation der Reflexion“ geschieht, indem „man sein Urtheil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß mögliche Urtheile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt“ (KU AA5: 294). Dies wird dadurch realisiert, dass man „sich über die subjectiven Privatbedingungen des Urtheils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzt und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urtheil reflectirt“ (KU AA5: 295,vgl. auch HNL AA16: 38). Der sensus communis fungiert dann als ein empirischer Maßstab, durch den „wir die Vernunft anderer schätzen“ (HNL AA16: 16).
(3) Die Maxime der konsequenten Denkungsart: Kant nannte die erste Maxime das zwangsfreie Prinzip und die zweite das liberale, die erste das negative Prinzip und die zweite das positive. Bei dem ersten Prinzip kommt man durch die Leitung des Anderen zum eigenen Gebrauch des Verstandes, bei dem zweiten geht man von der eigenen beschränkten Position aus und kommt von dort her zu den Anderen. Diese dialektische Entwicklung wird in der dritten Maxime syn-
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thetisiert. Um dazu zu kommen, die eigene Vernunft konsequent und reif verwenden zu können, gibt es kein anderes Mittel als die angemessene Koordinierung von aufgeklärter und erweiterter Denkungsart. „Die dritte Maxime, nämlich die der consequenten Denkungsart, ist am schwersten zu erreichen und kann auch nur durch die Verbindung beider ersten und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung derselben erreicht werden“ (KU AA5: 295). Daraus geht hervor, dass der gemeine Verstand, obwohl er nur eingeschränkte Gültigkeit hat und leicht verderben kann, auch fähig ist, sich durch seine Funktionsweise in der Praxis zu verbessern. Der gemeine Verstand wird nicht nur als ein Erkenntnisvermögen im empirischen Bereich definiert, um die Regeln zu erkennen und zu verwenden, sondern er fungiert auch als prüfende Instanz, um sich selbst zu überprüfen, und er gibt sich selbst Maximen vor, um sich zu verbessern. In diesem Fall ist der gemeine Verstand sowohl der Kritisierende als auch der Kritisierte und zugleich auch der Gesetzgeber.
2.5 Der gemeine Verstand vs. sensus communis logicus Nach der Untersuchung der Funktionsweise und des sich selbst verbessernden Mechanismus des gemeinen Verstandes bleibt nun zu ermitteln, warum Kant den gemeinen Verstand dem sensus communis zuordnet (KU AA5: 295). Diese Frage lässt sich in zwei Unterfragen aufteilen, nämlich in die Frage nach ‚communis‘ und die nach ‚sensus‘ des sensus communis. Die zweite Frage nach der Bedeutung von ‚sensus‘ fragt, ob der gemeine Verstand zum sinnlichen Vermögen oder zum intellektuellen Vermögen gehört und in welchem Sinne er ein gemeinschaftlicher Sinn genannt werden kann. Die erste Frage betrifft die Bedeutung des ‚communis‘: Wenn Kant den gemeinen Verstand und das Geschmacksurteil gemeinsam dem sensus communis zuordnet (KU AA5: 295), bezeichnet er den sensus communis als die Idee eines gemeinschaftlichen Sinns oder als die Idee eines Beurteilungsvermögens (KU AA5: 293), das eine erweiterte Denkungsart erfordert. Das ‚communis‘ bezeichnet dabei diese Forderungen nach Gemeinschaftlichkeit und nach Allgemeingültigkeit des Urteils.
2.5.1 Gemeinschaftlichkeit und Allgemeingültigkeit Der gemeine Verstand als sensus communis verfügt über eine Maxime der erweiterten Denkungsart, um sich selbst zu verbessern. Dabei setzt der gemeine Verstand sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils hinweg und reflektiert über sein eigenes Urteil von einem allgemeinen Standpunkt aus. Die
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Unvollkommenheit des gemeinen Verstandes besteht in zweierlei Hinsicht: in seiner Beschränktheit und in seiner Fehlerhaftigkeit. Die empirischen Begriffe werden vom gemeinen Verstand hervorgebracht und die Urteilskraft kann nur durch Erfahrung geübt werden. Im Vergleich zur objektiven Allgemeingültigkeit des reinen Verstandes hat der gemeine Verstand insofern nur beschränkte und subjektive Gültigkeit, die durch empirische Erfahrung zustandekommt. Die Fehlerhaftigkeit des gemeinen Verstandes liegt im Einfluss der Sinnlichkeit auf den Verstand begründet. Der Reflexionsprozess des gemeinen Menschenverstandes hat daher ein zweifaches Ziel: erstens seine Begriffe und seine Erkenntnis zu vermehren, um einen umfassenderen Standpunkt zu haben, also eine Selbst-Erweiterung, und zweitens, vom sinnlichen Einfluss zu abstrahieren und seine empirische Verwendung zu reinigen, damit die Gedanken nur vom Verstand bestimmt werden, also eine Selbst-Abstrahierung. Die erweiterte Denkungsart vollzieht sich ebenfalls in zwei Weisen: indem sie sich erstens an die empirische Stelle jedes Anderen versetzt und zweitens an die apriorische Stelle jedes Anderen. Das erstere setzt eine kognitive Gemeinschaft voraus und das letztere eine potenziale intellektuelle Kompetenz des gemeinen Subjekts. Kant stellt die selbst-abstrahierende Reflexion als einen Prozess dar, bei dem man „auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde“ (KU AA5: 293). Obwohl man in empirischen Situationen nie die gesamte Menschenvernunft, d.i. die reine Menschenvernunft, erreichen kann, reguliert die Vernunft den gemeinen Verstand dahingehend, dass er sich ihr annähert. Es wird daher angenommen, dass der gemeine Mensch in der Sinnenwelt schon eine potenzielle intellektuelle Kompetenz hat. Das heißt, dass bei dieser Reflexion eine Selbst-Aufspaltung des Subjekts stattfindet: Man könnte aus seiner eigenen Position als ein Sinnenmensch heraustreten und sich in die apriorische Position eines vernünftigen Wesens setzen, von der aus man sich selbst dann beurteilen und kritisieren könnte. Zwar hat das lateinische Wort ‚communis‘ die Bedeutung von ‚üblich‘ und ‚zugänglich‘ und mit dem ‚gemeinen Verstand‘ ist in erster Linie auch ein vulgärer und unfeiner Verstand gemeint, aber seine Idee von Allgemeingültigkeit beinhaltet die Forderung, das Vulgäre zu überschreiten und sich der Intellektualität anzunähern. Kant stellt die intersubjektiven Beziehungen zwischen den empirisch Erkennenden und Urteilenden in einer kognitiven Gemeinschaft wie folgt dar: Einerseits hat man nur einen beschränkten und mangelhaften Verstand, deshalb braucht man die Urteile von Anderen als Probierstein und andererseits neigt man dazu, auf seinen Verstand zu verzichten und so von den Anderen abhängig zu sein – deshalb
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sollte man auch Distanz halten zu den Anderen, um selbstständig zu sein.Wir sind in eine Welt mit vorgefundenen Erkenntnissen geboren und darin aufgewachsen, die uns nicht nur historische Gewissheit, sondern auch einen fruchtbaren Boden für die Nachahmung anbietet, z. B. Formeln, Sprüche, Sentenzen und Canones (Logik AA9: 77). Die Quelle der Vorurteile existiert faktisch als ein Teil unserer Erfahrungswelt. Insofern die Vorurteile nur als vorläufige Urteile angesehen werden, dienen sie als Leitungsmittel und sind unentbehrlich für den Gebrauch des Verstandes zum Untersuchen. Wenn wir die Vorurteile aber als Grundsätze annehmen, dann führen sie zu irrigen Urteilen. Die Falschheit liegt darin, eine subjektive Ursache mit dem objektiven Grund zu vertauschen. Diese Vertauschung spricht nicht nur für die Heteronomie der gemeinen Vernunft auf der Ebene der Erkenntnisvermögen, sondern sie weist auch auf die Abhängigkeit des Subjekts von Anderen auf der Ebene der Intersubjektivität hin. Es geht nicht nur um die Unmündigkeit des Verstandes, sondern auch um ein krankes Selbstbewusstsein in der gesellschaftlichen Beziehung: Man will nur ein Schüler und Lehrling sein, jedoch kein mit Anderen gleichberechtigter Erkennender (HLN AA16: 419). Gegen diese Unmündigkeit des Verstandes und Unselbstständigkeit des Subjekts richtet sich die erste Maxime, die Maxime des Selbstdenkens, während die zweite Maxime, die Maxime der erweiterten Denkungsart, sich auf den gegenteiligen Extremfall bezieht: den logischen Egoismus. In der empirischen Verwendung des gemeinen Verstandes benötigen wir einen subjektiven Probierstein des Gemeinsinns und wir müssen den je eigenen Verstand „auch an den Verstand anderer halten, nicht aber uns mit dem unsrigen isolieren, und mit unserer Privatvorstellung doch gleichsam öffentlich urteilen.“ (ApH AA7: 219) Diejenigen, die sich nicht an diesen Probierstein halten, werden als „Egoisten“ bezeichnet. Sie leben in ihrer eigenen Welt und isolieren sich von den Anderen. Ein solcher Verlust des Gemeinsinns ist nicht weit von der Verrücktheit entfernt. „Der, welcher sich an diesen Probierstein gar nicht kehrt, sondern es sich in den Kopf setzt, den Privatsinn, ohne, oder selbst wider den Gemeinsinn, schon für gültig anzuerkennen, ist einem Gedankenspiel hingegeben, wobei er nicht in einer mit anderen gemeinsamen Welt, sondern (wie im Traum) in seiner eigenen sich sieht, verfährt und urteilt“ (ApH AA7: 219). „Der logische Egoist hält es für unnötig, sein Urteil auch am Verstande anderer zu prüfen; gleich als ob er dieses Probiersteins (criterium veritatis externum) gar nicht bedürfe“ (ApH AA7: 128). Mit Bezug auf eine solche Anmaßung in unterschiedlichen Aspekten (beim Verstand, beim Geschmack und bei der praktischen Anwendung) unterteilt Kant die Egoisten in drei Arten: den logischen, den ästhetischen und den praktischen Egoisten. Die gesellschaftliche Dimension des Gemeinsinns beinhaltet dementsprechend nicht nur eine kognitive, sondern auch eine ästhetische und eine
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praktische Gemeinschaftlichkeit, die in den nächsten beiden Kapiteln näher erläutertwerden. „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten“ (ApH AA7: 130). Der gemeine Menschenverstand als gesammelte und geprüfte Erfahrung wird von allen Subjekten, die mit uns in einer Welt zusammenleben, bewahrt. Wir verwenden den gemeinen Menschenverstand als einen äußeren Maßstab, um unsere eigenen Urteile dadurch zu überprüfen, dass wir sie mit anderen vergleichen und auf diese Weise verifizieren. Denn in der empirischen Welt können wir durch den gemeinen Verstand keine objektiv notwendige Wahrheit besitzen, welche apriorische Regeln benötigt. Der Urteilende in der Praxis ist kein rein vernünftiges Wesen, sondern ein Wesen im anthropologischen Sinne, d. h. mit der Schwäche des Verstandes und mit der Beschränkung auf ein einziges Leben in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort. Wir sind in einem unvollkommenen Sinne mit- und füreinander da und fördern gemeinsam das gemeine Leben. Einerseits teilen wir den Anderen unsere Urteile mit und andererseits nehmen wir auch an den Urteilen der Anderen teil. Durch die gegenseitige Kommunikation werden die empirischen Erkenntnisse vervollkommnet und verbessert. „Die Mittheilende Neigung der Vernunft ist nur unter der Kondition billig, daß sie zugleich mit der theilnehmenden Verbunden sey. Andere sind nicht Lehrlinge, auch nicht Richter, sondern Collegen im großen Rathe der menschlichen Vernunft und haben ein votum consultativum, und vnanimitas votorum est pupilla libertatis. liberum veto“ (HNL AA16: 419 f.). Die Idee des sensus communis liegt indessen darin, eine Welt der gemeinschaftlichen Erfahrungen aufzubauen, wobei alle mithilfe der eigenen beschränkten Erkenntnisse sich miteinander austauschen und sich gegenseitig überprüfen können, sodass sie von der jeweils eigenen Neigung abstrahieren und letztlich mit eigener Vernunft selbst denken können.
2.5.2 Verstand oder Sinn? Nach den vorigen Erläuterungen der Bedeutungen und Funkionen des sensus communis logicus ist es nun nicht schwer, zu beurteilen, ob dieser zum Verstand oder zum Sinn gehört. Kant unterscheidet den Verstand vom Sinn explizit durch die Trennung von „obere[m] Erkenntnisvermögen“ und „untere[m] Erkenntnisvermögen“ (ApH AA7: 143). Das letztere empfindet Vorstellungen und Anschauungen nur passiv, während das erstere die mannigfaltigen Vorstellungen spontan zusammenstellen kann. Nur der Verstand ist imstande, Beurteilungen zu treffen.
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Der Sinn dient dem Verstand dazu, zu urteilen und kann selbst nicht alleine als ein Beurteilungsvermögen funktionieren. Die beiden sollten sich dementsprechend an ihre hierarchisch gegliederten Befugnisse halten, denn jede über ihre jeweiligen Befugnisse hinausgehende Tätigkeit führt zum Irrtum. Gleich wie die Antinomie dadurch hervorgebracht wird, dass der Verstand seine Grenze überschreitet, entsteht der Irrtum dadurch, dass der Sinn dem Verstand übergeordnet wird. Der sensus communis logicus gehört daher als ein empirisches Erkenntnisund Beurteilungsvermögen zum Verstand. Kant schreibt: „Der Gemeine Verstand erkennt daß universale in concreto. Der Gesunde thut dieses nach Gründen des Verstandes, nicht der sinnlichen illusion, Vorurtheil“ (HNL AA16: 19). „Der Verstand ist an sich schon gemeinschaftlich (Urtheil: gemeingültig, der Sinn hat Privatgültigkeit); daher sagt man auch nicht: intellectus communis, sondern: vulgaris, d. i. der empirisch fähige Verstand. Man nennt aber diesen auch sensus communis, weil das, was zunächst bey den Sinnen durch den Verstand geurtheilt wird, mit zum Sinne gerechnet wird.“ (HNL AA16: 144, Herv. d. Verf.) Dass man den gesunden Menschenverstand auch Gemeinsinn nennt, ist ein alltäglicher und historischer Missbrauch des Begriffs: Die Leistungen des Verstandes werden übersehen und nur ihre Resultate als die eines sinnlichen Instinktes werden bemerkt – deshalb wird der ‚sensus communis‘‚ oft einem sinnlichen Vermögen zugeordnet. Wenn ein Urteil nicht vermittels des Verstandes zustandekommt, sondern unmittelbar aus dem inneren Sinn hervorgeht, bezeichnet Kant dies als Schwärmerei und als eine Gemütskrankheit: „der Hang, das Spiel der Vorstellungen des inneren Sinnes für Erfahrungserkenntnis anzunehmen“ (ApH AA7: 161). Der Grund dafür, dass dieser Missbrauch entsteht, wird von Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht an zwei Stellen geklärt: (1) Kant erklärt mit der Funktion der Einbildungskraft, warum der gemeine Verstand dem Verstand zugeordnet wird. Bereits gegen Ende der 1750er Jahre hatte er darauf hingewiesen, dass die gemeine Erkenntnis durch die Einbildungskraft, „den vicarius der Sinne“ (HNL AA16: 8), unterhalten und verdunkelt werde. In Bezug auf die genaue Funktion der Einbildungskraft schreibt er: „dass man den gesunden Menschenverstand auch Gemeinsinn nennt, und ihn, obzwar dieser Ausdruck eigentlich nur die niedrigste Stufe von Erkenntnisvermögen bezeichnet, doch obenan setzt, gründet sich darauf, dass die Einbildungskraft, welche dem Verstande Stoff unterlegt um den Begriffen desselben Inhalt (zum Erkenntnisse) zu verschaffen, vermöge der Analogie ihrer (gedichteten) Anschauungen mit wirklichen Wahrnehmungen, jenen Realität zu verschaffen scheint“ (ApH AA7: 169). Die „gedichteten Anschauungen“ entstammen der Synthesis-Leistung der produktiven Einbildungskraft, welche Kant Apprehension nennt. Die Einbildungskraft setzt das Mannigfaltige in einer empirischen Anschauung zusammen,
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wodurch die Wahrnehmung derselben als Erscheinung möglich wird. Obwohl die Synthesis als eine Verbindung des Mannigfaltigen nur auf unsere sinnliche Anschauung angewandt werden kann und daher empirisch ist, muss sie der apriorischen Synthesis der Apperzeption, welche das intellektuelle Bewusstsein ist, gemäß sein. Da die gedichteten Anschauungen keine unmittelbare sinnliche Wahrnehmung, jedoch eine Analogie derselben sind, kann man den Gemeinsinn nicht dem Sinn zuordnen. Wie Kant explizit äußert, sollte diese produktive Funktion der Einbildungskraft dem Verstand zugeordnet werden: „Es ist eine und dieselbe Spontaneität, welche dort unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung hineinbringt“ (KrV B162, siehe auch A119). An manchen Stellen identifiziert Kant die Einheit der Apperzeption in Bezug auf die Synthesis der Einbildungskraft mit dem Verstand (KrV A119, siehe auch Nachträge zur Kritik der reinen Vernunft AA23: 18). (2) Die zweite Stelle lautet: „Zwar gibt es Urteile (des gemeinen Menschensinns, sensus communis), die man eben nicht förmlich vor den Richterstuhl des Verstandes zieht, um von ihm abgeurteilt zu werden; die daher unmittelbar durch den Sinn diktiert zu sein scheinen. […] Aber sie kommen in der Tat nicht aus den Sinnen, sondern aus wirklichen ob zwar dunklen Überlegungen des Verstandes“ (ApH AA7: 145, Herv. d. Verf.). Bemerkenswert ist der ambivalente Ausdruck „dunkle[…] Überlegungen des Verstandes“. Ähnliche Ausdrücke tauchen auch an anderen Stellen auf, zum Beispiel: „ohne sich der Acte, die hiebei im inneren des Gemüths vorgehen, bewußt zu werden“ (ApH AA7: 140), „alle Acte der Reflexion, die er hiebei wirklich, obzwar im Dunkelen, anstellt“ (ApH AA7:145), „nach dunkel vorgestellten Prinzipien“ (KU AA5: 238). Was soll man darunter verstehen? An vielen Stellen wird der Begriff „Überlegung“ im gleichen Sinne wie „Reflexion“ verwendet,²⁶ was das Bewusstsein der Tätigkeit der Zusammenstellung des Mannigfaltigen der Vorstellungen nach den Regeln des Verstandes bezeichnet. Es gibt nach Kant zwei Arten der Überlegung: erstens die logische und zweitens die transzendentale. Die erstere ist „die Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen in einem Bewußtsein begriffen sein können“ KrV A/B: „Die Überlegung (reflexio) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu thun, um gerade zu von ihnen Begriffe zu bekommen, sondern ist der Zustand des Gemüths, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjective Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können“. Siehe auch die folgenden Stellen ApH AA: : „Man sieht wohl, daß, wenn das Vermögen der Erkenntniß überhaupt Verstand (in der allgemeinsten Bedeutung des Worts) heißen soll, dieser das Auffassungsvermögen (attentio) gegebener Vorstellungen, um Anschauung, das Absonderungsvermögen dessen, was mehreren gemein ist (abstractio), um Begriff, und das Überlegungsvermögen (reflexio), um Erkenntniß des Gegenstandes hervorzubringen, enthalten müsse“. RefA AA: „Die Vernünftige Überlegung (reflexion) ist allem Erkentnis gemein“.
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(Logik AA9: 94) und die letztere ist die Überlegung, zu welchem Erkenntnisvermögen (sinnlicher Anschauung oder reinem Verstand) unsere Vorstellungen gehören. Bei der ersteren geht es um die Erzeugung der empirischen Begriffe aus Erfahrung, was zur Verwendung des gemeinen Verstandes gehört, und bei der letzteren um den transzendentalen Verstandesgebrauch. In Bezug auf die Dunkelheit schreibt Kant: „[d]ie Verschiedenheit der Form des Erkenntnisses beruht auf einer Bedingung, die alles Erkennen begleitet, auf dem Bewußtsein. Bin ich mir der Vorstellung bewußt: so ist sie klar; bin ich mir derselben nicht bewußt, dunkel“ (Logik AA9: 33). Insofern kann man unter der Dunkelheit verstehen, dass man sich der Vorstellung nicht bewusst ist. Wie aber kann man dann diese widersprüchliche Zusammensetzung von „Überlegung“ als Bewusstsein des Inneren und „dunkel“ als Unbewusstsein verstehen? Kant hat einen ähnlichen Ausdruck „dunkele Vorstellung“ wie folgt erklärt: Wir sind uns des Ganzen der Vorstellung schon bewusst, jedoch sind die Teile, aus der das Ganze besteht, undeutlich und dann ist auch die Vorstellung undeutlich. Ein schlichtes Allgemeines und Ganzes ist gegeben, aber nicht die mannigfaltigen Details und das Einzelne, das in ihr enthalten ist. Wenn wir beispielsweise ein Landhaus in der Ferne erblicken, sind wir uns des Gegenstandes als eines Hauses bewusst, aber wir sehen die Teile des Hauses, z. B. die Fenster und Türen, nicht. Dann haben wir nur eine undeutliche Vorstellung von dem Haus (Logik AA9: 34, siehe auch ApH AA7: 134– 137). Daher können wir vermuten, dass wir uns bei der „dunkelen Überlegung“ durch das innere Gemüt und dessen Wirkung nur der ganzen Tätigkeit des Verstandes und der Einbildungskraft bewusst sind, aber nicht mit intellektuellen und regelmäßigen Leistungen. Daher liegt die Aufgabe der Metaphysik darin, „die Nebel der Verworrenheit zu zerstreuen, die den gemeinen Verstand verdunkeln“²⁷. Im Gegensatz zur Dunkelheit der Überlegung des gemeinen Verstandes hat die transzendentale Überlegung „die Klarheit der Vorstellungen meiner Seele“ (MAN AA4: 542). Die „dunkele Überlegung“ wird nicht weiter thematisiert, „weil es [das Feld dunkler Vorstellungen] aber diesen [Menschen] nur in seinem passiven Teile als Spiel der Empfindungen wahrnehmen lässt, so gehört die Theorie derselben [der dunkelen Vorstellungen] doch zur physiologischen Anthropologie“ (ApH AA7: 136).²⁸ Durch diese Untersuchung kann der gemeine Verstand als ein oberes Erkenntnisvermögen festgelegt werden. Obwohl die Einbildungskraft als ein sinnliches Er-
Kant: Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen. In: Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Sonderausgabe Darmstadt , Bd. , S. . Siehe auch Reinhart Brandt: Kommentar zu Kants Anthropologie. Meiner, Hamburg , S. – .
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kenntnisvermögen dabei eine wesentliche Rolle spielt, ist sie hier lediglich eine Funktion des Verstandes. Der Begriff des sensus communis bedeutet dabei nicht, dass es ein sinnliches Vermögen im theoretischen Bereich gibt, das allgemein urteilen kann, sondern dass auch der gemeine Verstand eine Maxime der erweiterten Denkungsart hat, durch die man sowohl darauf abzielt, seine Gedanken allgemein mitzuteilen, als auch eine Empfänglichkeit für die mitteilbaren Vorstellungen hat,welche auch eine Fähigkeit des Verstandes ist, die mitgeteilten Vorstellungen aufzufassen und im Denken zu vereinigen (ApH AA7: 169). Auch in diesem Sinne weist Kant in Bezug auf die Unterordnung des gemeinen Verstandes und des ästhetischen Gemeinsinns unter den sensus communis darauf hin, „daß der Geschmack mit mehrerem Rechte sensus communis genannt werden könne, als der gesunde Verstand; und daß die ästhetische Urtheilskraft eher als die intellectuelle den Namen eines gemeinschaftlichen Sinnes führen könne,wenn man ja das Wort Sinn von einer Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüth brauchen will: denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust.“²⁹ (KU AA5: 295)
2.6 Gemeiner Menschenverstand und Metaphysik 2.6.1 Kritik am common sense der schottischen Schule Das Problem Humes mit der Begründung des Ursache-Wirkungs-Verhältnisses stellt eine Herausforderung für die zeitgenössischen Philosophen dar, welche die Erkenntnis auf eine sichere Grundlage stellen möchten. Die schottische Schule und Kant bieten zwei Lösungen für dieses Problem an. Kant unternimmt die Kritik des Vernunftvermögens überhaupt, um die Quelle, den Umfang und die Grenzen der Metaphysik gründlich zu untersuchen. Die schottischen Philosophen – wie Reid, Oswald und Beattie – verfechten das Prinzip des common sense als letztes Kriterium der Wahrheit. Aufgrund des Einflusses von Humes Skeptizismus verzichten sie ganz auf die philosophische Rechtfertigung und gehen von psychologischen Beobachtungen und Introspektion aus. Nach ihrer Theorie ist der Begriff ein intuitives Vermögen zur Einsicht in die Wahrheit und gilt sowohl als allgemeine Voraussetzung als auch als Grundprinzip des Erkennens. Manfred Kühn fasst die grundlegenden Eigenschaften der schottischen Common-sense-Philosophie wie folgt zusammen: „its intention is the refutation of scepticism and idealism (which are understood as being most closely connected), its method is
Ob es im theoretischen Bereich auch ein Gefühl der Lust gibt, werden wir im nächsten Kapitel sehen.
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that of psychological observation and introspection, its subject matter consciousness, and its systematic position is characterized negatively by the refusal of any sort of representationalism and positively by the affirmation of principles which are prior to and independent of experience, but presupposed in all knowledge whatsoever.“³⁰ Kant kritisiert die Common-sense-Philosophie in folgenden Aspekten: 1) zur Quelle des common sense: Der common sense der schottischen Philosophie besteht nach Kants Auffassung nur aus dem „Urteil der Menge“ (Prolegomena AA4: 259); er versteht ihn „als das vulgare, was man allenthalben antrifft“ (KU AA5: 293). Dieses instinktive Vermögen, welches keine Bestätigung durch Erfahrung und keine Kultivierung benötigt, scheint ihm wie ein „Orakel“. Obwohl wir nach Kant im moralischen Bereich den gemeinen Verstand als allgemeines und angeborenes Urteilsvermögen haben, muss man im theoretischen Bereich den gemeinen Verstand und seine Regeln immer durch Erfahrung erwerben und „durch Thaten beweisen“ (Prolegomena AA4: 259). 2) zur Verwendung des gesunden Verstandes: Die schottischen Philosophen sind der Ansicht, dass der gemeine Verstand die apriorischen Begriffe und Grundsätze der reinen Vernunft erklären kann – daher wird die Spekulation und Wissenschaft hier gar nicht benötigt. Dies kritisiert Kant als naturalistische Methode und stellt es in Gegensatz zu seiner „szientifische[n] Methode“ (KrV A856/ B884). „Der Naturalist der reinen Vernunft nimmt es sich zum Grundsatze: daß durch gemeine Vernunft ohne Wissenschaft (welche er die gesunde Vernunft nennt) sich in Ansehung der erhabensten Fragen, die die Aufgabe der Metaphysik ausmachen, mehr ausrichten lasse, als durch Speculation. Er behauptet also, dass man die Größe und Weite des Mondes sicherer nach dem Augenmaße, als durch mathematische Umschweife bestimmen könne“ (KrV A855/B883). An dieser Misologie kritisiert Kant, dass die Naturalisten mit ihrem Wahrspruch zwar vergnügt und beifallswürdig leben können, jedoch nicht in der Lage seien, zum Geschäft der Vernunft beizutragen, da die Metaphysik über alle mögliche Erfahrung und damit auch über ihre Fähigkeiten hinaus gehe. Sich in der Philosophie auf den common sense zu stützen, ist für Kant nur eine Ausflucht davor, ernsthaft zu spekulieren. Mit einer Metapher illustriert Kant den unterschiedlichen Verwendungsbereich des gemeinen Verstandes und des spekulativen Verstandes anschaulich: „Meißel und Schlägel können ganz wohl dazu dienen, ein Stück Zimmerholz zu bearbeiten, aber zum Kupferstechen muß man die Radirnadel brauchen. So sind gesunder Verstand sowohl als speculativer beide, aber jeder in seiner Art brauchbar:
Siehe Manfred Kühn: Scottish Common Sense in Germany. – . McGill-Greens University Press, Kingston/Montreal , S. .
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jener, wenn es auf Urtheile ankommt, die in der Erfahrung ihre unmittelbare Anwendung finden, dieser aber, wo im Allgemeinen, aus bloßen Begriffen, geurtheilt werden soll, z. B. in der Metaphysik, wo der sich selbst, aber oft per antiphrasin so nennende gesunde Verstand ganz und gar kein Urtheil hat“ (Prolegomena AA4: 260). Nur wenn der gemeine Verstand seine Grenzen kenne, d. h. bei der Erfahrung bleibe und sich nicht in Spekulationen versteige, bleibe er gesunder Verstand. In der Erkenntnistheorie kritisiert Kant die Common-sense-Philosophie sowohl im empirischen Bereich (der common sense soll nur durch Erfahrung erworben werden und kann nicht instinktiv urteilen) als auch im apriorischen Bereich (der Gebrauch des common sense ist für die Metaphysik gar nicht geeignet).
2.6.2 Ausgangspunkt und Probierstein der Metaphysik Obwohl der gemeine Menschenverstand nichts zum Inhalt der Metaphysik beitragen kann, ist er als ein Ausgangspunkt und Probierstein der Metaphysik geeignet. Zwar gibt es aus theoretischer Perspektive deutliche Unterschiede zwischen dem gemeinen und dem spekulativen Verstand, aber dennoch ist es schwer, in der Geschichte und in der alltäglichen Praxis die Grenze zu bestimmen, „wo der gemeine Verstandesgebrauch aufhört, und der spekulative anfängt; oder, wo gemeine Vernunfterkenntnis Philosophie wird“ (Logik AA9: 27). Es gibt ein unklares Moment in der Entwicklung des Erkennens: Wenn man beim Urteilen mit zureichenden Gründen in einem konkreten Fall mit dem gemeinen Verstand nicht zufrieden ist, dann fängt man an, zu spekulieren. Im Vergleich zu den Naturalisten und Misologen, die mit dem gemeinen Verstand als dem letzten Kriterium der Wahrheit und dem einzigen Prinzip der Erkenntnis dem Skeptizismus entgegentreten, fängt Kant gerade dort mit seiner Arbeit an,wo sie aufhören, und geht mutig weiter, um der Erkenntnis einen sichereren Grund als den empirischen zu geben. Kant gesteht jedoch auch ein, dass die Metaphysik in Ansehung unserer wesentlichen Zwecke auch nicht weiter reicht als der gemeine Verstand. Nach Kant ist der letzte Zweck des menschlichen Daseins die moralische Bestimmung, in der unser gesamtes Vernunftinteresse und unser wesentliches Bedürfnis liegen. Er schreibt: „[a]ber verlangt ihr denn, daß ein Erkenntniß, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle? Eben das, was ihr tadelt, ist die beste Bestätigung von der Richtigkeit der bisherigen Behauptungen, da es das, was man anfangs nicht vorhersehen konnte, entdeckt, nämlich daß die Natur in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austheilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen
2.6 Gemeiner Menschenverstand und Metaphysik
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Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen“ (KrV A831/ B859). Aus den Siebzigern gibt es von Kant schon ähnliche Äußerungen: „Die Qvaestiones der Metaphysik sind alle durch die gemeine Vernunft und durch unsere wichtigsten Zweke aufgeworfen“ (RefM AA17: 557). „Metaphysik ist nicht Wissenschaft, nicht Gelehrsamkeit, sondern blos der sich selbst kennende Verstand, mithin ist es bloß eine Berichtigung des Gesunden Verstandes und Vernunft“ (RefM AA17: 495). Es zeigt sich, dass der gemeine Menschenverstand die Frage der Philosophie schon kennt und ihre groben Inhalte bestimmt, sie jedoch weder gründlich untersucht noch ausführlich entfaltet. Philosophie ist daher eher eine „clarification“ und „justification“ des sensus communis. ³¹ Der gemeine Verstand als eine unbewusste Überlegung und eine dunkle Erkenntnis enthält schon Erkenntnisse, die die Philosophie als eine Verdeutlichung der Erkenntnisse selbst nicht inhaltlich vermehrt, sondern nur ihre objektive Gültigkeit und Gewissheit vermehrt. In diesem Sinne kann man den sensus communis als einen Ausgangspunkt der Metaphysik ansehen. Der gemeine Verstand dient nicht nur der Metaphysik als ein Ausgangspunkt, sondern auch dem spekulativen Verstandesgebrauch als ein Probierstein. In der Logik meint Kant: „Der gemeine Menschenverstand (sensus communis) ist auch an sich ein Probierstein, um die Fehler des künstlichen Verstandesgebrauchs zu entdecken. Das heißt: sich im Denken, oder im spekulativen Vernunftgebrauche durch den gemeinen Verstand orientieren, wenn man den gemeinen Verstand als Probe zu Beurteilung der Richtigkeit des spekulativen gebraucht.“ (Logik AA9: 57) Der gemeine Verstand funktioniert daher nicht nur als ein „positives“, aber mangelhaftes und grobes Erkenntnisvermögen, welches gemeine Erkenntnis hervorbringt und daher Kritik und Berichtigung durch die Philosophie benötigt, sondern auch als ein „negatives“ (HNL AA16: 19) Vermögen, Fehler fernzuhalten im Sinne einer Disziplin und Kritik nicht nur im empirischen, sondern auch im apriorischen Bereich.
2.6.3 Die gemeine Vernunft als ‚Leitungsmittel‘ in der übersinnlichen Welt Im empirischen Bereich fungiert der gemeine Verstand konstruktiv als ein Erkenntnisvermögen, aber in der übersinnlichen Welt hat er keine Erkenntnisse, wie
Siehe Manfred Kühn: Scottish Common Sense in Germany. – . McGill-Greens University Press, Kingston/Montreal , S. .
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2 Erkenntnis – Der sensus communis logicus
der spekulative Verstand sie hat. Jedoch funktioniert er im letzteren Fall als ein „Leitungsmittel“ (Orie. AA8: 133, 139), mit dem man sich orientieren kann. Es ist ein natürliches Interesse der menschlichen Vernunft, über den Erfahrungsgebrauch hinauszugehen, die Welt als ein Ganzes zu denken und das höchste Wesen anzunehmen. „Der gemeine Verstand findet in den Ideen des unbedingten Anfangs aller Synthesis nicht die mindeste Schwierigkeit, da er ohnedem mehr gewohnt ist, zu den Folgen abwärts zu gehen, als zu den Gründen hinaufzusteigen, und hat in den Begriffen des absolut Ersten (über dessen Möglichkeit er nicht grübelt) eine Gemächlichkeit“ (KrV A467/B495). Um das Dasein Gottes als eines höchsten Wesens anzunehmen, benötigt man daher kein Nachdenken der spekulativen Vernunft, welche dies auch nicht beweisen kann, sondern nur die Orientierung des gemeinen Verstandes (MAN AA4: 506; KrV A590/ B618; HNM AA18: 499). In dem Aufsatz „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ von 1786 gibt Kant dem mendelssohnschen Ausspruch über die gesunde Vernunft (auch Gemeinsinn oder schlichter Menschenverstand) eine neue Interpretation: Er bedeutet nicht mehr ‚Vernunfteinsicht‘ oder ‚Vernunfteingebung‘, wie bei Mendelssohn, sondern „Vernunftglaube“ (Orie. AA8: 141), worunter Kant „das Gefühl des Bedürfnisses“ der Vernunft (Orie. AA8: 139) versteht. Kant nimmt das Gefühl des Unterschiedes zwischen der linken und rechten Hand als Beispiel: Wir können uns in dunkler Nacht mit dem Unterscheidungsvermögen durch Gefühl orientieren. In ähnlicher Weise fungiert der gemeine Menschenverstand: In der übersinnlichen Welt verfügen wir über keine Anschauung und entsprechende Begriffe über das höchste Wesen und daher besitzen wir auch keine Erkenntnis, jedoch haben wir ein gefühltes Bedürfnis der Vernunft. Dieses Bedürfnis kann als zweifach angesehen werden: „erstlich in ihrem theoretischen“, um über die ersten Ursachen der Welt zu urteilen, „zweitens in ihrem praktischen Gebrauch“ (Orie. AA8: 139), um die Idee des höchsten Guten anzunehmen (siehe hierzu auch KrV A473/B501). Die gemeine Menschenvernunft hat immer zuerst ihr eigenes Interesse vor Augen und verwendet dieses als subjektive Maxime. Diese Eigenschaft der gemeinen Vernunft wird als Vernunftglaube bezeichnet, denn sie impliziert die Maxime der Abhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis. Obwohl dieser Vernunftglaube niemals in ein Wissen verwandelt und keine logische Gewissheit werden kann, besitzt er wegen der subjektiven Maxime eine gleichartige Bestimmtheit wie das Wissen. Durch dieses gefühlte Bedürfnis der Vernunft kann ein spekulativer Denker sich im übersinnlichen Feld orientieren, während ein gemeiner Mensch, sofern er einen moralisch gesunden Verstand hat, seinen Weg nur nach dem ganzen Zweck seiner Bestimmung festlegen kann.
2.6 Gemeiner Menschenverstand und Metaphysik
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Fassen wir nun alle Verwendungen des gemeinen Verstandes zusammen. Aufgrund der Komplexität des Begriffs lässt sich dem Begriff keine einfache Definition geben. Seine unterschiedlichen Bedeutungen und Funktionen werden daher in der folgenden Tafel dargestellt: Verwendungsbereich
Bedeutung und Funktion
in konkreten Situationen (in der alltäglichen Praxis) auf transzendentalen Situationen (bei der Spekulation)
positiv: in concreto Regeln erkennen und gebrauchen negativ: Selbstkritik durch die Maximen positiv: Ausgangspunkt und Orientierungsmittel negativ: Probierstein
In konkreten alltäglichen Situationen gilt der gemeine Verstand sowohl als ein empirisches Erkenntnisvermögen als auch als sein eigener Gesetzgeber und Richter, der seine subjektiven Prinzipien angeben und seine Verwendung kontrollieren kann. Obwohl die gemeine Erkenntnis fehlbar und nur subjektiv gültig ist, können wir durch den selbstreflektierenden und selbstkritisierenden Mechanismus die Verbesserung des gemeinen Verstandes erwarten. In transzendentalen Argumentationszusammenhängen wird die Verwendung des gemeinen Verstandes als ein Erkenntnisvermögen ausgeschlossen, da er keine abstrakten und apriorischen Regeln kennen kann. Obwohl er nicht an der Begründung der Metaphysik teilnimmt, trägt er Schlüsse zu ihrem Ansatzpunkt bei und fungiert auch als ein Probierstein, um die Fehler des spekulativen Verstandes zu entdecken und zu beseitigen. In praktischer Perspektive hat der gemeine Verstand immer Moral und Freiheit als Endzweck des Menschen sowie das gesamte Vernunftinteresse vor Augen. Er kann sich orientieren und hat durch den Vernunftglauben seine eigene Maxime. Demnach hat er zwar kein Wissen über Gott, dennoch aber zureichende Urteile und Maximen für das praktische Leben.
