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German Pages 263 [264] Year 1978
KOMMUNIKATION UND POLITIK Schriftenreihe herausgegeben von Jörg Aufermann, Hans Bohrmann, Winfried B. Lerg und Elisabeth Löcken hoff
Band 11 Jérôme Vaillant Der Ruf Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945-1949)
Jérôme Vaillant Der Ruf Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945-1949) Eine Zeitschrift zwischen Illusion und Anpassung Mit einem Vorwort von Harold Hurwitz
KG Saur München • New York • Paris 1978
AUTOR Jérôme Vaillant, geb. 1945 in Frankreich, Docteur en études germaniques, lebt in Köln und lehrt an der Universität Lille III, leitet mit Félix Lusset und Claude Pierre die Zeitschrift „Allemagnes dîaujourd'hui", revue française d'information sur les deux Allemagnes. Weitere Veröffentlichung: Walther Rathenau, La mécanisation du monde, Einleitung und Übersetzung, bibliothèque sociale bilingue. Aubier Montaigne, Paris 1972. A u s dem Französischen übertragen von Heidrun Hofmann (Kapitel I V und V ) und Karl Heinz Schmidt (Kapitel I - III).
HERAUSGEBER Jörg Aufermann o. Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Göttingen Hans Bohrmann Direktor des Instituts für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund Winfried B. Lerg o. Professor für Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Münster i.W. Elisabeth Löckenhoff Professor für Publizistik an der Freien Universität Berlin
CIP—Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Vaillant, Jéréme : Der R u f , unabhängige Blätter der jungen Generation (1945 — 1949) [neunzehnhundertfünfundvierzig bis neunzehnhundertneunundvierzig] : e. Zeitschr. zwischen Illusion und Anpassung / Jérôme Vaillant. Mit e. V o r w . von Harold Hurwitz. [ A u s d . Franz. ubertr. von Heidrun Hofmann (Kap. 4 u. 5) u. Karl Heinz Schmidt (Kap. 1 — 3)]. — München, New Y o r k , L o n d o n , Paris : Saur, 1978. (Kommunikation und Politik ; Bd. 11) I S B N 3-598-04029-6
Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Wissenschaft und Presse, Hamburg © 1 9 7 8 by K.G. Saur Verlag K G , München Druck/Binden: Hain-Druck K G , Meisenheim/Glan Printed in the Federal Republic of Germany I S B N 3-598-04029-6
INHALT Vorwort von Harold Hurwitz Verzeichnis der Abkürzungen und Pseudonyme Einleitung 1 „Der Ruf", Zeitung der Deutschen Kriegsgefangenen in den USA (März 1 9 4 5 - A p r i l 1946) 1.1 Der „ R u f " im Rahmen des amerikanischen Umerziehungsprogramms deutscher Kriegsgefangener Der Anteil der Amerikaner und der Deutschen an der Gründung des „ R u f " . Die Beziehungen zwischen Amerikanern und Deutschen: das Problem der Zensur 1.2 Die Redaktionsmannschaften des „ R u f " 1.3 Taktische Vorsicht bis zum Waffenstillstand vom 8. Mai 1945 . . . Wie wurde der „ R u f " bei den Gefangenen aufgenommen? . . . 1.4 Die Entwicklung der Zeitung nach dem 8. Mai 1945 1.5 Thematische Analyse des „ R u f " Die Weimarer Republik Das Dritte Reich Die deutsche Verantwortlichkeit: Kollektivschuld und deutscher Widerstand Der Wiederaufbau Deutschlands 1.6 Das Ende des „ R u f " in den Vereinigten Staaten Ein Kollaborationskomplex? 2 Die Gründung des Münchner „ R u f 2.1 Die ersten Pläne und die Gründung der Nymphenburger Verlagshandlung „Die Verlorene Generation" 2.2 Die Stellung des „ R u f " innerhalb der Nymphenburger Verlagshandlung „Deutsche Beiträge" 2.3 Die redaktionellen Prinzipien des „ R u f " Aufmachung 3 Die Aufgaben der jungen Generation: Der „Ruf" A. Anderschs und H.W. Richters 3.1 Die Mitarbeiter und der Aufbau der Redaktion 3.2 Blatt der jungen Generation oder Oppositions-Blatt? Grundlagen einer deutschen Opposition
VIII XIII 1
5 7 9 12 18 23 25 29 29 31 34 37 39 43 48 51 51 57 59 63 67
71 71 77 80 V
3.3.
3.4
3.5
Die Ideologie des „ R u f " Sozialistischer Humanismus und das Verhältnis zwischen Ost und West Der Einfluß Arthur Koestlers Eine neue europäische Elite? Mißtrauen gegenüber Parteien und Ideologien Der Reformismus des „ R u f " Das politische Aktionsprogramm des „ R u f " Schuldfrage und Reparationen Besatzung und Demokratie Demokratie und Kultur Summarische Betrachtung der deutschen Gesellschaft
82 82 84 87 88 90 92 92 94 97 100
4 Der Redaktionswechsel vom April 1947 106 4.1 Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen dem „ R u f " und den Amerikanern 108 Die Hoch schulfrage 109 Beifall von der falschen Seite? 114 4.2 Der Redaktionswechsel 123 Verwarnung nach Nr. 14 123 Eingreifen des Verlags 126 Die Krise vom April 1947 133 4.3 Eine Zwischenbilanz 138 Gab es eine Einmischung von sowjetischer Seite? 141 Die Resonanz des „Ruf" unter A. Andersch und H.W. Richter . . 145 Die Stellung des „ R u f " unter den anderen Zeitschriften der jungen Generation 146 5 Von der Opposition zur Befürwortung der Restauration 5.1 Erich Kuby als kommissarischer Schriftleiter: Kontinuität und Wandlung Das Problem der Entnazifizierung Erich Kuby und seine Kritik an den Alliierten Sozialismus und Bürokratie Der Pluralismus des „ R u f " unter E. Kuby Die Entwicklung des „ R u f " unter E. Kuby Erich Kubys Abgang 5.2 Walter von Cube und die Restauration W. von Cubes Kritik am „ R u f " Für die Spaltung Deutschlands und die Gründung eines westlichen deutschen Staates Die Umwandlungen innerhalb der Redaktion Der „ R u f " und die Kommunisten Die Berlinkrise VI
150 150 153 155 157 159 163 167 170 172 174 176 179 182
5.3
Die Auswirkungen der Währungsreform und der Verkauf an den „Mannheimer Morgen" Der Verkauf des „Mannheimer Morgen" Schlußwort
184 187 190
Anhang Dokumente Abbildungen Literaturverzeichnis Personenregister Zeitungs- und Zeitschriftenregister
193 213 235 245 249
VII
VORWORT
Die Möglichkeiten, die 1945 im Augenblick der Niederlage bestanden, eine demokratische Erneuerung von gesellschaftlichen Strukturen, politischen Institutionen und der Nationalkultur der Deutschen einzuleiten, ließen sich nur in Gestalt eines interaktiven Prozesses verwirklichen oder verhindern, in dem Siegermächte, Gegner des NS-Regimes, politisch unbelastete oder „minderbelastete" Fachleute und Interessengruppen des besiegten Volkes mit- und gegeneinander agierten. Dieser Prozeß vollzog sich in einer zersprengten Klassengesellschaft, unter der Herrschaft von Militärregierungen und war ein außerordentlich komplexer Vorgang. Denn im Nachkriegsdeutschland wurde die Demokratisierung zweifellos durch eine erzwungene Anpassung der Rehabilitierten an Besatzungsmächte erschwert, deren unterschiedliche Demokratievorstellungen und politische Intentionen sich nicht allein in einem Ost-West-Gegensatz äußerten; ebenfalls systembedingt fiel in allen „vier" Besatzungszonen die Politik der Besatzer — eine Zeitlang streng voneinander abgesondert — verschiedenartig aus. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß unter der Kontrolle und Bevormundung der Besatzungsdiktaturen ein fremdländisch geprägter Anspruch auf demokratische Erneuerung nirgendwo anders als halbherzig und verbogen realisiert werden konnte. Und dennoch, obwohl 1945 in wesentlichen Zusammenhängen nicht als eine „Stunde Null' der deutschen Geschichte angesehen werden kann, wirkten sich diese von außen herangetragenen Ansprüche auf System Veränderung infolge der Teilung Deutschlands wesentlich stärker aus, als es ansonsten, ohne die Teilung, der Fall gewesen wäre. Allerdings würde man es sich zu leicht machen, einfach die Tatsache zu konstatieren, daß die Systementwicklung der Bundesrepublik mehr geschichtliche Kontinuität zeigt und die DDR eindeutiger einen Bruch mit der Zeit vor 1933 darstellt. Bei der Suche nach Antworten auf die Frage nach den Determinanten einer demokratischen, respektive restaurativen Entwicklung in der Bundesrepublik wird der deutsche Anteil am interaktiven Prozeß während einer Besatzungszeit, die bei zunehmender Eigenständigkeit der Deutschen formal mindestens bis Anfang 1955 andauerte, fast ausschließlich unter Gesichtspunkten der internationalen Machtund Systemkonflikte untersucht, die Deutschland geteilt haben. Dabei werden interne Bedingungen entweder in einem sekundären Zuordnungsverhältnis zu dem Syndrom Macht- bzw. Systemkonflikt behandelt oder sie werden stark vernachlässigt. Letzteres gilt weitgehend für Probleme der autoritären Traditionen und des Demokratiepotentials der Deutschen nach 13 Jahren Nazi-Herrschaft und nach einer wesentlich längeren Zeit einer autoritären Sozialisation unter ständischen und obrigkeitsstaatlichen Verhältnissen. Das sind Faktoren, die einen entscheidenden Einfluß auf Kontinuität und Wandel im politischen System und der Kultur der beiden deutschen Staaten seit 1945 gehabt haben. VIII
Obwohl sie auf eine Gesellschaftsordnung zurückgehen, die institutionell und klassenmäßig längst verschwunden war, handelt es sich hier nicht um die Residuen einer abgestorbenen Epoche, sondern um Wertkriterien und Einstellungsdispositionen, die sich hartnäckig und anpassungsfähig behauptet haben, Sinn und Form der neuen Institutionen und Klassenverhältnisse mitprägten und heute, immer noch im Widerstreit mit demokratischen Auffassungen, der politischen Kultur der Bundesrepublik und der Funktionsfähigkeit ihres demokratisch verfaßten Regierungssystems Spuren von Fragwürdigkeit aufdrücken. Dieses Erbe ging dem Dritten Reich voraus; es hilft den Nationalsozialismus — d.h. die Aggressivität und den Eigencharakter der deutschen Imperialismusentwicklung — verständlich zu machen, war aber durchaus nicht mit ihr identisch. Im Jahre 1945 konnten autoritäre Reaktionsweisen, Wertungskriterien und Einstellungsdispositionen sogar Nazigegner dann belasten, wenn sie sich als bekennende Demokraten verstanden, was aber damals nur auf einen Teil der rehabilitierten Nazigegner zutraf. Noch seltener war der soziale und geistige Habitus von Rehabilitierten unterschiedlicher Couleur tatsächlich in einer Gegentradition verankert, die demokratisch war. Viele Monographien müssen noch geschrieben werden, um im Kontext eines so angelegten Erklärungsanspruchs ermessen zu können, wie jeweils eine der Besatzungsmächte die konkreten Demokratie- und Rekonstruktionsentwicklungen in der Bundesrepublik beeinflußt hat. Denn die Reformversuche der drei Westmächte unterschieden sich voneinander: so z.B. bei der Lizenzierung von Zeitungen, bei den Wahlgesetz-Modellen, die sie befürworteten, oder bei ihren Bemühungen, die deutsche Verwaltung zu demokratisieren. Außerdem haben sich die Besatzungsmächte mit unterschiedlichem „timing" und Einsatz hinter die erklärten Reformziele ihrer Regierungen in Deutschland gestellt. So wurden Versuche in der amerikanischen Zone, Presse-, Rundfunkund Verlagswesen zu ändern, nur in Grenzen nach übergeordneten Prinzipien gesteuert. In der Presse sollte Pluralismus durch den Wettbewerb von konkurrierenden Regionalzeitungen im Privatbesitz gewährleistet werden, während beim Rundfunk dieses Prinzip durch ein System von Anstalten des öffentlichen Rechts auf Länderebene mittels der Rundfunkräte garantiert werden sollte. Die Untersuchung von Jérôme Vaillant über den „ R u f " macht auf Unterschiede zwischen der Presse- und Verlagspolitik der Amerikaner aufmerksam. Die Zuständigkeitfür Kontrollaufgaben bei Zeitungen und Zeitschriften lagen bei getrennten Stellen der Informationskontrolle; wenn die Besatzungsmacht bei der Lizenzvergabe an Buchverleger ebenfalls die Erlaubnis erteilte, Zeitschriften zu gründen, wurde ein Dreiecks-Verhältnis geschaffen, in dem die Besatzungsmacht, anders als bei Zeitungen, wo Chefredakteure auch Lizenzträger waren, die Redaktionspolitik zweiseitig — direkt über den Verleger, indirekt über die Redakteure — zu kontrollieren versuchte. Schließlich haben deutsche Politiker auf Reform versuche der Amerikaner recht unterschiedlich reagiert. Ihre Lizenzierungspolitik für Zeitungen und politische Zeitschriften, ihre Personalpolitik in Rundfunkanstalten und ihre Interventionen IX
bei der Formulierung von Partei- und Gewerkschaftsstatuten stiftete Streit. Dennoch war die Einflußnahme der Amerikaner auf die Massenmedien, auch in der Gesetzgebung für Presse und Rundfunk, von dauerhafter Bedeutung, weil diese Reformen das Interessenverständnis der Öffentlichkeit und der Politiker aus rivalisierenden Großparteien in ausreichendem Maße angesprochen haben. Dagegen hinterließen die verspäteten, dann aber nicht weniger hartnäckigen Versuche der Amerikaner, das Schulsystem — und damit die Klassenverhältnisse — zu liberalisieren nur Erinnerungsspuren und Frustrationen bei den deutschen Befürwortern von Reformen. Deutsche Forscher werden es in absehbarer Zeit wesentlich leichter haben als bisher, die Komplexität solcher Interaktionsprozesse in den Griff zu bekommen. Das gilt vor allem für die amerikanische Besatzungspolitik und die Reaktionen, die sie hervorrief, ein Zusammenhang, der die Entwicklung der Bundesrepublik und das Demokratisierungsvermögen ihrer Institutionen und Bürger stark beeinflußt hat. Außerordentlich günstige Arbeitsbedingungen werden hierbei durch ein 1977 begonnenes Projekt gewährleistet, das die Aktenbestände der US-Militärregierung registriert und verfilmt, um sie in Deutschland der Forschung zugänglich zu machen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die bestehenden Möglichkeiten des Zugriffs auf Akten der britischen Militärregierung auf vergleichbare Weise ebenfalls erweitert werden. Allerdings haben einige Forscher, obwohl sie diese Archivbestände nicht systematisch konsultieren konnten, eine Problemstellung und analytische Sicht entwickelt, die dem Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzten in der sich rasch ändernden machtpolitischen Situation zwischen 1945 und 1949 gerecht werden. Das gilt für Isa Huelsz' Studie über Schulreform in Bayern (1), Wolfgang Rudzio's beispielhafte Untersuchung über britische Versuche, die Kommunalverwaltung zu reformieren (2), und Jerome Vaillant's Monographie über „Der Ruf", eine unter ehemaligen Kriegsteilnehmern außerordentlich populäre kritsche Zeitschrift für die jüngere Generation. Es ist Vaillant's Verdienst, die Kette von redaktionellen Äußerungen und Reaktionen sowie die Konfiguration von Motiven offengelegt zu haben, die den Verleger des „ R u f " unter dem Druck der Besatzungsmacht dazu veranlaßt hat, dieses Oppositionsblatt den Händen von Hans Werner Richter und Alfred Andersch zu entreißen, kurz bevor diese die Gruppe 47 gründeten. Die Akten der U.S.-Militärregierung werden, vermute ich, höchstens weitere Belege für das Einvernehmen zwischen Verleger und Militärregierung bringen, möglicherweise auch für den Einfluß ihres Nachfolgers Erich Kuby auf Stellen der U.S. Informationskontrolle. (1)
Isa Huelsz, Schulpolitik in Bayern, zwischen Demokratisierung und Restauration in den Jahren 1945—1950, Geistes- und Sozialwissenschaftliche Dissertationen 1, Hartmut Lüdke Verlag Hamburg 1970.
(2)
Wolfgang Rudzio, Die Neuordnung des Kommunalwesens in der britischen Zone, zur Demokratisierung und Dezentralisierung der politischen Struktur: eine britische Reform und ihr Ausgang, Quellen und Darstellungen Zur Zeitgeschichte, Bd. 17, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1968.
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Im übrigen lassen sich die Wandlungen der Handlungskriterien der Amerikaner deutlich an ihrer Haltung und ihren Wünschen gegenüber dem „ R u f " zeigen. Diese Zeitschrift wurde in München mit Unterstützung der Militärregierung gegründet, weil man dort hoffte, daß junge Soldaten, die in amerikanischer Kriegsgefangenschaft aktiv an demokratischen Aufklärungsaktionen gegen den Nationalsozialismus teilgenommen hatten, sich als Heimkehrer im amerikanischen Sinne betätigen würden; deshalb sollte ihnen zu verantwortlichen Stellungen verholfen werden. Diese Hoffnungen wurden jäh enttäuscht. Es war die keineswegs mit journalistischer Sorgfalt ausgestattete, manchmal irrationale und nationalistische Haltung des „ R u f " , als Kritiker der Besatzungsmächte, die die Zwangsverdrängung von Richter und Andersch aus der Redaktion im März/April 1947 veranlaßte. Ob eine Intervention bei den Amerikanern seitens der besonders betroffenen Besatzungsmacht, der Sowjetunion, erfolgt war oder nicht, wird sich erst an Hand der Akten der Militärregierung klären lassen; zu recht stellt Vaillant allerdings fest, daß im Frühjahr 1947 eine solche Intervention gar nicht notwendig gewesen wäre, um ein Eingreifen der Amerikaner zu motivieren. Es dauerte aber nicht einmal bis zum Jahresende 1947, bis der Kalte Krieg in Deutschland eine Änderung der Handlungskriterien der U.S. Besatzungsmacht herbeiführte; diese begünstigte im Frühjahr 1948 die Wandlung der redaktionellen Haltung des „ R u f " von einem unabhängig sozialistischen und dem Neutralismus zugeneigten Blatt in ein konservatives Meinungsorgan, das die westliche Zivilisation gegen den Kommunismus verteidigen wollte. Unter der Redaktion Walter von Cubes geschah das aber auch nicht in konformistischer Anpassung an amerikanische Vorstellungen; seine Bereitschaft, West-Berlin der sowjetischen Einflußsphäre zuzurechnen und preiszugeben, ging den U S A sicherlich zu weit, schien aber — was noch beruhigend wirkte — gewiß nicht nationalistisch zu sein. Das war eine Seite des Bildes. Das eigentliche Verdienst von Vaillant ist es, die Untersuchung dieser Entwicklung mit einer Inhaltsanalyse der Zeitschrift zu verbinden, die den geistigen Habitus der leitenden Redakteure offenbart und ihre Qualifikation als „demokratische Erneuerer" klärt. Das politische Ergebnis fällt für Hans Werner Richter und Alfred Andersch ungünstig aus. „Man sucht in diesem Programm vergeblich nach Vorschlägen, die geeignet wären, den politischen Umwandlungsprozeß einzuleiten, den der „ R u f " propagierte." Die Schwächen des Programms „waren auf eine gefährliche Verherrlichung der jungen Generation wie auf Illusionen zurückzuführen, die durch eine oberflächliche Sicht der deutschen Gesellschaft und durch die Unfähigkeit, die Dinge so zu sehen wie sie waren, hervorgerufen worden." Richter und Andersch waren, nach Vaillant, „Pessimisten auf der Suche nach einer neuen Utopie". Andersch selbst hat ihren Versuch, sich mit nationalistischer Diktion „auf einer sehr feinen Grenzlinie, zwischen den Gefühlen der jungen Generation, soweit sie anständig sind, und den Forderungen der hohen Politik, soweit sie richtig sind" zu bewegen „wirklich halsbrecherisch" genannt.
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Im Frühjahr 1947 konnte ein solcher Versuch, zumal er weder an eine verläßliche Politiktradition anknüpfte noch mit einem rationalen Versuch zur demokratisch-sozialistischen Programmentwicklung verbunden war, nicht nur für naiv, sondern auch für gefährlich gehalten werden. Es waren vermutlich der rasende Erfolg der Zeitschrift und das Gerede über das Ingangsetzen einer „Bewegung", die die Militärregierung alarmierten. Denn nach ein und einhalb Jahren Besatzungselend war ein pro-faschistisches Aufbegehren überall in den Westzonen sichtbar geworden. Die Meinungsumfragen der Besatzungsmächte lieferten genügend Beweise dafür, und sie zeigten, daß die junge Generation — Universitätsstudenten in erster Linie — am stärksten nationalsozialistisch verseucht und für demokratische Argumente am wenigsten ansprechbar war. Es liegt nahe, die Diktion, Argumentationsweise und Symbolik, deren sich „Der R u f " in seiner „sozialistischen" Phase bediente, mit Versuchen zu vergleichen, die junge Kriegsteilnehmer während der Weimarer Zeit als demokratische Sozialisten unternahmen, um die Erfahrungen und Empfindungen ihrer Generation aufzuarbeiten und für die Republik dienstbar zu machen. Solche Versuche seitens des Hofgeismarer Kreises, des Reichsbanners und der Eisernen Front, der faschistischen Gefahr das Wasser abzugraben, sind alle gescheitert. Dennoch macht der Vergleich, vor allem mit dem humanistischen Fundus und dem politischen Verstand von Männern wie Carlo Mierendorff, Theodor Haubach und Julius Leber deutlich, welchen geistig-moralischen Substanzverlust die spätere Kriegsteilnehmergeneration infolge der Brutalisierung des politischen Kampfes beim Niedergang der Weimarer Republik und im Erleben des Nationalsozialismus erlitten hat. Die Verbindungen, die die sozialistisch gesinnten Redakteure des Münchner „ R u f " zur Arbeiterbewegung gehabt haben mögen, standen fast ausschließlich im Zeichen hektischer Aktivität kommunistischer Ausrichtung und des Niedergangs dieser Bewegung. Ein kritischer Versuch des „Ruf", an Traditionen der demokratischen Arbeiterbewegung anzuknüpfen, wurde kaum gemacht. Die Besatzungssituation bot keinen Ersatz für diesen Substanzverlust. Infolgedessen stellt die weitere Entwicklung der Männer, die kurze Zeit später die Gruppe 47 gründeten, einen durchaus bemerkenswerten Vorgang dar: ihre sprachliche Ernüchterung als kreative Schriftsteller, und vor allem ihre Reifung zu politisch rational argumentierenden Kritikern, die von der Warte der freiheitlich-demokratischen Normen, die das Grundgesetz zum Maßstab setzt, das bundesrepublikanische System beleuchteten. Vermutlich sind dafür die verbesserten Lebens- und Arbeitsbedingungen mitverantwortlich, die in dieser Republik nach wenigen Jahren geschaffen werden konnten — allerdings unter einer politischen Führung, die für Wohlstand und Ordnung besser zu sorgen verstand, als für die Aufarbeitung und Überwindung einer verhängnisvollen Vergangenheit. Mai 1978 Berlin Zentralinstitut für Sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität XII
Harold Hurwitz
Verzeichnis der Abkürzungen
CDU CSU FDJ ICD ISD KJVD KPD KPF MRP NSDAP NZ (die) OMGUS SAP SBZ SED SMAD SPD UNESCO
Christlich-Demokratische Union Christlich-Soziale Union Freie Deutsche Jugend Information Control Division (Informationskontrollamt der amerikanischen Militärregierung) Information Services Division (Nachfolgeorganisation der ICD) Kommunistischer Jugendverband Deutschlands Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei Frankreichs (PCF: Parti communiste français) Mouvement Républicain Populaire (Republikanische Volkspartei in Frankreich unter der IV. Republik) Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei Die „Neue Zeitung" Office of the Military Government of the United States (amerikanische Militärregierung) Sozialistische Arbeiter-Partei Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militär-Administration in Deutschland Sozialdemokratische Partei Deutschlands United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (Sonderorganisation der Vereinten Nationen auf den Gebieten der Erziehung, Wissenschaft und Kultur)
Verzeichnis der Pseudonyme Helm, Will Klaas, Gerd Lauenstein, Kurt Neugebauer, Georg Parlach, Alexander Ritter, Julian
E. Kuby A. Andersch C. Vinz C. Vinz E. Kuby G.R.Hocke
XIII
EINLEITUNG
Die „politisch engagierten Publizisten mit literarischen Ambitionen", die laut Hans Werner Richter 1947 die Gruppe 47 gründeten, waren ehemalige Mitarbeiter des Blattes der jungen Generation, „Der R u f " . Wenige Monate zuvor war ihre Zeitschrift in andere Hände übergeben worden. Sie wollten frei von jeglichen Zwängen sein und sie lehnten es ab, ihre Zusammenkünfte nach irgendeiner Tagesordnung ablaufen zu lassen oder ihrer Gruppe ein politisches, literarischnormatives Profil zu geben. Wenn sie es aber nicht für nötig hielten, sich ein Programm zu geben, dann lag es eben daran, daß die Gründer der Gruppe 47 aus derselben früheren Redaktionsmannschaft kamen und dem „ R u f " geistig verpflichtet waren: es brauchte nicht ausdrücklich formuliert zu werden, was ohnehin jeder für richtig hielt. Wer sich für die Gruppe 47 insgesamt oder bloß für einen ihrer Mitbegründer interessierte, mußte sich also mit dem „ R u f " befassen und das, worüber sich die Gruppenangehörigen in der Gründungsphase stillschweigend einig waren, herauskristallisieren. S o zeichnete der Jesuitenpater Paul Konrad Kurz den Weg Alfred Anderschs und H.W. Richters von der Politik in die Literatur auf*. Urs Widmer nahm die angeblich „neue Sprache" der „Ruf"-Redakteure unter die Lupe und maß deren Säuberungserfolg an dem von ihnen aufgestellten Anspruch, einen Kahlschlag in der Sprache vollzogen zu haben. Dabei übersah er, daß dieser Anspruch erst nach Gründung der Gruppe 47 aufgestellt wurde, also zu einem Zeitpunkt, wo A . Andersch und H. W. Richter aus dem „ R u f " ausgeschieden waren. Damit baut seine Arbeit auf falscher Voraussetzung a u f * * . Herbert Lehnert skizzierte Porträts der wichtigsten Gruppenbegründer und analysierte ihre A n fänge in dem „ R u f " * * * . Volker Christian Wehdeking schließlich untersuchte systematisch das literarische Debüt von H.W. Richter, W. Kolbenhoff, G. R. Hocke, vor allem aber von A . Andersch in den Zeitungen der deutschen Kriegsgefangenen in den Vereinigten Staaten, um zu zeigen, daß sich die westdeutsche Nachkriegsliteratur bereits in den U S A „ihrer ersten Impulse bewußt" geworden i s t * * * * .
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Paul Konrad Kurz, „Über moderne Literatur" — Standort und Deutungen, Bd. II, Frankfurt 1969. Urs Widmer, „1945 oder die ,Neue Sprache'", Düsseldorf 1966. Herbert Lehnert, Die Gruppe 47. Ihre Anfänge und ihre Gründungsmitglieder, in „Die Deutsche Literatur der Gegenwart", Aspekte und Tendenzen, hrsg. von Manfred Durzak, Stuttgart 1971. Volker Christian Wehdeking, „Der Nullpunkt". Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945—1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern, Stuttgart 1971.
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All diese Werke und eine Fülle von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln über die Gruppe 47 haben aber bislang den „Ruf" nur in Hinblick auf die Gruppe 47 untersucht. Mit Ausnahme von V. C. Wehdeking haben sie kaum seinen amerikanischen Vorgänger in den Kriegsgefangenenlagern berücksichtigt und dem „Ruf", der nach dem Zwangsausscheiden A. Anderschs und H. W. Richters aus der Redaktion unter der Leitung zunächst von Erich Kuby, dann von Walter von Cube erschien, wurde bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt. Alleine das persönliche Werk von A. Andersch und H.W. Richter und nicht das Presseorgan als solches war in diesen Untersuchungen von Belang. Dieses Buch nimmt sich vor, den „Ruf" von seinem Anfang in den Vereinigten Staaten bis hin zu seiner Einstellung 1949 in Mannheim zu betrachten. So sollen nicht Unterschiede, gar Gegensätze zwischen den einzelnen Redaktionsmannschaften des „Ruf" bagatellisiert werden, denn es ist nur allzu offenkundig, daß unter ein und demselben Namen die verschiedensten Zeitungen herausgebracht werden können. Die Kontinuität des Titels läßt nicht unbedingt auf die des Inhalts schließen. Sie weist hier dennoch darauf hin, daß der „Ruf" wie alle anderen Publikationen damals nicht nur der Zuständigkeit derer unterlag, die ihn schrieben, sondern auch von denjenigen abhängig war, die ihn dank einer Verlagslizenz — und nicht so sehr wie heutzutage dank eines Eigentumstitels — kontrollieren konnten. Es kam hinzu, daß der Inhaber einer solchen Lizenz wiederum von denen abhing, die ihm die Lizenz erteilt hatten, nämlich den amerikanischen Offizieren der Informationskontrolle. Das mit der Lizensierung geschenkte Vertrauen konnten sie auch wieder entziehen. Der „Ruf" soll also nicht nur in seiner Entwicklung dargestellt und inhaltlich von einem Redaktionsstab zum anderen untersucht werden, er soll auch als Presseorgan in einer bestimmten historischen Situation begriffen werden. Der Versuch wird dabei unternommen, die Kräfte, denen die Zeitung jeweils ausgesetzt war, sichtbar zu machen. Es geht nicht um eine zusätzliche Deutung der Gruppe 47, auch wenn bei einem solchen Unternehmen einiges in der Vorgeschichte der Gruppe deutlicher wird, sondern um die Untersuchung eines Presseorgans, dessen Geschichte im besetzten Deutschland Modellcharakter gewonnen hat. Der Verfasser möchte sich bei all denen bedanken, die ihm in oft stundenlangen Gesprächen Rede und Antwort standen, so vor allem Alfred Andersch, Gustav René Hocke, Walter Kolbenhoff, Hans Werner Richter, Berthold Spangenberg und Curt Vinz. Seinen besonderen Dank möchte er B. Spangenberg aussprechen, der ihm nach Abfassung seiner französischen Dissertation („Un journal allemand face à l'après-guerre: Der Ruf — 1945/1949", unter der Leitung von Prof. P. Grappin, Nanterre — Université de Paris X, 1973) als erstem Einblick in sein umfangreiches Archiv gewährte. Der Autor
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„DER RUF", ZEITUNG DER DEUTSCHEN KRIEGSGEFANGENEN IN DEN USA (März 1945 - April 1946)
Die Geschichte des „ R u f " beginnt, als die ersten deutschen Kriegsgefangenen Anfang 1943 in den Vereinigten Staaten eintreffen. Ihre Zahl beläuft sich im Januar dieses Jahres erst auf 990, doch im Juni sind es bereits 35.000 und im Dezember fast 125.000(1). Verhältnismäßig früh kam den amerikanischen Verantwortlichen der Gedanke, die Gefangenschaft dieser deutschen Soldaten dazu zu nutzen, sie in den Prinzipien der Demokratie zu unterrichten. Ein solcher Plan stand im Mittelpunkt der Gespräche, die John McCIoy (Assistant Secretary of War), General F. A. Osborn (Chief of the Special Service Division) und Charles Poletti (Special Assistant of the Secretary of War) Ende März 1943 miteinander führten. In einer Denkschrift vom April 1943 wies McCIoy darauf hin, daß ein Umerziehungsprogramm für deutsche Kriegsgefangene es sich zum Ziel setzen müsse, diesen die Geschichte der Vereinigten Staaten und die Zusammenhänge der Demokratie beizubringen und ihnen zu zeigen, daß das Volk der Vereinigten Staaten aus der Vermischung mehrerer Völker hervorgegangen sei. Auf den ersten Blick hatte man es mit einem Programm für Staatsbürgerkunde zu tun. Tatsächlich jedoch war der Ausgangspunkt — wie deutlich aus dem späteren Bericht George E. McCrackens für die Historische Abteilung der amerikanischen Armee hervorgeht — vor allem militärischer Natur: „Es handelte sich nicht darum, den Gefangenen einen Gefallen zu tun oder ihr persönliches Wohlergehen zu vergrößern oder gar darum, Zustimmung bei den anständigen Bürgern zu finden; dieses Programm zielte vielmehr einzig und allein darauf ab, die Sicherheit der Vereinigten Staaten in der Nachkriegszeit zu gewährleisten."(2) Man ging von der Überlegung aus, daß die in den Vereinigten Staaten gefangengehaltenen Soldaten eines Tages die deutschen Angelegenheiten mitbestimmen würden und daß es folglich besser sei, sie so schnell wie möglich zu Verbündeten zu machen, die von den Vorzügen der amerikanischen Demokratie überzeugt waren. Doch erst im September 1944, als Major Edward Davison, der Professor an der Universität Colorado gewesen war, die Leitung des „Branch Office of the Office (1) Im Dezember 1943 befanden sich genau 172.879 Kriegsgefangene in den Vereinigten Staaten, darunter 123.440 Deutsche, 4.932 Italiener und 116 Japaner. Quelle: George G. Lewis und John Mehwa, "History of Prisoner of War, Utilization by the United States A r m y 1 7 7 6 — 1 9 4 5 . " Washington, D.C., 1955. (Department of the A r m y Pamphlet, Nr. 2 0 - 2 1 3 ) . (2) George E. McCracken, " T h e Prisoner of war — Re-education Program in the Years 1943— 1946." Special Studies Division, Office of the Chief of Military History Department of the A r m y , Washington 1953. Nachzuschlagen in der American Library der amerikanischen Botschaft in Bonn/Bad-Godesberg. Vgl. S. 27.
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of the Provost Marshai General" (3) in New Y o r k übernahm, wurde mit der Verwirklichung des Umerziehungsprogramms für deutsche Gefangene in den Vereinigten Staaten begonnen. In der Zwischenzeit hatten sich die Verantwortlichen des Kriegsministeriums über die Recht- und Zweckmäßigkeit eines solchen Programms einigen müssen: Entsprach es der Genfer Konvention von 1919 über die Behandlung von Kriegsgefangenen? Hatte man nicht Repressalien von Deutschland aus zu befürchten, das nun seinerseits genausogut ein Indoktrinierungsprogramm für amerikanische Kriegsgefangene hätte aufstellen können? Das Kriegsministerium gelangte ziemlich schnell zu der Überzeugung, daß sein Umerziehungsprogramm — unter der Voraussetzung, daß niemand zur Teilnahme gezwungen wurde — völlig rechtmäßig war. Vorsichtshalber wurde jedoch die Tätigkeit Major E. Davisons bis zum 2. Juni 1945 streng geheimgehalten. Z u diesem Zeitpunkt erschien der „ R u f " — der ebenfalls in das Ressort seiner Dienststelle fiel — bereits seit drei Monaten. Die Amerikaner waren nämlich, entsprechend ihrer Auffassung der psychologischen Kriegsführung, der Meinung, daß ein Umerziehungsprogramm nur dann erfolgreich sein könne, wenn diejenigen, für die es bestimmt war, es nicht als solches empfanden. Der Ausdruck „Umerziehung" durfte in Gegenwart der Gefangenen nicht benutzt werden, und die mit der Umerziehung in den Lagern beauftragten Offiziere erhielten die sibyllinische Bezeichnung „Assistant executive Officers". In einer ersten Phase mußten diese sich damit begnügen, mit dem zu arbeiten, was die Gefangenen selbst in den Lagern geschaffen hatten: Zeitungen, Büchereien, Sprachkurse, Kulturunterricht, usw. V o r allem galt es, keinerlei Argwohn zu erwecken, das Vertrauen der Gefangenen zu gewinnen und Kontakte herzustellen. Erst nachdem sie sich Anerkennung verschafft hatten, konnten die Offiziere — jene heimlichen Propagandisten für die gute Sache — zu ehrgeizigeren Tätigkeiten übergehen, wie z.B. zu Geschichtskursen über die amerikanischen Institutionen oder die demokratischen Traditionen Deutschlands vor dem Dritten Reich, über die Neuordnung Europas nach dem Kriege, usw. (4) Diese Heimlichtuerei brachte im übrigen die amerikanische Regierung im Jahre 1944 in eine heikle Lage: U m die Öffentlichkeit zu beruhigen, die über das was in den Lagern der deutschen Kriegsgefangenen vor sich ging, besorgt war, hätte sie es vorgezogen, die Pläne, die sie gerade ausarbeitete, enthüllen zu können. Tatsächlich gaben in vielen Lagern die Nationalsozialisten den T o n an. V o n 44 Gefangenenzeitungen, die im März 1945 existierten, waren 8 stark nationalsozialistisch, 2 5 nationalsozialistisch, 7 neutral, eine christlich, und nur 3 waren klar antinationalsozialistisch(5). (3) Der „Provost Marshai General" (etwa Generalprofoß) führte im Auftrage des amerikanischen Kriegsministeriums die Aufsicht über die Kriegsgefangenen. Die Dienststelle E. Davisons war ihm unterstellt. (4) McCracken, a.a.O., S. 6, 7 und 10. (5) Ibid., S. 43. Der US-,,Ruf" nennt seinerseits andere Zahlen. Anfang März 1945 hätte es etwa 30 Lagerzeitungen gegeben, nur zwei wären eindeutig antinazistisch orientiert gewesen: ,,PW" in Fort Devers und „Der Europäer" in Fort Campbell. Anfang April 1945 sei die ,,Chesterfield Herold" (Chesterfield) hinzugekommen. Vgl.„Der R u f " (USA), Nr.26, 1.4.46,S. 8.
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Im Namen der Genfer Konvention hatten die Amerikaner in den Lagern ein System der Nichteinmischung und der Selbstverwaltung eingerichtet, das den Nazis freie Hand ließ. Hieraus ergab sich eine besondere Situation, die Hans Werner Richter in seinem Roman „Die Geschlagenen" beschrieben hat(6). Als Gühler, der antinazistisch eingestellte, sozialistische Held dieses Buches, 1944 mit einer Gruppe von in Monte Cassino gefangengenommenen Soldaten in Amerika eintrifft, stößt er auf die Feindschaft der ehemaligen Mitglieder des Afrikakorps, für die Deutschland sich seit 1943, dem Jahr ihrer Niederlage in Tunesien, nicht verändert hatte. Offiziere, Unteroffiziere und Nazis, die gezwungen waren, abgeschieden und ohne die gewohnten Informationsquellen zu leben, wollten nicht an Hitlers Niederlage glauben. Sie waren der Meinung, daß die Amerikaner sie falsch informierten, um ihre Moral zu unterhöhlen. Sie wollten ihre Soldaten physisch und moralisch für die noch zu bestehenden Kämpfe für das Vaterland intakt halten; deshalb hatten sie darauf geachtet, in den Lagern die Disziplin der Wehrmacht aufrechtzuerhalten. Unterstützt von einer geheimen Lagergestapo und Femegerichten, erstickten die Nazis jegliche Opposition in einer Atmosphäre des Terrors. Die amerikanische Öffentlichkeit, die einigermaßen über die Ereignisse in den Lagern informiert war, reagierte heftig, als von Morden die Rede war, und verlangte das Einschreiten der Behörden, um die Ordnung wiederherzustellen. Gerhard H. Seger, der Chefredakteur der „Neuen Volkszeitung", die vor allem für die deutschen Gefangenen bestimmt war, schrieb am 24. Februar 1944 in der „Times": „Die einzige Antwort auf dieses Problem ( . . . ) ist ein Umerziehungsprogramm." Zweifellos war der Druck der öffentlichen Meinung und der Presse maßgebend für die Entscheidung der amerikanischen Regierung, den Weg für die Verwirklichung des Umerziehungsprogramms freizugeben, so daß E. Davison im September 1944 innerhalb einer Sonderabteilung des amerikanischen Kriegsgefangenenwesens seine Arbeit aufnehmen konnte. Bereits im August dieses Jahres war überdies beschlossen worden, „ein besonderes Lager (einzurichten), in dem sorgfältig ausgewählte Kriegsgefangene am Umerziehungsprogramm mitwirken sollten".^)
I.1
Der Ruf im Rahmen des amerikanischen Umerziehungsprogramms deutscher Kriegsgefangener
Dieses Lager, das zunächst am 31. Oktober 1944 in einem ehemaligen zivilen Internierungslager für 150 Personen in V a n Etten (New York) eingerichtet worden war, wurde am 1. März 1945 nach Fort Philip Kearney (Rhode Island) an der Atlantikküste verlegt ( siehe A b b . 1 u. 2, S. 214/215). A u s amerikanischer Sicht sollte es folgende Aufgaben erfüllen: (6) Hans Werner Richter, „Die Geschlagenen", München 1949. (7) McCracken, a.a.O., S. 36.
