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German Pages 312 Year 2014
Christoph Rodatz Der Schnitt durch den Raum
T h e a t e r | Band 23
Christoph Rodatz (Dr. phil.) hat »Angewandte Theaterwissenschaft« in Gießen studiert. Er arbeitet zwischen experimentellem Musiktheater (Graz, Nischni Nowgorod), Videokunst und Kabarett.
Christoph Rodatz Der Schnitt durch den Raum. Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen
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© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Zugl.: Darmstadt, Techn. Univ., Diss., 2010 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, nach einer Idee des Autors Umschlagabbildung: Christoph Rodatz, Sing, sing! New Guide to Opera, Uraufführung 3. Dezember 2008 Lektorat & Satz: Christoph Rodatz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1585-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
T EIL E INS : A NNÄHERUNGEN AN DEN S CHNITT DURCH DEN R AUM DES T HEATERS | 11 1.
Einführung | 13
2.
Zwischen Zeichen-Wahrnehmung und atmosphärischer Wahrnehmung | 27 2.1 Wahrnehmungskonzepte | 27 2.2 „Es läßt sich nicht lesen“ | 40 2.2.1 Der Mann der Menge (Edgar Allan Poe) | 40 2.2.2 The Man of the Crowd als Orientierungsszenario | 44 2.3 Korrespondenz zwischen dem Sichtbaren und der Erscheinung | 46 2.3.1 Lesen als Wahrnehmen | 46 2.3.2 Theater als korrespondierender Text | 49 2.4 Störung, Aura und Atmosphäre als Gegenstand der Wahrnehmung | 54 2.4.1 Die Störung | 54 2.4.2 Aura und Störung als Ingressionserfahrung | 59 2.5 Die Blindheit des lesenden Betrachters | 68 2.6 Ausblick | 73 3.
Auf dem Weg in den Raum des Theaters | 75 3.1 Orientierung | 75 3.2 Die Rolle des Theaterbaus für den Raum des Theaters | 78 3.2.1 Auf dem Weg in den Theaterbau | 78 3.2.2 Der Theaterbau als anderer Raum | 83 3.2.3 Der Theaterbau und der genormte Raum des Theaters | 89 3.3 Im Raum des Theaters | 93
3.3.1 3.4 3.5
Die Labilität des Raums des Theaters | 96 Alltagswahrnehmung und der Raum des Theaters | 101 Ankunft im Raum des Theaters | 109
4.
Der Schnitt durch den Raum des Theaters | 113 Orientierung | 113 Der geometrische Raum und der Raum leiblicher Anwesenheit | 117 Abbildungsverfahren und Raum | 117 Der Raum als geometrischer Raum | 119 Der Raum als Raum leiblicher Anwesenheit | 125 Der Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit | 129 Orientierung | 129 Der Schnitt durch den Handlungsraum | 134 Der Schnitt durch den Wahrnehmungsraum | 135 Der Schnitt durch den Stimmungsraum | 137 Der Schnitt und der Raum des Theaters | 138 Der Schnitt durch den Raum des Theaters eines Theaterbaus | 141 Der Theatergast im Raum des Theaters | 150
4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.4 4.5 5.
Die Erzeugung des Schnitts. Inszenierung und kulturelle Prägung | 157
T EIL Z WEI : H ISTORISCHE B ETRACHTUNG S CHNITTKONZEPTEN | 167 6. 6.1
VON
Das Prinzip des geschichteten Raums | 169 Die Zentralperspektive und der Schnitt durch die Sehpyramide | 169 6.1.1 Orientierung | 169 6.1.2 Exkurs in die Welt filmischer Schichtung | 174 6.1.3 Das Prinzip der flächigen Schichtung | 176 6.1.4 Istoria als Prinzip der Schichtung | 180 6.1.5 Der geschichtete Raum | 186
6.1.6 Der Schnitt durch die Sehpyramide und der Schnitt durch den Raum | 189 6.1.7 Erste Abstraktionen des Sehens | 195 6.2 Die Renaissancebühne, der Schnitt und der geschichtete Raum | 200 7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
Der Bild-Schirm und der Schnitt | 211 Orientierung | 211 Der Bild-Schirm | 213 Die Bild-Schirm-Anordnung | 220 Der andere Raum – Botschaft von den Sternen | 224 Das Subjekt – Netzhautbild und Camera obscura | 235 Der Bild-Schirm – Der Schnitt durch den Raum | 240
8. 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.3 8.4
Die Wiederentdeckung des Raums | 249 Das bewegende Bild | 249 Das Szenario Eisenbahnfahren | 253 Bewegung durch Raum und Zeit | 253 Die drei Räume des Bahnfahrens | 257 Das Panorama und Bewegtheit | 260 Das Diorama und Bewegtheit | 262 Bewegte Störung bewegt | 265 Das Szenario Flaneur | 269 Walter Gropius und sein Bruch mit der Bild-Schirm-Anordnung | 278
9.
Der Schnitt durch den Raum: Reichweite und Grenzen | 283
10. 10.1 10.2
Anhang | 297 Bildnachweis | 297 Bibliographie | 299
Danksagung
Mein Dank gilt den vielen Menschen, die mich während der gesamten Zeit begleitet und auf diversen Ebenen unterstützt haben. Ich danke vor allem meinem Doktorvater Gernot Böhme, der mit viel Geduld immer wieder wichtige Impulse gegeben hat. Gabriele Brandstetter hat mich dankenswerterweise in meinem Anliegen bestärkt und Foren für Austausch geboten. Marcus Droß ist immer wieder gerne auf Themen eingestiegen und hat mich angeregt, meine Ansätze in die Praxis und zurück zu überführen. Jens Himmelreich hat durch seine wiederholte Lektüre und viele Gespräche bei Buchweizen-Crêpes dazu beigetragen, der Arbeit eine Form zu geben. Meinen Eltern danke ich herzlich dafür, dass sie die entscheidenden Grundsteine gelegt und mir das Studium ermöglicht haben, das zu dieser Arbeit hinführte. Meine Söhne, Fabian und Benjamin, haben diese Arbeit auf ihre Weise begleitet („Wann wird dein Buch denn fertig, Papi?“) und sind schneller groß geworden als sie. Ganz besonders möchte ich Susi Prediger danken, die mir nicht nur zugehört und grundlegende Anregungen gegeben hat, sondern auch eine wichtige Stütze war. Zuletzt danke ich dem Sauerland für seine Ferienwohnungen.
Teil Eins: Annäherungen an den Schnitt durch den Raum des Theaters
1. Einführung
Abb. 1: Ca. 30 Minuten nach Anfang der Aktion. Große Mengen Bach (Rostock 2008).
Große Mengen Bach1, eine Aufführung der Gruppe New Guide to Opera, wurde am 21. November 2008 in der Nikolaikirche in Rostock aufgeführt. Im Jargon gegenwärtiger Kunst wäre es wohl angebracht, von einer musikalisch performativen Installation zu reden. Denn was hier umgesetzt wurde, dauerte genau sechs Stunden und spielte mit dem Reorganisieren von Material als performative 1 | Große Mengen Bach, Rostock, Uraufführung: 21. November 2008, New Guide to Opera (Marcus Droß, Christoph Rodatz und Michael Wolters) featuring Kerensa Lee.
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Handlung, bei der Musik und zerlegte Klaviere in großen Mengen gleichen Materials eine zentrale Rolle spielten. Die Konzeption von Große Mengen Bach basiert auf wenigen Parametern. Ausgehend vom Klavier, ging es um das Zerlegen und Erzeugen von großen Mengen gleichen Materials. Hierzu wurden acht Klaviere in der Nikolaikirche aufgestellt. Ferner diente der erste und zweite Teil von Johann Sebastian Bachs Das Wohltemperierte Klavier als musikalische Grundlage des Abends. Die Gäste in der Nikolaikirche bewegten sich frei, kamen und gingen den gesamten Abend über. Vier der Klaviere – ausrangiert und nicht zu reparieren – wurden innerhalb der vorgegebenen sechs Stunden von sogenannten Mechanikern zerlegt. Alle vier waren selbst keine professionellen Klavierbauer, dafür aber Handwerker oder handwerklich versiert. Dieser Vorgang war ein behutsamer, bei dem es nicht darum ging effizient oder provokativ zu zerstören; vielmehr ging es darum, das hochgradig komplexe Musikinstrument in seine kleinsten Einzelteile zu zerlegen. Weder Akkubohrer noch Winkelschleifer waren zugelassen. Gehämmert wurde nur dann, wenn unzertrennbare Teile voneinander gelöst werden mussten. Bei den restlichen vier Klavieren handelte es sich um neue und bespielbare Instrumente.
Abb. 2: Eine Pianistin beim Zerschneiden von Johann Sebastian Bachs Das wohltemperierte Klavier. Große Mengen Bach (Rostock 2008).
Die vier Pianisten hatten den Auftrag Bachs Werk Das wohltemperierte Klavier zu zerlegen und für sich zu reorganisieren, um die so erzeugten neuen Partituren vorzuspielen. Schere, Klebestift und
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Photokopierer standen ihnen hierfür zur Verfügung. Das ist alles, was diese acht Akteure an Auftrag hatten und über den festgelegten Zeitraum von sechs Stunden taten. Nicht zu vernachlässigen ist der Ort, die Nikolaikirche in Rostock, deren Räume für eine einzigartige Atmosphäre sorgten, in denen all der Klang und all das Zerlegen und Neuorganisieren wohl aufgehoben waren. Die Dynamik des Abends lässt sich rückwirkend in vier Abschnitte unterteilen. Anfangs herrschte große Unsicherheit bei allen Anwesenden. Die Pianisten zogen sich für die ersten 20 Minuten zurück, um sich ihre ersten Notenblätter zusammenzustellen. Die Mechaniker fingen behutsam damit an, die Klaviere zu zerlegen. Einige Gäste, noch in der Erwartung einer dramatischen und spannungsreich inszenierten Handlung, wirken verloren und orientierungslos. Andere wie Thomas der Klavierstimmer oder Paul erfreuten sich sofort an dem technischen Spiel. Thomas erwies sich als kompetenter Ansprechpartner, der nicht nur den Mechanikern, sondern auch Gästen Details über den Aufbau eines Klaviers vermitteln konnte. Der Schüler Paul hingegen fragte gleich zu Anfang einen der Mechaniker, ob er helfen dürfe. Er nahm somit nie die ihm eigentlich zugedacht Rolle eines Zuschauers an, sondern wurde zum Akteur, der bis zum Ende am Zerlegen aktiv beteiligt war. Ein anderer Herr wiederum forderte unter Protest sein Geld zurück und verschwand. Nach etwa neunzig Minuten setzte ein Wandel in der Haltung aller Anwesenden ein. Die Anspannung war gebrochen. Die einen merkten, dass über den Abend hinweg tatsächlich nicht mehr als die Demontage von Klavieren und die Reorganisation von Notenmaterial stattfinden wird. Manch ein Zuschauer verließ die Kirche, um Stunden später erneut zurückzukommen. Auch die Pianisten entdeckten für sich die Möglichkeiten, den vorhandenen Freiraum zu nutzen. Waren Sie zuvor noch damit beschäftigt gewesen, gemeinsam ein spielbares Stück zusammenzustellen, dessen Verlauf einer vereinbarten Dramaturgie folgte, trauten sie sich jetzt, über zwanzig Minuten eine Variation über einen Takt aus Bachs Wohltemperiertem Klavier zu spielen. Die Musik wurde so minimalistischer und von ihren Kontexten losgelöst und erfüllte als undefiniertes und unbestimmtes Klangereignis den Raum. Nach etwa drei Stunden kam es erneut zu einem grundlegenden Haltungswechsel aller Anwesenden. Nachdem eine recht unüberschaubare Menge an Material der zerlegten Klaviere verteilt auf dem
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Boden herumlag, fingen die Gäste an, sich dieses Materials anzunehmen, um es in neue Ordnung zu bringen. Kreise, symmetrische Muster oder auch phantasievolle Anhäufungen entstanden. Später wurden ganze Skulpturen und neuartige Möbelstücke erstellt. Viele der Zuschauer übernahmen nun eine gestaltende Rolle, die den gesamten Raum ausfüllte. Sie setzten so den hochprofessionalisierten Pianisten etwas Eigenes und Kreatives entgegen. Auch sie griffen gestaltend in das vorliegende Material ein und reorganisierten mit ihren Mitteln die zerlegten Klaviere und schufen damit etwas Neues.
Abb. 3/4: Gäste reorganisieren Klavierteile. Große Mengen Bach (Rostock 2008)
Die letzte Stunde brachte eine ganz neue Dynamik in das Raumspiel. Eine gewisse Hektik und Schlusspanik brach aus. Das Geschehen, das sich mittlerweile über fünf Stunden hinzog, bewegte sich zielstrebig auf ein Ende zu. Gerade im Umgang mit den großen Mengen an Klaviermaterial brach ein angespannter Übereifer aus. Manch ein Späteinsteiger wurde hektisch, um noch möglichst viele Skulpturen und Anordnungen erstellen zu können. Von manchen wurden Ziele formuliert, was sie alles noch bis zum Ende erreichen wollten. Eine Gruppe wollte unbedingt für ihre Skulptur an die Gussplatte des Klaviers herankommen. Um dies zu erreichen, zerlegten zum Schluss weit mehr als die vier Mechaniker und Paul die Klaviere. Um Punkt 24 Uhr hörte das Ereignis auf. Markiert wurde dies, neben der Einstellung aller Aktivitäten der Mechaniker und Pianisten, auch durch einen Lichtwechsel. Das Theaterlicht wurde durch das übliche und wenig stimmungsvolle Saallicht ersetzt. Der Kirchenraum wirkte jetzt kahl und war zusätzlich durch den fehlenden Bau- und Klavierklang ernüchtert. Es dauerte nicht lange und
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die meisten Gäste waren verschwunden. Was besonders auffiel war, dass die Reste, all jene erstellten Skulpturen, Anordnungen und kreativen Ansammlungen, als Objekte für sich kaum eine Wirkung erzielten. Die Skulpturen und Neuanordnungen der großen Menge gleichen Klaviermaterials, so wurde in diesem Moment deutlich, erzielte nur im Prozess der Aufführung selbst eine besondere Wirkung. Diese wurde durch die Vielzahl an Faktoren wie Klang, Zerlegen, Anordnen oder der gemeinsamen Anwesenheit aller generiert. Der Handlungsprozess des Ereignisses war von Bedeutung, nicht die erzeugten Objekte und Werke. Kaum war der Prozess beendet, blieben Objekte der Erinnerung zurück und nur selten Objekte mit eigener Ausstrahlung. Das Gefühl, etwas zu zerstören, was mit einem Auf- und Wegräumen oftmals verbunden ist, stellte sich erstaunlicherweise nur bei wenigen Aufbauten ein.
Abb. 5/6: Finale. In der Mitte sind von Gästen erschaffene Skulpturen und Anordnungen zu erkennen. Große Mengen Bach (Rostock 2008).
Große Mengen Bach erweist sich für diese Arbeit als geeignetes Szenario für eine Einführung in den Begriff des Schnitts durch den Raum, denn daran lassen sich verschiedene im Folgenden behandelte Fragen ansprechen. Eine davon ist die Frage, was unter dem Begriff Schnitt zu verstehen ist. Mit dem Messer schneidet man einen Apfel in zwei Hälften. Das, was eben noch eins war, ist jetzt zerstückelt. So könnte eine erste Assoziation zum Begriff Schnitt aussehen. Doch blickt man auf technische Medien, taucht hier der Schnitt auch als nicht mehr nur zertrennende Handlung auf, sondern als Aspekt des Verbindens zweier an sich nicht zusammengehöriger Teile. Der Computer weist sogenannte Schnittstellen auf, die es ermöglichen, eine kom-
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munikative Verbindung zu anderen Geräten oder den Menschen aufzubauen. Für den Bereich des Films gibt es auch den Begriff des Schnitts, der bei genauem Hinsehen paradox ist, weil er Aspekte von Zertrennen und Verbinden in sich vereint. Denn mit Schnitt ist nicht nur das Zerlegen von filmischem Rohmaterial gemeint, sondern eben auch die Montage als Form einer Reorganisation und neuartigen Verbindung von Filmmaterial. Eine Vielfalt von vorhandenen Sequenzen wird, nachdem sie auseinandergeschnitten wurden, zu einem komponierten Neuen zusammengeschnitten. Eine wesentliche Charakteristik des Films basiert auf diesem paradoxen Terminus des Zusammenschneidens. Auffällig dabei ist auch, dass Schnitt hier im Singular gebraucht wird, obwohl es bei jedem Film um eine Vielzahl von Schnitten geht, die erst das wirkungsvolle Ganze eines Filmes erzeugen. Ähnliches hat auch bei Große Mengen Bach stattgefunden. Sowohl der Prozess des Auseinanderschneidens der Partituren, als auch der des Zerlegens der Klaviere, wurde erst dadurch interessant, dass die entstehenden Einzelteile zu etwas Neuem zusammengesetzt wurden. Dieses Neue überstieg aber das Ausgangsmaterial in seinem Sein. Dabei sind aber nicht die neuen Partituren oder die entstandenen Skulpturen, also die Werke von Bedeutung, sondern der erzeugte Klang und die durch die Anwesenden erzeugten Handlungen, also das Ereignis. Der Schnitt wird so zu einem Prozess ästhetischen Machens, bei dem in der Handlung ein Mehr entsteht, das über die materielle und auf Objekte bezogene Ebene hinausreicht und vielmehr einen Raum – erfüllt mit Atmosphäre und Stimmung – entstehen lässt. Der Schnitt ist dann aber nicht allein ein handwerklicher Prozess, der sich in einem materiellen Produkt wie einem Film manifestiert, sondern er ist ein räumliches Phänomen, das eine Differenz zwischen einem inszenierten und bewusst generierten Handeln auf der einen Seite und einem Rezipieren auf der anderen Seite begründet. Und auch hier ist der im Singular gebrauchte Begriff Schnitt Platzhalter für vielfältige Prozesse räumlich sinnlicher Schnitte, die durch die Handlungen und die Gäste im Raum kontinuierlich erzeugt werden. Damit ist eine für diese Arbeit wesentliche Frage in Bezug auf den Begriff des Schnitts benannt: Wenn er gleichermaßen für ein Trennen von Objekten, wie für das neuorganisierende Verbinden steht, woran lässt er sich festmachen? Denn weder findet er sich in den Objekten und Werken allein wieder, noch in den reinen
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Prozessen des Zerlegens und Reorganisierens. Er fungiert als ein ästhetisches Dazwischen, mit dem Wirkungen erzeugt werden, die hochgradig auf Gegenwärtigkeit sowie der eigenen leiblichen Präsenz angewiesen sind. Das heißt somit auch, dass der Schnitt ein Begriff ist, der eng an die Wahrnehmung gekoppelt ist. Doch auch hier stellt sich die Frage, welche Wahrnehmung wird angesprochen, wenn doch nicht die Werke als greifbare Objekte eine Wirkung erzielen, sondern die Prozesse und die Gegenwärtigkeit? Im Vordergrund steht somit der Aspekt des Gestaltens und des Schaffens einer ganz neuen und eigenen Seins- und Wirkungsweise, bei der das Materielle und die Realität der Dinge in eine unterliegende Schicht verwiesen werden. Dagegen wird das Hier und Jetzt und seine Wahrnehmungswirklichkeit als eigenständige Schicht relevant, weil sie eine eigene Wirklichkeit schafft, die jenseits der Objekte zu finden ist. Was aber erzeugt diese Wirklichkeit und wie wird sie erfahren? Die Antwort lautet Atmosphäre, wie sie Gernot Böhme (vgl. hierzu vor allem Böhme 1995 und Böhme 2001a) beschreibt.
Abb. 7a: Geschlossene Kiste.
An Große Mengen Bach lässt sich ein weiterer Aspekt dieser Arbeit aufzeigen, nämlich der des räumlichen Schnitts, der insbesondere für Theaterräume von großer Bedeutung ist. Hierzu soll eine Versuchsanordnung vorgestellt werden, an der sich die Frage nach dem Schnitt durch den Raum veranschaulichen lässt: Man nehme eine geschlossene Holzkiste und schneide sie mit einer Säge vertikal in zwei Hälften. Man erhält zwei jeweils zu einer Seite hin offene Kisten. Diese offenen Seiten sind aber nur bedingt offen, denn die Holzkiste hinterlässt eine Art dünnen Rahmen, wenn man frontal auf diese offenen Flächen schaut. Diese jeweils offenen Flächen sind Schnittflächen, die nach zwei Ausformungen unterschieden
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Abb. 7b: Offene Kisten.
werden können: Die materielle Holzschnittfläche der Kiste hinterlässt physisch Spuren und präsentiert sich als eine Art Rahmen. Die zweite Schnittfläche ist eine immaterielle, es ist die offene Fläche, die sich zwischen dieser äußeren Kistenkonstruktion aufspannt. Sie ist nicht greifbar, wird aber durch den Rahmen der Holzkiste symbolisch aufgespannt. Der Rahmen ist so an der Erzeugung dieser virtuellen Fläche beteiligt, indem er das Außen abtrennt und so die eingrenzende Fläche verfestigt (vgl. Zaloscer 1974: 193). Und so kommt es durch diesen Schnitt zu einer Trennung, die zur Folge hat, dass aus einer geschlossenen Kiste zwei offene Kisten werden. Beide sind autonom, man kann sie unabhängig voneinander verwenden.
Abb. 7c: Geschlossene Kiste von innen.
Damit entsteht ein Modell des tradierten Theaterbaus, für das zwei zentrale Probleme sichtbar werden. Erstens erfordert Theater das
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Aufeinandertreffen von Zuschauersaal und Bühnenraum. In unserer Versuchsanordnung wird dies allerdings durch eine absolute Trennung der zwei Kistenseiten verhindert. Somit müsste man für die Schaffung eines Theaterraums beide wieder zusammensetzen. Doch fügt man die zwei offenen Kisten wieder zusammen, verschwinden aus der Sicht einer in ihr anwesenden Person die Schnittflächen. Die Zweiteilung ist so nicht mehr wahrnehmbar.
Abb. 7d: Geschlossene Kiste mit Rampe im Bühnenteil.
Dieses Dilemma, das Aufeinandertreffen von Zuschauersaal und Bühnenraum bei gleichzeitiger Trennung beider, erfordert, dass entweder eine der beiden erwähnten Schnittflächen wahrnehmbar werden muss oder sich auf eine noch genauer zu benennende Weise die Differenz von Zuschauer und Akteur, von Publikumsraum und Bühne herstellt. Der Theaterbau vollzieht dies indem er die als Rahmen beschriebene Schnittfläche sichtbar materialisiert. So werden Trennung und Distanzierung zwischen dem Zuschauersaal und Bühnenraum durch eine klare Anordnung zweier autonomer Räume hergestellt. Dabei erfolgt die Sichtbarmachung der Schnittfläche ganz im Sinne unserer kulturhistorisch geformten symmetrieorientierten Prägung – durch vertikale und horizontale Markierungen. Vertikale Markierungen sind zum Beispiel das Portal zwischen Bühnenraum und Zuschauerraum. Dieses kann schlicht schwarz sein und einzig dadurch auffallen, dass der Einblick in den anderen Raum der Bühne eingegrenzt wird. Es kann aber auch prunkvoll ausgestattet sein und wie Bilderrahmen die offene Schnittfläche in den Bühnenraum markieren. Der Einblick in die Bühne wird dadurch bildähnlich eingefasst und so vom Zuschauerraum abgelöst. Auch der Theatervorhang selbst ist ein Mittel der vertikalen Abtrennung, der vor der Aufführung und zwischen den Szenen immer
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Abb. 8: Der Vorhang als Akteur, der die Bühne als anderen Raum vom Zuschauerraum trennt. Sing, Sing! (New Guide to Opera, Düsseldorf 2008).
wieder die Bühne deutlich als anderen Raum vom Zuschauerraum abschneidet (vgl. Brandstetter 2008). Horizontal wird der Schnitt zwischen Bühnenraum und Zuschauersaal durch die Rampe markiert. Sie hebt den Bühnenraum an, womit sich dieser als anderer Raum vom Zuschauerraum abhebt. In manchen Häusern kann die Rampe auch über das Portal hinausragen. Damit schafft sie eine Verbindung zum Zuschauersaal. Durch die Tiefe des Bühnenraums erzeugt die Bodenebene zusätzlich eine horizontale Markierung. Auch die Anordnung der Stühle, die Ränge und Logen, bilden horizontale, teilweise auch vertikale Schnitte, die die Differenz zwischen Zuschauersaal und Bühnenraum spürbar und sichtbar machen. Ähnlich wie schon beim Filmschnitt zeigt sich, dass auch der Theaterbau sich auf dieses widersprüchliche Prinzip des Auseinander- und Zusammenschneidens bezieht. So sehr Bühnenraum und Zuschauerraum voneinander getrennt sind, ist immer auch ihr gleichzeitiges Aufeinandertreffen relevant und ein Überwinden der räumlichen Trennung. Ähnlich wie auch schon beim Filmschnitt haben wir es auch hier mit sehr handfesten und materiellen Formen zu tun. Die erwähnte Kiste oder auch der Theaterbau beziehen sich auf einen Raumbegriff, der von einem eingegrenzten Volumen mit einer gewissen Ausdehnung ausgeht. Der Schnitt etabliert sich vor allem über materielle Mittel. Doch auch die Aufführung Große Mengen Bach, die ja gerade von einem offenen und durchlässigen Raum ausging, ließ den Schnitt durch den Raum zu, nur kommt dieser ohne materi-
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elle Absetzung oder Trennung aus. Sowohl die Zuschauer als auch die Akteure können sich frei im Raum bewegen. Und obwohl die eindeutige Rollenzuweisung von Zuschauer und Akteur nicht mehr zu vollziehen ist, bietet das Gesamtgeschehen sehr unterschiedliche Szenarien, wie diese Differenz zu erzeugen ist. Es liegt vor allem in der Hand der Gäste, sich ihre Position selber zu suchen. Sie können sich hinsetzen und dem Klang lauschen, sie können aus der Entfernung das Treiben aller anderen Gäste beobachten oder sie können sich aktiv an der Reorganisation von Material beteiligen. Die Differenz zwischen Zuschauer und Akteur scheint brüchig zu sein, was nicht nur für das Beispiel Große Mengen Bach zutrifft, wenn Zuschauer zu Bauenden werden, sondern gleichermaßen im tradierten Theaterbau zur Tagesordnung gehört. Der Schauspieler, der die Bühne verlässt und einen Zuschauer anspricht oder der Schauspieler, der aus der Rolle fällt oder seinen Text vergisst. Der Schnitt basiert somit nicht allein auf Ein- und Ausgrenzung, auf sichtbaren und materiellen Grenzen. Was aber ist es dann, das diesen anderen Schnitt ermöglicht, ihn aufrecht erhält und ihn etabliert? Letztlich lassen sich hier zwei Ebenen unterscheiden. Auf der einen Seite steht der Mensch als Handelnder, der aktiv an der Erzeugung des Schnitts beteiligt ist. Das sowohl auf Seiten derer, die Geschehen herstellen, wie Theatermacher, aber auch auf Seiten der Zuschauer. Wir blicken auf eine lange Geschichte theatralen Handelns zurück, die nicht nur Konventionen, Bauten und Anordnungen hervorgebracht hat, sondern auch eine Sensibilität für besonders herausstechende Geschehen und Kompetenzen, mit denen Personen sich gegenüber Geschehen verhalten und positionieren. Auf der anderen Seite basiert der Schnitt aber auch auf einer spezifischen Wahrnehmung, die auf ihre Weise das Verhältnis zwischen Zuschauer und Akteur, zwischen Publikumsraum und Bühne auch ohne Rampe, Portal oder eingrenzende Wände ermöglicht. Auf dieser Wahrnehmung liegt der Fokus dieser Arbeit. Dazu sind Aspekte wie Handlungsentlastung versus Handlung, aber auch Inszenierung zur Erzeugung von Wirklichkeiten und Hervorhebungen zentral. Aber auch Ausstrahlung, Stimmungen oder auch Atmosphären als Gegenstände der Wahrnehmung sowie die eigene Wahrnehmungswirklichkeit und mein Sein bei den Dingen sind hier von Interesse. Gemeint ist das nicht direkt Greifbare und Erfassbare. Gemeint ist auch das aus herkömmlicher Sicht Bedeutungslose und dennoch Anwesende, das
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was man spürt und einen affektiv eindringen lässt in ein Geschehen oder auch abstößt und aufstört. Gemeint ist Atmosphäre als erste Wahrnehmungswirklichkeit, als eine Wirklichkeit, die noch vor jeder kognitiven Erfassung und begrifflichen Zuordnung steht, und sich zu einer ästhetischen Erfahrung ausdifferieren kann, die auch außerhalb von Kunstwelten in der normalen Lebenswelt vorkommt. Für diese Ausdifferenzierung ist der Schnitt als Schnitt durch den Raum wirksam. Als anschauliches Beispiel kann das Eintreten in einen Raum genannt werden, in dem sich Leute in einer angespannten Situation befinden. In meinem Eintreten in diesen Raum, spüre ich diese Angespanntheit unmittelbar. Sie führt auch dazu, dass ich selbst von ihr abrücke, mich also in Beziehung zu den anderen setze. Auch das ist auf einfachste Weise mit Schnitt gemeint. Zu fragen ist, wie sich dieser Schnitt eigentlich begrifflich beschreiben lässt. Ist er doch weder materiell existent, noch lässt er sich eindeutig in einem Raum platzieren. Zu fragen ist auch, ob dieser Schnitt mit dem gängigen Raumbegriff, der von einem Raum als Volumen und Ausdehnung ausgeht, kompatibel ist oder ob er nicht auf einem gänzlich anderen Raumkonzept aufbaut. Um was für einen Raum handelt es sich, wenn eine angespannte Stimmung herrscht. Um was für einen Raum handelt es sich, in dem aus Einzelteilen von Klavieren und Partituren, Handlungen entstehen, in denen Klang und Ordnungen erzeugt werden, bei denen die Gegenwärtigkeit zum tragenden Moment wird? Um Atmosphäre als Raum leiblicher Anwesenheit (vgl. Böhme 2001b: 96). Atmosphäre und der Schnitt als ästhetische Ausdifferenzierung atmosphärischer Wahrnehmung sind wenig greifbar und vor allem im Kontext zum kulturhistorisch so stark vorgeprägten Theaterbegriff hochgradig instabil. Der Theaterbau setzt dieser Instabilität etwas entgegen, schafft klare Zuordnungen und Positionierungen. Als These wird also die Vermutung verfolgt, dass der Theaterbau Ausdruck einer kulturell und über Jahrhunderte hinweg geformten Anordnung ist, die auch den Zweck verfolgt, den Schnitt durch den Raum zu stabilisieren und ihm eine Dauer zu verleihen. Gleichzeitig hieße das dann aber auch, dass der Theaterbau an sich keine Notwendigkeit für den Schnitt durch den Raum des Theaters darstellt. Es wird deutlich, die Kunstform Theater scheint auf einen solchen Schnitt aufzubauen. Sie hat ihn über die Jahrhunderte hinweg auf immer neue und kontinuierlich sich verändernde Weise geschaffen. Manch ein Ansatz wie der des Theaterbaus hat dabei nach-
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haltige Wirkung erzielt. Seine Materialität und Dauerhaftigkeit trägt zu jener Nachhaltigkeit grundlegend bei. Andere Ansätze hingegen sind über die Jahrhunderte hinweg verschwunden, weil sie keine so festgemauerte Fundierung vorzuweisen hatten. Ein Schicksal, das vor allem Formen von Theater betrifft, die offen sind und sich dabei auf spezifische Inhalte und Kontexte beziehen. Als Beispiel kann das mittelalterliche Theater in Europa aufgeführt werden. Über Jahrhunderte unterbewertet, basiert seine Ordnung und räumliche Ausrichtung auf inhaltliche Kontexte kirchlichen Ursprungs. Im Rahmen der hier geformten und vorgegebenen Konventionen wurde ein Schnitt etabliert, der weitestgehend ohne materielle Ein- und Ausgrenzungen auskam und im öffentlichen Stadtraum vorhanden sein konnte. Das Verhältnis zwischen Zuschauer und Akteur, zwischen Publikumsraum und Bühnenraum wurde so mit Hilfe von Inhalten geschaffen, mit denen der damalige Mensch und die Gesellschaft vertraut waren. Es zeigt sich, der Begriff vom Schnitt durch den Raum eröffnet verschiedene Fragen, die neben Wahrnehmungs- und Raumkonzepten auch in enger Anlehnung an die Kunstform Theater und auch den Theaterbau diskutiert werden können. Dabei zeigt sich, dass der Schnitt durch den Raum erst in Ablösung von herkömmlichen Raum- und Wahrnehmungskonzepten zu einem Begriff wird, mit dem neue Perspektiven auf ästhetische Erfahrung und Theater möglich werden (vgl. Abschnitt 2), dass er sich im Theaterbau materialisiert (vgl. Abschnitt 3) und dass er auch Teil der normalen Lebenswelt ist und jenseits von Trennung und Abgrenzung, jenseits eines Theaterbaus und der Kunstform Theater vorzufinden ist (vgl. Abschnitt 4). Gleichzeitig haben wir es aber auch mit einer Haltung zu tun, die mit Konventionen, Wahrnehmungskonzepten oder auch Raumvorstellungen zusammenhängt. Jedes Zeitalter hat hier ihre eigenen Konzepte und Vorstellungen. Exemplarisch wird dies im zweiten Teil dieser Arbeit an drei Szenarien vorgestellt: An der Inszenierung zentralperspektivischer Gemälde (vgl. Abschnitt 6), dem Blick Galileo Galileis durch das Fernrohr (vgl. Abschnitt 7) und der Bewegtheit des 19. Jahrhunderts (vgl. Abschnitt 8).
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2. Zwischen Zeichen-Wahrnehmung und atmosphärischer Wahrnehmung
2.1 WAHRNEHMUNGSKONZEP TE Schon das Wort Wahrnehmung beinhaltet einen Aspekt, der symptomatisch für den Alltagsgebrauch des Begriffs ist: das Nehmen. Mit Nehmen verbindet sich der Gedanke, Wahrnehmung sei eine allein vom Menschen ausgehende Handlung. Eine Handlung, bei der etwas an sich genommen und verinnerlicht wird, was aber genauso gut auch an seinem Ort hätte belassen werden können. Auch der Gedanke man könne das Wahrgenommene aus seinem Seinsbereich herauslösen und so seiner habhaft werden, verbindet sich mit diesem Nehmen. Wahrnehmung wird oft als einseitiges Phänomen verstanden, als wäre die äußere Welt zwar wahrnehmbar, nicht aber Teil der Wahrnehmung selbst, weil sie ja ganz dem Wahrnehmenden überantwortet wird. Diese zugegeben überspitzt skizzierte Konzeption von Wahrnehmung soll im Folgenden genauer erläutert und mit einer konkurrierenden Konzeption kontrastiert werden. Im Zentrum des ersten Wahrnehmungskonzepts steht ein menschlicher Prozess, bei dem ein Ich etwas Äußeres, von sich Getrenntes über die Reizung der Sinne erfährt, und so begreifend an sich nehmen kann. Konkurrierend fokussiert die zweite Auffassung, so sei vorausblickend angedeutet, auf ein Zwischen: Ich bin als Wahrnehmender nicht nur bei mir, sondern immer auch im Raum meiner Anwesenheit. Ich bin also Teil dessen, was ich wahrnehme, ebenso ist das, was ich wahrnehme, immer auch Teil von mir.
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Wahrnehmung und die angedeutete Differenz sind Grundlage für die Auseinandersetzung der nächsten Abschnitte. Diese Arbeit untersucht den Schnitt durch den Raum als spezifische Ausdifferenzierung der Wahrnehmung. Ein Fokus dabei liegt auf dem Theaterraum und jener Ausdifferenzierung von Wahrnehmung, die für Theater grundlegend ist, gleichzeitig aber auch im Alltag vorkommt. Anders als der Begriff Schnitt vermuten lässt, wird dieser losgelöst von der klassischen Subjekt-Objekt-Differenz, den mit ihr einhergehenden Raumkonzepten und an das Subjekt geknüpfte Wahrnehmungskonzepte. Der Schnitt soll vielmehr als Weise einer Ausdifferenzierung behandelt werden, die Teil einer jeden Wahrnehmung ist und im Rahmen der Kunstform Theater, aber auch in so genannten performativen oder theatralen Situationen und Ereignissen zu einer besonderen Geltung gelangt. Um diese Differenzen nicht nur innerhalb theoretischer Auseinandersetzungen um Theater selbst zu verorten, sondern auf Wahrnehmungs- und Raumkonzepten fundieren zu können, wird die Gegenüberstellung zweier grundlegender Wahrnehmungskonzepte benötigt: dem der Zeichen-Wahrnehmung und der atmosphärischen Wahrnehmung. Im Konzept der Zeichen-Wahrnehmung wird Wahrnehmung als Prozess beschrieben, an dessen Anfang eine Sinnesreizung steht, deren Information begrifflich erfasst und so erkannt wird. Dafür kann man sich auch auf Erika Fischer-Lichte beziehen, die in ihrem Buch Ästhetische Erfahrung (Fischer-Lichte 2001) diesen Prozess mit Verweis auf psychologische Wahrnehmungstheorien erläutert. Sie unterscheidet zwischen einer physiologischen Reaktion und einem kognitiven Prozess des Wahrnehmens. Als physiologische Reaktion bezeichnet sie das sinnliche Erfahren, das sich „auf die spezifischen materiellen bzw. sinnlichen Qualitäten des Objekts“ (ebd.: 313) richtet. Bzgl. der darauf aufbauenden kognitiven Prozesse wird davon ausgegangen, dass man das sinnlich erfahrene Objekt als ein Bestimmtes wahrnimmt, „indem bzw. weil ich ihm eine bestimmte begriffliche Bedeutung zuspreche“ (ebd.: 312). Wahrnehmen geht hier einher mit dem begrifflichen Erfassen von Etwas. Dieses prozessorientierte und an das Subjekt gebundene Modell ist zentral für das herkömmliche Wahrnehmungskonzept und lässt sich an einem Beispiel veranschaulichen: Musik, ein Windhauch und ein Mann, der sich bewegt. Auf Grund von Sinnesreizungen konzentriert sich meine Wahrnehmung auf Qualitäten von Objekten: Meine Augen verfolgen die
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Bewegung eines Körpers. Mein Ohr empfängt Klang und meine Haut spürt einen Windhauch. Es geht hier also um ein sinnliches Erfahren von Etwas, bei dem ich mich auf meine Sinnesorgane berufe. Diese Reizungen können erfasst und in der Regel begrifflich benannt werden: Der Mann, der sich zur Musik bewegt und dabei einen Windhauch erzeugt, den ich spüre, ist ein Tänzer. Mein Wissen fließt in den kognitiven Prozess des Erfassens ein. Mir ist es möglich, das so Erfahrene einzuordnen und Kontexte und Zusammenhänge herzustellen. Mit diesem Prozess geht immer auch ein Suchen und Finden von Korrespondenzen einher. Anteile des Erfahrenen lassen sich problemlos einordnen und lesen, andere hingegen bleiben unbekannt und entziehen sich meiner begrifflichen Auffassungsgabe. Mit diesem zweiten Schritt innerhalb des Wahrnehmungsprozesses ist immer auch ein Abrücken vom Wahrnehmungsgegenstand verbunden. Das kann sich physisch ereignen, als körperliches Abrücken, um einen besseren Überblick zu haben oder auch als Abstrahierungsprozess. Denn meine Distanzierung von Gegenständen, meine Fähigkeit abstrahieren zu können, erleichtert es mir, vermeintlich frei von der eigenen emotionalen Befangenheit, Zusammenhänge herzustellen und Dinge zu benennen. Dem Akt der Wahrnehmung werden so zwei Pole zugesprochen, nämlich der des abstrakt wahrnehmenden Subjekts und der des wahrgenommenen Objekts. Beide Teile treten in ein polares Verhältnis zueinander, in dem jedes für sich steht und dennoch auf den jeweils anderen hindeutet. Wahrnehmen baut hier also auf der Trennung zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrnehmungsgegenstand auf und ist gleichzeitig für die Verbindung zwischen beiden verantwortlich. Wahrnehmung baut aber auch auf der Voraussetzung auf, es mit einem erfassbaren Etwas zu tun zu haben. In dem benannten Beispiel kann das wahrnehmende Ich als Subjekt einen Mann, Musik oder einen Windhauch als Objekte ausmachen, die erst erfahren, dann benannt und kontextualisiert werden. Diese Konzeption setzt voraus, dass Wahrnehmung sich auf dingliche Gegenstände bezieht und dass der Wahrnehmende es mit etwas Greifbarem zu tun hat, das er mit seinen Sinnen erfassen und so auch kognitiv zuordnen kann. Schon das eben angeführte Beispiel macht aber deutlich, dass Gegenstände der Wahrnehmung durchaus nicht ganz einheitliche Konsistenzen haben. Sowohl die Musik, als auch der Windhauch sind nicht rein dinglich und somit nicht
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ausschließlich Objekt. Physikalisch gesehen handelt es sich zwar jeweils um materielle Formen, die etwas Objektives aufweisen. Die Musik und der Windhauch werden durch Schwingung und Bewegung der Luft erzeugt. Auch ihre Quellen lassen sich bestimmen. Instrumente und Musiker erzeugen Klang, der Tänzer erzeugt durch seine Bewegung Formen von Luftdruck, der sich als Windhauch bemerkbar macht. Als objektorientierte Anwesenheit lässt sich vor allem Musik aber auch als kulturell geformte Klangfolge ausmachen, die dadurch begrifflich eingefasst wird. Dennoch sind beide Phänomene auch freischwebend im Raum anwesend. Musik und Klang durchströmen den Raum, in dem man anwesend ist und werden darin ortlos und dingfrei erfahren. Gernot Böhme bezeichnet Phänomene wie Musik oder den Windhauch als Halbdinge. Halbdinge sind einerseits ausmachbare Dinge, denen aber etwas fehlt, zum Beispiel Substantialität (vgl. Böhme 2001a: 62). Das heißt dann aber auch, dass sie „alles was sie sind nur in reiner Aktualität“ (ebd.) sind. Die Besonderheit von Halbdingen ist, dass sie trotz einer klaren Zuordnung in Bezug auf eine Quelle oder einen Verursacher immer auch auf einer anderen Ebene ihres Seins unbestimmt sind. Zum Ausdruck kommt das vor allem, wenn nicht mehr eindeutig festgestellt werden kann, mit welchem menschlichen Sinn sie eigentlich wahrgenommen werden. Für Musik scheint es erst einmal einfach zu sein, denn hier ist das Ohr zuständig. Doch gerade sehr tiefe Töne können auch körperlich gespürt werden, versetzen Oberflächen in Schwingung und bringen Hohlkörper zum Klingen, sie lassen den Bauch mithören. Für Wind kommen andere Erfahrungen ins Spiel. Dieser kann bei besonderer Stärke Enge erzeugen und bedrohlich wirken. Die leichte Brise auf dem offenen Meer erzeugt hingegen Weite. Diese Unklarheit verschärft sich noch einmal, wenn man den Bereich der Halbdinge verlässt und sich solchen Wahrnehmungsgegenständen zuwendet, die auf kein Objekt mehr bezogen werden können und nicht körperlich im Raum anwesend sind. Auch solche Aspekte werden im allgemeinen Sprachgebrauch als wahrnehmbar betrachtet und können dennoch nicht im herkömmlichen Sinne wahrgenommen werden. Dies betrifft insbesondere den gestimmten Raum, die Atmosphäre. Aussagen, wie: „Es herrschte eine angespannte Atmosphäre“ oder „Die Stimmung ist heiter“, zeugen von diesen, auch wenn
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Angespanntheit oder Heiterkeit kaum als körperliche Gegenstände direkt auszumachen sind oder eindeutig ist, mit welchem Sinn man diese eigentlich wahrnimmt. Auffällig ist auch, dass nicht ganz klar ist, wer oder was eigentlich angespannt oder heiter ist, entweder ist es die Atmosphäre im Raum oder auch ich selbst kann angespannt oder heiter sein. Anders als beim Windhauch oder beim tanzenden Mann sind Atmosphären und Stimmungen immer Teil eines Raums und dabei sowohl Teil des Wahrnehmenden als auch des Wahrnehmungsgegenstandes. Im Hinblick auf das herkömmliche Wahrnehmungskonzept kommen daher erste Fragen auf: Wie können Atmosphären, können Stimmungen in Räumen sinnlich erfasst werden? Welcher Sinn ist es, der (physiologisch) angeregt wird, wenn ich einer heiteren Atmosphäre ausgesetzt bin, wenn ich sie spüre? Was ist hier heiter, der Raum in dem ich mich befinde oder bin ich es selbst, der heiter ist oder ist es die Essenz aus beiden? Atmosphären sind unbestimmt in Bezug auf einen spezifischen Körper als Quelle. Sie sind angelehnt an Hermann Schmitz „räumlich randlos, ergossen, dabei ortlos, d.h. nicht lokalisierbar, sie sind ergreifende Gefühlsmächte, räumliche Träger von Stimmungen“ (Böhme 1995: 29). Die heiter gestimmte Atmosphäre lässt sich weder mir, noch einem Objekt eindeutig zuschreiben. Sie ist immer Teil von beiden und zwischen beiden. Des Weiteren lässt sie sich auch nicht eindeutig einem Sinn zuordnen, von dem sie physiologisch erfahren wird. Es ist nicht ganz klar, ob es überhaupt einen physiologischen Sinnesreiz zum Beispiel für Heiterkeit gibt. Sie wird gespürt, nicht aber eindeutig physiologisch erfahren. Deutlich wird, dass die herkömmliche Wahrnehmungskonzeption hier an gewisse Grenzen stößt. Atmosphäre als Begriff stellt sich ihr entgegen und erfordert entweder die Erweiterung vorhandener oder die Entwicklung neuer Ansätze. Den Weg der Erweiterung vorhandener Konzepte beschreitet Sabine Schouten in ihrem Buch Sinnliches Spüren (Schouten 2007), in dem sie Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater thematisiert. Sie äußert die These, dass atmosphärisches Wahrnehmen dem „‚Zwischen‘ der Sinne“ (ebd.: 50) entspringt. In Anlehnung an neurobiologische und psychologische Ansätze entwickelt sie das Gespür als Einzelsinn atmosphärischen Wahrnehmens.
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Nicht aber als sechsten Sinn will sie es verstanden wissen, sondern als zusätzliche Perzeption, die sich neben dem generellen Vermögen sinnlicher Integration auch mentalen Vorgängen verdankt. Auch wenn es kein Organ besitzt, basiert es genau wie die anderen fünf Sinne auf einer eigenen modalen Form und ihrem Korrelat: dem leiblich-affektiven Spüren der Stimmung im atmosphärischen Raum. (Ebd.: 82)
Sinnliches Spüren wird so ganz dem Subjekt überantwortet, das Atmosphären als äußere Zustände nicht nur zu spüren vermag, sondern auf Grund seiner mentalen Kompetenz sie auch einordnen, abrufen oder bewusst erfahren kann. Schouten untermauert im Verlauf ihrer Arbeit diese Trennung vom wahrnehmenden Subjekt und dem atmosphärischen Raum als Objekt. Dabei wird der Begriff der Stimmung ganz auf das Subjekt übertragen und der Begriff der Atmosphären als Zustand eines dem Subjekt äußeren Raums beschrieben, den dieses erfährt (vgl. ebd.: 81). Mit ihrem Ansatz bleibt Schouten im Großen und Ganzen dem herkömmlichen Wahrnehmungskonzept treu. Die Wahrnehmung des Subjekts unterliegt weiterhin einem Prozess, der zwischen Gespür als spezifische Weise atmosphärischen Spürens einerseits und mentalen Vorgängen andererseits verläuft. Wahrnehmung heißt dann nicht nur von einem klaren Gegenstand, einer Atmosphäre, sondern vor allem auch von einem abstrakten Subjekt auszugehen, das sich von Atmosphären absetzt und sie in Kontext zu einem subjektiven Wissen und einer Assoziation setzt. Schouten als Theaterwissenschaftlerin verfolgt das Ziel, einen Ansatz zu entwickeln, der es ermöglicht, theatrale Atmosphären und ihr Wirken mit den Mitteln der Aufführungsanalyse beschreiben zu können (vgl. ebd.: 109). Dabei führt sie atmosphärisches Wahrnehmen an die Semiotik heran. Indem sie Atmosphären der Seite des Wahrnehmungsgegenstandes zuordnet, kann sie zwar ihre Wahrnehmung beschreiben, allerdings wird dabei die Atmosphäre der Zeichen-Wahrnehmung und den Methoden dieser untergeordnet. Wahrnehmen bleibt ein abgerücktes Betrachten, das von einem klar auszumachenden Gegenstand ausgeht. Den klassischen fünf Sinnen wird das Gespür als Weise affektiver Einfühlung vorangestellt (vgl. ebd.: 193ff).
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Schouten übergeht mit ihrem Ansatz grundlegende philosophische Ansätze von Elisabeth Ströker (vgl. Ströker 1977), Hermann Schmitz (vgl. hier vor allem Schmitz 1967, Schmitz 1969) und Gernot Böhme (vgl. Böhme 2001a und Böhme 1995). Zwar übernimmt sie Begriffe der Autoren und orientiert sich an ihnen, setzt sich aber in grundlegenden Aspekten von ihnen ab bzw. über sie hinweg. Nicht immer wird dabei deutlich, ob ihre Kritik allein den anderen Zielen geschuldet ist oder einer divergierenden Sicht auf die Konzepte. Deutlich wird auf jeden Fall, dass ihr Ansatz sich weit von dem Böhmes entfernt, wenn es um die Anerkennung von Atmosphären als eigenständige Seinsweisen geht, die nicht nur räumlich randlos und ortlos sind, sondern von Böhme als erste Wahrnehmungswirklichkeit beschrieben werden, aus der sich erst Subjekt und Objekt ausdifferenziert (vgl. Böhme 2001a, 42). Böhme setzt atmosphärische Wahrnehmung vor jede ZeichenWahrnehmung. „Vor“ ist weder räumlich noch zeitlich zu verstehen, sondern als unterliegende Schicht, in der Atmosphäre als eigenständig Seiendes, als Relation zwischen Subjekt und Objekt (Böhme 2001a: 54) aufgefasst wird. Für oben angeführtes Beispiel heißt das, dass ein Gesamtsetting, in das ich hineingerate, heiter oder angespannt sein kann. Warum es heiter ist, welche Aspekte für die Heiterkeit sorgen, spielt erst einmal keine Rolle. Wichtig ist, dass diese Heiterkeit den Raum meiner Anwesenheit erfüllt und mich affektiv betrifft, weil ich sie spüre. Das heißt aber, dass Böhmes Darlegungen dort enden, wo Schouten erst ansetzt, nämlich bei der Entkopplung von Subjekt und Objekt. Genau hier unterscheidet sich Schouten von Böhme substantiell, indem sie ihren Atmosphäre-Begriff herkömmlichen Wahrnehmungskonzepten unterordnet, sie als Teil von ihnen entwickelt, um sie dort zu integrieren. So setzt sie an einem Wahrnehmungszustand an, den Böhme im Rahmen seiner Auseinandersetzung gar nicht behandelt. Damit entfernen wir uns von den bisher im Vordergrund stehenden herkömmlichen Ansätzen und gehen über zu einer Einführung in das von Böhme vorgestellte Wahrnehmungskonzept, das auf der neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz aufbaut. Schmitz orientiert sich nicht an vorhandenen Konzepten, sondern entwickelt eine Alternative, die aber nicht als Gegenmodell zu verstehen ist. Vielmehr handelt es sich um ein vorgelagertes Modell,
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bei dem Atmosphäre als erste Wahrnehmungswirklichkeit im Zentrum der Betrachtung steht. Von Atmosphäre als erster Wahrnehmungswirklichkeit auszugehen, heißt „ergreifende Gefühlsmächte“ und „räumliche Träger von Stimmungen“ und ihr Erfahren nicht mehr als einen Teilaspekt herkömmlicher Wahrnehmungskonzepte anzunehmen, sondern sie als eigenständige diesen vorzulagern. Ich kann also Dinge nicht nur sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen und im Sinne von Schouten spüren, sie kognitiv begreifen und in meine subjektive Kontexte und Prägungen integrieren. Unterhalb dieser physiologisch kognitiven Wahrnehmung erfahre ich Atmosphären auch als unbestimmte räumliche Tönungen, die mich affektiv berühren, zu denen ich aber keinerlei Distanz einnehme, weil ich vollständig in sie involviert bin. Diesen grundsätzlichen Zustand erfahre ich als eigenständige Wahrnehmungsschicht, die sich auf Grund meiner leiblichen Anwesenheit im Raum kontinuierlich verändert. Die erste Wahrnehmungswirklichkeit ist die Atmosphäre, die mich berührt und mich affektiv betrifft. Das heißt, ich befinde mich grundsätzlich in einer Atmosphäre, bin von ihr umgeben, sie tingiert mich, wie auch ich selber an ihr beteiligt bin und sie so mit forme. Es besteht ein Kopplungszustand zwischen mir und der Atmosphäre, worin die Atmosphäre die Relation selbst ist (vgl. Böhme 2001a: 54). Sie ist das Zwischen, zwischen mir als im Raum leiblich Anwesenden und dem Raum meiner leiblichen Anwesenheit. Dieses Zwischen betrifft mich gleichermaßen, wie es den Raum als Raum meiner Befindlichkeit betrifft, es kann weder dem einen Pol noch dem anderen alleine zugeordnet werden. Stattdessen sind beide Pole immer gleichermaßen in diesem Zwischen enthalten. Auf der Grundlage einer solchen Wahrnehmungskonzeption wird die von Schouten beantwortete Frage nach dem Sinn oder spezifischer dem Sinnesorgan (vgl. Schouten 2007: 47ff), das für sinnliches Spüren und das Erfassen erster Wahrnehmungswirklichkeiten verantwortlich ist, überflüssig. Schoutens Ansatz setzt bei der Entkopplung an, geht von einer Trennung vom wahrnehmenden Subjekt und äußeren Gegenstand aus. Böhme aber interessiert sich – von der Phänomenologie kommend – für das in der Wahrnehmung gegebene (vgl. Böhme 2001a: 40), für das, was vor dieser Trennung und somit auch vor einer klaren Zuordnung auf einen ausmachbaren Gegenstand und vor einem kognitiv begrifflich erfassenden Subjekt liegt.
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Damit ist eine wesentliche Schwierigkeit im Umgang mit Atmosphäre als erste Wahrnehmungswirklichkeit angesprochen. Sie ist affektive Tönung, die als Gegenstand weder dinglich, noch klar benennbar ist, noch kann ihre Rezeption in der herkömmlichen Sinneslehre klar einem Wahrnehmungsorgan zugeordnet werden. Dies erschwert ein Reden über Atmosphäre als Gegenstand und ein Reden über Wahrnehmen von Atmosphäre. Will man über etwas reden, müssen Dinge benannt und sprachlich aus ihrer Unbestimmtheit herausgelöst werden. Für Wahrnehmung im Besonderen heißt das, das von einer Polarität ausgegangen werden muss, die eine Differenz zwischen einem Ich und einem Gegenstand macht. Diese einerseits angenommene Indifferenz einer ersten Wahrnehmungswirklichkeit und die notwendige Ausdifferenzierung mag dafür verantwortlich sein, warum ein Reden über Atmosphäre gerne mit dem Verdacht belegt wird, hochgradig subjektiv zu sein. Diese Schwierigkeit steht vor allem in Verbindung mit dem herkömmlichen Wahrnehmungskonzept, weil im Ansatz atmosphärischer Wahrnehmung der herkömmliche Wahrnehmungsprozess von explizitem Sinnesreiz und kognitiver Erfassung nicht mehr trägt. Die Sinnesreizung als Weise des Spürens einer Atmosphäre geht nicht automatisch in ein kognitives Erfassen über, denn dieses hieße ja im Wahrnehmen selbst den Wahrnehmenden vom Wahrgenommenen abzulösen. Atmosphären aber sind weder wie ein Mann den man sieht, körperliche Gegenstände, noch sind sie – wie dieser – von mir als Sehendem klar abgetrennt. In meiner affektiven Betroffenheit werde ich gleichermaßen von ihnen tingiert und auch ich habe Teil an ihrer Tönung. Ein Reden über Atmosphäre spielt sich in einem Spannungsfeld ab zwischen Unbestimmtheit und Involviertheit einerseits und der Ausdifferenzierung zwischen einem Ich-Pol und einem Gegenstands-Pol andererseits, der insbesondere dem Zweck einer begrifflichen Erfassung entgegenkommt. Diese Ausdifferenzierung muss folglich auch in der Wahrnehmung selbst gegeben sein. Gleichwohl darf diese Differenz nicht wie bei Schouten von der Trennung dieser zwei Pole als Voraussetzung ausgehen, sondern sollte umgekehrt als behutsame Ausdifferenzierung dieser Kopplung gedacht werden. Böhme zieht zur Verdeutlichung gerne den Begriff der Befindlichkeit in seinem doppelten Wortsinn heran: Es geht bei atmosphärischer Wahrnehmung sowohl um meine Befindlichkeit im Sinne meiner Stimmung, als auch um ein sich in einer Stimmung
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befinden (vgl. Böhme 2001a: 47 oder Böhme 2001b: 96). Nicht nur ich bin heiter, sondern auch die Atmosphäre, in der ich mich befinde, ist heiter. Dabei lassen sich ein Ich-Pol und ein Gegenstand-Pol ausdifferenzieren. In meiner affektiven Betroffenheit erfahre ich mich in meinem Da-Sein und dem wie meine Stimmung ist und in welcher Stimmung ich mich befinde. Mit dieser Ich-Erfahrung ist auch immer ein von mir differenter Pol verbunden. Es bildet sich eine Atmosphäre als Gegenstand heraus, die an der Erzeugung einer bestimmten Stimmung und auf mich bezogenen affektiven Betroffenheit beteiligt ist: Der frische Frühlingsmorgen, der mich heiter stimmt. Zusammenfassend beschreibt Böhme atmosphärisches Spüren von Anwesenheit als das grundlegende Phänomen im Sinne einer ersten Wahrnehmungswirklichkeit. Wahrnehmung ist qua Spüren eine Erfahrung davon, daß ich selbst da bin und wie ich mich, wo ich bin, befinde. Aus diesem Spüren können sich schrittweise spezifische Sinneswahrnehmungen ausdifferenzieren und schließlich ein Ichpol und ein Wahrnehmungsobjekt. Was gespürt wird, ist primär etwas Atmosphärisches. Es ist als solches nach Sinnesqualitäten nicht ausdifferenziert, kann sich aber den Sinnen entsprechend spezifizieren. Dagegen hat es immer, wie wir sagen können, eine affektive Tönung, d.h. ist bedrohlich, erheiternd, bedrückend, verlockend usw. Atmosphäre als primärer Wahrnehmungsgegenstand kann sich ausdifferenzieren als Anwesenheit von etwas. Je mehr die Wahrnehmung diesem Etwas nachgeht, desto mehr distanziert sie sich von dem Atmosphärischen bzw. dieses zieht sich zusammen auf einen Wahrnehmungsgegenstand qua Ding. Diesem Ding können dann Eigenschaften zugesprochen werden, die dafür verantwortlich sind, daß es eine gewisse Ausstrahlung hat, also in dieser oder jener Weise atmosphärisch erfahren werden kann. (Böhme 2001a: 42)
Diese stark kondensierte Einführung in atmosphärische Wahrnehmung soll mit einem Hinweis auf Böhmes Ästhetik abgeschlossen werden, die genau auf der hier vorgestellten Ausdifferenzierung zwischen einem Ich-Pol und einem Gegenstands-Pol und der zentralen Differenz von Wirklichkeit und Realität aufbaut.
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Wirklichkeit macht Böhme zum zentralen Begriff des Wahrgenommenen und stellt sie dem sonst in der Ästhetik üblichen Begriff des Erscheinens entgegen. Denn herkömmliche Ansätze gehen von der „Erscheinung von Etwas“ aus, „im Gegensatz zum eigentlichen Seienden“ (ebd.: 56). Die Erscheinung ist eine Ablösung von einem realen Gegenstand, bleibt aber immer an ihn gekoppelt. Wirklich hingegen ist „primär das Gegenwärtige, die spürbare Anwesenheit“ (ebd.). Das Wirkliche ist aus dieser Sicht von einem dinglichen Gegenstand abgelöst und erfüllt freischwebend den Raum. Es ist die Atmosphäre, in die ich involviert bin und die ich spüre. Real hingegen ist das „was dinglich dahinter stehen mag“ (ebd.: 57). Hierbei kann es um ein einzelnes Bild gehen, das eine spezifische Wirklichkeit erzeugt, einen Darsteller mit seiner als Wirklichkeit erfahrenen Ausstrahlung. Gleichermaßen kann es um ein Gesamtsetting gehen, eine Szene, deren Wirklichkeit eine spezifische Atmosphäre erzeugt. Vor allem aber steht im Zentrum von Böhmes Betrachtung, dass jede Wahrnehmung grundsätzlich ästhetisch sein kann, ganz gleich ob es sich um Alltagserfahrungen handelt oder um die Rezeption von Kunstwerken. Auf dieser Grundlage setzt Böhmes Kritik an der herkömmlichen Ästhetik an. Denn sie ist bisher nicht nur stark auf Kunst, Semiotik und die Beurteilung von Kunst ausgerichtet, sondern auch auf ein Erscheinen von Etwas. Aufs Ganze gesehen ist die bisherige Ästhetik nicht Aisthetik, d.h. gerade die Sinnlichkeit kommt in ihr zu kurz. Sie ist nicht eine Theorie sinnlicher Erfahrung, sondern der intellektuellen Beurteilung. Das bedeutet insbesondere, daß die menschliche Leiblichkeit in ihr keinen Platz hat. (Ebd.: 31)
Im Rückgriff auf Tendenzen einer Ästhetisierung des Realen (ebd.: 19ff) als „Inszenierung von allem, womit und worin wir leben“ (ebd.: 20), geht es ihm um die Berücksichtigung der leiblichen Anwesenheit und der Präsenzerfahrung. Auch strebt er eine gleichberechtigte Anerkennung aller „Produkte ästhetischer Arbeit [an], von der Kosmetik bis zum Bühnenbild, von der Werbung über das Design bis zur so genannten wahren Kunst“ (Böhme 1995: 41). Doch letztlich geht sein Ansatz noch viel weiter. Als einen Grundzug der Natur macht er ein ästhetisches Bedürfnis des Menschen aus, bei
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dem es um ein „Sich-Zeigen, Aus-sich-Heraustreten, Scheinen“ (ebd.: 41) geht. Ästhetik ist somit Teil unserer alltäglichen Praxis und in ihr nimmt Atmosphäre als erste Wahrnehmungswirklichkeit eine zentrale Rolle ein. Böhmes neue Ästhetik baut auf der eben beschriebenen Ausdifferenzierung atmosphärischen Wahrnehmens auf. Denn die neue Ästhetik kann als allgemeine Theorie ästhetischer Arbeit, im Sinne eines Herstellens von Atmosphären auf Seiten der Produzenten, beschrieben werden. Gleichzeitig ist sie auf Seite der Rezipienten eine Theorie der Wahrnehmung im unverkürzten Sinne. Dabei wird Wahrnehmung verstanden als die Erfahrung der Präsenz von Menschen, Gegenständen und Umgebungen. (Ebd.: 25)
Zusammenfassend sei festgehalten: Atmosphärische Wahrnehmung, wie Böhme sie einführt und wie sie im Rahmen dieser Arbeit verstanden werden soll, liegt vor jeder Zeichen-Wahrnehmung. Sie ist die erste Wahrnehmungswirklichkeit und damit affektiv spürbar, lange bevor ich dazu komme, eine Atmosphäre zu bewerten (vgl. Böhme 2001a: 42). Trotz dieses Kopplungszustandes von Subjekt und Objekt und der leiblichen Involviertheit in Atmosphären zeichnet sich ab, dass sich im direkten Erleben eine Differenz zwischen einem Ich-Pol und einem Gegenstands-Pol ausmachen lässt. Auch in Bezug auf ein Reden über Atmosphären erweist sich diese Möglichkeit als Vorteil. Denn dadurch kann zu Atmosphären eine unbetroffene Position eingenommen werden, trotz der Notwendigkeit in der Atmosphäre anwesend gewesen zu sein. Dies ermöglicht, über Atmosphären reden zu können und über das Ich und den Gegenstand. Als Teil dieser Differenz ist für die Ästhetik Böhmes die Differenz zwischen Wirklichkeit und Realität zentral. Die Atmosphären sind deshalb für die Ästhetik die erste und die entscheidende Wirklichkeit. Sie sind die spürbare Ko-Präsenz von Subjekt und Objekt, ihre aktuelle Einheit, aus der sich ihr unterschiedenes Sein erst durch Analyse gewinnen lässt. (Ebd.: 57)
Am anderen Ende der eben geführten Betrachtung stand der Ansatz für Zeichen-Wahrnehmung. Dieser ist im Gegensatz zu dem der atmosphärischen Wahrnehmung allgemein anerkannt und
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vielfältig erschlossen. Nicht verwunderlich ist so, dass Ansätze zur atmosphärischen Wahrnehmung wie der von Schouten sich der methodischen Grundlegung der Zeichen-Wahrnehmung unterordnen. Zeichen-Wahrnehmung zeichnet sich vor allem durch eine klare Ausdifferenzierung von Subjekt und Objekt aus. Wahrnehmen wird hier von Seiten des Objektes als Präsenz von Etwas angeregt und auf Seiten des Subjekts mit den fünf Sinnen und dem Gespür aufgenommen und kognitiv mental erfasst und eingeordnet. Wie deutlich wird, sind – zumindest, wenn man sich auf Böhme beruft – atmosphärische und Zeichen-Wahrnehmung methodisch kaum vereinbar. Dennoch muss betont werden, dass sie beide in der normalen Wahrnehmung immer gleichzeitig vorkommen. Sich auf die eine oder andere Wahrnehmung ausschließlich zu beziehen wäre falsch. Gerade weil atmosphärische Wahrnehmung vor der Zeichen-Wahrnehmung ansetzt, wäre es fatal, sie alleine oder gar nicht zu berücksichtigen. In den folgenden Abschnitten wird es darum gehen, die Differenz von atmosphärischer- und Zeichen-Wahrnehmung an Hand eines literarischen Beispiels zu veranschaulichen. Als Vorlage dient hierbei die Erzählung Der Mann der Menge (Poe 1922) von Edgar Allan Poe. Es geht aber nicht darum, eine neue Lesart von Poes Text vorzustellen, sondern vielmehr darum, die in dem Text implizit thematisierte und anschaulich entfaltete Differenz von Zeichen- und atmosphärischer Wahrnehmung herauszuarbeiten. Dazu werden die im Text vorgestellten Personen und Ereignisse nicht als Fiktionen behandelt, sondern als erlebbare Erfahrungen. Der Text dient so als Impulsgeber und eignet sich ebenso, mit an ihm gewonnenen und anschaulichen Ergebnissen, an Theater und theaterwissenschaftliche Fragestellungen heranzutreten. Da im Folgenden immer wieder Bezug auf Poes Erzählung genommen wird, sollen die relevanten Auszüge einer deutschen Übersetzung zitiert werden.
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2. 2.1 Der Mann der Menge (Edgar Allan Poe) „Es war nicht schlecht, dies ‚Es läßt sich nicht lesen‘, was man von einem gewissen deutschen Buche sagte. Es gibt Geheimnisse, die nicht gestatten, daß man sie ausspricht. [...] Vor nicht allzu langer Zeit saß ich in der Abenddämmerung an einem großen Bogenfenster des D...schen Kaffeehauses in London. Ich war einige Monate krank gewesen, nun aber auf dem Wege der Besserung [...] es war mir gewissermaßen, als blicke mein geistiges Auge zum erstenmal frei und unverschleiert [...] und der angespannte Intellekt überragt [...] seinen gewöhnlichen Zustand [...]. Ich nahm an allem ein stilles, doch eindringliches Interesse [und hatte] mich den Nachmittag über damit unterhalten, [...] die anderen Gäste zu beobachten oder durch die rauchgetrübten Scheiben auf die Straße zu schauen. Diese Straße, eine der Hauptverkehrsadern der Stadt, war schon den ganzen Tag über sehr belebt gewesen; aber mit zunehmender Dämmerung wuchs die Menge der Passanten [...], und als die Laternen angezündet wurden, wogte unaufhörlich nach beiden Richtungen ein dichter Menschenstrom vorüber. Bald kümmerte ich mich gar nicht mehr um das, was drinnen vorging, sondern vertiefte mich ganz in die Betrachtung des Straßengewoges. Meine Beobachtungen waren zunächst ganz allgemeiner Art. Ich sah die Passanten nur als Gruppen und stellte mir ihre Beziehungen zueinander vor. Bald jedoch ging ich zu Einzelheiten über und prüfte mit eingehendem Interesse die zahllosen Verschiedenheiten in Gestalt, Kleidung, Haltung und Mienenspiel. Die meisten der Vorübergehenden hatten ein zufriedenes Aussehen wie Geschäftsleute [...]. Ihre Kleidung entsprach der, die man nicht ohne Ironie die ‚anständige‘ genannt hat. Es waren unzweifelhaft Adelige, Kaufleute, Anwälte, Börsenleute – Patrizier und Allerweltsleute –, müßige und tätige Menschen, die ihre eigenen Wege gingen und selbständig Geschäfte machten. [...] Die Klasse der Angestellten war leicht zu überblicken [...]. Da waren die jüngeren Leute [...] mit enganliegenden Röcken, glänzenden Schuhen, pomadisiertem Haar und hochnäsigem Ausdruck. [...] Sie hatten die abgelegten Manieren der ersten Gesellschaftskreise, und das, glaube ich, ist am bezeichnendsten für diese Gruppe. Die Gruppe der höheren
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Angestellten solider Firmen war ebensowenig zu verkennen. [...] Sie hatten alle schon einen Ansatz von Glatze, und ihr rechtes Ohr, das schon so viele Jahre die Feder getragen, hatte die komische Gewohnheit, weit abzustehen. [...] Ferner gab es viele entschlossen und kühn aussehende Gestalten, die ich mühelos als zur Zunft der Taschendiebe gehörig erkannte, von der alle Großstädte heimgesucht werden. [...] Die Spieler [...] waren noch leichter herauszufinden. Sie trugen die verschiedenste Kleidung [...]. Sie alle zeichneten sich durch eine gewisse dunkle Gesichtsfarbe, ein mattes Auge und bleiche zusammengekniffene Lippen aus [...]; sie sprachen stets in gesucht leisem Ton und hielten den Daumen rechtwinklig zur Hand weit abgestreckt. [...] Je mehr die Nacht hereinbrach, desto mehr steigerte sich auch mein Interesse an der Szene, denn nicht nur änderte sich der allgemeine Charakter der Dinge [...], sondern es hatten jetzt auch die Strahlen der Gaslaternen [...] die Herrschaft erlangt und warfen über alles ein flackerndes, glänzendes Licht. Alles war dunkel und dennoch strahlend [...]. Die seltsamen Lichtwirkungen fesselten meine Blicke an einzelne Gesichter; und obgleich die Schnelligkeit, mit der die Menge da draußen in Licht und wieder in Schatten trat [...] so schien es doch, als ob ich infolge meiner besonderen Geistesverfassung imstande sei, in einem Augenblick die Geschichte langer Jahre zu lesen. Die Stirn an den Scheiben, war ich solcherart beschäftigt, die Menge zu studieren, als plötzlich ein Gesicht auftauchte [...], das mich sofort in Bann hielt und mit der unerhörten Eigenart seines Ausdrucks meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Nie vorher hatte ich etwas gesehen, das so sonderbar gewesen wäre wie dieser Gesichtsausdruck. Mein erster Gedanke bei seinem Anblick war [...], daß Retzsch [...] ihm [...] zu seiner Verkörperung des Satans den Vorzug gegeben haben würde. Als ich [...] mir schnell über den Eindruck, den er auf mich machte, Rechenschaft zu geben suchte, tauchten vor meinem geistigen Auge die wirren und widersprechenden Vorstellungen auf von unendlicher Geisteskraft, Vorsicht, Dürftigkeit, Geiz, Kälte, Bosheit, Blutdurst, von Frohlocken, Heiterkeit, wildestem Entsetzen und tiefer, unendlicher Verzweiflung. Ich fühlte mich seltsam aufgeregt, angezogen und in Bann gehalten. ‚Welch eigenartige Geschichte‘, sagte ich zu mir selbst, ‚ist diesem Busen eingegraben!‘ Dann befiel mich ein heftiges Verlangen, den Mann im Auge zu behalten, mehr von ihm zu erfahren.
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Eilig zog ich meinen Mantel an, nahm Hut und Stock und eilte auf die Straße [...] und folgte ihm dicht, doch vorsichtig, um nicht seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich hatte jetzt gute Gelegenheit, ihn eingehend zu mustern [...]; und wenn mein Auge mich nicht täuschte, so erspähte ich durch einen Riß in seinem [...] Regenmantel den Schimmer sowohl eines Diamanten als eines Dolches. Diese Beobachtungen erhöhten meine Neugier, und ich beschloß, dem Fremden zu folgen, wohin er auch gehen mochte. Es war jetzt tiefe Nacht, und ein dichter, feuchter Nebel lagerte über der Stadt, der bald in andauernden heftigen Regen überging. Dieser Witterungswechsel hatte auf die Menge eine große Wirkung: ein wildes Hasten setzte ein, und eine Welt von Regenschirmen wogte darüber hin. [...] Eine halbe Stunde lang bahnte der Mann sich mühsam seinen Weg durch die belebte Straße [...]. Endlich bog er in eine Querstraße ein; auch dort war das Gedränge sehr stark, immerhin aber bei weitem nicht so wie in der soeben von uns verlassenen Hauptstraße. Jetzt änderte er sein Benehmen. Er ging langsamer und planloser als vorher – er zögerte. Er kreuzte wiederholt und ohne sichtlichen Grund die Straße [...]. Eine weitere Wendung brachte uns auf einen glänzend erleuchteten, von Leben übersprudelnden Platz. Der Fremde nahm sein altes Gebaren wieder an. Er ließ das Kinn auf die Brust sinken, während seine Augen unter den gerunzelten Brauen gegen alle, die ihm in den Weg kamen, Blitze schossen. Er verfolgte seinen Weg ruhig und mit Ausdauer […und wiederholte] diese Runde mehrmals. Mit dieser Leibesübung brachte er eine weitere Stunde zu, gegen deren Schluß uns weit weniger Passanten begegneten als vorher. [...] Mit einer Gebärde der Ungeduld wandte sich der Wanderer einer verhältnismäßig öden Seitenstraße zu. Diese lief er wohl eine Viertelstunde lang mit einer Eilfertigkeit hinunter, wie ich sie bei einem so bejahrten Manne nicht vermutet hätte [...]. In wenigen Minuten hatten wir einen großen und sehr besuchten Bazar erreicht [...] wo er wieder wie vorher im Gedränge sich planlos zwischen der Schar von Käufern und Verkäufern hindurchschob. [...] Eine laut tönende Uhr schlug elf, und die Menge verließ eilig den Bazar. Ein Ladenbesitzer, der einen Schalter einhängte, stieß den Alten an, und im selben Augenblick sah ich ihn zusammenschauern. Er eilte in die Straße, sah sich einen Augenblick ängstlich um und lief dann mit unglaublicher Geschwindigkeit durch viele krumme menschenleere
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Gassen bis wir von neuem in der großen Verkehrsader auftauchten [...]. Sie bot indessen nicht mehr denselben Anblick […] es waren nur wenig Leute zu sehen. Der Fremde erbleichte […] hielt inne und schien für einen Augenblick in Gedanken versunken; dann eilte er mit allen Anzeichen innerer Aufregung einen Weg hinunter, der uns an die äußerste Grenze der Stadt führte, in weit andere Gegenden, als wir bisher durchquert hatten. Es war das geräuschvollste Viertel Londons, wo alles den Eindruck erbärmlichster Armut und verzweifelten Verbrechertums machte. [...] Die ganze Atmosphäre war getränkt von Gram und Elend. Doch vernahmen wir [...] allmählich wieder menschliche Laute, und schließlich sah man ganze Banden des verworfensten Londoner Pöbels hin und her taumeln. Des alten Mannes Lebensgeister flammten wieder auf wie eine Lampe vorm Verlöschen. Noch einmal strebte er elastischen Schrittes vorwärts. Als wir plötzlich [...] vor einem der riesigen Vorstadttempel der Unmäßigkeit, einem Palast des Branntweinteufels [standen]. [...] Mit einem leisen Freudenschrei erzwang der Alte sich den Zutritt, nahm sofort sein ursprüngliches Wesen wieder an und schritt ohne ersichtliches Ziel inmitten der Menge umher. Er war jedoch noch nicht lange beschäftigt, als ein Drängen nach den Türen verriet, daß der Wirt sich anschickte, sie für die Nacht zu schließen. Es war mehr als Verzweiflung, was ich jetzt auf dem Antlitz des seltsamen Wesens geschrieben sah [...]. Aber er hielt in seinem Lauf nicht inne, sondern lenkte mit wahnsinniger Hartnäckigkeit seine Schritte wieder dem Herzen des mächtigen London zu. Rastlos und eilig floh er dahin, während ich ihm in höchster Verblüffung folgte, fest entschlossen, nicht von diesem Studium zu lassen, für das ich jetzt ein verzehrendes Interesse fühlte. Die Sonne ging auf, während wir weiterschritten, und als wir wiederum jenen belebtesten Teil der volkreichen Stadt, die Straße des D...schen Kaffeehauses erreicht hatten, bot diese ein Bild von Hast und Emsigkeit, das hinter dem vom Vorabend kaum zurückstand. Und hier, inmitten des von Minute zu Minute zunehmenden Gewirrs, setzte ich standhaft die Verfolgung des Fremden fort. Er aber ging wie immer hin und zurück und verließ während des ganzen Tages nicht das Getümmel jener Straße. Und als die Schatten des zweiten Abends niedersanken, ward ich todmüde und stellte mich dem Wanderer kühn in den Weg und blickte ihm fest ins Antlitz. Er bemerkte mich nicht. Er nahm seinen traurigen Gang wieder auf, indes ich, von der Verfolgung abstehend, in Gedanken versunken
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zurückblieb. ‚Dieser alte Mann‘, sagte ich schließlich, ‚ist das Urbild und der Dämon des Triebes zum Verbrechen. Er kann nicht allein sein. Er ist der Mann der Menge. Es wäre vergeblich, ihm zu folgen, denn ich werde weder ihn noch sein Tun tiefer durchschauen.‘ Das schlechteste Herz der Welt ist ein umfangreicheres Buch als der Hortulus Animae, und vielleicht ist es nur eine der großen Gnadengaben Gottes, dies: ‚Es läßt sich nicht lesen.‘“ (Poe 1922: 11-23)
2. 2. 2 The Man of the Crowd als Orientierungsszenario It was well said of a certain German book that es lässt sich nicht lesen – it does not permit itself to be read. There are some secrets which do not permit themselves to be told. (Poe 1845: 219)
The Man of the Crowd (Poe 1845), ein Fremder, der sich durch die Straßen Londons bewegt, verbirgt augenscheinlich in seinem Inneren ein Geheimnis. Von außen erkennbar ist, dass er dieses Geheimnis in sich trägt, auf das Geheimnis selbst hat man keinen Zugriff. So zumindest beschreibt es Edgar Allan Poe (1809-1849) in seiner 1840 erschienenen Kurzgeschichte. Literaturhistorisch wird Poes Parabel als einer der ersten Texte hervorgehoben, der sich der literarischen Form und der Figur des Flaneurs annimmt (Benjamin 1998: 14). Der Flaneur (vgl. dazu auch Abschnitt 8.3) ist jene Figur des 19. Jahrhunderts, die sich als Künstlergenie in Großstädten wie Paris, London oder Berlin bewegt und die in ihr beobachteten alltäglichen und unbedeutenden Handlungen der Menschen für die eigene literarische Arbeit fruchtbar macht (so beschreibt sich – kritisch zu bewertend – Baudelaire selbst, vgl. Hohmann 2000: 126f). In den richtungs- und ziellosen Bewegungen „im Zeit-Raum der Großstadt“ (Neumeyer, H 1999: 16f) ist der Flaneur leiblich in den Stadtraum involviert, gleichzeitig setzt er sich zu diesem und den darin handelnden Menschen in Differenz. Durch diese ästhetische Kompetenz überführt er das so Erlebte in literarische Texte und macht es für andere lesbar. In diesem Abschnitt steht nicht der Flaneur an sich im Zentrum, sondern seine hier beschriebene Kompetenz und ihre Grenzen sowie die spezifisch mit ihr verbundenen Wahrnehmungskonzepte. Poes Text als Ur-Text zum Flaneur stellt vorausschauend auf kompakte und anschauliche Weise zentrale Aspekte der sich unterscheidenden Zeichen- und atmosphärischen Wahrnehmung vor. Hierbei
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bewegt sich insbesondere der Erzähler genau zwischen diesen beiden Wahrnehmungen. Er nimmt die Stadt und ihre Menschen als Grundlage für eine spezifische Lektüre, muss aber feststellen, dass nicht alles in jeder Situation lesbar ist. Gemäß Gernot Böhmes neuer Ästhetik spielt sich Wahrnehmung immer „zwischen den Polen einer atmosphärischen […] auf der einen Seite und einer Zeichen-Wahrnehmung auf der anderen Seite“ (Böhme 1998c) ab, und beide sind, so betont er, im alltäglichen Wahrnehmen miteinander verwoben. Dennoch ist es sinnvoll und sogar notwendig, sie konzeptionell voneinander zu trennen, spielen sie sich doch – wie weiter oben beschrieben – auf sehr unterschiedlichen Ebenen des Wahrnehmens ab. Anders als bei Baudelaire und seinem Ideal vom Flaneur steht am Schluss von Poes Erzählung das resignierte Fazit: Es läßt sich nicht lesen. Um genau diese Grenzen der Lesbarkeit soll es im Folgenden gehen und die damit verbundene Differenz von atmosphärischer Wahrnehmung und Zeichen-Wahrnehmung. Im Weiteren Verlauf kann sie auf eine aktuelle Diskussion innerhalb der Theaterwissenschaft übertragen werden. Inwieweit kann sich aus wissenschaftlicher Perspektive dem Gegenstand Aufführung angenähert werden, wo doch gerade das Gegenwartstheater, wie das postdramatische Theater (vgl. Lehmann 2001) auf Präsenz, leibliche Anwesenheit und sinnliches Spüren (vgl. Schouten 2007) baut. Das sind im Vergleich zu anderen Bereichen große Unbekannte wissenschaftlicher Methodik und begrifflicher Fassbarkeit, die in den letzten Jahren immer stärker thematisiert und von der Theaterwissenschaft behandelt werden. Der Bezug auf Poes Kurzgeschichte verfolgt also auch den Zweck, eine wahrnehmungsorientierte Einführung in aktuelle theaterwissenschaftliche Fragestellungen zu geben.
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2.3 K ORRESPONDENZ Z WISCHEN UND DER E RSCHEINUNG
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2.3.1 Lesen als Wahrnehmen The Man of the Crowd handelt von der Nicht-Lesbarkeit eines Mannes, der sich vermeintlich richtungs- und ziellos durch London bewegt. Tatsächlich aber ist seine Bewegung gerichtet, nämlich dorthin, wo sich möglichst viele Menschen aufhalten. Lange bevor dieser mysteriöse Fremde die Bühne der Erzählung betritt, führt uns Poe in die Welt des analytisch blickenden Zuschauers. Die Geschichte nimmt ihren Anfang in einem Café in London. Der Ich-Erzähler sitzt dort im geschützten Innenraum und beobachtet die am großen Fenster vorbeitreibende Menschenmenge. Aus Begeisterung darüber, wie lesbar die vorübereilende Menge trotz Dämmerung und Laternenlicht ist, entziffert er, geordnet nach gesellschaftlichem Rang, einzelne Personen. Mit einer unzweideutigen Klarheit fällt es ihm spielerisch leicht, jede einzelne Person nach Herkunft, Beruf und Stand zu dechiffrieren. Die Passanten übernehmen die Rolle von Akteuren, deren Auftreten und Aussehen einer bewusst gestalteten Selbstinszenierung entspringt. Deshalb kann der Leser an die Hand genommen und mit jeder weiteren Person auf der gesellschaftlichen Leiter eine Stufe weiter nach unten geführt werden. Seine besondere Fähigkeit begründet der Erzähler gleich zu Anfang mit einer auskurierten Krankheit. Endlich seien seine Sinne von einem Schleier befreit, der die innere Anschauung getrübt habe (vgl. Poe 1845: 219). Ihm ist es, als könne sein geistiges Auge erstmals frei und unverschleiert auf die Welt blicken. Charakteristisch für die hier beschriebene Wahrnehmung sind vor allem Aspekte, die der Zeichen-Wahrnehmung zugesprochen werden können. Der Erzähler nimmt eine distanzierte Haltung ein, aus der heraus er, gleich einem kartographischen Blick, Übersicht hat und das Geschehen umfangreich analysieren kann. Seine Distanz ist eine doppelte, denn nicht nur in Bezug auf seine Haltung, sondern auch physisch ist er von dem Geschehen getrennt, das er beobachtet. Poe führt uns mit seiner Gesellschaftslektüre in die Welt der Physiognomiker, deren Ziel es auch war, so kritisiert Böh-
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me, an Hand der äußeren Erscheinung eines Menschen auf dessen Inneres, dessen Wesen zu schließen (vgl. Böhme 2001a: 107). Auffällig und zentral ist die Position des Erzählers im Inneren des Café. Dort ist er, von der äußeren Welt abgetrennt, in einem sicheren Raum anwesend, der ihn von jeglichem Handeln befreit. Er kann sich ganz dem Betrachten hingeben und sich auf den anderen Raum außerhalb der großen Fensterscheibe konzentrieren. Was sich da draußen abspielt, betrifft ihn nur indirekt. Distanz und Trennung überwindet er visuell. Wahrnehmen findet hier vor allem als Prozess einer Zeichen-Wahrnehmung statt. Das Auge sieht, und der Verstand stellt kognitiv Zusammenhänge her. Die Wahrnehmung baut auf Stabilität und Dauer. Der Erzähler beschreibt, dass er über Stunden in dem Café sitzt und so das Treiben innerhalb und außerhalb verfolgt. Bis zum Auftreten des fremden Mannes geschieht nichts, das ihn aus seiner Haltung, seiner Beobachtung herausreißt. Neben der Zeichen-Wahrnehmung thematisiert Poe aber auch Aspekte atmosphärischer Wahrnehmung. Der Erzähler hat die Gabe, Dinge wahrzunehmen, die nicht direkt sichtbar sind, sondern nur spürbar. Seine überwundene Krankheit macht er verantwortlich für die für ihn ungewöhnliche Gabe. Doch nimmt diese atmosphärische Wahrnehmung im ersten Teil des Textes eine nur untergeordnete Rolle ein. Erst im zweiten Teil der Erzählung kommt ihr eine grundlegende Bedeutung zu. Dennoch zeigt sich schon hier, dass beide Ansätze Teil seiner Wahrnehmung sind. Deshalb lohnt es sich, die von Poe im ersten Teil seines Texts beschriebene Beziehung zwischen Zeichen- und atmosphärischer Wahrnehmung, noch einmal genauer zu beschreiben. Denn auffällig ist, dass sich die Beziehung beider zueinander durch ein gemeinsames Merkmal beschreiben lässt: Korrespondenzen. Gemeint ist, dass sich innerhalb der Wahrnehmungsdifferenz von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem Korrespondenzen ausmachen lassen, die die Differenz zwischen atmosphärischer Wahrnehmung und Zeichen-Wahrnehmung überbrücken. Die Leichtigkeit des Lesens von Menschen, das Schließen vom äußeren Erscheinungsbild auf ihr Wesen in Poes Erzählung, basiert vor allem darauf, dass die Erscheinung einer Person mit dem Wissen des Erzählers auf diversen Ebenen miteinander korrespondiert. Auf der semiotischen Ebene kann der Erzähler auf ein Wissen zurückgreifen, dass sich ihm auch visuell erschließt. Das Sichtbare
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wie Haltung, Kleidung, Mimik oder Gestik korrespondieren mit gesellschaftlichen Konventionen und Normen, die dem Erzähler als Wissen vorliegen. Auch auf der atmosphärischen Ebene, die von Poe im ersten Teil nur nebensächlich behandelt wird, spielt diese Korrespondenz eine Rolle. Die Wirklichkeit der Erscheinung einer Person korrespondiert mit dem dahinterstehenden gesellschaftlichen Status dieser. Dieser Vorgang lässt sich auch an einem von Böhme herangezogenen Beispiel verdeutlichen. Böhme führt den Begriff der Korrespondenzen für tradierte Theaterformen ein. Dann, wenn Kostüme, Haltungen, Bühnenbild und die Erscheinungen der Darsteller eine überzeugende Wirklichkeit herstellen, die vor die dahinterstehenden Realitäten wie Stoff, Oberflächen, Kulisse oder Darsteller treten und dabei eine Szene erzeugt wird, in der Inhalt und Erscheinung aufeinander abgestimmt sind, korrespondiert die intendierte Wirklichkeit mit der erfahrenen Wirklichkeit. Wenn also all jene Elemente, die sich für die Wirklichkeit im Theater verantwortlich zeigen, eine gelungene Illusion erzeugen, lässt sich dies auf ihre Korrespondenz zwischen Wirklichkeit und der intendierten Erscheinung zurückführen. Auch in der Selbstinszenierung spielt der Aspekt der Korrespondenzen zwischen der Erscheinung und der eigenen Zuordnung eine ganz zentrale Rolle. In meiner Erscheinung ordne ich mich einer gesellschaftlichen Schicht zu. Dabei spielt mein tatsächlicher gesellschaftlicher Status gegenüber dem, was in Erscheinung tritt, eine nur untergeordnete Rolle (vgl. Böhme 2001a: 123). Auch bei Poe korrespondiert die Erscheinung der einzelnen Personen, die am Café vorbeilaufen, mit ihrem gesellschaftlichen Status, den er ihnen zuspricht. Dem Erzähler ist es zweifelsfrei möglich, im Rahmen der vorgestellten Klassengesellschaft an Hand von Kleidung, Gesten, dem Gesichtsausdruck und der Körperhaltung Einzelner, Rückschlüsse auf ihren Stand, Beruf und den damit verbundenen Lebensweg zu treffen. Ausgehend von der Annahme einer gültigen Korrespondenz zwischen Erscheinungsbild und Leben, liest er mit größter Selbstverständlichkeit die ihn umgebende Welt und ihre Personen. Das Lesen dieser Personen wird dadurch massiv erleichtert und die besondere Qualität atmosphärischer Wahrnehmung fällt in diesem ersten Teil des Textes deshalb nicht ins Gewicht, da diese, auf der Basis von Korrespondenzen, der Zeichen-Wahrnehmung
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zuspielt und so als eigenständige Wahrnehmungswirklichkeit übergangen wird.