3 Moralität – Der sensus communis practicus³² Da Kant selbst den Terminus ‚sensus communis practicus‘ nicht verwendet hat, bleibt noch offen, welche vorhandenen kantischen Begriffe dem praktischen sensus communis zugerechnet werden können. Die gemeine Vernunft kommt als die erste Variante in Frage, nicht nur wegen ihres engen Zusammenhangs mit dem gemeinen Verstand im übersinnlichen Bereich, insofern beide als Leitungsmittel in theoretischer wie in praktischer Perspektive funktionieren, sondern auch wegen ihrer ähnlichen Funktion im empirisch praktischen und im empirisch theoretischen Bereich. Beide Ausprägungen des Gemeinsinns operieren im empirischen Bereich und sind insofern dem spekulativen Verstand bzw. der reinen praktischen Vernunft im nicht-empirischen Bereich entgegengesetzt. Der sensus communis bedeutet dabei ein populäres praktisches Vermögen, das über allgemein gültige und mitteilbare moralische Erkenntnisse verfügt. Jedoch reicht es im praktischen Bereich nicht aus, ein kognitives Vermögen zu besitzen. Vielmehr ist darüber hinaus ein konatives Vermögen erforderlich, um die erfolgte moralische Beurteilung durch eine Handlung zu verwirklichen. Daher ist der sensus communis nicht nur in einer denkenden und beurteilenden Dimension, sondern auch in einer handlungstreibend affektiven und gefühlhaften Dimension angesiedelt. Im letzteren Sinne ist der sensus communis practicus mit dem moralischen Gefühl als der zweiten Variante des sensus communis zu identifizieren. Das moralische Gefühl als ein allgemeingültiges Gefühl fügt sich so in die soziale semantische Implikation des sensus communis ein.
Der Grund dafür, dass ich hier den Ausdruck ‚sensus communis practicus‘, also‚praktischer Gemeinsinn‘, nicht aber ‚sensus communis moralis‘, also ‚moralischer Gemeinsinn‘, verwende, liegt darin, dass () dies Kants Einteilung der unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereiche (logisch, ästhetisch und praktisch) entspricht, welchen die drei Gemütsvermögen (Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen) sowie die drei Erkenntnisvermögen (Verstand, Urteilskraft und Vernunft) entsprechen (vgl. HNL : f. sowie auch ApH AA: f.). Die Einführung des sensus communis practicus begünstigt die systematische Einordnung der drei Arten von sensus communis. () ‚Moralisch‘ umfasst nach Kant nicht nur ‚ethisch‘, sondern auch ‚rechtlich‘. Kant verwendet den gemeinen Verstand und insbesondere das moralische Gefühl zwar mehr im Sinne des ersteren, jedoch auch des letzteren Aspekts. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird der Ausdruck ‚sensus communis moralis‘ hier aufgegeben. Es ist aber auch zu bemerken, dass dem ‚sensus communis practicus‘ eine historische und politische Perspektive fehlt, welche im allgemeinen Sinn von ‚praktisch‘ enthalten ist.
3.1 Der gemeine praktische Verstand
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3.1 Der gemeine praktische Verstand 3.1.1 Beziehung zur reinen praktischen Vernunft Nicht nur im theoretischen Bereich, sondern auch im praktischen Bereich verwendet Kant den Begriff des gemeinen Verstandes. Der „gemeine Verstand“, der „gemeine[…] Menschenverstand“ (GMS AA4: 404), die „gemeine Vernunft“ (GMS AA4: 405) und die „gemeine Menschenvernunft“ (KpV AA5: 155) werden von Kant im praktischen Bereich nicht streng unterschieden. Unter dem gemeinen Verstand im theoretischen Sinne versteht Kant – wie gesehen – ein Erkenntnis- und Beurteilungsvermögen in konkreten empirischen Situationen, das es ermöglicht, die Regeln zu erkennen und zu verwenden. Der gemeine Verstand im praktischen Sinne fungiert nicht nur dementsprechend als Erkenntnis- und Beurteilungsvermögen in konkreten praktischen Situationen, um das Sittengesetz zu erkennen und zu verwenden, sondern auch als praktisches Vermögen, um das Sittengesetz zu praktizieren. Ähnlich wie die Entgegensetzung von spekulativem und gemeinem Verstand im theoretischen Bereich kann auch eine entsprechende Entgegensetzung im praktischen Bereich angenommen werden. Die reine praktische Vernunft und die gemeine praktische Vernunft unterscheiden sich voneinander durch unterschiedliche Anwendungsbereiche (den empirischen und den apriorischen Anwendungsbereich) und sie gehören zu unterschiedlichen Disziplinen, nämlich zur angewandten Ethik und zur kritischen Moralphilosophie. Obwohl der gemeine theoretische Verstand die Verstandesregeln a priori bei sich hat und auch ohne Bewusstsein verwendet, kann er sie nur nach ihrer Verwendung aus der Erfahrung erkennen, d. h. latente apriorische Regeln werden zu expliziten. Dem vergleichbar beinhaltet der gemeine praktische Verstand das Sittengesetz ebenfalls apriori, er verwendet es jedoch bei der Beurteilung ohne Bewusstsein ihrer abstrakten Form: „In der moral wird die allgemeine regel auch nur von dem, was wir in einzelnen fällen urtheilen, abstahirt, und die allgemeine regel wird in jeder Anwendung nicht blind befolgt, sondern geprüft und oft verbessert“ (Vernunftlehre AA16: 16). Kant schreibt auch: „Nun ist die Gesunde Vernunft in der moral nicht empirisch, aber noch wird in ihr das allgemeine in abstracto nur durch das allgemeine in concreto betrachtet festgesetzt.“ (Vernunftlehre AA16: 16 f.) Wie im letzten Kapitel bereits erläutert, besteht der gemeine theoretische Verstand aus zwei Elementen: dem Verstand (als grundlegendem Element) und der Urteilskraft (als angewandtem Element). Diese zwei Elemente sind auch im praktischen Bereich zu finden: der Verstand (um das allgemeine Sittengesetz aus der Erfahrung zu erkennen) und die Urteilskraft (um das Sittengesetz in konkreten
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3 Moralität – Der sensus communis practicus
Situationen zu verwenden). Wenden wir uns zuerst dem gemeinen Verstand als einem allgemeinen Beurteilungsvermögen zu. Ebenso wie Kant zum gemeinen theoretischen Verstand bemerkt, dass seine kritische Philosophie keine Erkenntnis über den gemeinen Verstand hinaus anbietet, gibt er auch im praktischen Bereich zu, dass die Metaphysik der Sitten keine neue Erkenntnis über den gemeinen Vernunft hinaus enthält: Vor allen philosophischen Untersuchungen haben wir schon die gemeine sittliche Vernunfterkenntnis und verwenden sie im täglichen Leben (GMS AA4: 403 ff.). Man hat die moralischen Prinzipien der gemeinen Menschenvernunft „jederzeit wirklich vor Augen“ und braucht sie „zum Richtmaße ihrer Beurteilung“ (GMS AA4: 403). „Es wäre hier leicht zu zeigen, wie sie [die gemeine Menschenvernunft] mit diesem Compasse [den moralischen Erkenntnissen] in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei“ (GMS AA4: 404). Der praktische gemeine Verstand funktioniert als ein angeborenes, vollkommenes und auch allgemeines Beurteilungsvermögen, sodass jeder sofort und richtig sittlich urteilen kann. Im Vergleich zu manchen durch zuviel Spekulation fehlgeleitetem Philosophen, der durch unbedeutende Erwägungen vom natürlichen Urteil ablenkt und dessen Beurteilung daher leicht verwirrt, kann ein gemeiner Mensch sicher beurteilen, was gut und böse ist. Der Gemeinsinn im theoretischen Bereich gilt nur als eine Idee des allgemein gültigen Beurteilungsvermögens, denn der gemeine theoretische Verstand könnte beim Urteilen möglicherweise nicht völlig gewiss und richtig sein. Im Gegensatz dazu ist der praktische gemeine Verstand schon ein Gemeinsinn, denn das natürliche sittliche Urteil fällt bei jedem gleichmäßig richtig aus. Das Prinzip der gemeinen Vernunft stimmt mit dem Gesetz der reinen praktischen Vernunft vollkommen überein. Was die gemeine moralische Erkenntnis von der philosophischen Erkenntnis unterscheidet, ist nur ein geringerer Grad an Abstraktion, nämlich der, dass die gemeine Vernunft ihr Prinzip „nicht in einer allgemeinen Form abgesondert denkt“ (GMS AA4: 403 sowie auch 390). Daher weist Kant in der Vorrede und im ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten darauf hin, dass der gemeine Verstand als eine implizite und „vermengt[e]“ (GMS AA4: 390) Form des kategorischen Imperatives den letzteren beweisen kann – dadurch, dass „wir denn in der moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft bis zu ihrem Prinzip gelang[en]“ (GMS AA4: 403) können. Im dritten Abschnitt dient der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft als ein Beweis für die Freiheit des Willens. Da man als beschränktes Vernunftwesen einerseits zur Sinnenwelt gehört, andererseits aber auch zur intellektuellen Welt, kann man einerseits vom Naturgesetz der Begierden und Neigungen bestimmt werden und sich dabei andererseits des
3.1 Der gemeine praktische Verstand
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Prinzips der Sittlichkeit bewusst sein. Nur unter Voraussetzung der Idee der Freiheit kann man für sich selbst entscheiden, welchem Gesetz zu folgen ist – das heißt, von Antrieben der Sinnlichkeit frei zu werden und sich von der Maxime des Willens bestimmen zu lassen. In diesem Sinne „bestätigt“ der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die Herleitung des freien Willens. Der Begriff des gemeinen Verstandes durchzieht daher die Grundlegung wie ein roter Faden: Er dient nicht nur als Ausgangspunkt, sondern auch als Endpunkt des Werkes. Durch die Absonderung der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis (die analytische Zergliederung der gemeinen sittlichen Begriffe) gehen wir zur philosophischen Erkenntnis über. Danach kommen wir durch die Prüfung der Geltung des reinen praktischen Gesetzes wiederum zum Gebrauch der gemeinen Vernunft (GMS AA4: 392). Die Begründungsfunktion kommt auch in der Kritik der praktischen Vernunft vor: Das Bewusstsein sittlicher Verpflichtung als „das Faktum der reinen Vernunft“ muss bewiesen werden. Dass die reine Vernunft für sich allein praktisch ist, kann man aus dem allgemeinsten praktischen Vernunftgebrauch erklären, „indem man den obersten praktischen Grundsatz als einen solchen, den jede natürliche Menschenvernunft als völlig a priori, von keinen sinnlichen Datis abhängend, für das oberste Gesetz seines Willens erkennt, beglaubigte“ (KpV AA5: 91 f.). Das Faktum der reinen Vernunft, das in der zweiten Kritik als ein Ausgangspunkt dient, muss sich aber der Reinheit seines Ursprungs wegen zuerst in seiner Verwendung der gemeinen Vernunft bewähren und rechtfertigen. Denn die reine praktische Vernunft muss von Grundsätzen anfangen, „die also aller Wissenschaft als erste Data zum Grunde gelegt werden müssen“ (KpV AA5: 91). Obwohl der gemeine Verstand als ein allgemein gültiges Beurteilungsvermögen fungiert und dadurch in engem Zusammenhang mit der reinen praktischen Vernunft steht, ist er doch kein eigenständiges Handlungsvermögen. Anders als bei der theoretischen Erkenntnis benötigt man für das praktische Leben nicht nur ein kognitives Vermögen und ein Beurteilungsvermögen, um die sittlichen Erkenntnisse zu erwerben und sie in konkreten Situationen anzuwenden, sondern auch einen konativen Faktor, nämlich ein Handlungsvermögen, um das Urteil in der Tat zu praktizieren. Wie Kant meint, besteht die praktische Weisheit „mehr in Tun und Lassen, als im Wissen“ (GMS AA4: 405). Das Bewusstsein von der Autorität des Sittengesetzes ergibt in der Praxis einen Imperativ, das Gesetz zu befolgen. Wie die reine praktische Vernunft kennt der gemeine praktische Verstand nicht nur das Sittengesetz, sondern auch seine unbedingte Autorität und Verbindlichkeit, d. h. die Notwendigkeit, nach dem Gesetz der praktischen Vernunft zu handeln (Religion AA6:181, KpVAA5: 91). Aber anders als die reine praktische Vernunft wird der gemeine praktische Verstand nicht bloß vom apriorischen Sittengesetz und seinen Anforderungen, sondern auch von den empirischen
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3 Moralität – Der sensus communis practicus
privaten Neigungen bestimmt. Die Unschuld und Einfalt des gemeinen Verstandes in der Spekulation kann in der Praxis nicht erhalten bleiben,weil man „in sich selbst ein mächtiges Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht […] an seinen Bedürfnissen und Neigungen“ (GMS AA4: 405) fühlt. Obwohl man die gemeine sittliche Erkenntnis nicht zu lehren braucht, ist diese Vorschrift dem handelnden Wesen jedoch nicht eingängig. Der gemeine Verstand als ein empirisch bedingtes und daher beschränktes praktisches Vermögen gerät leicht in diese ‚Zweideutigkeit‘ (der Gebote der Vernunft und der sinnlichen Neigungen) und wird daher verführt. „Hieraus entspringt aber eine natürliche Dialektik, d. i. ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen und sie wo möglich unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d. i. sie im Grunde zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen, welches denn doch selbst die gemeine praktische Vernunft am Ende nicht gut heißen kann“ (GMS AA4: 405). Deshalb sind praktische Philosophie und Kritik der praktischen Vernunft überhaupt nötig: Erst wenn die reine Vernunft als Quelle der gemeinen Vernunft und ihre Verwendung als der einzige Bestimmungsgrund deutlich geworden sind, kann man aus der Verlegenheit dieser Zweideutigkeit herauskommen. Im praktischen Leben jedoch geht die Vervollkommnung der gemeinen Vernunft für gemeine Menschen nicht auf das Philosophieren zurück, sondern erfolgt nur in der Verwendung und Reflexion der gemeinen Vernunft selbst.
3.1.2 Funktionsweise des gemeinen praktischen Verstandes Das formale Sittengesetz kommt in empirischen und konkreten Situationen in gemeiner und impliziter Form vor. Der kategorische Imperativ – dass ich nur so handeln soll, dass meine Maxime jederzeit zugleich als ein allgemein gültiges Gesetz gelten kann – wird in ein Experiment der Verallgemeinerung transformiert, indem man sich fragt: „Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS AA4: 403)? In diesem Sinn kann die gemeine praktische Vernunft auch als eine empirische Anwendung der reinen praktischen Vernunft angesehen werden. Deshalb konstituiert die gemeine Vernunft nicht nur als ein Erkenntnisvermögen die „gemeine[…] sittliche[…] Vernunfterkenntnis“ (GMS AA4: 393), sondern sie ist auch als gemeine praktische Urteilskraft wichtig für die reine praktische Urteilskraft in der Moralphilosophie. Aus empirischer Perspektive braucht es für die Verwendung der gemeinen Vernunft keine Beweisführung: Sofern ein moralisches Urteil im Alltag zutreffend ist, ist damit die tatsächliche Verwendung bestätigt. In der transzendentalen Philosophie ergibt sich jedoch das Problem, wie die allgemeinen und übersinn-
3.1 Der gemeine praktische Verstand
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lichen Regeln der Vernunft auf den konkreten und sinnlichen Fall angewendet werden können. Dies behandelt Kant in der „Typik der reinen praktischen Urteilskraft“. Der Typus kann als eine Konzeption betrachtet werden, die dem Schema in der Kritik der reinen Vernunft entspricht. Das Schema verknüpft einerseits die sinnlichen Anschauungen und andererseits die reinen Verstandesbegriffe durch ein allgemeines Verfahren der Einbildungskraft, nämlich die Synthesis der Anschauungen gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen in einer Sukzession. Der Typus verbindet die übersinnliche Idee des sittlichen Guten mit einer möglichen Handlung in der Sinnenwelt durch ein allgemeines Verfahren des Denkens,³³ nämlich einen Vergleich der Maxime einer Handlung mit dem allgemeinen Naturgesetz. Das Naturgesetz als Typus der praktischen Urteilskraft formuliert Kant ebenfalls in Form eines Gedankenexperiments: „Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest. Nach dieser Regel beurteilt in der Tat jedermann Handlungen, ob sie sittlich-gut oder böse sind“ (KpVAA5: 69). Selbst der gemeinste Verstand urteilt so, denn alle seine gewöhnlichen Urteile beruhen auf dem Naturgesetz. „Er hat es also jederzeit bei der Hand, nur daß er in Fällen, wo die Kausalität aus Freiheit beurteilt werden soll, jenes Naturgesetz bloß zum Typus eines Gesetzes der Freiheit macht, weil er, ohne etwas, was er zum Beispiele im Erfahrungsfalle machen könnte, bei Hand zu haben, dem Gesetze einer reinen praktischen Vernunft nicht den Gebrauch in der Anwendung verschaffen könnte.“ (KpV AA5: 70) Aber was ist nun unter „Naturgesetz“ zu verstehen? Worin liegt die Analogie zwischen Sittengesetz und Naturgesetz? H. J. Paton zufolge besteht die Analogie in der Form der Allgemeingültigkeit.³⁴ Der Typus des praktischen Urteils ist insofern ein Verallgemeinerungsverfahren der Maxime. Für Lewis White Beck ist es die innerliche teleologische Relation des organischen Ganzen, unter der alle Erscheinungen sich wechselseitig aufeinander beziehen. Der Typus ist in diesem Sinne eine wechselseitige Interaktion der Gemeinschaft unter einer gemeinsamen Maxime.³⁵ Diese beiden Erklärungen widersprechen einander meines Erachtens nicht. Das Gedankenexperiment der Verallgemeinerung bedeutet nicht eine einfache Gleichförmigkeit der Handlungen, sondern die Handlung nach einer Maxime unter Berücksichtigung des konkreten Umstandes zu beurteilen, wobei
Siehe L.W. Beck: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar. Übers. v. Karl-Heinz Ilting. Wilhelm Fink, München , S. – . Siehe H. J. Paton: Der Kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie. Übers. v. Karen Schenck. de Gruyter, Berlin , S. – . Siehe Beck , S. – .
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3 Moralität – Der sensus communis practicus
durch die Sich-selbst-Versetzung an die Stelle jedes Anderen die wechselseitige Beziehung auch mitgedacht wird. Zwei bekannte Beispiele werden im Folgenden angeführt, um dies zu erklären. Das Beispiel des falschen Versprechens aus der GMS untersucht den Fall, dass man nicht sicher beurteilen kann, ob man ein in Verlegenheit gegebenes falsches Versprechen halten darf oder muss. In diesem Fall soll man sich selbst fragen: „würde ich wohl damit zufrieden sein, daß meine Maxime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich als andere) gelten solle, und würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jedermann ein unwahres Versprechen thun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus er sich auf andere Art nicht ziehen kann?“ (GMS AA4: 402). Auf diese Weise würde man sofort bemerken, dass man seine Maxime nicht verallgemeinern kann, da in diesem Fall niemand einem Versprechen überhaupt noch vertrauen könnte. Beim Depositum-Beispiel stellt Kant in ähnlicher Weise die Erwägung und den Prozess der Urteilsbildung dar: „Jetzt will ich nur wissen, ob jene Maxime auch als allgemeines praktisches Gesetz gelten könne. Ich wende jene also auf gegenwärtigen Fall an und frage, ob sie wohl die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wohl durch meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte: daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann. Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Princip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.“ (KpV AA5: 27) Durch das verallgemeinernde Prüfungsverfahren in Bezug auf die eigene Maxime kann die gemeine Vernunft beurteilen, ob die Handlung pflichtmäßig ist oder nicht. Dieses Verfahren ist als ein Prozess anzusehen, bei dem man sich an die Stelle jedes Anderen setzt: Einerseits habe ich meine Maxime aus meinem Bedürfnis (aus der Perspektive des handelnden) heraus und andererseits gehe ich zwar vom eigenen Standpunkt als ein Handelnder aus, setze mich dann jedoch an die Stelle jedes Anderen, auch an die eines leidend von dieser Handlung Betroffenen, und stelle mir vor, wie diese Maxime mich als einen Anderen betrifft (in einer passiven Perspektive). Dann beurteile ich von einem neutralen Standpunkt aus, ob diese Maxime verallgemeinert werden kann. Wie beim selbst-abstrahierenden Reflexionsprozess des gemeinen theoretischen Verstandes ist der Standpunkt jedes Anderen schließlich nicht ein Standpunkt der Pluralität, sondern ein verallgemeinernder, rein vernünftiger Standpunkt. Dieser Beurteilungsprozess hat daher zwei Eigenschaften: Einerseits fällt das Urteil des gemeinen Verstandes leicht und scheint spontan und unmittelbar, denn es ist ein von empirischen Bedingungen ausgehender abstrahierender Prozess, in dem man ohne Berücksichtigung der empirischen Sachlage und der pragmati-
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schen Komponente urteilt: weder nach seiner Begierde und Neigung noch nach der für die Ausführung benötigten Kräfte und dem physischen Vermögen. „Was nach dem Princip der Autonomie der Willkür zu thun sei, ist für den gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen; was unter Voraussetzung der Heteronomie derselben zu thun sei, schwer und erfordert Weltkenntniß“ (KpV AA5: 36). Um zu erkennen, was Pflicht sei, hat man also ein natürliches Beurteilungsvermögen, mit dem man das eigene praktische Prinzip beurteilen kann, wohingegen derjenige, der Glückseligkeit sucht, viel Klugheit erwerben muss, um sein Ziel strategisch und taktisch zu verwirklichen. „Es muß also zu der Beurtheilung dessen, was nach ihm zu thun sei, nicht so schwer sein, daß nicht der gemeinste und ungeübteste Verstand selbst ohne Weltklugheit damit umzugehen wüßte“ (KpV AA5: 36). Daher erscheint der gewöhnliche Gebrauch der gemeinen Vernunft instinktiv, was Kant mit dem Gefühl vergleicht, das die linke und die rechte Hand voneinander unterscheidet (vgl. KU AA5: 155). Andererseits bedarf ein Urteil auch komplexer und subtiler Überlegung und Erwägung. Man muss sich die tatsächliche Situation des Anderen konkret vorstellen und das, was er eventuell durch die eigene Maxime erleiden muss. Der verallgemeinernde Prozess kann hier als ein Stellungswechsel vom Handelnden zum Leidenden innerhalb eines Subjekts gesehen werden. Im Beispiel des falschen Versprechens sind Ehrlichkeit und Vertrauen zwei untrennbare und notwendige Eigenschaften von Versprechen überhaupt, die jeweils Aufforderungen an den Handelnden und an den Leidenden sind. Die Maxime, im Notfall falsche Versprechen zu geben, würde vom Leidenden Vertrauen fordern, ohne dass es beim Handelnden im Gegenzug Ehrlichkeit gäbe. Dieser logische Widerspruch wird durch den Stellungswechsel eines Subjekts deutlich, bei dem es gleichzeitig Handelnder und Leidtragender ist. Wenn man sich nur nach der Maxime der eigenen Neigungen verhält, dann würde sich ein antagonistischer Widerspruch durch den Verallgemeinerungstest ergeben – im vorliegenden Beispiel, dass man als Leidender seinen eigenen Versprechen, die man als Handelnder macht, nicht vertrauen würde. Das Experiment ist daher als eine Selbstprüfung der Maxime und eine Möglichkeitsbedingung der Willensbestimmung zu verstehen. Eine widersprüchliche Situation, die sich durch die versuchte Verallgemeinerung einer pflichtwidrigen Maxime ergibt, muss mit sensibler Empfänglichkeit untersucht werden. Hier können wir auch eine Analogie zum sensus communis im theoretischen Bereich feststellen: Der gemeine praktische Verstand als ein sensus communis practicus ist ein allgemein mitteilbares Erkenntnis- und Beurteilungsvermögen, das nicht nur eine Reflexion in Gestalt der erweiterten Denkungsart benötigt, sondern auch eine Empfänglichkeit für wechselseitige soziale Beziehungen. Im Vergleich zum einfachen Modus im theoretischen Bereich, wo man seine empirische Beurteilung mit jeder möglichen Beurteilung vergleicht, ist der Modus der Reflexion im praktischer Hinsicht etwas kom-
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3 Moralität – Der sensus communis practicus
plexer aufgebaut: Man vergleicht nicht nur die Differenz der Maximen von seinem eigenen und dem verallgemeinernden Standpunkt aus, sondern man untersucht auch die Widersprüchlichkeit der beiden Standpunkte und die Haltbarkeit ihrer wechselseitigen Beziehung. Dies vermittelt einen ganz anderen als den gewöhnlichen Eindruck, den die kantische Ethik, die für ihren Formalismus bekannt ist, oft macht. Denn das Subjekt in Kants moralischer Philosophie ist autonom,während das Subjekt in der konkreten praktischen Situation immer in einer Gemeinschaft lebt, die Kant als eine „Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden“ (KrV A80/B106) definiert. Man kann von hier aus der oft geäußerten Kritik, Kant habe in seiner Ethik die in der konkreten Situation stattfindenden moralischen Handlungen nicht bedacht, entgegentreten.
3.2 Das moralische Gefühl als ‚sensus moralis‘ Der Begriff des moralischen Gefühls kommt in Kants moralphilosophischen Texten oft vor und wird auch als „sensus moralis“ (sensu morali) bezeichnet (MST AA6: 387, Baum. AA19: 19, 28, 93). Es ist im praktischen Bereich der einzige Begriff, den Kant mit dem „sens commun“ (RefA AA15: 353)³⁶ unmittelbar verbunden hat. Seine Bedeutungen und Funktionen verändern sich mit den verschiedenen Entwicklungsphasen von Kants Philosophie und in unterschiedlichen Textzusammenhängen. Jedoch bezieht sich das moralische Gefühl in erster Linie unmittelbar auf die Sinnlichkeit und Allgemeinheit (die jeweils durch die Eigenschaft des Gefühls und die Förderung der Moralität gekennzeichnet sind) ohne Rücksicht darauf, wie die Sinnlichkeit hervorgebracht wird (unmittelbar gefühlsmäßig, instinktiv und unmittelbar oder durch die Vernunft, abgeleitet und mittelbar) und worauf die Allgemeinheit beruht (auf den angeborenen Vermögen oder auf den apriorischen Regeln der Vernunft). Vorläufig lässt sich die Bedeutung des Begriffs als eine allgemeine moralische Empfindlichkeit definieren, die tugendhafte Handlungen antreibt. Außer dem „moralischen Gefühl“ und dem „sensus moralis“ verwendet Kant in seinen Texten auch ähnliche Termini wie das „(moralische) sentiment“³⁷ (AA19: 97, 104, 118, 151,
„Dagegen Einsichten Bewegungsgründe enthalten sollen, oder beym sens commun moralische Begriffe sollen mit Gefühl verbunden seyn, weil man die Sinnlichkeit hier selbst durch den Verstand antreibt. Wenn die Sinnlichkeit diese Empfenglichkeit nicht hat, so ist der Mensch ohne moralisch Gefühl.“ (RefA AA: ) Das englische Wort sentiment wird ungefähr Ende der er Jahre ins Deutsche aufgenommen und als Empfindsamkeit übersetzt (siehe http://woerterbuchnetz.de/DWB/Empfind-
3.2 Das moralische Gefühl als ‚sensus moralis‘
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152), den „moralische[n] instinct“ (AA19: 131, 134, 152), die „moralische Empfindung“³⁸ (AA2: 219, 267; AA5: 445; AA19: 152; AA20: 64, 127), das „sittliche Gefühl“ (AA2: 222, 231, 256; AA5: 292; AA19: 131; AA20: 49, 135) und den „moralischen Sinn“ (GMS AA4: 442, 443, Baum. AA19: 135, 149).³⁹ Als Unterbegriffe können die moralische Lust (MST AA6: 391, AA13: 373), das moralische Vergnügen (Entwürfe AA15: 717, 719, 733; Baum. AA19: 115, 151) und der moralische Schmerz (Entwürfe AA15: 717, 733) dem moralischen Gefühl zugeordnet werden. Nach folgenden Aspekten lässt sich der Begriff einteilen: 1. nach der Eigenschaft: Einerseits ist das moralische Gefühl eine angeborene sittliche Fähigkeit, über die ein jeder als eine Naturanlage „in dem Busen“ (Beob. AA2: 256) verfügt. Andererseits benennt Kant die konkreten Empfindungen auch als moralisches Gefühl, das man erst durch Entwicklung der Naturanlage erreicht. 2. nach dem Gegenstand: Vom moralischen Gefühl leitet sich nicht nur die Beurteilung der Sittlichkeit einer Handlung ab, sondern auch die theologische „Erkentnis Gotts durch die Vernunft“ (Baum. AA19: 122). 3. nach dem Charakter der Empfindung: Es gibt sowohl positives moralisches Gefühl – wie moralische Lust und moralisches Vergnügen – als auch negatives moralisches Gefühl wie der moralische Schmerz, die Reue. Kants Verwendung des Begriffs ‚moralisches Gefühl‘ kann in zwei Phasen gegliedert werden: vor 1770 und nach 1770. In der ersten Phase steht Kant noch im Einfluss von Hutchesons Moral-sense-Lehre und versucht, die ersten Grundsätze der Sittlichkeit im moral sense zu finden. Nach 1770 hingegen kritisiert Kant einerseits explizit die britische Moral-sense-Schule und negiert die Funktion des traditionellen Begriffs in der transzendentalen Begründung der Ethik, andererseits konstruiert er im Rahmen seiner Ethikkonzeption einen eigenen Begriff des moralischen Gefühls. Wir betrachten zuerst die erste Phase:
3.2.1 Das moralische Gefühl in der vorkritischen Zeit Das moralische Gefühl (moral sense) ist der bedeutendste Begriff der britischen Philosophen, die Kant in der Entwicklung seiner Ethik beeinflusst haben. Shaftesbury hält das moralische Gefühl für ein sinnliches Vermögen höherer Art, durch
samkeit). Kant versteht unter dem Begriff, dessen Bedeutung stark von der englischen Moralsense-Schule beeinflusst ist, ein moralisches Beurteilungsvermögen (Nachricht AA: ). Die moralische Empfindung kann als das Resultat des moralischen Gefühls angesehen werden. Sie bezieht sich mehr auf das konkrete Gefühl wie ‚Vergnügen‘ oder ‚Abscheu‘, aber nicht auf das Empfindungsvermögen. Der Terminus des moralischen Sinns und die Frage, ob er mit dem moralischen Gefühl gleichgesetzt werden kann, werden im übernächsten Abschnitt genauer untersucht.
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das in uns Gefühle von Lust bzw. Schmerz ausgelöst werden, wenn wir Tugend oder Laster wahrnehmen. Als ein Vertreter der schottischen Aufklärung folgt Hutcheson Shaftesbury und entwickelt den Begriff des moralischen Gefühls weiter. Durch systematische Unterscheidung von innerem Sinn und äußeren Sinnen definiert er den inneren Sinn als ein angeborenes und instinktives Erkenntnisvermögen für abstrakte Vorstellungen und allgemeine Objekte und erklärt ihn zur Quelle der Ästhetik und Moralität. Das moralische Gefühl fungiert sowohl als Urteilskriterium und moralisches Motiv als auch als Handlungsrichtschnur. Der schottische Philosoph Hume war ebenfalls der Überzeugung, dass wir von einem unparteiischen Standpunkt aus Lust bei Billigung und Unlust bei Missbilligung empfinden können, wenn wir uns des Guten bzw. des Bösen bewusst sind. Er hält das Gefühl und nicht die Vernunft für die einzige Grundlage der Moralität. Adam Smith baut auf dem ethischen Gefühl seine Moralphilosophie in Gestalt der Theorie der moralischen Gefühle auf. Zur gleichen Zeit herrschte in Deutschland die formale „allgemeine praktische Philosophie“ der Leibniz-Wolff-Schule vor. Unter dem Einfluss der britischen empiristischen Philosophie begannen auch die deutschen Philosophen, insbesondere Johann Gottfried Herder, Johann August Eberhard und Moses Mendelssohn, das moralische Gefühl zu berücksichtigen und die Beziehung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit zu erkunden.⁴⁰ Sie versuchten, mit einem Wort Manfred Kühns, eine „Kontinuitätsthese“ im Hinblick auf das Verhältnis von Empfindungen und Gedanken zu entwickeln: „Kant konnte sich nicht entscheiden, welches von beiden [Vernunft oder moralisches Gefühl] wichtiger sei. Das heißt nicht, daß er sich über seine eigene Position im unklaren war. Er schwankte zwischen Vernunft und moralischem Gefühl im Sinne zweier radikal von einander unterschiedener Ansätze zur Begründung der Moral. Denn ebenso wie seine Zeitgenossen vertrat Kant die Kontinuitätsthese.“⁴¹ Wir können in Kants Texten aus der vorkritischen Zeit keine festgelegte und einstimmige Vorstellung zu der Funktion des moralischen Gefühls finden. Nach Herders Mitschrift vom Anfang der 1760er Jahre fasst Kant in den Vorlesungen das moralische Gefühl als die Grundlage der Sittlichkeit auf. Er behauptet, es sei das „Hauptgesetz der Moral: handle nach deiner moralischen Natur. – Meine Vernunft kann irren: mein moralisches Gefühl bloß, wenn ich Gewohnheit vor natürliches Gefühl halte“ (AA27.I: 6). Die moralische Verbindlichkeit gründet sich besser auf
Waltraud Naumann-Beyer: Anatomie der Sinne. Im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur. Böhlau, Köln , S. – . Manfred Kühn: Kant. Eine Biographie. Beck, München , S. .