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— das Umerziehungsprogramm unter amerikanischer Aufsicht auf Deutsch zu formulieren; — eine Zeitschrift mit dem Namen „Der R u f " herauszugeben, die in allen Gefangenenlagern verteilt werden sollte; — die verschiedenen Veröffentlichungen in den einzelnen Lagern kritisch zu sichten; — die Nachrichten und Auskünfte von seiten des Büros für Kriegsinformation (Office of War Information) sowie des Amtes für psychologische Kriegsführung, soweit sie sich auf Deutschland bezogen, zusammenzustellen; — die Probleme zu untersuchen, die die Sicherheit in den Lagern sowie den Kampf gegen subversive Tätigkeiten betrafen; — eine unabhängige Studie über die Lage in Deutschland nach dem Kriege im Rahmen des europäischen Wiederaufbaus anzufertigen; — ein besonderes Ausbildungsprogramm für die in Van Etten selbst internierten Gefangenen aufzustellen; — verschiedene Arbeitsgruppen einzurichten, die den Interessen der Gefangenen entgegenkommende Filme, Theater- und Musikstücke und Rundfunksendungen auswählen sollten (8). Das Programm war umfangreich und konnte auf wirkungsvolle Weise nur von Gefangenen in die Tat umgesetzt werden, denen die Amerikaner ihr volles Vertrauen schenkten. Es ging also darum, Männer zu finden, die „in der Vergangenheit unter Beweis gestellt hatten, daß sie wirklich Feinde des Nationalsozialismus und imstande waren, sich an der Erziehung ihrer Kameraden zu beteiligen". (9) Die Amerikaner wandten sich in erster ¿.¡nie an die Gefangenen, die sie in AntiNazi-Lagern zusammengefaßt hatten, um sie nazistischen Sühneaktionen zu entziehen. Überdies war es jedoch erforderlich, daß diese Gefangenen auch die gewünschten intellektuellen Voraussetzungen mitbrachten. Aufgrund der den Gefangenen von Van Etten zugeteilten Aufgaben wurde dieses Lager als „Ideenfabrik" („factory") bezeichnet (10). (8) Ibid., S. 3 7 - 3 8 . (9) V g l . Die geistige Brücke in „Der R u f " ( U S A ) , Nr. 16,1.11.45, S. 1. (10) N a c h einer Zusammenkunft von Vertretern des „Branch Office" von E. Davison sowie der „Civil Affairs Division" mit 12 Kriegsgefangenen in Fort V a n Etten a m 25.2.1945 wurden im Laufe des Jahres zwei weitere Lagerschulen eingerichtet, die eine als Verwaltungsschule in Fort Getty (Rhode Island), die andere Fort Wetherill als Polizeischule. Während in Wetherill lediglich zukünftige Ordnungshüter ausgebildet werden sollten, erhielt Fort Getty den Auftrag, deutsche Kriegsgefangene heranzubilden, die nach ihrer Rückkehr in die Heimat in den Bereichen Gesundheitswesen, Rechtsprechung, Journalismus, Verwaltung usw. eingesetzt werden sollten. Die Getty-Schüler sollten nicht in der Militärregierung, sondern in verantwortlicher Position in der deutschen Selbstverwaltung sowie in weiteren deutschen Ämtern tätig werden. Die Auswahlkriterien für Getty waren besonders streng. V o n den ersten 18.000 geprüften deutschen Kriegsgefangenen wurden 2 8 9 5 nach Wetherill, aber nur 816 nach Getty geschickt. In McCracken, a.a.O., S. 83ff. V g l . auch Alfred Andersch, Getty oder die Umerziehung in der Retorte, in den „Frankfurter Heften", 1947, S . 1 0 8 9 - 1 0 9 6 und Volker Christian Wehdeking, „Der N u l l p u n k t " . Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945—1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern, Stuttgart 1971.
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Der Anteil der A m e r i k a n e r u n d der Deutschen an der G r ü n d u n g des R u f In einer Untersuchung über das Umerziehungsprogramm, die er in seiner Nr. 16 unter d e m Titel: „ D i e geistige B r ü c k e " veröffentlichte, stellte der „ R u f " die Tätigkeit von Fort V a n Etten aus deutlich anderer S i c h t dar. Er sprach nicht v o n „ U m erziehung", sondern nur von „ E r z i e h u n g " . Bei den Lesern des „ R u f " m u ß t e eben der Eindruck entstehen, daß dieses P r o g r a m m vor allem aus der Eigeninitiative der deutschen Kriegsgefangenen entstanden war, während die amerikanischen Offiziere sozusagen nur technische Hilfestellung geleistet hatten. Der „ R u f " schreibt wörtlich: (Diese Kriegsgefangenen) wurden in ihren Bemühungen durch amerikanische Offiziere unterstützt, die mithalfen, dieses Programm praktisch zu verwirklichen. A u s d e n gleichen Gründen schildert der „ R u f " die Geschichte seiner G r ü n d u n g wie folgt: Die Redaktion bildete sich aus aktiven demokratischen Kriegsgefangenen verschiedener geistiger und politischer Prägung, die sich bereits seit längerem mit dem Plan einer gemeinsamen Kriegsgefangenenzeitung beschäftigt hatten. Im Laufe des Dezember 1944 endlich wurden sie von der PW-Special Projects Division des Provost Marshai General in einem kleinen Camp bei Van Etten im Norden des Staates New York zusammengezogen (11). A u f amerikanischer Seite streitet m a n keineswegs ab, daß man m i t der d e m Provost Marshai General a m 7. September 1944 erteilten Genehmigung, eine Zeitung für die deutschen Kriegsgefangenen mit d e m Titel „ D e r R u f " herauszugeben, zugleich eine seitens der Kriegsgefangenen selbst oft z u m A u s d r u c k gebrachte Forderung erfüllte: Die Kriegsgefangenen verlangen heute objektive Informationen über die Geschichte der U S A , ihre Institutionen, ihre Traditionen, ihre Lebensweise. 8 5 % der Gefangenen sprechen kein Englisch; deshalb ist es erforderlich, diese Informationen auf Deutsch zu geben. (12) D o c h zeigte die Formulierung der der Zeitung übertragenen Ziele zur Genüge, wer die Fäden in der H a n d hielt. Die „Charta von V a n E t t e n " , die v o n eben diesen Kriegsgefangenen aufgestellt w o r d e n war, ist nicht weniger aufschlußreich: Das Lager wird seine vermittelnde Tätigkeit auf zwei Aufgaben richten: 1. den deutschen Kriegsgefangenen bei der inneren Vorbereitung für die kommende Friedensarbeit zu helfen; 2. den Prozeß der gegenseitigen Befruchtung unter den gegebenen Umständen wirksam werden zu lassen und sein Weiterwirken für den Frieden vorzubereiten. Als Voraussetzung der inneren Vorbereitung ist es notwendig: a) die allzu einseitigen Wertmaßstäbe aufzulockern durch allmähliche Erziehung für die lebendigen Werte der Toleranz, des guten Willens, der Zusammenarbeit, des Gewährenlassens fremder Lebensgewohnheiten; b) Anregung für eine spätere Berufswahl, eigene Arbeiten und Unterhaltung in der Freizeit zu geben, u m damit den Sinn für das Normale und Nutzbringende zu fördern. Als Voraussetzung des fruchtbaren Austausches von Werten unter den Völkern ist es notwendig: a) den Blick des Gefangenen für seine Umwelt zu entzerren und ihm ein sicheres Proportionsgefühl zu geben; b) echte und umfassende Eindrücke der fremdartigen Welt zu vermitteln und das persönliche Urteilsvermögen anzuregen.(13) (11) Der Ruf, Ein Weg zu Recht und Vernunft in „Der R u f " (USA), Nr. 26, 1.4.46, S. 3. (12) McCracken, a.a.O.,S. 39. (13) Die geistige Brücke, a.a.O.
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Hier findet man Punkt für Punkt das zuvor von den Amerikanern aufgestellte Programm wieder. Sicherlich ist es schwierig, im nachhinein zu sagen, welche Initiativen von den Amerikanern und welche von den Deutschen ausgingen. Die amerikanischen Dienststellen wurden 1944 von einer Menge Anregungen überschwemmt, die ihnen Gefangene zukommen ließen, und es ist vorstellbar, daß sie daraus für die Aufstellung ihres Umerziehungsprogramms Nutzen gezogen haben. Es war sehr geschickt, sich auf die Vorgabe des Rahmens zu beschränken, in dem dann die deutschen Gefangenen, die ihr Vertrauen besaßen, freie Hand hatten. Hier zeigt sich ein charakteristischer Zug der amerikanischen Mentalität. Aber andererseits steht auch genauso fest, daß nur die Amerikaner die Initiative ergreifen konnten, in V a n Etten die Gefangenen ihrer Wahl zusammenzuziehen. Der Rückgriff auf drei verschiedene Quellen erlaubt es, das Zustandekommen des „ R u f " folgendermaßen zu rekonstruieren (14). Nachdem die Amerikaner im September 1944 den Plan gefaßt hatten,den „ R u f " zu gründen, bildeten sie im Dezember desselben Jahres in Van Etten aus Gefangenen eine Gruppe, die die „Arbeitsgemeinschaft Der R u f " ausmachen sollte und anfangs nur eine Art Vorbereitungskommission darstellte. Die nachstehenden Personen (und außer ihnen weitere, weniger wichtige) gehörten dieser Gruppe an: Ernst Birkhäuser, Dr. Wilhelm Dörr, Hans Joachim von Görtzke, Dr. Bernd Huber und Curt Vinz. Diese Gruppe von Gefangenen war in sich keineswegs homogen, sondern umfaßte fast alle politischen Richtungen vom konservativen Katholizismus bis hin zum Kommunismus. Zurückblickend unterscheidet C. Vinz drei ausgeprägte Richtungen: die intellektuellen Individualisten wie der Heraldiker H. J. von Görtzke widersetzten sich den politisch geschulten Sozialdemokraten sowie den orthodoxen Kommunisten. Während der ersten beiden Wochen nach ihrer A n k u n f t in Van Etten im Dezember 1944 bereiteten diese Gefangenen den Entwurf der Zeitung vor und legten zusammen mit amerikanischen Offizieren allgemeine Leitlinien für die Publikation fest. C. Vinz zufolge hätten die Amerikaner nur vorgeschlagen, daß die verschiedenen Gruppen untereinander diskutieren und sich auf eine Kompromißlösung einigen sollten; sie hätten jedoch nicht direkt in die Diskussion eingegriffen. Diejenigen jedenfalls, die sich durchsetzten, wollten dem „ R u f " eine möglichst große Resonanz unter den Gefangenen verschaffen, was implizierte, daß er keine zu starke politische Färbung haben durfte. Dies erklärt, daß die Gruppe der K o m munisten sich in Van Etten sehr wenig dafür interessierte, was weiter aus dem „ R u f " wurde. Das Programm, auf das sich die zukünftige Redaktion einigte, stellte dem „ R u f " folgende Aufgaben: — über alle wichtigen militärischen und politischen Ereignisse genauestens zu unterrichten; (14) Quellen: McCracken, a.a.O.; „Der R u f " (USA) über sein Zustandekommen; Gespräche des Verfassers mit C. Vinz und verschiedene Schreiben desselben an den Verfasser.
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— über die Probleme der Nachkriegszeit und über die Lage in Deutschland zu informieren; — Lesestoff zu liefern, der geeignet war, den Sinn für die Realität zu entwickeln und die Herausbildung einer positiven Geisteshaltung zu fördern; — bei den Gefangenen die Suche nach einem wirklichen kulturellen Ausdruck anzuregen; — soweit wie möglich die Geistesverfassung der Gefangenen widerzuspiegeln und ihnen moralische Unterstützung zuteil werden zu lassen; — den Horizont der Kriegsgefangenen zu erweitern und ihnen die sie erwartenden Aufgaben bewußt zu machen; — ihnen beizubringen, das Recht und die Gedankenfreiheit, die Freiheit des Einzelnen und den Anstand zu achten. (15) In anderer Form fand man hier die „vier Freiheiten" Roosevelts wieder, der der Überzeugung war, daß jeder Bürger neben der Freiheit der Meinungsäußerung und der Freiheit der Religionsausübung auch ein Anrecht darauf habe, frei von Armut und Angst zu sein. Neben moralischen Beweggründen und dem offensichtlichen Bestreben, den noch durch die nationalsozialistische Ideologie verblendeten deutschen Gefangenen die Augen zu öffnen, stand hier die nicht weniger klare Absicht, ein bestimmtes Gefühl für Disziplin zu entwickeln, was den amerikanischen Behörden, die sich um die Gefangenen kümmerten, die Arbeit erleichtern sollte. Ganz zu schweigen von manchen Formulierungen, die den Willen der Amerikaner verraten, ihr Umerziehungsprogramm als Kulturprogramm auszugeben, um so zumindest formal die Genfer Konvention zu beachten. Rückblickend hat der „ R u f " selbst seine anfänglichen Ziele so definiert: Sein eigentliches Ziel war die Wiedererweckung echten demokratischen Denkens in den deutschen Kriegsgefangenen, um Kräfte für den Wiederaufbau einer dauerhaften deutschen Demokratie nach der Niederlage des Nationalsozialismus zu sammeln. Die demokratischen Grundsätze und konstitutionellen Einrichtungen Amerikas boten, vor allem in ihrer historischen Entwicklung, Möglichkeiten des Vergleichs und anregende staatstheoretische Ideen. (16)
Die deutschen Redakteure hatten sich, ohne daß sie dazu gezwungen worden wären, genau die Ziele des amerikanischen Umerziehungsprogramms zu eigen gemacht. Die Beziehungen zwischen Amerikanern und Deutschen: Das Problem der Zensur Zwei amerikanische Offiziere, Capt. W. Schönstedt und Capt. R. Pestalozzi, waren mit der Kontrolle des „ R u f " beauftragt. Vor allem Walter Schönstedt spielte die Rolle eines Vermittlers zwischen den deutschen Kriegsgefangenen und (15) McCracken, a.a.O., S. 4 0 - 4 1 . (16) Der Ruf, Ein Weg zu Recht und Vernunft, a.a.O.
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den amerikanischen Behörden. Er übte diese schwierige Funktion, die viel Verständnis für die manchmal widersprüchlichen Interessen der beiden Seiten erforderte, mit — wie es scheint — sehr viel Fingerspitzengefühl aus. Seine Vergangenheit und seine Persönlichkeit prädestinierten ihn vielleicht ganz besonders für diese Rolle. W. Schönstedt, 1909 in Berlin geboren, war deutscher Abstammung. Sein Vater hatte der U S P D angehört, und er selbst war sehr früh im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands ( K J V D ) und bei der Roten Jungfront aktiv gewesen. Er war Journalist und Romanautor und hatte 1932 in der Volkssammlung „Der rote-1-Mark-Roman" einen Roman mit dem Titel „Kämpfende Jugend, Roman der arbeitenden Jugend" veröffentlicht, in dem er die Arbeit der KJVD-Zelle Nostizstraße in Berlin im Sommer 1931 schilderte. 1933 hatte er eine Novelle gleicher Art, „Jungarbeiter Fritz Stein", und einen anderen Roman, „Motiv unbekannt", veröffentlicht. Im gleichen Jahr hatte er Deutschland verlassen und sich in Paris niedergelassen. Dort half er im Sommer 1933 mit A n n a Seghers, Alfred Kurella, Rudolf Leonhard, usw. den Schutzverband Deutscher Schriftsteller neuzugründen und arbeitete in der kommunistischen Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller mit, durch deren Initiative der erste internationale Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur unter Beteiligung von Louis Aragon, Henri Barbusse und Romain Rolland im Sommer 1935 in Paris zustande kam. 1935 emigrierte er in die Vereinigten Staaten und begann, in englischer Sprache zu veröffentlichen. Dort löste er sich vom Kommunismus. 1945 gehörte er dem Stab E. Davisons als Leiter der Abteilung „Program Branch" an. (17) D e m Urteil der Redaktion des „ R u f " selbst zufolge ließen W. Schönstedt und R. Pestalozzi den deutschen Redakteuren die größtmögliche Freiheit: V o n Anfang an legten sie Wert darauf, daß die Redaktionsmitglieder ihre publizistischen Ideen selbständig entwickelten. (18)
Demnach hätte eine Zensur also nur insofern bestanden, als W. Schönstedt und R. Pestalozzi den beim Schreiben einzuhaltenden Rahmen absteckten, „um Konflikte mit der amerikanischen Öffentlichkeit und den Völkern, die mit Deutschland Krieg führten, zu vermeiden". (19) Die Redaktion hätte gewissermaßen von Anfang an ein System freiwilliger Selbstzensur akzeptiert. Tatsächlich war der „ R u f " als Ergebnis einer amerikanischen Initiative sehr viel strengeren Kontrollen unterworfen. Es war bereits bei Planungsbeginn vorgesehen worden, daß die Dienststelle des „Provost Marshai General" die gesamte Arbeit überwachen und die Verbindung mit der Druckerei (20) sowie den anderen, außer(17) Siehe Kurzbiographie W. Schönstedts in der Neuauflage von „Kämpfende Jugend", Berlin 1971 und „Lexikon sozialistischer deutscher Literatur", Leipzig 1964, S. 450—452. (18) Der Ruf, Ein Weg zu Recht und Vernunft, a.a.O. (19) Ibid. (20) McCracken, a.a.O., S. 40. A m Anfang wurde der „ R u f " wegen der Geheimhaltung im Recruiting Publicity Bureau vom Adjutant General's Office (Governor Island N-Y) gedruckt. Erst gegen Ende des Jahres 1945, als diese Druckerei wegen Überbelastung den Druck des „ R u f " abgeben mußte, wurde die Zeitung von der deutschsprachigen New Yorker Zeitung „New Yorker Staats-Zeitung und Herold" gedruckt.
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halb von Van Etten liegenden Büros herstellen sollte. Eine am 22. März 1945, d.h. drei Wochen nach dem Erscheinen der ersten Nummer des „ R u f " in Van Etten einberufene Konferenz führte unter dem Vorsitz des Provost Marshai General dazu, daß eine ständige Verbindung zwischen dem Kriegsministerium (General Staff G-1), dem Außenministerium und dem Büro für Kriegsinformation einerseits und den mit der Überwachung des „ R u f " beauftragten Offizieren andererseits hergestellt wurde. Da es den Redakteuren des „ R u f " nicht möglich war, selbst Nachrichten zu sammeln und Nachforschungen anzustellen, diente ihnen das Büro für Kriegsinformation als Hauptinformationsquelle. Das Büro bemühte sich sogar, direkt Artikel über Spezialthemen zu liefern. Heute möchte die Mehrzahl der früheren Redakteure des „ R u f " glauben machen, daß die Amerikaner es niemals gewagt hätten, ihnen einen Artikel aufzuzwingen. C. Vinz erinnert sich jedoch, daß es oft notwendig war, lange und hart mit W. Schönstedt und R. Pestalozzi zu verhandeln, um bestimmte Artikel erscheinen zu lassen und andere abzulehnen. Es kam sogar vor, daß jene telefonisch bei ihren Vorgesetzten um Rat nachsuchten, bevor sie eine Entscheidung trafen. Der „ R u f " veröffentlichte auf jeden Fall im eindeutigen Auftrage der Amerikaner eine Reihe von Artikeln, die nicht von der deutschen Redaktion stammten. So „Kinder hinter Stacheldraht", ein „Ruf"-Sonderbericht aus Europa über die „Rückerziehung der von Hitler verführten deutschen Jugend" (Nr. 10, S. 1.); „Nationalismus und Weltbürgertum", der als Originalbeitrag für den „ R u f " von Prof. K. Vietor (Harvard Universität) vorgestellt wurde (Nr. 14, S. 1.); „Feierlich bewegt", der von der amerikanischen Armee 1944 in Italien berichtet und dem „ R u f " von Klaus Mann zur Verfügung gestellt wurde (Nr. 14, S. 5.); „Zwischen sieben Toten", ein „Ruf"-Sonderbericht aus Europa (Nr. 15, S. 1.); „Hitlers furchtbares Vermächtnis" von Prof. H. Mumford Jones, der im Rahmen des Umerziehungsprogramms Unterricht an die Kriegsgefangenen erteilte (Nr. 16, S. 2.); usw. Außerdem wurde die gesamte Ausgabe des „ R u f " ins Englische übersetzt, damit die Beamten der betroffenen Ministerien, die kein Deutsch konnten, den Inhalt der Zeitung zur Kenntnis nehmen konnten. Von dieser englischen Ausgabe wurden 500 Exemplare gedruckt, die dem Kriegsministerium, den Lagerkommandanten und den mit der Umerziehung beauftragten Offizieren, den „Assistant executive officers", zugeschickt wurden. Schließlich durfte keine Nummer ohne die Genehmigung der amerikanischen Dienststellen erscheinen. A b Nummer 2 gab der „ R u f " an, daß der Inhalt von der Zensur genehmigt worden war. Er trug den Vermerk: „Gesamtinhalt durch die Zensur genehmigt." Die erste Nummer ihrerseits war einer sehr strengen Vorzensur unterzogen worden: Sie war vollständig ins Englische übersetzt worden, bevor sie gedruckt werden durfte. C. Vinz zufolge hatte die Zensur an dieser ersten Nummer nichts auszusetzen(21).
(21) Curt Vinz im Gespräch mit dem Verfasser am 24.3.70 in München. 11
Im Januar 1945 wurde eine erste Redaktionsmannschaft mit C. Vinz als Geschäftsführer (Chief manager) und Ernst Birkhäuser als Herausgeber (Editor) gebildet. Letzterer war von Beruf Hotelier, und dieser Umstand dürfte als Erklärung dafür dienen, daß er sehr schnell durch Gustav René Hocke ersetzt wurde, der zumindest ab der zweiten Nummer die Funktion des Chefredakteurs (Chief editor) ausübte, während C. Vinz die des Herausgebers übernahm. Vor einer Analyse des Inhalts der Zeitung und der Darstellung ihrer Entwicklung ist es zweifellos von Bedeutung, auf die Persönlichkeit und die Vergangenheit dieser beiden Männer einzugehen, die den „ R u f " herausgaben, bis sie im Dezember 1945 die Vereinigten Staaten verließen.
1.2 Die Redaktionsmannschaften des Ruf C. Vinz, 1908 in Lauenstein/Erzgebirge geboren, erlernte bei Eugen Diederichs in Jena den Beruf eines Verlagsbuchhändlers und war von 1931 bis 1939 dessen Verlagsvertreter. Er nahm am Krieg teil, am Ende als Oberleutnant. Er wurde im August 1944 in Paris gefangengenommen und in die USA gebracht. Nach seiner Ankunft in New York wurde er mehrere Tage lang von den amerikanischen Dienststellen verhört; er mußte Tests über sich ergehen lassen, über sein Leben berichten und über die Beziehungen zu seiner Familie, über die Deutschen und Deutschland, über die deutsche Literatur, insbesondere über Thomas Mann, sprechen. C. Vinz war für die Amerikaner in zweifacher Hinsicht interessant: er kannte sich im Buchhandel und Verlagswesen aus und hatte, mit einer Wienerin verheiratet, die Möglichkeit, Nazi-Deutschland regelmäßig zu verlassen. Er wurde ins Lager Ruston (Louisiana) geschickt, wo er A. Andersch, Hans Joachim von Goertzke, Walter Kolbenhoff und andere kennenlernte. C. Vinz dürfte zu dieser Zeit die Aufmerksamkeit der amerikanischen Dienststellen durch zwei Abhandlungen, die er ihnen übersandte, auf sich gelenkt haben; die eine bezog sich auf die Veröffentlichung einer Sammlung von Romanen für die Gefangenen (22), (22) Im Herbst 1944 verfaßte Curt Vinz in Camp Ruston ein Memorandum, in dem er den amerikanischen zuständigen Stellen den Vorschlag unterbreitete, eine billige Taschenbuchreihe für die deutschen Kriegsgefangenen in Zusammenarbeit mit Gottfried BermannFischer herauszugeben. G. Bermann-Fischer hatte sich im August 1940 in den Vereinigten Staaten niedergelassen. 1941 hatte er einen neuen Verlag, die Landshoff-BermannFischer Publishing Corporation, in New York gegründet. Im März 1945 wurde unter der Aufsicht von Capt. W. Schönstedt — der den Kontakt mit G. Bermann-Fischer hergestellt hatte — . e i n e Arbeitsgemeinschaft „Bücherreihe .Neue W e l t ' " ins Leben gerufen. Diese Gruppe hatte den Auftrag, unter 40 von G. Bermann-Fischer vorgeschlagenen Titeln 24 auszusuchen, die am ehesten den Interessen der deutschen Kriegsgefangenen entgegenkamen. Sie kaufte dann zu den üblichen Bedingungen die Veröffentlichungsrechte und verkaufte jedes Buch in einer Gesamtauflage von 50.000 Exemplaren zu 25 Cents, d.h. zu dem damals in den Vereinigten Staaten üblichen Taschenbuchpreis. Unter den 24 veröffentlichten Titeln waren 3 Bücher rein politischer Natur: „ A m e r i k a " von St. V. Benêt (1944), „Unteilbare Welt" von Wendell Willkie (1943), dem früheren
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die andere auf die Notwendigkeit, die Bemühungen der bereits bestehenden Gefangenenzeitungen zentral zu koordinieren. Ideologisch zählt C. Vinz sich selbst zu den konservativen Katholiken. I m „ R u f " hat er auch unter den Pseudonymen „ K u r t Lauenstein" und „Georg Neugebauer" veröffentlicht. S o wie C. Vinz seine Erfahrung als Verleger mitbrachte, brachte G . R . Hockedie des Berufsjournalisten mit zum „ R u f " . Er wurde 1908 in Brüssel als S o h n eines deutschen Vaters und einer belgischen Mutter (französischer Abstammung) geboren. Er war ein Schüler von Ernst Rober Curtius, bei dem er 1934 über den „Einfluß von Lukrez in der französischen Literatur" promoviert hatte. V o n diesem Jahr an arbeitete er für die „Kölnische Zeitung" (Herausgeber: Kurt Neven-Du Mont), die sich zum Teil der „Gleichschaltung" durch die Nazis entziehen konnte, ohne jedoch vom Druck des Propagandaministeriums gänzlich verschont zu werden. Dort erlernte er die Kunst, seine Worte abzuwägen, zwischen den Zeilen zu schreiben, Themen nur anzuschlagen und sich in Andeutungen zu ergehen, anstatt offen Wahrheiten zu verkünden, die ihn unweigerlich ins Konzentrationslager gebracht hätten. A l s Humanist, Europäer, Liberaler gehörte G. R. Hocke zu jener Minderheit von Intellektuellen, die geglaubt hatten, innerhalb Deutschlands gegen den Nationalsozialismus mehr erreichen zu können als außerhalb. Nur langsam dämmerte ihm offenbar, welche Alibifunktion er für die nationalsozialistische Propaganda h a t t e . O Die Literaturseite der „Kölnischen Z e i t u n g " — Geist der Gegenwart —, für die er seit 1935 verantwortlich zeichnete und auf der er den
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In einer Sendereihe des WDR (1970—1973), in der G. R. Hocke aus seinem Leben erzählte („Aus den Lebenserinnerungen von Dr. G. R. Hocke"), erinnerte er sich daran, daß er sich einmal die Frage gestellt hat:„Wollten die Nazis, indem sie wenigstens im Kulturteil der „Kölnischen" oder „Frankfurter Zeitung" einen gewissen Spielraum zu ließen, im Ausland die Meinung entstehen lassen, das Dritte Reich sei gar nicht so unfrei?" (Sendung vom 31.10.71, W D R / II. Progr.)
Forts. (22): Challenger von F. D. Roosevelt, und „Jenseits des Ural" von John Scott (1944). Weitere Werke behandelten den Krieg aus pazifistischer Perspektive: „Radetzkymarsch" (1932) von Joseph Roth, „Im Westen nichts Neues" (1929) von E. M. Remarque und „Der Streit um den Sergeanten Grischa" (1927) von Arnold Zweig. Neben den deutschen Schriftstellern, die in die U S A emigriert waren, wie Franz Werfel („Das Lied von Bernadette", 1941 und „Die vierzig Tage des Musa Dagh" (2 Bände), 1943), Leonhard Frank („Die Räuberbande", 1914), Thomas Mann („Der Zauberberg" (2 Bände), 1924, „Achtung Europa", 1938 und „Lotte in Weimar", 1939), Carl Zuckmayer („Der Hauptmann von Köpenick", 1931 und „Ein Bauer aus dem Taunus" / Erzählungen) und schließlich Vicki Baum („Liebe und Tod auf Bali", 1937) fanden sich Werke aus der deutschen klassischen Literatur: „Die schönsten Erzählungen deutscher Romantiker" und Heinrich Heines „Meisterwerke in Vers und Prosa". Eine letzte Gruppe machten in der Bücherreihe Werke der englischen und amerikanischen Literatur aus: Joseph Conrad, „Der Freibeuter" (1923); Ernest Hemingway, „Wem die Stunde schlägt" (1940); William Saroyan, „Menschliche Komödie" (dt. Übersetzung 1930). Es wurde auch noch „Madame Curie" von Eve Curie veröffentlicht.
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freien europäischen Geist zu Wort kommen lassen wollte, war bezeichnend für seine Haltung.. Da er trotzdem zu stark überwacht wurde, wurde er 1940 von seiner Zeitung als Korrespondent nach R o m geschickt, wo er sich mit Friedrich Lampe anfreundete, der damals Korrespondent der „Frankfurter Zeitung" war. V o n Januar 1942 bis Februar 1943 diente er der Wehrmacht in Sizilien als Zivildolmetscher. Zur gleichen Zeit begann er die Arbeit an seinem Schlüsselroman „Der tanzende G o t t " , dessen im 6. Jh. v. Chr. in Griechenland spielende Handlung nur als V o r w a n d dazu diente, den Nationalsozialismus als „mörderische Epidemie" zu verdammen. Im Herbst 1943 ging er in den Untergrund und arbeitete mit den italienischen Patrioten zusammen. Nach der Befreiung Roms arbeitete er im Juni 1944 eine Zeitlang in einer untergeordneten Stellung bei den amerikanischen Dienststellen für psychologische Kriegsführung („Psychological Warfare Branch") mit. Unter dem Verdacht, innerhalb einer „deutschen antinationalsozialistischen Vereinigung", zu deren Gründung er selbst beigetragen hatte, mit politisch wenig empfehlenswerten Personen Kontakte zu pflegen, wurde er am 6. September 1944 verhaftet. Diese Vereinigung galt aufgrund ihrer Zusammensetzung in den Augen der Amerikaner und Engländer als Zusammenschluß reaktionärer und anti-sowjetischer Elemente mit dem Ziel, Uneinigkeit zwischen den Alliierten zu stiften. Da er sich noch im wehrfähigen Alter befand, wurde er interniert und in amerikanische Gefangenschaft geschickt. Er kam zunächst nach Fort Jackson, dann nach Fort Campbell, w o er an der im September/Oktober 1944 gegründeten Lagerzeitung „Der Europäer" mitarbeitete. A u f Wunsch von C. Vinz, der auf der Suche nach Berufsjournalisten war, wurde er im Januar 1945 nach Fort V a n Etten versetzt, um dort die Redaktion des „ R u f " zu übernehmen. Als Zivilinternierter durfte G. R. Hocke hoffen, früher nach Deutschland zurückzukommen; deshalb legte er nach einigen Nummern — im November 1945 — sein A m t nieder, um so die Amerikaner dazu zu veranlassen, ihn schneller freizulassen (23). Im April 1945 kam A . Andersch zur Redaktion des „ R u f " , w o er den literarischen Teil übernahm. Er kam aus dem Lager Ruston (Louisiana), w o er Baumwolle ernten mußte. A . Andersch wurde 1914 in München geboren. Nach Abschluß einer Buchhandelslehre in einem Verlag, dessen Inhaber zu dem Bekanntenkreis seines Vaters, eines glühenden Ludendorff-Anhängers, gehörte, war er arbeitslos geworden und dem Kommunistischen Jugendverband Bayerns beigetreten. Er brachte es dort bis zum Organisationsleiter für Südbayern. Nach dem Reichstagsbrand bezahlte er seine politischen Aktivitäten mit drei Monaten Haft im K Z Dachau. Nach seiner zweiten Verhaftung im Herbst 1933 unter Gestapo-Aufsicht gestellt, brach er mit der K P D und flüchtete sich in die Kunst, wie er selbst in seinem 1952 erschienen autobiographischen Bericht „Die Kirschen der Freiheit" darstellte („Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion."). Er arbeitete (23) Vgl. G.R.Hocke in „Der ,Ruf' in Amerika", W D R / I I , 10.12.72 (Aus den Lebenserinnerungen von Dr. Gustav René Hocke).
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jahrelang als Angestellter in der Industrie und wurde 1940 zum Wehrdienst eingezogen. Den Soldateneid auf A. Hitler betrachtete er als ungültig, weil er ihn „unter Zwang" leistete. Anfang Juni 1944 während des Rückzugs von Nettuno desertierte er und lief zu den Amerikanern über („Mein ganz kleiner privater 20. Juli fand bereits am 6. Juni statt."). Die Fahnenflucht verteidigte er als „Akt der Freiheit" im Sinne von Jean Paul Sartre. (24) Als A. Andersch nach Fort Kearney kam, setzte sich die Redaktion des „ R u f " — abgesehen von C. Vinz und G. R. Hocke — aus folgenden Personen zusammen: Raymund Hörhager, Journalist österreichischer Abstammung und ehemaliger Korrespondent in Belgrad, war im Rahmen der politischen Redaktion verantwortlich für die Deutschland und Europa betreffenden Fragen. Dr. Hans Mühlhaus, ein gelernter Jurist, befaßte sich mit wirtschaftlichen Problemen und mit amerikanischen Angelegenheiten. Franz Wischnewski, von Beruf Zeichner, machte das Layout. Hans Armbrust und Josef Platt besorgten den Umbruch, Kurt Brockmeyer und Hans Dennstedt hatten die Funktion von Redaktionssekretären inne, Ernst Schaller kümmerte sich um die Dokumentation. (25) A. Andersch, der so schnell wie möglich nach Deutschland zurückkehren wollte, entschloß sich im August 1945 dazu, an den Kursen der amerikanischen Verwaltungsschule für Kriegsgefangene in Fort Getty (siehe oben Anm. 10) teilzunehmen, und verließ die Redaktion. Er wurde durch Irmfried Wilimzig ersetzt, der von Beruf Tänzer war. Da C. Vinz, G. H. Hocke, R. Hörhager und H. Mühlhaus Ende 1945 in die Heimat zurückkehren sollten, wurden bereits im September 1945 neue Leute nach Fort Kearney gerufen, um die Nachfolge sicherzustellen: Friedrich Lampe, Journalist und Freund G. R. Hockes, für die Politik; Paul Metzner und Dr. Karl Hans Friedemann für wirtschaftliche Fragen; Dr. Walter Mannzen (geb. 1905 in Flensburg, gest. 1972 in Kiel), der von Beruf Jurist war: er war wie A. Andersch in seiner Jugend der KPD verbunden gewesen. Im August 1945 hatte er einen einmonatigen Lehrgang in Fort Getty absolviert und der „ R u f " hatte wiederholt Artikel von ihm veröffentlicht; Hans Werner Richter, der durch seine Beiträge in einer Lagerzeitung aufgefallen war, der aber nach eigenen Angaben der „ R u f Redaktion unter falschen Voraussetzungen zugeteilt wurde. Man hatte ihm versprochen, daß er heimkehren würde. Stattdessen mußte er nach einer beinahe zweijährigen Gefangenschaft noch einige Monate dazu in Fort Kearnsey verbringen. H. W. Richter wurde 1908 in Bansin auf Usedom in einer Fischerfamilie geboren. 1924—1927 erlernte er den Buchhandel in Swinemünde. 1928 ging er nach Berlin, wo er bis 1930 im Buchhandel tätig war. Im Herbst 1930 wandte er sich angesichts des ständigen Anwachsens der nationalsozialistischen Partei dem politischen Leben zu und trat in die Partei ein, die ihm als das „stärkste revolutionäre (24) A . Andersch, „Die Kirschen der Freiheit". Ein Bericht, Frankfurt 1952. Vgl. insbesondere S. 48ff. und 76ff. (25) Vgl. schriftliche Mitteilung von Curt Vinz an den Verfasser (24.3.1970).
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Widerstandszentrum" erschien, in die K P D . Er diente ihr als Funktionär und Redner. 1932 wurde er wegen angeblich trotzkistischer Ansichten ausgeschlossen. Er schloß sich dann der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) an, mit deren Theoretiker F. Sternberg er bis zum Frühjahr 1933 eng zusammenarbeitete. Über die S A P kam er mit den Kreisen der „Weltbühne" zusammen. Die ersten Monate der Illegalität verbanden ihn wieder mit der K P D . Er versuchte Widerstandszentren zu bilden, die aber immer wieder zerschlagen wurden. So mußte er im Herbst 1933 Berlin verlassen. Er setzte sich nach Paris ab, wo er Kontakte zu französischen Kommunisten hatte und eine sozialistische Gruppe zu bilden versuchte, die die illegale Arbeit in Deutschland erneut aufnehmen sollte. Er kehrte 1934 nach Deutschland zurück, wo er „in Verbindung mit den bürgerlichen Kreisen der Berliner Universität u n d mit jungen literarischen Kreisen um Ernst Wiechert" den Widerstand aufnahm. Erst 1935 wandte er sich wieder beruflichen Aufgaben zu und kehrte in den Buchhandel zurück. 1937—1940 arbeitete er im Verlagswesen (VDI-Verlag, Langenscheidt und Awag). Im Februar 1940 wurde er unter dem Verdacht verhaftet, Führer der deutschen pazifistischen Jugend zu sein. Da es der Gestapo nicht gelang, ihm die Existenz einer solchen Jugendorganisation vor oder nach 1933 nachzuweisen, blieb es bei der Drohung, daß „er seinen K o p f unter dem A r m mitbringen könnte, wenn sein Name doch noch einmal auftauchen würde". Im Mai 1940 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und entging damit weiteren Nachforschungen der Gestapo. Im November 1943 wurde er bei Monte Cassino gefangengenommen und nach einem kurzen Aufenthalt in einem amerikanischen Lager in Italien Ende des Jahres nach Amerika geschickt. Dort wurde er Camp Ellis (Illinois) zugeteilt, in dem er von September 1944 bis Ende September 1945 an der Lagerzeitung die „Lagerstimme" arbeitete. Bis Mai 1945 veröffentlichte er hauptsächlich Theaterkritiken, Glossen über das Lagerleben, Gedichte und A n merkungen zur Lyrik der Kriegsgefangenen. I m Mai 1945, als alle Lagerzeitungen wesentlichen Änderungen durch die Amerikaner unterzogen wurden (siehe unten), wurde er mit der Herausgeberschaft des Blattes betraut. V o n diesem Zeitpunkt an wandte er sich in seinen Artikeln mehr dem politischen Geschehen zu. Über seine Redakteurtätigkeit hinaus versuchte er in Camp Ellis „durch Unterricht und dauernde Vorträge eine politische und geistige Umerziehung der größtenteils nationalsozialistisch eingestellten Gefangenen"durchzuführen. (26) Als gelegentliche Mitarbeiter müssen vor allem Dr. Schuster für den Bereich der Wirtschaft, Dr. Schmid für kulturelle Fragen und der Jurist Fitterer angeführt werden. In der Redaktion des „ R u f " fanden sich so — trotz der durch die Umstände bedingten personellen Veränderungen — die verschiedensten politischen Richtungen. Neben liberal bzw. konservativ eingestellten Berufsjournalisten wie G. R. Hocke, F. Lampe oder R. Hörhager war die Linke stark vertreten durch Nicht(26) Nach den Angaben H. W. Richters in seinem 1946 für die Information Control Division der amerikanischen Militärregierung verfaßten Lebenslauf. Merkwürdigerweise erwähnt H. W. Richter darin nicht, daß er 1932 von der K P D ausgeschlossen wurde. In Archiv B. Spangenberg.