2.3. 2 Theater als korrespondierender Text Insbesondere die tradierte Vorstellung von Theater basiert auf Korrespondenzen. Dies ist Ausdruck einer über Jahrhunderte angestrebten Einheit und Homogenität, in der die zwei angesprochenen Konzepte atmosphärischer- und Zeichen-Wahrnehmung synchronisiert und aufeinander abgestimmt werden. Die Kritik am Ideal der Einheit und Homogenität und die Abwendung von diesen Zielen war einer der Ausgangspunkte für den radikalen Wandel der Kunstform Theater seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Auf ihnen basieren auch die Tendenzen der Auflösung, Destabilisierung und Infragestellung von Korrespondenzen, die nach dem 2. Weltkrieg einsetzten und bis heute einen Strang der Kunstform Theater prägen. Daher ist eine Analyse des Ansatzes von Korrespondenz und der damit verbundenen Verwebung atmosphärischer- und ZeichenWahrnehmung instruktiv für ein tieferes Verständnis der Entwicklung seit Anfang des 20. Jahrhunderts und der damit verbundenen Ästhetisierung des Realen. Als ausgeprägter Ausdruck eines auf Korrespondenzen aufbauenden Theaters kann der Anspruch des Illusionstheaters seit dem 17. Jahrhundert beschrieben werden, wie ihn Nikolaus MüllerSchöll in seinem Text (Un-)Glauben (Müller-Schöll 2007) rekonstruiert. Illusion ist „Etwas, woran geglaubt wird, obwohl man weiß oder zu wissen glaubt, daß es der Wirklichkeit nicht entspricht, ein spontaner Glaube an Unglaubliches“ (ebd.). Der von Müller-Schöll verwendete Wirklichkeitsbegriff dürfte dem bisher in dieser Arbeit verwendeten Begriff der Realität näher stehen als dem der Wirklichkeit. Illusion ist dann in den Worten dieser Arbeit eine Wirklichkeit, von der man weiß oder zu wissen glaubt, dass sie der Realität nicht entspricht. Dennoch oder gerade deshalb lässt man sich auf diese Wirklichkeit ein und glaubt an sie. Illusion, so erläutert MüllerSchöll weiter, ist auf Totalität aus (vgl. ebd.). Totalität für den Bereich des Theaters heißt die Schaffung eines anderen Raums, dessen gesamte Wirkung auf Suggestion und der Ablösung der Wahrnehmungswirklichkeit von der Realität aufbaut. Es heißt, einen Schein auf der Grundlage von Zeichen, Erscheinungen und Wissen aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Es heißt aber auch, eine phänome-
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nale Wirklichkeit zu schaffen, die nicht nur von der Realität abgelöst ist, sondern auch mit der Zeichen-Wahrnehmung korrespondiert. Atmosphärische Wahrnehmung sowie Zeichen-Wahrnehmung spielen ineinander; das heißt also, die phänomenale Wirklichkeit, die innerhalb des illusionären Theaters geschaffen wird, dient der Zeichen-Wahrnehmung als Fundament. Phänomenale Wirklichkeit und die Zeichen auf der Bühne erzeugen korrespondierende Wirklichkeiten und Erscheinungen, die in sich und in ihrer Verwobenheit zueinander gehören. Illusion gerade im Bereich des Theaters ist fragil und anfällig für Auflösung. Darin, so Benjamin, übertrifft der Film letztlich das Theater. „Das Theater kennt prinzipiell die Stelle, von der aus das Geschehen nicht ohne weiteres als illusionär zu durchschauen ist.“ (Benjamin 2003: 31). Diese Stärke des Films hat sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dass das Theater Anfang des 20. Jahrhunderts sich so radikal von der Illusion abgewendet hat. Dennoch – so auch Müller-Schölls These – hält Theater bis heute, selbst dort wo es vermeintlich nicht-illusionär ist, an Prinzipien der Illusion und damit vor allem der Korrespondenzen zwischen atmosphärischer- und Zeichen-Wahrnehmung sowie der Korrespondenz innerhalb beider Konzepte fest. Mit dem Begriff der Illusion verbindet sich dann vor allem das Ziel, einen homogenen und auf allen Wahrnehmungsebenen gleichermaßen überzeugenden anderen Raum zu schaffen. Hierbei hilft es, wenn sowohl auf der Bühne innerhalb des dort installierten und inszenierten Gesamtgefüges, als auch zwischen Bühne und Zuschauer sich die Zeichen und die Wahrnehmungswirklichkeiten aufeinander beziehen und in ein korrespondierendes Verhältnis zueinander treten. Bezüglich der Zeichen-Wahrnehmung allein zeigt sich: Je homogener und aufeinander bezogener alle auf der Bühne installierten und inszenierten Zeichen miteinander korrespondieren, desto leichter fällt es, eine Aufführung zu lesen. Gleiches gilt auch für die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauer: Wenn das Publikum einen Draht zum Geschehen auf der Bühne hat, korrespondieren Aufführung und Rezeption. Mit Korrespondenzen geht in der Regel auch Dauer einher. Gerade im Bereich einer zeichenorientierten Wahrnehmung ist der Faktor Zeit nicht unerheblich. Kontexte und Zusammenhänge einer Rolle, einer Handlung eines dramatischen Zusammenhangs müssen erst entwickelt werden. Dieses Zusammenspiel wird vor allem dann evident, wenn es zu
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Störungen kommt, wenn die Korrespondenz aufgelöst, abrupt zerstört oder destabilisiert wird. Korrespondenzen im Bereich der atmosphärischen Wahrnehmung bauen auf ähnlichen Prinzipien auf, unterscheiden sich dennoch grundlegend. In der Zeichen-Wahrnehmung basieren Korrespondenzen auf einem Lesen, Verweisen und Begreifen. Man nimmt etwas wahr und gleicht es mit seinem Wissen ab. Auf Grund einer dem Geschehen innewohnenden Verweisstruktur können Schlussfolgerungen gezogen werden und so zu einem Begreifen beitragen. Für die atmosphärische Wahrnehmung verhält es sich hier grundsätzlich anders. Atmosphärische Wahrnehmung bezieht sich auf Wahrnehmungswirklichkeiten. Diese müssen von Seiten der Szene hergestellt werden. Das heißt aber, dass ein Akteur, ein Bühnenbild, die Lichtstimmungen, Kostüme, also alle Elemente, die tradiert für die Erzeugung einer Szene zuständig sind, die Wirklichkeit, die sie erzeugen (wollen) externalisieren müssen. Die Oper baut auf diese verinnerlichte Herausgabe von Gefühlen grundlegend auf. Denn nicht nur das Innere wird durch die Musik nach außen getragen, sondern das nicht in Sprache ausdrückbare Innere wird als gesungene Arie nach außen getragen. Böhme macht dies am Beispiel des Fühlens einer Figur auf der Bühne deutlich: Was eine Person im gewöhnlichen Leben in sich fühlt, muss äußerlich spürbar werden, muss externalisiert werden, wozu Oper Musik einsetzt (vgl. Böhme 2001a: 120). „Korrespondenz heißt nicht nur soviel wie passend sein und entsprechen, sondern vielmehr: die Szene ist in gewissem Sinne ein Teil der Erscheinung selbst.“ (ebd.: 120). Dabei führt Böhme ‚Szene‘ als spezifischen Begriff ein. Eine Szene ist Raum in der Erscheinung oder der Raum, insofern er erscheint. Andererseits ist sie Raum für eine Erscheinung, also […] als szenischer Raum des Theaters für das Erscheinen der Protagonisten, also die Figuren, die die Schauspieler auf die Bühne bringen. (Ebd.: 119)
Es reicht letztlich nicht, dass eine Person in Erscheinung tritt, um als König identifiziert zu werden. Stattdessen ist es die Szene als vielschichtiger Raum, die für die Erscheinung des Königs verantwortlich ist, das Gesamtsetting inklusive Hofstaat, rotem Teppich und Kleidung (vgl. ebd.: 120).
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Diese Überlegungen zu Korrespondenzen liefern den Begründungshintergrund für die Deutung des ersten Teils von The Man of the Crowd: Auch ohne die Szene an sich als Theatersituation zu beschreiben, lassen sich in ihr in Bezug auf Wahrnehmungen tradierte Zuschauerhaltungen rekonstruieren, denn diese sind durch verwandte Konstellation, ähnliche Haltungen und auf Korrespondenz aufbauende Wahrnehmungen charakterisierbar. Im tradierten Theater beobachtet der Zuschauer aus sicherer Distanz von seinem Sessel im Publikumsraum das Geschehen auf der Bühne und die in physischer Ferne agierenden Akteure. Die Architektur des Theaterbaus schafft gleich einer Fensterscheibe eine klare Trennlinie zwischen Bühne und Publikumsraum. Gleich dem Erzähler in Poes Geschichte kann einem Theaterzuschauer in Bezug auf seine Lesehaltung eine aktive Rolle zugesprochen werden: Abgeleitet von der Darstellung ist er auch Erfinder von Lebensgeschichten. Hilfreich für dieses Lesen ist, wenn die Zeichen und Handlungen auf der Bühne miteinander korrespondieren. Das Geschehen auf der Bühne wird so, aus dieser von der Außenwelt abgeschlossenen Position heraus, handlungsentlastet erfahren. Auch in Bezug auf das Bühnengeschehen lassen sich Parallelen zwischen Poes Erzählung und tradiertem Theater ausmachen. Auch wenn die Passanten in Poes Erzählung nicht im klassischen Sinne in Szene gesetzt sind, sind sie es dennoch in Bezug auf ihre äußerlich erkennbare gesellschaftliche Charakteristik. Ihr Erscheinungsbild, die Kleidung, ihr Gesichtsausdruck, all das nimmt Formen einer Inszenierung an, in der gesellschaftliche Konventionen mit ihrem Erscheinungsbild korrespondieren und so die Personen lesbar sind. Vor allem unter diesem Blickwinkel lässt sich ein Bezug zu Theater herstellen, nämlich einem Theater, das von der Verkörperung (vgl. Fischer-Lichte 2001: 301ff) einer Rolle ausgeht. Ein Akteur setzt seine Profession dafür ein, Hamlet in Erscheinung treten zu lassen. Dafür greift er nicht nur auf ein vorhandenes Stück und eine damit verbundene Erwartungshaltung der Zuschauer zurück, sondern auch auf sein handwerkliches Können. Er vermag es, Hamlet so zu verkörpern, dass die Zuschauer im Akteur, im Bühnenbild und im Kontext zum Gesamtgeschehen ihn als Hamlet erfahren. Das alles zusammen erzeugt eine Wirklichkeit, die sich von der sie erzeugenden Realität, dem Akteur, dem Stuhl, dem Kostüm ablöst. Als Wirklichkeit präsent ist die Repräsentation von Hamlet.
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Zusammenfassend lässt sich festhalten: Als ein Aspekt für eine am Theaterbau orientierte Wahrnehmung, der im 3. und 4. Abschnitt ausführlicher besprochen wird, wurde die handlungsentlastete Position herausgestellt. Sie ermöglicht die volle Konzentration und Aufmerksamkeit auf eine Szene. Als weiterer Aspekt wurden Korrespondenzen vorgestellt, die die gesamte Erscheinung der Szene und die atmosphärische sowie die Zeichen-Wahrnehmung miteinander vernetzt und zu einem homogenen (mitunter illusionären) Ganzen werden lässt. Atmosphärische Wahrnehmung spielt hierbei der Zeichen-Wahrnehmung zu und ordnet sich unter, denn sie unterstützt auf allen Ebenen die zeichenorientierte Ausrichtung des tradierten Theaters. Tendenziell werden hierbei Atmosphären überdeckt und als eigene Wahrnehmungswirklichkeiten übergangen. Sie verschwinden nicht, aber auf Grund ihrer scheinbaren Eingliederung stellen sie sich und ihre Eigenständigkeit als spürbare Gegenstände hinter die lesbaren Zeichen einer Szene. Problematisch wird diese Gleichschaltung erst, sobald diese Korrespondenzen nicht mehr gegeben sind. Was also ist, wenn im Falle der Erzählung für das äußere Erscheinungsbild einer Person keine gesellschaftliche Zuordnung mehr möglich ist? Dann divergieren Erscheinung und Bild, spürbar und begrifflich Beschreibbares. Gerade für das Gegenwartstheater ist diese Divergenz nicht unerheblich. Was ist, wenn Korrespondenzen bewusst vermieden werden, wenn also die Zeichen einer Aufführung nicht mehr lesbar sind, weil sie nicht mehr miteinander korrespondieren? Was ist, wenn jegliche Homogenität nicht mehr dauerhaft aufrecht erhalten wird, sondern in einem kontinuierlichen Vorgang destabilisiert, gebrochen und wiederhergestellt wird? Oder was ist, wenn Korrespondenzen bewusst demontiert und zerstört werden; wenn also mit ihnen gespielt wird, wenn sie eingesetzt werden, um sogleich wieder in Frage gestellt zu werden? Wie steht es dann nicht nur mit der Korrespondenz innerhalb einer Zeichen-Wahrnehmung und einer atmosphärischen Wahrnehmung, sondern auch zwischen diesen beiden?
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2.4 S TÖRUNG , A UR A UND A TMOSPHÄRE ALS G EGENSTAND DER W AHRNEHMUNG
2.4.1 Die Störung Diese letzten Fragen führen zurück zu Poes Text und können entlang der zweiten Hälfte seiner Erzählung in Teilen behandelt werden. Das auf Korrespondenz bauende Lesen und Wahrnehmen des Erzählers gerät in der Mitte der Geschichte durch das Auftreten des befremdlich wirkenden Mannes ins Wanken. Gerade noch hebt der Erzähler hervor, wie problemlos er mit einem einzigen kurzen Blick ganze Lebensgeschichten herleiten kann, als der Fremde nur kurz sein Blickfeld kreuzt und diese Fähigkeit abrupt in Frage gestellt wird. Die bisherige Einheit von Sehen und Herleiten, die Korrespondenzen des Wahrgenommenen lösen sich schlagartig auf. Wie ein Magnet zieht der Fremde die gesamte Aufmerksamkeit des Erzählers auf sich. Anders als alle Passanten bisher tritt er nicht in einer gesellschaftskonformen Selbstinszenierung in Erscheinung. Vielmehr wird der Erzähler durch seine Erscheinung aufgestört und berührt ihn. Wahrnehmen ist nicht mehr allein das Sehen von Etwas, sondern in seinem ursprünglichen Sinne Aisthesis: nicht wir betrachten Kunst oder Natur nach Maßgabe strikter Subjekt-Objekt-Verhältnisse, sondern wahrnehmend werden wir von ihnen berührt und aufgestört. Es ist das »Andere«, das fasziniert und in eine Sicht zwingt, statt dass die Souveränität des Blicks es buchstäblich »in Augenschein« nimmt und es überschaut. (Mersch 2000: 95)
Wir haben es mit einem einmaligen Ereignis zu tun, das durch seine Plötzlichkeit zu einem Bruch, einer Störung der Wahrnehmung des Erzählers führt. Sämtliche bisher vorhandene Homogenität zwischen den Personen und ihrer Erscheinung, zwischen begrifflicher Fassbarkeit und sinnlich Spürbarem löst sich in diesem Moment auf. Die Präsenz des Fremden verursacht eine Störung, die auf Grund ihrer nicht Lesbarkeit, ausschließlich atmosphärisch spürbar wird. Dadurch tut sich für den Erzähler eine Leerstelle auf, weil für ihn das atmosphärisch Erfahrene nicht durch mentales, begriffli-
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ches Wissen lesbar wird. Diese Leerstelle wird ferner durch eine AKorrespondenz verstärkt. Einerseits ist beim Fremden deutlich ein intentionales Handeln auszumachen, andererseits liegt dieses aber außerhalb aller üblichen und lesbaren Normen und Konventionen. Poes Erzähler behilft sich mit einer drastischen Gleichsetzung des Fremden mit dem Teufel. Ferner sind ihm jegliche Zuordnungskriterien abhanden gekommen, sein Versuch verfängt sich in Widersprüchen: Es [...] tauchten vor meinem geistigen Auge die wirren und widersprechenden Vorstellungen auf von unendlicher Geisteskraft, Vorsicht, Dürftigkeit, Geiz, Kälte, Bosheit, Blutdurst, von Frohlocken, Heiterkeit, wildestem Entsetzen und tiefer, unendlicher Verzweiflung. Ich fühlte mich seltsam aufgeregt, angezogen und in Bann gehalten. (Poe 1922: 74)
Es ist diese Störung, die hier als zweiter Aspekt aus Poes Text herausgezogen wird und etwas genauer vorgestellt werden soll. Denn mit Blick aufs Theater macht sie einen ganz wesentlichen Aspekt gegenwärtiger Theaterpraxis aus, gibt zusätzlich in der theaterwissenschaftlichen Diskussion immer wieder Anlass zur Diskussion und zur Suche nach methodischen Mitteln, wie man über sie reden kann. Das Ereignis des auftauchenden Fremden lässt sich zusammenfassend durch zwei Aspekte charakterisieren, die zu einer Störung beitragen: Mit der Erscheinung des Fremden spürt der Erzähler als erste Wahrnehmungswirklichkeit etwas Bedrohliches. Es geht hier um ein rein atmosphärisches Spüren, losgelöst von lesbaren Zeichen. Die Bedrohlichkeit ist für ihn spürbar, obwohl er hinter der Fensterscheibe des Cafés sitzt und physisch von der Straße getrennt ist. Als Konsequenz des ersten Aspekts korrespondiert das Wissen des Erzählers als Weise zeichenorientierten Lesens nicht mehr mit der Bedrohlichkeit als Weise atmosphärischer Anmutung. Das heißt auch, dass er in seiner Zeichen-Wahrnehmung diese Bedrohlichkeit nicht unterbringen kann und so der Ursache nicht habhaft wird. Sehr wohl macht er schnell den Fremden als Verursacher und Träger dieser Bedrohung aus, doch bleibt dieser Träger für den Erzähler ein unlesbares weißes Blatt. Zur Vertiefung dieser zwei Aspekte soll
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im Folgenden erneut auf Böhme zurückgegriffen und seine Ansätze zur atmosphärischen Wahrnehmung herangezogen werden. Atmosphären, wie oben zitiert, sind als erste Wahrnehmungswirklichkeiten „ergreifende Gefühlsmächte“ und „räumliche Träger von Stimmungen“ (Böhme 1995: 29). Eine Trennung zwischen mir und der Atmosphäre ist innerhalb dieser ersten Wahrnehmungswirklichkeit nicht gegeben. Ferner haben wir es bei Atmosphären mit nicht körperlichen Gegenständen zu tun, sondern mit einem unbestimmt im Raum vorhandenen Zwischen. Doch dieses Zwischen, neben seiner Unbestimmtheit, ist auch Träger von Stimmungen und ergreifender Gefühlsmacht, die mich affektiv tingieren. Die affektive Betroffenheit ist es, an der sich eine Ausdifferenzierung zwischen mir und einer im Raum anwesenden Atmosphäre festmachen lässt. Denn ich bin es, der sich einer Atmosphäre aussetzt, von ihr betroffen ist und somit in ein Verhältnis zu ihr tritt. Böhme schreibt, dass besonders negative Erfahrungen dazu beitragen, sich von dem Bedrohlichen distanzieren zu wollen (vgl. Böhme 2001a: 49). Aber auch andere Erfahrungen tragen dazu bei, dass ich mich als von einer Atmosphäre Differenzierter erfahre, auch wenn ich in ihr involviert bin. Ein Ich-Pol und ein Gegenstands-Pol differenzieren sich so als Teil meiner Wahrnehmung aus. Es ist das, was Böhme als die Ingressions- und die Diskrepanzerfahrung beschreibt. Beide sollen als Abschwächung des relativ starken Begriffs der Störung und gleichzeitig als seine Erweiterung eingeführt werden. Als für die Wahrnehmung typische Situationen, in denen eine Differenz zwischen mir und einer Atmosphäre spürbar wird, benennt Böhme die Ingression. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass ich eine bestimmte Stimmung habe: Ich bin heiter, traurig oder angespannt. Diese eigene Stimmung kann nur als subjektiver Pol einer Atmosphäre erfahren werden. Eine Atmosphäre hingegen kann auch als ein Etwas erfahren werden, das sich von mir unterscheidet (vgl. ebd.: 46). Das heißt, wenn ich selbst traurig bin und in einen Raum eintrete, in dem eine heitere Atmosphäre herrscht, so erfahre ich diese Differenz. Eine Folge ist, dass mir, die zu mir anders gestimmte Atmosphäre, als Gegenstand der Wahrnehmung gewahr wird. Diesen Vorgang beschreibt Böhme als Ingressionserfahrung, als Erfahrung des Tretens in einen anderen Raum. Man nimmt ein Etwas dadurch wahr, weil man in es hineingerät (ebd.). Der Ich-Pol stößt auf einen eigenständigen Gegenstands-Pol, der aber mit dem Eintreten in den anderen Raum, mit meiner leiblichen Anwesen-
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heit in diesem Raum, durch mich in einen neuen Zustand übergeht. Aber auch hier bleibt es letztlich nicht bei dieser Differenz, einerseits werde ich von dieser Atmosphäre tingiert, andererseits verändert sich auch die Atmosphäre selbst durch meine Anwesenheit. Im Moment des Eintretens ist diese Differenz am stärksten. In Poes Erzählung ist eine Ingressionserfahrung ausschlaggebend dafür, dass der Erzähler irritiert wird und seinen sicheren Platz im Café aufgibt. Durch das Hereintreten des Fremden in den Wahrnehmungsraum des Erzählers verändert sich der Zustand dieses Raums. Ingression beschreibt somit die Veränderung des eigenen Wahrnehmungsraums, egal ob durch mich aktiv betrieben oder durch andere für mich herbeigeführt. Ein Verweis auf Theater lässt sich hier anbringen, denn jeder Bühnenbildwechsel, jede abrupte Stimmungsänderung, jede von der Bühne aus erzeugte Störung erzeugt eine solche Ingressionserfahrung. Wenn die vorherrschende Atmosphäre sich deutlich von mir und meiner Gestimmtheit unterscheidet, zeichnet sich als Folge eine anfängliche Unbestimmtheit und Orientierungslosigkeit ab (ebd.: 88). Diese kann sich dann insofern auflösen, dass sich die Differenz zwischen dem anderen Raum und der eigenen Stimmung auflöst und man sich auf die Stimmung des anderen Raums einlässt, sich einstimmt. Als Gegenbewegung dazu beschreibt Böhme die Diskrepanzerfahrung. Eine Diskrepanzerfahrung ergibt sich dann, wenn als Folge der Ingression in einen anderen Raum, meine Stimmung und die des Raums nicht nur verschieden sind, sondern auch verschieden bleiben. Die Diskrepanzerfahrung, so Böhme, lässt sich auch als verschärfte Ingressionserfahrung beschreiben (vgl. ebd.: 47f). Traurig und bedrückt finde ich mich nach dem Herausgehen aus der Haustür in einem heiter gestimmten Frühlingsmorgen wieder. Schafft es die Heiterkeit des Morgens nicht, meine Traurigkeit zu übertönen, wird der zu mir diskrepante Charakter des Frühlingstages verstärkt erfahren. Als Gegenbewegung hierzu lässt sich Einstimmung beschreiben. Denn wenn meine eigene Stimmung neutral ist oder ich mich von der Heiterkeit des Frühlingstages anstecken lasse, passt sich meine Stimmung der Stimmung der vorherrschenden Atmosphäre an. Ingressionserfahrung nach Böhme geht von Atmosphäre als gesamträumlichem Zustand aus, in den man hineingerät. In dieser Beziehung weicht Poes Geschichte grundlegend ab, denn alles was er hier beschreibt, ist die Erscheinung des Fremden. Hieran
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lässt sich auch sein Scheitern aufzeigen. In seiner Fixierung auf den Fremden, auf ihn als Körper und Träger einer unheimlichen Erscheinung, übersieht – vielmehr über-spürt – der Erzähler den Stadtraum als Raum leiblicher Anwesenheit und somit Atmosphäre. In der Erzählung von Poe wird als Ebene zwischen Erzähler und Fremdem vor allem die zwischenmenschliche Begegnung hervorgehoben. Doch Atmosphären, ob nun als räumlich ergossene Grundcharakteristik, Ekstasen einzelner Gegenstände und Personen oder zwischenmenschliche Stimmungen, sind grundsätzlich Phänomene eines räumlichen Da-Zwischen. Dabei handelt es sich nicht um einen metrischen Raum, sondern um einen Raum der Befindlichkeit: „Ich bin hier und fühle mich so und so gestimmt“ (ebd.: 47). Indem ich in eine andere Atmosphäre trete oder mir jemand über den Weg läuft, der eine von meiner Gestimmtheit abweichende Ausstrahlung hat oder der wie im Falle von Poes Fremdem etwas Bedrohliches ausstrahlt, werde ich dieser anderen atmosphärischen Ausstrahlung gewahr. Erst im zweiten Schritt mache ich mich auf die Suche nach der Ursache, versuche mich zu orientieren. Im Falle des Fremden fällt das aber schwer, denn es gibt keinerlei definitive Anhaltspunkte, nur Indizien, wenn man es in der Sprache der Detektivgeschichte ausdrückt, als deren Begründer Poe zählt. Der Erzähler meint, ein Messer und einen Diamanten beim Fremden zu erkennen. Doch ohne Beweise kommt er nicht weiter. Die Differenz von Indiz und Beweis lehnt sich im weitesten Sinne an die Differenz von Wirklichkeit und Realität an. Und ohne Bezug auf eine Realität fällt es dem Erzähler schwer, den Fremden auf die gleiche Weise wie alle anderen Passanten bisher zu lesen. Das führt zum oben angesprochenen zweiten Aspekt. Die durch den Fremden ausgelöste Ingressionserfahrung macht die Differenz zwischen atmosphärischer- und Zeichen-Wahrnehmung evident. In der Auflösung der bisher vorherrschenden Korrespondenz, die auch zwischen diesen beiden Wahrnehmungsweisen herrscht, tritt atmosphärische Wahrnehmung überhaupt erst als eigenständige Form hervor. Wie weiter oben schon angesprochen, werden über die Korrespondenz Atmosphäre betreffende Aspekte überdeckt und können deshalb als eigenständige Wahrnehmungswirklichkeit leicht übergangen werden. Mit dem Auftreten des Fremden tritt diese Differenz hervor, wird spürbar. Das hat Konsequenzen. Der Erzähler muss das sichere und distanzierende Café verlassen, wenn er mehr über den Fremden erfahren will. Er muss sich in die Straßen
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Londons hinausbegeben, muss sich leiblich in den Stadtraum begeben, dort direkt anwesend sein. Atmosphärische Wahrnehmung wird so nicht nur als Teil eines plötzlichen Ereignisses aufgedeckt, das als Störung erfahren wird, sondern für den Erzähler durch seine Anwesenheit im Stadtraum zu einer dauerhaften Angelegenheit; 24 Stunden lang verfolgt er den Fremden. Die Differenz zwischen atmosphärischer- und Zeichen-Wahrnehmung wird somit bis zum Ende der Geschichte nicht mehr aufgelöst. Darauf basiert die anfängliche und abschließende Aussage des Erzählers: „Es läßt sich nicht lesen.“ Der Fremde entzieht sich der Lesbarkeit. Als Fazit lässt sich zusammenfassen, dass der Fremde eine Ingressionserfahrung auslöst, die zu einer Störung der bisherigen Lektüre des Erzählers führt. Dabei sind für die Betrachtungen von Theater zwei Aspekte von Interesse. Zum einen lässt sich an dem Fremden und seiner Erscheinung Atmosphäre als eigenständiger Gegenstand, mit einer zu anderen Dingen anderen Seinsweise aufzeigen. Auch das Theater Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt Ingression, vor allem Diskrepanz als Mittel, wodurch atmosphärischer Wahrnehmung ein neuer, vorwiegend auf Irritation setzender Stellenwert zukommt. Diese Strömung führt zweitens die atmosphärische Wahrnehmung aus dem Schatten einer auf Korrespondenzen aufbauenden Zeichen-Wahrnehmung in zweierlei Weise heraus. Auf der einen Seite konzentriert Theater sich auf Präsenz, Ereignis und Performativität und fokussiert auf Aspekte atmosphärischer Wahrnehmung. Gerne wird das mit Mitteln der Störung, Provokation und Diskrepanzerfahrung betrieben. Auf der anderen Seite führt das aber auch dazu, dass auch Theaterformen in denen Korrespondenz eine vordergründige Rolle spielt, das Erzeugen von Atmosphäre als Qualität für Kontemplation und Einstimmung entdecken und einsetzen.
2.4. 2 Aura und Störung als Ingressionser fahrung Anfang des 20. Jahrhunderts wird der hier beschriebene Bruch mit Korrespondenzen und die durch Ingression oder Diskrepanz ausgelöste Störung als künstlerisches Mittel aller Kunstbereiche und vieler Kunstschaffenden mit dem Ziel einer Ablösung von tradierten Vorstellungen entdeckt. Bis heute spielt Störung als künstlerisches Mittel eine Rolle und bekommt im postdramatischen Theater Ende des 20. Jahrhunderts ein begrifflich von Hans-Thies Lehmann
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benanntes Gesicht. Lehmann schreibt, die Ein-Stimmigkeit falle auseinander und anstelle der Verkörperung von Rollen trete der Performer auf, „der seine idiosynkratische Individualität kommuniziert“ (Lehmann 1999: 17). Nicht nur in Bezug auf die Verkörperung findet dieser Verlust von Ein-Stimmigkeit statt, sondern auch in der Verlagerung einer innerszenischen Spannung hin zu einer Spannung zwischen Szene und Publikum (vgl. ebd.: 22). Es treten die Körper selbst in Erscheinung, mit all ihren Makeln und Verletzlichkeiten, die Stimme wird zur Erzeugung von Klang, Zeit wird als Mittel von ausgestellter und inszenierter Dauer eingesetzt. Nicht immer geht es um Provokation, aber durchaus darum, Zuschauer aufzuschrecken und aus ihrer kontemplativen Haltung herauszureißen. Der Bruch findet statt als Ablösung von Gegenbewegung zu oder Neuentdeckung des dramatischen Textes. Antriebsfeder ist das Ziel, über mitunter aggressive und vehemente Methoden sich von Traditionen und Konventionen abzusetzen. Auffällig an dieser Darstellung ist, die sich nicht nur bei Lehmann wiederfindet, sondern auch bei Fischer-Lichte unter dem Begriff einer destabilisierenden Schwellenerfahrung (vgl. Fischer-Lichte 2001: 349ff), dass häufig von einer extremen oder radikalen Erfahrung ausgegangen wird, was auch der verwendete Begriff der Störung suggeriert. Doch soll in diesem Text im Folgenden diese Störung relativiert werden. Denn wieso eigentlich geht die Sensibilisierung für atmosphärische Wahrnehmung mit abrupten oder gar bedrohlichen Momenten einher. Warum werden die Avantgardebewegung und das postdramatische Theater als Extreme vorgestellt, die sich negativ zu herkömmlichen Konventionen positionieren? Kann es nicht auch um Ein-Stimmung gehen oder das Erzeugen einer Schwellenerfahrung, die nicht destabilisiert? Als eine Motivation der klassischen Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts lassen sich die zwei an Hand des Begriffs der Störung und der Ingression eingeführten Entwicklungen nachzeichnen. Es kommt zu einer Entdeckung atmosphärischer Wahrnehmung als eigenständige Ausdrucksweise. Atmosphärische Wahrnehmung und die damit verbundene Ablösung von sich auf Zeichen-Wahrnehmung beziehende Konventionen finden sich in praktischen und theoretischen Arbeiten immer wieder. Auffällig hierbei ist, dass zweitens damit auch die Wiederentdeckung des Raums des Theaters
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einhergeht, der von konventionellen Anordnungen und Theaterbauten losgelöst ist (vgl. Abschnitt 8). Das zeigt sich schon bei Poe, denn der Erzähler muss, um den Fremden auf Dauer beobachten zu können, das Café verlassen und sich in den Stadtraum hineinbegeben. Der räumliche Wechsel, der hier vollzogen wird, kann auch als Wechsel zwischen einem geometrisch organisierten Raum der Distanz und Lagen und einem Raum leiblicher Anwesenheit beschrieben werden. Die Position im Café beschreibt Trennung und Distanz über eine klare Gegenüberstellung zwischen Hier und einem anderen Raum. Mit dem Eintritt in den Stadtraum rückt der Raum als Raum leiblicher Anwesenheit in den Vordergrund. Es geht hier um einen Raum der Atmosphäre und der Befindlichkeit. Die angesprochenen Raumkonzepte werden in Abschnitt 4.2 vertieft, hier wird zunächst die Ingression als räumlicher Übergang vorgestellt, der Atmosphäre spürbar werden lässt.
Abb. 9: Modelle des Totaltheaters entworfen von Walter Gropius gemeinsam mit Erwin Piscator (1927).
Walter Gropius (1883-1969) formuliert in seinem Aufsatz Theaterbau (Gropius 1999) von 1934 seine Ansprüche an einen Wandel. So kritisiert er, dass der von seiner Bank aus, auf ein gerahmtes und illusionistisches Fenster blickt, bei dem die Tiefendimension der Bühne verloren geht. Eine sinnlich räumliche Einbeziehung des Zuschauers sei so nicht gegeben. Vielmehr hat man es mit einer Trennung zweier Welten zu tun, die den Zuschauer dazu zwingt, „den Weg zum Erlebnis über die Brücke des Intellekts zu nehmen“ (ebd.: 165). Gropius zielt auf ein körperliches Involvieren des Zuschauers in ein Geschehen. Unverkennbar spricht hier der Architekt, der Probleme räumlich zu lösen versucht. Sein nie verwirklichter Theaterbau,
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den er seinem Text vorstellt, ist so konzipiert, dass die Trennung zwischen Bühne und Zuschauersaal durch architektonische Mittel minimiert wird. Veränderbare Zuschauer-Bühnen, Konstellationen, aber auch die Nutzung der äußeren Bereiche des Zuschauersaales als Spielstätten sollen dies bewirken. Die Aufführung findet rundherum statt und der Zuschauer ist räumlich in ihr anwesend. Gropius verfolgt die Frage, inwieweit ein Theaterzuschauer über textliches Rezipieren hinaus in das Theatergeschehen involviert werden kann (vgl. dazu auch Fischer-Lichte 1997). Als Ansatz zur Lösung dieser Frage lassen sich im Großen und Ganzen bei ihm und der Bewegung seiner Zeit zwei Tendenzen hervorheben. Erstens wird der Theaterbau mit seiner internen räumlichen Ordnung in Frage gestellt. Zweitens werden die Bühne und das räumliche Gefüge zwischen Bühne und Zuschauerraum als gestaltbare Räume und als Räume der Anwesenheit entdeckt (vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 8.4). Das Theater verlässt den Theaterbau und begibt sich nach außen. Dieses Außerhalb ist nicht allein ein architektonisches, sondern auch ein konzeptionelles. Auf der Basis veränderter Bühnenräume, Haltungen der Akteure oder Umgang mit Text und Drama werden Traditionen und daran geknüpfte Konventionen abgelegt. Es geht also nicht allein darum, Theater in den öffentlichen Raum zu tragen. Max Reinhardt (1873-1943) beispielsweise bleibt der tradierten Theaterordnung weitestgehend treu. In seiner Inszenierung Sumurum (1911) installiert er nach japanischem Vorbild einen von den Akteuren bespielten Steg, Hanamichi genannt, der ins Publikum hineinreicht. Von einer neuen, „Sinnlichkeit und Bewegtheit“ (Fischer-Lichte 1997: 41) ist hier die Rede. Ähnlich wirkungsvoll entdeckt Reinhardt aber auch den Bühnenraum als Tiefenraum. Die Besonderheit seiner Sommernachtstraum Inszenierung von 1905 bestand darin, dass im Bühnenraum, mit durchaus illusionistischen Zielen, ein Wald mit tatsächlichen Bäumen eingerichtet war. Die Zweige knackten und krachten, echtes Moos bedeckte den Boden und Tannenduft wurde in der Luft versprüht. Alles das, einschließlich der Ausleuchtung des Bühnenraums, diente der Erzeugung stimmungsvoller Atmosphären (Grund 2002: 58ff). Als einer der ersten, der den Bühnenraum als Tiefenraum entdeckt (ebd.: 195), muss wohl Edward Gordon Craig (1872-1966) genannt werden. Er im Besonderen ist schon früh sensibilisiert für Atmosphäre als Teil räumlicher Erfahrung. Explizit stellt er die atmosphärische Wirkung von Bühnenbildern als eigen-
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ständige Ausdrucksform vor. Darin geht er in seinem Ansatz zum Marionettentheater um die Jahrhundertwende soweit, dass er die Bühne von Darstellern befreien will, um dem Raum, den Bühnenobjekten und ihrer exakten maschinengesteuerten Inszenierung die ganze Aufmerksamkeit zukommen zu lassen (ebd.: 202ff). Dies verfolgt er explizit mit dem Ziel, Stimmungen (moods) zu erzeugen. Solche und andere radikale Ansätze wollen die intellektuelle Differenz zwischen Bühnengeschehen und den Zuschauern, von der Gropius spricht, durch eine Verweigerung oder gar Zertrümmerung der Sprache und der Bedeutung überwinden. Antonin Artaud (18961948), die Surrealisten oder die Dadaisten entwickeln eigenwillige Konzepte, in denen Stimme und Klang zum Material ästhetischer Arbeit wird. Aber auch ganz neue Körper- und Bewegungsmodelle entfernen sich von den tradierten, stark determinierten und restriktiven Konventionen und gehen dazu über, Konzepte zu entwickeln, um der Präsenz der Akteure außerhalb einer reinen Verkörperung von Figuren einen höheren Stellenwert einzuräumen. Die Liste der Neuerungen und antikonventionellen Konzeptionen und Umsetzungen lässt sich beliebig erweitern. Die Bandbreite der eingesetzten Mittel ist groß. Sie bewegt sich zwischen Reinhardt und Artaud, zwischen Festhalten an Konventionen bei gleichzeitiger Entdeckung neuer räumlicher Möglichkeiten – auch dank der Einführung des elektrischen Lichts. Dagegen sind die Ziele erst einmal sehr ähnlich. Fischer-Lichte spricht von der Entdeckung des Zuschauers und der Verlagerung der internen Kommunikation auf der Bühne hin zu einer externen Kommunikation zwischen Zuschauer und Bühne (Fischer-Lichte 1997: 35). Verbunden hiermit ist das zum Scheitern verurteilte Ziel, Leben in Kunst und „Kunst in Leben zu überführen“ (ebd.), das sicherlich auch seinen Teil dazu beitrug, dass Walter Benjamins der Avantgardebewegung skeptisch, fast schon klagend begegnet. In seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Benjamin 2003) kritisiert er die „Zertrümmerung der Aura“ (ebd.: 15) in der Kunstentwicklung. An Hand der hier vorgestellten Mittel und Ziele kann der Bogen zurück zur Stärkung der Atmosphäre als eigenständige Seinsweise und der damit verbundenen Infragestellung der auf Zeichen-Wahrnehmung basierenden Traditionen gespannt werden. Denn eine Zertrümmerung der Aura, die gleich als eine Zertrümmerung der für Kunstwerke bedeutsamen Atmosphäre vorgestellt werden soll, setzt voraus, Aura überhaupt als eigenständige Seinsweise anzuer-
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kennen. Dafür ist gerade der Ansatz, sie zu zertrümmern, durchaus hilfreich, wie wir erfahren haben. Atmosphäre wird ja gerade durch Störung, Ingression oder Zertrümmerung als eigene Seinsweise evident. Somit wird im Folgenden die These verfolgt, dass Aura und Atmosphäre als eigene Seinsweisen und damit für Kunstwerke relevante Wirklichkeiten erst durch den Versuch, sie zu zertrümmern, zu einer relevanten Größe in der Kunst avancieren. Es lohnt sich, auf diese Mittel und Ziele näher einzugehen und die von Benjamin beschriebene Zertrümmerung der Aura ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Dabei kann gezeigt werden, wie konservativ Benjamins Aurabegriff in Bezug auf Kunstformen ausgerichtet ist. Mit Aura verbindet er Kontemplation, Einstimmung und letztlich Korrespondenz. Benjamin verankert Aura somit vor jene Zeit, die zur vermeintlichen Zertrümmerung von Aura führt. Das macht Benjamins Betrachtung so wertvoll, da er Aura außerhalb von Störung oder Destabilisierung als Qualität beschreibt. Er müsste sich daher Reinhardt oder Craig näher gefühlt haben als Theatermachern wie Antonin Artaud. Der Aurabegriff macht deutlich, dass im Bereich der Kunst atmosphärische Wahrnehmung nicht zwangsläufig mit der Abwendung von konventionellen Kunstformen und der Negierung der Zeichen-Wahrnehmung verbunden sein muss. Vielmehr lässt sich das Nebeneinander von atmosphärischer- und Zeichen-Wahrnehmung beschreiben. Wie Dieter Mersch aufzeigt, geht Benjamins Aurabegriff aus der Ästhetik Paul Valérys hervor, der ihn am Begriff einer Aura natürlicher Gegenstände vorstellt (Mersch 2000: 95). Darauf aufbauend beschreibt Benjamin Aura als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen. (Benjamin 2003: 15)
Der Betrachter oder Zuschauer erfährt die vom Kunstwerk abgelöste und im Raum anwesende Aura in Ruhe. Damit räumt Benjamin der handlungsentlasteten Position eines Betrachters einen sehr hohen Stellenwert ein. Gleichzeitig erscheint bei Benjamin der singuläre Moment von großer Bedeutung, der (zumindest in dem Beispiel)
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mit etwas Schönem und Angenehmem verbunden wird. Als Ingression lässt sich diese Erfahrung beschreiben, weil nicht die Schönheit des Gebirgszugs oder des Zweiges im Mittelpunkt stehen, wie Michael Hauskeller hervorhebt, sondern deren Erscheinung (Hauskeller 2005: 67f). Es ist die einmalige Erscheinung, die von Raum und Zeit abhängig ist, in die der Betrachter leiblich spürend hineingerät. In der Summe zeigt sich, Benjamins Aurabegriff basiert auf der Einstimmung, die frei ist von Störung, Ingression, vor allem Diskrepanz. Benjamin stellt nun technisch reproduzierbare Medien wie Film, Druck oder Photographie herkömmlichen Kunstwerken mit ihren an Naturerfahrung orientierten Wirkungsweisen entgegen. Veranlasst dazu sieht er sich aus zweierlei Gründen: Diese Medienformen werden als Kunstformen anerkannt. Diese Medienformen dienen aber auch der klassischen Avantgarde als Orientierung für ihren Feldzug gegen tradierte Konventionen. Sie betreiben eine EntAuratisierung, die Zertrümmerung der Aura innerhalb ihrer Kunstformen. Wirkungsweisen dessen, was nicht Kunst sein darf, fließen in Formen ein, die als Kunst anerkannt sind. Dem Theater kommt in diesem Prozess eine ganz prägnante und doppelsinnige Rolle zu (vgl. Lehmann 1999: 21). Denn einerseits ist es, wie ja auch Böhme immer wieder hervorhebt, paradigmatisch für atmosphärische und im Sinne von Benjamin auch für auratische Wahrnehmung (vgl. Böhme 2001a: 118). Gleichzeitig ist es aber auf Grund seiner Handlungsorientierung und seines Ereignischarakters an der Zertrümmerung der Aura aktiv beteiligt. Nicht Einstimmung steht im Vordergrund, sondern auf Grund seiner Prozessorientierung Ingression und im Zuge radikaler und provokanter Veränderungen auch Diskrepanz. Betrachtet man Theaterformen seit Anfang des 20. Jahrhunderts und das von Lehmann beschriebene postdramatische Theater, so zeigen sie einen großen Anteil des zweiten Aspekts. Mit all den oben schon angesprochenen Veränderungen, dem Verlassen der Theaterbauten, dem Spiel mit abrupten und schockartigen Momenten und der Verweigerung von Illusion, wird dem Zuschauer eine kontemplative Haltung verweigert, die es ihm erst ermöglichen würde, sich ganz auf eine Aura einzustimmen. Hier geht es mehr um ein kontinuierliches Herausreißen der Zuschauer, um eine zurückgelehnte Haltung gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Diskrepanzerfahrung wird auf der Basis von Störungen und Brü-
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chigkeit dauerhaft aufrechterhalten. Ein solcher Ansatz richtet sich gegen das, was Benjamin unter Aura versteht. Damit wird deutlich, dass der Aurabegriff von Benjamin für Theater und Kunst seit dem 20. Jahrhundert zu kurz greift. Es ist sogar zu vermuten, dass Benjamins Kunstauffassung einer hochgradig konservativen Schule entspringt, einem ästhetischen Konservatismus, im Rahmen dessen er der Avantgarde die Vernichtung des Schönen und Echten, des auratischen Kunstwerks vorhält (vgl. Mersch 2000: Zitat 17, 96). Benjamins Aurabegriff auf Gegenwartskunst anzuwenden, ist somit immer etwas heikel. Die klassische Avantgarde hat aufgezeigt, das eine Zertrümmerung der Aura letztlich nur eine andere Seite von Aura hervorhebt. Störung als Erzeugen von Diskrepanzerfahrungen und Destabilisierung herkömmlicher Wahrnehmungsweisen und Zeichengebrauchs sind kein Anzeichen für Nicht-Kunst. Daher erweist es sich auch für die hier zu entwickelnden Zusammenhänge als zweckmäßig, wenn Böhme den Aurabegriff qua Atmosphäre von Benjamin ablöst, seinen Aurabegriff allgemeiner anlegt und damit auch nicht mehr allein auf Kunstwerke bezieht: „Aura bezeichnet gewissermaßen Atmosphäre überhaupt, die leere charakterlose Hülle seiner Anwesenheit“ (Böhme 1995: 26). Zertrümmert werden im Sinne Benjamins kann sie nicht, sie kann nur einem Ich-Pol als zu seiner Stimmung diskrepant wirklich werden. Zertrümmert wird nur die Aura, die auf Einstimmung abzielt. Dadurch kann man sich ganz auf Aura als Wirklichkeit konzentrieren und dabei die Frage ausklammern, ob man es mit Kunst oder nicht zu tun hat. Darauf basiert Böhmes Ästhetik qua Aisthetik, die nicht mehr allein dazu gedacht ist, ausschließlich über Kunst zu reden. Vielmehr lässt sich zeigen, dass eigentlich das, was andere als für eine Kunstform spezifische ästhetische Erfahrung beschreiben, Teil unserer Alltagswahrnehmung sein kann. Kunst und Künstlern kommt ein besonderer Stellenwert zu, weil sie sich darin verstehen, unsere Wahrnehmung für eine gewisse Dauer auf Wirklichkeit allein zu lenken. Doch geschieht dies nicht allein dadurch, dass Aura (im Sinne Benjamins) als Einstimmung und als das Schöne erzeugt wird, sondern auch durch ein bewusstes Zertrümmern, Destabilisieren oder Herbeiführen von Ingression und Diskrepanz. So wird deutlich, dass Benjamin, wenn er von der Zertrümmerung der Aura spricht, nur insofern geirrt hat, dass sie Kunstwerke verhindert. Tatsächlich hat die klassische Avantgarde trotz aller anderslautenden Bekundungen nicht nur an der Zertrümmerung der
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benjaminschen Aura mitgewirkt, sondern langfristig betrachtet gerade Aura qua Atmosphäre stark gemacht. Das fällt besonders dort auf, wo sich Künstler nicht vollständig von vorhandenen Konventionen abwenden, dafür aber den Raum als atmosphärischen Raum, als Raum leiblicher Anwesenheit entdecken. Wieder lässt sich hier das Beispiel von Max Reinhardts Inszenierung des Sommernachtstraums anführen. Durch die ausladende Intensivierung räumlicher Mittel führt er ein sinnlich erfahrbares Bühnenbild ein. Er setzt Aura qua Atmosphäre gezielt als ästhetisches Mittel ein und trägt dazu bei, die durch Gropius konstatierte intellektuelle Passivität zu verdrängen und dafür die anscheinend verloren gegangene menschliche Sinnlichkeit zu entwickeln (vgl. Böhme 1995: 16). Dabei bewegt er sich im Bereich der Einstimmung und der Illusion, also noch ganz im Rahmen tradierter Konventionen und Korrespondenzen. Benjamin reagiert mit seinen Ausführungen auf die damals aktuelle Kunstentwicklung. Es ist der klassischen Avantgardebewegung zu verdanken, dass Aura qua Atmosphäre erstmals umfassend thematisiert wird (vgl. ebd.: 26). Auch wenn diese Thematisierung mit wenigen Ausnahmen vor allem negativ orientiert ist, also vor allem auf Diskrepanzerfahrung setzt, hat sie dennoch im Bereich des Theaters für die spezifischen Eigenschaften dieser Kunstform eine Sensibilität geweckt. An seine Grenzen gerät diese Entwicklung genau dort, wo Leben und Kunst miteinander verschmolzen werden sollen. Denn das hieße, das Phänomen der Atmosphäre nicht mehr als von mir differenten Gegenstand zu erfahren, sondern als räumlich randlose und unbestimmte Gefühlsmacht. Das Moment der Ingression würde so ausbleiben. Für ästhetische Wahrnehmung ist aber diese zentral, denn nur so kann ich mich als von einer mir anmutenden Atmosphäre different erfahren. Auf dieser Differenzerfahrung bauen ästhetische Arbeiter, (vgl. ebd.: 41), wie sie Böhme nennt, ihre Fähigkeiten auf, Atmosphären zu erzeugen. Auf dieser Differenzerfahrung baue ich meine Fähigkeit auf, selbst zwischen einer Wahrnehmung im Raum des Theaters und einer Wahrnehmung im normalen Lebensraum unterscheiden zu können. Auf dieser Fähigkeit basiert langfristig aber auch die für Theater immer ebenso relevante Zeichen-Wahrnehmung. Erst in der Distanz zum Geschehen, in der körperlichen wie kognitiven Distanzierung wird es möglich, Theater als Text zu lesen. Gelesen werden jedoch die Körper, die Eigenschaften und die begrifflich greifbaren
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Aspekte des Sichtbaren und Hörbaren. Das Atmosphärische wird nicht lesbar, weil es diesen dafür notwendigen Schritt von der Differenz zur Abtrennung nicht zulässt. Atmosphärisches Wahrnehmen setzt Involviertheit voraus. Sich einen Begriff von Atmosphäre machen heißt, sich davon ablösen, es heißt aber nicht, sich ganz von der leiblichen Anwesenheit absetzen zu können. Damit schließt sich der Kreis zu Poes Der Mann der Menge. Denn der Erzähler dieser Geschichte war ja mit dem Ziel gestartet, den Fremden für sich lesbar zu machen, dessen auratische Erscheinung so mysteriös und bedrohlich auf ihn wirkte. Er scheitert und gibt resigniert auf. Die Theaterwissenschaft aber hat es sich zu ihrer Aufgabe gemacht, über Theater reden zu können und sollte somit eine Sprache entwickeln für Aufführungen und darin für das, was Benjamin Aura und Böhme Atmosphäre nennen.
2.5 D IE B LINDHEIT
DES LESENDEN
B ETR ACHTERS
Kehren wir ein letztes Mal zu Edgar Allan Poe und seiner Erzählung Der Mann der Menge zurück. Auf der narrativen Ebene teilt sich die Geschichte in zwei Teile. Im ersten Teil erleben wir einen Erzähler, der in einem Café sitzt. Von dort aus beobachtet er vorbeikommende Menschen, deren Erscheinung er zu lesen versteht. Lesen heißt bei ihm, sie nach ihren sozialen, gesellschaftlichen oder auch Lebensumständen einzuordnen. Im zweiten Teil verfolgt dieser Erzähler einen Fremden. Dieser Fremde sticht aus der vorbeieilenden Menge heraus, tritt bedrohlich in Erscheinung. Er tritt in einer Weise in Erscheinung, dass der Erzähler nicht nur aus seiner lesenden Haltung herausgerissen wird, sondern ein Lesen schlicht nicht mehr möglich ist. Der Erzähler entscheidet sich also, dem Fremden bei seinem Gang durch die Straßen Londons zu folgen, um ihm auf die Spur zu kommen. Dass dieser Moment, in dem der Fremde dem Erzähler in Erscheinung tritt, sich ihm als Störung aufdrängt, nimmt für die gesamte theoretische Grundlegung dieser Arbeit einen zentralen Stellenwert ein. Denn Poes Erzählung besteht aus atmosphärischer Sicht nicht aus zwei Teilen – im Café und in der Stadt – sondern aus drei. Auch wenn quantitativ dieser kurze Moment nicht als
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eigenständiger narrativer Teil ins Gewicht fällt, übernimmt er als punktueller Wendepunkt eine Schlüsselfunktion für das Verständnis der Nichtlesbarkeit des Fremden. Es handelt sich bei diesem kurzen Moment um einen Schnitt, einen Schnitt, der nicht nur die vermeintlichen zwei Teile voneinander trennt, sondern ein Schnitt, der als eigenständiges Zwischen auszumachen ist und daher in dieser Arbeit über mehrere Seiten beleuchtet wurde. Diese Differenz zwischen der Ausführlichkeit narrativer Erzählung innerhalb der zwei Teile und der Punktualität dieses einen Moments zeichnet die Diskussion um Atmosphäre aus. Unser Herangehen an Dinge, Fragen, Zusammenhänge oder auch Probleme ist von der Ausführlichkeit geprägt. Ausführlichkeit meint in diesem Falle auch, auf etwas Konkretes zurückgreifen, das einem empirisch vorliegt oder abstrakt hergeleitet werden kann. Man will den Dingen auf den Grund gehen, will sie über ihre Eigenschaften erforschen. Atmosphäre hingegen geht auf ein Zwischen zurück, das weder körperlich ist, noch so direkt und konkret vorliegt. Atmosphäre wird über Ingression oder Störung als eigenständiger Gegenstand erfahrbar. Sie geht auf Plötzlichkeit zurück, steht in Verbindung mit Ereignishaftigkeit und erstreckt sich somit nicht im herkömmlichen Sinne über die Zeit. Nicht aber, weil sie keine Dauer hat, sondern weil sie in ihrer Dauer einem kontinuierlichen Wandel unterworfen ist. Dieses Zwischen ist ein für diese Arbeit zentrales Phänomen, dieses Zwischen als eigenständige Seinsweise. Um ein Übergehen dieses Zwischen geht es hingegen im zweiten Teil von Poes Erzählung. Nachdem der Erzähler feststellen musste, dass er den Fremden nicht auf gleiche Weise wird lesen können, wie alle anderen Passanten, die bisher an ihm vorbeigelaufen waren, verfolgt er den Fremden. Die Hoffnung ist groß, ihn durch Nähe und Beobachtung lesbar zu bekommen. Für den Erzähler steht fest, wo ihn sein Lesen hinführen wird, da er ja beim Fremden einen Diamanten und einen Dolch ausmachen konnte. Es führt ihn zum Verbrechen. Auch wenn es so nicht direkt angesprochen wird, kann der Erzähler letztlich nur durch die Zeugenschaft an einer frischen Tat sein Ziel erreichen. Nichts dergleichen tritt ein, nach einer 24-stündigen Verfolgung gibt er resigniert auf. ‚Dieser alte Mann‘, sagte ich schließlich, ‚ist das Urbild und der Dämon des Triebes zum Verbrechen. Er kann nicht allein sein. Er
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ist der Mann der Menge. Es wäre vergeblich, ihm zu folgen, denn ich werde weder ihn noch sein Tun tiefer durchschauen.‘ Das schlechteste Herz der Welt ist ein umfangreicheres Buch als der ‚Hortulus Animae‘, und vielleicht ist es nur eine der großen Gnadengaben Gottes, dies: ‚Es läßt sich nicht lesen.‘ (Poe 1922: 23)
Für die weitere Betrachtung ist nicht aber das Böse als nicht Lesbares von Interesse, sondern die Differenz der schon eingeführten Wahrnehmungskonzepte, die in diesem zweiten Teil sich miteinander aneinander vorbei bewegen. Der Fremde ist der Inbegriff des leiblich im Raum Anwesenden, der animalisch getrieben, vollständig indifferent zu dem Raum, durch den er sich bewegt, ganz seinen ersten Wahrnehmungswirklichkeiten erliegt und verfangen ist in den randlos ergossenen Gefühlsmächten der stadträumlichen Atmosphären. Der Erzähler – auch im Stadtraum – bleibt der distanziert Blickende, der sich auf das Äußerliche konzentriert, auf den Körper des Fremden, seine Haltungen und dessen Erscheinung. Markant ist nun – und das macht deren miteinander aneinander Vorbeibewegen aus, dass sich beide in vollständig anderen Räumen, in gänzlich anderen Dimensionen befinden und sich deshalb jeweils nicht wahrnehmen. Der Erzähler hat zwar mehrfach Angst, vom Fremden entdeckt zu werden, doch selbst zum Schluss, als er sich ihm in den Weg stellt und mit den Augen fixiert, stellt er resigniert fest, dass der Fremde ihn nicht bemerkt. Der Fremde ist für das Sichtbare blind. Er ist – wie Michel de Certeau es beschreibt – für die Dinge und körperlichen Gegenstände blind, weil er leiblich vollständig in den Stadtraum involviert ist. Diese Stadtbenutzer spielen mit unsichtbaren Räumen, in denen sie sich ebenso blind auskennen, wie sich die Körper von Liebenden verstehen. Die Wege, auf denen man sich in dieser Verflechtung trifft [...] entziehen sich der Lesbarkeit. Alles geht so vor sich, als ob eine Blindheit die organisierenden Praktiken der bewohnten Stadt charakterisiert. (de Certeau 1988: 182)
Der Fremde ist durch seine Involviertheit in den Stadtraum gänzlich eingenommen. In seiner Involviertheit wird seine leibliche Anwesenheit, seine Gestimmtheit von der Stadt gänzlich bestimmt. Der Erzähler hingegen ist im Sehen blind. Obwohl er seine sichere Position innerhalb des Café aufgibt, hält er an ihr fest. Seine
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ganze Aufmerksamkeit ist auf den Erzähler, seinen Körper und seine vom Rest abgekoppelte Erscheinung geheftet. Die Stadt selbst, durch die er sich hindurch bewegt, in der er ebenso wie der Fremde leiblich anwesend ist, übergeht er. Zwar kann er die Stadt als direkten Einfluss auf den Fremden ausmachen, doch bleibt er dabei mit dem Blick an den Fremden geheftet. An einem einzigen Ort nimmt auch er die Stadt als atmosphärischen Raum seiner leiblichen Anwesenheit wahr: im Armenviertel, dem einzigen für ihn bedrohlichen Ort. Der Erzähler versucht mit aller Kraft, an seinem zuvor erfolgreich ausgeübten kartographischen Blick festzuhalten. Er muss scheitern, was auch de Certeau an der Differenz eines vom World Trade Center herabblickenden Lesenden und eines durch den Stadtraum sich bewegenden Passanten aufzeigt. Blickt(e) man vom 110. Stock des World Trade Centers auf das städtisch architektonische Raster und die sich darin bewegenden Menschen herunter, nimmt man einen kartographischen Blick ein, der mit dem herkömmlichen Lektürebegriff verwandt ist: Lektüre als Lesen und Lesen als voyeuristischer Blick, der es erlaubt, Erblicktes in Gänze zu überschauen und aufzufassen. Will man diesen Überblick, braucht es die physische Distanz und die klare Differenz zwischen Hier und Da, zwischen dem Blickenden und dem Anderen. Dieser Blick hat sich zu einer „Fiktion des Wissens“ (de Certeau 1988: 180) geformt, die seit Jahrhunderten paradigmatisch den wissenschaftlichen Diskurs durchzieht (vgl. ebd.: 136ff). Die Aufgabe des Lesers besteht darin, die „undurchsichtige Mobilität zu einem transparenten Text gerinnen“ (ebd.: 181) zu lassen. Das Treiben in den Straßen der Stadt indessen bleibt diesem Blick verschlossen. Folglich vollzieht de Certeau einen ikarischen Sturz vom 110. Stock auf Erdgeschoßhöhe und begibt sich – auf den Spuren des Flaneurs – in die Straßen New Yorks. Für den einzelnen Passanten spielt der distanziert überschauende und erfassende Blick kaum noch eine Rolle. Im Gegenteil, in seiner Bewegung, seinem Handeln erzeugt er eine sich ständig erneuernde Gegenwärtigkeit. Die Passanten werden zu Schreibenden und ihr Handeln zu Text. Doch dieser Text entzieht sich der Lesbarkeit. Die Netze dieser voranschreitenden und sich überkreuzenden »Schriften« bilden ohne Autor und Zuschauer eine vielfältige Geschichte, die sich in Bruchstücken von Bewegungsbahnen und in
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räumlichen Veränderungen formiert. Im Verhältnis zu dem, wie es sich darstellt, bleibt diese Geschichte alltäglich, unbestimmt und anders. (Ebd.: 182)
Das gegenwärtige Handeln ist nicht begreifbar, nicht lesbar. Lesbar ist der städtische Plan, lesbar sind fixierte Spuren, die der Vergangenheit angehören. An das aktive Handeln kommt man hingegen so nicht heran. Auch die Theaterwissenschaft ist in gewisser Weise in dieser Art sehend und hörend blind. Die auf Semiotik sich berufenden Ansätze, die von Theater als Text ausgehen, nähern sich ihrem Gegenstand aus der Position des Erzählers. Das Verhältnis zwischen Aufführung und Zuschauer aber gleicht in vielerlei Hinsicht dem Verhältnis des Fremden zur Stadt. Aus der Distanz, ohne die eigene leibliche Involviertheit und Betroffenheit zu berücksichtigen, wird vieles sichtbar. Haltungen oder Gesichtszüge können als angewidert, angsterfüllt oder erleichtert ausgemacht werden, aber richtig lesbar wird das Ganze nicht. Gernot Böhme hat mit seiner Ästhetik und seiner Konzentration auf Atmosphäre als erste Wahrnehmungswirklichkeit eine Grundlage geschaffen für die Betrachtung dieses Verhältnisses zwischen dem Fremden und der Stadt, aber auch zwischen dem abgerückt analysierenden und dennoch leiblich anwesenden Erzähler und dem in der Stadt involvierten Fremden. Das heißt aber das Zwischen suchen, das sich beiden Ebenen, beiden Wahrnehmungen annähert. So kann das Zwischen an sich erst ernst genommen werden, da es in diesem kurzen Moment in der Mitte der Geschichte nicht nur als Erscheinung des Fremden den Erzähler tingiert, sondern den Raum seiner leiblichen Anwesenheit in einen neuen Zustand versetzt. Es heißt also auf der einen Seite, der Seite des Fremden, sich auf ein begriffliches Abrücken einzulassen, um Atmosphäre beschreibbar zu machen, um sowohl den IchPol der Wahrnehmung als Befindlichkeit im Raum beschreibbar zu machen, als auch den Gegenstands-Pol als gestimmten Raum und seinen Charakteren beschreiben zu können. Von Seite des Erzählers aus heißt es, die distanzierte Position, den analytischen Blick und die damit verbundenen Fragestellungen abzulegen und sich auf Atmosphäre als erste Wahrnehmungswirklichkeit einzulassen und als eigenständige Seinsweise, die vor jeder Zeichen-Wahrnehmung
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liegt. Es geht also darum, sich dem Zwischen begrifflich anzunähern.
2.6 A USBLICK Der Erzähler und der Fremde, so wurde eben ausgeführt, befinden sich in gänzlich unterschiedlichen Räumen und Dimensionen. In Abschnitt 2.4.2 wurde beschrieben, dass die Entdeckung des Raums als ein zentraler Aspekt die klassische Avantgarde auszeichnet, und dass mit dieser Entdeckung auch die Stärkung der Atmosphäre als künstlerisches Mittel eng verknüpft ist. Es geht gerade beim Konzept der atmosphärischen Wahrnehmung immer wieder um Raum und die Frage der Befindlichkeit und der leiblichen Anwesenheit im Raum. Theater ist eine der wenigen Kunstformen, die sich nicht nur im Raum abspielt, sondern Raum in Anlehnung an alle Ebenen des normalen Lebensalltags gestalten und formen kann. Für die weitere Betrachtung wird die Konzentration auf Raum und den Raum des Theaters verstärkt. Um diesen Raum des Theaters und seine Konstitution wird es im Folgenden gehen. Dafür wird vom Theaterbau ausgegangen als tradierte und hochgradig konventionalisierte Architektur. Die Diskussion dieser Aspekte wird in der Absicht geführt, in ihrer Folge aus dem Theaterbau herauszutreten, um sich ganz auf den Raum des Theaters als Raum leiblicher Anwesenheit zu konzentrieren. Dabei wird die These verfolgt, dass die spezifische Anordnung des tradierten Theaterbaus einerseits an atmosphärische Wahrnehmung angelehnt ist, andererseits aber in seiner gesamten ausgeprägten materiellen und architektonischen Ordnung diese unterläuft. Als operativer Begriff wird der Schnitt durch den Raum des Theaters eingeführt. Dieser wird als spezifisch dem Raum des Theaters zugehöriger entwickelt, der sich sowohl im tradierten Theaterbau als auch außerhalb dessen für die Konstitution eines Raums des Theaters bedeutsam zeigt. Der Schnitt soll als ästhetische Kategorie des Theaters eingeführt werden, als das Zwischen, an dem eine Ausdifferenzierung von Wahrnehmung vorgestellt werden kann, die die Kunstform und Institution Theater gezielt einzusetzen weiß, die aber gleichzeitig auch in unserer normalen Lebenswelt vorkommt.
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3. Auf dem Weg in den Raum des Theaters
3.1 O RIENTIERUNG Die Annäherung an den Schnitt durch den Raum des Theaters verlief bisher über eine Vorstellung zweier grundverschiedener Wahrnehmungskonzepte: Zeichen-Wahrnehmung und atmosphärische Wahrnehmung. Angedeutet wurde dabei, dass die Zeichen-Wahrnehmung im theaterwissenschaftlichen Kontext eine dominante Position einnimmt und so unsere Vorstellung und unseren Umgang mit Präsentationsmedien und -formen prägt. Umgekehrt hat sich aber auch gezeigt, dass atmosphärische Wahrnehmung und das Erzeugen von Atmosphären seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Bereich des Theaters auf zwei Ebenen eine ganz zentrale Rolle einnimmt: Zum einen wird Atmosphäre (bzw. Benjamins Aura) zur Einstimmung und als Mittel von Korrespondenz eingesetzt. Atmosphären werden zur Unterfütterung der schönen Künste erzeugt. Zum anderen zeichnet sich als Folge dieser Verschiebung auch ab, dass im Bereich der praktischen Theaterarbeit Störungen explizit eingesetzt werden, um tradierten Konventionen etwas entgegenzusetzen und Ereignishaftigkeit, Präsenz und die leibliche Anwesenheit im Raum hervorzuheben. Dabei spielt der Bruch mit räumlichen Ordnungssystemen eine wichtige Rolle. Mit einer Verlagerung von der Zeichen-Wahrnehmung hin zu einer atmosphärischen Wahrnehmung geht somit auch eine Verlagerung einher, in der Theater als Raum entdeckt wird.
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Das ist der Grund, warum im Folgenden der Fokus von der Wahrnehmung weg und hin zum Raum, im Speziellen zum Raum des Theaters gelenkt werden soll. Ähnlich wie die Diskussion im ersten Abschnitt in Anlehnung an die Wahrnehmung des Erzählers von Edgar Allan Poes Kurzgeschichte Der Mann der Menge geführt wurde, wird nun der Theaterbau als textähnlicher Gegenstand herangezogen, um auf der Basis der vorgestellten Wahrnehmungskonzepte das Konzept des Raums des Theaters einzuführen. Der Theaterbau ist insofern ein guter Ausgangspunkt, als er einen über Jahrhunderte entwickelten Ausdruck des sich ändernden Theaterverständnisses bildet, aus dem sich vieles über Theater als Kunstform herauslesen lässt. Umgekehrt hat der Theaterbau schon immer den Begriff von Theater massiv beeinflusst und geprägt. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Theater mit seinem Bau, der darin angesiedelten Institution und den mit diesem auch eng verbundenen Traditionen und Konventionen gleichgesetzt. Seit der Antike, vor allem aber seit der Renaissance, hat der Theaterbau den heutigen Begriff von Theater massiv mitgeformt, was sich unter anderem auf seine Kontinuität und Schwerfälligkeit zurückführen lässt. Die Reformen, die die Kunstform Theater über die Jahrhunderte erfährt, materialisieren sich in Theaterbauten immer mit Verspätung. Machen wir uns also auf den Weg ins Theater, genauer gesagt in den Raum des Theaters, jenem Ort, in dem Theater stattfindet. Es ist der Raum, in dem Bühne und Zuschauersaal aufeinandertreffen, es ist der Raum, in dem Akteure Zuschauern etwas darbieten, es ist aber auch der Raum, in dem Zuschauer eine Wirklichkeit erfahren, die von der Realität isoliert wird. Ferner ist es ein Raum, der einen Zuschauer von seinem Da-Sein in der Alltagswelt ablöst. Es ist folglich ein Raum, der sich durch Polarität auszeichnet, in dem eine Differenz vorherrscht, zwischen Zuschauer und Akteur, Zuschauerraum und Bühne, Wirklichkeit und Realität und zwischen Innen und Außen. Das was uns langfristig an dieser Polarität am meisten interessieren wird, ist ihr vielschichtiger, die Wahrnehmung betreffender Schnitt. Diesem Schnitt soll für die Konstitution des Raums des Theaters ein sehr hoher Stellenwert zugesprochen werden. Dieser Schnitt ist Teil der im ersten Abschnitt beschriebenen unterschiedlichen Wahrnehmungskonzepte, er ist Teil der Wahrnehmung, die Theater auszeichnet. In einem späteren Abschnitt (vgl. Abschnitt 4.3) wird dieser Schnitt genauer beschrieben. Zuvor aber soll es um
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den Raum des Theaters an sich gehen, dem wir uns jetzt annähern wollen, indem wir uns auf den Weg in den Raum des Theaters begeben. Traditionell befindet sich der Raum des Theaters im Herzen eines Theaterbaus. Der Theaterbau organisiert, strukturiert und reglementiert die Konventionen dessen, was allgemein unter Theater verstanden wird und somit auch Vorstellungen von dem, was der Raum des Theaters ist. Dennoch zeigt die Geschichte des Theaters deutlich, dass der Raum des Theaters nicht auf diesen spezifischen Ort, diese eindeutige Architektur oder (An-)Ordnung festgelegt ist. Letztlich ist – und damit wird die Offenheit des hier verfolgten Ansatzes deutlich – der Raum des Theaters Teil unserer alltäglichen Wahrnehmung. Nur ist der Raum des Theaters in der alltäglichen Wahrnehmung in der Regel instabil, er ist oft nur von kurzer Dauer oder wird gerne übergangen, weil man durch andere Dinge abgelenkt ist. In alltäglicher Wahrnehmung übergeht man in der Regel die eigene Präsenz innerhalb eines Raums des Theaters. Die Bewegung der folgenden Abschnitte spielt sich zwischen zwei Polen ab: Einerseits nähern wir uns dem Raum des Theaters auf der Basis seiner tradierten Konventionen zu Aufführung und Theaterbau, andererseits wird er auch vorgestellt als Teil unserer Alltagswahrnehmung. Dazu sollen folgende Aspekte angesprochen werden: Als erstes werden wir uns auf den Weg in den Theaterbau begeben. Welche spezifischen Funktionen, Eigenschaften und Ordnungen schafft der Theaterbau und wie wirken sich diese auf den Raum des Theaters, sein Verhältnis zu einem Außen, sein internes Verhältnis von Zuschauerraum zu Bühne aus? Welche Konzepte von Raum verbinden sich mit dem Theaterbau und welche Alternativen lassen sich ausmachen? Zweitens geht es um eine Analyse, welche Teile unserer Wahrnehmung innerhalb der normalen Lebenswelt der Theaterbau aufgreift, auf Dauer stellt und stabilisiert. Zum einen findet Theater als Kunstform auch außerhalb des Baus statt, zum anderen werden Handlungen, Ereignisse und Situationen im Alltagsleben (also losgelöst von der Kunstform) von der Theaterwissenschaft als dem Theater zugehörige und mit den Methoden und Mitteln der Theaterwissenschaft beschreibbare Zusammenhänge vorgestellt. Der Raum des Theaters soll also vom Theaterbau losgelöst und als eigenständiger Raum beschreibbar gemacht werden.
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3.2 D IE R OLLE DES THE ATERBAUS DES THE ATERS
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Abb. 10: Das Bochumer Schauspielhaus, Postkarte von 1961.
3. 2.1 Auf dem Weg in den Theaterbau Wo eigentlich kommt man an, wenn man sagt: „Ich gehe heute Abend ins Theater“? Langfristig kommt man im Raum des Theaters an. Im Alltagsgebrauch wird diese Aussage mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit einem Theaterbau als Zielort in Verbindung gebracht. Lauten doch gängige Nachfragen, wenn nicht „In welches Stück?“, so doch „In welches Theater?“. Weniger üblich, heutzutage aber durchaus angebracht, wären hingegen Nachfragen wie: „In welche räumliche Ordnung?“ oder „In welche Zuschauer-Akteur-Konstellation?“. Den direkten ersten Nachfragen Rechnung tragend, soll hier zunächst kein umfassend gültiger Begriff vom Raum des Theaters angesteuert werden, sondern ein konkreter, handfester Raum des Theaters, nämlich der innerhalb eines Theaterbaus. Dazu wird das Schauspielhaus Bochum exemplarisch herangezogen. Denn obwohl Theater immer schon über die Jahrtausende hinweg und durch alle Kulturen hindurch auch ohne Theaterbauten auskommt, hat sich in Europa eine recht klare Vorstellung von dem herausgebildet, was Theater ist und was nicht. Und wie sich aufzeigen lässt, orientiert sich diese Vorstellung seit Ende des 19. Jahrhundert deutlich am Theaterbau.
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Als im Jahre 1869 die Gewerbefreiheit im Norddeutschen Bund gesetzlich verankert wurde, kam es zu einer beispiellosen Bautätigkeit in Norddeutschland (vgl. Leonhardt 2007: 18). Innerhalb von eineinhalb Jahren wurden dort über neunzig neue Theaterhäuser errichtet (Carlson 1972: 164). Erst durch diese Anhäufung avancierte der Theaterbau, seine räumliche Ordnung und die damit verbundenen institutionellen Rahmungen zum grundlegenden Einfluss für das Verständnis von Theater (vgl. Zielske 1971, Hammitzsch 1906). Vor diesem Hintergrund lassen sich in vielerlei Hinsicht normative Ansätze ausmachen, die als Folge der räumlichen internen Ordnung von Theaterbauten und der damals sich etablierenden bürgerlichen Institutionalisierung anzusehen sind. Sie wirken teilweise bis heute nach, begründen die Vorstellung von Theater, seiner Institution und Organisation, vor allem aber was und wie etwas hier zur Aufführung gelangen soll. Das mag dazu beigetragen haben, dass der Begriff Theater mit dem Theaterbau eng in Verbindung gebracht wird. Die Kunstform Theater, ihre Handlungen und Zuschauer-Akteur-Konstellation, die Institution Theater und der Theaterbau kommen hierbei alle in dem allgemein verwendeten Begriff Theater zusammen. Hauptmerkmal dieser Entwicklung ist vor allem die interne räumliche Ordnung von Theaterbauten. Auch wenn das Theater jener Zeit wirtschaftlich orientiert war und sich hin zu Ausstattungsstücken und heterogenen Formaten entwickelte (vgl. Leonhardt 2007: 19), kann die interne Raumordnung als starre Gemeinsamkeit aller Entwicklungen ausgemacht werden. Allein durch diese architektonische Festlegung, deren Ursprung in der Renaissance zu finden ist, wird der Begriff von Theater eng an eine räumliche Ordnung geknüpft, die sich bis heute festgesetzt hat. Ein weiterer Grund dafür, dass die Betrachtung des Raums des Theaters vom Theaterbau ausgeht, hängt damit zusammen, dass sich viele zentrale Eigenschaften vom Raum des Theaters am klassischen Theaterbau aufzeigen lassen. Dabei sollten aber die allgemeinen Eigenschaften des Raums des Theaters – wie er hier vorgestellt werden soll – von denen der spezifischen, nicht unbedingt notwendigen Eigenschaften der Theaterbauten und ihrer Gefüge differenziert werden. Dabei muss auch diskutiert werden, was hier eigentlich notwendig heißt.
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Zu den zentralen Eigenschaften des Theaterbaus zählen: Er umschließt einen Raum des Theaters, der so von der Außenwelt abgeschottet ist, dass die Zuschauer weitestgehend handlungsentlastet einer Aufführung folgen können. Man begibt sich eigens zu dem Zweck dorthin, um Theater zu schauen. Dabei dienen der Weg selbst und insbesondere die Räume außerhalb des Raums des Theaters – Foyer, Aufgänge, Garderobe etc. – der Einstimmung auf das Theaterereignis. Vor allem aber geht es darum in einem Gefüge anzukommen, in dem ideale Verhältnisse für die Kunstform Theater vorherrschen. Sie basieren auf der schon angesprochenen physischen Trennung zwischen Alltagswelt und dem Raum des Theaters, sie basieren aber auch auf einer architektonisch implementierten, materiell unterstützten und geordneten Trennung von Zuschauerraum und Bühnenraum. Beides zusammen, die Trennung von Innen und Außen sowie von Zuschauerraum und Bühne dienen ganz maßgeblich dem Zweck, der Theatersituation einen stabilen Rahmen zu geben. Denn erst das materiell architektonische Gefüge schafft eine Grundlage, die es erleichtert, den Schein vom Sein, die Wirklichkeit von der Realität zu isolieren und die ganze Aufmerksamkeit auf das Geschehen auf der Bühne zu lenken. Das heißt also: Weil der Theaterbau zuallererst räumlich organisiert ist, dabei die greifbarste, aber auch durch seine materiellen Grenzen engste Ausformung des Raums des Theaters zur Verfügung stellt, wird er als exemplarischer Zielort angestrebt. Gleichermaßen kann er aber auch herangezogen werden, um Wahrnehmung im Raum des Theaters zu beschreiben. Er prägt und formt also nicht nur den Begriff vom Raum des Theaters, sondern auch die an ihn gebundene Wahrnehmung darin. „Ich gehe heute Abend ins Theater“, das ist das Vorhaben, mit dem wir es zu tun haben. Diese Aussage enthält nicht nur ein Ziel, sondern immer auch einen Ausgangsort, sagen wir exemplarisch, der Weg ins Theater startet zu Hause. Dieses zu Hause ist meist ein Raum, in dem Theater erst einmal nicht vorkommt, in dem Handlungen, Haltungen und Perspektiven von theaterfernen Aspekten beherrscht werden. Starte ich also von einem vertrauten Raum, heißt es, mit dem Heraustreten aus der Haustür die häusliche Gemütlichkeit zu verlassen. Mit Fahrrad, Auto, zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewege ich mich durch eine unfreundlich nasse und kalte spätherbstliche Dämmerung. Im Durchqueren diverser Räume bin
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ich einerseits im Alltag gefangen, andererseits dient mir diese Anfahrt auch der eigenen Einstimmung auf den Theaterabend. Diese ist vorrangig kognitiv, indem ich über das Stück nachdenke, etwas dazu lese oder mich zurückerinnere an andere Inszenierungen im Schauspielhaus Bochum oder von demselben Regisseur. Atmosphärisch erfolgt eine Einstimmung erst mit dem Betreten des Theaterbaus. Mit dem Betreten des Schauspielhauses Bochum durch Überwindung der wenigen Stufen werde ich emporgehoben aus der normalen Lebenswelt, um dann in ein Ambiente der 1950iger Jahre einzutreten. Doch ist das nicht der Zielort. Der Zielort ist der Raum des Theaters, das Herz des Theaterbaus. Mit dem Betreten des Theaterbaus begebe ich mich in einen Raum des Übergangs, der zu diesem Bau und damit auch zu dem ihm zugehörigen Raum des Theaters gehört. Er bildet eine Schleuse zwischen normalem Lebensraum und dem Raum des Theaters. In der dort vorherrschenden Ordnung, mit dem Vorraum der zum Erwerb von Karten und als Treffpunkt genutzt wird, mit dem Foyer, den Garderoben und ihren klaren Funktionen, wird mein Übergang von außen gesteuert. Meine Haltung und Handlung verengt sich so immer weiter, Bewegungsfreiräume werden kleiner und meine Aufmerksamkeit gebündelt. Zur Einstimmung auf das anstehende Ereignis Theateraufführung tragen auch die funktionale Gleichheit der Räume aller Theaterhäuser bei. Ich kenne mich hier aus, auch wenn ich zum ersten Mal in diesem Hause sein sollte. Als Zuschauer werde ich langsam meinem Bestimmungsort zugeführt. Meine Wege werden kanalisiert und meine Befindlichkeit fokussiert. Gleichzeitig bereitet mich meine Eintrittskarte mit dem Hinweis für den inklusiven Gebrauch von öffentlichen Verkehrsmitteln auf die gar nicht so ferne Abreise vor. So wird mir die zeitliche Begrenzung der Theateraufführung vor Augen geführt: Ich bin ein Reisender, der in diesem Ort nur zu Gast ist. Ein Klangzeichen weist darauf hin, dass endlich der Zuschauersaal als letzte Annäherung an den Raum des Theaters betreten werden darf. Dort angekommen, eröffnet sich mir für einen überschaubaren Zeitraum die Weite des großen, hell erleuchteten Saales. Die Menge strömt herein und erfüllt den Saal mit Lachen, Gesprächen und Entspannung. Je mehr Menschen darin ankommen und ihren Platz finden, umso enger wird es. Der Zuschauer wird stillgestellt. Bühne und Bühnenhaus ragen wie ein großes Gemälde in den Zuschauersaal hinein. Egal ob der Bühnenraum durch einen Vorhang
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verdeckt ist oder vom Publikum eingesehen werden kann, noch ist die Bühne ohne Leben. Der Raum hat kaum eine Ausstrahlung, verschwindet hinter seiner Sichtbarkeit. Ich bin angekommen, noch nicht im Raum des Theaters, aber im Zuschauersaal, nur noch wenige Momente vom Raum des Theaters entfernt. Abrupt kommt es in diesem großen Saal zu einem grundlegenden Stimmungswandel: alle verstummen. Ausgelöst vom ausgehenden Saallicht, wandelt sich der lebhafte Zuschauersaal zu einem gespannten und mit Erwartung aufgeladenen Raum. Alle Konzentration für die nächsten Minuten und Stunden verdichtet sich auf den Bühnenraum, der nun erleuchtet ist und durch Bewegung belebt wird. Jetzt erst bin ich angekommen im Raum des Theaters. Der nachvollzogene Weg bis hierhin macht deutlich, dass die Befindlichkeit des einzelnen Zuschauers im Raum des Theaters lange vor dem Beginn der Aufführung ansetzt und an ganz unterschiedlichen Bedingungen hängt. Die Bewegung vom Alltagsraum bis in den Raum des Theaters trägt dazu bei, dass das Ich in Bezug auf seine Gestimmtheit von der normalen Lebenswelt losgelöst wird und sich von ihr loslösen kann. Ganz langsam wird es und hat es sich selbst auf sein Dasein im Raum des Theaters eingestimmt. Umgeben von Mauern schließt der Theaterbau den normalen Lebensraum aus. Zusätzlich werden im Zuschauersaal die Zuschauer durch ihre körperliche Stilllegung handlungsentlastet. Sie können sich ganz auf das konzentrieren, was auf der Bühne geboten wird. Die Lichtverhältnisse, die Zuschauer im Dunklen und die Aufführung im Licht, richten die Blicke, den Fokus und die Konzentration aus. Das Bühnenbild, die Darsteller in der Ferne und das Licht lösen sich so leichter ab von dem, was jeweils dahinter steht. Nicht der Darsteller ist jetzt präsent, sondern die durch ihn verkörperte Rolle. All dies ist verbunden mit der Bewegung, die durch den Satz „Ich gehe heute Abend ins Theater“ ausgedrückt wird, wenn der Zielort ein Theaterbau ist, in dem tradiertes Theater gespielt wird. Bevor der Raum des Theaters aus der Sicht eines Zuschauers, Gastes oder auch Subjekts genauer betrachtet werden soll, soll die Perspektive verändert werden. Der Theaterbau und sein Raum des Theaters soll aus der Distanz betrachtet werden, um zu klären, was das Verhältnis des Raums des Theaters zur Welt außerhalb des Theaterbaus ist. Was sind die Konstellationen, Funktionen und Konse-
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quenzen eines solchen Theaterbaus und welche Rolle spielen sie für den Raum des Theaters? Erst nach dieser Klärung wird die interne Ordnung genauer betrachtet, die dem Raum des Theaters eines Theaterbaus zugrunde liegt.