3.2 Das moralische Gefühl als ‚sensus moralis‘
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das natürliche moralische Gefühl als auf die Gehorsamkeit gegenüber dem christlichen Dogma. Zwei Jahre später scheint Kants diesbezügliche Haltung schwankend. Die Preisschrift Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral verfasst er im Jahr 1764 für einen Wettbewerb der Berliner Akademie – der Titel des zweiten Abschnitts im letzten Paragraphen lautet: „Die ersten Gründe der Moral sind nach ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig“ (Unter. AA2: 298). Hier definiert Kant das moralische Gefühl als ein Vermögen, welches das Gute empfinden kann und dem das Erkenntnisvermögen entgegengesetzt ist. Im praktischen Bereich hat das Erkenntnisvermögen die Aufgabe, zu erklären, wie der Begriff des Guten aus dem Gefühl des Guten entspringe. Kant hält das moralische Gefühl für den unauflöslichen materiellen Grundsatz, der unmittelbar der obersten formalen Regel subsumiert wird, welche allgemein jedoch inhaltsleer ist. Allerdings hat Kant bis dahin die Funktion des Erkenntnisvermögens noch nicht geklärt. Was er tun konnte, war lediglich, nur vorläufig über die unentbehrlichen Grundsätze des Gefühls zu sprechen: „Hutcheson und andere haben unter dem Namen des moralischen Gefühls hievon einen Anfang zu schönen Bemerkungen geliefert“ (Unter. AA2: 300). Dieser Satz weist darauf hin, dass Kant einerseits die Theorie des moral sense in jener Zeit aufschlussreich fand, während er andererseits mit dem Ausdruck „unter dem Namen“ jedoch auch Distanzierung äußert. Im Schlussabschnitt dieser Schrift gesteht Kant seinen Zweifel am moral sense und seine Ungewissheit in Bezug auf das Problem der ersten Grundsätze der moralischen Verbindlichkeit ein: „Hieraus ist zu ersehen, daß, ob es zwar möglich sein muß, in den ersten Gründen der Sittlichkeit den größten Grad philosophischer Evidenz zu erreichen, gleichwohl die obersten Grundbegriffe der Verbindlichkeit allererst sicherer bestimmt werden müssen, in Ansehung dessen der Mangel der praktischen Weltweisheit noch größer als der speculativen ist, indem noch allererst ausgemacht werden muß, ob lediglich das Erkenntnißvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) die erste Grundsätze dazu entscheide“ (Unter. AA2: 300). Gleichwohl legt er in demselben Jahr in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen die grundlegenden Bedeutungen des Gefühls als die sittlichen Grundsätze fest. „Demnach kann wahre Tugend nur auf Grundsätze gepfropft werden, welche, je allgemeiner sie sind, desto erhabener und edler wird sie. Diese Grundsätze sind nicht speculativische Regeln, sondern das Bewußtsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen lebt und sich viel weiter als auf die besondere Gründe des Mitleidens und der Gefälligkeit erstreckt. Ich glaube, ich fasse alles zusammen, wenn ich sage, es sei das Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur“ (Beob. AA2: 217). Kant unterscheidet die tu-
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gendhafte Gesinnung durch die Allgemeinheit von den gütigen Leidenschaften wie z. B. dem Mitleiden und der Gefälligkeit. Von den moralischen Eigenschaften ist nur die wahre Tugend erhaben. „Die gutartige Leidenschaft ist gleichwohl schwach und jederzeit blind. […] So bald nun dieses Gefühl zu seiner gehörigen Allgemeinheit gestiegen ist, so ist es erhaben aber auch kälter“ (Beob. AA2: 215 f.). Kant gestand einerseits die Funktion der sinnlichen Neigung als Trieb der moralischen Handlung ein und kritisierte andererseits ihren eingeschränkten Standpunkt; daher sucht er nach einer allgemeinen Gemütsverfassung. Nur ein „ausgebereites und edles Gefühl“ und eine „erweiterte Neigung“ können als gütiger Trieb in Frage kommen. Es ist einzusehen, dass Kant, obwohl er stark von der Moral-sense-Schule beeinflusst ist, in Bezug auf die grundlegende Rolle des moralischen Gefühls auch angefangen hat, den moral sense in einer allgemeinen und abstrakten Form zu modifizieren. Kant macht nur wenige Äußerungen hierzu in der Mitschrift und in veröffentlichten Texten nur an unauffälligen Stellen. Um die radikale Veränderung seiner Einstellung zur Moral-sense-Schule nach 1770 zu verdeutlichen, suchen wir nun in seinen handschriftlichen Nachlässen nach Spuren seiner einschlägigen Überlegungen aus dieser Zeit. Ab dem Wintersemester 1764/65 verwendet Kant Baumgartens Initia Philosophiae Practicae. Primae Acroamatice als Lehrbuch in seinen Ethik-Vorlesungen und reflektiert dieses Handbuch auch, wie in seinem handschriftlichen Nachlass zur Moralphilosophie zu lesen ist. Kant macht hier zahlreiche Bemerkungen über den Begriff des moralischen Gefühls. In einer von 1764 bis 1770 datierten Reflexion schreibt Kant: „cogi non potest moraliter, nisi per motiva moralia qvatenus potest sensu morali. e. g. Cogo aliqvem moraliter, si sub conditione vel Ethica vel iuris, e. g. miseriam aliorum alicui sub oculos ponendo vel datam fidem in animum revocando, impello“ (Baum. AA19: 28). Der moralische Zwang kann nur durch das moralische Gefühl möglich sein, das aber nur durch konkretes Gefühl (Mitleid) veranlasst werden kann. Im folgenden, zwischen 1764 und 1765 geschriebenen Absatz versucht Kant, den Ursprung und die Ursache des moralischen Gefühls anzugeben: „Hic sensus autem originem ducit a mentis humanae natura per qvam qvid sit bonum categorice (non utile) judicat non ex privato commodo nec ex alieno sed eandem actionemponendo in aliis si oritur oppositio et contrarietas displicet si harmonia et consensus placet“ (Bemerkungen AA20: 156). Kant möchte das moralische Gefühl hier auf ein Prinzip der Gemeinschaftlichkeit gründen. Das Aggregat der Anderen, die wir in der realen Situation treffen, nähert sich der Allgemeinheit, die für die Moralität erforderlich ist. Ein ähnlicher Ansatz kommt in der Schrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik zum Ausdruck. Das moralische Gefühl wird hier als eine uneigennützige Gemütsart beschrieben, durch die man genötigt ist, sein eigenes Urteil mit dem der Anderen
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zu vergleichen, um beide einstimmig zu machen und „unsere Absicht zugleich auf anderer Wohl oder nach fremder Willkür zu richten, ob dieses gleich öfters ungern geschieht und der eigennützigen Neigung stark widerstreitet“ (Träume AA2: 334). Die Allgemeinheit des moralischen Gefühls aus der empirischen intersubjektiven Perspektive zu definieren, befriedigt Kant aber offensichtlich nicht. Kommt es beim moralischen Gefühl zur Entgegensetzung von allgemeiner, objektiver Forderung und spezieller, subjektiver Neigung, von Verbindlichkeit und Bedürfnissen, dann liegt nicht nur ein konkreter Widerstreit zwischen Gemeinschaft und Individuum vor, sondern auch ein abstrakter Widerspruch zwischen Allgemeinheit (Ganzheit) und Einzelheit. Das moralische Gefühl als ein geistiges Gefühl hat seinen Ursprung in einem Gefühl der Teilnahme am idealen Ganzen. Diesbezüglich kritisiert Kant auch die Konzeption der Sympathie bei Shaftesbury und Hutcheson, denn diese „geht blos auf das particulaire, obgleich an anderen; man setzt sich nicht in die Idee des Ganzen sondern an die Stelle eines anderen“ (RefA AA15: 342). Noch deutlicher wird in den folgenden Texten, dass Kant sich Ende der 1760er Jahre schon sicher ist, dass das moralische Gefühl kein Grundgefühl ist, sondern ein vom Vernunftgesetz abgeleitetes Gefühl: „Sensus internus si allegatur ut principium probandi logicum, legis moralis est qvalitas occulta si ut facultas animae cuius ratioignotaur est phaenomenon“ (Bemerkungen AA20: 147). „Das moralische Gefühl ist kein ursprünglich Gefühl. Es beruhet auf einem nothwendigen inneren Gesetze, sich selber aus einem äußerlichen Standpunkt zu betrachten und zu empfinden. Gleichsam in der Persöhnlichkeit der Vernunft: da man sich im allgemeinen fühlt und sein individuum als ein Zufellig subiect wie ein accidens des allgemeinen ansieht“ (Baum. AA19: 103). Der Grund der Allgemeinheit im Bereich der Sinnlichkeit wird damit auf eine neue Ebene versetzt, die nicht mehr empirisch, sondern apriorisch und die nicht mehr durch intersubjektive Beziehungen in konkreten Situationen, sondern durch die apriorische Beziehung zwischen den seelischen Vermögen gekennzeichnet ist. In der Inaugural-Dissertation von 1770 sagt Kant explizit: „Die Moralphilosophie kann […] nur durch den reinen Verstand erkannt werden und gehört selbst zur reinen Philosophie; und wer ihre Merkmale in dem Gefühl der Lust oder Unlust sucht, wird mit vollstem Rechte getadelt“ (De Mundi AA2: 396). Kant kritisiert am traditionellen Begriff des moralischen Gefühls dessen Mangel an Allgemeingültigkeit und Bestimmtheit, die die reine Philosophie aber benötigt: 1) Die moralischen Gefühle können keine identischen Urteilskriterien liefern. Wenn ihr Grund nur „von der besonderen Einrichtung der menschlichen Natur, oder den zufälligen Umständen hergenommen wird“, sind die moralischen Gefühle als empirische Prinzipien „dem Grade nach von Natur unendlich von
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einander unterschieden [und können keinen] gleichen Maßstab des Guten und Bösen abgeben“ (GMS AA4: 442). 2) Als materielles Handlungsprinzip kann das moralische Gefühl keine Allgemeinheit erreichen. Wenn ein Gefühl das Moralgesetz bestimmten würde, „nach welchem das Bewusstsein der Tugend unmittelbar mit Zufriedenheit und Vergnügen, das des Lasters aber mit Seelenunruhe und Schmerz verbunden wäre, [gründet] alles doch auf Verlangen nach eigener Glückseligkeit“ (KpV AA5: 38). Das Gefühl als Bestimmungsgrund ist nur subjektiv und bloß empirisch. Selbst wenn es bei jedem Gleiches bewirken würde, wäre die Gleichheit nur zufällig. Noch viel weniger kann es seine Gültigkeit auf das rein vernünftige Wesen (Gott) erweitern. 3) Als Antrieb der Handlung ist es nicht dauernd und konsistent. Alle Gefühle können Heftigkeit haben, aber auch „verbrausen“ (KpV AA5:157). Wenn das Herz gereizt wird, entsteht eine intensive Lebensbewegung, aber danach kehrt es in seinen natürlichen, gemäßigten Zustand zurück und verfällt in Mattigkeit. Zeitweiliger Antrieb kann der Persönlichkeit dementsprechend keinen moralischen Wert verleihen und hat auch keine Macht, die Handelnden gesetzmäßig zu nötigen. Somit können wir sehen, dass Kant den traditionellen Begriff des moralischen Gefühls einerseits in seiner reinen und formalen moralischen Philosophie ablehnt, ihn andererseits aber nach dem Bedürfnis seiner Philosophie modifiziert. Das neue moralische Gefühl ist dann kein empirisches Gefühl, sondern ein durch reine Vernunft bewirktes apriorisches Gefühl. Es besteht nicht mehr aus in konkreten Situationen entstehenden unterschiedlichen Gefühlen, sondern ist ein einzigartiges Gefühl, das jederzeit und für jeden gleich gelten soll, also objektiv allgemein gültig ist. Noch zu klären ist, weshalb Kant in seiner vorkritischen Zeit das moralische Gefühl als Grundsatz der Sittlichkeit angenommen hat und ob die Gründe hierfür in kritischer Zeit auf andere Weise (und falls ja, auf welche Weise) noch bestehen bleiben und berücksichtigt werden: 1. die Innerlichkeit des Gefühls: Nur wenn die moralischen Grundsätze innerlich bei mir sind, gibt es die Möglichkeit, nach ihnen zu handeln. Eine Abschaffung des moralischen Gefühls als moralischer Grundsatz wird das wesentliche Problem in Kants Ethik ergeben, nämlich wie das apriorische Sittengesetz auf das sinnlich-vernünftige Wesen angewendet werden kann. Die Verbindung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit braucht eine Erklärung. 2. die Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit des Gefühls: Kant schreibt: „Das system des moralischen Gefühls hat das verdienstliche an sich, daß es alle pragmatische [Zwecke] abschafft“ (Baum. AA19: 177). Diesen Vorteil kann Kants formale Gesetzesethik ebenfalls bieten. Übrigens hat Dieter Henrich auch gezeigt, dass das eigentümliche Verdienst von Hutschesons moral sense in Kants Philosophie in der Ursprünglichkeit und Unableitbarkeit des sittlichen Bewusstseins besteht, die bei Hutscheson durch das Faktum eines moral sense ausgedrückt wird.
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Kant geht jedoch über die faktische Schicht hinaus und „expliziert sein Faktum der Vernunft zu einer weitläufigen Vorstellung von der intelligiblen Welt“.⁴² 3. die Antriebskraft des moralischen Gefühls: Sie wird sowohl in vorkritischer Zeit als auch in kritischer Zeit beachtet. Durch die Revidierung des Begriffs geht diese Antriebskraft nach 1770 jedoch nur noch von der Vernunft aus.
3.2.2 Die Bedeutung des moralischen Gefühls nach 1770 3.2.2.1 Das moralische Gefühl Nach der kritischen Wendung unterscheidet Kant vor allem das moralische Gefühl vom pathologischen Gefühl: „Alle Bestimmung der Willkür aber geht von der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Gefühl der Lust oder Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein Interesse zu nehmen, zur That; wo der ästhetische Zustand (der Afficirung des inneren Sinnes) nun ein pathologisches oder moralisches Gefühl ist. – Das erstere ist dasjenige Gefühl, welches vor der Vorstellung des Gesetzes vorhergeht, das letztere das, was nur auf diese folgen kann“ (MST AA6: 399, siehe auch KpVAA5: 80). Das heißt: Im Gegensatz zum empirischen Ursprung des pathologischen Gefühls hat das moralische Gefühl seine Quelle in der Vernunft und somit in deren Gesetzen. Das moralische Gefühl als ein durch Vernunft bewirktes Gefühl muss also von aller Sinnlichkeit des Subjektes frei sein. Der mehrdeutige Ausdruck ‚Gefühl‘ kann nach Ming-huei Lee auf drei Ebenen interpretiert werden: 1. als eine emotionale Naturanlage und Fähigkeit zum Fühlen und Empfinden, 2. als eine habituelle Eigenschaft, die durch Ausübung kultiviert werden kann und 3. als eine Empfänglichkeit und ein Gefühlszustand in konkreten sittlichen Situationen. Diese drei Ebenen lassen sich ohne Konflikt miteinander kombinieren: Die Naturanlage als einen angeborenen Keim des Guten besitzen alle Menschen gleichermaßen, sie ist jedoch nur eine Möglichkeit der Sittlichkeit. Um die wirkliche und konkrete moralische Empfindung haben zu können, muss die Anlage hinreichend kultiviert und verstärkt werden. Daher kann man „das verschiedene moralische Gefühl der Menschen nach verschiedenheit des geschlechts des alters der Erziehung u. Regirung der Racen u. Climaten an[…]merken“ (Bemerkungen AA20: 50). Im schlimmsten Fall könnte man diese Naturanlage beschädigen, sodass ein Mensch diese Empfindungen nicht mehr haben könnte; dann wäre er „ohne moralisch Gefühl“ (RefA AA15: 353). Es gilt aber: „Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch“ (MST AA6: 400). In diesem Sinne hätte er seine Bestimmung als ein vernünftiges und moralisches Wesen verloren.
Dieter Henrich: Hutcheson und Kant. In: Kant-Studien , , S. .
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Das moralische Gefühl als Gefühlszustand lässt sich als das Gefühl der Lust oder Unlust beschreiben, das jeweils mit dem Bewusstsein der Tugend oder des Lasters verbunden ist. In Bezug auf die Entstehung des moralischen Gefühls lässt es sich in zwei Arten unterschieden: 1. Die Lust oder Unlust aus dem Bewusstsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits der Willensbestimmung mit dem moralischen Gesetz, die insofern als eine Triebfeder oder ein Widerstand der moralischen Handlung dient sowie 2. Lust oder Unlust aus dem Bewusstsein der Moralität der Handlung, d. h. aus dem Bewusstsein, dass man tatsächlich eine Pflicht befolgt oder ein Verbot übertritt. Diese beiden Situationen der Lust und Unlust werden von Lee als „Vorwirkung des vorgestellten Handelns“ und „Rückwirkung des vollendeten Handelns“ bezeichnet.⁴³ Obwohl Kant diese Einteilung in seinen Texten nicht konsequent durchgehalten hat, wie Lee selbst auch zugibt, hilft sie, die unterschiedlichen Funktionen des moralischen Gefühls in der transzendentalen Ethik genau zu identifizieren.
3.2.2.2 Das moralische Gefühl und der moralische Sinn Obwohl Kant den sensus moralis mit dem moralischen Gefühl identifiziert, sollte er aber besser wortwörtlich mit ‚moralischer Sinn‘ übersetzt werden, was mit unserem Thema des Gemeinsinns enger zusammenzuhängen scheint. Der Begriff des moralischen Sinns wird von Kant ebenfalls in der Ethik gebraucht. An manchen Textstellen scheint es, als ob die beiden ohne Unterschied verwendet würden (GMS AA4: 442, 443, Baum. AA19: 135, 149).⁴⁴ Jedoch gibt es auch viele Stellen, an denen Kant die beiden ausdrücklich unterscheidet. Jetzt sehen wir ein, in welchem Sinne sie miteinander zusammenhängen und sich sogar identifizieren lassen und inwiefern sie sich voneinander differenzieren. Im Folgenden sind zunächst einige Wortbedeutungen zu klären, bevor wir auf die kantischen Definitionen eingehen. Die Bedeutungen für ‚Sinn‘ in diesem Zusammenhang können wie folgt aufgelistet werden: 1. Fähigkeit der Wahrnehmung und Empfindung; 2. Gefühl und Verständnis für etwas, innere Beziehung zu etwas; 3. Sinnesart, Denkungsart. Und unter ‚Gefühl‘ versteht man hier: 1. äußeres Fühlen und Empfindungen durch Sinnensorgane, z. B. kalt und warm; 2. inneres Fühlen und seelische Regungen, z. B. Angst, Glück, Liebe und Hass; 3. undeutliche Eindrücke und zu erklärende Ahnungen, Instinktivität; 4. Fähigkeit, gefühlsmäßig zu erfassen.
Ming-huei Lee: Das Problem des moralischen Gefühls in der Entwicklung der Kantschen Ethik. Insititute of Chinese Literature and Philosophy. Academia Sinica, Taiwan , S. – . Dabei wird der moralische Sinn im Sinne des moralischen Gefühls gebraucht, nämlich als ein sinnliches Vergnügen, eine Neigung oder Lust, und er fungiert als Grund des Antriebs und der Bewegungskraft.
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Es ist leicht zu bemerken, dass es beim Sinn vor allem um eine Fähigkeit und ein Vermögen geht und beim Gefühl um den Zustand des Subjektes als Ereignis des inneren Sinns. Gleichwohl hat der Sinn als zweite Bedeutung auch die von Gefühl (als Wirkung des Empfindungsvermögens) und das Gefühl kann auch als eine Fähigkeit angesehen werden. Hier kann der Unterschied zwischen dem moralischen Sinn und dem moralischen Gefühl vor allem als Unterschied zwischen der Wahrnehmungsfähigkeit und der konkreten Empfindung der Moralität verstanden werden. Diese praktische Wahrnehmungsfähigkeit hat einerseits das moralische Gesetz als ihre Form, andererseits das moralische Gefühl als ihre Materie (Baum. AA19: 180). Die Empfindlichkeit des moralischen Sinns drückt sich nicht nur im theoretischen, sondern auch im praktischen Sinne aus: Er ist nicht nur eine sinnliche Vorstellungskraft, sondern auch ein Vermögen, das Gemüt sinnlich zu affizieren und die Handlung durch den Körper sinnlich zu veranlassen. In diesem Sinne definiert Kant den moralischen Sinn auch als eine „receptivitaet, durch den bloßen geist bewegt zu werden“ (RefA AA15: 451) oder anders formuliert als eine Fähigkeit, durch welche die tierischen Gefühle dem moralischen Gefühl subordiniert werden und nur das „pure intellectualia motiva“ den „elateres animi“ (RefA AA15: 451) (Triebfedern des Gemüts) untergeordnet wird. Es ist nicht schwer zu bemerken, dass Kant diese Unterscheidung zwischen dem moralischen Sinn und dem moralischen Gefühl nicht absolut durchgehalten hat (siehe auch Baum. AA19: 135). Er nennt den moralischen Sinn auch „die allgemein gemachte sinnliche Lust“ (Baum. AA19: 295) und die Verwendung des moralischen Gefühls als Triebfeder der reinen praktischen Vernunft differenziert sich kaum von der des moralischen Sinns als „causas impulsivas“ (Grund des Antriebs; Baum. AA19: 126). Der ausdrücklichste und häufigste Unterschied zwischen dem moralischen Sinn und dem moralischen Gefühl, den Kant gemacht hat, ist der, dass er den ersteren als eine Unterscheidungskraft zwischen Gut und Böse ansieht, wobei es um die theoretische Beurteilung geht, während er das letztere eher als eine sinnliche Begehrungskraft darstellt, bei der es mehr um die praktische Handlung geht. In den 1770er Jahren unterscheidet Kant in seinen handschriftlichen Nachlässen: „[d]er moralische Sinn zur Unterscheidung; das moralische Gefühl zum Antrieb“ (RefA AA15: 353). Der erstere ist „leidend“, während das letztere „durch den Verstand“ angetrieben wird und zur Modifikation fähig ist. Aber er meint zugleich auch, dass der moralische Sinn trotz seiner Bezeichnung unmöglich und widerspruchsvoll ist (vgl. RefA AA15: 353 sowie auch Baum. AA19: 149). Der Grund dafür ist, dass das Prinzip der Moral nicht sinnlich sein kann. „[W]enn auch ein solches möglich würde, so könten doch nothwendige categorische und allgemeine Gesetze darauf nicht gegründet seyn“ (Baum. AA19: 149). In der Metaphysik der Sitten schreibt Kant auch:
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„Dieses Gefühl einen moralischen Sinn zu nennen ist nicht schicklich; unter dem Wort Sinn wird gemeiniglich ein theoretisches, auf einen Gegenstand bezogenes Wahrnehmungsvermögen verstanden: dahingegen das moralische Gefühl (wie Lust und Unlust überhaupt) etwas bloß Subjektives ist, was kein Erkenntnis abgibt. […] Wir haben aber für das (sittlich) Gute und Böse eben so wenig einen besonderen Sinn, als wir einen solchen für die Wahrheit haben, ob man sich gleich oft so ausdrückt, sondern Empfänglichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz), und das ist es, was wir das moralische Gefühl nennen.“ (MST AA6: 400)
Hier unterscheidet Kant die beiden auch durch die theoretische (auf die Erkenntnis der Gegenstände bezogene) und die praktische (auf die Handlung des Subjektes bezogene) Funktion und behauptet dann, dass es keinen besonderen moralischen Sinn als Beurteilungsvermögen gebe: Was man unter dem moralischen Sinn verstehe, solle dem moralischen Gefühl zugeordnet werden. Wir können diese Aussagen wie folgt verstehen: Der moralische Sinn als ein angenommener Begriff dient hier in Kants Text nur funktional dazu, zum moralischen Gefühl zu kontrastieren. Diese Kontrastierung dient auch dazu, gegenüber der Moral-sensePhilosophie auf größere Distanz zu gehen, ohne dabei die moralischen Gefühle ganz abzustreiten. Zusammenfassend kann man erkennen, dass der moralische Sinn und das moralische Gefühl in ihrem weitesten Sinne keinen großen inhaltlichen Unterschied haben. In unterschiedlichen Textzusammenhängen werden sie teilweise gleichgesetzt und teilweise einander gegenübergestellt, um die antreibende Eigenschaft des moralischen Gefühls als Begehrungskraft hervorzuheben.
3.2.3 Die Funktionen des moralischen Gefühls Im Folgenden betrachten wir die Funktionen des moralischen Gefühls in der Ethik genauer. Nach Kant kann das moralische Gefühl das Sittengesetz nicht begründen und auch nicht als Urteilskriterium fungieren; es kann bloß Triebfeder des moralischen Handelns sein. Die Verwendung des moralischen Gefühls als Bestimmungsgrund des Willens wird als materiales Prinzip negiert. Der Wille kann nur seiner eigenen Gesetzgebung unterworfen sein, was bei Kant die ‚Autonomie des Willens‘ bedeutet. Wenn ein äußeres Objekt die praktische Maxime bestimmen würde, läge Heteronomie vor. Die moralischen Gefühle als empirische Prinzipien können keine Allgemeinheit und unbedingte praktische Notwendigkeit haben, „wenn der Grund derselben von der besonderen Einrichtung der menschlichen Natur, oder den zufälligen Umständen hergenommen wird, darin sie gesetzt ist“ (GMS AA4: 442). Kant kritisiert damit Hutcheson: Der moral sense – egal, ob das empirische Interesse dabei berücksichtigt
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wird oder nicht – gehört nach Kant immer zu den natürlichen Gefühlen, die sich „dem Grade nach von Natur unendlich von einander unterschieden“ (GMS AA4: 442) und keine allgemeingültigen Maßstäbe des Guten und Bösen abgeben können. Obwohl wir uns des Gefühls der Lust und Zufriedenheit bei pflichtgemäßen Handlungen und des Gefühls der Unlust und Seelenunruhe bei pflichtwidrigen Handlungen bewusst sind und diese Gefühle auch als Merkmale der Moralität ansehen, müssen wir bemerken, dass die Begriffe der Moralität und Pflicht diesem Gefühl vorhergehen. „Man kann also diese Zufriedenheit oder Seelenunruhe nicht vor der Erkenntniß der Verbindlichkeit fühlen und sie zum Grunde der letzteren machen“ (KpVAA5: 38). Also ist das moralische Gefühl nur die subjektive Wirkung der objektiven Willensbestimmung der Vernunft und wird fälschlich für das Richtmaß der sittlichen Beurteilung gehalten.
3.2.3.1 Die Triebfeder der reinen praktischen Vernunft Der Begriff ‚Triebfeder‘ wird von Baumgarten von ‚elater animi‘ als ‚Triebfeder des Gemüts‘ ins Deutsche übersetzt.⁴⁵ Kant versteht darunter den subjektiven Begehrungsgrund des Willens. In der Grundlegung wird sie vom Bewegungsgrund als dem objektiven Grund des Willens unterschieden. Die auf subjektivem Zweck beruhende Triebfeder gilt als materiales Prinzip, welches keine allgemeine Gültigkeit und Notwendigkeit hat. In der zweiten Kritik schreibt Kant ihr sowohl den subjektiven (moralisches Gefühl) als auch den objektiven Begehrungsgrund des Willens (moralisches Gesetz) zu. Bei Bewertung der Handlung können wir zwar dem vernünftigen Gesetz gemäß deren Legalität beurteilen, jedoch nur durch Prüfung ihrer Triebfeder ihre Moralität festlegen. Bei einer praktischen Handlung können wir zwar dem Gesetz gemäß beurteilen,was wir machen sollen, jedoch nur durch die Triebfeder den Körper sich bewegen lassen und die Handlung tatsächlich bewerkstelligen. Die moralische Handlung besteht aus einem kognitiven und einem konativen Element. Allison nennt in diesem Sinne, im Rückgriff auf Kant, das moralische Gesetz das Prinzip der Berurteilung (‚principium diiudicationis‘) und das moralische Gefühl das Prinzip der Ausführung (‚principium executionis‘).⁴⁶ Dass man eine Triebfeder braucht, um zur Tätigkeit anzutreiben, liegt darin begründet, dass der Mensch als ein sinnliches Vernunftwesen dem Gesetz nicht von Natur aus folgen kann, da die sinnliche Neigung ihn dabei behindert. Ein Tier bewegt sich nach dem Trieb, wohingegen der Wille eines Vernunftwesens notwendig mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen muss. Als eine Empfäng Siehe Heiner F. Klemme, Manfred Kühn: Moralische Motivation: Kant und die Alternativen. Meiner, Hamburg , S. . Henry E. Allison: Kant’s Theory of Freedom. Cambridge University Press, Cambridge , S. .
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lichkeit für das moralische Gesetz sowie eine Kraft, das Gesetz in der Praxis umzusetzen, fungiert das moralische Gefühl als eine Verbindung zwischen dem vernünftigen und abstrakten Gesetz und seiner sinnlichen und konkreten Anwendung. Einerseits hat das moralische Gefühl wegen seiner vernünftigen Quelle objektive Allgemeingültigkeit, andererseits ist es auch subjektiv. Diese Subjektivität bedeutet aber nicht Privatheit und Besonderheit, sondern die empfindliche „Wirksamkeit des – objektiven – moralischen Prinzips in der Verfassung eines menschlichen Subjekts“.⁴⁷ Beck erklärt: „Subjektiv bedeutet hier lediglich, daß etwas zur Konstitution eines Subjekts gehört und so teilweise von dessen Konstitution abhängt; aber es bedeutet nicht, daß diese Subjektivität individuelle Unterschiede in der Abhängigkeit von sinnlichen Begierden zuläßt.“⁴⁸ Der Terminus der Triebfeder betrifft somit das Problem, wie wir die intellektuelle und die sinnliche Seite unserer Natur in der realen Welt miteinander in Beziehung treten lassen können. Was für eine Eigenschaft muss die Triebfeder haben, um diese beiden ganz unterschiedlichen Seiten zu verbinden? Diese schwierige Frage erfordert die komplizierte Konstruktion des Begriffs: Der Triebfeder des menschlichen Willens wird nicht nur ein sinnlicher, sondern auch ein vernünftiger Charakter verliehen. Die sinnliche Empfänglichkeit für das moralische Gesetz ist die Achtung. Sie hat einerseits das Gesetz unseres eigenen freien und vernünftigen Willens als Grund und andererseits das Gefühl als psychologische Wirkung.
3.2.3.2 Die Auflösung der Antinomie der reinen praktischen Vernunft In der Grundlegung definiert Kant die „natürliche Dialektik“ der reinen praktischen Vernunft als den Antagonismus zwischen dem Vernunftgesetz und den Maximen der Neigung (GMS AA4: 405). In der zweiten Kritik erklärt er die Dialektik darüber hinaus als Resultat des Verlangens der Vernunft nach einer absoluten Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten, konkreter: als Resultat des Verlangens nach dem höchsten Gut auf Seiten eines beschränkten vernünftigen Wesens. Das höchste Gut darf nicht nur Tugend enthalten, die „(als die Würdigkeit, glücklich zu sein) die oberste Bedingung alles dessen [ist], was uns wünschenswert scheinen mag“, sondern es beinhaltet auch unsere Erwerbung der „Glückseligkeit, die in Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdigkeit […]) ausgeteilt“ (KpV AA5: 110) wird. Nicht nur für die parteiische und Lewis White Beck: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar. Übers. v. KarlHeinz Ilting, Wilhelm Fink, München , S. . Lewis White Beck: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar. Übers. v. KarlHeinz Ilting, Wilhelm Fink, München , S. .
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sich selbst zum Zweck machende Person, sondern auch für die unparteiische und in der Welt als Zweck an sich zu betrachtende Person überhaupt bedarf es des ganzen und vollendeten Guts, der Tugend und der Glückseligkeit in Verbindung miteinander. Diese Verbindung könnte weder eine analytische sein, noch in der Weise synthetisch, dass Tugend aus Glückseligkeit folgt. Dann bleibt aber nur eine Möglichkeit: Tugend ist der Grund der Glückseligkeit. Dieses Folgeverhältnis könnte jedoch nicht in der Erscheinungswelt zustandekommen, sondern nur in der intelligiblen Welt. Diese apriorische Kausalität manifestiert sich nun in dem von Kant modifizierten Begriff des moralischen Gefühls: in dem durch die vernünftige Willensbestimmung entstehenden apriorischen Gefühl.⁴⁹ Doch das moralische Gefühl bietet nur in einem schwachen Sinn eine Möglichkeit zur Auflösung der Antinomie an.Wenn wir die apriorische Verbindung von beiden nicht beweisen können, da sie übersinnlich ist, und auch die aposteriorische Verbindung nicht erfahren wird, dann versuchen wir einen solchen widersprüchlich erscheinenden Begriff zu konstituieren, um darauf zu verweisen, dass die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit zwar weder notwendig noch real gegeben, jedoch nicht unmöglich ist. Im strengen Sinne gehört die Lust des moralischen Gefühls weder zur Glückseligkeit, da sie keine sinnliche Quelle hat, noch zur Seligkeit, da sie von Neigungen und Bedürfnissen nicht ganz unabhängig ist. Doch ist sie der letzteren immerhin ähnlich, indem sie, ihrem Ursprung nach, der Selbstgenügsamkeit eines höchsten Wesens analog ist: „[S]o werden wir die Gründe jener Möglichkeit [Tugend und Glückseligkeit zu verbinden] erstlich in Ansehung dessen, was unmittelbar in unserer Gewalt ist [also das sinnliche Gefühl], und dann zweitens in dem, was uns Vernunft als Ergänzung unseres Unvermögens zur Möglichkeit des höchsten Guts (nach praktischen Principien nothwendig) darbietet und nicht in unserer Gewalt ist, [das moralische Gefühl als einen mitteilenden Begriff] darzustellen suchen“ (KpV AA5: 119).
3.2.4 Das Gefühl beim moralischen Gefühl So weit hat Kant die Funktion des moralischen Gefühls in seiner moralischen Philosophie bestimmt und seiner Definition entsprechend dargestellt. Es bleibt aber noch zu klären, inwiefern und auf welche Weise die einander widersprechenden Komponenten, die objektive und allgemeine Moralität und die subjektive
Siehe Eckart Förster: Die Dialektik der reinen praktischen Vernunft. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Akademie Verlag, Berlin , S. – .
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und individuelle Sinnlichkeit, sich miteinander verknüpfen lassen – oder anders formuliert: wie das moralische Gefühl entsteht und funktioniert.
3.2.4.1 Die Genese des Gefühls der Achtung In der zweiten Kritik erklärt Kant die Genese der Achtung, d. h., wie das Vernunftgesetz im Gemüt affektiv wirksam wird und ein Gefühl bewirkt. Nach seinen Eigenschaften lässt sich dieses moralische Gefühl in eine negative und eine positive Seite aufteilen. Da die Achtung als Triebfeder fungiert, hat man durch sie an dem vernünftigen Gesetz ein Interesse und tut der sinnlichen Neigung Abbruch, welche die vernüftige Willensbestimmung behindert. Entsprechend den beiden unterschiedlichen Arten von selbstsüchtigen Neigungen kommt diese negative Wirkung der Triebfeder auf zwei Weisen zum Ausdruck: Erstens tut die reine praktische Vernunft der Eigenliebe Abbruch, denn wenn das subjektive Interesse der Eigenliebe der Forderung der Vernunft widerspricht, wird sie auf die Bedingung der Einstimmung mit dem moralischen Gesetz eingeschränkt; ansonsten wird sie aber nicht diszipliniert. Zweitens schlägt die reine praktische Vernunft den Eigendünkel vollkommen nieder, damit die sittliche Gesetzgebung unbedingten und absoluten Wert haben kann, denn dieser ist ganz gegen den Anspruch des Sittengesetzes. Die moralische Arroganz des Eigendünkels wird wegen ihrer Untergrabung der Autorität des Gesetzes gedemütigt. Durch diese beiden Weisen der Zurückweisung von selbstsüchtigen Neigungen entstehen aus pathologischer und physiologischer Sicht eine negative Wirkung und ein Gefühl der Unannehmlichkeit. Nach dem intelligiblen Aspekt jedoch entsteht mit dieser Einschränkung und Demütigung eine positive Beförderung der reinen praktischen Vernunft und ihrer Kausalität in der Sinnlichkeit. Die negative Wirkung zeigt sich auch bei der Achtung der moralischen Handlung von Anderen: Ein Mensch, der gleichermaßen sinnlich und intelligibel begabt ist wie man selbst, zeigt seine moralische Stärke durch eine Tat im Kampffeld zwischen dem Gesetz und der Neigung. Aber nicht seiner bewunderten und vorzüglichen Leistung zollt man Tribut, sondern seiner Rechtschaffenheit, mithin der Persönlichkeit, die man selbst gleichermaßen haben könnte. Durch den Vergleich des eigenen Verhaltens mit dem Verhalten von Anderen hält die hieraus entspringende Achtung die eigene Unwürdigkeit vor und schlägt den eigenen Stolz nieder. Diese Achtung zeigt sich aber auch als ein positives Gefühl: Wenn man den Eigendünkel abgelegt hat und von der Achtung praktisch angetrieben wird, kann man in der Herrlichkeit des Gesetzes versinken und ist in der Lage, „die Seele sich in dem Maße selbst zu erheben, als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht“ (KpV AA5: 77, siehe auch AA5: 143). Der Wert dieser Erhebung wird durch die Selbstverwirklichung und Selbstbilligung in
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Ansehung der reinen praktischen Vernunft ausgedrückt: Wir sind uns unserer Persönlichkeit bewusst, nämlich der Freiheit und Unabhängigkeit von unseren Neigungen. Der Mensch als ein Wesen, das gleichzeitig zur Sinnenwelt und zur intelligiblen Welt gehört, hat das Vermögen, nur den reinen praktischen Gesetzen unterworfen zu sein. Die Achtung vor der Persönlichkeit drückt sich auch in einem Wohlgefallen an einer Selbstverwirklichung unserer höchsten Bestimmung aus. Dieses Gefühl wird auch als Selbstzufriedenheit bezeichnet. In der herkömmlichen Bedeutung ist Selbstzufriedenheit nur „ein negatives Wohlfallen an seiner [eigenen] Existenz […], in welchem man nichts zu bedürfen sich bewußt ist“ (KpV AA5: 117). In einem tieferen Sinne wird sie jedoch als eine intellektuelle Zufriedenheit verstanden, „welche in ihrer Quelle Zufriedenheit mit seiner [eigenen] Person ist.“ (KpV AA5: 118)
3.2.4.2 Leidenschaft und Affekt Wenn wir das moralische Gefühl als eine positive Bewegungskraft der praktischen Handlung betrachten, gibt es nach Kant auch zwei Arten negativer Kräfte und Krankheiten des Gemüts, die die Herrschaft der Vernunft ausschließen: Leidenschaft und Affekt. Die erstere ist die „durch die Vernunft des Subjekts schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung“ und der letztere ist „das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subjekt die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt“ (ApH AA7: 251). Die erstere wird der Domäne des Begehrungsvermögens zugeordnet und bezieht sich auf Zukünftiges, während der letztere zum Gefühl gehört und auf das Gegenwärtige geht. Die Leidenschaft fungiert nur negativ und ist „ohne Ausnahme böse“ (ApH AA7: 267), d. h., sie widersetzt sich der Willensbestimmung der Vernunft und verhindert ihre Ausübung. Der Affekt ist jedoch nicht immer gegen die Vernunft gerichtet, sondern nur irrational und unbesonnen. Ein Affekt, der durch die Idee des Guten bewirkt ist und der eine Belebung des Willens hervorbringt, wird auch Enthusiasmus genannt und kann sogar eine moralische Handlung fördern (KU AA5: 272, ApH AA7: 254). Kant äußert auch in seiner Vorlesung diese Meinung: „Enthusiasmus ist die Achtung für das Erhabene“.⁵⁰ In diesem Sinne unterscheidet sich der Enthusiasmus wenig vom moralischen Gefühl der Achtung als
Kant: Die Vorlesung des Wintersemesters / aufgrund der Nachschrift. Pillau. In: Vorlesungen über Anthropologie. Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hrsg.). de Gruyter, Berlin , S. .
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einem sinnlichen Antrieb (funktional) und einer Gefühlserzeugung durch reine Vernunft (konstruktiv).⁵¹ Der Enthusiasmus muss nach Kant aber „eigentlich“ (ApH AA7: 254) nicht zum „Affekt, als einem stärkeren sinnlichen Gefühl, gerechnet werden“,⁵² sondern zum Begehrungsvermögen: erstens deshalb, weil „die Affekte des Gefühls nur gegenwartsbezogene Reaktionen darstellen“,⁵³ während das letztere „sich auf eine auszuführende Tätigkeit richtet“,⁵⁴ und zweitens deshalb, weil er kein sinnliches, sondern ein vernünftiges Gefühl ist, welches sich nicht nur des gegenwärtigen Gemütszustandes bewusst ist, sondern auch zur zukünftigen Handlung antreibt. Es ist auch zu betonen, dass der Unterschied der zeitlichen Bezogenheit zwischen dem Vermögen des Gefühls und dem Begehrungsvermögen auf der empirischen, anthropologischen Ebene liegt und nicht mit der Einteilung auf der apriorischen Ebene zu verwechseln ist. Im letzteren Fall wird das moralische Gefühl zum Gefühl der Lust und Unlust gerechnet, das dem Begehrungsvermögen dient – nicht jedoch zum Begehrungsvermögen selbst.⁵⁵
3.2.4.3 Das moralische Gefühl als das Gefühl der Lust In der Kritik der praktischen Vernunft wird die Verknüpfung zwischen der vernünftigen und der sinnlichen Komponente des moralischen Gefühls in der Weise dargestellt, dass das Vernunftgesetz das sinnliche Gefühl bewirkt, was als eine transzendentale psychologische Beschreibung betrachtet werden kann. Dagegen wird in der Kritik der Urteilskraft diese Verknüpfung im Hinblick auf die formale subjektive Struktur dargestellt, dank derer das Gefühl der Lust intellektuell und Siehe hierzu auch Reinhard Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Meiner, Hamburg , S. f. Siehe hierzu auch Reinhard Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Meiner, Hamburg , S. f. Siehe hierzu auch Reinhard Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Meiner, Hamburg , S. f. Siehe hierzu auch Reinhard Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Meiner, Hamburg , S. f. Es gibt aber noch weitere Fragen zu untersuchen: Obwohl Kant diese beiden Seelenvermögen deutlich voneinander unterschiedet, weist er in seinen früheren Schriften und auch in kritischen Werken auf die enge Beziehung zwischen dem Gefühl und dem Begehrungsvermögen hin. Was Kant jedoch nicht ausführlich klärt, ist, wie Brandt bemerkt, „ob die Seelengliederung in Erkennen, Fühlen und Wollen nicht auch innere Zusammenhänge verdeckt“ (Brandt , S. ). Bei der Diskussion der intellektuellen Lust im kommenden Abschnitt können wir sehen, dass das Gefühl nicht nur in der Ästhetik, sondern auch im theoretischen und praktischen Bereich als eine treibende Kraft funktioniert. Es gibt auch beim Geschmacksurteil und beim moralischen Urteil ein Erkennen.