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Journalisten wie A. Andersch, W. Mannzen, H. W. Richter, die miteinander gemein hatten, daß sie alle in der Vergangenheit aktive Kommunisten gewesen waren. Dieser Umstand war damals, am Ende der Ära Roosevelt, noch kein Makel. W.Schönstedt war dafür in Fort Kearney der sichtbarste Beweis. G. R. Hocke erinnert sich, daß ihm amerikanische Offiziere aus Fort Getty — die er rückblickend als Linksextremisten bezeichnet — empfahlen, den kommunistischen Kriegsgefangenen zu vertrauen und im „ R u f " zu zeigen, daß ihnen beim Aufbau der zukünftigen deutschen Demokratie eine Sonderrolle zukommen werde. Doch es stimmt auch, daß gleichzeitig ein hoher Beamter des Außenministeriums in seinem Beisein meinte, daß es besser sei, Ausdrücke wie „antinazistisch" oder „antifaschistisch" nicht zu benutzen, um den „ R u f " nicht dem Verdacht auszusetzen, das Werk von Kommunisten zu sein. (27) In seiner Arbeit über die Entstehung der westdeutschen Literatur in den Kriegsgefangenenlagern der Vereinigten Staaten untersucht V.C. Wehdeking auch den „ R u f " , in dessen Entwicklung er drei Phasen unterscheidet: die erste reicht für ihn von der Gründung bis zur Nr. 5(15. Mai 1945) und steht ganz im Zeichen des amerikanischen Einflusses; demgegenüber betrachtet er die zweite — kritischere — Phase (1.6.1945-1.10.1945) als die Hocke'sche Phase, während die dritte Phase (Mannzen/Richter) durch das Aufkommen nicht zu überwindender Gegensätze zwischen der deutschen Redaktion und der amerikanischen Zensur gekennzeichnet ist. Die Kontrolloffiziere sollen dabei ihre Einstellung geändert und zur Frage der „Kollektivschuld" des deutschen Volkes eine wenig versöhnliche Haltung eingenommen haben (28). Diese Einteilung in drei Phasen läßt völlig außer acht, daß der „ R u f " von Anfang bis Ende ein amerikanisches Unternehmen war. Abgesehen von durch die Umstände bedingten Veränderungen zeichnet sich in diesem Sinne die allgemeine Entwicklung der Zeitung durch Kontinuität aus: es kam nicht zum Bruch mit der Redaktion Mannzen/Richter etwa unter dem Vorwand, daß ihr die Amerikaner ein bis dahin nicht existierendes Umerziehungsprogramm vorgeschrieben hätten. Denn der „ R u f " war nie etwas anderes als einer der wichtigsten Bestandteile des amerikanischen Umerziehungsprogramms für die deutschen Kriegsgefangenen. G. E. McCracken schreibt unmißverständlich am Ende seines Berichtes über den „ R u f " : One of the most important agencies in the reeducation program was a prisoner newspaper called "Der R u f " published through the Cooperation of the War Department General Staff, the Department of State and the Office of War Information. (29)
Man kann vielmehr zwei Abschnitte in der Entwicklung des „ R u f " unterscheiden, wobei gleichzeitig zu bemerken ist, daß diese beiden Abschnitte innerhalb einer Kontinuität zu sehen sind und voll und ganz dem jeweiligen Vorgehen entsprechen, das Amerikaner und Deutsche für die Zeit „ v o r " und „nach" der offiziellen Einstellung der Kampfhandlungen festgelegt hatten. (27) G. R. Hocke, „Der ,Ruf' in A m e r i k a " , a.a.O. (28) Vgl. V. C. Wehdeking, a.a.O., S. 1 7 - 1 8 . (29) McCracken, a.a.O., S. 150.
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1.3 Taktische Vorsicht bis zum Waffenstillstand vom 8. Mai 1945 Die erste Nummer des „ R u f " erschien am I.März 1945 in einer Auflage von 11.000 Exemplaren und umfaßte acht Seiten (siehe Abb. 3, S. 216). Damals lebten in den Vereinigten Staaten ungefähr 310.000 deutsche Kriegsgefangene in 300 Lagern. Der „Ruf" bezeichnete sich als „Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den USA" und wurde, wie auf Seite 2 angegeben, von den Kriegsgefangenen selbst herausgebracht. Ein gewisser Michael Moderath — was nur ein Pseudonym bzw. ein Deckname sein konnte — war für den Gesamtinhalt verantwortlich. Von der Nummer 2 an lag die Verantwortung für die Zeitung bei der „Arbeitsgemeinschaft Der Ruf". Von der dritten Ausgabe an erschien der Vermerk: „Edited and Prepared for German Prisoners of War by German Prisoners of War". Der „Ruf" erschien zweimal im Monat. Die Zeitung wurde zum Preis von 5 Cent (etwa 20 Pfennig) in den Kantinen aller Kriegsgefangenenlager verkauft. Ein deutscher Kriegsgefangener verdiente damals im Durchschnitt 80 Cent am Tag. Der Beschluß, die Zeitung nicht kostenlos zu verteilen, sondern sie vielmehr zu verkaufen, war nach mehreren Konferenzen gefaßt worden. Damit sollte vermieden werden, daß die Gefangenen Argwohn schöpften und im „Ruf" ein vergiftetes Geschenk der amerikanischen Propaganda sahen. Außerdem war man, wie G. E. McCracken bemerkt, „der Ansicht, daß es unmöglich war, das Niveau einer von Kriegsgefangenen für Kriegsgefangene gemachten Zeitung zu wahren, wenn die Kriegsgefangenen nicht selbst deren finanzielle Verantwortung trugen."(30) Hierzu muß bemerkt werden, daß der „Ruf" mit Gewinn arbeitete. Der Selbstkostenpreis pro Exemplar lag bei den ersten elf Nummern bei durchschnittlich 4 Cent. Ab Nr. 12 fiel er auf 2,5 Cent. Der McCracken-Report gibt für die Nummern 1 bis 16 einen durchschnittlichen Gestehungspreis von 3,5 Cent an, wobei berücksichtigt war, daß jede Nummer zu 90% verkauft wurde. Der „ R u f " verfügte also über eine gesicherte Gewinnspanne. Der McCracken-Report verzeichnet jedoch nicht, welcher Verwendung die Gewinne zugeführt wurden. Die erste Nummer des „Ruf" zeichnet sich durch Vorsicht aus. In dem Leitartikel, mit dem die Redaktion sich an die Gefangenen wendet, wird mit Nachdruck betont, daß der „ R u f " die Zeitung „aller Deutschen" in den Lagern sei. Dies stimmt mit seinem Plan überein, einen möglichst großen Leserkreis anzusprechen. Der Begriff „deutsch" ist zusammen mit dem Begriff „Gefangener" der einzige, der sich auf all diese Männer in den Lagern gleichermaßen bezieht. Nur dieser Verweis auf die Staatsangehörigkeit ermöglicht es dem „Ruf", in dieser Vielfalt den Anschein einer Einheit herzustellen. Von seiner Funktion her ist der „Ruf" in gewissem Sinne wie Wilhelm II. dazu verurteilt, keine Parteien, sondern nur Deutsche zu kennen. Es ist ihm versagt, irgendeine politische Richtung zu vertreten, und er kann auch nur im Namen der guten deutschen Traditionen sprechen: Der Ruf geht hinweg über Parteiungen und kleinliches Gezänk. Er dient nicht nur der Befriedigung ehrgeiziger persönlicher Bestrebungen, sondern der Pflege der echten deutschen Kulturgüter. (30) Ibidem, S. 43. 18
Der Begriff „Parteiung" hat einen abschätzigen Beiklang, der alle Parteien gleichermaßen betrifft. Doch es muß auch gesehen werden, daß die Redaktion durch die Anspielung auf die „echten deutschen Kulturgüter" die herkömmlichen Werte Deutschlands höher einstuft als die Pseudowerte des Dritten Reiches: Die Redaktion setzt dem Begriff „nationalsozialistisch" den Begriff „deutsch" entgegen. Das dritte Reich kann untergehen, Deutschland jedoch bleibt bestehen, und letztlich für dieses Deutschland bittet der „ R u f " die deutschen Gefangenen, sich bereitzuhalten. Doch welchen Sinn gibt nun die Redaktion dem Titel der Zeitung: „Der Ruf"? Dieser Ruf ist zunächst im einfachsten Sinne des Wortes ein Ruf an jeden einzelnen der Kriegsgefangenen und ein Ruf von Lager zu Lager; es ist also ein Ruf, der „verbinden" will. Doch es ist auch der Ruf der Heimat: Es ist der Ruf der Heimat, die unerreichbar fern und von finsteren Wolken verhängt, doch in uns allen hier stark und lebendig bleiben soll. (31)
In diesem doppelten Willen des „ R u f " , ein Band zwischen den Gefangenen zu knüpfen und die Erinnerung an die Heimat zu pflegen, zeigt sich, daß die Redaktion darum bemüht ist, den Gefangenen bewußt zu machen, daß sie trotz der sie trennenden Entfernungen zwischen den einzelnen Lagern eine Gemeinschaft bilden und auch in fremder Umgebung eine eigenständige nationale Gruppe darstellen. Doch es ist nicht nur der Ruf von Kriegsgefangenen an Kriegsgefangene. Der „ R u f " will auch der Ruf der Außenwelt an diese Gefangenen sein, wenngleich er diese Außenwelt sehr schnell auf Deutschland zurückführt: Vergeßt nicht die Welt da draußen, die auch euch wieder rufen wird, ausnahmslos. Mann für Mann. Bis dieser Ruf kommt, auf den wir alle warten, soll „Der Ruf" euch die Stimme der Heimat sein. (31)
In einem in Nr. 26 veröffentlichten Rückblick fügt die Redaktion diesen Bedeutungen noch eine weitere hinzu, nämlich die eines Rufs der Gefangenen an die Nachkriegswelt, wobei dieser Ruf angesichts der Probleme der Zukunft Frage und Antwort zugleich ist: Die Zeitung sollte aber auch ein Ruf aus der Abgeschlossenheit der Kriegsgefangenschaft in das Leben draußen, eine Antwort auf die vielen zweifelnden und hoffenden Stimmen, die um einen friedlichen Aufbau der Zukunft bemüht waren.
Letztlich also ein konstruktiver Ruf für eine Zukunft in Frieden. Trotz dieser guten Absichten glaubte der „ R u f " auf das der Wehrmacht eigene Vokabular zurückgreifen zu müssen, weil er sich an Soldaten wandte, die ihre Militärausbildung stark geprägt hatte: Wir wollen euch helfen, den oft wiederholten Weisungen des Oberkommandos der Wehrmacht nachzukommen, die wir zusammenfassen können in der Mahnung: Erhaltet euch frisch, gesund und geistig rege, denn die Heimat braucht euch noch (...). Zeigt, daß ihr alle da seid. Antwortet mit dem kurzen bündigen „Hier" des Soldaten. Und da darf keiner fehlen, der noch einen Funken Heimatgefühl in sich bewahrt. (31) (31) Der Rut an die deutschen Kriegsgefangenen in Amerika, Leitartikel von Heft 1, 1.3.45 „Der Ruf" (USA).
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Es wird vielleicht erstaunen, daß die amerikanische Zensur solche Sätze durchgehen ließ. Im Zusammenhang mit der Selbstverwaltung der Lager durch die Gefangenen konnte sie sie jedoch durchaus mit ihren Aufgaben vereinbaren. Ein sozusagen im Namen der Wehrmacht erteilter Befehl wurde am 1. März 1945 mit größerer Wahrscheinlichkeit befolgt als ein Befehl der amerikanischen Armee. Darüberhinaus war dieses militärische Pathos für die meisten Gefangenen nichts Ungewöhnliches, und es zeigte ihnen, daß die Redaktion des „Ruf" sich aus Gefangenen zusammensetzte, die Soldaten waren wie sie selbst. Aus denselben Gründen schmückt ein deutscher Adler die Deutschlandseite, doch er thront nicht arrogant auf einem Hakenkreuz; die Redaktion hatte letzteres vielmehr durch ein Buch ersetzt (siehe Abb. 4, S. 217). Denn es erschien ihr notwendig, das deutsche Wappentier nicht zu vernachlässigen, sich jedoch vom Dritten Reich zu distanzieren. Wiederum dieselbe Tendenz bemerkt man auf Seite 2, wo der „Ruf" berichtet, daß Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt eine hohe Auszeichnung erhalten habe. Zur gleichen Zeit war auch Sepp Dietrich, Mitbegründer der SS und Generaloberst der Waffen-SS, ausgezeichnet worden. Die erste Information wurde zugelassen, nicht jedoch die zweite. Der ersten Information folgte sogar noch ein Zusatz, in dem die militärischen Tugenden von Rundstedts wie folgt hervorgehoben wurden: Montgomery, der britische Oberbefehlshaber im Westen, äußerte Korrespondenten gegenüber: „Rommel war meiner Meinung nach gut, aber Rundstedt übertrifft ihn um ein vielfaches. Er ist mein bester Gegner in diesem Kriege."
Ebenfalls aus denselben Gründen gibt der „Ruf" deutlich an, welches seine Informationsquellen sind — die Wehrmachtsmitteilungen, Informationen neutraler Herkunft, die Mitteilungen der alliierten Armeen —, um zu verstehen zu geben, daß er darum bemüht ist, unvoreingenommen, d.h. in einem anderen Stil als das Reichspropagandaministerium zu informieren. Er zitiert aber auch den „Völkischen Beobachter", dem er folgendes Zitat entlehnt: „Nüchterner Realismus ist die Haltung der Stunde!"
Etwas weiter unten findet man einen Auszug aus der „Kölnischen Zeitung", der ähnliche Gedanken zum Ausdruck bringt: „Wir dürfen jetzt nichts mehr beschönigen."
Die zweite und die dritte Seite der Nummer 1 befassen sich mit der Lage in Europa. Der Stil der Darstellung ist nüchtern, der Ton neutral; es ist die Tonart des Berichterstatters, der sich damit begnügt, Fakten zu verzeichnen. Die Informationen zur Entwicklung des Krieges mußten dadurch in den Augen der Leser umso zuverlässiger wirken. Dem Artikel ist eine Europakarte beigefügt, auf der der Verlauf der Frontlinien, Ende Februar 1945 eingezeichnet ist (siehe Abb. 5,S. 218). Diese wenigen Bemerkungen zeigen deutlich, daß diese erste Ausgabe des „Ruf" den amerikanischen Richtlinien für die erste Phase des Umerziehungsprogramms entsprechend im wesentlichen das Ziel verfolgte, das Vertrauen der deutschen Gefangenen zu gewinnen. Um dies zu erreichen zögerte also der „Ruf" nicht, taktisch vorzugehen und sich eines Stils zu bedienen, von dem G. R. Hocke später 20
einmal gesagt hat, daß er von dem der „inneren Emigration" nicht sehr weit entfernt war. Die Schule der „Kölnischen Zeitung" zeigte so im amerikanischen „Ruf" ihre Wirkung. Es gilt nun, dem ersten Leitartikel G. R. Hockes, den er unter seinem Pseudonym Julian Ritter veröffentlichte, sowie der Stellung der verschiedenen Rubriken der Zeitung größere Aufmerksamkeit zu widmen. „Die inneren Mächte": schon der Titel dieses Artikels hat Programmcharakter. G. R. Hocke beschwört das Spirituelle, um die bösen Dämonen des Dritten Reiches zu besiegen. Er glaubt zwar, daß es für alles eine politische oder wirtschaftliche Erklärung gibt, doch er ist auch der Ansicht, daß „der Mensch schließlich nicht allein von den Vorgängen der Politik und der Wirtschaft bestimmt" wird. G. R. Hocke hat niemals dem historischen Materialismus nahegestanden, und er bringt dies klar zum Ausdruck. Doch er denkt vielleicht weniger an den Kommunismus als vielmehr an die Ideologie im allgemeinen, deren totalitärer Charakter ein aktives Engagement erfordert und die den einzelnen, dadurch daß sie ihn politisiert, eines Teils seiner Substanz beraubt: Die Politisierung verdrängt zwei Mächte in ihm: Urteilskraft und Innerlichkeit.
Nach Meinung G. R. Hockes lag einer der Fehler des Dritten Reiches darin, daß es alles politisieren wollte. Darunter versteht er allerdings nicht „bewußt machen", denn für ihn liegt es auf der Hand, daß die nationalsozialistische Politisierung jeden dazu bringt, mit dem Denken aufzuhören. Es handelt sich vielmehr um jene Form von einseitiger Indoktrinierung, durch die der einzelne schließlich nur noch in einer Richtung denkt, die Realität nur noch aus der Sicht einer Partei sieht und seine Persönlichkeit in der Gleichförmigkeit der Masse verliert. Dieser Artikel, in dem der Nationalsozialismus an keiner Stelle mit Namen erwähnt wird, gehört zweifellos in den Bereich der „inneren Emigration". Er kritisiert den Nationalsozialismus lediglich unter dem Blickwinkel der Beziehungen zwischen Masse und Individuum. Doch dadurch, daß er den freien Willen eines jeden ansprach, stellte er auch einen ersten Versuch zur Befreiung der gefangenen Soldaten von dem ideologischen Einfluß des Nationalsozialismus dar. Schon in der ersten Nummer kann man einige Rubriken erkennen, die später zu festen Bestandteilen der Zeitung werden. Deutschland ist eine ganze Seite gewidmet, die Nachrichten aus den verschiedensten Quellen enthält. Auf einer anderen Seite finden sich Ansätze eines Feuilletons: ein Wiener Gedicht von Josef Weinheber, eine Notiz über Albert Schweitzer, eine andere über den Nobelpreisträger des Jahres 1945, den dänischen Schriftsteller Johannes V. Jensen, schließlich die Anzeige der Sammlung „Bücherreihe Neue Welt", die den Gefangenen die gute Literatur, die sie zwölf Jahre lang entbehren mußten, zugänglich machen will (siehe Anm. 22, S. 12f). Die Seiten 6 und 7 sind den Vereinigten Staaten gewidmet (siehe Abb. 6, S. 219). Ein Auszug aus dem Buch von Stephen Vincent Benêt, „Amerika", vermittelt einen ersten Überblick über die großen demokratischen Traditionen der Vereinigten Staaten (Freiheit und Toleranz). Ein Artikel über die Wirtschaft der Südstaaten 21
versucht den dort arbeitenden Gefangenen die Bedeutung und den Wert ihrer Arbeit im allgemeinen Zusammenhang der amerikanischen Wirtschaft zu erklären. Die letzte Seite ist der Rubrik „Lagerstimmen" vorbehalten (siehe Abb. 7,S. 220). Mit dieser Rubrik erfüllte der Ruf jene Aufgabe, die er sich selbst zugeschrieben hatte, nämlich Kontakte zwischen den Gefangenen herzustellen. In seinem Leitartikel forderte der „ R u f " dazu auf, ihm zu schreiben. Die amerikanischen Behörden hatten beschlossen, den Postverkehr zwischen dem „ R u f " und den Lagern zu erleichtern. Bei der angegebenen Adresse handelte es sich jedoch nicht um diejenige der Redaktion in Fort Kearney, sondern um ein Postfach in New York, was zu der Vermutung Anlaß gibt, daß die Redaktion nur die von der Zensur gesichteten Briefe erhielt. Diese Rubriken haben sich während des ganzen Erscheinens der Zeitungs nicht geändert. Jeder entsprach ein Punkt desamerikanischen Umerziehungsprogramms deutscher Kriegsgefangener. Die den Vereinigten Staaten gewidmete Rubrik dient zum Beispiel dazu, die Kenntnis der in den Vereinigten Staaten praktizierten Demokratie und ihres Funktionierens zu verbreiten. Man findet dort folgende Artikel: Nr. 3: Das Recht der religiösen Freiheit Nr. 6: Wir, das Volk . . . Vom Werden der amerikanischen Verfassung Nr. 8: Gleichgewicht der Kräfte. Die Grundzüge der amerikanischen Verfassung Nr. 12: Demokraten und Republikaner / Das Wesen der amerikanischen Parteien. Mit einer Serie von Reportagen über die wichtigsten europäischen Länder und andere Mächte will der „ R u f " den deutschen Gefangenen Gelegenheit geben, mit der Außenwelt, von der sie allzu lange abgeschnitten waren bzw. von der ihnen der Nationalsozialismus ein falsches Bild vermittelt hatte, wieder in Kontakt zu kommen: Nr. 2: Wandlungen in Frankreich Nr. 4: Insel des Friedens / Unsere Schutzmacht (Artikel über die Schweiz, die in den Vereinigten Staaten die Interessen der deutschen Gefangenen vertritt) Nr. 5: England zwischen heute und morgen Nr. 7: Österreich im Wandel der Zeiten Nr. 7: Die Sonne Japans sinkt (Entwicklung der Lage in Japan) Nr. 9: Der neue Partner / China sucht einen Weg Nr. 10: Ungeduldiges Italien Diese Artikel sind alle in demselben unpersönlichen Stil geschrieben, den Sachlichkeit und Zahlenangaben fordern, und enthalten sich jeglicher Stellungnahme. Sie verzeichnen die Fakten und versuchen, sie aus der Sicht der Weltpolitik einzuordnen (siehe Abb. 8, S. 221). Derselbe Geist herrscht im kulturellen Teil der Zeitung. Man findet dort Unterhaltungsliteratur: oft handelt es sich um Kurzgeschichten aus der Feder von Gefangenen, in denen diese auf oft unbeholfene Weise über ihre Erinnerungen oder 22
ihre Kriegserfahrungen berichten. So beispielsweise „Begegnung an der Brücke" (Nr. 4) von Kurt Lauenstein (Pseudonym von Curt Vinz), der aufzeigen will, daß die Völker über alle Kriege hinweg miteinander verbunden bleiben, und „Münchner Frühlingshut" (Eine Erinnerung von Franz Achleitner) in derselben Ausgabe. Doch es finden sich auch Artikel über die amerikanische Literatur, insbesondere ein Artikel aus der Feder Alfred Anderschs in Nr. 7: „Die neuen Dichter Amerikas." Die Persönlichkeit des Autors kommt in diesem kurzgefaßten Überblick über die amerikanische Literatur kaum zum Vorschein: auch hier handelt es sich darum, Informationslücken zu füllen. Auch wenn A. Andersch seine Bewunderung für die Vertreter des realistischen Romans erkennen läßt, so fällt er doch kein Werturteil: er begnügt sich damit, zu ordnen und zu klassifizieren. Wie wurde der „Ruf" bei den Gefangenen aufgenommen? Um die Wirkung der ersten Nummern zu ermessen, muß berücksichtigt werden, daß dem Erscheinen der ersten Ausgabe eine gut organisierte Werbekampagne vorausgegangen war. In der zweiten Februarhälfte 1945 hatten die Lagerkommandanten ausführliche Informationen zur Verwendung dieser Zeitung erhalten, und in den Lagern waren 500 Werbeplakate aufgehängt worden (32). Die ersten Nummern wurden in den einzelnen Lagern sehr verschieden aufgenommen. Da viele Lager noch unter dem Einfluß nationalsozialistischer Gruppen standen, wurde der „Ruf" sehr oft verbrannt. Die Nationalsozialisten zögerten nicht, Gewalt anzuwenden, und zwar nicht nur der Zeitung, sondern auch ihren Lesern gegenüber. Später bildeten die Sympathisanten des „Ruf" Verteidigungsgemeinschaften, um die Zeitung zu schützen und weiter bekannt zu machen. Der McCracken-Report berichtet, daß zahlreiche Gefangene ohne konkrete politische Vorstellungen den „Ruf" aus Neugierde kauften, was C. Vinz insofern bestätigt, als er bemerkt, daß am Anfang die „Nur-Soldaten" wohl den „ R u f " lasen, jedoch kein Urteil abgaben: sie warteten ab(33). Anläßlich einer Diskussion, die der „Ruf" mit Vertretern der verschiedenen Lager durchführte, verzeichnete er neben zahlreichen Sympathiebekundungen auch Stellungnahmen, die von skeptischer Zurückhaltung bis zur offenen Feindseligkeit reichten: Camp Fort Sheridan: „So sehr uns der Gedanke einer allgemeinen KGZeitung begeistert, so sehr auch sind wir nun, da eine solche vor uns liegt, befremdet. (.. .) Wir lehnen Nachrichten und Politik in einer KG-Zeitung grundsätzlich ab, weil wir als Soldaten nichts damit zu tun haben wollen." Camp Ruston: „In die Freude mischt sich jedoch bei vielen von uns ein wenig Skepsis." Camp Concordia: „Wir wollen Ihnen nicht verhehlen, daß sich die Masse Ihrer Zeitung gegenüber ablehnend verhält." (32) McCracken, a.a.O., S . 4 2 . (33) C. Vinz im Gespräch mit dem Verfasser in München am 24.3.70.
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Camp Carson: „Ohne einen Artikel gelesen zu haben, fällt man ausgesprochene Vorurteile: ,Der Ruf' sei ein Kommunisten- und Judenblatt". (34) Bereits am 16. März 1945 hatten aber neun Lager 2 5 0 0 Exemplare mehr angefordert; die Auflage von 11.000 Exemplaren war eindeutig unzureichend. A m 11. April 1945 forderten 55 der 134 wichtigsten Lager in den Vereinigten Staaten eine Erhöhung der Lieferungen um nahezu 16.000 Exemplare. V o n da an stieg die Nachfrage ständig weiter. Demgegenüber blieb die Zahl der Kriegsgefangenen in den Vereinigten Staaten von März bis Dezember 1945 konstant: sie schwankte geringfügig zwischen 300.000 und 370.000 — das M a x i m u m wurde im Mai mit 371.683 Gefangenen erreicht; der Dezemberwert war der gleiche wie im Januar. Die Amerikaner hatten befürchtet, daß der „ R u f " von den deutschen Gefangenen nicht als Zeitung anerkannt würde, deren Gestaltung in der Hand von ihresgleichen lag. Diese Befürchtung war begründet; soweit jedenfalls, daß die Redaktion es für notwendig erachtete, in Nr. 6 diese Frage in Form eines nicht ohne Humor geschriebenen Artikels mit dem Titel: „Woher kommt der , R u f ' ? " zu klären. Rainer Voss (Camp Blanding) berichtet, daß in seinem Lager die erste Nummer innerhalb weniger Minuten verkauft worden sei, daß die Gefangenen sie sich gegenseitig aus den Händen gerissen hätten. Es gab aber auch Gefangene, die meinten, der „ R u f " sei nicht das Werk deutscher Kriegsgefangener, sondern womöglich das Werk von Emigranten. Daraufhin wurde R. Voss nach Fort Kearney geschickt, das er so schildert: „Es war ein Camp wie jedes andere: Doppelter Stacheldraht, Posten, Baracken und die übliche PW-Umgebung." Er sucht die „Ruf"-Baracke auf und stellt dann fest: „Die Schriftleiter, die Techniker, die Übersetzer und der Graphiker, dessen Zeichnungen die verschiedenen Räume schmückten, waren genau so Kriegsgefangene wie ich, jedoch Leute vom Fach." Daß der „ R u f " so in seiner 6. Ausgabe noch einmal auf seine Herkunft zu sprechen kam, ist umso symptomatischer, als er bereits in Nr. 2 genau beschrieben hatte, unter welch prekären Bedingungen die Redaktion arbeiten mußte. (35) Sie mußte deutlich zu verstehen geben, daß sie nicht aus Privilegierten bestand. Diese Beharrlichkeit ist der beste Beweis dafür, daß der „ R u f " sich bei den Gefangenen nicht sofort durchsetzen konnte, daß er vielmehr ihr Vertrauen durch langwierige Arbeit erringen, ihren Argwohn zerstreuen, sie aus ihrer Zurückhaltung herauslocken mußte. Es ist interessant zu sehen wie der „ R u f ' ' selbst auf die Aufnahme seitens der Leser reagierte: Die Aufnahme war in den Durchschnittslagern sofort günstig. Auf Widerstand stieß „Der R u f " in den ersten Zeiten nur bei den Super-Nazis, die ihn nach altbewährter Methode öffentlich verbrannten und den Lesern mit Femegerichten drohten. Dagegen empfanden einige Antinazis die ersten Nummern der Zeitung in Unkenntnis der wahren Zusammenhänge als „zu wenig polemisch". (36)
(34) Ruf und Echo / Der Ruf im Gespräch mit seinen Lesern in „Der R u f " (USA), Nr. 6, 1.6.45, S. 8. (35) A m Anfang war ein Ofen, „Der R u f " ( U S A ) , Nr. 2,1.4.45, S. 8. (36) Der Ruf, Ein Weg zu Recht und Vernunft, a.a.O.
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Die Redaktion rechtfertigte diese anfängliche Zurückhaltung mit folgenden Worten Die anfängliche Zurückhaltung des „ R u f " erwies sich aber als psychologisch richtig; denn es wurde in der breiten Masse der K G das Denken angeregt, die Toleranz gefördert und Diskussionen befruchtet. Viele lernten es, alle Ereignisse der Politik, der Religion, Literatur und Kunst nun von zwei Seiten zu betrachten. Damit war der Ansatz zu einer selbständigen Urteilsbildung geschaffen. Als am 8. Mai 1945 das Dritte Reich militärisch zusammenbrach, waren in den Lagern die Voraussetzungen soweit geschaffen, daß von der auf lange Sicht vorbereiteten Sondernummer 6 an die Auseinandersetzung mit dem Nazismus in aller Freimütigkeit geführt werden konnte.
Dies ist nicht der Ort, um die Zweckmäßigkeit der Methode zu beurteilen. Doch erschien es notwendig, ausführlich darzustellen, was die Redaktion des „ R u f " tun wollte und auch tat, um deutlich zu machen, daß mit der Sondernummer vom 1. Juni 1945, in der erstmalig offen gegen den Faschismus Stellung bezogen wird, keine neue Redaktion die Gestaltung des „ R u f " in die Hand nahm — ganz im Gegensatz zu den meisten einfachen Lagerzeitungen.
1.4 Die Entwicklung der Zeitung nach dem 8. Mai 1945 Mit dem Ende der Feindseligkeiten hatten die Amerikaner in den Kriegsgefangenen lagern freie Hand. Sie waren der Ansicht, daß sie nun keine Rücksicht mehr auf nationalsozialistische Personenkreise zu nehmen brauchten. Die Redaktionsmannschaften der meisten in den Lagern veröffentlichten Zeitungen wurden im Handumdrehen durch Teams ersetzt, die die Anweisungen der amerikanischen Behörden besser befolgten. Und diese Anweisungen kamen nun massenweise. Die Verwendung von nazistischen Emblemen und Schlagwörtern sowie deren bloße Nachahmung wurden verboten. Die Zeitungen durften keine Titel tragen, die an im Dritten Reich gebräuchliche Titel — wie zum Beispiel „Völkischer Beobachter" — erinnern konnten. Es war verboten, Lobreden auf nationalsozialistische Helden zu halten, nationalsozialistische Feste zu begehen oder Morgenfeiern nach nationalsozialistischem Ritus abzuhalten. Gleiches galt für die nationalistische und militaristische Propaganda, für die pangermanische Propaganda, für die Verherrlichung der Kameradschaft, die darauf abzielte, unter den Gefangenen eine gewisse Solidarität zu wahren, für pseudo-philosophische Artikel, die die Rechtfertigung der deutschen Angriffe zum Ziel hatten, für Artikel, die die Überlegenheit der „Herrenrasse" verkündeten sowie für die Verleumdung der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten. Gleichzeitig wurde untersagt, die Deutschen dazu anzustiften, sich selbst zu bemitleiden; „self-pity" war etwas was die Amerikaner verabscheuten, denn diese Haltung war nicht dazu geeignet, die kritische Überlegung zu fördern. Schließlich war es untersagt, sich den Entscheidungen der Lagerkommandanten zu widersetzen (37).
(37) McCracken, a.a.O., S. 44—45.
Waren im März 1945 noch 33 von 44 Lagerzeitungen offen nationalsozialistisch, so bot sich im Dezember des gleichen Jahres folgendes Bild der 80 damals bestehenden Zeitungen: 24 waren demokratisch eingestellt, d.h. sie befolgten genau die amerikanischen Anweisungen, was sie für die amerikanischen Dienststellen zu nützlichen Organen der Umerziehungspolitik machte. 33 gehörten keiner bestimmten politischen Richtung an. Ihnen kam vielmehr eine Stellung im Bereich der Freizeitgestaltung der Gefangenen zu. 18 bezeichneten sich als Gegner der Nationalsozialisten, was in der Sprache jener Zeit bedeutete, daß sie Kommunisten waren oder mit den Kommunisten sympathisierten. 3 waren christlich. 1 wurde als krypto-nazistisch eingestuft und zwei andere schließlich als militaristisch. Mehr als in der Vergangenheit griffen diese Zeitungen nach dem 8. Mai 1945 auf die Ratschläge der „ R u f -Redaktion in Fort Kearney zurück und druckten in ihren Blättern Artikel des „ R u f " ab, die sie so ein zweites Mal in den Lagern verbreiteten. Ihrem Programm entsprechend hatte es sich die Zeitung zur Aufgabe gemacht, politische Diskussionen in den Lagern anzuregen und den Kampf gegen den Nationalsozialismus einzuleiten. Als der „ R u f " in seiner letzten Nummer Bilanz zieht, kann er es als Erfolg für sich verbuchen, daß er den Zeitungen der Kriegsgefangenenlager nach dem Waffenstillstand helfen konnte, zu demokratischen Organen des Kampfes gegen den Nationalsozialismus zu werden. Zum Beweis dafür veröffentlicht er auf einer 3/4-Seite im Kleindruck „demokratische" Stellungnahmen aus diesen Zeitungen (38). Der „ R u f " konnte stolz darauf sein, eine der ihm übertragenen Aufgaben erfolgreich ausgeführt zu haben, nämlich eine A r t von Agentur gewesen zu sein, in der die Beiträge der anderen Lager zentral zusammenliefen, die ihre eigenen Artikel allen zur Verfügung stellte und allen Kriegsgefangenen in den Vereinigten Staaten als Forum diente (39). Mit der Nummer 6 vom 1. Juni 1945 bekam auch die Redaktion des „ R u f " zum ersten Mal Gelegenheit, deutlicher Stellung zu nehmen. Die erste taktische Phase, in der Vorsicht angebracht war, ist zu Ende. Rechts neben dem Titel der Zeitung erscheint — begleitet von der Abbildung einer Fackel und einer Waage im Hintergrund — der Vermerk: „Vernunft und Recht". Die Waege verkörperte die Gerechtigkeit, und die Fackel — als dasjenige was erhellt und erleuchtet — stellte die Vernunft dar, die die Menschen leiten soll. In seiner letzten Ausgabe sollte der „ R u f " feststellen, daß er Recht und Vernunft den Weg bereitet habe, und erklären, was die Symbole der Waage und der Fackel für ihn bedeuteten: Unter dem neuen Zeichen der Fackel und der Waage für „Recht und Vernunft" trat „Der Ruf" stets innerhalb der ihm zustehenden Möglichkeiten für die Grundsätze der (38) Der Weg aus dem Dunkel, „Der Ruf" (USA), Nr. 26,1.4.46, S. 8. (39) McCracken, a.a.O., S. 3 9 f f .
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Rechtlichkeit und der christlichen Nächstenliebe ein, die Grundlagen jeder echten Demokratie. (40)
Der Hinweis auf das Christentum geschah, wie später noch zu sehen sein wird, nicht rein zufällig. Auf der ersten Seite dieser Nummer 6 wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf vier Artikel mit dem übergreifenden Titel: „Das Ende des Dritten Reiches" gelenkt. In der besten Plazierung erscheint die Erklärung H. Trumans anläßlich der Einstellung der Kampfhandlungen in Europa. Um diese Erklärung herum angeordnet findet man drei weitere Artikel mit den Titeln: „Zusammenbruch", „Erlösung" und „Die falsche Entscheidung". Der erste Titel ist klar, der zweite bleibt vage, da er nicht angibt, wovon man erlöst ist. Was den dritten Titel angeht, so gibt er zwar an, daß Fehler begangen worden sind — und der Leser ist versucht, diese Hitler zuzuschreiben —, doch er gibt nicht expressis verbis an, um was für Fehler es sich dabei handelt. Diese drei Artikel wiederholen zunächst immer und immer wieder die Wahrheit des Augenblicks: der Krieg ist zu Ende, das Dritte Reich zusammengebrochen, usw. Diese Wiederholungen waren nicht das Ergebnis einer schlechten Koordinierung innerhalb der Redaktion, sie entsprachen einer Notwendigkeit: denjenigen, die bis zum Ende an die „Wunderwaffen", an einen entscheidenden Umschwung zugunsten Deutschlands im letzten Augenblick glaubten, mußte klar gemacht werden, daß alles vorbei war. In „Erlösung" verspürt Rainer Voss das Bedürfnis, dies deutlich zum Ausdruck zu bringen, was ein gewisses Pathos jedoch nicht ausschließt: Wir müssen aber auch jetzt den Tatsachen ins Auge sehen, nüchtern und männlich. Das gilt besonders für diejenigen, die sich bisher immer noch in einer Welt der Illusionen bewegten.
Man muß sich an dieser Stelle den Artikel von Walter Mannzen, „Der Weg aus der Isolierzelle", vergegenwärtigen, in welchem dieser erklärt, daß in der Abgeschlossenheit der Lager ein Gerücht sehr schnell zu einem außergewöhnlichen Ereignis wird, daß die Gefangenen mehr als freie Menschen glauben, sie seien moralischem Druck und Manipulationen ausgesetzt, daß sie neue Situationen langsamer bewältigen (41). In „Zusammenbruch" versucht G. R. Hocke, mit Bedacht Bilanz zu ziehen: das Hitlerregime habe aufgehört zu existieren, die deutsche Verwaltung sei in der Hand der Alliierten, die Wehrmacht aufgelöst und jeglicher Widerstand erstickt. Er gelangt zu einer ersten Feststellung: „Der Nationalsozialismus als politische Macht hat aufgehört zu existieren." Er hinterlasse nur Wunden: die Opfer, die er vom deutschen Volk forderte, die Not, ein zerstörtes parlamentarisches System, gebrochene Verträge, nicht eingehaltene Verpflichtungen. Aus dieser zweiten Feststellung zieht G. R. Hocke eine Schlußfolgerung: Deutschland müsse lernen. (40) Der Ruf, Ein Weg zu Recht und Vernunft, a.a.O. (41) Walter Mannzen, Der Weg aus der Isolierzelle, „Der Ruf" (USA), Nr. 7,15.6.45, S. 8.
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frei zu leben und mit allen Völkern zusammenzuarbeiten. G. R. Hocke wollte überschwengliche Tiraden vermeiden. Er beschränkt sich zunächst darauf, seine Leser dazu aufzufordern, der Zukunft ins Auge zu sehen. Doch der Artikel zeigt auch jene Müdigkeit, die man nach harten Prüfungen des Schicksals verspürt. „Die falsche Entscheidung" greift die Außenpolitik Deutschlands an. Der Verfasser stellt dabei jedoch nur den „Krieg" in Frage — den Deutschland seinen Bewohnern sehr wohl hätte ersparen können —, nicht jedoch das nationalsozialistische System. In „Erlösung" weigert sich R. Voss, ein Urteil über die Verantwortung am Zweiten Weltkrieg abzugeben: Es wird einer späteren Geschichtsschreibung vorbehalten sein, über die tieferen Ursachen dieses Zweiten Weltkrieges zu urteilen.