3. 2. 2 Der Theaterbau als anderer Raum Auf dem Weg in den Theaterbau zeichnete sich ab, dass es sich beim Raum des Theaters eines Theaterbaus um einen speziellen Ort handelt, zu dem sich ein Zuschauer explizit hinbegeben muss. Dafür überschreitet er Grenzen und dringt in ein zu seiner Alltagswelt abgelöstes Gefüge ein, er begibt sich in einen anderen Raum. Dieser trägt zur Ablösung vom Alltag ebenso bei wie zur Einstimmung auf die Situation Theater. Doch worauf eigentlich wird hier ein Zuschauer eingestimmt? Weniger auf ein spezifisches Theaterstück als auf die Situation Theaterschauen und auf diesen anderen Raum, dem gesellschaftlich und sozial eine sehr spezifische Funktion zugeschrieben wird. Michel Foucault beschreibt solche anderen Räume als Heterotopien (vgl. Foucault 1992, Foucault 2005). Es gibt sie in allen Gesellschaften durch alle Zeiten hindurch. Anders als Utopien, handelt es sich aber um andere Räume, die tatsächlich existieren. Es sind die Räume, die außerhalb der alltäglichen Räume existieren und in und mit denen Wünsche verwirklicht, Tote beerdigt und Kranke abgeschoben werden. Auch der Theaterbau kann als eine solche Heterotopie beschrieben werden, weil er eine eigene materielle und institutionelle Ordnung hervorbringt, die sich als utopischer Raum beschreiben lässt, der tatsächlich existiert. Das eigentliche Wesen von Heterotopien ist, dass sie „alle anderen Räume in Frage“ stellen, „indem sie eine Illusion schaffen“ oder „einen anderen realen Raum […], der […] eine vollkommene Ordnung aufweist“ (Foucault 2005: 19f). Der tradierte Theaterbau erfüllt diese Beschreibung. Haben wir es doch mit einem anderen Raum zu tun, der eigens zu dem Zweck der Theateraufführung geschaffen wird. Dazu schafft er eigene Ordnungen und Wirklichkeiten und löst sich so vom normalen Lebensraum ab. Es ist ein öffentlicher Raum, der aber dennoch vom Alltag losgelöst ist, spezifischen Konventionen gehorcht und spezifische An-Ordnungen voraussetzt. In ihn darf grundsätzlich jeder eintreten, wobei es auch viele Bereiche gibt, die dem Zuschau-
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er verwehrt bleiben. Als Gast darf er den Zuschauerraum betreten, nicht aber den geschlossenen Bühnenraum. Der Theaterbau integriert das Konzept der Heterotopie in doppelter Weise. Einerseits handelt es sich um einen anderen Raum, der eine gesellschaftliche Funktion übernimmt. Man begibt sich dorthin und betritt ein vom Alltagsraum losgelöstes soziales und gesellschaftliches Gefüge. Man trifft sich mit anderen, verbringt seine Freizeit oder will sehen und gesehen werden. Mit dem Raum des Theaters selbst und der sich darin vollziehenden Aufführung hat diese Funktion aber nur wenig zu tun. Insofern kann der Theaterbau an sich als eigene Heterotopie beschrieben werden. Andererseits schafft der Theaterbau als anderer Raum eine eigene Ordnung, die einem konkreten Zweck dient, sei es ein Ritual zu begehen, einer Aufführung beizuwohnen, sich belustigen oder belehren zu lassen etc. Dieser Zweck und die damit verbundenen Handlungen schaffen eine mit dem Theaterbau eng verbundene und dennoch von ihm unabhängige Heterotopie. Hier werden Zuschauer in ganz unterschiedliche Räume involviert, die sie affektiv berühren, zum Denken anregen oder Protest hervorrufen. Die Zuschauer werden mit einem anderen Raum konfrontiert, lassen sich im besten Falle auf diesen ein und befinden sich so im Raum des Theaters. Für die erste Heterotopie ist der Theaterbau mit seiner Geschlossenheit und Abtrennung zur Außenwelt elementar. Für die zweite hingegen, nicht nur das Gegenwartstheater zeigt dies auf, ist der Theaterbau nicht notwendig, dennoch aber auf Grund des ersten Aspekts mit diesem eng verknüpft. Denn nur gemeinsam mit dem Bau kann die Kunstform Theater auf ihre eigene Art und Weise eine Materialisierung von Utopien erschaffen. Ohne den Theaterbau und die Abgeschlossenheit ist die Heterotopie Theater längst nicht so wirkungsvoll. Dem Theaterbau kommt somit auch die Funktion zu, im Ausschließen des Alltagsraums und mit seiner internen Ordnung des Raums des Theaters Utopien über die reine Imagination hinaus wirklich werden zu lassen. Es ist diese doppelte Funktion des Theaterbaus, als anderer Raum für die Erzeugung anderer Räume zuständig zu sein, die ihn und die darin sich ereignenden Handlungen als besondere Heterotopie auszeichnen. Erst auf dieser Grundlage wird die interne Polarität zwischen Bühne und Zuschauerraum überhaupt zu etwas Erstrebenswertem, zu etwas, für das vehement eingetreten
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werden muss. Diese doppelte Funktion ist verhältnismäßig neu, sie hat Ende des 19. Jahrhunderts viele Prozesse in Gang gesetzt, die dazu beigetragen haben, innerhalb des Raums des Theaters der Aufführung als solcher einen besonderen Stellenwert zuzuschreiben. Denn bis Ende des 19. Jahrhunderts war diese heute übliche polare Ausrichtung zwischen Zuschauer und Bühne mit all ihrer Konzentration und fokussierten Aufmerksamkeit längst nicht so eindimensional. Das Theater kannte noch keinen verdunkelten Zuschauersaal, sehen ging auch immer einher mit gesehen werden, was sich zwischen Bühne, Souverän und den restlichen Zuschauern abspielte. Hier ist die erste Heterotopie mit dem Raum des Theaters und der Aufführung noch eng verknüpft. Erst mit der Verdunklung, mit der Konzentration auf die Bühne, der Verbürgerlichung und der Orientierung an Realismus und Naturalismus, rückt die Bühne als anderer Raum, als Illusionsraum in den Vordergrund. Auch diese Entwicklung lässt sich als Motivation für die klassische Avantgarde ausmachen, die Entwicklung einer Aufspaltung zwischen der gesellschaftlichen Heterotopie innerhalb des Theaterbaus und der illusionären Heterotopie innerhalb des Raums des Theaters. Heterotopien sind wandelbar, können sich auflösen und gar zum Verschwinden gebracht werden (vgl. Foucault 2005: 13). Doch je stärker sie sich materialisieren und als Gegenstände dauerhaft vorhanden sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich nur wandeln, ohne gänzlich zu verschwinden. Und so zeigt sich, dass die Re-Etablierung eigenständiger Theaterhäuser in der Renaissance nicht nur eine ganz neue und andere Kultur des Theaters etabliert, sondern auch, dass hierdurch Konstanten geschaffen werden, die allein über den Bau und seine Ordnung bis heute von Relevanz sind. Das ist die Besonderheit des Theaterbaus als Heterotopie, er sichert selbst sein Überleben und das Überleben der Kunstform, die er in sich aufnimmt. Sofern der Theaterbau als Ort des Theaters feststeht, findet der Wandel immer in den Grenzen dieses Baus und seiner Ordnung statt. Der Bau formt nicht nur den Begriff von Theater mit, sondern grenzt ihn mit seiner Inflexibilität massiv ein. Und so steht der Theaterbau als dieser andere Raum auf drei Weisen zwischen Tradition, Zeitgeist und Formung zukünftiger Auffassungen. Erstens baut er auf tradierten Konventionen und spezifischen Ordnungen auf, die grundlegend für sein Sein als gesellschaftlich und sozial gewachsene Heterotopie sind. Zweitens
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formuliert jedes Zeitalter, jeder Architekt und jede spezifische Auffassung von Theater andere und neue Anforderungen an den Raum des Theaters und den ihn einfassenden Theaterbau. Drittens ist ein solcher Bau von großer Dauer. Seine materielle Ordnung ist noch Jahrzehnte, zum Teil sogar Jahrhunderte später von Bestand. Das heißt, ein Theaterbau ist an der begrifflichen Festlegung von Theater, dem Raum des Theaters und damit auch an dem ihm innewohnenden Wahrnehmungskonzept beteiligt, und aufgrund seiner Lebensdauer damit über die Entstehungszeit hinaus auch an der Aufrechterhaltung existierender Konventionen.
Abb. 11: Schauspielhaus Bochum. Mehrbild Postkarte von 1955.
An der Geschichte des Bochumer Schauspielhauses lässt sich das gut exemplarisch für andere Theaterbau nachzeichnen. Der 1953 fertig gestellte Bau selbst lässt sich historisch eindeutig einordnen. Die 1950iger Jahre können diesem Gebäude außen wie innen abgelesen werden. Über Ambiente und Ausgestaltung hinaus betrifft das auch die innere Ordnung, die theaterbezogenen Entscheidungen wie beispielsweise die Organisation des Verhältnisses von Zuschauer und Bühne. Dabei orientiert sich dieser Bau in seinem Grundgestus an tradierten Formen, die mit Reformideen der klassischen Avantgarde durchsetzt sind. Weit entfernt bleibt der Bau hingegen von den in den 1950iger, und 1960iger Jahren entstehenden Ansätzen (etwa der Theatermacher Peter Brooks oder Richard Schechner), die auf eine Auflösung der klassischen Anordnung zielen und die räumliche Trennung zwischen Zuschauer und Akteuren auflösen. Das Bochumer Theater ist insofern ein interessantes Beispiel, als sein Architekt, Gerhard Graubner, Ende der 1960iger Jahre in
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seinem Buch Theaterbau – Aufgabe und Planung (Graubner 1968) seine Vorstellungen und Konzepte für den Bau von Theaterbauten im Nachkriegsdeutschland formuliert hat. Für die Erläuterungen seiner Konzepte holt er weit aus und greift auf die Ursprünge des Theaters und theaterbaulicher Aktivität zurück, um daran so etwas wie Notwendigkeiten herzuleiten. Am Anfang steht nach Graubner das Theater der minoischen Zeit mit einer frontalen Bühne (vgl. ebd.: 11). Zwischen Heute und Damals hält er ferner das antike Arenatheater für eine bedeutsame theaterbauliche Variation. In seinem historischen Abriss konzentriert er sich auf drei Anordnungen: eine frontale, eine völlige und eine teilweise konzentrische Umschließung des Bühnenbereiches. Auf dieser historischen Grundlage entwickelt er seine konzeptionellen Ansätze und vermittelt, warum die interne Struktur des Raums des Theaters auf ein architektonisch implementiertes frontales Gegenüber von Zuschauer und Bühne angewiesen ist: „Der Theaterbau ist gebunden an eine Freiheit in Grenzen. Die Grenzen aber werden ihm vom Theater selbst gezogen“ (ebd.: 12). Eine „unabdingbare Forderung des Theaters“ ist die „Abgrenzung der Bühne gegenüber dem sie umgebenden Raum durch die Rampe“ (ebd.). Außerdem legt er großen Wert auf eine „gute Sicht von allen Plätzen und gute Hörsamkeit auf allen Plätzen“ (ebd.: 13). Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass Graubner seine Ansätze ganz unter dem Eindruck der Ende der 1960iger Jahre geführten heftigen Debatte über Konventionen und Traditionen vorstellt. Er argumentiert aus einer auffälligen Verteidigungshaltung heraus. Er grenzt sich von all jenen Experimenten ab, die den gegliederten und wohl geordneten Raum des Theaters verweigern, und von jenen, die Sehen und Hören als zentrale sinnliche Wahrnehmungsorientierungen beschneiden. Happening, Performancekunst oder die räumlich offenen Versuche eines Richard Schechner oder Peter Brook verurteilt er zwar nicht explizit, dennoch schwingt implizit die Kritik an den Vorreitern postdramatischer Theaterformen und der Hervorhebung performativer und auf Präsenz setzende Formen immer mit. Umso auffälliger ist auch, dass Graubner sich selbst als Theaterreformer sieht, weil er die Distanz zwischen Bühne und dem einzelnen Zuschauer baulich minimiert. Der Orchestergraben kann zu einer Vorbühne ausgebaut werden, so dass die Rampe als Grenzlinie gewahrt wird bei gleichzeitiger Ermöglichung körperlicher Nähe.
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An Graubners Ausführungen zeigt sich, dass die geschaffene räumliche Ordnung sich vor allem an der kulturhistorisch gewachsenen Prävalenz von Sehen und Hören orientiert. Im Vordergrund steht ein geometrisch orientiertes Raumkonzept, bei dem es neben der Lage von Räumen und Orten zueinander vor allem um Positionen und Abstände geht. Der Raum des Theaters als Raum der Befindlichkeit wird diesen geometrischen Grundprinzipien untergeordnet. Vorrangig ist die durch architektonische Entscheidungen herbeigeführte Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, die durch materielle bauliche Maßnahmen umgesetzt und gleichzeitig durch sie überwunden werden soll. Auf der einen Seite wird eine klare materielle Trennung von Bühne und Zuschauerraum baulich implementiert, auf der anderen Seite soll diese aber auch minimiert werden. Das wird vornehmlich durch eine Optimierung von Sehen und Hören, eine größtmögliche Variabilität der Trennlinie zwischen Zuschauer- und Bühnenraum und die Feststellung zu erreichen versucht, dass Akteure so etwas wie eine Ausstrahlung haben. Wie für jeden Theaterbau bleibt ein Dilemma symptomatisch, nämlich der Wunsch, auf baulich materieller Ebene Trennung zu schaffen, die möglichst minimiert werden soll, ohne dabei die Trennlinie zwischen Zuschauer und Akteur gänzlich aufzulösen. Garant für diese dennoch für notwendig befundene Trennlinie wird hier die Materialität der räumlichen Ordnung und ihre geometrische Organisation. An Graubners Bochumer Schauspielhaus zeigt sich die Ambivalenz zwischen Konvention und Neuerung: Schon immer wurden beim Bau von Theatern viele Entscheidungen unabhängig vom kurzweiligen Zeitgeist getroffen. Sie beziehen sich vielmehr auf Traditionen und daraus gewachsenen Konventionen, die zum Teil als Notwendigkeiten im Sinne technischer Standards vertreten werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Raum des Theaters als Teil eines tradierten Theaterbaus ist ein anderer Raum, zu dem man sich explizit hinbegeben muss. Dazu durchquert man verschiedene Räume, um letztlich dort ankommen zu können. Die Qualität des Raums des Theaters eines Theaterbaus basiert gerade auf seiner weitestgehenden Loslösung von der Alltagswelt. Mit dem Weg ins Theater ist auch eine Einstimmung verbunden, zu der der Theaterbau selbst beiträgt: Durch seine Übergangsräume und den Zuschauersaal werden der je spezifische Stimmungsraum der Zuschauer und der (durch Architektur, andere Personen, Licht, Am-
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biente, Ausstattung etc.) bestimmte Stimmungsraum des Raums des Theaters ineinander übergeführt. Der tradierte Theaterbau ist konzeptionell auf Einstimmung und Korrespondenz aller an der Handlung beteiligten Elemente und Stimmungen ausgelegt. Er ist von Dauer und somit als kulturhistorisch gewachsene Form nicht nur Ausdruck vergangener und gegenwärtiger Auffassungen, sondern von zukünftiger kulturhistorischer Bedeutung. Deshalb gehört er zu den zentralen und äußerst einflussreichen Manifestierungen von Theater. Neben Stimmungsräumen schafft er als Heterotopie auch klare Ordnungen und Gefüge, die ihm gesellschaftlich und sozial als anderen Raum einen besonderen Status zusprechen. Hierzu gehört nicht nur die durch ihn forcierte Trennung zwischen dem Raum des Theaters und der Alltagswelt, sondern auch die interne Ordnung. Denn im Raum des Theaters eines Theaterbaus steht die architektonische materiell herbeigeführte Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühnenraum ebenso im Zentrum wie das gleichzeitige Streben nach ihrer Überwindung auf der Ebene von Sehen, Hören und Verstehen sowie auf der Ebene von Ausstrahlung, Erscheinung und Atmosphäre.
3. 2.3 Der Theaterbau und der genormte Raum des Theaters Der Theaterbau ist keine notwendige Bedingung von Theater oder für die Konstitution eines Raums des Theaters. Das zumindest wurde weiter oben schon einmal behauptet. Dennoch findet man europaweit in fast jeder größeren Stadt Theaterbauten, ebenso orientieren sich selbst kleine Bühnen an den Konventionen der Großen. Die Funktion des Baus als gesellschaftliche Heterotopie wurde soeben vorgestellt. Auch wurde daran orientiert angedeutet, dass die Festlegung auf den Theaterbau Konsequenzen für die Kunstform Theater hat und ihr Bezug zu Konventionen und Neuerungen dadurch geprägt wird. Um diese These zu vertiefen, soll im Folgenden der Focus stärker auf den Raum des Theaters selbst gerichtet werden. Dazu wird ein erster Schritt in den Raum des Theaters hinein vollzogen. Noch immer soll dabei auf den Raum des Theaters mit einer gewissen Distanz geblickt werden. Ins Zentrum rücken jetzt seine architektonische Ordnung und die Frage, welche Notwendigkeit mit ihr verbunden ist und welche Funktion sie übernimmt.
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Befasst man sich mit der Ordnung und den Konventionen des Raums des Theaters eines Theaterbaus, erweist sich der Blick auf Kino und sein Raum des Kinos als hilfreicher Einstieg. Der Raum des Kinos ist ein normierter Raum mit technisch-apparativen Notwendigkeiten, die die Frage nach den Gründen für die unmittelbare Assoziation des Kinos mit dem Kinobau beantworten. Im Kinosaal muss es dunkel sein. Eine große Leinwand muss an einem Ende eines Raums angebracht sein. Ein großer und schwerer Projektor, der Strom benötigt und Lärm macht, ist in einem separaten schallisolierten Raum gegenüber der Leinwand aufgebaut. Für die Übertragung des Tones installiert man heutzutage ein in sich abgestimmtes Lautsprechersystem. Gewisse Filme dürfen sogar nur noch gezeigt werden, wenn Kinos zertifizierte Soundsysteme nachweisen können. All diese Kriterien lassen es sinnvoll erscheinen, feste Häuser eigens für Kinovorstellungen einzurichten. Dagegen hat jede Open Air- oder Auto-Kino-Veranstaltung mit Abstrichen zu kämpfen, die auf Kosten der Zuschauer-Film Beziehung gehen. Jedem, der sich dazu entscheidet, ins Kino zu gehen, ist im Vorfeld vieles von dem bekannt, was ihn erwartet. Die räumliche Ordnung wird eben nicht von sich verändernden Konventionen und Vorstellungen bestimmt, sondern ausschließlich durch technische Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Ein Kinozuschauer weiß also, in welchem Gefüge er ankommen wird, wenn er ins Kino geht. Er kann davon ausgehen, dass seine Erfahrung in Bezug auf den konkreten Raum des Kinos, mit seiner Erwartung übereinstimmt. Wenn er also sagt: „Ich gehe heute Abend ins Kino“, wird er vielleicht gefragt: „In welches“ oder „In welchen Film“, aber keiner würde daran zweifeln, dass er in einen geschlossenen Kinobau geht und in welche räumliche Anordnung er hineingeraten wird Auf den ersten Blick und mit bewusst gewählter Einseitigkeit und Übertreibung vorgestellt, verhält es sich mit dem Zielort Schauspielhaus Bochum, wenn dort eine konventionelle Aufführung gegeben wird, erst einmal nicht anders. Die fürs Kino vorgestellten Nachfragen zur Aussage: „Ich gehe heute Abend ins Kino“ entsprechen den zuerst gestellten Fragen für das Theater. Wie mit Kino verbindet sich auch mit einem tradierten Theaterbau eine klare auf Konventionen und seine materiell implementierte Ordnung basierende Erwartungshaltung in Bezug auf den Raum des Theaters, selbst dann, wenn die Inszenierung oder das Stück nicht bekannt sind. Aufs Wesentliche komprimiert heißt das, dort wird eine Insze-
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nierung gegeben, in der sich ein intentionales Geschehen vollzieht. Dieses Geschehen findet innerhalb einer klaren räumlichen Ordnung statt. Darsteller, die sich auf einer architektonisch abgesetzten Bühne befinden, führen etwas auf; gleichzeitig sitzen Zuschauer in einem an die Bühne angegliederten, dennoch separierten Saal. Die Wahrnehmung der Zuschauer ist auf Sehen und Hören auf die Bühne ausgerichtet. Ferner nehmen sie an einer Aufführung teil, ohne körperlich selbst involviert zu werden. Diese regelhafte Erwartung gibt Sicherheit, auch darin, sich zu diesem anderen Raum überhaupt hinbegeben zu wollen. Je zuverlässiger diese Erwartung erfüllt wird, desto enger binden sich die dort herrschenden Regeln an Konventionen, im Extremfall sind sie vollständig normiert. Diese Regeln führen aber auch dazu, dass massive Einschnitte in das Verhältnis zwischen Publikum und Akteuren, zwischen Zuschauersaal und Bühne notwendig sind, die die Wahrnehmung im Raum des Theaters prägen. Neben der Konzentration auf Sehen und Hören schafft diese Ordnung eine klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt. Das Subjekt in dem dunklen Saal, handlungsunfähig zurückgezogen, konzentriert seine ganze Aufmerksamkeit auf das Geschehen auf der Bühne. Jede Bewegung, jeder Gegenstand erhält durch diese Konzentration einen besonderen Stellenwert. Deutlich wird, dass es im tradierten Theater und seinem Theaterbau in Bezug auf Vorgabe und Einhaltung von Regeln, Standards und Normen viele Parallelen zum heutigen Kino und dem Raum des Kinos gibt. Der tradierte Theaterbau orientierte sich zwischen der Renaissance und dem Ende des 19. Jahrhunderts – letztlich aber bis heute – an relativ unflexiblen und beinahe statischen Regelsystemen. Daran orientiert sich jeweils auch die Auffassung, wie Theateraufführungen zu funktionieren haben. Auch wenn dieses Regelsystem in dieser Zeit diversen Wandeln unterzogen war, so waren die Grenzen in der jeweiligen Zeit sehr viel enger gesetzt als es seit Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall ist: Das Verlassen etablierter Ordnungssysteme, ein Aufbrechen tradierter Formen und die Loslösung vom Drama sind Ausdrucksformen dieses Ausbruchs. In diesem ganzen Ablöseprozess bleibt aber trotz allem der Theaterbau mit wenigen Ausnahmen konstanter Ort konventioneller und damit einschätzbarer Aufführungen. Dies könnte erklären, wieso im Allgemeinen bei dem Vorhaben, ins Theater gehen zu wollen, der Theaterbau einen so hohen Stellenwert einnimmt.
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Gleichwohl trifft diese Sicherheit – und damit platzt diese Blase normhafter Festlegung auf Konventionen und Nutzung des tradierten Theaterbaus – für die gegenwärtige Theaterlandschaft kaum mehr zu. Die gegenwärtige Theaterlandschaft überwindet nicht nur die materiellen Vorgaben in den Theaterhäusern, sondern kennt auch mehr als diesen klar definierten und apparativ determinierten Ort. Letztlich kann man heute kaum noch sagen, wo man eigentlich ankommt, wenn man ins Theater geht. Von Marktplätzen, über Fahrstühle, Taxis und offene Räume ohne Sitze, Bühne und klare Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern ist alles möglich. Der Raum des Theaters ist nicht mehr eindeutig Teil eines Theaterbaus, sondern kann sich überall konstituieren. Und selbst dann, wenn man im Theaterbau und in seiner traditionellen Ordnung landet, ist nicht garantiert, dass die Aufführung und die Darsteller sich an die dort vorherrschende Ordnung und ihre vorgesehenen Regeln halten. Dies zeigt, dass anders als der Raum des Kinos, der Raum des Theaters nicht auf eine spezifische, geometrisch-architektonische räumliche Ordnung und nicht auf eine standardisierte Nutzung festgelegt ist. Damit ist ein Merkmal des Raums des Theaters benannt, dass uns immer wieder beschäftigen wird und sich von allem bisher Gesagten ablöst: Die Möglichkeit, den Theaterbau und seine materielle Ordnung im doppelten Sinne zu verlassen – Durchbrechen der vorgesehenen Regeln oder Heraustreten – und dennoch einen Raum des Theaters vorfinden zu können. Genau diese Schlussfolgerung bringt neue Fragen auf, denn wenn nicht mehr wie bis Anfang des 20. Jahrhunderts, der Theaterbau allein als Garant für Theater und als räumlich normativ organisierte Hülle für den Raum des Theaters gilt, was ist es, das zu seiner Konstitution beiträgt und was hält ihn zusammen? Insbesondere dann, wenn man den Theaterbau konkret verlässt, stellt sich diese Frage. Welche Bedingungen müssen also erfüllt werden, damit ein Raum des Theaters sich auch außerhalb des tradierten Theaterbaus konstituieren kann?
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Für den Theaterbau wurden bisher zwei wesentliche Eigenschaften hervorgehoben: Er trennt erstens architektonisch Außen und Innen und löst damit die Alltagswelt vom Raum des Theaters ab. Er implementiert zweitens einen Raum des Theaters mit einer klaren architektonischen Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum. Dagegen war die konkrete Situation des Zuschauers im Raum des Theaters eines Theaterbaus noch wenig im Blick. Was also zeichnet seine Situation dort aus, was prägt den Zuschauerraum? Und was lässt sich über die räumliche Situation der Bühne und ihrer Aufführung an sich sagen? Zuschauerraum und Bühne, so suggeriert es die interne Ordnung des Theaterbaus, sind die zwei Pole, die gemeinsam an der Konstitution des Raums des Theaters mitwirken. Erst durch eine Betrachtung dieser Pole lässt sich sagen, wo man ankommt, wenn man den Raum des Theaters des Theaterbaus betritt. Zur Annäherung an diese Fragen sei wieder die Sicht des Zuschauers im Bochumer Schauspielhaus eingenommen, und zwar zunächst mit der Einschränkung auf tradierte und konventionelle Aufführungsformen. Der Raum des Theaters konstituiert sich für mich in dem Moment, in dem das Saallicht gelöscht wird. Genauer: Wenn sich, nachdem sich das Saallicht abgedunkelt hat, womöglich ein Vorhang hebt, Licht auf der Bühne angeht und Akteure auftreten, dann ist der Raum des Theaters etabliert. Es handelt sich um die Situation, die man allgemein als Aufführung bezeichnet, in der Zuschauer und Akteure gleichzeitig zusammenkommen, wobei die Zuschauer in der Rolle von Betrachtern, Rezipienten oder auch Gästen sind und die Akteure eine Inszenierung darbieten. Der Raum des Theaters ist – wie es Lehmann umschreibt – jener Raum gemeinsam geatmeter Luft, in dem Akteure und Zuschauer eine gemeinsame Lebenszeit verbringen und verbrauchen (vgl. Lehmann 2001: 12f). Ich, der zuvor noch auf dem Weg ins Theater war und endlich im Raum des Theaters angekommen bin, wurde auf dem mir zugewiesenen Platz auf bequeme Art und Weise stillgestellt. Körperlich wird mein Alltag durch den Theaterbau ausgeschlossen. Mein Körper, vor allem meine Augen und Ohren sind auf die Bühne hin ausgerichtet, gleichzeitig befinde ich mich in einer sicheren Dis-
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tanz zur Bühne. Ganz im Sinne von Benjamins Aurabegriff (vgl. Benjamin 2003) kann ich mich so den Erscheinungen auf der Bühne hingeben, sie auf mich wirken lassen. Die Kombination dieser Merkmale entlastet mich von jeglicher Notwendigkeit handeln zu müssen. Zum Theater gehört allerdings auch, dass ich im Gegensatz zum Kino nicht sicher davor gefeit bin, vielleicht doch handeln zu müssen. Die Schauspieler können mich ansprechen, sie können von der Bühne herunterkommen und mich dazu veranlassen, meine sichere und handlungsentlastete Position aufgeben zu müssen. Ich muss also beständig mit Realität rechnen (vgl. Böhme 2001a: 165), wie es Böhme ausdrückt. Verlässt man den Zuschauer und konzentriert sich auf die Bühne und das Geschehen dort, so agieren hier Akteure in vielfältiger Weise. Akteure sind nicht nur die Darsteller, sondern auch das Licht, die Kostüme, Objekte oder das Bühnenbild. Akteure sind all jene Personen und Gegenstände, die Teil einer dort aufgeführten Szene sind. In tradierter Manier wird ein Drama aufgeführt, zum Beispiel Hamlet. Die Darsteller verkörpern Figuren des Dramas von Shakespeare. Das Gesamtsetting dieser Aufführung besteht aus einer umfassenden Korrespondenz, die sich zwischen dem Drama, der Inszenierung und der Darstellung ergibt (vgl. Abschnitt 2.3). Die zwei im Abschnitt 2.1 vorgestellten Wahrnehmungskonzepte atmosphärischer- und Zeichen-Wahrnehmung lassen sich beide auf diese Art von Schauspieltheater sehr gut anwenden. Es bestehen ideale Bedingungen für eine Zeichen-Wahrnehmung. Die Zuschauer können aus der Distanz heraus die Zeichen auf der Bühne lesen. Sie sehen und hören einen Akteur und können ihn als Verkörperung Hamlets erfassen. Sie sehen und hören Klang, Licht, Kostüme etc., die sich mit dem Stück, den Akteuren und ihrem Handeln in Verbindung bringen lassen. Ein Großteil der Handlung auf der Bühne steht in Korrespondenz zum Drama Shakespeares und kann auf der Basis eigener Assoziationen und eigenen Wissens miteinander abgeglichen werden. Es ist die Verbindung von zueinander passenden Zeichen und das Wissen der Zuschauer, die hier zu einer Korrespondenz führen. Sie ermöglicht, dass das Geschehen auf der Bühne als geschlossen erfahren wird, bei dem alle Akteure und Stimmungen zueinander passen und miteinander zu tun haben. Auf der Grundlage einer solchen Korrespondenz wird ein Lesen der Zeichen möglich, so dass Theaterschauen zu einem analytischen Prozess des Erfassens und Übersetzens wird.
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Diese Art von Schauspiel eignet sich aber auch, um daran atmosphärisches Wahrnehmen zu beschreiben. Böhme stellt eine solche an tradierte und konventionelle Formen orientierte Aufführung sogar als paradigmatisch für seine Ästhetik qua Aisthetik vor. Denn, so schreibt er, der Ästhetik muss es darum gehen, die Erscheinung als solche zu bestimmen (vgl. Böhme 2001a: 118). Und eine solche Aufführung schafft es, die Erscheinung eines Hamlet als Wirklichkeit von der sie erzeugenden Realität, dem Darsteller, abzulösen. Doch nicht allein um die Erscheinung eines Darstellers geht es Böhme, sondern um die Wahrnehmungswirklichkeiten, die durch Atmosphären erzeugt werden. „Auf dem Theater wird gespielt, das Theater isoliert institutionell die Wirklichkeit von der Realität“ (ebd.). Dennoch muss immer mit Realität gerechnet werden. Auch tradiertes Theater ist nicht davor gefeit bzw. zieht seinen Reiz daraus, dass sich die Realität des Darstellers vor die Erscheinung Hamlets schiebt. Jede Panne im Theater, jeder vergessene Text, jeder heruntergefallene angeklebte Bart oder verpasste Einsatz erzeugt eine Störung, in der die Realität in das Geschehen einbricht. Dann wird die Illusion durchbrochen. Zusammenfassend wird deutlich, dass dieser Raum des Theaters im Theaterbau, der bisher ausschließlich an einer traditionellen Auffassung von Theater orientiert wurde, nicht nur durch ein Ausschließen von Alltag und eine Trennung von Zuschauerraum und Bühne charakterisiert werden kann, sondern auch als Raum, der einen Zuschauer potentiell von der Notwendigkeit befreit handeln zu müssen. Dadurch ist es ihm möglich, seine ganze Aufmerksamkeit auf das Geschehen auf der Bühne zu richten. Ferner lassen sich zwei grundverschiedene, aber dennoch gleichberechtigte Konzepte anführen, die die architektonisch errichtete Distanz überwinden: Zum einen das sich auf Korrespondenzen beziehende Lesen und Begreifen, die dem zeichenorientierten Wahrnehmen und der kommunikationstheoretischen Vermittlung sehr nahe stehen, und zum anderen ein ganz anders gelagertes atmosphärisches Wahrnehmen, bei dem die Wahrnehmungswirklichkeit von der sie erzeugenden Realität isoliert wird. So lässt sich der Raum des Theaters also auch an Hand der darin erfahrenen Wahrnehmungen beschreiben. Die Zeichen-Wahrnehmung, die auf Lesen ausgerichtet ist und die Handlung auf der Bühne als sinnlich Wahrnehmbares kontextualisiert, entlarvt das Geschehen als fiktional. Parallel wird das Ge-
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schehen atmosphärisch erfahren und die Wirklichkeit tritt vor die Realität.
3.3.1 Die Labilität des Raums des Theaters Die Beschreibung des Raums des Theaters basiert bislang überwiegend auf einer Auffassung von Theater, die weit von dem heutigen Verständnis von Gegenwartstheater entfernt ist. Die Praxis des Theaters verlässt nicht nur den Theaterbau, sondern spielt mit Diskrepanz, Destabilisierung und Brüchen und zwar sowohl auf Seiten einer Zeichen-Wahrnehmung als auch auf Seiten einer atmosphärischen Wahrnehmung. Alle bisher erwähnten Charakteristika eines Raums des Theaters werden durch dieses Spiel in Frage gestellt. Ob durch ein Heraustreten aus dem Theaterbau und das Verlagern der Bühne auf Marktplätze, in Busse oder Fahrstühle der normale Lebensraum in das Geschehen hineindrängt; ob die Zuschauer keine Plätze mehr zugewiesen bekommen und zwischen den Akteuren sich frei bewegen können und dadurch die materielle und architektonische Trennung nicht mehr gegeben ist; ob die Zuschauer als Konsequenz der eben genannten Brüche nicht mehr vollständig handlungsentlastet sind oder ob Gegenwärtigkeit durch Störung, Diskrepanz oder auch Ingression in den Vordergrund rückt und eine Verkörperung von dramatischen Figuren verdrängt, noch immer, so die These, konstituiert sich ein Raum des Theaters. Zu fragen ist dann allerdings, wodurch der Raum des Theaters dann noch charakterisiert werden kann. Eine wesentliche Grundcharakteristik, die ihn vom Alltagsraum unterscheidet und sich auf einer handlungsorientierten Ebene abspielt, ist seine Inszeniertheit (vgl. Abschnitt 5). Zusätzlich lässt er sich, wenn man sich ganz auf Raum und Wahrnehmung konzentriert, durch eine Infragestellung all jener Aspekte charakterisieren, für die der Theaterbau seit Jahrhunderten in Bezug auf die Etablierung eines Raums des Theaters steht: Anstelle von Stabilität treten Instabilität, anstelle von Kontinuität Abruptheit und von Illusion Wirklichkeit. Umgekehrt formuliert, der Theaterbau schafft Stabilität für eine Wahrnehmungssituation, die in unserer alltäglichen Wahrnehmung vorkommt und von Böhme als ästhetische Erfahrung beschrieben wird. Doch wird sie in der alltäglichen Wahrnehmung in der Regel übergangen (Böhme 2001a: 118). Die Besonderheit von Böhmes Aussage besteht darin,
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dass seiner Ansicht nach ästhetische Erfahrung nicht neben der gewöhnlichen Erfahrung als kunstspezifische existiert, sondern sie immer schon Teil dieser ist. Der Theaterbau, die Kunst und ihre Institutionen schaffen Bedingungen, die diese Erfahrung für einen gewissen Zeitraum aufrecht erhalten und verstärken. Ganz anders argumentiert zum Beispiel Erika Fischer-Lichte: ästhetische Erfahrung sei Schwellenerfahrung (Fischer-Lichte 2001: 347ff). Auf der Basis der von ihr vollzogenen Differenz von semiotischer Ästhetik und performativer Ästhetik, führt ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung zur Destabilisierung von Zuständen. Im Bereich der Semiotik führt dies zur Umstrukturierung von Bedeutungssystemen, im Bereich performativer Ästhetik zur Destabilisierung der Selbst- und Weltwahrnehmung sowie zu einer Veränderung des körperlichen Zustandes (ebd.: 355). Auf Grund einer fortschreitenden Ästhetisierung der Lebenswelt könne aber Schwellenerfahrung kaum noch über Wohlgefallen erzeugt werden, sondern müsse über Störung, Kollision, Irritation oder Destablisierung, also die „Auslösung von Krisen“ (ebd.: 362) erzeugt werden. Damit versucht sie einen Grund zu benennen, warum die Kunst seit Anfang des 20. Jahrhunderts so vehement mit Störung hantiert. Ästhetische Erfahrung tritt merkwürdig in Konkurrenz zu einer „Spaß- und Eventkultur“ (ebd.), die zur Abstumpfung und Desensibilisierung von Schwellenerfahrung beiträgt. Sie ist mit diesem Ansatz weit von dem Böhmes entfernt, der ja auch von Ingression als Schwellenerfahrung spricht. Doch wird Schwellenerfahrung nicht durch Kraft und Potenz ausgelöst, sondern ist Teil der alltäglichen Wahrnehmung, dort nämlich als Ausdifferenzierung der ersten Wahrnehmungswirklichkeit. Ingression erzeugt solch eine Schwellenerfahrung, die mich meine Befindlichkeit in einer Atmosphäre erfahren lässt, wodurch sich ein Ich-Pol und ein Gegenstands-Pol herausbilden: „In meinem Befinden spüre ich, in was für einem Raum ich mich befinde“ (Böhme 2001b: 96). Nicht unwesentlich für ästhetische Erfahrung ist auch der Aspekt der Handlungsentlastung, denn erst durch sie wird es mir möglich, mich auf eine Atmosphäre einzulassen und sie als von mir und meiner Stimmung different ästhetisch zu erfahren. Das heißt aber, ästhetische Erfahrung muss nicht explizit und auf Grund von Abstumpfung mit immer neuen Mitteln erzeugt werden, stattdessen ist sie Teil meiner Alltagswahrnehmung, wie die Erfahrung von Straßentheater verdeutlicht.
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Die Ordnung des Straßentheaters ist labil. Zustande kommt sie durch ein Zusammenkommen von Akteuren und Publikum auf einem öffentlichen Platz. Die Akteure agieren intentional und die Zuschauer entscheiden sich, für einen gewissen Zeitraum dieser Inszenierung beizuwohnen. Gemeinsam etablieren sie einen Raum des Theaters. Weder begibt sich ein Zuschauer hier explizit hin, noch durchläuft er einen Raum des Übergangs. Vielmehr gerät er in der Regel abrupt dort hinein. Die Akteure einer solchen Aufführung präsentieren etwas und richten die Aufmerksamkeit der umstehenden Leute auf sich, die Zuschauer halten Abstand. Ein Passant, der anhält, um zu schauen, unterbricht seine bisherigen Handlungen. Er richtet seine Wahrnehmung an diesem anderen Raum aus. Für einen gewissen Zeitraum dringt er in das Geschehen dort ein, ohne selbst als Handelnder involviert zu sein. Für diesen kurzen Zeitraum lässt er seinen Alltag hinter sich. Dennoch muss er beständig damit rechnen, dass er von den Akteuren in das Geschehen involviert wird, dass er seine Position als Zuschauender aufgeben muss. Solange das aber nicht geschieht, ist er in einem Raum des Theaters anwesend. Auf das Geschehen aufmerksam wird er über eine in der ersten Wahrnehmungswirklichkeit erfahrene andersartige Stimmung. Im Vorbeigehen tingiert ihn die Heiterkeit eines Clowns, die Begeisterung für einen Akrobaten oder die Anspannung über einen Feuerspucker. Das bewegt ihn zum Anhalten und zum Eintritt in diesen anderen Raum, der durch Zuschauer und die Aktionen der Akteure gebildet wird. Ingression bestimmt nicht nur seinen Übergang vom Alltagsraum in den Raum des Theaters, sondern auch eine Ausdifferenzierung, die seine Befindlichkeit hervortreten lässt. Das Beispiel Straßentheater macht deutlich, dass ein Heraustreten aus dem Theaterbau es nicht unmöglich macht, einen Raum des Theaters zu etablieren. Die zuvor genannten Bedingungen dafür, den Alltag auszuschließen und eine Differenz von Akteur und Zuschauer zu etablieren, können auch hier hergestellt werden. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass der so etablierte Raum des Theaters dennoch eine gänzlich andere Qualität aufweist, vor allem ist er hochgradig labil und anfällig für Störungen. Das führt zurück zum Theaterbau, denn dieser schafft in seiner Anordnung, seinen Konventionen und architektonischen Festlegungen Stabilität für solche Situationen. Seine Rahmung ermöglicht es für einen gewissen Zeitraum eine Erfahrung aufrecht zu erhalten, die mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung belegt werden kann.
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Unsere Gesellschaft, wir die Menschen haben diesen anderen Ort geschaffen, er ist ein kultureller, nicht natürlicher Ort, für den deshalb ein eigener Raum, der Raum des Theaters, etabliert wird. Doch ein Blick zurück zeigt auch, dass dieser Raum alles andere als konstant ist und seine Stärke gerade in seiner Variabilität liegt. Weder muss er materiell sein, noch ein geschlossener Raum. Variabel ist er, weil er an die Alltagswelt angeschlossen ist, sogar in ihr vorkommen kann, aber als Raum des Theaters dennoch von ihr abgelöst ist. Deshalb werden auch gerne die Handlungen im Raum des Theaters an die der Alltagswelt angegliedert. Gerne überhöht der Raum des Theaters auch die Alltagswelt oder versucht sich gänzlich von ihr abzulösen. Diese Überhöhung ist aber nicht zwingend, um Fiktionalität und Künstlichkeit der Illusion zu erzeugen, sie kann auch über das Schaffen von atmosphärischen Brüchen, von abrupten Stimmungswandeln und Erzeugen von Diskrepanzen hergestellt werden. Dieser Weg der Künstlichkeiten schafft vom Alltagsleben sich ablösende Situationen, die mit einer anderen Zeitlichkeit, Fülle, Dichte, Leere oder Intensität umgehen. Doch selbst dann bleibt alles immer an die Alltagswelt angebunden, setzt sich zu ihr in ein Verhältnis. Und so fällt bei einer historischen Betrachtung von Theater, seinen Bauten, seinen Theorien und Praktiken auf, dass sich diese schon immer an der jeweiligen Alltagswelt und der Wahrnehmung in ihr orientiert haben. Damit ist eine weitere Antwort auf die Frage gegeben, warum Theater mit dem Theaterbau assoziiert wird. Es geht darum, einen von Natur aus labilen und flüchtigen Raum des Theaters zu stabilisieren und ihm Dauer zu geben. Dafür schafft der Theaterbau mit Hilfe materieller Mittel vor allem zwei Polaritäten: eine Differenz zwischen Innen und Außen und eine zwischen Publikum und Akteur bzw. Publikumsraum und Bühne. Er schafft aber auch eine Ordnung, die sich auf die praktische Theaterarbeit und die theoretische Reflektion über Theater auswirken. Gerade der Theaterbau liefert also einen wichtigen Beitrag für postdramatische Theaterformen, weil nur so die geschaffenen Brüche und Instabilitäten aufgefangen werden können. Allein die äußeren Mauern hüllen sich schützend um die Zuschauer und erhalten für sie den Raum des Theaters aufrecht. Auf lange Sicht wirken sich Stabilität, Dauer, das Schaffen von Ordnungen und das Ausschließen von Alltag auf die Wahrnehmung
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innerhalb des Raums des Theaters eines Theaterbaus aus. Der Zuschauer wird zu einem Zu-Schauer und Zu-Hörer. Der Zuschauer wird handlungsentlastet, setzt sich auf einen Stuhl und hat selbst keine eigenen Ziele außer dort zu sitzen und zu rezipieren. Hilfreich ist hier auch der materielle Ausschluss der Alltagswelt. Die Ausrichtung des Zuschauers ist eindimensional, auf die Bühne hin und die dort vorhandenen Bedingungen orientiert. Ganz anders verhält es sich mit der Wahrnehmung einer Straßentheateraufführung. Hier ist der Aspekt der Handlungsentlastung nicht so stark. Der Alltag bleibt präsent, kann aber für einen gewissen Moment ausgeblendet werden. Das Geschehen wird von den natürlichen und alltäglichen Bedingungen der Umgebung gefärbt. Es wird von den dort herrschenden atmosphärischen Bedingungen tingiert, die nicht normiert, gestutzt und zugeschnitten sind. Die Konzentration ist anders und die Ausrichtung des Zuschauers längst nicht so starr und eindimensional. In diesen beiden sehr rudimentären Beispielen zeigt sich, dass wir es hier auf der Basis der Wahrnehmung mit zwei sehr unterschiedlichen Grundbedingungen zu tun haben. Macht man sich also heute auf den Weg ins Theater, kommt man womöglich nicht mehr im Theaterbau an und schon gar nicht innerhalb einer festgelegten räumlichen Ordnung. Eines ist aber sicher, man kommt im Raum des Theaters an. Deshalb geht es auch langfristig darum, nicht allein im Schauspielhaus Bochum anzukommen, sondern im Raum des Theaters. Und obwohl dieser keinen Theaterbau voraussetzt, unterscheidet er sehr wohl zwischen Innen und Außen und zwischen Publikums- und Aufführungsraum. Mit dem Terminus Raum des Theaters geht es um eine Umschreibung eines grundlegenden, räumlich ausgelegten und auf räumliche Kriterien hin abgesteckten Verständnisses von Theater. Es wird dominiert durch Ordnung, Lage und Distanz, die die Wahrnehmung stark prägt. Außerhalb des Theaterbaus basiert das Verständnis von Raum auf gänzlich anderen Kriterien. Um den Weg in den Raum des Theaters zu vollenden, werden im Folgenden der Theaterbau und sogar das Straßentheater verlassen. Vorgestellt werden soll ein Beispiel für eine alltägliche ästhetische Wahrnehmung, die für die Kunstform Theater von jeher von Bedeutung ist. In diesem Beispiel wird es um Befindlichkeiten gehen und die leibliche Anwesenheit im Raum, in der sich eine ästhetische Erfahrung ausdifferenziert.
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3.4 A LLTAGSWAHRNEHMUNG DES THE ATERS
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Nachdem der Raum des Theaters eines Theaterbaus eingeführt wurde, ist konsequenterweise ein Perspektivwechsel angebracht. Der Theaterbau soll verlassen und der Blick auf den Raum des Theaters ganz von ihm losgelöst werden. Mit dem Blick auf Straßentheater wurde der Theaterbau bereits im vorigen Abschnitt verlassen. Dabei hat sich gezeigt, dass auch das Straßentheater auf ähnliche räumliche Strukturen zurückgreift, wie sie im Theaterbau vorherrschen. Zwar findet man im Straßentheater keine materielle Ordnung vor, dennoch scheint es fast selbstverständlich zu sein, eine klare Differenz zwischen Zuschauerbereich und Aktionsraum einzuhalten und Distanz zum Geschehen zu wahren. Nicht nur die Polarität zwischen einem der zuschaut und einem der vorführt, sondern auch deren jeweilige klare räumliche Zuordnung scheint grundlegend zu sein. Zu vermuten ist also, dass die Aspekte der Anordnung und Distanzierung zwischen Zuschauer und Akteur den Raum des Theaters grundlegend charakterisieren. Diese begründen sich jedoch nicht allein auf einer augenscheinlich geometrischen Ordnung, die auf Trennung, Lage und Positionierung aufbaut. Vielmehr soll im Folgenden gezeigt werden, dass sich die Etablierung des Raums des Theaters auch auf einer sehr viel grundsätzlicheren Wahrnehmungsebene abspielt, nämlich der ersten Wahrnehmungswirklichkeit und ihrer Ausdifferenzierung. Somit beginnt hier so etwas wie die Suche nach der Wurzel des Raums des Theaters. Zu finden ist diese aber nicht im Theater selbst, sondern in der Alltagswahrnehmung an sich. Das heißt also, Theater nicht nur im Sinne eines Heraustretens aus dem Theaterbau verlassen, sondern sich auch von all den Zusammenhängen zu entfernen, die mit dem Begriff von Theater in Verbindung gebracht werden. Theater als Begriff ist traditionell an der Kunstform orientiert. Auf der Suche nach einer Theatersituation außerhalb des Theaterbaus stößt man zwar auf Straßentheater, auf Theater in Bussen, auf Theater auf Marktplätzen, die weit entfernt sind von tradierten Theaterformen, aber dennoch ist diese Suche selbst immer schon eingebettet in den kulturhistorisch geformten Diskurs über Theater. Ähnliches gilt für die Diskussion um Theatralität, wie im Folgenden
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gezeigt werden soll. Denn auch hier begibt sich die Theaterwissenschaft ja auf die Suche nach Situationen außerhalb der Kunstinstitution, die sich mit Mitteln und Methoden der Theaterwissenschaft untersuchen und mit Theaterpraktiken in Verbindung bringen lassen. Um die Differenz zum hier gewählten Ansatz aufzuzeigen, soll der Weg über den Begriff der Theatralität gegangen werden. Das in der Theaterwissenschaft entwickelte theoretische Konstrukt der Theatralität (vgl. Burns 1972, Fiebach 1978, Fischer-Lichte 1983) zielt darauf ab, von der Institution und Kunstform losgelöste Handlungen und Situationen untersuchen zu können. Der Fokus liegt dabei auf Ritualen, gesellschaftlichen Gefügen oder medialen Formen, die sich an einer Spezifik des Theaters orientieren, sie aufnehmen oder sich zu eigen machen. Im Vordergrund einer solchen Spezifik steht vor allem die Ko-Präsenz zwischen Zuschauer und Darsteller, aber auch die als Inszenierung auszumachenden Handlungen von Akteuren. Theatralität als Begriff entfernt sich vom herkömmlichen Theaterbegriff, um ihn zu erweitern und damit neue Felder in die Betrachtungen zu integrieren. Die Diskussion um den Theatralitätsbegriff wird von der Kritik genährt, dass es sich um eine Öffnung handelt, die letztlich jede beliebige auf Personen oder Dinge bezogene Handlung als theatral integriert, die mit Ko-Präsenz und dem Betrachten zu tun hat. Als Beispiel nennt Andreas Kotte den Einbezug von Vulkanausbrüchen durch Joseph Gregor (vgl. Kotte 1998: FN 23 oder Gregor 1933: 12f). Diese Kritik richtet sich in der Regel auch gegen Nikolaj Evreinov (vgl. Xander 1994, Fischer-Lichte 2001: 278f), der als einer der ersten den Terminus Theatralität verwendete. Er führt Theatralität auf Grundkategorien vorästhetischer Erfahrung zurück, postuliert – etwas pathetisch – dass der „Willen zum Theater“ wichtiger als die Suche nach Nahrung sei (vgl. Xander 1994: 113). Unter ‚Theatralität‘ als Terminus verstehe ich eine ästhetische Monstranz von offen tendenziösem Charakter, die selbst weit von einem Theatergebäude entfernt durch eine einzige bezaubernde Geste, durch ein einziges schön ausgesprochenes Wort Bühnenbretter und Dekorationen erzeugt und uns leicht, freudig und unabänderlich von den Fesseln der Wirklichkeit befreit. (Evreinov 1912, zit. nach ebd.: 113)
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Diese Aussage von einer ästhetischen Monstranz mit ihrem offen tendenziösen Charakter hat Bezüge zu Benjamins Aurabegriff (vgl. Abschnitt 2.4.2), nämlich durch seine magische und vor allem religiöse Anbindung des auratischen Kunstwerks an das Ritual (Benjamin 2003: 16) und der sich daraus ergebenden Ferne, so nah sie auch sein mag, die von der bezaubernden Geste und einem schön ausgesprochenem Wort ausgeht. Doch ungeachtet dieser religiösen Bezüge soll hier vor allem Evreinovs Theatralitätsauffassung betrachtet werden, die sich an der Geste und dem schön ausgesprochenen Wort orientiert und uns von den Fesseln der Wirklichkeit befreit. Übersetzt man Fesseln der Wirklichkeit in die bisher in dieser Arbeit verwendete Terminologie müsste es eigentlich heißen: Fesseln der Realität. Sich von diesen Fesseln zu befreien ist laut Böhme Voraussetzung für eine Ästhetik qua Aisthetik, bei der sich die Wahrnehmungswirklichkeit von der Realität ablöst, es um die Wirklichkeit als solche geht und nicht mehr um das, was dahinter stehen mag (Böhme 2001a: 57). Ästhetische Erfahrung ist dann nicht mehr allein an ein Kunstwerk gebunden, sondern an der „Ästhetisierung des Realen“ (ebd.: 19ff), die er als die ästhetische Aufmachung beschreibt, als Zurichtung und „Inszenierung von allem, womit und worin wir leben“ (ebd.: 20). Im Rahmen dieser Auffassung kann die kleine Geste, wie sie Evreinov beschreibt, zu einer theatralen Situation führen. Martin Seel führt an, dass selbst eine kleine Handbewegung zum Gruße, wie das Ziehen eines imaginären Hutes, unter den Begriff Inszenierung fällt (Seel 2001: 52, vgl. auch Abschnitt 5). Man kann Böhme gleichermaßen vorwerfen, dass er seinen Ästhetikbegriff zu offen gestaltet (vgl. Seel 2000) und so das Besondere der Kunst bzw. des Theaters nicht mehr abgegrenzt werden kann. Zu fragen ist aber, ob das überhaupt nötig ist. Ist es nicht eigentlich gleichgültig, wie wir eine Situation nennen, ob wir sie als Theater, als Theatralität begreifen oder als eine Wahrnehmungserfahrung beschreiben, in der die Erscheinung als Wirklichkeit hervortritt und sich von der Realität isolieren lässt? Sollte nicht vielmehr gefragt werden, wie eine Situation, ein Vorgang, eine Wirklichkeit zustande kommt und wie sie erfahren wird oder man über sie reden kann? Denn letztlich kann sie, nachdem sie beschreibbar ist, immer noch auf Vorhandenes zurückgeführt werden. Bei einer solchen Diskussion um Begriffe, ihre Offenheit und ihre Grenzen wird vergessen, dass es auch darum geht, auf eine vorgelagerte Ebene zu verweisen, die von den herkömmlichen begriff-
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lich erfassten Vorprägungen losgelöst ist. Theatralität im Sinne von Evreinov zu verstehen heißt dann, eine Wahrnehmungswirklichkeit auszumachen, die vor jedem Theaterbau, jedem Theatermodell und jeder Konvention erfahren wird und von Böhme als Ästhetik qua Aisthetik vorgestellt wird. Es ist jene ästhetische Erfahrung, die er anspricht und die als Befindlichkeit beschrieben werden kann. Sie geht aus vom Raum als Raum leiblicher Anwesenheit, vom atmosphärischen Raum, der vor jeder sinnlichen Ausdifferenzierung als erste Wahrnehmungswirklichkeit gespürt wird. Dieser Raum wird als ästhetische Erfahrung durch seine Ausdifferenzierung in ein wahrnehmendes Ich und der räumlich ergossenen Atmosphäre als Gegenstand beschreibbar. Somit wird aber ästhetische Erfahrung nicht als Teil einer kulturspezifischen Ausprägung angenommen, nicht als ausschließlich Kunst betreffende Erfahrung, sondern als Teil einer jeden möglichen Alltagserfahrung. Ästhetische Wahrnehmung kommt dann in unserer alltäglichen Wahrnehmung vor, was nicht ausschließt, das sie auch Teil einer spezifischen kunstorientierten Wahrnehmung ist. Im Gegenteil, diejenigen, die Böhme als ästhetische Arbeiter beschreibt (vgl. Böhme 1995: 41), beherrschen die Fertigkeit, Atmosphären zu erzeugen und Wirklichkeiten zu generieren. Anders gesagt, was explizit und eigenständig von anderen als ästhetische Wahrnehmung entwickelt wird, kommt in jeder gewöhnlichen Wahrnehmung vor – nur daß in gewöhnlicher Wahrnehmung, nämlich solcher, die eingebettet in Handlungskontexte ist, es niemals bei Wahrnehmung als solcher bleiben kann: Man überspringt die Wahrnehmung immer schon durch Schlüsse auf Realität und übergeht sie, indem man immer schon handelt. (Böhme 2001a: 118)
Auch Theater, der Theaterbau und das was im Allgemeinen unter Theater verstanden wird, bauen auf einer solchen ästhetischen Wahrnehmung auf. Als wohl größte Besonderheit gegenüber dem Alltag und auch Bereichen ästhetischer Arbeit, die Böhme nennt, wie Kosmetik, Design oder Werbung, greift die Institution Theater im Theaterbau auf eine materielle Ordnung zurück, die ästhetischer Erfahrung eine Dauer verleihen kann. Der in Anlehnung an Foucault als Heterotopie beschreibbare Theaterbau ist Ausdruck und handfeste Materialisierung davon und dessen Ziel ist es, eine
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Grundordnung für ästhetische Erfahrung zu schaffen. Dies ist nicht gleichbedeutend damit, ästhetische Erfahrung allein als Ausdruck rein künstlerischer Prozesse anzusehen, vielmehr kommt sie grundsätzlich in jeder Wahrnehmung vor. Martin Seel führt an, dass selbst eine kleine Handbewegung zum Gruße, wie das Ziehen eines imaginären Hutes, unter den Begriff Inszenierung fällt (Seel 2001: 52, vgl. auch Abschnitt 5). Im Folgenden soll eine Situation eingeführt werden, auf die der Raum des Theaters aufbaut, insbesondere dann, wenn er sich außerhalb des Theaterbaus konstituiert. Es geht um eine Situation, die nur wenige Sekunden andauert und sich auf den ersten Blick an Berthold Brechts Straßenszene (Brecht 1993) anlehnt. Brecht beschreibt hier einen Autounfall, der anschließend von Zeugen nachgespielt wird, damit sich ein Polizist einen Eindruck vom Verlauf des Unfalls machen kann. Brecht stellt dieses Nachspielen als Theaterszene vor. Zwar findet die Nachstellung auf offener Straße statt, dennoch bekräftig Brecht, dass es sich hier auch um „großes Theater“ (ebd.: 371) handelt und gleichzeitig die Urteilsbildung gefördert werden solle (vgl. ebd.). Brecht stellt mit seiner Straßenszene das Modell des epischen Theaters vor. Er zeigt auf, mit welcher Haltung Darsteller Theater spielen und mit welchen Erwartungen Zuschauer Theater erfahren sollen. Die Straßenszene, die hier jetzt vorgestellt werden soll, differiert in entscheidenden und grundsätzlichen Punkten von der Brechts. Anders als bei Brecht wird diese Situation nicht als Beispiel dafür herangezogen, eine Theatersituation zu erläutern. Vielmehr geht es darum an ihr die Konstitution des Schnitts durch den Raum und durch den Raum des Theaters, als Konstitution einer ästhetischen Erfahrung einzuführen: Ich fahre mit meinem Fahrrad von zu Hause ins Schauspielhaus Bochum. An einer Straßenüberquerung komme ich zum Stehen, weil zwei ältere, freundlich wirkende Herren auf Fahrrädern meinen Weg kreuzen. Ich höre den einen heiter zum anderen sagen: „Wir haben heute Hochzeitstag“. Der andere antwortet etwas betroffen, während er die Hand zum symbolischen Handschlag hebt: „Oh, das wusste ich ja gar nicht, herzlichen Glückwunsch“. Der erste Herr fährt mit triumphierendem Unterton fort: „Und stell Dir vor, meine Frau hat ihn zum ersten Mal vergessen“. Mit einem gemeinsamen heiteren Schmunzeln entlässt ein letzter Hauch ihres Fahrtwinds die beiden aus meiner Reichweite. Ich setze an zur Weiterfahrt.
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Vielleicht zehn Sekunden dauerte diese Situation, der ich meine ganze Aufmerksamkeit gewidmet habe und von der mir jetzt nur noch die Erinnerung bleibt. Schlagartig und kurz hatte sie meine leibliche Anwesenheit im Raum verändert: Ich war Zuschauer und nicht nur wartender Fahrradfahrer. Nachdem ich angehalten hatte, wurde ich der zwei Radfahrer gewahr. Den atmosphärischen Raum, in dem sie sich befanden, erfuhr ich als mir fremden, als zu meiner eigenen Stimmung differenten. Auf Grund meiner Handlungsentlastung wurde es mir erleichtert, mich auf diese kurze Szene zu konzentrieren und den zwei Herren zuzuhören. In der Weise, wie deren Raum in meinen Raum der Anwesenheit eindrang, drang auch ich in ihren Raum sehend und hörend, aber auch spürend ein. Es waren die Heiterkeit, die jeweilige Selbstinszenierung der zwei Herrn, mit ihren kleinen Gesten und Gesichtsausdrücken, die mir als Wirklichkeit in Erscheinung traten und sich vor die Fahrradfahrer setzten. Im Nachhinein kann ich diese Begegnung für mich ohne weiteres als ästhetische Erfahrung einstufen, worüber sie für mich Theaterstatus erhalten kann. Sie erhält diesen Status aber nicht, weil sie grundsätzlich als Theater beschrieben werden muss, sondern weil ich sie als ästhetische erfahren habe. Eine Rolle spielte hierbei meine kurze Handlungsentlastung; eine Rolle spielten die zwei Herren und ihr Raum, der just im Moment als sie an mir vorbeifuhren, eine Vielfalt an Stimmungen enthielt, deren Wirklichkeit mich affektiv tingierte; eine Rolle spielte aber auch meine Ingression in deren Raum, die mich von dem Raum dieser zwei Herren ausdifferenzierte. Nicht zuletzt spielte aber auch deren besondere Präsenz eine Rolle, die sicherlich ihrer Selbstinszenierung zu verdanken war. Dabei war diese nicht auf ein außenstehendes Publikum wie mich ausgerichtet, sondern ausschließlich für den jeweils anderen gedacht. Auf solcherart ästhetische Erfahrungen baut die Kunstform Theater auf und verleiht ihr im Rahmen ihres Theaterbaus, aber auch auf anderen Wegen, Dauer. Hier von Theater zu sprechen, basiert aber allein auf gesellschaftlich geformten Konventionen, die eine solche Begegnung mit solchen Dialogen, solchen Gesten und solcher Mimik als Aufführung bezeichnen. Der wesentliche Unterschied ist, dass im Theater eine solche Situation inszeniert und künstlich erzeugt wird. Hier setzt Brechts Straßenszene erst an, indem die Unfallzeugen den Hergang noch einmal vorspielen. Sieht man aber von dieser zentralen Bedingung ab, konstituierte sich
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während der kurzen hier vorgestellten Straßenszene – auf der Basis der begrifflichen Festlegung, die vom Theaterbau hergeleitet wurde – für einen Moment ein Raum des Theaters. Diese Situation beschreibt die grundlegende Weise meines leiblichen Involviertseins im Raum des Theaters, auch wenn es sich um keine Theatersituation handelt. Es ist ein Beispiel dafür, auf welchem Wahrnehmungsprinzip ein Wahrnehmen im Theater seit Jahrtausenden aufbaut. Von Theater spricht man aber erst dann, wenn eine solche Situation gezielt fortwährend aktualisiert wird und von Dauer ist. Außerdem spricht man erst dann von Theater, wenn ich als Wahrnehmender mich in diesem Raum des Theaters dauerhaft befinde und wenn umgekehrt eine Aufführung als Gegenstandspol dauerhaft erzeugt wird. Da aber beide Pole hier auf der Durchreise sind, fehlt genau dieser Aspekt von Dauer. An der gerade vorgestellten Straßenszene soll die spezifische Wahrnehmung verdeutlicht werden, die für die Wahrnehmung im Raum des Theaters modellhaft herangezogen werden kann. In Abschnitt 4.2.3 wird hierauf ausführlicher eingegangen. Dabei wird deutlich werden, dass es gewisse Konstanten gibt, die für die Etablierung eines Raums notwendig sind, der hier als Raum des Theaters eingeführt wurde. Dennoch zeigt sich aber auch, dass es viele Variable gibt, auf deren Basis Theater immer wieder einen Wandel durchmacht und sich gegen herrschende Konventionen stellt. Denn das zeichnet den Begriff von Theater ja gerade aus, dass er über die Jahrhunderte so wenig konstant war und sich einer allgemeingültigen und dauerhaften Festlegung entzieht. In Bezug auf die hier vorgestellte Straßenszene kann ein weiterer Theatermacher herangezogen werden, der Chilene Augusto Boal. In den 1970igern entwickelte er einen Theateransatz, den er Unsichtbares Theater nannte. Das Prinzip erinnert stark an Fernsehformate wie Verstehen Sie Spaß oder Versteckte Kamera, nur dass Boal nicht humoristisch, sondern politisch motiviert war. Für sein „Theater der Unterdrückten“ (Brauneck 1986: 307) verfolgte er politische Themen der chilenischen Diktatur, um deren Handeln und Agieren möglichst lebensnah und unmittelbar zu vermitteln. Schauspieler begeben sich an öffentliche Orte – U-Bahnen, Restaurants oder Hotelfoyers – und spielen dort eingeprobte und abgesprochene Szenen. Es handelt sich hier um Szenen, die auf einen eskalierenden Konflikt zusteuern, bei dem es zu Handgreiflichkeiten unter den Rollen-
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figuren kommt. Diese Szenen sind hochgradig labil und gefährdet, die Polizei kann eingreifen, andere Passanten können handgreiflich den Betroffenen zur Seite eilen. Boals Ziel ist es, die Reaktion der zufällig anwesenden Personen auf die Probe zu stellen und sie in eine Situation zu involvieren, die eigentlich ein Einschreiten einfordert. Manch einer der Passanten mischt sich ein, andere schauen aus sicherer Entfernung nur zu, andere wiederum verlassen den Ort der Handlung schnellstmöglich. Boal dockt mit seinem Konzept an das ästhetische Potential der hier angesprochenen Alltagswahrnehmung an. Die Grenzen zwischen betroffen sein, Zuschauer sein und übergehen sind fließend. Die, die sich engagieren, in das Geschehen eingreifen, lösen jenes ästhetische Abrücken auf, das eine solche Szene als Ingressions- oder Diskrepanzerfahrung auslöst. Sie lassen sich hineinziehen in das Geschehen, sind involviert. Die, die aus sicherer Entfernung zuschauen, nehmen hingegen die Position eines Theatergastes ein. Sie sind aufmerksam geworden, als Zuschauende handlungsentlastet und halten körperlichen Abstand. Dennoch sind sie spürend im Raum des Geschehens anwesend und gleichermaßen dringt dieser in ihren Wahrnehmungsraum ein. Trotzdem ist auch ihre Situation gefährdet und brüchig, denn sie können sich nie sicher sein, ob das Geschehen nicht auch bald sie betrifft. Einzig davon abgelöst sind die, die die Flucht ergreifen. Sie sind in ihren eigenen Handlungen verfangen und übergehen die Szene, der sie kurz gewahr wurden. Boal spielt mit ganz unterschiedlichen Ausdifferenzierungen von Wahrnehmung, überschreitet aber auch die, die für das Theater üblich ist. Mit diesem Beispiel wird deutlich, auf welch instabilen Füßen der Raum des Theaters innerhalb einer Alltagswelt steht. Die Situation Theater wird für die, die sich eingelassen haben, die sich im Anschluss bereit erklären, über den Vorfall zu sprechen, rückwirkend etabliert. Die Qualität von Boals Arbeit liegt daher auch darin, das Wahrnehmungsprinzip von Theater nicht nur an seine äußersten Grenzen zu führen und zu überschreiten, sondern es sich politisch zu Nutze zu machen. Er zeigt aber auch auf, dass der Raum des Theaters mehr zu sein scheint als ein geschützter Kunstraum, in dem eine spezifische Ästhetik erzeugt werden kann. Was ist nun Boals Inszenierung? Handelt es sich um eine intentional erzeugte künstlerische Inszenierung oder ist es, wie sicherlich von den unfreiwilligen Zuschauern erfahren, eine ebenfalls intentional inszenierte Gewaltanwendung? Boal hat gezeigt, der Raum des The-
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aters kommt in unserer alltäglichen Wahrnehmung vor, ganz gleich ob mit künstlerischem Ansinnen oder nicht. Er hat aber auch gezeigt, dass die Grenzen labil sind. Denn ob Gewaltanwendung nun künstlerisch inszeniert, intentional oder als Ausraster sich absichtslos vollzieht, für den vermeintlichen Zuschauer wird diese Differenz kaum zu ermitteln sein. Somit liegt es auch an ihm, welche Haltung er gegenüber dem Geschehen einnimmt (vgl. dazu Abschnitt 5).
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Mit diesen letzten Überlegungen zu Boal ist der Weg in den Raum des Theaters beendet. Geht man die Bewegung dieses Abschnitts abschließend noch einmal von hinten nach vorne durch, kann man schon fast von einer Pointe reden. Denn mit der Vorstellung der Straßenszene und dem Theaterbeispiel von Boal zeigt sich ja, dass der Raum des Theaters auf ganz eigentümliche Weise im normalen Lebensraum anwesend und dann doch nicht anwesend ist. Gerade Boal zeigt, dass Situationen, die außerhalb jeglicher institutionalisierten oder künstlerisch ambitionierten ästhetischen Arbeit stehen, dennoch gewinnbringend dem Theater zugeordnet werden können. Das hat damit zu tun, dass ästhetische Erfahrung, die in herkömmlichen Theorien ausschließlich als Kunsterfahrung vorgestellt wird, auch in unserer Alltagswahrnehmung vorkommt. Der große Unterschied ist, dass die Institution und ihre ästhetischen Arbeiter mit diesen Erfahrungen explizit umgehen, ihnen Dauer verleihen und sie explizit erzeugen. Das heißt umgekehrt, dass es in unserem Alltag eine Erfahrung gibt, die der Erfahrung im Raum des Theaters gleichkommt. Weil unsere Gesellschaft einen zwar wenig konstanten und kaum einheitlichen, aber dennoch gebräuchlichen Begriff von Theater geprägt hat, würden wir eine solche Situation, wie die vorgestellte Straßenszene, nur bedingt mit Theater gleichsetzen. Dennoch, meine Situation zufälliger Zuschauer zu sein, der durch seine mediale Kompetenz geübt darin ist zuzuschauen, macht deutlich, wie durchlässig der Begriff Theater ist. Gleiches gilt auch für die zwei Herren. Gerade beim Gebaren des Herren, dessen Frau erstmals den Hochzeitstag vergessen hat, haben wir es mit einer Selbstinszenierung zu tun, die einer Minidramaturgie folgt. Das
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heißt: Ein Raum des Theaters entsteht nicht erst, wenn eine Szene in einem Theaterbau stattfindet und von einer Institution oder von ästhetischen Arbeitern generiert wird. Anders formuliert: Gewisse Wahrnehmungsereignisse, wie die Straßenszene mit den Fahrradfahrern, konstituieren einen Raum, den man Raum des Theaters nennen könnte. Das geht aber vor allem deshalb, weil es diesen Raum als institutionalisierten gibt, weil er in Theaterbauten oder im Straßentheater vorkommt. Das geht auch, weil wir als handelnde Personen Kompetenzen besitzen, mit denen wir Rezeption und Inszenierung von Situationen auch in unser Alltagsleben integrieren. Gleichzeitig sind aber solche, sich in unserem normalen Lebensraum ereignenden Situationen, auch für den Raum des Theaters konstitutiv, der der Institution und der Kunstform zugeschrieben wird. Für beides zentral ist der Schnitt, um den es im folgenden Abschnitt gehen wird. Der Schnitt durch den Raum des Theaters existiert auf der Grundlage einer sich scheinbar widersprechenden Doppelfunktion. Er ist Garant für das Ereignis Theater auf der Basis einer ästhetischen Differenz im Raum leiblicher Anwesenheit. Gleichzeitig ist er aber auch Garant dafür, dass sich grundsätzlich in jeglicher Alltagssituation ein Raum des Theaters herausbilden kann. Damit ist eine wesentliche Differenz zu allen anderen Kunst- und Präsentationsformen formuliert. Im Gegensatz zu beispielsweise elektronischen Medien, kann sich der Raum des Theaters mit dem normalen Lebensraum in einer Weise verschränken, dass die eigentlich immer vorhandene Abtrennung immer wieder in Frage gestellt wird. Gerade das wird ja sogar zu einer wesentlichen Forderung der klassischen Avantgardebewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Das damals erklärte Ziel vieler war es, „Kunst in Leben zu überführen“ (Fischer-Lichte 1997: 35) und umgekehrt. Nicht die Forderung an sich ist gescheitert, sondern ihre Absolutheit. Denn sobald diese Differenz zwischen Kunst und Leben oder vielmehr ästhetischer Erfahrung in einer Alltagserfahrung und unbestimmter Alltagserfahrung nicht mehr gegeben ist, löst sich der Raum des Theaters auf. Will man also im Theaterbau Leben in Kunst überführen, scheitert man. Allein die kulturgeschichtlichen, aber auch architektonischen Gegebenheiten unterlaufen beständig ein solches Vorhaben. Gelingt es trotzdem, wird also die Differenz von Szene und Publikumsraum aufgehoben, wird die Wirklichkeit von der Realität eingeholt, löst sich auch dort der Raum des Theaters auf.
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Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Theaterbau als Heterotopie ist ein anderer Raum, der eigens zu dem Zweck geschaffen wird, dass dort Theater stattfindet. Er schafft Ordnungen und Konventionen, die eine spezifische Wahrnehmung prädisponieren. Ein Zuschauer, der sich ins Theater aufmacht, durchläuft seinen normalen Lebensraum, um im Theaterbau durch einen Übergangsraum in den Raum des Theaters zu gelangen und sich dort zu befinden. Dieser Weg dient neben der Notwendigkeit an diesem anderen Ort physisch anzukommen, vor allem der Einstimmung und der Ablösung vom Alltagsleben. Im Raum des Theaters angekommen, widerfährt einem Zuschauer eine ganze Reihe von körperlichen, leiblichen und die Wahrnehmung betreffende Setzungen, die vor allem über architektonische Mittel erzeugt werden. Der Alltagsraum ist durch Mauern ausgeschlossen. Ein Zuschauer setzt sich in einem Zuschauersaal in Sitze, die einen mal mehr, mal weniger großen Abstand zur Bühne einnehmen. So wird er nicht nur in eine handlungsentlastete Position gebracht, sondern auch sehend und hörend auf die Bühne hin ausgerichtet. Diese beiden Sinne überwinden Distanzen. Sehend und hörend kann er ein Stück weit auf der Bühne anwesend sein. In diesem Raum dominiert Zeichen-Wahrnehmung, weil die körperliche Distanzierung und die Konzentration auf Sehen und Hören oft das Spüren als Weise atmosphärischer Wahrnehmung zurückdrängt. Gleichzeitig beschreibt aber Böhme gerade das tradierte Theater als paradigmatisch für die Ästhetik qua Aisthetik, weil die Wirklichkeit des Schauspiels von der Realität ihrer erzeugenden Körper abgelöst werden kann. Verlässt man den Raum des Theaters des Theaterbaus, zeigt sich hier vor allem, dass eine Aufführungssituation hochgradig labil und gefährdet ist. Dies könnte der Grund dafür sein, warum der Theaterbau so massiv in die Wahrnehmung des Zuschauers eingreift. Diese für das Straßentheater gängige Instabilität und Brüchigkeit versucht man nicht nur mit dem Theaterbau zu überwinden, sie ist letztlich auch das, was Theater auszeichnet und was es von anderen Kunstformen und Medien absetzt. Das Rechnen mit dem Bruch und mit der Störung ist ganz wesentlich für den Raum des Theaters, vor allem aber für die Kunstform Theater. Nicht umsonst wird diese Qualität seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder hervorgehoben. Verlässt man den Bereich des Theaters ganz und begibt sich in die Alltagswelt, kann sich auch hier ein Raum herausbilden, der
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dem des Theaters sehr nahe steht. Dieser Raum wird aber innerhalb der Alltagswahrnehmung leicht übergangen. Als ein Aspekt, der sein Zustandekommen mitprägt, wurde ästhetische Erfahrung als Teil einer Alltagserfahrung benannt. Handlungsentlastung, Herausbildung eines Ich-Pols und eines Gegenstands-Pols in der Wahrnehmung und eine Isolierung der Wirklichkeit von der Realität wurden als Kriterien dafür benannt. Man könnte auch sagen, wir haben es mit einem Schnitt durch den Raum zu tun und für Theater mit einem Schnitt durch den Raum des Theaters. Genau um diesen wird es im folgenden Abschnitt gehen.
4. Der Schnitt durch den Raum des Theaters
4.1 O RIENTIERUNG Der Raum des Theaters wie er bisher vorgestellt wurde, spannt in Bezug auf seine Konstitution einen weiten Bogen. Er ist Teil tradierter Theaterbauten und lässt sich auf öffentlichen Plätzen und in architektonisch offenen Räumen etablieren. Seine Prinzipien basieren auf Wahrnehmungsweisen, die auch in der Alltagswahrnehmung vorkommen. Die Bewegung dieser Aufzählung zeigt, dass innerhalb des Bogens die Konzeption von Raum wechselt, diese kann daher nicht von demselben Ansatz ausgehen. Was also haben der Raum des Theaters eines Theaterbaus, der einer Straßentheaterszene und der der vorgestellten Straßenszene gemeinsam? In Abschnitt 2 wurde die Differenz zwischen atmosphärischerund Zeichen-Wahrnehmung eingeführt. Beide gehen von gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen aus und lassen sich auf der Basis methodischer und konzeptioneller Betrachtungen kaum vereinen, obwohl sie komplementär in jeder Wahrnehmung vorkommen. Auf der Basis dieser zwei Wahrnehmungskonzepte lassen sich auch unterschiedliche Ästhetikansätze ausmachen. Der herkömmliche geht von der Beurteilung aus, bezieht sich auf die Semiotik und konzentriert sich ganz auf Kunst und das Kunstwerk. Ästhetische Erfahrung ist hierin eine, die der Erfahrung und Rezeption von Kunst zugeschrieben wird.
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Der zweite Ansatz basiert auf Gernot Böhmes Ästhetik qua Aisthetik, die sich auf Atmosphäre als erste Wahrnehmungswirklichkeit bezieht. Atmosphäre, die Hermann Schmitz als räumlich randlos ergossene und dabei weder örtlich, noch körperlich lokalisierbare Gefühlsmacht beschreibt (vgl. Böhme 1995: 29), löst Böhme aus dieser Unbestimmtheit heraus und führt sie über in eine Erfahrung, die eine Differenz zwischen mir und einer Atmosphäre macht (vgl. Böhme 2001a: 46). Auf dieser behutsamen Ausdifferenzierung zweier immer aufeinander bezogenen und niemals voneinander getrennten Pole basiert seine neue Ästhetik. Im Vordergrund steht hierbei die Differenz von Wirklichkeit als das „in aktueller Wahrnehmung Gegebene“ und Realität, als das „was dinglich dahinter stehen mag“ (ebd.: 57). In Abschnitt 3 zeigte sich, dass der in dieser Arbeit entwickelte Begriff vom Raum des Theaters eine große Bandbreite aufweist. Als Herz des tradierten Theaterbaus eingeführt, wurde aufgezeigt, dass er sich auch in Alltagssituationen konstituieren kann. In Alltagserfahrungen wird die spezifische Wahrnehmungserfahrung als Anwesenheit im Raum des Theaters erst über eine kulturelle, gesellschaftliche und auch begriffliche Rückkoppelung an Theater beschreibbar. Ausgehend von Abschnitt 2 findet Wahrnehmung im Raum des Theaters, ob nun innerhalb eines Theaterbaus oder als Teil der beschriebenen Straßenszene, immer zwischen ZeichenWahrnehmung und atmosphärischer Wahrnehmung statt. Gleichzeitig verschieben sich im Theaterbau und im Alltagsraum die Gewichtung zwischen Zeichen-Wahrnehmung und atmosphärischer Wahrnehmung, die beide über die jeweils unterschiedlichen Rahmenbedingungen geprägt werden. Der Raum des Theaters eines Theaterbaus wird augenscheinlich von der materiellen Ordnung, den Mauern und implementierten architektonischen Vorgaben geprägt. In Anlehnung an diese Ordnung lässt sich über Theater reden, seine gesellschaftliche und soziale Relevanz, seine Trennung von Bühne und Zuschauerraum oder die Frage nach der Überwindung dieser Trennung. Über diese Ordnung und Materialität wird der Raum des Theaters eingerahmt, wird stabilisiert und auf Dauer gestellt – im Sinne eines Aufrechterhaltens der für seine Konstitution relevanten Bedingungen. Auch lässt sich diese Raumordnung gut mit Ordnungen in Einklang bringen, die für andere Kunst- und Medienformen wie Buch, Bild oder Film gelten. Vieles deutet darauf hin, dass der Raum des Theaters
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eines Theaterbaus auf Zeichen-Wahrnehmung hin ausgerichtet ist, und sich dabei an visuellen und optischen Medien orientiert und seine Ordnung auf Lesen und Betrachten aufbaut. Dennoch beschreibt Böhme den Theaterbau und die tradierte Schauspielkunst als paradigmatisch für seine Ästhetik qua Aisthetik und für atmosphärische Wahrnehmung. Denn gerade dieser geschützte Raum, vor allem aber das tradierte dramatische Schauspieltheater, auf das Böhme sich bezieht, haben zum Ziel, die Wirklichkeit von der Realität abzulösen. Das heißt aber, der Theaterbau und die tradierte Aufführungspraxis schaffen die Grundlagen dafür, dass leibliche Wahrnehmung und erste Wahrnehmungswirklichkeiten mit den Mitteln der Architektur, einer materiellen Ordnung und konventionalisierter, zwischenmenschlicher Kommunikation ausdifferenziert werden. Zudem schaffen sie Bedingungen, die das Erzeugen von Atmosphären als Mittel künstlerischer Arbeit unterstützen. So wird durch das Ausschließen eines Außen und das Platzieren der Zuschauer auf Sitze Handlungsentlastung als bestimmendes Element hergestellt. Als Konsequenz wird Wahrnehmen vor allem den Distanzsinnen, Sehen und Hören, überantwortet. Auch in Bezug auf sinnliches Spüren und die Differenz von eigener Stimmung und gestimmtem Raum wird deutlich gegliedert. Die Zuschauer sollen durch das Ausschließen des Alltagsraums, durch die Verdunklung des Zuschauerraums und die physische Distanz zur Bühne in eine Stimmungsneutralität übergeführt werden, damit sie ihre Aufmerksamkeit ganz den Erzeugern von Atmosphären und Stimmungen auf der Bühne überlassen können. Mit dieser Ausdifferenzierung geht so nicht nur eine Konzentration und Spezifizierung einher, sondern auch eine Beschneidung und Reduktion. Ganz anders verhält es sich mit der vorgestellten Straßenszene. Denn diese kann sich nicht auf eine materielle Raumordnung stützen, vielmehr rückt ein Raum in den Vordergrund, der auf einer spezifischen Wahrnehmung basiert und von Handlungen oder auch Atmosphären geformt wird. Von Handlungsentlastung innerhalb alltäglicher Handlungsprozesse, von einer spezifischen Wahrnehmung, die auf Spüren aufbaut oder von der auf Differenz aufbauenden Stimmung eines Raums und des Betroffenen wurde gesprochen. Dagegen rückten jene die Zeichen-Wahrnehmung betreffenden Aspekte in den Hintergrund, finden dem ungeachtet dennoch statt. Es ist nicht nur die Ausstrahlung der Radfahrer, son-
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dern auch, was sie zueinander sagen, ihre lesbaren Gesten, die aus der Begegnung ein Minidrama werden lassen. Gleichwohl spielen diese im Vergleich zu den anderen Aspekten eine nur sekundäre Rolle. Als Schlussfolgerung lässt sich festhalten: die Differenz von Theaterbau und Straßenszene kann kaum zufriedenstellend über die Differenz von atmosphärischer Wahrnehmung und ZeichenWahrnehmung beschrieben werden. Es braucht eine Erweiterung, die für beide relevant ist und innerhalb derer man Verknüpfungen zwischen einem Raum des Theaters eines Theaterbaus und der Straßenszene herleiten und aufzeigen kann. Wahrnehmung an sich, atmosphärische im Besonderen, findet im Raum statt. So sehr bisher immer von Raum die Rede war, Raumkonzepte wurden bisher noch kaum betrachtet. Kaum verwunderlich ist, dass auch hier eine Differenz auszumachen ist, die sich wiederum an der Differenz von Zeichen-Wahrnehmung und atmosphärischer Wahrnehmung festmachen lässt. Gernot Böhme unterscheidet in seinen Texten immer wieder zwischen zwei grundsätzlich differenten Raumkonzepten, dem geometrischen Raum (vgl. Böhme 2001b: 94) und dem Raum als Raum leiblicher Anwesenheit. Während der erste hauptsächlich mit mathematischen Mitteln beschrieben werden kann, lässt sich der zweite mit den Begriffen und Fragestellungen der Phänomenologie erschließen (vgl. Böhme 2004). Das dem ersten Raum zugrundegelegte Raumkonzept hat sich in seiner Gänze im 17. Jahrhundert herausgebildet. Es dominiert unser heutiges Denken und Handeln und hat sicherlich seinen Anteil daran, dass im Kontext wissenschaftlicher Auseinandersetzungen der Raum leiblicher Anwesenheit kaum vorkommt. Es sind Elisabeth Ströker (Ströker 1977), Hermann Schmitz (Schmitz 1967) oder Gernot Böhme, die diesen erst dem wissenschaftlichen Diskurs zugänglich machen. Im folgenden Abschnitt wird sich zeigen, dass nicht diese zwei Raumkonzepte zur Annäherung zwischen Theaterbau und Straßenszene führen, sondern der auf diesen Konzepten aufbauende Begriff vom Schnitt durch den Raum des Theaters. Denn dieser lässt sich nicht nur auf beide Raumkonzepte anwenden, sondern er kommt auch im Raum des Theaters eines Theaterbaus, außerhalb des Theaterbaus oder in der Straßenszene vor. Der Schnitt soll so als bindendes Glied nicht nur innerhalb des Raums des Theaters, sondern
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auch der unterschiedlichen Raumkonzepte eingeführt werden. Die mit der Zeichen-Wahrnehmung und atmosphärischer Wahrnehmung verknüpften Raumkonzepte sollen genauer erläutert werden, bevor im Abschnitt 4.3 der Begriff des Schnitts entwickelt wird.
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LEIBLICHER
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4. 2.1 Abbildungsver fahren und Raum Alltagserfahrungen und Vorstellungen vom Raum sind heutzutage eng mit zwei Abbildungsverfahren verbunden, der Kartographie und der Zentralperspektive. Ihre Kopplung an vorhandene Raumkonzepte ist bemerkenswert eng, weshalb sie in diesem Abschnitt über den Umweg dieser beiden Abbildungsverfahren vorgestellt werden sollen. Die Abbildungsverfahren der Kartographie und der Zentralperspektive treffen in kaum einem Bereich so prägnant mit ihren jeweiligen Stärken aufeinander wie in aktuellen Computerspielen. Einerseits nimmt der Spieler eine subjektive Perspektive ein, bewegt sich mit einer virtuellen Figur als Stellvertreter durch Landschaften, Labyrinthe und Städte. Andererseits ist immer auch eine Karte präsent, mit der die eigene Verortung in diesen Gegenden ausgemacht werden kann. Damit sind Stärken und Unterschiede beider Verfahren bereits benannt: Mit Hilfe der Zentralperspektive wird ein subjektiver Blick auf Objekte und ihre Platzierung im Raum suggeriert. Die Kartographie hingegen ermöglicht es mit ihrer Sicht von oben, sich in einem virtuellen Raum zu positionieren und das Umfeld zu erkunden. Die Differenzen bestehen im Verhältnis zwischen subjektiv und objektiv, zwischen Ich-Perspektive und Übersicht, aber auch zwischen Involviertsein und abgerücktem Blick (vgl. dazu auch de Certeau 1988: 179ff). Die Wirkungen des Films – als der Zentralperspektive verwandtes Abbildungsverfahrens – auf die Wahrnehmung wurde von Vivian Sobchack in ihrem Text The Scene of the Screen (Sobchack 1995) auf der Basis einer phänomenologischen Analyse beschrieben: Film
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schafft für den Zuschauer Gegenwärtigkeit und ein Gefühl der Anwesenheit im filmischen Raum. Nach Sobchacks These ist es die Bewegtheit der Bilder, die im Raum des Films – in Abgrenzung zum statischen Gemälde oder zur Photographie – beständig Gegenwärtigkeit erschafft (vgl. ebd.: 420). So etabliert sich für den Rezipienten filmischer Raum als bewohnbarer Raum. Die bewegliche Kamera als Instanz der Film-Dynamik konstituiert sehenden/sichtbaren Raum auch als Raum der Bewegung und der Berührung, als einen Raum, der Tiefe hat und eine Konstruktion aufweist, den man bewohnen kann, der nicht bloß das Sehen und Sichtbar-Werden ermöglicht, sondern auch spezifische Situationen. (Ebd.: 420)
Ihre Ausführungen lassen sich heute, weitaus deutlicher als noch 1995 erahnbar, auch auf 3D-Computerspiele übertragen. Stärker noch als beim Film kommt die eigene Einflussnahme auf das Geschehen und die selbstbestimmte Bewegung hinzu, die genau dieses Schaffen von Situationen gesteigert ermöglicht. Auch Architekten haben mit den zwei Abbildungsverfahren in ihrem alltäglichen Arbeitsumfeld zu tun. Lange bevor es computergestützte Werkzeuge gab, gehörte es schon zur Arbeit des Architekten, Entwürfe sowohl in Aufrissen, als auch als zentralperspektivische Abbildungen zu visualisieren. Dabei ist die Funktion der Aufrisse mit der einer Karte vergleichbar. Sie zeigen in Schnitten, die sich an den horizontalen und vertikalen Richtungen der Bauwerke orientieren, den Aufbau eines Bauwerkes und seiner Details. Solche Pläne dienen dabei nicht allein der Veranschaulichung, sondern auch den Ausführenden als Arbeitsanweisungen. Die zentralperspektivische Visualisierung hingegen dient vor allem der Veranschaulichung. Das betrifft nicht allein den Kunden, auch der entwerfende Architekt kann sich darüber einen Eindruck machen, wie das Bauwerk später einmal aussehen wird. Auffällig ist, dass für beide Abbildungsverfahren das eigene Abrücken und der Umgang mit einem Gegenstand als gestaltbaren ganz zentral ist. Was im Computerspiel in Bezug auf zentralperspektivische Abbildungen als subjektive Position beschrieben wurde, die ein Involviertsein durch Gegenwärtigkeit suggeriert, minimiert sich, sobald der animierte Bewegtbildanteil wegfällt. Das starre zentralperspektivische Bild ist
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für unser heutiges Sehen ein abgerücktes Bild von etwas oder auch ein anderer Raum, in dem ich nicht anwesend bin. Diese unterschiedliche Wirkung trotz gleichbleibender Verfahren gibt einen Eindruck davon, dass wir es mit hochgradig abstrakten Abbildungsverfahren zu tun haben, die in Abhängigkeit zu den verwendeten Parametern – wie statisch-bewegt, kartographisch-zentralperspektivisch – sehr unterschiedliche Wahrnehmungswirkungen erzielen. Es sind Abbildungsverfahren, die sich ganz auf Mittel der Geometrie und der Mathematik stützen und so hochgradig variabel und veränderbar sind. Dagegen haben sie mit dem eigenen Wahrnehmen und der eigenen Anwesenheit im Raum nur sehr entfernt etwas zu tun. Das zentralperspektivische Bild kommt dem menschlichen Sehen sehr nah. Dennoch zeigt Panofsky physiologische Differenzen (konkav gekrümmte Netzhaut, kontinuierliche Augenbewegung oder stereoskopisches Sehen, vgl. Panofsky 1992: 101f). Als noch entscheidender Unterschied zwischen dem menschlichen natürlichen Sehen und dem Sehen eines zentralperspektivischen Bildes ist jedoch die Ausgrenzung aller Sinneswahrnehmungen jenseits des Sehens zu nennen, ganz zu schweigen von allen Aspekten, die atmosphärische Wahrnehmung im Raum betreffen. Die hier diskutierten Abbildungsverfahren lassen sich demnach darüber charakterisieren, dass sie auf abstrakten Anschauungsformen beruhen und sich dabei gleichzeitig stark selektiv an das Sehen allein richten.