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allgemein gültig sein kann. Die Analyse erfolgt hier durch die Untersuchung des Gemütszustandes des Subjektes. Während Kant in der zweiten Kritik das moralische Gefühl nicht ein Gefühl der Lust oder Unlust nennen möchte (KpV AA5: 77, 80), nennt er es in der dritten Kritik ein Gefühl der Lust (KU AA5: 222 f., siehe auch MSR AA6: 212). Auch die Erläuterungen konzentieren sich hier auf diese positive Seite des Gefühls. Obwohl Kant in der dritten Kritik das moralische Gefühl nicht eigens erläutert, wird der Begriff durch den Vergleich mit dem Begriff des Schönen und dem des Erhabenen verdeutlicht. Das Verhältnis der drei Begriffe zueinander lässt sich in folgenden Punkten darstellen: 1) Sie sind unabhängig von sinnlichen Interessen, abstrahieren von materiellen Faktoren und werden nur durch die subjektiven und formalen Bedingungen bestimmt (KU AA5: 267), die bei der Übereinstimmung der Erkenntniskräfte miteinander im Fall des Schönen bzw. des Erhabenen eine Zweckmäßigkeit darstellen und beim moralischen Gefühl eine Gesetzmäßigkeit. 2) Aufgrund ihrer Reinheit sind die subjektiven formalen Bedingungen allgemeingültige Gemütsstimmungen und es gibt dabei gründliche und geläuterte Gesinnungen. Die Allgemeingültigkeit beim Schönen und Erhabenen ist subjektiv, beim moralischen Gefühl hingegen ist sie objektiv. 3) Das Urteil über das Erhabene hat seine Grundlage im moralischen Gefühl. Das heißt: Die Notwendigkeit der zweckmäßigen Übereinstimmung von Einbildungskraft und Vernunft beim Erhabenen beruht auf der bestimmten Beziehung zwischen dem vernünftigen und dem sinnlichen Begehrungsvermögen beim moralischen Gefühl, also auf der Überwindung der sinnlichen Neigung durch den vernünftigen Willen (KU AA5: 265 ff.). 4) Moralität kann durch Geschmackstätigkeit kultiviert werden, da letztere die Empfänglichkeit der Moralität erhöht und das reine moralische Interesse verstärkt. Einerseits kann die Denkungsart durch das Geschmacksurteil gereinigt werden, indem man sich von subjektiven Neigungen und sinnlichen Wünschen losreißt und durch die Reflexion des Geschmacksurteils von der realen Unbefriedigtheit der Sinnlichkeit dadurch ablenkt, dass man sich nur auf die reine innere Gemütsstimmung konzentriert. Andererseits kann die subjektive allgemeingültige Gemütsstimmung, die leicht zu erreichen ist und sich selbst erhält, derjenigen Denkungsart förderlich sein, die nur durch mühsamen Vorsatz erhalten werden kann, aber objektiv allgemeingültig ist (KU AA5: 230 f.). So gilt die spontane Harmonie der Vorstellungskräfte als eine Vorbereitung für die bestimmte Übereinstimmung von Vernunft und Sinnlichkeit beim moralischen Gefühl. Es ist aber zu bemerken, dass der Gemütszustand im Geschmacksurteil durch die Reflexion auf die Übereinstimmung der Erkenntniskräfte „ästhetisch durch den bloßen inneren Sinn und Empfindung“ (KU AA5: 218) bewusst ist und die Lust
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sich dabei kontemplativ präsentiert, „um den Zustand der Vorstellung selbst und die Beschäftigung der Erkenntniskräfte ohne weitere Absicht zu erhalten“ (KU AA5: 222). Dagegen ist der Gemütszustand im moralischen Gefühl intellektuell durch das Bewusstsein der vernünftigen Bestimmung des Willens bewusst, konkreter gesagt durch innere Bewegung und die treibende Funktion für die moralische Handlung. Die Lust ist dabei praktisch: Durch die Willensbestimmung der Vernunft bewirkt das Subjekt mit Bewusstsein eine Selbsttätigkeit. Kant definiert das moralische Gefühl als die „Bestimmbarkeit des Subjects durch diese Idee und zwar eines Subjects, welches in sich an der Sinnlichkeit Hindernisse, zugleich aber Überlegenheit über dieselbe durch die Überwindung derselben als Modifikation seines Zustandes empfinden kann“ (KU AA5: 267). Wir fühlen einen Gemütszustand beim Geschmacksurteil, aber eine Gemütsbewegung beim moralischen Gefühl. Der erstere wird kontemplative Lust oder untätige Lust genannt, die letztere dagegen praktische Lust (MSR AA6: 212). Eine weitere Frage wäre, welche gemeinsamen Eigenschaften der Lust als Oberbegriffe zu den beiden unterschiedlichen Arten der Lust ermittelt werden können. In der Kritik der praktischen Vernunft definiert Kant die Lust folgendermaßen: „Lust ist die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens, d. i. mit dem Vermögen der Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung es hervorzubringen)“ (KpV AA5: 9). In diesem Fall hängt die Lust immer eng mit der Möglichkeit der Befriedigung des Begehrens zusammen, entweder direkt durch das wirkliche Objekt oder indirekt durch darauf gerichtete Tätigkeit. In der Kritik der Urteilskraft erweitert Kant wegen der Einführung der reflektierenden Urteilskraft den Definitionsbereich der Lust: Es geht hierbei nun nicht mehr nur um die materialen⁵⁶ Eigenschaften (sinnliche Neigung oder vernünftiges Gebot) des Subjekts, sondern auch um seine subjektive formale Bedingung. In der ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft schreibt Kant: „Lust ist ein Zustand des Gemüths, in welchem eine Vorstellung mit sich selbst zusammenstimmt, als Grund, entweder diesen blos selbst zu erhalten (denn der Zustand einander wechselseitig befördernder Gemüthskräfte in einer Vorstellung erhält sich selbst), oder ihr Object hervorzubringen.“ (EE AA20: 230 f., siehe auch KU AA5: 220) Es gibt daher in den beiden Gemütszuständen des Geschmacksurteils und des moralischen Gefühls „eine Vorstellung [, die] mit sich selbst zusammenstimmt“. Beim Geschmacksurteil verkörpert sich dieses „Zusammenstimmen mit sich
Mit ‚material‘ meine ich hier eine Objektbezogenheit; im Gegensatz dazu bedeutet ‚formal‘ eine Bezogenheit auf den Zustand des Subjekts.
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selbst“ in der Selbst-Erhaltung durch das freie Spiel von Verstand (oder Vernunft) und Einbildungskraft, da in dieser Harmonie die Einbildungskraft befreit und der Verstand erweitert wird (beim Schönen) oder die Einbildungskraft unendlich erweitert und die übersinnliche Bestimmung und vernünftige Eigenschaft festgelegt wird (beim Erhabenen). In beiden Fällen dienen der Verstand und die Vernunft der Einbildungskraft. Die Regellosigkeit und Passivität der sinnlichen Lebenskraft und die Spontaneität der intellektuellen Lebenskraft werden bei der kontemplativen Lust gleichzeitig befördert. Im moralischen Gefühl verkörpert sich das „Zusammenstimmen mit sich selbst“ in der bestimmten Beziehung zwischen der Vernunft und der Sinnlichkeit (Selbst-Bestimmung) und in der treibenden Gemütsbewegung, die durch Vernunft auf die Sinnlichkeit wirkt (Selbsttätigkeit), wobei die Spontaneität und Aktivität der intellektuellen Lebenskraft sich verstärken. In diesem Sinne kann das „Zusammenstimmen mit sich selbst“ in der Lust überhaupt als Selbstbeförderung und Selbstverwirklichung der Lebenskräfte angesehen werden. Wie Kant schon in den 1770er Jahren bewusst war, wird „[d]as Gefühl von der Beförderung des Lebens vergnügt“ (RefA AA15: 240). In der dritten Kritik definiert er die Lust und Unlust auch als „Beförderung oder Hemmung der Lebenskräfte“ (KU AA5: 278). Die Lust im Geschmacksurteil und im moralischen Gefühl kann dann jeweils als die Selbstbeförderung der sinnlichen und intellektuellen Lebenskraft betrachtet werden. Aus dieser Perspektive ordnet Kant das moralische Gefühl dem ebenfalls widersprüchlich erscheinenden Begriff des intellektuellen Gefühls (oder der intellektuellen Lust) zu.
3.2.4.4 Das moralischen Gefühl als intellektuelle Lust Wenn Kant am Ende der 1760er Jahre die Sinnlichkeit und den Intellekt unterscheidet, kommt die intellektuelle Lust, als ein an der Grenze zwischen Sinnlichkeit und Verstand stehender Begriff, häufig vor. Sinnlichkeit und Intellektualität sind zwei entgegengesetzte Vermögen – als unten und oben oder als passiv und spontan voneinander unterschieden – und die drei von Kant unterschiedenen Seelenvermögen (Erkenntnis, Gefühl und Begehren) können dieser Unterscheidung entsprechend jeweils in zwei Teile unterteilt werden: sinnliche und intellektuelle Erkenntnis, sinnliches und intellektuelles Gefühl sowie sinnliches und intellektuelles Begehren (RefA AA15: 78 f., 85 ff., 239). Zu dieser Zeit ist sich Kant noch nicht sicher, wie ein Begriff der intellektuellen Lust konstruiert werden kann, und er ist auch schwankend darüber, ob es einen solchen Begriff überhaupt geben kann (Entwürfe AA15: 733 f., RefA AA15: 237 ff.). Er ist sich jedoch schon im Klaren darüber, dass dies, falls es so etwas geben sollte, etwas sein müsse, bei dem „durch den Verstand der Sinn zu Hülfe gerufen“ wird, d. h., etwas, das seinen Ursprung im Verstand hätte. Das vernünftige Element wirkt vor allem durch seine
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gesellschaftliche Dimension. Bezüglich der Wissenschaften kommt das vernünftige Vergnügen „in rücksicht auf Ehre“ zustande und bezüglich der Tugend „in rücksicht auf Billigung“ (Entwürfe AA15: 734). In einer etwa um die Jahreswende 1792/93 abgefassten Reflexion, die möglicherweise eine „ungedruckte Vorarbeit zur Anthropologie“⁵⁷ ist, können wir dann eine relativ klare Erläuterung der sinnlichen und intellektuellen Lust finden. Die sinnliche Lust wird in die Sinneslust und die Geschmackslust unterteilt und die intellektuelle Lust ist entweder subjektiv oder objektiv. Erstere besteht in der Beförderung des Verstandesvermögens und ist die Lust an einer Demonstration. Letztere bezieht sich auf das, was „ein bloßes, reines Objekt des Verstandes“ ist, das wir aber als ein noumenon gar nicht erkennen können. Die objektive intellektuelle Lust kann „nur in der Lust an der Kausalität des Verstandes und der Vernunft (unmittelbar) in Ansehung ihrer Objekte bestehen. Die Kausalität der Vernunft in Ansehung ihrer Gegenstände ihrer Vorstellungen ist die Freiheit. Folglich kann die reine intellektuelle Lust nur an dem mit Gesetzen der Vernunft zusammenstimmenden Gebrauch der Freiheit bestehen“.⁵⁸ Im zweiten Buch der Anthropologie teilt Kant die Lust ebenfalls in die beiden Arten der sinnlichen und der intellektuellen Lust ein. Erstere ist hier entweder durch den Sinn (das Sinnenvergnügen) oder durch die Einbildungskraft (den Geschmack) verursacht und letztere entweder durch darstellbare Begriffe oder durch Ideen (ApH AA7: 230). Im daran anschließenden Text wird die sinnliche Lust ausführlich erläutert. Der Geschmack wird dabei als eine Mischung von sinnlicher und intellektueller Lust definiert. Die intellektuelle Lust wird jedoch gar nicht mehr erwähnt. In der Metaphysik der Sitten, also 1797, definiert Kant die intellektuelle Lust als eine von der Bestimmung des Begehrungsvermögens verursachte praktische Lust (MSR AA6: 212 ff.).⁵⁹ Die oben erwähnten Textstellen können als Belege dafür angesehen werden, dass Kant den Terminus der intellektuellen Lust als eine Zusammensetzung von Intellektuellem und Sinnlichem auffasst, was im Rahmen seiner Philosophie eigentlich widersprüchlich scheint. Obwohl die intellektuelle Lust nie genau definiert und erklärt wird, können wir aus den obigen Textstellen zusammenfassend feststellen, dass unter ihr eine allgemeine Lust an der Beförderung und Verwirklichung der intellektuellen Lebenskräfte verstanden werden kann. In diesem
Wolfgang G. Bayerer: Bemerkungen zu einer vergessenen Reflexion Kants über das „Gefühl der Lust und Unlust“, Kant-Studien , , S. . Wolfgang G. Bayerer: Bemerkungen zu einer vergessenen Reflexion Kants über das „Gefühl der Lust und Unlust“, Kant-Studien , , S. . Siehe auch Benno Erdmann (Hrsg.): Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen. Fues, Leipzig , S. – .
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Sinne kann auch der Gemeinsinn als eine intellektuelle Lust angenommen werden, dem dann als einem Oberbegriff das Vergnügen des Verstandes, das moralische Gefühl und der Geschmack untergeordnet sind. Die ersten beiden dieser drei Formen der Lust können dem Begriff einer intellektuellen Lust unbestreitbar zugeordnet werden, wohingegen das Geschmacksurteil eher als eine unreine intellektuelle Lust angesehen werden muss. Da die intellektuelle Lust die Sinnlichkeit betrifft, kann sie offensichtlich nicht zur Transzendentalphilosophie gehören, d. h., sie kann nichts zu der Frage beitragen, wie Ästhetik, Erkenntnis und Moralität a priori möglich sind. Sie kann aber erklären, wie die apriorischen Prinzipien des Verstandes und der Vernunft im sinnlich-vernünftigen Wesen angewendet und wie sie von ihm empfunden und rezeptiert werden, damit die Empfänglichkeit oder Rezeptivität weiterhin Einfluss auf den sinnlichen Körper ausübt und der intellektuell bestimmte Zweck auch verwirklicht wird. Beim Vergleich des endlichen Vernunftwesens mit dem reinen Vernunftwesen können wir deutlich sehen, dass die Sinnlichkeit des endlichen Vernunftwesens, obwohl sie der Grund für seine Beschränktheit und Unvollkommenheit ist, zugleich auch die Quelle seiner Lebenskraft ist. So wird im Geschmacksurteil das freie Spiel der Erkenntniskräfte durch das Gefühl der Lust als sein Anzeichen identifiziert und das Urteil dadurch erst vollendet, während ein reines Vernunftwesen keine Lust empfinden kann und insofern kein Geschmacksurteil kennt. Im Erkennen regt die Lust an der theoretischen Demonstration das Subjekt zu neuen Erkenntnissen an, während ein reines Vernunftwesen für seine intellektuelle Anschauung nichts weiter braucht. In der Praxis wird der Mensch vom moralischen Gefühl dazu getrieben, moralisch zu handeln, während der Wille des reinen Vernunftwesens schon von sich her mit dem moralischen Gesetz identisch ist und über kein moralisches Gefühl verfügt. Es ist leicht zu sehen, dass die intellektuelle Lust hier eine aktive Rolle dabei spielt, die vernünftige Handlung und das intellektuelle Urteil zur ihrer Vollkommenheit und Vollendung zu treiben. Gewiss stammt die Aktivität dieses Gefühls aus seinem intellektuellen Ursprung. Die Intellektualität regt nur das Gemüt an, jedoch nicht den Körper. Das Gefühl fungiert hier als ein Vermittler zwischen der aktiven, aber abstrakten Intellektualität und der sinnlichen und konkreten menschlichen Handlung und Beurteilung. Auf jeden Fall können Handlung und Beurteilung nicht unabhängig vom Körper sein und dem Körper steht das Gefühl am nächsten. Kant stellt fest, dass „Vergnügen und Schmerz zuletzt doch körperlich sei, es mag nun von der Einbildung, oder gar von Verstandesvorstellungen anfangen: weil das Leben ohne das Gefühl des körperlichen Organs bloß Bewusstsein seiner Existenz, aber kein Gefühl des Wohl= oder Übelbefindens, d. i. der Beförderung oder Hemmung der Lebenskräfte, sei; weil das Gemüth für sich allein ganz Leben (das Lebensprincip selbst) ist, und Hindernisse oder Beförde-
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rungen außer demselben und doch im Menschen selbst, mithin in der Verbindung mit seinem Körper gesucht werden müssen“ (KU AA5: 277 f.). Anhand der intellektuellen Lust lässt sich eine geheime Funktion der Sinnlichkeit in Kants Philosophie aufzeigen. In seiner reinen Philosophie oder Metaphysik teilt Kant Intellektualität und Sinnlichkeit nach Passivität und Aktivität ein. In der Verwendung der reinen Philosophie und der empirischen Anthropologie fungiert das Gefühl jedoch einerseits als eine Empfänglichkeit für Verstandesbegriffe und Vernunftideen, andererseits als eine von der Intellektualität bewirkte Gemütsbewegung und Triebfeder für die körperliche Handlung. Nur durch die Realität des Körpers kann der Zweck der Intellektualität in einem sinnlich-vernünftigen Wesen überhaupt erreicht werden. Die Beziehung zwischen Intellektualität und Sinnlichkeit wird in diesem Sinne gegenüber der früheren scharfen Kontrastierung neu definiert. Dies ist als eine Konkretisierung der „Widerlegung des Idealismus“ aus der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zu sehen, da diese bereits darauf abzielte, zu beweisen, daß wir uns Veränderungen im inneren Sinn nur selbst zuschreiben können,wenn wir Veränderungen im äußeren Sinn voraussetzen. Das reine Vernunftwesen braucht keine Sinnlichkeit, um selbstständig und vollkommen zu denken und moralisch zu sein, jedoch unterliegt das endliche Vernunftwesen immer der Beschränktheit und Ablenkung durch die Sinnlichkeit, nämlich einerseits der Beschränktheit in Bezug auf die konstruktive und positive Funktion der Sinnlichkeit und andererseits der Ablenkung in Bezug auf ihre irreführende und negative Funktion. Beim Erkennen kann das endliche Vernunftwesen nur Information aus den beschränkten Dimensionen erhalten, in denen es als ein sinnliches Wesen existiert; es kann unter dem Einfluss der Sinnlichkeit auch Fehler machen sowie im Prozess des Erkennens seine Ausrichtung auf die und sein Interesse an der Wahrheit verlieren. In den beiden Fällen brauchen wir das Vergnügen des Verstandes, um den Körper anzutreiben, mehr Materialien zu suchen und sich selbst zu weiteren Erkenntnissen zu ermutigen. In der Praxis kann das endliche Vernunftwesen das moralische Gesetz nur durch den Antrieb des moralischen Gefühls verwirklichen. Unter dem Einfluss sinnlicher Neigungen kann es sich unmoralisch verhalten oder sein Interesse an der Moralität verlieren, wenn es beispielsweise sieht, dass die moralischen Menschen leiden müssen und kein ihrem Wert entsprechendes Glück erfahren. Endliche Wesen wie wir brauchen deshalb die moralische Lust, um unseren Glauben an das höchste Gut bewahren zu können. Das intellektuelle Gefühl transformiert die Aktivität der intellektuellen Lebenskräfte in die Bewegungskraft des Körpers. Es fungiert dabei einerseits als konative Komponente bei der konkreten Erkennens- und Praxistätigkeit des Individuums und andererseits als ein sinnlicher Puffer der Intellektualität in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die sich ständig der Wahrheit und Moralität nähert und daher bestrebt ist, das vernünftige Interesse zu bewahren und dem Einfluss der
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Sinnenwelt zu widerstehen. Kant schreibt dazu: „[D]aß gleichwohl die Natur in uns die Anlage dazu eingepflanzt hat, war Weisheit der Natur, um provisorisch, ehe die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen, nämlich den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen (sinnlichen) Anreizes, als einstweiliges Surrogat der Vernunft, zur Belebung beizufügen“ (ApH AA7: 253). In diesem Sinn ist das Subjekt der kantischen Philosophie nicht ein von der Sinnenwelt abgesondertes metaphysisches Wesen, sondern ein sinnlich-vernünftiges Wesen mit Würde, das seine Prinzipien des Genusses ernsthaft bewahren kann und dem es möglich ist, von der intellektuellen Lust berührt und getrieben zu werden. Einerseits kämpft es gegen die Störung und Ablenkung durch die Sinnlichkeit, aber andererseits erhält es von der Sinnlichkeit auch die eigentliche Triebkraft, um sein beschränktes vernünftiges Leben zu verwirklichen.
3.2.4.5 Das moralische Gefühl in Kants System Im Triebfeder-Kapitel der Kritik der praktischen Vernunft weist Kant auf die Position des moralischen Gefühls in seinem philosophischen System hin. Dieses zu untersuchen setzt einen Vergleich zwischen dem Aufbau der theoretischen und der praktischen Philosophie voraus. Die Analytik der reinen theoretischen Vernunft fängt bei der Anschauung der Gegenstände (Sinnlichkeit) an, schreitet zu Begriffen der Gegenstände dieser Anschauung fort und endet mit Grundsätzen, während die Analytik der reinen praktischen Vernunft bei der Möglichkeit praktischer Grundsätze a priori anfängt, zu Begriffen der Gegenstände einer praktischen Vernunft (den Begriffen des Guten und Bösen) fortgeht und mit der Erläuterung des Verhältnisses der reinen praktischen Vernunft zur Sinnlichkeit und ihres Einflusses auf die Sinnlichkeit schließt. Die Analytik der theoretischen und die Analytik der praktischen Philosophie haben einen ähnlichen Umfang und eine ähnliche Einteilung, jedoch in umgekehrter Ordnung. Kant versucht, die entsprechenden Teile der beiden Analytiken einander gegenüberzustellen. Nach der Einteilung in der Analytik der reinen theoretischen Vernunft (in die Transzendentale Ästhetik und die Transzendentale Logik), teilt Kant auch die Analytik der reinen praktischen Vernunft in die beiden entsprechenden Teile ein, nämlich in Logik und Ästhetik,wobei erstere sich um die Grundsätze und Begriffe der reinen praktischen Vernunft dreht und letztere um das moralische Gefühl (siehe KpV AA5: 90). Wir können auch die Analytik der ästhetischen Urteilskraft in diesen Vergleich mit einbeziehen. Die ganze Analytik des ersten Teils der dritten Kritik kann als Ästhetik angesehen werden. Denn obwohl kein Begriff gegeben ist, enthält die Ästhetik in sich die Logik: Sie bereitet sich für die Logik vor und drückt sie aus.⁶⁰
Am Ende er Jahre hat Kant drei Arten von Ästhetik erwähnt: „Die transcendentale, die
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Wie Kant selbst auch bemerkt, ist diese Analogie in der Einteilung der Analytiken von theoretischer und praktischer Vernunft hier nicht ganz angemessen, da die beiden Ästhetiken unterschiedliche Inhalte haben: Die Sinnlichkeit in der Ästhetik der reinen theoretischen Vernunft wird als Anschauungsfähigkeit betrachtet, die in der Ästhetik der reinen praktischen Vernunft aber als Gefühl. Der Grund für diese Ungleichheit der Analogie liegt darin, dass die praktische Philosophie außer der kognitiven Komponente auch noch eine konative Komponente enthält, die der theoretischen Philosophie fehlt. Bei der Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Intellektualität in der theoretischen Philosophie geht es nur um die Urteilskraft, d. h. darum, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren. Bei der Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Intellektualität in der praktischen Philosophie geht es nicht nur um die praktische Urteilskraft, d. h. darum, die besondere Sachlage unter das allgemeine Vernunftgesetz zu subsumieren, sondern auch um die Triebfeder der praktischen Handlung, d. h. darum, wie das vernünftige Gesetz sinnlich angewendet werden kann. Durch das folgende Schema können wir dies verdeutlichen: Gebiete im Gemüt
Erkennen
Ästhetik
Moralität
obere Erkenntniskräfte sinnliche Elemente beim kognitiven Urteil Funktion der Urteilskraft konative Elemente (intellektuelle Lust) Handlung
Verstand sinnliche Anschauungen (Ästhetik) Schema des Verstandes Vergnügen des Verstandes Erweiterung der Erkenntnis
Urteilskraft Gefühl der Lust und Unlust Reflexion (Geschmackslust⁶¹) (Kontemplation)
Vernunft konkrete Situation Naturgesetz moralisches Gefühl Moralische Handlung
3.2.5 Das Gewissen Zwar parallelisiert Kant das Gewissen, die Menschenliebe und die Achtung in der Metaphysik der Sitten mit dem moralischen Gefühl im engeren Sinne und ordnet sie den ästhetischen Vorbegriffen der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt zu (MST AA6: 399 f.). Doch kann das Gewissen auch unter dem
physische und practische aesthetic“ (RefA AA: ). Zu dieser Zeit, als das apriorische Prinzip des Geschmacksurteils noch nicht entdeckt war, nannte Kant die Ästhetik noch die physische Ästhetik. Die Geschmackslust kann kaum als eine rein intellektuelle Lust angesehen werden und die Komtemplation auch nicht wirklich als Handlung. Nur zur besseren Vergleichbarkeit fülle ich diese Elemente in Klammern in das Schema ein.
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moralischen Gefühl eingeordnet werden, wenn man das moralische Gefühl in einem weiteren Sinn definiert.⁶² So schreibt Kant auch: „Das moralische Gefühl applicirt auf seine eigenen Handlungen ist Gewissen“ (Bemerkungen AA20: 168). Als eine spezielle Verwendung des moralischen Gefühls wird das Gewissen in seiner Selbstbezüglichkeit herausgestellt: Kant definiert dieses als „ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist“ und „die sich selbst richtende moralische Urteilskraft“ (Religion AA6: 185 f.). Der Begriff des Gewissens hängt eng mit dem lateinischen Wort ‚conscientia‘ zusammen, das Kant häufig verwendet und an den meisten Stellen mit dem Gewissen identifiziert. Die ‚conscientia‘ bedeutet erstens die mitteilende Erkenntnis, zweitens die innere Erkenntnis oder das Bewusstsein und drittens das Bewusstsein von Gut und Böse.⁶³ Seit Wolffs Zeit ist das deutsche Wort ‚Gewissen‘ als Übersetzung hierfür bekannt,⁶⁴ wobei im Deutschen als zusätzliche Bedeutung Gewissheit hinzukommt. Das Gewissen kommt in Kants Werken oft vor – nicht nur in den wichtigen Ethikschriften in seiner kritischen Periode, sondern auch in den vorkritischen Werken und dem Handschriftlichen Nachlass. In der vorliegenden Arbeit werden hauptsächlich seine Erläuterungen in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1792) und Die Metaphysik der Sitten (1797) berücksichtigt, wo Kant den Begriff häufiger gebraucht und auch genauer erklärt. Im Folgenden werden die Eigenschaften des Gewissens dargelegt. Das Gewissen ist ein angeborenes Vermögen nach seinem Bewusstsein der Pflicht, sich selbst zu verurteilen und durch die Verurteilung das Gefühl der Beruhigung oder das der Furcht zu empfinden. Als ein sittliches Wesen hat man es ursprünglich in sich und kann es niemals falsch gebrauchen – ein irrendes Gewissen gibt es nicht: „Denn in dem objectiven Urtheile, ob etwas Pflicht sei oder nicht, kann man wohl bisweilen irren“, weil man die Motive von anderen Handelnden nicht völlig kennen kann, „aber im subjectiven, ob ich es mit meiner praktischen (hier richtenden) Vernunft zum Behuf jenes Urtheils verglichen habe, kann ich nicht irren“, denn ich kenne gewiss die Motive meiner eigenen Handlung, sonst könnte ich mich auch nicht verurteilen. „Gewissenlosigkeit ist nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang sich an dessen Urtheil nicht zu kehren. Wenn aber
Unter dem moralischen Gefühl im engeren Sinne versteht man nur die Empfänglichkeit für Lust oder Unlust aus dem Bewusstsein der pflichtmäßigen oder -widrigen Handlung, während das moralische Gefühl im weiteren Sinne Empfänglichkeit des Gemüts für Moralität überhaupt bedeutet und sich nicht nur auf die beiden Arten von Gefühl beschränkt. Siehe Georges, Handwörterbuch , erster Band, S. – , http://en.wiktionary.org/ wiki/communis, abgerufen am . . . Siehe http://www.dwds.de/gemein, http://www.dict.cc/gemein, abgerufen am . . .
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3 Moralität – Der sensus communis practicus
jemand sich bewußt ist nach Gewissen gehandelt zu haben, so kann von ihm, was Schuld oder Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden“ (MST AA6: 401). Durch den gemeinen praktischen Verstand kann jeder vollkommen beurteilen, was gut und was böse ist, und ist sich der Verbindlichkeit des Sittengesetzes bewusst. Allerdings folgt er dieser Verbindlichkeit nicht unbedingt, sondern kann sich darüber bewusst entscheiden. Das Gewissen urteilt nur darüber, ob man nach seinem eigenen Verständnis pflichtgemäß gehandelt hat. Es bezieht sich nicht auf die objektive Pflichtmäßigkeit der Handlung – darüber urteilt der gemeine Verstand – und auch nicht auf die Handlungen von Anderen, die ich nicht alle kennen kann, sondern bloß auf das eigene Bewusstsein des Subjekts. Aufgrund der Selbstbezogenheit des Bewusstseins und Urteils kann das Gewissen sich niemals irren. Gewissenlosigkeit heißt daher nicht, dass man die Beurteilungsfähigkeit und die Verbindlichkeit der praktischen Vernunft verliert oder beschädigt, sondern dass man die Stimme des Gewissens ignoriert. Die Kultivierung des Gewissens liegt daher in nichts anderem als darin, dieses Bewusstsein der Pflicht zu verstärken, nämlich „die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen“ (MST AA6: 401). Die drohende Verurteilung durch den inneren Richter begleitet auch ein Gefühl von mit Furcht verbundener Achtung. Der selbstverurteilende Prozess der Vernunft wird als ein innerer Gerichtshof metaphorisiert, was nicht nur die Selbstreflexion und Selbstbeurteilung, sondern auch den Zwang und die Verbindlichkeit der Beurteilung ausdrückt. Schon in den 1770er Jahren gibt es in den Erläuterungen Kants zu A. G. Baumgartens Initia philosophiae practicae primae eine solche Einsicht: „Das Gewissen ist also ein Gerichtshof, in dem der Verstand der Gesetzgeber, die Urtheilskraft der Ankläger und Sachwalter, die Vernunft aber der Richter ist“ (Baum. AA19: 170). Das Gewissen besteht hier also aus drei Komponenten der Erkenntniskräfte, die jeweils eine bestimmte Rolle am inneren Gerichtshof spielen. In der Metaphysik der Sitten hat Kant diese Auffassung weiter entwickelt: „Ein jeder Pflichtbegriff enthält objective Nöthigung durchs Gesetz (als moralischen, unsere Freiheit einschränkenden Imperativ) und gehört dem praktischen Verstande zu, der die Regel giebt; die innere Zurechnung aber einer That, als eines unter dem Gesetz stehenden Falles (in meritum aut demeritum) gehört zur Urtheilskraft (iudicium), welche als das subjective Princip der Zurechnung der Handlung, ob sie als That (unter einem Gesetz stehende Handlung) geschehen sei oder nicht, rechtskräftig urtheilt; worauf denn der Schluß der Vernunft (die Sentenz), d. i. die Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung (die Verurtheilung oder Lossprechung), folgt: welches alles vor Gericht (coram iudicio), als einer dem Gesetz Effect verschaffenden moralischen Person, Gerichtshof (forum) genannt, geschieht. – Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im
3.2 Das moralische Gefühl als ‚sensus moralis‘
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Menschen (‚vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen‘) ist das Gewissen.“ (MST AA6: 438, siehe auch Pow. AA27.I: 197) Die drei oberen Erkenntniskräfte, nämlich der praktische Verstand, die Urteilskraft und die Vernunft im engeren Sinn, werden jeweils mit einer der drei Kompetenzen im Gerichtshof beauftragt, nämlich als Gesetzgeber, Ankläger und Richter. Diese Kompetenzen präsentieren jedoch nur die vernünftigen Seiten des Gerichtshofes. Es gibt auch eine andere Seite am Gerichtshof: den Angeklagten, der als die empirische, handelnde Person sich vom Richter als der idealen Person unterscheidet. Dies wird durch die Verteilung zweier entgegengesetzter Rollen am Gerichtshof verdeutlicht, welche die Validität der Verurteilung garantieren. Denn es wäre unvorstellbar für einen Gerichtshof, dass Richter und Angeklagter ein und dieselbe Person sind. Um diesen Widerspruch zu vermeiden, muss der Richter als ein Anderer als die eigene Person gedacht werden. Dieser Andere kann aber nicht eine wirkliche Person außerhalb von mir sein, sondern es muss sich um die ideale Person innerhalb meiner selbst handeln, die meine eigene Vernunft sich selbst erschafft. In diesem Modus agiert das Ich nicht nur als sittlich handelndes Wesen, also als Angeklagter, sondern es setzt sich von einem externen Standpunkt aus auch als Kläger und Richter ein, um sich mit dem Handelnden zu konfrontieren und über seine Handlung zu urteilen. Diese beiden Standpunkte werden also nicht von zwei Personen eingenommen, sondern von einem einzigen Subjekt als zweifacher Persönlichkeit. Kant expliziert diese Beziehung wie folgt: „Die zwiefache Persönlichkeit, in welcher der Mensch, der sich im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken muß: dieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, andererseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in Widerspruch gerathe. – Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe Mensch (numero idem), aber als Subject der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz unterthan ist, das er sich selbst giebt (homo noumenon), ist er als ein Anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch (Specie diversus)“ (MST AA6: 439).
Wir können diese zweifache Persönlichkeit also als zwei Standpunkte des Menschen ansehen: Die obere Fakultät, die reine Vernunft und der homo noumenon, ist Kläger und die untere Fakultät, die gemeine Vernunft und der Sinnenmensch, ist Angeklagter. Dies können wir auch auf die beiden Standpunkte in der Grundlegung beziehen: Die Menschen als sinnliche und vernünftige Wesen gehören gleichzeitig zur intellektuellen Welt und zur Sinnenwelt. Der Verurteilungsprozess des Gewissens lässt sich auch mit dem Prozess der Selbstabstraktion des gemeinen theoretischen Verstandes vergleichen: Die idealische Persönlichkeit ist der verallgemeinernde und apriorische Standpunkt und damit unparteiisch und ganz frei
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3 Moralität – Der sensus communis practicus
von unseren persönlichen Interessen und subjektiven Neigungen. Diese idealische Persönlichkeit beurteilt und kritisiert die empirische und sinnliche Persönlichkeit, womit sie die untere, sinnliche Fakultät zur oberen, intellekutellen Fakultät näher bringt. Zur weiteren Erhellung des praktischen sensus communis ist der gemeine praktische Verstand und das moralische Gefühl miteinander in Relation zu setzen.Vor allem das empirische moralische Gefühl, als eine empirische Anwendung des apriorischen Gefühls, ist mit dem gemeinen praktischen Verstand vergleichbar. Die beiden sehen als angeborene moralische Vermögen recht ähnlich aus und etwa im Jahr 1772 vertrat Kant noch die Meinung, „[d]as sentiment gehöret blos vor den Verstand und ist eigentlich die gesunde Vernunft im Moralischen“ (Baum. AA19: 151). Sie haben die folgenden Ähnlichkeiten: (1) Beide sind menschliche natürliche Anlagen seit der Geburt, die sich aber auch verschlechtern können. Der gemeine Verstand wird in seiner praktischen Anwendung wegen seiner Unfähigkeit als Handlungskraft verdorben, und ohne Pflege und Kultivierung kann auch das moralische Gefühl beschädigt werden. (2) Sie gehen in der empirischen Praxis der reinen praktischen Vernunft vorher, obwohl sie beide ihren Ursprung in der reinen praktischen Vernunft haben. Erst nach dem Einsatz des gemeinen Verstandes in konkreten Situationen kann man das apriorische Sittengesetz in seiner abstrakten Form erkennen. Bei der moralischen Handlung gelten die moralischen Gefühle als „ästhetische Vorbegriff[e]“ (MST AA6: 399), denn als subjektive Bedingungen der Empfänglichkeit liegen sie der Moralität zugrunde. Nur kraft der Empfänglichkeit können wir uns des Sittengesetzes und seiner Autorität bewusst sein und nur das dabei entstehende Gefühl kann uns zur moralischen Handlung antreiben. Die beiden sind jedoch auch zu unterscheiden: Kant definiert den gemeinen Verstand, obwohl er in seiner Verwendung auch instinktiv scheint, als ein praktisches Beurteilungsvermögen, dessen Regeln mit dem Gesetz der reinen Vernunft übereinstimmen und nur noch nicht deutlich und in begrifflicher Klarheit gewusst werden können. Das moralische Gefühl hingegen drückt sich auf jeden Fall in sinnlicher Form aus, obwohl es intellektuellen Ursprungs hat. Es fungiert nicht als ein theoretisches Wahrnehmungsvermögen, um das Vernunftgesetz zu erfassen, sondern als eine Empfänglichkeit und Bewegungskraft, um es zu praktizieren. Diesen Unterschied gibt es nicht nur im empirischen Bereich, sondern auch in der moralischen Philosophie: Der gemeine praktische Verstand kann als eine empirische Anwendung der reinen praktischen Vernunft angesehen werden und dient dazu, durch das abstrakte sittliche Gesetz die konkreten praktischen Situationen zu beurteilen. Das moralische Gefühl fungiert jedoch als Triebfeder der reinen praktischen Vernunft und dient dazu, das Vernunftgesetz im vernünftig-sinnlichen Wesen auszuführen.
3.2 Das moralische Gefühl als ‚sensus moralis‘
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Der gemeine Verstand denotiert als erste Variante des sensus communis practicus in intersubjektiver Perspektive die extensionale Geltungsallgemeinheit und Akzeptanzallgemeinheit moralischer Erkenntnisse. Bei der zweiten Variante des Begriffs, dem moralischen Gefühl, geht es in intrasubjektiver Perspektive um ein von Vernunft bewirktes apriorisches affektives Gefühl, das nach Kants reifer Einsicht die moralische Handlung nicht zu begründen vermag, aber als eine Triebfeder fungieren kann. Durch den verallgemeinernden Reflexionsprozess kann der gemeine Verstand richtig und allgemeingültig beurteilen. Der Bestimmungsvorrang der Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit im moralischen Gefühl garantiert a priori die Allgemeinheit der Sinnlichkeit dieses Gefühls. Das Gewissen als ein Vermögen der moralischen Selbstbeurteilung und eine Empfänglichkeit für die Beurteilung kann als eine Kombination von gemeinem Verstand und moralischem Gefühl angesehen werden. Einerseits kann es die Moralität der eigenen Maxime richtig beurteilen, andererseits kann es aber auch gegenüber dem Gerichtsurteil ein moralisches Gefühl hervorbringen. Es gibt dabei nicht nur den Unterschied zwischen dem idealistischen und dem empirischen Standpunkt des Subjekts, der auch beim gemeinen Verstand vorliegt, sondern der Unterschied betrifft auch die intrasubjektive Beziehung, wie es auch beim moralischen Gefühl der Fall ist. Wie der gemeine theoretische Verstand beinhaltet auch der gemeine praktische Verstand einen verallgemeinernden Reflexionsprozess, welcher die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis und der Beurteilung sichert. Jedoch ist der Prozess beim letzteren komplizierter als beim ersteren. Man setzt sich hier nicht nur an die Stelle eines jeden Anderen, sondern man reflektiert auch die Sachlage, die sich aus der Wechselwirkung zwischen dem Handelnden (vom vorherigen Standpunkt aus) und dem Leidenden (vom Standpunkt aus, in den man sich versetzt) ergibt. Die Allgemeinheit im sensus communis ist nicht nur eine einseitige Mitteilbarkeit, sondern eine wechselseitig wirkende praktische Beziehung. Als die andere Variante des sensus communis practicus dient das moralische Gefühl nicht nur der Entwicklung und neuen Ausgestaltung von Kants Ethik, sondern ermöglicht auch eine spezielle Blickrichtung auf den sensus communis bei Kant. Anders als beim gemeinen Verstand steht hier nicht die intersubjektive Allgemeingültigkeit im Mittelpunkt, sondern eine intrasubjektive Beziehung. Einerseits bestimmt die Vernunft die Sinnlichkeit, andererseits dient diese von der Vernunft bewirkte Sinnlichkeit als Antrieb der praktischen Vernunft, um das moralische Handeln im sinnlich-vernünftigen Wesen zu verwirklichen. – Lapidar kann man sagen: Münchhausen zieht sich am eigenen Schopf aus den Sumpf. Dies stellt eine kritisch, auf uns als endliche Sinnenwesen restringierte Form einer vernünftig-sinnlichen causa sui dar. – Diese Blickrichtung erweitert unsere Erkenntnisse über den sensus communis auch im theoretischen Bereich. Auf diese Weise können wir auch eine allgemeine intellektuelle Lust finden, die dem ge-
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3 Moralität – Der sensus communis practicus
meinen Verstand in seiner Praxis ebenfalls als theoretische Triebkraft dient. Daher gibt es sowohl im praktischen Bereich als auch im theoretischen Bereich zwei Perspektiven, um den Begriff sensus communis zu identifizieren, nämlich die intersubjektive und die intrasubjektive. Doch sind diese beiden Perspektiven bislang immer voneinander getrennt behandelt. Im folgenden Kapitel werden die beiden Perspektiven miteinander verbunden.