Was er Deutschland zum Vorwurf macht, ist einzig und allein die Tatsache, daß es den Krieg fortsetzte, als er bereits verloren war. Obwohl dieser Artikel moralisierende Aspekte beinhaltet, kritisiert er nicht den Krieg an sich, sondern die Art und Weise, auf die er geführt wurde: „Millionen anständige Deutsche haben als Soldaten ihre Pflicht getan, so wie die Männer eines jeden Landes, das Krieg führt." Ein guter Bürger muß also in den Krieg ziehen, wenn sein Land es von ihm verlangt: Der Verfasser macht sich keine Gedanken über Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Berechtigung des Krieges; er akzeptiert ihn als Übel, mit dem man sich abfinden muß. Infolgedessen bedeutet nicht der Titel dieses Artikels, daß mit der Einstellung der Kampfhandlungen die Menschen von den Qualen des Krieges erlöst wurden. Für R. Voss findet die „wahre Erlösung" erst am Tage der Entlassung und der Rückkehr in die Heimat statt. Drei Hauptartikel also, die jedoch von der Konzeption her sehr verschieden sind. Man findet hier den „Pluralismus" der ersten Phase des „Ruf", der sich dadurch auszeichnete, daß für jede Gruppe von Lesern etwas dabei sein mußte. R. Voss wandte sich offenkundig vor allem an diejenigen, die mit Leib und Seele Soldaten waren. Er war weit entfernt von den Überlegungen eines A. Andersch, der seinen auf Hitler geleisteten Eid gebrochen hatte und die Fahnenflucht als Akt der Freiheit wertete. Die illustrierte Beilage jener Nummer 6 dürfte die Leser des „Ruf" am meisten beeindruckt haben. Unter dem Titel: „Der verhängnisvolle Weg — Die Geschichte des Dritten Reichs" zeigte eine Serie von Photos das Elend, in das der Nationalsozialismus Deutschland am Ende des Krieges gestürzt hatte, die Ruinen in den Städten und die Leichen von Buchenwald. Besser als irgendein bis dahin erschienener Artikel es vermocht hätte, leiteten jene Photos die Aufklärungskampagne ein, welche der „ R u f " über das Dritte Reich durchführen wollte. Eine erste Serie von Artikeln versucht die Frage zu beantworten: Wie konnte Hitler an die Macht kommen? Die Antwort auf diese Frage ist zugleich eine Antwort auf die Frage: Hat die Weimarer Republik versagt? Eine zweite Gruppe von Artikeln bemüht sich, das „wahre Gesicht des Dritten Reiches" darzustellen. In einer weiteren Gruppe von Artikeln versucht der „Ruf", die Verantwortlichkeit 28
Deutschlands genauer zu bestimmen, und in einer letzten Reihe zieht er schließlich die ersten Schlußfolgerungen, die sich ihm im Hinblick auf den Wiederaufbau Deutschlands aufdrängen.
1.5 Thematische Analyse des Ruf Die Weimarer Republik in „Ursache des Zusammenbruchs" (Nr. 6) schildert Hans Schuster Hitlers Machtergreifung im Jahre 1933. Er führt die bekannten Fakten über das parlamentarische Leben an: gegen den Geist und den Buchstaben der Verfassung ernennt Hindenburg Hitler zum Kanzler; der Reichstagsbrand dient als Vorwand für die Ausrufung des Notstands (Notverordnungen vom 28.2.1933); die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz am 23.3.1933 in Abwesenheit der kommunistischen und einiger sozialdemokratischen Abgeordneten, die im Gefängnis sitzen. H. Schuster will insbesondere zeigen, daß Hitler — im Gegensatz zu dem, was er glauben machen wollte — die Macht auf illegale Weise an sich gerissen hat. Es ist ein Artikel, der informieren will, dessen Schwäche jedoch darin liegt, daß er die Entstehung des Dritten Reiches als rein juristische Frage sieht. In einem anderen Artikel über die Weimarer Republik, „Die Tragödie der Deutschen Republik / Die Rolle der Reichswehr", nimmt W. Mannzen eine viel weitergehende Analyse vor (Nr. 14). Er zeigt, daß die Sozialdemokraten aus dem Wunsch heraus, die Ordnung wiederherzustellen, ein Bündnis mit der Reaktion eingegangen sind und es dieser ermöglicht haben, ihre Waffen zu behalten, was dann jegliche Reform auf wirtschaftlichem Gebiet vereitelt hat. W. Mannzen untersucht die Rolle der Reichswehr und stellt fest, daß sie in den ersten Jahren der Weimarer Republik vor allem die Rolle einer Armee des Inneren gespielt hat, die die demokratischen Kräfte in Schach halten sollte. Z u m ersten Mal im „ R u f " gibt W. Mannzen in diesem Artikel zu bedenken, daß letztlich das für die Reaktion günstige Kräfteverhältnis über das Schicksal der ersten deutschen Republik entschieden hat. In Nr. 15 stellt ein Artikel über die Verfassung der Weimarer Republik ganz deutlich die Frage: „Hat Weimar versagt?" Der Verfasser unterscheidet zwischen der formalen Verfassung, bei der es sich um eine Reihe von juristischen Regeln handelt, und der realen bzw. tatsächlichen Verfassung „im Sinne der gesellschaftlichen M a c h t " . Lassalle paraphrasierend stellt er fest, daß „das Heer, die Banken, die große Industrie und die allgemeine politische Bildung ein Stück Verfassung sind". Der Autor bemerkt, daß die Weimarer Verfassung in seinen Augen „ein wohldurchdachtes und annehmbares Instrument" sei. A n der wirklichen Verfassung sei aber die erste Deutsche Republik zerbrochen, weil die Kräfte der Demokratie nicht die erforderliche außerparlamentarische, tatsächliche Macht hatten.
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Weimar hatte zwar versucht, den Staat zu demokratisieren, nicht jedoch die Wirtschaft. Der „ R u f " wandte sich auch gegen diejenigen, die die „Parteien" und das „parlamentarische System" für alle Übel der Republik verantwortlich machten. U n t e r dem T i t e l : „Parteien / Rückblick und Ausblick" ( N r . 12) nahm der „ R u f " die demokratischen Parteien in Schutz, die nach dem Krieg auf die Übernahme der M a c h t nicht im wünschenswerten Maß vorbereitet worden waren und keine Gelegenheit gehabt hatten, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Er warf denjenigen, die die Parlamentsdebatten als bloße Redeschlachten bezeichneten — ohne daß er deshalb abstritt, daß diese Debatten zur Zeit der Weimarer Republik manchmal „entwürdigend" waren — vor, weiterhin in den Kategorien des Obrigkeitsstaates zu denken und so die Traditionen des autoritären Staates zu verewigen, der d e m V o l k jegliche Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten verbietet. A u ß e r d e m konnte der „ R u f " nicht umhin zu glauben, daß Deutschland durch seine ganze Geschichte hindurch von einer A r t Fatalität verfolgt wurde, die nach jedem Revolutionsversuch die Reaktion triumphieren ließ. (42) N i c h t alle A r t i k e l des „ R u f " , die sich m i t d e m Thema Weimarer Republik befaßten, entsprangen derselben Geisteshaltung. Die N u m m e r n 14 und 1 5 vom Oktober 1 9 4 5 , in denen man bis zu sieben A r t i k e l über die Weimarer Republik zählen k a n n , tragen den Stempel des mit der marxistischen Dialektik vertrauten W . Mannzen, der kurz zuvor nach F o r t Kearney gekommen war. I m Gegensatz dazu gibt in N r . 9 der Verfasser des Artikels: „Demokratische T r a d i t i o n " zu verstehen, daß Weimar gerade an den Parteistreitigkeiten zerbrochen ist, als er schreibt: Nicht negative Kritik und Verfolgung von Klasseninteressen braucht die deutsche Demokratie, sondern verantwortungsfreudige Mitarbeiter, deren Handeln und Denken von der deutschen demokratischen Tradition beseelt ist. Es ist bereits bemerkt worden, daß der „ R u f " in seinem ersten Leitartikel den abwertenden Begriff „Parteiung" gebrauchte, der dazu geeignet ist, das Parteiensystem zu diskreditieren. Dennoch kann man in Bezug auf Weimar im „ R u f " eine allgemeine Tendenz erkennen: der Weimarer Republik nicht alles Unrecht zur Last zu legen. Die Tendenz, wieder an die Weimarer Traditionen anzuknüpfen und sie gleichzeitig zu korrigieren, ist sogar offenkundig. Was dazu in N r . 6 geschrieben w i r d , wird an keiner anderen Stelle dementiert: Dennoch gibt es die Möglichkeit an Vergangenem anzuknüpfen, und zwar im Sinne einer Fortentwicklung des Gedankengutes und der Ideale des demokratischen Staates. (43) Der „ R u f " spricht sich klar für die Rückkehr zum Rechtsstaat aus, in dem das Gesetz die rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Bürger sowie den Bürgern untereinander regelt(44).
(42) Selbstverwaltung, „Der Ruf" (USA), Nr. 15,15.10.45, S. 1. (43) Ursache des Zusammenbruchs, „Der Ruf" (USA), Nr. 6,1.6.45, S. 1. (44) Vgl. auch Recht und Staat (Nr. 6), Demokratie oder Despotie? (Nr. 8) und der Rechtsstaat (Nr. 14).
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Trotz eines gewissen Unbehagens den Parteien gegenüber scheint er sich auch darüber im klaren zu sein, daß die Demokratie ohne sie nicht bestehen kann. Die Schlußfolgerung des Artikels „Parteien" (s.o.) ist in dieser Hinsicht exemplarisch: Auch die zukünftige deutsche Demokratie wird Parteien kennen oder sie wird keine Demokratie sein.
Das Dritte Reich Während die Artikel über die Weimarer Republik sich in nüchterner Sprache darum bemühen, sich an die Fakten zu halten, ist der Stil der Artikel, die das Wesen des Dritten Reiches zu analysieren versuchen, zumeist konfus und schwülstig. Die Analyse weicht dem Anathema, ein Beweis für das Unbehagen, das man einem Phänomen gegenüber empfindet, das man nicht so recht versteht. In „Die unerbittliche Gerechtigkeit" (Nr. 7) bedient sich der Verfasser einer etwas einfachen Psychologie, um Hitler und das Dritte Reich als Geschichte einer anhaltenden Niederlage zu erklären: Hitler erscheint so als der typische „Versager", der den leichtesten Weg wählt, um „ohne Schulprüfungen und Zeugnisse, ohne ehrliche Hand- oder Denkarbeit zu Ansehen und Reichtum" zu kommen. Die Arroganz des Verfassers schlechten Schülern gegenüber — zu denen er auch Hitler zählt — hat etwas Naives und zugleich peinlich Berührendes an sich. Als er schließlich feststellt, Hitler sei von einer wenig ehrbaren Clique in den Sattel gehoben worden, wirkt die übermäßige Verwendung abschätziger Begriffe gekünstelt und wenig überzeugend. Hinzu kommt, daß seine Darstellung vage bleibt: Gewissenlose Geldmacher, ich-süchtige Junker, ehrgeizige Offiziere, die nicht dienen, sondern herrschen wollten, hatten erkannt, daß Hitler als Massenbändiger eine ausgezeichnete Figur sei.
Diese Zeilen, die von Pathos geprägt sind, scheinen von einem billigen Opportunismus diktiert zu sein. Der Artikel „Revolution der Minderwertigen" in derselben Nummer macht Hitler zu einem verrückten Sektierer und erklärt das Dritte Reich mit einem explosionsartig auftretenden Irrationalismus. Das Dritte Reich verkörperte das Böse, es war die Umkehrung der Werte, auf die sich die westlichen Gesellschaftssysteme gründen. Auch hier ist der Ton bissig und pathetisch: Die Erfüller der Hitlerpolitik waren nichts anderes als nihilistische Auflöser aller abendländischen Werte, Träger der infamen Revolution der Minderwertigen.
„Nihilistisch" erinnert an H. Rauschning („Die Revolution des Nihilismus"), „minderwertig" an E. Jung („Die Herrschaft der Minderwertigen"); beide zusammen gehören mit „infam" zu einem demagogischen Vokabular, das auf eigenartige Weise an die Propaganda Goebbels' erinnert. Was die „abendländischen Werte" angeht, so werden sie als absolute, unantastbare Werte dargestellt, ohne daß der Verfasser auch nur einen Augenblick daran denkt, zu überprüfen, ob nicht auch sie durch das Dritte Reich aufs Spiel gesetzt worden sind. Dadurch, daß sie nur das Irrationale am Nationalsozialismus sahen, wurde den Verfassern dieser Artikel jeder Versuch einer rationalen Erklärung unmöglich 31
gemacht. Deshalb waren ihre politischen Analysen schwach. Überdies beschrieben sie die Realität des Dritten Reiches nur sehr unvollkommen. Es finden sich auch bessere Artikel im „ R u f " ; es handelt sich um solche, die bescheidener sind und sich damit begnügen, bestimmte Aspekte des Dritten i Reiches zu beschreiben, wie z.B. die Gleichschaltung der Presse unter Hitler oder die Konzentrationslager. In „Gleichgeschaltete Phantasie" (Nr. 6) entlarvt C. Vinz unter seinem Pseudonym Kurt Lauenstein die Praktiken der Reichskulturkammer. Er informiert die Kriegsgefangenen — die zu einem großen Teil nicht die geringste Ahnung von solchen Manipulationen haben konnten — darüber, daß die NSDAP den Zeitungen und Verlagen eine finanzielle Beteiligung aufoktroyierte, um sie zu kontrollieren und ihnen ihre Ideologie aufzudrängen. „Gefesselter Geist" schildert in derselben Nummer die Gleichschaltung der Universitäten. In Nr. 23 kommt der „ R u f " nochmals auf diese Themen zu sprechen, die ihm umso mehr am Herzen lagen, als die Mitglieder seiner Redaktion davon direkt betroffen gewesen waren. In „Deutsche Presse 1933—1945" zeigt er auf, wie das Propagandaministerium die Zeitungen zwang, seine Richtlinien zu befolgen, und jeden Journalisten, der die Existenz dieser geheimen Richtlinien enthüllte, mit dem Tode bedrohte. Der Artikel lieferte einige bezeichnende Beispiele für diese Art von Richtlinien: Es ist in jedem Artikel zu betonen, daß der Führer den Frieden will.
Das war vor 1938. Gegen Ende desselben Jahres erhielten die Zeitungen die entgegengesetzte Richtlinie: Das Wort Friede hat aus der deutschen Presse zu verschwinden.
Aufgrund ihrer informatorischen Qualität und der Nüchternheit ihres Stils vermochten diese Artikel viel besser als diejenigen, die vorgaben, das Dritte Reich in seiner Gesamtheit zu begreifen, die, Mechanismen der Hitlerdiktatur verständlich zu machen und den noch ungläubigen Gefangenen die Augen zu öffnen. Genauso offenbarten in „Todesfabrik Belsen" (Nr. 18) die Reaktionen der englischen Soldaten bei ihrer Ankunft im Lager Belsen, die Aussagen der Inhaftierten, die Rechtfertigungsversuche ihrer Peiniger („Wir haben nur Befehle ausgeführt") sowie einige Statistiken die Wirklichkeit der Konzentrationslager viel besser als eine lange Moralpredigt. Was in bezug auf die Konzentrationslager verwundert, ist die Tatsache, daß der „ R u f " nach der 6. Ausgabe kaum andere Artikel zu diesem Thema veröffentlicht hat. In Nr. 9 steht zwar ein kurzer Essay über den A n t i semitismus' (45), doch die Argumentation steckt voller Widersprüche, und der Verfasser legt überdies eine gewisse Herablassung den Juden gegenüber an den Tag. Der Antisemitismus wird dort zuerst als der Kernpunkt der nationalsozialistischen Doktrin bezeichnet, um dann nur noch als bloßes Propagandainstrument gesehen zu werden, das es Hitler ermöglichte, über seine wahren Absichten hinwegzutäuschen. Als der Verfasser hinsichtlich der .Ausrottung der Juden' erklärt: Nichts aber berechtigte zu gewaltsamen Lösungen oder überhaupt zu einer so grundsätzlichen Einstellung, zu einer so verantwortungslosen Diffamierung wie es in der NSPropaganda geschah. (45) Deutsche oder Juden. Überwindung des Antisemitismus, „Der R u f " (USA), Nr. 9, 15.7.45, S. 3.
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ist die Formulierung fragwürdig. Dieses „nichts aber" und der wiederholte Gebrauch von „ s o " sind Konzessionen an diejenigen, die glaubten, daß das Dritte Reich sicherlich zu weit gegangen sei, daß aber ein gewisser Antisemitismus unvermeidlich, ja notwendig sei. D a ß der Artikel, der den Antisemitismus gerade kritisieren wollte, so zwiespältig den Juden gegenüber war, offenbarte die ganze Konfusion, die im Juli 1945 noch herrschte. Die Artikelserie über das Dritte Reich macht zweierlei deutlich: es besteht kein Zweifel daran, daß die Redakteure des „ R u f " dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstanden, doch es fiel ihnen leichter, diese Ablehnung zu verkünden als zu erklären, was er als faschistische Ideologie verkörperte. Es findet sich im „ R u f " kaum eine klare politische Analyse über das Dritte Reich, und auch dann nur anläßlich einer Abhandlung über die Rolle des Mittelstands unter Hitler: „Der Mittelstand und die Diktatur" (Nr. 17). Dieser Artikel erinnert zunächst daran, daß die Reichstagswahlen bis zum Jahre 1933 beweisen, daß die nationalsozialistische Propaganda auf die Arbeiter keine Wirkung hatte, denn diese wußten, daß Diktaturen immer auf ihre Kosten Zustandekommen, daß sie Ausbeutung und letztlich Krieg und Elend bedeuten. Der Verfasser zeigt dann, daß der Mittelstand, der Hitler durch seine Stimmen half, an die Macht zu kommen, dafür zahlen mußte: Die Millionen Mittelständler mußten, genau wie der Arbeiter, die Aufrüstung und die Bürokratie mit der Senkung ihres Lebensstandards finanzieren. (. . .) Sämtliche Versprechungen des Faschismus an den Mittelstand, wie Schutz und Pflege des gewerblichen Mittelstandes, Warenhausfrage, Einheitspreisgeschäfte, Konsumvereine, ,Tausend-Mark-Grenze', und Brechung der Zinsknechtschaft, sind nicht eingehalten worden. M i t diesen Schlagworten wurde geschickt die Verantwortung für alle wirtschaftlichen Mißstände dem „raffenden" Leihkapital zugeschoben, und hinter dem Propagandanebel vollzog sich dann unbemerkt in brutalster Weise der A u f b a u einer Monopolherrschaft des Industriekapitals.
Die Argumentation gehört klar erkennbar in den Bereich der marxistischen Dialektik. Dies ist der einzige Artikel, der unter Berücksichtigung der Verteilung der politischen und wirtschaftlichen Macht aufzuzeigen versucht, wem das Dritte Reich nützte, und der sich nicht auf bloße Beschuldigungen beschränkt. Trotz des begrenzten Charakters der Artikel, die das Dritte Reich zum Gegenstand haben, kann man vermerken, daß der „ R u f " zu all den bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt versuchten Erklärungen zurückgegriffen hat: der Nationalsozialismus war eine Epidemie; der Nationalsozialismus war das Ergebnis der autoritären und kriegerischen deutschen Traditionen; der Nationalsozialismus war das Produkt der Widersprüche des deutschen Kapitalismus. Die beiden ersten Interpretationsversuche sehen im Nationalsozialismus im wesentlichen ein Massenphänomen und schlagen als Abhilfe eine Veränderung des menschlichen Bewußtseins vor: Dies ist der von G. R. Hocke und C. Vinz vertretene Standpunkt. Die dritte Interpretation macht den Nationalsozialismus zum Produkt von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Widersprüchen und schließt auf die Notwendigkeit von Strukturreformen: Dies ist die Position von H. W. Richter und W. Mannzen. Der „ R u f " versuchte zu erklären, was das Dritte Reich möglich gemacht hatte und aufzuzeigen, wem es Nutzen eingebracht hatte. Daher mußte er den Versuch 33
unternehmen, de Rolle und die Verantwortung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vor und während des Dritten Reiches genauer zu bestimmen. Die deutsche Verantwortlichkeit Kollektivschuld und deutscher Widerstand Wenngleich der „ R u f " hier und da darauf hinweist, daß die deutschen Industriellen und das Junkertum Hitler dabei behilflich waren, die Macht zu übernehmen, erwähnt er diese beiden Gruppen paradoxerweise nicht unter den Schuldigen. Die beiden einzigen wirklich Schuldigen, von denen der „ R u f " Rechenschaft verlangt, sind die Führer der N S D A P und die Mitglieder des Generalstabs der Wehrmacht. Der General von A r n i m erklärte als rangältester deutscher Offizier, der in den Vereinigten Staaten gefangengehalten wurde, daß „keiner von den in dem hiesigen Lager befindlichen Generalen und Offizieren von (den) Verbrechen (in den Konzentrationslagern) Kenntnis hatte, geschweige denn daran beteiligt war". Er verurteilte diese Verbrechen und schloß: Die deutsche Wehrmacht kann für solche Greueltaten (. . .) genau so wenig verantwortlich gemacht werden, wie die Allgemeinheit für die Taten einzelner. (46)
Diese Erklärung bildete für den „ R u f " den Anlaß, in seiner Eigenschaft als „Wortführer aller gefangenen deutschen Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten in den Vereinigten Staaten" zur Frage der Verantwortlichkeit der Wehrmachtsführung Stellung zu nehmen. Ohne die persönliche Integrität von Arnims in Zweifel zu ziehen, vertrat der „ R u f " die Ansicht, daß dessen Stellungnahme am Problem vorbeiging. Es mußte seiner Meinung nach zugegeben werden, daß der Generalstab bereits 1933 von der Existenz von Konzentrationslagern wußte, daß seine Mitglieder es jedoch vorzogen zu schweigen, da sie dies für ein außerhalb ihrer Kompetenz liegendes politisches Problem hielten. Dadurch hätten sie sich moralisch zu Komplizen der nationalsozialistischen Folterer gemacht. Dies abzustreiten liefe darauf hinaus, die gesamte Verantwortung dem ganzen deutschen Volk zuzuschieben, was der „ R u f " genau so wenig akzeptieren konnte wie die Tatsache, die Wehrmacht insgesamt zu verurteilen. Durch die Hervorhebung der Verantwortlichkeit der deutschen Militärführung wollte der „ R u f " vor allem das deutsche Volk als solches entlasten und sich gegen die These von der Kollektivschuld verwahren, die einen Teil der amerikanischen Öffentlichkeit dazu brachte, undifferenziert in allen Deutschen Nazis zu sehen. In einem Brief an den „ R u f " (Nr. 23) stellte Fritz Lindauer die Frage: „Sind wir alle Nazis?" Er berichtete von der Bitterkeit, die einige seiner Kameraden erfüllte, wenn sie feststellten, daß für fast alle amerikanischen Zeitungen ein deutscher Kriegsgefangener ein Nazi war. Er hob dann hervor, daß viele Kriegsgefangene vor 1933 einer Partei des linken Flügels oder der Mitte angehört hätten und daß die Notwendigkeit, ihre Familie zu ernähren, sie dazu gezwungen hätte, unter (46) V o n A r n i m erklärt, „Der R u f " ( U S A ) , Nr. 10, 1.8.45. S. 1.
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der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft zu schweigen. Er wies ebenfalls darauf hin, daß die Gefangenschaft vielen Soldaten die Augen geöffnet habe. Der „ R u f " betrachtete die These von der Kollektivschuld im wesentlichen aus drei Gründen als unhaltbar: — Sie entspricht nicht den üblichen Normen des Rechts, das das Prinzip kollektiver Verantwortlichkeit und Bestrafung ablehnt und nur Einzelfälle beurteilt (47). Sehr geschickt veröffentlichte der „ R u f " am 15. Juli 1945 in der Rubrik „Stimme der Vernunft" eine Erklärung des Präsidenten der Universität Chicago, R. M. Hutchins, für den die Annahme der These von der Kollektivschuld darauf hinauslief, die Deutschen als minderwertiges Volk zu betrachten, also der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus beizupflichten. — Sie ist moralisch nicht vertretbar. Anläßlich des Weihnachtsfestes schrieb der „ R u f " , daß diejenigen, die reinen Gewissens sind, nichts zu befürchten hätten, denn Gott beurteilt jeden einzelnen nur nach dem, was er getan hat. A u c h in diesem Bereich kann von Kollektivschuld keine Rede sein: die Moral ist Sache des einzelnen. (48) — sie läßt außer acht, daß in Deutschland eine Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus bestand. Dem „anderen Deutschland" widmete der „ R u f " eine regelmäßige Chronik. Was bedeutete nun dieser Begriff „Widerstand" für den „Ruf"? In Beantwortung der Frage: „Gab es keinen Widerstand?" erinnerte er bereits in Nr. 8 daran, daß es Deutsche waren, die als erste die Konzentrationslager füllten. D o c h er hielt sich nicht lange bei diesem Widerstand politischer Art auf. Er zog es vor, die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, was er „den heimlichen Widerstand der Anständigen" nannte, d.h. auf den Widerstand von Geistlichen, Universitätslehrern, Journalisten, die „die totalitäre Ideologie in verhüllter Form bekämpften". Ein Beispiel: Manchen wird es nicht entgangen sein, wie im Laufe der Jahre 37 bis 39 verschiedene große Zeitungen, vor allem die „Frankfurter Zeitung", die „Deutsche Allgemeine" und die „Kölnische Zeitung" sowie einige Bücherverlage ähnliche Themata behandelten, welche dem „Mythos des 20. Jahrhunderts" geschickt sehr klare und sehr entschiedene andere Werte entgegenhielten.
Es handelte sich also um ein Plädoyer „pro d o m o " : ein weiteres Mal fand man hier den Widerstand, den G. R. Hocke bei der „Kölnischen Zeitung" zu praktizieren geglaubt hatte. Für den Verfasser des Artikels ist es leicht, im nachhinein zu sagen, man hätte vernehmlicher gegen das Regime protestieren müssen, w o man doch in jedem Augenblick Kopf und Kragen riskierte. Es ging weniger darum, eine nachhaltige Wirkung zu erzielen, als vielmehr darum, bei einem Teil der Bevölkerung ein kritisches Bewußtsein zu bewahren. Der „ R u f " vertrat die Positionen der „inneren Emigration", ohne dieses Wort zu gebrauchen. A n anderer Stelle
(47) Bestrafung der Schuldigen, „Der R u f " (USA), Nr. 12,1.9.45, S. 5. (48) Christliche Weihnacht, „Der Ruf" ( U S A ) , Nr. 19,15.12.45, S. 1 - 2 .
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scheint der „ R u f " sich damit zufrieden zu geben, daß Millionen Deutsche den Nationalsozialismus ablehnten, nachdem sie die Wahrheit über die nationalsozialistischen Greueltaten erfahren haben (49). Dies war schon ein Fortschritt. Doch man kann auch der Ansicht sein, daß der „ R u f " es vielen Gefangenen zu leicht machte. Jeder konnte behaupten, daß er, selbst wenn er Hitler Beifall spendete oder für seine Partei stimmte, geistig doch Einschränkungen mache und seiner Doktrin nicht beipflichte. Der „ R u f " scheint hier die Kunst, Intentionen zu dirigieren, wiederentdeckt zu haben. Doch diese auf die Deutschen angewandte Kasuistik wäre kaum geeignet gewesen, die Amerikaner von der Existenz einer deutschen Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus zu überzeugen, wenn sie sich nicht aus besseren Quellen informiert hätten. Sie konnten denken, daß der „ R u f " dadurch, daß er das deutsche Volk entlastete, um nur seine Führer anzugreifen, gar zu schnell zu vergessen suchte. Der „ R u f " widmet Sophie und Hans Scholl sowie den Verschwörern des 20. Juli einen Artikel, doch auch ihre Aktion war vor allem von moralischem und symbolischem Wert. Der „ R u f " geht merkwürdig schnell über den aktiven Widerstand von Sozialdemokraten und Kommunisten im Untergrund hinweg. Vermutlich verfügte er nicht über ausreichende Informationen. Durch seine Ablehnung der These von der Kollektivschuld stellte der „ R u f " auch den Begriff der Umerziehung in Frage. Der Begriff selbst erscheint in Nr. 8 in einem Appell des Provost Marshai General an die Kriegsgefangenen zum ersten Mal: Every German Prisoner of War must therefore face a personal crisis. No longer living under the Threat of Terror, you must deal with your conscience. You must show that you are ready to re-educate yourself.
Wenn er so im Sinne einer Gewissensprüfung aufgefaßt wurde konnte der Begriff der Umerziehung den Redakteuren des „ R u f " akzeptabel erscheinen. Sie teilten die von Erich Kästner in der „Neuen Zeitung" zum Ausdruck gebrachte Meinung(50): man lehnt es ab, schuldig gesprochen zu werden, doch die zu zahlenden Schulden werden anerkannt. Nicht alle waren schuldig, aber jeder einzelne trug Verantwortung; das war der Grundsatz des „ R u f " (51), auch wenn die Analyse nicht so klar war wie diejenige von Karl Jaspers. Die Redakteure des „ R u f " mußten aber feststellen, daß der Begriff der Umerziehung damals bei den Amerikanern noch eng mit demjenigen der Kollektivschuld verbunden war: man erzieht nur diejenigen um, die sich eines Vergehens schuldig gemacht haben; wenn man die Deutschen umerziehen mußte, geschah dies dann nicht deshalb, weil sie sich alle etwas hatten zuschulden kommen lassen? (49) Bestrafung der Schuldigen, a.a.O. (50) Vgl. Erich Kästner, Die Schuld und die Schulden, N.Z., in „Der R u f " (USA), Nr. 25, 15.3.46. S. 3. (51) Vgl. Der tote Vogel / Stellungnahme zum nazistischen Hoheitsadler, „Der R u f " (USA), Nr. 16,1.11.45. S. 8.
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Diese Meinung erschien dem „ R u f " umso absurder, als seiner Ansicht nach die Amerikaner doch am besten wissen mußten, daß nicht alle Deutschen Nazis gewesen waren. Sollten nicht vorzugsweise am Umerziehungsprogramm diejenigen beteiligt werden, die sich während des Dritten Reichs nicht zu Hitler bekannt hatten? In einer Rede in Fort Getty(52) erklärte ein Kriegsgefangener: Wir, die wir uns als Gegner des früheren deutschen Regimes und seiner Morallehren erwiesen hatten, wir sollten nun umerzogen werden!
Das war absurd; deshalb konnten Amerikaner und Deutsche nur schwer einig werden. Die Redakteure des „ R u f " in den Vereinigten Staaten, bis auf vielleicht H. W. Richter, waren sich darüber im klaren, daß sie, auch wenn sie den Nationalsozialismus bekämpft hatten, ihren Anteil an der Verantwortung für das Geschehene hatten: Der Nationalsozialismus hatte Deutschland zu stark geprägt, als daß auch nur ein einziger sich den Konsequenzen der Katastrophe entziehen könne. In dem Roman, den Walter Kolbenhoff 1946 in amerikanischen Lagern schrieb, läßt er eine seiner Figuren sagen: Wir haben Verantwortung für alle, verstehst du? (53)
Die Redakteure des „ R u f " wollten, daß sich die Amerikaner nach dem richteten, was der Hauptanklagevertreter Oberrichter Jackson anläßlich der Eröffnung der Nürnberger Prozesse gesagt hatte: Wir wollen klarstellen, daß wir nicht beabsichtigen, das ganze deutsche Volk zu beschuldigen. Wir wissen, daß die Nazipartei nicht auf Grund einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen zur Macht kam. (54)
Der Wiederaufbau Deutschlands Materiell: Mehrere Artikel befassen sich mit dem Wiederaufbau der Städte. Gert Reichenfels schlägt zum Beispiel vor, aus Trümmern Häuser zu bauen (55). Eine Zeichnung veranschaulicht seinen Plan: Ein Haus für eine Familie aus zwei zerstörten Gebäuden! Ganz gewiß konnte Deutschland nicht auf diese Weise das Wohnungsproblem zu lösen hoffen. Doch dieser Vorschlag, der heutzutage ein Lächeln hervorruft, zeigt wie sehr sich die Gefangenen über die Zukunft ihres Landes Gedanken machten. Zwei andere Artikel sprechen sich für den Bau von Wohnblocks außerhalb der Städte aus und wollen mit der traditionellen Bebauung längs der Straße brechen(56). In Ansätzen findet man hier, was die Nachkriegsarchitektur später in die Tat umsetzen sollte. (52) Gedruckt unter dem Titel „Freiheit hinter Stacheldraht" in „Der R u f " (USA), Nr. 18, 1.12.45, S. 1 - 2 . (53) Walter Kolbenhoff, „Von unserem Fleisch und Blut", Stockholm und München, 1946/1947. (54) Zitiert nach E. Kästner, Die Schuld und die Schulden, a.a.O. (55) Vorschläge für den Wiederaufbau, Häuser aus Schutt, „Der R u f " (USA), Nr. 5,15.5.45, S. 5. (56) Cf. Neue Städte (Nr. 9), Anregungen zum Städtebau (Nr. 17) mit zwei Graphiken: Lageskizze für den Städtebau und Wohnblock für Großstädte.
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Geistig: Die ersten Nummern des „Ruf" sind eindeutig christlich orientiert. Der Leitartikel in Nr. 3 stellt das Christentum und die tausendjährigen Traditionen des Abendlandes als die einzigen sicheren Werte inmitten des Chaos dar (57), während Nr. 4 gar dazu aufruft, die abendländischen Werte zu retten: Freiheit des einzelnen, Freiheit des Denkens, die Familie als kleinste Einheit des Staates(58). Auf der ersten Seite von Nr. 7 zeigt ein Photo eines der Portale der Kathedrale von Reims, nämlich das Portal des Jüngsten Gerichts. Nr. 8 appelliert indirekt an das Gebet als Zeichen der Buße: der Text unter einem Photo, das das Lesen einer Messe in einem Kriegsgefangenenlager zeigt, besagt, daß durch die hinter ihnen liegenden Prüfungen des Schicksals viele Gefangene zur Religion, zur Erforschung ihres Inneren und zum Gebet gebracht worden seien. Manche Redakteure des „ R u f " vertraten, ein wenig summarisch, die Ansicht, daß die Rückkehr zu den Werten, die das Dritte Reich hatte zerstören wollen — hatte es nicht versucht, Deutschland zu dechristianisieren? —, die beste Art und Weise sei, Deutschland seinen nazistischen Dämonen zu entreißen. Für andere, darunter W. Mannzen und H. W. Richter, hieß dies, die Restauration des alten Deutschland zu fördern, eines Deutschlands, das nicht verstanden hatte, Hitler Widerstand zu leisten. Die Hinweise auf das Christentum erscheinen nach der 8. Ausgabe nur noch sehr selten, wenn man von der Weihnachtsausgabe absieht. Politisch und wirtschaftlich: Die Interpretation des Nationalsozialismus implizierte, wie oben erwähnt, eine gewisse Vorstellung von der politischen Umgestaltung Deutschlands. Doch in der Atmosphäre einer überwachten Freiheit, in der die Redaktion des „Ruf" lebte, konnte sie nicht glauben, daß sie wirklich dazu berufen war, ein echtes politisches Programm für den Wiederaufbau Deutschlands zu formulieren. Deshalb blieben ihre Beiträge auf diesem Gebiet nur sehr allgemeiner Natur. Im Zusammenhang mit der Weimarer Republik ist festgestellt worden, daß die allgemeine Tendenz des „Ruf" darin bestand, wieder an die Traditionen der ersten deutschen Republik anzuknüpfen, diese jedoch gleichzeitig zu korrigieren und anzupassen. Was die Parteien angeht, so schien man entschlossen, sich mit ihnen abzufinden. In „Parteien in Deutschland" (Nr. 19) beschreibt der „Ruf" die Aktivitäten der in der sowjetischen Besatzungszone zugelassenen Parteien und begrüßt die Absicht der amerikanischen und englischen Behörden, das auf den Parteien in ihren eigenen Besatzungszonen lastende Verbot demnächst aufzuheben. Was sich im Osten vollzieht, scheint ihm sogar Grund zu der Hoffnung zu geben, daß die alten Parteien der Weimarer Zeit nicht einfach wiederhergestellt werden. Genauso sprach sich der „ R u f " in Nr. 6 für organisierte Gewerkschaften nach dem Weimarer Vorbild aus, allerdings in revidierter Form: es sei erforderlich, die Tarifautonomie der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände zu garantieren(59). (57) Die produktiven Kräfte, „Der Ruf" (USA), Nr. 3,15.4.45, S. 1. (58) Die Rettung des Abendlandes, „Der Ruf" (USA), Nr. 4,1.5.45, S. 1. (59) Freie deutsche Gewerkschaften / Keimzellen der zweiten Republik, „Der Ruf" (USA), Nr. 6,1.6.45, S. 4.
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Zu wirtschaftlichen Fragen nimmt der „Ruf" keine Stellung. Die Rubrik „Ideen zur Nachkriegswelt" dient ihm dazu, Fachbücher sehr verschiedener Tendenzen zu kommentieren. Die Rezension des Buches von F. A. Hayek, „The Road to Seifdom" (60) gibt ihm Gelegenheit, sich gegen die Planwirtschaft zu wenden, da diese nur zu einer Knechtung der Menschen führen kann. Doch drei Nummern später stellt der „Ruf" dieser Rezension Professor Laski von der englischen Labourpartei gegenüber, der sich für eine Wirtschaftsplanung nach sozialistischem Muster ausspricht. In seiner vorletzten Nummer veröffentlicht er einen langen Artikel über die verschiedenen bestehenden bzw. möglichen Wirtschaftssysteme, wobei er jedoch bemerkt, daß es nur darum gehe, das Problem aufzuwerfen und Diskussionspunkte zu liefern(61). Nur für zwei Punkte glaubt der „Ruf" sich einsetzen zu können: der Morgenthau-Plan ist unsinnig(62), und Deutschland muß seine Wirtschaft durch die Wiederherstellung seiner alten Handelsbeziehungen zu den anderen Ländern der Erde wieder an die Weltwirtschaft anpassen(63). Die Vorsicht bei der Behandlung der Themen, das Bemühen, ein und dasselbe Problem unter verschiedenen Blickwinkeln zu sehen, die Weigerung, heikle Themen anzuschneiden, all diese verschiedenen Aspekte des „ R u f " zeigen deutlich, daß der „Ruf" sich hauptsächlich als Organ verstand, das eine propädeutische Einführung für die Diskussion unter amerikanischer Ägide liefern wollte. Dieselben Ziele wurden allerdings von beiden Seiten aus einer anderen Perspektive betrachtet. Für die Amerikaner war der „Ruf" ein Umerziehungsinstrument, das es ihnen ermöglichte, sich bestimmter Aufgaben zu entledigen, die sie durch Deutsche wirkungsvoller ausführen ließen. Für die deutschen Gefangenen, die auf ihre Unabhängigkeit pochten, war dies die Gelegenheit, sich freier als während des Dritten Reiches zu äußern und gleichzeitig über die Zukunft ihres Landes nachzudenken. Wenn man gewissen Erzählungen Glauben schenken kann, dann hat die Redaktion der letzten Nummern des „Ruf" zu manchen Streitigkeiten zwischen Amerikanern und Deutschen Anlaß gegeben; das Ende des „Ruf" wäre demnach nicht rühmlich gewesen.
1.6 Das Ende des Ruf in den Vereinigten Staaten Hans Schwab-Felisch berichtet, daß W. Mannzen, der damals G. R. Hocke als Chefredakteur abgelöst hatte, und H. W. Richter Ende 1945 mit ihren „amerikanischen Gegnern" in Konflikt gerieten, und er fährt fort: Es gab mehrere Streitpunkte. Zunächst die Kollektivschuld, die von Mannzen und Richter nicht aus nationalistischen Gründen abgelehnt wurde, sondern aus Sorge um die politische (60) (61) (62) (63)
Freiheit oder Knechtschaft, „Der Ruf" (USA), Nr. 9,15.7.45, S. 2. Wirtschaftsordnungen, „Der Ruf" (USA), Nr. 25,15.3.46, S. 3. Unterschiedslose Bestrafung oder Aufbau?, „Der Ruf" (USA), Nr. 8,1.7.45, S. 2. Weltwirtschaft als Aufgabe, „Der Ruf" (USA), Nr. 10,1.8.45, S. 1.