4. 2. 2 Der Raum als geometrischer Raum Mit diesen Überlegungen zu den Abbildungsverfahren kann die Beschreibung von Raumkonzepten in den Mittelpunkt rücken. Der Weg vom Abbildungsverfahren zum Raumkonzept ist bezüglich der gewählten Beispiele erstaunlich kurz. Sehr einfach ausgedrückt könnte man sagen, dass sich die Bestrebungen im Bilden von Raumkonzepten an dem Anspruch orientieren, Raum darstellbar zu machen. Und da in unserer Kultur Darstellbarkeit eng mit mathematischen und geometrischen Verfahren verknüpft ist, ist sie auch Voraussetzung und strukturierendes Merkmal für theoretische Ansätze und lebensweltlich brauchbare Raumkonzepte. Diese Aussage ist sicherlich zu einfach gehalten, gibt aber doch ein nicht ganz falsches Bild wieder. Als Indiz dafür kann die geringe Präsenz diverser mathematischer und physikalischer Raumkonzepte gelten,
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die in den letzten Jahrhunderten seit Descartes Koordinatenraum entwickelt wurden. Vorherrschend heute ist jenes an ein metrisches Koordinatensystem geknüpfte und auf drei Dimensionen aufbauende Raumkonzept von Descartes, das durch optische und technische Medien sowie zentralperspektivische und kartographische Bildwelten bestärkt wurde. Hinzu kommt ein an kartographische Abbildformen angelehntes topologisches Raumkonzept, dessen Präsenz jedoch stärker auf wissenschaftliche Zusammenhänge konzentriert ist. Im topologischen Raumkonzept spielen anders als in der Kartographie Abstände keine Rolle, sondern lediglich die Nachbarschaft und Beziehung von Punkten. Damit ist also immer eine abstrakte und abgerückte Position verbunden, die strukturelle Zusammenhänge aufdeckt, von der eigenen lebensweltlichen Erfahrung aber abgelöst ist. Im Zeitalter technischer Vernetzung, in der für kommunikative Prozesse weder Zeit noch Entfernung eine Rolle spielen, sind topologische Raumgefüge (etwa in hypertextuellen Strukturen) sogar in der Alltagswelt präsent. Gängige und gebräuchliche Raumkonzepte orientieren sich also an Abbildungsverfahren und ihre geometrisch mathematischen Konstruktionsregeln. Mit der eigenen Erfahrung meiner Anwesenheit im Raum haben diese Abbildungsverfahren aber nur selektiv etwas zu tun. Für die Karte muss das kaum erläutert werden. Sie ist rein abstrakte Anschauung einer eigenen Verortung in einem geographischen Gesamtsystem. Der Kartenleser befindet sich nicht in ihr, stattdessen gibt sie ihm ein Bild davon, wo er zu anderen Orten positioniert ist. Jorges Luis Borges beschreibt diese Charakteristik von Karten und welche Folgen es hat, wenn diese als Unzulänglichkeit bewertet wird. In seinem Text Von der Strenge der Wissenschaft (Borges 1966) erzählt er vom Eifer eines Kartographen, der eine Karte erstellt, die am Ende identisch ist mit dem Territorium, das sie abbildet (vgl. ebd.: 121). Auch die Zentralperspektive ist nur ein geometrisches Verfahren, das unserem Sehen sehr nahe kommt und durch mathematisch erzeugbare und technisch generierbare Faktoren wie Bewegung, illusionistisch an mein subjektives Sehen herangeführt wird, doch nicht mit ihm identisch ist. Es bleibt immer selektiv an einzelne Sinne gerichtet und jenseits all der Utopien und Fiktionen, die Fernsehserien wie Star Trek oder Kinofilme wie Matrix suggerieren. Der perfekte geometrisch und mathematisch erzeugte Anschau-
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ungsraum, bei dem sich meine leibliche Anwesenheit in einem virtuellen Raum von der in einem realen Raum nicht unterscheidet, ist nicht herstellbar. Es ist bemerkenswert, dass sich der überwiegende Teil von Raumtheorien auf geometrische Raumkonzepte berufen, obwohl das Manko nicht zu beheben ist, dass jede geometrische Konstruktion sich einer Abstraktion unterwirft und somit mein vergängliches Involviertsein in einem Raum nicht wirklich beschreiben kann. Vor diesem Hintergrund kann nun eine Unterscheidung zwischen zwei Raumkonzepten explizit eingeführt werden, die für die weitere Arbeit tragend sein wird. Gernot Böhme orientiert in Anlehnung an Hermann Schmitz (Schmitz 1967) und auch Elisabeth Ströker (Ströker 1977) seine Ästhetik qua Aisthetik an einem alternativen Raumkonzept, dass sich von den eben beschriebenen geometrischen grundlegend ablöst. In Anlehnung an die eben beschriebene Kohärenz von Abbildungsverfahren und Raumkonzepten und der Differenz dieser zur eigenleiblichen Anwesenheit unterscheidet Gernot Böhme in seinen Texten zwischen zwei Raumkonzepten. Das eine, oben diskutierte, beschreibt er als geometrisches Raumkonzept (vgl. Böhme 2001b: 94), das andere als eines, das vom Raum als Raum leiblicher Anwesenheit ausgeht. Ist für das erste – wie schon erwähnt – in erster Linie die Mathematik als Bezugsdisziplin zuständig, so ist es für das zweite die Phänomenologie (vgl. Böhme 2004: 133). Die wesentlichen Charakteristika beider Konzepte werden in dieser Kurzformel auf den Punkt gebracht: Der Raum leiblicher Anwesenheit gehört wesentlich zu meiner leiblichen Existenz, weil leiblich da zu sein heißt, sich in einer Umgebung zu befinden. Der Raum als Medium von Darstellung dagegen hat mit mir als Menschen nichts zu tun, er ist vielmehr ein abstraktes Ordnungsschema, nach dem eine Mannigfaltigkeit von Dingen vorgestellt wird. (Ebd.: 129)
Bevor im nächsten Abschnitt das Konzept vom Raum leiblicher Anwesenheit genauer vorgestellt wird, sollen die wesentlichen Spezifika geometrischer Raumkonzepte vorgestellt werden. In Kohärenz zu den vorgestellten Abbildungsverfahren arbeitet Böhme zwei historisch wesentliche und noch immer präsente Ausrichtungen
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geometrischer Raumkonzepte heraus und stellt sie dem Raum leiblicher Anwesenheit gegen: Raum qua spatium und Raum qua topos. Raum qua topos ist der Ortsraum, der Raum der Nachbarschaft und der Umgebungen. Raum qua spatium ist der Raum der Abstände und des Maßes. (Böhme 2002)
Auch Stephan Günzel legt sich sowohl in seinem Buch Raumtheorien (Dünne/Günzel 2006), wie auch in seinem Aufsatz Raum – Topographie – Topologie (Günzel 2007) auf diese zwei Ausrichtungen fest. Neben dem dreidimensionalen Raumkonzept, auf das sich zentralperspektivische Darstellungen, vor allem aber die Arbeit des Architekten konzentrieren, halten vermehrt in Kultur- und Sozialwissenschaften topologische Raumkonzepte Einzug. Auf der Basis des sogenannten „Container Vorwurfs“ (Günzel 2007: 16f oder Dünne/ Günzel 2006: 41) Albert Einsteins, zeichnen sich Tendenzen ab, bei denen Raum nicht mehr als eine dreifach dimensionierte Entität oder formale Einheit gefasst [wird], sondern anhand von Elementen beschrieben, die relational zueinander bestimmt werden. – Mit anderen Worten: An die Stelle des Ausdehnungsaprioris tritt eine Strukturdarstellung von Raum. (Günzel 2007: 17)
Als gängiges Raumkonzept gilt die auch umgangssprachlich präsente Auffassung eines Raums als Zimmer oder eben Container. Doch die Container-Metapher ist irreführend, was ein Blick auf die Architektur zeigt. Dort, wie es Böhme beschreibt, wird zwischen zwei unterschiedlichen Bezugsbereichen unterschieden. Der Raum als Zimmer und der Raum als Platz. Im Ersten geht es um die „Abgrenzung eines Raums im architektonischen Körper“, im Zweiten um „die Umfassung eines räumlichen Bereiches, der mit dem unendlichen Raum verbunden ist“ (Böhme 2002). Beiden gemeinsam ist also weniger die Umschließung, als die Abgrenzung, innerhalb derer Objekte angeordnet und platziert werden. Beschreibbar sind beide Bereiche – und daran orientiert sich die Container-Kritik – über ein dreidimensionales Koordinatensystem, an dem Abbildungsverfahren wie Schnitte oder zentralperspektivisches Verfahren orientiert sind. Attraktiver Schwerpunkt dieses Raumkonzepts ist, dass Räume und ihre enthaltenen Objekte metrisch erfassbar
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sind und so auf ganz unterschiedliche Weise – zwischen Zentralperspektive und Karte – abbildbar und beschreibbar werden. Anders verhält es sich mit dem topologisch orientierten geometrischen Raumkonzept, das sich jenseits der gängigen Abbildungsverfahren und alltäglichen Raumvorstellungen befindet. Auch wenn Günzel die Nähe zu topographischen an Landkarten orientierten Verfahren vorstellt (vgl. Günzel 2007: 18ff), löst es sich doch von diesen grundlegend ab. Hier geht es nicht mehr um Abstände oder Platzierungen, sondern um Nachbarschaften und Beziehungen von Betrachtungsgegenständen. „In der Topologie geht es kurz gesagt darum, die Entsprechungen im Verschiedenen zu beschreiben oder um die Identifikation einander ähnlicher Strukturen“ (ebd.: 21). Für die Details kann auf Dünne und Günzel verwiesen werden (vgl. Dünne/ Günzel 2006), entscheidend ist hier die grundlegende Charakteristik im Umgang mit Subjekt und Objekt und den Betrachtungsgegenständen, bei denen beide geometrischen Ansätze auf gleiche Grundlegungen zurückgreifen. Der Raum qua spatium sowie der Raum qua topos gehen beide von einer Subjekt-Objekt Trennung aus, die für die analytische Betrachtung von Raum Vorteile bringt, weil sie eine Distanzierung zum Gegenstand ermöglicht. Ein topologischer Raum lässt sich über seine Nachbarschaftsbeziehungen und die Umgebungen nicht nur erfassen, sondern auch als ein solches Geflecht beschreiben. Der Behälterraum oder auch Raum qua spatium kann vermessen und in ihm können Objekte platziert werden. Für beide gilt, dass sich Zusammenhänge in ein abstraktes Schema überführen lassen, um zu ermöglichen, sich Dinge und die Welt aus der Distanz zu erschließen. Das wiederum schafft auch Grundlagen für Rückschlüsse auf den Betrachter selbst. Die Räume geometrischer Raumkonzepte werden so zur Grundlage begrifflichen Erfassens von Welt (vgl. Ströker 1977: 23). Der Mensch als Handelnder und als Körper kann so in Beziehung gesetzt werden zu den Umgebungen und Dingen, durch die er sich hindurch bewegt. Der Mensch selbst kann sich aber auch in Verhältnis zu seiner Umgebung, zu den Objekten setzen. Seine Beziehung zur Welt wird von den Objekten getrennt, gleichermaßen auf Objekte und ihre Konstellationen fixiert. Ganz in diesem Sinne argumentiert auch Ströker, wenn sie dem „gelebten Raum“ den „geometrischen“ entgegenstellt. Sie beschreibt für den geometrischen eine begriffliche Fixierung „eines an der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt orientierten Denkens als
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»Relation«, »Beziehung«, »Verhältnis«“ (ebd.: 23), die jenem geometrischen Raum entspringt. Wahrnehmen wird so auf Dinge und ihre Konstellationen konzentriert. Das Wahrgenommene ist nicht nur beschreibbar, sondern wird auch in der Wahrnehmung selbst singulär und losgelöst vom Rest fokussiert. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der geometrische Raum als spatium und topos hantiert mit Dingen und Körpern, deren begriffliche Fassbarkeit eine zentrale Bedeutung zukommt. Dabei ist eine direkte Anbindung an eine Erfahrung von Raum und Abbildbarkeit ganz zentral. Gleichzeitig haben wir es aber auch mit abstrakten Verfahren zu tun, die nur sehr eingeschränkt und selektiv der leiblichen Anwesenheit im Raum gerecht werden. Denn Wahrnehmen wird durch diese Raumkonzepte auf Dinge konzentriert und in Bezug auf die sinnliche Wahrnehmung selektiv behandelt. Dabei stehen das Sehen und das Hören im Zentrum. Deshalb auch sind Raumkonzepte an mathematisch geometrisch orientierte Methoden der Abbildbarkeit und Anschauung gekoppelt. Abstrahierung und Distanzierung vom Gegenstand sind die Basis dieser Konzepte, die sich auch schon in den Anfängen des modernen Verständnisses von Wissenschaft und Forschung finden lassen. Galilei, Descartes, Kepler oder Newton werden nicht müde zu betonen, wie wenig man den Sinnen trauen dürfe, wie unzuverlässig und trügerisch ihr Zeugnis über die Natur sei. Denn Realität besitzen allein Materie und Bewegung; alle anderen Sinnesqualitäten wie Farbe, Klang, Wärme, Geruch oder Geschmack werden zu Epiphänomenen der eigentlichen Wirklichkeit der Teilchen, später der Wellen und Energiefelder. Wie es Platon bereits in seinem Höhlengleichnis illustriert hatte, geben uns die Sinneswahrnehmungen nur illusionäre Abbilder: wir sehen nur einen Widerschein der idealen mathematischen Wirklichkeit. Das Buch der Natur, so Galilei, ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren; ohne diese Mittel können wir nicht ein einziges Wort daraus verstehen. (Fuchs 1997: 185)
Die geometrische Raumauffassung setzt sich von der rein sinnlichen Wahrnehmung ab und schafft ein übergeordnetes abstraktes Konstrukt, das zur Grundlage für unser Denken, Wahrnehmen oder auch unsere gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien wird. Die
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geometrische Raumerfassung schafft einen übergeordneten Raum, der über den der eigenen Erfahrung hinausreicht und den anderen Raum jenseits meiner Anwesenheit als abstrakten beschreibbar macht.
4. 2.3 Der Raum als Raum leiblicher Anwesenheit Den geometrischen Raumkonzepten des vorigen Abschnitts soll hier das Konzept des Raums als Raum leiblicher Anwesenheit gegenübergestellt werden, der im 2. Abschnitt bereits im Zusammenhang mit atmosphärischer Wahrnehmung eingeführt wurde. In seinem Artikel Leibliche Anwesenheit im Raum (Böhme 2001b) kommt Böhme zu folgender Schlussfolgerung: Die Architektur hat traditionell den Raum von der Geometrie her verstanden und den Menschen darin als Körper berücksichtigt. Es kommt heute darauf an, demgegenüber den Standpunkt des erfahrenden Subjektes zu stärken und zur Geltung zu bringen, was es heißt, leiblich in Räumen anwesend zu sein. [...] Jedoch sollte man weder die eine noch die andere Seite verabsolutieren. Die Wahrheit liegt vielmehr im Spiel zwischen beidem, zwischen Leib und Körper, zwischen Befindlichkeit und Tätigkeit, zwischen Wirklichkeit und Realität. (Ebd.: 97f)
Was heißt es, leiblich in Räumen anwesend zu sein? Böhme führt zur Klärung den Begriff der Befindlichkeit ein. Sich befinden heißt einerseits, sich in einem Raume befinden und heißt andererseits, sich so und so fühlen, so und so gestimmt zu sein. Beides hängt zusammen und ist in gewisser Weise eins: In meinem Befinden spüre ich, in was für einem Raum ich mich befinde. (Ebd.: 96)
Der Raum leiblicher Anwesenheit wird also vom Spüren geprägt. Grundsätzlich bin ich in einem Raum leiblich anwesend, das gehört zur Natur des Menschen. Und diese Anwesenheit wird durch zwei nicht voneinander trennbare Pole bestimmt. Der Ich-Pol mit seiner Gestimmtheit und Fähigkeit zu spüren, und der umgebende Raum, der ebenfalls eine Stimmung hat, eine Atmosphäre, die ich spüre.
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Deshalb auch beschreibt Böhme den Raum leiblicher Anwesenheit als Atmosphäre, in die man eintritt oder in der man sich befindet. Der Grund ist in der Art der Erfahrung zu suchen. Diese Erfahrung ist das leibliche Spüren. Und in diesem Spüren wird jener Raum aufgespannt, den wir den leiblichen Raum – im Gegensatz zum körperlichen – nennen. Wir spüren Weite oder Enge wir spüren Erhebung oder Gedrücktsein, wir spüren Nähe oder Ferne, wir spüren Offenheit oder Geschlossenheit, wir spüren Bewegungssuggestionen. (Ebd.)
Atmosphäre ist – so wurde im Abschnitt 2 vorgestellt – als Wahrnehmungsgegenstand körperlos und unbestimmt. Der Raum leiblicher Anwesenheit geht von mir und vom Raum selbst aus. Raum wird durch seine spürbare Weite und Enge, Nähe und Ferne oder Offenheit und Geschlossenheit aufgespannt. Damit ist eine grundlegende Differenz zum geometrischen Raumkonzept vorgestellt. Denn in meiner ersten Wahrnehmungswirklichkeit ist der Raum leiblicher Anwesenheit zunächst nichts weiter als die spürbare unbestimmte Weite, aus der sich durch Artikulation Räume unterschiedlichen Charakters bilden können. (Böhme 2002)
Solche Artikulationen sind Stimmungen, Orientierungen, die einen Raum bilden, mich als Subjekt ausrichten oder Konzentrationen schaffen. Diese Artikulationen setzen keinen gegenständlichen Raum voraus, werden also nicht zwangsläufig von Körpern und Dingen gebildet. Deshalb aber benötigen sie ein Subjekt, das sich als im Raum leiblich Anwesendes diesen Atmosphären nicht nur aussetzt, sondern sie auch erfährt (vgl. ebd.). Der Raum leiblicher Anwesenheit kann somit nicht rein abstrakt erfahren werden. Es ist zwar möglich, über ihn zu reden, ihn begrifflich fassbar zu machen, um das zu benennen, was an Atmosphärischem auf mich als erfahrendes Subjekt einwirkt. Aber ich muss leiblich anwesend gewesen sein, um genau das auch tun zu können. Damit wird auch deutlich, warum der Raum leiblicher Anwesenheit ohne Medium auskommen muss und direkt die Wahrnehmung selbst anspricht. Anders als der geometrische Raum, der mit Hilfe von Abbildungsverfahren
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Raum und Raumzustände zwischenspeichern kann und auch konzeptionell erfasst werden kann, ist für den Raum leiblicher Anwesenheit das Hier und Jetzt grundlegend. Ich als leiblich anwesendes Subjekt bin es, der für eine begriffliche Erfassung der erfahrenen Atmosphären sorgen kann. Ich kann aus der Unbestimmtheit abrücken und zwischen dem Mir und dem erfahrenen Gegenstand differenzieren, damit ich über das so Erfahrene reden kann. Doch führt das aus der leiblichen Anwesenheit heraus, über die ich rede. Als konkrete Beispiele für Entitäten, die sich im Raum leiblicher Anwesenheit artikulieren und ihm einen Charakter verleihen, nennt Böhme Licht (vgl. Böhme 1998a: 35ff, Böhme 2001c oder auch Böhme 2006: 91ff) oder Musik (vgl. Böhme 2006: 76ff). Licht und Musik als wesentliche Mittel des Theaters, durch die Aufführungen ihren spürbaren Charakter und ihre Stimmung verliehen bekommen, eignen sich besonders als Beispiele. Sie sind deutlich als Wahrnehmungsgegenstände auszumachen, ohne dabei aber selbst körperlich in Erscheinung zu treten. Beide haben neben ihrer dinglichen Präsenz auch eine körperlose Ausstrahlung. Licht verleiht „den Dingen, eine Szene, dem Raum eine Atmosphäre [...], die wir in unserem Befinden spüren“ (Böhme 1998a: 45). Licht spannt durch seine Helle einen Raum auf (vgl. Böhme 2006: 95), der bis zu mir als Zuschauer reicht, der im Zuschauersaal entfernt von der Bühne platziert ist. Gleichzeitig bin auch ich durch mein Spüren der durch Licht erzeugten Atmosphäre im Bühnenraum anwesend. So lässt mich mein Sehen an dem Ort anwesend sein, den ich sehe. Es ist diese doppelte Ausprägung, die den Raum als Raum leiblicher Anwesenheit bestimmt: Die Atmosphäre als räumliche ist ausgreifend und ich befinde mich in ihr; gleichzeitig bin ich es, der diese Atmosphäre spürt und dabei selbst in sie räumlich eingreift. Atmosphäre spannt den Raum meiner leiblichen Anwesenheit auf, gleichzeitig spanne ich selbst durch mein Spüren, Wahrnehmen und Handeln einen Raum auf. Dabei nehme ich als Wahrnehmender eine ganz zentrale Rolle im Raum leiblicher Anwesenheit ein, weil dieser an sich leere Raum erst durch mich atmosphärisch erfahren wird. Der Raum leiblicher Anwesenheit wurde eingeführt als ein Raum, der neben dem geometrischen Raum existiert und dessen Anerkennung gestärkt werden muss. Gerade am Beispiel Licht lässt sich gut verdeutlichen, wie leicht der Raum leiblicher Anwesenheit durch den geometrischen überlagert wird. So macht Böhme darauf
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aufmerksam, dass Licht mich nicht nur als Ausstrahlung affektiv betrifft, sondern auch dafür eingesetzt wird, einen Raum zu erhellen. Wenn Dinge erleuchtet werden und ich mich so in Beziehung zu ihnen setze, bringt Licht auch den Raum qua spatium zum Vorschein (vgl. Böhme 1998a: 39). Der Raum leiblicher Anwesenheit ist Atmosphäre. In dieser Atmosphäre befinde ich mich in einem doppelten Sinne, ich bin in ihr anwesend und gleichzeitig fühle ich mich so und so gestimmt. Für den Raum leiblicher Anwesenheit ist mein Darin-Sein zentral. Ich bin es, der diesen Raum erfährt. Ich bin in diesen Raum involviert „als handelnder, wahrnehmender und spürender Mensch“ (vgl. Böhme 2004: 135). Für die Ästhetik qua Aisthetik, so wurde im 2. Abschnitt aufgezeigt, spielt der Aspekt der Ausdifferenzierung eine grundlegende Rolle. Gemeint ist zum Beispiel die in Kunstkontexten gezielt herbeigeführte Ausdifferenzierung der Wirklichkeit von der Realität oder des Ich-Pols vom Gegenstands-Pol. Das Beispiel der Straßenszene (vgl. Abschnitt 3.3: 105) diente als Verdeutlichung. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist auch eine Ausdifferenzierung des Raums leiblicher Anwesenheit und darin des Handlungs-, Wahrnehmungs- und Stimmungsraums für den Raum des Theaters von großer Bedeutung. Denn je nach Weise meines Involviertseins wird auf meine Wahrnehmung Einfluss genommen. Momente der Ingression und der Diskrepanz sind Eingriffe in meinen Raum leiblicher Anwesenheit, die nicht nur meine Befindlichkeit verändern, sondern eben auch eine Ausdifferenzierung bewirken, die zum Beispiel aus einer Unbestimmtheit eine Bestimmtheit werden lässt. Kunstformen, performative Ereignisse oder auch Institutionen, wie Museen oder das Kino greifen deshalb gezielt in diese drei Teilräume leiblicher Anwesenheit ein. Darin erzeugen sie – so soll jene Ausdifferenzierung begrifflich gefasst werden – einen Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit.
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4.3.1 Orientierung Als ein Ergebnis des 3. Abschnitts kann für den Raum des Theaters eines Theaterbaus die Ausdifferenzierung zwischen Innen und Außen sowie zwischen Publikumsraum und Aufführungsraum hervorgehoben werden. Herausgestellt wurde auch, dass es sich hierbei vorwiegend um Maßnahmen handelt, deren Ziel es ist, körperlich zu trennen. Ich als Zuschauer werde einerseits körperlich vom Alltagsraum und andererseits von der Bühne und den Darstellern getrennt. Das heißt, im Theaterbau wirken an geometrischen Raumkonzepten orientierte Verfahren der Platzierung, Abgrenzung oder auch Distanzierung, die auch die Wahrnehmung darin orientieren. Als ein weiteres Ergebnis dieses Abschnitts lässt sich festhalten, dass es auch in Alltagssituationen zu einer ähnlich gelagerten Ausdifferenzierung kommen kann. Doch anders als für den Theaterbau basiert diese nicht auf Mitteln geometrischer Raumkonzepte, sondern auf atmosphärischer Wahrnehmung und den Raum leiblicher Anwesenheit. Dabei wurde von einem Eingriff in mein Handeln, Wahrnehmen und Spüren als drei Weisen meines Involviertseins in den Raum leiblicher Anwesenheit gesprochen. Es deutet sich an, dass diese angesprochene Ausdifferenzierung konstitutiv für den Raum des Theaters ist. Und weil sie in so heterogenen Bereichen wie den Polen Innen-Außen, Bühne-Zuschauersaal, geometrischer Raum und Raum leiblicher Anwesenheit, Theaterbau und Alltagssituation zu finden ist, soll sie unter dem Begriff des Schnitts zusammengefasst werden. Der Schnitt durch den Raum des Theaters verläuft so zwischen Innen und Außen, zwischen Bühne und Zuschauer, zwischen Aufführungsraum und Publikumsraum. Er greift aber auch in den Handlungs-, Wahrnehmungs- und Stimmungsraum, in den Raum leiblicher Anwesenheit ein. Der Schnitt durch den Raum des Theaters ist gleichermaßen Teil eines Theaters, das sich an geometrischen Raumkonzepten sowie am Raum leiblicher Anwesenheit orientiert.
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Anders als im 3. Abschnitt wird der Weg genau in die andere Richtung führen. Diesmal soll bei der Straßenszene begonnen werden, um am Ende beim Theaterbau und seinem Umgang mit dem Schnitt durch den Raum des Theaters anzukommen. Die Gründe für diesen Weg liegen an der Fundierung des Schnitts in der atmosphärischen Wahrnehmung. Der Begriff vom Schnitt, wie er hier vorgestellt werden wird, basiert auf der Ausdifferenzierung von Atmosphäre als erste Wahrnehmungswirklichkeit, die für die Konstitution eines Raums des Theaters grundlegend ist. Dabei differenzieren sich ein Ich-Pol und ein Gegenstands-Pol aus. Der Schnitt wird so zu einer ästhetischen Kategorie, die aber nicht auf Theater als Kunstwerk allein ausgerichtet ist, sondern auch spezifische Ereignisse innerhalb unserer Alltagswelt einschließt. Es handelt sich um Ereignisse, denen wir regelmäßig ausgesetzt sind. Innerhalb eines alltäglichen Vorgangs sticht eine Situation besonders heraus, die nur wenig später dem Alltag weicht. Im Alltagsleben sind die wenigsten dieser erfahrenen Momente erinnerungswürdig, dennoch sind sie für den Raum des Theaters von Interesse, weil er auf ihrer Wirkungsweise und Wahrnehmungswirklichkeit aufbaut. Erst die Kunstform Theater schafft ein Umfeld, das dieser Erfahrung eine Dauerhaftigkeit verleiht und diese im Rahmen einer Aufführung in ihrem Wirken fortwährend aktualisiert. Es sind also Rituale, Konventionen, Materialisierungen und auch Professionalisierungen des Theaterbetriebs, die die spezifische Wahrnehmung des besagten Alltagsereignisses kultiviert haben, ihm eine Form geben und dazu beitragen, dass es als das Prinzip Theater anerkannt wird. Das heißt dann aber auch, dass der an der ersten Wahrnehmungswirklichkeit orientierte Raum des Theaters vor jedem Theaterbau, jeder Konvention und Tradition steht. Wir haben es dann mit einem Raum des Theaters zu tun, der sich im Raum leiblicher Anwesenheit ausdifferenziert und allein der Wahrnehmung entspringt. Weder Bühnenpodest, noch Vorhang oder Zuschauerbestuhlung sind hier notwendig. Deshalb soll im Folgenden auch erst der Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit eingeführt werden und dann der des Theaters. Denn der Raum des Theaters als vom Menschen geschaffener Raum baut auf dem Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit auf. Der Theaterbau ist eine mögliche geometrisierte und materialisierte Manifestierung dessen.
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Das führt noch einmal zur Straßenszene und der Frage, was sich hier eigentlich ereignet hat, dass sie als Schlüsselszene vorgestellt wird. Zuvor soll noch einmal die Szene an sich rekapituliert werden: Ich fahre mit meinem Fahrrad von zu Hause ins Schauspielhaus Bochum. An einer Straßenüberquerung komme ich zum Stehen, weil zwei ältere, freundlich wirkende Herren auf Fahrrädern meinen Weg kreuzen. Ich höre den einen heiter zum anderen sagen: „Wir haben heute Hochzeitstag“. Der andere antwortet etwas betroffen, während er die Hand zum symbolischen Handschlag hebt: „Oh, das wusste ich ja gar nicht, herzlichen Glückwunsch“. Der erste Herr fährt mit triumphierendem Unterton fort: „Und stell Dir vor, meine Frau hat ihn zum ersten Mal vergessen“. Mit einem gemeinsamen heiteren Schmunzeln entlässt ein letzter Hauch ihres Fahrtwinds die beiden aus meiner Reichweite. Ich setze an zur Weiterfahrt. (Abschnitt 3.3: 105)
Was ist während dieser zehn Sekunden zwischen mir und den Fahrradfahrern geschehen, warum wohne ich ihrem Gespräch als eine Art Theater-Zuschauer bei? Warum habe ich sie überhaupt als besonders und in der Haltung eines Zuschauers in einem Raum des Theaters erlebt? Zu fragen ist also, worin sich meine leibliche Anwesenheit in diesem Zeitraum von der davor und danach unterscheidet. Was davon verleiht Theater eine Dauer und was genau zeichnet hier den Schnitt aus? In der Unbestimmtheit meines eigenen alltäglichen Fahrradfahrens, in der meine Wahrnehmung einem Totaleindruck unterliegt, kommt es zu einer Störung. Diese wurde in Anlehnung an Böhme im 2. Abschnitt als Ingressionserfahrung vorgestellt. Bei genauerer Betrachtung der Situation werden zwei Ebenen deutlich, auf denen sich diese Störung abspielt. Die Fahrradfahrer begegnen mir als Körper, die nach den Regeln der Straßenverkehrsordnung Vorfahrt haben und mit denen mein Körper beim Weiterfahren zusammenstoßen würde. Gleichzeitig nehme ich die zwei Radfahrer aber auch durch eine besondere Hervorhebung ihrer Gegenwart wahr, die durch eine Inszenierung hervorgerufen wird, die von ihnen ausgeht. Die Begriffe Gegenwart und Inszenierung stützen sich auf Martin Seels Aufsatz Inszenieren als Erscheinenlassen (Seel 2001). Darin beschreibt er Inszenierungen als
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absichtsvoll eingeleitete oder ausgeführte sinnliche Prozesse, die vor einem Publikum dargeboten werden und zwar so, daß sich eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können. (Ebd.: 50)
Das Publikum im Fall dieser Straßenszene bin nicht vorrangig ich, wie vielleicht zu vermuten wäre, sondern in erster Linie die zwei Fahrradfahrer gegenseitig. Wir haben es letztlich mit einer zeitlichen Abfolge von zwei Inszenierungsereignissen zu tun. Die Art und Weise, in der der erste Fahrradfahrer dem zweiten die Erlebnisse seines Hochzeitstags anekdotisch darbietet, lässt sich als „intentional erzeugtes Geschehen“ (ebd.: 49) beschreiben, das den zweiten als Publikum adressiert. Auch der zweite Mann, der mit einem symbolischen Handschlag seinem Freund gratulieren will, übt sich in Selbstinszenierung und erzeugt so eine Szene, in der der erste Mann die Rolle des Zuschauers übernimmt. Die Besonderheit von Inszenierungen liegt nach Seel darin, dass sie „das in und mit ihnen Geschehende für eine Weile auf eine Weise auffällig [machen], in der es hier und jetzt unübersehbar als gegenwärtig erfahren werden kann“ (ebd.: 54). Diese Auffassung von Inszenierung ist für diese Arbeit grundlegend, nur der Begriff unübersehbar soll so nicht übernommen werden, weil er ausschließlich auf das Sichtbare und damit auf Dinge fokussiert. Mit dem Fokus auf atmosphärische Wahrnehmung spielt in Inszenierungen auch Unsichtbares eine Rolle (vgl. Abschnitt 2.1). Seels Vokabular wird daher adaptiert zu dem Begriff der unüberspürbaren Gegenwärtigkeit. Der erste Mann erzeugt eine solche unüberspürbare Gegenwärtigkeit. Die im heiteren Tonfall vorgebrachte Aussage: „Wir haben heute Hochzeitstag“, beinhaltet schon die dann folgende Pointe und erzeugt so eine Spannung, die in Richtung einer Auflösung strebt. Erzeugt wird die unüberspürbare Gegenwärtigkeit durch die Kopplung von Heiterkeit und der bekannten Dramaturgie von Witzen. Durch meine zufällige Anwesenheit werde auch ich zum heimlichen Zeugen dieser erzeugten unüberspürbaren Gegenwärtigkeit, die meine Aufmerksamkeit erregt. Auch wenn ich in die Rolle des Zuschauers schlüpfe, übernehme ich dabei jedoch eine etwas andere Rolle, da die Darbietung mich nicht intentional als Zuschauer vorsieht. Die Intentionalität der Inszenierung macht in dieser Situation das unterscheidende Merkmal zwischen Theater und nicht Theater
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aus, zwischen dem Schnitt durch den Raum und dem durch den Raum des Theaters. Ohne den Aspekt der Inszenierung als intentionale Erzeugung von unüberspürbarer Gegenwärtigkeit kann zwar ein Schnitt erzeugt werden, für mich jedoch kein Schnitt durch den Raum des Theaters. Damit ist ein bisher kaum behandelter Aspekt benannt, der sich für die Etablierung des Schnitts durch den Raum des Theaters mitverantwortlich zeigt: die zwischenmenschliche Komponente und die mit ihr verbundene Intentionalität. Dieser Aspekt ist implizit auch schon in der Betrachtung zum Theaterbau enthalten. Ist doch die Entscheidung für eine spezifisch bauliche Ordnung eine vom Architekten und Bauherren intentional getroffene. Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass der Mensch als Handelnder im Zusammenhang mit dem Raum des Theaters noch einmal eine besondere Rolle einnimmt. Er kann Situationen gleichermaßen erzeugen, wie auch auflösen, ganz gleich in welcher räumlichen Konstellation er sich befindet. Für den Schnitt durch den Raum des Theaters spielt ein darin intentionales Handeln eine spezifische und auch relevante Rolle. Somit lassen sich an Hand der Straßenszene zwei sehr unterschiedliche Betrachtungen vollziehen, die beide für den Schnitt und den Raum des Theaters von Bedeutung sind. Vertieft werden kann zum einen das Verhältnis zwischen Betrachter und einem inszenierten bzw. nicht inszenierten Geschehen als Teil zwischenmenschlichen Handelns. Wann und warum wird Gegenwart unüberspürbar und wie wirkt sich das auf den Betrachter aus? Zum anderen stellt sich aber auch die Frage nach dem Schnitt durch den Raum als rein räumlich atmosphärisches Phänomen. Wenn ich ausschließlich aus der Für-Mich Perspektive in den Raum leiblicher Anwesenheit als atmosphärisch spürender, handelnder und wahrnehmender Mensch (vgl. Böhme 2004: 135) involviert bin, was sind die Faktoren, die den Schnitt durch den Raum zustande kommen lassen? Der erste Aspekt wird in Abschnitt 5 ausgeführt, letzterer hingegen in den folgenden Abschnitten. Böhme unterscheidet drei Weisen, in denen man in den Raum leiblicher Anwesenheit involviert ist, nämlich als handelnder, wahrnehmender und atmosphärisch spürender Mensch (vgl. ebd.: 135). Dabei ist „der leibliche Raum die Weise, in der ich selbst da bin bzw. mir anderes gegenwärtig ist“ (ebd.: 134). Es ist dieses an beiden Polen angelegte Zwischen, um das es hier vor allem geht. Denn so
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sehr ich auch bei mir bin, bin ich eben auch immer in einem Raum, in einer Konstellation anwesend. Gleiches gilt auch für den Gegenstand meiner Wahrnehmung. Dieser ist mir nicht nur gegenwärtig, er ist für sich genommen überhaupt erst einmal da. Der Ich-Pol ist immer auch Teil des Gegenstands-Pols, wie der Gegenstands-Pol immer auch Teil des Ich-Pols ist. Und weil es hier nicht um eine geometrische Betrachtung geht und auch nicht um Körper, die aufeinandertreffen, sondern um leibliche Anwesenheit, geht es um das nicht materielle Zwischen. Dieses Zwischen betrifft gleichermaßen meine Wahrnehmungswirklichkeit wie die Atmosphäre als Gegenstands-Pol.
4.3. 2 Der Schnit t durch den Handlungsraum Als meinen Handlungsraum beschreibt Böhme den „Spielraum meiner Handlungsmöglichkeiten und Bewegungsmöglichkeiten“ (ebd.: 134), der sich in zweierlei Weise entfaltet. Zum einen wird der physische Raum insoweit zum Raum meiner leiblichen Anwesenheit, dass mit meinem Eingreifen gerechnet werden muss. Zum anderen zählt auch zum Raum meiner leiblichen Anwesenheit, was immer sich in unmittelbarer Erreichbarkeit befindet. Dieser Raum ist also für mich als Handelnden die Sphäre meines unmittelbaren Handelns. (Ebd.: 134)
Dadurch, dass ich in dem genannten Szenario nicht in das Geschehen der zwei Herren direkt eingreife, mache ich deren Raum nicht zu einem Spielraum meiner Handlungsmöglichkeiten, dies wäre bei einem Zusammenstoß oder einem Ausweichmanöver geschehen. Vielmehr werde ich auf Grund meiner Vorsicht in eine handlungsentlastende Position gebracht. Mein Handeln wird für einen gewissen Zeitraum unterbrochen. Ich harre aus, bis die beiden an mir vorbeigefahren sein werden. Also ist meine Aufmerksamkeit als Teil meines Handelns nicht mehr auf das Radfahren konzentriert, sondern offen für anderes. Das ändert aber nichts daran, dass sich beide Radfahrer in meiner unmittelbaren Erreichbarkeit befinden. Ich könnte eingreifen, sie sind potentiell Teil meines Handlungsraums und somit müssen auch sie mit meinem Eingreifen rechnen. Gleichzeitig könnten sie mit ihrem Handeln aber auch in meinen Raum eingreifen.
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Dieser Bruch meines Handelns, gekoppelt an die damit verbundene Handlungsentlastung ist ein Aspekt des Schnitts. Denn indem ich in die abwartende Haltung eintrete, ist die Grundlage dafür geschaffen, Zuschauer zu sein. Ich werde aber nicht nur durch eine von außen gesetzte Handlungsentlastung zum Zuschauer, sondern auch dadurch, dass die fahrradfahrenden Herren in ihrem Handeln – von meiner Anwesenheit unbeeindruckt – fortfahren. Der Schnitt basiert also auf der Differenz von nicht Handeln auf der einen Seite und Handeln auf der anderen. Nicht nur meine Handlungsentlastung ist somit grundlegend für die Situation Theater und für den Raum des Theaters, sondern auch das Handeln der Herren: Nicht performative Kunstformen kennen handelnde Akteure nicht. Der Raum des Theaters baut auf den am Handlungsraum orientierten Schnitt auf, der auf der einen Seite Handlungsentlastung bringt und auf der anderen Seite Handlung. Für den Raum des Theaters, für Theatralität und für Theater als Kunstform spielen das bewusste Inszenieren, das Erzeugen von Etwas, die ästhetische Arbeit, wie es Böhme nennt, eine zentrale Rolle. Im Raum des Theaters handeln Akteure, deren – wie es Andreas Kotte beschreibt – Hervorhebungen als Hauptfunktion ihres Handelns ausgemacht werden können (vgl. Kotte 1998: 125). Gleichermaßen handeln aber auch die Zuschauer, indem sie ihrer Rolle als Zuschauer entsprechen und ohne eingreifend zu handeln einem Geschehen – sehend, hörend und leiblich spürend – beiwohnen. In Erweiterung zu Kotte soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass hier unter Akteur mehr als nur der menschliche Schauspieler gemeint sind. Es fallen auch inszenierte Dinge und Stimmungen darunter.
4.3.3 Der Schnit t durch den Wahrnehmungsraum Den Wahrnehmungsraum beschreibt Böhme auch wieder als einen, der vom Subjekt aufgespannt wird und gleichzeitig vom atmosphärischen Raum selbst ausgeht. Der Wahrnehmungsraum ist mein Sein bei den Dingen, d. h. die Weise, in der ich wahrnehmend außer mir bin bzw. es ist die Weite, insofern sich meine eigene Anwesenheit durch die Gegenwart der Dinge artikuliert. (Böhme 2004: 135)
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Die an mir vorbeifahrenden Fahrradfahrer lassen mich leiblich in ihrem Raum anwesend sein. Sie spannen einen Raum auf. Es ist der Windhauch, den ich spüre, aber auch die Stimmung, die ihnen quasi voraneilt, der ich gewahr werde. Der spöttische Tonfall oder die Ausstrahlung eines Gesichtsausdrucks sind Atmosphären, die mir anmuten und meine eigene Anwesenheit spürbar werden lassen. Gleichzeitig bin auch ich es, der einen eigenen Wahrnehmungsraum aufspannt. Dieser hat eine Reichweite, die es mir ermöglicht bei den Herren zu sein. Neben dem Spüren, bin ich sehend und hörend bei ihnen. Der Schnitt durch diesen vermeintlich schnittfreien Wahrnehmungsraum basiert auf einer Differenz, die – gerade für tradierte Kunstauffassungen – erst in ihrem Verschwinden zur Perfektion gelangt. Hinter diesem Paradox einer Differenz, die erst ideal ist, wenn sie verschwindet, steckt die schon mehrfach erwähnte Differenz von Wirklichkeit und Realität: Wirklich ist das in aktueller Wahrnehmung Gegebene und Realität das „was dinglich dahinter stehen mag“ (Böhme 2001a: 57). Der aus tradierter Sicht perfekte ästhetische Moment ist der, in dem die Realität gänzlich ausgeblendet ist und mir als Zuschauer oder Betrachter nur die Wirklichkeit anmutet. Illusion erzeugt eine Wirklichkeit, von der eigentlich klar ist, dass die dahinterliegende Realität von ihr abweicht. Für die Wahrnehmung von Film und Fernsehen ist dieser Schnitt als NichtSchnitt zentral, weil dort die Wirklichkeit ohne Realität auskommen muss. Wirklichkeit und Realität korrespondieren hierbei nicht. Das betrifft vor allem die Realität des Films, denn sie hängt mit dem Projektor, der Leinwand oder dem Zelluloid zusammen und hat in der Regel nichts mit der erscheinenden Wirklichkeit zu tun. In Film und Fernsehen ist die Realität der abgebildeten Dinge nicht hinter der Wirklichkeit vorzufinden, weshalb die Wahrnehmung dazu tendiert, die erfahrene Wirklichkeit mit der vermeintlich dahinterliegenden Realität gleichzusetzen. (vgl. ebd.: 121). Die in aktueller Wahrnehmung gegebene Wirklichkeit der Radfahrer basiert dagegen auf deren Stimmungsraum, der dort vorherrschenden Atmosphäre. Sie erfahre ich als Wirklichkeit, ohne dass die Realität der zwei Männer für mich in diesem Moment eine Rolle spielt. Anders als bei Theatersituationen basiert die Straßenszene auf Zufall: Die zwei Herren führen dieses eine Gespräch, erzeugen diese eine Stimmung, just in dem Moment, in dem ich an ihnen vorbeikomme und in eine handlungsentlastete Situation gerate. Die
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Kunstform Theater erzeugt solche Momente bewusst, die Theatermacher sind sich dieser den Wahrnehmungsraum betreffenden Prinzipien bewusst, sie wissen sie herzustellen. Im noch zu diskutierenden gegenwärtigen Theater wird auch das Wissen genutzt, wie der Schnitt durch den Raum des Theaters bewusst zerstört, destabilisiert und schließlich erneuert werden kann.
4.3.4 Der Schnit t durch den Stimmungsraum Als letztes nennt Böhme den Stimmungsraum als Raum, in den man involviert ist, wenn man sich im Raum leiblicher Anwesenheit befindet. Auch für ihn beschreibt er zwei Weisen: Der Stimmungsraum ist einerseits der gestimmte Raum, d. h. eine bestimmte Atmosphäre oder Tönung, die über der jeweiligen Umgebung liegt, wie auch die räumlich ergossene Atmosphäre, an der ich mit meiner Stimmung partizipiere. (Böhme 2004: 134)
Auf die Straßenszene übertragen heißt das: In dem Moment, in dem die Herren an mir vorbeifahren, gerate ich in ihren Stimmungsraum. Dabei spüre ich eine leicht spöttisch triumphierende Stimmung, als einen Charakter ihres Raums. Dieser Charakter ist so auch die Ausdehnung ihrer Stimmung (vgl. ebd.: 134). Und weil sich der Stimmungsraum der zwei Herren von meinem ausdifferenziert, wird er mir als anderer erst gewahr und hat dennoch oder gerade deshalb eine affektive Wirkung auf mich. Denn ich spüre etwas, das ich wahrnehme gerade dadurch, daß ich beginne, in eine Stimmung zu ‚geraten‘. (Böhme 2001a: 47)
Es ist die Ingression, die nicht nur dazu beiträgt, dass ich den Raum der zwei Herren als anderen Raum erfahre, sondern auch, dass er mir überhaupt als ein anderer Raum anmutet, in den ich hineingerate. Auf der Grundlage meiner Ingression konstituiert sich ein Schnitt. In der Unbestimmtheit meines eigenen Fahrradfahrens, in der meine Wahrnehmung ganz einem Totaleindruck unterliegt und meine leibliche Anwesenheit vor allem durch mein Handeln vereinnahmt wird, treffe ich auf die zwei Herren und gerate dabei in eine
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handlungsentlastete Position. Gleichzeitig kommt auch der Aspekt einer Neuorientierung hinzu. Der andere Raum, auf den ich treffe, ist mir fremd, hier bin ich nur zu Gast. Mein Treffen auf den anderen Stimmungsraum führt zu einer Ausdifferenzierung meines Totaleindrucks und der Fokussierung auf die Radfahrer. Mein IchPol bildet sich so heraus, weil ich mich dem Raum der Herren und seiner Atmosphäre als Gegenstand gegenübersehe, dessen Charakter mir in besonderer Weise anmutet. Das heißt dieser Gegenstand wird nicht allein durch die Körper der zwei Herren bestimmt, auch nicht durch ihr Handeln, sondern maßgeblich durch ihren Stimmungsraum, an dessen Erzeugung sie mitwirken. Doch gerate ich nur bedingt in diesen anderen Raum. Durch meine Handlungsentlastung bin ich als Handelnder passiv in diesen anderen Raum involviert. Anders verhält es sich in Bezug auf den Wahrnehmungsraum und den Stimmungsraum, sie lassen mich leiblich im Raum der zwei Herren anwesend sein.
4.3.5 Der Schnit t und der Raum des Theaters Soweit lässt sich zusammenfassen: Durch die zwei Radfahrer verdichtet sich meine Wahrnehmung auf sie. Dabei erfahre ich sie nicht nur als Dinge und Körper, die an mir vorbeifahren, sondern durch eine bestimmte Stimmung, in die ich hineingerate. Zwar führt mein Hineingeraten nicht soweit, dass ich tatsächlich in den Raum der zwei Herren eindringe. Vielmehr befinde ich mich in einer handlungsentlasteten Situation und verharre so auf der Schwelle zu ihnen. Gleichwohl bin ich kein rein distanzierter Betrachter, weil ich den dort herrschenden Stimmungen, den Charakteren der dort herrschenden Atmosphäre trotzdem ausgesetzt bin. Wie in Böhmes Beschreibung des Wahrnehmungsraums angelegt, können meine Sinne dazu beitragen, dass ich durch die Reichweite meiner Wahrnehmung bei den Gegenständen bin und die Gegenstände, durch ihre Ausstrahlung und Erscheinung bei mir sind. Auch wenn ich nicht handelnd eingreife, bin ich doch im Raum der zwei Herren wahrnehmend anwesend, wie sie und ihr Raum bei mir sind. Ohne ihr Wissen bin ich als Fremder zu Gast und habe wahrnehmend Teil an ihren Handlungen. Aus dieser Beschreibung der Wahrnehmung der exemplarischen Straßenszene ergibt sich im Hinblick auf die Wahrnehmung im
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Raum des Theaters: Vom Raum leiblicher Anwesenheit aus betrachtet, fundiert der Raum des Theaters auf dem Schnitt durch den Raum. Mit diesem Schnitt lässt sich der Raum des Theaters als einer beschreiben, der von Böhmes Ästhetik als Wahrnehmungslehre abgeleitet und auf performative Prozesse und theatrale Situationen anwendet werden kann. So wird der Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit zu einem wesentlichen Aspekt in der Betrachtung des Raums des Theaters. Ich als Mensch bin in den Raum leiblicher Anwesenheit handelnd, wahrnehmend und atmosphärisch spürend involviert. Befinde ich mich gleichzeitig in Ausdifferenzierung zu einem anderen Raum, wird dies mit dem Begriff des Schnitts umschrieben. Diese Ausdifferenzierung oder auch der Schnitt schafft Pole zwischen nicht Handeln und Handeln, zwischen Wirklichkeit und Realität oder auch zwischen Ich-Pol und Gegenstands-Pol. Für den Handlungsraum kann die Handlungsentlastung als ein wichtiger Aspekt des Schnitts durch den Raum des Theaters beschrieben werden. Sie allein ist aber für den Raum des Theaters nicht spezifisch. Erst in der Differenz zwischen dem handlungsentlasteten Zuschauer und anderen handelnden Personen oder Gegenständen, haben wir es mit einem Raum des Theaters zu tun. Diese Pole stellt Fischer-Lichte in ihrem Modell für Theater ins Zentrum: Als Wirklichkeit (Theater) wird eine Situation erfahren, in der ein Akteur an einem besonders hergerichteten Ort zu einer bestimmten Zeit sich, einen anderen oder etwas vor den Blicken anderer (Zuschauer) darstellt oder zur Schau stellt. (Fischer-Lichte 2001: 300)
Sie hält ihr Modell bewusst offen und richtet es nicht allein auf die Institution oder die Kunstform Theater aus. Auch wenn diese Charakterisierung in Bezug auf den Wirklichkeitsbegriff und den Stellenwert des Sehens als Zuschauertätigkeit von dem hier vorgestellten Raum leiblicher Anwesenheit deutlich abweicht, zeigt sie dennoch den theaterwissenschaftlichen Stellenwert der Differenz von aktiv Handelnden im Rahmen eines explizit erzeugten Grundsettings und einer Handlungsentlastung. Für den Wahrnehmungsraum wurde vor allem die Differenz von Wirklichkeit und Realität hervorgehoben, die uns auch im normalen Lebensraum begegnet. So wird etwa der Auftritt eines promi-
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nenten Filmstars bei Festivals in Szene gesetzt, indem Limousinen vorfahren, rote Teppiche ausgerollt werden und eine große Anzahl an Photographen und Schaulustigen dafür sorgen, dass der Prominente von allen als wichtig erkannt wird. Es tritt die Wirklichkeit des Prominenten in Erscheinung, nicht die Realität der Person dahinter. Mit diesem Aspekt rückt auch die Inszenierung als Gestaltung einer Szene ins Blickfeld. Mit einer Inszenierung wird in Anlehnung an Böhme (vgl. Böhme 2001a: 117ff) eine Wirklichkeit hervorgebracht, die ohne diese so nicht erfahrbar wäre. Die Inszenierung macht eine spezifische Wirklichkeit – die eines prominenten Filmstars – erst möglich (vgl. ebd.: 119). Für den Stimmungsraum schließlich wurde die Ausdifferenzierung eines Ich-Pols und eines Gegenstands-Pols hervorgehoben. Als erste Wahrnehmungswirklichkeit begegnet mir etwas Atmosphärisches, das von meinem Stimmungsraum abweicht. Ingression und Diskrepanz erzeugen eine Differenz zwischen dem Ich und einer von ihm abweichenden im Raum vorhandenen Atmosphäre. Dieses Atmosphärische als Gegenstand kann explizit erzeugt werden, nicht nur von Theatermachern innerhalb und ausgehend von der Institution Theater, sondern auch im normalen Lebensraum. Sie ist auch Teil von Ritualen, gesellschaftlichen Repräsentationen oder Sportveranstaltungen. Auch hier spielt Inszenierung und Gestaltung von Szenen erneut eine Rolle, als bewusste Erzeugung von Diskrepanz und Ingression. Der Begriff des Schnitts umfasst also nicht eine klare Eigenschaft, sondern setzt sich aus einem vielfältigen Umgang mit dem Raum leiblicher Anwesenheit zusammen. Jede für sich trägt dazu bei, dass sich ein Raum des Theaters konstituiert und für eine gewisse Dauer existiert. Die Dauer steht hierbei im Zentrum. Dauer für den Raum des Theaters heißt, einen Rahmen zu schaffen – zum Beispiel in Form einer Inszenierung, die es ermöglicht, die Charakteristika, die für die Etablierung eines Raums des Theaters verantwortlich sind, aufrecht zu erhalten. Das Problem der Dauer taucht auf, wenn man den Theaterbau verlässt. Der Schnitt außerhalb des Theaterbaus ist labil, kann von allen Seiten aufgelöst, destabilisiert und aufgebrochen werden. Insofern lohnt sich eine gesonderte Betrachtung der räumlich stabilen Bedingungen des Theaterbaus. Wie ist der hier charakterisierte Schnitt im Raum leiblicher Anwesenheit in den Theaterbau implementiert? Welche Aspekte des Schnitts werden durch welche theaterbaulichen und architektonischen Maß-
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nahmen aufgegriffen, dauerhaft implementiert oder auch verformt? Ist es gar möglich, dass der Theaterbau durch seine Materialität eine eigene Ausformung des Schnitts erzeugt?
4.4 D ER S CHNIT T DURCH EINES THE ATERBAUS
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Nachdem der Schnitt als spezifische Ausdifferenzierung des Raums leiblicher Anwesenheit vorgestellt wurde, soll sich wieder dem Theaterbau zugewendet werden. Neben der weiter oben angekündigten Umkehrung der in Abschnitt 3 vollzogenen Bewegung vom Theaterbau zur Straßenszene, wird dabei auch der Gedanke verfolgt, die äußeren Ränder des Schnitts durch den Raum des Theaters abzustecken. Wurde der Schnitt ausgehend von der Straßenszene hergeleitet, geht es nun darum sich einen Eindruck davon zu machen, in welcher Weise er in Theaterbauten implementiert ist. Auch hier wird erneut Gerhard Graubners Bochumer Schauspielhaus als impliziter Referenzbau Pate stehen. Das vor allem, weil es sich um einen modernen Theaterbau handelt, der weitestgehend dem Stand heutiger Ansprüche entspricht und gleichzeitig auch in vielen Belangen mit tradierten Vorstellungen konform geht. Zu untersuchen wird sein, wie der Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit als für den Raum des Theaters konstitutiver, in den Theaterbau implementiert wird und welche Konsequenzen das für den Schnitt hat. Daraus lässt sich dann auch die Charakteristik des Schnitts durch den Raum des Theaters eines Theaterbaus herleiten. Als roter Faden werden die zentral hergeleiteten Charakteristika des Schnitts durch den Raum dienen: Dauer, Handlungsentlastung, Inszenierung, Isolierung der Wirklichkeit von der Realität und eine Ausdifferenzierung eines Ich-Pols und eines Gegenstands-Pols durch Ingression und Diskrepanz. Auf einer handlungsorientierten Ebene kommt auch der Aspekt der Inszenierung und die aktive Erzeugung des Schnitts durch das Subjekt hinzu (vgl. Abschnitt 5). Als roter Faden zieht sich der Begriff der Dauer durch die bisherigen Beschreibungen des Schnitts. Am Beispiel der Straßenszene
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wurde immer wieder hervorgehoben, dass sie nur von kurzer Dauer war und es der Kunstform Theater darum geht, seinen Aufführungen und seinem Raum des Theaters eine Dauer zu verleihen. Damit ist ein dem Schnitt selbst übergeordneter erster Aspekt vorgestellt, der eine Funktion des Theaterbaus beschreibt. Als Bauwerk und mit ihm seine Institution und tradierte Konventionen stellt der Theaterbau eine Ordnung zur Verfügung, die eigens zu dem Zweck geschaffen wurde, dass darin Theater stattfindet. Das allein ist aber nicht ausreichend, damit im Theaterbau dauerhaft ein Raum des Theaters etabliert werden kann, in dem für eine festgelegte Dauer Theatersituationen geschaffen werden. Die Dauer von Theatersituationen wird auch darüber ermöglicht, dass die eben beschriebenen, recht vielfältigen Eigenschaften des Schnitts durch den Raum des Theaters, mit theaterbaulichen Mitteln in Teilen umgesetzt werden. Das heißt, sie werden dem wahrnehmenden Subjekt quasi aus der Hand genommen und durch materielle Mittel stellvertretend in den Raum implementiert. Dass dies nicht ohne Verluste, Eingriffe und Ausrichtungen des Schnitts vollzogen werden kann, muss wohl kaum erwähnt werden. Als ein großes Ziel des Theaterbaus, kann die Anstrengung seiner Erbauer beschrieben werden, den potentiellen Zuschauer in eine handlungsentlastete Situation zu versetzten. Der Theaterbau implementiert dies auf vielfältige Weise. Eine der grundlegenden Voraussetzungen für eine Handlungsentlastung ist die Trennung von Außen und Innen. Durch den Ausschluss des normalen Lebensraums und der dort herrschenden Bedingungen, seien es die Lichtverhältnisse, Lärm oder Regen, wird ein Ort geschaffen, in dem kalkulierbare und gestaltbare Bedingungen herrschen. Das Publikum befindet sich innerhalb des Baus in einem geschützten Raum, indem es ganz auf die Situation Theater fokussiert werden kann. Ebenso einen Anteil an der Handlungsentlastung hat die interne Trennung zwischen Publikumssaal und Bühne. Durch die klare Zuordnung dieser zwei Bereiche sind die Ansprüche an die jeweils anwesenden Personen klar definiert. Der Gast im Publikumsraum ist gekommen, um handlungsentlasteter Zuschauer zu sein. Der Ort an dem er sich während einer Aufführung aufhält, ist in all seinen Details danach ausgerichtet. Die Sessel und ihre Anordnung geben zweifelsfrei zu verstehen, wo er sich, wie ausgerichtet aufzuhalten hat. Im konkreten Zeitraum der Aufführung wird die Handlungsentlastung durch Faktoren wie die Verdunklung
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des Publikumsraums, aber auch kulturelle Vereinbarungen intensiviert. Ein Zuschauer nimmt seine Rolle aber auch auf Grund sozialer Konventionen, seiner erlernten Kompetenzen und seiner disziplinierten Haltung ein. Er hat gelernt, sich still zu verhalten und weiß, dass er dennoch lachen und sich freuen oder klatschen darf. Dem stellen sich die Akteure auf der Bühne gegenüber, nämlich als Handelnde. Auch hier werden durch bauliche und technische Vorgaben zweifelsfrei die Ansprüche und Erwartungen vorgegeben. Der Bühnenraum mit seiner Rampe, die gesamte technische Apparatur von Scheinwerfern, über Hubpodien und Seilzügen sowie sein neutral gehaltenes Schwarz ist der Raum der Akteure. Eine körperliche Überschreitung der Grenzlinie zwischen Publikumsraum und Zuschauerraum ist im tradierten Verständnis von Theater seit dem 18. Jahrhundert nicht vorgesehen. Die Handlungsentlastung basiert so auf zwei Ansätzen: Die physische Trennung zwischen zwei geometrisch ausgerichteten Räumen und die kulturelle Vereinbarungen, die sich auch an Hand der Ein- und Ausrichtung der jeweiligen Räume ablesen lässt. Wie sich gleich zeigen wird, kann diese Handlungsentlastung aber auch in Teilen aufgelöst werden. Dennoch gänzlich aufgelöst werden kann sie nicht, denn dann würde sich für die jeweils betroffene Person auch der Raum des Theaters auflösen. Als eine weitere Charakteristik des Schnitts durch den Raum leiblicher Anwesenheit wurde in Anlehnung an den Wahrnehmungsraum die Isolierung der Wirklichkeit von der Realität angesprochen. Als wesentliche Voraussetzung dafür kann die Handlungsentlastung angeführt werden und darin die physisch räumliche Trennung zwischen Publikumsraum und Bühne. Durch eine Trennung von handlungsentlastetem Gast und handelnden Akteuren, wird die Grundlage geschaffen, dass von der Bühne ausgehend eine Wirklichkeit aktiv hergestellt werden kann. Das Geschehen auf der Bühne ist ein inszeniertes und damit eines, dessen Wirklichkeit und Realität nicht zwingend zusammenfallen. Beides zusammen, physische Trennung und Inszenierung, ermöglichen es, den Akteur – egal in welcher Form er in Erscheinung tritt, als Hamlet oder vermeintlich als er selber – als von seiner Realität isolierte Wirklichkeit zu erfahren. Die Inszenierung bringt so einen Akteur in die Position, Handelnder zu sein, der auf spezifische Weise von einem Publikum wahrgenommen wird. Verstärkt wird dieser Zustand dadurch, dass auf Grund der Trennung und Distanzierung, der Wahrnehmungsraum maßgeblich über Sehen und Hören aufgespannt wird. Sehend
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und hörend ist der Zuschauer und Zuhörer im Bühnenraum anwesend. Mit den Mitteln des Lichts und des Klangs erstreckt sich gleichfalls der Bühnenraum über den gesamten Raum des Theaters. Das was so spürbar, sichtbar und hörbar ist, ist wirklich. Dennoch gehört zum Theater immer auch der Aspekt, dass sein Reiz und seine Spezifik darin zu finden ist, dass beständig mit Realität gerechnet werden muss (vgl. Böhme 2001a: 165). Darauf basieren die Reformansätze der klassischen Avantgarde, aber auch die Ansätze, die das postdramatische Theater verfolgt. Erika Fischer-Lichte spricht von der Materialität des Theaters (vgl. Fischer-Lichte 2001: 9 und 139ff), bei der Illusion nicht mehr im Vordergrund inszenatorischer Arbeit steht, sondern die tatsächlich vorherrschenden räumlichen, zeitlichen und auch körperlichen Bedingungen. Auch Gerhard Graubner beschreibt in seinen Reflektionen zur Konzeption guter Theaterbauten, dass das Rechnen mit Realität als unbestimmte Kraft vom Architekten mit konzipiert werden müsse (vgl. Graubner 1968). Graubner zitiert hierzu Ernst Schröder, der vom Architekten für den Schauspieler eine Position fordert, „die ihn fragwürdig macht, angreifbar macht für den Zuschauer, die ihm aber seinerseits auch die Macht gibt, das Publikum anzugreifen“ (ebd.: 12). Von einem „widersprüchlichen Element von Polarität und Kommunikation, Angreifen und Angegriffenwerden, Teilnahme und Gegenwehr, Objektivierung und Subjektivierung“ (ebd.) als das Wesentliche des Theaters, spricht Graubner. Die für die Straßenszene hervorgehobene Instabilität der Situation wird vom Theaterbauer Graubner als zentraler Aspekt für Theater herausgestellt. Das Rechnen mit Realität integriert er so auch in seine theaterbauliche Konzeption. Er konzipiert eine variable Vorbühne als offenen Grenzbereich zwischen Zuschauerraum und Bühne. Eine „Überschreitung dieser Rampe und das Vordringen des Spiels in den Zuschauerraum“ (ebd.) soll damit ermöglicht werden. Doch ist dieser Bereich ausschließlich für die Darsteller, nicht aber für die Zuschauer gedacht. Damit wird eines deutlich, der Aspekt einer von einer Realität isolierten Wirklichkeit prägt den Schnitt durch den Raum des Theaters auf widersprüchliche Weise. Die Idealvorstellung einer isolierten Wirklichkeit kann nur existieren, wenn auch mit ihrem Verlust gerechnet werden muss. Graubners Lösung zur Herstellung dieser Qualität in seinem Theaterbau ist, den Bereich zwischen Publikumsraum und Bühne offener zu gestalten. Ein bisschen Straßenszene wird in den Bau hinein geholt.
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Doch bleibt für ihn dabei immer deutlich: „Der Theaterbau ist gebunden an eine Freiheit in Grenzen. Die Grenzen aber werden ihm vom Theater selbst gezogen“ (ebd.). Und Theater in seinem Verständnis ist die klare Trennung zwischen nicht Handeln und Handeln, zwischen Wirklichkeit und Realität, zwischen Innen und Außen und zwischen Publikumsraum und Bühne, gewürzt mit einer Prise beherrschbarer Unbestimmtheit. Als letzte Charakteristik des Schnitts durch den Raum leiblicher Anwesenheit wurde die im Stimmungsraum vollzogene Ausdifferenzierung zwischen einem Ich-Pol und einem Gegenstands-Pol vorgestellt. Erzeugt werden kann sie über ein Aufeinandertreffen zweier Stimmungsräume. Auch hier spielen Handlungsentlastung und die Polarität von Publikumsraum und Bühne eine zentrale Rolle. Auf der Bühne und von der Bühne ausgehend werden immer neue Stimmungsräume erzeugt. Die Mittel dazu sind vollständig in der Hand der Akteure, Techniker oder des Regisseurs. Die ästhetischen Arbeiter, diejenigen, die der Bühne zugeordnet werden müssen, sind für die Erzeugung der je neuen Stimmungsräume zuständig. Der auf seinen Sitz im Dunkel des Saals positionierte Zuschauer hingegen ist Empfänger dieser immer neuen Stimmungen. Im tradierten dramenorientierten Theater steht die Einstimmung des Zuschauers im Vordergrund, auf deren Basis die Aufführung mit immer neuen und sich wandelnden Stimmungsräumen voranschreitet. Auf der Bühne agieren Akteure, die ihre Profession vollständig dafür einsetzen, dass sich die Wirklichkeit von der Realität ablöst und die Zuschauer so in eine erzeugte Illusion oder auch Szene eindringen können. Stimmungsräume werden so inszeniert, dass sie mit den Inhalten korrespondieren. Dabei darf es durchaus zu Stimmungsbrüchen kommen. Doch sind sie meistens Teil der Szene und der darin erzeugten Wirklichkeit. Hier ist die Nahtstelle zur Zeichen-Wahrnehmung, wenn Stimmungen und Brüche dem Drama und seinem inhaltlichen Verlauf zugeordnet werden können. Gemeint sind dramaturgische Schnitte, die als Schicksalsschläge einer Figur ihren tragischen Fall einleiten, extreme Gefühlsausbrüche oder durch Licht und Klang erzeugte Stimmungswandel. Das Spektrum ist groß, auf das das tradierte Theater zurückgreift. Anders verhält es sich mit postdramatischen oder auf Präsenz aufbauenden Theateraufführungen. Denn sie brechen und destabilisieren diesen auf Korrespondenz aufbauenden Schnitt an sich.
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Ihr Umgang mit dem Schnitt ist nicht vordergründig als Mittel zur Schaffung von korrespondierenden Szenen, sondern als Mittel, den Schnitt als solchen herauszustellen, mit ihm einen Umgang zu suchen und ihn zu thematisieren. Hans-Thies Lehmann beschreibt dies als Verlagerung von einer innerszenischen Spannung, wie sie im dramatischen Theater gängig ist, hin zu einer Spannung zwischen Szene und Publikum (vgl. Lehmann 1999: 22 oder Abschnitt 2.4, 60). Die Ingressions-, vor allem aber die Diskrepanzerfahrung werden regelrecht als effektorientierte Mittel entdeckt und eingesetzt. Dies ist beständiger Teil einer Aufführung und wird im postdramatischen Theater zum Stilmittel erhoben. Ein wesentliches Prinzip gegenwärtiger Theaterpraxis ist es, durch ein Erzeugen immer neuer Stimmungsräume Ingressions- und auch Diskrepanzerfahrungen kontinuierlich zu aktualisieren. Als Beispiel kann William Forsythes Tanzstück Kammer/Kammer aus dem Jahre 2000 angeführt werden. Im Zuschauersaal waren sechs Plasmabildschirme so aufgehängt, dass alle Zuschauer einen guten Blick darauf hatten. Auf der Bühne waren verschiebbare Wände als Bühnenelemente aufgestellt. Inhaltlich spielte das Stück mit der TelePräsenz des Livegeschehens. Die Tänzer auf der Bühne wurden immer wieder von den Stellwänden verdeckt. Sie und ihre Aktionen waren dann nur über die Monitore und ihre spürbare Anwesenheit präsent. Ein Spiel aus kontinuierlichen Wechseln zwischen diesen zwei Darstellungsräumen vollzog sich den gesamten Abend über. Parallel dazu veränderte sich die räumliche Aufteilung auf der Bühne durch ein fortwährendes Verschieben der Wände. Erreicht wurde damit, dass sich beständig neue Räume auftaten. Mitunter war es nicht eindeutig, ob die Videobilder live oder vorproduziert waren. So wurden die Zuschauer auf den Schnitt und den Raum des Theaters auf zweifache Weise aufmerksam gemacht: durch die Erzeugung von Ingressions- und Diskrepanzerfahrung über die Veränderung des sichtbaren und nicht sichtbaren Bühnenraums der Tänzer, aber auch durch den Wechsel von Live-Präsenz und Tele-Präsenz. Durch das Spiel mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Livegeschehens wurde die seltene Anwesenheit der Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne auf besondere Weise hervorgehoben. Denn ihre sichtbare leibliche Präsenz auf der Bühne setzte sich insbesondere von der rein medialen Sichtbarkeit stark ab und erzeugte so immer neue Stimmungsräume. Das heißt, der Schnitt wird in Teilen aufgelöst, seine Instabilität wird zum inszenatorischen Mittel erhoben. Doch
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findet diese Destabilisierung nicht auf absolute Weise statt, ein Teil oder Teile des Schnitts bleiben immer bestehen. Dieses Spiel mit Instabilität ist immer auch ein Spiel zwischen Wirklichkeit und Realität. Realität als eine, mit der zu rechnen ist, wird zum Element der Störung, des Wandels und des Changierens zwischen Wirklichkeit und Realität. Ganz gleich ob wir es mit dem Bestreben einzustimmen oder zu stören zu tun haben, die Zielsetzung, wie sie von der theaterbaulichen Ordnung Graubners vorgegeben wird, ist die selbe: Der Impuls geht immer von der Bühne und den Akteuren aus. Diese Einführung des Schnitts durch den Raum des Theaters eines Theaterbaus ermöglicht es, wesentliche Eigenschaften abzuleiten. Das Herz des Raums des Theaters eines Theaterbaus sind die zwei voneinander getrennten Räume, Publikumsraum und Bühnenraum. Der Schnitt ist beiden Räumen gleichermaßen zugehörig. Er ist Teil des Publikumsraums und Teil der Bühne, er ist als Dazwischen autonom, noch wichtiger aber ist, dass er Publikumsraum und Bühne vollständig einschließt. Der Schnitt ist das, was Publikumsraum und Bühne zu einem gemeinsamen Raum des Theaters werden lässt, ohne dabei die Differenz dieser zwei Teilräume in Frage zu stellen. In Lehmanns Worten haben wir es mit einem geteilten Raum zu tun: einem Raum, den man sich gemeinsam teilt und der geteilt ist (vgl. Lehmann 2001: 221). Der Schnitt grenzt also nicht an den Bühnenraum oder den Publikumsraum an, sondern ist – weil er keine räumliche Tiefe oder Distanz zum jeweils Anderen erzeugt – vollständig in den Raum des Theaters eingelassen. Er steht gleichermaßen dafür, dass Ferne überwunden wird, dass also selbst physisch Fernes noch immer nah wirkt, wie auch – in Anlehnung an Benjamins Aura Begriff – eine Ferne, so nah sie auch sein mag, sich einstellt. Der Schnitt schneidet somit nicht im Sinne einer Abtrennung, sondern in Sinne einer Ausdifferenzierung von Wahrnehmung, die zwei Räume erfahrbar werden lässt, die ineinander wirken. Deshalb auch gilt als wesentliche Charakteristik des Schnitts eines Theaterbaus, dass er, obwohl er eine Differenz schafft, niemals eine absolute Trennung zwischen der Bühne und dem Publikumsraum erzeugt. Vielmehr fungiert er als durchlässige Markierung, die unterschiedlichen Zwecken dient. Erstens, dass sich die Szene als solche überhaupt konstituieren kann. Zweitens, dass die Zuschauer
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sich in ihrem Raum dieses Schnitts, wie auch immer er implementiert wird, quasi sicher sein können. Nur quasi sicher, weil letztlich die Auflösung des Schnitts als weiteres konstitutives Merkmal anzusehen ist. Denn erst mit der Möglichkeit, dass der Schnitt auch tatsächlich aufgelöst werden kann, ist garantiert, dass es sich um eine Theatersituation handelt. Das impliziert zwei weitere Aspekte, es muss nämlich drittens garantiert sein, dass eine Unmittelbarkeit zwischen der Bühne und dem Publikumsraum gegeben ist und viertens diese quasi Sicherheit immer auch in Frage steht. Der Schnitt durch den Raum des Theaters eines Theaterbaus kann nicht nur als konstitutiver Bestandteil, sondern gleichzeitig als zentrales Problem des Theaterbaus ausgemacht werden. Er markiert die Nahtstelle des für das Theater schon immer virulenten Changierens zwischen zwei Polen, einer dualen Polarität: einer durch unterschiedlichste Mittel erzeugten Differenz zwischen dem Aufführungsraum und dem Publikumsraum sowie einer vielfältig und vielschichtig veranlagten Überwindung und Auflösung dieser. Einerseits wird eine klare Grenzlinie zwischen Publikumsraum und Aufführungsraum gezogen. Am Beispiel eines auf die Bühne eindringenden Zuschauers wird das am deutlichsten, denn diese Handlung transformiert ihn zu einem Darsteller. Indem er seinen Raum verlässt und in den anderen eintritt, löst sich für ihn der Schnitt auf. Davon aber sind die anderen Gäste im Theater nicht betroffen. Es gibt also diese klare Abgrenzung. Gleichzeitig ist aber die Schnittstelle zwischen Publikumsraum und Aufführungsraum vollkommen durchlässig. Der Zuschauer kann eben aus seinem Raum in den anderen eindringen, ebenso kann der Darsteller auch aus seinem heraus in den Publikumsraum eindringen. Genau diese duale Polarität des Schnitts ist theaterspezifisch. Im Raum des Kinos beispielsweise ist der Filmraum von seinen Zuschauern absolut abgeschnitten. Der Schnitt durch den Raum des Theaters stellt sich so als in sich diskrepant dar. Geht es doch immer um die klassisch mit dem Terminus Schnitt verbundene Zertrennung und gleichzeitig um das Verbinden, das auch in Begriffen wie Filmschnitt (Montage) oder Schnittstelle (Interface) auftaucht. Im Unterschied zu diesen technischen und auf Gegenstände und Material übertragenen Schnittvergleichen, ist der Schnitt im Raum des Theaters aber nicht in erster Linie relational zwischen zwei Räumen für die Verbindung dieser zuständig, sondern er ist selbst das Zwischen (vgl. hierzu Böhme
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2001a: 54). Deshalb auch lässt sich der Schnitt mit dem Fokus auf den Theaterbau zunächst am besten beschreiben, wenn man von dem Dazwischen als einem relational zwischen zwei Räumen Befindlichen ausgeht. Letztlich materialisiert der Theaterbau selbst die Relation als solche, ohne dass diese Materialisierung für den Schnitt selbst notwendig wäre, was ja die Straßenszene aufgezeigt hat. Und weil der Theaterbau die Relation materialisiert, kommt es auch zu einer Vereinseitigung dieser. Die Bühne wird zum Objekt, von dem aus sämtliches Geschehen gesteuert wird. Gleichzeitig wird der Zuschauer zum Subjekt, das ganz auf diesen anderen Raum der Bühne ausgerichtet wird. Diese letzte Aussage leitet über zu einer abschließenden kritischen Betrachtung des Theaterbaus und seines Schnitts durch den Raum des Theaters. Wie schon weiter oben angedeutet, verändert die Implementierung des Schnitts durch den Raum leiblicher Anwesenheit in den Theaterbau den in der Wahrnehmung angelegten Schnitt durch den Raum. Geht man von den zwei Aussagen aus, dass die atmosphärische Wahrnehmung sowie die Zeichen-Wahrnehmung beide Teil unserer Wahrnehmung sind (vgl. Abschnitt 2.1: 39) und dass sich der geometrische sowie der Raum leiblicher Anwesenheit gleichberechtigt überlagern (vgl. Abschnitt 4.2), fällt für die Betrachtung des Theaterbaus auf, dass hier bezüglich der Implementierung des Schnitts durch den Raum des Theaters materielle sowie bauliche Tatsachen geschaffen werden, die ihn deutlich ausrichten. Diese Ausrichtung wirkt sich auf die drei Räume leiblicher Anwesenheit unterschiedlich aus. Handlungsraum und Stimmungsraum werden deutlich vom Aspekt der Inszenierung bestimmt. Die materielle Ordnung des Theaterbaus greift stark in beide Räume ein, indem die anwesenden Gäste auf spezifische Weise ausgerichtet und eingegrenzt werden. Anders wirkt sich diese materielle Ordnung auf den Wahrnehmungsraum aus. Denn dieser spannt sich zwischen dem Subjekt und dem atmosphärischen Raum auf, ganz gleich, ob das Subjekt sich in einem Theaterbau befindet oder in einer Fußgängerzone. Im Wahrnehmen bin ich bei den Dingen, wie sie durch meine Gegenwart bei mir sind. Ob diese erfahrende Wirklichkeit einer Inszenierung entspringt, durch Wände, Bühnenaufbauten oder anderes hervorgerufen werden, spielt für den Wahrnehmungsraum keine Rolle.
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Der Theaterbau mit seiner Materialität und der damit auch verbundenen Distanzierung und Trennung situiert seine Gäste deutlich in ein geometrisch geprägtes Raumgefüge. Das was an Ausdifferenzierung zwischen Ich-Pol und Gegenstands-Pol im Raum leiblicher Anwesenheit zur Konstitution eines Schnitts beiträgt, ist durch eine geometrisch räumliche Ordnung von vornherein festgelegt. Ich als Gast im Theaterbau und im Raum des Theaters werde von Anfang an in meine Funktion, Zuschauer zu sein, eingeführt. Auf Grund dieser Zuweisung erfahre ich das Geschehen auf der Bühne sehr bewusst und mich selbst als von der Bühne abgetrenntes Subjekt. Auch wenn eine Aufführung Stimmungsräume schafft, wenn sie Wirklichkeiten erzeugt, die von der Realität isoliert sind, wenn alle Bedingungen erfüllt sind, die Böhme am Theater als paradigmatisch für seine Ästhetik beschreibt (vgl. Böhme 2001a: 118), die geometrisch räumliche Ausrichtung, hemmt eine quasi naive atmosphärische Wahrnehmung. So wird auch nachvollziehbar, warum die klassische Avantgarde, warum das postdramatische Theater, mit dem Prinzip der Störung eine Destabilisierung dieses Gefüges herbeiführen. Denn die Störung ist es, die mich als Zuschauer aus meiner distanzierten zeichenorientierten Subjekt-Haltung herausreißt und meine leibliche Anwesenheit im Raum des Theaters offenlegt. Der tradierte Theaterbau schafft eine räumliche Disposition, in der die leibliche Anwesenheit stark kanalisiert wird. Der leiblich im Raum des Theaterbaus anwesende Gast, dessen Handlungsraum auf einen Sessel maximal entlastet und dessen Wahrnehmen auf Sehen und Hören konzentriert wird, wird in eine Zeichen-Wahrnehmung hineingedrängt. Der Theaterbau grenzt den Raum leiblicher Anwesenheit ein und hemmt ihn. Der Schnitt durch den Raum des Theaters eines Theaterbaus baut auf Trennung und Distanzierung auf und vereinseitigt so, dass für leibliche Anwesenheit vorherrschende Zwischen von Ich-Pol und Gegenstands-Pol.