4 Schönheit – Der sensus communis aestheticus Der Begriff des sensus communis ist schon vor Kant in der theoretischen und praktischen Philosophie zu finden. Die Verwendung im ästhetischen Bereich,vor allem im ästhetischen Teil der Kritik der Urteilskraft („Kritik der ästhetischen Urteilskraft“), ist jedoch Kants eigentümliche Kreation. Funktional nutzt er nach den Bedürfnissen seines Textes die beiden Elemente des Begriffs, nämlich die Allgemeinheit und das sinnliche Gefühl, also die extensionale Universalität und die intensionale Emotionalität. Diese sind gerade für die Erklärung des Geschmacksurteils geeignet: für dessen Allgemeinheitsanspruch und seine primär affektive Manifestationsform (durch das Gefühl der Lust und Unlust). Um diese beiden widersprüchlich erscheinenden Eigenschaften des Geschmacksurteils miteinander zu vereinbaren, versucht Kant, den Geschmack aus einer Perspektive der inneren Beziehung zwischen den Erkenntnisvermögen zu erklären und entwickelt dabei auch eine neue Erklärungsperspektive für den sensus communis: Die intersubjektive allgemeine Mitteilbarkeit wird mit der intrasubjektiven Struktur des Geschmacksurteils erklärt. Diese neue Perspektive hilft nicht nur Kants eigener Begründung einer Geschmacksästhetik, sondern führt auch dazu, dass die beiden traditionellen Ebenen des sensus communis, die äußerliche und die innerliche, die intersubjektive und intrasubjektive, miteinander kombiniert werden. Bevor wir die Bedeutung und Funktion des sensus communis aestheticus in Kants Kritik der Urteilskraft behandeln, gehen wir zur Kontrastierung zunächst auf seine frühere Ästhetik und die frühere Verwendung des Begriffs sensus communis aestheticus ein.
4.1 Problematik und frühere⁶⁵ Verwendung des sensus communis In der Geschichte der Rationalisierung der Ästhetik taucht durchgehend die Frage auf, wie die sinnlichen und vernünftigen Eigenschaften des ästhetischen Urteils miteinander kombiniert werden können, was im erweiterten Sinne auch als ein Versuch verstanden werden kann, die seit Platon bestehende Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Intellektualität aufzulösen. Schönheit ist nach Baumgarten die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis, während Wahrheit die Vollkommenheit der logischen Erkenntnis ist. Als Anhänger der Leibniz-Wolff-Schule
Im Unterschied zur generellen kritischen Wendung der kantischen Philosophie im Jahr , welche die vorkritische und die kritische Zeit voneinander abgrenzt, vollzog sich die Wendung der kantischen Ästhetik erst am Ende der er Jahre.
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4 Schönheit – Der sensus communis aestheticus
unterscheidet Baumgarten Verstand und Sinnlichkeit durch die Kriterien von Deutlichkeit und Undeutlichkeit als das obere und das untere Erkenntnisvermögen. Die ästhetische Empfindungsfähigkeit wird aber als eine sinnliche Erkenntniskraft der Seele definiert. Einerseits unterscheidet sie sich von der äußeren sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit und hat auch ihr eigenes Prinzip: In Analogie zum Vernunftprinzip dient das ästhetische Prinzip der sinnlichen Erkenntniskraft dazu, die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis zu erreichen. Andererseits wird die sinnliche Erkenntnis als eine Vorstufe der logischen Erkenntnis betrachtet: Die sinnliche Vollkommenheit ist „niedriger“ als die logische. Dabei wird die Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Intellektualität über eine Zwischenstufe (die Schönheit) als deren Verbindung miteinander aufgelöst. Kant stimmt weder der Unterscheidungsweise der beiden Erkenntnisarten noch der Art ihrer Verbindung bei Baumgarten zu. Nach Kant ist die Sinnlichkeit passiv und wird affiziert,während die Intellektualität aktiv und bestimmend ist. Es kann nach Kant keinen Mittelwert als eine Verbindung zwischen diesen beiden gegensätzlichen Eigenschaften geben. Aber das Geschmacksurteil, das Kant in einer „teils sinnlichen teils intellectuellen Lust“ (ApH AA7: 239) erblickt, setzt die beiden Elemente Sinnlichkeit und Intellektualität, nämlich das Gefühl der Lust und die von der Intellektualität geforderte Allgemeingültigkeit, in Beziehung: Das Schöne ist das, was allgemein gefällt. Der Begriff des sensus communis (Gemeinsinn) ist die unvermittelte Zusammenstellung dieser beiden Elemente und wird mit dem Geschmacksurteil gleichgesetzt. Bei der Untersuchung des Begriffs geht es dann im Wesentlichen um die Untersuchung des Geschmacksurteils. Das Problem ist nur, wie diese Zusammensetzung zu erklären ist. In den 1770er und 1780er Jahren hat Kant noch kein apriorisches Prinzip des Geschmacksurteils gefunden und hält es noch für ein empirisches Urteil. Aber im Unterschied zur Sinneslust, die nur privat ist und keine Allgemeingültigkeit hat, wird das Geschmacksurteil bereits hier umfassend als „schöne Erkenntnisse“ und „schöne Wissenschaften“ (NHL AA16: 131) angesehen und gilt als subjektiv allgemeingültig. Seine subjektive Allgemeingültigkeit beruht auf dem Gesetz der Sinnlichkeit. Im Unterschied dazu beruht die objektive Allgemeingültigkeit des Erkennens auf dem Gesetz des Verstandes (RefA AA15: 302, 315, 382, 423, NHL AA16: 117, 125, 129, 130, 145, 151, 153, 160, Logik AA9: 15, 36, 37). Kant unterscheidet das Geschmacksurteil vom Erkennen aus den folgenden Perspektiven: (1) Das Gesetz der Sinnlichkeit sichert die ästhetische Vollkommenheit, bei der es um die Lebhaftigkeit des Gemüts geht, während das Gesetz des Verstandes die logische Vollkommenheit sichert, bei der es um die objektive Wahrheit geht. (2) Die ästhetische Vollkommenheit liegt in der Übereinstimmung von Erkenntnis und Subjekt und wird über die Anschauungen als eine Art von Lust oder Unlust empfunden, während die logische Vollkommenheit in der Übereinstimmung von Er-
4.1 Problematik und frühere Verwendung des sensus communis
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kenntnis und Objekt liegt, die durch die Bestimmung des Begriffs und der Regeln zu Bewusstsein gelangt. (3) Die ästhetische Vollkommenheit zielt darauf ab, das Allgemeine im Besonderen zu erkennen, während die logische Vollkommenheit auf das Besondere im Allgemeinen abzielt (NHL AA16: 148, 151). (4) Im ersteren Fall wird eine Harmonie mit den subjektiven Bedingungen der gesamten Erkenntniskräfte empfunden, während im letzteren Fall die Harmonie mit den objektiven Bedingungen im Denken bewusst wird (NHL AA16: 153). (5) Erstere dient der Kreation, der Fasslichkeit und der Vermittlung der Erkenntnis, während letztere ihrer Deutlichkeit und Richtigkeit dient (NHL AA16: 102, 133, 134, 147). Gewiss gibt es einen Widerstreit zwischen diesen beiden Forderungen, aber die Vereinigung der beiden ist für eine vollständige Vollkommenheit der Erkenntnis erforderlich, da die logische Vollkommenheit trocken und unverständlich und die ästhetische Vollkommenheit nicht exakt ist. Die ästhetische Vollkommenheit basiert allerdings auf der logischen Vollkommenheit, wie das Geschmacksurteil auch die Erkenntnis voraussetzt. Die wesentliche Vollkommenheit liegt also in der Übereinstimmung der Anschauungen mit dem Denken als einer Form der Sinnlichkeit und nicht mit der Empfindung als Material der Sinnlichkeit (NHL AA16: 102,149 f., Logik AA9: 37 f.). Die logische Vollkommenheit der Erkenntnis lässt sich nach den vier Hinsichten (Quantität, Qualität, Relation und Modalität) wie folgt darstellen: ihre Allgemeinheit der Quantität nach, ihre Deutlichkeit der Qualität nach, ihre Endlichkeit der Relation nach und ihre Gewissheit der Modalität nach. Im Gegensatz dazu wird die ästhetische Vollkommenheit der Erkenntnis folgendermaßen geschildert: die subjektive Deutlichkeit (Klarheit und Lebhaftigkeit der Anschauung) nach der Qualität, die subjektive Wahrheit in der Erscheinung (Reiz und Rührung) nach der Relation, die Allgemeinheit und Popularität nach der Quantität und die Notwendigkeit der Erkenntnis überhaupt nach der Modalität (HNL AA16: 148 f.). Der Begriff des sensus communis wird als ein allgemeingültiger Sinn definiert (Entwürfe AA15: 726, HNL AA16: 139, 145, 148, 152, 160) und ‚communis‘ als die Eigenschaft der Allgemeingültigkeit und Popularität des Geschmacksurteils angesehen (HNL AA16: 160). In diesem Sinne wird der sensus communis dem Moment der Quantität zugerechnet. Es ist unschwer zu bemerken, dass Kants frühere ästhetische Gedanken noch stark von Baumgarten beeinflusst sind. Um die Rationalität und Allgemeinheit der Ästhetik zu sichern, muss die Ästhetik im Rahmen der theoretischen Philosophie erfasst werden und die ästhetische Vollkommenheit kann nur als eine untergeordnete Eigenschaft der Erkenntnis angesehen werden. Es gibt aber auch viele Elemente in Kants früher Ästhetik, die wir auch in seiner reifen Ästhetik wiederfinden können: die intrasubjektive Perspektive, nämlich die Übereinstimmung der Erkenntniskräfte als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils, wird beibehalten und die Lebhaftigkeit
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4 Schönheit – Der sensus communis aestheticus
der Seelenvermögen bleibt ebenfalls als ein Zweck erhalten – allerdings nicht mehr als ein Zweck des Gesetzes der Sinnlichkeit, sondern als subjektive Zweckmäßigkeit. Unabhängig von dieser Kontinuität der Gedanken gibt es in der dritten Kritik jedoch auch einige Veränderungen und Entwicklungen: 1. Es gibt Veränderungen im Hinblick auf das Prinzip: In erster Linie kritisiert Kant die Theorie der ästhetischen Vollkommenheit, die eine objektive Zweckmäßigkeit voraussetzt. Im Gegensatz dazu führt er ein Prinzip der subjektiven und formalen Zweckmäßigkeit ein. Das Geschmacksurteil beruht nicht mehr auf einem empirischen Gesetz der Sinnlichkeit, sondern auf einem apriorischen Prinzip. Daher betrifft die Allgemeinheit des Geschmacksurteils nicht mehr eine intersubjektive Beziehung, sondern sie besteht in einer inhärenten Eigenschaft der Vorstellungsweise, die allgemein mitteilbar ist. 2.Veränderungen im Hinblick auf die Struktur: Das Geschmacksurteil ist nicht mehr einschichtig, d. h. vom Gesetz der Sinnlichkeit bestimmt und durch das sinnliche Gefühl ausgedrückt, sondern es wird in zwei logische Schichten unterteilt: Bei der Reflexion stimmen die Erkenntniskräfte apriorisch überein und als Wirkung dieser Reflexion wird die sinnliche Lust empirisch empfunden. Daher wird der harmonische Gemütszustand nun nicht mehr durch die sinnlichen Anschauungen selbst, sondern durch die Reflexion auf die Beziehungen der Erkenntniskräfte bewusst. 3. Veränderungen im Hinblick auf den Inhalt der Übereinstimmung der Erkenntniskräfte: In früherer Zeit handelt es sich um die Übereinstimmung zwischen dem Anschauungsvermögen (Sinnlichkeit) und dem Verstand, wohingegen die Übereinstimmung in kritischer Zeit zwischen der Einbildungskraft und dem Verstand besteht. Zuvor stimmt das Gesetz der Sinnlichkeit mit dem Gesetz des Verstandes überein und später dann die Freiheit der Einbildungskraft mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes. Die wichtigste Entwicklung in Kants kritischer Ästhetik liegt in der Einführung der reflektierenden Urteilskraft und der formalen Zweckmäßigkeit. Diese sind einerseits notwendig für die systematische Konstruktion von Kants kritischer Philosophie, denn die Urteilskraft wird als eine selbstständige obere Erkenntniskraft abgehoben, die ein eigenes apriorisches Prinzip hat, und fungiert nun als eine Verknüpfung des Verstandes mit der Vernunft, mithin als eine Vermittlung zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriff. Andererseits ist die Einführung dieser Bestimmungen auch unvermeidlich für die Rationalisierung und Transzendentalisierung von Kants Ästhetik. In seiner frühen ästhetischen Theorie bestimmt die Sinnlichkeit einerseits durch ihre Gesetze die Beziehung zwischen ihr und dem Verstand, andererseits drückt sie die Beziehung als Gefühl der Lust aus. Diese einfache selbstbezügliche Struktur lässt sich im Rahmen der kritischen Ästhetik nicht mehr beibehalten und die nunmehr angesetzte zweischichtige Struktur bedarf einer
4.2 Bedeutungen des Gemeinsinns in der Kritik der Urteilskraft
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Verbindung und Vermittlung. Nicht nur bei der Übereinstimmung zwischen Einbildungskraft und Verstand benötigt diese Struktur eine Verbindung, die nun weder vom Gesetz der Sinnlichkeit noch von dem des Verstandes bestimmt wird, sondern auch bei der Beziehung zwischen der intrasubjektiven Übereinstimmung der Erkenntniskräfte und dem Gefühl der Lust, also bei der Verbindung zwischen der Beurteilung im Geschmacksurteil und seiner affektiven Manifestationsform. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit wird benötigt, um die erstere Verbindung zu erklären und der Reflexionsprozess der Urteilskraft für die letztere. In der vorkritischen Zeit ist das Geschmacksurteil ein empirisches Urteil mit subjektiver Allgemeinheit. Die intrasubjektive Schicht kommt her zwar schon bei der Analyse des Geschmacksurteils vor, wird aber nicht vollkommen entwickelt. Der Begriff des sensus communis fungiert zwar auch schon als eine Darstellung der Eigenschaft des Urteils, um seine Allgemeinheit in intersubjektiver Perspektive auszudrücken, er wird jedoch noch nicht in intrasubjektiver Perspektive entfaltet. Offenbar wird diese systematisch zentrale Rolle des sensus communis Kant erst nach dieser Denkentwicklung vollständig klar, sie besteht darin, Sinnlickeit und Spontaneität, obere und untere Vermögen sowie inter- und intrasubjektive Bereiche kohärent zu verbinden.
4.2 Bedeutungen des Gemeinsinns in der Kritik der Urteilskraft Der Begriff des sensus communis (Gemeinsinn) kommt in der Kritik der Urteilskraft vor allem in der Analytik des Geschmacksurteils in den §§ 20 – 22 und in deren Deduktion in § 40 vor. Kant verwendet hauptsächlich die Ausdrucksweisen „Gemeinsinn“ und „sensus communis“ (KU AA5: 238, 293), manchmal auch „gemeinschaftlicher Sinn“ (KU AA5: 293), aber niemals ‚gemeiner Verstand‘ oder ‚gemeine Vernunft‘. An den unterschiedlichen Textstellen variieren die Definitionen je nach dem Textzusammenhang. Drei Definitionen lassen sich eruieren: (1) ein allgemeines Gefühl, das „die Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntniskräfte“ (KU § 20) ist und „durch den bloßen inneren Sinn und Empfindung“ (KU AA5: 218) erkannt wird – dieses Gefühl ist also eine sinnliche Empfindung der Lust oder Unlust, die aus dem harmonischen Zusammenspiel von Verstand und Einbildungskraft beim Geschmacksurteil entstanden ist; (2) ein subjektives Prinzip und eine idealische Norm, das (die) „nur durch Gefühl und nicht durch Begriff, doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder mißfalle“ (§ 20, § 22); (3) eine Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes und eines allgemeinen Beurteilungsvermögens, der nicht nur der Geschmack als sensus communis aestheticus, sondern auch der gemeine Menschenverstand als sensus
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4 Schönheit – Der sensus communis aestheticus
communis logicus zugeordnet werden kann (§ 40). Der Verknüpfungspunkt zwischen den beiden liegt darin, dass sie durch eine Operation der erweiterten und verallgemeinernden Reflexion fungieren, wobei sie vom eigenen privaten Standpunkt abstrahieren und sich in eine allgemeine Position versetzen. Die erste Definition betont den ‚sensus‘, d. h. die Art und Weise, wie wir uns des subjektiven Gemütszustandes bewusst werden; die zweite Definition betont seine Funktion beim Geschmacksurteil als eine Voraussetzung für die notwendige Allgemeingültigkeit desselben; die dritte Definition schließlich betont die Funktionsweise des subjektiven Prinzips in empirischer Hinsicht – mit anderen Worten die Frage, wie der Gemeinsinn als eine Idee des Beurteilungsvermögens das ästhetische Urteil reguliert. Trotz des wörtlichen Unterschiedes widersprechen die drei Definitionen einander nicht. Vorläufig können wir in geraffter Darstellung die Verbindung zwischen diesen Definitionen aufzeigen, bevor wir die genauen Funktionen des Begriffs in den jeweiligen Textzusammenhängen untersuchen: Das subjektive Prinzip wird durch das freie Spiel der beiden Erkenntnisvermögen Verstand und Einbildungskraft in Form eines Gefühls ausgedrückt; der Idee eines allgemeinen Beurteilungsvermögens kann man sich nur durch die erweiterte Maxime in der Praxis annähern. Eine weitere Frage ist nun die, inwiefern die drei Definitionen sich miteinander vereinigen lassen – anders gesagt, ob sie einander ergänzen und zu einer einheitlichen Bedeutung des Gemeinsinns beitragen können oder ob sie nur funktionell zur Erklärung der Argumentation der verschiedenen Textpartien dienen, in unterschiedlichen Textzusammenhängen verschiedene Aufgaben haben und somit als nachträgliche Zusätze verwendet werden, die für die Begründung nicht wirklich notwendig sind. Diese Frage muss hier noch offen bleiben, während wir im Folgenden die genauen Textstellen untersuchen, an denen der Begriff vorkommt.
4.3 Positionierung des Gemeinsinns 4.3.1 Das Geschmacksurteil als reflektierende Urteilskraft In der dritten Kritik stellt sich Kant zwei Aufgaben, nämlich erstens die architektonische Aufgabe, den theoretischen Teil und den praktischen Teil der Philosophie miteinander zu verbinden und zweitens die Aufgabe der Rationalisierung der Ästhetik – nämlich zu erklären, wie das ästhetische Urteil a priori und also allgemeingültig sein kann. Dies betrifft einerseits die Autonomie der Ästhetik und andererseits ihren Zusammenhang mit der theoretischen und praktischen Philosophie. Um diese doppelte Problematik zu lösen, fängt Kant mit der Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft an und erklärt
4.3 Positionierung des Gemeinsinns
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mittels eines apriorischen Prinzips die Allgemeingültigkeit des Gefühls der Lust und der Unlust. Der Gemeinsinn wird in diesem Sinne als ein allgemeines subjektives Prinzip in die Analytik der ästhetischen Urteilskraft eingeführt. Kant teilt die Urteilskraft in zwei Modi ein: die reflektierende Urteilskraft und die bestimmende. In der Einleitung zur dritten Kritik hat Kant sie wie folgt definiert: „Urtheilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Princip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urtheilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, (auch wenn sie als transcendentale Urtheilskraft a priori die Bedingungen angibt, welchen gemäß allein unter jenem Allgemeinen subsumiert werden kann) bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urtheilskraft bloß reflectirend“ (KU AA5: 179). Diese Definition hebt die Entgegensetzung der beiden Modi hervor. Jedoch lässt sich der wörtliche Ausdruck „reflektierend“ nicht leicht einsehen. Expliziter formuliert Kant diese Unterscheidung in der ersten Fassung der Einleitung der dritten Kritik: „Die Urteilskraft kann entweder als bloßes Vermögen, über eine gegebene Vorstellung, zum Behuf eines dadurch möglichen Begriffs, nach einem gewissen Prinzip zu reflektieren, oder als ein Vermögen, einen zum Grunde liegenden Begriff durch eine gegebene empirische Vorstellung zu bestimmen, angesehen werden. Im ersten Falle ist sie die reflektierende, im zweiten die bestimmende Urteilskraft. Reflektieren (Überlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten. Die reflektierende Urteilskraft ist diejenige, welche man auch das Beurteilungsvermögen (facultas diiudicandi) nennt.“ (EE AA20: 211, Herv. d. Verf.) Dies lässt sich wie folgt klären: Das bestimmende Urteil vollzieht die Subsumierung der gegebenen Vorstellung (des Besonderen) unter den „zum Grund[e] liegenden Begriff“ (das Allgemeine). Das reflektierende Urteil hingegen kommt durch die Reflexion über die gegebene Vorstellung zustande und zwar entweder durch einen Vergleich zwischen der gegebenen Vorstellung und anderen Vorstellungen oder durch eine Zusammenhaltung der gegebenen Vorstellung mit dem Erkenntnisvermögen „in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff“, d. h., um einen allgemeinen Begriff zu finden. Der erste Fall ist die logische Reflexion, welche sich einerseits auf das apriorische teleologische Urteil, andererseits auf die Erhaltung der empirischen Erkenntnisse in alltäglichen Situationen (dies betrifft die Verwendung des gemeinen Verstandes⁶⁶) bezieht, der zweite Fall ist die reine
Kant definiert den gesunden Verstand auch im Handschriftlichen Nachlass: als „das Vermögen, […] von der Erkentnis in concreto zu der in abstracto oder vom besonderen zum allgemeinen zu steigen“ (HNL AA: ).
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4 Schönheit – Der sensus communis aestheticus
ästhetische Reflexion. Die beiden Formen der Reflexion werden nach unterschiedlichen Prinzipien durchgeführt, und die Urteile haben daher unterschiedliche Gültigkeit. Das Geschmacksurteil und das teleologische Urteil haben transzendentale Prinzipien, nämlich die subjektive und die objektive Zweckmäßigkeit, deshalb haben sie den Status der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, während der gemeine Verstand den ihm unbewussten Regeln des Verstandes folgt, sodass er nur subjektive Notwendigkeit und empirische Gültigkeit hat.
4.3.2 Das vierte Moment: Modalität Wie oben schon erwähnt, bezieht sich der sensus communis in Kants früher Ästhetik auf die Populariät und Allgemeinheit im Hinblick auf die Quantität des Geschmacksurteils. In der dritten Kritik taucht er jedoch im vierten Moment (der Modalität des Geschmacksurteils) auf, um dessen Notwendigkeit zu erläutern, und wird als ein subjektives Prinzip angesehen. Diesbezüglich stellen sich folgende Fragen: (1) Warum erläutert der Begriff nun nicht mehr die allgemeine Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils in Bezug auf seine Quantität, sondern dessen Modalität, spezifischer Notwendigkeit? (2) In welchem Sinn fungiert der von Kant revidierte Gemeinsinn als ein subjektives Prinzip, das die Notwendigkeit des Geschmacksurteils begründet? (3) Ist die Untersuchung der Notwendigkeit des Urteils nur eine Darstellung seiner Eigenschaft oder schon der Versuch einer Deduktion? Antworten auf diese Fragen können wir wegen der grundlegenden Struktur der reflektierenden Urteilskraft erst bei der Erklärung der Bedeutungen und Funktionen der jeweiligen einzelnen Momente finden. Zu Beginn der Analytik des Schönen gesteht Kant ein: „im Geschmacksurteile ist immer noch eine Beziehung auf den Verstand enthalten“, weshalb sich die vier Momente des Urteils nach „Anleitung der logischen Funktionen zu urteilen“ (KU AA5: 203) bestimmen lassen. Jedoch ist der Inhalt der Momente des Geschmacksurteils ganz anders als der Inhalt des theoretischen Urteils. In der Kritik der reinen Vernunft wird klar erörtert, was die vier Momente des theoretischen Urteils betrifft: die Quantität betrifft den Umfang des Subjekts, die Qualität die Darstellungsweise des Prädikats, die Relation das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat und die Modalität betrifft „den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt“ (KrV A74/B100). Dabei agiert die bestimmende Urteilskraft und es geht hauptsächlich darum, wie das Besondere unter dem Allgemeinen subsumiert wird. Dies zeichnet nicht nur das Verhältnis zwischen dem Material des Denkens (den Vorstellungen) und der Form (den Begriffen des Verstandes) aus, sondern auch das Verhältnis zwischen dem Subjekt (als dem Besonderen) und dem Prädikat (als dem Allgemeinen) in Urteilen. Die Verfahrensweise der
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bestimmenden Urteilskraft entscheidet daher über den Inhalt des Urteils sowie über die vier logischen Funktionen desselben. In der Kritik der Urteilskraft steht jedoch die reflektierende Urteilskraft im Mittelpunkt – damit werden die vier Momente nach ihrer Verfahrensweise verändert. Die Analytik des Geschmacksurteils bezieht sich daher nicht nur direkt auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat, sondern auch, sogar noch wesentlicher, auf den Reflexionsprozess über die gegebene Vorstellung. Wenn wir ein ästhetisches Urteil „X ist schön“ treffen, meinen wir nach Kant also nicht nur wortwörtlich, dass eine unmittelbare Verbindung zwischen „X“ und dem Begriff „Schönheit“ besteht, sondern es wird zunächst auch eine Zusammenhaltung zwischen der gegebenen Vorstellung von „X“ und den Erkenntnisvermögen reflektiert – anders gesagt: Bei der gegebenen Gegenstandsvorstellung wird zunächst eine harmonische Stimmung der Erkenntnisvermögen reflektiert und dann erst entsteht ein Gefühl der Lust als Ergebnis der harmonischen Stimmung; schließlich wird das Subjekt „X“ mit dem Prädikat „Schönheit“ verbunden, weil Schönheit diese interesselose Lust bezeichnet. Daher lässt sich das Geschmacksurteil in zwei Stufen einteilen: die artikulierende Stufe („X“ ist das, was allgemein gefällt, also schön) und die reflektierende Stufe (die harmonische Beziehung der Erkenntniskräfte bei der Vorstellung von „X“ wird reflektiert), welche auch durch die doppelte Schicht der vier logischen Funktionen eingesehen werden kann. Bei der Qualität geht es nicht nur um die Realität des Gefühls der Lust als Bewusstsein des Lebensgefühls des Subjektes (KU AA5: 204), sondern auch um eine Interesselosigkeit, die eine Negation und Ausschließung der anderen Vorstellungsweisen des Gegenstandes ist (KU AA5: 204 ff.). Bei der Quantität handelt es sich nicht nur um die Einheit, insofern alle Geschmacksurteile einzelne Urteile sind (KU AA5: 215), sondern auch um ein allgemeines Wohlgefallen, das eine Allheit der harmonischen Stimmung der Erkenntnisvermögen ausdrückt (KU AA5: 211 ff.). Bei der Relation geht es nicht nur um die Beziehung zwischen dem Gegenstand als Subsistenz und der Schönheit als einer anscheinenden Inhärenz, sondern auch um die subjektive Zweckmäßigkeit im Spiel der Erkenntniskräfte, die als eine transformierte Kausalität angesehen werden kann (KU AA5: 220ff.). Bei der Modalität handelt es sich nicht nur auf der artikulierenden Stufe um die Notwendigkeit der allgemeinen Beistimmung in den Geschmacksurteilen (KU AA5: 237 ff.), sondern zudem auf der reflektierenden Stufe um die Notwendigkeit des Wohlgefallens, d.i. des harmonischen Zusammenspiels der Erkenntnisvermögen bei der gegebenen Vorstellung (KU AA5: 238 f.).⁶⁷
Siehe auch Christian Helmut Wenzel: An Introduction to Kant’s Aesthetics. Core Concepts and Problems. Blackwell, Malden , S. – .
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Das vierte Moment „nach der Modalität“, wo der Begriff Gemeinsinn eingeführt wird, ist ein besonderes Moment unter den vier Momenten. In der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant über dessen besondere Funktion, dass es zum Inhalt des Urteils nichts beitrage, sondern dass es hier um „den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt“ (KrV A74/B100) gehe. Es geht bei der Modalität also nicht um den Gegenstand und die Vorstellung von demselben, sondern um das Denken und die Beurteilung selbst bzw. um „die Handlung der Erkenntnisvermögen“ (KrV A234/B287). Die Modalität sagt nichts über die Bestimmungen der gegebenen Gegenstandsvorstellungen aus, sondern nur etwas über ihr Verhältnis zum Erkenntnisvermögen. So steht bei einem problematischen Satz die Vorstellung in einer „willkürliche[n]“ Verbindung mit dem Verstand und drückt eine logische Möglichkeit aus; beim assertorischen Satz ist die Vorstellung mit dem Verstand nach dessen Gesetz schon verbunden und ergibt eine logische Wirklichkeit – der apodiktische Satz ist durch diese Gesetze des Verstandes selbst bestimmt und drückt eine logische Notwendigkeit aus. Jedoch kann die Notwendigkeit des Geschmacksurteils in der Kritik der Urteilskraft nicht durch Gesetze des Verstandes bestimmt werden, sie wird „nicht aus bestimmten Begriffen abgeleitet und ist also nicht apodiktisch“ (KU AA5: 454). Anders als das reine theoretische Urteil und das moralische Urteil, die jeweils theoretische objektive sowie praktische Notwendigkeit haben, hat das Geschmacksurteil eine ästhetische Notwendigkeit: Wir können weder das Wohlgefallen bei jedermann apriorisch erkennen noch es als eine notwendige Folge eines objektiven Gesetzes betrachten. Wenn man etwas als schön beurteilt, sollte diese Aussage für alle verbindlich sein, da sie nicht eine besondere Beurteilung eines einzelnen Gegenstandes darstellt, die nur einmalige Gültigkeit hätte, sondern „ein Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann“ (KU AA5: 237) ist und insofern auch Allgemeingültigkeit fordert. In diesem Sinne nennt Kant die Notwendigkeit des Geschmacksurteils exemplarisch.⁶⁸ Sofern Kant die Ästhetik seiner kritischen Wissenschaft zuordnet, muss eine solche Notwendigkeit dem Geschmacksurteil beigelegt werden. Allerdings ist diese Beilegung nur bedingt möglich.
Nicht in dem Sinne, dass das Geschmacksurteil ein Beispiel für jeden anderen Urteilenden wäre, wie es oft aufgefasst wurde, sondern in dem Sinne, dass das Urteil ein Beispiel für die allgemeine Regel ist. Im ersten Fall hätte das Beispiel keine Aussagekraft, während im zweiten Fall das Beispiel durch die Verbindlichkeit der Regel als zwingend angenommen wird.
4.4 Die Begründung für die Einführung des Gemeinsinns
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4.4 Die Begründung für die Einführung des Gemeinsinns Um die Bedingung für diese Beilegung zu erklären, führt Kant einen neuen Begriff als allgemeine Regel für das Urteil ein. Dazu müssen die folgenden Bedingungen erfüllt sein: 1. Nach dieser Regel kann man allgemein mitteilbar beurteilen, was gefällt und was missfällt. 2. Diese Regel sollte nur durch Gefühl und nicht durch Begriffe bestimmt werden. Der Begriff Gemeinsinn (sensus communis) im traditionellen Sinn enthält schon die beiden Elemente, von denen eines den intersubjektiven und das andere den intrasubjektiven Aspekt berücksichtigt, auch wenn diese ansonsten nie zusammengesetzt werden. Kants Begriff des sensus communis hat einerseits den traditionellen Sinn dieses Begriffs geerbt und ihn andererseits nach dem Bedürfnis seines Gedankens modifiziert. Da der Begriff nur angenommen ist, stellt sich anschließend in § 21 der Kritik der Urteilskraft dann die Frage, „ob man mit Grund einen Gemeinsinn voraussetzen könne“ (KU AA5: 238), um den modifizierten Begriff zu erklären und zu begründen. Da dieser Abschnitt ein sehr schwieriger Text ist, wird die Begründung im Folgenden genauer untersucht. Es ist vor allem zu bemerken, dass Kant hier die Erkenntnisurteile als Ausgangspunkt nimmt, obwohl es vom Textzusammenhang her an dieser Stelle eigentlich um die Geschmacksurteile geht. Jedoch begründet er am Schluss den Gemeinsinn als eine subjektive Bedingung des Geschmacksurteils. Deshalb ist hier auf den Wechsel vom Erkenntnisurteil zum Geschmacksurteil zu achten. Die Argumentation lässt sich in den folgenden Schritten verdeutlichen: (I) Aus der objektiven Gültigkeit der Erkenntnisse und Urteile können wir auf die allgemeine Mitteilbarkeit der Erkenntnisse und Urteile schließen. (II) Da der Gemütszustand bei einem gegebenen Gegenstand die subjektive Bedingung der Erkenntnis ist, ist dieser Gemütszustand bzw. die Übereinstimmung von Verstand und Einbildungskraft zu einer Erkenntnis überhaupt auch allgemein mitteilbar. (III) Die Übereinstimmung der Erkenntniskräfte hat je nach Verschiedenheit der Objekte verschiedene Proportionen. Jedoch gibt es nur eine Proportion, in der die Belebung des inneren Verhältnisses am zuträglichsten in Absicht auf Erkenntnis überhaupt ist. Diese Übereinstimmung kann nur durch das Gefühl bestimmt werden. (IV) Das Gefühl der Übereinstimmung kann allgemein mitgeteilt werden (aus II und III). (V) Die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls setzt einen Gemeinsinn voraus. Der Gemeinsinn kann daher mit Recht angenommen werden. Im ersten Schritt geht Kant von einer traditionellen Definition der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis aus, nämlich von der Übereinstimmung mit dem Objekt.
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Wie bekannt, beruht die objektive Gültigkeit der Erkenntnis in der Kritik der reinen Vernunft auf der transzendentalen Apperzeption, dem reinen Selbstbewusstsein, und Objektivität bedeutet hier nichts anderes als die allgemeine und notwendige synthetische Funktion des Verstandes. Daher sollte die Übereinstimmung mit dem Objekt hier nicht im traditionellen Sinne verstanden werden, d. h. nicht als Übereinstimmung mit dem Objekt als Gegenstand an sich, sondern im transzendentalen Sinn, d. h. als Übereinstimmung der Verknüpfung der Vorstellungen des Objekts mit den objektiven Begriffen des Verstandes, die von den allgemein mitteilbaren Denkformen des Subjekts bestimmt werden. In den Prolegomena wird die objektive Gültigkeit der notwendigen Allgemeingültigkeit gleichgesetzt (Prolegomena AA4: 300). Insofern ist nicht schwer zu verstehen, dass die subjektive allgemeine Mitteilbarkeit eine notwendige Bedingung der objektiven Gültigkeit ist. Der zweite Schritt führt die subjektive Allgemeingültigkeit der Urteile auf die subjektive Bedingung zurück. Obwohl Kant seine transzendentale Erkenntnistheorie auf die subjektive Bedingung des Denkens gründet, unterscheidet sich diese subjektive Bedingung von der hier besprochenen subjektiven Bedingung, die Kant mit dem Gemütszustand identifiziert. Die empirische Apperzeption als das Bewusstsein des inneren Sinns hat nur subjektive Gültigkeit, während die reine Apperzeption als das Bewusstsein des Verstandes objektive Gültigkeit hat. Die empirische Verknüpfung im inneren Gemüt gilt als eine subjektive Bedingung im negativen Sinn, d. h. als eine Entgegensetzung zur objektiv gültigen Bedingung im positiven Sinn: Sie ist weder allgemein noch notwendig, daher kann sie das Erkennen nicht begründen. Aber wie können wir hier, d. h. in der dritten Kritik, den Gemütszustand als subjektive Bedingung des Erkennens verstehen? Kant fasst hier als Gemütszustand „eine Stimmung der Erkenntniskräfte zu einer Erkenntnis überhaupt“ auf und sagt, dass „ohne diese, als subjektive Bedingung des Erkenntnis, das Erkenntnis als Wirkung nicht entspringen könnte“ (KU AA5: 238). Hier sind zwei Worte bemerkenswert und benötigen eine Erklärung: die „Stimmung“ und die „Erkenntnis überhaupt“. Bevor wir Kants Begründung weiter folgen, konzentrieren wir uns auf die Bedeutung und auf Kants Verwendung dieser beiden Worte. 1. Die Stimmung: Es gibt viele unterschiedliche Bedeutungen von ‚Stimmung‘, z. B. Ton, Laut; Bestimmung, Festsetzung; Abstimmung von Stimmen; Haltung, Disposition oder Gemütszustand usw.⁶⁹ Die hier für Kants Texte relevante Verwendung des Wortes (besonders im Sinne der Gemütsverfassung) stammt aus dem musiktechnischen Bereich: Generell wird eine ‚Stimmung‘ bei einem Musikin-
Siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. , Sp. – : „Stimme“.
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strument eingerichtet, indem die Tonhöhe eingestellt wird. Hierbei kann „Stimmung‘ sowohl den Vorgang des Stimmens als auch das Ergebnis und den Zustand der Gestimmtheit bezeichnen. Zudem werden als ‚Stimmung‘ auch unterschiedliche Konventionen zur Normierung der Tonhöhe bezeichnet, z. B. die temperierte Stimmung bzw. die Stimmung auf Kammerton. In der Musik verweist die ‚Stimmung‘ also stets auf ein Verhältnis – sei es zwischen den Tönen eines Instruments, unterschiedlicher Instrumente zueinander oder auch eines gesamten Ensembles zum Kammerton. Der kantische Begriff ‚Stimmung“ ist von diesem musikalischen Gebrauch auf die inneren Kräfte des Menschen übertragen. Insofern bezeichnet der Begriff die folgenden Eigenschaften des Gemütszustandes: (1) Er wird von einer Beziehung unterschiedlicher Erkenntniskräfte (Verstand und Einbildungskraft) zu der jeweiligen Regel (Gesetzmäßigkeit und Freiheit) bestimmt. (2) Die beiden Erkenntniskräfte bilden eine wechselseitig förderliche harmonische Beziehung. (3) Die beiden stimmen überein, sie sind jedoch nicht identisch. (4) Die Beziehung ist aufgrund der wechselseitigen Beförderung von Dauer. Kant verwendet viele verschiedene Ausdrücke, um diese Beziehung der Erkenntniskräfte zueinander zu charakterisieren, z. B. durch „wechselseitige Zusammenstimmung belebte[r] Gemüthskräfte“ (KU AA5: 219), „wechselseitige[…] subjective[…] Übereinstimmung der Erkenntnißkräfte“ (KU AA5: 218), „wechselseitige Beforderung der Erkentniskräfte unter einander“ (RefA AA15: 433), „proportionierte Stimmung“ (KU AA5: 219), „die Erkentnisvermögen in harmonische[r] Stimmung“ (HNL AA16: 138), „Vereinigung beyder“ (HNL AA16: 160) oder auch „Bewegung der Erkenntniskräfte“ (RefA AA15: 433).⁷⁰ Der Begriff der Stimmung wird hierbei am häufigsten gebraucht. Sie drückt nicht nur diese Beziehung als eine Übereinstimmung der Erkenntniskräfte aus, sondern auch die Beweglichkeit und Lebendigkeit, das freie Spiel und die durch die wechselseitige Beförderung sich erhaltende Belebung der beiden. Außer dem stimmigen Verhältnis der beiden Erkenntniskräfte weist das Wort ‚Stimmung‘ auch auf deren Wirkung als Gefühl und Gemütszustand hin, also eine stimmige Stimmung. 2. Erkenntnis überhaupt: Kant verwendet den Terminus ‚Erkenntnis überhaupt‘ in einem eigenen Sinn: „Alle unsre Erkenntnis hat eine zwiefache Beziehung: erstlich, eine Beziehung auf das Objekt, zweitens, eine Beziehung auf das Subjekt. In der erstern Rücksicht bezieht sie sich auf Vorstellung; in der letztern aufs Bewußtsein, die allgemeine Bedingung alles Erkenntnisses überhaupt“ Die letzten drei Bezeichnungen stammen aus der vorkritischen Zeit von Kants Ästhetik. Die „Vereinigung beyder“ ist eigentlich die Vereinigung von Verstand und Sinnlichkeit, also nicht die Vereinigung von Verstand und Einbildungskraft. Kant nennt dies auch die „Harmonie des Verstandes und der Sinnlichkeit zu einem Erkentnis überhaupt“ (HNL AA: ).