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Z u k u n f t Deutschlands. Ferner forderten sie statt des Nürnberger Prozesses der Alliierten revolutionäre deutsche Gerichte. Endlich wandten sie sich gegen die Zwangsverschickung deutscher Kriegsgefangener in französische und britische Arbeitslager und gegen eine Methode der Umerziehung, die allein von der These der Kollektivschuld ausging und den deutschen Widerstand gegen Hitler nicht anerkannte. (64)
In „Geist und Kultur der deutschen Kriegsgefangenen im Westen" (65) macht Kurt W. Böhme darauf aufmerksam, daß man keinerlei Spuren dieser Meinungsverschiedenheiten im „ R u f " findet, und daß „die Gründe dafür auf der Hand liegen". V. C. Wehdeking berichtet unter Berufung auf Äußerungen H. W. Richters, daß Richter und Mannzen in Fort Kearney die politische Linie Roosevelts gegen W. Schönstedt verteidigten, der seinerseits die konservative Politik der amerikanischen Militärregierung in Deutschland billigte. Ein Artikel H. W. Richters gegen die These der Kollektivschuld sei nicht in der Zeitung erschienen(66). Ursprünglich für die Nr. 18vom 1.12.45 vorgesehen, sei er durch einen nichtsignierten Artikel mit dem Titel: „Die Anklage" ersetzt worden, der seinerseits diese These vertrat (67). Die verschiedenen Hinweise könnten glauben machen, daß H. W. Richter der erste, wenn nicht der einzige war, der sich den Amerikanern wegen der Frage der Kollektivschuld entgegenstellte. Nun ist aber festgestellt worden, daß dies von Anfang bis Ende eine Konstante im Verhalten des „ R u f " war und daß die ersten Stellungnahmen gegen diese These sich bereits in den Nummern 9 und 10, die letzten in den Nummern 18,19 und 23 finden — dann allerdings nur noch in Artikeln zu anderen Themen. Überdies übernimmt der unter dem Namen Fr. Antel, Camp Butner, erschienene Artikel: „Die Anklage" keineswegs diese These, welche er indirekt verwirft. Fr. Antel stellt fest, daß die Alliierten nicht nur effektiv als Sieger die Macht in Händen haben, sondern daß sie auch moralisch legitimiert sind, den Nürnberger Gerichtshof einzusetzen: es sei klar, daß Deutschland den Krieg angefangen habe. Dabei geht es nicht darum, über das ganze deutsche Volk, sondern vor allem über die NSDAP und ihre Führer zu richten. Fr. Antel stellt dar, daß die Anklage, um verurteilen zu können, es sich schuldig sei, in jedem einzelnen Fall und für jede Person den Beweis ihrer Verbrechen zu erbringen. Bei seinem Abschied vom ,,Ruf"(68) erinnert W. Schönstedt daran, daß die amerikanischen Dienststellen die Redakteure der Zeitung nie gezwungen hätten, das „ganze deutsche Volk zu tadeln". (64) In „Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift." dtv-Dokumente, München 1962. Hrsg. von Hans Schwab-Felisch, mit einem Geleitwort von Hans Werner Richter. S. 11. (65) Kurt W. Böhme, „Geist und Kultur der deutschen Kriegsgefangenen im Westen", Bd. X I V der Reihe „Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs", hrsg. von der wissenschaftlichen Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte, München 1968. S. 18. (66) V. C. Wehdeking, „Der N u l l p u n k t " , a.a.O., S. 19. (67) Ibid., Anmerkungen 48 u. 50, S. 149. (68) Goodbye t o „Der R u f " von Capt. W. Schönstedt, „Der R u f " (USA), Nr. 26,1.4.46, S. 1.
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Was die Zwangsverschickung deutscher Kriegsgefangener in französische oder englische Arbeitslager angeht, so spielt H. Schwab-Felisch auf eine heikle Frage an, die seinerzeit die Kriegsgefangenen in den Vereinigten Staaten beunruhigte. Ein solches Gerücht lief zwar im Sommer 1945 in den amerikanischen Lagern um, tatsächlich jedoch war nicht von den Kriegsgefangenen in den Vereinigten Staaten, sondern von denjenigen die Rede, für die die Vereinigten Staaten auf französischem Boden die Verantwortung trugen (69). H. W. Richter und W. Mannzen sollen sich auch für ein unabhängiges sozialistisches Europa und gegen eine Teilung Deutschlands ausgesprochen haben. H. W. Richter spielt hier auf einen Artikel an, den er zuerst in der „Lagerstimme" / Camp Ellis veröffentlichte und den der „ R u f " in Nr. 12 übernahm: „Ost und West / Die ausgleichende Aufgabe Mitteleuropas". H. W. Richter verhehlt in diesem Artikel nicht seine Bewunderung für die U d S S R . Er wirft denjenigen vor, die in der Sowjetunion nur auf die „Schauprozesse" blicken, die großen Leistungen dieses Landes nicht berücksichtigen zu wollen. Er sieht in diesem Antikommunismus den Stempel der nationalsozialistischen Propaganda. Dann greift er diejenigen an, die auf einen Bruch zwischen dem Osten und dem Westen spekulieren, denn dieser Bruch würde bedeuten, daß Deutschland zwischen diesen beiden Polen hin- und hergerissen würde. U m zu überleben, muß Deutschland aufgrund seiner Lage zwischen Ost und West, zwischen Sozialismus und Demokratie, in Riesen beiden Tendenzen das Einigende, nicht das Trennende suchen. Der engagierte T o n des Artikels war im „ R u f " neu, doch der Inhalt selbst hatte nichts Neues an sich. Der Leitartikel in Nr. 9, „Ausgleich zwischen West und O s t " , hatte bereits ähnliche Gedanken entwickelt: Spekulationen auf eine zukünftige Auseinandersetzung zwischen Angelsachsen und Russen sind mit Selbstmordgedanken gleichzusetzen.
Deshalb erscheint es als wenig wahrscheinlich, daß die Amerikaner unter dem Vorwand, die amerikanische Verfassung könne Demokratie und Sozialismus nicht miteinander vereinbaren (70), Diskussionen dieser Art mißbilligt hätte. Man kann vielmehr in der Tatsache, daß der „ R u f " von sich aus beschlossen hatte, diesen Artikel von H. W. Richter der Reflexion seiner Leser anheimzustellen — H. W. Richter gehörte zu jenem Zeitpunkt der Redaktion nicht an —, den Beweis dafür zu sehen, daß die Amerikaner nichts dagegen einzuwenden hatten. Damals, im Jahre 1945, vermieden sie im übrigen beharrlich alles, was ihr Bündnis mit der U d S S R aufs Spiel setzen konnte. Der „ R u f " stellte sein Erscheinen nach der Nr. 26 vom 1. April 1946 ein. Die letzten deutschen Kriegsgefangenen in den U S A wurden im Laufe des Monats Juni in die Heimat entlassen. H. W. Richter berichtet, daß zu dem Zeitpunkt, als der „ R u f " aufhörte, zu existieren, noch etwa 85.000 deutsche Kriegsgefangene in den Vereinigten Staaten lebten, daß die Amerikaner es jedoch vorgezogen hätten, die
(69) Cf. McCracken, a.a.O., S. 76. (70) Nach der Darstellung von V . C. Wehdeking in „Der Nullpunkt", a.a.O., S. 19.
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Redaktion vorzeitig aufzulösen, da sie von der Zeitung genug gehabt h ä t t e n ( 7 1 ) . W. Mannzen m e i n t seinerseits, daß der „ R u f " im April sein Erscheinen eingestellt habe, da er früher oder später doch keine Existenzberechtigung mehr gehabt hätte(72). Die Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen in die Heimat hatte in den Vereinigten Staaten bereits Ende 1 9 4 5 begonnen. Sie wurde — wie nachstehende Zahlen zeigen — in den ersten Monaten des Jahres 1 9 4 6 rasch beschleunigt: Zahl der deutschen Gefangenen in den USA (73) Ende Ende Ende Ende Ende Ende
Januar: Februar: März: April: Mai: Juni:
275.078 208.403 140.572 84.177 37.460 141
H . W . Richter und W. Mannzen w u r d e n im A p r i l 1 9 4 6 in die H e i m a t entlassen, und man kann annehmen, daß H . W, Richter, der seit Dezember 1 9 4 3 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft war, keinerlei Lust verspürte, den Z e i t p u n k t seiner Rückkehr nach Deutschland aufzuschieben. Bei der Gestaltung der N u m mer 2 5 v o m 15. März mußte man bereits auf in anderen Zeitungen veröffentlichte A r t i k e l zurückgreifen („Ausgleich zwischen Stadt und Land", S. 2., aus der „ R h e i n Neckar Zeitung", „Die Schuld und die Schulden", S. 3 , aus der „ N e u e n Z e i t u n g " , „Lenkung des Arbeitseinsatzes", S. 5, aus der „ F r a n k f u r t e r Rundschau", usw.). N u m m e r 26 bestand zu einem großen Teil aus A r t i k e l n , die Redakteure lange Zeit vor ihrer Abreise vorbereitet hatten, wie z u m Beispiel „Das freie B u c h " von C. Vinz. In einem Interview mit der Zeitung „ M i t t a g " aus Anlaß der Entgegennahme des Schickele-Preises im Jahre 1952 bezeichnete H. W. Richter rückblickend den „ R u f " als Zeitung, die zwar „deutschsprachig, aber anti-deutsch" gewesen sei(74). Als er im Jahre 1 9 6 9 nach dem Sinn dieser Kritik gefragt wurde, präzisierte er, daß der „ R u f " in den Vereinigten Staaten anti-deutsch gewesen sei, weil er sich die These von der Kollektivschuld z u eigen gemacht habe. (75) Es ist bereits oben dargestellt worden, wie es sich damit verhielt. Der Eindruck soll nicht erweckt werden, als habe zwischen Amerikanern und Deutschen in F o r t Kearney eine Harmonie bestanden, die es nicht geben konnte. In einem Brief vom 16. Januar 1 9 4 6 dankt W. Schönstedt G. R. Hocke für die als Chefredakteur des „ R u f " geleistete Arbeit und spielt auf die Schwierigkeiten an, die er „aufgrund der durch extremere Positionen hervorgerufenen V e r w i r r u n g " (71) H. W. Richter im Gespräch mit dem Verfasser in München arn 1.9.1969. (72) Walter Mannzen im Gespräch mit dem Verfasser in Kiel am 23.5.1967. (73) Cf. George G. Lewis und John Mewha, History of Prisoner of War. . ., a.a.O. Die 141 im Juni noch festgehaltenen Kriegsgefangenen verbüßten Gefängnisstrafen. (74) Cf. Der Schickele-Preis in „Mittag", 3.3.1952. (75) H. W. Richter im Gespräch mit dem Verfasser in München am 1.9.1969 42
nach dessen Abreise habe meistern müssen(76). Doch es hatte schon immer Diskussionen und Konflikte zwischen der Redaktion des „Ruf" und ihren amerikanischen Zensoren gegeben. Hatten sie mit W. Mannzen und H. W. Richter solche Ausmaße angenommen, daß man von Opposition sprach? Zweifellos war die Situation der Redaktion des „Ruf" kaum auf lange Sicht haltbar: die Freiheit, die sie genoß, konnte ihr auf die Dauer nicht verbergen, daß sie sich nur innerhalb eines begrenzten und von anderen vorgegebenen Rahmen frei äußern konnte. Die Illusion von Freiheit mag am Anfang gewisse latente Konflikte verdeckt haben, die ein verstärktes Bewußtsein später offen zutage brachte und — als Reaktion darauf — verschlimmerte. Doch dies machte den „Ruf" noch nicht zu einem „anti-deutschen" Organ. Muß man am Ende die Erklärung für die Haltung H. W. Richters dem „Ruf" gegenüber in einem Phänomen suchen, das man „einen Kollaborationskomplex" nennen könnte, der ihn übrigens nicht alleine betraf? Ein Kollaborationskomplex? H. W. Richter war nicht der einzige, der den „Ruf" für anti-deutsch hielt und er hat, was ihn angeht, später immer darauf bestanden, daß er praktisch gegen seinen Willen nach Fort Kearney geschickt worden ist: als man ihn zur Mitarbeit am „Ruf" aufgefordert habe, habe er sich dem durch den Hinweis, er sei Kommunist gewesen, zu entziehen versucht; es habe zu seinem Mißfallen die entgegengesetzte Wirkung gehabt, da die Amerikaner damals Leute wie ihn gesucht hätten (77). Auch Karl J. Arndt, Professor an der Clark University in Worcester (Massachusetts), der in Amerika geboren wurde, jedoch preußischer Abstammung war, griff viele Jahre später den „Ruf" als Organ einer falsch verstandenen Umerziehungspolitik heftig an. (78) K. J. Arndt schreibt: „ . . . Die Lagerzeitungen der deutschen Kriegsgefangenen hatten vor der Umerziehung ein höheres Nievau, rein kulturell gesehen, als nach der Gründung des „Rufs", wo sie darauf herabsanken, großenteils ein Abklatsch der zwei zentral gesteuerten nationalen Zeitungen „Der Ruf" und „Die Auslese"*) zu werden." Viele hätten dann begonnen, Artikel abzudrucken, welche diese ihnen lieferten. K. J. Arndt weist darauf hin, daß er die Archive der Militärpolizei zu (76) Schreiben von Januar 1946 von Walter Schönstedt an G. R. Hocke, Privatarchiv von G. R. Hocke. (77) Laut „Mittag" / Der Schickele-Preis, a.a.O. (78) In Vortrag von K. J. Arndt (Clark University, Worcester, Massachusetts) „Deutsche Lagerzeitungen in Amerika", 1965. Der Wortlaut dieses Vortrags wurde dem Verfasser durch die Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte (München) zur Verfügung gestellt. Siehe auch K. W. Böhme, „Geist und Kultur der deutschen Kriegsgefangenen im Westen", a.a.O., S. 60—61. (*) Es handelte sich hierbei um eine Zeitung, die — wie der „Ruf" — halbmonatlich erschien und deren Aufgabe es war, die interessantesten Artikel aus den Zeitungen der verschiedenen Lager in den Vereinigten Staaten abzudrucken. Nummer 1 erschien am 21.7.45 in einer Auflage von 2000 Exemplaren.
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Rate gezogen habe und daß er deshalb in der Lage sei zu behaupten, daß der „ R u f " keineswegs eine so günstige Aufnahme gefunden habe: Eine Lagerzeitung schreibt ganz offen, daß „Der Ruf" das Werk von Feinden Deutschlands ist und daß es verräterisch sei, sie zu lesen. In manchen Lagern ließ man die Zeitung einfach liegen, in anderen wurde sie verbrannt, in anderen wurden diejenigen fast verprügelt, die den „Ruf" lasen.
Nebenbei sei bemerkt, daß der Ruf „nicht" verhehlt hat, daß ihm nicht immer eine günstige Aufnahme beschieden war, insbesondere am Anfang. K . J. Arndt fährt fort: In jedem Fall wurde das Verhalten genau an die Fabrik (Fort Kearney, vormals Fort Van Etten) gemeldet. Dort wurde dann natürlich dafür gesorgt, daß die Opposition in andere Lager versetzt wurde. So entstanden die gestuften Lager. Obenan die „Ideenfabrik" — hier wurde eine Elite umerzogen und für den Verwaltungs- und Polizeidienst in Deutschland ausgebildet.
Diese Kritik ist scharf formuliert: die Amerikaner seien nur bestrebt gewesen, eine Armee von gemeinen Kollaborateuren heranzubilden, um der Militärregierung in Deutschland die Arbeit zu erleichtern. Caspar Schrenck-Notzing hat in „Charakterwäsche" dieselben Themen wieder aufgenommen und von einer „Elite der Lager" gesprochen, deren Aufgabe darin bestanden habe, Deutschland zu amerikanisieren (79). Waren die Redakteure des „Ruf" Kollaborateure, Männer vom Schlage eines Quisling? Es besteht kein Zweifel daran, daß die „Ruf"-Redakteure, von denen einige im August 1946 in München eine Zeitschrift gleichen Namens ins Leben rufen sollten, in den Vereinigten Staaten eine Ausbildung erhielten, die es ihnen ermöglichen sollte, der amerikanischen Militärregierung bei ihren Aufgaben behilflich zu sein. Es ist ohne Belang, ob sie ihre Tätigkeit in Fort Kearney so oder anders verstanden: nicht um ihre Absichten geht es hier, sondern um ihre objektive Situation. C. Vinz verließ die Vereinigten Staaten mit einem Zeugnis, das ihn als „Herausgeber der Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den U S A " bezeichnete. Am Ende seines Aufenthaltes in Fort Getty erhielt A. Andersch ein Zeugnis, in dem er als „a selected Citizen of Germany" bezeichnet wurde. Bei ihrem Rücktransport in die Heimat erinnerten die Amerikaner die Gefangenen im Durchgangslager Bolbec daran, daß „sie moralisch dazu verpflichtet (seien), ihre Schuld den Vereinigten Staaten gegenüber durch ihre Zusammenarbeit mit den Besatzungsmächten und eine aktive Beteiligung am Aufbau eines demokratischen Deutschlands zu begleichen". (80) Doch es wäre verfehlt, wollte man die Bedeutung dieser „Zeugnisse" und die Wirkung eines sogenannten Umerziehungsprogramms überschätzen. Eine solche Wirkung ist weder meßbar noch quantifizierbar, und überdies funktionierte die (79) Caspar Schrenck-Notzing, „Charakterwäsche", Die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen, Stuttgart 1965. Vgl. insbesondere „Die Camp-Elite", S. 230sq. (80) McCracken, a.a.O., S. 121.
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amerikanische Bürokratie nicht einwandfrei. Der McCracken-Report berichtet, daß die amerikanischen Dienststellen in Deutschland sehr oft nicht einmal wußten, welcher Wert diesen Zeugnissen beizumessen sei, denn sie hatten keinerlei Kenntnis von dem Umerziehungsprogramm für die deutschen Kriegsgefangenen in den Vereinigten Staaten. Darüberhinaus muß berücksichtigt werden, daß alle Teilnehmer am Umerziehungsprogramm Freiwillige waren — wenngleich die Tatsache, daß sie zuvor einer strengen Auslese unterworfen worden waren, die Bedeutung dieser Wahl mindert. Mit Sicherheit gab es unter diesen Freiwilligen Opportunisten oder auch einfach Gefangene, die auf dem Wege über die Umerziehung früher nach Deutschland zurückkehren wollten: es scheint, als sei dies eines der ausschlaggebenden Argumente für A . Andersch gewesen, als er sich als Freiwilliger für Fort Getty meldete. D o c h jenseits all dieser Fragen bleibt die Tatsache, daß die Teilnehmer der Kurse von Fort Kearney oder Fort Getty den Eindruck hatten, von ihren Erziehern als vollwertige Partner angesehen zu werden, daß sie nicht den Eindruck hatten, Kollaborateure zu sein. A . Andersch weist darauf hin, daß er sich in Fort Getty wie ein Austauschstudent in den Vereinigten Staaten vorkam(81). Heute besteht der Kollaborationskomplex dieser gefangen gehaltenen Studienteilnehmer darin, nicht zuzugeben, daß sie in ihren Lagern Fort Kearney bzw. Fort Getty in den Genuß von, wie es im McCracken-Report heißt, „kleinen Vorteilen" kamen, die in den anderen Lagern unbekannt waren; so zum Beispiel eine weniger strenge Rationierung des Tabaks. Diese „Sondergefangenen" konnten auch bei ihrer Rückkehr in die Heimat mehr Dinge mitnehmen als die anderen: Bücher, Radio, persönliche Manuskripte, etc. Manchmal wurden sie auch getrennt von den großen Gefangenenkontingenten in die Heimat zurücktransportiert, wodurch ihnen eine weniger stürmische Überfahrt des Atlantiks garantiert wurde. G. Bermann-Fischer hat die Atmosphäre in Kearney folgendermaßen beschrieben: Diese im Lager Fort Kearney lebenden Deutschen stellten eine Auslese dar. Sie nahmen an Gastvorlesungen, die von der benachbarten Universität geleitet wurden, teil, besaßen auch eine eigens für sie zusammengestellte, umfangreiche Bibliothek und hatten eine frei gewählte Selbstverwaltung. Ihre Freiheit ging so weit, daß sie sogar zu den Schlüsseln des Lagertors Zugang hatten: man gewann fast den Eindruck, sich in einem Feriencamp für Studenten zu befinden.(82)
Die Doppelsinnigkeit des amerikanischen Liberalismus bleibt, doch wenn man — wie K. J. Arndt und C. Schrenck-Notzing — die Redakteure des „ R u f " als die Elite der amerikanischen Lager bezeichnet, die Deutschland amerikanisieren sollte, dann entspringt dies engstirnigem Nationalismus. Dies erscheint umso absurder, als der „ R u f " sehr oft patriotische Akzente aufwies und an die überlieferten Werte Deutschlands wieder anknüpfen wollte. (81) Vgl. A. Andersch laut V . C. Wehdeking in „Der Nullpunkt", a.a.O., S. 2 4 - 2 5 . (82) Gottfried Bermann-Fischer, „Bedroht — bewahrt". Der Weg eines Verlegers, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1967, S. 241.
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Daß H. W. Richter den „ R u f " als anti-deutsch einstuft und sich so - gewollt oder ungewollt — auf die Seite der nationalistischen Verleumder des amerikanischen Umerziehungsprogramms stellt, bleibt paradox. Hat er in seinem Roman „Die Geschlagenen" nicht selbst erklärt, daß er in den Vereinigten Staaten trotz der Gefangenschaft eher das Gefühl hatte, frei zu sein, als während des Dritten Reiches? 3 0 Jahre später erinnert sich aber H. W. Richter immer noch an den Tag im April 1946, an dem er die Vereinigten Staaten verließ, um die Fahrt in die Heimat auf einem Victory-Schiff anzutreten, wie folgt: Ich marschierte in einer riesigen Kolonne von Kriegsgefangenen, gebeugt unter der Last meiner Lagereinkäufe — einen Seesack auf dem Rücken, zwei schwere Taschen in den Händen — die Nase fast auf dem Asphalt, unter dem Gelächter der Passanten, durch New York zum Hafen hinunter. A n jenem Abend haßte ich das von mir vorher so bewunderte Amerika.
Damals habe er sich nach mehr als zwei Jahren Kriegsgefangenschaft vorgenommen, „in strikter Opposition gegenüber den politischen und pädagogischen Fehlern der Besatzungsmächte zu stehen, die Kritik als demokratische Waffe einzusetzen und sich zu einer radikalen Auslegung der Demokratie zu bekennen, die in ihrem Freiheitsverlangen bis zum krassesten Individualismus ging"(83). Die Empfindlichkeit H. W. Richters gegenüber Spott und Hochmut der Sieger läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß er sich vor allem als Deutscher fühlte, den keine Schuld traf. Das Gefühl, nicht schuldig gesprochen werden zu dürfen, erweckte bei ihm den Eindruck, daß auch er zu den Siegern gehörte. Er mußte aber begreifen, daß er zu den Verlierern gehörte in dem Augenblick, als „er gegen seinen Willen als Redakteur einer Zeitung vorgesehen wurde, deren Tendenz er ablehnte". S o drang bei ihm damals die Erkenntnis durch, daß „er wiederum einem diktatorischen Apparat ausgesetzt war, dessen Anordnungen er sich zu beugen hatte". (84) Bewunderung und Haß kennzeichnen die Haltung H. W. Richters zu den Vereinigten Staaten. Seine Bewunderung teilten viele unter den Kriegsgefangenen, die wie er in Sonderlagern an dem amerikanischen Umerziehungsprogramm mitgewirkt hatten. Mit seinem Haß steht er dagegen ziemlich alleine da: weder W. Mannzen, noch W. Kolbenhoff oder A . Andersch kehrten so haßerfüllt nach Deutschland zurück. Diese Haltung mag u.a. eine Ursache für das Mißverständnis sein, von dem auch der Münchener „ R u f " betroffen sein sollte. Nach Meinung seiner ehemaligen Redakteure hatte der „ R u f " bei den Großen der amerikanischen Presse, die ihn regelmäßig zitierten, einen guten Ruf. Doch die Beurteilung seines Erfolgs bleibt schwierig. Diese Zeitung, die von ihrer Aufmachung her einen K o m p r o m i ß „zwischen Zeitschrift, Wochenschrift und Tageszeitung" darstellte, wollte zum kritischen Nachdenken anregen. (85) Sie konnte (83) H. W. Richter, „Wie entstand und was war die Gruppe 4 7 ? " Antworten an F. Kröll. Sendereihe des Bayerischen Rundfunks, Teil I / Der Ruf. Sein Entstehen und Untergang (1975), Manuskript des B.R., S. 7. (84) Ibidem, S. 6. (85) Ein Jahr Ruf. Gesinnung und Vertrauen, „Der R u f " (USA), 1.3.46, Nr. 24, S. 1.
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dies nicht immer mit den bestmöglichen Mitteln tun, da sie während ihres ganzen Bestehens dazu verurteilt war, Kompromisse einzugehen. Ihr ambivalenter Charak ter bleibt also als Tatsache bestehen. Nichtsdestoweniger konnte W. Schönstedt in seinem Abschiedsschreiben an den „ R u f " feststellen, daß der „ R u f " — auch wenn er nicht im gleichen Sinne wie eine amerikanische Zeitung frei war — doch „freier und unabhängiger als irgendeine andere deutsche Zeitung während der vergangenen 13 Jahre" und „die erste legale deutsche Zeitung, die noch Monate vor Hitlers Sturz entstand", gewesen sei (86).
(86) Goodbye to „Der Ruf", Capt. W. Schönstedt, a.a.O.
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DIE GRÜNDUNG DES M Ü N C H E N E R „ R U F
Die Bedingungen, unter denen die Zeitung, die denselben Namen wie der „ R u f " in den Vereinigten Staaten trug, in München gegründet werden und vom 15.8.1946 an erscheinen konnte, sind lange im Dunkeln geblieben. Was die Betroffenen selbst darüber geschrieben oder durch andere mitgeteilt haben, ist oft unzuverlässig oder einfach in sich widersprüchlich. Ein schlechtes Gedächtnis oder das Bestreben, die Vergangenheit in einem im Vergleich zur Gegenwart günstigen Licht darzustellen, verbietet es manchem, eine wahrheitsgetreue Version der Tatsachen zu geben. Doch selbst derjenige, der sich unvoreingenommen um eine Rekonstruktion des Vergangenen bemüht, kann nicht für sich beanspruchen, die ganze Bedeutung und Reichweite der Entscheidungen und Ereignisse zu erklären, welche die Öffnung von heute noch unzugänglichen Archiven vielleicht später einmal aus anderer Sicht zu verstehen ermöglicht. Über die Beziehung, die man zwischen dem amerikanischen und dem Münchener „ R u f " herzustellen hat, war man gleichfalls lange Zeit geteilter Meinung. Die Geschichtsschreiber der Gruppe 47 weisen im Allgemeinen auf das Neue im Münchener „ R u f " der Jahre 1946/47 hin, ohne jedoch gänzlich zu verkennen, daß er einen Vorläufer in den Vereinigten Staaten hatte. Sehr oft wiederholen sie nur was Hans Schwab-Felisch in der Ausgabe der ausgewählten Beiträge des „ R u f " im Jahre 1962 schreibt: Alfred Andersch betrieb eine Neugründung des R u f , nun unter dem Vorzeichen der Befreiung von jeder Vormundschaft und holte Hans Werner Richter herbei, mit dem er bald als Herausgeber zeichnete. (1)
In dieser Art, die Dinge darzustellen, liegt zumindest zum Teil eine Ungenauigkeit: Wie konnte der „ R u f " in der Lage der deutschen Presse nach dem Kriege von jeglicher Vormundschaft befreit sein?(2) A u s der Sorge heraus, ein bestimmtes Bild der Gruppe 47 aufrechtzuerhalten, geht H. W. Richter weiter und stellt heute vor allem das Gegensätzliche zwischen beiden Zeitschriften heraus. (1) „Der R u f " . dtv-Dokumente, a.a.O., S . 1 1 - 1 2 . (2) Was die Pressepolitik der Amerikaner im Nachkriegsdeutschland anbelangt, verweisen wir auf die ausführliche Analyse von Harold Hurwitz, „Die Stunde Null der deutschen Presse". Die amerikanische Pressepolitik in Deutschland 1945—1949, K ö l n 1972 und auf unsere bescheidenere Zusammenfassung in „Allemagnes d'aujourd'hui", Nr. 52. Es sei nur hier zum besseren Verständnis der Lage des „ R u f " in München gesagt, daß bis 1949 das Lizensierungssystem alle deutschen Veröffentlichungen unter die direkte Kontrolle der amerikanischen Information Control Division ( I C D ) stellte und dem Lizenzträger als dem vor der Besatzungsmacht einzig verantwortlichen Träger einer Zeitung bzw. eines Verlags mehr Bedeutung beimaß als den einzelnen Lektoren, Herausgebern oder Chefredakteuren. Siehe im A n h a n g die Richtlinien für alle Lizenträger Nr. 3 vom 30.9.1946.
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So verläßt sich V. C. Wehdeking auf Informationen, die H. W. Richter ihm persönlich geliefert hat und schreibt, daß W. Mannzen und H. W. Richter bereits im April 1946 — dem Zeitpunkt ihrer Rückkehr nach Deutschland — eher dazu entschlossen waren, einen „Gegen-Ruf" zu veröffentlichen als im Sinne der seitens der Amerikaner auferlegten Umerziehungspolitik fortzufahren. (3) Schon im Jahre 1969 erklärte H. W. Richter, daß er nach seinem Aufenthalt in Fort Kearney es „den Amerikanern mit gleicher Münze heimzahlen" wollte(4). 1967 lehnte es H. W. Richter ab, eine Kontinuität zwischen dem amerikanischen „ R u f " , dem Münchener „ R u f " und der Gruppe 47 herzustellen: „Der Ruf, der in Amerika herauskam, hat mit der Gruppe 47 nichts zu t u n " (5). Dennoch beschrieb er noch im Jahre 1962 im „Almanach der Gruppe 4 7 " den amerikanischen „ R u f " als den Kern des Münchener ,,Ruf"(6). Dieser Widerspruch mag auf das im nachhinein gesteigerte Ressentiment H. W. Richters Amerika gegenüber zurückzuführen sein. Für andere war der Münchener „ R u f " ganz eindeutig nur eine Fortsetzung des amerikanischen „ R u f " . So besteht für Carl August Weber (7) kein Zweifel daran, daß die Amerikaner die Redaktion von Fort Kearney in den Vereinigten Staaten nach Deutschland verlagerten, um dort bei den verbliebenen Gefangenen und den freigelassenen Soldaten die begonnene Unternehmung fortzusetzen. Man kann heute nicht mehr daran zweifeln, daß ursprünglich der Münchener „ R u f " sowohl von seinen Initiatoren als auch von der amerikanischen Militärregierung als Fortsetzung des Kriegsgefangenen-„Ruf" angesehen wurde. In der Fassung vom 7.4.1946 des Lizenzantrages für die Nymphenburger Verlagshandlung wurde er als „kritische Zeitung für junge Menschen" vorgestellt, die „die in Amerika in einer Auflage von 400.000 Exemplaren (es handelt sich hier um die Gesamtauflage. d.V.) erschienene Gefangenen-Zeitung gleichen Namens fortsetzt". Es wurde gleichzeitig darauf hingewiesen, daß „die Mitglieder der neuen Redaktion zum großen Teil auch Mitglieder der Schriftleitung in Amerika waren". (8) Als derjenige, der sich persönlich um die Lizenz der Nymphenburger Verlagshandlung bei der Information Control Division (ICD) bemühte, stellte sich C. Vinz so vor: Ich bin gelerneter Verlagsfachmann, habe während meiner Gefangenschaft in USA eine Buchserie für deutsche Kriegsgefangene herausgegeben und war Mitbegründer, Chiefmanager und Editor des „ R u f " , der vom amerikanischen Kriegsministerium herausgegebenen Kriegsgefangenenzeitung in USA. (9)
(3) (4) (5) (6)
V. C. Wehdeking, „Der N u l l p u n k t " , a.a.O., S. 19. Hans Werner Richter im Gespräch mit dem Verfasser in München am 1.9.1969. Undatiertes Schreiben von H. W. Richter an den Verfasser (April 1967). „Almanach der Gruppe 4 7 " , 1947—1962, hrsg. von H. W. Richter in Zusammenarbeit mit W. Mannzen, Neuwied 1962, S. 14. (7) C. A. Weber im Gespräch mit dem Verfasser in München am 24.9.1969. (8) Lizenzantrag für die Nymphenburger Verlagshandlung in der Fassung vom 7.4.46, Teil b/aa. „Der R u f " , S. 8, in Archiv B. Spangenberg. (9) Antrag auf Verlagslizenz von Curt Vinz, in der Fassung vom 5.5.46, in Archiv B. Spangenberg.
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In dem schließlich von Erich Kuby am 5. Mai 1946 verfaßten Lizenzantrag wurde die Aufgabe des „ R u f " unmißverständlich so umrissen: Die Zeitschrift soll eine demokratische Elite aus der Jugend um sich sammeln und Jugend zur Jugend sprechen lassen. Der „ R u f " wird die politischen und kulturellen Vorarbeiten der gleichnamigen Zeitung der Kriegsgefangenen in den USA fortfuhren unter den neuen deutschen Verhältnissen.(10)
Heute besteht auch darüber Klarheit, daß der Plan, den „ R u f " in Deutschland weiterzuführen, bereits in Amerika gefaßt wurde. In seinem Referat über „deutsche Lagerzeitungen in Amerika" berichtete K. J. Arndt, daß er „in den Berichten der Militärpolizei ein schönes Schreiben fand, worin Captain Walter Schönstedt von den umerzogenen Gefangenen gebeten wurde, mit ihnen nach Deutschland zu kommen und dort den „ R u f " erneut zu gründen. Dort sollte in Praxis umgesetzt werden, was man hinter Stacheldraht und unter der Aufsicht Capt. Schönstedts gelernt hatte."(11) In einem Rückblick auf die Gründung der Nymphenburger Verlagshandlung ließ C. Vinz darüber keinen Zweifel, „daß ein neuer deutscher Verlag während des Kriegs von Deutschen in USA geplant wurde". (12) Durch den Briefwechsel zwischen A. Andersch und C. Vinz zu Beginn des Jahres 1946(13) sowie durch die sich aus dem Tagebuch E. Kubys(14) und dem Archiv von B. Spangenberg ergebenden Hinweise ist es heute möglich, den Gang der Ereignisse ungefähr nachzuvollziehen, die zur Gründung des „ R u f " in München geführt haben. Es zeigt sich, daß diese Gründung nur gesehen werden kann im Zusammenspiel von Beziehungen und Ereignissen, durch welche im Verlauf der ersten Hälfte des Jahres 1946 die verschiedenen Personen zusammengeführt wurden, die dann die Geschicke der Zeitschrift leiten sollten.
(10) „Publisher's Program for 6 Months" vom 5.5.1946, in Archiv B. Spangenberg. (11) In „Deutsche Lagerzeitungen in Amerika" von K . J. A r n d t a.a.O. (12) In „Habent sua fata I¡beiIi", Referat vermutlich von C. Vinz, ohne weitere Angaben, in Archiv B. Spangenberg. Siehe auch das Schreiben von G. R. Hocke und G. Weiß an Minister George C. Marshall von Juli 1947 in Archiv B. Spangenberg. (13) Lektüre dieses Briefwechsels durch C. Vinz im Gespräch mit dem Verfasser sowie Einsicht in das Archiv B. Spangenberg. (14) Nachdem Heinz Friedrich einen Artikel über den „ R u f " in der „Süddeutschen Zeitung" vom 18/19.12.71 veröffentlicht hatte, schrieb ihm E. Kuby am 18.1.72 einen Brief, in dem er einige Bedenken anmeldete. Dieser Brief wurde dem Verfasser freundlicherweise von E. Kuby zur Verfügung gestellt. In diesem Brief faßte E. Kuby Tagebucheintragungen aus den ersten Nachkriegsjahren zusammen. Siehe auch den Artikel E. Kubys in der ,.Süddeutschen Zeitung" vom 9.4.1949: „Der R u f " — erschollen 1946 — verklungen 1949.