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Die Veränderungen, die sich mit der bis hier geführten Auseinandersetzung mit dem Schnitt durch den Raum des Theaters für eine
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Betrachtung von Theater ergeben, wirken sich weniger auf die Ebene der Aufführung aus, sondern stärker auf die der Zuschauer. Mit der Voraussetzung, dass ästhetische Wahrnehmung nicht mehr allein auf Kunstwerke ausgerichtet ist, sondern im normalen Lebensraum vorkommt, tritt die Handlung als Spezifikum der Kunstform Theater zurück, dafür geraten die Wahrnehmungsbedingungen stärker ins Blickfeld. Daher die Frage: Kann man überhaupt noch guten Gewissens in Bezug auf die vorgestellten Wahrnehmungsbedingungen vom Zuschauer sprechen oder ist der Begriff nicht zu eng gefasst Reicht es aus, diejenige Person, die auf offener Straße Fahrradfahrern begegnet, sich in einen Theaterbau hineinbegibt oder im Raum des Theaters leiblich anwesend ist, als Zuschauer zu beschreiben? Zwar wurde immer wieder betont, dass ich als leiblich Anwesender auch sehend und hörend bei den Dingen sein kann, dennoch geht Wahrnehmung im Theater, insbesondere atmosphärische Wahrnehmung, auf ein Spüren zurück, das sich jenseits von Sehen und Hören befindet. Der Begriff vom Zuschauer suggeriert, dass es um ein Lesen und ein zeichenorientiertes Rezipieren geht, bei dem von einem distanzierten und trennenden Überblick ausgegangen wird. Als leiblich im Raum Anwesender bin ich aber direkt involviert, affektiv betroffen und eben nicht nur aus der Ferne Blickender, Zu-Schauender. Ich bin Teil des Raums und in ihm handelnd, wahrnehmend und atmosphärisch spürend anwesend. Mit dem anfangs beschrittenen Weg in den Raum des Theaters wurde der Grundstein für diese Ausrichtung gelegt, um nicht allein aus der Distanz auf Theater und das Verhältnis zwischen Zuschauer und Akteur zu blicken. Gerade dann, wenn man postdramatisches Theater in Betracht zieht, wenn dieses dann noch den Theaterbau verlässt, wenn der Raum des Theaters sich über den Raum leiblicher Anwesenheit herleitet, rückt der Begriff vom Zuschauer deutlich in die Ferne. Wenn also nicht mehr vom Zuschauer die Rede sein soll, was bietet sich als terminologische Alternative an? Schon in den vorangegangenen Abschnitten kam alternativ der Begriff des Gastes zum Einsatz. Gast, bzw. Theatergast bietet sich deshalb an, weil auch er, wie alle bisherigen Aspekte zum Schnitt, von einer Differenz betroffen ist. Anders als für einen Zuschauer oder Rezipienten verbindet sich mit Gast eine aktive Rolle im Kontext des eigenen Handelns. Ein Gast bewegt sich selbstverantwortlich durch die Räume, in de-
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nen er anwesend ist, hat mit anderen Personen zu tun und tritt mit ihnen in Kontakt. Dennoch gibt es für einen Gast Grenzen, die er in der Regel auch kennt. Der Begriff des Gasts stärkt die Verantwortung und Handlungsfähigkeit des Besuchers einer Theateraufführung. Ein Gast weiß, welche Bereiche er betreten darf, welche nicht und welche Freiheiten er tatsächlich hat. Als Theatergast wird man willkommen geheißen, bleibt aber doch auch immer Fremder. Man ist fremd in Bezug auf den Raum, in dem man leiblich anwesend ist, fremd im Sinne eines Schnitts, einer Ausdifferenzierung. Damit passen die Begriffe Schnitt und Gast kohärent zusammen, wie im Folgenden erläutert werden soll. Eine grundlegende Eigenschaft eines Gastes ist, dass er generell an einem ihm fremden Ort anwesend ist. Oftmals sind diese Orte dadurch bestimmt, dass sie als öffentliche Räume grundsätzlich Fremden Einlass gewähren. Die Institution Schauspielhaus übernimmt genau diese Funktion. Sie schlüpft in die Rolle eines Gastgebers und ist dafür im Rahmen gewisser Grenzen für einen Theatergast offen. Sie vertraut ihm, dass er sich in ihren Räumen so verhält, wie es sich gebührt. Dennoch übt sie im Rahmen festgelegter Konventionen eine regelnde Autorität aus. Ein Gastgeber ist so auch verantwortlich für den Bereich, in dem ein Gast anwesend ist, die darin sich ereignenden Handlungen und den Gast selbst. Es ist diese weiter oben benannte Fremdheit zwischen Theatergast und der Aufführung, zwischen Publikumsraum und Szene, die eine neue Perspektive auf den Schnitt durch den Raum des Theaters ermöglicht. Denn ein Theatergast muss sich in einem fremden Gefüge orientieren, in dem er sich in einem gewissen, aber essentiellen Teil nicht auskennt. Auch wenn er vieles über Theater und den Raum des Theaters weiß, in den Aufführungsraum wird ihm kein Zugang gewährt. Wieder taucht hier die oben beschriebene duale Polarität auf. Man ist im Raum des Theaters leiblich anwesend und dennoch erhält man nur selektiven Einlass in einen Teil dieses Raums. Mit dem Gaststatus wird im Allgemeinen auch Geborgenheit und Sicherheit verbunden. Doch diese Sicherheit kann doppelbödig sein, wenn die Vorstellungen von Gastgeber und Gast über das Wohl des Gastes nicht übereinstimmen. Für den Theatergast kann das heißen, dass er von einer Aufführung angewidert ist oder dass eine Aufführung immer wieder seine Position destabilisiert. Dieses
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Verhältnis spiegelt sich in dem zu Gastgeber alternativ gebrauchten Begriff Gast-Wirt wider. Ein Wirt, auch verstanden als ein Lebewesen, das andere, aber auch sich selbst mit Nährstoffen versorgt, verhält sich nicht immer gastfreundlich. Verhält sich ein Gast parasitär oder wird er vom Gastwirt als Parasit aufgefasst, ist das Verhältnis zwischen beiden gestört. Deutlich wird: Das Verhältnis zwischen Gast und Gastgeber ist somit immer ein gegenseitiges. Die Parameter, die dieses Verhältnis gelungen oder misslungen, freundlich oder feindlich sein lassen, sind vielfältig und nicht immer auszumachen. Bei Theatersituationen und für das darin so diffizile Verhältnis von Publikum zu Aufführung, einzelnen Schauspielern oder Handlungen, Klang etc. kommt es zu einem ebensolchen Spannungsfeld. Jene Theaterformen, wie das postdramatische Theater, die sich auf Präsenz konzentrieren und mit einer Destabilisierung des Schnitts durch den Raum des Theaters spielen, begeben sich in dieses Spannungsfeld. Für den Theatergast solcher Aufführungen gibt es keine absolute Sicherheit, ob sein Gaststatus nicht vielleicht in Frage gestellt wird. Ein Theaterbesuch setzt somit schon weit vor dem eigentlichen Dasein im Theater ein. Mit der Entscheidung, ins Theater gehen zu wollen, entscheidet man sich dazu, sich in die Hand eines Gastgebers zu begeben, dessen Absichten, Haltungen und Handlungen man nicht wirklich kennt. Man kann nicht davon ausgehen, dass der Status des Theatergasts auch tatsächlich gewährleistet wird. Die Frage ist, wo die Grenzen liegen, wann letztlich der Gaststatus überstrapaziert wird und der Schnitt sich vollständig und dauerhaft auflöst. Als anschauliches Beispiel eignet sich der Der Fall Stadelmaier. Es handelt sich hier um einen vieldiskutierten Theaterskandal des Jahres 2006. Während der Premiere von Eugene Ionescos Stück Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes ließ der Schauspieler Thomas Lawinky […] dem Kritiker der Frankfurter Allgemeinen, Gerhard Stadelmaier […], eine Schwanenpuppe in den Schoß legen, entriss ihm den Schreibblock mit den Worten »Mal sehen, was der Kerl geschrieben hat«, gab ihm den Block zurück und rief dem flüchtenden Kritiker »Hau ab, du Arsch! Beifall für den Kritiker« hinterher. (Kümmel 2006)
Diese Begebenheit wurde in allen großen deutschen Zeitungen mit dem Hauptaugenmerk auf die Frage nach der Freiheit des Journalis-
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mus diskutiert, die sich von der Freiheit des Künstlers in Bedrängnis gebracht sah. Erstaunlicherweise wurde aber nicht die Frage nach der Rolle des Theaters und der Differenz zwischen Aufführungsraum und Publikumsraum, zwischen Darsteller und Theatergast, zwischen Wirklichkeit und Realität besprochen. Auch wurde nicht die Frage nach dem Stellenwert der Handlungsentlastung für Theater diskutiert. Die Besonderheit dieses Ereignisses liegt darin, dass wir es hier nicht mit einem temporären Bruch des Schnitts durch den Raum des Theaters oder einer Auflösung von Teilaspekten dessen zu tun haben. Wir haben es mit einer den Theatergaststatus vollständig auflösenden Handlung zu tun. Das Ereignis drängt Stadelmaier als Theatergast in eine Situation, die für ihn zu einer Bedrohung wird. Abgesehen von der für jeden einzelnen damit verbundenen Befindlichkeit, geschieht hier etwas, das gegen jede Theaterkonvention verstößt. Was bisher immer wieder als für den Raum des Theaters charakteristisch vorgestellt wurde, bricht auseinander. Stadelmaier verliert jegliche Anbindung an die Welt und sein Dasein, sein Hiersein verdichtet sich vollständig auf sein leibliches Hiersein (vgl. Böhme 2001a: 79). Der Schnitt als Teil einer ästhetischen Erfahrung, die ja auf eine Polarität von Ich-Pol und Gegenstands-Pol aufbaut, wird aufgelöst. Nicht mehr mit Realität muss gerechnet werden, sondern Stadelmaier ist mit ihr direkt und für ihn bedrohlich konfrontiert. Hier vollzieht sich, ausgelöst durch den Darsteller, ein Bruch mit der spezifischen Wahrnehmung, die der Theaterbau auf Grund seiner Anlage vorgibt und die auch für den Raum des Theaters entscheidend ist. Denn es bricht das Gefüge auf, das für den Raum des Theaters fundamental ist. Stadelmaier wird aus jeglicher ästhetischer Wahrnehmung herausgerissen. Dabei ist der Bruch an sich durchaus schon vorher dagewesen, oft genug wurden gerade als Teil postdramatischen Theaters solche Brüche und Destabilisierungen als ein Einbrechen der Realität in die Wirklichkeit vorgestellt. Prominent hierfür ist Peter Handkes Stück Publikumsbeschimpfungen (Handke 2008), das im Jahre 1966 seine Uraufführung hatte. Hier wurde der Schnitt durch den Raum in der Weise in Frage gestellt, dass die damals üblichen Theaterkonventionen in Bezug auf die Inhalte und die Haltung der Akteure gegenüber dem Publikum nicht gewahrt wurden. Die Bedrohlichkeit, mit der Handke und seine Darsteller an das Publikum herantraten, war diskursiv: Die Diskussion mit dem Publikum entsprach mehr einer Podiumsdiskussion
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und nicht einem Theaterstück. Zum Schluss wurde das Publikum mit provokativen Vorwürfen beschimpft, wobei dabei die körperliche Trennung zwischen Publikum und Akteuren niemals in Frage stand. Dennoch ist dieses Stück von vielen zur damaligen Zeit als hochgradig bedrohlich erfahren worden. Heute würde dieses Stück längst nicht mehr eine solche Bedrohlichkeit erzeugen, da die Zuschauer mittlerweile Inszenierungen solcher Art als Inszenierungen erkennen und eine entsprechende Haltung dazu einnehmen. Dieser letzte Rest an Schnitt, den Publikumsbeschimpfung seinen Gästen bietet, macht den Unterschied zum Fall Stadelmaier. Denn der Gesamtumfang des Bruchs und seine Absolutheit lösen für Stadelmaier den Schnitt auf all seinen Ebenen auf. Am Fall Stadelmaier zeigt sich, dass im Theater nicht nur mit Realität gerechnet werden muss, vielmehr liegt die Besonderheit des Raums des Theaters eben darin, dass er sämtlicher Konstituenten beraubt werden kann. Keine materielle Ordnung, auch nicht die des tradierten Theaterbaus, kann dies verhindern. Der Fall Stadelmaier in Kontext zu Publikumsbeschimpfung zeigt aber auch, dass der Schnitt sein Dasein nicht allein räumlichen Gegebenheiten – seien sie nun geometrisch oder atmosphärisch – verdankt. Der Schnitt durch den Raum wird immer auch innerhalb einer spezifischen Gast-Gastgeber Situation, erzeugt, die von sozio-gesellschaftlichen Faktoren bestimmt wird. Was sind die existierenden Konventionen, was die Erwartungshaltung und was die Erfahrungen, die das Verhältnis zwischen Gast und Gastgeber prägen (vgl. Abschnitt 5)? Für den Film oder ein Buch lässt sich die Situation sehr viel einfacher und auch eindeutiger beschreiben. Damit lässt sich über ein Ausschlussverfahren eine Spezifik des Theatergastes ausmachen. Denn zu Gast sein, wird zu einem Begriff, der nicht auf Zuschauer, Rezipienten oder Betrachter anderer Medien angewendet werden kann. Ich kann zu Gast sein in einem Kino, kann ich aber auch zu Gast sein in einem Film? Für eine Antwort muss die Konstitution des Raums des Filmes kurz erläutert werden. Denn anders als der Raum des Theaters ist hier ja der Zuschauersaal vom Filmraum auf absolute Weise abgetrennt. Zwar kann ich phänomenologisch das im Film Sichtbare räumlich erfahren, wie Vivian Sobchack in ihrem Text The Scene of der Screen (Sobchack 1995) aufzeigt, dennoch ist dieser Raum nicht real, sondern in seiner Erscheinung ausschließlich als Wirklichkeit vorhanden. Es ist das Besondere des Films, aber auch virtueller Computerwelten, dass Wirklichkeit und Realität
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zusammen fallen (vgl. Böhme 2001a: 161). Für meinen Status als Gast bedeutet dies die Beschränkung auf den Kinosaal und eine illusionäre Wirklichkeitserfahrung in einem hochgradig heterogenen Filmraum, mit Realität dagegen muss nicht gerechnet werden. Der hier vorgestellte Begriff vom Theatergast dagegen basiert auf genau dieser Labilität des Schnitts durch den Raum des Theaters, die dann doch erstaunlich stabil ist.
5. Die Erzeugung des Schnitts. Inszenierung und kulturelle Prägung
Dem Raum des Theaters – das haben die letzten Abschnitte gezeigt – kommt eine übergeordnete Funktion in der Diskussion über Theater zu, nämlich die Klärung der Grenzen zwischen der Kunstform Theater, einer erweiterten Auffassung von Theater und der Alltagswelt. Der tradierte Theaterbau erleichtert diese Betrachtung durch seine bauliche Form und interne Anordnung. Er zieht für einen Gast im Raum des Theaters in aller Klarheit Grenzen durch architektonisches Aus- oder räumliches Abgrenzen. Ein erweiterter Blick auf Theater, der auch Situationen in der Alltagswelt berücksichtigt, hat es weitaus schwerer. Hier sind die Grenzen fließend und nicht immer eindeutig markiert. Zudem unterliegen sie einer dauerhaft sich aktualisierenden Überprüfung. Was jetzt noch als Theater erfahren wird, kann sich im nächsten Moment auflösen und wieder Alltag sein. Auf dieser Labilität und Unbestimmtheit basiert der Begriff vom Schnitt durch den Raum. Beim Schnitt durch den Raum handelt es sich um ein räumliches Phänomen, das Teil menschlicher Wahrnehmung sein kann, aber nicht sein muss. Im alltäglichen Handeln übergehen wir den Schnitt, lassen uns nicht auf eine notwendige Handlungsentlastung ein und nehmen uns nicht die Zeit. Der Schnitt kann aber auch ein Zufallsprodukt sein oder durch ein Naturereignis erzeugt werden. Dagegen ist für den Schnitt durch den Raum des Theaters der Aspekt, dass hier jemand intentional an seiner Erzeugung mitwirkt, ein grundlegender. Auch deshalb hat sich gezeigt, dass er für das Theater als Kunstform, aber auch für eine erweiterte Auffassung von Theater, nicht nur hilfreich,
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sondern konstitutiv ist. Und weil der Schnitt in der alltäglichen Wahrnehmung angelegt ist, beruht das Theater als Kunstform nicht auf einer eigenen Wahrnehmungsform oder schafft gar eine eigenständige, sondern es greift auf eine alltägliche zurück, die es dann auf dauerhafte Weise zu implementieren weiß. Die bisherige Vorstellung des Schnitts durch den Raum war überwiegend raumphänomenologisch ausgerichtet. Die Frage nach den Modi seines Zustandekommens wurde an Hand von drei Weisen vorgestellt, in denen ich in den Raum leiblicher Anwesenheit involviert bin: als Handelnder, Wahrnehmender und atmosphärisch Spürender. Der Schnitt durch den Raum wird so ein Begriff der Befindlichkeit, der Differenz von Wirklichkeit und Realität sowie einer handlungsorientierten Ausdifferenzierung zwischen einem handlungsentlasteten Gast im Raum und einem Geschehen in einem anderen Raum. Über räumliches Erfahren von Wahrnehmungswirklichkeiten hinaus, haben wir es aber auch mit einer zwischenmenschlichen Begegnung zu tun. Mit dieser sind auch andere als raumphänomenologische Aspekte verbunden; so stellt sich die Frage, welchen Stellenwert sie für die Etablierung des Schnitts und des Raums des Theaters hat?
Abb. 12a/b Zuschauerhaltungen. Große Mengen Bach (Rostock 2008).
Am Beispiel der in der Einführung vorgestellten Performance Große Mengen Bach kann diese Fragen noch einmal expliziert werden. In dieser sechsstündigen Performance, in der sich keinerlei im tradierten Sinne inszenatorische Aufführung ereignete und sich zusätzlich die Theatergäste frei im Aufführungsraum – die Nikolaikirche in Rostock – bewegen konnten, war es grundlegend, dass diese sich auf eigene Weise Schnitte durch den Raum schafften. Sie setzten
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sich auf die Stufen zum Altarraum, um den Pianisten beim Spielen zuzuschauen und zuzuhören. Aus einer gewissen Entfernung beobachteten sie andere Gäste dabei, wie sie aus den großen Mengen gleichen Materials Skulpturen und geometrische Formen erstellten. Oder sie begaben sich auf die Empore, um von dort einen Überblick über das gesamte Geschehen zu erhalten. So explizit, wie der Schnitt von Zuschauern erzeugt wurde, wurde er auch von ihnen durchbrochen. Man sprach mit Freunden, den Akteuren oder fing an die großen Mengen gleichen Materials zu ordnen. Andere wiederum waren verärgert, verlangten ihr Geld zurück und verließen die Veranstaltung. Große Mengen Bach erzeugte Hervorhebungen und evozierte ästhetische Räume, die den Gästen den Freiraum ließen, neben der Ablehnung des Ganzen, entweder die Rolle von Zuschauern einzunehmen oder selbst zu Akteuren zu werden. Ganz im Sinne von Umberto Eco haben wir es hier mit einem offenen Kunstwerk (Eco 1993) zu tun. Als einen wichtigen Aspekt dafür nennt er die Gleichstellung von Akteuren und Rezipienten. Innerhalb eines offenen Kunstwerkes nehmen beide die Rolle von Interpreten (vgl. ebd.: 29 und FN I) ein, die sowohl darbieten, wie auch als Interpretierende ein Kunstwerk im gleichen Augenblick vollenden, in dem es sich für sie vollzieht (vgl. ebd.: 29). Diese semiotisch orientierte Doppelrolle des Begriffs Interpret unterstreicht neben der Rolle der Akteure auch die aktive und diskursive Rolle des Zuschauers im Erzeugen eines Schnitts und damit eines Raums des Theaters. An diesem Beispiel und in Anlehnung an Eco zeigt sich, dass für die Etablierung des Schnitts durch den Raum auch das zwischenmenschliche Spiel zwischen einem wahrnehmenden Ich und inszenierten Geschehnissen innerhalb eines anderen Raums von Bedeutung ist. Dabei lassen sich jeweils sehr unterschiedliche Bedingungen, die für dieses Verhältnis grundlegend sind, zwischen dem wahrnehmenden Ich und dem durch Menschen erzeugten Geschehen ausmachen. Welche Rolle spielen die zwischenmenschliche Begegnung, intentionales Handeln und die daran gebundenen Rollenzuweisungen, Erwartungen und Haltungen? Welche Haltung nehmen die Zuschauer, Theatergäste, Akteure als handelnde und gestaltende Interpreten für die Erzeugung eines Raums des Theaters ein? Was sind die konkreten Anforderungen an ein Geschehen, damit sich über räumlich atmosphärische Phänomene hinaus ein Schnitt im Raum, insbesondere im Raum des Theaters, etablieren
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kann? Kann ein Ich einen Schnitt intentional erzeugen und bewusst die Rolle eines Zuschauers einnehmen? Wenn das der Fall ist, worauf stützt sich sein Handeln? Zur Beantwortung dieser Fragen soll zuerst das Geschehen in den Mittelpunkt rücken. Dabei soll erörtert werden, welche an einem menschlichen Handeln orientierte Anteile eines Geschehens einen Schnitt durch den Raum hervorbringen. Im zweiten Schritt wird auf den Theatergast und seinen Anteil an der Erzeugung des Schnitts eingegangen. Für die Betrachtung von Geschehen ist die Unterscheidung zwischen sich absichtslos und absichtsvoll ereignenden Ereignissen instruktiv. Ein Gewitter, ein Eigentor oder, wenn man sich am Klavier verspielt und den letzten Takt wiederholt, sind absichtslose Ereignisse, es ist ein Naturereignis, ein Zu- und ein Unfall. Das auf einer Bühne in Szene gesetzte Gewitter (vgl. Böhme 2001a: 124), ein intentional betrügerisches Eigentor oder die über zwanzigminütige Wiederholung eines Taktes sind hingegen absichtsvolle Ereignisse. Seel beschreibt Inszenierungen als „absichtsvoll eingeleitete oder ausgeführte sinnliche Prozesse, die vor einem Publikum dargeboten werden […]“ (Seel 2001: 50). Beide Ereignisse lassen sich durch eine weitere Charakteristik beschreiben: sie erzeugen in Anlehnung an Seels Beschreibung einer unübersehbaren Gegenwärtigkeit (vgl. ebd.: 54) eine unüberspürbare Gegenwärtigkeit (vgl. Abschnitt 4.3.1: 131). Es handelt sich dabei um Hervorhebungen, die aus einem Geschehen im Besonderen herausstechen und als eigenständige Wahrnehmungswirklichkeiten spürbar werden und so die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und von einem Ich erfahren werden. Als Beispiele atmosphärischer unüberspürbarer Gegenwärtigkeit wurden Ingressions- und Diskrepanzerfahrungen angeführt. Gleichermaßen lassen sich auch zeichenorientierte Momente anführen, wie das symbolische Händeschütteln in der Straßenszene (vgl. Abschnitt 4.3.1). Absichtsvolle und absichtslose Ereignisse unüberspürbarer Gegenwärtigkeit lassen sich inhaltlich mit der in Abschnitt 3 angeführten Differenz von Außen und Innen in Verbindung bringen. Mit dem Fokus auf räumliche Bedingungen des Theaterbaus wurde die Differenz zwischen außen und innen als für den Raum des Theaters relevante vorgestellt. Der Theaterbau grenzt auf materielle Weise den äußeren Lebensraum aus. Ein Theatergast im Theaterbau ist so in einem geschützten Bereich mit spezifischer Ordnung anwe-
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send. Doch die Differenz von außen und innen ist jenseits des Theaterbaus nicht mehr greifbar. Vielmehr rückt die Handlungsebene in den Vordergrund, die zwischen Subjekt und Geschehen herrscht. Ein absichtsloses Geschehen kann so als das Außen, der natürliche Lebensraum beschrieben werden, in dem Dinge sich erst einmal nur ereignen, ohne dass hier der Differenz von Wirklichkeit und Realität ein besonderer Status zugesprochen wird. Gleichfalls lässt sich das absichtsvolle Geschehen mit dem räumlichen Innen gleichsetzen. An Stelle des schützenden Raums des Theaters eines Theaterbaus tritt der handlungsorientierte Begriff der Inszenierung. Das hat Konsequenzen, denn der Mensch muss so als intentional oder nicht intentional Handelnder berücksichtigt werden und das sowohl für einen Gast, als auch den Erzeuger von Geschehen. Für den Schnitt durch den Raum ist unüberspürbare Gegenwärtigkeit von grundlegender Relevanz, weil sie für die Erzeugung einer spürbaren Differenz zwischen Ich-Pol und Gegenstands-Pol ist. Sie ist aber auch daran beteiligt, dass die Realität als von der Wirklichkeit isoliert erfahrbar wird. Der Schnitt durch den Raum ist so eine räumliche Veranlagung, die – ganz gleich ob unüberspürbare Gegenwärtigkeit intentional oder nicht-intentional hervorgebracht wurde – jederzeit in Erscheinung treten oder zur Erscheinung gebracht werden kann. Damit ist auch eine Differenz zwischen dem Schnitt durch den Raum und dem durch den Raum des Theaters formuliert: intentional erzeugte unüberspürbare Gegenwärtigkeit. In Anlehnung an Fischer-Lichte wäre der Schnitt durch den Raum des Theaters dann ein Erzeugnis einer als Wirklichkeit erfahrenen Situation, in der in einem besonders hergerichteten Ort von Akteuren in Anwesenheit anderer etwas zur Schau gestellt wird (vgl. Fischer-Lichte 2001: 300). Auch Lehmann beschreibt die von Eco als Interpret beschriebene doppelte Rolle im Erzeugen theatraler Geschehen. Lehmann spricht dabei auch die Bedeutung des Theaterspielens als Inszenierung an, deren unüberspürbare Gegenwärtigkeit aus seiner Sicht Text erzeugt: Theater heißt: eine von Akteuren und Zuschauern gemeinsam verbrachte und gemeinsam verbrauchte Lebenszeit in der gemeinsam geatmeten Luft jenes Raums, in dem das Theaterspielen und das Zuschauen vor sich gehen. Emission und Rezeption der Zeichen und Signale finden zugleich statt. Die Theateraufführung läßt aus dem Verhalten auf der Bühne und im Zuschauerraum ei-
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nen gemeinsamen Text entstehen, selbst wenn gesprochene Rede gar nicht vorkommt. (Lehmann 2001: 12f)
Für den Schnitt durch den Raum des Theaters übernimmt also der Aspekt der Inszenierung und darin der Erzeugung einer unüberspürbaren Gegenwärtigkeit eine – über raumphänomenologische Zustände hinaus – zentrale Funktion. Inszenierungen können sich im Alltagsleben eher beiläufig vollziehen, wie im Regietheater hochkontrollierte Ereignisse sein oder in Gang gebrachte Prozesse (vgl. Seel 2001: 49), die eine Eigendynamik entwickeln, wie in Große Mengen Bach. In allen drei Varianten wird neben räumlich atmosphärischen Konstellationen auch ein Geschehen etabliert, bei dem ein Schnitt durch den Raum auf der Grundlage einer Inszenierung etabliert wird, die unüberspürbare Gegenwärtigkeit hervorbringt. Als Funktion der Inszenierung beschreibt Seel das menschliche Bedürfnis, „die Gegenwarten, in denen wir sind, auch als spürbare Gegenwarten erleben zu wollen“ (ebd.: 53). Das Theater, politische Veranstaltungen oder die Inszenierung von Produkten sind Ausdruck dieses Bedürfnisses, weswegen für sie auch Strategien entwickelt werden, einer unüberspürbaren Gegenwärtigkeit Kontinuität zu verleihen. Die Alltagswelt, aber vor allem die professionalisierte Welt dieser Präsentationskultur, berufen sich hierbei auf vorhandene Muster, Konventionen und Mittel. Jedes Zeitalter, jede Kultur folgt hier eigenen Regeln, sowohl bezüglich der Qualität der Momente, die als unüberspürbare Gegenwärtigkeit erfahren werden, als auch bezüglich der Mittel, solche hervorzubringen. Sie reichen von der kleinen unscheinbaren Geste bis zum starren Theaterbau, dessen Inszenierungsregeln auch materiell in die Architektur eingeschrieben sind. Immer aber befindet sich als ein Zwischen der Schnitt durch den Raum. Die Mittel, die mit ihm und seiner Erzeugung verbunden sind, kommen bewusst oder unbewusst zur Anwendung. Auf Grund der Brüchigkeit des Schnitts und der Zeitlichkeit von inszeniertem Geschehen, kommt es aber auch zu Störungen und Unfällen. Oder wie Seel es ausgedrückt: „Innerhalb von Inszenierungen kann sich vieles absichtslos vollziehen, aber keine Inszenierung kann sich absichtslos vollziehen“ (ebd.: 49). Ob unüberspürbare Gegenwärtigkeit absichtsvoll oder absichtslos erzeugt wird, ist somit nicht immer steuerbar oder vorhersehbar. Als Teil zwischenmenschlichen Handels ist ihre Erzeugung dennoch erlernbar, als
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Teil kultureller Praxis erzeugbar oder auf der Basis von Konventionen erwartbar; determiniert werden kann sie hingegen nicht. Genau darin liegt die Brüchigkeit des Schnitts durch den Raum begründet, in der Unbestimmtheit menschlichen Handelns. Welche Rolle in diesem Gefüge übernimmt nun der Theatergast. Welche Haltung nimmt er gegenüber einem inszenierten Geschehen ein und was begünstigt es, dass er den Schnitt aktiv erzeugt? Der Schnitt durch den Raum ist Teil einer Ausdifferenzierung einer ersten Wahrnehmungswirklichkeit in einen Ich-Pol und einen Gegenstands-Pol. Ferner ist eine Situation erforderlich, die für einen Gast eine handlungsentlastete Position ermöglicht, aus der heraus ein Ich in einem anderen Raum zu Gast sein kann. Ein Ich gerät in räumliche Konstellationen, in denen ein Schnitt als wahrnehmbares Phänomen vorzufinden ist, von ihm aber nicht zwingend etabliert werden muss. Das Ich kann ihn ohne weiteres übergehen. Ob dieser Schnitt von ihm erfahren oder etabliert wird, hängt folglich von ihm selbst ab. Weiter oben wurde angeführt, dass der Mensch ein grundsätzliches Interesse an spürbarer Gegenwart hat und deshalb auch den Schnitt als Teil einer kulturellen Praxis bewusst erzeugt. Er etabliert für sich den Schnitt nicht nur in alltäglichen Situationen, sondern schafft eigens dafür räumliche und bauliche Ordnungen sowie eigene Kunstformen. Der Schnitt wird so zu einem Phänomen, das Teil räumlicher Konstellationen ist, dann aber einer spezifischen Erzeugung durch den Gast im Raum bedarf. Variablen dieser aktiven Erzeugung sind neben den bisher am ausführlichsten behandelten brüchigen räumlichen Bedingungen auch das Subjekt selbst und seine soziale sowie kulturhistorische Situiertheit. In der Theaterwissenschaft sind diverse Ansätze zur Rolle des Zuschauers vorhanden. Weit verbreitet ist ein semiotischer Ansatz, der von einem Zuschauer-Subjekt ausgeht, das sich als Interpret der Lektüre eines umfassenden Textes widmet und dabei im Sinne konstruktivistischer Konzepte seine individuelle Wirklichkeit erzeugt. Nicht nur Hans Thies Lehmann gründet in seinem Buch Das postdramatische Theater (Lehmann 2001) das Konzept des Zuschauers auf diese Annahme, sondern auch Erika Fischer-Lichte beschreibt diesen Vorgang in ihren Texten. Rezeption von Theateraufführungen seit den 1960iger Jahren beruht auf Seiten der Zuschauer auf einem Produzieren von Text, wodurch Zuschauen zu einer eigenen Handlung avanciert. Das habe zur Folge, dass ein Zu-
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schauer nicht mehr auf die Rampe des Theaterbaus angewiesen sei, sondern sie kognitiv für sich selbst errichten könne (vgl. FischerLichte 1997: 35). Er sei imstande, „einerseits zu den präsentierten Objekten und Vorgängen eine ästhetische Distanz einzuhalten und sie andererseits rein ästhetisch zu rezipieren“ (ebd.: 35f). Ihr Ästhetikbegriff weicht von dem hier verwendeten ab. Der Zuschauer nimmt gegenüber einem Geschehen eine distanzierte Haltung ein, in der er ein Geschehen nicht nur als inszeniertes ausmacht, sondern dabei auch davon abrückt. Lektüre wird zu einem Rezeptionsvorgang, der die Trennung von Subjekt und Objekt im Sinne eines diskursiv begrifflichen Erfassens zu Grunde legt und Involviertsein wird zu einem vor allem kognitiven Prozess eines Subjekt. Auch in Anlehnung an die Soziologie wird das Verhältnis von Zuschauer und Akteur mit dem Fokus auf zwischenmenschliche Interaktion untersucht. Exemplarisch kann Erving Goffman angeführt werden (vgl. Goffman 1973 und Goffman 1977). Das alltägliche Leben wird nicht nur durch äußere soziale und kulturelle Konventionen gerahmt, sondern innerhalb dieser spielen Menschen Rollen. In diese schlüpfen sie aber nicht nur, sondern sie nehmen auch gegenüber anderen die Haltung von Zuschauern ein. Beide Haltungen bringen unterschiedliche Rahmungen und darin Handlungen mit sich (Goffman 1977: 143ff). Zwischenmenschliche Interaktion findet vor dem Hintergrund von Konventionen im Sinne sozialer Erwartbarkeiten und Eigendisziplinierung statt. Im Folgenden sollen aber weder die semiotische noch die soziologische Sicht auf das Erzeugen eines Schnitts durch einen Gast im Raum des Theaters, weiter vertieft werden. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf dem Raum leiblicher Anwesenheit und atmosphärischer Wahrnehmung, weshalb der Umgang des Menschen mit dem Schnitt durch den Raum als Teil raum- sowie wahrnehmungsorientierter Veränderung vorgestellt werden soll, die von einer kulturellen Prägung eines jeden getönt wird. Eine Rampe selber zu errichten, auch dann, wenn man sich nicht in einem Theaterbau befindet und wenn nicht eindeutig ein Raum des Theaters vorliegt – wie im Beispiel der Straßenszene – setzt nicht nur einen aktiven Rezeptionsprozess voraus, es setzt auch eine auf kulturelle Praxen und Konventionen aufbauende räumliche Situiertheit und eine damit verbundene Haltung voraus. Der Gast im Raum des Theaters ist darin geübt Zuschauer, Betrachter oder Zuhörer
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zu sein. Der Gast im Raum des Theaters nimmt eine Haltung ein, die auf spezifischen Wahrnehmungskonzepten beruht. Das heißt, wenn eine räumliche Situation vorliegt, die der Konstellation eines Raums des Theaters entspricht, gleicht ein Gast seine Befindlichkeit in Anlehnung an seine raum- und wahrnehmungsorientierte kulturelle Prägungen mit diesem ab. Das findet noch vor jeder gültigen Konvention und jedem subjektiven Lektüreprozess statt. Doch was genau heißt dann, seine Befindlichkeit mit kulturellen Prägungen abgleichen? Es heißt, dass ein Gast im Raum des Theaters immer auch eine Vorprägung mit einbringt, die aber nicht allein auf zeichenorientierter Wahrnehmung und der Rahmung zwischenmenschlicher Interaktion fußt, sondern ebenso Teil atmosphärischer Wahrnehmung ist. Meine Befindlichkeit im Raum ist keine naive oder gänzlich unberührte, sie ist eine von meiner Biographie, meiner gesellschaftlichen sowie kulturellen Historie und Praxis getönte. Anders als in der semiotischen Wahrnehmung wird diese Prägung also nicht von Bedeutungen und dem Sinn geformt, sondern von Phänomenen und ihrer Erfahrung, die – um sie allgemeiner zugänglich zu machen – an Hand von vorherrschenden Wahrnehmungs- und Raumkonzepten beschrieben werden können. Für die heutige Zeit lässt sich beispielsweise zeigen, welche Rolle bildschirmorientierte Wahrnehmung und die mit ihr verbundenen Raumkonzepte für den Schnitt durch den Raum einnehmen. Nicht nur lässt sich die klare Ausrichtung und starre Position eines Betrachters anführen, sondern auch die physikalische Trennung zwischen Subjekt und einem anderen medial vermittelten Raum. Eine Rampe kognitiv errichten, setzt zu einem hohen Grad auf Vertrauen und der Annahme, die vermeintliche Trennung liege dauerhaft vor, damit Wirklichkeit von der Realität isoliert sein kann. Dieses Vertrauen basiert auch auf einer kulturellen Prägung, die in spezifischen Konstellationen auftritt und durch optische Medien eine tiefe Verankerung in unserer Haltung und Erwartung gegenüber unüberspürbarer Gegenwärtigkeit erfahren hat. Die Wirklichkeiten, die andere Räume optischer Medien erzeugen, sind von einer auf sie verweisende Realität abgetrennt. Ein um sich schießender Gangster im Fernsehapparat ist lediglich wirklich, real ist die Mattscheibe auf der er erscheint. Eine solch realitätsentfremdende Prägung begünstigt Haltungen, die die Haltung des Menschen in Alltagssituationen beeinträchtigen. In Große Mengen Bach nehmen die
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Gäste auch auf der Basis dieser durch optische Medien erzeugten Prägung die Haltung eines Zuschauers, Betrachters oder Zuhörers ein. Dennoch erfordert gerade ein Einlassen auf diese Prägung in solch brüchigen Gefügen ein hohes Maß an Selbstdisziplinierung. Diese bezieht sowohl ein mit Realität rechnen ein, als auch wirkt sie an der Verdrängung mit Realität zu rechnen mit. Unser grundsätzliches Interesse an spürbarer Gegenwart und unsere Haltung ihr gegenüber werden so auch von Vorprägungen mitgestaltet, die dem Umgang mit bildschirmorientierten Medien und den daran gewonnenen Kompetenzen entspringen. Es ist kein Zufall, dass bildschirmorientierte Medien als Beispiel angeführt werden. Denn sie sind es, die durch ihre räumliche Ausrichtung, sowohl in Bezug auf ihre Subjekt-Objekt Beziehung, als auch in Bezug auf ihre Inhalte (man spricht von computergenerierten virtuellen Räumen, dem Filmraum oder der illusionistischen Raumdarstellung zentralperspektivischer Gemälde), den Schnitt durch den Raum und seine Konstitution maßgeblich prägen und geprägt haben. So lässt sich eine enge und verwobene Beziehung zwischen optischen Medien und dem Schnitt durch den Raum nachzeichnen, die im besonderen Maße in der Renaissance an Bedeutung gewonnen hat. Unsere heutige Vorprägung durch optische Medien ist nicht nur der massenwirksamen Verbreitung dieser geschuldet, sondern auch ihrer direkten Verquickung mit Wahrnehmungs- und Raumkonzepten seit der Renaissance. Deshalb auch widmet sich der zweite Teil dieser Arbeit drei historischen Fallbeispielen, an denen die Beziehung des Schnitts durch den Raum zu optischen Apparaten aufgezeigt wird. Dabei geht es nicht allein um optische Apparate, sondern die an sie gekoppelten Raum- und Wahrnehmungskonzepte und die Haltung des Subjekts gegenüber dem Schnitt durch den Raum und den des Theaters.
Teil Zwei: Historische Betrachtung von Schnittkonzepten
6. Das Prinzip des geschichteten Raums
6.1 D IE Z ENTR ALPERSPEK TIVE DURCH DIE S EHPYR AMIDE
UND DER
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6.1.1 Orientierung Als kunsthistorisch einschneidendes Datum kann das Jahr 1435 genannt werden, als nämlich Della Pittura (Alberti 2002), die erste Einführung in die perspektivische Konstruktionslehre von Leon Battista Alberti (ca. 1404-1472) erscheint. In seiner Abhandlung formuliert er Grundregeln für ein aus seiner Sicht nicht nur neues, sondern vor allem notwendiges Verständnis von dem, was Malerei zukünftig zu sein hat. Es ist Alberti, der die im zweiten Jahrzehnt durch Filippo Brunelleschi (1377-1446) entwickelte Malpraktik systematisiert und für alle Interessierten auch in Italienisch zugänglich macht. Er schafft mit seinem Ansatz eine Grundlage für eine über Jahrhunderte geltende Normierung der Malerei. In seinem Werk ist das Bewusstsein und die Überzeugung mit diesem Schritt etwas Fundamentales zu schaffen, erstaunlich präsent. Auch wenn die Zentralperspektive, wie es Ulrike Hick unterstreicht, in der Malerei bis ins 19. Jahrhundert hinein geographisch auf die westliche Welt beschränkt bleibt (vgl. Hick 1999: 15), ist sie kulturhistorisch von zentraler Bedeutung. Alberti hat daran mitgewirkt, die Malerei von ihrer bis dahin vor allem christlich motivierten Ikonographie
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abzulösen (vgl. Schmeiser 2002: 39ff). Denn mit der Zentralperspektive wird es – im damaligen Verständnis – möglich, Dinge so abzubilden, wie der Menschen sie sieht. Das Abgebildete wird damit von seiner Funktion befreit, als Schriftersatz zu dienen. Gleichzeitig wird damit auch das Ansehen des Malers aufgewertet, weil die Malerei mehr sein kann als reines Handwerk: Sie wird zu einer Kunstform erhoben (vgl. ebd.: 48) und zwar einer, die über allen Künsten steht (vgl. Alberti 2002: 103, II/26). Gerade hierin besteht eines der wesentlichen Bemühen Albertis, an der Aufwertung der Malerei und Autonomie des Handwerks mitzuwirken (vgl. vor allem ebd.: 101-113, II/25-29). Objekt
Schnitt
Abbildung des Objekts
Auge Sehpyramide
Abb. 13: Das Prinzip zentralperspektivischer Konstruktion im Sinne Albertis.
Das Regelwerk der zentralperspektivischen Konstruktion vereint die antike Geometrie mit der – auch vom Altertum geprägten – mittelalterlichen Optik. Leonard Schmeiser fasst die wesentlichen Aspekte hierzu in nur wenigen Sätzen zusammen: Sehen vollzieht sich mittels einer Sehpyramide, deren Grund»Fläche« der gesehene Gegenstand bildet und die besteht aus Strahlen, die von dieser bis ins Auge des Betrachters reichen, wo sie zusammenlaufen; Bilder haben einem auf deren Höhe normal angebrachten Schnitt durch eine derartige Sehpyramide zu entsprechen. (Schmeiser 2002: 20)
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Dieser Schnitt durch die Sehpyramide verändert die Malerei und zieht sich auf vielen Ebenen durch unsere Kulturgeschichte hindurch. Er hat bis heute nicht im Geringsten an Relevanz eingebüßt. In diesem Abschnitt wird es um diesen Schnitt durch die Sehpyramide gehen. Denn bei ihm handelt es sich nicht nur um eine Konstruktionsmethode oder um ein Werkzeug zur Erzeugung zentralperspektivischer Bilder. Stattdessen kann von einer Abstraktion und letztlich auch Materialisierung des Schnitts durch den Raum gesprochen werden. Mit dem Schnitt durch die Sehpyramide wird deshalb auch eine Grundlage geschaffen, die für die Herausbildung des Konzepts des geometrischen Raums und einer Theorie der Wahrnehmung, wie wir sie heute kennen, von Bedeutung ist. Diese These soll im Folgenden erläutert werden. Das heutige Verständnis der Zentralperspektive ist geprägt von der Vorstellung eines anderen Raums, der wie durch ein Fenster erblickt wird. Ulrike Hick beschreibt so auch die Zentralperspektive als ein malerisches Prinzip, mit dem eine mathematisch rationalisierte Wiedergabe eines völlig regelmäßigen und homogenen, damit virtuell unendlichen Raums auf zweidimensionalem, gerahmtem Bildträger (Hick 1999: 15)
möglich wird. Die heutige Rezeption der Zentralperspektive und ihrer Genese setzt oft an diesem homogenen, anderen Raum an, begegnet man ihm doch nicht nur in der frühen Malerei, sondern gegenwärtig auch in Computerspielen oder im Kino. Hier zählt der andere Raum, der als Tiefenraum flächig abgebildet werden kann und so Einblicke und Illusionen schafft. Auf diesem anderen homogenen Raum basiert auch die allgemein anerkannte Auslegung, dass mit der Zentralperspektive ein spezifisches Gefüge zwischen Betrachter und Betrachtetem eingeführt wird, das bis heute Geltung besitzt und wahrscheinlich mehr denn je in dieser Welt präsent ist. Zu diesem Gefüge gehört seine trennende Wirkung, der Durchblick oder die Festlegung des Betrachters auf einen Augpunkt; sowie die Ablösung des anderen zentralperspektivischen Raums vom Raum des anwesenden Betrachters. Gerade im Bereich bildschirmorientierter Medien, in der Photographie, dem Film, nimmt dieses Gefüge und seine Wirkung eine sehr starke Stellung ein. Aber auch kulturhistorisch ist seine
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nachhaltige Wirkung nicht zu unterschätzen. Jean Gebser geht in seinem Werk Ursprung und Gegenwart (Gebser 1986) so weit, Egozentrik und Totalität – auch als politische Erscheinungen – auf die Zentralperspektive zurückzuführen (vgl. ebd.: 50f). Erwin Panofsky fasst in seinem äußerst einflussreichen Aufsatz Die Perspektive als ‚symbolische Form‘ (Panofsky 1992), die heute im Wesentlichen anerkannten Eigenschaften der Zentralperspektive zusammen. So legt er dar, dass die Einführung der Zentralperspektive eine Konstruktionslehre hervorbringt, die es ermöglicht, ein Bild zu generieren, das Raum als in sich homogenen Raum abbildet. Das heißt alle im Gemälde verankerten Abbildflächen sind in Bezug auf Position, Proportion, Licht- und Farbgebung sowie ihrer Verdeckungen so zueinander komponiert, wie sie ein einzelnes starres Auge sehen würde. Deshalb gleicht dieses Bild einem Fenster, „durch das wir in den Raum hindurchzublicken glauben sollen“ (ebd.: 99). Die Fläche des Bildes wird in ihrer Materialität negiert und zu einer „bloßen ‚Bildebene‘ umgedeutet […], auf die sich ein durch sie hindurch erblickter und alle Einzeldinge in sich befassender Gesamtraum projiziert“ (ebd.). Vermeintlich seit jeher (vgl. hierzu auch Haß 2005: 86ff mit ihrer Kritik an Panofsky) steht die Zentralperspektive so für eine immaterielle Fläche mit simulierter Raumtiefe, die einen fenstergleichen Durchblick in einen anderen, homogenen Raum ermöglicht (vgl. Abb. 14).
Abb. 14: Ein mit Folie beklebtes Garagentor (links). Das zentralperspektivische Motiv stellt auf einer geschlossenen Fläche eine Durchsicht auf ein nicht reales Garageninterieur mit Ausblick auf eine toskanische Landschaft dar. Die Anlehnung an Renaissancegemälde ist unverkennbar.
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Gänzlich unerwähnt bleibt bei Panofsky ein Aspekt, der für Alberti ganz zentral ist: istoria als Inszenierung, Komposition und Ausstrahlung von Bildern. Haß vermutet, das Panofsky istoria deshalb übergeht, weil er die Perspektive als „Mittel zur Bedeutung von visuellen Räumen auffaßt“, nicht aber die gerade für die Anfangszeit so wichtige „Herstellung dieser Räume für den Betrachter“ (Haß 2005: 87) berücksichtigt. Genau hier trifft Haß den Kern dessen, was im Folgenden ausgeführt werden soll. Die Differenz von Bedeutung visueller Räume und Herstellung dieser Räume steht im Einklang mit der im ersten Teil dieser Arbeit vorgestellten Differenz zwischen dem geometrischen Raum und dem Raum leiblicher Anwesenheit und die daran gekoppelte Differenz zwischen Zeichen- und atmosphärischer Wahrnehmung. So lässt sich aufzeigen, dass es Alberti und seinen Zeitgenossen darum geht, mit Hilfe der Zentralperspektive künstliche Umgebungen zu schaffen, in denen ein Betrachter sich als leiblich Anwesender erfährt und nicht als Betrachter eines anderen Raums. Erst im 17. Jahrhundert wird das zentralperspektivische Bild zu einem anderen Raum, von dem ein Betrachter körperlich abgelöst ist und über Täuschung und Illusion daran Anteil hat. Panofskys Ausführungen setzten letztlich erst hier an und werden so den Anfängen der Zentralperspektive nicht gerecht. Diese Abweichung zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert ist nicht allein einem Umgang mit der Zentralperspektive geschuldet, sondern lässt sich auf einen Wandel von Raumkonzepten und Sehtheorien zurückführen, die auch mit optischen Erkenntnissen und Erfindungen einhergehen. Gleichwohl ist auch der von Alberti eingeführte Schnitt durch die Sehpyramide daran beteiligt. Einerseits ist er Garant dafür, dass die Differenz zwischen dem Sehen eines tatsächlichen Gegenstands und dessen Abbild schrumpft, andererseits wird mit ihm Sehen zu etwas Abstraktem und Gesehenes zu einem greifbaren Gegenstand. Beides hat seine Wirkung auf die Entwicklung neuer Sehtheorien und Raumkonzepte. Konzentriert man sich auf Albertis Traktat, so fällt auf, dass seine Konstruktionslehre der Zentralperspektive dem Prinzip der Schichtung folgt. Auf ganz unterschiedlichen Ebenen geht es ihm darum, die Arbeit des Malers als Schichtungsvorgang zu beschreiben, mit dem Ziel, dass das Resultat als überzeugender und in sich stimmiger Schnitt durch die Sehpyramide erfahren wird. Überzeugen und in sich stimmig sein kann der Schnitt vor allem deshalb, weil auch das Raumkonzept des Aristoteles‘, auf das Alberti sich stützt,
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sich am Prinzip der Schichtung orientiert. Auf dieser gemeinsamen Grundlage ist das Erfahren von Bild und Welt – vorausgesetzt der Maler versteht sein Handwerk – nicht voneinander unterscheidbar. Insofern wird sowohl Albertis Prinzip der Schichtung vorgestellt, als auch das am Raumkonzept Aristoteles‘ orientierte Prinzip der räumlichen Schichtung.
6.1. 2 Exkurs in die Welt filmischer Schichtung Bevor das Prinzip der flächigen Schichtung im Kontext zu Albertis Della Pittura und seiner Zeit vorgestellt wird, soll ein kurzer Exkurs in die Gegenwart vollzogen werden. Im Mittelpunkt steht dabei ein heute gängiges, computergestütztes Verfahren, das Compositing. Bemerkenswert ist nun, dass schon Alberti dieses Prinzip einführt. Der Exkurs dient somit der Veranschaulichung des Prinzips der Schichtung, aber auch der Verdeutlichung, dass es über die Renaissance hinaus seine Geltung nicht eingebüßt hat. Was sich verändert hat, ist der Umgang mit dem Prinzip, aber kaum auf Seiten der Produzenten, sondern vielmehr auf Seiten der Rezipienten. Denn zwischen der Renaissance und heute treffen zwei vollkommen differente Raum- und Wahrnehmungskonzepte aufeinander. Als Georges Méliès 1888 das Théâtre Robert Houdin des wohl damals bekanntesten Zauberkünstlers erwarb, war es kaum verwunderlich, dass er sich, der Tradition dieses Theaters bewusst, auch auf die Zauberei konzentrierte. Nicht aber als geschickter Zauberkünstler trat er hervor, sondern als Filmemacher, der früh die tricktechnischen Möglichkeiten des Mediums erkannte und so den Film zum Zauberer machte. Schon 1896, also nur wenige Monate nach der Einführung des Films, zeigte Méliès Escamotage d‘une dame au théâtre Robert Houdin. Jahre zuvor war es der große Zauberer Houdin gewesen, der eine Dame in einem Schrank verschwinden ließ. Nun vollbrachte dieses Zauberwerk auch Méliès, in einem der ersten effektorientierten Filme der Geschichte. Man sah, wie ein Zauberer eine auf einem Stuhl sitzende Frau mit einem Tuch bedeckt. Als er es wegzieht, sitzt an ihrer Stelle nur noch ein Skelett. Nur wenig später wird der Zauber in gleicher Weise wieder rückgängig gemacht (vgl. Paech 1991: 775). Diese Szene steht sinnbildlich für ein in der Zentralperspektive schon immer angewandtes Prinzip: die Komposition eines Bildes. Nicht aber der durch Montage und
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Bewegtbild erzeugte Effekt des Verschwindens ist gemeint, sondern das hier inszenierte Prinzip der Schichtung, das durch den Wandel einer Frau zu einem Skelett und zurück thematisiert wird. Denn was Méliès makaber seinen Zuschauern vor Augen führt, thematisiert das Prinzip der flächigen Schichtung, das für die Zentralperspektive charakteristisch ist. Auf einem Photo und einem Filmbild, die beide den Grundsätzen zentralperspektivischer Darstellung gehorchen, werden keine Körper sichtbar, sondern nur deren Oberflächen. Der Maler hat gelernt, Körper in Flächen zu übertragen und dabei – gerade für die Abbildung von Menschen – immer auch die Strukturen hinter den Oberflächen zu berücksichtigen. Méliès‘ verschwindende Frau steht Pate für dieses Sezieren von Körpern, die in Flächen zerlegt werden, um auf Flächen übertragen zu werden. Schon bei Alberti findet sich die konkrete Arbeitsanweisung, beim Malen von Menschen von den Knochen auszugehen, um diese mit Muskeln und anschließend mit Fleisch einzukleiden (Alberti 2002: 123, II/36). Dieses Prinzip der Schichtung ist heute mehr denn je Teil filmischen Compositings. Filmemacher schaffen fiktive Welten, in denen Schicht für Schicht ein flächiger Raum gebaut wird, der im Ergebnis homogen wirkt und dessen Schichtung verschwindet. Compositing im Film setzt gewisse Prozesse voraus, die alle auf ein Ziel hinauslaufen: am Ende soll ein Bild vorliegen, das für einen Zuschauer glaubhaft ist, das ihn überzeugt. Doch diese Überzeugung findet auf mindestens zwei Ebenen statt. Das was konkret sichtbar ist, muss in sich stimmig sein, muss also als Ganzes homogen wirken. Hierbei ist die Abstimmung der Einzelelemente zueinander wichtig: Proportionen, Schattenfall, Farbgebung und Lichtverhältnisse müssen passen. Gleichzeitig geht es aber auch darum, der Begriff der Abstimmung legt es nahe, dass die Erscheinung des Bildes von einem Zuschauer als in sich stimmige, korrespondierende Wirklichkeit erfahren wird. Es geht nicht nur um die Teile auf dem Bild, sondern auch um die Ausstrahlung des Bildes. Das heißt aber, wir haben es mit einem komplexen Konstruktionsverfahren zu tun, das nicht erst in dem Moment einsetzt, in dem die Einzelteile miteinander kombiniert werden. Vielmehr müssen die Beteiligten schon beim Erstellen des Drehbuchs, der Entwicklung eines Storyboards und spätestens bei den Dreharbeiten das endgültige Bild vor Augen haben. Das spätere Ganze ist im Prozess des Erzeugens jedes einzelnen Teils somit schon immer im Sinne eines unterliegenden Skeletts enthalten. Gleichzeitig spielen aber auch der Prozess des
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Zusammensetzens der Einzelteile und deren Abstimmung eine ebenso wichtige Rolle. Die Wirkung – auch die atmosphärische – kann erst hier überprüft werden, denn diese kann nur in aktueller Gegenwart erfahren werden. Das Prinzip der Schichtung, um das es hier geht, ist somit ein hochgradig konstruierendes und inszenierendes. Und wie sich im Folgenden zeigen wird, sind die erwähnten Anforderungen an Compositing nicht eine Erfindung der Filmindustrie, sondern im Wesentlichen schon bei Alberti formuliert.
6.1.3 Das Prinzip der flächigen Schichtung Albertis Werk Della Pittura baut auf dem Prinzip der Schichtung auf. Und Schichtung heißt auch hier nicht allein, die Überlagerung diverser Bildteile zu einem Gesamtbild, sondern eine komplexe Zusammenführung unterschiedlicher Aspekte, die letztlich in ein umfassendes Gesamtwerk übergehen: das „bedeutendste Werk des Malers“ (Alberti 2002: 117, I/33). Bedeutend – aus der Sicht Albertis – ist dieses Werk dann, wenn Kriterien erfüllt sind, die sowohl den Entstehungsprozess, als auch die endgültige Wirkung betreffen. Als gemeinsame Grundlage, so die These, kann vom Prinzip der Schichtung gesprochen werden. Bevor das Prinzip der Schichtung eingeführt wird, sollen noch einmal die drei weiter oben genannten Einschnitte, die die Zentralperspektive für die bildende Kunst gebracht hat, rekapituliert werden: Die Darstellung orientiert sich am wahrgenommen Gegenwärtigen und nicht mehr an Schrift und vorliegender Ikonographie, weil Dinge quasi so abgebildet werden können, wie der Mensch sie sieht. Das zentralperspektivische Bild repräsentiert – ebenfalls auf der Basis dessen, was der Mensch sieht – ein in sich homogenes Ganzes. Und Alberti tritt dafür ein, dass die Malerei als eigenständige Kunstform an Ansehen gewinnt. Als weitreichende Anforderung an den Maler wird hierbei eines deutlich: Weil die Zentralperspektive das gegenwärtig Sichtbare abbildet, wird das Bild davon befreit Schriftersatz zu sein. Doch das gegenwärtig Sichtbare und die normale Lebenswelt tragen erst einmal keine didaktischen oder narrativen Elemente in sich. Damit aber droht eine wichtige Funktion bildnerischer Werke wegzufallen. Alberti setzt sich daher ausführlich (vgl. ebd.: 100-113, II/25-29) dafür ein, dass die Malerei vom Handwerk, das an die Schrift gekoppelt ist, wegkommt und als Kunst anerkannt wird. Dazu muss er einen
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angemessenen Umgang mit der normalen Lebenswelt finden, denn hier findet man erst einmal keine kunstgerechten Motive und Szenarien. Alberti schafft so Konzepte, die sich diesen Veränderungen stellen und Narration, Gegenwärtigkeit und Kunst auf neuartige Weise in einer Form vereinen. Weitsichtig erkennt Alberti diese Herausforderung und ist davon überzeugt, dass die Zentralperspektive unter seiner Anleitung sie meistern kann. Als Umgang mit der eben angeführten Herausforderung, so die These, macht Alberti das Prinzip der Schichtung zu einem essentiellen Teil seiner Konstruktionslehre. Darin lassen sich zwei wesentliche Ansätze ausmachen: Das Prinzip der konstruktionsbedingten Schichtung und das Prinzip der künstlerischen Schichtung. Am Beispiel des filmischen Compositing hat sich gezeigt, dass die Zentralperspektive als geometrisch exaktes Verfahren, die grundlegende Möglichkeit bietet, zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten und mit unterschiedlichen Verfahren entstandene Bilder zu einem homogenen Gesamtbild zusammenzuführen. In der Perfektion verschwinden diese Einzelteile und verschmelzen im Gesamtbild zu einem. Dieses Gesamtbild erlangt so in seiner Zusammenstellung einen eigenen Ausdruck. Die hierzu konstruktionsbedingte Grundlage führt schon Alberti in Della Pittura auf und soll im Folgenden vorgestellt werden. Das Grundprinzip, dem Alberti folgt, ist der Schnitt durch die Sehpyramide. Der Maler betrachtet mit einem starren Auge ein Motiv und erzeugt ein Bild (vgl. Abb. 13: 170). Dieses Bild lässt sich zwischen Auge und Motiv einpassen. Im Ideal ist die Differenz zwischen dem Bild und dem realen Motiv verschwindend klein. An dieser Kurzanleitung fällt auf, dass ein wesentlicher Schritt übergangen wurde, der Transfer von dem sichtbaren Motiv zu einem Bild. Genau für diese Übertragung stellt Alberti ein Verfahren vor.
Abb. 15: Albrecht Dürer: Der Zeichner des liegenden Weibes (1538).
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Als eine Möglichkeit, den Schnitt durch die Sehpyramide auf Papier übertragen zu können, beschreibt er eine Methode, in der der Schnitt mit Hilfe eines Tuchs (velum) materialisiert wird (Alberti 2002: 115, II/31). Der von ihm beschriebene Perspektivapparat dürfte dem Albrecht Dürers in Abb. 15 sehr nahe kommen. Zwischen dem Gegenstand, der gemalt werden soll, und dem Maler wird ein halbtransparentes und mit Gitternetz versehenes Tuch gespannt. Der Maler sucht sich einen festen und immer wieder einnehmbaren Augpunkt. Erst die fixierte Anordnung macht es möglich, dass er zwischen verschiedenen Positionen, zwischen Sehen und Malen wechseln kann. Indem er immer wieder denselben Augpunkt einnimmt, können die jeweiligen Punkte, Linien, Oberflächen des Motivs, über deren Verortung auf der Gitterfläche, auf ein Papier, das ein ebensolches Gitter aufweist, übertragen werden. Alberti begründet hiermit ein Verfahren, das vielfach zur Anwendung kommt und als grundlegende optische Apparatur bewertet werden kann.
Abb. 16: Transportable Camera obscura, die als Zeichenhilfe verwendet wurde (um 1750).
Später kommen auch andere Instrumente für die Herstellung zentralperspektivischer Bilder zur Anwendung. Grundlegend sind der Spiegel und sehr viel später die Camera obscura. Deutlich aber wird, durch dieses Verfahren ist ein Maler flexibel und kann sich seine
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Motive in sein Atelier holen oder sich selber zu ihnen hinbegeben. Was aber auch ganz zentral werden wird, er wird flexibel in Bezug auf seine Gesamtkomposition, da er erst einmal Einzelmotive sammeln kann, die er später zu einem Ganzen zusammenträgt. Tafel für Konstruktion
Tafel A
H b
S
d
A
b b g1
g2
g3
A: Augenpunkt H: Höhe des Menchen
g4
g5
g6
g7
g8
b: braccio g1-g8: braccia auf der Grundlinie g
S: Schnitteben d: Distanz Auge Schnittebene
Abb. 17: Schema zu Leon Battista Albertis zentralperspektivischer Konstruktionslehre.
Das führt über zum zweiten Verfahren, das Alberti in Della Pittura beschreibt. Denn es geht auch darum, dem Maler eine Anleitung darin zu geben, wie er die gesammelten Einzelmotive zusammentragen kann. Hierbei handelt es sich nun um ein rein geometrisches Verfahren. Der Maler kann ein beliebig großes Rechteck zeichnen und dazu einen beliebig großen Menschen einzeichnen (vgl. Abb. 17). Dieser dient dann der Berechnung der Größenverhältnisse für alle weiteren Teile, die in das Bild eingefügt werden (vgl. Alberti 2002: 93, I/19). Das Erstaunliche ist, dass hier das Malen selbst von der Präsenz des zu malenden Gegenstandes abgelöst wird. Erstaunlich ist dies, weil es ja letztlich um die naturgetreue Abbildung geht und nicht um illusionistisch artifizielle Welten, wie sie später das Barock oder gegenwärtig der Film hervorbringen. Deshalb aber braucht es mehr als nur diese zwei handwerklichen Ansätze, letztlich ist das Entscheidende die von Alberti in seinem Traktat später eingeführte Komposition. Bevor aber auf die Komposition eingegangen werden wird, lässt sich hier abschließend festhalten: Die von Alberti eingeführten Hilfsmittel dienen dazu, den Schnitt durch die Sehpyramide zu materialisieren. Das Sehen und der Übertrag des Gesehenen auf ein Bild finden als Weise des Vermessens statt, zu dem das velum als Hilfsmittel eingesetzt werden kann, um Punkte, Linien und Oberflächen eines Motivs in ihren richtigen Proportionen auf ein Stück Papier zu übertragen. Alberti interessiert sich nicht für die Körper-
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lichkeit seiner Motive, sondern lediglich für ihre Oberflächen. Das was auf dem velum sichtbar ist und das was auf ein Stück Papier oder eine Leinwand übertragen werden soll, sind ausschließlich sichtbare Oberflächen. Als wenig überraschendes Fazit stellt sich heraus, dass es nicht nur bei zentralperspektivischen Bildern um den Umgang mit Flächen geht, sondern auch in Bezug auf das natürlich Sichtbare. Des Weiteren zeigt sich, dass Alberti deutlich zwei voneinander unabhängige Vorgänge vorstellt. Der erste Malprozess gilt der Abbildung gegenwärtig sichtbarer Gegenstände. Hier geht es um eine naturgetreue Abbildung. Der zweite Prozess bezieht sich auf die Komposition, in der ein künstlich generiertes Ganzes entsteht, das aus vielen – womöglich unzusammenhängenden – Einzelteilen besteht. Das Erzeugen zentralperspektivischer Bilder ist somit nicht einfach das Abmalen einer ausgesuchten Szenerie, sondern auch ein aufwändiger und mehrteiliger Prozess, um den es im Folgenden gehen wird.
6.1.4 Istoria als Prinzip der Schichtung Das führt über zu dem von Alberti verwendeten Begriff istoria (in der lateinischen Ausgabe historia), der hier mit dem Fokus auf das Prinzip der Schichtung vorgestellt werden soll. In der Literatur wird istoria sehr kontrovers behandelt, weshalb auch nicht die gesamte Diskussion hierzu wiedergegeben werden kann (Grafton 1999, Greenstein 1984 und 1990, Locher 1999, Patz 1986). Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda unternehmen in ihrer Einführung zu Albertis Übersetzung von Della Pittura den Versuch istoria, in seiner von Alberti verwendeten Diversität greifbar zu bekommen. Wie sie nachzeichnen, verwendet Alberti istoria in seinem Text sehr heterogen, was letztlich eine genaue begriffliche Bestimmung so schwierig macht. Eine wesentliche Schwierigkeit dabei ist, dass bei ihm istoria sowohl für das fertige Werk, als auch für den Prozess der Erstellung eines Werkes steht (vgl. Bätschmann 2002: 31f). In Anlehnung an Bätschmann und Gianfreda soll hier istoria als Inszenierung beschrieben werden. Beide übersetzten istoria mit dem Begriff Vorgang und berücksichtigen dabei sowohl den künstlerischen Prozess, als auch das, was dargestellt wird (vgl. Alberti 2002: 187). Im Zentrum dieser Auffassung steht der gesamtheitliche Prozess, der sich von der Idee und der konzeptionellen Ausarbeitung, über die technische Umsetzung bis hin zur Wirkung des
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fertigen Werkes zieht. Inszenierung beinhaltet diese zwei Ebenen von Prozess und Werk, mit all ihren jeweiligen Facetten. Istoria als Inszenierung ist dann die Summe aller Schichtungsprozesse, die in ein bewegtes und bewegendes Werk überleiten und darin in all ihren Anteilen für einen Rezipienten spürbar enthalten sind. Dabei auch enthalten ist der Anspruch, die vermeintlich verlorene narrative Ebene zentralperspektivischer Bilder auf alternative Weise in das Werk einzuarbeiten. Als wohl prägnanteste Aussage zu Istoria benennt Alberti den Anspruch auf das bedeutendste Werk des Malers. Bedeutend ist ein Werk dann, wenn es in seiner Gesamtheit zu überzeugen vermag (vgl. ebd.: 121, II/35). Das heißt zu allererst, die Idee – im Sinne von Erfindung, als auch der inhaltlichen Ausarbeitung – des Malers muss überzeugen. Laut Alberti reicht schon die Erzählung über ein gutes Werk, um von seiner Bedeutung überzeugt werden zu können (vgl. ebd.: 153, III/53). Es müssen aber auch seine handwerklichen Details und seine kompositorische Umsetzung stimmen (vgl. ebd.: 163, III/60,). Als Drittes geht es auch darum, dass der Inhalt des Bildes den Betrachter affektiv zu bewegen versteht (vgl. ebd.: 129, II/40). Entlang dieser Anforderungen soll im Folgenden istoria als Inszenierung und letztlich als wesentlicher Aspekt des Prinzips der Schichtung vorgestellt werden. Zur Kunst wird – in Albertis Sinne – Malerei nicht, weil ein Maler das Schöne der Natur, wie er es mit bloßem Auge sieht, auf handwerklich perfekte Art auf einen externalisierten Bildträger zu übertragen vermag. Zur Kunst wird sie, wenn der Maler auf der Ebene schöpferischer Tätigkeit die Natur zu übertreffen vermag (vgl. ebd.: 101ff, II/25). Das Ziel des Malers muss es sein, die Schönheit der Natur zu übertreffen, ohne dabei in der Erscheinung von der Natur abzuweichen. Er stellt eigenständig Bilder zusammen, was auch heißt, dass er ein Ganzes aus den schönsten Einzelteilen zusammensetzt. „Darum werden wir immer alles, was wir malen wollen, der Natur entnehmen, und stets werden wir die schönsten Dinge auswählen“ (ebd.: 159, III/56), schreibt er, nachdem er ein Beispiel von einem Maler vorgestellt hat, der alle Schönheit einer Frau, nicht in einem Körper zu finden vermochte und deshalb sein Bild aus den fünf Schönsten des Landes zusammenstellte (vgl. ebd.: 157, III/55). Für ein solches Vorgehen ist mehr als handwerkliches Können gefordert. Es geht um einen Prozess, der von einer Idee ausgeht und
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einer Umsetzung, die über handwerkliches Können hinausreicht. Der Maler soll nach einem Vorentwurf Freunde zu Rate ziehen und mit ihnen Idee und ihre Umsetzung diskutieren. Am Ende dieses iterativen Prozesses steht das überzeugende Werk (vgl. ebd.: 165, III/61). Der hier beschriebene Arbeitsprozess, der sich an der Idee festmacht, zeigt den Aspekt der Schichtung auch im Sinne eines Annäherungsprozesses an das endgültige Werk. Die Malerei wird zu einer konzeptionellen Kunst, bei der die Idee und der Prozess einem dem Werk gleichgestellten Stellenwert einnehmen. Ein Bild entsteht weder in der freien Natur, noch entsteht es allein in der stillen Kammer. Es ist dieser Prozess von Erstellen und Verwerfen, den Alberti für das überzeugende Kunstwerk als Notwendigkeit formuliert. An dieser Forderung beteiligt ist der Anspruch nach Naturtreue bei gleichzeitigem Anspruch auf schöpferisch kreatives Übertreffen. „Es geht nicht darum, im Betrachter einen Irrtum hervorzurufen, sondern um das Auslösen eines Vergleichs und eines Urteils: um Überzeugung.“ (Schmeiser 2002: 27). Der Maler, um zu überzeugen, muss aber über die handwerklich überzeugende Umsetzung auch die angesprochen fehlende narrative Ebene in sein Bild integrieren. Damit werden die Idee und die konzeptionelle Umsetzung dieser zu einem ganz fundamentalen Anspruch. Mit ihnen wird die dem späteren Werk eingeschriebene, besser darunterliegende Schicht begründet und erfunden. Als zweiten Schritt innerhalb des Inszenierungsprozesses beschreibt Alberti die konkrete Umsetzung der Idee. Hierbei unterteilt er in drei Arbeitsschritte: Umschreibung, Komposition und Lichteinfall (vgl. Alberti 2002: 113-149, II/30-50). Unter Umschreibung versteht er den Prozess des Erstellens einzelner Motivteile. Die Motive, aus denen sich später das ganze Bild zusammensetzt, werden einzeln gemalt. Dazu wird jedes erfasst, in seine elementaren geometrischen Teile Punkt, Linien und Flächen zerlegt und auf ein Stück Papier übertragen. Im zweiten Schritt, der Komposition, werden diese einzeln vorliegenden Motive zu einem Ganzen zusammengeführt. Im schließlich letzten Schritt geht es darum, Farbe, Lichtwirkung und Schatten der Einzelmotive so anzupassen, dass ein in sich stimmig und homogen wirkendes Gesamtwerk entsteht. Malen wird so zu einem Prozess, bei dem es um das Erstellen, Zusammenstellen und Angleichen geht. Ziel dieses Prozesses ist
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die konkrete Inszenierungsarbeit, an deren Ende ein überzeugendes homogenes Ganzes steht. Wir haben es hier also mit einem sehr direkten und materiellen Schichtungsprinzip zu tun, in dem nicht nur Punkt, Linie und Fläche als von einem velum abgreifbare Elemente, sondern auch voneinander unabhängige Einzelmotive zu einem Ganzen übereinander und nebeneinander geschichtet werden. Für den Prozess des Malens bedeutet das, im Umgang mit den Einzelmotiven, schon das Ganze im Bewusstsein zu haben. Den Zusammenhang zwischen dem Einzelnen und Ganzen stellt Kristine Patz in ihrem Text Zum Begriff der ‚Historia‘ in L. B. Albertis ‚De Pictura‘ (Patz 1986) her, indem sie die Parallelen von Albertis Traktat zu Rhetoriken aufzeigt. Vor allem im Gesamtaufbau seines Textes und der darin enthaltenen Unterteilung und Gliederung sei eine Anlehnung an Rhetoriken deutlich angelegt. Dispositio oder ordo bedeuten für Alberti ähnlich wie in der Rhetorik die Aufteilung und Anordnung alles Einzelnen in der Art, daß diese sowohl sich selbst als Teil darstellen als auch den Zusammenhang als das entwickelte Ganze ergeben. (Ebd.: 274)
Anders als in der herkömmlichen Rhetorik hantiert der Maler mit Punkten, Linien und Flächen sowie Licht, Schatten und Farbe. Dennoch sind seine Ziele ähnlich. Denn nicht auf das handwerklich geschickte Zusammenführen von Einzelmotiven zu einem Ganzen allein kommt es an, sondern letztlich um einen schöpferischen Prozess, an dessen Anfang die Idee und an dessen Ende das „bedeutendste Werk des Malers“ (Alberti 2002: 117, I/33) steht. Dieses Ganze – und damit kommt man zur Wirkungsästhetik – hat eine von seinen Einzelteilen losgelöste Ausstrahlung, Stimmigkeit und Aussagekraft. Das führt zum letzten Aspekt von istoria als Inszenierung, der Wirkung des Kunstwerkes. Eine affektive Wirkung erzielt man laut Alberti vor allem mit „Fülle und Mannigfaltigkeit der Dinge“ (ebd.: 129, II/40). Unter Fülle versteht er eine Vielzahl an Personen, Tieren, Gebäuden und Dingen, die in ein Bild eingefasst sind und dort inszeniert werden. Für diese Inszenierung gibt Alberti Regeln aus. Die Fülle muss immer in Grenzen gehalten werden und Würde und Anstand besitzen (vgl. ebd.). Was die Personen in den Bilder angeht,
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so übernehmen sie eine ganz zentrale Stellung. Sie sind es, die über Bewegung dem Szenario seine Lebendigkeit verleihen und es für einen Betrachter interessant machen. Er beschreibt dies in zweifacher Weise als körperliche Bewegung und affektive Bewegtheit (vgl. ebd.: 135, II/43). „Ferner wird ein Vorgang [istoria] dann die Seele bewegen, wenn die dort gemalten Menschen ihre eigenen seelischen Bewegungen ganz deutlich zu erkennen geben“ (ebd.: 131, II/41). Böhme entwickelt hierzu in Abgrenzung zu herkömmlichen Dingontologien den Ansatz der Ekstasen (vgl. Böhme 1995: 33). Dabei wird die Anwesenheit von Dingen nicht nur über ihre sichtbaren Flächen erfahren, sondern ihre Ausstrahlung oder Ekstasen. Ekstase bei Böhme bezeichnet „das, wodurch sich Dinge als anwesend bemerkbar machen“ (Böhme 2001a: 131). Es ist das „Aus-sich-Heraustreten“ (ebd.) im räumlichen Sinne, die nicht körperliche Erscheinung des Dings. Auch wenn bei Alberti dieser Begriff selbst nicht auftaucht, so ist er dennoch als Anspruch präsent, weshalb er hier auch verwendet werden soll. Der Maler, so Albertis Ideal, erzeugt mit der Komposition eine würdevolle Fülle, in der körperliche und affektive Bewegung der dargestellten Personen als Ektasen spürbar werden. Das Gemälde schafft es so, eine narrative Ebene zu erzeugen, auch dann, wenn die Szene der zentralperspektivischen Konstruktionslehre gehorcht. Hierbei werden mit der kompositorischen Arbeit, mit der die besagte Fülle erzeugt wird, und der handwerklichen Fertigkeit, die es garantiert, dass die Personen in ihrer Bewegung überzeugend in Erscheinung treten, spürbare und aus dem Bild heraustretende Ektasen erzeugt. Es ergibt sich so eine weitere Schicht, die nicht materiell ist, dafür aber atmosphärisch. Doch als solche tritt sie erst dadurch in Erscheinung, dass der Maler schöpferisch tätig war und die Natur zu übertreffen vermag. Es reicht nicht allein die naturgetreue Abbildung. Gerade für die Renaissance ist das wichtig, weil hier die im ersten Teil dieser Arbeit beschriebene Differenz zwischen Wirklichkeit und Realität konzeptionell noch nicht vorgesehen ist. Umso deutlicher muss die affektive Wirkung des Bildes für den Betrachter zur Wirkung kommen, damit vom bedeutendsten Werk des Malers gesprochen werden kann. Die Zentralperspektive schafft so einen Schnitt durch den Raum, obwohl es sich um eine bildliche Darstellung handelt. Alberti unterscheidet dabei aber noch nicht zwischen
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bewegt im Sinne von tatsächlichem Handeln und bewegt als spürbare Ektasen von Bildern. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Unter istoria als Inszenierung ist neben dem vollkommenen Bild mit seiner beabsichtigten und tatsächlichen Wirkung, auch dessen Herstellung, der Prozess dahin, zu verstehen. Nicht aber als drei voneinander losgelöste Aspekte, sondern als deren perfektes Zusammenspiel, wie es auch Bätschmann und Gianfreda in ihrem Vorwort zu Della Pittura beschreiben. Zu einer istoria wirken Komposition und Erfindung zusammen für ein großes Gemälde, das eine zusammenhängende Szene mit menschlichen Figuren in körperlicher und seelischer Bewegung in einem Raum zeigt. Die Wirkung dieser opera oder dieses Gemäldes ist dreifach: die Betrachter werden durch das Thema belehrt, durch die Affekte bewegt und durch die Schönheiten erfreut. (vgl. Bätschmann 2002: 31f)
Bewirkt wird dies durch einen komplexen Prozess des Schichtens, der über das handwerkliche und materielle Überlagern von Bildern hinausreicht. Auf ganz unterschiedlichen Ebenen werden bildliche, produktions- und auch konstruktionsspezifische Aspekte im kompositorischen Vorgang überlagert. Viele der Schichten sind direkt im Bild sichtbar, nämlich die Gesamtkomposition aus Punkten, Linien und Flächen. Andere Schichten ergeben sich aus einer Licht-, Schatten- und Farbzusammenstellung, die dem Bild seine Homogenität verleihen. Andere Schichten wiederum verschwinden nach Fertigstellung aus dem Bild, wie das zur Konstruktion notwendige Gitternetz. Aber auch die Schichten, die mit der Idee und dem konzeptionellen und langwierigen Prozess verbunden sind, materialisieren sich nicht direkt greifbar im Bild, sondern sind als unterliegende Schichten Teil des Gemäldes. Andere Schichten wiederum werden von den Betrachtern nur über die Wirkung, die Ekstasen gespürt. Sie ragen über die materielle Oberfläche des Gemäldes heraus und betreffen den Betrachter affektiv. Wichtig innerhalb dieses Schichtungsprozesses ist, dass alle diese Schichten einen gleichwertigen Stellenwert besitzen. Gemeint ist das im Sinne ihrer Präsenz im Bild. Denn sowohl das Abbild einer Frau, wie die durch sie vermittelte Idee und narrative Ebene, als auch
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die durch ihre Bewegtheit erzeugte affektive Wirkung, sie alle sind innerhalb damals vorherrschender Raumkonzepte und der eben beschriebenen Dingontologie tatsächlich stofflich im Bild vorhanden. Und so werden – als anschaulichstes Beispiel – die Ekstasen stofflich gedacht, sie treten aus dem Bild heraus und berühren den Betrachter. Auch würde sich die Wirklichkeit eines Gemäldes nicht von der inszenierten Wirklichkeit eines mit dem Gemälde identischen, real existierenden Szenarios unterscheiden. Denn auch hier ist konzeptionell die Wirklichkeit als spürbare Atmosphäre stofflich im Raum vorhanden.
6.1.5 Der geschichtete Raum Das Prinzip der Schichtung wurde bislang als eines eingeführt, das vor allem die Konstruktion und Inszenierung eines zentralperspektivischen Bildes betrifft. Soeben wurde die in Abschnitt 6.1.1 formulierte These wiederholt, dass in den Anfängen der Zentralperspektive die Differenz zwischen dem leibhaftigen Sehen und dem Sehen eines zentralperspektivischen Bildes konzeptionell noch nicht vorgesehen ist. Für die Konzeption des Schnitts durch die Sehpyramide bedeutet das, dass sich das Bild als ein solcher Schnitt und der abstrakt im natürlichen Sehen gezogene Schnitt, in ihrer konzeptionellen Qualität und ihrer Wahrnehmung nicht voneinander unterscheiden. Aber, wie gerade angesprochen, diese Betrachtungen zielen bislang ausschließlich auf das von Alberti anvisierte Gemälde ab. Bisher noch nicht thematisiert wurde die Frage nach der Konzeption der räumlichen Konstellation, die mit der Konstruktion des zentralperspektivischen Bildes einhergeht. Bei der in Abschnitt 6.1.3 vorgestellten Apparatur (vgl. Abb. 15: 177), die zur Materialisierung des Schnitts das velum verwendet, haben wir es deutlich mit einer räumlichen Anordnung zu tun. Doch vertieft man den Aspekt des räumlichen an dieser perspektivischen Apparatur, wird schnell deutlich, dass der Raum als spatium hier so gut wie keine Rolle spielt. Der Vorteil dieses Verfahrens ist gerade der, dass die Größe der gewählten Schnittfläche und ihre Entfernung vom Augpunkt des Malers variabel sind. Wichtig ist das Gitter. Der Abstand zwischen Maler und Schnittfläche und zwischen Schnittfläche und Motiv spielt hingegen keine konstruktive Rolle. Das, was das fixierte Auge zu sehen bekommt, ist vielmehr eine flächige Projektion des Motivs, das mit Hilfe des Gitters in seinen richtigen Pro-
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portionen auf ein Papier übertragen werden kann. In der Terminologie des letzten Abschnitts ausgedrückt: Der Raum, wie es scheint, schrumpf zu einer flächigen Schichtungsebene zusammen. Dass diese Auslegung – aus der Sicht Albertis – gar nicht ganz so falsch ist, soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden. Dabei geht es nicht nur um den Raum als geschichteten Raum, sondern auch um die Frage, wie die von Alberti angewandte Sehtheorie und Teilaspekte damals vorherrschender Raumkonzepte durch die Konstruktionslehre der Zentralperspektive auf neuartige Weise aufeinandertreffen. Und zwar in der Weise, dass das Sehen, das sich bis dahin rein auf die natürliche Anschauung bezieht, jetzt bis zu einem gewissen Grad abstrakt wird, um letztlich in den geschichteten Raum integriert werden zu können. Als Alberti im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts Della Pittura zu Papier bringt, stützt sich sein Weltbild auf eine Auffassung von Raum, die nur wenig mit der heutigen gemeinsam hat. Max Jammer haben wir es zu verdanken, dass uns mit seinem Buch Das Problem des Raums (Jammer 1980) eine Entwicklungsgeschichte der Raumvorstellungen von der Antike bis Anfang des 20. Jahrhunderts vorliegt. Jammer zeichnet darin deutlich nach, dass bis ins 17. Jahrhundert hinein das aristotelische Raumkonzept vorherrschte und die Vorstellungen weit von denen eines absoluten Raums und eines Raums als spatium entfernt waren. Da im Rahmen der folgenden Ausführungen, nicht ein vollständiges Verständnis zum aristotelischen Raumkonzept und seiner über die Jahrhunderte zahlreichen Kritiken nötig ist, sollen nur wenige Aspekte fokussiert werden und dabei auch nur solche, die zur Zeit Albertis von Relevanz sind (näheres Jammer 1980). Das aristotelische Weltbild basiert auf der natürlichen Wahrnehmung des Menschen. Apparaturen wie Fernrohr oder Mikroskop, die direkt die sinnliche Wahrnehmung und damit auch das Denken verändern, tauchen erst Anfang des 17. Jahrhunderts auf. Alle anderen zur Zeit Albertis bekannten optischen Apparaturen und Artefakte, wie Spiegel, Camera obscura oder das beschriebene velum gehen von einem Sehen mit dem bloßen Auge aus. Das Maß aller Wahrnehmung ist somit der Raum leiblicher Anwesenheit und die natürliche Wahrnehmung darin. Für das Sehen bedeutet dies, dass die natürliche Sinneswahrnehmung und somit das von Hans Blumenberg beschriebenen „Sichtbarkeitspostulat“ (Blumenberg
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1980: 15) die Anschauung von Welt maßgeblich bestimmt. Sichtbarkeit geht dabei aber nicht allein von einem singulär sehendenden Auge aus, sondern von der Stofflichkeit der Welt, die leiblich spürbar ist, worin Sehen einen Teil einnimmt. Für Theorien und Konzepte heißt das, dass sie an der natürlichen Wahrnehmung ansetzen und sich die Bereiche, die darüber hinausreichen, wie beispielsweise der Himmel, von diesen ableiten. Abstraktion und hypothetische Ansätze werden dabei immer im Dialog mit Religion und deren Autoritäten abgestimmt. Dabei spielt die einst von Aristoteles vehement vertretene Meinung, es gäbe keinen leeren Raum, eine ganz zentrale Rolle: Alles ist stofflich (vgl. Jammer 1980: 19ff). Eine hieran anschließende Definition von Ort (Raum) bezieht sich auf einen Ansatz, der bis ins 17. Jahrhundert präsent ist und nur selten vollständig verworfen wird. Die „Autorität des Aristoteles [ist] zu groß“ (vgl. ebd.: 75). Raum, so die weitreichende Definition, ist die innere Grenze eines einschließenden Körpers (vgl. ebd.: 17f). Raum ist eine kontinuierliche Angrenzung von stofflichen Quantitäten. Jammer schildert zur Veranschaulichung dieser Definition eine solche Bewegung von Angrenzungen, die beim Seemann beginnt und der äußersten Himmelssphäre ihr Ende findet: Der Platz des Seemanns ist das Boot, das Boot selbst ist im Fluß, und der Fluß ist im Flußbett, und dieses ruht wiederum relativ zur Erde und damit zugleich gemäß der zeitgenössischen Kosmologie zum Universum als einem Ganzen. Für die Astronomie mit ihren kreisenden Sphären muß das Bezugssystem noch weiter verallgemeinert werden; er führt dann zum endlichen Raum des Universums, das durch die innere Grenze der äußeren Sphäre begrenzt ist, die selber nicht in einem weiteren Begrenzendem enthalten ist. (Ebd.: 17)
Wie sich zeigt hat jedes (in Ruhe befindliche) Element dieser Welt im Rahmen dieses Raumkonzeptes einen Ort, der von Flächen begrenzt wird und mit diesen immer an einen anderen Ort angrenzt und wenn es die Luft ist. Weil es eben keine Leere gibt und alles stofflich ist, geht das Raumkonzept des Aristoteles davon aus, dass „Raum eine kontinuierliche Quantität“ (Aristoteles: Kategorien: 5a 8-14, zitiert nach ebd.: 16) ist, in der die äußeren und die inneren Oberflächen von Körpern aneinanderstoßen. Raum ist so kein volu-
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menartiger unendlicher und leerer Container, der durch Körper darin und Ausdehnung beschrieben werden kann. Vielmehr ist Raum – in Anlehnung an die anfangs erwähnte These – ein geschichteter Raum, von aneinanderstoßenden äußeren und inneren Oberflächen von Körpern. Hinter jeder sichtbaren Oberfläche findet sich ein weiterer angrenzender Ort. Und vor jeder sichtbaren Oberfläche findet sich transparente Materie, wie Luft oder Wasser, die eine weitere – wenn auch unsichtbare – Schicht bildet. Problematisch und über die Jahrhunderte hinweg vielfältig diskutiert, wird das aristotelische Raumkonzept, wenn es um zwei Faktoren geht: Bewegung und den Ort der äußersten Sphäre (vgl. hierzu vertiefend Jammer 1980: 55ff). Beides sind Themen, auf die hier nicht eingegangen werden muss, weil sie für die eigentliche Betrachtung der Zentralperspektive keine relevante Rolle spielen. Die äußere Himmelssphäre kann hierzu kommentarlos übergangen werden, dagegen lohnt es sich, noch einmal genauer auf die Bewegung zu schauen. Der Vorteil der Zentralperspektive in Bezug auf das aristotelische Raumkonzept ist ja, dass sowohl der Maler als Betrachter gegenüber seinem Motiv in Ruhe versetzt wird, wie auch der Maler notgedrungen seine Motive unbewegt auf Papier oder Leinwand bannen kann. Die weiter oben beschriebene Bewegung betrifft somit lediglich die affektive Wirkung des Bildes, in der insbesondere Menschen als in Bewegung befindlich erscheinen sollen. Im Umgang mit den Motiven, in ihrer Inszenierung und Komposition, wird ihnen ein fester Ort zugeordnet, der ganz dem Prinzip der räumlichen wie flächigen Schichtung entspricht.
6.1.6 Der Schnit t durch die Sehpyramide und der Schnit t durch den Raum Nachdem das Raumkonzept des Aristoteles‘ als das eines geschichteten Raums eingeführt wurde, lässt sich auch zeigen, inwieweit der von Alberti entwickelte Schnitt durch die Sehpyramide mit diesem Konzept korreliert. Zuvor aber geht es darum, Albertis Ansatz und seinen Umgang mit Sehtheorien vorzustellen. Alberti nähert sich dem Schnitt durch die Sehpyramide von zwei Seiten. Er arbeitet den Stellenwert von Flächen und der Sehpyramide heraus. Die Fläche – als Motiv – verortet er auf einer vertikalen Ebene, der der Maler sich gegenüber befindet. Die Sehpyrami-
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de hingegen, als Blick des Malers, durchschneidet horizontal den Raum und schafft eine Verbindung zwischen Maler und Motiv. Damit ist die Grundorientierung benannt. Punkt
Fläche
Linie
Flächen des Motivs
Komposition des Motivs
Abb. 18: Albertis geometrischer Ansatz.
Als erste Annäherung orientiert sich Alberti an der Fläche, wofür er auf Euklids Geometrie zurückgreift. Hierbei arbeitet er sich vom Punkt über die Linie zur Fläche. Als nächsten Schritt wendet er sich dem Motiv zu und beschreibt eine einzelne sichtbare Fläche eines möglichen Motivs, um dann von den diversen Flächen, die das einzelne Motiv haben kann, auf ein Gesamtwerk zu kommen. In der zweiten Annäherung beruft er sich ebenfalls auf Euklid und dessen Sehtheorien, die schon im Mittelalter Gültigkeit besaßen und allgemein anerkannt waren (vgl. Lindberg 1987: 273) und konzentriert sich auf die Sehpyramide. Im Sehen spannt sich eine Sehpyramide zwischen Auge und dem Gesehenen auf. An einem Ende, dem Auge, laufen alle Sehstrahlen punktförmig zusammen. Am anderen Ende befindet sich die Basis der Sehpyramide. Dort treffen die Strahlen auf, „an diesem Ort schlagen sie mit ihren Spitzen ein und haften zutiefst fest“ (Alberti 2002: 73, FN 7). Wie sich erahnen lässt, sind sowohl die Sehpyramide, wie auch die Seh-
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Abb. 19: Schematische Darstellung der Sehstrahlen.
strahlen stofflich konzipiert. Die Sehpyramide ist ein Körper und die Sehstrahlen vergleicht Alberti mit Fäden, die sich von einem als Knoten beschriebenen Ende im Augeninneren zu den Flächen der gesichteten Gegenstände erstrecken (vgl. ebd.: 73, I/5). C
mittlerer S
D
ehstrahl
Zentralstrahl hstrahl äußerer Se B
A
Abb. 20: Die drei Sehstrahlen nach Alberti.