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(Logik AA9: 33). Es geht hierbei nicht um die Materie der Erkenntnisse, sondern um die Form derselben. Die Form ist „die Art, wie wir den Gegenstand erkennen“ (Logik AA9: 33). Die Übereinstimmung mit den Anschauungen des Objektes, welche die objektive Wahrheit betrifft, ist daher irrelevant und nur die Übereinstimmung der Erkenntniskräfte mit sich selbst, welche die subjektive Vollkommenheit betrifft, ist entscheidend. Die Erkenntnis überhaupt abstrahiert von der Materie und kann kein Kriterium für die objektive Wahrheit bieten, jedoch kann sie eine logische Möglichkeit aufstellen und als ein Beurteilungskriterium dienen, um die formale Richtigkeit der Erkenntnis zu prüfen. Die Theorie der Erkenntnis überhaupt wird der allgemeinen Logik zugeordnet, die keine transzendentale Logik ist, nämlich derjenigen, „die auf alles Denken überhaupt geht, unangesehen der Objecte als der Materie des Denkens“ (Logik AA9: 13). Ohne dieses formale und propädeutische Kriterium kann die Erkenntnis nicht mit sich selbst übereinstimmen und kann daher auch keine Erkenntnis überhaupt sein. „Wir können in der Logik nur formale Criteria der Warheit angeben, d. i. die Bedingungen der Übereinstimmung der Erkentnis als Erkentnis überhaupt ohne Beziehung auf das obiect (als Materie); diese criterien sind negativ: daß man nemlich in der Form keine Unrichtigkeiten finde. Wenn man auch von der Erkentnis überhaupt spricht, so kan von nichts weiter als der Form die rede seyn.“ (HNL AA16: 256) ⁷¹
Insofern bezeichnet der Begriff der ‚Erkenntnis überhaupt‘ eine Erkenntnis, die nur von der Form des Verstandes aus die Erkenntnis überprüft. „Die Stimmung der Erkenntniskräfte zu einer Erkenntnis überhaupt“ im Kontext der dritten Kritik kann daher als eine Beziehung zwischen den Erkenntniskräften in Bezug auf ihre Einstimmigkeit mit sich selbst angesehen werden, also als die subjektive Bedingung, welche eine notwendige subjektive Bedingung der Erkenntnis ist. Zu dieser Erkenntnis überhaupt gehört nicht nur die Erkenntnis, die der erste Schritt der Argumentation betrifft, sondern auch das Geschmacksurteil, um das es im dritten Schritt geht. Worauf beruht dann diese Einstimmigkeit? Mit dieser Frage lassen sich die Erkenntnis und das Geschmacksurteil voneinander unterscheiden. Wie Kant im dritten Schritt sagt, verändert sich die Proportion der Erkenntniskräfte in Abhängigkeit von verschiedenen Objekten. Die Verschiedenheit der Objekte liegt in der Tat in der Funktionsweise der Urteile, denn wir können über einen Gegenstand sowohl ein theoretisches als auch ein ästhetisches Urteil treffen. Das heißt, dass der Unterschied der Proportion der Erkenntniskräfte davon abhängt, wie das Objekt beurteilt wird. In unterschiedlichen Fällen beziehen sich die Erkenntniskräfte aus verschiedenen Gründen und in unterschiedlicher Weise
Siehe auch Logik AA: , – ; HNL AA: – , .
4.4 Die Begründung für die Einführung des Gemeinsinns
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aufeinander. Kant unterscheidet die Bestimmtheit durch Verstandesbegriff von der harmonischen Beziehung nach Zweckmäßigkeit, welche durch das Gefühl bestimmt wird. Im ersteren Fall geht es um das Erkennen, im letzteren Fall hingegen um das Geschmacksurteil.⁷² Bezüglich der Proportion der Erkenntniskräfte merkt Kant an: „Gleichwohl aber muß es eine geben, in welcher dieses innere Verhältnis zur Belebung (einer durch die andere) die zuträglichste für beide Gemütskräfte in Absicht auf Erkenntnis (gegebener Gegenstände) überhaupt ist; und diese Stimmung kann nicht anders als durch das Gefühl (nicht nach Begriffen) bestimmt werden“ (KU AA5: 239). Diese wechselseitige Belebung taucht nur im Fall des ästhetischen Urteils auf, jedoch nicht beim theoretischen Erkennen. Durch diese belebte Stimmung der Erkenntniskräfte entsteht das Gefühl der Lust.⁷³ Dabei gibt es noch eine Behauptung, die der Erklärung bedarf: „diese Stimmung kann nicht anders als durch das Gefühl bestimmt werden“ (KU AA5: 239, Herv. d. Verf.). Wie gesagt wird die Stimmung beim Geschmacksurteil von der formalen subjektiven Zweckmäßigkeit bestimmt, nicht jedoch die Empfindung oder das Gefühl. Im letzteren Fall ist das Urteil nur ein angenehmer Reiz und hat nur private Gültigkeit. Und was sollen wir unter dem Ausdruck „durch das Gefühl“ verstehen? Da die spielerische, belebte und sich erhaltende Beziehung zwischen dem Verstand und der Einbildungskraft nicht festgelegt und bestimmt wird, ist es schwer zu prüfen, ob eine harmonische Stimmung wirklich erreicht wird. Deshalb müssen „wir uns noch mit der mindern Frage [beschäftigen]: auf welche Art wir uns einer wechselseitigen subjectiven Übereinstimmung der Erkenntnißkräfte unter einander im Geschmacksurtheile bewußt werden, ob ästhetisch durch den bloßen innern Sinn und Empfindung, oder intellectuell durch das Bewußtsein unserer absichtlichen Thätigkeit, womit wir jene ins Spiel setzen“ (KU AA5: 218, Herv. d. Verf.). Die Übereinstimmung kann beim Erkenntnisurteil durch die Bestimmtheit der Begriffe intellektuell bewusst sein, doch beim Geschmacksurteil
Kant hat schon in früher Zeit mit der logischen Vollkommenheit nach dem „Gesetz des Verstandes“ und der ästhetischen Vollkommenheit nach dem „Gesetz der Sinnlichkeit“ Erkenntnis und Geschmacksurteil unterschieden. Jedoch betrifft die ästhetische Vollkommenheit nicht nur die Mitteilbarkeit und Popularität der empirischen Erkenntnis, die der gemeine Verstand hervorbringt, sondern auch die Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils, das zu dieser Zeit ebenfalls als empirisches Urteil angesehen wird. In beiden Fällen wird die Übereinstimmung der Erkenntniskräfte durch das Gefühl ästhetisch bestimmt. In diesem Sinne kann der Gemeinsinn als ein Prinzip des allgemeingültigen Gefühls nicht nur im ästhetischen, sondern auch im theoretischen Bereich gelten. Jedoch ist dies nicht der Fall in der dritten Kritik. Zwar gibt es beim Erkennen auch intellektuelle Lust (siehe ...), diese gilt jedoch nicht als subjektive Bedingung des Erkennens; vielmehr ist sie die Nachwirkung des Erkennens im Gemüt. Beim Geschmacksurteil ist das Gefühl der Lust aber für die Beurteilung unentbehrlich und gilt als eine notwendige Bedingung.
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können wir sie nur durch die Empfindung „kenntlich machen“ (KU AA5: 219). In diesem Zusammenhang bedeutet „durch das Gefühl bestimmt“ also, dass die Stimmung durch das Gefühl bewusst geworden ist. Wir können den Schlüsselteil der Begründung mit folgenden Syllogismen ausformulieren: 1. Syllogismus: Obersatz: Der Gemütszustand der Erkenntnis überhaupt ist allgemein mitteilbar. Untersatz: Das Geschmacksurteil gehört zur Erkenntnis überhaupt. Schlussfolgerung: Der Gemütszustand des Geschmacksurteils ist allgemein mitteilbar. 2. Syllogismus: Obersatz: Der Gemütszustand des Geschmacksurteils ist allgemein mitteilbar. Untersatz: Der Gemütszustand wird dabei durch das Gefühl bestimmt, daher kanndas Gefühl als eine Voraussetzung des Gemütszustands angesehen werden. Schlussfolgerung: Das Gefühl ist auch allgemein mitteilbar. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass dieser logisch nicht streng erscheinende Folgerungsprozess nicht als Begründung des Begriffs des Gemeinsinns dienen kann, sondern nur zu einer weiteren Erklärung der Funktion des Gemeinsinns beim Geschmacksurteil beitragen kann. Das heißt, dass die Erläuterung in § 21 gar keine Begründung des Begriffs als eines Prinzips für die Erkenntnis überhaupt ist, sondern eine Begründung für Kants Postulierung des Begriffs, welcher als Wirkung der harmonischen Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte letztlich nur durch die subjektive Zweckmäßigkeit erklärt werden kann. Daher ist klar, dass der Begriff des Gemeinsinns weder als notwendige noch als hinreichende Bedingung der Erkenntnis festgelegt werden und auch nicht zur Deduktion des Geschmacksurteils beitragen kann. Die Aufnahme des Begriffs ‚Gemeinsinn‘ in das Modalitätskapitel gehört noch zum „quid facti“, jedoch nicht zum „quid juris“, welches im Rahmen der Deduktion bearbeitet wird.⁷⁴
Siehe Henry E. Allison: Kant’s Theory of Taste. A Reading of the Critique of Aesthetic Judgement. Cambridge University Press, Cambridge , S. – .
4.5 Die Funktion des Gemeinsinns beim Geschmacksurteil
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4.5 Die Funktion des Gemeinsinns beim Geschmacksurteil Bevor Kant den Gemeinsinn im vierten Moment des Geschmacksurteils in der Analytik des Schönen einführt, werden die Eigenschaften des Geschmacksurteils in folgender Weise erläutert: Das Geschmacksurteil ist ein Urteil, welches ohne Begriff, nur durch das Gefühl allgemein bestimmt, was gefällt oder missfällt; diese Allgemeingültigkeit des Gefühls liegt in der allgemein mitteilbaren harmonischen Beziehung zwischen den Erkenntniskräften, die auf einem apriorischen Prinzip, nämlich der subjektiven Zweckmäßigkeit, beruht. Es scheint, dass diese Darstellung und Begründung des Gemeinsinns über die vorherige Theorie des Geschmacksurteils nicht hinausgeht und fast keinen neuen Inhalt dazu beiträgt. Daher stellt sich die Frage, was die besondere Funktion des Begriffs ist und inwieweit die Erörterung durch die Einführung des Begriffs sich weiterentwickelt. Oder anders gefragt: Warum benötigt Kants Ästhetik den Begriff Gemeinsinn und könnte man nach dem Prinzip von ‚Ockhams Rasiermesser‘ den Gemeinsinn aus Kants Ästhetik entfernen? Eine weitere damit zusammenhängende Frage lautet:Wenn es im dritten Moment des Geschmacksurteils schon ein apriorisches Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit gibt, weshalb kommt hier dann ein Prinzip des Gemeinsinns vor und auf welche Weise beziehen diese beiden Prinzipien sich aufeinander? Das Geschmacksurteil lässt sich so formulieren: „X ist das, was allgemein gefällt.“ Diese Allgemeinheit des Wohlgefallens, bzw. die allgemeine Stimmung des Wohlgefallens, sollte aber weniger als eine Realität, sondern eher als eine ideale Norm verstanden werden. Das heißt, wir fordern in einem solchen Fall die Anderen dazu auf, vor einer Erscheinung das ästhetische Wohlgefallen ihrerseits zu fühlen, und wir sinnen beim Geschmacksurteil jedermanns Beistimmung an. „[W]er etwas für schön erklärt, will, daß jedermann dem vorliegenden Gegenstande Beifall geben und ihn gleichfalls für schön erklären solle“ (KU AA5: 237). Durch das Sollen drückt Kant ein Ansinnen aus, das dem vernünftigen Gebot ähnlich ist. Diese Normativität und exemplarische Zumutung des Geschmacksurteils kann nur durch das Prinzip des Gemeinsinns abgesichert werden. Die logische Notwendigkeit bei der Erkenntnis und die praktische Notwendigkeit bei der vernünftigen Willensbestimmung beruhen auf apriorischen Begriffen und Regeln, daher sind sie objektiv. Im Gegensatz dazu ist die Notwendigkeit des Geschmacksurteils nur ästhetisch. Die ästhetische Notwendigkeit ist die der reflektierenden Urteilskraft; sie ist keine apodiktische Notwendigkeit, sondern schwächer als diese, und sie drückt immer nur eine transzendentale Forderung aus.⁷⁵ Das Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit erklärt die ästhe-
Siehe Jacinto Rivera de Rosales: Relation des Schönen (§§ – ), Modalität des Schönen
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tische Notwendigkeit des Geschmacksurteils im intrasubjektiven Sinne, d. h., es reguliert die harmonische Übereinstimmung der Erkenntniskräfte bei einer gegebenen Vorstellung. Das Prinzip des Gemeinsinns hingegen erklärt die ästhetische Notwendigkeit aus der intersubjektiven Perspektive, d. h., es sinnt bei jedem Geschmacksurteil die allgemeine Beistimmung an, um die subjektive Notwendigkeit des Geschmacksurteils abzusichern, sodass sie „als objektiv vorgestellt“ (KU AA5: 239) werden kann. Der Gemeinsinn wird daher einerseits im intrasubjektiven Sinne als Wirkung des freien Spiels der Erkenntniskräfte durch das Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit definiert und hat dann andererseits auch im intersubjektiven Sinne eine eigene Funktion, nämlich als „die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“ (KU AA5: 239). Wir können den Gemeinsinn im ersteren Sinn mit der aristotelischen Tradition im psychologisch-erkenntnistheoretischen Sinne verknüpfen und den im letzteren Sinn mit der römischen rhetorischen Tradition im praktisch-gesellschaftlichen Sinne. Auch im zweiten Fall können wir den von Kant modifizierten und speziell definierten Begriff, der nur im ästhetisch-transzendentalen Bereich verwendet wird, mit der zeitgenössischen Verwendung des Begriffs (common sense als gemeiner Menschenverstand und gemeine Vernunft) verknüpfen und im erweiterten Bereich (nicht nur ästhetisch, sondern auch theoretisch und praktisch; nicht nur transzendental, sondern auch empirisch) neu definieren und erfassen. Der Grund dafür, dass der Begriff des Gemeinsinns im vierten Moment statt im zweiten Moment eingeführt wird, liegt im Rhythmus der Entwicklung von Kants Analytik des Schönen. Zwar geht es im zweiten Moment des Geschmacksurteils der Quantität nach um das allgemeine Wohlgefallen, jedoch betont Kant, dass die Allgemeinheit bis dahin „nur als subjektiv vorgestellt“ (KU AA5: 213) werden kann. Auf das erste Moment der Qualität folgt das zweite Moment, um das Schöne vom Angenehmen und vom Guten zu unterscheiden (§§ 6 und 7). Einerseits ist die Lust beim Schönen anders als die beim Angenehmen: Sie ist allgemein gültig und nicht privat. Andererseits ist die Allgemeinheit des Schönen anders als die des Guten: Sie ist subjektiv, nicht objektiv (§ 8). Das zweite Moment bereitet aber auch bereits das dritte Moment vor, indem es den logischen Vorrang der Beurteilung vor dem Gefühl der Lust diskutiert und die Möglichkeit eröffnet, sich die subjektive Allgemeinheit als objektiv vorzustellen (§ 9). Erst nach der Erklärung des Grundes der Allgemeinheit des Wohlgefallens im dritten Moment (im Rekurs nicht auf materielle Zweckmäßigkeit, sondern auf formale Zweckmäßigkeit und auch nicht auf
(§§ – ). In: Otfried Höffe (Hrsg.): Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Akademie Verlag, Berlin , S. – , hier S. .
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objektive, sondern auf subjektive Zweckmäßigkeit) lässt sich der Gemeinsinn im vierten Moment rechtmäßig voraussetzen. Wir können die subjektive Zweckmäßigkeit für das grundlegende und wesentliche Prinzip des Geschmacksurteils auf der reflektierenden Stufe halten, das die Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte im intrasubjektiven Sinne reguliert. Und wir können dann den darauf basierenden Gemeinsinn für das äußerliche und formale Prinzip auf der artikulierenden Stufe halten, das die allgemeine Mitteilbarkeit des Urteils im intersubjektiven Sinne reguliert. Der von Kant revidierte traditionelle Begriff des sensus communis kombiniert daher sowohl die intrasubjektive und intersubjektive Perspektive als auch die beiden entgegengesetzt erscheinenden Eigenschaften des Geschmacksurteils (die allgemeine Gültigkeit und die gefühlte Sinnlichkeit) und präsentiert sich als die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes. Am Ende des vierten Moments erklärt Kant, dass die Aufgabe der Analytik des Geschmacksurteils darin liege, „das Geschmacksvermögen in seine Elemente aufzulösen und sie zuletzt in der Idee eines Gemeinsinns zu vereinigen“ (KU AA5: 240). Der Begriff des Gemeinsinns fungiert am Ende der Analytik des Schönen also sowohl als ein subjektives Prinzip, um die Notwendigkeit des Geschmacksurteils zu erklären, als auch als eine Zusammenfassung aller Elemente des Geschmacksurteils. Im Hinblick auf die Komplexität des Gemeinsinns stellt Kant am Ende von § 22 eine Reihe von Fragen: „Diese unbestimmte Norm eines Gemeinsinns wird von uns wirklich vorausgesetzt: das beweiset unsere Anmaßung Geschmacksurtheile zu fällen. Ob es in der That einen solchen Gemeinsinn als constitutives Princip der Möglichkeit der Erfahrung gebe, oder ein noch höheres Princip der Vernunft es uns nur zum regulativen Princip mache, allererst einen Gemeinsinn zu höhern Zwecken in uns hervorzubringen; ob also Geschmack ein ursprüngliches und natürliches, oder nur die Idee von einem noch zu erwerbenden und künstlichen Vermögen sei, so daß ein Geschmacksurtheil mit seiner Zumuthung einer allgemeinen Beistimmung in der That nur eine Vernunftforderung sei, eine solche Einhelligkeit der Sinnesart hervorzubringen, und das Sollen, d. i. die objective Nothwendigkeit des Zusammenfließens des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besonderen, nur die Möglichkeit hierin einträchtig zu werden bedeute“ (KU AA5: 240).
Diese Fragenreihe lässt sich so reformulieren: Entweder ist der Gemeinsinn ein ursprüngliches und natürliches Vermögen und dient als ein konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung, oder er ist die Idee eines künstlichen Vermögens und dient als ein regulatives Prinzip, das seinerseits von einem höheren Prinzip der Vernunft bestimmt ist. Mit dieser Entweder-oder-Frage zeigt Kant nicht zwei widersprüchliche Verwendungen des Gemeinsinns auf, sondern er verweist auf zwei mögliche Verwendungen des Begriffs aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Dies können wir so verstehen, dass der Gemeinsinn in Ansehung der Lust und Unlust als ein konstitutives Prinzip fungiert, während er in Ansehung der tran-
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szendentalen Forderung der allgemeinen Mitteilbarkeit und objektiven Notwendigkeit des Geschmacksurteils als ein regulatives Prinzip fungiert – nämlich im Hinblick darauf, dass die ästhetische Urteilskraft immer eine reflektierende Urteilskraft ist. Im Folgenden werden wir sehen, dass diese Fragenreihe nicht nur als eine Zusammenfassung der Funktion des Gemeinsinns in der transzendentalen Ästhetik, sondern auch als eine Ankündigung seiner Funktion im empirischen ästhetischen Urteil (in § 40), wobei der im intersubjektiven Sinne definierte Gemeinsinn nicht nur in Ansehung der Lust und Unlust als ein konstitutives Prinzip gilt, sondern auch als eine normative Idee, die das Urteil reguliert und leitet. Für das Geschmacksurteil sind die beiden Prinzipien – das Prinzip der Zweckmäßigkeit und das Prinzip des Gemeinsinns – aus zwei unterschiedlichen Perspektiven unentbehrlich. Ersteres ist im architektonischen Sinne wichtig: Es ist nicht nur als subjektive Zweckmäßigkeit das Prinzip der ästhetischen Urteilskraft, sondern auch als objektive Zweckmäßigkeit das Prinzip der teleologischen Urteilskraft. Die Urteilskraft liefert mit dem Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur einen vermittelnden Begriff zwischen dem Naturbegriff und dem Freiheitsbegriff, „der den Übergang von der reinen theoretischen zur reinen praktischen, von der Gesetzmäßigkeit nach der ersten zum Endzwecke nach dem letzten möglich macht“ (KU AA5: 196). Obwohl das Prinzip des Gemeinsinns im intrasubjektiven Sinne nur eine Wiederholung der Wirkung der subjektiven Zweckmäßigkeit ist, funktioniert es im intersubjektiven Sinne doch als ein normatives Prinzip, um die Notwendigkeit des Geschmacksurteils zu begründen.
4.6 Die gemeine ästhetische Urteilskraft 4.6.1 Die Definition Anders als im Fall des gemeinen Verstandes und der gemeinen praktischen Vernunft hat Kant nie einen Begriff der gemeinen ästhetischen Urteilskraft erwähnt. Jedoch können wir einen solchen annehmen – er stünde im Gegensatz zur reinen ästhetischen Urteilskraft und würde nur in empirischen Situationen verwendet. Obwohl die Kritik der Urteilskraft hauptsächlich die Ästhetik des Geschmacksurteils behandelt, tauchen hier oft auch Kants Erläuterungen zu empirischen ästhetischen Urteilen auf. Außerdem können wir solche Erläuterungen in Kants empirischer Anthropologie finden. Vor allem müssen wir die gemeinen ästhetischen Urteile von dem von Kant speziell definierten Begriff der „empirischen ästhetischen Urteile“ unterscheiden. In § 21 der Kritik der Urteilskraft teilt Kant die ästhetischen Urteile in die empirischen und die reinen ein. Erstere beziehen sich auf die Annehmlichkeit und
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letztere auf die Schönheit; erstere sind Sinnen-Urteile und materiale ästhetische Urteile und letztere formale ästhetische Urteile, also Geschmacksurteile. In diesem Sinn sind die empirischen ästhetischen Urteile den reinen ästhetischen Urteilen entgegengesetzt: Sie können nur sinnliche und private Empfindungen darstellen und keine Allgemeingültigkeit haben. Die empirischen ästhetischen Urteile können also als Resultate eines falschen Gebrauchs der ästhetischen Urteilskraft angesehen werden, denn es gibt dabei keine ästhetische apriorische Reflexion und das Gefühl der Lust wird nur von der sinnlichen Neigung bewirkt. Das Schönheitsurteil muss ästhetisch sein, also kann das Urteil nur durch das Gefühl getroffen werden. Bei einer Beurteilung des empirischen ästhetischen Urteils drückt sich nur das Lustgefühl aus, jedoch nicht die harmonische Beziehung zwischen Einbildungskraft und Verstand. Das heißt, es gibt dabei nur die artikulierende Stufe und es fehlt die reflektierende. Insofern besteht der Irrtum in der Destruktion der zweistufigen Konstruktion der ästhetischen Beurteilung. Die „gemeine[n] ästhetische[n] Urteile“, die wir im Folgenden diskutieren werden, sind die in alltäglichen Situationen vorkommenden Urteile, die im Hinblick auf ihre Qualität als eine Mischung von reinen und empirischen ästhetischen Urteilen betrachtet werden können, ebenso wie der gemeine Verstand als eine Mischung von Wissen und Fehlern betrachtet werden kann. Obwohl sie keine objektive Allgemeingültigkeit haben, haben sie doch in gewissem Maße subjektive Allgemeingültigkeit, welche durch die in der menschlichen Geschichte und empirischen Erfahrung bislang getroffenen ästhetischen Urteile bestätigt wird (KU AA5: 232). Nach der Klärung der Verwendung des gemeinen Verstandes und der gemeinen Vernunft im empirischen und transzendentalen Bereich können wir nun zusammenfassen, dass die Unterschiede der beiden Arten der Verwendung erstens in deren Einsatzbereichen sowie zweitens in der Vollkommenheit und Gültigkeit des Urteils liegen und dass die Gründe für die Unvollkommenheit (1) in der Beschränktheit der oberen Erkenntniskräfte sowie (2) in der Quelle der Prinzipien des Urteils zu finden sind. Dies ist auch beim gemeinen ästhetischen Urteil und beim Geschmacksurteil der Fall. (1) Der gemeine Verstand hat keinen reinen Begriff, sondern nur empirische Begriffe und die gemeine Vernunft kann ihre praktischen Urteile nicht in das praktische Handeln überführen. Die gemeine ästhetische Urteilskraft als ein natürliches Vermögen ist noch nicht gut entwickelt. Obwohl jeder durch die Reflexion auf die Übereinstimmung von Verstand und Einbildungskraft das Gefühl der Lust empfinden kann, ist die Häufigkeit der Fälle von Übereinstimmung unterschiedlich, da die Weite des Verstandes und die Freiheit der Einbildungskraft bei jedem unterschiedlich sind. (2) Die reine ästhetische Urteilskraft ist ein Beurteilungsvermögen durch allgemeines Wohlgefallen ohne irgendein Interesse, wohingegen die anzusetzende gemeine ästhetische Urteilskraft ein Beurteilungsvermögen durch allgemeines Wohlgefallen mit Interesse ist.
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Die hiermit verbundenen Interessen können sinnlich oder empirisch sein. Das Geschmacksurteil beruht auf dem apriorischen Prinzip der Urteilskraft, d. h. auf der subjektiven Zweckmäßigkeit, während die gemeinen ästhetischen Urteile nicht exklusiv auf dem apriorischen Prinzip beruhen, sondern auch von sinnlicher Neigung beeinflusst sind (welche Sinneslust verursacht) und von der „empirischen Neigung“ (nämlich dem „Hang zur Geselligkeit“) sowie vom intellektuellen Interesse.⁷⁶ Die Sinneslust kann weniger als ein Urteil – nämlich eine Verwendung der Urteilskraft – angesehen werden, da bei ihr das Allgemeine weder gegeben noch irgendwo zu finden ist. Das sinnliche Interesse fungiert nur als eine Störung für die reine Verwendung der ästhetischen Urteilskraft und verursacht nur den „Irrtum“. Das empirische Interesse bietet der ästhetischen Urteilskraft für ihre Beurteilung jedoch eine empirische Maxime an, nämlich das Prinzip des gesellschaftlichen Sinns. Die ästhetischen Urteile mit empirischem Interesse können also dennoch als eine Verwendung der reflektierenden Urteilskraft betrachtet werden. Die Reflexion bezieht sich dabei aber nicht mehr auf der apriorischen Ebene auf die Beziehung zwischen den Erkenntniskräften, sondern auf der empirischen Ebene auf die intersubjektive Beziehung.
4.6.2 Die Funktionsweise Die Urteilskraft im Gebrauch des reinen Verstandes und der reinen praktischen Vernunft funktioniert nur als bestimmende Urteilskraft, während die Urteilskraft im Gebrauch des gemeinen Verstandes und der gemeinen praktischen Vernunft wechselhaft und zirkulierend als bestimmende und reflektierende Urteilskraft operiert, d. h., die Urteilskraft findet nicht nur das Allgemeine zu dem gegebenen Besonderen, sondern subsumiert auch das Besondere unter das gefundene Allgemeine. Dabei läuft nicht nur ein logischer Prozess des Urteilens ab, sondern die Erfahrung oder die empirische Erkenntnis entwickelt sich durch die neuen Informationen und das Erleben der neuen Sachlage auch weiter. Durch diesen spiralförmig sich entwickelnden Modus werden der gemeine Verstand und die gemeine Vernunft in der Erfahrung verwendet, geprüft und vervollkommnet. Die ästhetische Urteilskraft ist jedoch immer reflektierende Urteilskraft, sowohl in ihrem reinen als auch in ihrem empirischen Gebrauch. Die Reflexion der reinen ästhetischen Urteilskraft bleibt auf der apriorischen Ebene und bezieht sich auf die Übereinstimmung der Erkenntniskräfte, welche vom Prinzip der subjektiven Zweck-
Zum intellektuellen Interesse siehe .. „Die anhängende Schönheit“ und .. „Das intellektuelle Interesse am Schönen“.
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mäßigkeit reguliert wird. Die Reflexion der gemeinen ästhetischen Urteilskraft ist jedoch nicht rein und konsequent, denn sie wird gleichzeitig von dem apriorischen Prinzip der Zweckmäßigkeit und dem empirischen Prinzip des Gemeinsinns reguliert. Sowohl die Übereinstimmung der Erkenntniskräfte als auch die Übereinstimmung mit anderen Personen können ein Gefühl der Lust hervorrufen. Die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls ist daher nicht nur eine Wirkung des freien Spiels der Erkenntniskräfte, sondern auch eine Wirkung der harmonischen geselligen Beziehung zwischen Subjekten (ApH AA7: 244). In diesem Sinne ist der Gemeinsinn nicht nur ein intrasubjektives Prinzip für die Erkenntniskräfte im transzendentalen Bereich und ein konstitutives Prinzip, sondern er bestimmt als ein intersubjektives Prinzip im empirischen Bereich auch das Lustgefühl. Während auf der apriorischen Ebene die intrasubjektive Schicht des ästhetischen Urteils wesentlicher ist als die intersubjektive Schicht – die allgemeine Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils basiert bei Jedem auf der Übereinstimmung der Erkenntniskräfte –, hat die intersubjektive Schicht auf der empirischen Ebene vor der intrasubjektiven Schicht den Vorrang: „Alle Darstellung seiner eigenen Person oder seiner Kunst mit Geschmack setzt einen gesellschaftlichen Zustand (sich mitzuteilen) voraus. […] In völliger Einsamkeit wird niemand sich sein Haus schmücken oder ausputzen“ (ApH AA7: 240). Ohne Anschauung aus „fremde[n] Augen“ gäbe es also kein gesellschaftliches Interesse, seinen eigenen Geschmack zu äußern. In Bezug auf den Geschmack bei der Auswahl wird der Geschmack auch als „ein Vermögen der gesellschaftlichen Beurteilung äußerer Gegenstände in der Einbildungskraft“ (ApH AA7: 241) definiert. Kant schreibt dazu: „Hier fühlt das Gemüt seine Freiheit im Spiele der Einbildungen (also der Sinnlichkeit); denn die Sozialität mit andern Menschen setzt Freiheit voraus, – und dieses Gefühl ist Lust“ (ApH AA7: 241, Herv. d. Verf.). Mit der Freiheit der Einbildungskraft⁷⁷ meint Kant die freie Dichtung und Produktion ausgehend von unseren Sinnesvorstellungen, die nicht vom Gesetz des Verstandes bestimmt sind. Mit der zweiten Freiheit, die die Sozialität voraussetzt, meint Kant eine empirisch praktische Freiheit im Rahmen von gesellschaftlichen und intersubjektiven Beziehungen. Die Kausalität, die Kant durch die Konjunktion „denn“ ausdrückt, weist darauf hin, dass der Zustand der Einbildungskraft im Gemüt diese intersubjektive Beziehung voraussetzt. In der Anthropologie bringt Kant den gemeinen Geschmack mit der Moral in engere Verbindung. Das Prinzip, auf dem die allgemeine Mitteilbarkeit des Wohlgefallens beruht, ist ein gesellschaftliches subjektives Prinzip, „welches aus der allgemeinen Gesetzgebung des Fühlenden, mithin aus der Vernunft ent-
Die Einbildungskraft ist hier nicht auf die transzendentale Ebene bezogen wie in der Kritik der reinen Vernunft, sondern auf die empirische Ebene. Siehe ApH AA: sowie Brand , S. .
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springen muß: d. i. die Wahl nach diesem Wohlgefallen steht der Form nach unter dem Princip der Pflicht“ (ApH AA7: 244). Im transzendentalen Bereich isoliert Kant die Ästhetik vom Erkennen und von der Moral und rechtfertigt die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Geschmacksurteils durch deren eigene Prinzipien.⁷⁸ Auf der empirischen Ebene gründet nach Kant die intersubjektive Allgemeinheit des Geschmacks dagegen direkt auf dem Vernunftgesetz.⁷⁹ In diesem Sinne enthält der gemeine Geschmack eine Tendenz zur äußeren Beförderung der Moralität. Man kann zwar nicht sagen, dass ein in gesellschaftlichen Situationen gesitteter Mensch unbedingt sittlich gut ist, doch bereitet er sich durch die Bestrebung, in dieser Situation jedem anderen zu gefallen, zumindest darauf vor, eine moralische Qualität und Gesinnung an sich auszubilden. Insofern könnte man den Geschmack auch die „Moralität in der äußeren Erscheinung“ nennen.
4.6.3 Der sensus communis als ein Reflexionsprozess Im theoretischen Bereich verfügt der gemeine Verstand über eine Maxime der erweiterten Denkungsart, um sich selbst zu verbessern. Auch die gemeine ästhetische Urteilskraft vollzieht diesen Reflexionsprozess. Die Unvollkommenheit der gemeinen ästhetischen Urteilskraft liegt einerseits in der Beschränktheit der empirischen Urteilskraft, andererseits aber auch in ihrer fehlerhaften Verwendung. Daher sind zur Entwicklung und Verbesserung des Geschmacks zwei Seiten wichtig: erstens, die ästhetische Urteilskraft zu kultivieren und zweitens, die sinnlichen und empirischen Interessen von der reinen Reflexion der Urteilskraft fernzuhalten. Das Prinzip des Gemeinsinns funktioniert als die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes. Daher ist es einerseits positiv erforderlich, bei der Kultivierung der Urteilskraft die Häufigkeit der Übereinstimmung der Erkenntniskräfte zu erhöhen und auch die in der Übereinstimmung vorliegende Spannung zu verstärken sowie andererseits negativ, durch Abstrahieren die Gesinnung des ästhetischen Subjekts im Rahmen des intersubjektiven Reflexionsprozesses zu reinigen. Im § 40 der dritten Kritik betont Kant, dass der Verbindungspunkt zwischen dem gemeinen Verstand und der gemeinen Urteilskraft im negativen Sinne des Gemeinsinns, nämlich in einem abstrahierenden Prozess liegt, wobei man „auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um
Dies bezieht sich vor allem auf die Analytik des Schönen. In der Deduktion verbindet Kant die Ästhetik und Moral in einer anderen und tieferen Hinsicht, die weiter unten in den Kapiteln .. und .. noch erläutert wird. Natürlich ist das Vernunftgesetz auch hier nicht im transzendentalen Sinne, sondern im empirischen Sinne gemeint. Siehe . „Der gemeine praktische Verstand“.
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gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urtheil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß mögliche Urtheile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurtheilung zufälliger Weise anhängen, abstrahirt“ (KU AA5: 293 f.). In einer ähnlichen Operation der Reflexion werden der gemeine Verstand und der gemeine Geschmack miteinander verbunden. In einer Fußnote in § 40 setzt Kant die beiden unter den Oberbegriff des sensus communis: „Man könnte den Geschmack durch sensus communis aestheticus, den gemeinen Menschenverstand durch sensus communis logicus bezeichnen“ (KU AA5: 295). Durch die Adjektive „logicus“ und „aestheticus“ weist Kant auf die unterschiedlichen Verwendungsbereiche und die unterschiedlichen Charaktere der Reflexionen hin: Die ästhetische Urteilskraft ist durch das sinnliche Gefühl bestimmt, der gemeine Verstand jedoch durch den Verstand. Kant schreibt hierzu, „dass der Geschmack mit mehrerem Rechte sensus communis genannt werden könne, als der gesunde Verstand; und daß die ästhetische Urtheilskraft eher als die intellectuelle den Namen eines gemeinschaftlichen Sinnes führen könne, wenn man ja das Wort Sinn von einer Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüth brauchen will: denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust“ (KU AA5: 295). Sowohl beim gemeinen Verstand als auch bei der gemeinen Urteilskraft liegt die Fehlerhaftigkeit in der mangelhaften Mitwirkung der intellektuellen Erkenntniskräfte und der Sinnlichkeit. Einerseits ist die Sinnlichkeit als Materie (bzw. Inhalt) der Erkenntnis und des Urteils notwendig, um die Gegenstände vorzustellen, aber andererseits soll sie als Grund bei der Beurteilung ausgeschlossen werden, sonst würden Irrtümer entstehen. Beim Erkennen muss der gemeine Verstand von sinnlicher Neigung abstrahieren und nur durch den Verstand urteilen; beim Geschmack richten wir unsere Aufmerksamkeit mehr auf die Form des Gegenstandes als auf seinen Inhalt, mehr auf die bloße Reflexion als auf die Existenz des Gegenstandes. Das Sich-selbst-Versetzen an die Stelle jedes Anderen ist also nur eine Verfahrensweise, um private und sinnliche Bedingungen einzuklammern und mithin eine allgemeine Position einnehmen zu können. Die erweiterte Denkungsart ist lediglich durch einen reinigenden und abstrahierenden Prozess möglich und die Stelle der Anderen ist hierbei kein konkreter Standpunkt, der in der Empirie auftaucht, sondern ein abstrakter und allgemeiner Standpunkt, den jeder Andere vertreten könnte. Deshalb zielt der Prozess letztlich darauf ab, nur mit der eigenen reinen Urteilskraft zu urteilen, was auch „jederzeit mit sich selbst einstimmig [zu] denken“ (KU AA5: 294) erfordert.
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Außer diesem abstrahierenden Prozess gibt es jedoch sowohl beim gemeinen Verstand als auch bei der gemeinen Urteilskraft in ihrer empirischen und realistischen Praxis einen sich selbst erweiternden und vermehrenden Reflexionsprozess, mit dem man sich an die wirkliche Stelle jedes Anderen versetzt. Als ein empirisches Wesen hat man immer einen bestimmten privaten Horizont und daher immer nur beschränkte empirische Erkenntnis im Vergleich zu den komplizierten konkreten Situationen, mit denen man beim Urteilen konfrontiert ist. Ebenso hat man nur seinen speziellen Geschmack, der immer vom eigenen kulturellen und historischen Hintergrund abhängig ist. Diese Erkenntnisse und Urteile haben nur subjektive Notwendigkeit und empirische Gültigkeit. Da das einzelne Subjekt nicht in der Lage ist, mit seiner Beschränktheit ganz sicher zu urteilen, muss es sich selbst prüfen und durch den Standpunkt der Anderen ergänzen, entweder durch Meinungsaustausch oder auch durch exemplarische Kunstwerke. Obwohl man aus der Empirie niemals absolute Wahrheit und Schönheit gewinnen kann, funktioniert jeder Einzelne als ein unersetzbarer Pol und Bezugspunkt zu der empirischen Welt und hat seinen eigenen möglichen Zugang zu Wahrheit und Schönheit. Wenn wir uns der Wahrheit nähern und unseren Geschmack verbessern möchten, müssen wir also für andere mögliche Zugänge immer offen bleiben. Die reine Verwendung der ästhetischen Urteilskraft kann als eine transzendentale Forderung an die gemeine ästhetische Urteilskraft angesehen werden, um ihre Unabhängigkeit von Interessen und ihre Autonomie zu sichern. Die Kultivierung der gemeinen ästhetischen Urteilskraft kann als eine empirische Forderung angesehen werden, die durch den Gemeinsinn aus der intersubjektiven Perspektive gestellt wird. Deshalb funktioniert der Gemeinsinn in Ansehung des Gefühls der Lust und Unlust hier nicht mehr als ein konstitutives Prinzip, sondern als eine normative Idee für die Verbesserung und Vervollkommnung der gemeinen ästhetischen Urteilskraft.