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2.1 Die ersten Pläne und die Gründung der Nymphenburger Verlagshandlung In welcher Lage befanden sich die Protagonisten zu Beginn des Jahres 1946, und welche Pläne hatten sie? A. Andersch hatte bei seiner Ankunft in Deutschland eine Stelle bei dem damals von Erich Kästner geleiteten Kulturressort der „Neuen Zeitung" gefunden. Möglicherweise arbeitete er ebenfalls an der deutschen Gefangenenzeitung „Rat und Tat" mit, die — nachdem sie zunächst von der „Münchener Zeitung" abhängig gewesen war — ab Oktober/November 1945 in die Sonntagsausgabe der „Neuen Zeitung" einging(15). A. Andersch war vor allem von einem Wunsch beseelt: sich der Literatur zu widmen, Bücher zu schreiben, die zu schreiben ihm das Dritte Reich nicht die Zeit gelassen hatte. Rückblickend ist A. Andersch der Meinung, daß sein Vorgehen schon immer in erster Linie literarisch bestimmt gewesen sei. Die Politik habe ihn erst an zweiter Stelle interessiert(16). Sofort nach seiner Rückkehr in die Heimat begab sich C. Vinz nach Wiesbaden, wo sich — wie man ihm gesagt hatte — sein alter Verlag, der Eugen Diederichs Verlag, niedergelassen hatte. Diese Auskunft erwies sich als falsch. Während er darauf wartete, wieder mit seinem Verlag und mit seiner Familie in Verbindung zu treten, fand er vorübergehend eine Stelle als Feuilleton-Redakteur beim „Wiesbadener Kurier". Dort erfuhr er, daß A. Andersch bei der „Neuen Zeitung" arbeitete. Am 17. Januar 1946 schrieb er ihm einen Brief, um ihm seine Rückkehr mitzuteilen. In seiner Antwort vom 24. Januar berichtete ihm A. Andersch, daß der früherere Schriftsetzer des „Ruf", J. Platt, in München sei, und er ließ die Möglichkeit einer Mitarbeit bei der „Neuen Zeitung" anklingen. C. Vinz, der der Ansicht war, daß dieses Angebot ihm keine Sicherheit böte, zog es vor, in Wiesbaden zu bleiben. Anfang Februar teilte ihm A. Andersch im übrigen mit, daß es nicht so leicht wie ursprünglich vorgesehen sei, ihm eine Arbeit bei der „Neuen Zeitung" zu verschaffen, zumal H. Habe in Kürze die Zeitung verlassen würde. Er riet ihm dazu, seine Stellung beim „Wiesbadener Kurier" beizubehalten. Der Gedanke an einen neuen Start des „Ruf" wird in diesen ersten Briefen nur andeutungsweise zum Ausdruck gebracht. Bemerkenswert sind die Duzform und der freundschaftliche Ton dieses Briefwechsels — Zeichen alter Kameradschaft. Die Verlorene Generation Erst durch Nicolaus Sombarts Plan, eine Zeitschrift mit dem Titel „Die Verlorene Generation" zu gründen, beginnt der Gedanke an einen neuen Start des „Ruf" Gestalt anzunehmen (siehe Abb. 9, S. 222). (15) Cf. Elisabeth Matz, „Die Zeitungen der US-Armee für die deutsche Bevölkerung" (1944—1946), Studien zur Publizistik — Bremer Reihe, Bd. 12. Münster 1969, S. 153ff. und 168. (16) Alfred Andersch im Gespräch mit dem Verfasser in Zürich am 21.2.1970. 51
Der zweiundzwanzigjährige N. Sombart, Sohn des Volkswirtschaftlers Werner Sombart, wollte nach seiner Rückkehr von der Front und aus den Kriegsgefangenenlagern wie viele andere auch eine Zeitschrift herausgeben. Auf der Suche nach Mitarbeitern stieß er, seinen eigenen Berichten zufolge, auf Männer, die derselben Gesellschaftsschicht entstammten wie er selbst: Jürgen Neven-du Mont und Carl Hermann Ebbinghaus. Doch er traf auch A. Andersch, den er vermutlich durch C. H. Ebbinghaus kennenlerte, der damals bei der Zeitung „Rat und Tat, Die Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen"!*) arbeitete. (17) Anfang 1946 waren die Druckfahnen der Nullnummer der „Verlorenen Generation" fertiggestellt. Das Blatt stellte sich als „Kritische Blätter für junge Menschen" vor. Sein Herausgeber war N. Sombart, dem A. Andersch, J. Neven-du Mont, Horst Richard Münnich und C. H. Ebbinghaus zur Seite standen. Es bestand bereits ein sich über ganz Deutschland erstreckendes Korrespondentennetz, u.a. mit Freia von Wühlisch in Heidelberg, Wolfgang Lohmeyer in Baden-Baden, usw. Die Zeitschrift „Die Verlorene Generation" sollte Zeugnis ablegen und Forum sein. N. Sombart wollte einen „Ausgangspunkt für den Wiederaufbau Deutschlands suchen", und er verhehlt heute nicht, daß ihn das Unglück seines Landes damals mit großem Mitleid erfüllte (18). Diese Haltung offenbart Narzissmus, einen Aesthetizismus, der sich gewissermaßen an seinem Unglück erfreut. Der Verweis auf die „lost generation", deren Wortführer Hemingway nach dem Ersten Weltkrieg in Paris gewesen war, unterstrich diese Haltung nur noch. N. Sombart schrieb in seinem Leitartikel: Die verlorene Generation, der Titel einer Zeitschrift? Ja, wir wagen ihn, doch will er ohne kleinmütigen Pathos gesprochen sein, vielmehr sachlich und hart. Es ist keine Klage, sondern wir nennen nur beim Namen, was jeder ohnehin weiß: Daß eine Generation von jungen Menschen heute, nachdem sie durch eine barbarische Diktatur und einen barbarischen Krieg gegangen ist, benommen durch unerfindliches Erleben dasteht, belastet mit einem Übermaß an Not und Verachtung. Darum geht es aber nicht einmal. Denen, die einen solchen Titel gewählt haben, geht es vielmehr um die brennende Frage, ob m i t die-
(*)
Nach den Aussagen Hans Habes ist „Rat und T a t " das Ergebnis einer seiner Initiativen. Anscheinend beabsichtigte er vor allem, den jungen Journalisten unter den deutschen Kriegsgefangenen die Möglichkeit zu geben, sich zu bewähren und auf diese Weise für die „Neue Zeitung" eine Reserve junger Talente aufzubauen. ( „ I m Jahre Null. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Presse" (München, 1966)) Weiter unten schreibt Hans Habe: „Aus dem Mitarbeiterstab der Kriegsgefangenenzeitschrift ging, wenn auch nicht zur Gänze, die Redaktion der zeitungsgeschichtlich bedeutsamen Zeitschrift .Der Ruf' hervor" (S. 118). Es ist nicht auszuschließen, daß Hans Habe hier „Rat und T a t " und den amerikanischen „ R u f " miteinander verwechselt, zumal diese beiden Zeitungen dieselben Aufgaben hatten: die eine in Deutschland, die andere in den Vereinigten Staaten. Oder aber er vereinfacht über die Maßen, da von den Redakteuren des Münchener „ R u f " nur C. H. Ebbinghaus und vielleicht auch A . Andersch an „Rat und T a t " mitgearbeitet haben. Hans Habe will sich vor allem das Verdienst zuschreiben „zur Gründung der Gruppe 47 beigetragen zu haben, wenn auch nur auf recht indirekte Weise". Er fügt hinzu: „Ohne die Gruppierung um die Redaktion der Kriegsgefangenenzeitung wäre nie ,Der Ruf' entstanden; aus dem .Ruf' ging die Gruppe 47 hervor" (S. 20). (17) C. H. Ebbinghaus im Gespräch mit dem A u t o r in Dießen am 23.3.1970. (18) Nikolaus Sombart im Gespräch mit dem Verfasser in Straßburg am 21.6.1969.
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ser Feststellung schon das letzte Wort über die Generation, der sie selbst angehören, gesagt ist; o b mit Fug der Stab über ihr gebrochen werden kann, dadurch, daß man sie mit einem Schlagwort belegt. Nein, wenn dem Titel ein charakteristischer T o n unterlegt werden soll, so ist es der verhaltenen Protestes u n d jener Spannung, wie sie vor ausschlaggebenden Prüfungen liegt. E i n V e r s u c h soll gewagt werden — einfach aus der Überzeugung heraus, daß sich unter den Verlorenen genug finden werden, die den Makel, den sie tragen, Lügen strafen können. Der Versuch, das Schlagwort aufzulösen oder umzukehren: Nachzuweisen, daß es nicht stichhaltig ist. Die Geschichte kennt mancherlei Beispiel, aus dem hervorgeht, daß ein Schimpfname sich in das Kennwort einer stolzen Gemeinschaft wandelte. Wie der G u e u x als Geuse in die Annalen eingegangen ist, auch einmal als Lumpenpack verschrien, so sollten sich aus der verlorenen Generation Menschen herauskristallieren, die man dereinst u m ihre Verlorenheit beneiden kann. Das ist natürlich ein Experiment, und wer es unternimmt, m u ß kühn sein, weil er befürchten muß, es möchten jene recht behalten, die das Schlagwort zuerst erfanden. Es heißt den Stier bei den Hörnern packen, mit dem Risiko, von ihm überrannt zu werden . . .
A n dieser Stelle soll E. Kuby vorgestellt werden, denn er spielt von nun an eine entscheidende Rolle. E. K u b y wurde 1910 in Baden-Baden geboren. 1932 machte er die Werbung in einem Berliner Verlag, dem Reimar Hobbing-Steiniger Verlag, wo auch Friedrich Minssen und Werner Flume arbeiteten, der eine als Lektor, der andere als Jurist. Nach dem Krieg war F. Minssen Redakteur bei dem amerikanischen Magazin „ H e u t e " und gleichzeitig Mitarbeiter des „ R u f " ; W. Flume half als Rechtsberater in den Anfangsjahren der Nymphenburger Verlagshandlung. Im Jahre 1939 wurde E. K u b y zur Wehrmacht einberufen. Über seine Erfahrungen als Soldat berichtete er erstmals in „ D e m i d o f f " , einem gegen Ende des Krieges verfaßten und im Jahre 1947 unter dem Pseudonym Alexander Parlach veröffentlichten Buch. 1976 hat er bei der Nymphenburger Verlagshandlung seine Kriegsaufzeichnungen erscheinen lassen (19). Nach dem Krieg verbachte er sechs Monate als Gefangener in einem amerikanischen Lager in Deutschland. Seinen eigenen Aussagen zufolge(20) ging er nach seiner Entlassung zur Lizenzierungsstelle der ICD in München. Da zu viele Leute dort warteten, klopfte er eine Tür weiter an und fragte, ob man Arbeit für ihn habe. Daraufhin erkundigte man sich, ob er eine nationalsozialistische Vergangenheit hatte. Da dies nicht der Fall war und er zudem über eine gewisse Verlagserfahrung verfügte, gab man ihm eine Lektorenstelle bei der Publications Control Branch, w o er die Einrichtung demokratischer Verlage zu bearbeiten hatte. A l l dies hat sich wohl nicht auf so einfache Weise abgespielt. Man hat es hier mit einer romanhaften Version der Dinge zu tun, die jedoch angesichts der Nachkriegssituation nicht unwahrscheinlich ist. Im Frühjahr 1946 erhielt E. K u b y die Aufgabe, die Nachfolge des LangenMüller Verlags zu regeln und diesen in einen neuen Verlag umzuwandeln. Der (19) Erich K u b y , „ M e i n K r i e g " — Aufzeichnungen aus 2129 Tagen, München 1975. (20) Erich K u b y , „ D a s ist des Deutschen Vaterland", 70 Millionen in zwei Wartesälen, Stuttgart 1957, S . 14.
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Langen-Müller Verlag, aus zwei bedeutenden Verlagshäusern in der Zeit der Wirtschaftskrise (1931/32) zusammengeschlossen, war während des Dritten Reiches Eigentum der NSDAP und deshalb nach dem Kriege verboten worden. Er hatte wohl auch die Werke von Autoren wie Kolbenheyer, Grimm, Johst, dem Präsidenten der Reichsschrifttumskammer von 1935 an, usw. verlegt, war dennoch nie ausgesprochen nationalsozialistisch gewesen. E. Kuby wollte die Zersplitterung des Hauses vermeiden. Der Plan gelang nicht und die Nachfolge des Langen-Müller Verlags wurde dadurch geregelt, daß Autorenrechte herausgelöst wurden: Desch, Piper und List schlössen direkte Verlagsverträge mit den Autoren, die Nymphenburger Verlagshandlung erwarb Lizenzen auf Zeit — bis zur Wiedereröffnung des Verlags 1952(21) und zog in Räume des Verlagsgebäudes in der Hubertusstraße (1947), in dem die ICD zunächst untergebracht worden war. Durch Zufall lernte E. Kuby im März 1946 anläßlich eines Besuchs im Nymphenburger Theater N. Sombart kennen. Dieser erzählte ihm von seinem Plan, eine Zeitschrift herauszugeben. Am 21. März brachte er ihm den bereits gesetzten Entwurf. Einige Jahre später beschrieb E. Kuby seine Unterredung mit N. Sombart wie folgt: Am 21. März kam ein von Witz und Selbstgefühl sprühender junger Mann, der Sohn des Nationalökonomen Sombart, zu mir und legte den bereits gesetzten Entwurf einer Zeitschrift auf den Tisch, welche er ,Die verlorene Generation' zu nennen die ernste Absicht hatte. ( . . . ) Die Begegnung mit dieser verlorenen Generation war herzerfrischend. (22)
Im Jahre 1946 war er weniger ironisch und fand durchaus lobendere Worte. Er verfaßte nämlich einen für die ICD bestimmten Bericht über „Die verlorene Generation", in dem er unter anderem schrieb: Dieses Blatt entspricht in jeder Einzelheit den Grundsätzen, welche von Seiten der Militärregierung aufgestellt worden sind — und zwar sowohl den allgemeinen politischen, wie den besonderen Anweisungen, die uns gestern durch Capt. Alexander bekannt gemacht worden sind. (23)
Abschließend meinte er, daß die Zeitschrift Unterstützung verdiene. Der Süddeutsche Verlag, der die „Süddeutsche Zeitung" herausgab, hatte bereits N. Sombart versprochen, den Druck seiner Zeitschrift zu übernehmen. Trotz alledem wurde „Die verlorene Generation" nie Wirklichkeit. Der Plan wurde zugunsten des „Ruf" aufgegeben, den A. Andersch damals ganz ernsthaft neu herauszugeben gedachte — was E. Kuby bezeugt. (24) Am 30. März 1946 bat A. Andersch C. Vinz in einem Telegramm, umgehend nach München zu kommen und in seinem Büro in der „Neuen Zeitung" vorzusprechen. Bei einem ersten Zusammentreffen am 4. April fragte E. Kuby C. Vinz, ob er als früherer Herausgeber des „Ruf" in den Vereinigten Staaten die „Verlorene Generation" verlegen wolle. Doch dieser machte — worin er von (21) Nach dem Tagebuch von E. Kuby in Brief an H. Friedrich, a.a.O., sowie nach Angaben von B. Spangenberg im Gespräch mit dem Verfasser in München am 14.6.74. (22) E . Kuby, „Der Ruf" - erschollen 1946 - verklungen 1949, a.a.O. (23) In Archive. Vinz.' (24) E. Kuby, „Der Ruf" - erschollen 1946 - verklungen 1949, a.a.O.
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A. Andersch unterstützt wurde — den Vorschlag, stattdessen eher einen neuen „ R u f " herauszubringen. Der Titel von N. Sombarts Zeitschrift sagte ihm nur wenig zu, und überdies verstand er auch nicht so recht, wie diese Zeitschrift mit einem aus fünf sich in die Verantwortung teilenden Personen bestehenden Führungsgremium funktionieren könnte. Das Problem wurde wohl erst am 24. April bei einem Treffen ehemaliger Kriegsgefangener von Fort Kearney und Fort Getty in Stuttgart, an dem auch E. Kuby teilnahm, gelöst. Man findet noch Spuren dieser Verquickung der Pläne N. Sombarts und A. Anderschs in einem Programmentwurf der Nymphenburger Verlagshandlung vom 5. Mai 1946: A. Andersch und N. Sombart werden darin als Herausgeber des „Ruf" vorgesehen(25). Im Endeffekt begnügte sich N. Sombart damit, von Zeit zu Zeit an dem Blatt mitzuwirken. Was der „Ruf" außerdem der Zeitschrift „Die verlorene Generation" verdankte, waren deren Beziehung zu einem Druckereibetrieb, dem Süddeutschen Verlag, die Idee der Rubrik „Prisma" auf den Seiten 7 und 8; vor allem jedoch einige Artikel wie zum Beispiel „Die Gemeinschaft der Pessimisten" (vgl. weiter unten.die Bedeutung dieses Themas für den „Ruf") von Arthur Koestler und die Parodie auf den Brief an die Jugend von Ernst Wiechert mit dem Titel „500. Rede an die deutsche Jugend"; nicht zuletzt auch den Artikel von A. Andersch selbst: „Jahre in Zügen" (Ruf Nr. 2/I). Inzwischen nahm die Idee, unter dem Namen „Nymphenburger Verlagshandlung" einen großen Verlag zu gründen, der verschiedene sich gegenseitig ergänzende Zeitschriften herausgeben und gleichzeitig teilweise das Erbe des Langen-Müller Verlags antreten sollte, allmählich Gestalt an. In einem am 21. April 1946 von E. Kuby vorgelegten Entwurf eines Lizenzantrages erschien C. Vinz als verantwortlicher Verleger, E. Kuby selbst als Cheflektor und A. Andersch als mit Werbung und Vertrieb beauftragter Geschäftsführer. Doch die Physiognomie des neuen Hauses nahm erst während der Monate Mai und Juni deutlichere Züge an, zu einer Zeit nämlich, als E. Kuby zwei weitere Personen für die Nymphenburger Verlagshandlung gewinnen konnte: Gerhard Weiß, der einer Mainzer sozialdemokratischen Familie entstammte und der Sprecher der Kriegsgefangenen in Fort Kearney und Fort Getty gewesen war, sowie Berthold Spangenberg, der zu Beginn des Jahres 1946 nach mehr als dreimonatiger Vorbereitung einen Lizenzantrag für einen Verlag gestellt hatte, den er „Starnberger Verlagsgesellschaft" nennen wollte. Er wollte in Zusammenarbeit mit dem Verleger Karl H. Silomon und unter Mitwirkung von Prof. Hermann Uhde-Bemays sowie des Dichters Ernst Penzoldt eine literarische Zeitschrift mit dem Titel „Die Zukunft" herausgeben(26). Auf Bitten E. Kubys gab er diesen Plan Anfang Mai 1946 auf zugunsten der ursprünglich im Programm der Nymphen-
(25) „Publisher's Program for 6 Months" vom 5.5.1946, a.a.O. (26) Schreiben von B. Spangenberg an E. Kuby (ICD) vom 2.5.46, in Archiv B. Spangenberg.
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burger Verlagshandlung unter dem Titel „Deutsche Rundschau" vorgesehenen Zeitschrift, aus der schließlich die „Deutschen Beiträge" wurden(27). Im Juli waren alle Bedingungen für die Gründung der Nymphenburger Verlagshandlung erfüllt. Sie zählte drei Gesellschafter, nachdem E. Kuby sich im Mai dazu entschlossen hatte, so lange nicht bei ihr mitzuwirken, wie er noch bei der ICD arbeitete. C. Vinz übernahm die einheitliche Leitung und Gestaltung des Verlags sowie alle die ihm aus seiner Eigenschaft als Lizenzträger obliegenden Aufgaben. B. Spangenberg erhielt die Aufgabe, die Zeitschriften verlegerisch zu betreuen. G. Weiß war für die Innenorganisation, das kaufmännische Rechnungswesen und das Personalwesen zuständig(28). A m 26. Juli 1946 wurde die Lizenz C. Vinz als alleinigem Lizenzträger übergeben. Das Zeugnis, das er aus den Vereinigten Staaten mitbrachte, seine frühere Tätigkeit im Verlagswesen sowie seine Rolle bei der Veröffentlichung der Reihe „Neue Welt" qualifizierten ihn für diese Aufgabe. Die Lizenz trug die Nummer US-E-174 und erlaubte ausdrücklich die Veröffentlichung von Büchern und Zeitschriften. Was war zu jener Zeit aus G. R. Hocke und H. W. Richter geworden? Beim Verlassen der USA im Januar 1946 hatte sich G. R. Hocke auf eigenen Wunsch nach England einschiffen lassen, um dort seine Frau — die englischer Abstammung war — und seinen Sohn zu besuchen. Er hoffte, dort freigelassen zu werden. Stattdessen war er zu einem Verhörlager nach London gebracht, dann in ein Sammellager für „heimatreife" Kriegsgefangene und schließlich in das Schulungslager von „Wilton Park" eingeliefert worden. Im April 1946, als C. Vinz auf seine baldige Rückkehr nach Deutschland hoffte (29), da er ihm und A. Andersch die Leitung des „ R u f " anvertrauen wollte, hielt G. R. Hocke Vorträge vor deutschen Kriegsgefangenen im Londoner Umerziehungslager „Wilton Park" und verfaßte Artikel für eine Lagerzeitung, „Die Brücke", die er gegründet hatte. Er wurde erst im Juni 1946 nach Bonn entlassen. Er fuhr dann zu seinen Eltern nach Gummersbach und traf Ende August 1946 in München ein. Im September wurde er von der Nymphenburger Verlagshandlung als Lektor eingestellt(30). Im April 1946 war H.W. Richterauf seinen Wunsch hin nach Bad Pyrmont, die Heimatstadt seiner Frau, entlassen worden. Kurze Zeit darauf hatte er eine Reise in die sowjetische Besatzungszone zu seinen Eltern unternommen, wo ihm die Kommunistische Partei — am 22. April wurden KPD und SPD zur SED verschmolzen — eine Stelle als Landrat angeboten hatte. Doch auf Anraten seiner Mutter zog er es vor, im Juni 1946 nach München zu gehen. Kurz vor seiner Abfahrt von Bad Pyrmont hatte er über W. Kolbenhoff Kontakt mit A. Andersch (27) Schreiben von E. Kuby an B. Spangenberg vom 5.5.46, Lizenzprogramm der Nymphenburger Verlagshandlung vom selben Tag, Archiv B. Spangenberg. (28) Vgl. Gesellschaftervertrag zwischen C. Vinz, B. Spangenberg und G. Weiß, der am Tag der Lizenzierung in Kraft trat. (29) Nach C. Vinz im Gespräch mit dem Verfasser in München am 24.3.1970. (30) Nach Angaben von G. R. Hocke im Gespräch m i t dem Verfasser in Rom am 2.11.72. Vgl. auch „Der R u f " in Amerika, W D R / I I , a.a.O.
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aufgenommen(31) und im Mai 1 9 4 6 bei einer Unterredung in Frankfurt am Main C. Vinz kennengelernt, der ihm daraufhin in einem Brief vom 2 7 . Mai vorgeschlagen hatte, als Redakteur an der Seite A . Anderschs zu arbeiten: er sollte sofort mit der A r b e i t beginnen, damit beim Erscheinen der N u m m e r 1 des „ R u f " bereits drei oder vier weitere Ausgaben fertig auf dem Schreibtisch lagen. H. W. Richter wurde zwar erst von der vierten Nummer vom 1. Oktober 1 9 4 6 an Mitherausgeber, er wurde aber bereits am 1 5 . 7 . 1 9 4 6 von der Nymphenburger Verlagshandlung fest angestellt und seinem Redakteurvertrag wurde a m 1 . 8 . 1 9 4 6 hinzugefügt: „Er t r i t t in die Stellung eines Mitherausgebers ein, sobald die beantragte Genehmigung der Publications Section München vorliegt."(32) Wenn H. W . Richter keinen Anteil an der Gründung des „ R u f " hatte, war er doch von der ersten N u m m e r an für die Zeitschrift redaktionell tätig.
2.2
Die Stellung des Ruf innerhalb der Nymphenburger Verlagshandlung
Der am 15. August 1 9 4 6 erstmalig erscheinende „ R u f " war die erste Publikation der Nymphenburger Verlagshandlung. Doch er war von Anfang an nur ein Verlagsp r o d u k t von vielen. Deshalb soll an dieser Stelle die Gesamtproduktion der Nymphenburger Verlagshandlung betrachtet werden, u m die dem „ R u f " darin zukommende Stellung zu bestimmen. Den persönlichen Aufzeichnungen C. V i n z ' zufolge umfaßte das von ihm ursprünglich vorgesehene Verlagsprogramm acht T i t e l : Georg Britting „Sonette über den T o d " Neil M. Gunn
„ D i e grüne Insel der großen T i e f e "
Korfiz H o l m
( R o m a n aus dem Englischen) „ich — klein geschrieben" Heitere Erinnerungen eines Verlegers
Robert H. Jackson
„ D r e i Reden z u m Nürnberger Prozeß" M i t einer Einführung von Prof. D r . G. Radbruch
Walter Kolbenhoff A . H . Behrend (hrsg. von) Alexander Parlach
„ V o n unserem Fleisch und B l u t " (Roman) „Münchner Feuilletonisten" „ Z u D e m i d o f f im Kriege" / Ein Bericht über die Unverletzlichkeit des Menschen. M i t 8 Zeichnungen des Verfassers.
Mazo de la Roche
„ D i e Brüder und ihre Frauen" ( R o m a n aus d e m Englischen)
(31) H. W. Richter im Gespräch mit dem Verfasser in München am 1.9.1969. (32) Schreiben von C. Vinz an H. W. Richter vom 27.5.1946, in Archiv B. Spangenberg. Siehe auch Anstellungsvertrag von H. W. Richter.
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Im Jahre 1946 verlegte aber die Nymphenburger Verlagshandlung nur ein Buch: „Das Urteil von Nürnberg". Sie war von der amerikanischen Militärregierung dazu ausersehen worden, den vollständigen Wortlaut der Nürnberger Urteile zu veröffentlichen. Weitere Bücher folgten erst ein halbes Jahr später. Es handelte sich um folgende Titel: Georg Britting „Die Begegnung" (Gedichte) (Neuer Titel für „Sonette über den Tod") Korfiz Holm „Farbiger Abglanz" (Neuer Titel für „ich — klein geschrieben") Robert H. Jackson „Staat und Moral" / Zum Werden eines neuen Völkerrechts (Mit einem Vorwort von Prof. Dr. G. Radbruch) Walter Kolbenhoff „Von unserem Fleisch und Blut" H. W. Richter (hrsg. von) „Deine Söhne, Europa" (Gedichte deutscher Kriegsgefangener) Werke von Mazo de la Roche und Neil M. Gunn konnten erst 1948 bzw. 1949 verlegt werden (33); Der Kriegsbericht A . Pariachs erschien 1947, allerdings im List Verlag. Dieses noch bescheidene Verlagsprogramm läßt bereits deutlich erkennen, daß die Nymphenburger Verlagshandlung darum bemüht war, die Probleme der Nachkriegszeit, insbesondere die Frage der Verantwortung Deutschlands ins Auge zu fassen. Es zeigt auch, daß sie zu einr Zeit, als die einzelnen Besatzungszonen voneinander abgekapselte Einheiten darstellten, geographisch auf Bayern ausgerichtet war (vgl. G. Britting, „Münchener Feuilletonisten"). In diesem Rahmen kann man ebenfalls das „Münchener Tagebuch" einordnen, das erstmalig Ende August 1946 unter der Leitung von Hans Poeschel erschien. Im Untertitel gab es sich als „Kulturelle Wochenblätter mit einem Veranstaltungskalender" aus. Zu Beginn des Jahres 1947 stellte sich die Nymphenburger Verlagshandlung im „ R u f " in einer Anzeige, die programmatischen Charakter hatte, so dar: Es geht dem Verlag darum, i m geistigen Raum Süddeutschlands wurzelnd, das schöpferische Wort im gesamten deutschen Sprachbereich und darüberhinaus in Europa und der Welt zu vermitteln, soweit es im Sinne modernen Fragens auf die Stellung des Menschen in der Welt eine A n t w o r t gibt. Da sich aus der Erschütterung zeitlicher Katastrophen vielfach schon jetzt ein neues Bild des Menschen ergeben hat, will sie mit besonderer Absicht diese Entwicklung in ihren Veröffentlichungen sich spiegeln lassen. Aus Gegenwart und Tradition erscheinen daher Werke der deutschen und ausländischen Religiosität, Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Dichtung und Politik. Sie sollen Beiträge zu einer formenden Erweiterung des Bewußtseins darstellen und der Einheit des schöpferischen Geistes und der Versöhnung von Geist und Macht im internationalen Austausch der Ideen und Bilder dienen. Der Verlag erblickt seine besondere Aufgabe darin, die Werke geistiger Avant-Garden in Europa und in der Welt zur berücksichtigen, denen es auf Grund dieses vertieften Menschenbildes u m Vollkommenheit der Schönheit wie um Unbestechlichkeit des Denkens geht. (34) (33) 0 + 20, Almanach der Nymphenburger Verlagshandlung, 1946—1966, insbesondere Gesamtverzeichnis, München 1966. (34) In „Der R u f " , Nr. 11/1 (15.1.1947), S. 16.
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Diese programmatische Erklärung liegt ganz auf der geistigen Linie, die G . R. Hocke in den ersten N u m m e r n des amerikanischen „ R u f " entworfen hatte und der auch C. V i n z verpflichtet w a r ( 3 5 ) . Sie spiegelt kaum die kämpferische Geisteshaltung seiner letzten Redakteure H . W. Richter und W. Mannzen wider. Deutsche Beiträge B. Spangenberg (geb. 1916) hatte Naturwissenschaften studiert und nach k u r z e m Kriegsdienst 1941 die Diplomchemikerprüfung abgelegt. Ende 1 9 4 4 hatte er eine Widerstandsgruppe, die „bayerische Freiheitsbewegung", mitgegründet und war nach dem Einmarsch der Amerikaner bereit, m i t ihnen zusammenzuarbeiten. Die Amerikaner setzten ihn als Stadtrat in Starnberg ein. B. Spangenberg trat der SPD bei und war als Fraktionsvorsitzender im Stadtrat, später als Kreisrat in Starnberg politisch tätig. V o n Juni 1 9 4 5 bis Ende März 1 9 4 6 war er Berater der I C D (Intelligence Branch) in politischen, insbesondere in kulturpolitischen Angelegenheiten für die Lizenzierung im Presse- und Verlagswesen. Anfang 1 9 4 6 wurde er Treuhänder des Wiechmann-Verlags in Starnberg und blieb es mehrere Jahre lang. So konnte er dem Lektorat der Nymphenburger Verlagshandlung und der Redaktion der „Deutschen Beiträge" eine U n t e r k u n f t im Gebäude des Wiechmann-Verlags anbieten. B. Spangenberg hatte seine Eltern durch Verfolgung im D r i t t e n Reich verloren und 1 9 4 6 die Tochter des von den Nazis ermordeten Rechtsanwalts Edgar Jung geheiratet. (36) U m die Jahreswende 1 9 4 5 / 4 6 wollte B. Spangenberg, wie bereits erwähnt wurde, einen eigenen Verlag gründen und eine Zeitschrift m i t dem Titel „ D i e Z u k u n f t " herausgeben. Z u r geplanten ersten N u m m e r hatte er ein V o r w o r t geschrieben, in dem er seine Vorstellungen über die Aufgabe der Zeitschrift entwickelte. „ D i e Zuk u n f t " sollte von der Jugend gelesen werden. Z u m Generationsproblem schrieb B. Spangenberg: Wenn wir hier von Jugend sprechen, dann ist vor allem die Altersklasse gemeint, die an dem politischen Geschehen vor 1933 noch keinen bewußten Anteil nahm. Man kann von ihr billigerweise nicht erwarten, daß sie in unserer Lage die Aufforderung zur Besinnung und inneren Wandlung versteht, wie es viele Ältere tun. Aber die Nachdenklicheren beschäftigen sich sehr mit der Frage, wer eigentlich berechtigt ist, heute für diese und zu diesen Menschen zu sprechen. Denn sie sind in oft wörtlichem Sinne führerlos geworden und wenn sie sich nun gerne den Älteren anvertrauen, so ahnen sie doch, daß es eine Entwicklungsstufe gibt, auf der sie zu stehen hätten, unabhängig von der Förderung oder Hemmung, die ihr die vorangehende Generation zuteil werden ließ. Sie hoffen, daß aus ihren Reihen bald einer erstünde, der sagen kann, was sie erlebt haben, der davon sprechen wird, was sie denken, der anklagen wird, was man ihnen genommen hat und vielleicht einen Dank weiß für alle, die ihnen still geholfen haben. Es war auch von Schuld und Erziehung die Rede: An materiellem Besitz haben sie alles verloren und wissen nicht, an welche geistigen Werte sie sich halten sollen. Die alten Tafeln sind zerbrochen und zwischen uns und der Welt (35) Nach Angaben von B. Spangenberg stammen die Formulierungen tatsächlich von G.R. Hocke. Im Gespräch mit dem Verfasser in München am 14.6.1974. (36) Nach Angaben von B. Spangenberg und Archivmaterial, im Gespräch mit dem Verfasser in München am 14.6.1974.
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steht die Schuld, die unser Volk, ein Volk in seiner Gesamtheit, auf sich geladen hat. Kaum ahnen w i r , was dieses Urteil bedeutet, noch weniger, wie diese Schuld abgetragen werden kann. (...) Im Vordergrund steht die verpflichtende Aufgabe der Erziehung. Ihr wird nur dann Erfolg beschieden sein, wenn mit der Erkenntnis des Inhalts der Werte ihre entscheidende und helfende Kraft bekannt wird. Dann besteht Aussicht, auch jene andere Jugend zu gewinnen, die mit uns lebt ohne Gott, ohne Geisteszucht, vielfach ohne Wissen oder Wissensgrundlage, erfüllt mit einem unendlichen Mißtrauen gegen „Führer" und gegen sich selbst. (37)
In einigen Ansätzen wäre die „ Z u k u n f t " in ihrem Bemühen um die junge Generation von dem Vorhaben des „ R u f " nicht allzuweit entfernt gewesen: wie er suchte sie den Kontakt zur Außenwelt, insbesondere zu Europa und zur deutschen Emigration. Ihre Sprache wäre aber eine völlig andere gewesen: die Sprache B. Spangenbergs war die eines durch Krieg und Nationalsozialismus erschütterten Christen. Die Orientierung der „ Z u k u n f t " wäre auch primär nicht so sehr politisch als vielmehr literarisch gewesen. Wenn B. Spangenberg als SPD-Mitglied in Deutschland politisch und sozial einen Neuanfang versuchen wollte — er setzte sich beispielsweise dafür ein, daß die Mitarbeiter seines Verlags am Gewinn beteiligt werden — , meinte er in kultureller Hinsicht, daß es nötig sei, an die große liberale Tradition anzuknüpfen. Seine Zeitschrift sollte dazu beitragen, die Werte hervorzuheben, die den Zusammenbruch überstanden hatten und in die Zukunft mitgenommen werden konnten. In zwei wesentlichen Punkten unterschied sich die „ Z u k u n f t " vom „ R u f " . Sie bekannte sich unmißverständlich zur Schuld des gesamten deutschen Volkes und geriet somit in eindeutige Nähe zur amerikanischen Kollektivschuldthese, wenn auch sie B. Spangenberg persönlich vielmehr als „Kollektivscham" im Sinne von Theodor Heuss damals verstand. Sie erweckte den Eindruck, als wäre die ältere Generation fähiger als die jüngere, sich zu besinnen und innerlich zu wandeln, und bezog damit die Position der Amerikaner in der Generationsfrage. Die Tatsache, daß B. Spangenberg den Literar- und Kunsthistoriker Prof. H. Uhde-Bernays (1873-1965) und den Dichter E. Penzoldt (1892-1955), die 1946 73 bzw. 54 Jahre alt waren, als Mitarbeiter heranziehen wollte, läßt die Vermutung zu, er wolle vielmehr Ältere an die Jugend als die Jugend zur Jugend sprechen lassen. E. Kuby erkannte, was für ein Ziel sich B. Spangenberg mit der „ Z u k u n f t " gesetzt hatte und meinte in einem an ihn gerichteten Brief Anfang Mai 1946, daß er sich zwar mit dem Zeitschriftenplan „Der Ruf" verbinden könnte, daß die „ Z u k u n f t " jedoch vielmehr „eine Entsprechung zu dem Plan .Deutsche Rundschau' der Nymphenburger Verlagshandlung wäre". (38)
(37) „Die Z u k u n f t " (geplante Zeitschrift), Zur ersten Nummer dieser Zeitschrift, B. Spangenberg, unveröffentlichtes Manuskript, Ende 1945. In Archiv B. Spangenberg. (38) Vgl. Brief E. Kubysan B. Spangenberg vom 5.5.1946.
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Die „Deutsche Rundschau" sollte „eine große repräsentative Zeitschrift aller geistigen Strömungen und schöpferischen Leistungen im neuen Deutschland mit besonderer Betonung der westlich-demokratischen Haltung" werden. Sie sollte „in Deutschland eine ähnliche Rolle spielen wie Harpers Magazine in den USA und die Nouvelle Revue Française in Frankreich."(39) In diesem Plan wurde noch ein anderes Projekt aufgenommen, nämlich eine kulturpolitische Monatsschrift, für die Wolf Lauterbach das Programm im Lizenzantrag eines Verlags Hopfer in Wasserburg a. Inn entwickelt hatte. So entstanden die „Deutschen Beiträge", eine Zweimonatschrift, die von B. Spangenberg und W. Lauterbach unter Mitwirkung von H. Uhde-Bernays und E. Penzoldt herausgebracht wurde. Die erste Nummer erschien Ende September 1946 in einer Auflage von 20.000 Exemplaren. Das Bemühen um ein Wiederanknüpfen an die Tradition durchzieht die ganze erste Nummer, von dem Artikel H. Uhde-Bernays' „Wendung der Jugend zu Goethe" über Ehrich Kahler „Der Mensch und die Sachen" bis hin zum Beitrag W. Lauterbachs „Einsicht und Umkehr", dessen Titel an die „inneren Mächte" G. R. Hockes in der Nummer 1 des amerikanischen „ R u f " erinnert. „Statt eines Nachwortes" schließt das erste Heft mit dem Abdruck des Vorworts, das Hugo von Hofmannsthal im Jahre 1922 für die erste Ausgabe der „Neuen Deutschen Beiträge" verfaßt hatte: Man hätte fast ebensowohl Anfänge ankündigen können, oder Wiederanfänge. Aber das Wort wäre vielleicht minder bescheiden, und auch nicht ganz so wahr. Denn es geht alles immer weiter, wenn auch auf eine schmerzliche und undeutliche Art.
Die Nymphenburger Verlagshandlung als Ergebnis der Verschmelzung mehrerer Pläne führte Menschen zusammen, die durch verschiedene Erlebnisse geprägt worden waren, die sich zwar alle im Nachkriegsdeutschland zu Wort melden und einmischen wollten, aber nicht immer aus denselben Motivationen heraus. Gemeinsame Erlebnisse wurden dabei von ideologischen Meinungsverschiedenheiten überlagert. So band C. Vinz, A. Andersch, H. W. Richter und G. Weiß das Fronterlebnis, die Teilnahme am amerikanischen Umerziehungsprogramm, vor allem aber die Gefangenensolidarität. G. R. Hocke war in der Hinsicht zu sehr Individualist, als daß er sich dadurch gebunden gefühlt hätte. Darüber hinaus meinte er, daß er zu Unrecht interniert worden war. Innerhalb dieser Gruppe litt mehr als die anderen H. W. Richter an einem Kollaborationskomplex, so daß er denjenigen gegenüber, die sich wie B. Spangenberg, E. Kuby, C. Vinz oder C. H. Ebbinghaus und N. Sombart offen für die Zusammenarbeit mit den Amerikanern aussprachen, mißtrauisch werden und auf Distanz gehen mußte. A. Andersch, H. W. Richter und W. Kolbenhoff verband eine gemeinsame kommunistische Vergangenheit; C. Vinz, G. R. Hocke und B. Spangenberg waren, wenn auch jeder auf seine Art, christlich orientiert. Die soziale Herkunft spielte auch eine Rolle in den gegenseitigen Antipathien bzw. Sympathien. Es kam noch hinzu, daß im Gegensatz zu A. Andersch, B. Spangenberg oder E. Kuby, die in Süddeutschland beheimatet waren, C. Vinz, (39) „Publisher's Program for 6 Months" vom 5.5.1946, a.a.O.
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G. R. Hocke, vor allem aber H. W. Richter — aus Bansin — entwurzelt waren: München war ihnen eine Zuflucht, es war nicht ihre Heimat. So ergibt sich summarisch betrachtet eine Art Gruppenbildung in Bezug auf die Nymphenburger Verlagshandlung: B. Spangenberg, E. Kuby, G. R. Hocke einerseits, A. Andersch und H. W. Richter andererseits und in der Mitte C. Vinz und G. Weiß, die aufgrund der zeitlich nahen gemeinsamen amerikanischen Vergangenheit gefühlsmäßig zu den früheren Kameraden tendierten, politisch-ideologisch aber den anderen zugeneigt waren. Das Modell E. Kubys, nach dem die Nymphenburger Verlagshandlung aufgebaut worden war, war auch von strukturellen Schwächen gekennzeichnet. Allen ihren Vorhaben war zwar gemeinsam, daß sie die Deutschen aufklären wollten. Die Zeitschriften aber, die sich gegenseitig ergänzen sollten, waren in Wirklichkeit miteinander nicht vergleichbar. Zwischen der geistigen Zweimonatschrift in Revueformat (14 x 22,5 cm) mit durchgehender Seitennumerierung „Deutsche Beiträge" und dem „Ruf", der durch Aufmachung und Format (26 x 33 cm) einer Zeitung näher kam, lagen Welten. Hinzu kommt, daß B. Spangenberg, der seinen ursprünglichen Plan einer Zeitschrift für die Jugend hatte aufgeben müssen, für die Betreuung der Zeitschriften innerhalb des Verlags zuständig war und somit die Aufsicht über den „Ruf" hatte. „Ruf" und „Deutsche Beiträge" wurden sich auch bald ihrer Unterschiede bewußt. In einem Artikel über „Studentenrebellion und Fronterlebnis"(40) hatte H. W. Richter die Tat der Geschwister Scholl mit dem Fronterlebnis verglichen: Eine Rebellion gegen ein terroristisches, totalitäres System sei an der Front nicht möglich, sie könne nur von einzelnen getragen werden, wie es auch Hans Scholl, von einem achtwöchigen Einsatz an der russischen Front zurückgekehrt, aber in Zivil in München tat. Daraufhin meinte B. Spangenberg: „Ich bin mir nicht mehr so ganz sicher, ob wir in allen Dingen so einig sind, wie wir unsere frühere Absicht, „das Gedankengut des Rufs nach der Seite der Überlieferung hin zu vertiefen", auch wirklich in den .Deutschen Beiträgen' ausführen können." Er bat H. W. Richter, auf die für Nr. 10 vorgesehene Würdigung der „Deutschen Beiträge" in dem „ R u f " zu verzichten (41). Die Besprechung von A. Andersch erschien dennoch. Die Rolle E. Kubys schließlich darf bei der Würdigung des gesamten Unternehmens nicht unterschätzt werden. Er hatte im Auftrage seines Arbeitgebers, der amerikanischen Militärregierung, einen Verlag in die Welt gesetzt und wollte, sobald seine Tätigkeit bei ICD es zulassen würde, in die Nymphenburger Verlagshandlung einsteigen. Im Dezember 1946 versuchte er, wenn auch vergeblich, mit demselben Anteil wie die übrigen Gesellschafter aufgenommen zu werden(42). (40) In „Der Ruf", Nr. 9/I (15.12.46), S. 8. (41) In Brief B. Spangenbergs an H.W. Richter vom 19.12.1946. B. Spangenberg spielt in dem Zitat auf den Wortlaut einer Anzeige im „Ruf", Nr. 5/1 (15.10.46), S. 14 an. In Archiv B. Spangenberg. (42) Vgl. Brief E. Kubys an B. Spangenberg vom 12.12.1946 sowie die Antwort der Nymphenburger Verlagshandlung an E. Kuby vom 19.12.1946, in Archiv B. Spangenberg.