Für die Sehpyramide unterscheidet Alberti zwischen drei Sehstrahlen: den äußeren, die den Rand (Saum) der gesichteten Fläche erfassen, die mittleren, die jeden einzelnen Punkt auf der Fläche einschließlich seiner Farb- und Lichtwerte ans Auge herantragen. Als wichtigsten beschreibt er zum Schluss den Zentralstrahl, mit dem Alberti seine gesamte Theorie des Schnitts durch die Sehpyramide zusammenführt (vgl. ebd.: 71-79, I/5-8). Davon ausgehend, dass jede sichtbare Fläche eine eigene Sehpyramide aufspannt und jede Seh-
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pyramide ganz unterschiedlich verlaufende Sehstrahlen hat, kommt es auf den Zentralstrahl als Einheitsstrahl an, weil dieser als einziger orthogonal zur Abbildfläche verläuft (ebd.: 77ff, I/8). Fügt man nun in einem Gemälde alle sichtbaren Flächen zusammen, so steht der Zentralstrahl im Zentrum der Sehpyramide, die der Gesamtkomposition eines zentralperspektivischen Bildes zugrunde liegt. Über diesen einen Zentralstrahl lassen sich alle in einem Bild vorhandenen Sehpyramiden vereinen. Das heißt jede sichtbare Oberfläche eines Motivs spannt eine je spezifische Sehpyramide auf. Erst der Zentralstrahl garantiert, dass alle diese Sehpyramiden miteinander vereint werden können. Das geht deshalb, weil er orthogonal auf jeder im Bild enthaltenen Einzelfläche steht und orthogonal auf dem Gesamtbild und damit zum Schnitt durch die Sehpyramide. Da wir nun sehen, dass es nur eine einzige Fläche ist, sei es Wand oder Tafel, auf der ein Maler sich um die Darstellung mehrerer Flächen bemüht, die in der Pyramide enthalten sind, wird es ihm nützlich sein, diese Pyramide irgendwo zu durchschneiden, damit er durch seine Linien ähnliche Säume und Farben im Malen zum Ausdruck bringen kann. Wenn sich dies irgend so verhält, wie ich gesagt habe, sieht jeder, der ein Gemälde betrachtet, eine bestimmte Schnittfläche durch die Pyramide. Daher wird ein Gemälde nichts anderes sein als die Schnittfläche durch die Sehpyramide, die gemäß einem vorgegeben Abstand, einem festgelegten Zentralstrahl und mit bestimmter Beleuchtung auf einer gegebenen Fläche mit Linien und Farben kunstgerecht dargestellt ist. (Ebd.: 85, I/12)
Ins Auge fällt, dass Alberti in seinen zentralen und hier zitierten Ausführungen zur Perspektive nicht vom Sehen her, sondern von der Malerei, im Spezifischen vom Bild aus argumentiert. Dafür verantwortlich ist der Zentralstrahl. Denn mit diesem wird jede sichtbare Fläche eines Motivs zu einer Flächenprojektion. Die Lage der Fläche im Raum spielt dabei keine Rolle, auch spielt der jeweilige Abstand der äußeren Sehstrahlen zum Auge keine Rolle. Eine sich räumlich nach hinten erstreckende Fläche, wird auf eine virtuelle Horizontebene aufgespannt. Doch diese Ebene steht mit dem Motiv oder seiner direkten Umgebung nicht in Verbindung. Vielmehr ist sie einzig mit dem Auge des Malers und da vor allem mit dem Zentralstrahl verbunden. Die von der Sehpyramide aufgespannte Basis
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und die abzubildende Fläche liegen so in ganz unterschiedlichen Ebenen. Zur Veranschaulichung sollen diese Zusammenhänge noch einmal an einem Beispiel verdeutlicht werden: Gehen wir von einem Setting und zwei unterschiedlichen Personen aus. Beide Personen befinden sich jeweils in einem Zimmer, in dem ein Tisch an einer Wand steht, auf dem ein Würfel liegt. Die erste Person, eine Person unserer Zeit, steht mit einem gewissen Abstand zu diesem Tisch und betrachtet ihn. Sie ist über das Modell der Sehpyramide informiert. Auf die Frage nach der Länge der Sehstrahlen antwortet sie, dass jeder Strahl eine eigene Länge hat, da ja alle sichtbaren Punkte, Linien und Oberflächen der Wand, des Würfels oder des Tisches von seinem Auge unterschiedlich weit entfernt sind. Würde man nun Alberti in diesen Raum stellen und ihn vom selben Punkt aus blicken lassen, würde er vor dem Tisch eine virtuelle vertikale Ebene einziehen und alle Punkte der Sehstrahlen auf ihr platzieren. Alberti interessiert sich nicht für den Aspekt der Entfernung der Gegenstände und ihrer Tiefe, er interessiert sich nur für das Abbild und legt dafür diesen ebenen Schnitt fest, zu dem der zentrale Sehstrahl orthogonal steht. Er vermittelt seinen Lesern, dass sich Sehen nicht zwischen dem Auge und einem Gegenstand abspielt, sondern zwischen dem Auge und dem was man vermeintlich sieht, einer ebenen Fläche. Ein Selbstversuch mit nur einem offenen Auge führt zu mehr Klarheit: Der Mensch sieht tatsächlich, physiologisch gesehen, pro Auge eine Projektion auf einer Fläche, auf der Netzhaut. Die Sehtheorien jener Zeit und somit auch Alberti kannte die Netzhaut noch nicht. Sie verorten das Sehen zwischen Auge und den gesehenen Gegenständen, Alberti verortet es als Schnitt durch die Sehpyramide. Nachvollziehbar wird diese Herangehensweise auch, weil man ja nicht einzelne Gegenstände sieht, sondern immer ein Gesamtensemble. Ich sehe ja nicht einen Tisch, eine Wand oder einen Würfel, sondern immer alle sichtbaren Flächen dieser Gegenstände innerhalb eines Gesamtensembles. Von diesem Gesamtensemble geht Alberti aus, er beschreibt es als Schnittfläche, die zwischen Ensemble und dem Betrachter aufgespannt werden kann und setzt es mit dem Bild gleich. Die Besonderheit mit der Alberti seine Zeitgenossen überrascht und auf der die Entdeckung der Zentralperspektive basiert, ist die
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Zusammenführung dieser zwei orthogonal zueinander stehenden Ansätze von vertikaler Fläche und horizontalen Sehstrahlen. Das was sein Konzept darin auszeichnet ist, dass er von den Einzelmotiven ablässt und sich auf das Gesamtensemble bezieht. Das geht aber nur deshalb, weil er diese virtuelle Fläche, den Schnitt durch die Sehpyramide im Raum platziert. Wie gerade aufgezeigt, lässt er sich dabei ganz von seiner empirischen Erfahrung leiten und entdeckt ohne es zu wissen das Netzhautbild. Diesem (aus heutiger Sicht) Fehler, das Netzhautbild außerhalb des Auges zu verorten, verdankt seine Zeit die Erfindung der Zentralperspektive. Denn erst so wird es möglich, die Orte, aus deren Summe sich ein Gemälde ergibt, in einen homogenen Einheitsraum zu integrieren. Doch dabei rückt die symbolische Aussagekraft der Einzelorte in den Hintergrund. Vor allem aber kommt damit nicht nur das Neue ins Spiel, sondern letztlich findet ein erster Schritt in eine räumliche Abstraktion statt: Der Schnitt durch die Sehpyramide ist als solcher nicht tatsächlich vorhanden, sondern eine virtuell abstrakte und geometrische Konstruktion Albertis und zukünftig jedes Malers. Damit werden Sehen und Sehtheorien aus dem Sichtbarkeitspostulat herausgerückt. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, warum – wie es Haß ausdrückt – in der Renaissance das zentralperspektivische Bild als „Herstellung dieser Räume für den Betrachter“ (Haß 2005: 87) erfahren wird. In der konkreten Verortung der Sehtheorien innerhalb dieses geschichteten Raums durch den Schnitt, werden Sehen und Bild gleichrangig. Die Wirklichkeit dessen, was man sieht, und die Wirklichkeit des Gemäldes unterscheiden sich deshalb nicht, weil die Realität für beide quasi identisch ist. Durch die Voraussetzung, dass alles im Raum stofflich ist, sind die Farbpartikel und Lichtwerte, die die Sehstrahlen an das Auge des Malers herantragen, identisch mit denen, die sich auf dem Schnitt durch die Sehpyramide zeigen, die somit der Maler auf eine Leinwand übertragen kann. Die durchgängige Stofflichkeit, von der der damalige Raum bestimmt wird, lässt Bild und Raum, Wirklichkeit und Realität als eins erscheinen. Der Schnitt durch den Raum basiert im Rahmen dieser Konzepte noch gänzlich auf dem Raum leiblicher Anwesenheit als einem stofflich gefüllten. Die Transformation der Stofflichkeit, auf der die Malerei aufbaut, wird, wie es Alberti veranschaulicht, als künstlerischer Prozess sehr ernst genommen. Für die Konzepte von Wahrnehmung und Sehen rückt sie hingegen in den Hintergrund, weil die Natürlichkeit zentralperspektivischer Abbildungen es nicht
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möglich macht, Rückschlüsse auf den Ursprung der Stofflichkeit zu ziehen. Wahrgenommen und letztlich auch abgebildet werden die Partikel, die zwischen Auge und Gegenstand präsent sind.
6.1.7 Erste Abstraktionen des Sehens Albertis Einführung des Schnitts durch die Sehpyramide basiert einerseits auf der empirischen Erfahrung des Netzhautbildes, die jeder für sich überprüfen kann, Alberti selbst aber noch nicht kannte. Gleichzeitig widerspricht der Schnitt als virtueller den zur Zeit Albertis vorherrschenden Vorstellungen von Raum. Raum und alles in ihm ist stofflich, dieser Schnitt hingegen bedarf einer Hilfskonstruktion und eines abstrakt geometrisch fundierten Übertrags, um greifbar zu werden. Mit dem Schnitt wird somit eine erste Abstraktion in das eigentlich abstraktionsfreie Sehen eingebracht. Alberti löst diesen Widerspruch für sich auf eine sehr einfache Art und Weise, er beschreibt die Zentralperspektive und darin die verwendeten Sehtheorien nicht vom Sehen her, sondern immer vom Bild. Er verstofflicht die Abstraktion, um die es im Folgenden gehen wird. Als Besonderheit des letzten Abschnitts ergibt sich, dass Alberti vom Bild auf vorhandene Sehtheorien Rückschlüsse zieht und nicht umgekehrt über die Sehtheorie auf das Bild. In allem, was er scheinbar elementar entwickelt, vom Punkt beginnend über die Linie, zur Fläche und zum Körper der Sehpyramide und dessen Schnitt, das Bild ist immer schon enthalten. Vielleicht ist es ein nur nebensächliches Indiz, aber Albertis Theorie geht trotz Anlehnung an die optische Theorie Euklids nicht vom dem dort beschriebenen Sehkegel aus. In seinen sieben Postulaten nennt Euklid als körperliche Ausprägung des Sehens den Sehkegel (Lindberg 1987: 37). Alberti formt diese grundlegende Voraussetzung für seine Zwecke um. Und da es nun mal um das rechteckige Abbild geht, muss auch das Sehen als rechteckiges organisiert werden. Lindberg hält diese Interpretation für nicht zutreffend. Pyramis sei im Mittelalter als Standardausdruck für eine geometrische Figur verwendet worden, deren Basisform offen war (ebd.: 459, FN 8/8). Doch diese Aussage scheint etwas widersinnig, da ja Alberti niemals Zweifel aufkommen lässt, welche Form die Basis der Sehpyramide hat, sie ist eindeutig rechteckig. Ausgehend von der Physiologie des Auges erscheint das als nicht ganz selbstverständlich. Warum sollte von einem runden
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Auge ausgerechnet eine rechteckige Sehpyramide ausgehen? Selbst wenn die Netzhauttheorie zur Zeit Albertis noch nicht ausgeformt ist, spricht nur wenig für eine rechteckige Grundfläche, außer die von Alberti für seine Zwecke sinnstiftende Entscheidung vom Bild auf die Sehtheorie zurückzuschließen und nicht von der Sehtheorie zum Bild zu gelangen. Was mögen wohl die Gründe für seinen Weg sein? Wozu muss die Sehtheorie auf das Bild zugeschnitten werden, wenn er doch eigentlich auch an Hand der Sehtheorien auf das Bild hätte kommen können? Ein Grund dafür könnte sein, dass der Schnitt durch die Sehpyramide für sich genommen ein abstraktes Konstrukt ist und als Erfahrung im Raum so nicht erfahrbar ist. Der gelebte Raum ist ein bewegter. Die Augen sind darin nicht fixiert, wie das aufgezeigte Verfahren für das velum erfordert. Der Schnitt durch die Sehpyramide geht von einem starren Auge aus, was unserem Sehen widerspricht und für die zentralperspektivische Konstruktion selbst nur mit Hilfe einer Apparatur erfahrbar ist. Deshalb muss dieser Schnitt greifbar werden. Hinzukommt, dass Alberti bis zu einem gewissen Grad mit seinem Ansatz das aristotelische Raumkonzept verlässt, weil er nicht von vorhandenen Körpern ausgeht, sondern mit seinem Schnitt eine virtuelle Fläche in den Raum setzt. Für das Sehen mag das kein Problem sein, wie gerade angeführt. Aber für das aristotelische Raumkonzept stößt er hier an gewisse Grenzen. Auch wenn es sich bei Aristoteles um ein flächig orientiertes Raumkonzept handelt, sind die Gegenstände doch immer noch Körper, die eine Ausdehnung in drei Dimensionen haben und stofflich sind. Sein Schnitt selbst ist aber abstrakt. Das wird auch der Grund sein, warum er vom Bild ausgehen muss, warum Mittel wie das velum nicht nur den Vorgang selbst vereinfachen, sondern auch die Anschauung. Denn durch diese materialisiert sich der Schnitt, der ansonsten abstrakt bleiben müsste. Würde er nicht vom Bild ausgehen, wäre kein äußerer Saum, keine Rahmung für die das Gesamtbild umfassende Sehpyramide vorhanden. Erst über die Rahmung oder ein Gitternetz existiert die Schnittfläche, bekommt die Sehpyramide einen Saum und wird zu einer greifbaren, quasi körperlichen Fläche. Genau das ist die Voraussetzung dafür, dass ein Maler sie in ein Verhältnis zu anderen Bildflächen setzen kann und so auch in ein Bild einbringen kann.
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Vielleicht ist das auch der Grund, warum Albertis Konstruktionslehre das Bild implizit schon immer in sich trägt, weil nämlich der Schnitt als abstrakter nicht in das Konzept eines durch und durch mit Seiendem erfüllten Raum einhergeht. Die Materialisierung des Bildes auf einer Leinwand oder Wand fungiert als Manifestierung des Schnitts durch die Sehpyramide und verhilft so dem an sich ortlosen abstrakten Schnitt im Sinne des aristotelischen Raumkonzeptes zu einem eigenen Ort. Das Bild und die Schichtung von Bildern werden Träger eines geschichteten Raums, der noch lange nicht als homogener Tiefenraum erfahren wird. Vor diesem Hintergrund rückt Albertis wohl berühmtester Vergleich des zentralperspektivischen Bildes mit einem finestra aperta, offenstehenden Fenster (Alberti 2002: 93, I/19) in ein gänzlich anderes Licht. Nicht mehr um eine immaterielle Durchsicht geht es, sondern um den Schnitt, der nur dann existent ist, wenn er eingegrenzt und verstofflicht wird. Alberti bekräftigt diesen Gedanken, wenn er als Konstruktionshilfe vorschlägt, ein „rechtwinkliges Viereck von beliebiger Größe“ (ebd.) zu zeichnen, um den Saum der Schnittfläche durch die Sehpyramide festzulegen. Es geht ihm um die notwendige Rahmung eines Bildes und der Sehpyramide. Das wird auch weiter vorne in seinem Text deutlich, wenn er den Schnitt durch die Sehpyramide mit einer „Fläche aus durchsichtigem Glas“ (ebd.: 83f, I/12) vergleicht. Die Materialität des Schnitts ist immer Teil seines Denkens, vor allem aber braucht er greifbare Beispiele, die in ihrer Ausdehnung endlich sind und somit einen festgelegten Bereich eingrenzen. Denn der Schnitt im Sinne Aristoteles hat nur dann einen Ort, wenn er stofflich existiert. Zusammenfassend lässt sich sagen: In der Konzeption Albertis ist das Bild ein im Sehen existenter Schnitt. Das Bild ist somit weder als illusionistischer Durchblick, noch als Blick in einen anderen Tiefenraum konzipiert. Vielmehr stellt er einen an sich abstrakten Schnitt vor, der jedoch mit den Dingen selbst verbunden ist und eine eigene Seinsweise aufweist. Dieser Ansatz beruht auf dem damaligen Verständnis, den leeren Raum zu negieren. Das was zwischen dem Wahrnehmenden und Wahrgenommenen sich befindet, hat eine eigene stoffliche Seinsweise. Das Sehen selbst geschieht mit Hilfe von materiellen Sehstrahlen, die Sehpyramide ist ein Körper, der abstrakt durchschnitten und auf ein Stück Papier, eine Leinwand oder eine Wand übertragen werden kann. Die Strahlen, die den Schnitt
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durchlaufen, sind auf dieser Schnittfläche als eigenständige Realitäten der Dinge eingeschrieben. Nimmt man ein Haus, vor dem Alberti tatsächlich steht und das zentralperspektivische Abbild dieses Hauses, spielt für ihn die Differenz zwischen der Wirklichkeit, die vom tatsächlichen Haus ausgeht, und der, die vom Bild ausgeht, keine Rolle. Das ist so, weil in der damaligen Konzeption die Realität dieser Erscheinung nicht etwa das tatsächliche Haus und die Leinwand sind, sondern die Punkte, Linien und Flächen, sowie deren Farb- und Lichtgebung, die nicht nur bei den Dingen sind, sondern auch zwischen Auge und Gesehenem. Deshalb auch unterscheidet sich die erfahrene Wirklichkeit zwischen dem tatsächlichen und dem abgebildeten Haus (konzeptionell) nicht, vorausgesetzt der Maler versteht sein Handwerk. Auf dieser Grundlage basiert das Anliegen des Malers, den Eindruck entstehen zu lassen, „es sei da kein Bild, sondern das auf diesem Dargestellte selbst“ (Schmeiser 2002: 27). Die Perfektion der Abbildung in Bezug auf die zentralperspektivische Konstruktionslehre, aber auch Farb- und Lichtgebung dienen somit vor allem dazu, diese Indifferenz von Realitäten aufrechtzuerhalten. Anders formuliert: Wenn die Realität der sichtbaren Welt nicht körperlich im Sinne einzelner, voneinander losgelöster und platzierter Gegenstände ist, sondern grundsätzlich stoffliche Erscheinung, die in einer Sehpyramide zwischen Auge und Gesehenem vorzufinden ist, so ist das Bild als Schnitt durch die Sehpyramide nur die konsequente Art und Weise, das im Sehen gegebene fixieren und schöpferisch erweitern zu wollen und zu können. Das Prinzip der bildlichen Schichtung wird so zu einem Prinzip räumlicher Erfahrung. Als Konsequenz wird genau dadurch der Grundstein für eine andere Differenz gelegt, nämlich die von Realität und Illusion. Dadurch dass die Zentralperspektive einen abstrakten Schnitt und seine Übertragung auf ein Medium wie Papier oder Leinwand vollzieht, führt sie die Differenz von Realität und Illusion überhaupt erst ein. Dieser Aspekt bestätigt sich noch einmal darin, dass es Alberti ja nicht darum geht, die Welt naturgetreu abzubilden. Vielmehr sollte die Natur zur Orientierung und zum Vergleich herangezogen werden, um das Gemälde und die kreative schöpferische Kraft des Malers besser würdigen zu können. Das zentralperspektivische Bild ist von Anfang an ein hochgradig künstliches und inszeniertes. Die Komposition eines Bildes ist ein manipulativer Prozess künstlerischen Verbesserns von Natur, bei dem es auch darum geht,
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eine unüberspürbare Gegenwärtigkeit herzustellen. Schmeiser zeigt deutlich auf, dass die Zentralperspektive in ihren Anfängen für einen Betrachter des 15. Jahrhunderts Gegenwärtigkeit erzeugt, die der Überbrückung von Abwesenheit dient (Schmeiser 2002: 30). Dass heißt also, eine Differenz zwischen dem Bild und dem Vorbild ist somit durchaus vorgesehen, bei gleichzeitiger Erzeugung von Gegenwärtigkeit im Sinne einer Präsenz von stofflichen Dingen. Innerhalb dieser Konzeption liegt der Schnitt grundsätzlich im Raum vor. Der Maler nutzt ihn für seine Kunst, erzeugen muss er ihn aber nicht. Dadurch wird ein Prozess in Gang gesetzt, der Wahrnehmung von Bildern verändern musste. Denn das Abbild als künstlich erzeugtes und dennoch dem Sehen erstaunlich nahes, musste sich früher oder später als eines von der natürlichen Wahrnehmung differentes herausbilden. Mit dem Aufkommen der Zentralperspektive wird der Terminus Schnitt als ein Eingriff in Wahrnehmung eingeführt. Dies geschieht auf zweierlei Weise. Erstens wird leibliche Wahrnehmung als Spüren von Anwesenheit durch den Schnitt generierbar gemacht. Das in meiner leiblichen Anwesenheit Gespürte wird vergegenständlicht und kann so erzeugt und gestaltet werden. Der Künstler greift auf ein erlernbares Regelsystem zu und stellt so gezielt eine künstliche Realität her. Dadurch wird es im besonderen Maße möglich, die Ekstasen der Dinge malerisch zu bilden. Anders noch als in der mittelalterlichen Malerei, die vor allem symbolisch und zeichenorientiert ausgelegt war, entwickelt die Malerei eine erweiterte Sensibilität für Ekstasen, da im homogenen Bildraum die ikonographischen und textlichen Anteile in den Hintergrund treten. Sie entwickelt aber auch handwerkliche Methoden, um die in der natürlichen Wahrnehmung erfahrbaren Ekstasen auf Bilder übertragen zu können. Auch damit begründet sich die von Alberti geforderte schöpferische Tätigkeit des Malers. Das Prinzip der Schichtung dient somit auch als Mittel, eben jene Ekstasen in die Bilder einzuarbeiten. Und das nicht nur über eine dem natürlichen Sehen nahekommende Abbildung, sondern durch istoria als Inszenierung. Zweitens hat das zur Folge, dass das leiblich Gespürte materialisiert wird. Damit wird es auch als von mir getrennter Gegenstand und als Ding mit eigener Seinsweise eingeführt. Dieser Gegenstand ist vor allem als sichtbarer konzipiert. Das heißt leibliches Spüren differenziert sich aus, und die in unserer Kultur vorherrschende Prävalenz von Sehen wird hier eingeführt. Der Schnitt als abstrak-
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ter und deshalb materialisierter leitet so auch über zu einem neuen Raumverständnis. Die Zentralperspektive wirkt anteilig mit an dem Übergang zu einem neuen Raumverständnis. Sie vermittelt zwischen zwei fundamental unterschiedlichen Raumkonzepten, dem Beziehungsraum von Aristoteles und dem Abstandsraum von Descartes. Nicht nur geht sie konform mit beiden, sondern wird zum Träger und Antrieb eines Wandels von Wahrnehmung und der Auffassung von Raum (vgl. dazu vor allem Schmeiser 2002). Konstant bleibt dabei das Prinzip der Schichtung. Zur Zeit Albertis betrifft dieses sowohl Auffassungen von Raum als auch das Bild selbst. Mit Descartes spalten sich diese zwei. Der Raum wird zum mathematisierten Abstandsraum, wogegen das Bild unausweichlich mit der Fläche verhaftet bleibt. Das zentralperspektivische Bild ist so in beiden Ansätzen gleichermaßen vertreten, was erst durch seine sehr unterschiedliche Rezeption auffällt. Für die Entstehung der ersten geschlossenen Theaterbauten in der Renaissance spielt diese Anbindung der Zentralperspektive an aristotelische Raumkonzepte eine insofern interessante Rolle, als nämlich das Prinzip der Schichtung auch hier Einzug hält.
6.2 D IE R ENAISSANCEBÜHNE , DER GESCHICHTETE R AUM
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Machen wir einen kurzen Sprung zurück zum ersten Teil dieser Arbeit, in dem der Schnitt durch den Raum des Theaters eingeführt wurde. Ausgangspunkt dieser Einführung war der tradierte Theaterbau, der Teile des Schnitts durch den Raum des Theaters materialisiert und dem in der Wahrnehmung an sich labilen Schnitt eine Dauer verleiht. Als charakteristisch für den Theaterbau wurden zwei Ausprägungen genannt: Er schließt durch seine Mauern den Alltag aus und er schafft eine recht statische und festgelegte An-Ordnung zwischen Theatergast und Bühne. Der Theaterbau wird zum Generator von Wahrnehmungskonventionen und Theaterformen. Das Podium, der Vorhang, das Portal oder die Sitzplätze sind Beispiele für materielle Eingriffe, die mehr als nur Ordnung schaffen. Sie bestimmen Theaterformen, was unter Theater verstanden und mit
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welchen Erwartungen es erfahren wird. Der Raum des Theaters des tradierten Theaterbaus ist somit ein geschützter Raum und schützender Raum. Seine Anordnung und Ausrichtung zielt darauf ab – zumindest im Bereich tradierter Theaterkonventionen – dass die Realität der Bühne und der Alltagswelt ausgeschlossen bleibt und ein Zuschauer eine Wirklichkeit erfährt, die fiktiv, inszeniert oder auch illusionistisch ist und sich von der Realität ablöst. Gleichzeitig konstituieren die baulichen Festlegungen und Materialisierungen des Schnitts auch einen an geometrischen Raumkonzepten orientierten Raum des Theaters. Dieser zielt auf Zeichen-Wahrnehmung und ein Lesen ab. Im Kontext zu dieser Ausrichtung wurden dem Theaterbau und seiner internen Anordnung ähnliche Funktionen zugeschrieben, wie der Zentralperspektive in der Beschreibung Panofskys: Auf der Bühne soll ein anderer Raum geschaffen werden, der wie durch ein offenes Fenster eingesehen werden kann. Damit dieser Blick in ganzer Konzentration erfolgen kann, bedarf er der äußeren Ausgrenzung und der Handlungsentlastung. Aufbauend auf den in den letzten Abschnitten dargelegten Zusammenhängen, lässt sich erahnen, wie wenig heutige Wahrnehmung mit der der Renaissance zu tun hat. Es lässt sich so auch erahnen, dass für die Wirkung damaliger Theaterbauten andere Ziele verfolgt wurden als heute. Und dabei geht es lediglich um die Bauten an sich und nicht um die Praktiken darin. Deshalb soll auch gezeigt werden, dass sowohl in Bezug auf das Verständnis eines Außen, als auch die Konzeption der internen Ordnung, die damals entwickelten Konzepte weit von den heutigen entfernt sind. An Hand des vorgestellten Prinzips der Schichtung sollen im Folgenden die ersten Theaterbauten der Renaissance auf ihren Umgang mit dem Schnitt durch den Raum des Theaters betrachtet werden. Parallel zur Zentralperspektive bildet sich europaweit ein ganz neues Verständnis von Theater heraus. Als eine Bewegung der Theaterkultur lässt sich ausmachen, dass Theater ins Innere wandert. Die städtische und religiös motivierte Kultur theatraler Ereignisse verschwindet fast vollständig bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (vgl. Fischer-Lichte 1999: 30). Parallel dazu kommt es immer häufiger zu Theateraufführungen in geschützten Räumen von Palästen, Schlössern und deren Gärten, mit dem Resultat, dass sich eine dem Adel vorbehaltene Form etabliert. So entstehen erste temporäre Theaterräume, die in Räume der Paläste eingebaut werden. Martin
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Hammitzsch legt sich auf das Jahr 1491 fest, als erstmals in Ferrara eine Theateraufführung im geschlossenen Raum stattgefunden haben soll (vgl. Hammitzsch 1906: 10). Der erste eigenständige Theaterbau, ist mit großer Sicherheit das Teatro Olimpico in Vincenza (erbaut 1582-1584), das von Andrea Palladio (1508-1580) entworfen und nach seinem Tod von Vincenco Scamozzi (1548-1616) umgesetzt wurde. An diesem ersten Bau soll nun das für diese Arbeit grundlegende Konzept für den Schnitt durch den Raum des Theaters vorgestellt werden.
Abb. 21: Scamozzis Grundriss des Teatro Olimpico. (Kupferstich 1790).
Auch die Kunstform Theater kommt nicht an der von Alberti postulierten Vorherschafft bildender Kunst und somit der Zentralperspektive vorbei (vgl. Alberti 2002: 103, II/26). So zeichnet sich auch für den Theaterbau ab, dass sich seine innere und visuelle Ordnung und sein Gesamtgefüge an der Zentralperspektive orientieren. Häufig wird in diesem Zusammenhang der Blick ganz auf die Bühne, ihre Gestaltung und ihre Beziehung zum Zuschauerraum gelenkt. Heinz Kindermann spricht von der im Renaissancetheater eingeführten Trennung zwischen dem Geschehen auf der Bühne und dem Zuschauerraum sowie davon, dass Theater bildhaft wird (vgl. Kindermann 1959: 72). Manfred Brauneck hingegen betont, dass mit der Einführung eines Raumgefüges, das sich an zentralperspektivischen Darstellungen orientiert, die moderne Dramaturgie mit ihrer sequenziellen Handlungsabfolge geboren wurde.
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Diese Raumstruktur erzwang in der Dramaturgie die Wahrung der Einheit des Ortes und ließ das Nebeneinander räumlich getrennter Ereignisse, das für die mittelalterliche Simultanbühne typisch war, nicht mehr zu. (Brauneck 1993: 457)
Die Anlehnung an Panofsky ist deutlich abzulesen und die Äußerungen von Brauneck und Kindermann lassen sich mit Sicherheit als langfristige Wirkung ausmachen. Doch dies als einen der Renaissance schon immanenten und von ihr bewusst herbeigeführten Wandel zu beschreiben, geht sicherlich zu weit. Dennoch, die Zentralperspektive ist in den ersten Theaterbauten der Renaissance nicht nur dadurch präsent, dass Bühnenaufbauten nach ihrer Konstruktionslehre geschaffen werden und Theater deshalb vermeintlich bildhaft wird, sondern auch in einer sehr viel grundlegenderen Art und Weise, die stärker die Konzeption und Umsetzung der Gesamtanlage betrifft. Andrea Palladio, ebenso wie andere seiner Zeitgenossen, stützt sich in seinem Schaffen auf den römischen Architekten Vitruv (ca. 8420 v. Chr.). Dessen wiederentdecktes Traktat De architectura libri decem (Vitruv 1995) avancierte im 16. Jahrhundert zum Standardwerk der Architektur (vgl. Neumeyer, F. 2002, Brauneck 1993: 451ff, Kindermann 1959: 78 oder Balme 2001: 139). Vitruv setzt sich hier auch mit Theaterbauten auseinander und beschreibt römische Theateranlagen und ihre Anbindung an städtische Plätze (vgl. hierzu ausführlicher Haß 2005: 134ff). Sein Werk und sein Herangehen dienen nicht nur als Blaupause für Architekten wie Palladio, sondern auch als Verbindungsglied zwischen der öffentlich städtischen Theatertradition und dem Rückzug ins Innere. Vitruv beruft sich auf die römische Kultur des städtischen Marktplatzes, den er nicht nur als geschäftlichen und politisch-gesellschaftlichen Ort beschreibt, sondern auch als Versammlungs- und Schauplatz (vgl. ebd.: 135, FN 12). Diese Symbiose von Markt- und Schauplatz kann unter anderem als Antriebsfeder für die Genese eigenständiger Theaterbauten seit der Renaissance ausgemacht werden. So ist das Teatro Olimpico als öffentlicher Platz angelegt, in dem sich Zuschauer und Darsteller gemeinsam versammeln sollen. Was aber könnte diesen Schritt bewirkt haben, wenn es doch eigentlich um den Umzug von Außen nach Innen ging?
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Das führt zur Praxis des mittelalterlichen Theaters zurück, denn auch da standen öffentliche Orte im Zentrum städtischer und kirchlicher Feste. Martin Hammitzsch kritisiert jene, die behaupten, in der Renaissance sei der Theaterraum als solcher wiederentdeckt worden, was zu jenem Umzug ins Geschlossene geführt habe. An solche Aussagen knüpft sich in der Regel auch die Annahme, das Mittelalter habe keine Theaterräume hervorgebracht. Doch genau dem widerspricht Hammitzsch (vgl. Hammitzsch 1906: 4). Auch das Theater des Mittelalters findet im weitesten Sinne in Theaterbauten statt. Für geistliche Spiele, städtische Feste oder sonstige öffentliche Rituale und Zeremonien werden temporär angelegte Aufbauten in vorhandene Kirchenräume oder auf Plätzen installiert. Sie haben zwar die Zeit nicht überdauert, trotzdem dienten sie als Theaterbauten. Es ist undenkbar, daß sich bei der allgemeinen Verbreitung des geistlichen Schauspiels, bei der Größe seines Inhalts und der Dauer seiner Spielzeit nicht Raumformen gebildet hätten, die eben für diese dramatische Spielart charakteristisch waren und die den Anforderungen der Stücke und den Ansprüchen der Darsteller sowohl als auch der Zuschauer alles das boten, was diese forderten. (Ebd.: 4)
Nicht also die Frage, ob in der Renaissance erstmals Theaterbauten sich entwickelt haben, muss gestellt werden, sondern vielmehr wofür die jeweiligen Spielorte dienten und unter welchen Vorzeichen sie entstanden. Das mittelalterliche Schauspiel ist in seiner Gesamtanlage an eine komplexe Semiotik der Kirche angelehnt. Das Theater der Renaissance findet nicht mehr im Rahmen kirchlicher Feste statt, sondern siedelt in die weltlichen Anlagen des Adels um. Nicht die Entwicklung von Theaterräumen an sich ist also die Neuerung, sondern ihre veränderte Verortung. Genau dem leistet die Beschreibung Vitruvs Vorschub, wenn er öffentlichen Schauplatz und Theaterbau so eng miteinander verknüpft. Sinnbildlich findet also ein Umzug vom öffentlich städtischen Marktplatz hin zu einem dem Marktplatz nachempfundenen inneren aristokratischen Bau statt. Nicht ohne Konsequenzen bringt die Verortung in einem eigenen, vom öffentlichen Platz losgelösten Gebäude für die Form des Theaters Einschränkungen mit sich, die auf die gesamte Entwicklung und sein Wirken nachhaltig Einfluss nimmt. An erster Stelle stehen die räumliche Einschränkung und die übergreifende
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Nachhaltigkeit architektonischer Festlegungen. Der Theaterraum muss sich nicht mehr äußeren Gegebenheiten anpassen, sondern unterstellt sich den Maßgaben der Architekten und ihrer Zeit. Eine Aufführung, die innerhalb der Stadt auf öffentlichen Plätzen stattfindet, für die vorübergehend Aufbauten installiert werden, ist ortsspezifisch. Sie unterscheidet sich dadurch, dass sie immer auch die örtlichen Bedingungen berücksichtigt. Ein so divergierender und von Stadt zu Stadt unterschiedlicher Schauplatz erfordert ein Bezugssystem, das nicht von einer äußeren architektonischen Anlage bestimmt wird, sondern von anderen Bedingungen, eben christlich motivierten. Die Kirche als möglicher Schauplatz kommt in dieser Funktion dem Theaterbau in Bezug auf architektonische und räumliche Ordnungs- und Bezugssysteme noch am nächsten. Der Theaterbau generiert mit seinem Umzug ins Innere ein räumliches Gefüge, das in sich womöglich offen ist, aber letztlich immer als begrenzendes oder auch rahmendes Element einer Aufführung vorgestellt ist. Und so liegt es auch nicht fern, dass die Verlagerung der Schauplätze in geschlossene Häuser eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Bezug des Innen zum Außen mit sich bringt. War dieses Außen in sakralen Schauspielen noch klar als das jenseitige und semiotisch verschlüsselte Gefüge Gottes auszumachen, bedurfte es hier einer Neuorientierung. Es sind nun zwei Aspekte, die hier zusammengeführt werden können. Weiter oben wurde in Widerspruch zu Kindermann (vgl. Kindermann 1959: 72) hervorgehoben, dass Theaterbauten wie das Teatro Olimpico in Vincenza in Anlehnung oder gar Abhängigkeit von der Zentralperspektive nicht bildhaft werden. Stattdessen orientieren sich die Gesamtanlage und Konzeption an Maßgaben der Zentralperspektive. In Anlehnung an die Rückbesinnung auf die Antike und das mittelalterliche Theater lässt sich jetzt genauer erörtern, auf welcher Ebene diese Gesamtanlage und Konzeption auf die Zentralperspektive zurückgreift. Auch Ulrike Haß befasst sich mit der verschiedentlich behaupteten These, die Perspektivbühnen hätten „unter dem dominierenden Einfluß der bildenden Kunst ihre eigene Bildwirkung angestrebt“ (Haß 2005: 174). Eine These, wie sie meint, die es zu berichtigen gilt. Aber nicht die gegenseitige Beeinflussung an sich muss man in Frage stellen, sondern die Annahme, die Künste ständen in Konkur-
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renz zueinander und das Theater würde von der bildenden Kunst dominiert. Gegenseitige Beeinflussung sind weniger als Ursache, denn als Ausdruck eines zugrundeliegenden Schemas des Darstellungsdenkens aufzufassen, das mit seinen Elementen der Simultanität, der Narration, der szenisch wirkenden Vergegenwärtigung und der gestischen Expressivität im sechzehnten Jahrhundert dem Modell des Blicks verpflichtet ist. (Ebd.: 174)
Auf der Basis der in Abschnitt 6.1 entwickelten Zusammenhänge kann diese Aufzählung, die stark auf theatrale Handlungen ausgerichtet ist, durch Aspekte des geschichteten Raums erweitert werden. Als erstes lässt sich der Aspekt der Komposition anführen. Erweitert man zur Verdeutlichung den Blick über den Theaterbau hinaus und betrachtet Palladios Villen, so zeigt sich auch hier das Prinzip der kompositorischen Schichtung. Palladio, wie es Haß aufzeigt, hat seine Villen nicht als isolierte Bauten konzipiert. Er stellt sie in Kontext zur Landschaft, in die sie eingefügt wurden. „Man betrachte dieses Land wie die Landschaft in einem Bild, darum wissend, daß sie der Hintergrund einer Erzählung ist und in Beziehung zu den Figuren steht.“ (Argan 1989, zit. nach ebd.: 256), schreibt Argan über Palladios Villen im Umland von Vincenza. Der Objekt-Raum und der Abbildungsraum werden nicht als separate Räume behandelt. Bildliche Darstellung und räumliches Gefüge werden in Anlehnung an das aristotelische Raumkonzept als gleichwertig angesehen. Bildwirkung und Raumerfahrung dürfen für die Renaissance daher nicht in der heute üblichen Schärfe voneinander getrennt werden. Die Bildwirkung ist nicht das Produkt einer Anlehnung an die bildende Kunst an sich, sondern vielmehr im Sinne von Alberti als Folge der Zugrundelegung allen künstlerischen Schaffens auf die Malerei und damit die Fläche zu sehen. Wenn die Welt bildlich erfasst wird, dann nicht im Sinne einer Vormacht bildender Kunst, sondern in erster Linie in Anlehnung an das natürliche Sehen und die daraus ableitbaren Schlussfolgerungen. Das bedeutet, dass sich im Raumkonzept des Aristoteles‘, in der Sehtheorie und der Geometrie des Euklids, vor allem aber der zentralperspektivischen Konstruktionslehre, Konzepte wiederfinden, die es erlauben, Phänomene zu beschreiben. Gleichzeitig können diese Konzepte aber auch für die Kunst im Allgemeinen und
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die bildende Kunst im Besonderen eingesetzt werden. Die Differenz aus gelebtem Raum und Abbildungsraum ist darin noch nicht vorgesehen. Vorgesehen ist dagegen die kompositorische Erzeugung einer Hervorhebung als inszenatorischer Prozess durch Maler oder auch Architekten. Das Gegenwärtige soll einen besonderen Stellenwert erfahren und Aufmerksamkeit erzeugen. Der Raum als flächig geschichteter wird so auch Teil architektonischen Schaffens.
Abb. 22: Das Teatro Olimpico mit Blick auf die Deckenbemalung und den als öffentlichen Platz konzipierten Zuschauerraum.
Das alles spricht nun dafür, dass die eigentliche Aufgabe des damaligen Theaters und seiner Bauten eine gänzlich andere war, als sich einzig auf die Bildwirkungen und die mit ihr verbundene Trennung zwischen Betrachter und Bild zu konzentrieren. Auf der Grundlage dieser Erörterungen kann jetzt noch einmal Palladios Theaterbau, das Teatro Olimpico in Vincenza, ins Blickfeld rücken. Es sind drei Besonderheiten, die dieses Theater auszeichnen. Als erste kann seine äußere Unscheinbarkeit und wenig spektakuläre Lage vorgestellt werden. Anders als für die Villen Palladios hat es anscheinend keinen Anlass gegeben, das Teatro Olimpico innerhalb des Stadtbildes repräsentativ sichtbar zu gestalten und dort einzupassen. Auch gibt es hier noch keinerlei Übergangsräume. Der Eingang in den Zuschauerraum war eine unscheinbare kleine Tür (vgl. Haß 2005: 257f). Das führt über zur zweiten Besonderheit. Haß schließt aus dem äußeren Erscheinungsbild für die innere Anlage des Baus,
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„daß diese Gebäudemauern keinen Innenraum umschließen, denn sie definieren sich nicht als Mauern, die ein Außen von einem Innen trennen und in Bezug zueinander stehen“ (ebd.). Dafür aber wird der Innenraum als Platz aufgefasst, auf dem, wie es Palladio selbst formuliert, „man sich aufhalten kann und den Schauspielen zusehen kann“ (Palladio 1570, zit. nach ebd.). Ferner ist an den Wand- und Deckenmalereien zu erkennen, dass dieser Platz als ein Außenraum, ein öffentlicher Platz konzipiert ist (vgl. zur genauen Beschreibung des Teatro Olimpico ebd.).
Abb. 23: Innenansicht des Teatro Olimpico. Im Hintergrund das zentralperspektivische Relief der Stadt Theben.
Die dritte Besonderheit dieses Theaters ist gleichzeitig ihr Fremdkörper. Es gilt als sicher, dass Vincenco Scamozzi dafür verantwortlich ist, dass nach dem Tode Palladios hinter der scenae frons eine perspektivische Bildbühne in Form eines Reliefs der Stadt Theben installiert wird (vgl. ebd.: 261). Dieses dürfte einen großen Anteil daran haben, dass die Bildhaftigkeit dieses Theaters in der Literatur immer wieder als Übertragung zentralperspektivischer Methoden auf den Theaterraum hervorgehoben wird (vgl. Brauneck 1993: 457). Haß betont dagegen, dass Scamozzis Eingriff mit der Idee des Platzes von Palladio nicht vereinbar sei. Dennoch, auch wenn es den Blick des Betrachters dominiert und ihm eine eindeutige Ausrichtung zuweist, verhält sich „die perspektivische Bahnung des Blicks [...] zur Idee des Platzes lediglich additiv und ist weit davon entfernt, den Schauraum des Theaters zu organisieren“ (Haß 2005: 263).
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Insbesondere die ersten beiden Besonderheiten des Teatro Olimpico machen deutlich, welche Ziele Palladio mit seinem Bau verfolgt. Er reagiert auf die neuen Anforderungen, den Transfer vom äußeren Platz in das Innere des Theaterbaus zu vollziehen (vgl. ebd.: 174). Haß beschreibt diesen Transfer als Überführung „der Orte (loci), mit denen die menschlichen Akteure (imagines) verwoben waren, nach innen“ (ebd.). Dieser Transfer findet nicht als reine Überführung auf eine Bühne statt, sondern als Installation eines gesamträumlichen Ambientes, das als Ganzes im Inneren als Äußeres erfahren wird. Die Zentralperspektive ist hierbei ein opportunes Mittel, Gegenwärtigkeit und die Erfahrung von Anwesenheit herzustellen. Es geht darum, gezielt das „Außen nach Innen“ (ebd.: 172) zu holen. Auf die Frage, wo die „Realisatoren dieser Bühnen überhaupt ihr Publikum vermuteten“ (ebd.: 179), verweist Haß mit folgender Antwort auf Cesare Molinari. Sie seien in derselben Umgebung und derselben Zeit definiert worden, die auch diejenige der Komödienspieler war. Sie befanden sich an einem Ort, der an denjenigen der Bühne angrenzte, und nicht in einer zeitlich und räumlich von der Bühne unterschiedenen oder gar mit ihr konfrontierten Welt. (Ebd.)
Der Zuschauer, der das Teatro Olimpico betritt, betritt einen öffentlichen Platz in der Stadt Theben, die das Relief von Scamozzi abbildet. Sowohl durch die architektonische Gestaltung des Innenraums, als auch durch die Wandbemalungen und das Relief ist dieser städtische Marktplatz eine den gesamten Innenraum betreffende Installation. Kaum besser als hier lässt sich Zentralperspektive mit dem aristotelischen Raumkonzept verbinden. Denn der Zuschauer befindet sich tatsächlich in einem Raum, den er durchlaufen kann. Die äußeren realen Grenzen dieses Raums werden mit Hilfe malerischer und zentralperspektivischer Mittel zum Verschwinden gebracht. Alle Anwesenden sind in einem gemeinsamen Raum involviert und das auch in Bezug auf die vom Gesamtensemble ausgehende Wirklichkeit. Nicht also die Darstellung auf der Bühne stellt eine theatergerechte Wirklichkeit her, sondern der gesamte Innenraum des Theaters. Die ersten Bühnenformen der Renaissance etablieren vor dem Hintergrund dieser Ausführungen nur sekundär ein bipolares an der
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Konstruktionsapparatur der Perspektive orientiertes Raumgefüge zwischen Publikums- und Bühnenraum. Umfassender hingegen ist das räumliche Gefüge, das geschaffen wird und sich auf sehr grundlegende Weise an den Maßgaben der Perspektive orientiert, das sich im Prinzip der Schichtung ausdrückt. Der Raum des Theaters wird so zu einem offenen Raum, dessen äußere Flächen eine visuelle Anbindung an ein Außen behauptet und deshalb das vermeintlich Äußere in den Innenraum holt. Die Wahrnehmungswirklichkeit wird hierbei als von der Realität, den Mauern und perspektivischen Installationen isoliert erfahren. Doch diese Isolierung liegt noch weit entfernt von der wenig später folgenden illusionsorientierten Anwendung der Zentralperspektive. Denn zumindest im Rahmen damaliger Konzepte, sind Realität und Wirklichkeit identisch. Oder wie es Haß ausdrückt, zwischen Auge und Gesehenem kursieren „feinstoffliche Abbilder (imagines) [...], die vom Auge aufgenommen werden“ (Haß 2005: 529). Ein solcher Ansatz macht noch keinen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität, weil nicht die Dinge selbst von einem Betrachter leiblich erfahren werden, sondern ihre Ausstrahlung, ihre Ekstasen. Das was als wirklich erfahren wird, ist als Stofflichkeit und somit Reales konzipiert. Das betrifft alles im Raum Anwesende, auch die Atmosphären und Ekstasen, die einen affektiv tingieren. Doch wie weiter oben schon ausgeführt, muss die Zentralperspektive auch als Prinzip des Übergangs anerkannt werden. Durch die Einführung eines an sich abstrakten Schnitts durch die Sehpyramide und seiner Verstofflichung, wird das Bild zu einem eigenständigen Gegenstand, der von der leiblichen Anwesenheit des dort abgebildeten Raums an sich losgelöst ist. Auch wenn auf der Basis eines Raumkonzepts, das von einer flächigen Schichtung ausgeht, diese Differenz anfangs nicht ins Gewicht fällt, braucht es nicht viel, damit beispielsweise die Differenz zwischen tatsächlicher Raumtiefe und bildlicher Raumtiefe zu einem Problem wird. Mit diesem Bewusstsein für räumliche Tiefe wird das Bild zu einer Täuschung bzw. zu einer Illusion. Mit dieser wird es auch zu einem anderen Raum, zu dem ein Zuschauer sich als Subjekt in einer räumlichen Distanz befindet. Um die Herausbildung einer Bild-Schirm-Anordnung und der damit verbundenen Materialisierung des Schnitts soll es im folgenden Abschnitt gehen.
7. Der Bild-Schirm und der Schnitt
7.1 O RIENTIERUNG Mit dem beschriebenen Prinzip der Schichtung geht in den Anfängen der zentralperspektivischen Konstruktion das Konzept der Einheit von Sehen und Gesehenem einher. Das Auge blickt auf eine Welt, die mit ihm in stofflicher Verbindung steht. Die Differenz zwischen dem Schnitt durch die Sehpyramide und dem daraus abgeleiteten Gemälde, bezieht sich weniger auf die Frage was wirklich und was real ist, sondern inwieweit das der Natur ähnliche Abbild die Natur selbst übertrifft und der Maler als autonomer Künstler ein Abbild mit eigener Ausstrahlung schafft. Als Blickender sieht sich der Mensch mit einer Welt der stofflichen Schichtungen konfrontiert, bei denen die Flächen der Dinge und das als Fläche konzipierte Sehen im Vordergrund stehen. Teil dieser Konzeption ist nicht die räumliche Position der Dinge, ihre Entfernung und ihre Platzierung gegenüber dem Betrachter und der anderen Dinge. Deshalb auch spielt die durchaus bewusste Differenz zwischen Abbild und tatsächlicher Wahrnehmung eine nur untergeordnete Rolle. Der Fokus liegt beim Künstler selbst als – wie Böhme ihn nennt – ästhetischen Arbeiter (vgl. Böhme 1995: 41) und seinem analytischen wie kreativen Verhältnis zum Schnitt durch die Sehpyramide. Der spätere Betrachter, der Zuschauer, nimmt in diesem Zusammenspiel nur eine Nebenrolle ein, das im Bild Erscheinende sorgt für seine Gegenwärtigkeit in dem dort inszenierten Bildraum. „Er befindet sich nicht einfach in einem Innenraum, sondern in einem Raum,
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der über das Verhältnis von Innen und Außen nicht mehr sinnvoll zu definieren ist“ (Haß 2005: 289). Dieser Ansatz erfährt im 17. Jahrhundert eine weitreichende Umorientierung, deren konzeptionelle Ausrichtungen bis heute Gültigkeit besitzen. Als pointierte Auslegung dieses Prozesses lässt sich formulieren: Der Schnitt durch die Sehpyramide wird ins Innere des Auges verlegt und erscheint dort nunmehr als pictura, als Netzhautbild. Als Konsequenz schiebt sich das Bild des Gemäldes als materiell eigenständiger Gegenstand zwischen Betrachter und Betrachtetem. In Folge des internalisierten Netzhautbildes, kann der Schnitt durch die Sehpyramide als eigenständige Wahrnehmungsentität nicht mehr bestehen. Das Bild ist im Auge physikalisch gegeben. Das hat auch Konsequenzen für das Konzept des Betrachters selbst. Denn nicht mehr sein Auge, sondern ein abstraktes Ich sieht das Netzhautbild. Dieses Ich steckt noch hinter der Netzhaut und wird so zu einem körperlosen, rein kognitiven Ich. Leonard Schmeiser zeichnet nach, dass dieser Prozess, der schon im 16. Jahrhundert einsetzt, auch mit einem Wandel des Verhältnisses zwischen Maler und Betrachter einhergeht: „der Maler malt nicht mehr als Betrachter der dargestellten Szene, sondern für den Betrachter des Gemäldes“ (Schmeiser 2002: 93). War bis dahin der Augpunkt eines Bildes im Auge des Malers verortet, ganz unabhängig davon, wo dieses Bild später in Erscheinung tritt und ob ein Betrachter eben diesen Augpunkt würde einnehmen können, wird das Bild nun auf den Betrachter hin ausgerichtet. Das Bild wird aus der Sehpyramide des Malers herausgelöst, damit es Teil der abstrakten Sehpyramide eines zukünftigen Betrachters werden kann. Das Gemälde wird also autonom, wie auch das Netzhautbild im Auge autonom wird. Diese Ausdifferenzierung des Sehens gegenüber dem was gesehen wird, zwischen Sehen und Gegenstand, wird zum tiefgreifenden Thema des 17. Jahrhunderts. Dieser Prozess hat Anteil an einer sich vollziehenden Ausformung von ganz unterschiedlichen Ausdifferenzierungen: von Subjekt und Objekt, der Sinne als voneinander separierte oder der Bestimmung des Gastes im Raum des Theaters als Zuschauer, der vom anderen Raum der Bühne separiert wird. Das Bild wird damit aber nicht nur zu einem mobilen und eigenständigen Gegenstand, sondern nun endlich zu jenem in der Literatur so allgegenwärtigen offenen Fenster, dessen vermeintlich lichtdurchlässige, aber tat-
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sächlich geschlossene Oberfläche, den illusionären Blick in einen anderen Raum freigibt. Für den Schnitt durch die Sehpyramide und den durch den Raum des Theaters impliziert dies eine Konzeption, die von einer materiellen Oberfläche ausgeht und die die Einheit der Sehpyramide zertrennt. Sie löst sich von ihr ab, wird mobil und trennt sich als eigenständiges Ding von der Welt. Dieses Bild hat mit einem Mal eine Rückseite, deren Oberfläche aber eine raue Leinwand und deren Rahmenkonstruktion ist (vgl. Haß 2005: 307). Das Bild durchschneidet auf absolute Weise den Raum, trennt zwischen dem Raum des Betrachters und einem anderen Raum. Andererseits gibt dieses Bild in seiner Erscheinung und seinen Inhalten vor, dieses von Panofsky für die Zentralperspektive beschriebene finestra aperta zu sein, hinter dem sich ein anderer Raum befindet, in den der Betrachter zumindest visuell eindringen kann, aber körperlich ausgeschlossen bleibt. Die Realität des Bildes ist somit jetzt auch dessen Oberfläche und nicht mehr seine Ausstrahlung allein. Im Zusammenhang mit dem Schnitt durch den Raum des Theaters soll im Folgenden die doppelte Charakteristik dieser Oberfläche genauer ausgeführt werden. Fungiert sie doch einerseits als schützender und abschirmender Bild-Schirm, andererseits aber auch als offene Durchsicht in einen anderen Raum, die vieles ist, nur nicht offen. Diese widersinnige Konstellation ruft Illusion hervor als „Etwas, woran geglaubt wird, obwohl man weiß oder zu wissen glaubt, daß es der Wirklichkeit [in der in dieser Arbeit verwendeten Terminologie Realität] nicht entspricht“ (Müller-Schöll 2007). Die Illusion als Mittel der glaubhaften Nachahmung tritt an die Stelle einer vormals vorherrschenden Imitation (vgl. ebd.: 306).
7.2 D ER B ILD -S CHIRM Lev Manovich entwickelt in seinem Text Archeology of the Computer Screen (Manovich 1995) eine Kulturgeschichte des Bildschirms, dessen Urtyp er im zentralperspektivischen Gemälde der Renaissance ausmacht.
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Die visuelle Kultur des modernen Zeitalters ist von der Malerei bis zum Kino durch ein verblüffendes Phänomen charakterisiert: durch die Existenz eines anderen virtuellen Raums, einer anderen dreidimensionalen Welt, die von einem Rahmen eingeschlossen wird und sich innerhalb unseres normalen Raums befindet. Der Rahmen trennt zwei ganz verschiedene Räume, die irgendwie nebeneinander existieren. (Ebd.: 125)
Bezeichnenderweise beschreibt Manovich diesen dem zentralperspektivischen Bild inhärent anderen Raum als einen dreidimensionalen, obwohl doch seine tatsächliche Daseinsform schon immer (und noch immer) flächig ist. Diese Auslegung des anderen Raums als dreidimensionale Welt ist symptomatisch für den Umgang mit zentralperspektivischen Bildern seit etwa dem 17. Jahrhundert. Die illusionistische Wirkung verdeckt die analytisch korrekte Beschreibung. Die Wirklichkeit des scheinbar dreidimensionalen Raums verdrängt die Realität dieses Abbildes. Dennoch, nicht von der Wirkung spricht Manovich hier, sondern vom Sein dieses anderen Raums. Korrekter wäre es nicht von der Existenz, sondern der Erscheinung eines dreidimensionalen Raums zu sprechen. Auch korrekt wäre es, diesen anderen Raum als dreidimensionalen Bildraum zu beschreiben. Manovich zielt in seinem Text auf Erfahrungen im Bereich virtueller Computerwelten ab, die sich an rein visuell orientierten Schnittstellen orientiert. Die dort erfahrene visuelle Wirklichkeit suggeriert uns, in einem dreidimensionalen Raum anwesend zu sein. Das gelingt dank Stereoskopie, der Erfassung von Kopf- und Blickbewegung sowie einer sich daran anpassenden Raumdarstellung. Doch worauf es hier vor allem ankommt, ist diese Verwischung, der Manovich unterliegt, die vieles über die Kulturgeschichte zentralperspektivischer Abbildungen aussagt. Man mag konstatieren, dass es kein Wunder sei, dass aus heutiger Sicht die Differenz zwischen einer medialen und realräumlichen visuellen Wahrnehmung immer stärker zu verschwimmen scheint. Doch handelt es sich hier nicht um eine Vorstellung, die erst mit Hilfe ausgefeilter technologischer Instrumente möglich wird. Der Mensch musste sich mit dieser Indifferenz auseinandersetzen, nachdem Sehen, vor allem seine Theorien technisiert und damit durch Apparate erweitert und an Apparate übergeben wird (vgl. Böhme 1998c). Den Anfang macht die Zentralperspektive, wie in Abschnitt 6 aufgezeigt. Es sind aber vor allem Galileo Galileis
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(1564-1642) Blick durch das Fernrohr und Johannes Keplers (15711630) Gleichschaltung von Auge und Camera obscura und seine Entdeckung des Netzhautbildes im Auge als automatisch erzeugtes Bild der Außenwelt, die diesen Prozess in Gang gesetzt haben. Die Technisierung des Sehens verändert nicht nur, wie Gernot Böhme in seinem Text Technisierung der Wahrnehmung (ebd.) aufzeigt, die Bedingungen der Wahrnehmung, sondern auch die Differenz von Wirklichkeit und Realität. Descartes entwickelt Anfang des 17. Jahrhunderts, wie von Leonard Schmeiser nachgezeichnet, eine neue Philosophie des Betrachtens, deren Gehalt folgende Schlussfolgerung ist: „Die Kunst der Täuschung besteht genau darin, mich das nicht merken zu lassen, aber ich kann vorsichtig sein, der einmal getäuschte Betrachter ist gewarnt“ (Schmeiser 2002: 180). Ein Abrücken durch das Ich von einem Geschehen zeichnet sich ab. Der Schnitt wird zu einem trennenden Zwischen, das einem die Differenz zwischen Realität und Wirklichkeit aufzeigt und deshalb auch nicht mehr natürlicher Teil des Sehens ist, sondern explizit durch ein Subjekt erzeugt werden muss. Noch ist der Schnitt als stofflicher vorhanden, jetzt aber als Abbild auf der Netzhaut. Der Mensch als Subjekt muss aber von diesem abrücken und seinen Verstand gebrauchen, denn das Abbild auf der Netzhaut kann eine optische Täuschung sein. Ein Wettlauf zwischen Illusionstechnik und Wahrnehmungsanpassung zeichnet sich ab. Dieser Wettlauf bestimmt bis heute vor allem die Vergnügungsindustrie, ob nun barockes Maschinen-Theater, Camera obscura, Laterna Magica, Panorama, Diorama, Guckkasten, Film, Simulationsapparate oder 3D Computerspiele, immer wieder wurden neue Illusionstechniken entwickelt, die früher oder später ihre einmalige und überwältigende Wirkung verlieren. Manovich könnte man so vorhalten, er sei nicht vorsichtig genug und habe es anscheinend noch nicht gemerkt, getäuscht zu werden. Den anderen Raum eines zentralperspektivischen Bildes als dreidimensionalen zu bezeichnen und dies so ohne weiteres als Grundbedingung für das Renaissancegemälde als Ur-Bildschirm zu behaupten, verweist auf eine weitere Indifferenz, nämlich der Gleichstellung von mathematisch erzeugtem Darstellungsraum und dem Raum leiblicher Anwesenheit (vgl. Böhme 2004). Dabei haben wir es mit zwei sehr unterschiedlich ausgerichteten Raumund Wahrnehmungskonzepten zu tun, die augenscheinlich auseinanderfallen (vgl. Abschnitt 4.2). Aus der Sicht der Mathematik kann
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zwar von einem mehrdimensionalen Raum gesprochen werden, doch handelt es sich dabei um ein abstraktes Raumverständnis. Mit dem tatsächlichen Raum der Anwesenheit hat dieses insofern etwas zu tun, weil seine Dinge und Anordnungen sich in ein mathematisches Schema überführen lassen. Doch das Produkt dieser Überführung ist dann vom eigentlichen Raum der Anwesenheit abgelöst, ist reiner Darstellungsraum. Egal ob nun als stereoskopisches oder als einzelnes Bild, in zentralperspektivisch erzeugten Darstellungsräumen wird das Auge oder werden die Augen mit einem Bild, einer mathematisch-geometrischen Projektion konfrontiert. Der dreidimensionale Bildraum erscheint ausschließlich als Illusion, als Etwas, woran man glaubt, obwohl man weiß, dass es so nicht existiert. Auch wenn es eigentlich nicht gesagt werden muss, der Raum einer am Computer generierten virtuellen Welt ist nichts anderes als dem Auge bildlich zugeführte Illusion. Zunehmend spannend wird diese Differenz erst, wenn in Anlehnung an das Holodeck der Science Fiktion Serie Star Trek – The Next Generation dieser mathematisch konstruierte Darstellungsraum stofflich ist und zu einem avanciert, der mit räumlich widerständigem und sinnlich spürbarem über Sehen und Hören hinausgehendem Sein gefüllt ist. Bevor das aber – wenn überhaupt jemals – Realität ist, kann man nur visuell und auditiv in diesem Darstellungsraum anwesend sein. Als weitreichende Konsequenz aber führt dies zu einer Wahrnehmung, die zwischen der leiblichen Anwesenheit im Raum und dem rein visuellen Sehen eines Darstellungsraums einen trennenden Schnitt setzt. Erste Charakteristika dieses anderen Raums treten hervor: er ist ein konstruierter Darstellungsraum, der geometrisch und rechnerisch mit mehreren Dimensionen hantiert, dennoch aber in seiner realen Seinsweise im physischen Raum ein flächiges Bild bleibt. In der Illusion löst sich sein räumliches Erscheinungsbild visuell von dem realen Ding, der Bildoberfläche ab. Hierbei kann dieses Erscheinungsbild in Anlehnung an Benjamin zu einer Ferne so nah sie auch sein mag, zur phänomenalen Wirklichkeit werden. Spezifisch für diese Wirklichkeit ist aber, dass ihre Realität nichts mit der vermeintlichen Realität, auf die sie verweist, zu tun hat. Das Bild ist nicht der Stuhl, der auf ihm abgebildet ist. Das macht Illusion aus, ein Nichtvorhandensein der Realität auf die die Wirklichkeit verweist. Die Fläche als Ding fungiert als Vermittler zwischen dem Betrachter und einem anderen Raum, der ausschließlich visuell wirklich ist. Darüber ist der mathematische Darstellungsraum Teil
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des Raums leiblicher Anwesenheit, aber als quasi teilleibliche, nämlich visuelle Anwesenheit. Auf Abschnitt 6 aufbauend, lautet die These für die folgenden Ausführungen, dass die Etablierung dieses anderen Raums als Teil visueller Wirklichkeit, den Raum als Tiefenraum überhaupt erst interessant werden lässt. Das trägt dann auch dazu bei, dass ein Denken des tatsächlichen Raums als Tiefenraum, den bildlich anderen Raum als vermeintlich dreidimensionalen in Erscheinung treten lässt. Als Charakteristikum des anderen Raums lässt sich ferner die Differenz beschreiben, die er zwischen Innen und Außen schafft. Der Betrachter meint durch eine Fläche hindurch in einen ihm fernen anderen Raum zu blicken, der für ihn körperlich unerreichbar bleiben muss, selbst dann, wenn er visuell wirklich wird und er so in ihn einzudringen vermag. Die von Panofsky vertretene Auffassung zur Zentralperspektive als Mittel einen homogenen Bildraum zu schaffen, der dem menschlichen Sehen entspricht (vgl. Abschnitt 6.1.1), ist auch in der Betrachtung von Manovich vorherrschend. Eine opake Oberfläche, die dennoch den gerahmten Durchblick in einen anderen Raum ermöglicht, aber – so als Ergänzung zu Panofsky – den Raum leiblicher Anwesenheit spaltet, das zeichnet den Bildschirm aus.
Abb. 24: Anordnung des ersten Experiments von Filippo Brunelleschi.
Der Bild-Schirm soll zum zentralen Terminus dieses Abschnitts werden. Auch wenn dieser Begriff eng in Verbindung mit dem Monitor und dem Fernsehapparat steht, so ist er dennoch unter anderem Namen und Gebrauch von Anfang an Teil der zentralperspektivischen Konstruktion. Filippo Brunelleschi unternahm Anfang des 15. Jahrhunderts drei Experimente, die zur Erfindung der Zentralperspektive geführt haben (genaueres hierzu vgl. Haß 2005: 81ff
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und Schmeiser 2002: 24ff). Schon in seiner ersten Versuchsanordnung (vgl. Abb. 24) greift er auf einen Spiegel zurück, den er als Bild-Schirm einsetzt. Leon Battista Alberti bezeichnet sich selbst als Erfinder des velum, mit dessen Hilfe er Erblicktes übertragen kann (vgl. Alberti 2002: 115, II/31). Auch bei Albrecht Dürer taucht ein äquivalentes Hilfsmittel auf, ein Gitternetz (vgl. auch Abb. 15: 177). All das sind Verwandte des Monitors, wie wir ihn heute kennen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich einerseits als materielle Oberflächen im Raum des Betrachters befinden und dennoch immer auch selektiv durchlässig sind. Vor allem sind es Projektionsflächen, auf denen sich sichtbare Welt auf einer Fläche abbildet.
Abb. 25: Albrecht Dürer: Der Zeichner der Laute (1525).
Die Worttrennung zwischen Bild und Schirm verfolgt den einfachen Zweck, dem Begriff des Schirms eine Eigenständigkeit zuzuschreiben. Denn die Verbindung des Bildschirms zum isolierten Begriff Schirm ist enger als man meinen mag, auch dann, wenn man sich auf seinen eigentlichen Gebrauch stützt: Das Wort Schirm wird im Sinne von Schützen und Abschirmen verwendet. Ursprünglich militärischer Herkunft, setzt er sich allgemein als Schutzmittel gegen Sonne-, Regen oder auch Gesehenwerden durch. Seine Eigenschaft ist es, selektiv, auf konkrete Zwecke hin ausgerichtet, abzuschirmen. Die selektive Eigenschaft wird noch deutlicher, bezieht man sich auf den von Manovich im Originaltext verwendeten Term screen. Im Englischen tritt dieser auch als Wesensbestimmung auf. Im Merriam-Webster‘s Collegiate Dictionary (Websters 2003) wird der
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screen als „something that covers or disguises the true nature (as of an activity or feeling)” beschrieben. Als Verb unterscheidet der englische Gebrauch zusätzlich zwischen Abschirmen oder auch Verdecken sowie Aussenden, Vorführen und Abbilden (vgl. Collins 1992). Hauptsächlich aber wird der Schirm als dazwischen geschaltetes Ding, als Hilfsmittel oder Instrument vorgestellt. Als ein solches tritt er nicht als dauerhafte Lösung auf, sondern übernimmt durch seine Mobilität, instrumentale Ausrichtung und selektive Anwendung vor allem vorübergehende Funktionen. Kommt man zum Bild-Schirm, also dem als Fenster in einen anderen Raum beschriebenen Schirm, zeigt sich, dass dieser jene schützende Oberfläche negiert und zu verdrängen sucht. Nichts soll die Durchsicht stören, nichts die Illusion des anderen Raums gefährden. Als Problem erweisen sich deshalb die Momente, in denen der Bild-Schirm als eigenständige Realität sichtbar wird. Das geschieht vor allem dann, wenn das eintritt, was Kittler in Anlehnung an Claude Elwood Shannons Modell der Kommunikationssysteme als Rauschen oder auch Störung (vgl. Kittler 2002: 46) bezeichnet: also das unscharfe Kinobild, der Kratzer oder eine Spiegelung auf der Oberfläche. Alles das hebt die Illusion des anderen Raums auf und lässt die Materialität und die Erzeuger des Bildschirms hervortreten. Diese Beschreibung steht scheinbar im Widerspruch zu den Ausführungen zum Schirm. Denn der Bild-Schirm schützt nicht selektiv, sondern tut alles, um selbst unsichtbar zu werden. Der Schirm hingegen schirmt selektiv ab, ist damit selbst in seiner Materialität und Realität wirksam. Zu fragen ist deshalb, was eigentlich der Bild-Schirm schützt? Der Bild-Schirm als Schnittfläche steht zwischen zwei unterschiedlichen Räumen, er separiert sie. Damit ist seine Schutzfunktion benannt, er separiert auf absolute Weise zwischen dem Raum der Anwesenheit und dem bildlichen Darstellungsraum. In dieser Absolutheit liegt nun auch der Grund, warum beim Bild-Schirm die Frage nach seiner Durchlässigkeit einen so großen Stellenwert einnimmt. Denn als rein bildlicher Darstellungsraum kann ich leiblich nur selektiv in ihm anwesend sein. Der einzige Sinn, der mich in ihm anwesend sein lässt, ist das Sehen. In Anlehnung an Alberti gibt es auch eine Ebene der Erscheinung, die Ekstasen, die eine Wirklichkeit erfahrbar machen und die einen Raum der Anwesenheit herzustellen vermögen. Das trifft auch auf einen illusionsorientierten Betrachter zu, der die erfahrene Wirk-
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lichkeit auf den in Erscheinung tretenden fiktiven Raum zurückführt. Das heißt also, der Bild-Schirm ist nicht selektiv in dem was und wie er schützt, sondern selektiv in dem wie seine Abschirmung durchlässiger ist. Es sind vor allem die Aspekte der selektiven Sinnesabschirmung und Sinnesdurchlässigkeit, die von Interesse sind. Denn sie legen es nahe, dass der Bild-Schirm eine solche Sinnesdifferenz forciert, wenn nicht gar voraussetzt. Für das 17. Jahrhundert heißt das ganz konkret, Sehen und Bild auf eine neue Basis zu stellen, denn beides wird autonom und erfährt nicht nur eine Trennung vom Betrachter, sondern auch vom Raum. Sehen an sich avanciert zu einem separierten Sinn oder umgekehrt ausgedrückt, die Leiblichkeit tritt zurück, weil die Wahrnehmung einer Ausdifferenzierung der Sinne unterliegt, die, wie Jonathan Crary in seinem Buch Techniken des Betrachters (Crary 1996) nachzeichnet, im 18. und 19. Jahrhundert im Zuge physiologischer Studien an einzelnen Sinnen ihren Höhepunkt erreicht (vgl. ebd.: 75ff).
7.3 D IE B ILD -S CHIRM -A NORDNUNG Es sind drei Elemente, die mit dem Bild-Schirm in Verbindung gebracht werden sollen. Zum einen haben wir es mit dem erwähnten anderen Raum zu tun. Es hat sich angedeutet, dass dieser einem veränderten Raumkonzept zu Grunde liegt, bei dem Raum nicht mehr als geschichtet konzipiert ist, sondern als Tiefenraum, in dem seine Objekte räumlich voneinander losgelöst gedacht und platziert werden. Von diesem anderen Raum losgelöst, vor ihm situiert, kann auch ein verändertes Konzept von Wahrnehmung ausgemacht werden. Die Sinne differenzieren sich aus und Sehen wird ein räumliches Sehen, bei dem Ausdehnung, Distanz und Trennung in den Vordergrund rücken. Wahrnehmung wird zweischneidig. Denn einerseits erfährt sich der Wahrnehmende als in diesem anderen Raum anwesend, gleichzeitig ist auch ein hohes Bewusstsein dafür vorhanden, von diesem anderen Raum abgelöst zu sein. Inszenierung von Welt wird zu einem Problem, dem man rational begegnet. Zur Folge hat das auch ein Abrücken des Subjekts und seiner Beteiligung an der Erzeugung des Schnitts. Das auf
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Descartes zurückgehende und weiter oben schon zitierte Bewusstsein für Illusion kommt hier erneut zum Vorschein: „Die Kunst der Täuschung besteht genau darin, mich das nicht merken zu lassen, aber ich kann vorsichtig sein, der einmal getäuschte Betrachter ist gewarnt“ (Schmeiser 2002: 180). Der Bildschirm lässt sich als trennendes wie vereinendes, als scheinbar durchlässiges, aber dennoch abschirmendes Etwas im Zwischen verorten. Wir sind weit von einem Raumeindruck entfernt, vielmehr ist der Blick selektiv auf diese eine Fläche hin ausgerichtet. Das heißt aber auch, dass der BildSchirm als eigenständiges Ding eine Ordnung des Sehens schafft. Wir haben es mit einer Anordnung zu tun, die grundlegend wird für den Umgang mit optischen Apparaturen und somit auch einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert in der Entwicklungsgeschichte der Technisierung der Wahrnehmung (vgl. Böhme 1998c) einnimmt. Diese Anordnung geht von einem Raum als spatium, einem Tiefenraum aus und löst so die aristotelische Vorstellung eines auf kontinuierliche Quantitäten aufbauenden Raumkonzeptes (vgl. Abschnitt 6.1.5, 188) ab. Diese am Bild-Schirm-Begriff angelehnte Anordnung lässt sich auf folgende Formel bringen: Subjekt – Bild-Schirm – anderer Raum Diese Anordnung zieht sich durch die neuzeitliche Geschichte westlichen Betrachtens und Sehens. Sie avanciert in Anlehnung an die Zentralperspektive, dennoch erst einige Zeit nach ihrer Erfindung zum vielfach variierten und modifizierten, dennoch in seiner Grundanlage konstanten Ordnungsprinzip. Für das Sehen und Wahrnehmen wird so der Bild-Schirm zu einem Paradigma visueller (An)-Ordnungen. Ein wahrnehmendes Subjekt als Betrachter oder auch Zuschauer befindet sich frontal vor einem gerahmten Schirm, durch den es hindurch blickt. Hinter oder auf diesem Schirm befindet sich ein anderer Raum. Der Schirm selbst fungiert hier als Mitte und Vermittler, denn ohne ihn, stünden die zwei Räume in keinem Verhältnis zueinander, weil es den anderen Raum nicht gäbe. Man kann dieses Ordnungsprinzip auf ganz unterschiedliche Bereiche visueller Repräsentation anwenden. Für die westliche bildende Kunst bis Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich das wie folgt umreißen: Das betrachtende Subjekt richtet seinen Blick auf ein zentralperspektivisch konstruiertes und komponiertes Gemäl-
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de. Dieses auf Leinwand fixierte Werk repräsentiert einen anderen Raum. Dieses Abbild ist statisch und wurde mit Hilfe der perspektivischen Konstruktionslehre auf Leinwand gebannt. Überträgt man dies auf Kino, lässt es sich wie folgt beschreiben: Das betrachtende Subjekt sitzt innerhalb eines dunklen Zuschauerraums. Sein Blick ist auf eine große rahmenlose Leinwand gerichtet. Auf ihr wird die Abfolge einer Sequenz von Lichtbildern gezeigt, die der Betrachter als anderen Raum erfährt. Die Bilder wurden von einer Kamera zentralperspektivisch und photorealistisch eingefangen. Sie werden von einem Projektor auf die Leinwand projiziert. Für das technische Medium Computer am Beispiel eines 3D Computerspiels wird der Betrachter zum Nutzer: Das nutzende Subjekt sitzt vor einem Monitor. Auf ihm wird ein anderer Raum abgebildet. Auch dieser wird mit Hilfe der zentralperspektivischen Konstruktionslehre erzeugt. Im Gegensatz zum Film handelt es sich um einen künstlich generierten, geometrischen Raum. Im Gegensatz zum Gemälde hat dieser eine zeitliche Komponente, die durch den Nutzer steuerbar ist. Was ist, wenn man diese Ordnung auf Theater anwendet? In Abschnitt 6 wurde aufgezeigt, dass die Erfindung der Zentralperspektive und der Einzug des Theaters in Theaterbauten eng miteinander verwoben sind. Es ist also kaum verwunderlich, dass diese Anordnung auch im Theaterbau vorkommt – ja sogar eine zentrale Stellung einnimmt. Das Subjekt Zuschauer befindet sich innerhalb des Zuschauerraums. Seine Wahrnehmung richtet es auf den Bühnenraum als anderen Raum aus. Zuschauer- und Bühnenraum werden durch architektonische Mittel deutlich voneinander getrennt. Der andere Raum ist aber – anders als bei allen bisher vorgestellten Beispielen – ein tatsächlicher Raum und kein Darstellungsraum. Der andere Raum befindet sich somit hinter dem Bild-Schirm und nicht auf ihm. Doch das heißt auch, dass es sich genau genommen nicht mehr um einen Bild-Schirm handelt, sondern um eine architektonisch herbeigeführte Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühnenraum. Zwischen beiden ist eine dem Bildschirm nachempfundene immaterielle Schnittfläche angesiedelt. Der klassische Theaterbau greift hierfür auf bildorientierte Hilfsmittel, wie Rahmung der Bühne, Vorhang oder Rampe als fenstergleiche vertikale Absetzung zurück. Die Gestaltung des Bühnenraums als eigenständigen Raum orientiert sich am Prinzip des anderen Raums. Dieser andere
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Raum als tatsächlicher Raum, dient der Erzeugung einer unüberspürbaren Gegenwärtigkeit. Diese Differenz zwischen Bild und Bühne benennt die Besonderheit des Theaters. Sie macht aber auch deutlich, dass die BildSchirm-Anordnung, wie sie in Theaterbauten seit der Renaissance implementiert ist, für das Theater alles andere als notwendig ist (vgl. Graubner 1968 und Abschnitt 3.2.2). Umso erstaunlicher ist es, dass weit über die Renaissance hinaus diesem anderen Raum als tatsächlichen kaum Relevanz beigemessen wird. Die ersten Tiefenbühnen, die der Reliefbühne folgen, haben sich bis ins 20. Jahrhundert hinein am zentralperspektivischen Bild und der Fläche orientiert. Erstaunlicherweise wird der andere Raum als hinter dem Bild-Schirm tatsächlich vorhandener erst Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt, als nämlich die Bild-Schirm-Anordnung des Theaters an sich in Frage gestellt wird (vgl. hierzu Abschnitt 8.4). Auf den folgenden Seiten wird der Fokus auf der hier vorgestellten Bild-Schirm-Anordnung und ihrer Herausbildung im 17. Jahrhunderts liegen. Als wesentliche Differenzmerkmale zu der in Abschnitt 6 vorgestellten Auffassung von Raum und Darstellungsraum lassen sich die Ausdifferenzierung von Subjekt und Objekt ausmachen. Als einen Aspekt dieser Ausdifferenzierung lässt sich als Fortsetzung zu den Ausführungen zum geschichteten Raum, die Entdeckung des anderen Raums als wahrnehmbare Größe anführen. Für diese Entdeckung bietet sich als exemplarische Momentaufnahme der Blick Galileo Galileis durch das Fernrohr an. Denn dieser Blick geht einher mit grundlegenden Veränderungen in der menschlichen Wahrnehmung und ist auf diesen nicht erreichbaren anderen Raum, den Welten-Raum, ausgerichtet. Die folgenden Betrachtungen werden sich an der Bild-Schirm-Anordnung orientieren und sich der Reihe nach dem anderen Raum, dem Subjekt und zum Schluss dem Element Bild-Schirm nähern. Alle Beispiele fokussieren auf sehr spezifische Ereignisse. Nicht aber die historische Entwicklung steht hierbei im Vordergrund, sondern der Wunsch, sich exemplarisch – vor allem angelehnt an technisch apparative Artefakte – der Bild-Schirm-Anordnungen zu nähern.
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7.4 D ER ANDERE R AUM – B OTSCHAF T S TERNEN
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Im Frühjahr 1610 nutzt Galileo Galilei (1564-1642) erstmals für seine Arbeit einen bis dahin als wissenschaftliches Instrument unbekannten optischen Apparat: das Fernrohr. Zwar wurde dieses Instrument schon zuvor genutzt (vgl. Blumenberg 1980: 14), doch erst Galilei kann den Blick durch das Fernrohr durch sein theoretisches und philosophisches Wissen gewinnbringend als wissenschaftliches Instrument aktivieren. Sein Blick in den nächtlichen Himmel bewirkt in der Geschichte der Wissenschaften weitaus mehr als das bloße Heranholen und Vergrößern entfernter Dinge. Unter vielen von Blumenberg in seinem Text Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit (Blumenberg 1980) beschriebenen Wirkungen, ist hier vor allem Galileis Vorgehen zu betonen, Wissenschaft geometrisch zu fundieren und der empirischen Forschung unter Einsatz von Instrumenten den Weg zu ebnen. „Das Fernrohr demonstriert […] erstmals den komplizierten Funktionszusammenhang von Wissenschaft und Technik, von Theorie und Konstruktion“ (ebd.: 18). Ganz analog beschreibt Bernhard J. Dotzler in seinem Text Galilei’s Teleskop (Dotzler 1995) die Wirkung für die Veränderung der Wahrnehmung, die dem Sehen einen neuen Stellenwert einräumt. Für Dotzler ist Galilei in zweifacher Hinsicht Erfinder, dessen Verdienst er nicht allein in der (Nach-)Erfindung des Fernrohrs verortet, sondern vor allem in der theoretischen Weiterentwicklung und Auswertung dieses Instruments. Galileis Vorgehen instrumentalisiert das Sehen nicht nur, sondern vergeistigt es auch: „Es sind die Augen des Geistes, die hier in Kraft treten“( ebd.: 20). Mit dem Blick durch das Fernrohr vertieft Galilei das durch Kopernikus eröffnete und von Kepler weitergeführte Konfliktfeld um die Frage nach dem Zentrum der Welt. Sein Blick und die daran geknüpften Schlussfolgerungen bringen ihn dazu, für das von ihm sowieso schon favorisierte kopernikanische Weltsystem auch öffentlich einzustehen (vgl. Blumenberg 1980: 7). Auch Alexandre Koryé beschreibt Galileis Bedeutung ähnlich, wenn er ihm den Übergang von einem aristotelischen hin zu einem theoriegeleiteten Weltbild zuschreibt, für das später Namen wie René Descartes und Isaac Newton stehen. Nach Alexander Koyré ist
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Galilei der Mittler zwischen einem Weltbild, das sich auf bloße Anschauung beruft und deshalb nicht mathematisch ist (Koyré 1988: 17), und einem abstrakten Ansatz, der auf einem dem menschlichen Geist entspringenden Theoriegebilde aufbaut (ebd.: 94). Alle drei Autoren siedeln den konkreten Blick Galileis durch das Fernrohr zwischen diesen zwei sehr grundlegenden Ansätzen an und überführen ihn in einen größeren historischen Kontext. Dieser Blick soll auch hier als Mittel eingesetzt werden und zwar als Mittel, um an ihm die Herausbildung des anderen Raums der Bild-SchirmAnordnung exemplarisch aufzuzeigen. Der Blick durch das Fernrohr bietet sich deshalb an, weil er einen grundlegenden Bruch mit dem herrschenden „Sichtbarkeitspostulat“ (Blumenberg 1980: 15) vollzieht. Auf dem mit bloßem Auge Sichtbaren beruft sich die gesamte aristotelische Anschauung von Welt und der daraus sich ableitenden theoretischen Reflektion zu den Dingen und ihrer Beschaffenheit. Aus dieser Position heraus musste es unerahnbar bleiben, daß nicht nur faktisch, sondern wesentlich Verborgenes und Niegesehenes in der Natur existierte, ja daß nur ihr kleinerer oder kleinster Ausschnitt den menschlichen Sinnesorganen zugänglich sein sollte oder daß, noch einen Schritt weiter, das sinnlich Erfahrbare die bloße phänomenale Oberfläche der Wirklichkeit darbot, deren elementare Konstitution nur in ganz heterogenen, anschaulich nicht mehr vollziehbaren, allein abstrakt formulierbaren Aussagen dargestellt werden konnte. (Ebd.)
Mit dem Blick durch das Fernrohr dagegen verliert die Welt ihren Status, ein aufgeschlagenes Buch der Natur zu sein, das zum Lesen bereit liegt (vgl. ebd.). Der Mensch ist auf Hilfsmittel angewiesen und muss einsehen, dass die Grenzen des Unsichtbaren unbestimmt sind, und zwar in beide Richtungen, denn etwa zeitgleich mit der Erschließung des Makrokosmos durch das Fernrohr ermöglicht das neu entwickelte Mikroskop (1590), das Unsichtbare des Mikrokosmos sichtbar zu machen. Galilei entrückt den Menschen von der Vorstellung, das Maß aller Dinge zu sein (vgl. Galilei 1980: 215). Die Vorstellung von der Erde als einzigartigen Körper, muss in Frage gestellt werden, nachdem deutlich wird, dass die Oberfläche des Mondes – der Erde gleich – Täler und Berge vorweist. Einen Beitrag hierzu liefert auch seine
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Erkenntnis, dass der Himmel von Sternen regelrecht überfüllt ist. Dabei wird nicht der Himmel in seinem Wert abgemindert, sondern die „Erde zum Himmel erhoben“ (Blumenberg 1980: 28). Die Erde wird auf vielfältigen Ebenen aus dem Zentrum gerückt und einem übergeordneten System zugeführt. Dort wird sie zu einem Teil von Vielen, neben Vielen. Als weitreichende Folge finden sich hier die Anfänge, das Universum als Ganzes „zum Raum einer homogenen Physik“ (ebd.: 27) werden zu lassen. Auch wenn dieser Wandel hin zu einer homogenen Raumvorstellung, die über die Erde und das Sichtbare hinaus reicht, bei Galilei und seinen Zeitgenossen längst nicht in seiner vollen Konsequenz ausgebildet ist, so ist er dennoch schon angelegt. Und so soll der Blick Galileis durch das Fernrohr als Handlung herangezogen werden, an der eine erste Ausdifferenzierung des anderen Raums der Bild-Schirm-Anordnung nachgezeichnet werden kann. In seinem Text Sidereus Nuncius (Galilei 1980) stellt Galilei eine Anordnung vor, an Hand der man die Vergrößerungsleistung eines Teleskops überprüfen kann. Mit ihr lässt sich die Stellung Galileis zwischen Mittelalter und Neuzeit (vgl. Blumenberg 1980: 27), zwischen natürlichem und apparativem Sehen gut veranschaulichen. Galilei führt in seinem Text nur rudimentär in die Herstellung eines Teleskops ein. Dabei erwähnt er auch ein Verfahren zur einfachen Überprüfung der Vergrößerungsleistung am Beispiel eines vierhundertfach vergrößernden Teleskops. Man schneide sich aus Papier zwei Quadrate, von denen das eine in seiner Fläche vierhundertmal größer ist als das andere. Beide befestigt man nebenein-
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H
D
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A E B
G
„Solange in dem Rohr keine Linsen wären, würden die Sehstrahlen zum Gegenstand FG entlang den geraden Linien ECF, EDG laufen. Bei eingefügten Linsen aber mögen sie entlang den gebrochenen Linien ECH, EDI laufen, sie werden nämlich gesammelt [...]“ (Galilei 1980: 86).