4.6.4 Gemeinsinn als die Idee eines gemeinschaftlichen Sinns Beim reinen Geschmacksurteil lässt sich eine neue zeitliche und räumliche Dimension durch die Reflexion erkennen. Die Einbildungskraft und der Verstand stehen harmonisch in einem freien Spiel, wobei die beiden Erkenntniskräfte durch diese Beschäftigung sich gegenseitig beleben, so daß „die Betrachtung des Schönen sich selbst stärkt und reproduziert“ (KU AA5: 222). Der Gemütszustand erhält sich zweckmäßig, wir empfinden das Gefühl der Lust und verweilen bei der Betrachtung des Schönen (KU AA5: 220ff., 243). Durch die Verwendung der reflektierenden Urteilskraft ergibt sich nach Rivera de Rosales eine neue Art der Spontaneität, die nicht vom Verstand (wie im theoretischen Bereich), sondern von der frei gestaltenden
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Einbildungskraft vollgezogen wird. Diese Spontaneität gibt eine formale Bedingung, unter der die Mannigfaltigkeit geordnet und zusammengesetzt wird. Die Zeit „ist nicht mehr linear, sondern wir erleben dort die Zeit vielmehr als rekursiv und nicht einfach fließend (auch in der Musik), die Zeit in der Zeit aufhebend, wie Schiller sagt, und den Raum als organisch erfasst, in dem nicht alle Punkte gleichbedeutend sind und die Teile uns auf die andere Teile und auf das Ganze und diese auf jene verweisen“.⁸⁰ Die Reflexion bringt uns in „eine neue Form von zeitliche[m] und räumliche[m] In-derWelt-Sein“, „eine Windung oder Schleife“, wobei die Gegenstände (die Natur sowie die Kunst) in der Vorstellung miteinander koexistieren und ein Sinnenganzes bilden, „etwas Bewohnbares, in dem wir reflexiv fühlend verweilen können“⁸¹ und das als ein endliches Ganzes durch die Geschmackstätigkeit immer erweitert und erneuert wird. Beim gemeinen ästhetischen Urteil lässt sich durch die empirische Reflexion ebenfalls eine neue räumliche und zeitliche Dimension annehmen. Die Reflexion bezieht sich hier jedoch nicht mehr auf die gegebenen Gegenstände, sondern auf die mit-beurteilenden Anderen. Das Gefühl der Lust wird dadurch hervorgebracht, dass die intersubjektive Reflexion mit dem geselligen Trieb übereinstimmt. Die Einbildungskraft fungiert hier produktiv und selbsttätig, aber nicht „als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen“ (KU AA5: 240), sondern als Mitempfindende willkürlicher Formen möglicher Vorstellungsweisen. Ich und die Anderen sind durch gegenseitige Aufmerksamkeit und emotionale Investition miteinander verwoben und bilden zusammen eine ästhetische Gemeinschaft, ein ‚Mit-Menschen-Sein‘. Wir erleben nicht nur unsere eigene Zeit, sondern auch parallel die Zeit der Anderen, die mit uns gemeinsame ästhetische Erfahrungen haben; wir erleben die Zeit auch nicht mehr als unsere Lebenszeit, sondern vielmehr als rekursiv und fortgehend, also als eine Zeit, die einen geschichtlichen Sinn hat. Wir erfassen den Raum auch als organisch, in dem wir und Andere wechselseitig aufeinander und gemeinsam auf das Ganze als „ein dauerndes gemeines Wesen“ (KU AA5: 355) verweisen. Diese neue räumliche und zeitliche Dimension bedeutet eine neue intersubjektive Beziehung in horizontaler wie vertikaler Hinsicht, also nicht nur eine zwischenmenschliche Beziehung, sondern auch eine zwischen unterschiedlichen Generationen, mithin eine Beziehung zwischen Tradition und Innovation bei der Kultivierung.Weder in der Propädeutik zur schönen Kunst noch in der Kultivierung
Jacinto Rivera de Rosales: „Relation und Modalität des Schönen“, in: Höffe, Otfried (Hrsg.): Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Akademie Verlag, Berlin , S. . Diese Zeitlichkeit und Räumlichkeit können wir beim Hören einer Symphonie und bei der Anschauung einer Architektur deutlich erleben. Jacinto Rivera de Rosales: „Relation und Modalität des Schönen“, in: Höffe, Otfried (Hrsg.): Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Akademie Verlag, Berlin , S. .
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des Geschmacks finden wir Beispiele als Muster zur Nachahmung. Dennoch folgen wir nach und erlernen von den Vorgängern die Art, wie sie beurteilen und sich benehmen. Durch die von Anderen als schön beurteilten Kunstwerke können wir ein Ideal des Schönen entwickeln, das uns dazu anleitet, die Freiheit unserer Einbildungskraft aufzuwecken und ihren Reichtum zu erweitern. Kants Analyse können wir auch auf unsere ästhetische Erfahrung anwenden: Durch die Werke Bachs wird unser Erfassungsvermögen für die strenge Struktur der Musik verstärkt und durch die Werke Raffaels wird unsere Empfindungskraft für die vollkommene Verwendung von sanften Farben und Linien erweitert. Das außerordentliche Kunstwerk können wir nicht nachahmen, doch es bringt die Betrachtenden „auf die Spur, […] um die Prinzipien in sich selbst zu suchen und so ihren eigenen, oft besseren Gang zu nehmen“ (KU AA5: 283). Kant sieht daher die wesentliche Funktion der Propädeutik zur schönen Kunst nicht in Vorschriften, sondern „in der Kultur der Gemütskräfte durch diejenigen Vorkenntnisse […], welche man humaniora nennt“. Die hier angesprochene humanistische Bildung bedeutet, „einerseits das allgemeine Theilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen sich innigst und allgemein mittheilen zu können“ (KU AA5: 355). Also erfordert die Kultivierung des Geschmacks nicht nur die Fähigkeit, das Gefühl von Anderen empfinden und das eigene Gefühl mitteilen zu können, sondern setzt auch eine gesellschaftliche Neigung voraus, nämlich die Fähigkeit, Wohlgefallen an den gemeinsamen Empfindungen mit Anderen zu empfinden, kurz: ein gesellschaftliches Gefühl (siehe auch ApH AA7: 244). Diese beiden Eigenschaften zusammen machen die der Menschheit angemessene Geselligkeit aus, wodurch sie sich von der tierischen Eingeschränktheit unterscheidet. Daher ist die intersubjektive Beziehung hier nicht mehr koordinierend mit der Annäherung an eine Wahrheit im theoretischen Bereich befasst, sondern vollzieht sich als gefühlsmäßige Verbundenheit miteinander. Obwohl sie noch nicht die praktische Beziehung der Gesellschaft ist (also die Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und dem Leidenden), bereitet sie psychisch und emotional bereits auf eine solche Form der Gemeinschaft vor. Das Ziel der Verbesserung des Geschmacks liegt letztlich in der Kultivierung der Gemütskräfte, wobei die Einbildungskraft in ihrem harmonischen Spiel mit dem Verstand freier wird und das dabei erlebte Lebensgefühl des Subjekts aufgeweckter. Wir müssen bei der Erweiterung unserer Geschmackserfahrung in der Gesellschaft die Häufigkeit der Übereinstimmung der Erkenntniskräfte erweitern und die Intensität des Lebensgefühls verstärken. Wie das gemeine ästhetische Urteil eine Mischung von intersubjektiver und intrasubjektiver Reflexion ist, so bedeutet der Gemeinsinn als Prinzip des allgemein mitteilbaren Gefühls sowohl eine Idee der Vergesellschaftung als auch eine Idee der Versinnlichung (im Sinne der Befreiung der Einbildungskraft). Einerseits wird die ästhetische Empfäng-
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lichkeit des Subjekts durch die Vergesellschaftung verstärkt und andererseits fördert die Versinnlichung auch seine Gesellschaftlichkeit, welche die eigentliche Humanität ausmacht. Ebenso wie es diese Spannung zwischen der Autonomie des Geschmacks und der Nachfolge einer exemplarischen Schönheit gibt, gibt es auch eine Spannung zwischen Tradition und Innovation bei der Kultivierung des Geschmacks. Letztere fordert die freie Verwendung und Entdeckung der eigenen Gemütskräfte, während erstere auf die Anerkennung der Anderen abzielt und Respekt vor der Klassik fordert. Deshalb sind diejenigen Völker, die einen starken Trieb zur Geselligkeit haben und ein dauerhaftes Gemeinwesen etablieren möchten, mit der schweren Aufgabe konfrontiert, Freiheit mit einem Zwang zu vereinigen. Wie Kant schreibt: „[E]in solches Zeitalter und ein solches Volk mußte die Kunst der wechselseitigen Mittheilung der Ideen des ausgebildetesten Theils mit dem roheren, die Abstimmung der Erweiterung und Verfeinerung der ersteren zur natürlichen Einfalt und Originalität des letzteren und auf diese Art dasjenige Mittel zwischen der höheren Cultur und der genügsamen Natur zuerst erfinden, welches den richtigen, nach keinen allgemeinen Regeln anzugebenden Maßstab auch für den Geschmack, als allgemeinen Menschensinn, ausmacht.“ (KU AA5: 355 f.) Obwohl die allgemeine Mitteilbarkeit des Geschmacks in der wirklichen Welt noch nicht zu erwarten ist, glaubt Kant, dass der Geschmack der Menschheit sich unter der Leitung des geselligen Interesses und der Idee des Gemeinsinns immer weiter entwickeln wird. Es braucht aber Zeit, um einen Menschen oder eine Gesellschaft zu zivilisieren. Zunächst wird der primitive Mensch nur von materialen Eigenschaften gereizt, z. B. von Farben, und erst mit der Zeit werden auch die schönen Formen, z. B. von Kleidungsstücken, wichtig, „bis endlich die auf den höchsten Punkt gekommene Zivilisierung daraus beinahe das Hauptwerk der verfeinerten Neigung macht, und Empfindungen nur soviel wert gehalten werden, als sie sich allgemein mitteilen lassen; wo denn, wenn gleich die Lust, die jeder an einem solchen Gegenstande hat, nur unbeträchtlich und für sich ohne merkliches Interesse ist, doch die Idee von ihrer allgemeinen Mitteilbarkeit ihren Wert beinahe unendlich vergrößert“ (KU AA5: 297). Der Gemeinsinn als die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes reguliert die gemeine ästhetische Urteilskraft, sodass diese sich im Laufe der Geschichte immer weiter verbessert. Die Idee des Gemeinsinns findet ihre höchste Ausprägung im Sittengefühl, einem Gefühl mit objektiver Allgemeingültigkeit. So fungiert der gemeine Geschmack unter der Regulierung des Gemeinsinns aus der Perspektive der Intersubjektivität als ein Übergang vom Sinnengenuss zum Sittengefühl, also vom privaten Gefühl zum allgemein mitteilbaren Gefühl (KU AA5: 297 f.).
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4.7 Gemeinsinn als eine Verbindung zwischen Ästhetik und Moral Im empirischen Bereich verbindet Kant die gemeine ästhetische Urteilskraft in Bezug auf ihr geselliges Interesse mit der Moral. Der Gemeinsinn als Verbindungspunkt fungiert sowohl als ein konstitutives Prinzip wie auch als eine ideale Norm des gemeinschaftlichen Sinns. In transzendentaler Perspektive verbindet Kant das Geschmacksurteil mit dem moralischen Urteil in Bezug auf dessen formale Eigenschaften der Reinheit und Interesselosigkeit. Die reine ästhetische Urteilskraft und die intellektuelle Urteilskraft urteilen nur über die Formen – erstere über die zweckmäßige Form in der Übereinstimmung der Vorstellungskräfte und letztere über die bloße Form praktischer Maximen. In der bloßen Beurteilung lässt sich ein allgemeines Wohlgefallen finden. Die Lust oder Unlust im ersteren Fall ist die des Geschmacks, im zweiten Fall ist es die des moralischen Gefühls. Daher liegt der Verknüpfungspunkt zwischen den beiden Urteilen in einer „geläuterte[n] und gründliche[n] Denkungsart“ (KU AA5: 299) und Gemütsstimmung, die die allgemeinen Beurteilungen unterstützt und die allgemeinen Gefühle hervorbringt. Es gibt zwar eine Verwandtschaft zwischen dem ästhetischen Urteil und dem moralischen Gefühl, jedoch unterscheidet Kant die beiden Urteilsformen durch die unterschiedlichen Formen der Gemütsstimmungen: Beim Geschmacksurteil ist dies die freie Übereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand, beim moralischen Gefühl „die Bestimmbarkeit des Subjekts durch diese [moralische] Idee“ und die „Überwindung“ (KU AA5: 267) der sinnlichen Hindernisse, also die gesetzmäßige Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Vernunft. Die beiden Arten von Urteilen gründen nicht auf irgendeinem äußeren Interesse. Anders als das Geschmacksurteil, das kein Interesse hat, hat das moralische Urteil ein auf objektive Gesetze begründetes Interesse, ein inneres und intellektuelles Interesse. Mit diesem Unterschied (interesselose Freiheit im Geschmacksurteil und objektive Bestimmtheit mit intellektuellem Interesse im moralischen Urteil) trennen sich die beiden zwar voneinander ab, es zeigt sich in diesem Punkt aber auch eine tiefere Verbindungsmöglichkeit der beiden.
4.7.1 Die anhängende Schönheit Obwohl Kant immer die Reinheit des Geschmacksurteils und die Freiheit des Schönen betont, erkennt er auch eine andere Art von Geschmacksurteil an, das einen Begriff von dem voraussetzt, was der Gegenstand sein soll, nämlich die anhängende Schönheit. Im Unterschied zum reinen Geschmacksurteil wird dieses
4.7 Gemeinsinn als eine Verbindung zwischen Ästhetik und Moral
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Urteil ein „angewandtes Geschmacksurteil“ (KU AA5: 231) genannt. Beide urteilen in ihrer Art richtig. In der freien Schönheit wird nur die Form des Gegenstandes berücksichtigt, während in der anhängenden Schönheit auch das Mannigfaltige der Gegenstandsvorstellung als Inhalt berücksichtigt wird. In der anhängenden Schönheit untersuchen wir zwar die uns gegebene Gegenstandsvorstellung in Ansehung ihres Begriffs, es kann jedoch „nicht vermieden werden […], sie zugleich mit der Empfindung im Subjekt zusammenzuhalten“ (KU AA5: 231). Die Empfindung im Subjekt kann durch nichts anderes hervorgebracht werden als durch das Bewusstsein des Gemütszustandes. Der Gemütszustand der anhängenden Schönheit ist aber nicht mehr eine freie Übereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand. Die Einbildungskraft spielt zwar noch eine eigenständige Rolle – d. h., sie wird nicht vom Verstand bestimmt –, sie ist aber auch nicht ganz frei, sondern vom Begriff eingeschränkt und durch den Begriff reguliert. Hier kommt es also zu einer unbestimmten und unfreien Beziehung zwischen der Einbildungskraft und dem Verstand. Die anhängende Schönheit ist daher eine gemischte Anwendung der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft. Zwar wird ein Begriff des Gegenstandes gegeben und die Vollkommenheit wird durch den Begriff bestimmt, jedoch ist der Begriff kein Begriff des Verstandes oder der Vernunft, der bestimmte Inhalte (z. B. Kausalität oder ein Gut) hätte, sondern ein unbestimmter Begriff, nämlich das Ideal der Schönheit. Die Vollkommenheit des Gegenstandes als eine „unbestimmte […] Idee der Vernunft von einem Maximum“ lässt sich nie konkret identifizieren und völlig erreichen. Sie hat nur eine normative Funktion: Wir „streben“ danach, ein Idealbild „in uns hervorzubringen“ (KU AA5: 232). Es geht hier nicht um Bestimmtheit des Begriffs durch eine gegebene Vorstellung des Gegenstandes, sondern um die Reflexion über eine gegebene Vorstellung „zum Behuf eines dadurch möglichen Begriffs“ (EE AA20: 211) – eine offene Suche nach dem Begriff ist hier also der Zweck. Diese Reflexion vollzieht sich nicht nur inhaltlich im Vergleich der mannigfaltigen Vorstellungen, sondern auch formal in der Beziehung der Erkenntniskräfte zueinander, welche die Empfindung im Subjekt hervorbringt. In der anhängenden Schönheit potenzieren sich die freie Einbildungskraft und der bestimmende Verstand, die Form und der Inhalt, gegenseitig. Der Geschmack im Hinblick auf die anhängende Schönheit wird als eine Verbindung des ästhetischen Wohlgefallens mit dem intellektuellen angesehen. Ersteres wird durch die harmonische Übereinstimmung der Einbildungskraft und des Verstandes hervorgebracht, während letzteres durch die Übereinstimmung des intellektuellen Vermögens mit dem sinnlichen Vermögen bestimmt ist. Als die Vereinigung der beiden bietet die anhängende Schönheit Regeln „der Vereinbarung des Geschmacks mit der Vernunft, d. i. des Schönen mit dem Guten, durch welche jenes zum Instrument der Absicht in Ansehung des letzteren brauchbar wird, um diejenige
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Gemütsstimmung, die sich selbst erhält und von subjektiver allgemeiner Gültigkeit ist, derjenigen Denkungsart unterzulegen, die nur durch mühsamen Vorsatz erhalten werden kann, aber objektiv allgemein gültig ist“ (KU AA5: 230 f.). Das freie Spiel der Erkenntniskräfte im reinen Geschmacksurteil verwandelt sich im ästhetischen Urteil über die anhängende Schönheit in eine unbestimmte und unfreie Übereinstimmung der Erkenntniskräfte, die für eine gesetzmäßige Bestimmung des sinnlichen Vermögens durch das intellektuelle Vermögen bereitgestellt wird. Die Vereinbarung des Geschmacks mit der Vernunft setzt eine Zusammenstimmung beider Gemütszustände voraus, also des freien mit dem bestimmten, des spielerischen mit dem fixierten. Durch diese Zusammenstimmung „gewinnt das gesamte Vermögen der Vorstellungskraft“ (KU AA5: 231, Herv. V. Verf.), d. h. nicht nur den Verstand und die Einbildungskraft, sondern auch die Vernunft. Hierbei wird nicht nur die Einbildungskraft erweitert und der Inhalt des Begriffs vermehrt, sondern die Vernunft reguliert auch die Übereinstimmung der Erkenntniskräfte, vom freien zum bestimmten, vom ästhetischen zum intellektuellen Zustand überzugehen. Es vollzieht sich hierbei nicht nur ein Übergang zwischen zwei unterschiedlichen Gemütszuständen, sondern auch ein Übergang der einzelnen unterschiedlichen Bestandteile der Gemütszustände des Ästhetischen und des Praktischen: ein Übergang von der Übereinstimmung von Verstand und Einbildungskraft zu der von Vernunft und Einbildungskraft. In der anhängenden Schönheit kann die Einbildungskraft sowohl vom Verstandesbegriff als auch vom Vernunftbegriff beschränkt werden. Beispielsweise kann das ästhetische Urteil über einen Roman aus literarischer Perspektive erfolgen oder auch aus moralischer. Eine Kirche kann aus architektonischer Perspektive beurteilt werden oder auch aus religiöser. Das Ideal der fixierten Schönheit kann die Sittlichkeit aber nur in der menschlichen Gestalt ausdrücken, denn die Zwecke der anderen Gegenstände der anhängenden Schönheit sind nur äußerlich gegeben – lediglich der Zweck des Menschen ist innerlich und nur diese objektive Zweckmäßigkeit kann daher richtig bestimmt werden. Die menschliche Gestalt als „der sichtbare Ausdruck [einer] sittliche[n] Idee“ kann uns daher helfen, nach der „Seelengüte oder Reinigkeit oder Stärke oder Ruhe“ zu streben, welche nur durch die Vereinigung der „reine[n] Ideen der Vernunft und [der] große[n] Macht der Einbildungskraft“ (KU AA5: 235) erreicht werden kann. Zusammenfassend formuliert funktioniert die pulchritudo adhaerens nicht nur in dem Sinne, dass sie durch einen unbestimmten Gegenstandsbegriff die Übereinstimmung unserer Einbildungskräfte reguliert, sondern auch so, dass sie durch das Ideal der Schönheit (der menschlichen Gestalt) nach moralischer Vollkommenheit strebt. Die anhängende Schönheit als ein phänomenaler Sachverhalt bietet eine reale Möglichkeit der Vereinbarung des Schönen mit dem Guten. Der Gemeinsinn als eine allgemeingültige Gemütsstimmung kommt daher nicht nur in der Form des
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freien Spiels und der bestimmten Übereinstimmung vor, sondern auch in der Form eines Zwischenzustandes, also einer weder bloß freien noch gänzlich bestimmten Übereinstimmung der Einbildungskraft und des Verstandes. In diesem Sinne geht es beim Gemeinsinn nicht nur um die innere Beziehung zwischen den Vorstellungskräften (zwischen der Einbildungskraft und dem Verstand oder zwischen der Einbildungskraft und der Vernunft) innerhalb einer Vorstellungsart (theoretisch, ästhetisch oder praktisch), sondern auch um die Beziehung zwischen den unterschiedlichen Gemütsstimmungen in verschiedenen Vorstellungsarten, d. h. zwischen dem ästhetischen und dem moralischen Gemütszustand. Im ersteren Fall verbindet der Gemeinsinn die sinnlichen und intellektuellen Vermögen, um Erkenntnis überhaupt hervorbringen oder die moralische Praxis antreiben zu können,während er im letzteren Fall die Natur und die Freiheit verbindet sowie die äußere und die innere Natur, um die Verwirklichung der Idee einer systematischen Einheit von Natur und Freiheit anzustreben. Darin besteht ja eben eine wesentliche Aufgabe der dritten Kritik, die erste und zweite als vereinbar darzulegen.
4.7.2 Das intellektuelle Interesse am Schönen Kants Erläuterung der anhängenden Schönheit können wir als eine Theorie der Kunst ansehen, die sich vom Naturschönen spezifisch unterscheidet, denn der Geschmack an der Kunst setzt immer einen Zweck und einen Begriff voraus. Die Frage, ob der Geschmack an der Natur, die ohne Zweck ist, auch eine Verbindung zwischen der Schönheit und der Moral enthält, hat Kant jedoch ebenfalls positiv beantwortet. Bei der anhängenden Schönheit basiert die Vereinbarung zwischen dem Geschmack und der Vernunft auf dem Interesse am Begriff des Gegenstandes, einem empirisch beigelegten Zweck, während sie bei der Naturschönheit auf dem Interesse am Dasein des Gegenstandes basiert – einem apriorischen und intellektuellen Zweck. Die Produkte der Natur haben eine mysteriöse Eigenschaft, die man „sich nie völlig entwickeln kann“ (KU AA5: 300), an welcher man aus intellektueller Perspektive aber interessiert ist. Dieser mysteriöse Reiz des Naturschönen wird beim Kunstschönen des Menschen durch die reflexive Lust an der Selbsterkenntnis ersetzt. Beim intellektuellen Interesse an der Schönheit geht es nur um die Natur und nicht um die Kunst. In einem ästhetischen Urteil, das Interesse am Gegenstand hat, wird die Aufmerksamkeit nicht nur der Reflexion des Subjekts, sondern auch der Eigenschaft des Gegenstandes geschenkt. Ganz gleich, wie fein die Kunst ist, sie hat immer künstliche Zwecke – entweder den objektiven Zweck des Gegenstandsbegriffs oder einen subjektiven und gesellschaftlichen Zweck – und auf jeden Fall empirische Interessen. Die Natur hat aber eine ganz andere Art von
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4 Schönheit – Der sensus communis aestheticus
Zweck: nicht künstlich und empirisch, sondern übersinnlich und apriorisch und damit das Interesse der Vernunft betreffend. Kant schreibt dazu: „Da es aber die Vernunft auch interessiert, dass die [moralischen] Ideen […] auch objektive Realität haben, d. i. dass die Natur wenigstens eine Spur zeige oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Produkte zu unserem von allem Interesse unabhängigen [moralischen] Wohlgefallen […] anzunehmen: so muß die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen Übereinstimmung ein Interesse nehmen; folglich kann das Gemüt über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden“ (KU AA5: 300). Die Verwandtschaft zwischen dem ästhetischen Urteil und dem moralischen Gefühl wird von uns vorausgesetzt aus einem praktischen Bedürfnis heraus, die „Chiffreschrift“ der Natur auszulegen und die ihr zugrundeliegende übersinnliche Substanz zu erleuchten. Vor allem verkörpert sich diese Verwandtschaft darin, dass das Interesse an Naturschönheit die moralische Kultivierung vorbereitet. Die Denkungsart der Menschen, die dieses Interesse zeigen, ist „entweder zum Guten schon ausgebildet oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich“ (KU AA5: 301). Zweitens drückt sich die Verwandtschaft dadurch aus, dass man durch die Anschauung der Natur zu seiner moralischen Bestimmung geführt wird, denn die Naturschönheit zeigt sich nicht nur in Bezug auf die Reflexion auf die Form der Produkte der Natur „als Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, sondern auch in Bezug auf ihre Existenz „nach gesetzmäßiger Anordnung“ (KU AA5: 301). In Analogie zu den Kunstwerken lassen sich die Produkte der Natur als „Kunst“ verstehen, die mit Zweck geschaffen wurde, jedoch nicht mit einem künstlichen Zweck, sondern mit einem apriorischen und übersinnlichen Zweck. Diesen Zweck können wir nicht äußerlich antreffen, sondern nur in uns selbst, „und zwar [müssen wir ihn] in demjenigen, was den letzten Zweck unseres Daseins ausmacht, nämlich der moralischen Bestimmung, suchen“ (KU AA5: 301). Schönheit und Moralität werden in zweierlei Hinsicht durch die Naturschönheit miteinander verknüpft: Erstens hängen die beiden durch ihre Ähnlichkeit zusammen, d. h., sie sind einerseits unabhängig von äußerlichem und mitteilbarem Interesse und beinhalten eine geläuterte und reine Gesinnung, andererseits haben sie ein innerliches und unmittelbares Interesse und lassen ein allgemeines Wohlgefallen fühlen. Die Naturschönheit verkörpert ausdrücklich diese Ähnlichkeit zwischen den beiden und verknüpft sie miteinander. In diesem Sinne kann die Naturschönheit als ein allgemein mitteilbares Gefühl der Lust ebenso als ein sensus communis angesehen werden wie die anderen beiden Ausprägungen des sensus communis (die reine Schönheit und das moralische Gefühl). Zweitens unterscheiden sich die beiden voneinander durch unterschiedliche Interessen sowie die Art und Weise der Entstehung der Lust. Beim
4.7 Gemeinsinn als eine Verbindung zwischen Ästhetik und Moral
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reinen Geschmacksurteil geht es um das freie Interesse, während es beim moralischen Urteil um das Interesse am objektiven Gesetz geht. Die Schönheit der Natur als ein besonderes ästhetisches Urteil regt das freie Interesse nicht nur durch die Reflexion auf die subjektiven Zustände in Ansehung der ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ an, sondern auch durch die Betrachtung der Natur als eine der moralischen Idee beigesellte intellektuelle Existenz, die in Ansehung ihrer „gesetzmäßige[n] Anordnung“ das gesetzmäßige Interesse angeregt. Durch ihre komplizierte Beschaffenheit kombiniert die Naturschönheit diese beiden unterschiedlichen Arten des sensus communis (KU AA5: 301).
4.7.3 Schönheit als Symbol der Sittlichkeit Durch das Interesse am Gegenstand können wir die moralische Idee sowohl bei der anhängenden Schönheit als auch bei der Naturschönheit entdecken; beide können Schönheit und Moralität verbinden. Im ersteren Fall legen wir den intellektuellen Begriff künstlich dem Gegenstand bei und im letzteren Fall entdecken wir einen apriorischen intellektuellen Zweck. Die intellektuellen Elemente werden dem Geschmacksurteil hinzugefügt und das Geschmacksurteil kann nicht mehr rein bleiben, sondern wird von den Interessen modifiziert und verändert sich zum empirischen und alltäglich vorkommenden ästhetischen Urteil. Gerade durch diese Modifikation dienen die anhängende Schönheit und die Naturschönheit der Verknüpfung zwischen Schönheit und Moralität. Die gründlichste Verbindung zwischen der Schönheit und der Moral soll jedoch in ihrer reinen Form liegen. In der Dialektik der ästhetischen Urteilskraft hat Kant auch eine transzendentale Forderung der Vernunft im reinen ästhetischen Urteil entdeckt, das ohne irgendein Interesse ist. Das heißt: Auch ohne ein Interesse am Gegenstand kann das Geschmacksurteil sich durch die reine intellektualisierte Tätigkeit mit dem moralischen Urteil verbinden. In dieser Perspektive wird die Schönheit als Symbol der Sittlichkeit angesehen. Unter Symbol versteht Kant die Versinnlichung eines Vernunftbegriffs. Da die Vernunftbegriffe nicht durch die Darstellung ihrer objektiven Realität versinnlicht werden, wie die empirischen Begriffe und die reinen Verstandesbegriffe, können sie nur „nach dem Gesetze der Assoziation der Einbildungskraft, mithin in subjektiver Absicht“ (KU AA5: 352) reproduziert werden. Das Verhältnis zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten ist daher keine inhaltliche Analogie, sondern eine formale Ähnlichkeit, d.i. eine Ähnlichkeit „zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren“ (KU AA5: 352). Es gibt eine ähnliche Form der Reflexion zwischen der Schönheit und der Sittlichkeit. Die beiden Reflexionen sind erstens unabhängig vom Interesse und
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4 Schönheit – Der sensus communis aestheticus
bleiben geläutert und gereinigt, also frei von der Heteronomie der Erfahrungsgesetze; zweitens gibt es in beiden Fällen eine Autonomie im Sinne der Selbstbestimmung der oberen Erkenntnisvermögen durch ihre eigenen Prinzipien: Im moralischen Urteil gibt die Vernunft dem Begehrungsvermögen das Gesetz, während im ästhetischen Urteil die Urteilskraft dem Vermögen der Lust und Unlust das Gesetz gibt. Die Ähnlichkeit betrifft nicht nur die Autonomie selbst, sondern auch die intelligiblen Gründe, die die Autonomie unterstützen, nämlich die vernünftige Idee. In beiden Fällen führt der Rekurs auf das gleiche übersinnliche Substrat zurück: im Geschmacksurteil auf die Idee „als Prinzip […] der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen“ und im moralischen Urteil auf die Idee „als Prinzip […] der Zwecke der Freiheit […] im Sittlichen“ (KU AA5: 346). Jedoch besteht der intelligible Grund nicht nur im praktischen und ästhetischen Bereich, sondern auch im theoretischen Bereich, wo er sich als „Substrat[…] der Natur“ (KU AA5: 346) zeigt. Das heißt: Das übersinnliche Substrat, das die ästhetische Urteilskraft reguliert, hängt eng mit den Ideen des Übersinnlichen beim Erkennen und bei der Moral zusammen. Der Zusammenhang liegt in der zweiseitigen Bezogenheit der Reflexion des Geschmacks: sowohl auf das ästhetische Subjekt als auch auf den ästhetischen Gegenstand. Einerseits symbolisiert die Schönheit durch „die Freiheit der Einbildungskraft (also der Sinnlichkeit unseres Vermögens)“ in Übereinstimmung mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes die „Freiheit des Willens als Zusammenstimmung des letzteren mit sich selbst nach allgemeinen Vernunftgesetzen“ (KU AA5: 354), andererseits weist die Schönheit auch durch die subjektiv vorgestellte Zweckmäßigkeit der Natur auf die objektive Zweckmäßigkeit der Natur hin. In diesem Sinne sieht sich die Urteilskraft, „wegen dieser Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur, auf etwas im Subjekte selbst und außer ihm, was nicht Natur, auch nicht Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, nämlich dem Übersinnlichen, verknüpft ist, bezogen, in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden wird“ (KU AA5: 353). Das heißt: In Ansehung der ästhetischen Subjekte verknüpft sich die Schönheit durch ihre innere Möglichkeit im Subjekt mit dem Grund der Freiheit; und in Ansehung der ästhetischen Gegenstände verknüpft sich die Schönheit durch ihre äußere Möglichkeit in der Natur mit dem Grund der Natur. In diesem Sinn verknüpft die ästhetische Urteilskraft die Natur und die Freiheit, das theoretische Vermögen und das praktische Vermögen. Die Verbindungen zwischen der Schönheit und der Moralität lassen sich auf unterschiedliche Weisen vollziehen. (1) Vor allem ist die gereinigte und geläuterte Gesinnung des Subjekts der grundlegende Zusammenhang zwischen den beiden. Durch diese subjektive formale Reinheit wird die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls der Lust abgesichert. Obwohl die moralischen und ästhetischen Gesin-
4.7 Gemeinsinn als eine Verbindung zwischen Ästhetik und Moral
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nungen rein und frei (von Interesse) sind, sind das Niveau der Reinheit und der Inhalt der Freiheit unterschiedlich. Das ästhetische Urteil gründet sich nicht auf einem Interesse, noch bringt es ein solches hervor, während das moralische Urteil sich zwar ebenfalls nicht auf ein Interesse gründet, aber ein solches Interesse an dem moralischen Gesetz hervorbringt. Die Freiheit im ästhetischen Bereich ist die Freiheit der Sinnlichkeit, sie betont die Unbestimmtheit und setzt der Gesetzmäßigkeit Widerstand entgegen, während die Freiheit im praktischen Bereich die Freiheit des Willens ist und damit die Bestimmtheit durch die praktische Vernunft, d.h durch die Gesetzmäßigkeit. Würden die beiden sich miteinander verknüpfen, dann müßte sich das reine Geschmacksurteil verändern, um sich der Moralität zu nähern. Durch das Interesse am Gegenstand (entweder am künstlich intellektualisierten Zweck des Gegenstandes oder an der intellektuellen Existenz des Gegenstandes) wird das reine Geschmacksurteil tatsächlich modifiziert und dabei mit dem moralischen Urteil verknüpft. (2) Bei der anhängenden Schönheit reguliert nicht nur der vorausgesetzte Zweck des Gegenstandes unsere ästhetische Beurteilung, ob der Gegenstand sich seiner Vollkommenheit nähert, sondern das Ideal der Schönheit reguliert auch unseren Übergang von der Schönheit zur Sittlichkeit. (3) Die Produkte der Natur verdeutlichen uns die Anordnung und den Zweck des Übersinnlichen. Bei der Betrachtung der Naturschönheit bringt der übersinnliche Zweck der Natur uns dazu, uns unserer moralischen Bestimmung bewusst zu werden. (4) In einem wesentlichen Sinn wird das Geschmacksurteil aufgrund seines intellektuellen Reflexionsprinzips mit dem moralischen Urteil verbunden. Die Schönheit symbolisiert mit der sinnlichen Freiheit die sittliche Freiheit. Wie bereits erläutert, fungiert der Gemeinsinn beim Geschmacksurteil und beim moralischen Gefühl als Verbindungsversuch zwischen dem Intellektuellen (Verstand oder Vernunft) und dem Sinnlichen (Vorstellungskraft und Begehrungskraft). Diese Übereinstimmung in intrasubjektiver Perspektive wird in der Analytik der ästhetischen Urteilskraft im Rahmen der subjektiven Zweckmäßigkeit geklärt. Der Gemeinsinn als ein subjektives und allgemein gültiges Prinzip für das Geschmacksurteil legt daher die subjektive Zweckmäßigkeit zugrunde. In der Dialektik der Geschmacksurteile wird das Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit als eine Idee des Übersinnlichen herausgestellt. Die Urteilskraft dient in dieser Hinsicht als die Verknüpfung zwischen dem theoretischen und dem praktischen Vermögen. Entsprechend könnte der Begriff des Gemeinsinns auch eine neue Funktion erhalten, insofern der Gemeinsinn zu einem höheren Zweck in uns hervorgebracht wird, damit „ein noch höheres Prinzip der Vernunft“ uns regulieren könne. Das Prinzip der Vernunft reguliert nicht nur die Übereinstimmung zwischen dem Intellektuellen und dem Sinnlichen, sondern auch die der intellektuellen Vermögen, d. h. der theoretischen, ästhetischen und praktischen Ver-
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mögen. Der ästhetische Gemeinsinn hat damit die Bedeutung des sensus communis in intrasubjektiver Perspektive erweitert und vertieft.