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2.3
Die redaktionellen Prinzipien des „ R u f "
Im Untertitel bezeichnet sich der „ R u f " als „Unabhängige Blätter der jungen Generation". In seinen redaktionellen Prinzipien(*) präzisiert er, daß er unabhängig von politischen Parteien und religiösen Konfessionen sein will; er weist die Mitarbeit aller Kräfte zurück, „welche diese nach 12 Jahren Despotie schwer erworbene Unabhängigkeit in der Hingabe an alte und neue Gewaltlehren wieder in Frage stellen"; er unterstützt nur diejenigen, „die ehrlich an einer freiheitlichen Entwicklung Deutschlands und einer friedlichen Gestaltung der Welt arbeiten. Mit dieser Absichtserklärung tat der „ R u f " kaum mehr, als sich den Bestimmungen der amerikanischen Informationskontrolle zu beugen. Das Wort „unabhängig" war damals in der amerikanischen Besatzungszone unerläßlich; es sagte nichts über die wahren Tendenzen eines Presseorgans aus. Es war viel bedeutsamer, daß der „ R u f " sich als „Blätter der jungen Generation" darstellte, denn er grenzte so den Leserkreis ab, den er ansprechen und gleichzeitig zu Wort kommen lassen wollte. Er nahm auch damit in der damaligen Presselandschaft einen genauen Platz ein. Unter „Jugendzeitschriften, Blättern der jungen Generation" — englisch: „youth magazine" — ordnete die ICD alle Veröffentlichungen ein, deren Aufgabe darin bestand, „die Heranwachsenden und die jungen Heimkehrer in das politische und geistige Leben der Nation zu integrieren". (43) Dementsprechend definierte auch der „ R u f " die „junge Generation" in seinen redaktionellen Prinzipien wie folgt: Als „junge Generation" spricht Der Ruf die Jahrgänge an, die heute im Alter von 18—35 Jahren stehen. Es sind die Jahrgänge, die entweder nur noch die Depressionsjahre der Weimarer Republik kennengelernt haben oder aber vollständig von Nationalsozialismus und Krieg (Front- und Gefangenschaftserlebnis) geistig geprägt wurden.
Es handelte sich also im wesentlichen um ehemalige deutsche Soldaten, sei es, daß sie aus dem Militärdienst oder aus der Gefangenschaft entlassen oder aber noch in Gefangenschaft befindlich waren. Doch die „junge Generation" war unmittelbar nach Kriegsende auch ein Begriff, den man nach Belieben drehte und wendete. Oft war es eine trügerische Bezeichnung, die es den Vertretern der älteren Generation erlaubte, irrezuführen, wie H. Schwab-Felisch bemerkt: „Ein Zauberwort, mit der Ältere sich zu drapieren wußten" (44). Deshalb wollte der „ R u f " sich von den „ f ü r " , aber nicht „von" der jungen Generation verfaßten Veröffentlichungen unterscheiden, die sich durch Klagen, Selbstmitleid und offizielle Platitüde auszeichneten. Das erste Redaktionsprinzip des „ R u f " lautete: Der Ruf ist keine Publikation für die junge Generation, geschrieben von der älteren, sondern ein Blatt der jungen Generation für sich selbst. (*)
C. Vinz zufolge verpflichteten sich die Redakteure des „ R u f " , diese Prinzipien, die Teil ihres Vertrags waren, einzuhalten. Vgl. hierzu auch den vollständigen Wortlaut dieser Prinzipien im Anhang. (43) Siehe Deutsche Zeitschriften nach dem Zusammenbruch von G. Alexander, in „Akademische Rundschau", Nr. 8/1947, S. 3 3 8 f f . (44) In „Der R u f " . dtv-Dokumente, a.a.O., S. 10.
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Der „ R u f " schreibt sich zunächst die Funktion eines Wortführers zu, ohne jedoch Anspruch darauf zu erheben, als einziges Organ im Namen der jungen Generation sprechen zu dürfen. Er stellt sich nicht als das Blatt der jungen Generation dar, sondern als ein Blatt dieser Generation neben anderen. Im Jahre 1946 fürchtet diese „junge Generation", beiseitegedrängt zu werden, bevor sie auch nur Gelegenheit dazu gehabt hat, sich zu äußern. Desgleichen fürchtet sie, ungerechterweise an den Pranger gestellt zu werden. In „Jugend und junge Generation"(45) stellt H. W. Richter fest, daß sich Verwirrung in der Ordnung der Generationen breitgemacht hat. Die 14-jährigen betrachten sich als „junge Generation", die 17-jährigen als heranwachsende Generation, und die 30- bis 40-jährigen wissen nicht mehr so recht, wo sie nun eigentlich hingehören. Nicht ohne Groll bittet H. W. Richter die „Jugendlichen", abzuwarten bis sie an der Reihe sind: Die Jugendlichen aber, deren geheimer Ärger immer das „ Z u t r i t t verboten" ist, sie mögen sich in der Reihenfolge anschließen, die durch den Marsch der Generation von der Vergangenheit in die Z u k u n f t gegeben ist.
Was an dieser Stelle wichtig erscheint, ist weniger der autoritäre Stil — der eher an ein deutsches Familienoberhaupt zu erinnern scheint — als vielmehr die von H. W. Richter zum Ausdruck gebrachte panische Angst, von den „Jugendlichen" überholt zu werden. Wenn der „ R u f " solchen Wert darauf legt, jene von der Front heimkehrenden Männer, die in der Mehrzahl 30 bis 40 Jahre alt sind, als „junge Generation" zu bezeichnen, dann gerade weil er der Meinung ist, daß ihnen nach dem Krieg in der normalen Reihenfolge der Generationen das Recht zukommt, das Wort zu ergreifen: Wir meinen, daß diese Generation, der heute die Jahrgänge zwischen 20 und 40 angehören, eine junge genannt werden darf, weil sie im öffentlichen Leben noch gar nicht zum Zuge kam.
Jungsein ist weniger eine Frage des Alters als vielmehr der Verhältnisse. Man hat es mit Männern zu tun, die in ihrer Jugend während des Dritten Reiches ihr Leben nicht leben konnten und die verlorene Zeit wieder einholen wollen. Es sind, den redaktionellen Prinzipien des „ R u f " zufolge, jene Altersklassen,... welche die stärksten Blutopfer gebracht haben, die durch die geschichtliche Entwicklung aus den beruflichen und familiären Zusammenhängen am schärfsten herausgerissen wurden, die den Neubau ihrer geistigen und wirtschaftlichen Existenz leisten müssen, ohne in der Lage gewesen zu sein, sich das Rüstzeug anzueignen, wie es das Leben in einer friedlichen Welt bedingt.
Heinrich Boll hat über diese Generation gesagt, daß ihr meistgebrauchtes Wort — „das deutsche Segenswort" — nicht „Deutschland, Vaterland, Gott, Volk, Führer, Mutter oder Vater", sondern „Sch . . ." gewesen sei. (46) Es handelt sich um eine Generation, die Pech gehabt hat, die sich frustriert fühlt und die bereits verbittert (45) „Der R u f " , Nr. 6/1 (1.11.46), S. 7. (46) Heinrich Boll, A n einen Bischof, einen General und einen Minister des Jahrgangs 1917 in „Die Z e i t " , 2.12.1966.
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ist, wie aus den oben zitierten Sätzen hervorgeht. Ein Kriegsheimkehrer, der wenigstens seine Freundin wieder gefunden hat, bringt im Roman von W. Kolbenhoff, „ V o n unserem Fleisch und Blut" jene Frustration und jene N o t zum Ausdruck: Was habe ich gehabt? Nichts. Die Alten sollen nun die Schnauze halten und ganz ruhig sein. Sie haben alles gehabt und dann haben sie diesen Krieg angefangen. (. . .) Sie haben alles, Familien und Wohnungen und alles und wir haben nichts gehabt, und sie haben uns in den Krieg geschickt. Auch wenn alles wieder gut wird, können sie mir die letzten fünf Jahre nicht wiedergeben. Fünf Jahre, das ist viel. Ich habe sie gelebt und ich habe sie doch nicht gelebt. V o r diesen verfluchten fünf Jahren liegt meine Kindheit. Die ist endgültig vorbei.(47)
Niemand hat diese Frontgeneration besser charakterisiert als A. Andersch, als er sie eine „Zwischengeneration" nannte. (48) Im Jahre 1946 schweigt diese Generation noch, und ihr Schweigen ruft sogar Argwohn hervor. Man hält es für Verachtung, und man beginnt zu sagen, daß die Soldaten das Trauma des Krieges noch nicht überwunden hätten. Man ist der Meinung, daß sie stark vom Nationalsozialismus geprägt sind, da sie in vielen Fällen kein anderes Regime kennengelernt haben. Sie wären also unfähig, die Demokratie zu erlernen (vgl. hierzu M. Niemöller). In seinen redaktionellen Prinzipien vertritt der „ R u f " eine diesen Behauptungen diametral entgegengesetzte Meinung, da er sie für unbegründet hält. Er geht davon aus, daß „die junge Generation in ihrer Gesamtheit eine unbekannte Größe ist" und daß es schwierig ist, die Wirkung des Nationalsozialismus zu ermessen. Der Kriegsausgang hat zum anderen eine Bewußtwerdung bewirkt, Prozesse in Gang gesetzt, „von denen noch nicht genau gesagt werden kann, ob sie in den völligen Zynismus, in die Versteifung des Ressentiments oder aber in eine neue positive Einstellung münden werden". Wie auch immer der Einfluß des Nationalsozialismus auf jene Jahrgänge, die in den Krieg gezogen waren, gewesen sein mag, der „ R u f " ist davon überzeugt, daß die „junge Generation nicht im selben Maße wie das ältere Deutschland" für die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verantwortlich ist. Wo die redaktionellen Prinzipien des „ R u f " noch sehr vorsichtig waren, verschiedene Möglichkeiten der Entwicklung andeuteten und sich um Nuancierung bemühten, sind die ersten Nummern der Zeitschrift viel entschiedener. So findet H. W. Richter in Nummer 2, bei dem Versuch, das Schweigen der jungen Generation zu erklären, ausschließlich edle Motive bei ihr: Sie schweigt, weil sie mit den Begriffen und Problemen, die heute an sie herangetragen werden, nichts anzufangen weiß; sie schweigt, weil sie die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Wort und dem erlebten Leben zu stark empfindet. (49)
(47) Walter Kolbenhoff, „ V o n unserem Fleisch und Blut", a.a.O., S. 5 0 f f . (48) Alfred Andersch, Das Unbehagen in der Politik / Eine Generation unter sich in „Frankfurter H e f t e " , 1 9 4 7 , S. 9 1 2 - 9 2 5 . (49) H. W. Richter, Warum schweigt die junge Generation? in „Der R u f " , Nr. 2 / I (1.9.46), S. 1.
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Man darf sich an dieser Stelle fragen, inwiefern H. W. Richter selbst ein Opfer seines Optimismus war. Nicht jeder deutsche Soldat dachte nach dem Krieg zwangsläufig so wie es H. W. Richter ihm unterstellte. Nicht alle Soldaten wurden, nur um gegen ein Regime zu reagieren, das ihnen nichts als Unglück eingebracht hatte, zu Sozialisten oder Demokraten. Im Gegenteil, die Tatsache, daß sie den Nationalsozialismus nur an der Front erlebt hatten, konnte sie über das wahre Wesen des Dritten Reiches hinwegtäuschen. Bereits 1946/47 durch die „Frankfurter Hefte" angestellte Umfragen gingen eher in diese Richtung. Wie dem auch sei, der „Ruf" vertritt die Ansicht, daß man der jungen Generation das Wort erteilen müsse, d.h. Männern, die durch dieselben Erfahrungen geprägt sind wie sie auch seine Redakteure gemacht haben, nämlich: Kampf gegen den Nationalsozialismus, Krieg und meistens Gefangenschaft. Er rechtfertigt sein Vorgehen mit dem Bemühen um Gerechtigkeit in der Gegenwart und mit dem Willen, am Aufbau eines neuen Deutschlands teilzuhaben: Fest steht nur, daß diese Jahrgänge, die unter dem Nationalsozialismus mit Marschieren und Kämpfen beschäftigt wurden, auch heute noch nicht zum Sprechen bewegt worden sind. Im übrigen muß schon um der Bedeutung willen, die diesen Jahrgängen zukommt, der Versuch gemacht werden, ihre Haltung zu erforschen und auf sie einzuwirken, denn sie sind es ja, die in den kommenden Jahrzehnten die Haltung Deutschlands bestimmen werden.
Die zweite Ausführung zeigt deutlich, daß der „Ruf" sich nicht mit einer Fürsprecherrolle zufrieden geben will, daß er auch nicht nur Forum sein, sondern einen Auftrag erfüllen will, und zwar die junge Generation zu prägen. Wie könnte dies auch bei einer Zeitung dieses Namens anders sein? Der „Ruf" macht es sich zur Aufgabe, innerhalb der jungen Generation führende Kräfte ausfindig zu machen, sie zusammenzuführen und ihnen die Mittel zur Meinungsäußerung zu geben. Es geht ihm darum, eine Elite heranzubilden, die in der Lage ist, die Interessen der jungen Generation wahrzunehmen. Deshalb strebt der „Ruf" von vornherein ein hohes geistiges Niveau an. Doch dies bedeutet nicht, daß er darauf verzichten will, die ganze junge Generation zu prägen. Diese beiden Vorgehensweisen ergänzen einander auf dialektische Weise: das Ausfindigmachen der die Massen bildenden Führungskräfte impliziert eine Arbeit an der Basis. Man kann jedoch diese Konzeption nicht auf die herkömmliche Vorstellung von der Schulung und Kaderbildung in den politischen Parteien zurückführen, selbst wenn sie im Ansatz daraus hergeleitet wurde: Der „Ruf" glaubte nicht, daß die traditionellen Massenorganisationen dazu in der Lage sein würden, einen wirkungsvollen Prozeß der Demokratisierung in Gang zu setzen, und er glaubte auch nicht, daß man nach der Erfahrung des Dritten Reiches die Massen erfolgreich demokratisieren könnte. Schon der Begriff „Masse" erschien ihm verworren und gefährlich: zu sehr hatten seine Redakteure vor und während des Dritten Reiches die Unfähigkeit der Massen erfahren, um ihnen noch zu vertrauen. Es schien ihnen notwendig, zunächst die Führungsschicht zu erziehen, bevor man daran denken konnte, die Massen zu erziehen. 66
Später hat die Gruppe 47 diesen Begriff der „demokratischen Elitenarbeit" übernommen und das, was im „ R u f " nur andeutungsweise gesagt worden war, deutlicher herausgestellt. Geistig führende Kräfte sollten durch ihr Beispiel zeigen, was innerhalb einer Gruppe praktizierte Demokratie war. Die Schriftsteller der Gruppe 47 hofften, daß die von ihnen vorgelebte Demokratie auf lange Sicht eine Wirkung auf die Massen ausüben würde (50). Zu dem Begriff der Kaderarbeit gesellte sich so die Vorstellung von „exemplarisch handelnden Minderheiten". Der „ R u f " nahm seinen Lesern gegenüber eine Haltung ein, die von der seines Vorläufers in den Vereinigten Staaten grundverschieden war. A u s der Sorge um eine unmittelbare Wirkung heraus hatte sich der amerikanische „ R u f " seiner Leserschaft angepaßt: er wollte ihrer Vielfalt Rechnung tragen und niemanden außer acht lassen. Wir haben weiter oben gesehen, daß dies auch daran lag, daß er eher zum Nachdenken anspornen als eine bestimmte Richtung angeben wollte. Der Münchener „ R u f " seinerseits wollte durchaus ein möglichst großes Publikum innerhalb der jungen Generation ansprechen, jedoch nicht auf Kosten der Qualität oder eines Abweichens von der Richtung, die zu verfolgen er sich zum Ziel gesetzte hatte. Der amerikanische „ R u f " wird in den Münchener Redaktionsprinzipien erst am Ende erwähnt, wohingegen er im Lizenzantrag als Empfehlung bei den Amerikanern gedient hatte. Dies läßt auf eine Entwicklung der Redaktion schließen, die schon die zukünftigen Konflikte ankündigt. Aufmachung Die Aufmachung des „ R u f " ist durch seine halbmonatliche Erscheinungsweise bedingt. In seinen redaktionellen Prinzipien weist er darauf hin, daß seine Funkrion nicht die einer der Information dienenden Tageszeitung sein könne, daß er jedoch bestrebt sei, alle wichtigen Ereignisse „im Rahmen der durch die Papierknappheit gesteckten Grenzen" zu verfolgen. Er vertritt die Ansicht, daß es seine Aufgabe sei, direkt in einem Kommentar oder in der Form einer Diskussion, einer Analyse oder einer Reportage zu einem Ereignis Stellung zu nehmen. Dies macht ihn zu einem den meinungsbildenden Wochenzeitungen sehr nahe stehenden Periodikum. Doch der „ R u f " versteht sich ebenfalls als Zeitschrift: Da er den Ereignissen nicht auf den Fersen zu bleiben braucht, kann er einen größeren Abstand zu den Fragen der Zeit wahren und allgemeinere, über das eigentliche Tagesgeschehen hinausreichende Probleme ins Auge fassen: Neben einer solchen unmittelbaren Bezugnahme auf die Zeit, wird die Erörterung weiterreichender Probleme der geistigen, politischen und wirtschaftlichen Situation der jungen Generation in Artikeln, Artikelreihen und Berichten gepflegt werden.
(50) Vgl. „Almanachder Gruppe 4 7 " , a.a.O., S. 11.
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Es wird in diesen „Prinzipien" nicht auf die Notwendigkeit angespielt, Information und Kommentar voneinander zu trennen. In seinen ersten Nummern geht der „ R u f " im allgemeinen von der Annahme aus, daß die Fakten seitens der Leser bekannt sind, und er kommentiert in erster Linie. Das macht heutzutage die Lektüre des „ R u f " oft schwierig: ein Leser, der nicht auf dem Laufenden ist, erfährt nichts über die Fakten; er registriert nur Stellungnahmen. Von Anfang an präsentiert sich also der „ R u f " als meinungsbildendes Blatt, und damit wich er — sogar auf dem Gebiet der wöchentlich oder vierzehntägig erscheinenden Publikationen — von den amerikanischen Tendenzen ab. Er fragt nicht, ob Fakten erst dann der Kritik unterzogen werden dürfen, wenn sie vorher dargestellt worden sind. Dafür gibt es vielleicht einen ganz einfachen Grund — und nicht unbedingt Böswilligkeit: es fehlte an Papier, und man wollte zu möglichst vielen Themen seine Meinung äußern. Der „ R u f " läßt mit seinen gut gegliederten Rubriken eine einheitliche Konzeption in der Aufmachung erkennen. Das Layout veränderte sich in den ersten Jahren des Bestehens der Zeitschrift nur geringfügig. Die Titelseite bleibt ausschließlich dem Hauptartikel der Ausgabe vorbehalten: er ist dreispaltig gedruckt und gilt als Leitartikel. In den ursten sechzehn Nummern trägt er nur das Zeichen der Redaktion; er ist nie mit Namen unterzeichnet. Nur eine photographische Abbildung verhindert aufgrund ihres Formats — bis zu einer Viertelseite — , daß diese erste Seite zu nüchtern wirkt. Diese Aufnahme begleitet im allgemeinen eine Bildunterschrift, die ihren Sinn erläutert oder auch die Nichtübereinstimmung von Wort und Wirklichkeit hervorhebt (siehe Abb. 10, S. 223). Die fünf bis sechs folgenden Seiten sind Kommentaren, Reportagen und Analysen vorbehalten. Allmählich kamen Rubriken zustande: „Deutsche Kommentare" auf Seite 2 oder 3, die die Einstellung der Redaktion widerspiegeln und die politische Information des Leitartikels auf der Titelseite ergänzen; „Berichte des Ruf", bei denen es sich im allgemeinen um Reportagen zu einem innerdeutschen Problem oder über das Ausland handelt (Seiten 3 und 4); von der 4. Nummer an „Rufe an den Ruf", die nichts anderes als Leserbriefe sind (1/3 bis 2/3 Seite). Die Amerikaner maßen dieser Rubrik große Bedeutung bei, erlaubte sie es doch den Lesern, sich in ihrer Zeitung zu äußern — eine Gewohnheit, die die Presse der Weimarer Republik ihrer Meinung nach nicht genug gepflegt hatte. Von Zeit zu Zeit erscheint auf Seite 2 die Rubrik „Das Erlebnis", in der eine Anekdote mit moralischer Pointe aus dem Krieg oder der Zeit unmittelbar nach dem Krieg vorgestellt wird. Von der Nummer 11 an ist der größte Teil der Seite 4 einem „Politischen Notizbuch" gewidmet, das oft anderen Zeitungen entnommene Kurznachrichten aus der Politik bringt. Die Rubrik „Prisma / Berichte und Meinungen", die unten auf Seite 7 beginnt und sich über die ganze Seite 8 erstreckt, bricht mit der dreispaltigen Anlage der Artikel. Sie besteht aus einer Reihe von über vier Spalten gehenden Kurzartikeln, aus Glossen, wie sie die deutsche Presse von jeher kennt; sie sind oft engagierter geschrieben als die ersten Seiten und bringen die Meinung der Redaktion deutlicher zum Ausdruck. Von der Nummer 4 an erhielt diese Rubrik den Namen 68
„Mosaik", der an die Rubrik gleichen Namens im amerikanischen „ R u f " anknüpft. Die Seiten 9 bis 12 bilden unter dem Titel „Studio" den Feuilleton-Teil der Zeitschrift. Man findet dort im allgemeinen eine Erzählung, eine Reportage sowie eine Abhandlung oder ein Gedicht. Anstelle der Erzählung steht manchmal ein den Schönen Künsten, der Malerei oder der Architektur gewidmeter Artikel. Sehr oft nimmt die Schwarz-Weiß-Reproduktion eines Gemäldes eine ganze Seite ein. Diese Rubrik unterlag den meisten Änderungen in der Aufmachung (siehe Abb. 11, S. 224). Der „ R u f " endet mit einer „Kritischen Umschau", die auf zwei Seiten (1 Seite + 2 1/2 Seiten) Buchbesprechungen, eine Theaterchronik, Notizen zu kulturellen oder anderen Ereignissen enthält (siehe Abb. 12, S. 225). Diese „Umschau" teilt sich die beiden letzten Seiten jeder Ausgabe mit der Werbung (insgesamt zwei Seiten), welche zumeist von Verlagen, Schreibwarengeschäften und Buchhandlungen gemacht wird. Von der Nummer 12 an weicht ein Teil dieser Werbung Suchanzeigen und Kleinanzeigen. Jede Ausgabe ist mit vielen Zeichnungen, Photos und Karikaturen angereichert; letztere entstammen insbesondere der Feder von Franz Wischnewski, der für den amerikanischen „ R u f " gearbeitet hatte, und von Henry Meyer-Brockmann, der später der Karikaturist der Gruppe 47 werden sollte. Rein quantitativ gesehen erscheint der „ R u f " als eine mehr politische, denn kulturelle Zeitschrift. Von den vierzehn Seiten des redaktionellen Teils sind acht politischen, sozialen und wirtschaftlichen Problemen gewidmet und nur vier der Literatur und den Schönen Künsten. In der „Kritischen Umschau" nehmen politische Themen etwa dieselbe Stellung ein wie literarische Themen. Darüber hinaus muß berücksichtigt werden, daß das Feuilleton oft nur dazu dient, Auszüge eines Buchs oder ein Kunstwerk^bekanntzumachen. Dem Titel der Zeitschrift konnte in Deutschland nicht dieselbe Bedeutung zukommen wie in den deutschen Gefangenenlagern in den Vereinigten Staaten. In den Jahren 1945—1950 war er in den deutschsprachigen Ländern besonders in Mode, wie aus der nachstehenden Liste hervorgeht: „Der R u f " , Evangelisches Sonntagsblatt Altenkirchen/Westerwald (1945) „Der R u f " , Zeitschrift für junge katholische Menschen Salzburg (1946) „Der Ruf der Jugend", Eine Schriftenreihe des Stahlberg Verlags (1946) „Der R u f " , Mitteilungsblatt der Sozial-demokratischen Betriebsgruppen in Groß-Essen. Organ der SPD (1947) „Der R u f " , Blätter aus der Berliner Mission (1949) „Der R u f " , Ein kulturpolitischer Monatsspiegel für den Kreis Glauchau, Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (1949) „ R u f zur Wende", (für Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit — gegen Not, Krieg und Diktatur — Arbeitsgemeinschaft „ N i e wieder Krieg" (Zürich, seit 1922)
etc. etc.
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Die verschiedensten Organisationen, vor allem aber Christliche Institutionen, haben diesen Titel nach dem Krieg benutzt. Es ist eigentlich ein relativ neutraler Titel, der erst in Verbindung mit einem Untertitel einen Sinn erhält und erst durch die ihn benutzende Organisation eine bestimmte Geistesrichtung zum Ausdruck bringt. Die ideologische Skala der Organisationen, die ihn gebraucht haben, zeigt, daß es sich um einen überall einsetzbaren Titel handelt. Da er aber einen Aufruf signalisiert, erhält er eine kämpferische Bedeutung.
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DIE AUFGABEN DER JUNGEN GENERATION: DER RUF A. ANDERSCHS UND H. W. RICHTERS
3.1 Die Mitarbeiter und der Aufbau der Redaktion A m Anfang hatten nur A . Andersch und H. W. Richter — letzterer von der Nummer 4 an — einen Vertrag mit der Nymphenburger Verlagshandlung, der sie mit der Herausgabe des „ R u f " betraute. Sie verfügten über ein Büro außerhalb Münchens, in Krailling, wo eine Sekretärin für sie arbeitete. A . Andersch kam nur selten nach Krailling. Er war zu jener Zeit noch Mitarbeiter bei der „Neuen Zeitung". V o m 15.11.1946 an zeichnete er verantwortlich für die zweimal im Monat erscheinende Jugendseite „Junge Menschen und ihre Probleme". A m 17.1.1947 gab er auf eigenen Wunsch diese Stelle auf und wurde durch einen anderen ehemaligen Gefangenen von Fort Kearney, H. J. von Goertzke ersetzt(1). Überdies war er oft unterwegs: In Nr. 11 teilt er seine Eindrücke von einer Reise in den westlichen Teil Deutschlands, d.h. in die französische Zone, nach Köln und ins Ruhrgebiet, mit (2). In Nr. 16 berichtet er von einer Anfang März 1947 nach Hamburg unternommenen Reise(3). Demgegenüber ging H. W. Richter viel regelmäßiger ins Büro der Redaktion, wo er oft allein arbeitete. Er scheint damals außer dem „ R u f " keine andere Beschäftigung gehabt zu haben. Alle beide zeigten kaum Interesse für die organisatorischen Probleme, die sie C. Vinz, B. Spangenberg und G. Weiß überließen. A. Andersch wollte sich nach eigenen Aussagen, nicht mit technischen Details beschäftigen müssen. Die Wohnungen von C. Vinz und W. Kolbenhoff dienten zumeist als Versammlungsort. G. Weiß unterstanden der Vertrieb der Zeitschrift sowie Anzeigenwesen und Werbung. Gleichzeitig übte er in der Nymphenburger Verlagshandlung die Funktion des Personalchefs aus. Bei A . Andersch und H. W. Richter hat man es eher mit Intellektuellen, die Gehör finden wollen, als mit Journalisten zu tun, deren Beruf sie übrigens nie erlernt haben, wenn man einmal von den wenigen Grundbegriffen absieht, die sie sich in der Redaktion des amerikanischen „ R u f " aneignen konnten. Rückwirkend legt A . Andersch Wert auf die Feststellung, daß sie Amateure blieben. Er gesteht weiterhin ein, daß er große Bewunderung für die Berufsjournalisten empfand, die bei Redaktionssitzungen in der Lage waren, aus dem Stegreif die großen Züge des Zeitgeschehens zu umreißen, bevor sie ein Thema für einen Artikel vorschlugen (4). (1) Laut Mitteilungen in der „Neuen Zeitung", Nr. 91/2 Jg, 15.11.46 und Nr. 5/3 Jg, 17.1.47. (2) Vgl. Oer richtige Nährboden für die Demokratie. Bericht von einer Reise in den deutschen Westen, A . Andersch, „Der R u f " , Nr. 11/1 (15.1.47), S. 6 - 7 . (3) Wintersende in einer frierenden Stadt, A. Andersch, „Der Ruf", Nr. 16/1 (1.4.47), S. 7. (4) A. Andersch im Gespräch mit dem Verfasser in Zürich am 21.2.70.
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Der „ R u f " war nicht an die damals bestehende Presseagentur angeschlossen ( D A N A : Deutsche Allgemeine Nachrichtenagentur, dann ab Oktober 1946: D E N A : Deutsche Nachrichtenagentur). Ihm stand nicht das Netz von Korrespondenten zur Verfügung, das sich N. Sombart für „Die verlorene Generation" erträumt hatte. Seine Informationsquellen waren sehr begrenzt. Doch da der „ R u f " in München erschien, hatte er immerhin das Glück, die Depeschen, die in den Büros der „Neuen Zeitung" herumlagen, verwenden zu können. Oft verfügte er nur über die in eben jener Zeitung veröffentlichten Informationen, ohne sie jedoch überprüfen zu können. Diese Unzulänglichkeiten treten in manchen Artikeln des „ R u f " deutlich zutage, und sie erklären auch, daß dem „ R u f " keine große Wahl zwischen Information und Kommentar blieb: Er konnte nur kommentieren. In einem Artikel über das Verhältnis zwischen Professoren und Studenten spielt C. H. Ebbinghaus auf Schlägereien an, die nationalsozialistische Studenten in Erlangen angezettelt haben sollten. Er muß gleich eingangs zugeben, daß „er nicht in der Lage ist, das Geschehen mit der wünschenswerten Klarheit darzustellen"; doch dies hält ihn nicht davon ab, dieses Faktum an den Anfang seiner Argumentation zu stellen(5). In seinem an Marcel Cachin gerichteten Leitartikel ( „ A n Herrn Marcel Cachin") der Nr. 13 vom 15. Februar 1947 stützt sich H. W. Richter allem Anschein nach auf eine am 17. Januar in der „Neuen Zeitung" veröffentlichte Depesche der Agenturen D E N A und Reuter. Im ersten Absatz des Artikels übernimmt er den Wortlaut der „Neuen Zeitung" gleichsam Wort für Wort und zitiert aus der Rede Cachins vom 14. Januar vor der Nationalversammlung in Paris nur was auch die „Neue Zeitung" davon publiziert hat. Eine 2 5 Zeilen umfassende Meldung dient H. W. Richter als Vorwand, den französischen Kommunisten — die er des Verrats bezichtigt — eine heftige Kritik entgegenzuschleudern. U m bei der Gestaltung des „ R u f " nicht alleine dazustehen, mußten daher A . Andersch und H. W. Richter in dieser prekären Anfangslage notgedrungen etwa alles nehmen, was sie finden konnten, bzw. was man ihnen anbot. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, wenn man in den ersten Nummern Namen von Personen findet, deren Mitarbeit im gleichen Maße aufhörte, wie die Richtung des „ R u f " sich deutlicher abzeichnete und unbeirrbarer wurde. Es handelte sich dabei um jene Männer in der Nymphenburger Verlagshandlung, die den „Deutschen Beiträgen" näherstanden als dem „ R u f " : außer B. Spangenberg und W. Lauterbach waren dies G. R. Hocke und A . Parlach(6). A u c h Hans Friedemann, der Experte für wirtschaftliche Fragen des amerikanischen „ R u f " veröffentlichte
(5) Professoren und Studenten, C. H. Ebbinghaus, „Der R u f " , Nr. 2/1 (1.9.46), S. 4 - 5 . (6) B. Spangenberg, Notizen aus Konstanz, „Der Ruf", Nr. 1; W. Lauterbach, „Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung" (Rezension), Nr. 3; A . Parlach (E. Kuby), In unserem eigenen Saft, Nr. 1; Julian Ritter ( G.R. Hocke), Ideen in Amerika (Rezension), Nr. 3. Abgesehen von G. R. Hocke, der seinen Beitrag zur modernen deutschen Literatur unter dem Titel „Deutsche Kalligraphie" (siehe unten) im „ R u f " veröffentlichte, haben von den hier genannten Personen keine mehr unter der Leitung von A. Andersch und H. W. Richter imi „ R u f " publiziert.
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nur einen einzigen kurzen Artikel in Nr. 3, der den Titel „Alsterclub" trug. In derselben Ausgabe versuchte ein gewisser Theodor Fruhmann, die Lage der Schulen kurz nach dem Krieg zu analysieren (7). Der Artikel zeigt, daß die deutsche Jugend weiterhin zutiefst durch den Nationalsozialismus beeinflußt war, doch der Verfasser vermag seinerseits keine andere Abhilfe vorzuschlagen, als die möglichst umgehende Wiederherstellung von Ordnung und Disziplin in den Schulen. Dieser Artikel widerspricht den Tendenzen des „ R u f " und stellt einen Fremdkörper in der Zeitschrift dar. Th. Fruhmann hat — zumindest unter diesem Namen — keinen weiteren Artikel veröffentlicht. Doch der „ R u f " konnte auf Helfer nicht verzichten. A. Andersch holte sich Rat bei Hans Wallenberg(8), der damals Chefredakteur der „Neuen Zeitung" war und in München ungefähr die Rolle spielte, die W. Schönstedt in Fort Kearney gehabt hatte: er bestimmte, wie weit der „ R u f " gehen konnte, ohne unweigerlich den Bann der amerikanischen Militärregierung auf sich zu ziehen. Mitarbeiter der „Neuen Zeitung" versorgten den „ R u f " von Zeit zu Zeit mit Artikeln, wie z.B. der Leiter des Ressorts Außenpolitik, Hans Lehmann, der zwei Artikel für den „ R u f " schrieb, wovon der eine sich mit dem Nürnberger Prozeß, der andere mit dem Problem der deutschen Grenzen befaßte(9), oder wie auch Erich Pfeiffer-Belli(IO), H. J. von Goertzke(11) und Hildegard Brücher, damals Wissenschaftsredakteurin. Siegfried Heldwein, ein Mitarbeiter der „Süddeutschen Zeitung", und der Student Klaus Kulkies, der auch für die Karlsruher Wochenzeitung „ D u " (12) schrieb, leiteten dem „ R u f " regelmäßig Leseberichte, Buchbesprechungen und Kurznachrichten zu. Wenn es darum ging, Themen zu behandeln, die sie nicht beherrschten — insbesondere wirtschaftliche Fragen — mußten A. Andersch und H. W. Richter auf Experten zurückgreifen, wie z.B. Henry Ehrmann, der Professor am „Institute (7) Notruf eines Pädagogen, Theodor Fruhmann, „Der R u f " , Nr. 3 / I ( 1 5 . 9 . 4 6 ) , S. 4—5. (8) A. Andersch im Gespräch mit dem Verfasser in Zürich a m 2 1 . 2 . 7 0 . H. Wallenberg (1907—1977) war Mitarbeiter der „Vossischen Zeitung" in Berlin gewesen, bevor er in die USA emigriert war. Dort wurde er 1 9 4 2 zum Militärdienst eingezogen. Er kehrte 1945 nach Deutschland als amerikanischer Hauptmann (später Major) zurück. 1 9 4 5 gab er in Berlin im Auftrage der amerikanischen Armee die „Allgemeine Zeitung" heraus. Im Sommer 1946 wurde er nach Hans Habe Chefredakteur der „Neuen Zeitung". (9) Nach Angaben von Hans Lehmann selbst in einem Gespräch mit dem Verfasser in Stockdorf bei München am 2 2 . 9 . 6 9 . Beide Artikel — Nürnberg 1946 (Nr. 6) und Nationalstaat, Grenzen, Völkerrecht (Nr. 13) — wurden in der dtv-Auswahlausgabe des „ R u f " mit der Angabe veröffentlicht, der Verfasser sei unbekannt. (10) Wem die Stunde schlägt ( F i l m k r i t i k ) , „Der R u f " , N r . 7; In einer Nacht ohne Schlaf, N r . 11. E. Pfeiffer-Belli war wie E. Kuby als Lektor bei I C D angestellt. (11) Ein politisches Experiment, „Der R u f " , Nr. 2; Notizen von einer Diskussion (Die Marburger Hochschulwoche), Nr. 5 ; Hexenspuk, Nr. 6 . (12) „ D u " , Zeitschrift der jungen Generation, hrsg. von.Wilhelm Beisel. Verlag Woche und Zeit. Karlsruhe. 1. Jg. = 1947; sie stellte ihr Erscheinen 1 9 4 8 nach Heft 81 ein.
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of World Affairs" in New York war und der Lehrer A. Anderschs in Fort Getty gewesen war, oder Heinz Dietrich Ortlieb, der Professor für politische Ökonomie in Hamburg war und den H. W. Richter persönlich kannte. Für die Vorbereitung der Sondernummer über Frankreich (Nr. 5) gewannen sie zwei neue Mitarbeiter, die dann auch weiterhin der Zeitung verbunden blieben: Carl August Weber und Walter Maria Guggenheimer. Dennoch kristallisierte sich trotz vieler Unterschiede oder gar Meinungsverschiedenheiten sehr schnell ein Kern von Mitarbeitern um A. Andersch und H. W. Richter heraus. N. Sombart und C. H. Ebbinghaus (beide Jahrgang 1923) — die vielleicht darüber enttäuscht waren, daß sie auf ihr erstes Zeitungsprojekt zugunsten des „ R u f " hatten verzichten müssen — blieben etwas abseits. Sie hatten nicht dieselben politischen Ansichten wie A. Andersch, an dem sie gerade die politische Kampfbereitschaft erschreckte (13). Sie waren zehn bis fünfzehn Jahre jünger als die übrigen Mitarbeiter des „ R u f " und standen so stellvertretend für die studentische Jugend in der Redaktion. Dies erklärt vielleicht, daß es für sie noch schwieriger als für die Älteren war, sich in den Nachkriegsverhältnissen zurechtzufinden, daß sie auch skeptischer und politisch weniger festgelegt waren. Mit C. A. Weber und W. M. Guggenheimer fanden Freunde Frankreichs Eingang in den „Ruf". Der 1911 in Frankfurt geborene C. A. Weber nahm nach dem Krieg in Cherbourg an einem demjenigen von Fort Getty ähnelnden Unternehmen teil, das von französischer Seite ausging. Im Jahre 1946 war er Generalsekretär des neuen, in München gegründeten Schriftstellerverbandes und baute unter der Schirmherrschaft des französischen Konsuls sowie im Rahmen der „Arbeitsgemeinschaft Frankreich in der Kulturliga München" eine französische Bibliothek auf, die am 31. Mai 1947 am früheren Sitz der Nymphenburger Verlagshandlung in der Wotanstraße offiziell eröffnet wurde. Er veröffentlichte ein hektographiertes Bulletin: „Frankreich. Berichte aus dem französischen Kulturleben." Die Nymphenburger Verlagshandlung nahm es von 1947 an bis zu seiner Einstellung 1948 in ihrem Programm auf. W. M. Guggenheimer (1903—1967) hatte in Berlin und München Volkswirtschaft studiert. Seine Dissertation über „Imperialismus im Lichte der marxistischen Theorie" erschien 1927 in Bad Tölz unter dem Titel: „Bringt der Sozialismus den Frieden?" Während des Studiums war er Lektor an der „Weltbühne" in Berlin gewesen. Er schrieb in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften, bis ihn die NSGesetze von März 1933 daran hinderten. Dann ging er zur Maschinenfabrik, in der sein Vater Generaldirektor gewesen war, der Firma MAN (Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg), mit deren Hilfe er sich 1935 nach Teheran absetzte. Im Dezember 1941 schloß er sich den gaullistischen „Forces Françaises Libres" an. Für seine Verdienste in den Feldzügen in Nordafrika, Italien und Südfrankreich erhielt er die „Croix de guerre" und die „médaille d'Italie". Nach seiner Rückkehr (13) N. Sombart im Gespräch mit dem Verfasser in Straßburg am 21.6.69.