Abb. 26: Galileo Galilei, Zeichnung zur Beschreibung der Funktion des Fernrohrs (1610)
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ander an einer Wand, begibt sich in eine große Entfernung davon und blickt sie gleichzeitig an. Das kleine Quadrat betrachtet man mit einem Auge durch das Fernrohr, das große mit dem anderen, bloßen Auge. Wenn beide gleich groß erscheinen, hat man die Vergrößerungsleistung bestätigt (vgl. Galilei 1980: 86). Im Vergleich zu herkömmlichen Sehtheorien findet in dieser Anordnung auf den ersten Blick kein allzu großer Eingriff statt. Orientiert man sich an den Ausführungen Albertis zur Sehpyramide, so beschreibt er für das Sehen zwei voneinander abhängige Prozesse: Je nach Abstand zwischen Auge und Motiv verändert sich auch der Winkel der Sehpyramide. Je weiter ein Motiv entfernt ist, umso spitzer ist dieser Winkel (vgl. Alberti 2002: 75, I/6). Galilei greift auf vorhandene Sehtheorien zurück und kann damit die Wirkung des Fernrohrs beschreiben. Denn das Fernrohr bewirkt letztlich nichts anderes, als das es durch seine Linsen den Winkel der Sehpyramide verändert (vgl. Galilei 1980: 86). Der Eingriff in das natürliche Sehen ist dennoch grundlegend, was auch daran zu erkennen ist, dass zur Zeit Galileis einige den Blick durch das Fernrohr zeitlebens verweigern (Blumenberg 1980: 10). Für die Herausbildung des anderen Raums und der BildSchirm-Anordnung werden durch diesen doppelten Blick dieses Experiments grundlegende Eingriffe ins Sehen evident. Um Dinge genauer sehen zu können, muss eine Person sich nicht mehr in Bewegung setzten. Vergrößern und Heranholen werden zu allein optisch beeinflussbaren Verfahren. Das heißt der Blick durch das Fernrohr lässt Entfernung zu einer abstrakten und manipulierbaren Größe werden, die sich auch geometrisch berechnen lässt. Doch womit hat es derjenige, der durch das Fernrohr blickt, denn tatsächlich zu tun, mit einer Vergrößerung oder einem Heranholen? Galilei lässt diesbezüglich eigentlich keine Zweifel aufkommen, wie am eben vorgestellten Experiment zu sehen ist: Mit dem optischen Heranholen erscheinen die Dinge vergrößert. Völlig zweifelsfrei kann Galilei letztlich aber nicht sein. Gerade das durch das Teleskop bewirkte Heranholen bricht weitreichend mit dem vorherrschenden Weltbild. So zeigt Koyré in seinem Buch Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum (Koyré 1980) auf, dass Vergrößern und Heranholen zur Zeit Galileis noch nicht so unmittelbar aneinander gekoppelt waren. Der Blick durch das Fernrohr – so Koyré – kann
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in zweierlei Weise interpretiert werden. Entweder – am Mikroskop orientiert – vergrößert das Teleskop Sichtbares. Oder – am heutigen Verständnis des Teleskops orientiert – werden entfernte Dinge herangeholt und erscheinen deshalb größer (ebd.: 91). Galilei, so behauptet Koyré fälschlicherweise, vermeidet die zweite Interpretation weitestgehend (ebd.: 92). Falsch liegt er hiermit, weil ganz klar unterschieden werden muss, in welchem Zusammenhang Galilei diesen zweiten Aspekt vermeidet. In Bezug auf Gegenstände, die sich nah oder in mittlerer Ferne befinden, wie eben jene Quadrate auf der Wand oder auch der Mond, thematisiert Galilei die Funktion des Heranholens sehr deutlich. So stellt er fest, dass man weit entfernte Dinge „so deutlich wahrnahm, als sähe man sie aus der Nähe“ (Galilei 1980: 84). Auch stellt er fest, dass, mit dem Blick durch das Fernrohr, der Mond so erscheint, als sei er nur noch zwei Erdhalbmesser entfernt (vgl. ebd.: 83). Dagegen vermeidet Galilei jegliche Aussage über das Heranholen für weit entfernte Gegenstände wie die Sterne. Die Skepsis gründet auf zwei Aspekten. Beim Blick durch sein Teleskop auf die Sterne stellt sich nicht der Effekt des Vergrößerns ein, wie es für den Mond der Fall ist (vgl. ebd.: 105). Außerdem entdeckt Galilei sehr viele Sterne, die mit dem bloßen Auge nicht sichtbar sind. Er lüftet damit das Geheimnis um die Milchstraße, die für eine Wolke gehalten wurde. Gleichzeitig kommt aber auch eine andere Frage auf: Sind diese ohne Fernrohr nicht sichtbaren Sterne zu klein, um gesehen zu werden oder zu weit weg? Ausgehend von damals herkömmlichen Annahmen, befinden sich alle Sterne auf der äußeren Himmelssphäre. Weil deshalb alle Sterne gleich weit vom Zentrum der Welt, der Erde, entfernt sind, wären die mit bloßem Auge nicht sichtbaren Sterne sehr klein. Der Blick durch das Fernrohr würde sie so lediglich vergrößern. Geht man aber davon aus, dass die mit bloßem Auge nicht sichtbaren Sterne womöglich weiter entfernt sind, als die sichtbaren, hieße das, die herkömmliche Meinung zu durchbrechen und die Begrenzung des Universums in Frage stellen. Galilei hält dies sehr wohl für möglich. So sagt er explizit, „daß nicht einmal vier Fixsterne […] gleich weit von irgendeinem Punkt des Universums entfernt sind.“ (Galilei 1896, zit. nach Koyré 1980: 92). Doch widerspricht das allen vorherigen Lehren einer begrenzenden Himmelsphäre, auf der alle Sterne angeordnet sind. Als zweiten daran geknüpften Aspekt hieße das auch, dass es womöglich Sterne gibt, die größer als die Sonne sind: „für wie groß müssen
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wir sie daher halten?“ (ebd.). Darauf begründet sich die Vermeidung einer deutlichen Stellungnahme. Mit dem Blick auf die Fragestellung nach dem anderen Raum bestätigten sich die am Experiment vollzogenen Schlussfolgerungen auch hier. Die Leistung des Fernrohrs, Dinge aus der Ferne heranzuholen, lässt Entfernung zu einer abstrakten Größe werden. Für den Blick in den Sternenhimmel kommt diese Unklarheit hinzu, ob die Sterne sich auf einer Himmelssphäre befinden oder jeder für sich einen ihm vorgelagerten eigenen Ort hat. Denn sollte jeder Stern für sich einen eigenen Ort haben, wird dieser ferne Raum selbst zum Abstraktum. Ganz im Sinne der aristotelischen Raumtheorie, haben auch Sterne ihren Ort. Und im Sinne dieser Theorie können sie auch – wie die Sonne oder der Mond – der Himmelssphäre vorgelagert sein. Dann aber ist diese endlos groß und entrückt dem Menschen als Raum. Dieser ferne Raum, der nur bedingt mit dem Fernrohr erkundet werden kann, kann so nur als abstrakter und vom Menschen getrennter anderer Raum wahrgenommen werden, bleibt er doch für die empirische Forschung unerreichbar und man muss sich seine Beschaffenheit und Ordnung aus abstrakten Annahmen herleiten. Galilei kommt in Sidereus Nuncius zu einer für seine Zeit ungeheuerlichen Erkenntnis, er setzt den Mond mit der Erde gleich. Nicht um die Konsequenzen, die er daraus zieht, nämlich die Abkehr vom geozentrischen Weltbild, soll es hier gehen, sondern um den Blick auf den Mond als der Erde gleicher und deshalb anderer Raum. Ziemlich zu Anfang seines Traktats Sidereus Nuncius gibt Galilei folgenden Ausblick auf das was den Leser erwartet: Ein sehr schöner und erfreulicher Anblick ist es, den Mondkörper, der etwa sechzig Erdhalbmesser von uns entfernt ist, so aus der Nähe zu betrachten, als sei er nur zwei solcher Längen entfernt. Dadurch erscheint der Durchmesser des Mondes ungefähr dreißigmal, seine Oberfläche neunhundertmal und sein Volumen annähernd siebenundzwanzigtausendmal so groß, als wenn man ihn nur mit bloßem Auge betrachte. (Galilei 1980: 83)
Dotzler betont, dass dieser Stelle, weil sie sich an solch prominenter Stelle im Text befindet, besondere Aufmerksamkeit zukommen sollte. Und so wertet er sie als bewusst vorgeschaltetes Lockmittel
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für den Leser, um sich und das verfolgte Anliegen interessant zu machen. Dotzler sieht auch seine These bestätigt, dass das Fernrohr das Sehen vergeistigt hat. Denn Galilei spricht davon das Volumen des Mondes sehen zu können, obwohl er – wie uns schon Alberti gelehrt hat – lediglich seine Oberfläche hat sehen können (vgl. Dotzler 1995: 19). Doch steckt hinter dem hier präsentierten, vermeintlich spielerischen Rechenbeispiel weitaus mehr. Es ist eine erste Anspielung auf die für Galilei zentrale Erkenntnis, dass es sich beim Mond um einen Körper handelt, der nicht etwa ein glatter Spiegel ist, sondern vielmehr der Erde gleicht. Galilei widerspricht im Verlauf seines Textes dem damals weitverbreiteten Verständnis vom Mond als Spiegel. Er weist darauf hin, „dass die Oberfläche des Mondes nicht glatt, regelmäßig und von vollkommener Rundung ist, wie es eine große Schar von Philosophen vom Mond selbst und von den übrigen Himmelskörpern geglaubt hat“ (Galilei 1980: 87f). Jurgis Baltruãaitis beschreibt in seinem Buch Der Spiegel (Baltruãaitis 1986), dass bis über die Renaissance hinaus der Mond als ein Spiegel angesehen wird. Dabei wird immer wieder diskutiert, ob es sich um einen konvexen oder konkaven Körper handelt, ob seine Oberfläche poliert sei oder aus einer reflektierenden Flüssigkeit bestünde (vgl. ebd.: 49ff). Noch bevor Galileis Erkenntnisse auf Akzeptanz stoßen, wird der Mond einer christlichen Auffassung zugeführt. Er wird – so Jean Gebser – als Seele aufgefasst, die nur indirekt und schwach den Geist, für den die Sonne steht, auf die Erde umlenkt. (vgl. Gebser 1986: 333). Dem Mond seine glatte und perfekte Oberfläche abzusprechen, hat somit zur Folge, dass seine bis dahin symbolische Einordnung auf der Basis empirischer Erkenntnisse dem Himmel entnommen und der Erde zugeführt wird. Als darüber hinausgehende Konsequenz wird der Mond als anderer, der Erde gleicher Körper und eigenständiger Raum vorgestellt, der eine Entfernung zur Erde hat, ein Volumen und damit als abstrakter Körper in der Luft hängt. Daran zeigt sich wiederum die Zwischenposition Galileis zwischen anschaulichem Erkenntnisgewinn und abstrakter Ableitung. Mit dem Blick durch das Fernrohr wird in Ableitung vom Gesehenen auf einen Zustand geschlossen, der aber letztlich nicht vollständig in der Anschauung verifiziert werden kann. Die Rückseite des Mondes bleibt seit jeher ein Geheimnis. Es bleibt somit immer in der analytischen Herleitung ein Rest interpretatorische Abstraktion enthalten. Die konkreten Schlussfolgerungen Galileis beim Anblick
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des Mondes durch das Fernrohr sind richtig, aber empirisch nicht überprüfbar. Wir haben es mit jenem von Blumenberg beschriebenen Aufkeimen eines Verständnisses um den homogenen Raum zu tun, das aber noch weit von seiner abstrakten Formulierung entfernt ist, wenn es auch schon über die direkte Wahrnehmbarkeit hinausreicht. Denn die Homogenität des Weltalls und seiner Naturgesetze in Raum und Zeit kann überhaupt nicht das Resultat einer empirischen Forschung und die Konsequenz ihrer Bestätigung sein, weil sie als generelles Postulat, gleichsam als die letzte aller Hypothesen, schon für die Möglichkeit empirischer Feststellungen vorausgesetzt sein muß. (Blumenberg 1980: 27)
Umso bedeutender ist Galileis Vorgehen, stellt er doch Behauptungen auf, die nicht nur nicht belegbar sind, sondern auch vollkommen disparat zum vorhandenen und allgemein anerkanntem Wissenskanon. Für ihn ist sein Handeln mit weitreichenden Konsequenzen – 1633 Verurteilung und Hausarrest bis zu seinem Tod 1642– und auch inneren wie äußeren Konflikten verbunden, bei denen er sich gegen religiöse, kirchliche, aber auch eigene Werte und Vorstellungen stellt. Dennoch bringen seine empirischen Forschungen neue Fragen auf, die – wie schon beim Blick auf die Milchstraße – vorhandene Theorien und Konzepte zumindest überdenkungswürdig werden lassen. Gerade deshalb muss Galilei den Mond als erdgleichen Körper in den Himmel setzen. Nur so kann er, für seine an Analogien orientierten wissenschaftlichen Betrachtungen, seiner habhaft werden. Denn dieser ist durch sein Fernrohr klar und deutlich sichtbar und kann als direkter Beweis herangezogen werden. Damit holt sich Galilei diesen anderen Raum des Mondes auch auf die Erde herunter. Erneut kommen zwei bisher benannte Aspekte zum anderen Raum zum Vorschein. Entfernung wird zu einer abstrakten Größe, die es erlaubt, weit Entferntes auf die Erde herunterzuholen. Mit der einen wesentlichen Erweiterung, das woran man sich mit dem Fernrohr nähert – der Mond – ist sehr viel gewaltiger, als ein Papierquadrat. Gerade dadurch wird dieser weit entfernte, bis heute kaum erreichbare Mond, zu einem anderen Raum, weil man sich dort genauso wie auf der Erde aufhalten könnte. Nicht erreichbar waren die
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Sterne und der Mond bisher auch ohne Fernrohr. Die neue Qualität ergibt sich aus dieser abstrakten Möglichkeit, auf diesem abstrakten Mond, weil er der Erde gleicht, potentiell anwesend sein zu können. Dieser andere Raum wird so zu einem realen Raum, der aber doch immer nur als vor allem visuelle Wirklichkeit auf der Erde anwesend sein kann. Oder anders ausgedrückt: Der Raum wird zu einem anderen Raum, der zwar sichtbar ist, aber letztlich jenseits meiner Realität liegt. So auch wird der Mond zu einem fiktiven Raum, der zwar durch das Fernrohr erstaunlich detailliert erforscht werden kann, dann aber auch immer eine Vielzahl an abstrakten Herleitungen und Schlussfolgerungen abverlangt. Es geht aber nicht nur um den Mond, sondern letztlich auch um die Erde selbst. Der Mond, gibt eine Anschauung davon, wie die Erde aus großer Entfernung wohl ausschaut. Der Planet auf dem der Mensch wohnt wird erstmals – deutlich über Globen und Karten hinaus – indirekt sichtbar und abstrakt erfahrbar. Unsichtbares wird so sichtbar gemacht. Doch das heißt auch, über den Vergleich eine abstrakte Vorstellung von dem selbst nicht Sichtbaren zu erhalten. Unsichtbar ist somit auch das, auf und in dem man sich selbst befindet. Unsichtbar ist es aber nicht, weil es zu klein oder zu weit weg ist, sondern weil es schlichtweg zu nah ist. Der andere Raum ist nicht mehr der entfernte Raum allein, sondern der, in dem man sich selber befindet, sofern man sich ein abstraktes Bild von diesem Raum macht, wie die im 17. Jahrhundert boomende Kartographie. Der Mensch nimmt so eine abstrakte und von seiner leiblichen Anwesenheit distanzierte Position ein. Er wird als abstrakter Betrachter zu einem sich vom Raum leiblicher Anwesenheit ablösenden Subjekt, dessen virtueller Ort außerhalb der Erde anzusiedeln ist. Schmeiser zeigt auf, dass dieser abstrakte Standpunkt letztlich die Sonne selbst ist, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden kann (vgl. dazu ausführlicher Schmeiser 2002: 136). Zusammenfassend lässt sich festhalten: Mit diesen an Galilei orientierten Betrachtungen wird auf vielen Ebenen der Raum als anderer Raum, als Raum der Abstraktion oder geometrischer Raum qua spatium eingeführt. Albertis finestra aperta beginnt so zur sinnstiftenden Metapher zu avancieren, weil das Fernrohr den Blick auf einen entfernten anderen Raum freigibt, der für den Betrachter letztlich in seiner Gänze leiblich nicht erreichbar ist. Mit dem Blick durch das Fernrohr wird der Raum leiblicher Anwesenheit, der bisher die
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Anschauung maßgeblich bestimmt hat, auf eine Weise ausgedehnt, dass das Sichtbare mit diesem Raum nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Das was mit dem Auge sichtbar wird, steht nicht mehr in einem sinnlichen Gesamtzusammenhang zu der Wahrnehmung dessen, der schaut. So auch wird noch einmal die Ambivalenz deutlich, in die sich Galilei mit seinem Experiment zur Bestimmung der Vergrößerungsleistung eines Fernrohrs begibt. Sein eines Auge ist Teil leiblicher Anwesenheit. Das andere Auge, das, das durch das Fernrohr blickt, ist gespalten. Der Ort der Anwesenheit des Auges und der Ort des Gegenstandes, das es sieht, gehören nicht dem gleichen räumlichen Gefüge an. So befindet sich das Auge weder dort wo es leiblich verortet ist, noch dort, wo es optisch zu sein vorgibt. Es wird so aus der leiblichen Wahrnehmung herausgelöst. Das Auge sieht etwas anderes als der Leib erfährt. Sehen wird so auch aus der leiblichen Wahrnehmung herausgelöst, wird isoliert und als eigener und unabhängiger Sinn überhaupt erfahrbar. Das Auge als so vom Leib isoliertes Sinnesorgan ermöglicht die doppelte Anwesenheit. Mit dem Auge ist man in einem anderen Raum und mit dem Leib im Raum leiblicher Anwesenheit. Diese beiden Räume müssen nichts miteinander zu tun haben – Mond und Sternwarte – der andere Raum wird so als getrennter und dennoch gegenwärtiger Teil der Wahrnehmung erfahren. Das sind Grunderfahrungen, die für die Bild-Schirm-Anordnung, aber auch die Subjekt-Objekt Trennung, wie sie sich im 17. Jahrhundert herausbilden, grundlegend sind. Auch wenn hier nicht weitreichend darauf eingegangen werden kann, ist es letztlich Descartes, der mit seinem philosophischen Ansatz, aber auch seiner auf ein dreidimensionales Koordinatensystem aufbauenden Raumkonzeption, die von Blumenberg angesprochene „letzte aller Hypothesen“ (Blumenberg 1980: 27), eines übergeordneten homogenen Raumgedankens entwickelt. Ausgangspunkt für ihn ist die (auch im Blick durch Galileis Fernrohr erfahrbare) Ungewissheit menschlicher Sinneswahrnehmung, denn sowohl Sinnestäuschungen als auch die Ineffizienz der Wahrnehmung spornen ihn als Wissenschaftler an, ein Betrachtungssystem für die Welt zu entwickeln, das sich den Täuschungen entziehen kann. Dafür kommen in seiner Überzeugung nur der Geist des Menschen und die Mathematik in Frage.
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In Anlehnung an Aristoteles verneint auch er den leeren Raum (vgl. Koyré 1980: 96f), unternimmt aber den entscheidenden Schritt, Raum als Ausdehnung und Bewegung zu bestimmen. War bei Aristoteles der Raum noch bestimmt durch die äußeren und inneren Oberflächen von Körpern, als die innere Grenze eines einschließenden Körpers (vgl. Jammer 1980: 17f oder Abschnitt 6.1.5) konzipiert Descartes einen Raum qua spatium, einen körperlichen Volumenraum. Wir werden aber leicht erkennen, daß es dieselbe Ausdehnung ist, welche die Natur des Körpers und die Natur des Raums ausmacht, und daß beide sich nicht mehr unterscheiden [...] (Descartes, Principia philosophiae, §II, zit. nach Koyré 1980: 98)
Damit schafft er auf der philosophisch-mathematischen Ebene ein Gesamtsystem, mit dem es möglich wird, die für Galilei noch unvereinbaren Bereiche von Milchstraße, Sternen und weit entfernten Planeten mit der Erde und dem Mond zusammenzuführen. Diesen Orten können nun absolute Werte, auch in Bezug auf ihre Platzierung, zugeordnet werden. Nicht nur jeder Körper für sich hat eine Ausdehnung, sondern der Raum an sich ist Ausdehnung und Bewegung und darin können andere Körper platziert und angeordnet werden. Damit wird der andere Raum aus dem Bereich der Analogie und der Empirie herausgeholt. Mit Descartes lässt sich zeigen, dass bei ihm konzeptionell die klare Trennung des anderen Raums vom Raum leiblicher Anwesenheit angelegt ist. Denn er überantwortet Raum ganz der Abstraktion und der Mathematik. Letztlich baut die Bild-Schirm-Anordnung auf diesen Schritt auf. Der Mensch als Betrachter kann so in einen vom Betrachtungsgegenstand getrennten Raum platziert werden. Seine kognitiven Fähigkeiten entlasten ihn und geben ihm Mittel an die Hand, fehlerhafte und der Täuschung unterliegende empirische Betrachtungen zu verifizieren. Deshalb auch kann der Betrachtungsgegenstand ohne weiteres zu einem anderen Raum avancieren, in dem Fremdheit, Fiktion oder auch Illusion zum Mittel der Täuschung und des Amüsements werden. Nicht zuletzt kann so aber auch das Auge als einzelnes Organ vom Leib isoliert werden. So wird das Auge im 17. Jahrhundert zu einem zentralen Forschungsgegenstand, was vor allem zu einer vollständigen Revision und Aufhebung aller bis dahin gültigen Sehtheorien führt.
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Daran maßgeblich beteiligt ist die Camera obscura. An ihr als technische Apparatur lässt sich die Ausbildung des Subjekts innerhalb der Bild-Schirm-Anordnung veranschaulichen.
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Wenn in einen absolut dunklen Raum Licht durch ein kleines Loch in einer Wand einfällt, wird auf der gegenüberliegenden Wand ein um 180 Grad gedrehtes und spiegelverkehrtes Bild sichtbar. Das ist das Grundprinzip der Camera obscura, die als Artefakt und als optisches Phänomen für die Kulturgeschichte des Sehens in Europa einen ebenso zentralen Stellenwert wie die Zentralperspektive oder auch das Fernrohr einnimmt. Auch wenn ihr Effekt seit der Antike bekannt ist und auch schon im Mittelalter erwähnt wird (vgl. Hick 1999: 22f), als Apparatur für wissenschaftliche Erkenntnisse und empirische Forschung kommt die Camera obscura erst Mitte des 16. Jahrhundert zum Einsatz. Hier vor allem als augenschonende Apparatur für astronomische Beobachtungen (vgl. ebd.: 24). So setzt Johannes Kepler (1571-1630) sie 1600 für die Betrachtung einer Sonnenfinsternis ein. Als technisches Artefakt wird sie auch zu einem wichtigen Bestandteil damaliger Theoriebildung. Das schon lange bekannte empirisch optische Phänomen wird in einen empirisch-theoretischen Kontext eingebunden und gleichzeitig in ein konkretes optisches Artefakt überführt (vgl. ebd.: 22 oder Crary 1996: 39).
Abb. 27: Astronomische Camera obscura zur Betrachtung einer Sonnenfinsternis (1545).
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Doch neben dem Einsatz für die Astronomie ist die Camera obscura vor allem für damalige Sehtheorien von Bedeutung. Dabei steht vor allem das Phänomen im Vordergrund, das ein Bild natürlicher Objekte entstehen kann, nachdem ein Lichtstrahl durch eine nur kleine Öffnung fällt (vgl. Hick 1999: 24). Auch Keppler befasst sich mit der Camera obscura, was ihn zur Entdeckung des Netzhautbildes führen sollte, dessen Theorie er in dem 1604 erschienenen Ad Vitellionem Paralipomena (Kepler 1921) darlegt. Um diese Theorie des Netzhautbildes wird es im Folgenden gehen, denn sie ist es, die nicht nur gültige Sehtheorien auf den Kopf stellt, sondern sich auch mitverantwortlich zeigt für die Herausbildung eines kognitiven Subjekts, das im Sehen vom Raum leiblicher Anwesenheit getrennt ist. Was also ist das Netzhautbild und in welchem Zusammenhang steht es mit der Camera obscura? Sowohl Crary (vgl. Crary 1996: 57), als auch Hick (vgl. Hick 1999: 47ff) und Haß (Haß 2001: 526) stellen jeweils eine Versuchsanordnung aus René Descartes Dioptrik (Descartes 1954) vor, anhand derer diese zwei Fragen beantwortet werden können. Descartes führt den Versuch mit dem Auge eines toten Tieres durch. Von dem Auge entferne man die umgebenden Häute, um es dann in ein extra angefertigtes Loch eines sonst lichtundurchlässigen Fensters einzupassen. Da Licht in den Raum der Versuchsanordnung nur noch durch das Auge eindringen kann, bildet sich nach dem Prinzip der Camera obscura auf der Haut der Rückseite des Auges – der sogenannten Netzhaut – ein naturgetreues Abbild aller Gegenstände außerhalb ab. Der Transfer vom tierischen Auge zum menschlichen ist naheliegend. Vor allem aber steht die in diesem Experiment veranschaulichte und lange vor Descartes formulierte Erkenntnis Kepplers im Vordergrund, dass beim Sehen nichts weiter als ein Bild, eine pictura auf der besagten Netzhaut erscheint. Das aber widerspricht allen bis Ende des 16. Jahrhunderts bekannten Sehtheorien. Ausgehend von der perspektivistischen Sehtheorie, an der sich 150 Jahre zuvor schon Alberti orientierte und an der sich auch Keppler orientiert (vgl. Lindberg 1987: 273f und 312), wird folgendes Problem evident: Wenn alle Sehpyramiden, die zwischen Auge und dem was man sieht, im Auge zu einem knotenartigen Punkt zusammenlaufen, müsste man an sich nur diesen Punkt sehen. Solange Sehen außerhalb des Auges stattfindet, bindet dieser Punkt das Auge an das Sichtbare an. Sobald aber Sehen ins Auge hinein verlagert wird, muss das Sichtbare eine Ausdehnung haben und kann so nicht in
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einem Punkt zusammenlaufen. Koyré betont, wie bemerkenswert Kepplers Aussage vom Bild im Auge ist, weil es erstmals in der Sehtheorie die Rede von einem vom Beobachter unabhängigen Abbild gibt (vgl. Koyré 1980: 349). „Es muß ein Sehen nach dem Sehen geben können: das Auge wird, bildlich gesprochen, zur albertischen Glasplatte“ (Schmeiser 2002: 89). Kepler erkennt das Bild auf der Netzhaut als den albertischen Schnitt, der jetzt nicht mehr in der Sehpyramide verortet werden kann, sondern auf der Netzhaut selbst (ebd.: 141). Als Folge lässt sich ausmachen, dass der Mensch der Verantwortung dessen, was er sieht, enthoben wird, weil der Vorgang des Erscheinens eines Bildes auf der Netzhaut durch die Unabhängigkeit vom Betrachter und damit auch dem aus heutiger Sicht eigentlichen Prozeß menschlicher Wahrnehmung charakterisiert ist. Über das Netzhautbild wird ferner nicht mehr die Realität unmittelbar selbst, sondern ein Abbild von ihr wahrgenommen. […] Auge und Sehen werden vom menschlichen Körper isoliert, und der Vorgang des Wahrnehmens wird letztlich unabhängig von der körperlichen Existenz des Wahrnehmenden definiert. So treten sich nun in diesem Modell eine objektive äußere Wirklichkeit und ein autonomes, von ihr separiertes und zugleich entkörperlicht bestimmtes Subjekt als diskrete Entitäten gegenüber. (Hick 1999: 42)
Spielte in der Renaissance diese Trennung für das Sehen selbst noch keine Rolle, obwohl es schon apparative Anordnungen gibt, bei denen zwischen Betrachter und Betrachtetem ein Bild-Schirm als Hilfsmittel für die Übertragung aufgespannt wird; jetzt wird sie evident und erkenntnistheoretisch vertieft und ausgebaut. Die Verflochtenheit der Natur mit ihrer Repräsentation, die NichtUnterscheidbarkeit von Realität und ihrer Projektion, schafft die Camera obscura ab und ersetzt sie durch ein optisches System, das Bild und Realität a priori voneinander scheidet. (Crary 1996: 48)
Damit avanciert die Camera obscura neben ihrem Einsatz als vielfältig genutzte Apparatur zum Inbegriff des menschlichen Sehens, das sich in dieser Apparatur widerfindet. Jonathan Crary kommt zu dem Schluss, dass
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vom Ende des 16. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, die strukturellen und optischen Prinzipien der Camera obscura zu dem tonangebenden Paradigma verschmolzen, mit dessen Hilfe der Status und die Möglichkeiten des Sehens beschrieben wurden. (Ebd.: 41)
Die Apparatur wird zum Beschreibungsgegenstand des menschlichen Sehens, was auch bedeutet, dass das Subjekt in seinem Sehen nicht mehr bei den Dingen ist, sondern hinter der Netzhaut seines Camera obscura Auges. Die Camera obscura, so Crary, ist „ein Indikator für das Entstehen eines neuen Modells der Subjektivität, für die Vormachtstellung einer neuen Subjektivierung“. Sie setzt einen „Individuationsprozess in Gang, d.h. sie definiert den Betrachter als isoliert, abgeschlossen und autonom“ (ebd.: 49). Die Scheinhaftigkeit der Welt kann jetzt verstärkt auf den Plan treten. Wenn selbst der Mensch seinen eigenen Augen – dem Erkenntniswerkzeug schlechthin – nicht mehr trauen kann, weil das Gesehene nicht in der Welt, sondern nur Abbild dieser ist, muss er entweder nach anderen Mitteln der Erkenntnis suchen oder sich getrost einer Welt des Scheins hingeben. Das Letztere findet im Barocktheater sein zentrales Ausdrucksmittel. Eine Welt, deren Schein die Grenze zwischen Theater und Welt bzw. Welt und Theater auflöst: Die ganze Welt war nun Theater und das Theater die Welt, wie es Richard Alewyn plastisch darlegt (Alewyn 1959: 69f). Ersteres hingegen erfordert ein sich zur Wehr setzen und nach Lösungen suchen, die es erlauben, sich nicht täuschen zu lassen. Das Subjekt muss sich loslösen können von der sichtbaren Welt und eine Erkenntnistheorie schaffen, die von der Wahrheit des Sehens, letztlich des menschlichen Körpers an sich befreit ist. In seinem Discours de la méthode (Descartes 1990) wirft Descartes die Frage auf, inwieweit Geist und Körper in Zusammenhang stehen. So geht er davon aus, dass man den menschlichen Körper als Maschine reproduzieren könne, bis auf den Geist und die Vernunft. Damit benennt er auch die besonderen Eigenschaften des Menschen, die ihn vom Tier unterscheiden (ebd.: 91f, V/9f). Den Geist vom Körper lösen heißt, sich von der Scheinhaftigkeit der Welt zu lösen. Nicht nur, weil der Geist den Menschen über alle anderen Lebewesen setzt, sondern auch, weil er von den körperlichen Beschränkungen und Täuschungen weniger betroffen ist.
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Abb. 28: René Descartes Veranschaulichung zur Theorie des Netzhautbildes (1637).
Mit dieser Erkenntnis wird die durch die Entdeckung des Netzhautbildes eingeschlagene Ausrichtung des Bild-Schirms evident: Die Differenz zwischen der Anwesenheit des Betrachters im Raum und der durch Optik und Auge gegebenen und möglichen visuellen Distanziertheit zu jenem Raum, in dem man anwesend ist. Verschärft wird diese Ausrichtung, weil der Schnitt nicht mehr außerhalb des Subjekts im Raum seiner Anwesenheit angesiedelt wird, sondern im Auge direkt, auf der Netzhaut. Das Sehen an sich wird in doppelter Weise zu einem distanzierten, wie der Abb. 28 zu entnehmen ist. Das Subjekt selbst ist im Sehen von den äußeren Dingen abgelöst. Aber auch Erkennen wird als von sich selbst distanziertes Erfahren aufgefasst. Der erkennende Geist ist hinter dem Auge platziert und macht sich von dort ein Bild von der äußeren Welt. Um Überblick zu erhalten, muss das Subjekt nicht nur Abstand zum betrachteten Gegenstand wahren, sondern auch zu seiner vom Körper bestimmten leiblichen Befindlichkeit. Die visuelle Wahrnehmung differenziert sich als singuläre Wahrnehmung aus und verankert ihren Anspruch in der Rationalität. Der Schnitt muss nun vom Subjekt explizit erzeugt werden, als eine bewusste Handlung gegenüber ei-
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nem Geschehen. Das auf die Netzhaut projizierte Abbild erfordert eine innere Distanzierung, um es als äußerlich objektives Bild betrachten zu können. Gleichzeitig muss der Betrachter aber immer auch damit rechnen, getäuscht zu werden, einer Illusion aufzusitzen.
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Ausgangspunkt der bisherigen Betrachtung war die Bild-SchirmAnordnung und die damit beschriebene Differenz zwischen Subjekt und dem anderen Raum, die durch den einen scheinbar offenen und gleichzeitig selektiv schützenden Bild-Schirm bestimmt wird. Darauf bezugnehmend wurde weiter oben eine sehr spezifische Genese des anderen Raums nachgezeichnet, die vom quasi unschuldigen, aber dennoch abstrahierenden Blick durch das Fernrohr ausging und bei einem durch Descartes begründeten Theorieansatz endete, der auch für die Bild-Schirm-Anordnung von grundlegender Bedeutung ist. Die bisherigen Ausführungen haben sich auf Subjekt und den anderen Raum konzentriert, was fehlt ist der Bereich Dazwischen: der Bild-Schirm. Zwar wurde immer wieder vom Schnitt durch die Sehpyramide gesprochen, tauchten das Bild, die Netzhaut, das Teleskop oder das velum auf. Dennoch sind sie alle bisher ausschließlich als Mittel beschrieben worden, die dem Subjekt oder dem anderen Raum zuspielen. Damit ist eine Charakteristik des Bild-Schirms benannt, es steckt zwischen Subjekt und dem anderen Raum. Angedeutet wurde auch schon, dass der Blick durch das Fernrohr, die Einführung von Entfernung als räumliche Tiefe zu einer Veränderung dieses Zwischenbereichs geführt haben. Dabei sind Begriffe wie Trennung, ablösen oder autonom gefallen. Somit soll jetzt der Fokus auf den Bild-Schirm selbst gelenkt werden und der Frage nachgegangen werden, was eigentlich die Camera obscura oder das Fernrohr mit dem Bild-Schirm zu tun haben. Zudem soll auch geklärt werden, in welchem Zusammenhang diese und der Bild-Schirm mit dem Schnitt durch den Raum stehen?
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Der Blick durch das Fernrohr ist ganz offensichtlich ein Blick in einen unerreichbaren und deshalb anderen Raum. Vor Galilei waren die Beobachtungen des Himmels auf die Bahnen der Sterne und Planeten und der Voraussage ihrer Position gerichtet, durch Galileis Blick werden sie zu einer Betrachtung der Körper selbst und ihrer Beschaffenheit (Blumenberg 1980: 14). Galileis Blick ist aber auch einer auf das nicht Sichtbare, der das Ermitteln unbekannter Zusammenhänge einfordert. Der Himmel öffnete sich als Raum, der andere Körper enthält, die mit dem richtigen Instrument auch als solche erkannt werden können. Vor dem Blick durch das Fernrohr ist der Himmel der Bild-Schirm. Die Himmelssphäre steht für diesen endlichen, dennoch aber unerreichbaren anderen religiös besetzten Raum. Auf ihr bewegen sich die Planeten und die Sterne und im Zentrum von allem stehen der Mensch und die Erde. Alles zwischen Mensch und Himmelssphäre ist hingegen Bild-Schirm frei. Der Schnitt durch die Sehpyramide ist vor Galilei und vor Keppler noch kein Bild-Schirm, da er nicht trennend wirkt, nicht das Subjekt isoliert oder den anderen Raum vom Raum leiblicher Anwesenheit ablöst. Der Schnitt durch die Sehpyramide ist vielmehr ein Weg, die visuell sichtbaren Oberflächen des geschichteten Raums malerisch einzufangen. Und weil die Wirklichkeit dieses eingefangenen Bildes von der Wirklichkeit des leiblich im Raum anwesenden konzeptionell noch nicht unterschieden wird, ist dieser Schnitt kein Bild-Schirm, sondern ein Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit. Am Fernrohr lässt sich ein grundlegender Wandel beschreiben, der im Bild-Schirm seinen Ausdruck findet. Und so kann das Fernrohr selbst unter bestimmten Gesichtspunkten als Bild-Schirm beschrieben werden. Der Bildschirm war bisher immer im Zusammenhang mit eher flächigen Artefakten erwähnt worden, was für das Fernrohr so nicht zutrifft. So kann auch nicht das Artefakt selbst als Bildschirm beschrieben werden, sondern seine Anwendung und der damit verbundene Blick. Mit dem Blick durch das Fernrohr schrumpfen das Volumen und die Tiefe des Instruments; übrig bleibt etwas Sichtbares. Gleich dem Bild-Schirm ermöglicht es einen Durchblick. Wie auch der Bildschirm schafft der Blick durch das Fernrohr eine Differenz zwischen leiblicher Anwesenheit und einer rein visuellen Wahrnehmung. Die leibliche Anwesenheit des durch das Fernrohr Schauenden wird gespalten. Leiblich ist er in einem Raum anwe-
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send, visuell in einem anderen. Damit ist eine wesentliche Charakteristik des Bild-Schirms benannt, die auch das Fernrohr erfüllt. Der Stellenwert des Fernrohrs für den Bild-Schirm wird dann noch einmal offensichtlich, wenn man Camera obscura und Fernrohr in Bezug auf ihre jeweiligen Bild-Schirme gegenüber stellt. Als Nutzer einer Camera obscura bin ich, wie der Besucher eines Kinos, darauf angewiesen, mich in einen spezifischen Raum zu begeben, dessen innere Ordnung ganz dem Prinzip der Camera obscura entspricht. Doch ist diese dunkle Kammer von dem Raum, der auf ihrer Leinwand erscheint, nicht wirklich weit entfernt; es trennt sie lediglich die Wand der dunklen Kammer. Der andere Raum auf der Leinwand der Camera obscura ist ein nicht wirklich ferner. Die Camera obscura ist diesbezüglich mit einem Spiegel vergleichbar. Sie bildet das ab, was mir (beinahe) vor Augen liegt. Das Fern-Sehen – auch wie wir es heute kennen und das Teil der Bild-Schirm-Anordnung ist – wird hier nicht erfüllt. Es ist das Fernrohr, das Entfernung als Tiefe erst erfahrbar macht und das Ferne thematisiert. Das Fernrohr als Bild-Schirm hantiert mit der Entfernung und mit vom Betrachter absolut getrennten anderen Räumen. Selbst wenn ein Betrachter den Blick nicht in den Himmel sondern auf die ferne Landschaft richtet, der Ort, der sichtbar ist, ist nicht zu erreichen. Mit genau dieser vom Betrachter abgetrennten Ferne spielt auch das in der Mitte des 17. Jahrhunderts aufkommende barocke Spektakel. Ulrike Haß zeichnet in ihrem Abschnitt Torelli: Die Entfernung des Raums (Haß 2005: 348ff) nach, dass das Entfernte für die aufwändigen Maschinen-Spektakel einen sehr wichtigen Stellenwert einnimmt. Anhand der Theaterarbeiten von Giacomo Torelli (1608-1678) zeigt sie seinen Drang die Tiefe des Raums als einen entfernten Raum zu inszenieren. Neben der Dynamik der Bühnenbauten macht sie auch zwei Ausprägungen für die Entfernung des Raums aus. Es geht Torelli um die „Darstellung der Entfernung, die nicht in der Nähe, sondern in der Ferne selbst zur Erscheinung gebracht wird“ (ebd.: 352). Ferner thematisiert er aber auch die „Negation des Raums in Gestalt einer zunehmenden Abstraktion“ (ebd.). Das übernatürlich Unvorstellbare ist das weit Entrückte, das jetzt durch illusionistische Mittel der räumlichen Tiefe inszeniert wird. In Szene gesetzt wird die Differenz zwischen hier und dort, auch mit den Mitteln dynamischer Effekte. Das Entfernte wird herangeholt, ohne dennoch wirklich nah dran zu sein. Im übertragenen Sinne werden hier das Fernrohr und seine Funktion
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auf räumlich künstlerische Weise in Szene gesetzt. Sobald jemand das Fernrohr ans Auge ansetzt, kommt er zu dieser schlagartigen Gegenbewegung, von hier zu dort, von fern zu nah. Wieder kann die Versuchsanordnung Galileis angeführt werden, mit der er die Vergrößerungsleistung seines Fernrohrs überprüft. Das bloße Auge und das durch das Fernrohr verstärkte Auge blicken gleichzeitig auf zwei verschiedene Quadrate, die dennoch wie eines erscheinen. Im ersten Teil dieser Arbeit wurden für den tradierten Theaterbau zwei Weisen der Trennung beschrieben, die Zuschauern widerfährt. Die eine ist die innere, in der der Bühnenraum vom Zuschauerraum getrennt wird. Die zweite wurde als Ausschluss des Alltagsraums vom Zuschauerraum beschrieben. Der Faktor der Handlungsentlastung des Gastes im Theater wurde hier hervorgehoben. Mit den eben angeführten Beispielen zum Bild-Schirm wurde vor allem diese erste Trennung behandelt. Deshalb soll jetzt auch die zweite, das Ausschließen des Alltags angesprochen werden. Galileo Galilei betritt zwischen dem 7. Januar und dem 1. März 1610, wann immer das Wetter es ihm erlaubt, seine dunkle Kammer, von der aus er das Teleskop auf den Jupiter richtet. Dunkel ist diese Kammer, weil es Nacht ist und das Wetter spielt eine Rolle, weil er einen wolkenfreien Blick in den Himmel braucht. Das Licht der Sonne, das Licht, dass die Camera obscura antreibt, muss ausgeschaltet sein, anders erscheint ihm der ferne andere Raum des Welten-Raums nicht. Der Blick in den Himmel erfordert nicht nur die dunkle Nacht, sondern auch die Statik des Betrachters, der auf eine Apparatur angewiesen ist, die hochgradig empfindlich auf kleinste Bewegung reagiert. Auch hier wieder, wenn auch äußerst reduziert, fungiert Galilei als Vorbote für das was kommen wird: Das Theater wird zur dunklen Kammer, es schottet sich ab und schafft eine für sich genommene eigene Welt, in der das Innen, ohne ein Außen vorherrscht. Wieder ist es Ulrike Haß, die im 17. Jahrhundert eine Entwicklung für Theaterbauten ausmacht, die sie als die „Entdeckung eines Innen ohne Außen“ (Haß 2005: 533) beschreibt. Der Innenraum der Theater wird der Kammer Galileis gleich vom unmittelbaren Außenraum losgelöst, er wird autonom. Die Mauern schließen die Menschen ein und das Licht aus. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts erhalten die Theatergebäude zum ersten Mal aufwendig gestaltete Außenfassaden, die in Beziehung
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zum städtischen Außenraum treten, während der geschlossene Raum der Theateranlage seine Außenbeziehung Schritt für Schritt aufgibt und schließlich als fensterloser Kubus errichtet wird. Anders als bei der Camera obscura dringt hier jedoch kein Lichtstrahl mehr durch ein kleines Loch von außen nach innen. Alles, was sich in diesem dunklen Kubus zu sehen geben will, muß zuerst von dieser Dunkelheit ausgehen, d. h., es stellt sich die Frage nach dem Licht. (Ebd.)
Haß erläutert zwei Besonderheiten der barocken Darstellung. Einerseits wird die Darstellung, wie oben schon angedeutet, hochgradig abstrakt und vielfältig, phantastisch sowie imaginär. Andererseits kommt dem Mittel, das die Bühne überhaupt sichtbar machen kann, dem Licht, ein markanter Stellenwert zu. Diese Darstellungen, die auch mit dem eben erwähnten Maschinentheater einhergehen, verlieren nicht nur die Anbindung an das Außen, sondern begeben sich in ferne andere, nicht erreichbare Räume. Das Licht auf der Bühne ist nicht das Licht der einen göttlichen Quelle, der Sonne, sondern das der schier endlosen aber in ihrer Intensität begrenzten Lichtquellen des fernen anderen Welten-Raums. Auf der barocken Bühne ist es Feuer, sind es Kerzen und Reflektoren. Das Licht, auch wenn seine Quellen in der Regel dem Zuschauer verborgen bleiben, wird immer als künstlich hergestelltes akzentuiert (vgl. ebd.: 318). Dieses Licht ist aber auch das, womit Sehen überhaupt erst möglich wird. Der Bild-Schirm wird hier durch das Licht aufgespannt. Neben seiner atmosphärischen Wirkung, Stimmungen erzeugen zu können, wird gleichzeitig auch der andere Raum als solcher sichtbar (vgl. Abschnitt 4.2: 127). Haß zeigt an der Entwicklung des barocken Maschinentheaters auf, das das ehemalige Modell des Blicks, das exemplarisch Alberti vertritt und in den Anfängen der Zentralperspektive herrscht, hier nun vollständig von dem Modell des Auges abgelöst wird (vgl. Haß 2005: 316ff). Lange vor der Zeit der technischen Bilder geht die Bühnenform im 17. Jahrhundert zum ersten Mal mit einer Theorie des Sehens einher, die eine seelenlose, rein optische und gleichsam automatische Übermittlung von Bildern in das Zentrum ihrer Vorstellung vom Sehakt stellt. (Ebd.: 527)
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Es ist aber nicht allein das Auge, das in der Camera obscura eine Apparatur gefunden hat, die auch die Bühnenform als dunkler Kubus übernimmt, sondern es sind auch Einflüsse des Fernrohrs, dessen anderer Raum nicht nur ein ferner ist, sondern auch ein abstrakter, der sich von der Nachahmung ablöst, hin zu einem Bewusstsein für Sinnestäuschung, die Descartes als Problem erkennt und das barocke Bühnenspektakel sich ganz zu eigen macht. Das Innen ist keines ohne außen, sondern eines, das selektiv das Außen ausschließt, um an seiner Stelle ein anderes Außen herzustellen. Dazwischen sitzt immer ein Schnitt, der sich in dieser Konstellation vermehrt an den Eigenschaften des Bild-Schirms orientiert. Das Subjekt innerhalb einer solchen räumlichen Konstellation, ist jetzt stärker darauf angewiesen, vom Sichtbaren und so vom Schnitt aktiv abzurücken. Gleichfalls ist es an den Theatermachern, Aufführungen zu inszenieren, die unüberspürbare Gegenwärtigkeit erzeugen, die ihre illusionistische Wirkung nicht verfehlt. Wenn es um das Verhältnis zwischen dem anderen Raum und dem Bild-Schirm geht, so lassen sich spezifische Aspekte anführen, die sowohl das Fernrohr als auch die Camera obscura betreffen. Der Blick Galileis Anfang des 17. Jahrhunderts zeigt sehr deutlich, dass es für das Auge Unsichtbares gibt, das mit Hilfe von optischen Apparaturen sichtbar gemacht werden kann. Der Schnitt durch den Raum wird hier wie auch bei der Camera obscura instrumentell. Dadurch begünstigt entwickelt sich im Sehen eine Differenz zwischen Betrachter und Betrachtetem. Das hat Einfluss auf eine Einwicklung, in der Trennung als evidenter Teil der Wahrnehmung an Bedeutung gewinnt. Es werden im Folgenden die Aspekte zusammengetragen, die sich aus den bisherigen Betrachtungen sowohl des Fernrohrs, als auch der Camera obscura dazu ergeben. Erwähnt wurde die von Descartes problematisierte Ungewissheit, ob das visuell Wahrgenommene überhaupt der Wahrheit entspricht. Die Täuschbarkeit der Sinne, die erst durch die Einführung von Apparaten wie dem Mikroskop und dem Fernrohr zum Problem wird, macht es für den Betrachter notwendig, vom Betrachteten sowohl körperlich wie auch geistig abzurücken und das Gesehene mit seinem Wissen darüber abzugleichen. Es müssen die Augen selbst mit dem abgeglichen werden, was Dotzler die „Augen des Geistes“ (Dotzler 1995: 20) genannt hat. Das Theater reagiert ganz anders. Hier wird Illusion zur anerkannten Form. Das was den
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Wissenschaftler Descartes umtreibt und ihn von der Welt abrücken lässt, wird genutzt, um spektakuläre Feste in Szene zu setzen. Was hier stattfindet ist der Versuch einer Auflösung der geschaffenen Abrückung. Illusion wird als Mittel entdeckt, Distanzen und Trennungen zu überwinden. Doch die Trennung bleibt als Bestandteil immer erhalten und wird als Mittel forciert. Das Fernrohr bringt Weisen von Trennung auf, die auf der Entfernung zum Beobachtungsgegenstand herrühren. Es löst den Schnitt aus der zwischen Auge und Gegenstand ausgebreiteten Sehpyramide und verdichtet ihn im Auge, sodass Fernes vergrößert werden kann und auf der Netzhaut als nah erscheint. Das unterscheidet auch das Fernrohr grundlegend von der Camera obscura. Sie ist eine optische Anordnung, die dem Auge gleich ist. Das Fernrohr hingegen ist ein dem Auge vorgeschaltetes Auge, durch das alles in ihm Sichtbare direkt ins Auge, auf die Netzhaut übertragen wird. In der Camera obscura betrete ich einen Raum, habe eine natürliche Distanz zum Bild-Schirm. Das Teleskop selbst lässt diese Distanz nicht zu, stellt sie dafür aber im Blick in die Ferne her. Ein weiterer angesprochener Aspekt von Trennung ergibt sich in der Ausdifferenzierung leiblicher Anwesenheit in letztlich viele sinnliche Eindrücke, die nicht mehr einem einheitlichen Raumgefüge entspringen. Das Fernrohr trennt zwischen visueller Wahrnehmung des Fernen und dem Rest. Es ist dies ein heute nicht mehr nachvollziehbarer massiver Eingriff in die Wahrnehmung des Menschen. In der Forschung wird dieser Aspekt vor allem der Camera obscura und der Entdeckung des Netzhautbildes zugeschrieben. Ulrike Hick stellt in Bezug auf Keplers Entdeckung des Netzhautbildes und den dazugehörigen Darstellungen fest, daß sie ein vom Betrachter und seinem Körper gelöstes Auge veranschaulichen, das sie als verobjektiviertes Medium der Beobachtung vorstellen. Auge und Sehen werden damit ‚entkörperlicht’, d.h., der Vorgang des Sehens wird als unabhängig von der körperlichen Existenz des Schauenden definiert. So treten sich nun eine objektive äußere Wirklichkeit und ein autonomes, von ihr separiertes und zugleich entkörperlichtes Subjekt als diskrete Entitäten gegenüber. (Hick 1999: 46f)
Es stellt sich die Frage, ob tatsächlich auch das Auge entkörperlicht wird oder lediglich das Sehen? Das Auge kann nicht vom Körper ge-
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löst werden, es ist immer selbst Körper und sehend Teil des menschlichen Leibes. Entkörperlicht wird es in dem Sinne, dass man sich das Auge als Objekt vornehmen, es obduzieren, seine Funktionen herausfinden oder es wie eine Camera obscura verwenden kann. Als Sehendes ist das Auge aber immer an den Leib des Sehenden gebunden. Genau damit verbindet sich nun die Massivität des Eingriffs in die Wahrnehmung, die das Fernrohr genommen hat. Denn es macht diese von Hick hier theoretisch abstrakt abgeleitete Ausdifferenzierung und Separierung des Subjekts leiblich spürbar. Jedes Wissen um die Beschaffenheit des Auges, kann nicht wettmachen, dass unser Sehen dennoch ein leiblich erfahrener Teil unserer gesamtsinnlichen Wahrnehmung ist und schon gar nicht als von mir körperlich Gelöstes erfahren wird. Die Summe aller hier aufgezeigten Aspekte haben Anteil an einer Verschiebung, die atmosphärisches Wahrnehmen in den Hintergrund drängt und dafür eine Ausdifferenzierung aller Sinne begünstigt und das Subjekt als Denkendes entdeckt. Das Subjekt als denkendes erschließt sich die Welt abgelöst von der visuellen Schnittfläche, die einst in der Sehpyramide außerhalb des Auges angesiedelt war und ins Innere des Menschen gerückt ist. Zwischen Subjekt und Welt befindet sich der Bild-Schirm, das Netzhautbild des Auges. Bezieht man sich auf Abb. 27 (vgl.: 239) von Descartes, so sind der Raum des Subjekts und der Raum der Welt in dunkel und hell getrennt. Das sich im Dunklen befindende Subjekt, erschließt sich die im Licht befindliche Welt. Es geht aber auch um das handlungsentlastete Subjekt, das sich in Klausur begibt, um sich gänzlich von der Außenwelt zu befreien und sich aus der Distanz durch den Einsatz seiner geistigen Erkenntnisgabe, der Welt zu nähern (vgl. Crary 1996: 49). Descartes’ Augenschema und die dazugehörigen Interpretationen nehmen wie keine andere Darstellung jener Zeit die Entwicklung im Bereich des Theaters hin zu einer geschlossenen Guckkastenbühne, die den Publikumsraum von der Szene trennt, vorweg. Diese Scheidung zwischen dunkel und hell, zwischen hier und dort, zwischen Subjekt und anderem Raum beinhaltet schon so vieles von dem, wogegen Anfang des 20. Jahrhunderts die klassische Avantgardebewegung opponiert. Diese Scheidung, die materiell ausgerichtet ist, angefangen bei der Zentralperspektive, über das Fernrohr und die Netzhaut, bis zu heutigen technischen Apparaturen schreibt sich in dieser Materialität auch in den Theaterbau ein. Es ist zwischen 1637 und 1900 viel passiert. Die Geschichte des The-
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aters durchläuft sehr unterschiedliche Phasen, wenn es aber um die Beschreibung der Differenz von Publikumsraum und Bühne geht, finden sich hier schon die grundlegenden Eigenschaften versammelt, auf die Theater und seine aufwändige Apparatur hinsteuern. Und bis heute sind diese in das Konstrukt Theater auf vielfältige Weise integriert.
8. Die Wiederentdeckung des Raums
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Als um 1900 die Vertreter der herkömmlichen Theaterschule sich gegenüber neuen Tendenzen zur Wehr setzen, sind die Fronten verhärtet. Wie es Uta Grund in ihrem Buch Zwischen den Künsten (Grund 2002) beschreibt, bewerten Vertreter des etablierten Literaturtheaters aufkommende Reformansätze, die in die Bewegung der klassischen Avantgarde führen sollte, als Angriffe, die das Theater als moralische Bildungsinstitution in Frage stellen und die Stellung des Dramatikers zurückdrängen. Der Kunstcharakter von Theater – so die konservative Haltung – kann nur durch eine Besinnung auf das literarische Werk garantiert werden (Fischer-Lichte 2001: 159). Zwischen „Entliterarisierung bzw. Retheatralisierung“ (Grund 2002: 30) bewegen sich die Fronten, wie schon inmitten der Auseinandersetzungen Georg Fuchs (1868-1949) feststellt. Uta Grund orientiert sich in Bezug auf diese Auseinandersetzungen lieber am Begriff der Visualisierung. Das sei es, „wohin die Negation des Literarischen auf dem Theater u.a. geführt habe“ (ebd.: 30), zu einer Dominanz des Visuellen gegenüber dem literarischen. Ein wenig stutzig wird man schon, wenn Grund das bildlich Visuelle Anfang des 20. Jahrhunderts als regelwidrigen und neuartigen Einbruch in die Welt des Theaters vorstellt. Zeigt doch die Geschichte des Theaters und des Theaterbaus seit der Renaissance, dass Theater nie unabhängig von optischen Apparaten oder der bildenden Kunst gewesen ist. Laut Grund haben für die deutsche Theaterhochkultur vor allem die Jahre zwischen 1800 und 1900 zu
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einer massiven Stärkung des Textes und der Verdrängung des Visuellen geführt (ebd.: 15). Doch auch hier sind Zweifel angebracht. Gerade das 19. Jahrhundert ist dafür bekannt, eine Vielzahl an optischen Apparaturen hervorgebracht zu haben, die die damals vorherrschende Schaulust massenwirksam bedienen. Dass diese Entwicklung spurlos am Theater und der Literatur vorbeigegangen sein soll, ist wenig wahrscheinlich. Nic Leonardt argumentiert in ihrem Buch Piktoral-Dramaturgie (Leonhardt 2007) ein wenig anders als Grund. Sie beschreibt das 19. Jahrhundert als eines ausgeprägter Schaulust, die sich auch im Bereich des Theaters auf sehr unterschiedliche Weise niederschlägt. Als ein Ergebnis ihres Buches kann eine Entwicklung ausgemacht werden, in der das Theater als Bildungsinstitution sich beständig gegen die Einflüsse des Visuellen wehrt, wohingegen sich Unterhaltungs- und Volkstheater in Anlehnung an die Schaulust im Allgemeinen gerne an der kommerziell lukrativen visuellen Opulenz orientieren (ebd.: 67ff). Dennoch haben die Schaulust und ihre Apparaturen ihren nicht alleinigen aber dennoch beachtlichen Anteil an der Umgestaltung „des Theaters in ein Institut spektakulären Vergnügens“ (ebd.: 116). Daher ist das Bestreben der Vertreter des Literaturtheaters nicht singulär gegen die Stärkung des Visuellen ausgerichtet, es stellt sich auch gegen die mit der visuellen Kultur einhergehende Breitenwirkung. Diese Unterscheidung zwischen unterhaltungsorientierten Formen und denen, die sich den schönen und höheren Künsten verschrieben haben, hilft, die Auseinandersetzung um Akzeptanz und Integration moderner visueller Einflüsse genauer zu verorten: Während das Volkstheater sie längst integriert hat, wehren sich die Protagonisten des Bildungstheaters gegen ihre Integration. Diese Explizierung der sozialen Dimension zeigt die gesellschaftliche Brisanz des Konflikts: Moderne visuelle Einflüsse sind Massenphänomene, vor denen sich die alte Schule zu schützen versucht. Die eigentliche Differenz liegt weniger zwischen Visualisierung und Text, sondern zwischen Massenwirksamkeit und elitärem Bildungstheater, zwischen modernem Bild als Massenphänomen und bildender Kunst. Gustave Le Bon schreibt in seinem 1895 erschienenem Text Psychologie des Foules (Le Bon 1911): „Die Massen können nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen. Nur diese schrecken oder verführen sie und werden zu Ursachen ihrer
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Taten“ (ebd., zitiert nach Grund 2002: 16). Dieses Zitat zielt nicht nur auf die einfache Feststellung, dass Bilder die Massen verführen, sondern verweist auf die Erfolgsgeschichte optischer Apparate. Seien es die Panoramen, die eine Anwesenheit in fremden Welten ermöglicht (vgl. Hick 1999: 236), ist es das Diorama, bei dem mit Licht großflächige Malerei in Bewegung gesetzt wird (vgl. ebd.: 299) oder sind es stereoskopische Bilder, die einen schweifenden Blick durch an sich flächige Darstellungsräume ermöglichen (vgl. Crary 1996: 130), sie alle vermögen Massen zu mobilisieren. Dabei ist der Begriff Bild anders belegt als der frühere, der auf zentralperspektivische Gemälde verweist oder der der anerkannten bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts entspringt. Es ist ein Bildbegriff der ersten technisch reproduzierbaren Bilder, der überdimensionierten Panoramamalerei oder der weitverbreiteten Stereoskopie. Das Bild wird zu einem Phänomen, das viele Menschen in Bewegung zu versetzen vermag, dabei aber auch selbst in eine zeitliche Bewegung gerät und darüber stimmungsorientiert den Betrachter bewegt (vgl. Leonhardt 2007: 88). Auch das steckt im Zitat von Le Bon. Das Bild evoziert Handlungen und Taten. Ein kontemplatives, innerhalb der Bild-Schirm-Anordnung starr eingelassenes Betrachten findet hier nicht mehr statt. Stattdessen lässt sich ein affektiv bewegter Betrachter von der optischen Vielfalt, der Täuschung und Zerstreuung der Bilder des 19. Jahrhunderts einfangen (vgl. ebd.: 115). Bewegung kann in einem doppelten Sinne verstanden werden: als körperlich zeitliche und affektive Bewegtheit. Deshalb soll jetzt auch nicht die Geschichte der Visualisierung erzählt werden, die bei Grund oder Leonhardt nachgelesen werden kann. Erzählt werden soll der Aspekt, den Grund zwar immer wieder anspricht, letztlich aber konzeptionell – das ist eine wesentliche Kritik an ihrem Buch – nicht in ihre Arbeit zu integrieren vermag: Die von der Frage von Visualisierung oder Text unabhängige Wiederentdeckung des Raums als Raum leiblicher Anwesenheit und wie dies auch im Bereich des Theaters seine Wirkung entfaltet. Mit der Wiederentdeckung des Raums ist der Bruch mit der starren Bild-Schirm-Anordnung verbunden. Dieser Bruch findet nicht über die Stärkung des Visuellen statt, sondern ist lediglich ein Produkt. Stattdessen baut er mit der starren Bild-Schirm-Anordnung auf der Stärkung raumzeitlicher Faktoren auf, die Theaterprozesse schon immer auszeichnen und bis dahin genuin gegenüber optischen Me-
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dien sein lassen. Der bewegte und lebendige Mensch als in einem Raum anwesender wird entdeckt. In der Weise, wie sich optische Apparate in Bewegung setzen, wird auch Bewegung und Bewegtheit im Theater thematisiert. So wird recht früh die Wirkung von Licht und Lichtwechsel als Stilmittel, Stimmungen zu erzeugen, entdeckt (vgl. Grund 2002: 143ff). Vor allem erhält Licht dank der Ausbreitung des elektrischen Lichts einen neuen Stellenwert, weil es gestaltbar wird und seine Bedrohlichkeit verliert Damit eng verknüpft ist auch die Etablierung der Bühne als tiefenräumlicher Gestaltungsraum, in dem nicht nur Menschen aktiv sind, sondern auch Objekte, Licht und Klang ihre Wirkung entfalten. All das erweitert im Sinne Grunds das visuelle Gefüge auf der Bühne, ist aber letztlich Ausdruck einer Suche nach etwas anderem, nämlich Bewegung und Bewegtheit oder wie es Craig ausdrückt „Movement of things“ (vgl. ebd.: 149f). Für das Theater bedeutet das, dass die Zusammenführung der Bühne und des Zuschauerraums zu einem gemeinsamen Raum des Theaters forciert wird. Der Raum wird zu einem Stimmungsraum erhoben. Bei keinem anderen Theatermacher jener Zeit kommt das so detailliert und strukturiert zum Ausdruck wie bei Craig. In seinen unter dem Sammelbegriff sights geführten Studien zu einem mal menschenleeren, mal mit Darstellern erfüllten Bühnenraum, entwickelt er Szenarien von bewegten Objekten, Akteuren und Lichterfüllten Räumen. Diese benennt er mit dem Begriff moods, als Stimmungsszenarien (vgl. ebd.: 145ff). Mit dieser Wiederentdeckung des Raums leiblicher Anwesenheit im Theater, geht Anfang des 20. Jahrhunderts auch ein Wandel der theaterbaulichen Anordnung und der ästhetischen Konzepte von Theater einher. Das heißt diese Wiederentdeckung stellt sich vor allem gegen die statisch getrennte Haltung, die die Bild-Schirm-Anordnung vorgibt. Genau sie wird als Problem erkannt und auch als Mittel, sich gegen die Kraft optischer Medien – insbesondere des Films – abzusetzen. Doch wie zu zeigen sein wird, ist diese Stärkung dynamischer Prozesse nicht ausschließlich für das Theater der Jahrhundertwende von Bedeutung. Vielmehr zieht sie sich durch das 19. Jahrhundert hindurch. Die Industrialisierung, aber auch die erwähnten optischen Großanlagen wie Dioramen, Panoramen und ganz spät das Kino sind auf der Suche nach Dynamik und Bewegung und thematisieren sie. Davon sind sowohl die Gäste dieser Anlagen als auch die Präsentationen selbst betroffen. Mit der doppelsinnigen Bedeu-
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tung des Begriffs Bewegung lässt sich das erneut gut umschreiben: Die Gäste werden durch Bewegung bewegt. Bewegtheit steht so für affektive Betroffenheit und Mobilität in gleicher Weise. Im Folgenden soll sich der Bewegung und Bewegtheit des 19. Jahrhunderts angenähert werden. Das geschieht an Hand von zwei Szenarien, dem Szenario Eisenbahnfahren und dem Szenario Flaneur. Wir haben es mit Szenarien zu tun, weil es weniger darum gehen wird, das Eisenbahnfahren und den Flaneur als kulturhistorische Phänomene umfangreich vorzustellen. Vielmehr werden am Eisenbahnfahren und am Flaneur Aspekte vorgestellt und eingeführt, die auf die Bild-Schirm-Anordnung und den Bruch mit ihr abzielen.
8.2 D AS S ZENARIO E ISENBAHNFAHREN 8. 2.1 Bewegung durch Raum und Zeit Alles gerät in Bewegung, als im 19. Jahrhundert Maschinen zur treibenden Kraft der Industrialisierung avancieren. Friedrich Kittler hebt in seinem Buch Optische Medien (Kittler 2002) hervor, dass die maschinelle Vielfalt und die durch sie erreichte Optimierung beim Erstellen von Waren, technischen Artefakten, aber auch optischen Medien oder dem Theater eine ganz wesentliche Rolle einnehmen (vgl. ebd.: 195ff). Die mit der maschinellen Vielfalt verbundene Bewegung verändert so auch direkt oder indirekt die Wahrnehmung des Menschen, seinen Alltag sowie sein Verständnis von Raum und Zeit. Die Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte, 1825 in England und 1835 in Deutschland zwischen Nürnberg und Fürth verkehrende Eisenbahn steht als eines von vielen anderen Artefakten der Industrialisierung für diese Entwicklung. Die Eisenbahn setzt wichtige Zeichen und materialisiert das Bedürfnis der Menschen, in Bewegung zu sein. Mit ihrer Einführung wird Reisen immer bequemer und einfacher. Als wohl zentrales Werk zur Kulturgeschichte der Eisenbahn muss Wolfgang Schivelbuschs Buch Geschichte der Eisenbahnreise (Schivelbusch 1977) angeführt werden, auf das im Verlauf immer
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wieder Bezug genommen wird. Für die hier gesetzten Ziele bietet sich die Eisenbahn deshalb an, weil sie eine der Bild-Schirm-Anordnung sehr ähnliche Situation für den Reisenden schafft. Das wird deutlich, wenn Schivelbusch den panoramatischen Blick des Eisenbahnfahrenden (ebd.: 51ff) als prägende visuelle Erfahrung anführt, mit der die Technisierung die Wahrnehmung beeinflusst. Joachim Paech beschreibt den Blick aus dem Zugfenster auch als Vorprägung für den zukünftigen Kinobetrachter (vgl. Paech 1988: 73). Das am Reisenden vorbeiziehende und physisch nicht erfahrbare Außen steht für den anderen Raum des bewegten Filmbildes. In Anlehnung an diese Verbindung von Kino, optischen Medien und Eisenbahnfahren soll deshalb der Blick auf die im letzten Abschnitt benannte Bild-Schirm-Anordnung gelenkt werden. So lässt sich am Bahnreisen und am Blick des Reisenden aus dem Fenster eine Verschärfung der Bild-Schirm-Anordnung beschreiben, die auch in Bereichen wie Diorama, Kino oder auch dem Theater zum Tragen kommen. Gleichzeitig lassen sich aber auch Faktoren aufzeigen, wie eben die Bewegung und Zerstreutheit, die die Bild-SchirmAnordnung gerade in Bezug auf Wahrnehmung unterminieren. Dafür werden, orientiert an Schivelbusch, die für diese Arbeit kulturhistorisch relevanten sowie Raum und Wahrnehmung betreffenden Charakteristika des Bahnreisens genauer betrachtet. Schivelbusch beschreibt die Eisenbahn als Projektil und etabliert damit den Aspekt der „Vernichtung von Raum und Zeit“ (Schivelbusch 1977: 16). Die Eisenbahn dringt in den natürlichen Raum ein und setzt sich über dessen Beschaffenheit hinweg.
Abb. 29: Die Eisenbahn schafft eine horizontale Geradlinigkeit. Die Anbindung an die äußere Welt wird minimiert. Geländeschnitt zu nötigen Erdarbeiten beim Bau einer Eisenbahnstrecke, Nicholas Woods (1838).
Das von Newton formulierte Relativitätsprinzip kommt hier direkt spürbar zur Anwendung. Im Ideal gedacht, ist die Empfindung des in Bewegung befindlichen Reisenden ganz auf das räumliche System bezogen, in dem er sich befindet. Bei gradliniger Fahrt und kon-
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stanter Geschwindigkeit ist die Bewegung für den Reisenden nicht spürbar, sondern ausschließlich über den Blick aus dem Fenster sichtbar. Er bewegt sich, ohne selbst Bewegung zu verspüren. Dies sind – wie erwähnt – Idealvorstellungen, die weder die Bahn damals noch heute erreichen kann. Allein Faktoren wie Beschleunigung, Bremsen oder Kurven gehören zum Bahnfahren dazu und lassen den Fahrenden Bewegung spüren. Dennoch sind diese physikalischen Ideale in der Bahn weitaus präsenter als noch beim Fahren mit der Kutsche. Der Fahrende in einer Kutsche ist direkt mit der Außenwelt verbunden. Jedes Schlagloch, jede Unebenheit sind körperlich spürbar. Wind und Wetter beeinträchtigen die Fahrt. Selbst die nachlassenden Kräfte der Pferde sind für den Reisenden spürbar (vgl. ebd.: 18). Der Raum der eigenen Anwesenheit wird so beim Eisenbahnfahren zu einem autonomen und von der Außenwelt abgelösten, bei dem ein physischer Schnitt zwischen dem Reisenden und dem anderen Raum vorliegt. Der Reisende rückt so ab von der Welt, weil er sie mit Hilfe einer Apparatur durchquert und sie zu einem anderen Raum wird. „Gerüche, Geräusche, Synästhesien gar, wie sie für die Reisenden der Goethezeit zum Weg gehörten, entfallen“ (ebd.: 53). Der Außenraum wird zu einem Raum, zu dem der Reisende sich nur über die Abstraktion situieren kann. In IC-Waggons der Bundesbahn sind Deutschlandkarten aufgehängt; der Reisende kann so seine Position in der Welt kartographisch verifizieren. Die Welt da draußen ist die eines anderen Raums, von der er abgetrennt ist, auch wenn er sich eigentlich durch ihn hindurch bewegt. Und selbst dann, wenn der Fahrgast versucht, diese Abgetrenntheit zu durchbrechen, das Fenster öffnet und seinen Kopf herausstreckt, bleibt er gefangen in dem vom Zug erzeugten Bewegungssystem. Spürbar ist nur der Fahrtwind, der in den Zug eindringt oder der seinen Kopf umweht, das System der Außenwelt befindet sich dahinter, jenseits des Waggons, jenseits der eigenen Bewegung, jenseits dieses windigen Übergangsraums. Der Fahrgast richtet sich im Interieur des Bahnwaggons gemütlich ein und bewegt sich so seinem Ziel entgegen. Mit dieser Ablösung von der natürlichen Außenwelt bleibt es nicht aus, dass ein ganz eigenes internes und geschlossenes Raumgefüge entsteht. Charakteristisch für dieses interne Raumgefüge ist, dass fremde Menschen für einen gewissen Zeitraum in einem gemeinsamen Raum zusammenkommen. Diese zeitlich begrenzte Zwangskaser-
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nierung ist ein Novum in den ersten Jahrzehnten des Bahnfahrens und wird sehr unterschiedlich erfahren und überbrückt. Schivelbusch beschreibt Szenarien der Langeweile (ebd.: 56), die Überbrückung der Zeit durch Lesen (ebd.: 62), Isolation und peinliche Stille (ebd.: 72f) oder die Erfahrung, dass das Reisen in der dritten und vierten Klasse mit großer Freude und kommunikativem Austausch verbunden ist (ebd.: 64f). Der Innenraum der Züge wird zu einem gesellschaftlichen und sozialen Raum, der nicht nur eigene Tätigkeiten hervorbringt, sondern auch in gängige Verhaltensmuster und Gewohnheiten eingreift. Der Innenraum der Eisenbahn ist ein neuer Raum, der im Muster vorhandener Ausstattungen opulent und herrschaftlich, aber auch sehr spartanisch und funktional eingerichtet sein kann. In jedem Fall sind Fragen der Anordnung und der sinnvollen Ausrichtung tangiert (ebd.: 72f).
Abb. 30: Amerikanische Reiseszenen. Spätes 19. Jahrhundert.
Der Innenraum der Eisenbahn wird zu einem zeitlichen Übergangsraum, in dem man sich von einem Ort zum anderen bewegt. Das Außen rückt innerhalb dieses Zeitraums in den Hintergrund, ist – für den, der gerne hinausschaut – panoramatisches Erlebnis eines anderen Raums, der an einem in körperlicher und leiblicher Distanzierung vorbeirauscht. Der Innenraum selbst ist ein Raum mit einer eignen Wahrnehmungswirklichkeit, die von den Menschen darin und dem Interieur geformt wird. Des Weiteren bringt Bahnfahren ein neues körperliches Gefühl in Bezug auf den zeitlichen Übergangsraum, in dem man sich befindet. Auch wenn in der Idealvorstellung des Bahnfahrens die
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Bewegung durch den Außenraum zum Verschwinden gebracht werden soll, werden die Bedingungen des sich Bewegens (Beschleunigung, Abbremsen, Fliehkraft in Kurven) ins Innere des Zuges als Rückkopplung integriert. Anders als beim Fahren mit der Kutsche können sich die Passagiere frei bewegen, wenn auch mit unruhigen Schritten, denn immer wieder muss man sich festhalten, abstützen oder stößt an etwas. Die physikalischen Bedingungen des Bahnfahrens schreiben sich so kontinuierlich in die körperliche, aber auch leibliche Anwesenheit der Fahrgäste ein. Jedes Bremsen, jede Beschleunigung und jede Kurve verändern den Zustand und machen die Bewegung und den Raum präsent. In seiner Enge und seiner zwar bewegungsbedingt unruhigen, aber dennoch relativen Ruhe ist es ein Raum, der ganz eigene leibliche Bedingungen schafft. Die sonst übliche Konstanz des mich umgebenden Raums gerät hier in Bewegung und wird kontinuierlich verändert und erneuert. Und gerade weil die Fahrt im Vergleich zur Kutschfahrt verhältnismäßig ruhig ist, rücken solche Veränderungen überhaupt erst in den Vordergrund der eigenen Wahrnehmung. Der bewegte andere Raum wird zu einem von mir distanzierten Raum. Der Schnitt wird darin als physische Realität eingeführt und schafft vergleichbar mit der Bild-Schirm-Anordnung auch für bewegte andere Räume Konstanz in Bezug auf eine Trennung von Wirklichkeit und Realität.
8. 2. 2 Die drei Räume des Bahnfahrens Das Bahnfahren steht für eine bisher nicht dagewesene ausdifferenzierbare Überlagerung dreier Räume: Der Raum des Reisenden, der vorbeiziehende Außenraum und der Raum, der durch die Bewegung des Zuges in Abhängigkeit vom Schienensystem geformt wird. Die ersten beiden Räume lassen sich ohne weiteres an die Bild-SchirmAnordnung angliedern, der dritte hingegen muss von ihr abgelöst betrachtet werden und wird später genauer beschrieben. Zunächst werden hier die ersten zwei Räume betrachtet, der Raum des Subjekts und der andere Raum des Bahnfahrenden. Für die Bild-Schirm-Anordnung wurde hervorgehoben, dass der Raum des Subjekts zum Verschwinden gebracht wird. Am Beispiel des Kinos lässt sich das nachvollziehen. Indem der Zuschauer in einem verdunkelten neutralisierten Saal Platz nimmt, ist er in einer handlungsentlasteten Position. Seine Ausrichtung ist ganz auf das
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Kinobild gerichtet und seine Wahrnehmungswirklichkeit von ihm bestimmt (vgl. Sobchack 1995). Das trifft in Bezug auf den Außenraum auch auf den Bahnreisenden zu. Das reisende Subjekt, das aus dem Fenster blickt, befindet sich in einem relativ handlungsentlasteten Raum, durch dessen gerahmtes Fenster es in einen anderen von ihm fernen Raum blickt. Dennoch kann das Verhältnis des Subjekts zum Raum seiner leiblichen Anwesenheit beim Bahnfahren auch grundlegend anders als die Bild-Schirm-Anordnung sein. Dem Subjekt ist der Innenraum des Waggons als Raum seiner leiblichen Anwesenheit ständig präsent, er wird auf vielen Ebenen zu einem Handlungsraum. Der Innenraum wird nicht gezielt neutralisiert, sondern gezielt gestaltet, entweder effizient oder auch prunkvoll. In diesem Raum soll man sich wohlfühlen, und es ist gerade diese eigene ästhetische Präsenz, die die Bild-Schirm-Anordnung unterminiert. Hier kommt der Vergleich zwischen dem Szenario des Eisenbahnfahrens und der Bild-Schirm-Anordnung an Grenzen: Vor allem der starr aus dem Fenster blickende Fahrgast ist mit dem Subjekt der Bild-SchirmAnordnung vergleichbar. Wendet man sich dem Außenraum des Bahnreisenden zu, so kann dieser sehr viel weitgehender im Sinne der Bild-Schirm-Anordnung charakterisiert werden. Die Eisenbahn bewegt sich durch einen Raum, der vom Subjekt weitestgehend abgelöst ist. Und weil dieser andere Raum – im Gegensatz zur Zentralperspektive – ein tatsächlicher Raum ist, übernimmt die Fensterscheide des Abteils eine physikalisch relevante Funktion. Da sich der Zug durch den anderen Raum bewegt, kommt es an der Grenze zwischen Zug und Außenraum zu Reibung. Der relativ ruhige Innenraum und im Vergleich zu ihm relativ bewegte Außenraum treffen hier aufeinander. Bei offenem Fenster kommt es zu Störungen zwischen diesen zwei Räumen. Damit wird spürbar, dass dieser andere Raum bei geschlossenem Fenster von der eigenen leiblichen Anwesenheit des Reisenden weitestgehend abgetrennt ist. Das wirkt sich auch auf seine Präsenz aus. Zwar hat der andere Raum Anteil an der Wahrnehmungswirklichkeit des Bahninnenraums, dennoch ist er selbst kein Raum der Anwesenheit. Man spürt ihn durch die Bewegung der Bahn, und seine visuelle Erscheinung erzeugt Stimmungen, dennoch ist er vom Reisenden physisch abgelöst.
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Gerade durch den Aspekt der Bewegung weicht der andere Raum des Bahnreisenden von dem zentralperspektivischer Bilder ab. Schivelbusch vergleicht den Blick des Bahnreisenden aus dem Fenster deshalb auch mit dem panoramatischen Blick (vgl. Schivelbusch 1977: 60). Durch die Bewegung des Zuges kann der Blick schweifen. Er bezieht sich aber auch auf die Ferne, die beim Zugfahren quasi in den Vordergrund rückt (vgl. hierzu auch ebd.: 54f). Alles Nahe, das man betrachtet, erzeugt eine Turbulenz im Sehen. Der Versuch Nahes, wie vorbeiziehende Büsche, visuell zu erfassen, ist anstrengend und letztlich nicht möglich. Alternativ dazu schweift der Zugfahrende in die Ferne und holt sich diese als Totaleindruck zu sich heran. Gleichzeitig bleibt das Nahe immer präsent, huscht als Störung durch das Bild. Die Folge ist eine Überlagerung ganz unterschiedlicher visueller Eindrücke. Ferne heißt also sowohl ihre Überwindung, indem man eine Wegstrecke in kürzester Zeit zurücklegt, als auch in die Ferne schauen. Die Ferne gerät in Bewegung und ein kontinuierlich schweifender Blick wird möglich. Nur sind der Blick nach Draußen und die vorbeiziehende Landschaft bedingt interessant. Ein Rückzug aufs Lesen oder die Belustigung untereinander sind Ausdruck dieser Spannungslosigkeit. Dem Blick aus dem Fenster fehlt alles das, was schon Alberti in seiner Della Pittura als wichtige Voraussetzung für die Komposition von Bildern heraushebt, nämlich der schöpferische Eingriff des Menschen in die Natur (vgl. Alberti 2002: 101, II/25), also Gestaltungswille und Inszenierung. Die Bewegtheit, die die Bewegung von einem Ort zum anderen auslöst, erschöpft sich schnell, wenn Reisen zur Selbstverständlichkeit wird und die ersten exotischen und schockorientierten Momente überwunden sind. Der andere Raum ist nicht nur als nicht gestalteter, sondern auch als abgetrennter jenseits meiner physischen Erfahrbarkeit präsent. Der Schnitt zwischen mir und dem nicht inszenierten anderen Außenraum wird Teil einer Alltagserfahrung, jenseits von Inszenierung und der Erzeugung unüberspürbarer Gegenwart. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Szenario Bahnreisen mit dem Verständnis der Eisenbahn als Projektil und Vernichter von Raum und Zeit, bei der das Außen als panoramatisch ferne Fläche am Reisenden vorbeirauscht, kann in vielen Aspekten mit der vorgestellten Bild-Schirm-Anordnung und dem darin implementierten Schnitt verglichen werden. Als Erweiterung dieser tritt die Dynamisierung des anderen Raums ins Zentrum. Genau diese tritt auch ins
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Zentrum damaliger Bestrebungen im Umgang mit optischen Medien. Nicht nur die Stereoskopie (vgl. Crary 1996: 130), sondern auch Diorama, Panorama oder der Film zielen auf eine Dynamisierung sowohl des Bildes als auch des Betrachters und Betrachtens ab. Im Umgang mit dem Blick, den Inhalten, dem Betrachter oder der Inszenierung wird nach Prinzipien gesucht, die den Aspekt Bewegung in die Wirkung und Anordnung dieser Medien einbeziehen. Das Bestreben ist, diesen anderen Raum der Zentralperspektive in Bewegung zu setzen. Als Ausdruck dieser Entwicklung können die in der Bild-Schirm-Anordnung verankerte Trennung, die Handlungsentlastung sowie eine Verschärfung einer physischen Distanz und ihre Einführung in die Alltagswahrnehmung ausgemacht werden. Wo also lassen sich die am Szenario des Eisenbahnfahrens vorgestellten Prinzipien in optischen Apparaturen wiederfinden. Diskutiert werden soll dies exemplarisch am Panorama und am Diorama.
8. 2.3 Das Panorama und Bewegtheit Die oben angesprochene doppelte Ferne kommt in der wohl gewaltigsten optischen Apparatur des 19. Jahrhunderts grundlegend zum Einsatz, im Panorama. Im letzten Abschnitt wurden zwei Aspekte von Ferne beim Bahnreisen angeführt: Ferne als Distanz einer weit entfernten Landschaft und Ferne als Zurücklegen einer Wegstrecke. Diese zweite Ferne erfährt der Zugreisende ja vor allem über ein Vorbeiziehen der äußeren Welt. Ferne wird verzeitlicht und hat mit dem nicht mehr Sichtbaren zu tun. Was eben noch sichtbar war, ist jetzt außerhalb meiner visuellen Reichweite. Beide Aspekte von Ferne beschreibt Schivelbusch als Weise eines panoramatischen Blicks, weshalb das 1787 vom Maler Robert Baker patentierte Panorama (vgl. Buddemeier 1970: 163f) auch hier vorgestellt werden soll. Panoramen zeichnen sich vor allem durch ihre Größe und der Möglichkeit aus, dass die Betrachter sich als inmitten eines gemalten Szenarios befindlich erfahren. Das räumliche Ausmaß großer Panoramen wurde in eigenen Gebäuden realisiert, in denen 360 Grad umfassende Gemälde mit einer Höhe von 15-20 Meter und Raumdurchmesser von 30-35 Meter installiert sind. Zweck dieser enormen Ausdehnung ist neben der Schaffung eines großzügigen, atmosphärisch weiten Raums auch die bessere illusionistische Wirkung. Denn erst durch die Entfernung rückt das Gemalte als solches und seine Materialität in den Hintergrund und kann als To-
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taleindruck eine Wahrnehmungswirklichkeit erzeugen. Auch wenn im Panorama Rahmung bewusst zum Verschwinden gebracht wird, spielt der Aspekt der Trennung und der Entfernung als Schnitt eine ganz wesentliche Rolle. Dabei ist nicht die Trennung zwischen dem Raum meiner leiblichen Anwesenheit und dem anderen Raum gemeint, sondern eine Trennung, die auf Distanz und Weite ausgerichtet ist. Das Panorama baut auf einer Erfahrung von Welt auf, in der das eigene Involviertsein sich über einen sogenannten Horizontblick (vgl. Oettermann 1980: 12), ein Schweifen in die Ferne einstellt. Nähe und der direkte körperliche Umgebungsraum werden im Horizontblick als Wahrnehmungsebene minimiert. Indem die Wahrnehmungswirklichkeit im Panorama von einem Totalgemälde dominiert wird, wird ein Raumgefüge geschaffen, das leibliche Anwesenheit in einem anderen Raum ermöglicht. Dieses Totalgemälde ist hochgradig inszeniert. Neben recht mimetischen Stadtansichten werden beispielsweise Kriegssituationen präsentiert. Neben nationalistischen Beweggründen spricht für dieses Motiv, dass parallel mehrere dramatische Szenen abgebildet werden können. Die Bewegtheit des Zuschauers wird so nicht nur über die ästhetische Wirkung des Totaleindrucks hergestellt, sondern auch durch dramaturgisch konzipierte und den Betrachter berührende Szenen (vgl. ebd.). Zwar zeigen sich somit beim Blick aus dem Zugfenster und beim Blick in einem Panorama gemeinsame Charakteristika, doch auch Unterschiede müssen herausgestellt werden. Das Panorama löst die Trennung zwischen Innen und Außen über den Totaleindruck auf. Der Betrachter befindet sich nicht mehr vor einem gerahmten, den Blick fokussierenden Bild, sondern in einem Raum, der von dem inszenierten anderen Raum des Panoramabildes vollständig eingeschlossen wird. In diesem ersten Raum ist der Anwesende nicht an eine fixe Position gebunden, sondern kann sich in begrenztem Maße frei bewegen und den Blick in der Gegend umherschweifen lassen. Dennoch haben wir es mit einem Totalgemälde zu tun, das immer auch ein entfernter anderer Raum bleiben wird. Nähe ist nicht Teil des Panoramablicks. Genau darin nähern sich dieser und der Blick des Bahnreisenden an. Für ihn und sein Auge ist das Nahe nicht zu erfassen, weil es am Fenster vorbeirast. Der Blick stellt sich auf die Ferne ein, erlaubt sie doch den schweifenden Blick. Vergangenes kann für eine ganze Weile zurück ins Blickfeld gerückt werden, der Reisende muss sich nur nah an die Scheibe
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begeben und zurückschauen. Der Umgang mit dieser doppelten Ferne ist es, der das Bahnreisen und den Blick des Reisenden in die Nähe des Panoramas rückt.
8. 2.4 Das Diorama und Bewegtheit Als zweite optische Apparatur wird das Diorama vorgestellt. Es wurde von Louis Jacques Mandè Daguerre entwickelt, einem PanoramaMaler und späteren Erfinder der Photographie. Im Jahre 1822 eröffnet das erste Diorama in Paris, 1823 folgt eine Filiale in London. Doch schon wenige Jahrzehnte später, 1851, nachdem bereits 1838 das Diorama in Paris durch einen Brand zerstört wurde, schließt die Filiale in London, was auch das Ende dieser optischen Apparatur bedeutet (vgl. Hick 1999: 294).
Abb. 31: Daguerres Londoner Diorama (1823).
Hick führt das Diorama mit dem Hinweis ein, dass es für die „Dynamisierung und Verzeitlichung“ (ebd.: 294) optischer Medien und visueller Darstellungsräume eine Vorreiterfunktion einnimmt. Das Prinzip des Dioramas ist so simpel wie wirkungsvoll. Durch den geschickten Einsatz von Auf-, Rück- und Durchlicht werden Bewegungsillusionen zweier übergroßer transparenter auf Glas aufgebrachter Motive hergestellt. Überblendungen von Tag- zu Nachtszenen idyllischer Naturräume sind hierbei ein beliebtes Thema. Die Dynamisierung der Bilder wird über ein ausgeklügeltes System von Öffnungen, durch die Tageslicht dringt, Klappen, die die Intensität des Lichteinfalls regulieren, und Farbfilter erzeugt (vgl. ebd.: 296). Das Diorama widmet sich so einer beschaulich verklärenden Natu-
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ridylle und dem sehnsüchtigen „Erleben einer Natur, deren Erhabenheit und Einsamkeit“ (ebd.: 303). Es ist dieser Lichtdynamik zu verdanken, dass Stimmungen und Atmosphären erzeugt werden, die die Apparatur und die Realität der Bilder in den Hintergrund treten lassen. Die Anordnung des Dioramas entspricht letztlich dem heutigen Kino. Der Pariser Saal fasst 350 Personen deren Blick auf die leinwandähnliche Bildfläche ausgerichtet ist (vgl. ebd.: 296). Für eine bessere Fokussierung auf die Bildfläche führt Daguerre einen „schwarzen Sichttunnel“ (ebd.) ein, dem Hick eine rahmenauflösende Funktion zuschreibt, der aber auch Distanz schafft. Ein Spiel aus Ferne und Nähe entsteht, das „das ‚übermannte Auge‘ des Betrachters“ (ebd.) in das Bild hineinzieht, auch weil sich die Materialität der Überblendungen aufzulösen scheint. In der Dunkelheit ist das Licht das Leben. [...] Der im Dunkeln sitzende Betrachter einer Lichtspiel-Szene konzentriert seine ganze Aufmerksamkeit, fast möchte man sagen sein Leben auf diese Szene. [...] Darauf basiert die Suggestion der Lichtspiele seit Daguerre. (Schivelbusch 2004: 209)
Daguerre geht es um eine Kanalisierung des Blicks, die er materiell durch die apparative Anordnung herstellt. Sein Ziel ist es, die direkte Umgebung auszublenden und eine Fokussierung und Konzentration des Blicks zu erreichen. Nicht nur nimmt er damit die apparative Anordnung der Kinos vorweg, sondern auch die intentionale Verwischung des Bild-Rahmens. Ganz im Sinne der für die Bild-Schirm-Anordnung entwickelten Ziele, verschwindet hier die Materialität des als materiellen Schnitt vorgestellten Bild-Schirms, was zu einer Minimierung der Trennung zwischen Subjekt und dem anderen Raum beiträgt. Dabei sind die Alltagswelt und die direkte Umgebung gänzlich ausgeblendet, und der Blick des Betrachters wird ganz auf das Bild und dessen phänomenale Wirklichkeit ausgerichtet. Gerade für den Bereich des Theaters ist diese Art von Fokussierung auf den anderen Raum der Bild-Schirm-Anordnung eine nicht zu unterschätzende Neuerung. Ihre Brisanz wird an einer von Friedrich Kittler wiederholt beschriebenen Anekdote deutlich: Bei einer Aufführung von Richard Wagners Ring im Jahre 1876 wurde „aus Versehen“ (Kittler 2001a: 563 oder Kittler 1987: 103) während
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des Vorspiels das Licht im Zuschauerraum vollständig gelöscht. Kaiser Wilhelm I. äußerte diesbezüglich sein „mildes Entsetzen“, „[...] weil er zum ersten Mal nicht mehr gesehen werden konnte“ (Kittler 2001a: 563). Zwar war dadurch die volle Konzentration auf das Ringvorspiel gegeben, aber zum Bedauern des Kaisers verlor er seine Stellung als Repräsentant. Mit dem Löschen des Lichts wird das Geschehen auf der Bühne zum zentralen Bezugspunkt aller im Raum des Theaters Anwesenden, und das bis dahin übliche gesellschaftliche Spiel der Zuschauer von Sehen und Gesehen-Werden verschwindet zu Gunsten der Intensivierung der Bild-Schirm Anordnung. Mit der Konzentration auf das Bühnengeschehen wird nicht nur das Theaterspiel als autonomes gestärkt, sondern auch die Frage nach der Gestaltung und Inszenierung des Bühnengeschehens auf ganz neue Weise thematisiert. Der andere Raum teilt seine Präsenz nicht mehr mit dem Interieur und der ihm innewohnenden gesellschaftlichen Ordnung, sondern avanciert zum Zentrum und Fokus der Zuschauer. Die Bild-Schirm-Anordnung als materieller Schnitt zwischen Subjekt und einem anderen Raum wird somit in vielerlei Hinsicht im Rahmen der Schaulust des 19. Jahrhunderts umgesetzt und dadurch als Wahrnehmungsgefüge gefestigt und intensiviert. Das Bewegtbild und die Bewegung des Zuschauers durch einen rein optisch organisierten Raum wie dem Panorama vermag die Menschen in einen Zustand des Bewegtseins zu versetzen. Gleichzeitig bringt die Bewegtheit aber auch ein neues Bewusstsein für das Überbrücken von Raum und Zeit mit sich. Gerade dann, wenn der Raum der eigenen Anwesenheit in den Hintergrund rückt und das handlungsentlastete Subjekt sich auf sich selbst zurückzieht, wird die Frage nach einer Überbrückung von Zeit und eines gestalterischen Eingriffs relevant. Das was dort zu sehen ist, muss mehr bieten als der Blick eines Bahnreisenden aus dem Fenster, denn es muss die Konzentration dauerhaft auf sich ziehen. Die Differenz von Subjekt und dem anderen Raum, die beim Bahnfahren eklatant zum Vorschein kommt und von Panoramen oder Dioramen auf spezifische Weise auch umgesetzt wird, lässt unter diesen veränderten Bedingungen die Frage besonders hervortreten, wie der andere Raum gestaltet werden muss, um das Verhältnis zwischen Subjekt und dem anderen Raum zu intensivieren und zu konzentrieren.