5 Zusammenfassung Der sensus communis (Gemeinsinn) als ein historischer Begriff wird von Kant einerseits weiter tradiert und andererseits nach den Bedürfnissen seiner Philosophie modifiziert und damit auf ein neuartiges, wesentlich höheres und reflektierteres Niveau erhoben. Seine Bedeutung und Funktion verändern sich auch innerhalb von Kants Philosophie in unterschiedlichen Phasen und in unterschiedlichen Kontexten. Der Grund hierfür liegt darin, dass Kant versäumt hat, den Begriff in seinen Texten explizit zu definieren, ihn auch nicht bewusst systematisch konstruiert und vereinheitlicht hat, sondern ihn nur in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation funktional verwendet, obgleich jene systematisch einheitlichen Funktionen latent bereits von ihm vorausgesetzt werden mussten. Daher ist es einerseits schwierig, ihm eine einheitliche zusammenfassende Definition zu geben und andererseits können gerade durch diese offene funktionale Verwendung und mehrschichtige Bedeutungsstruktur des Begriffs die damit zusammenhängenden Probleme in systematischer Hinsicht deutlich werden. Durch die vielen Kontraste und Analogien, die der Begriff involviert, können wir nicht nur die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs voneinander trennen, sondern sie auch in weiteren Hinsichten miteinander verknüpfen und so den Begriff des sensus communis systematisieren, um somit die von Kant offen gelassene Leerstelle in systematischer Absicht zu füllen. In den drei zentralen Kapiteln der vorliegenden Arbeit wurden die Bedeutungen und Funktionen der drei Arten des sensus communis im Rahmen ihrer jeweiligen unterschiedlichen Verwendungsbereiche herausgearbeitet. Im Anschluss daran haben wir versucht, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten aus einer systematischen Perspektive auf den Begriff zu bringen. Es ergaben sich: (1) ein gemeinschaftlicher Sinn in der intersubjektiven Perspektive, nämlich in Bezug auf die „gemeinen“ oberen Erkenntnisvermögen im theoretischen, praktischen und ästhetischen Bereich und (2) ein intellektuelles Gefühl in der intrasubjektiven Perspektive, nämlich das moralische Gefühl, das Vergnügen des Verstandes und das ästhetische Gefühl. In beiden Fällen stand immer die Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Intellektualität im Zentrum. Am Ende der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft stellt Kant in einer Tafel sein philosophisches System dar: Er teilt die gesamten Vermögen des Gemüts nach drei unterschiedlichen Verwendungsbereichen in Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust sowie Begehrungsvermögen ein. Dementsprechend gibt es auch drei Erkenntnisvermögen – Verstand, Urteilskraft und Vernunft –, die in ihrem jeweiligen Verwendungsbereich je eigene Prinzipien haben. Diese Darstellung erfasst die Verwendung der drei oberen Erkenntniskräfte allerdings nur im apriorischen und nicht im empirischen Bereich. Die drei oberen Erkenntnisvermögen finden aber jeweils eine zweifache Verwendung: die reinen und höheren Verwendungen sowie die empiri-
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5 Zusammenfassung
schen und niedrigeren Verwendungen. Nach den apriorischen Prinzipien können die Beurteilungen der drei Erkenntniskräfte im ersten Fall vollkommen sein und objektive, allgemeine Gültigkeit haben, während sie im letzten Fall auch falsch sein können, da sie nach empirischen Prinzipien fungieren und ihnen nur subjektive Allgemeinheit zukommt. Der Fehler des gemeinen ästhetischen Urteils besteht darin, dass die Urteilskraft aufgrund der sinnlichen Neigung beurteilt, statt aufgrund der apriorischen Reflexion. Weiterhin kann ein Irrtum auch in der Destruktion der zweistufigen Konstruktion (Reflexion – Artikulation) der ästhetischen Beurteilung bestehen. Der Irrtum des gemeinen Verstandes besteht in der unangemessenen Zusammenarbeit von Sinnlichkeit und Verstand: Hierbei wird die Sinnlichkeit bei der Beurteilung nicht vom Verstand bestimmt, sondern umgekehrt, und das sinnliche Vermögen (statt der Verstandesbegriffe) stellt die Verbindungsregel der Mannigfaltigkeit. Die Verdorbenheit der gemeinen praktischen Vernunft liegt dann im Verstoß gegen das Gebot der reinen praktischen Vernunft, indem der Wille nicht von der praktischen Vernunft bestimmt wird, sondern von der sinnlichen Neigung. Daher liegt der Irrtum der gemeinen oberen Vermögen in einem Hang der Sinnlichkeit gegenüber dem Intellekt bei der Beurteilung oder Willensbestimmung Dominanz einzuräumen. Es ist daher immer ein Reflexionsprozess nötig, d.i. eine erweiterte Denkungsart, um die subjektive Allgemeingültigkeit abzusichern. ‚Gemein‘ (communis) meint hier ebensosehr Gemeinschaftlichkeit und Universalität wie Popularität. ‚Sinn‘ (sensus) hat nicht nur spezielle Bedeutungen in den unterschiedlichen Bereichen (‚Gefühl“ im ästhetischen Bereich, ‚Verstand‘ im theoretischen und ‚Vernunft‘ im praktischen), sondern bedeutet in allen drei Fällen auch die Denkungsart und die Empfänglichkeit. Die oberen Erkenntnisvermögen hängen in ihren Verwendungen immer mit den unteren und sinnlichen Vermögen zusammen, sowohl im transzendentalen als auch im empirischen Bereich. Die Sinnlichkeit hat dann eine zweifache Funktion: positiv (konstruktiv) und negativ (irreführend). Im theoretischen Erkennen bietet die Sinnlichkeit einerseits die Wahrnehmung als Material (für den Verstand als Form) an, andererseits beeinflusst sie die Verwendung des Verstandes – so entstehen Irrtümer. Bei der moralischen Handlung fungiert einerseits die Sinnlichkeit (das moralische Gefühl) als Triebfeder und andererseits wird die praktische Vernunft von sinnlicher Begierde beeinflusst, sodass sie nicht moralisch handeln kann. Beim ästhetischen Urteil kann man sich einerseits nur durch das Gefühl der Lust der subjektiven zweckmäßigen Beziehung der Erkenntniskräfte bewusst werden und andererseits wird das Urteilen von sinnlichen Reizen und Rührungen beeinflusst – so entsteht die Sinneslust. Die positive Funktion der Sinnlichkeit ist für die höheren und reinen Verwendungen der oberen Erkenntniskräfte in der kritischen Philosophie unentbehrlich, während ihre negative Funktion in den niedrigen und unreinen Ver-
5 Zusammenfassung
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wendungen der oberen Erkenntniskräfte im empirischen Bereich abgeschafft werden soll. Der Reflexionsprozess dient dann den gemeinen Erkenntniskräften dazu, von der negativen Funktion der Sinnlichkeit zu abstrahieren und sich in eine erweiterte Position zu versetzen. Der gemeine Verstand wird durch die Reflexion von dem durch sinnlichen Einfluss verursachten Irrtum befreit. Das Gedankenexperiment des gemeinen praktischen Verstandes kann ebenfalls als ein komplex aufgebauter Reflexionsprozess angesehen werden, durch welchen man seine Maxime von der sinnlichen Begierde abziehen und sich somit auf einen verallgemeinernden Standpunkt versetzen kann. Beim gemeinen ästhetischen Urteil abstrahiert der Gemeinsinn die Reflexion von sinnlichem Reiz und Rührung. Die erweiterte Denkungsart bereitet die konsequente Denkungsart vor, d. h., sie zielt auf die reinen und autonomen Verwendungen der Erkenntniskräfte ab. Daher lässt sich der abstrahierende Reflexionsprozess der gemeinen Erkenntnisvermögen als eine normative Forderung der reinen Erkenntnisvermögen verstehen. Der abstrahierende Prozess als eine erweiterte Denkungsart beinhaltet, sich a priori an die mögliche Stelle jedes Anderen zu versetzen. Dies geschieht (oder wird vorbereitet) jedoch in realen Situationen häufig dadurch, dass man sich an die wirkliche Stelle jedes Anderen versetzt. Hierfür benötigen wir eine andere Art von erweiterter Denkungsart, nämlich einen gemeinschaftlichen Reflexionsprozess im praktischen Gemeinsinn. Die allgemeine Gültigkeit und die Mitteilbarkeit im empirischen Bereich werden als eine Gemeinschaftlichkeit aus intersubjektiver Perspektive definiert, denn die Allgemeingültigkeit wird im Rahmen einer Gemeinschaft diskutiert. Der Idee des gemeinschaftlichen Sinnes stehen in anthropologischer Perspektive drei Arten von Egoismen entgegen: der logische Egoismus, der ästhetische Egoismus und der praktische Egoismus (ApH AA7: 129 f.). Der erste lehnt es ab, sein Urteil am Verstand Anderer zu prüfen, der zweite isoliert sich mit seinem eigenen Geschmack und der dritte schränkt alle Zwecke auf sich selbst ein und setzt als obersten Bestimmungsgrund des Willens nur die eigene Glückseligkeit an. Dem auf Privatsinn basierten Egoismus kann nur der auf Gemeinsinn basierte Pluralismus entgegengesetzt werden, d.i. diejenige Denkungsart, „sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten“ (ApH AA7:130). In diesem empirischen und anthropologischen Sinn setzt die Mitteilbarkeit und Richtigkeit des Urteils die gesellschaftliche Öffentlichkeit voraus: Im theoretischen Bereich nimmt man die Urteile der Anderen als einen Probierstein für das eigene Urteil, im ästhetischen Bereich kultiviert man seinen Geschmack durch die Geselligkeit und im praktischen Bereich überprüft der Handelnde die eigene Maxime vom Standpunkt des Leidenden aus. Das Subjekt in Kants transzendentaler Philosophie ist autonom. Es urteilt und handelt nur nach den Regeln des reinen Verstandes, der reinen Urteilskraft und der
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reinen Vernunft (dies entspricht den oben dargestellten höheren Verwendungen der Erkenntnisvermögen). Die Anderen sind eine Instanz, die intellektuell auf dieselbe Weise funktioniert wie man selbst. Alle sind imstande, mit der Vernunft vollkommen zu erkennen und zu beurteilen; sie isolieren sich voneinander und brauchen auch keinen Zugang zu den Anderen. Es gibt dabei keinen Raum für eine intersubjektive Beziehung. Im empirischen Bereich wird jedoch immer eine Reflexion in intersubjektiver Dimension benötigt, um die Verwendung der gemeinen Erkenntniskräfte zu überprüfen und die subjektive Allgemeingültigkeit des Urteils abzusichern. Obwohl dieser empirische Reflexionsprozess letztlich ein transzendentales Ziel hat und die Intersubjektivität letztlich einem intrasubjektiven Zweck dient – der Einstimmigkeit der Vernunft mit sich selbst (ohne Einfluss der Sinnlichkeit) bzw. der angemessenen Kooperation zwischen Vernunft und Sinnlichkeit (Bestimmtheit der Sinnlichkeit durch die Vernunft) –, ist die intersubjektive Dimension im Rahmen dieses Prozesses für ein sinnlich-vernünftiges Wesen unentbehrlich. Die empirischen intersubjektiven Beziehungen sind in unterschiedlichen Bereichen in Bezug auf ihren jeweiligen Modus zu differenzieren: Im empirischen theoretischen Bereich können die Anderen als gestreuter Erfahrungspol angesehen werden, wobei alle erkennenden Subjekte gegenseitig füreinander als Koordinaten fungieren und gemeinsam fortlaufend dazu beitragen, sich der Wahrheit zu nähern. Die Anderen im empirischen ästhetischen Bereich hingegen dienen als die empfangende Instanz des mitgeteilten Gefühls; hier interagieren alle ästhetischen Subjekte durch ihre Gefühle miteinander und fördern durch die geselligen Gefühle gemeinsam die Humanität. Die Anderen im praktischen Bereich schließlich gelten sowohl als die Leidenden meiner Maxime und Handlungen wie auch als die Handelnden ihrer eigenen Maximen, und alle praktischen Subjekte bilden durch die Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden gemeinsam eine praktische Gemeinschaft. Damit sind die vielfältigen Modi der Gemeinschaft dargestellt, in denen die empirischen Subjekte sich aufeinander beziehen. Außer diesen äußerlichen Voraussetzungen bedarf der gemeinschaftliche Reflexionsprozess aber noch einer innerlichen Bedingung des Subjektes: einer Empfänglichkeit, um die Verbindung von sich selbst aus herzustellen. Diese Empfänglichkeit drückt sich in verschiedenen Bereichen unterschiedlich aus. Im theoretischen Bereich ist sie eine Fähigkeit, eigene Gedanken den Anderen mitzuteilen und „mitgeteilte Vorstellungen aufzufassen und im Denken zu vereinigen“ (ApH AA7: 169). Im ästhetischen Bereich ist sie eine Fähigkeit, das Gefühl gegenseitig zu erfassen und mitzuteilen, und im praktischen Bereich ist sie die Fähigkeit, sich bei der Beurteilung der eigenen Maxime in die leidende Situation von Anderen zu versetzen. Diese Empfänglichkeit lässt sich nur in Gesellschaft kultivieren. Die wechselseitige Mitteilung der Gedanken durch Kommunikation fördert den logischen Gemeinsinn, die Kultivierung des Geschmacks durch z. B. klassische Kunst-
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werke fördert den ästhetischen Gemeinsinn und das Gedankenexperiment bei der moralischen Beurteilung fördert den praktischen Gemeinsinn. Dies lässt sich in der folgenden Tabelle genauer darstellen: im theoretischen Bereich
im ästhetischen Bereich
im praktischen Bereich
Gemütskräfte
Erkenntnisvermögen Gefühle der Lust und Unlust
Begehrungsvermögen
Erkenntnisvermögen
Verstand
Urteilskraft
Vernunft
höhere Verwendung
Wahrheit
Schönheit
Gutheit
positive Funktion der Sinnsinnliche Wahrnehlichkeit (Entgegensetzung der mung als Material oberen Erkenntniskräfte) (Verstand als Form)
das Gefühl als das moralische Gefühl Wirkung (Urteils- als Triebfeder kraft als Ursache) (Vernunft als Willensbestimmung)
niedrigere Verwendung
der gemeine Verstand
die gemeine äs- die gemeine Vernunft thetische Urteilskraft
negative Funktion der Sinnlichkeit
Schein
Sinneslust
sinnliche Begierde
Gemeinsinn als abstrahierender Reflexionsprozess
Irrtümer erkennen und beseitigen
von Reiz und Rührung abstrahieren
sinnliche Begierde abschaffen, soweit sie zum Bösen verführt
gesellschaftliche Voraussetzung für das empirische Subjekt
theoretische Gemeinschaft
ästhetische Gemeinschaft
praktische Gemeinschaft
Modi der intersubjektiven Beziehung
Parallele als Erfahrungspol und Wechselseitigkeit als Koordinaten
mitfühlende ästhetische Instanzen
Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und dem Leidenden
Opposition des Gemeinsinns
logischer Egoismus
ästhetischer Egoismus
praktischer Egoismus
Gemeinsinn als gemeinschaftlicher Reflexionsprozess
den Gedanken des Anderen als Prüfstein nehmen
mitgeteiltes Gefühl empfinden und eigenes Gefühl mitteilen
moralisches Gedankenexperiment
Gemeinsinn als Empfänglichkeit
für die Gedanken des Anderen
für das Wohlgefal- für die praktischen len des Anderen Situationen des Anderen
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In der ersten Bedeutungsschicht des sensus communis (der gemeinen oberen Erkenntnisvermögen) geht es um die Entgegensetzung von Besonderem und Allgemeinem, d. h. um die Frage, wie man über einen speziellen Gegenstand in einer konkreten Situation ein allgemeines Urteil treffen kann. Dies kann auch als eine Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Intellektualität in dem Sinne angesehen werden, dass die sinnlich wahrgenommenen Gegenstände und Sachverhalte nach allgemeinen Begriffen und Regeln beurteilt werden. In der zweiten Bedeutungsschicht des sensus communis geht es um eine Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Intellektualität, d. h. um die Frage, wie sinnliches Gefühl allgemein mitteilbar sein kann, also inwiefern es auch eine intellektuelle und kommunikative Dimension hat. Dieses Problem wird von Kant durch die Konstruktion des Begriffs vom moralischen Gefühl gelöst, mithin mittels der intellektuellen Lust. Während die Allgemeingültigkeit der gemeinen Erkenntniskräfte aus intersubjektiver Perspektive erläutert wird, wird die Allgemeingültigkeit der intellektuellen Lust aus intrasubjektiver Perspektive durch den allgemein mitteilbaren Gemütszustand erklärt. Bei intellektuellen Gefühlen wird die Sinnlichkeit durch die Intellektualität bestimmt und die Gefühle der Lust werden von der Beförderung der intellektuellen Vermögen hervorgebracht. Dabei rezipiert die Sinnlichkeit nicht die Subjektivität und Zufälligkeit der Empirie, sondern die Apriorität und Bestimmtheit der Intellektualität. Aufgrund ihrer Anregungskraft und ihrer Verbindung mit dem menschlichen Körper kann die intellektuelle Lust auch dabei helfen, die intellektuelle Beschäftigung des sinnlich-vernünftigen Wesens, des Menschen, anzutreiben und voranzubringen. Das Geschmacksurteil als eine spezifische intellektuelle Lust und ein gemeinschaftlicher Sinn enthält beide Dimensionen, d. h. die beiden Arten der Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Intellektualität. In Bezug auf den ästhetischen Gegenstand ist es ein einzelnes Urteil, für das die reflektierende Urteilskraft gebraucht wird, um im Besonderen einen allgemeinen Schönheitsbegriff zu finden; in Bezug auf den Gemütszustand bei der Beurteilung wird die allgemeine Mitteilbarkeit des ästhetischen Wohlgefallens durch die Übereinstimmung der Erkenntniskräfte begründet. Die Untersuchung des ästhetischen Gemeinsinns entfaltet sich ebenfalls aus zwei Perspektiven: aus der der Artikulation und aus der der Reflexion, entsprechend der intrasubjektiven und der intersubjektiven Perspektive. In diesem Sinne kann das Geschmacksurteil als ein repräsentativer Prototyp des sensus communis betrachtet werden, der nicht nur einen Versöhnungsversuch zwischen Intellektualität und Sinnlichkeit, sondern auch einen Anknüpfungspunkt für Subjektivität und Intersubjektivität bietet. Möglicherweise kann der Vermittlungspunkt zwischen intrasubjektiver und intersubjektiver Beziehung angemessener und verständlicher im moralischen Bereich erörtert werden – in Anbetracht dessen, dass die praktischen Subjekte sich
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hier intensiver aufeinander beziehen und es für die praktische Handlung mehr an sinnlicher Antriebskraft bedarf als in der ästhetischen Kontemplation. In früher Zeit hat Kant auch versucht, das moralische Gesetz mit dem im intersubjektiven Sinn definierten moralischen Gefühl zu begründen. Die strenge Forderung nach objektiver Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes ließ ihn die empirische Betrachtungsweise jedoch aufgeben und er modifizierte das moralische Gefühl zu einem im intrasubjektiven Sinne definierten apriorischen Gefühl. Dieser Erklärungsmodus führt dann von Kants Ethik weiter zu seiner Ästhetik, wird dort jedoch noch einmal komplizierter konstruiert. Die Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils ist schwächer als die des Sittengesetzes und wird als eine Forderung angesehen, die nicht so stark ist wie der kategorische Imperativ. Um die Allgemeingültigkeit eines Urteils zu erklären, das sich nicht auf Begriffe gründet, wird ein regulatives Prinzip für die reflektierende Urteilskraft benötigt. Anders als die reflektierende Urteilskraft beim gemeinen theoretischen und praktischen Verstand, die über Gegenstände oder Sachverhalte nach unbewussten intellektuellen Prinzipien reflektiert, reflektiert die ästhetische Urteilskraft nach einem vernünftigen Prinzip, nämlich der subjektiven Zweckmäßigkeit, über die intrasubjektive Beziehung zwischen sinnlichen und intellektuellen Erkenntnisvermögen. Jedoch ist der Zweck dieser Zweckmäßigkeit hier modifiziert, insofern er in dieser Relation nicht willentlich angestrebt wird, sondern in dem belebten Gemütszustand, mithin in der Freiheit der Einbildungskraft besteht. In der freien und unbestimmten Zweckmäßigkeit dient der Verstand der Einbildungskraft, d. h. der Kern der Zweckmäßigkeit besteht in der Freiheit der Sinnlichkeit, obwohl das Prinzip selbst ein intellektuelles Prinzip ist und dem Zweck der Vernunft dient. Aus intrasubjektiver Perspektive liegt beim Geschmacksurteil nicht nur die Übereinstimmung zwischen den sinnlichen und intellektuellen Erkenntniskräften vor, sondern auch eine Übereinstimmung zwischen den oberen Erkenntnisvermögen. Die zweistufige Struktur der ästhetischen Beurteilung (artikulierende und reflektierende Stufe) bestimmt ihre zweiseitige Bezogenheit (auf den Gegenstand und auf das Subjekt, mithin auf die Natur und die Freiheit). Der theoretische Bereich wird daher mit dem praktischen verbunden, indem die ästhetische Idee eines übersinnlichen Substrats einerseits durch die subjektive Zweckmäßigkeit der Natur auf das Substrat der Natur verweist und andererseits durch die Freiheit der Einbildungskraft auf den Grund der Freiheit. Zwar wird die intrasubjektive Übereinstimmung zwischen den Erkenntniskräften beim Geschmacksurteil von einem apriorischen Prinzip reguliert, es ist aber noch eine exemplarische Notwendigkeit aus intersubjektiver Perspektive erforderlich, damit die subjektive Notwendigkeit als objektiv vorgestellt werden kann. Das auf intrasubjektiver Ebene begründete Prinzip des ästhetischen Ge-
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5 Zusammenfassung
meinsinns fungiert dann als ein apriorisches Prinzip, um die allgemeine Mitteilbarkeit des Urteils abzusichern. Obwohl die Intersubjektivität nur eine beigelegte Idee und hinzugefügte Erklärung zum Geschmacksurteil ist, weist Kant doch auf die unentbehrliche und unersetzbare Position und Funktion des Anderen hin, die in seiner theoretischen und praktischen Philosophie sonst nirgends vorkommt. Es ist gewiss kein Zufall, dass Kant die Eigenschaften des Gemeinsinns im ästhetischen Gemeinsinn kondensiert bzw. gar kuluminieren lässt und den Begriff des Gemeinsinns nur im ästhetischen Bereich detailliert dargestellt hat. Die Sinnlichkeit, die in Kants Philosophie der Intellektualität immer unterlegen ist, und die Intersubjektivität, die wegen der Hervorhebung der Subjektivität immer vernachlässigt wird, verbinden sich miteinander im Begriff des sensus communis astheticus. Nur in der Ästhetik findet man diesen harmonischen Lebenszustand für ein vernünftig-sinnliches Wesen. Der menschliche Körper, durch den die Sinnlichkeit hervorgebracht wird und auf den sie auch direkt einwirkt, ist auch der reale Ort, an dem die Intersubjektivität sich entfaltet. Zwar können wir bei Kant keine systematische Theorie der Sinnlichkeit und der Intersubjektivität finden, doch ist durch die Analysen der vorliegenden Arbeit deutlich geworden, dass der Mensch als ein beschränktes intellektuelles Wesen als Hilfe für die Verwirklichung und Vervollkommnung seiner Intellektualität immer die Sinnlichkeit benötigt und sich als ein gemeinschaftliches Wesen zur Kultivierung seiner Humanität die intersubjektive Sichtweise stets vor Augen halten muss.
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Personenregister Allison, Henry E 57, 92 Arendt, Hannah 1 Aristoteles 5 f., 8
Kleist, Edward Eugene 1 Klemme, Heiner F. 57 Kühn, Manfred 32 f., 35, 48, 57
Baum, Manfred 9, 46 f., 50 – 52, 54 f., 72, 74 Baumgarten, Alexander Gottlieb 9, 50, 57, 72, 77 – 79 Bayerer, Wolfgang G 66 Beattie, James 32 Beck, Lewis White 43, 48, 58 Brandt, Reinhard 31, 62 Brumlik, Micha 124
Lee, Ming-huei (李明辉) 53 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 21, 48, 77 Leyva, Gustavo 1, 6 f. Li, Qiuling (李秋零) 123
Cicero, Marcus Tullius Cohen, Ted 124
Naumann-Beyer, Waltraud Nehring, Robert 1, 9
6 f.
Deleuze, Gilles 123 Deng, Xiaomang (邓晓芒)
48
Ockham, William of 93 Oswald, James 32 5, 123, 125
Eisler, Rudolf 124 Felten, Gundula 1, 7 Fricke, Christel 124 Gadamer, Hans-Georg 1, 6 f. Georges, Karl Ernst 10 f., 71 Grimm, Jacob und Wilhelm 11, 20, 88 Guyer, Paul 124 Habermas, Jürgen 124 Han, Shuifa (韩水法) 123 Henrich, Dieter 52 f. Heußner, Alfred 124 Henrich, Dieter 52 f. Hong, Handing (洪汉鼎) 125 Höffe, Otfried 59, 94, 103 Hume, David 32, 48 Hutcheson, Francis 47 – 49, 51, 53, 56 Kadowaki, Takuji 124 Kaulbach, Friedrich 124
Miao, Litian (苗力田) 123 Mou, Zongsan (牟宗三) 5
Pang, Jingren (庞景仁) Paton, H. J. 43 Plato 77
123
Recki, Birgit 125 Reid, Thomas 32 Ritter, Joachim 6 Shaftesbury, Anthony Earl of Smith, Adam 48 Vico, Giambattista
7 f., 47 f., 51
6–8
Wei, Zhuomin (韦卓民) 5, 123 Wenzel, Christian Helmut 85 Wolff, Christian 21, 48, 71, 77 Xu, Jingxing (许景行)
123
Yang, Yunfei (杨云飞) 123 Yang, Zutao (杨祖陶) 123, 125 Zong, Baihua (宗白华)
5,123
Sachregister Absicht 51, 64, 87, 91, 107, 111, 115 Achtung 58, 60 f., 70, 72 Affekt 61 f. Allgemeingültigkeit 1, 16 f., 19, 24 – 26, 43, 51, 63, 75, 78 f., 82 – 84, 86, 88, 93, 97, 100, 117, 120 f. – objektive Allgemeingültigkeit 14, 26, 58, 78, 97, 105 – subjektive Allgemeingültigkeit 78, 88, 97, 116, 118 Allgemeinheit/allgemein 5 – 8, 10, 12 – 17, 19 f., 22 – 25, 31 – 34, 38 – 46, 48 – 52, 55 – 57, 59, 63, 66, 70, 75, 77 – 90, 92 – 101, 104 – 106, 108, 110, 112 f., 116 f., 120, 122 Analogie 29 f., 43, 45, 70, 78, 110 f., 115 angenehm, das Angenehmen 91, 94 Anschauung 11, 28 – 31, 36, 43, 69, 78 – 80, 90, 99, 103, 110 Anspruch 60 Anthropologie/anthropologisch 9, 16, 22, 28 f., 31, 61 f., 66, 68, 96, 99, 117 Antinomie 29, 58 f. Apperzeption 30, 88 Apprehension 29 Ästhetik/ästhetisch 1 – 4, 7, 9, 13, 18, 27, 32, 38, 48, 53, 62 f., 67, 69 f., 74, 77 – 80, 82 – 86, 89 – 91, 93 f., 96 – 122 Aufklärung 9, 23 f., 48 Autonomie 23, 45, 56, 82, 102, 105, 112 Bedürfnis 34, 36, 44, 52, 87, 110 Begehrungsvermögen 38, 49, 61 – 63, 66, 112, 115 Begierde 40, 45, 58, 116 f., 119 Belebung 61, 69, 87, 89, 91 Bestimmung 21, 34, 36, 53, 61, 64 – 66, 79 f., 86, 88, 108, 110, 113, 119 Bestimmungsgrund 42, 52, 56, 117 Bewegungsgrund 57 Bildung 6 f., 104 Böse/böse 40, 43, 48, 52, 55 – 57, 61, 69, 71 f., 119
common sense 1 – 3, 5, 7 – 9, 32 – 35, 94 common-sense-Philosophie 32 – 34 Deduktion 81, 84, 92, 100 Demütigung/demütigen 60 Denkungsart 3, 14, 23 – 25, 28, 54, 63, 106, 108, 110, 116 f. – erweiterte Denkungsart 24 – 27, 32, 45, 100 f., 116 f. Depositum 44 Dialektik 42, 58 f., 111, 113 Disziplin 15 f., 22, 35, 39 Dunkelheit/dunkel 30 f. Egoismus 7, 14, 27, 117, 119 Eigendünkel 60 Eigenliebe 60 Einbildungskraft 8, 12, 29 – 31, 43, 63, 65 f., 80 – 82, 87, 89, 91, 97, 99, 102 – 104, 106 – 109, 111 f., 121 Empfänglichkeit 9, 11 f., 32, 45, 53, 56, 58, 63, 67 f., 70 f., 74 f., 105, 116, 118 f. Empfindung 5 f., 11, 31, 47 f., 53 – 55, 63, 79, 81, 91 f., 97, 104 f., 107 empirische Erkenntnis 17 f., 29, 91, 98, 102 Erfahrung 8, 14 – 17, 19 – 21, 26, 28, 31, 33 f., 39, 95, 97 f., 103 f. Erhabene/erhaben 9, 49 f., 60 f., 63, 65 Erkenntnis überhaupt 79, 87 – 90, 92, 109 Erkenntnisvermögen 2, 8, 11 f., 16 f., 25, 27 – 29, 31 f., 35, 37 f., 42, 48 f., 77 f., 82 f., 85 f., 112, 115 – 121 Erscheinung 1, 14, 30, 43, 79, 93, 100 Faktum der Vernunft/Faktum der reinen Vernunft 41, 53 Freiheit 37, 40 f., 43, 61, 66, 72 f., 80, 89, 97, 99, 104 – 106, 109, 112 f., 121 Gedankenexperiment 43, 117, 119 Gemeinschaft 26, 43, 46, 51, 103 f., 117 – 119 Gemeinsinn 1, 3 – 5, 9, 12 – 14, 24, 27, 29 f., 32, 36, 38, 40, 54, 67, 78, 81 – 84, 86 f.,
130
Sachregister
91 – 96, 99 f., 102, 104 – 106, 108 f., 113 – 115, 117 – 120, 122 Gemütszustand 11 f., 62 – 64, 80, 82, 87 – 89, 92, 102, 107, 109, 120 f. Gerichtshof 72 f. Geschmack 27, 32, 66 f., 70, 77, 81, 95, 99 – 102, 104 – 109, 112, 117 f. Geselligkeit 98, 104 f., 117 Gesetz 16 f., 21 f., 40 – 44, 51, 53 – 58, 60 f., 66 – 68, 70, 72 – 74, 78, 80 f., 83, 86, 91, 99, 106, 111 – 113, 121 Gesetzgebung 56, 60, 73, 99 Gesetzmäßigkeit 63, 80, 89, 96, 112 f. Gesinnung 11 f., 14, 50, 63, 100, 110, 112 f. Gesund 1, 9 f., 13 – 20, 22 f., 29, 32 – 36, 39, 74, 83, 101 Gewissen 70 – 73, 75, 83 Glaube 49, 68 Glückseligkeit 45, 52, 58 f., 117 Gott 36 f., 47, 52 Gut 6, 8, 21, 36, 40, 42 f., 48 f., 52 f., 55 – 59, 61, 68 f., 71 f., 94, 97, 100, 107 f., 110 Handlung 7, 38, 43 f., 46 f., 50, 52 – 57, 60 – 62, 64, 67 f., 70 – 75, 86, 116, 118, 121 Hang 22 f., 29, 42, 71, 98, 116 Harmonie/harmonisch 63, 65, 79 – 81, 85, 89, 91 – 94, 97, 99, 102, 104, 107, 122 Heteronomie 27, 45, 56, 112 Humanität 105, 118, 122 Ideal 51, 73, 93, 104, 106 – 108, 113 Idealismus 7, 68 Idee 1, 6 – 8, 25 f., 28, 36, 40 f., 43, 51, 61, 64, 66, 81 f., 94 – 96, 100, 102, 104 – 113, 117, 121 f. innerer Sinn 29, 48, 53, 55, 63, 68, 81, 88 Intellektualität 26, 65, 67 f., 70, 77 f., 115, 120, 122 intellektuelle Anschauung 67 intellektuelle Lust 3, 62, 65 – 70, 75, 91, 120 Interesse 1, 36, 53, 56, 60, 63, 68, 74, 97 – 100, 102, 105 f., 109 – 111, 113
Intersubjektivität/intersubjektiv 3, 5, 8, 26 f., 51, 75 – 77, 80 f., 87, 94 – 96, 98 – 100, 102 – 105, 115, 117 – 122 Intrasubjektivität/intrasubjektiv 3, 75 – 77, 79, 81, 87, 94 – 96, 99, 104, 113 – 115, 118, 120 f. Kategorischer Imperativ/der kategorische Imperativ 42 f., 121 Kausalität 7, 43, 59 f., 66, 85, 99, 107, 111 Klugheit/Weltklugheit 20, 45 Kontemplation 70, 121 Körper 21, 55, 57, 67 f., 120, 122 Kraft 11, 21, 58, 62, 74 Kritik 1 – 3, 5 – 7, 9, 21 f., 30, 32, 35, 41 – 43, 46, 57 – 60, 62 – 65, 68 f., 77, 80 – 88, 90 f., 94, 96, 99 f., 103, 109, 115 Kultivieren 100, 118 Kultur 104 Kunst/Kunstwerk 99, 102 – 105, 109 f., 119 Leben 6, 15, 21, 27 f., 33, 37, 40 – 42, 64 f., 67, 69 – Lebendigkeit 89 – Lebensgefühl 85, 104 – Lebenskraft 65, 67 Leidenschaft 50, 61 Logik 9, 13, 15 – 17, 21 – 23, 27, 31, 34 f., 69, 78 f., 90 Lust/das Gefühl der Lust 32, 38, 51, 53 f., 57, 62 f., 66 f., 70, 77 f., 80 f., 83, 85, 91, 94, 97, 99, 101 – 103, 110, 112, 115 f., 119 f. Mannigfaltigkeit/mannigfaltig 1, 12, 28 – 31, 103, 107, 116 Material/material 56 f., 64, 79, 84, 97, 105, 116, 119 Maxime 12, 14, 23 – 25, 27, 32, 36 f., 41 – 46, 56, 58, 75, 82, 98, 100, 106, 117 f. Metaphysik 2, 8 f., 15, 31 – 35, 37, 40, 50, 55, 66, 68, 70 – 72 Mitleid 50 Mitteilbarkeit/mitteilbar 5, 8, 12, 32, 38, 45, 75, 77, 80, 84, 87 f., 91 – 93, 95 f., 99, 104 f., 110, 112, 117, 120, 122 Mitteilung 24, 118
Sachregister
moralisches Gefühl/das moralische Gefühl 3, 12, 38,46 – 71, 74, 106, 110, 113, 115 f, 119 – 121 Modalität 18, 79, 84 – 86, 93, 103 Moralität 8, 38, 46, 48, 50, 54 f., 57, 59, 63, 67 f., 70 f., 74 f., 100, 110 – 113 Moral/moral 3, 9, 37, 39, 47 – 50, 55 f., 99 f., 106, 109, 111 f. moral sense 47, 49 f., 52, 56 Motiv 48, 71 Musik 89, 103 f. Mutterwitz 20 Naturanlage 20, 47, 53 Naturgesetz 40, 43, 70 Neigung 7, 15, 28, 40, 42, 45, 50 f., 54, 57 – 61, 63 f., 68, 74, 97 f., 101, 104 f., 116 Notwendigkeit 18 f., 41, 56 f., 63, 79, 84 – 86, 93 – 96, 100, 102, 121 Noumenon 66, 73 Öffentlichkeit/öffentlich Orientierung 36
10, 27, 117
Person 58 f., 61, 72 f., 99 Persönlichkeit 52, 60 f., 73 f. Pflicht 42, 45, 54, 57, 71 f., 100 Philosophie 1 – 3, 5 – 8, 10, 15, 22, 33 – 35, 40, 42, 46, 48, 51 f., 56, 59, 66, 68 – 70, 74, 77, 79 f., 82, 115 – 117, 122 Pragmatisch 9, 29, 45, 52, 62 praktisch 1 – 3, 6 – 9, 17 – 20, 27 f., 36 – 46, 48 f., 55 – 62, 64, 66, 69 – 77, 82, 86, 93 f., 96 – 100, 104, 106, 108 – 110, 112 f., 115 – 122 Praxis 1, 14, 20, 23, 25, 28, 34, 37, 41 f., 58, 67 f., 74, 76, 82, 102, 109 Psychologie/psychologisch 6, 8, 16, 22, 32, 58, 62, 94 reflektierende Urteilskraft 1, 9, 17, 64, 80, 82 – 85, 93, 96, 98, 102, 107, 120 f. Reflexion 9, 24, 26, 30, 32, 42, 45, 50, 63, 66, 70, 80, 82 – 84, 97 – 104, 107, 109 – 112, 116 – 118, 120
131
Regel 13 – 20, 22, 25, 28, 30, 33, 37, 39, 43, 46, 49, 72, 74, 79, 83 f., 86 f., 89, 93, 105, 107, 111, 117, 120 regulativ 7 f., 19, 24, 95 f., 121 Reiz 79, 91, 109, 116 f., 119 Relation 43, 74, 79, 84 f., 93, 103, 121 Richter 28, 37, 72 f. Schema/Schematismus 43, 70 Schönheit/das Schöne/schön 1, 3, 6 f., 9, 49, 63, 65, 77 f., 84 – 86, 93 – 95, 97 f., 100, 102 – 113, 119 sensus communis 1 – 9, 11, 13 f., 16 f., 24 f., 28 – 30, 32, 35, 38, 45, 74 – 79, 81, 84, 87, 95, 100 f., 110 f., 114 f., 120, 122 – sensus communis aestheticus 2 f., 13, 77, 81, 101 – sensus communis logicus 2, 13, 25, 28 f., 82, 101 – sensus communis practicus 2 f., 38, 45, 75 Sinn 5 – 12, 14 – 17, 20 f., 25, 28 – 32, 35, 38 f., 41 – 43, 47 f., 53 – 57, 59, 61, 65 – 71, 73, 77, 79, 81, 83 f., 86 – 89, 91, 93 – 106, 108 – 110, 112 f., 115 – 117, 120 f. Sinnenwelt 26, 40, 43, 61, 69, 73 Sinnlichkeit/sinnlich 3, 8, 11 f., 21 f., 25 f., 29 – 32, 41 – 43, 46 – 48, 50 – 55, 57 – 60, 62 – 70, 73 – 75, 77 – 81, 89, 91, 95, 97 – 101, 106 – 109, 112 f., 115 – 122 Sittengesetz 12, 39, 41 – 43, 52, 56, 60, 72, 74, 121 Sollen 5, 10, 46, 57, 91, 93, 95 Spiel 29, 31, 65, 67, 72, 81 f., 85, 89, 91, 94, 99, 102, 104, 108 f. Spontaneität/spontan 12, 28, 30, 44, 63, 65, 81, 102 f. Stimme 72, 80, 88 f. Stimmung 11, 85, 88 – 93 Subjektivität/subjektiv 8, 21, 23, 25 – 27, 36 f., 51 f., 56 – 60, 62 – 64, 66, 74, 78 – 85, 87 f., 90 – 96, 98 f., 102, 108 f., 111 – 113, 116, 120 – 122 Substrat 112, 121 Symbol 111 Synthesis 29 f., 36, 43
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Sachregister
Triebfeder 54 – 58, 60, 68 – 70, 74 f., 116, 119 Tugend 7, 48 – 50, 52, 54, 58 f., 66 Typus 43 übersinnlich 3, 14, 35 f., 38, 43, 59, 65, 110, 112 f., 121 Unlust/das Gefühl der Unlust 38, 48, 51, 53 f., 56 f., 61 – 63, 65 f., 70 f., 77 f., 81, 83, 95 f., 102, 106, 112, 115, 119 Ursache 15, 23, 27, 32, 36, 50, 119 Urteil 1, 5, 7 f., 14 f., 17 f., 20 f., 25 – 30, 32 – 34, 36 f., 40 – 45, 50, 62 f., 67, 70, 72 f., 77 f., 81 – 88, 90 f., 93, 95 – 99, 101 – 104, 106 – 113, 116 – 118, 120 – 122 – Erkenntnisurteil 87, 91 – Geschmacksurteil 1, 3, 12, 25, 62 – 65, 67, 70, 77 – 82, 84 – 87, 90 – 100, 102, 106 – 108, 111 – 113, 120 – 122 Urteilskraft 1, 3, 5 – 7, 9, 17 – 21, 23 f., 26, 38 f., 42 f., 62, 64, 69 – 71, 73, 77, 80 f., 83 – 87, 94, 96 – 103, 105 f., 111 – 113, 115 – 117, 119, 121
Verallgemeinerung 42 f., 45 Vernunft/Menschenvernunft – gemeine Vernunft/gemeine Menschenvernunft 9, 11, 13 f., 22, 26 f., 33, 35 f., 38 – 42, 44 f., 73, 81, 94, 97 f., 101, 119 Verstand/Menschenverstand – gemeiner Verstand/gemeiner Menschenverstand 1 – 3, 7 – 28, 31 – 42, 44, 74 f., 81, 83, 94, 96, 98, 100 101 – 102, 116 Vollkommenheit 67, 77 – 80, 90 f., 97, 107 f., 113 Vorurteil 23, 27 Wahrheit 2, 6 f., 23, 28, 32, 34, 56, 68, 77 – 79, 90, 102, 104, 118 f. Wechselseitigkeit/wechselseitig 43 – 46, 64, 75, 89, 91, 103, 105, 118 f. Wechselwirkung 46, 75, 104, 118 f. Weisheit 23, 41, 69 Wille 6, 43, 56 f., 63, 67, 116 Willensbestimmung 45, 54, 57, 59 – 61, 64, 93, 116 Zwang 50, 72, 105 Zweck 6, 34 – 36, 52, 57, 59, 67 f., 80, 95, 107 – 113, 117 f., 121 Zweckmäßigkeit 63, 80 f., 84 f., 91 – 96, 98 f., 108, 110 – 113, 121