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nach Deutschland fühlte er sich allerdings als Deutscher und hielt Distanz zur Besatzungsmacht. Als bayerischer Föderalist gehörte er der CSU in führender Position an. W. M. Guggenheimer hielt es aber nie lange bei derselben Partei aus. Als Student in Berlin war er dem Sozialistischen Studentenbund beigetreten, 3 Jahre später ging er aber in München zur Studentengruppe der Deutschen Volkspartei. So wechselte er auch bald nach kurzem Engagement in der CSU zur SPD über. Damals schrieb er auch in dem ebenfalls von der Nymphenburger Verlagshandlung verlegten „Münchner Tagebuch"(14). W. Mannzen, F. Minssen und W. Kolbenhoff sind noch zu erwähnen. Trotz lockerer Bindungen zum „ R u f " zählten sie doch zum Kreis der treuen Freunde und Mitarbeiter. W. Mannzen wohnte nicht in München: er hatte sich zu jener Zeit bereits in Schleswig-Holstein, in Preetz bei Kiel, niedergelassen. Er nannte „Die Zeit" damals „kapitalistische Zeitung aus Hamburg"(15). Von der 2. bis zur 17. Ausgabe sandte er der Redaktion in München regelmäßig Artikel, die sich im wesentlichen mit Problemen des Marxismus und des Existenzialismus befaßten. Vielleicht lag es an der geographischen Entfernung, daß seine Artikel im Stil nuancierter und weniger heftig waren, als diejenigen A. Anderschs und H. W. Richters. F. Minssen (geb. 1909 in Danzig) kam durch Vermittlung E. Kubys, mit dem er in Berlin im gleichen Verlag gearbeitet hatte, zum „ R u f " . Nach dem Krieg wurde er zunächst als Kriegsgefangener in Holland festgehalten. Nach seiner Freilassung fand er eine Stelle als Redakteur bei der Illustrierten „Heute", die die amerikanische Militärregierung nach dem Vorbild des Magazins „ L i f e " gegründet hatte. Er schrieb dort Artikel über Politik und Wirtschaft. W. Kolbenhoff wurde 1908 in Berlin als Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Mit siebzehn Jahren verließ er Deutschland. Sein unstetes Leben führte ihn durch Europa, Asien und Afrika. Nach der Rückkehr nach Berlin trat er im Jahre 1928 der KPD bei. Als Journalist kam er 1930 zur „Roten Fahne". 1933 emigrierte er nach Dänemark, wo er mit Wilhelm Reich Freundschaft schloß. Im gleichen Jahr veröffentlichte er seinen ersten Roman, „Untermenschen". Im Jahre 1934 wurde er wegen seiner trotzkistischen Einstellung aus der KPD ausgeschlossen. Nach der Besetzung Dänemarks durch Deutschland im Jahre 1940 ging er in den Untergrund. Er blieb weiterhin mit den deutschen Kommunisten in Verbindung und erhielt die Aufgabe, in die Wehrmacht einzutreten und dort zu agitieren — eine Infiltration ohne Aussicht auf Erfolg. Nach seiner Gefangennahme wurde er im Juli 1944 in die Vereinigten Staaten, in Lager in Virginia, Louisiana und Mississipj geschickt. Im August 1945 kam er nach Fort Kearney, wo er die verschiedenen Mitarbeiter des „ R u f " kennenlernte. Er wurde im April 1946, zur gleichen Zeit wie W. Mannzen und H. W. Richter freigelassen. Während seiner Gefangenschaft schrieb er einen Roman, „Von unserem Fleisch und Blut", in dem er die (14) Vgl. Beobachter zwischen den Zeiten: „WG" („WMG") in „Frankfurter Hefte", 1967, S. 525-536. (15) Utopie und Politik, „Der Ruf", Nr. 13/1 (15.2.47), S. 2.
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Reaktionen eines jungen, siebzehnjährigen Deutschen beschrieb, der in einer bereits von den Amerikanern eingeschlossenen Stadt eine Nacht lang ganz alleine Widerstand zu leisten versucht. (16) 1946 erhielt W. Kolbenhoff für diesen Roman den v o m amerikanischen „ R u f " und dem Bermann-Fischer-Verlag gemeinsam gestifteten Preis der jungen Generation. W. Mannzen zufolge war er für die Öffentlichkeit der Nachrkiegszeit die Offenbarung des nicht-nationalsozialistischen Schriftstellers. (17) Der „ R u f " feierte W. Kolbenhoff wegen dieses Buches und wegen seiner Erfahrung des Krieges und der Gefangenschaft als den typischen Vertreter der jungen Generation: „So gleicht sein Leben dem Schicksal der jungen Generation"(18). In seiner ersten Ausgabe druckte er einige Seiten aus „ V o n unserem Fleisch und B l u t " ab. D o c h W. Kolbenhoff — der damals ebenfalls bei der „Neuen Zeitung" arbeitete — war für den „ R u f " nicht so sehr als Mitarbeiter bedeutend, als vielmehr als Referenz, eine A r t von Autorität. Er war wohl der einzige, der sich in einem offenen Brief direkt an die Nobelpreisträgerin Sigrid Undset(19) wenden konnte, um ihr zu zeigen, welches Unheil sie womöglich anrichtete, wenn sie alle Deutschen zu jeglicher Kultur unwürdigen Barbaren machte. Er war auf alle Fälle ein Schriftsteller, bei dem man sich gerne zusammenfand und den junge Schriftstellertalente um Rat angingen. Dies geschah wohl für seine Begriffe zu oft, denn er mußte sie in Nr. 9 ( „ A n meine jungen Kollegen") davon abbringen, ihm weiter zu schreiben. Die Mitarbeit am „ R u f " war nicht die Hauptbeschäftigung jener Journalisten. Zunächst bezahlte die Nymphenburger Verlagshandlung ihre Mitarbeiter auch nicht besonders gut. A m Anfang dürfte H. W. Richter nicht mehr als 600,— R M im Monat verdient haben, was damals dem Gehalt eines Redaktionsassistenten in Berlin entsprach. A . Anderschs Lage war wesentlich besser. Er konnte auch die Kosten für die Vorarbeiten am „ R u f " zunächst aus eigener Tasche bezahlen. Es handelte sich dabei um Honorare für übernommene Manuskripte, Kosten für Schreibarbeiten, das Gehalt einer Redaktionssekretärin, ein Fixum von 100,— R M für N. Sombarts Korrespondententätigkeit, Materialkosten, Büroraummiete, etc. A b 1.11.1946 bezog A . Andersch ein Monatsgehalt von 1 0 0 0 , - R M , wobei eigene Artikel und Lektoratsaufträge für den Verlag gesondert honoriert wurden. Zu demselben Zeitpunkt wurde Richters Gehalt um 200,— R M auf 800,— R M , ein Monat später um weitere 200,— R M auf 1000,— R M erhöht, so daß er genau soviel wie A. Andersch verdiente(20). (16) „ V o n unserem Fleisch und Blut" wurde zunächst 1946 vom Bermann-Fischer Verlag in Stockholm veröffentlicht, dann in München von der Nymphenburger Verlagshandlung. (17) W. Mannzen im Gespräch mit dem Verfasser in Kiel am 23.5.67. (18) Siehe Kolbenhoffs Porträt, das der „ R u f " seinem Artikel „Wir wollen leben!" in Heft 3/I (15.9.46) S. 6 - 7 vorausschickte. (19) W. Kolbenhoff, Brief an Sigrid Undset, „Der Ruf", Nr. 4/I (1.10.46), S. 13. (20) Cf. Schreiben von A. Anderschan C. Vinz vom 17.5.46 und die Anstellungsverträge von A. Andersch und H. W. Richter (Archiv B. Spangenberg).
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Kurze Zeit vor dem Ausbrechen der Krise, die im A p r i l 1 9 4 7 zu Veränderungen in der Redaktion führte, stellte der „ R u f " dann einen Berufsjournalisten ein, Walter Heist, der die Aufgaben des Chefredakteurs wahrnehmen sollte. A . Andersch begann damals, weniger Interesse an der Zeitschrift zu haben. W. Heist wurde 1 9 0 7 in Hessen geboren. V o r 1 9 3 3 hatte er bereits als Journalist gearbeitet. Er war der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) beigetreten, in der sich Sozialdemokraten des linken Flügels der SPD zusammenfanden, unter ihnen auch W i l l y Brandt. Im Dezember 1 9 3 2 promovierte er über das Thema: „Wege zum proletarischen R o m a n in Frankreich". A b 1 9 3 3 war er Vertreter und arbeitete nacheinander für verschiedene Buchhandlungen und Versicherungsgesellschaften. Z w i schenzeitlich schrieb er Theaterstücke, unter anderem auch „Der tolle Invalide", zu dem ihn A c h i m von A r n i m inspiriert hatte. Nach sieben Jahren Krieg wurde er dann von den Amerikanern gefangengenommen und schließlich den Engländern übergeben. Erst im Januat 1 9 4 7 wurde er in die Heimat entlassen. Direkt anschließend nahm er seine Tätigkeit bei der Nymphenburger Verlagshandlung auf. Wenn man die Schicksale der Mitarbeiter des „ R u f " vergleicht, stellt man zwar eine ganze Reihe von Unterschieden fest. Doch die meisten von ihnen hatten auch die gleichen Erfahrungen. Sie kamen größtenteils aus dem sozialistischen oder kommunistischen Lager. Sie hatten alle am Krieg teilgenommen, die Gefangenschaft miterlebt und waren mehr oder weniger alle — sei es nun bei den Amerikanern oder bei den Franzosen — „umerzogen" worden. Ihnen war auch gemeinsam, daß sie in den Gang der Dinge eingreifen wollten. Sie erkannten sich bei Erich Kästner in der Gestalt Fabians wieder, dessen Schwächen sie jedoch nicht teilen wollten. Fabian kennzeichnete 15 Jahre zuvor, z . Z t . der Weltwirtschaftskrise, die gleiche illusionslose Einstellung wie A . Andersch in der 3. Ausgabe des „ R u f " unter dem Titel „ F a b i a n w i r d positiv" schrieb: Denn es ist die Geschichte des jungen Mannes nach dem ersten Weltkrieg, eines jungen Mannes ohne Illusion, ohne Hoffnung, äußerst lehrreich gerade für uns, die junge Generation nach dem zweiten und noch verheerenderen Krieg. Wir haben durchaus Anlaß, uns in diesem „Fabian" gespiegelt zu sehen, in seiner lllusionslosigkeit, in seiner Notwendigkeit, zu allem und jedem Nein zu sagen, weil alles, was er sieht und erlebt, schmutzig und gemein ist. Angesichts des Aufstiegs des D r i t t e n Reiches hatte E. Kästner m i t Fabian ein Exempel statuieren, aufzeigen wollen, was die Weimarer Republik bedrohte. Fabian mußte sterben, weil er schwach und müde war. Das war im Jahre 1 9 3 1 . Die junge Generation sollte sich in Fabian wiedererkennen, nicht jedoch seine Schwächen besitzen: Was wir wünschen, ist die Anständigkeit und Tapferkeit des Kästnerschen Romanhelden: was wir ablehnen, seine Müdigkeit und Glaubensschwäche.
3.2
Blatt der Jungen Generation oder Oppositions-Blatt?
Es soll jetzt untersucht werden, ob der „ R u f " den an ein „Blatt der jungen Generation" gestellten Anforderungen gerecht wurde. Kümmerte er sich tatsächlich, entsprechend seinem Auftrage, um die Probleme der heranwachsenden Jugend, der deutschen Kriegsgefangenen und der Heimkehrer? 77
In den ersten fünf Ausgaben kam den Problemen der Gefangenschaft große Bedeutung zu, und der „ R u f " schien es sich u.a. zur Aufgabe zu machen, die öffentliche Meinung an die zahlreichen deutschen Soldaten zu erinnern, die noch fünfzehn Monate nach Kriegsende als Gefangene festgehalten wurden. In einem Kommentar mit dem bedeutungsschweren Titel „Die Vergessenen?" („Ruf", Nr. 3) rief er die deutsche Presse auf, die sofortige Rückführung der noch in Großbritannien befindlichen 390.000 Kriegsgefangenen in die Heimat zu fordern. Er warf ihr allzu große Zurückhaltung vor und meinte, sie sollte sich in dieser Forderung von der englischen Presse nicht übertreffen lassen. Das Photo auf der Titelseite der ersten Ausgabe zeigte einen sich ergebenden deutschen Soldaten. Dies mußte unweigerlich viele Leser des „ R u f " an den Augenblick erinnern, der ihrer Gefangennahme vorausging. In derselben Ausgabe berichtete A. Andersch auf fast zwei Seiten über Gespräche zwischen deutschen Kriegsgefangenen in den Vereinigten Staaten: „Gespräche am Atlantik". Diese „Gespräche hinter dem Stacheldraht" fanden in den Lagern an der Küste Neu-Englands statt, „in denen sich in den letzten Kriegsmonaten Amerikaner und Deutsche zu gemeinsamer Arbeit trafen", wie es in einer einleitenden Bemerkung heißt. Die Anspielung auf Fort Kearney und Fort Getty ist unverkennbar. A. Andersch erinnert sich voller Bewegung und Bewunderung an den Philosophieprofessor aus Chicago, der dort Vorlesungen über die Politik und die Geschichte der Vereinigten Staaten hielt. Er erzählt auch die Geschichte jenes anderen Professors, der sich aus Protest gegen die Praktiken der amerikanischen Armee in den Lagern weigerte, seine Vorlesungen fortzuführen. Es handelte sich um Howard Mumford Jones, Professor für amerikanische Literatur in Harvard: er hatte gefordert, den Stacheldraht um das Lager, wo er unterrichtete, zu entfernen. In Nr. 3 wurde auf der ersten Seite ein Auszug aus einer Ansprache abgedruckt, die er im Mai 1945 vor deutschen Gefangenen gehalten hatte. Im wesentlichen meinte er, es sei nach dem Sieg der Alliierten über Deutschland falsch zu glauben, daß die Amerikaner nur Gutes tun könnten, wohingegen das Böse ausschließlich auf Seiten der Deutschen bleibe. Unter dem Pseudonym Julian Ritter veröffentlichte G. R. Hocke in derselben Nummer eine Rezension des Buches von H. M. Jones, „Ideas in America". Das Interesse des „ R u f " an den Gefangenen zeigte sich auch in der Auswahl der Bilder, bzw. der Bücher, die er rezensierte. In seiner ersten Ausgabe übernahm er die in der Baseler „National Zeitung" erschienene Besprechung des Buches Dr. A . L. Vischers, „Die Stacheldrahtkrankheit / Beiträge zur Psychologie der Kriegsgefangenen". In der 2. Ausgabe druckte er auf einer ganzen Seite ein Bild Josef Seidl-Seitz' ab, „Die Gefangenen". Er versäumte es auch nicht, W. Kolbenhoff oder den Zeichner F. Wischnewski als ehemalige Kriegsgefangene vorzustellen (Nr. 3). Der „ R u f " versuchte damals aufzuzeigen, welche Auswirkungen die Kriegsgefangenschaft auf die schöpferischen Kräfte des einen wie des anderen hatte haben können. Als ehemalige Kriegsgefangene glaubten A. Andersch und H. W. Richter, daß sie es sich schuldig waren, das Leid der Kriegsgefangenen bekanntzumachen und diesen bei der Überwindung ihrer Schwierigkeiten behilflich zu sein. In diesem 78
Sinne ergriff der „ R u f " die Initiative, eine Sammlung der besten Gedichte herauszugeben, die hinter Stacheldraht entstanden waren. Er wollte nicht so sehr diese Gedichte z u m Gegenstand einer Untersuchung machen, wie schon H. W. Richter in dem A r t i k e l „ L y r i k der Kriegsgefangenen" (Nr. 3 ) , als vielmehr d a m i t den Gefangenen die Integration in das gesellschaftliche Leben erleichtern. Indem er ihre Werke veröffentlichte, wollte der „ R u f " ihnen einmal eine Freude bereiten und dazu Interesse für das zeigen, was ihnen die Gefangenschaft erträglicher gemacht hatte ( 2 1 ) . A . Andersch zeigte auch seinen amerikanischen Lehrern von Kearney und G e t t y seine Anerkennung. Das Beispiel von Prof. H. M. Jones ist schon bezeichnend. Interessanter noch ist die Tatsache, daß der „ R u f " in seinen N u m m e r n 3 und 4 Auszüge einer Vorlesung abdruckte, die Prof. Henry Ehrmann v o m „Institute of World A f f a i r s " vor deutschen Kriegsgefangenen in A m e r i k a gehalten hatte, um unter d e m T i t e l „ I m V o r r a u m des Sozialismus" ein für ihn zentrales T h e m a anzugehen: die Probleme der sozialistischen Planung und ihre Auswirkungen auf die Freiheiten des einzelnen. Es handelte sich zwar nicht, wie im „ R u f " angegeben, u m einen Originalbeitrag, aber gerade das, was H. Ehrmann in einem Brief an die Redaktion freundschaftlich eine „ f r o m m e Lüge" nannte ( 2 2 ) , zeigt, in welchem Maße sich A . Andersch seinem Lehrer von F o r t G e t t y verpflichtet fühlte. Es verdeutlicht überhaupt den großen Einfluß, den die amerikanischen Professoren auf die Gefangenen, die sie „umzuerziehen" hatten, ausübten. Das wöchentliche Informationsblatt der amerikanischen Militärregierung vermerkte noch im Jahre 1 9 4 8 , daß die meisten ehemaligen Schüler von G e t t y nach ihrer Rückkehr in die H e i m a t mehr oder weniger m i t ihren früheren Lehrern in Verbindung blieben ( 2 3 ) . In seinen ersten N u m m e r n schenkte der „ R u f " nicht nur Kriegsgefangenen und Heimkehrern große Aufmerksamkeit, er gewährte auch studentischen Fragen breiten Raum. Der „ R u f " brachte in seiner ersten Ausgabe die Rede des früheren Rektors der Technischen Hochschule München, Geh. Rat Georg Faber, anläßlich der Wiederaufnahme des Studienbetriebs. Er veröffentlichte sie unter dem T i t e l : „Wie man zu Studenten spricht", was zeigt, daß er eine Lektion erteilen wollte. C. H . Ebbinghaus schrieb auf zwei Seiten über die Probleme, die sich Professoren und Studenten nach dem Krieg stellten: „Professoren und S t u d e n t e n " ( N r . 2). Man vergleiche dazu auch den bereits erwähnten A r t i k e l T h . Fruhmanns: „ N o t r u f eines Pädagogen". Jede N u m m e r enthielt am A n f a n g einen A r t i k e l über die Studenten.
(21) Im Heft 14/1 veröffentlichte der „Ruf" auf einer ganzen Seite Gedichte von Kriegsgefangenen, u.a. von Wolfdietrich Schnurre, Günter Eich, Wolfgang Lohmeyer. Diese Gedichte waren einem Sammelband entnommen, den H. W. Richter bei der Nymphenburger Verlagshandlung 1947 herausbrachte: „Deine Söhne", Europa, Gedichte deutscher Kriegsgefangener. (22) In Brief H. Ehrmanns an den „Ruf" vom 3.11.1946. Archiv B. Spangenberg. (23) Germany through the eyes of former model PW's in Weekly Information Bulletin OMGUS, Nr. 132,6.4.48.
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Doch nach der Nummer 5 werden im „Ruf" Tendenzen deutlich, den engen Rahmen, in den ihn der Begriff „junge Generation" einzuschließen drohte, zu sprengen. In Nr. 5 befaßt sich A. Andersch auf 2 1/2 Seiten mit den deutschen Kriegsgefangenen, von denen — wie er feststellt — noch an die sechs Millionen über die Welt verstreut sind, doch geschieht dies, um Bilanz zu ziehen: „Die Kriegsgefangenen / Licht und Schatten. Eine Bilanz." Nun zieht man allerdings nur dann Bilanz, wenn man eine Aufgabe erfüllt hat. A. Andersch scheint damals der Meinung gewesen zu sein, daß der „Ruf" genug über die Kriegsgefangenen berichtet habe und sich nun einer größeren Aufgabe zuwenden müsse. Nach der Nr. 5 findet man keine Artikel mehr, die sich speziell auf die Kriegsgefangenen beziehen. Das Problem der Studenten wird seltener zum Gegenstand von Artikeln bzw. wenn der „Ruf" noch über die Universität spricht, dann geschieht dies auf viel allgemeinere Weise als in seinen ersten Ausgaben. Der „Ruf" wollte von nun an hauptsächlich die Rolle eines Oppositionsblattes spielen. Das Heft Nr. 8 wurde mit einem Hauptartikel aufgemacht, der den Titel hatte: „Grundlagen einer deutschen Opposition". Doch bereits in der ersten Ausgabe hatte A. Andersch in einem programmatischen Artikel die ideologischen Grundlagen für eine europäische sozialistische Bewegung niedergelegt. Grundlagen einer deutschen Opposition A. Andersch stellt zunächst fest, daß sich in Europa allen pessimistischen Voraussagen zum Trotz ein Wille zur Erneuerung zeigt, wenngleich dies zunächst noch auf kleine verstreute Gruppen beschränkt ist. Es handelt sich dabei um zumeist noch unbekannte junge Leute, die soeben die Schlachtfelder — und nicht etwa ihre Studierzimmer — verlassen haben. Sie alle haben den Sinn für „Aktion" miteinander gemein. A. Andersch versucht dann die junge deutsche Generation im Vergleich zu dieser europäischen Bewegung einzuordnen, und er glaubt zu entdecken, daß trotz des Faschismus, der sie trennt, die jungen Deutschen und die jungen Europäer miteinander gemein haben, eine Wahl getroffen, d.h. eine und dieselbe existentielle Haltung eingenommen zu haben: Das dünne Seil, das die feindlichen Lager verknüpft, heißt also Haltung — Gemeinsamkeit der Haltung und des Erlebens, unabhängig von Ideologie und Ethos.
A. Andersch übernimmt hier die Sartresche Vorstellung von der „existentiellen Entscheidung" um zu zeigen, daß den jungen Deutschen, auch wenn sie für die falsche Sache Partei ergriffen haben, doch immerhin das Verdienst zukommt, sich eingesetzt zu haben. Was die einen zur Widerstandsbewegung, die anderen zum Nationalsozialismus geführt hatte, entsprang derselben Bereitschaft zum Engagement, dem Willen, „sich einzusetzen". Dieser Begriff kommt im „Ruf" immer wieder vor. A. Andersch ist sich nur wenig darüber im klaren wie sehr diese Behauptung Anstoß erregen kann, doch das hat für ihn insofern kaum Bedeutung als er vor allen Dingen das Verbindende und nicht das Trennende sucht. In dem Bemühen, 80
die deutsche Jugend sich nicht in einem Getto isolieren zu lassen, aus dem sie nur unter größten Schwierigkeiten wieder herausfinden könnte, will er Brücken zwischen Deutschland und dem übrigen Europa schlagen. Dafür gibt es nach A . A n derschs Meinung nur zwei Methoden, welche er nacheinander untersucht: — Die allierte Umerziehungspolitik kann sehr wohl einen Umwandlungsprozeß in Deutschland einleiten, doch sie erinnert zu sehr an den nationalsozialistischen Begriff „Umschulung", und überdies kommt sie aus dem Ausland. Sie kann also nicht das richtige Mittel für junge Leute sein, die sechs Jahre lang mit nichts anderem als der Aussicht auf den T o d konfrontiert waren. Das Erlebnis des Todes als existentielles Erlebnis („Erlebnis" ist ein weiteres ständig bei A. Andersch und H. W. Richter auftauchendes Wort) ist in den Augen A . Anderschs von grundlegender Bedeutung. Daher bleibt als Methode nur — die Umwandlung Deutschlands aus eigener Kraft („die Wandlung als eigene Leistung"), d.h. ein Prozeß, der nach Meinung A . Anderschs bereits im Gange ist und den „die Vereinigung der Emigration mit Deutschlands junger Generat i o n " nur noch beschleunigen kann. Die von jungen deutschen Intellektuellen in der Emigration in Yale, Harvard oder New Y o r k (Institute of World Affairs) betriebenen Forschungen auf dem Gebiet der Geschichte, der Soziologie und der politischen Wissenschaften dienen den Überlegungen der jungen Generation als Grundlage. A. Andersch glaubt in Arthur Koestler das existentielle Vorbild zu finden, dem es nachzueifern gilt. Diese Vereinigung der Emigration mit dem jungen Deutschland sollte gleichzeitig auch zu einer Vereinigung Europas mit Amerika führen: Mit seiner zweihundertjährigen republikanischen Tradition und seiner Fähigkeit, den Geist der Freiheit zu pflegen und zu behüten, ist Amerika im Begriffe, zur mütterlichen Brutstätte einer europäischen Erneuerung zu werden.
A . Andersch vertraut zugleich auf ähnliche Strömungen in Europa. Für Frankreich nennt er die Gruppe der Existentialisten um Sartre, Camus und S. de Beauvoir, die Gruppe um die Zeitschrift „Esprit" von E. Mounier sowie Aragon in der Kommunistischen Partei. In Italien fühlt er sich durch die Bestrebungen Ignazio Silones, der Sozialismus und Religion miteinander zu versöhnen versucht, sowie des Gründers der Widerstandsbewegung „Gerechtigkeit und Freiheit", Ferruccio Pari (Republikanische Partei), angezogen. Er registriert, daß in England die Labour Party an der Macht ist. Bei anderen Gelegenheiten zeigt der „ R u f " besondere Sympathie für den Schriftsteller Stephen Spender. Diese Bewegung der europäischen Jugend verbindet nach Ansicht A. Anderschs das gemeinsame Streben nach einer „Einheit Europas" auf der Grundlage eines „sozialistischen Humanismus". Die europäische Jugend ist seiner Meinung nach insofern sozialistisch, als sie sich nicht mit einfachen „sozialen Reformen" zufriedenstellen, sondern den privaten Besitz der Produktionsmittel abschaffen und die Planwirtschaft einführen will. Doch wenn sie auch den Sozialismus als notwendig erachtet, so darf dessen Errichtung jedoch nicht den Freiheiten des einzelnen zum Nachteil gereichen. In diesem Sinne ist die europäische Jugend auch humanistisch.
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A. Andersch weist „jenen orthodoxen Marxismus, der die Determiniertheit des Menschen von seiner Wirtschaft postuliert und die menschliche Willensfreiheit leugnet", entschieden zurück, worin er den Existentialisten sehr nahesteht. In Deutschland glaubt A. Andersch eine ähnliche Bereitschaft in den Gruppen, die sich um die Zeitschriften „Die Gegenwart", „Aufbau", „Die Wandlung", „Ende und Anfang" herum gebildet haben, zu bemerken. Er stellt fest, daß die beiden großen deutschen Parteien sich ebenfalls für sozialistische Lösungen aussprechen. A m Ende seines Leitartikels schließt A. Andersch mit der Bemerkung, daß man die junge Generation auf keinen Fall als „verlorene Generation" bezeichnen kann.
3.3 Die Ideologie des „Ruf" Die ersten sechzehn Ausgaben des „ R u f " tun kaum mehr, als diese Ideen A. Anderschs zu wiederholen. Zwar stellen sie sie unter verschiedenen Blickwinkeln dar und variieren sie in die eine oder andere Richtung, doch verändern sie sie niemals spürbar im Zusammenhang mit der Entwicklung der politischen Lage in Deutschland. Sozialistischer Humanismus und das Verhältnis zwischen Ost und West Der Begriff „sozialistischer Humanismus" ist nicht das Produkt einer abstrakten, intellektuellen Überlegung. Er ist H. W. Richter zufolge das historische Ergebnis der sozialistischen Kritik am bis dahin in der Sowjetunion üblichen Sozialismus. Aufgrund des Zwangs, sein humanitäres Ideal von der Befreiung des Menschen in der Praxis zu verwirklichen, schuf der Sozialismus nur neue Widersprüche, und es zeigte sich, daß er seiner Aufgabe noch nicht gewachsen war. Während er sich vornahm, den Menschen durch die Sicherstellung seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit glücklich zu machen, verplante er nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den Menschen selbst. Der Mensch hörte von diesem Augenblick an für den Sozialismus auf, ein Individuum zu sein, dessen persönliche Entfaltung er fördern wollte, und war nur noch ein Objekt, ein Mittel: Die Funktionalisierung und Mechanisierung des Menschen, von der kapitalistischen Ordnund vorangetrieben, erscheint sich erst nun mit der absoluten Planwirtschaft endgültig zu vollenden. (24)
Schließlich begnügt sich H. W. Richter damit. Vor- und Nachteile der verschiedenen Systeme gegeneinander abzuwägen. Der Kapitalismus der bürgerlichen Gesellschaftsordnungen bewirkt die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, garantiert allerdings die Freiheiten des einzelnen. Der Sozialismus macht die Planung in hohem Maße möglich — und diese Planung ist nötig, um mit der Not fertigzuwerden —, doch er ruft dabei eine Bürokratisierung der Wirtschaft und des Staates hervor, die die Freiheit bedroht. H. W. Richter gelangt schließlich da(24) Die Wandlung des Sozialismus und die junge Generation, H.-W. Richter, "Der Ruf", Nr. 6/1 (1.11.46), S. 1.
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zu, eine Art Arbeitsteilung zwischen Kapitalismus und Sozialismus vorzuschlagen. Ihm schwebt vor, daß Deutschland beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft die Vorteile des Sozialismus und beim Aufbau des Staatswesens die Vorteile der bürgerlichen Demokratie ausnutzt. In diesem Sinne sind für ihn Sozialismus und Freiheit gleichwertige Komponenten, von denen man keine der anderen unterordnen kann. Er schlägt folgende Formel vor: Sozialismus und Freiheit, jal Unterordnung des einen unter das andere. Nein!
Denn die Unterordnung der Freiheit unter die Zwänge der Planung würde nach dem bolschewistischen Modell „erneute Versklavung, Kasernenhof, Konzentrationslager, Galgen und Krieg" bedeuten; die Unterordnung des Plans unter die Erfordernisse des liberalen Systems würde die „Fortsetzung des Hungers, des Massenelends und des Massensterbens" zur Folge haben. In Wirklichkeit hatte der „Ruf" bereits in seiner ersten Ausgabe eine andere Wahl getroffen, als nämlich A. Andersch erklärte, daß „die junge Generation bereit wäre, das Lager des Sozialismus zu verlassen", falls sie dort ihre Freiheit gefährdet sähe(25). Nicht zufällig hatte er das Schlagwort vom „sozialistischen Humanismus" verkündet. Auf diese Weise wollte er zeigen, daß dies etwas anderes als „humanistischer Sozialismus" sein sollte. Damit legte er Prioritäten fest und verlieh dem Begriff „Humanismus" größeren Nachdruck vor dem Begriff „Sozialismus". Mit dem Hinweis auf das Fehlen von Freiheit als Faktum im Sozialismus und auf die Ausbeutung als Faktum im Kapitalismus führte H. W. Richter zugleich die Vorstellung von der geographischen Verteilung dieser beiden Ideologien ein. Er wollte zeigen, daß ein Gleichgewicht zwischen Ost und West es Deutschland ermöglichen würde, die sicherlich auseinanderstrebenden, aber auch zusammenlaufenden Tendenzen der westlichen und der östlichen Demokratie auf harmonische Weise in sich aufzunehmen. Er hatte dieses Thema bereits im amerikanischen „Ruf" unter dem Titel: „Ost und West: die ausgleichende Aufgabe Mitteleuropas" entwickelt. Er nahm es unter einem nicht weniger programmatischen Titel im Münchener „ R u f " wieder auf: „Deutschland — Brücke zwischen Ost und West" (Nr. 4). H. W. Richter glaubt, daß Deutschland aufgrund seiner geographischen Lage schon immer die Rolle eines Bindeglieds zwischen Ost und West gespielt hat. Aufgrund seiner historischen Lage nach dem Krieg scheint es ihm mehr als jemals zuvor dazu aufgerufen, den Osten und den Westen in sich zu versöhnen. Die Überwindung der sie trennenden Gegensätze kann nur auf dialektische Weise erfolgen, und dennoch sieht H. W. Richter sie eher mechanistisch: „den Sozialismus demokratisieren und die Demokratie sozialisieren". Daraus sollte eine neue Art von „sozialistischer Demokratie" hervorgehen, doch H. W. Richter vermeidet es beharrlich zu erklären, worin ihr Wesen besteht. Die Vorstellung einer Synthese von Ost und West ergänzt so die Vorstellung einer Synthese von Sozialismus und bürgerlicher Demokratie. Man kann sogar sagen, daß für den „ R u f " die eine nicht ohne die andere denkbar ist. Denn der „Ruf" ist — über die ideologischen Probleme hinausgehend — der Meinung, daß (25) Das junge Europa formt sein Gesicht, A. Andersch, „Der Ruf", Nr. 1/1 (15.8.46), S. 1.
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die Lösung der deutschen Frage nicht entweder aus Washington oder aus Moskau kommt, sondern nur durch eine Verständigung der Großmächte herbeigeführt wird. Als Antwort auf diejenigen, die einem erneut machiavellistischen Deutschland vorwerfen, bewußt die Uneinigkeit zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zu schüren, schreibt A. Andersch, daß dies eine Verkennung der Grundinteressen Deutschlands sei: Nirgends ist der Wunsch nach Ausgleich zwischen West und Ost nämlich stärker beheimatet als in Deutschland. Nirgends weiß man besser als in diesem Lande, daß eine gedeihliche Zukunft gerade auch für Deutschland nur gefunden werden kann, wenn Westen und Osten zu einer gemeinsamen Lösung der deutschen Frage sich aufraffen. (26)
Ein Zerwürfnis zwischen dem Osten und dem Westen liefe darauf hinaus, Deutschland in zwei Teile zu spalten und seine Teile gewaltsam dem einen oder anderen Lager einzuverleiben — der „ R u f " will aber die Einheit der deutschen Nation in den Grenzen von 1937 bewahren. A u c h deshalb, weil er europäisch denkt und weil für ihn eine Zweiteilung Deutschlands jegliche Hoffnung auf einen baldigen europäischen Zusammenschluß zunichte machen würde, da Europa auf die Dauer nicht auf der Grundlage geteilter Nationen bestehen kann (27). Ein vereinigtes, demokratisches und sozialistisches Europa aufzubauen, lag für den „ R u f " im Bereich des Möglichen. A. Andersch hatte gezeigt, welche Kräfte sich in den verschiedenen europäischen Staaten dafür einsetzten, diese Utopie Wirklichkeit werden zu lassen. In Nr. 6 rief H. W. Richter die junge Generation erneut dazu auf, sich S. Spender, I. Siione, A. Malraux und A. Koestler anzuschließen; von letzterem hatte A. Andersch insbesondere gesagt, daß er eine „Figur von weltweiter Bedeutung" verkörpere (28). Der Einfluß Arthur Koestlers A. Koestler als denkerisches Vorbild! Im Anschluß an den Leitartikel A . Anderschs druckte der „ R u f " in seiner ersten Nummer einen Artikel ab, den dieser im Jahre 1943 für die in Santiago de Chile von deutschen Emigranten herausgegebene Zeitschrift „Deutsche Blätter" verfaßt hatte. Der Berliner „Tagesspiegel" irrte sich nicht, als er am 24. Oktober 1946 darauf hinwies, daß das erste Heft des „ R u f " fast den Eindruck erweckte, „als sei es allein u m die Gedanken Koestlers herumgeschrieben worden". (29) Es handelte sich nicht um eine vorübergehende Schwärmerei, sondern den „ R u f " und A. Koestler verband wirklich eine Sympathie des Denkens: Wir kämpfen in diesem Kriege gegen eine totale Lüge, wir tun es im Namen einer halben Wahrheit.
(26) Grundlagen einer deutschen Opposition, „Der R u f " , Nr. 8/1 (1.12.46), S. 1. (27) Deutschland — Brücke zwischen Ost und West, H. W. Richter, „Der Ruf", Nr. 4/I (1.10.46),S. 1. (28) Das junge Europa formt sein Gesicht, a.a.O. (29) Die hoffnungsvollen Pessimisten in „Der Tagesspiegel", überparteiliche Berliner Zeitung im US-Sektor, 24.10.46.
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Mit diesem herausfordernden Satz begann A. Koestlers Artikel „Die Gemeinschaft der Pessimisten". Für den „ R u f " war dies ein Balsam, denn wenn Koestler einerseits die „Neue Ordnung" der Nazis als „totale Lüge" bezeichnete, so wies er doch auch darauf hin, daß die Alliierten nicht frei von Fehlern waren: „Wir kämpfen gegen Rassenunsinn, und dennoch sind die Rassenunterschiede in den Angelsächsischen Ländern weit davon entfernt, abgeschafft zu werden". A. Koestler wandte sich gleichfalls ganz entschieden gegen die Kollektivschuldthese, die bereits zu jener Zeit von Lord Vansittart aufgestellt worden war, und er erinnerte daran, daß 13 Millionen deutsche Arbeitnehmer sich gegen Hitler ausgesprochen hatten, als es noch freie Wahlen gab. Darüberhinaus zählte sich A. Koestler selbst „zu jenen, die die Stalinisten Trotzkisten, die Trotzkisten Imperialisten nennen, und die Imperialisten rote Bluthunde". Nachdem er sich zunächst in Berlin aktiv in der K P D betätigt hatte, war er später aus Enttäuschung über den orthodoxen, dogmatischen und etablierten Kommunismus aus der Partei ausgetreten(30). In seinem Artikel „Die Gemeinschaft der Pessimisten" verzeichnete er das Scheitern der internationalen Organisationen, und zwar nicht nur des Völkerbundes, sondern auch der Zweiten und der Dritten Internationale. Er griff die herkömmlichen sozialistischen Parteien an, die angesichts des Aufstiegs des Faschismus gescheitert waren bzw. wie in Frankreich oder England die Chance, einen dauerhaften Sozialismus aufzubauen, vertan hatten. Die alten Parteien waren also am Ende. Diese Lage veranlaßte A. Koestler zum Pessimismus, sie brachte ihn zu dem Vorschlag, alle Pessimisten, alle Leute, denen der Totalitarismus fremd war, sollten sich in ihren Ländern zusammenschließen und dort Gemeinschaften gründen, „Oasen", Inseln der Hoffnung schaffen. Doch diese Pessimisten sollten sich davor hüten, in dieser Haltung zu verharren, denn sie waren, nach A. Koestlers Meinung, Vertreter eines neuen Ideals, das zu bestimmen noch nicht möglich war, das sich aber unweigerlich aus der Geschichte ergeben würde. A. Koestler schloß: 1917 schien die Verwirklichung von Utopia nahe, jetzt ist sie für die Dauer des Interregnums verschoben. Laßt uns deshalb Oasen pflanzen.
Er offenbarte so deutlich, daß sein Denken das Ergebis einer Enttäuschung war. In seinem Artikel kam noch nicht deutlich heraus, daß die von ihm so beschriebene „heimatlose Linke" mehr das Produkt der Kritik des Stalinismus als des Kapitalismus war. Das Porträt, das der „ R u f " in der Vorbemerkung zu diesem Artikel von A. Koestler entwarf, stellte ihn vor allem als engagierten Journalisten vor, der in den Reihen der Republikaner am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatte. Die Nummern 9 und 10 vervollständigten später dieses Porträt. Der „ R u f " druckte ein Interview ab, das A. Koestler Jean Duché für die Zeitschrift „Le Littéraire" gegeben hatte: das Interview schilderte seine Entwicklung innerhalb der KPD, seinen Aufenthalt in Moskau, seine Gewissensfrage angesichts der stalinistischen
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