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Inszenierung und Gestaltung müssen nun nicht nur die zeitliche Ebene berücksichtigen, sondern auch die fokussierte Konzentration. Darin kommt nun ein weiteres Element zum Vorschein, das bis dahin im Umgang mit optischen Apparaturen und Bildern kaum ins Gewicht fällt: die Störung. Denn erst mit der Konzentration und Fokussierung des Subjekts auf den anderen Raum wird die Störung dieser Konzentration zu einem Problem oder zu einer Herausforderung, die dann wiederum gestalterisch genutzt wird.
8. 2.5 Bewegte Störung bewegt Wie die Ausführungen auf den letzten Seiten gezeigt haben, bringt Bewegung neben dem Faktor der Zeit als langwierige und weitestgehend ungenutzte Übergangszeit, auch Störung als Schnitt in das Verhältnis von Subjekt und dem anderen Raum mit ein. In Abschnitt 8.2.2 wurden drei Räume des Bahnfahrens angeführt. Zwei dieser Räume, der Innenraum des reisenden Subjekts und der andere äußere Raum wurden in den letzten Abschnitten vorgestellt. Nun soll auf den dritten Raum eingegangen werden, der als Bewegungsraum benannt wurde und in Abhängigkeit zum Schienensystem selbst steht. Dieser dritte Raum ist eng verbunden mit dem Innenraum des Eisenbahnreisenden, ist aber letztlich doch ein gänzlich eigener Raum, der als Spezifikum der Eisenbahn hervorgehoben werden kann. In der Zusammenfassung von Schivelbuschs Ansatz weiter oben wird das Relativitätsprinzip erwähnt, das beim Eisenbahnfahren direkt spürbar wird. Der im Zug sitzende Reisende spürt Bewegung und Geschwindigkeit, mit der er sich bewegt, unter idealen Bedingungen nicht. Da der Reisende kontinuierlich mit sich leicht verändernden physikalischen Bedingungen konfrontiert wird, die jeweils eine Störung des vorhandenen Zustands bewirken, erreicht die Bahn diesen Zustand nicht. Diese kleinen Störungen vergegenwärtigen kontinuierlich das mechanische System, in dem sich der Reisende befindet und die wirkenden Kräfte, die Geschwindigkeit und die Bewegung. Dieses System ist eines, das sowohl im Außenraum, als auch im Innenraum existiert. Es verbindet beide miteinander, genauso wie es sie voneinander trennt. Mit diesem System ist dann aber auch eine gänzlich andere Form von Störung verbunden, nämlich Bedrohlichkeit.
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Schivelbusch beschreibt, das gerade in den Anfängen des Bahnfahrens immer auch die Angst mitfährt und mit ihr eine Sensibilisierung für Gegenwart. Jedes ungewohnte Geräusch, jede ungewohnte Bewegung ist bedrohlich, schafft Aufmerksamkeit. Erst nachdem Eisenbahnfahren zur Normalität wird, schwindet diese Aufmerksamkeit (vgl. Schivelbusch 1977: 118), wird das zuvor Unüberspürbare zur Normalität. Mit Normalisierung ist ein Wissen und damit auch eine Orientierung verbunden, wodurch eine Störung ausgelöst wird oder wie sie sich auswirkt. Die Bedrohlichkeit nimmt mit der Erfahrung und dem Wissen darum ab. Und wenn Schivelbusch beschreibt, dass es vor der Industrialisierung noch kein Wort für Unfall gibt (vgl. ebd.), heißt das auch, dass die Kraft und die Macht der Dampfmaschine oder der Eisenbahn nach dem ersten Unfall, als etwas grundsätzlich Bedrohliches real und Teil des kollektiven Bewusstsein wird. So fährt eine „gewisse Beklemmung des Gemüts immer mit, die bei aller Annehmlichkeit der Eisenbahnfahrten doch nie ganz verschwindet“ (ebd.: 117). Der Blick auf Störung zeigt, dass dieser an sich durch technische Artefakte verursachte Zustand, in der Beklemmung, Zerstreuung oder Bewegtheit eng an der Wahrnehmung und der Erzeugung von Gegenwärtigkeit gebunden ist. Genau dies überträgt sich auch auf künstlerische Prozesse. Störung wird als Mittel entdeckt, sich mit atmosphärischen Schnitten gegen die starre Bild-Schirm-Anordnung zu richten. Diese Störungen führen dazu, dass die Realität sich immer wieder vor die phänomenale Wirklichkeit schiebt. Für die Künste des 19. Jahrhunderts, gerade für das Theater, werden die Realität und die mit ihr verbundenen Störungen aber gezielt und bewusst ausgeklammert. An der anfänglich erwähnten Kritik an der unterhaltungsorientierten visuellen Kultur wird dies gut deutlich. Wenn die Schaulust verteufelt wird, weil sie sich gegen die Ansprüche eines gehobenen Literaturtheaters richtet, geht es auch um die in ihr verankerte Störung. Denn diese greift ein in Bereiche, deren konservative Vertreter jegliche Veränderung ablehnen. Für das Theater lässt sich das am Beispiel der Mitte des 19. Jahrhunderts sehr erfolgreichen Meininger Theatertruppe ausmachen. Die Meininger, eine von Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen (1826-1914) 1874 ins Leben gerufene Theatertruppe, sind für ihr historisierendes und üppiges Ausstattungstheater bekannt. So fallen sie vor allem durch
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ihre Publikumsbeliebtheit einerseits und ihre Unbeliebtheit bei den Kritikern auf: Ich will eine Dichtung genießen, und ihr kommt mir mit reichen Kleiderstoffen und angepinselter Leinwand; ich will mich am warmen Atem eines Künstlers ergötzen, und ihr werft mir ganze Rotten gestikulierender, sumsender und schreibender Statisten entgegen [...]. (Speidel 1911: 61f, zit. nach Grund 2002: 20)
Visuell opulente Inszenierungen verhindern die Konzentration auf einen Darsteller oder den Text allein. Die Vielfalt der Geschehnisse stört ein kontemplatives Sich-Vertiefen. Störung avanciert hierbei zu einem ästhetischen Mittel, dem es bei den Meiningern nicht darum geht zu provozieren, dennoch aber für manch einen Kritiker diese Wirkung zu haben scheint. Hier stehen sich zwei Umgangsweisen mit dem Prinzip der Störung gegenüber: Der bewusst gewählte Weg, sie auf allen Ebenen zu eliminieren, um die Konzentration der Zuschauer gezielt auszurichten. Dann aber auch eine Verlagerung der Schwerpunkte, die das Prinzip der Störung – weniger als Provokation, sondern mehr als Konsequenz für bestimmte Entscheidungen – in Kauf nimmt. Die klassische Avantgarde beruft sich auf Störung, als bewusst gewähltes reformatorisches und so auch provokatives Mittel. Irritation und Desorientierung werden gezielt angestrebt. Für das Theater spricht Fischer-Lichte von dem Bestreben einer Intensivierung der externen Kommunikation (vgl. Fischer-Lichte 1997: 9) zwischen Bühne und Zuschauer. Die Avantgardebewegung erhebt die Aktivierung des Publikums zum Programm, das dahinter immer wieder formulierte Ziel strebt auf die gescheiterte Idee zu (vgl. Abschnitt 2.4) Kunst in Leben zu überführen, d.h. den Zuschauer zu schockieren oder in einen Rausch oder Trancezustand zu versetzen oder sein kreatives Potential freizulegen o.a. (Fischer-Lichte 1997: 35)
Angst, Schock und Störung werden so in Anlehnung an die Industrialisierung, ihre Maschinen und die mit ihnen zusammenhängenden Auswirkungen zu Mitteln des eigenen Spürens. Diese Störungen entspringen aber auch der durch Industrialisierung verursachten, gleichtönigen und beschleunigten Bewegung. Fragmen-
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tierung und Mechanisierung der Körper, aber auch stroboskopähnliche Prozesse künstlerischen Schaffens macht Gabriele Brandstetter als tragendes Element der Avantgardebewegung aus (Brandstetter 1994: 92f). Bewegung mit dem Rückgriff auf Störung und Angst bewegt die Menschen also auch auf negative und bedrohliche Weise. Bewegtheit ist nicht allein eine beschaulich verklärende, positiv besetzte Sicht auf die Welt, sondern auch der mit der Industrialisierung einbrechende und durch Menschenhand ermöglichte Unfall. Störung wird so außerhalb ihrer technischen Relevanz und Präsenz zu einem ästhetischen Grundprinzip erhoben, das den Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit aufwertet. Das geht einher mit dem Bruch der Bild-Schirm-Anordnung in den Bereichen, die von der Präsenz und der Gegenwärtigkeit leben. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Das 19. Jahrhundert hat mit seiner Vielzahl an optischen Unterhaltungstempeln und Erfindungen wie dem Diorama oder dem Film die Bild-Schirm-Anordnung massiv gefestigt und auf eine breite Basis gestellt. Gleichzeitig hat es sie auch um die Faktoren Bewegung und Dynamisierung erweitert. Gerade diese sind es, die verstärkt den Aspekt der Störung einbringen. Es ist aber auch ein weiterer Punkt, der nicht zu unterschätzen ist. Die neuen maschinellen Systeme überwinden nicht nur die bisherige Statik optischer Medien, sondern bringen Apparaturen hervor, die selbst in zeitliche Prozesse und Handlungen eingreifen. Die technische Apparatur an sich wird gestaltendes und sich dauerhaft aktualisierendes Element. Das war zuvor noch anders. Für die Bild-Schirm-Anordnung geht es darum, die Apparatur und den darin enthaltenen materiellen Schnitt zum Verschwinden zu bringen. Sie ist Werkzeug oder statisches Gerüst. Darin greift sie passiv in einen Prozess ein. Sie greift aber nicht eigenständig, durch ihre eigene Bewegtheit, ein. Am Kino als jene Apparatur, die beides in sich vereint, die BildSchirm-Anordnung und die mechanische Apparatur, zeigt sich diese Differenz sehr gut. Denn alles, was direkt in die Bild-SchirmAnordnung eingreifen könnte, die Apparatur mit ihrer mechanischen Bewegung wird hinter dem Zuschauer in einer akustisch und visuell abgeschlossenen Kammer verborgen. Auch wenn hier eine Apparatur existiert, die in das Geschehen direkt eingreift, wird alles dafür getan, sie zu verbergen. Als destruktive Störung werden so
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auch all jene Momente erfahren, in der die Apparatur präsent wird. So, wenn der Film hängenbleibt und durchschmort, wenn die Bilder flackern oder unscharf sind. Das mag auch dazu beigetragen haben, warum die Apparatur als grundlegendes Element des Kinos erst so spät in die theoretische Auseinandersetzung einbezogen wird (vgl. zur Apparatus- und Dispositiv-Diskussion Baudry 1975, Baudry 1986, Hickethier 1991, Hickethier 2003, Winkler 1992, Paech 1997). Das Szenario Eisenbahnfahren macht somit deutlich, dass neben der klassischen Differenz von Subjekt und dem anderen Raum, der Aspekt der Bewegung eine ganz neue Schnitt-Ebene öffnet. Nicht allein durch die Bewegung des Subjekts oder des anderen Raums, sondern durch ein übergeordnetes System – in diesem Fall ein mechanisch physikalisch wirkendes System – das räumlich und zeitlich eingreift. Diese neuartige Realität greift auch in das Gefüge und den Schnitt der Bild-Schirm-Anordnung ein. Damit umzugehen ist eine Herausforderung, die sich dem Umgang mit optischen Medien, dem Theater und den Künsten im 19. Jahrhundert auf neue Weise stellt. Dieser Umgang reicht vom Verstecken, durch Optimierung verschwinden lassen oder bewusst als Mittel einsetzen. Letzteres wurde als Prinzip der Störung vorgestellt, eine Störung, die vor allem in die Wahrnehmung des Menschen eingreift, da insbesondere in die atmosphärische Wahrnehmung. Diese Störung avanciert zu einem bis heute relevanten und präsenten künstlerischen Prinzip und hat Teil an einer Wiederentdeckung des Raums und des Schnitts durch den Raum leiblicher Anwesenheit. In welcher Weise dies konkret auf Theater und den Theaterbau seine Wirkung hat, wird in Abschnitt 8.4 am Beispiel von Walter Gropius‘ Entwurf eines Theaterbaus vorgestellt. Zuvor soll aber am Szenario des Flaneurs eine weitere Sicht auf einen spezifischen Bruch mit der BildSchirm-Anordnung vorgestellt werden.
8.3 D AS S ZENARIO F L ANEUR Das Szenario des Eisenbahnfahrenden ist bezüglich seines Fensterblicks relativ eng an die Bild-Schirm-Anordnung geknüpft. Das relativ unbewegliche Subjekt blickt auf eine Welt, von der es entfernt ist.
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Die Beweglichkeit des Eisenbahnfahrenden ist von der Bewegung des anderen Raums bestimmt. Ganz anders verhält es sich mit dem Flaneur (vgl. dazu Abschnitt 2.2). Als spezifische Erscheinung des 19. Jahrhunderts ist er dafür bekannt, sich als direkt im städtischen Raum Anwesender durch die Großstadt zu bewegen. Am Szenario des Flaneurs lässt sich noch weitreichender als für das der Eisenbahn der Aspekt des durch eine Störung erzeugten Schnitts aufzeigen. Aber auch der Bruch mit der Bild-Schirm-Anordnung lässt sich an diesem Szenario verdeutlichen. Von der Bewegungslust des 19. Jahrhunderts bleibt auch die Landbevölkerung nicht verschont. Als Folge des industriellen Wandels im 19. Jahrhunderts setzt eine Landflucht ein, die zu einer enormen Expansion der Städte führt. Paris kann exemplarisch für ganz Europa herangezogen werden, dessen postrevolutionäre Situation Angela Hohmann in ihrem Text Der Flaneur (Hohmann 2000) folgendermaßen beschreibt: Landflucht, das Aufsaugen der industriellen Arbeitermassen durch die Stadt, der neue Reichtum der Bourgeoisie und die damit verbundene Spekulationssucht verstärkten die Wirren der durch die Revolution ohnehin gänzlich aus den Angeln gehobenen alten Ordnung. Alles geriet in Bewegung, unterlag ständigem, unabsehbarem Wandel. (Ebd.: 124f)
Paris gilt auch als die Geburtsstadt des Flaneurs. Er ist es, der sich mitten in den Lärm und die Hektik hineinbegibt, um sich dort in aller Ruhe durch die Straßen zu bewegen. Sein Schlendern steht für eine Haltung, die sich bewusst gegen die Hektik der Großstadt stellt. Den Flaneur an sich zeichnet aus, dass er sich nicht nur körperlich richtungs- und ziellos „im Zeit-Raum der Großstadt“ (Neumeyer, H 1999: 16f) bewegt, sondern die Stadt als inspirierende Fundgrube für seine literarische Arbeit entdeckt. Er stellt sich bewusst gegen den Lärm und das hektische Treiben der Großstadt, die sich, wie es scheint, gleich den Fabriken immer stärker dem Taylor’schen Verdikt rationalisierter Arbeit unterstellt. Heinrich Heine rät deshalb vor allem Poeten davon ab, Großstädte wie London zu besuchen.
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Dieser bare Ernst aller Dinge, diese kolossale Einförmigkeit, diese maschinenhafte Bewegung, diese Verdrießlichkeit der Freude selbst, dieses übertriebene London erdrückt die Phantasie und zerreißt das Herz. (Heine 1961: 422)
Eine Menschenmenge an sich scheint auszureichen, das Gefühl von Gleichstrom maschineller Bewegung zu evozieren. Das Szenario des Flaneurs setzt sich also von dem des Eisenbahnfahrenden ab, weil er direkt in den Raum, durch den er sich bewegt, involviert ist. Ganz anders als das Projektil, das Raum und Zeit vernichtet, will der Flaneur die Stadt in Echtzeit und hautnah erleben. Dabei löst er sich von der Hektik ab und bewegt sich gemächlich inmitten aller anderen. Auf den ersten Blick scheint sich die Trennung von Subjekt und dem anderen Raum aufzulösen. Doch schon in dieser selbst gesetzten Ablösung von der Masse, der Gemütlichkeit inmitten hektischen Treibens, findet eine solche Ausdifferenzierung zwischen Flaneur und dem Stadtraum als einem anderen Raum statt. Der Flaneur befreit sich vom Streben des Künstlers nach Eingeschlossenheit und Ruhe, die Heine als Idealzustand für den Dichter sicher im Sinn hat. Gleichzeitig unterläuft er auch die maschinenhafte Einförmigkeit, indem er sich der Menschenmasse und der Stadt im Besonderen annimmt. In der scheinbar gleichwirkenden Masse lernt er zu differenzieren, lernt er zu erkennen, dass jede Masse doch ihre Individuen und Geschichten birgt. Der Flaneur verweigert sich so den Prinzipien des bewegten 19. Jahrhunderts, er ist einsamer Revolutionär gegen die Masse, die ihm dennoch für seine Fähigkeiten und Ziele Stoff liefert. Müßig geht er als eine Persönlichkeit; so protestiert er gegen die Arbeitsteilung, die die Leute zu Spezialisten macht. Ebenso protestiert er gegen deren Betriebsamkeit. Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur ließ sich gern sein Tempo von ihnen vorschreiben. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte der Fortschritt diesen pas lernen müssen. Aber nicht er behielt das letzte Wort sondern Taylor, der das »Nieder mit der Flanerie« zur Parole machte. (Benjamin 1998: 52f)
Stellt man nun die Bewegung der Industrialisierung und des Eisenbahnfahrens der des Flaneurs entgegen, tritt eine Besonderheit
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hervor. Der Flaneur dreht das Prinzip der Bild-Schirm-Anordnung um. Anstatt als Subjekt über die Brücke optischer und illusionistischer Bild-Schirme sich einem anderen Raum gegenüberzustellen, begibt er sich auf die Straße. Der städtische Außenraum wird so zum Raum leiblicher Anwesenheit; Benjamin stilisiert den öffentlichen Raum sogar zum heimischen Interieur des Flaneurs (vgl. ebd.: 35). Dem Flaneur wird der Stadtraum zur zweiten Wohnung. Das erinnert an die Gestaltung der Abteile in Eisenbahnen. Als öffentliche Übergangsräume werden sie für einen gewissen Zeitraum zu Lebensräumen, die zumindest für die ersten Klassen häuslich prunkvoll gestaltet sind. Wichtig hierbei ist, dass dem öffentlichen Raum überhaupt der Status eines privaten Interieurs von Seiten des Flaneurs zugeschrieben wird. Für beide Szenarien gilt aber, dass der Raum durch den man sich bewegt, zu einem Lebensraum avanciert, der mit Kategorien des häuslichen und des Interieurs umschrieben wird. Damit werden aber sowohl das Eisenbahnabteil, als auch der Stadtraum zu potentiell ästhetischen Räumen. Sie werden gestaltbar, sei es durch die Bahngesellschaft oder durch den Flaneur selbst. Der Alltags- und Lebensraum wird zu einem vom Flaneur definierten und erzeugten gestaltbaren Raum. Durch diesen Raum verläuft ein Schnitt, der aber eben nicht durch eine Anordnung mit einem BildSchirm inmitten geformt wird, sondern durch eine Ausdifferenzierung der Wahrnehmungswirklichkeit, in dem der Ich-Pol die Atmosphäre als Gegenstands-Pol erfährt. Innerhalb dieser räumlichen Grundkonstellation, kommt so dem Ich als Erzeuger des Schnitts eine zentrale Stellung zu. Die reale Welt des Flaneurs ist eine belebte und überfüllte Alltagswelt mit all ihren Widrigkeiten. Es ist eine vermeintlich ästhetisch leere Welt, aus der der Flaneur sich seine Geschichten herauszieht. Es sind die Massen, die hier ihre Wirkung entfalten, Geschichten erzeugen und letztlich die Stadt und ihr Treiben zu einem ästhetischen Gegenstand erheben. Auch wenn er und seine Geschichten sich an tradierten Formen orientieren und auf der Suche nach dem Schönen sind, die Elemente der Störung als Erzeuger unüberspürbarer Gegenwärtigkeit sind dauerhaft präsent. Der Flaneur muss ständig mit dem Einbrechen der Realität rechnen und so mit einer Auflösung des Schnitts. Gleichzeitig vergegenwärtigt sich das Alltägliche beständig und schafft räumliche Grundkonstellationen für den Schnitt. Anders als der Eisenbahnfahrende, der Raum und Zeit zu vernichten versucht, weil der Aufenthalt in der Eisenbahn lästig ist, ist
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für den Flaneur der Aufenthalt in der Stadt alles Mögliche, aber nicht langweilig. Ein Ausspruch von Baudelaire macht dies evident: „Wer imstande wäre sich in einer Menschenmenge zu langweilen, ist ein Dummkopf. Ein Dummkopf, wiederhole ich, und ein verächtlicher“ (Baudelaire, zit. nach Benjamin 1998: 35). Der Flaneur sucht somit Zerstreuung und eine sich ständig wandelnde Welt, in der sich alles in Bewegung befindet. Der große Vorteil dieser Bewegung ist, dass sie nicht dem starren Prinzip eintöniger Wiederholung unterstellt ist, sondern dauerhaft Neues und Unerwartetes hervorbringt. Weder die Industrialisierung noch die Vielfalt an optischen Apparaten jener Zeit werden diesem Anspruch gerecht. Baudelaire entdeckt deshalb das von David Brewster (1781-1868) 1815 entwickelte Kaleidoskop für sich, wie Jonathan Crary in seinem Buch Techniken des Betrachters (Crary 1996) nachzeichnet: Bei Baudelaire symbolisiert das Kaleidoskop als Apparat der Fragmentierung fester Bildpunkte und zum Zertrümmern jeglicher Stabilität die Desintegration einer vormals einheitlichen Subjektivität und die Zerstreuung des Begehrens in neue wechselhafte und labile Anordnungen. (Ebd.: 118)
Hinter dem Begehren des Wechselhaften und der Suche nach einer labilen Anordnung kann auch der für das Eisenbahnfahren angeführte Aspekt der Störung ausgemacht werden. Doch diese Störung, an der der Flaneur sich jenseits des Kaleidoskops orientiert, ist nicht das Produkt eines einzelnen technischen Artefakts und dessen physikalischer Faktoren, vielmehr basiert sie auf dem Menschen und seinem Handeln in der Großstadt sowie der gezielten Suche des Flaneurs nach besonderen Momenten des Alltäglichen. Gleichsam zeigt sich auch, so lässt auch die Bezugnahme auf das Kaleidoskop vermuten, dass diese Störung trotz Suche nach Zerstreuung und einer labilen Anordnung kalkulierbar und geordnet sein soll. Blickt man auf die Funktionsweise des Kaleidoskops, zeigt sich ja, dass leichte Positionsänderungen oder wechselnde Lichtverhältnisse neue und unerwartete Bilder hervorbringen. Diese Veränderungen verlaufen in sehr klar physikalisch und geometrisch strukturierter Weise ab. David Brewster beschreibt sein Kaleidoskop als Inbegriff rationaler Herstellung von präzisen und besonders schönen Kunstwerken, das in wenigen Minuten so viele Bilder hervorbringt, wie ein Maler sonst nur in einem Jahr (vgl. ebd.: 120f). Als interessanter
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Faktor kommt auch noch hinzu, dass der Betrachter Einfluss auf den Wandel der visuellen Erscheinungen hat. Er hat in begrenztem Umfang Kontrolle über das Produkt des Apparates. Für den Flaneur ist gerade dieser Aspekt der Kontrolle wesentlich. Baudelaire versteht sich selbst als Künstlergenie (vgl. Hohmann 2000: 126f), das die kritisch zu bewertende Fähigkeit besitzt, sich durch die Stadt zu bewegen und dabei gleichzeitig den Überblick über sie zu behalten. Für dieses kontrollierte Handeln steht die von Hohmann hervorgehobene Doppelbegabung des Flaneurs – „nämlich sehen zu können und gleichzeitig über die künstlerischen Mittel zu verfügen, das Geschaute sichtbar zu machen“ (ebd.: 127). Für Baudelaire ist diese Begabung „der Garant dafür, daß sich das Genie trotz seiner Vermählung mit der Masse nicht in ihr verliert (ebd.). Er geht also davon aus, immer Kontrolle über sein Handeln, die Stadt und das Handeln der anderen zu haben. Damit hält er nicht nur Abstand und verfällt dem semiotischen Lesen der Stadt, wie schon der Erzähler in Poes Kurzgeschichte Der Mann der Menge (Poe 1922), die in Abschnitt 2.2 vorgestellt wurde, sondern er begibt sich letztlich in das Spannungsgefüge der Bild-Schirm-Anordnung und positioniert sich als Subjekt vor einem anderen Raum. Er rückt sich selber mit seiner distanzierten Haltung aus seiner eigentlichen Involviertheit heraus. Er entrückt dem Raum als Raum leiblicher Anwesenheit und funktioniert ihn zu einem zeichenorientierten Raum um. Dabei unterstellt er den Passanten des Stadtraums, in gewisser Weise intentionale unüberspürbare Gegenwart zu erzeugen. Letztlich ist er dabei Interpret im Sinne des Hineininterpretierens von Etwas in ein Geschehen für seine eigene literarische Produktion. Das heißt aber, dass auch der Flaneur seine leibliche Anwesenheit am Prinzip optischer Apparate und Anlagen ausrichtet und daran angelehnt einen Schnitt etabliert. Ebenso wie diejenigen, die Panoramen oder Dioramen gestalten oder Photos für Stereoskope herstellen, verschwindet auch der Flaneur als Individuum hinter seiner Arbeit. So zumindest kritisiert Hohmann die Figur des Flaneurs. Die Flanerie als Lektüre der Stadt läßt für die Erfahrung der Moderne Wesentliches unangetastet: das Subjekt wird sich nie selbst zum Material, und zwar weder in der Schilderung der Wahrnehmungsprozesse, noch in der Sprache, noch in der ästhetischen Gestaltung des Stoffes. (Hohmann 2000: 138)
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Der Flaneur gibt sich als vermeintlich objektiver Betrachter, der sich gleich denen, die für Panoramen Schlachtszenen oder Städteansichten gestalten, aus dem Produkt selbst herausnimmt. Die Störung, die ihn am Kaleidoskop exemplarisch begeistert, ist lediglich ein Wechsel von einem vermeintlich stabilen Zustand in einen anderen. Anders noch als beim Zugfahren oder auch in Edgar Allen Poes Der Mann der Menge wird diese Störung aber niemals bedrohlich oder schafft Unbehagen. Sie bringt vielmehr angenehm überraschende Veränderungen hervor und bleibt immer kontrollierbar. Diese Haltung gegenüber dem Erleben im Stadtraum macht deutlich, dass der Flaneur als Übergangsfigur zu bewerten ist, der sich zwischen einem tradierten Kunstverständnis des Schönen und der klassischen Avantgarde bewegt und sich darin an einem Schnitt orientiert, den die Bild-Schirm-Anordnung hervorbringt. Er hält am Tradierten fest, verweist dann aber auch auf zukünftige Entwicklungen, die die Starrheit der Bild-Schirm-Anordnung kritisch in Frage stellen. An ihnen ist er vorprägend beteiligt. So sehr Baudelaire als prominentester Vertreter der Flaneurfigur sich gegen Moderne, Technisierung oder auch optische Apparate stellt, sein Handeln und sein Schrifttum bringen ihn in die Nähe zu Panoramen oder auch Dioramen. Er ist es, der eine dem Normalbürger entfernte Welt vermittelt, diesen anderen Raum der Stadt. Seine selbsternannten Mittel dafür sind hochgradig zweifelhaft: Seine vermeintlich geniale Begabung, den Stadtraum und seine Menschen lesen zu können. An den damals populären Schriftformen der Tableaux zeigt Hohmann dies auf (ebd.: 129). Sowohl sie als auch die von Benjamin erwähnten physiologies (Benjamin 1998: 33) – Schriften, die Personengruppen gesellschaftlichen Lebens in aller Kürze umschreiben – entspringen ganz dem Geist des Flaneurs. Sie dienen als rein auf Text basierende schrift-bildliche Vermittler, „daguerréotypes mobiles“ (Hohmann 2000: 129) der Stadt. Der Flaneur ist so auch Schöpfer eines Schrifttums, das sich den optischen Apparaten und ihrem Drang unterwirft, die „Seh-Sucht des 19. Jahrhunderts“ (Hick 1999: 236) zu stillen. Das aufstrebende Bürgertum strebt danach, sich visuell der Welt zu bemächtigen (vgl. ebd.), zu der der Flaneur als Lesender der Stadt seinen Anteil beiträgt. Dabei stellt er sich und seine Begabung als Bild-Schirm zwischen Leser und Text.
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Wahrnehmung im Szenario des Flaneurs unterscheidet sich von der in der Bild-Schirm-Anordnung vor allem durch ein tatsächliches Involviertsein in den Raum. Mit seiner leiblichen Anwesenheit im Raum setzt sich der Flaneur zum Szenario des Bahnfahrens in Opposition. In seinem Sein im Raum wird nicht nur der Alltagsraum als Ort von Geschichten und Handlungen zu einem künstlerischen Gegenstand erhoben, sondern der Raum als Raum leiblicher Anwesenheit, dessen Schnitt ihn zu einem ästhetischen Ort werden lässt. Das Leben wird so auch durch die Haltung des Flaneurs ästhetisiert, sich aus dem Stadtraum sowohl lesend herauszuziehen, als auch atmosphärisch seiner selbst und der existenten Atmosphäre gewahr zu werden. Dabei greift die Realität potentiell immer in sein Dasein ein, offenbart sich als Störung. Daran orientiert, könnte man viele der für die klassische Avantgarde relevanten Entscheidungen, Ideen und Konzepte ableiten. Das Leben und somit auch das ihr entspringende Kunstverständnis können nicht mehr ohne weiteres auf einen von Walter Benjamin vertretenen Aurabegriff bezogen werden, der von einem schönen und störungsfreien Naturidyll ausgeht (vgl. Abschnitt 2.4). Das bestätigt auch Gabriele Brandstetter in ihrem Text Unter-Brechung (Brandstetter 1994), in dem sie für die klassische Avantgarde genau den Aspekt der Störung als ganz zentrales Motiv ausfindig macht. „Fragmentierungs-Muster der Unterbrechung“ (ebd.: 108) werden aus der industrialisierten Arbeitswelt herausgezogen und in Mustern künstlerischen Schaffens überführt. So kann man zeigen, dass das Prinzip der Störung zum Paradigma der klassischen Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts avanciert, bei dem die Realität immer wieder in ästhetische Prozesse eingreift, sie aufstört und mitunter auch zerstört. Dieser Vorgang, dass ein distanzierter in seiner BildSchirm-Anordnung verfangener Betrachter in Anlehnung an die in den zwei Szenarien dargestellten Modi aus seiner illusionistisch überzüchteten Wahrnehmungswirklichkeit herausgerissen wird, geht über in künstlerisches Schaffen. Die These zum Schluss ist daher, dass das Theater der Avantgarde Aspekte aus beiden Szenarien, dem der Eisenbahn und des Flaneurs aufnimmt. Nur so wird auch klar, warum sich die Avantgarde Anfang des 19. Jahrhunderts in diesem eigenen in Abschnitt 8.1 angeführten Widerspruch verfängt, sich einerseits von optischen Medien und ihrer Wirkung befreien zu wollen, sie dennoch aber in ihr Denken und Handeln aufzunehmen. Doch ist dabei der beson-
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dere Sprung der Avantgarde, dass sie eine für das Theater spezifische Synthese der zwei hier vorgestellten Szenarien und den mit ihnen verbundenen Schnitt durch den Raum vollzieht. Und so werden Bewegung und Raum der Antrieb für die darstellende Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts. Crary beschreibt als Merkmal des 19. Jahrhundert die „»Loslösung« des Sehens von dem unbeweglichen Repräsentationssystem der Camera obscura“ (Crary 1996: 118). Erstaunlich ist, dass für das Theater dieser Anspruch erst am Ende des Jahrhunderts zur treibenden reformatorischen Kraft wird. Es mag damit zu tun haben, dass das an sich schon immer in Bewegung befindliche System Theater erst in seinen Grundfesseln erschüttert wird, als optische Medien, insbesondere der Film, ihm seine Spezifik streitig machen. Doch was soll das Theater machen? Seine Möglichkeiten erstrecken sich letztlich in nur zwei Richtungen: Den Bühnenraum als Tiefenraum mit einer eigenen ästhetischen Wirkung ausbauen oder sich gegen die Starrheit der Bild-SchirmAnordnung stellen. Für beides rückt der Aspekt der Störung in den Vordergrund, weil sie es schafft, distanzierende Trennung zu durchbrechen. Für beides rückt damit aber auch der Aspekt des Schnitts in den Vordergrund, denn an ihm vollzieht sich nicht nur eine Neuorientierung von Handlungsentlastung und der Differenz von Wirklichkeit und Realität, sondern auch eine Wiederentdeckung des Raums leiblicher Anwesenheit für alle Kunstformen. Die durch physikalische Gesetzte verursachte Störung des Bahnreisenden sowie die potentielle Störung des Flaneurs als Einbruch der Realität werden so direkt oder in übertragenen Formen zu festen Bestandteilen auch theatralen Handelns. Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum des Theaters werden für Theatermacher und auch Theaterarchitekten zu zentralen Mitteln. Genau das soll als einziger tiefergehender Einblick in die klassische Avantgarde am Beispiel von Walter Gropius und seinem für Erwin Piscator (1893-1966) 1928 entwickelten und nie verwirklichten Theaterbau näher vorgestellt werden.
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8.4 WALTER G ROPIUS UND SEIN B RUCH MIT DER B ILD -S CHIRM -A NORDNUNG
Vor dem Hintergrund der zuvor entwickelten und vorgestellten Aspekte über Bewegtheit, Bewegung und Störung im 19. Jahrhundert und den Eingriff sowie die Vertiefung der Charakteristika der BildSchirm-Anordnung durch optische Medien kann jetzt der Bogen zum Anfang des Abschnitts geschlagen werden. Vorgestellt wurde die These, dass die Bewegtheit des 19. Jahrhunderts, gekoppelt an seine Schaulust, eine Grundlage schafft, an der sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Theateravantgarde orientiert. Für das Theater wird der Raum als vielschichtiger Handlungsraum entdeckt und im Zuge der aufkommenden radikalen Haltung gegenüber der Statik und Bildorientierung auch der Raum des Theaters als Raum leiblicher Anwesenheit. Am Beispiel von Walter Gropius und seinem Text Theaterbau (Gropius 1999) soll an Hand der hier vorgestellten Aspekte der von ihm als Vertreter der klassischen Avantgarde vollzogene Bruch mit der Bild-Schirm-Anordnung vorgestellt werden. Die folgenden Betrachtungen vertiefen die in Abschnitt 2.4.2 eingeführten Konzepte der klassischen Avantgarde, an denen Gropius im Bezug auf Raum und Raumwahrnehmung mitgewirkt hat. Gropius gehört mit zu den einflussreichsten Architekten seiner Zeit. Neben seiner Gründung des Staatlichen Bauhaus Weimar 1919, hat sein Wirken seit dem zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts nicht nur seine Zeit geprägt, sondern es reicht bis in die Gegenwartsarchitektur hinein. 1934 erscheint sein Aufsatz Theaterbau, in dem er sich neben dem Neuentwurf eines Theaterbaus, auch mit der damals vorherrschenden theaterbaulichen und -ästhetischen Grundsituation auseinandersetzt. Theaterbau liest sich ein wenig wie die Zusammenfassung vieler bislang vorgebrachter Aspekte, weshalb er hier auch exemplarisch vorgestellt wird. Gropius steigt ein mit einer Kritik an der Industrialisierung und der mit ihr verbundenen materialistischen Welt, die zu einem Verlust der „menschlichen Empfindungswelt“ (ebd.: 161) beigetragen habe. Außerdem kritisiert er, dass Theater eine nur kleine gesellschaftliche Schicht anspricht und formuliert für sich das Ziel, ein Theater für alle zu schaffen (vgl. ebd.: 162). Um dieses Ziel zu erreichen, nennt er als Mittel neben Wort und Klang vor allem den
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Raum. Raum ist für ihn ein übergeordnetes System, das gliedern, trennen, einengen oder auch Freiräume schaffen kann. Raum ist aber auch eine Art Behälter, der vielfältig Dinge in sich aufnehmen kann und in dem diese Dinge schöpferisch zum Leben erweckt werden können. Das Phänomen des Raums ist bedingt durch endliche Abgrenzungen im endlosen Freiraum, durch Bewegung mechanischer und organischer Körper in diesem begrenzten Raum und durch die Schwingungen des Lichts und der Töne in ihm. Die Schöpfung des bewegten, lebendigen, also künstlerischen Raums setzt die überlegene Beherrschung aller natürlichen Forderungen der Statik, Optik und Akustik voraus, damit seine Idee leibhaftig und lebendig wird. (Ebd.)
Raum so verstanden ist ein Sammelbecken, in dem eine Vielfalt an möglichen Ausdrucksformen gleichberechtigt aufgenommen werden kann. Komponist, Dichter, Darsteller, Musiker, aber auch Bühnen-, Ton- oder Lichttechniker sind alle zusammen gleichwertig für die Herstellung einer Aufführung verantwortlich. Sie sind es, mit deren Mitteln dieser Raum gefüllt und erfüllt werden kann. „Ihr Werk besteht also nicht selbstständig für sich, sondern wird erst im Zusammenspiel aller verständlich und lebendig“ (ebd.). Und so versteht Gropius seinen Theaterbauentwurf auch als Instrument, als „Licht- und Raumklavier“ (ebd.: 163), das veränderbar und offen ist. Deutlich wird, dass Gropius den Aspekt der Bewegung auf vielschichtige Weise in seine Konzeption integriert. Gleichzeitig zeigt sich sein stark erweiterter Blick auf Kunst und Kunstschaffende. Hierin taucht letztlich der weiter oben erwähnte dritte Raum des Bahnreisenden auf. Denn für Gropius ist es die Aufgabe des Theaterbaus, als übergeordnetes System nicht nur ein Behältnis für unterschiedliche ästhetische Arbeiter bereitzustellen, sondern in seiner Gesamtanlage gleichermaßen auch selbst zum aktiven Gestaltungs- und Wirkungsraum zu avancieren. Der Theaterbau wird so als System vorgestellt, das in das Geschehen aktiv eingreift bzw. Räume zur Verfügung stellt, die Geschehen aktiv formen. Kunst hat bewegt und lebendig zu sein. Davon sollen auch die physikalischen Bedingungen des Raums, Statik, Optik und Akustik nicht ausgenommen sein. Sie zu beherrschen heißt auch, sie kreativ in den gestalterischen Prozess zu integrieren.
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Inhaltlicher Kernpunkt seines Ansatzes ist die Kritik an der tradierten und bis heute vorherrschenden Guckkastenbühne (vgl. dazu auch Abschnitt 2.4.2). Der Zuschauer blickt von seiner profanen Bank aus nur noch durch ein gerahmtes Fenster auf das wechselnde Bild der Illusion, das der Vorhang ihm enthüllt. Die dritte plastische Dimension dieses Szenenbildes schrumpft wie auf einer Mattscheibe eines photographischen Apparates zusammen, das Schwingungssystem der Bewegungsrichtung des Spiels vermag den Beschauer nicht mehr sinnlich-räumlich einzubeziehen. Jenseits des Rampenlichts vermindert sich seine Aktivität mit dem Verlust der räumlichen Beziehungen zum Spiel, er steht neben dem Drama, nicht in ihm. Die räumliche Trennung der zwei Welten – Schauraum und Spielraum -, so viel technische Vervollkommnung sie auch gebracht hat, wird zum Verhängnis und zwingt den Beschauer, den Weg zum Erlebnis über die Brücke des Intellekts zu nehmen. (Gropius 1999: 165)
Abb. 32: Grundriss des Totaltheaters von Walter Gropius (1928).
Drastischer könnte die Kritik an der statischen und distanzierenden Bild-Schirm-Anordnung kaum formuliert werden. Sein Ansatz und sein Theaterbau-Entwurf distanzieren sich auf allen denkbaren Ebenen von dem hier Kritisierten. Dabei stellt er deutlich kontrastiv die Differenz zwischen statisch intellektueller Distanz und bewegt sinnlich-räumlichem Involviertseins her. Er konzipiert einen Theaterbau, der auf zahlreich verfügbaren Ebenen in Bewegung gesetzt und bespielt werden kann. Ein Mittel, dieses Anliegen umfassend
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umzusetzen, ist sein Entwurf einer variablen Bühnen-Zuschauer Anordnung. In Anknüpfung an die drei historisch relevanten Bühnenformen, konzipiert er hydraulisch veränderbare Zuschauer- und Bühnenbereiche. Noch während einer Aufführung kann die Anordnung zwischen kreisrunder Arenabühne, halbkreisförmigem Amphitheater und der gängigen Guckkastenbühne verändert werden. Außerdem sieht er vor, dass die Darsteller in alle Richtungen agieren können, so auch auf einem den Publikumsbereich umgebenden Ring, der als weitere Spielfläche vorgesehen ist. Das Publikum kann so vom Schauspiel vollständig umschlossen werden. Des Weiteren sieht er auch die Innenwände des Baus als Projektionsflächen für Filmeinspielungen vor. Als Devise im Umgang mit dem Theaterbau stellt er die „Einheit des Spielraums und des Schauraums; Gliederung, aber nicht Trennung“ (ebd.: 166) heraus. Diese Vielschichtigkeit und extreme Wandelbarkeit des Raums und seiner Anordnungen zeigt, dass die starre Bild-Schirm-Anordnung nur noch ein möglicher Ansatz ist, aber eben nicht mehr der einzige. Ferner zeigt sein Anspruch, den Raum als Instrument zu verstehen, dass der Raum selbst zum aktiven Element wird, in dem der Aspekt der Störung nicht als vermeidbare und zu versteckende Größe gedacht wird, sondern als Teil des Systems konzeptionell, gestalterisch und ästhetisch integriert wird. Deshalb auch fordert er die „Mobilisierung aller räumlichen Mittel, um das Publikum in seiner intellektbetonten Apathie aufzurütteln, zu bestürmen, zu überrumpeln und zum Miterleben des Spieles zu nötigen“ (ebd.). Dies soll vor allem über das Erzeugen eines dreidimensionalen, räumlichen Gesamtgefüges hergestellt werden, bei dem der Theaterbau mit seinem gesamten technischen Grundsystem, seiner Hydraulik, den ton- und lichttechnischen Möglichkeiten ein bewegtes und vielfältig veränderbares Gefüge schafft. „Aus der Summe aller Projektionsebenen entsteht so der dreidimensionale Projektionsraum, das reale Schauhaus zerfließt zum wandelbaren Raum der Illusion, wird Schauplatz selbst“ (ebd.). Genau hier tritt die am Szenario der Eisenbahn angeführte Störung sehr deutlich zum Vorschein. Während bei der Eisenbahn das Schienensystem und die mit ihm verbundenen physikalischen Eigenschaften des fahrenden Zuges die Störungen erzeugen, ist es bei Gropius der Theaterbau mit seinen Begrenzungen und seiner technischen Wandelbarkeit, es sind die möglichen Mittel, wie Ton, Licht, Projektionen die eingesetzt werden können, die gezielt und
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determiniert Störungen herbeiführen, die letztlich dazu beitragen, dass der Zuschauer „überrumpelt“, „bestürmt“ und zum „Miterleben des Spiels“ genötigt wird. Es ist der Raum und die Anwesenheit der Menschen in diesem Raum, in dem nicht mehr Trennung herrschen soll. Bewegung ist in diesem System nicht allein eine polare Angelegenheit zwischen Zuschauerraum und Bühnenraum wie im tradierten Theater, Diorama oder Film. Stattdessen wird Bewegung in einem Zwischenbereich angesiedelt, bei dem der Theaterbau als Ganzes zu einem Raum des Theaters avanciert. Der Schnitt durch den Raum des Theaters verläuft nicht mehr zwischen materiellen Vorgaben, statischen Anordnungen und getrennten und distanzierten Räumen. Der Schnitt wird zu einer Wahrnehmungswirklichkeit und ermöglicht es dem Besucher im Theater, trotz seiner leiblichen Anwesenheit im Raum des Theaters als Gast anwesend zu sein. Die Erzeugung des Schnitts wird damit aber auch an den Gast delegiert. Ausgangspunkt dafür ist das Ansinnen der klassischen Avantgardebewegung, Kunst und Leben zu vereinen. Als Auswirkung dieses gescheiterten Ansinnens kommt es zu jener Delegierung, den Schnitt selbst zu erzeugen. Der Zuschauer wird autonom und aus der Fürsorge des Theatermachers entlassen. Gleich dem Flaneur ist es das Subjekt, das frei und selbstbewusst in ein komplexes System involviert ist, in dem es sich auf seine persönliche Weise den Inhalten und der Aufführung nähern kann.
9. Der Schnitt durch den Raum: Reichweite und Grenzen
Mit dem Begriff vom Schnitt durch den Raum, so ein Fazit dieser Arbeit, können nicht nur Wahrnehmungssituationen beschrieben werden, sondern er kann auch herangezogen werden, um sich damit sehr verschiedenen Wahrnehmungskonzepten zu nähern. Gerade dann, wenn vom Schnitt als Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit ausgegangen wird, eröffnen sich neue Perspektiven und Sichtweisen. Damit ist ein für den hier beschriebenen Schnitt wesentlicher Ansatz benannt: Der Schnitt durch den Raum wurde mit dem Fokus auf den Raum leiblicher Anwesenheit und in Abgrenzung zum geometrischen Raum vorgestellt. Denn im geometrischen Raum haben wir es beim Begriff Schnitt, mit einem materiell und auf Objekte bezogenen Schnitt zu tun, wie er im Film oder auch für Computerschnittstellen verwendet wird. Der Schnitt wird dann zum Begriff des Verbindens einzelner und zerstückelter Objekte. Erst im Kontext einer Raumkonzeption, die vom Raum leiblicher Anwesenheit ausgeht, wird der Schnitt zu einem Begriff der Befindlichkeit, der Differenz von Wirklichkeit und Realität sowie handlungsorientierter Ausdifferenzierungen. Es ist diese andere Ausrichtung, die den Begriff des Schnitts erst für das Theater und seine Formen interessant werden lässt, da mit ihm in Anlehnung an Gernot Böhmes Atmosphärenbegriff eine ästhetische Dimension von Theater beschreibbar wird, die von der Kunstform abgelöst ist und sich ganz auf Wahrnehmungswirklichkeiten bezieht. Theater ist dann nicht mehr nur die kulturell und historisch gewachsene Form, sondern eine spezifische Weise von Wahrnehmung. Für diese Arbeit lassen sich rückblickend drei Konzentrationen ausmachen. In Abgrenzung zu herkömmlichen Wahrnehmungs-
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und Raumkonzepten, können an Böhmes Ausführungen zu Atmosphäre und zum Raum leiblicher Wahrnehmung Phänomene beschrieben werden, die nicht nur im normalen Lebensalltag vorkommen, sondern insbesondere für die Kunstform Theater eine Bedeutung haben. Dafür ist die Ablösung von herkömmlichen Wahrnehmungskonzepten und von geometrischen Raumkonzepten grundlegend. Das Konzept des geometrischen Raums ist ein abstraktes, das eine Brücke zwischen Raumerleben und Anschauungsraum schlägt, bei der zwischen Subjekt und Objekt als abstrahierbare Größen unterschieden wird. Der Schnitt innerhalb dieses Raums ist der trennende und verbindende, ist Distanz und ihre Überwindung durch beispielsweise mediale Vermittlung. Sich hier dem Schnitt anzunähern, heißt sich beispielsweise an existenten Mediendiskursen zu orientieren und bringt keinerlei neue Erkenntnisse. Der Raum leiblicher Anwesenheit hingegen ist der Raum meiner Befindlichkeit, meines Hierseins und sich so und so Fühlens. Geprägt wird dieser von der Atmosphäre als erster Wahrnehmungswirklichkeit, die sich als Teil eines ästhetischen Prozesses in einen Ich-Pol und einen Gegenstands-Pol ausdifferenziert. Der Schnitt setzt diesen ästhetischen Prozess frei und wird zu einem Begriff, mit dem bestimmte Wahrnehmungsweisen beschrieben werden können, an denen sich vor allem Kunstformen sowie hier im Spezifischen Theater und performative Künste orientieren. Sich dem Schnitt über den Raum leiblicher Anwesenheit anzunähern, bringt als zentralen Vorteil, von der Wahrnehmung und nicht den gegebenen Verhältnissen und Vorprägungen auszugehen. Ein Sprechen über Theater kann dann so jenseits des vorherrschenden Kunstbegriffs stattfinden und sich ganz auf spezifische Wahrnehmungserfahrungen konzentrieren. Der Schnitt bewegt sich so zwischen Alltagssituation – wie einer Begegnung mit zwei Fahrradfahrern – und dem Theaterbau als kulturell über Jahrhunderte gewachsenem Gefüge. Diese Bandbreite zeigt einerseits den Umfang, macht andererseits auch deutlich, dass wir es kaum mit einem eindeutig eingrenzbaren Begriff zu tun haben. So differiert der Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit stark von dem durch den Raum des Theaters und der noch einmal von dem durch den Theaterbau. Der Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit ist Teil alltäglicher Wahrnehmung und spielt sich auf drei räumlichen Ebenen der eigenen Anwesenheit im Raum ab: im Handlungs-, Wahrneh-
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mungs- und Stimmungsraum. Ich gerate in eine handlungsentlastete Situation, die es mir ermöglicht, mich ganz auf Anderes als mein eigenes Handeln zu konzentrieren. Gleichzeitig begegnen mir andere handelnde Personen oder Dinge, auf die sich meine Aufmerksamkeit richten kann. In meiner Wahrnehmung bin ich in einem anderen Raum anwesend. Gleichzeitig sind die Dinge und Personen, denen ich begegne, durch die von ihnen erzeugte Wirklichkeit in meinem Wahrnehmungsraum anwesend. Für mich als Gast in ihrem Raum spielt vor allem die von ihnen ausgehende Wirklichkeit eine Rolle. Deren Realität – sie als Individuen, Körper oder Personen – tritt in den Hintergrund. Gleiches gilt auch für den Stimmungsraum meiner leiblichen Anwesenheit. Auch hier treffen zwei sehr unterschiedliche Räume aufeinander. Ich bin so und so gestimmt und gerate zufällig in einen zu meiner Stimmung anderen Raum. In meiner Stimmung bin ich bei den Personen oder Dingen als Fremdkörper anwesend, wie ihre räumlich sich ergießende Stimmung in meinen Raum präsent ist. Ein Merkmal einer solchen Situation ist, dass sie hochgradig brüchig ist und sich in der Regel nach nur kurzer Zeit wieder auflöst. Der Schnitt als Handlungsentlastung, Isolierung von Wirklichkeit und Realität oder Ingressionserfahrung darf hierbei niemals als trennend angenommen werden. Vielmehr ist dieser Schnitt ein räumliches Zwischen, das meine Befindlichkeit beeinflusst und neuorientiert. Ich befinde mich im Raum meiner leiblichen Anwesenheit von dem aus ich in den mir anderen Raum bedingt eindringe. Bedingt deshalb, weil ich als Nicht-Handelnder außerhalb bleibe, auch wenn ich potentiell eingreifen könnte. Dafür bin ich aber wahrnehmend in dem anderen Raum anwesend und dieser ist, durch die von ihm ausstrahlende Wirklichkeit, in meinem Raum anwesend. Der Schnitt durch den Raum leiblicher Anwesenheit ist für den Schnitt durch den Raum des Theaters grundlegend. Der Raum des Theaters baut auf ihm auf und das vor allem dadurch, dass er seine Brüchigkeit zu stabilisieren versucht. Anders als für Alltagssituationen zeichnet sich der Raum des Theaters dadurch aus, dass die angeführten Charakteristika des Schnitts durch den Raum leiblicher Anwesenheit stabilisiert werden. Das hat Folgen: Mit einer länger anhaltenden Handlungsentlastung ist zu rechnen. Auf Seiten des Wahrnehmenden wird eine fokussierte Aufmerksamkeit
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auf Veränderungsprozesse im Handlungs-, Wahrnehmungs- und Stimmungsraum möglich. Das heißt als weitere Folge, dass diese Räume explizit gestaltet werden müssen, um nicht nur Stabilität zu garantieren, sondern auch die Aufmerksamkeit für eine gewisse Dauer zu bedienen. Der Raum des Theaters setzt Inszenierung und Gestaltung voraus. Er ist so ein Raum, der vor allem von einer Zielsetzung und Intention geprägt wird, von dem Ziel eine ästhetische Wahrnehmung durch die Etablierung eines Schnitts durch den Raum zu evozieren und diesen für eine gewisse Dauer aufrecht zu erhalten. Dies vollzieht sich aber nicht ausgehend von der Kunstform, dass heißt der Schnitt durch den Raum des Theaters etabliert sich, weil hier Theater gespielt wird. Dies vollzieht sich vielmehr von der Wahrnehmung aus: Indem im Raum leiblicher Anwesenheit auf spezifische Weise Befindlichkeit organisiert ist, tritt ein Schnitt hervor. All diejenigen, die Ästhetisches hervorbringen, die sich der gezielten Erzeugung von Atmosphären widmen, zeichnen sich hierfür verantwortlich und gehen dabei auch gezielt vor. Der Künstler, der für die Erzeugung des Raums des Theaters verantwortlich ist, orientiert sich an den oben beschriebenen Charakteristika des Schnitts. Ideale Voraussetzungen für einen Gast sind eine Situation, in der er sich in einer handlungsentlasteten Position befindet oder begeben kann. Ferner erfährt der Gast die erzeugten Atmosphären als von einer Realität isolierte Wirklichkeiten. Dabei spielt aber die potentielle Möglichkeit, dass die Realität in den Wahrnehmungsprozess einbrechen kann, eine ganz zentrale Rolle. Ein Gast im Raum des Theaters muss kontinuierlich mit Realität rechnen. Als letztes treffen die zwei Stimmungsräume, der des Gastes und der durch einen Künstler erzeugte, kontinuierlich aufeinander. In einem fortwährenden Prozess finden Ingression, Diskrepanz oder auch Einstimmung statt. Vom atmosphärischen Wechsel über Störungselemente bis hin zu kontemplativer Einfühlung in die erzeugte Wirklichkeit erstrecken sich die Möglichkeiten. Die wesentliche Erweiterung zum Schnitt durch den Raum besteht somit vor allem in der Intention, unüberspürbare Gegenwärtigkeit über Atmosphären zu erzeugen und dadurch Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, dass der Schnitt durch den Raum für eine gewisse Dauer erzeugt wird und das die Realität in diesem Prozess immer als potentielle Störung gegenwärtig ist. Es lohnt sich, diesen zweiten Aspekt noch einmal näher anzuschauen, denn er ist es, der letztlich die spezifische Eigenschaft von
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Theater bestimmt, das Rechnen mit Realität. Daran lässt sich auch sehr gut die weiter oben schon hervorgehobene implizite Bindung der Kunstform Theater und performative Prozesse mit dem Schnitt aufzeigen. Das Spezifikum des Raums des Theaters ist, dass die existente Wirklichkeit in unmittelbarer Anbindung an eine Realität steht, die sich so auch vor die Wirklichkeit schieben kann: Der Darsteller tritt von der Bühne herunter und spricht einen konkreten Zuschauer an. Wie weitreichend dieser Aspekt für den Schnitt ist, lässt sich am Beispiel des Films aufzeigen. Die Wirklichkeit, die die Bilder und der Ton des Films erzeugen, verweisen auf eine nicht existente Realität. Real sind das Zelluloid, der Projektor oder die Leinwand, real sind nicht die sichtbaren und hörbaren Protagonisten, Objekte oder Gefahren. Wenn man beim Film davon spricht, dass mit Realität gerechnet werden muss, so wird von einer die Apparatur betreffenden Störung ausgegangen. Reißt der Film, ist die Optik unscharf oder der Ton unsauber, sabotiert die technisch defekte Realität den reibungslosen Ablauf der Vorführung. Realität und Wirklichkeit stehen nicht in direktem Zusammenhang. Für das Theater ist dies anders. Auf der Bühne agiert ein Akteur, der in einer bestimmten Haltung sich von dort präsentiert. Der Zuschauer muss mit einem Einbrechen der realen Person hinter dem Akteur rechnen, denn er ist noch weniger berechenbar als die technische Apparatur des Films. Sie handelt manchmal unvorhersehbar, aber nie eigenständig und nur selten außerhalb vorhersehbarer Möglichkeiten. Auf dieser Eigenschaft gründet die Theaterwissenschaft die Spezifik des Theaters, auf der Gegenwärtigkeit und der Präsenz von Akteuren, der „gemeinsam geatmeten Luft“ (Lehmann 1999: 13). Auch Fischer-Lichte hebt die Notwendigkeit für theatrale und performative Prozesse hervor, dass eine face-to-face Situation zwischen Zuschauer und Akteuren zustande kommen muss (vgl. Fischer-Lichte 1999: 433). Der Raum des Theaters, so könnte man vermuten, orientiert sich an dieser Gegenwärtigkeit, die von der Begegnung zwischen Zuschauern und Akteuren grundlegend geformt wird. Schaut man aber die bisherige Argumentation an, so untermauert sie diese strikte Voraussetzung nicht zwingend. Wie Hermann Schmitz hervorhebt, sind Atmosphären räumlich randlose Träger von Stimmungen (vgl. Böhme 1995: 29). Der menschliche Akteur kann als Erzeuger von Atmosphären eine durchaus zentrale Rolle übernehmen, sein Anteil daran ist aber
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nicht zwingend. In Bezug auf den Schnitt durch den Raum des Theaters ist vom Menschen als Akteur in dieser Strenge nicht die Rede gewesen. Wichtig war, dass der labile Schnitt von Seiten ästhetischer Macher stabilisiert wird und sie gestalterisch tätig werden. Wichtig war auch, dass mit Realität gerechnet werden muss. Ob diese Realität von einem Objekt, einem Menschen, Klang oder Licht ausgeht, ist einerlei. Nicht einerlei ist, dass diese Realität eine unmittelbare Anbindung an eine erfahrbare Wirklichkeit hat, die im Raum atmosphärisch gegenwärtig ist. Das Rechnen mit Realität ist somit der Aspekt, der den Menschen als denjenigen ins Spiel bringt, der am Prozess im Erzeugen eines Raums des Theaters grundlegend beteiligt ist. Das aber eben nicht auf den Akteur an sich bezogen und seine Präsenz auf der Bühne als „conditio sine qua non von Theater“ (Fischer-Lichte 1999: 433), sondern auf einen ästhetischen Macher, der bewusst Atmosphären erzeugt und diese im Rahmen performativer und zeitlicher Prozesse kontinuierlich erneuert und vergegenwärtigt. Beständig mit Realität rechnen heißt dann auch, dass der Mensch derjenige ist, der berechnend und konzeptionell in Prozesse eingreifen kann, er dies aber nicht in Person machen muss, sondern auch durch stellvertretende Geschehen sich vollziehen lassen kann. Und so ist die Entscheidung eines Theatermachers, eine Aufführung in der freien Natur stattfinden zu lassen, auch eine Entscheidung für Naturereignisse, die wie ein menschlicher Akteur ästhetisch eingreifen und so auch immer mit ihrer Realität am Geschehen mitwirken. Erscheint eine gewittrige Lichtstimmung noch ganz als auratische Wirklichkeit, wird ein Zuschauer spätestens von der Realität dieser Wirklichkeit eingeholt, wenn das Unwetter über ihm niedergeht. Für das Gegenwartstheater wird der Aspekt des intentionalen Erzeugens des Schnitts nicht nur auf Seiten von Theatermachern, sondern insbesondere auch von Gästen im Raum des Theaters zu einer zentralen Arbeits- und Haltungsgrundlage. Das Subjekt als dasjenige, das den Schnitt durch den Raum für sich erzeugt, erfährt dadurch eine Aufwertung in Bezug auf seinen Anteil für theatrale Prozesse. Seiner durch Konventionen geprägten Haltung, seiner Kompetenz und seiner Aufmerksamkeit ist es zu verdanken, wenn er für sich einen Schnitt durch den Raum etabliert. Seine Wahrnehmung und die räumlichen Bedingungen können dabei eine Grundlage schaffen, können den Schnitt bereiten, aber erzeugen muss er ihn selber. An der Prägung dieser Kompetenzen und Konventionen
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haben maßgeblich optische Apparate und Medien mitgewirkt, weil sie eben auch am Wandel von Wahrnehmungs- und Raumkonzepten beteiligt waren. Deshalb wurden im zweiten Teil der Arbeit optische Apparaturen und Medien betreffende historische Fallbeispiele angeführt. An ihnen wurde aufgezeigt, inwieweit sich Wahrnehmungs- und Raumkonzepte durch kulturelle Einflüsse verändert und dabei das Verhältnis zwischen einem Ich und einem anderen Raum auf immer neue Weise bestimmt haben. Optische Apparate haben so auch immer an der Konstitution und Erzeugung eines Schnitts durch den Raum mitgewirkt. Leonard Schmeiser beschreibt die Erfindung der Zentralperspektive als einen Vorgang, der dem Wunsch Brunelleschis entspringt, sich zerstörte antike Bauwerke zu vergegenwärtigen (vgl. Schmeiser 2002: 43). Die Zentralperspektive schafft für einen Betrachter des 15. und 16. Jahrhunderts Gegenwärtigkeit und überbrückt Abwesenheit (ebd.: 30). Das zentralperspektivische Bild wird in der Renaissance als fester Bestandteil des Sehens bewertet. Sehen findet außerhalb des Auges statt und die Sehstrahlen sind stofflich. Wirklichkeit und Realität sind so eins. Die Zentralperspektive schafft eine Konstruktion, die den Schnitt durch die Sehpyramide auf Papier oder Leinwand übertragbar macht. Konzeptionell ist dabei keine Differenz zwischen Sehen und Abbild vorgesehen. Erst im 17. Jahrhundert avanciert die Zentralperspektive dann zu einem Mittel der Illusion und der Trennung von Subjekt und dem anderen Raum. Die Bildschirm-Anordnung wird zum Paradigma des Sehens. Der Schnitt des zentralperspektivischen Bildes verlagert sich ins Innere des Auges als täuschbares Abbild auf der Netzhaut. Das Subjekt muss abstrahieren können, um zwischen Illusion und Realität unterscheiden zu können. Wirklichkeit und Realität differenzieren sich aus. Das zentralperspektivische Abbild wird zu einem Fenster, das den Blick auf einen illusionistischen anderen Raum freigibt. Für das 19. Jahrhunderts – das Jahrhundert der Industrialisierung – werden Bewegung und Bewegtheit zu zentralen Faktoren, die nicht nur optische Apparaturen, sondern auch das Alltagsleben des Menschen prägen. Ferner beleben die Photographie und der Film auf Grund ihrer neuartigen und natürlich wirkenden (bewegten) Bildräume die Wirkung der Zentralperspektive. Die BildschirmAnordnung als starre und trennende Anordnung wird gerade für
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die darstellenden Künste in Frage gestellt. Hierzu tragen neben optischen Medien auch technische Neuerungen wie das Eisenbahnfahren bei. Die Differenz zwischen leiblich räumlicher Wahrnehmung und Bildwahrnehmung wird als Mittel für die Erzeugung von Kunst und massenwirksamen Medien erkannt. So wird von der klassischen Avantgarde der Schnitt durch den Raum vor allem als Mittel der Trennung und Distanzierung erfahren. Eine Besinnung auf den Raum als Raum der Anwesenheit ist die Folge, die auch mit dem gescheiterten Ansatz verbunden ist, Kunst und Leben zu vereinen und damit den Schnitt aufzulösen. Zeitgleich entwickelt sich aber auch ein Gespür für den Alltagsraum als anderen Raum. Der Flaneur erzeugt den Schnitt durch den Raum auch für Geschehen, die weder Teil optischer Apparaturen sind, noch einem tradierten Inszenierungsgedanken entsprechen. Das Leben der Stadt wird zum Schauspiel, das für den Flaneur lesbar ist und durch ihn in eine literarische Form übertragen wird. Heutzutage erlangen optische Medien eine ganz neue Qualität, wenn sie zum Mittel werden, den Menschen in virtuellen Räumen scheinbar anwesend sein zu lassen. Hierbei verschärft sich der Aspekt einer Trennung von Wirklichkeit und Realität noch einmal. Auf der Basis der vom Menschen erlangten Kompetenzen im Umgang mit optischen Medien und Apparaten wird ein Erzeugen des Schnitts außerhalb dafür vorgesehener Orte und Anordnungen zu einer möglichen und praktizierten Haltung, die von Machern der Kunstform Theater mitunter vorausgesetzt wird. Sobald Theaterstücke in Fahrstühlen, Bussen oder Räumen zur Aufführung kommen, die nicht mehr die tradierte Anordnung und die Rampe enthalten, ist die Mitwirkung eines Gastes an der Erzeugung des Schnitt grundlegend. Die Zentralperspektive und optische Medien haben über die Jahrhunderte hinweg am Wandel sowohl von Wahrnehmungs-, als auch von Raumkonzepten mitgewirkt. Sie haben es aber auch auf immer neue Weise geschafft, durch ihre Wirkung unüberspürbare Gegenwärtigkeit zu erzeugen, die nicht nur die Haltung von Zuschauern geprägt hat, sondern auch die gesamte Auffassung in Bezug auf Komposition und Erzeugung von Geschehen. Theater als Kunstform hat hier auf vielfältige Weise immer wieder auf Veränderungen reagiert. Als eine zentrale Folge für das Gegenwartstheater kann die Fähigkeit des Gastes im Raum beschrieben werden, außer-
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halb der Kunstform Theater, aber auch darin, den Schnitt selber zu erzeugen. Heutzutage ist es der Mensch, sowohl als Theatermacher wie als Theatergast, der für die Inszenierung und die klare Entscheidung steht, einen Schnitt für eine gewisse Dauer zu errichten. Den Schnitt aber in Frage stellen, muss nicht der Mensch allein. Somit kann die face-to-face Situation nicht zur Notwendigkeit des Raums des Theaters erhoben werden. Dagegen spielen Aspekte wie die Kopplung von Wirklichkeit und Realität und der mit ihr verbundene und durch Menschenhand vollzogene Inszenierungsprozess eine vorherrschende Rolle. Gleichzeitig sollte aber noch einmal hervorgehoben werden, dass der Mensch diese angesprochenen Faktoren wie Stabilisieren und Stören am effektivsten selbst beeinflussen und manipulieren kann. Rechnen mit Realität bedeutet dann also auch, dass die Realität selbst zu einem handelnden Akteur wird, denn sie drängt sich einem Zuschauer auf und schiebt sich vor die im Raum anwesende Wirklichkeit. Darin unterscheiden sich Theater und performative Künste von Medien: Wirklichkeit und Realität sind nicht absolut voneinander getrennt, sondern durch einen Schnitt durch den Raum. Zuletzt steht der Schnitt durch den Raum des Theaters eines Theaterbaus. Er steht am anderen Ende der anfangs angeführten Bandbreite des Schnitts durch den Raum. Am anderen Ende deshalb, weil er letztlich weitestgehend von der Unbestimmtheit und der Labilität des Schnitts durch den Raum befreit werden soll, indem die angeführten Charakteristika des Schnitts mit strukturellen und materiellen Mitteln in eine festgefügte Ordnung eingebracht werden. Für den Schnitt durch den Raum des Theaters eines Theaterbaus bedeutet das, dass Wahrnehmung darin durch den architektonischen Raum geformt wird. Eine Verschiebung hin zu einer auf den geometrischen Raum basierenden Ordnung, die auf Trennung, Distanz und deren Überwindung aufbaut, findet statt. Die auf den Raum leiblicher Anwesenheit und atmosphärischer Wahrnehmung basierende Seinsweise des Schnitts wird dadurch überlagert, geht aber nicht gänzlich verloren. Der Theaterbau verlagert durch seine architektonischen Einschreibungen den Gesamtcharakter des Schnitts. Als Fortsetzung der für den Raum des Theaters benannten Inszenierungsarbeit wird ein räumliches Gefüge geschaffen, das Stabilität, Konventionen und Dauerhaftigkeit schafft. Das erfolgt
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darüber, dass der Theaterbau durch seine Mauern die physische Alltagswelt ausgrenzt und mit seinen materiellen Mitteln eine Publikums-Bühnen-Anordnung schafft, in der das Publikum auf Sitze festgelegt und die Bühne visuell vom Publikumsraum abgesetzt wird. Für den Raum des Theaters eines Theaterbaus heißt das, dass das räumliche Gefüge ein polares ist, bei dem zwei voneinander getrennte und dennoch aufeinandertreffende Räume in Stellung zueinander gebracht werden. So sehr der Publikumsraum in sich geschlossen ist, bleibt immer die Öffnung zur Bühne. So sehr die Bühne eine geschlossene ist, ist ihre vierte Wand immer eine offene. In diesem Zwischenbereich, wird der Schnitt materiell festgelegt. Darin ist er variabel, kann je nach Möglichkeiten verschoben, minimiert oder auch ganz aufgehoben werden. Wichtig ist, dass er auf Distanzierung und Trennung basiert, deren Überwindung zu einem ganz bedeutenden Teil im Umgang mit diesem Gefüge wird. Der Raum leiblicher Anwesenheit des Gastes im Raum des Theaters eines Theaterbaus wird so auf ein sehr spezifisches Wahrnehmen ausgerichtet. In seiner Handlungsentlastung kann der Gast sich ganz auf sein perspektiviertes Rezipieren zurückziehen. Dabei ist der Wahrnehmungsraum stark auf unsere kulturell geprägte Prävalenz von Sehen und Hören ausgerichtet. Auch wenn man in dieser Anordnung mit Realität rechnen muss, wird diese dennoch auf Distanz gehalten. Einzig der Stimmungsraum, ist von dieser Trennung und Distanziertheit unbeeinflusst. Auch wenn ich als Zuschauer in meiner Wahrnehmung ausgerichtet bin, der Stimmungsraum als Atmosphäre lässt sich nicht durch geometrische Ordnungen und materielle Trennungen orientieren. Atmosphären färben den Raum über materielle Grenzen hinweg, sie betreffen uns als Wahrnehmende immer als erste Wahrnehmungswirklichkeiten. Theatermacher nutzen sie als Mittel, Stimmungen herzustellen, den Gast einzustimmen, einzufangen oder auch zu verstören. Der Aspekt der direkten und offenen Angrenzung von Bühne und Publikumsraum spielt hierbei eine zentrale Rolle. Denn nur so, durch den Livemoment, ist garantiert, dass die erzeugten Stimmungen Atmosphären sind, deren Realität von der Bühne ausgehen und so auch jederzeit auf den Gast im Publikumsraum übergreifen können. Wenn der Stimmungsraum von der architektonischen Ordnung und räumlichen Eingrenzung nicht betroffen ist, könnte man argumentieren, dass der Theaterbau ideale Voraussetzungen für die Kunstform Theater und den Schnitt durch den Raum des Theaters
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mit sich bringt, auch für eine Wahrnehmung im Raum leiblicher Anwesenheit. Doch trifft das nur bedingt zu, denn die Festlegung auf den geometrischen Raum mit seiner Trennung und damit verbunden auf Sehen und Hören verengt Wahrnehmung und richtet sie aus. Atmosphärische Wahrnehmung wird als unterliegende Wahrnehmung von einer Zeichen-Wahrnehmung überlagert, die auf begriffliches Erfassen, Erkennen und Beurteilen aus ist. Hier überträgt sich die Differenz zwischen dem geometrischen Raum und dem Raum leiblicher Anwesenheit auch auf die Wahrnehmung und damit die Rezeptionshaltung. Der im geometrisch organisierten Raum anwesende Gast ist in einem auf Trennung und Platzierung basierenden Gefüge anwesend, das auf Sehen und Hören fokussiert ist. Wahrgenommen wird mit den Augen und den Ohren. Wahrgenommenes wird so zum Gegenstand, der einem Ort bzw. einer Quelle zugeordnet werden kann. Die im Raum vorhandenen Stimmungen werden schnell mit dem Sicht- und Hörbaren abgeglichen und in Beziehung gesetzt. Atmosphäre droht allein als Mittel angesehen zu werden, mit dem die mit Sinnesorganen inhaltlich und kognitiv erfassbaren Abläufe untermalt, verstärkt oder konterkariert werden. Auch neigt diese Haltung dazu, Störungen aus einer distanziert analytischen Sichtweise heraus zu bewerten und sie so als Provokationen oder missglückte Aktionen einzuordnen. Die ästhetische Wirkung des Raums leiblicher Anwesenheit rückt so sowohl für die Macher, als auch für die Rezipienten als gestaltbarer Aspekt der Wahrnehmung in den Hintergrund. Das tritt vor allem im Reden und Reflektieren über Theater zum Vorschein, denn im Machen selbst erzeugt man grundsätzlich Atmosphären. Mit dem Schnitt lassen sich zusammenfassend Wahrnehmungsweisen beschreiben, die für die Kunstform Theater und performative Situationen grundlegend sind. Doch weil er von der Alltagswahrnehmung abgeleitet werden kann und von da aus auf theatrale Ereignisse und performative Situationen angewendet werden kann, ist er losgelöst von herkömmlichen Theaterdiskursen, die von der Kunstform und den kulturhistorischen Anforderungen an einem Begriff von Theater ansetzen. Der Begriff des Schnitts und sein Umgang damit sind somit von dem Ballast befreit, über eine Auseinander- und Absetzung von einem herkömmlichen Theaterbegriff, über eine Erweiterung von Theater und seines Begriffs zu sprechen. Vor allem aber setzt er an der Wahrnehmung selbst an und nicht
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an äußeren Ordnungen, Konventionen oder Strukturen. Die Frage danach, ob eine Situation noch etwas mit Theater zu tun hat, stellt sich so nicht. Gefragt werden kann eher, auf welcher Basis sich ein Schnitt durch den Raum auch als einer durch den Raum des Theaters beschreiben lässt. Die Theaterwissenschaft orientiert sich, wenn es um Wahrnehmung geht, an begrifflich semiotisch geprägten Ansätzen. Am Beispiel von Sabine Schoutens Buch Sinnliches Spüren (Schouten 2007) kann dies sehr deutlich nachgezeichnet werden. Sie nähert sich dem Phänomen der Atmosphäre über die Ermittlung eines selektiven Sinnesorgans, das für das Spüren zuständig ist. Atmosphärisches Wahrnehmen wird in eine Subjekt-Objekt Beziehung integriert, in der das Subjekt Stimmungen erfährt, die durch das Objekt Atmosphäre erzeugt werden. Der Begriff des Schnitts beschreibt hingegen in der Wahrnehmung gegebene Charakteristika, die eine gewisse Wahrnehmungshaltung und Wahrnehmungsveränderung herbeiführen. Dabei differenziert sich ein Ich-Pol und ein Gegenstands-Pol aus, die aber jeweils miteinander verschränkt sind. Mit dem Begriff der Befindlichkeit beschreibt Böhme diesen Zustand: „In meinem Befinden spüre ich, in was für einem Raum ich mich befinde“ (Böhme 2001b: 96). Diese Befindlichkeit ist beim Schnitt eine ästhetische in der der Ich-Pol sich seiner und eines Gegenstandspols gewahr ist und ein Reden über Atmosphären möglich wird. Zusätzlich wird das Ich dabei im Rahmen seines Raums leiblicher Anwesenheit in eine spezifische Situation gebracht. Die genannte Dauer einer Handlungsentlastung, einer Isolierung der Wirklichkeit von der Realität, bei gleichzeitigem Rechnen mit Realität oder einem inszenierten Stimmungsraum, wurden hier angeführt. Die Frage nach dem Was und mit welchen Mitteln hier Wahrnehmung abläuft, wird hierbei nicht gestellt. Trotz aller räumlichen und die Wahrnehmung betreffenden Veranlagungen, die hier beschrieben werden, darf zum Schluss der Mensch als handelnder nicht übergangen werden. Denn innerhalb räumlicher Konstellationen, in denen der Schnitt als Phänomen vorliegt, erzeugt er diesen, sei es durch die Art und Weise wie er sich, andere und Dinge inszeniert oder über seine Haltung, die er gegenüber Geschehnissen einnimmt. Insofern lassen sich mit dem Begriff des Schnitts durch den Raum mehr als nur theaterspezifische Aspekte beschreiben und vorstellen. Im zweiten Teil dieser Arbeit wurde dies vorgeführt.
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Exemplarisch wurde die Möglichkeit aufgezeigt, sich losgelöst von spezifisch theaterhistorischen Kontexten, dennoch theaterhistorischen Kontexten zu nähern. An Szenarien, die in Zusammenhang mit dem Schnitt durch den Raum stehen, wurden Annäherungen an den Schnitt durch den Raum des Theaters und den eines Theaterbaus vorgeführt. Das wurde an drei Szenarien nachgezeichnet: Am geschichteten Raum der Zentralperspektive und seinem Einfluss auf erste Theaterbauten der Renaissance, an der Bild-SchirmAnordnung mit ihrem anderen Raum, der im Blick Galileis durch das Fernrohr evident wird oder am Eisenbahnfahren sowie dem Flaneur, die in ihrer Bewegtheit eine auflösende Erweiterung der starren Bild-Schirm-Anordnung evozieren. Bei diesen Betrachtungen stand eine Anlehnung an die Konzeption des Raums als Raum leiblicher Anwesenheit im Vordergrund und rückte die theaterhistorische Dimension der Betrachtung in den Hintergrund.
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10. Anhang
10.1 B ILDNACHWEIS Abb. 1-6, 12a/b: Große Mengen Bach, New Guide to Opera (Marcus Droß, Christoph Rodatz, Michael Wolters), Uraufführung: 21. November 2008, Rostock. Photos: Isabella Thiel. Abb. 7a/b/c/d: Kiste zur Veranschaulichung der räumlichen Ordnung eines Theaterbaus. Abb. 8: Sing, Sing!, New Guide to Opera (Marcus Droß, Christoph Rodatz, Michael Wolters), Uraufführung: 3. Dezember 2008, Düsseldorf. Photo: Christoph Rodatz. Abb. 9: Modelle des Totaltheaters entworfen von Walter Gropius gemeinsam mit Erwin Piscator (1927). www.architekturmuseum. de/_uploads/ausstellungen/medium/bild1088518118890.jpg, www.architekturmuseum.de/_uploads/ausstellungen/medium/ bild1088518110570.jpg, (Zugriff: 7. Juni 2010). Abb. 10: Das Bochumer Schauspielhaus, Postkarte von 1961. www. historisches-ehrenfeld.de/galerie/schauspielhaus-1961-big.jpg, (Zugriff:07. Juni 2010. Abb. 11: Schauspielhaus Bochum. Mehrbild Postkarte von 1955. www.historisches-ehrenfeld.de/galerie/schauspielhaus-innen-g. jpg, (Zugriff: 07. Juni 2010). Abb. 13: Das Prinzip zentralperspektivischer Konstruktion im Sinne Albertis. Abb. 14: Ein mit Folie beklebtes Garagentor: „Toscana“: www.styleyour-garage.com, (Zugriff: 07. Juni 2010).
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Abb. 15: Albrecht Dürer: Der Zeichner des liegenden Weibes (1538). images.zeno.org/Kunstwerke/I/big/316D050a.jpg, (Zugriff: Zugriff: 07. Juni 2010). Abb. 16: Transportable Camera obscura nach s‘Gravesande (1711) (Crary 1996: 40). Abb. 17: Schema zu Leon Battista Albertis zentralperspektivischer Konstruktionslehre, (Bätschmann 2002: 12). Abb. 18: Albertis geometrischer Ansatz. Abb. 19: Schematische Darstellung der Sehstrahlen. Abb. 20: Die drei Sehstrahlen. Abb. 21: Scamozzis Grundrissplan des Teatro Olimpico, (1790). Abb. 22: Das Teatro Olimpico, http://bur.regione.veneto.it/resourcegallery/photos/356_Vicenza_Teatro%20Olimpico_Gradinata. jpg, Photo: Pino Guidolotti, (Zugriff: 7. Juni 2010) Abb. 23: Innenansicht des Teatro Olimpico, http://picasaweb.google.com/jenhanley/Vicenza#5229141059238175138, Photo: /Jen Hanley (Zugriff: 7. Juni 2010). Abb. 24: Anordnung des ersten Experiments von Filippo Brunelleschi. Abb. 25: Albrecht Dürer: Der Zeichner der Laute (1525), Unterweysung der Messung. Abb. 26: Galileo Galilei, Zeichnung zur Beschreibung der Funktion des Fernrohrs (1610), (Galilei 1980: 86). Abb. 27: Astronomische Camera obscura (1545), Gemma Frisius: De radio astronomico. Abb. 28: René Descartes Veranschaulichung zur Theorie des Netzhautbildes (1637). Abb. 29: Geländeschnitt zu nötigen Erdarbeiten beim Bau einer Eisenbahnstrecke, Nicholas Wood (1838) Abb. 30: Amerikanische Reiseszenen. Spätes 19. Jahrhundert, (Schivelbusch 1977: Bildteil) Abb. 31: Daguerres Londoner Diorama (1823). Abb. 32: Grundriss des Totaltheaters von Walter Gropius (1928), (Gropius 1999).
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10.2 B IBLIOGR APHIE (Alberti 2002) Leon Battista Alberti: Della Pittura, Über die Malkunst. Oskar Bätschmann, Sandra Gianfreda (Hrsg.), Darmstadt. (Alewyn 1959) Richard Alewyn: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokumentation und Deutung, Hamburg. (Aristoteles 1987) Aristoteles‘ Physik, Vorlesung über Natur, Erster Halbband: Bücher I ($) – IV ('), Griechisch-Deutsch, Hans Günter Zekl (Hrsg., Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen), Hamburg. (Balme 2001) Christopher B. Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin. (Baltruãaitis 1986) Jurgis Baltruãaitis: Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien, Gießen. (Bätschmann 2002) Oskar Bätschmann, Sandra Gianfreda: Leon Battista Alberti über die Malkunst. In: Leon Battista Alberti: Della Pittura, Über die Malkunst. Oskar Bätschmann, Sandra Gianfreda (Hrsg.), Darmstadt, S. 1-60 (Baudry 1975) Jean-Louis Baudry: Le dispositif: approches métapsychologiques de l’impression de réalité. In: Communications 23, S. 5672. (Baudry 1986) Jean-Louis Baudry: Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus. In: Philip Rosen (Hrsg.): Narrative, Apparatus, Ideology: A Film Theory Reader, New York, S. 286-198. (Benjamin 1998) Walter Benjamin: Der Flaneur. In: Ders.: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt am Main, S. 33-65. (Benjamin 2003) Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Sonderausgabe, Frankfurt. (Blume 2005) Anna Blume (Hrsg.): Zur Phänomenologie ästhetischer Erfahrung, München. (Blumenberg 1980) Hans Blumenberg: Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit. In: Galileo Galilei: Sidereus Nuncius. Nachricht von den Sternen, Hans Blumenberg (Hrsg.), Frankfurt am Main, S. 7-75. (Böhme 1995) Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main. (Böhme 1998a) Gernot Böhme: Anmutungen. Über das Atmosphärische. Ostfildern vor Stuttgart.
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(Paech 1997) Joachim Paech: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik. In: Medienwissenschaft. Heft 4/97, Bern, S. 400420. (Panofsky 1992) Erwin Panofsky: Die Perspektive als ‚symbolische Form‘. In: Ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin, S. 99-128. (Patz 1986) Kristine Patz: Zum Begriff der ‚Historia‘ in L. B. Albertis ‚De Pictura‘. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 49 Bd., H. 3, S. 269-287. (Poe 1845) Poe, Edgar Allan: The Man of the Crowd. In Ders.: Tales by Edgar Allan Poe, New York, London, S. 219-228. (Poe 1922) Edgar Allan Poe: Der Mann der Menge. In: Edgar Allen Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen, Band 3: Verbrechergeschichten, Theodor Etzel (Hrsg.), Berlin, S. 11-23. (Rodatz 2005) Christoph Rodatz: Der Raum des Theaters. Reflexionen zur Intermedialität des Theaters. In: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Christoph Tholen (Hrsg.): Hyperkult II. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien, Bielefeld, S233-266. (Schivelbusch 1977) Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, München. (Schivelbusch 2004) Wolfgang Schivelbusch: Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt. (Schmeiser 2002) Leonard Schmeiser: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, München. (Schmitz 1967) Hermann Schmitz: System der Philosophie. Band III: Der Raum. 1. Teil, Der leibliche Raum, Bonn. (Schmitz 1969) Hermann Schmitz: System der Philosophie. Band III: Der Raum. 2. Teil, Der Gefühlsraum, Bonn. (Schouten 2007) Sabine Schouten: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin. (Seel 2000) Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München. (Seel 2001) Martin Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt am Main, S. 48-62. (Sobchack 1995) Vivian Sobchack: The Scene of the Screen. Beitrag zu einer Phänomenologie der »Gegenwärtigkeit« im Film und in den elektronischen Medien. In Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, 2. Auflage, Frankfurt am Main, S. 416-427.
A NHANG
(Speidel 1911) Ludwig Speidel: Schauspieler, Berlin. (Ströker 1977) Ströker, Elisabeth: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt am Main. (Vitruv 1995) Vitruv: De architectura libri decem [um 20 v.Chr.] – Zehn Bücher über Architektur, Curt Fensterbusch (Hrsg.), 5. Auflage, Darmstadt. (Websters 2003) Merriam-Webster‘s Online Dictionary, http://www. britannica.com (Zugriff: 24. April 2009). (Winkler 1992) Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer: ‚Apparatus‘ – Semantik – ‚Ideologie‘, Heidelberg. (Xander 1994) Harald Xander: Theatralität im vorrevolutionären russischen Theater. Evreinovs Entgrenzung des Theaterbegriffs. In: Fischer-Lichte, Erika et al. (Hrsg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen, S. 111-124. (Zaloscer 1974) Hilde Zaloscer: Versuch einer Phänomenologie des Rahmens. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 19, H.2, Bonn, S. 189-224. (Zielske 1971) Harald Zielske: Deutsche Theaterbauten bis zum zweiten Weltkrieg. Typologisch-historische Dokumentation einer Baugattung, Berlin.
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Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten Oktober 2010, ca. 130 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1
Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz Mai 2010, 456 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6
Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen Juni 2010, 284 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2
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Theater Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen September 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4
Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten September 2010, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9
Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Schule Ein Handbuch zur kulturellen Bildung 2009, 352 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1072-7
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Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater 2008, 114 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-853-7
Jennifer Elfert Theaterfestivals Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells 2009, 406 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1314-8
Friedemann Kreuder, Michael Bachmann (Hg.) Politik mit dem Körper Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968
Stephanie Metzger Theater und Fiktion Spielräume des Fiktiven in Inszenierungen der Gegenwart April 2010, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1399-5
Artur Pelka, Stefan Tigges (Hg.) Das Drama nach dem Drama Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945 Dezember 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1488-6
Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens
2009, 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1223-3
2009, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-706-6
Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität
Christina Schmidt Tragödie als Bühnenform Einar Schleefs Chor-Theater
2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1208-0
Kuan-wu Lin Westlicher Geist im östlichen Körper? »Medea« im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike August 2010, 374 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1350-6
Oktober 2010, ca. 334 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1413-8
Franziska Schössler, Christine Bähr (Hg.) Ökonomie im Theater der Gegenwart Ästhetik, Produktion, Institution 2009, 370 Seiten, kart., farb. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1060-4
Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy 2008, 214 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-891-9
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